Heinrich Hoffmann Das Gesetz in der frühjüdischen Apokalyptik
Vandenhoeck & Ruprecht
Studien zur Umwelt des Neuen Testaments
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Welche Rolle spielt das Gesetz in den Texten der frühjüdischen Apokalyptik? In Auseinandersetzung mit den bisherigen Forschungspositionen entwickelt der Autor eine eigene "Definition", wobei formale, inhaltliche und traditionsgeschichtliche Kriterien ineinandergreifen. Davon ausgehend werden dann das biblische Danielbuch, das äthiopische Henochbuch, die Himmelfahrt des Mose, das 4. Buch Esra und die syrische Baruchapokalypse als die zentralen Texte der frühjüdischen Apokalyptik auf ihr Gesetzesverständnis hin untersucht. Die Ergebnisse dieser Analyse werden abschließend mit zentralen Gesetzesaussagen der Qumrangemeinde und der paulinischen Briefe in Beziehung gesetzt. A study on law in Daniel, the Ethiopian Book of Enoch, the Assumption of Moses, the Fourth Book of Esra, and the Syrian Apocalypse of Baruch in the context of Jewish apocalpytic writings.
ISBN 3-525-53377-2
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9 783525 533772
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen und Zürich
HEINRICH HOFFMANN
Das Gesetz in der frühjüdischen Apokalyptik
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Studien zur Umwelt des Neuen Testaments Herausgegeben von Christoph Burchard, Gert Jeremias, Heinz-Wolfgang Kuhn und Hartmut Stegemann
Band 23
Die Deutsche Bibliothek- CJP-Einheitsaufnahme Hoffmann, Heinrich: Das Gesetz in der frühjüdischen Apokalyptik I Heinrich Hoffmann. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999 (Studien zur Umwelt des Neuen Testaments; Bd. 23) Zugl.: München, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-525-53377-2
e 1999 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindearbeiten: Hubert & Co., Göttingen.
Meinen Eltern Hilde und Wemer Hoffmann in Dankbarkeit
Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist die leicht überarbeitete und um wichtige neuere Literatur ergänzte Fassung meiner im Wintersemester 1995/96 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommenen Dissertationsschrift. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei all denen bedanken, die zur Entstehung und Veröffentlichung dieser Arbeit beigetragen haben. An erster Stelle seien meine Eltern genannt, die nicht müde wurden, mich finanziell, aber auch mental währendallden Jahren der Entstehung dieser Arbeit zu unterstützen. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater und Lehrer Professor Dr. Heinz-Wolfgang Kuhn, der mich zu dieser Arbeit ermutigt und mir während aller Phasen ihrer Entstehung mit vielfältigem Rat zur Seite stand. Die Begeisterung für seine wissenschaftliche Arbeit wirkte immer wieder ansteckend und hat mich vor allem während meiner Assistentenzeit in München über so manche schwierigen Perioden hinweggetragen. Ganz besonderer Dank gebührt auch Herrn Professor Dr. Ferdinand Hahn, der nicht nur das Zweitgutachten angefertigt, sondern weit Uber das Maß eines Korreferenten hinaus die Entstehung dieser Arbeit begleitet hat. Seine aufmuntemden Worte und kritischen Bemerkungen haben nicht unwesentlich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. FUr manche Denkanstöße und Hinweise danke ich auch Herrn Professor Dr. Hermann von Lips sowie allen Teilnehmern des Doktorandenkolloquiums von Prof. Dr. Kuhn. Darüber hinaus sei Herrn Prof. Dr. Burchard fUr seine hilfreichen Hinweise während der Überarbeitung dieser Untersuchung gedankt. Den Herren Professoren Dr. Christoph Burchard, Dr. Gert Jeremias und Dr. Dr. Hartmut Stegemann danke ich fUr die Aufnahme in die von ihnen zusammen mit meinem Doktorvater Prof. Dr. H.-W. Kuhn betreute Reihe. Dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und hier besonders Frau Renale Hartog danke ich fUr die herstellerische Betreuung des Buches sowie für die große Geduld, die der Verlag einem vielbeschäftigten Pfarrer im Ausland entgegengebracht hat. FUr die Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage bin ich meinem Schulfreund Herrn Dipl.-Inforrn. Axel Maurer zu großem Dank verpflichtet, der viele Stunden seiner Freizeit opferte, um das Manuskript druckreif zu machen. Ein besonderer Dank gilt auch Herrn Kirchenrat Frank Seifert und dem Landeskirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, der mit seinem Druckkostenzuschuß den Druck der Arbeit großzUgig gefördert hat. Daneben soll auch die Eglise Reformee d' Alsace et de Lorraine nicht unerwähnt bleiben, die mir eine berufliche Zukunft als Pfarrer und damit den not-
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Vorwort
wendigen finanziellen Spielraum zur Veröffentlichung einer Dissertation ermöglicht hat. Zu guter Letzt möchte ich auch meiner lieben Frau Cosima danken, die nicht nur fleißig Korrektur gelesen, sondern auch sonst meiner Arbeit immer wieder viel Verständnis entgegengebracht hat.
Forbach I Lothringen, im August 1999
Heinrich Hoffmann
Inhalt Vorbemerkungen und Fragestellung ............................................................ 17 1. Einleitender Teil Das Phänomen der "Apokalyptik" .................................... 21 1. Grundlegende Bemerkungen ................................................................... 21 2. Forschungsgeschichtliche Annäherung an das Phänomen der "Apokalyptik" .......................................................................................... 22
1. Einleitende Bemerkungen ................................................................... 22 2. Die Frühphase der Apokalyptikforschung .......................................... 23 1. Friedrich Lücke .............................................................................. 23 2. Eduard Reuß ................................................................................... 27 3. Adolf Hilgenfeld ............................................................................. 29 4. Zusammenfassung .......................................................................... 31 3. Der Niedergang der Apokalyptikforschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ............................................................................ 32 4. Die zweite BlUtezeit der Apokalyptikforschung in der Zeit um die Jahrhundertwende .......................................................................... 33 1. Johannes Weiß ................................................................................ 33 2. Albert Schweitzer ........................................................................... 33 3. Die ,,religionsgeschichtliche Schule" ............................................. 34 1. Hermann Gunkel. ....................................................................... 34 2. Wilhelm Bousset ........................................................................ 36 3. Robert Henry Charles ................................................................ 38 5. Die Apokalypiikforschung in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts ...... 39 I. Der Niedergang der deutschsprachigen Apokalyptikforschung in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg .................................................. 39 2. Kurzer Ausblick auf die englischsprachige Apokalyptikforschung .................................................................... 40 6. Die Renaissance der Apokalyptikforschung um das Jahr 1960 .......... 40 1. Wolfhart Pannenberg ...................................................................... 40 2. Ernst Käsemann .............................................................................. 41 3. Otto Plöger ..................................................................................... 42 4. Dietrich Rössler .............................................................................. 42 5. David Syme Russell ....................................................................... 45 7. Die Apokalyptikdebatte der neueren Zeit ........................................... 46
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Inhalt
1. Die Arbeiten Gerhard von Rads, Klaus Kochs und Philipp Vielhauers ....................................................................................... 47 1. Gerhard von Rad ........................................................................ 47 2. Klaus Koch ................................................................................ 48 3. Philipp Vielhauer ....................................................................... 50 4. Zusammenfassung ..................................................................... 50 2. John J. Collins ..................... ,.......................................................... 52 3. Jean Cannignac .............................................................................. 53 4. Hartmut Stegemann ........................................................................ 54 5. Ed Parish Sanders ........................................................................... 56 6. Egon Brandenburger....................................................................... 56 7. Karlheinz Müller ............................................................................ 57 8. Zusammenfassung ............................................................................... 58 1. Das Phänomen der Apokalyptik aus formgeschichtlicher Sicht ................................................................................................ 58 2. Die Frage nach der Herkunft der Apokalyptik ............................... 60 3. Die Frage nach den Trägerkreisen der Apokalyptik ....................... 63 Exkurs 1) Das Problem eines pharisäischen Gesetzesverständnisses ...... 65 3. Abschließende Überlegungen .................................................................. 66 1. Eigener Definitionsversuch ................................................................. 66 2. Das Problem der Textauswahl ............................................................ 68 2. Hauptteil Die Rolle des Gesetzes in den zentralen Texten der frühjüdischen Apokalyptik ........................................................................... 71 1. Das biblische Danielbuch ........................................................................ 71 1. EinfUhrende Bemerkungen .................................................................. 71 2. Die Entstehung des biblischen Danielbuches ..................................... 74 3. Das 2. Kapitel des biblischen Danielbuches ....................................... 78 1. EinfUhrung ...................................................................................... 78 2. Der Traum Nebukadnezars von den vier Weltreichen (Kap. 2,25-35) ................................................................................ 79 3. Die Deutung der Traumvision (Kap. 2, 36-45) .............................. 81 4. Zusammenfassung .......................................................................... 82 4. Der apokalyptisch geprägte Visionsteil des biblischen Danielbuches (Kap. 7-12) ................................................................... 83 1. Das 7. Kapitel des biblischen Danielbuches................................... 83 1. Einführung ................................................................................. 83 2. Die Tiervision (Kap. 7,1-14) ..................................................... 84 Exkurs 2) Die Menschensohnproblematik in Dan 7 ........................... 86 3. Die Deutung der Tiervision (Kap. 7, 15-28) .............................. 90
Inhalt
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4. Die ,,Heiligen des Höchsten", die Veränderung von ,,ZCiten und Gesetz" und das "Volk der Heiligen des Höchsten" in Dan 7 .................................................................... 91 1. Die ,,Heiligen des Höchsten" ................................................ 91 2. Die Änderung von ,,ZCiten und Gesetz" in Dan 7,25 ........... 92 3. Das "Volk der Heiligen des Höchsten" ................................. 93 5. Zusanunenfassung ..................................................................... 94 2. Das 8. Kapitel des biblischen Danielbuches................................... 95 1. Einführung ................................................................................. 95 2. Die Vision vom Widder und Ziegenbock (Kap. 8,1-14) ........... 95 3. Die Deutung der Vision vom Widder und Ziegenbock (Kap. 8,15-27) ......................................................................... 100 4. Zusanunenfassung ................................................................... 101 3. Das 9. Kapitel des biblischen Danielbuches ................................. 102 1. Einführung ............................................................................... 102 2. Das Gebet Daniels in Kap. 9,3-19 ........................................... 103 3. Die Antwort des Engels auf das Gebet Daniels in Kap. 9.2~27 ............................................................................ 105 4. Zusanunenfassung ................................................................... 106 4. Die große Schlußvision (Kap. 10,1-12,13) .................................. 107 1. Einführung ............................................................................... 107 2. Das 10. Kapitel des biblischen Danielbuches .......................... 107 3. Das 11. Kapitel des biblischen Danielbuches .......................... 108 4. Das 12. Kapitel des biblischen Danielbuches .......................... 112 5. Zusanunenfassung ................................................................... 113 5. Die weisheitlieh geprägten Daniellegenden in Kap. 1~ .................. 114 1. Einführung .................................................................................... 114 2. Das 1. Kapitel des biblischen Danielbuches................................. 115 3. Der weisheitliehe Kontext von Kapitel 2 ..................................... 117 4. Die Kapitel 3~ des biblischen Danielbuches .............................. 119 1. Kapitel3 .................................................................................. 119 2. Die Kapitel4 und 5 .................................................................. 120 3. Kapitel6 .................................................................................. 120 5. Zusammenfassung ........................................................................ 121 2. Das äthiopische Henochbuch ................................................................. 122 1. Vorbemerkungen ............................................................................... 122 2. Einführende Bemerkungen zur Entstehungsgeschichte des äthiopischen Henochbuches .............................................................. 123 3. Grundsätzliche Bemerkungen zur Bedeutung der Tora innerhalb des äthiopischen Henochbuches ........................................................ 125
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Inhalt
4. Das angelologische Buch (Kap. 1-36) .............................................. 127 1. EinfUhrung .................................................................................... 127 2. Die ,.Einleitungsrede" innerhalb des äthiopischen Henochbuches (Kap. 1-5) ............................................................ 128 3. Die Noahtradition innerhalb des angelologischen Buches (Kap. 6-11) ................................................................................... 135 4. Die Erweiterung des Noahbuches in Kapitel 12-16 ............. 139 5. Henochs Himmelsreisen im angelologischen Buch (Kap. 17-19 und 20-36) ........................................................ 141 6. Zusmnrnenfassung ................................................................. 146 5. Die Bilderreden ................................................................................. 147 1. EinfUhrung .................................................................................... 147 2. Der Aufbau der Bilderreden ......................................................... 149 3. Das Einleitungskapitel zu den Bilderreden (Kap. 37, 1-5) ......... 149 4. Die erste Bilderrede (Kap. 38,1-44,1) .......................................... 150 5. Die zweite Bilderrede (Kap. 45,1-57,3) ....................................... 153 6. Die dritte Bilderrede (Kap. 58,1-69,29) ....................................... 155 7. Der Anhang zu den Bilderreden (Kap. 70,1-72,17) ..................... 157 6. Das astronomische Buch (Kap. 72-82) ............................................. 157 1. Einführung .................................................................................... 157 2. Interpretation der Kapitel 72,1-82,20 .......................................... 159 Exkurs 3) Kurze Anmerkungen zu Kalenderdiskussion im Frühjudentum ............................................................................... 163 7. Das Geschichtsbuch/Das Buch der Traumvisionen (Kap. 83-·90) ... 167 1. EinfUhrung .................................................................................... 167 2. Die Tiervision (Kap. 85-90) ........................................................ 168 1. Einleitende Bemerkungen ........................................................ 168 2. Die erste Epoche: Von der Urzeit bis zur Preisgabe Israels an die 70 Hirten (Kap. 85,1-89,58) ......................................... 169 1. Die Urzeit (Kap. 85,3-89,11a) ............................................ 169 2. Die Zeit der Erzväter, das Exodusgeschehen und die Wüstenwanderung (Kap. 89, lllr38) ................................. 171 3. Von der Landnahme über die Richterzeit bis zur Reichsteilung (Kap. 89,39-58) ........................................... 173 3. Die zweite Epoche: Die Preisgabe Israels an die 70 Hirten (Kap. 89,59-90, 19) .................................................................. 174 4. Die dritte Epoche: Gottes Endgericht und die Errichtung des Neuen Jerusalem (Kap. 90, 20-36) ................................... 178 3. Die Sintflutvision als Rahmung der Tiervision (Kap. 83-84) ...... 179 8. Das paränetische Buch (Kap. 91-105) .............................................. 181
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1. EinfUhrung .................................................................................... 181 2. Die Zehn-Wochen-Apokalypse (Kap. 93,1-10 und 91, 11-17) ... 182 3. Die paränetischen Stücke innerhalb des paränetischen Buches (Kap. 93,11-104,5) ....................................................................... 188 9. Zusammenfassung ............................................................................. 191 3. Die Himmelfahrt des Mose .................................................................... 193 1. Vorbemerkungen ............................................................................... 193 2. Aufbau, Entstehungs- und Überlieferungsverhältnisse der Himmelfahrt Moses ........................................................................... 194 3. Der Geschichtsüberblick von der Landnahme bis zum Kommen des Gottesreiches (Kap. 2,1-10,15) .................................................. 196 1. Der GeschichtsrUckblick von den Anfängen der Geschichte Israels bis in die Gegenwart des Autors (Kap. 2,1-6,9) ............... 196 1. Landnahme, Richter- und Königszeit (Kap. 2,1-9) ................. 196 2. Die Exilszeit (Kap. 3,1-4,6) .................................................... 199 3. Von der nachexilischen Zeit bis zur Gegenwart des Verfassers (Kap. 4,7-6,9) ........................................................ 202 2. Die Geschichte Israels von der Gegenwart des Autors bis zur eschatologischen Heilszeit (Kap. 7,1-10,10) ............................... 204 3. Zusammenfassung ........................................................................ 209 4. Die Rahmenerzählung (Kap. 1,1-18 und Kap. 10,11-12,13) ........... 211 1. Moses Amtsübergabe an Josua (Kap. 1,1-18) ............................. 211 2. Der Dialog zwischen Mose und Josua am Ende der Himmelfahrt des Mose (Kap. 10,11-12,13) ................................. 213 5. Ergebnisse ......................................................................................... 216 4. Das 4. Esrabuch ..................................................................................... 217 1. Vorbemerkungen ............................................................................... 217 2. Der literarische Charakter des 4. Esrabuches im Spiegel seiner Erforschung ....................................................................................... 218 3. Aufbau und Überlieferungsverhältnisse des 4. Esrabuches .............. 220 1. Der Aufbau des 4. Esrabuches...................................................... 220 2. Die Überlieferungsverhältnisse des 4. Esrabuches ....................... 221 4. Der dialogische Teil des 4. Esrabuches (Visio l-ffi) ........................ 222 1. Einleitende Bemerkungen ............................................................ 222 2. Visio I (Kap. 3,1-5,19) ................................................................. 223 1. Die Problemstellung ................................................................ 223 2. Der GeschichtsrUckblick in Kap. 3,4-27 als BegrUndung der Anklage Gottes in Kap. 3,28-36 ....................................... 224 3. Die Antwort des Engels und neuerliche Einwürfe des Sehers (Kap. 4,1-5,19) ............................................................ 228
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3. Visio ll (Kap. 5,20-6,34) ............................................................. 233 4. Visio m (Kap. 6,35-9,25) ............................................................ 236 5. Die Verbindung von "dialogischem" und "visionärem" Teil des 4. Esrabuches in Visio IV (Kap. 9,26-10,60) ................................... 243 1. Einleitende Bemerkungen ............................................................ 243 2. Der GeschichtsrUckblick in Kap. 9,29-33 .................................... 243 3. Die Zionsvision (Kap. 9,38-10,60) .............................................. 246 6. Der visionäre Teil des 4. Esrabuches ................................................ 247 1. Einleitende Bemerkungen zu Visio V (Kap. 11,1-12,40a) und VI (Kap. 13,1-57) ........................................................................ 247 2. Die Adlervision (Kap. 11,1-12,34) .............................................. 247 3. Die Menschensohnvision (Kap. 13,1-57) .................................... 249 7. Das Schlußkapitel des 4. Esrabuches: Visio VII (Kap. 14,1-47) .... 253 8. Zusammenfassung ............................................................................. 256 5. Die syrische Barochapokalypse ............................................................. 258 1. Einführung ......................................................................................... 258
2.
3. 4.
5.
1. Das Verhältnis der syrischen Barochapokalypse zum 4. Buch Esra .......................................................................... 258 2. Der Aufbau der syrischen Barochapokalypse .............................. 260 3. Die Überlieferungsverhältnisse der syrischen Barochapokalypse ........................................................................ 263 Die Einleitung in die syrische Barochapokalypse (Kap. 1,1-9,2) ... 264 1. Vorbemerkungen .......................................................................... 264 2. Die Kapitel1,1-9,2 ...................................................................... 264 Der erste Hauptteil der syrischen Barochapokalypse (Kap. 10,134,2) .................................................................................................. 268 Der zweite Hauptteil der syrischen Barochapokalypse (Kap. 35,1-47,1) ............................................................................... 273 1. Die Zedernvision (Kap. 36,1-37,1), das Gebet Barochs (Kap. 38,1-4) und die Deutung der Zedemvison (Kap. 39,1-40,4) ........................................................................... 273 2. Die Stellung der Apostaten und Proselyten im Endgeschehen (Kap. 41,1-42,8) ........................................................................... 274 3. Die Mahnrede Barochs an die Ältesten (Kap. 44,1-47,1) ............ 276 Der dritte Hauptteil: Die Kapitel47,2-77,26 .................................... 277 1. Die Gesprächsgänge zwischen Baroch und Gott in Kap. 48,1-50 ............................................................................ 277 2. Die Frage nach den Gerechten als Adressaten des Heiles (Kap. 49,1-52,1) ........................................................................... 280
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3. Das Gebet Barochs in Kap. 54,1-22 als Bekräftigung der individuellen Verantwortlichkeit .................................................. 281 4. Die Wolkenvision (Kap. 53,1-12) und ihre Deutung (Kap. 56,1-75,8) ........................................................................... 283 1. Die Wolkenvision .................................................................... 283 2. Die Deutung der Wolkenvision ............................................... 284 5. Die Rede Barochs an das Volk (Kap. 77,1-26) ............................ 291 6. Epilog: Der Brief Barochs an die neuneinhalb Stämme (Kap. 78,1-87,1) ............................................................................... 293 7. Zusammenfassung ............................................................................. 297 Anhang: Das Jubiläenbuch .................................................................... 298 1. Einleitende Bemerkungen ............................................................ 298 2. Aufbau, Entstehungs- und Überlieferungsvemältnisse des Jubiläenbuches .............................................................................. 299 3. Die Überschrift und das Einleitungskapitel als ,,Zielangabe" des Jubiläenbuches ....................................................................... 300 1. Die Überschrift zum Jubiläenbuch .......................................... 300 2. Das Einleitungskapitel des Jubiläenbuches (Kap. 1,1-29) ...... 302 4. Die Urzeit (Kap. 2-10) ................................................................. 306 1. Schöpfungsthematik ................................................................ 306 2. Adamsthematik ........................................................................ 307 3. Kainsthematik .......................................................................... 307 4. Henochthematik ....................................................................... 308 5. Noahthematik ........................................................................... 309 5. Die Zeit Abrahams (Kap. 11-23) ................................................. 311 1. Abrahamsthematik ................................................................... 311 2. Der eschatologische Haupttext des Jubiläenbuches (Kap. 23,9-31) ......................................................................... 313 6. Jakobsthematik (Kap. 26-45) ....................................................... 315 7. Mosethematik (Kap. 46-49) ......................................................... 318 8. Der Schluß des Jubiläenbuches (Kap. 50) .................................... 319 9. Zusammenfassung ........................................................................ 320 6. Ergebnisse .............................................................................................. 320 3. Schlußteil .................................................................................................... 324 I. Ausblick: Anmerkungen zum Gesetzesverständnis der Qumrangemeinde ............................................................................. 324 1. Einleitende Bemerkungen ................................................................. 324 2. Das Problem der Textbasis ................................................................ 325 3. Grundlegende Bermerkungen zum Gesetzesverständnis der Qumrangemeinde .............................................................................. 327
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Inhalt
4. Zentrale Sachzusammenhänge des Gesetzesverständnisses der Qumrangemeinde .............................................................................. 329 1. Gesetz und Bund .......................................................................... 329 2. Gesetz und SUnde ......................................................................... 330 3. Gesetz und Gnade ......................................................................... 331 4. Gesetz und Weisheit ..................................................................... 332 5. Der Gedanke einer Universalisierung der Tora in Qumran .......... 332 5. Das Problem einer "sadduzäischen" Tora in Qumran ....................... 333 2. Ausblick: Paulus und das Gesetzesverständnis der frühjüdischen Apokalyptik ........................................................................................... 335 1. Einleitende Bemerkungen ................................................................. 335 Exkurs 4) Die Gesetzesaussagen des Paulus und das Griechisch sprechende Judentum der Diaspora................................................... 335 2. Das Verhältnis von paulinischen und apokalyptischen Gesetzesaussagen aus forschungsgeschichtlicher Sicht .................... 338 1. Die unterschiedlichen Forschungspositionen ............................... 338 2. Zusammenfassung ........................................................................ 341 3. Die Frage nach Verbindungslinien zwischen den Gesetzesaussagen der frühjüdischen Apokalyptik und dem paulinischen Gesetzesverständnis ..................................................... 342 Literaturverzeichnis ......................................................................................... 349
Vorbemerkungen und Fragestellung Die nachfolgende Untersuchung, in deren Zentrum die Frage nach der Rolle des Gesetzes in der frühjüdischen Apokalyptik steht, ist aus dem Wunsch geboren, zu einem angemessenen Verständnis der paulinischen Gesetzesaussagen zu gelangen. Dieser Wunsch gründet in dem großen Interesse, das der Verfasser dieser Zeilen dem "christlich-jüdischen Dialog" und der damit verbundenen "Antijudaismusdebatte" entgegenbringt'. Wird doch in diesem Zusammenhang neben dem Johannesevangelium oder der Frage nach der Messianität Jesu vor allem das paulinische Gesetzesverständnis immer wieder als Stein des Anstoßes empfunden. Das Unbehagen, das viele jüdische Exegeten befällt, wenn sie mit Arbeiten insbesondere der deutschsprachigen Paulusforschung konfrontiert werden, ist durchaus verständlich 2• Hat sich diese vielerorts doch einer recht einseitigen Sichtweise verschrieben, wenn es darum geht, das paulinische Gesetzesverständnis zu beschreiben. So stehen in einer Vielzahl von Untersuchungen über das paulinische Gesetzesverständnis die "negativen" Gesetzesaussagen, wie sie sich primär - jedoch nicht ausschließlich - im Galaterbrief findenl, eindeutig im Vordergrund. Die "positiven" Gesetzesaussagen treten dagegen zunehmend ins zweite Glied zurück, so daß unwillkürlich der Eindruck entsteht, die jüdische Tora sei für Paulus lediglich als negative Folie fUr die befreiende Botschaft des Christusgeschehens von Interesse. Auf der anderen Seite läßt sich bei einigen Forschern in den letzten Jahren eine geradezu entgegengesetzte Tendenz feststellen. Die paulinischen Gesetzesaussagen werden einseitig von den "positiven" Gesetzesaussagen her interpretiert, die "negativen" Aussagen so stark unterbewertet, daß sie Gefahr laufen, zu völliger Bedeutungslosigkeit degradiert zu werden. Die Gefahr, daß das Vorverständnis eines Exegeten die Ergebnisse seiner Arbeit weitgehend determiniert, erhebt auch hier drohend ihr Haupt. Die Frage muß erlaubt sein, ob dem christlichjüdischen Dialog wirklich damit gedient ist, wenn aus falsch verstandener Rücksichtnahme zentrale Aspekte des paulinischen Gesetzesverständnisses ausgeblendet werden. Je länger ich mich mit der großen Zahl von Problemen beschäftigt habe, die sich um das paulinische Gesetzesverständnis ranken, de1 Zum Problemkreis ..christlicher Antijudaismus" sei zunächst auf den Sammelband ,.Antijudaismus im Neuen Testament? Exegetische und systematische Beiträge", hg. v. W. Ecken/N.P. Levinson/M. Stöhr, München 1967, verwiesen; ferner R. Ruether, Nächstenliebe, München 1978; zudem G. Lüdemann, Paulus und das Judentum, München 1983 und D. Sänger, Die Verkündigung des Gekreuzigten und Israel, Tübingen 1994. 2 Siehe S. Meißner. Die Heimho1ung des Ketzers. TUbingen 1996. 3 Auch im Römerbrief finden sich sehr negative Gesetzesaussagen (vgl. die Wendungen "Gesetz der SUnde", ..Gesetz der SUnde und des Todes" in Röm. 7). während der Galaterbrief auch positive Aussagen (so z. 8. die Wendung "Gesetz des Geistes" in Gal. 5) kennt.
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Vorbemerkungen und Fragestellung
sto mehr hat sich die Ansicht verfestigt, daß ohne eine ausführliche Analyse der Gesetzestraditionen der Umwelt des Paulus ein angemessenes Verständnis der paulinischen Gesetzesaussagen nur schwer möglich ist. Allen Versuchen, die paulinische Gesetzesproblematik werkimmanent zu lösen4 , den Römervom Galaterbrief bzw. den Galater- vom Römerbrief her zu verstehen 5 und über ,,Entwicklungen" im paulinischen Denken nachzudenken6 , so berechtigt und wichtig sie auch sein mögen, sollte meines Erachtens die Frage nach den Verbindungslinien der paulinischen Gesetzesaussagen zu den Gesetzestraditionen der Umwelt des Paulus vorangehen. Auf der Suche nach diesen .,traditionsgeschichtlichen Wurzeln" öffnet sich vor uns das weite Feld alttestamentlicher?, frühjüdischerB und paganer Gesetzestraditionen9. Während die in vielerlei Hinsicht äußerst verdienstvollen Arbeiten früherer Forschergenerationen Ia weitgehend davon ausgingen, daß es sich bei den frühjüdischen Gesetzestraditionen um eine einheitliche Größe handelt, hat sich spätestens seit der Entdeckung der Qumranschriften die Erkenntnis von der Vielschichtigkeil des antiken Judentums zur Zeit des zweiten Tempels mehr und mehr durchgesetztll. Es kann deshalb gewiß nicht von vorrangigem Interesse sein, für das Judentum dieser Zeitspanne eine einheitliche ,,Religionsstruktur" herauszuarbeiten, noch dazu dann, wenn man hierbei ohnehin Gefahr läuft, die Verhältnisse des 2. Jh. n. Chr. vorschnell bereits für das 2. Jh. v. Chr. zu konstatieren. Viel eher sollten die Differenzen und Unterschiedlichkeilen der einzelnen jüdischen Gruppen und Strömungen in ihrem Ringen mit dem Gesetz im Zentrum der Bemühungen stehen. Hierzu ist es jedoch notwendig, den Texten dieser Zeit selbst das Wort zu erteilen, einem jeden für sich und seine Situation. Für die Frage nach dem Gesetzesverständnis frühjüdischer Texte heißt dies konkret, daß alle Gesetzesaussagen zunächst m ihrem engeren Kontext zu er4 Siehe z.B. R. Liebers, Das Gesetz als Evangelium, 1989; auch H. Räisänen, Paul and the Law, 21987, bewegt sich trotz traditionsgeschichtlicher Ausflüge primär in ..werkimmanenten" Bahnen. 5 Siehe z.B. F. Hahn, ZNW 1976, 2~3; ders., EvTh 1993,342-366. 6 So z.B. U. Wilckens, NTS 1982, 154-190; H. Hübner, Das Gesetz bei Paulus, 31982; U. Schnelle, Wandlungen im paulinischen Denken, 1989. 7 Siehe z.B. F. Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, 1992. 8 In einer kleinen Auswahl sind zu nennen: C.G. Montefiore, Judaism and St Paul, London 1914; H.J. Schoeps, Paulus, Tübingen 1959; W.D. Davies, Paul and Rabbinie Judaism, 1967; E.P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 1977; deutsch: Paulus und das palästinische Judentum, 1985. 9 Siehe z.B. M. Pohlenz, Paulus und die Stoa, in: K.H. Rengstorf (Hg.), Das Paulusbild der neuerendeutschen Forschung, 1969 (= 31982), 522-564. IO In diesem Zusammenhang sei nur an so große Namen wie Paul Billerbeck, Ferdinand Weber, Paul Volz, Wilhelm Bousset oder Hugo Gressmann erinnert. 11 Heutzutage hat sich die Forschungslage so weit geändert, daß kaum noch von "dem" Gesetzesverständnis des Frühjudentums die Rede ist; siehe z.B. K.-W. Niebuhr, Gesetz und Paränese, Tübingen 1987.
Vorbemerkungen und Fragestellung
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fassen sind, bevor es erlaubt ist, sie zu größeren Gemälden zu vereinigen 12. Nimmt man dieses Grundprinzip ernst, dann ist es unabdingbar, sich bei der Suche nach den frühjüdischen Wurzeln des paulinischen Gesetzesverständnisses auf einen bestimmten, jeweils klar abgrenzbaren Textkomplex zu beschränken. Die Gefahr, durch diese Abgrenzung die erhofften Wurzeln gerade zu verfehlen, ist bewußt in Kauf zu nehmen. Eine streng kontextbezogene Analyse aller frühjüdischen und paganen Gesetzestraditionen der Zeit zwischen 200 v. und 200 n. Chr. gepaart mit der Frage nach deren Bedeutung fUr die paulinische Theologie wUrde den Rahmen einer Dissertation bei weitem sprengen. In dieser Situation habe ich mich dazu entschlossen, einen ganz bestimmten Traditionskreis aus der Umwelt des Paulus herauszugreifen. Es handelt sich hierbei um die jüdischen Texte, die im großen und ganzen in der Zeit zwischen 200 v. und 150 n. Chr. in Palästina ursprünglich in hebräischer oder aramäischer Sprache abgefaSt wurden n, und gemeinhin unter dem Begriff ,,Apokalyptik" zusammengefaSt werden. Im Zentrum der nachfolgenden Untersuchung steht demnach die spannende Frage nach dem Gesetzesverständnis, das den Texten der "frühjüdischen Apokalyptik" zugrunde liegt. Der Schwerpunkt meiner Bemühungen liegt auf der ausführlichen Analyse der Gesetzesaussagen dieser Schriften. Der Versuch, die Ergebnisse dieser Analyse mit den paulinischen Gesetzesaussagen in Verbindung zu bringen, muß diesen Bemühungen untergeordnet werden. Die nicht minder spannende Frage, inwieweit die apokalyptische Gesetzestradition für entscheidende Aspekte des paulinischen Gesetzesverständnisses verantwortlich zeichnete, kann leider nur in Form eines kurzen ,,Ausblicks" am Ende dieser Untersuchung gewürdigt werden. Eine ausführliche Diskussion der Verbindungslinien zwischen dem Gesetzesverständnis der "frUhjUdischen Apokalyptik" und Aspekten des paulinischen Gesetzesverständnisses würde den Rahmen dieser Dissertation bei weitem sprengen. Zwar wurden auch in der Vergangenheit bereits Versuche unternommen, das Gesetzesverständnis der frühjüdischen Apokalyptik zu erhellen1 4 und ein 12 Der Gefahr, vorschnell zu systematisieren, sind nicht nur viele "Väter" der traditionsgeschichtlichen Erforschung des Neuen Testaments erlegen, sondern auch Exegeten unserer Tage sind nicht unbedingt vor dieser Gefahr gefeit. Meines Erachtens gilt dies auch für E.P. Sanders Versuch, eine "einheitliche Religionsstruktur des palästinischen Judentums" herauszuarbeiten. Gerade seine Analysen ausgewählter apokalyptischer Texte des Frühjudentums scheinen mir von vomherein dem von ihm intendierten Ziel, der Konstatierung eines einheitlichen ,,Bundesnomismusses" untergeordnet zu sein. Ähnliche Kritik sei auch an M. Limbeck, Die Ordnung des Heils, 1971, erlaubt, der unter dem Gedanken der Schöpfungsordnung eine Vielzahl frohjüdischer Gesetzesaussagen subsumiert. 13 Die Angabe des Zeitraums bezieht sich auf die jeweilige ,,Endredaktion" dieser Schriften. Den unterschiedlichen Traditionskomplexen, die in diesen Schriften verarbeitet wurden, kann von Fall zu Fall jedoch auch ein weit höheres Alter zukommen. 14 Siehe D. Rössler, Gesetz und Geschichte, 1960 (::21962); ferner M. Limbeck, Die Ordnung des Heils, 1971.
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Vorbemerkungen und Fragestellung
"apokalyptisches Gesetzesverständnis" mit dem paulinischen Gesetzesverständnis in Beziehung zu setzenls, doch standen diese Versuche bisher immer im Schatten der vielfaltigen BemUhungen um die Gesetzesaussagen des rabbinischen Schrifttums, der Texte des Griechisch sprechenden Judentums der Diaspora oder der Qumranschriften. Die Frage nach den Gesetzesaussagen der frUhjUdischen Apokalyptik wurde in der Forschung eindeutig als Stiefkind behandelt. Schon von daher scheint mir eine Neuaufnahme dieser Fragestellung gerechtfertigt16, Kommt doch dem Problem eines "apokalyptischen Gesetzesverständnisses" sowohl fUr den Übergang vom Alten Testament zum Christentum als auch zum Judentum eine SchlUsselrolle zu 17 • Bevor wir uns nun selbst ,,medias in res" begeben und uns der Frage nach der Rolle des Gesetzes in der frUhjUdischen Apokalyptik zuwenden, ist es meines Erachtens jedoch unverzichtbar, der in der Forschung höchst konträr diskutierten Frage nachzugehen, was sich hinter der Bezeichnung "Apokalyptik" Uberhaupt verbirgt.
15 Siehe U. Wilckens, ZThK 1959, 273-293.
16 Hinzu kommt noch die Tatsache, daß die Thesen der fUr die deutschsprachige Erforschung des apokalyptischen Gesetzesverständnisses grundlegenden Arbeit von Dietrich Rössler, Gesetz und Geschichte, 1960, auf ein hohes Maß an Ablehnung stieß. 17 Siehe K. Koch, Daniel (BK 2211). 59.
1 Einleitender Teil Das Phänomen der "Apokalyptik" 1.1 Grundlegende Bemerkungen Eine große Schwierigkeit dieser Untersuchung liegt darin begrtlndet, daß trotz intensiver Forschungsarbeiten die Frage, was sich hinter der Bezeichnung "Apokalyptik" verbirgt, immer noch höchst unterschiedliche Antworten findet. Ein einheitlicher, allgemein anerkannter Sprachgebrauch liegt auch heute noch in weiter Feme. Diese Misere zeigt sich besonders deutlich darin, daß selbst ein großes internationales Apokalyptik-Kolloquium, das vom 12.-17.8.1979 in Uppsala tagte, nicht in der Lage war, sich auf eine abschließende gemeinsame Definition des ,,Phänomens" Apokalyptik zu einigen 1• Die einzelnen methodischen Ansätze innerhalb der gegenwärtigen Apokalyptikforschung differieren in solch hohem Maße voneinander, daß auch für die Zukunft nur wenig Hoffnung auf ein einheitliches Apokalyptikbild besteht. Zeichnete in der Frtlhphase der Apokalyptikforschung ein allzu sorgloser Umgang mit methodischen Fragen für viel Verwirrung verantwortlich 2 und war selbst die Apokalyptikforschung des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts noch von einer gewissen Großzügigkeit im Umgang mit der Frage, was genausich hinter dem Phänomen Apokalyptik verbirgt, bestimmt, so besteht meines Erachtens in der Gegenwart die Gefahr, durch ein Zuviel an Präzisierung und Differenzierung innerhalb der Methodik gleichfalls einer neuen Unübersichtlichkeit Vorschub zu leisten. Das Messer, das den Dschungel Apokalyptik durchdringen soll, ist so stark geschärft, daß die Klinge zu zerbrechen droht. Genügte früher die recht vage Konstatierung einer inhaltlichen Verwandtschaft mit der Johannesapokalypse, um eine Schrift bzw. auch nur Traditionskomplexe innerhalb einer solchen als apokalyptisch auszuweisen, so gilt es nun, eindeutige inhaltliche und formale Kriterien zu entwickeln, die für die Apokalyptik bestimmend sind. 1 Die Tagung dieses Kolloquiums ist dokumentiert in dem von D. Hellholm im Jahre 1983
herausgegebenen Kongreßband "Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East••. Zum Scheitern der Versuche, zu einer gemeinsamen Definition des ,,Phänomens" Apokalyptik zu gelangen, siehe vor allem den auswertenden Beitrag von K. Rudolph, ..Apokalyptik in der Diskussion", 772; vgl. ferner den Beitrag von H. StegemaM, .Die Bedeutung der Qumranfunde für die Erforschung der Apokalyptik", der sich über die Definitionsversuche des Kolloquiums auf Seite 526 folgendermaßen äußert: •.Eine Einigungsmöglichkeit zeichnete sich im Kreise der Teilnehmer nicht einmal ansatzweise ab". 2 Siehe J.M. Schmidt, Die jüdische Apokalyptik, der aufS. 150 mit Blick auf die erste intensive Phase der deutschsprachigen Apokalyptikforschung konstatiert: ..Sosehr die Breite und Weite in der Verwendung der verschiedenen Methoden positiv zu bewerten ist, sowenig darf aber deren Kehrseite übersehen werden, daß jene Breite und Weite in einem erheblichen Maß dadurch ermöglicht worden waren, daß es an einer Präzisierung und Differenzierung der einzelnen Methoden noch weithin gebrach".
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Forschungsgeschichtliche Annäherung
Zudem wird der Terminus "Apokalyptik" selbst immer stärker zum Problem. Die Tatsache, daß dieser Terminus in der Vergangenheit völlig unreflektiert, je nach Bedarf zur Bezeichnung eines sozial-historischen, eines literarischen oder eines theologischen Phänomens herangezogen werden konnte, wird zunehmend als Ärgernis empfunden, das nach methodischer Klärung verlangt. Folglich treten in neuester Zeit neben phänomenologischen Arbeiten zur Apokalyptikforschung immer stärker auch solche in den Vordergrund, die sich der formalliterarischen und soziologischen Arbeitsweise verschrieben haben. Daneben bleibt jedoch auch die traditionsgeschichtliche Frage nach den Ursprüngen der Apokalyptik durchweg virulent. Da, wie gesagt, keine Einigung über einen einh~itlichen Sprdchgebrauch fUr den Terminus "Apokalyptik" in Sicht ist, scheint es in der Tat geboten, daß jeder, der von "Apokalyptik" redet, zunächst kurz mitteilt, was er darunter versteht3. Jeder eigene Definitionsversuch bedarf jedoch der ständigen Auseinandersetzung mit anderen repräsentativen Definitionsversuchen aus älterer und neuerer Zeit, eingedenk der Maxime Klaus Kochs, daß "ohne Kenntnis der Forschungsgeschichte sich auf dem schwierigen Gebiete heutzutage keine Forschung betreiben oder beurteilen (läßt)"4. Folglich soll auch unserem Versuch, das Phänomen Apokalyptik näher zu bestimmen, ein Blick auf die Geschichte der Apokalyptikforschung vorangehen.
1.2 Forschungsgeschichtliche Annäherung an das Phänomen der "Apokalyptik" 1.2.1 Einleitende Bemerkungen Die Geschichte der Erforschung dei Apokalyptik ist ein viel zu weites Feld, als daß sie im Rahmen dieser Untersuchung ausführlich gewürdigt werden könnte. Deshalb kann es lediglich darum gehen, einen skizzenhaften Überblick über einige markante Stationen der Forschungsgeschichte zu gebens. Vollständigkeit ist an keiner Stelle intendiert6. Im Zentrum dieses Überblicks sollen die verschiedenen Aussagen zum Wesen der Apokalyptik, zu deren Herkunft und Entstehung, sowie zur Frage nach dem Verhältnis der Apokalyptik zum Christentum stehen.
3 So H. Stegemann, Die Bedeutung der Qumranfunde für die Erforschung der Apokalyptik, in: Apocalypticism, 498. 4 So K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, 35. s Der Schwerpunkt dieses Forschungsüberblicks liegt auf der deutschsprachigen Apokalyptikforschung. 6 Zur Apokalyptikforschung sei auf folgende Arbeiten verwiesen: J.M. Schmidt, Die jüdische Apokalyptik, Neukirchen 1969 (21976); K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, GUtcrsloh 1970; K.-H. MWier, Das Judentum in der religionsgeschichtlichen Arbeit am Neuen Testament. Frankfurt (M)IBern 1983; W. Zager, Begriff und Wertung der Apokalyptik in der neutestamentlichen Forschung, Frankfurt (M) 1989.
Die Frühphase der Apokalyptikforschung
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Der Terminus Apokalyptik wurde vor nunmehr 150 Jahren als Sammelbezeichnung für eine geistige Strömung im spätisraelitisch-urchristlichen Milieu geprägt. Ausgangspunkt dieser Bezeichnung war die neutestamentliche Johannesapokalypse, die in ihrem ersten Vers als 'A1tmcaA.uvt; 'I11aou Xpta'tou f)v e6ro1CEV ai>'t(j> 6 OE{); 6Ei;at toi; 6oi>A.ot; aÜ'tOU 6Ei YEVEa9at tv 'tcXXEt charakterisiert wird. Wird durch diese Einführung der gesamte Inhalt dieser Schrift als "Offenbarung dessen, was in KUrze geschehen muß" beschrieben, so erscheint das Wort a1toJCaA.uvt; dartlber hinaus auch in der Inscriptio der Johannes-Apokalypse und weist die gesamte Schrift als "Apokalypse" aus. Das Wort a1toJCaA.uvt; umschreibt somit nicht nur den Inhalt dieser Schrift, sondern wird dartlber hinaus als Buchbezeichnung verwendet. Der Terminus a1toJCaA.uvt; erhält bereits zu diesem frühen Zeitpunkt auch eine literarische Bedeutung. Zu Beginn der Apokalyptikforschung bilden Inhalt und Form demnach eine terminologische Einheit, eine Tatsache, die von der gegenwärtigen Apokalyptikforschung leider viel zu häufig übersehen wird. Für die Geschichte der deutschsprachigen Apokalyptikforschung sind drei Hauptphasen bestimmend. Auf eine Frühphase der Apokalyptikforschung, die den Zeitraum von 1832 bis 1860 umfaßt, folgt eine zweite BlUtezeit in den Jahren zwischen 1892 und 19037 • Die dritte Phase beginnt um das Jahr 1960 und ist bis heute noch nicht abgeschlossen. Wollen wir die Frühphase der Apokalyptikforschung an einigen Forschern und deren Entwürfen festmachen, so ist in diesem Zusammenhang auf Friedrich Lücke (1791-1855), Eduard Reuß ( 1804-1891) und Adolf Hilgenfeld ( 1823-1907) zu verweisen.
a
1.2.2 Die Frühphase der Apokalyptikforschung
1.2.2.1 Friedrich Lücke Friedrich LUcke hat sich in vielfacher Weise um die Apokalyptikforschung verdient gemacht. Zum einen verdanken wir ihm die erste Gesamtdarstellung der jüdischen und christlichen Apokalyptik, die er 1832 in seinem "Versuch einer vollständigen Einleitung in die Offenbarung Johannis und in die gesamte apokalyptische Litteratur" vorlegte. Zum anderen führte F. Lücke mit diesem Werk den Begriff "Apokalyptik" in die Bibelwissenschaft ein, einen Begriff, den offensichtlich bereits zehn Jahre zuvor sein Freund Karl Immanuel Nitzsch geprägt haues. Die Ziele seiner Darstellung kann F. Lücke mit folgenden Worten umschreiben: ,,Zuerst den Begriff und Charakter der apokalypt. Litteratur, wie er in den historischen Erscheinungen vorliegt, wissenschaftlich zu bestimmen; sodann die Geschichte derselben von ihrem Ursprunge in dem Jüdischen Kanon an in ihren Haupterscheinungen darzustellen''9. FUr die methodische 7 Siehe
8
W. Zager. Begriffund Wertung, 257. Siehe F. Lücke, Commentar über die Schriften des Evangelisten Johannes, BoM 1832.
22f. 9
A.a.O .• 22.
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Forschungsgeschichtliche Annäherung
Vorgehensweise Lückes bedeutet dies eine unbedingte Vorordnung des begrifflich-systematischen Aspekts vor dem historischen. Ersterer ist der Ausgangspunkt, letzterer dient lediglich der Illustration 10. Folglich setzt Lücke bei dem Versuch, das Wesen der Apokalyptik zu erfassen, mit der Erörterung des Begriffs der a7tox:aA:mvu; ein. Ausgehend von seiner Verwendung in der Überschrift der Johannesoffenbarung avanciert das Wort a7toKaA:mvt~ zum terminus technicus, unter dem die meisten Schriften der sogenannten apokalyptischen Literatur christlicher und jüdischer Provinienz subsumiert werden konnten. Der Begriff a7tox:ai..U'Ift~ gibt somit "in charakteristischer Weise" den "wesentlichen Inhalt" dieser Literatur an 11 • Markiert der Begriff a7tox:al..u\jftc; die inhaltliche Mitte der Apokalyptik, so stellt sich nun die Frage, was sich hinter diesem Wort im einzelnen verbirgt. Ausgehend von Belegstellen innerhalb der Heiligen Schrift kommt Lücke zunächst zu der Überzeugung, daß das Wort a7tox:ai..U\jftc; "nicht bloß das Bekanntmachen des Verborgenen überhaupt, sondern, vorzugsweise auf das Geheimnis [sie!] (J.l'OO'tTtptov) des göttlichen Reiches oder des göttlichen Heiles bezogen, die Enthüllung eben dieses Geheimnisses auf dem Grunde göttlicher Offenbarung" meine 12 . Folglich bedeutet a7tOKQA'U\jfl~ im Rahmen apokalyptischer Schriften "die prophetische Enthüllung ... der zukünftigen Vollendung des Messianischen Reiches"l3. Den zentralen Inhalt der Apokalypsen bestimmt Lücke als "die Zukunft und Vollendung des göttlichen Reiches auf Erden im Kampf mit der antitheokratischen Welt"1 4 . Enthalten bereits diese Aussagen implizit eine Verhältnisbestimmung der beiden Größen Apokalyptik und Prophetie, so wird dieses Verhältnis an anderer Stelle mit folgenden Worten umschrieben: "Alle Apokalyptik ist wesentlich prophetisch; aber nicht alle Weissagung in der Schrift ist apokalyptisch"IS. Die Apokalyptik ist aus der Prophetie erwachsen und schließt sich nach Form und Inhalt an diese anl6. Lücke geht von einem Oberbegriff der Prophetie als eschatologischer Weissagung aus, unter dem er mühelos auch die Apokalyptik als deren speziellere Ausprägung subsumieren kannl 7 . Für Lücke gibt es allem Anschein nach keinen wirklichen Gegensatz zwischen Prophetie und ApokalyptikiB. An dieser Stelle macht Lücke jedoch eine entscheidende 10 Siehe J.M. Schmidt, Die jüdische Apokalyptik, 99. 11 Siehe F. Lücke, Commentar über die Schriften des Evangelisten Johannes, 2. Aufl., 18. 12 Siehe F. Lücke, Commentar, 23. 13 Siehe F. Lücke, Commentar, 24. 14Ebd. IS Ebd. 16Ebd. 17 Siehe J.M. Schmidt, Die jüdische Apokalyptik, 101; vgl. W. Zager, Begriff und Wertung, 23f. IB Die Unterschiede zwischen diesen beiden Größen bestehen lediglich darin, daß "die Apokalyptik ... als die späte Fonn des prophetischen Geistes, die einfacheren Grundgedanken und Darstellungsformen der Weissagung weiter entwickelt, bestimmter anwendet, reichlicher ausschmückt" (siehe Lücke, Commentar, 24). Für die formale Seite der Apokalyptik bedeutet dies, daß sie sich einer ,,symbolprophetischen" Darstellungsweise verschreibt, und den ..entwickelteren prophetischen Stofr' unter Einsatz von •.Bildern, Symbolen, Allegorien und Perso-
Die Frühphase der Apokalyptikforschung
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Einschränkung, die sich nicht als Folge seiner Beschäftigung mit der Materie selbst erklären läßt, sondern vielmehr seinem dogmatischen Vorverständnis entspringt. Wenn Lücke die Apokalyptik als "eine natUrliehe Stufe und Entwicklungsform des prophetischen Geistes" bezeichnet 19, so gilt dieses Urteil ausschließlich für die biblische Apokalyptik, also mit Blick auf das Danielbuch und die Johannesapokalypse. Lücke erweist sich in diesem Zusammenhang als ein Gefangener seines dogmatischen Kanonbegriffs. Nur die biblische Apokalyptik, jedoch nicht die außerkanonische "apokryphische" Apokalyptik ist als Produkt einer einheitlichen und geradlinigen Entwicklung der alttestamentlichen Prophetie zu verstehen. In der "apokryphen" Apokalyptik außerhalb des Kanons ist es vielmehr zu einer ,,Entartung des prophetischen Geistes" gekommen2o. Diese negative Bewertung der jüdischen Apokalyptik, von der lediglich das kanonische Danielbuch ausgenommen bleibt, wird zwar in der 2. Auflage von LUckes Apokalyptikdarstellung etwas abgeschwächt 21 , das eigentliche Interesse Lückes bleibt jedoch weiterhin auf die biblische Apokalyptik beschränkt 22 . Lückes hohe Wertschätzung gerade der biblischen Apokalyptik liegt offensichtlich darin begründet, daß er hier seinen eigenen "streng linearentwicklungsmäßige[n] Geschichtsbegriff' vorgebildet sieht23. Lücke ist nicht nur der Überzeugung, daß der Apokalyptik ein universalistisches Geschichtsverständnis zugrunde liegt, sondern diese uni Versalistische Geschichtsschau macht für ihn geradezu das eigentliche Wesen der Apokalyptik aus24. Die Tatsache, daß Lücke an anderer Stelle das Kommen des zukünftigen Gottesreiches als inhaltliche Mitte der Apokalyptik bezeichnen kann, stellt keinen Widerspruch zur Rede von dem Universalistischen Geschichtsverständnis als dem "Wesen" der Apokalyptik dar, da für diesen die Geschichte des Gottesreiches nicht von der "lebendigen Geschichte" zu trennen ist2S. Eschatologie und Geschichte bleiben eng aufeinander bezogen. Die eschatologische Vollendung des Reiches Gottes ist für Lücke nie bloß ein isolierter Gegenstand der Hoffnung, sondern das Ziel der Universalgeschichte 26 • Gerade das Universalistische Genificationen in der Fonn zusammenhängender Exstasen und Visionen" darstellt (siehe Lücke, Commentar, 25). 19 F. Lücke, Commentar, 25. 20 A.a.O .• 26. 21 Siehe W. Zager, Begriffund Wertung, 28 Anm. 53. 22 Siehe J.M. Schmidt. Diejüdische Apokalyptik, 107. 23 Siehe J.M. Schmidt, Die jüdische Apokalyptik, 108. 24 Die Entwicklung der apokalyptischen Geschichtsschau aus der prophetischen Geschiehtsauffassung beschreibt Lücke in der 2. Aufl. S. 35 folgendermaßen: .Je mehr nun der Apokalyptiker Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des göttlichen Reiches in dem einen und selbigen Lichte der göttlichen Wahrheit zusarnmenschauet, desto leichter geschieht es, dass, indem er von einem bestimmten Standpunkte seiner Gegenwart die Geschichte des göttlichen Reiches vorwärts und rückwärts anschauend als ein Ganzes betrachtet, auch seine Darstellung von der Vergangenheit und Gegenwart eine apokalyptische wird, ein zusammenhängendes visionäres, symbolisches Gemählde." 2S F. Lücke, Commentar, 2. Aufl., 37. 26 So W. Zager. Begriffund Wertung, 29f.
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Forschungsgeschichtliche Annäherung
schichtsverständnis ist auch die Grundlage dafür, daß Lücke der Apokalyptik eine entscheidende Rolle auf dem Weg zum Christentum zuerkennen kann27 • Richten wir unser Augenmerk nun noch etwas näher auf die Aussagen LUkkes zur Frage, welche Faktoren dafür verantwortlich zeichneten, daß aus der alttestamentlichen Prophetie die biblische Apokalyptik hervorgegangen ist. Zum einen verweist Lücke in diesem Zusammenhang auf geschichtlichpolitische Momente. Die Rückkehr aus dem babylonischen Exil ist der "Wendepunkt der prophetischen und apokalyptischen Litteratur"28. Zwar schienen sich mit der RUckkehr aus dem Exil die Weissagungen der früheren Propheten zu erfüllen, doch verbreitete sich schon bald die Überzeugung, daß dieses verheißene Heil weit größer war, als die Erfüllung in der gegenwärtigen Situation. Dieses ,,Enttäuschungsmotiv", das im Rahmen der Apokalyptikforschung noch eine große Rolle spielen soll, ist für Lücke eine entscheidende Wurzel der Apokalyptik29. ,,Das Unbefriedigende der Gegenwart, der zunehmende Druck unter fremden Herrschern, äußere Bedrängnisse und innere Spaltungen"30, all dies sind Faktoren, die die Ausbildung der Apokalyptik förderten. Das Universalistische Geschichtsverständnis der Apokalyptik verdankt seine Entstehung der Tatsache, "daß das Volk seine frühere Isoliertheil verlassen hatte, und in den allgemeinen Weltverkehr der Nationen eingetreten war"3t.Von den religions- und traditionsgeschichtlichen Elementen, die zur Herausbildung der Apokalyptik beitrugen, betont Lücke vor allem die altpersische Religion. Während er mit Blick auf die alttestamentliche Prophetie lediglich das Motiv der "messianischen Sehnsucht" als traditionsgeschichtliche Wurzel der Apokalyptik anführen kann32, bietet ihm die altpersische Religion bedeutend mehr Anknüpfungspunkte, vor allem auf dem Gebiet der Eschatologie33. Zu guter Letzt werfen wir noch einen kur.ren Blick auf die Ftage, wie Lücke das Verhältnis von jüdischer und christlicher Apokalyptik bestimmt. Lücke unterscheidet eine vorchristliche von einer nachchristlichen Periode. Die vorchristliche Apokalyptik läßt sich in eine kanonische(= danielische) und außerkanonische (apokryphe) Apokalyptik teilen, wobei, wie wir bereits gesehen haben, lediglich das Danielbuch positiv bewertet wird. Von diesem Buch her entwickelt er, indem er die Unterschiede zur älteren Prophetie herausstellt, ein Apokalyptikverständnis, in dessen Zentrum das universalhistorische Moment steht. Die "apokryphe" Apokalyptik wird als bloße "Nachahmung" verstanden und völlig abgewertet. Mit dem Kommen von Jesus Christus, in dem "die Mes27 Siehe J.M. Schmidt, Die jUdische Apokalyptik, 108.
28 F. Lücke, Commentar, 2. Aufl., 54. 29 Siehe J.M. Schmidt, Die jUdische Apokalyptik, 110; ferner W. Zager, Begriff und Wertung, 32. 30 F. Lücke, Commentar, 34. 31 A.a.O., 34. 32 A.a.O., 31. 33 Siehe hierzu J.M. Schmidt, Die jUdische Apokalyptik, lllf; vgl. W. Zager, Begriff und Wertung, 33f.
Die Frtlhphase der Apokalyptikforschung
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sianische Zukunft reale Gegenwart geworden ist"34, hat die alttestamentliche Apokalyptik ihr Ziel erreicht. Dies bedeutet jedoch nicht das Ende aller Apokalyptik, sondern lediglich einen Wendepunkt zu einerneuen Apokalyptik. Mit Christus setzt eine neue Fonn von Apokalyptik ein. Es beginnt nun die Periode der christlichen Apokalyptik, die an die biblische Apokalyptik positiv anknüpft, diese jedoch sowohl inhaltlich als auch formal überbietetJS. Während die Verkündigung des irdischen Jesu selbst von Lücke ganz eng mit der Apokalyptik verknüpft wird, unterscheidet er in bezugauf die Weitergabe der apokalyptischen Grundgedanken in den apostolischen Schriften eine judenchristliehe von einer paulinischen Richtung. Ein Fortbestehen apokalyptischer Gedanken ist hierbei auf die judenchristliche Richtung beschränkt. Als Urtypus dieser christlichen Apokalyptik gilt Lücke die Johannesoffenbarung. Abschließende Würdigung36: Das Hauptverdienst Lückes für die Apokalyptikforschung besteht zweifellos darin, daß er als erster die gesamte apokalyptische Literatur seiner Zeit zum Gegenstand einer zusammenfassenden Darstellung gemacht hat. Wenden wir uns zunächst den Stärken seiner Arbeit zu, so zeichnet sich das Apokalyptikverständnis Lückes vor allem dadurch aus, daß es ihm gelingt, zumindest die "biblische Apokalyptik" durchweg positiv zu würdigen. Ausgehend von diesem positiven Verständnis kann er die universale Geschichtsschau als Zentrum der apokalyptischen Eschatologie betont herausstellen. Die Apokalyptik, die als Vollendung der alttestamentlichen Prophetie verstanden wird, ist für Lücke der historische Wurzelboden, auf dem sowohl Jesus selbst als auch das frühe Christentum ihre neue Lehre entwickelt haben. Gerade dieser letzte Gedanke kann mit Blick auf die gegenwärtige Apokalyptikforschung nicht hoch genug veranschlagt werden37. Der entscheidende Mangel seiner Darstellung liegt jedoch darin begründet, daß er den begrifflich-dogmatischen Aspekt gegenüber dem historischen zu stark überbetont. Diese Überbetonung hat zum einen eine viel zu weite Trennung zwischen den kanonischen und außerkanonischen Apokalypsen zur Folge. Zum anderen führt sie auch zu einer unkritischen Bestimmung des Verhältnisses von Prophetie und Apokalyptik. Schließlich kommen auch die Verfasser der einzelnen Apokalypsen und ihr geistiges Milieu zu wenig in den Blick.
1.2.2.2 Eduard Reuß Eduard Reuß entwickelte - ähnlich wie Lücke - seine Darstellung der apokalyptischen Literatur im Rahmen einer Arbeit über die Johannesapokalypse3B. 34
F. LUcke, Commentar, 2.Autl., 213.
3S F. LUcke, Commentar, 37f. 36 Siehe
hierzu J.M. Schmidt, Die jüdische Apokalyptik, 116-119. J.M. Schmidt, Die jüdische Apokalyptik, 118f. 38 E. Reuß, Art. Johanneische Apokalypse, in: AEWK 11/22, Leipzig 1843,79-94. 37 Siehe
Forschungsgeschichtliche Annäherung
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Im Unterschied zu Lücke ist Reuß jedoch darum bemüht, seiner Untersuchung eine konsequent historische Methode zugrundezulegen. Obwohl er diesem Vorsatz nicht in allen Stücken gerecht wird und von einer zusammenhängenden Darstellung der Geschichte der Apokalyptik auch bei Reuß noch keine Rede sein kann39 , gelingt es ihm doch, sich von einem begriffsmäßigen, dogmatischen Vorverständnis, wie es für Lücke gerade mit Blick auf die Bedeutung der Kanonsgrenze bestimmend war, weitgehend zu lösen40. Wie Lücke ordnet er die Apokalyptik jedoch dem Oberbegriff der Prophetie unter, wobei er jedoch den Unterschied zwischen Prophetie und Apokalyptik viel deutlicher faßt. Zwar erscheint auch dessen Rede von Prophetie, die diese als "eine vom Geiste gegebene Rede über götdiche Geheimnisse" faßt4:, noch ziemlich unbestimmt, doch kann er andererseits betonen, daß das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen Prophetie und Apokalyptik in der Bezogenheil prophetischer Verkündigung auf die Gegenwart oder die Zukunft besteht42• Das Spezifikum der Apokalyptik besteht demnach auf der inhaltlichen Ebene in der Zukunftsbezogenheit apokalyptischer Verkündigung, sprich in der "messianischen Weissagung", gepaart mit einigen formalen Merkmalen, zu denen er die Vision, einen besonderen Stil (,,Praeteritum definitum"), das Moment der absichtlichen Verhüllung und die pseudepigraphe Abfassung rechnet43 . Den Ursprung der Apokalyptik lokalisiert auch Reuß in Übereinstimmung mit dem größten Teil der Forschung im Exil, wobei wiederum dem ,,Enttäuschungsmotiv" eine entscheidende Bedeutung zukommt44 . Ursprünglich wurden die Apokalypsen zu dem Zwecke verlaßt, in der Gegenwart Trost zu spenden. Das paränetische Anliegen geht nach Reuß der Absicht, über die Zukunft zu belehren, voraus4s. Trotz großer Bemühungen um eine geschichtliche Betrachtungsweise erhebt jedoch der rationalistische Geist, dem sich Reuß nur allzu deutlich verpflichtet fühlt, gerade dann mächtig sein Haupl, wenn es um die Frage nach einer Bewertung der Apokalyptik geht. Während Lücke im Rahmen seiner heilsgeschichtlichen Konzeption der Apokalyptik grundsätzlich eine positive Wertung zuteil werden ließ, vermag Reuß von seiner rationalistischen Warte aus in der Apokalyptik lediglich eine Verfallserscheinung der "klassischen Prophetie" zu erkennen. Abschließende Würdigung46: Das Hauptverdienst von E. Reuß für die Apokalyptikforschung besteht wohl darin, daß es ihm gelungen ist, den zu eng gefaSten Begriff der "biblischen 39 So auch W. Zager. Begriff und Wertung, 41. 40 Siehe W. Zager, Begriff und Wertung, 41 Anm. 5. 41 E. Reuß, Johanneische Apokalypse, 79. 4 2 Siehe
J .M. Schmidt, Die jüdische Apokalyptik, 121.
43 E. Reuß, Johanneische Apokalypse, 80f. 44
E. Reuß, Johanneische Apokalypse, 80.
4S Siehe J.M. Schmidt, Diejüdische Apokalyptik, 124. 46 Zum
Ganzen siehe J .M. Schmidt, Die jüdische Apokalyptik,125f.
Die Frühphase der Apokalyptikforschung
29
Apokalyptik.. zu überwinden. Die Kanonsgrenzen spielen für ihn keine entscheidende Rolle. Daneben kann man wohl die Tatsache, daß er den Unterschied zwischen Prophetie und Apokalyptik im Vergleich zu Lücke bedeutend klarer herausgearbeitet hat, gleichfalls als Fortschritt verbuchen. Neben diesen positiven Ergebnissen, sind jedoch auch die Mängel dieses Entwurfs nicht zu übersehen. So kann der völlige Verzicht auf religions- und traditionsgeschichtliche Überlegungen bereits als Beginn eines für die Apokalyptikforschung verhängnisvollen Weges in eine Forschungsepoche verstanden werden, die sich völlig einseitig zeit- und literargeschichtlichen Fragestellungen verschreibt. Zum anderen wird bei Reuß das universalgeschichtliche Geschichtsverständnis der Apokalyptik, das bis in unsere Tage immer wieder als zentrales Merkmal der Apokalyptik angesehen wird, mit keinem Wort erwähnt.
1.2.2.3 Adolf Hilgenfeld Waren die Apokalyptikdarstellungen von F. Lücke und E. Reuß als Einleitung in die Johannesapokalypse konzipiert, so veröffentlichte A. Hitgenfeld im Jahre 1857 die erste Monographie Uber die Apokalyptik, die den Titel ,,Die jüdische Apokalyptik in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Christentums" trägt. In weit stärkerem Maße als E. Reuß fühlt sich A. Hitgenfeld einer streng historischen Methode verpflichtet. Folglich setzt er bei seiner Darstellung der Apokalyptik im Gegensatz zu Lücke und Reuß nicht mit dem biblischen Begriff der Apokalypse als Inbegriff der Apokalyptik ein, sondern er nimmt seinen Ausgangspunkt bei der jüdischen Apokalyptik mit dem Ziel, "die innere Einheit zu suchen, welche alle EigenthUmlichkeiten der jüdischen Apokalyptik ... in sich begreift und zusammenschliesst"47. Der einzige Weg, der ihn zu diesem Ziel fUhren kann, ist für Hitgenfeld "die geschichtliche Entstehung dieser Apokalyptik" 48. Ferner geht bereits aus dem Untertitel dieses Buches hervor, daß Hitgenfeld jede Art von direkter Verbindung zwischen der alttestamentlichen Prophetie und dem Christentum leugnet. Seine These lautet, daß die frühjüdische Apokalyptik "den geschichtlichen Zusammenhang des Christentums mit der prophetischen Weissagung des Alten Testaments vermittelt"49 • Das Werden und die Entwicklung der frühjüdischen Apokalyptik stehen im Zentrum von Hitgenfelds Interesse. Auf seinem Weg, das Werden der frühjüdischen Apokalyptik nachzuzeichnen, setzt auch er mit dem oft strapazierten ,,Enttäuschungsmotiv" ein, das für den "Abschluss der alten volksthUmlichen Prophetie" 50 verantwortlich ist. Einen weiteren wichtigen Meilenstein auf diesem Weg stellt die Tatsache dar, daß die Geschichte des jüdischen Volkes seit dem Exil eng mit derjenigen der Weltreiche verflochten
47
A. Hilgenfeld, Die jüdische Apokalyptik, 8.
48 A.a.O., 8. 49
A.a.O., 2.
so A.a.O .• 8.
Forschungsgeschichtliche Annäherung
30
istst. Das eigentliche Wesen der Apokalyptik kann Hilgenfeld mit folgenden Worten umschreiben: ,.Die Apokalyptik ist eben dieser Nachtrieb der alten Prophetie, und deshalb ist sie die künstliche Lösung des Widerspruchs, dass dem späteren Judenthum einerseits das Bewusstsein einer lebendigen Erfüllung durch den Gottesgeist abhanden gekommen, andererseits aber gleichwohl in einer hochbewegten Zeit die lebhafte Sehnsucht erwacht war, den Schleier des Verborgenen zu lüften, die Zukunft des bedrängten Gottesvolks zu wissen"52 . Ausgehend von dieser Definition kommt Hilgenfeld nun zu einer Beschreibung der inhaltlichen und formalen Eigentümlichkeiten der ftiihjüdischen Apokalyptik. Die formalen Merkmale der jüdischen Apokalyptik erschließen sich Hilgenfeld ptimät von der alttestamentlichen Prophetie, teiiweise jedoch auch von der heidnischen Sibyllistik her. In diesem Zusammenhang sind in erster Linie die pseudepigraphische Abfassung, die Steigerung des Geheimnisvollen und Wunderbaren, das häufige Vorkommen von Traumgesichten und geheimen Offenbarungen und "die künstliche Bildlichkeit und Specialität der Darstellung" zu nennens3. Auch der Inhalt der jüdischen Apokalyptik ist nur von deren Verhältnis zur Prophetie her zu erfassen. Zentrales Anliegen der Apokalyptik sei es, "die Lebensfrage des späteren Judenthums zu lösen"S 4 , die darin besteht, "wie und wann die so lange von heidnischen Völkern besessene Weltherrschaft endlich auf das Gottesvolk übergehen werde"SS. Die Apokalyptik muß sich demnach der Aufgabe widmen, "den Widerspruch der Geschichte gegen das Bewusstsein des Judenthums durch die Weissagung der Erfüllung seiner Hoffnung auszugleichen"56. Der gesamte Verlauf der Weltgeschichte steht somit unmittelbar im Blickfeld der Apokalyptik. Diese Grundzüge der frühjüdischen Apokalyptik werden im Verlauf der Arbeit Bilgenfelds breit entfaltet. Bilgenfeld begreift hierbei die Geschichte der jüdischen Apokalyptik als eine sich "stufenweise" vollziehende Entwicklung, die mit dem biblischen Danielbuch einsetzt und im Essäismus als der unmittelbaren geschichtlichen Vorstufe des Christentums sein Ziel findet. Ferner arbeitet er die "Schicksalsidee" als entscheidendes Merkmal apokalyptischen Denkens herauss 7 . Aus der Vielzahl von Beobachtungen, die bis in unsere Tage von Bedeutung sind, sollen nur zwei Ergebnisse herausgegriffen werden, die gerade für unser Thema von großem Interesse sind. Hat doch Hilgenfeld zum ersten Mal auf zwei Aspekte aufmerksam gemacht, aus denen auf die "Sonderstellung" der Apokalyptik innerhalb des Frühjudentums geschlossen werden kann. So postuliert Hilgenfeld eine tempelfeindliche Einstellung der Henochbücherss und leitet aus Beobachtungen A.a.O .. 9. A.a.O .. 10. A.a.O .• 11 f. A.a.O., 11. ss A.a.O., 12. S6 A.a.O., 12. 57 In diesem Zusammenhang sei nochmals auf F. Lücke verwiesen, der seinerseits bereits von der Zwangsläufigkeit des Geschichtsablaufs im apokalyptischen Denken ausging. 58 A. Hilgenfeld, Die jüdische Apokai yptik, 120. SI Sl S3 54
Die Frühphase der Apokalyptikforschung
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zum 4. Esrabuch eine gesetzeskritische Haltung des Verfassers dieser Schrift ab. Abschließende WUrdigungs9: Das Hauptverdienst Hilgenfelds besteht ohne Zweifel darin, daß er als erster einen gelungenen Versuch unternommen hat, die jüdische Apokalyptik unter einem umfassenden geschichtlichen Gesichtspunkt darzustellen. Die jüdische Apokalyptik erscheint somit zum ersten Mal als eine eigene geschichtliche Größe. Die Tatsache, daß die konsequent historische Methode Hilgenfelds ganz im Banne des linear-entwicklungsmäßigen Geschichtsbegriffs der TUbinger Schule steht, was unwillkürlich zu Verzerrungen und Einseitigkeilen fUhren muß, kann dessen Verdienst jedoch kaum schmälern. Mit Blick auf gegenwärtige Fragestellungen verdient vor allem seine These von der jüdischen Apokalyptik als Bindeglied zwischen der alttestamentlichen Prophetie und dem Christentum Beachtung. Ferner erscheint nach Bekanntwerden der Qumrantexte auch der Versuch Hilgenfelds, eine Verbindungslinie zwischen apokalyptischen Gelehrten, Essenern und dem Christentum zu ziehen, in einem neuen Licht. FUr unsere Fragestellung verdient meines Erachtens vor allem dessen vorsichtiger Versuch, das apokalyptische Judentum hinsichtlich der Rolle des Gesetzes im 4. Esrabuch und der Tempelkritik in Teilen der Henochtradition als eigenständige Größe innerhalb des Frühjudentums zu erweisen, unsere besondere Aufmerksamkeit.
1.2.2.4 Zusammenfassung Lassen wir diese erste Phase der Apokalyptikforschung kurz Revue passieren, so ist der Begriff "Apokalyptik" am Ende dieses Abschnitts Gemeingut der Forschung geworden. Er steht fUr die Vorstellung einer eigenständigen literarischen und geistig-religiösen Größe, die ihre BlUtezeit zwischen 150 v. und 150 n. Chr. hatte. Von einem einheitlichen Verständnis des Phänomens Apokalyptik war man zu dieser Zeit jedoch bereits genau so weit entfernt wie heute. Weder Uber den Quellenbestand noch Uber die inhaltlichen und formalen Charakteristika der Apokalyptik herrschte Einigkeit60. Von den Ergebnissen dieser er-
59 Zum Ganzen siehe J.M. Schmidt. Die jüdische Apokalyptik, 142-145. 60 Die •.Kemtexte", aus denen man die inhaltlichen und fonnalen Wesensmerkmale der
Apokalyptik schöpfte. waren das Danielbuch, das äthiopische Henochbuch, das 4. Esrabuch und die Apokalypse des Johannes. Als fonnale Wesensmerkmale werden in erster Linie die pseudepigraphe Abfassung, Visionen und Träume. ekstatische Zustände, eine besondere Schriftauslegung und Einflüsse weisheitlieber Elemente genannt. Unter den inhaltlichen Merkmalen ragen die welt-und endgeschichtlichen Spekulationen, das universalistische und deterministische Geschichtsbild, die genaue Berechnung des Weitendes, die Erwartung einer neuen Schöpfung, die
32
Forschungsgeschichtliche Annäherung
sten intensiven Phase der Apokalyptikforschung kommt auf der inhaltlichen Ebene vor allem LUckes Versuch, das Universalistische Geschichtsbild ins Zentrum der Apokalyptik zu rücken, eine bleibende Bedeutung zu. Von besonderem Interesse für unsere eigene Arbeit sind die Bemerkungen Hitgenfelds Uber eine kritische Haltung der Apokalyptiker gegenüber dem jüdischen Tempellrult und dem pharisäischen Gesetzesverständnis. Traditionsgeschichtlich erscheint die Apokalyptik durchweg als "mißratenes Kind" der Prophetie. Der geschichtliche Zusammenhang zwischen Prophetie und Apokalyptik wird nie direkt geleugnet. Zudem erkennt man bereits in dieser frühen Forschungsphase religionsgeschichtliche Zusammenhänge zwisch'!n der Apokalyptik und den Religionslehren des Zweistromlandes, wobei vor allem die iranische Religion immer wieder genannt wird. Ferner erscheint die jüdische Apokalyptik als Bindeglied zwischen Prophetie und Christentum. Die Versuche, die soziologische Beschaffenheit der Apokalyptik zu bestimmen, reichen von esoterischen Kreisen bis zu der Überzeugung vom volkstümlichen Charakter dieser Gruppe. Interessant ist auch in diesem Zusammenhang wiederum Hilgenfelds Vermutung, daß gerade zwischen den Essenern und der Apokalyptik Verbindungslinien bestehen. 1.2.3 Der Niedergang der Apokalyptikforschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Diese drei im letzten Abschnitt dargestellten Positionen markieren für den deutschsprachigen Bereich nicht nur den Beginn der neutestamentlichen Apokalyptikforschung im eigentlichen Sinne, sondern stehen gleichzeitig auch fUr das Ende dieser ersten überaus fruchtbaren Phase der Apokalyptikforschung. Nachdem die Apokalyptikdebatte in der Zeit zwischen 1832 und 1860 eingehend gefUhrt worden war, schwandtrotzbedeutender Handschriftenfunde6 1 das Interesse an der Apokalyptik. Es sollten ungefahr 30 Jahre vergehen, bis die Apokalyptikforschung von neuem in den Mittelpunkt des Interesses rückte. Unter Vorherrschaft der zeit- und literargeschichtlichen Methodik kam es zu einer gänzlichen Vernachlässigung der für jede Apokalyptikforschung eminent wichtigen religions- und traditionsgeschichtlichen Fragestellung. So proklamiert die "literarkritische Schule", die uns vor allem in Gestalt der Alttestamentler Julius Weilhausen und Bernhard Duhm entgegentritt, einen fundamentalen Einschnitt zwischen Israel einerseits und dem Judentum andererseits, ein Einschnitt, der vor allem in der geschichtlichen Situation des Exils und der Person Esras Gestalt gewinnt. Alle nachexilische Literatur und damit auch die Apokalyptik erhält einen niederen Rang und steht als ,,Epigonenliteratur" unter dualistische Weltbetrachtung, die Erwartung des kommenden Menschensohn-Messias, die Auferstehung der Toten, das Weltgericht und die neue Weltherrschaft der Juden hervor. 61 Siehe K. Koch, Einleitung, in: Apokalyptik, 3f; ferner ders., Ratlos vor der Apokalyptik,
47.
Die zweite Blütezeit der Apokalyptikforschung um 1900
33
einem negativen Vorzeichen. Sowohl die "Gesetzlichkeit" des Judentums als auch die Eschatologie der Apokalyptiker wird als "Verfallserscheinung" der alttestamentlichen Prophetie angesehen. Für die Apokalyptik als Bindeglied zwischen Altem und Neuern Testament ist in diesem Konstrukt kein Platz. Die ,,literarkritische Schule" kreierte zudem die ,,Propheten-Anschluß-Theorie", die davon ausgeht, daß Jesus bzw. bereits Johannes der Täufer über 5 Jahrhunderte Verfall hinweg unmittelbar bei den großen alttestamentlichen Propheten anknüpfte. Von daher ist es nicht weiter verwunderlich, daß diese Kreise von einem speziellen theologischen Interesse an dem Phänomen der Apokalyptik weit entfernt waren62. Diese für die Apokalyptikforschung aufs Ganze gesehen recht trostlose Situation sollte sich jedoch mit einem Schlage ändern, als Johannes Weiß im Jahre 1892 sein kleines Büchlein ,,Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes" veröffentlichte. 1.2.4 Die zweite Blütezeit der Apokalyptikforschung in der Zeit um die Jahrhundertwende
1.2.4.1 Johannes Weiß Mit Johannes Weiß tritt die Apokalyptikforschung wiederum in eine fruchtbare Schaffensphase ein. In seiner Untersuchung ,,Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes" arbeitet Weiß heraus, daß der für die Lehre Jesu zentrale Begriff der "Gottesherrschaft" (ßa
1.2.4.2 Albert Schweitzer Im Anschluß an J. Weiß entwickelte A. Schweitzer sein Programm einer "konsequenten Eschatologie", demzufolge gerade die Apokalyptik den hermeneutischen Schlüssel darstellt, der es erlaubt, die Entwicklungslinie von Jesus über die Urgemeinde bis hin zu Paulus als Einheit zu fassen. Für Schweitzer ist nicht nur die Verkündigung Jesu, sondern auch die paulinische Theologie nur auf dem Boden der Apokalyptik verständlich. In seinem 1930 erschienenen Buch ,,Die Mystik des Apostels Paulus" versucht er den Nachweis zu erbringen, daß sowohl die paulinische Lehre von der Notwendigkeit des Sterbensund Auferstehens mit Christus als auch die paulinische Ethik des Erlöstseins in der 62
63
Zum Ganzen siehe K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, 35f. Johannes Weiß, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, 61-63.
34
Forschungsgeschichtliche Annäherung
apokalyptischen Sicht des Reiches Gottes wurzelt64. Während Schweitzer ein Einzelgänger ohne unmittelbare Verbindung zur ,,religionsgeschichtlichen Schule" war, kann man Johannes Weiß durchaus diesem Theologenkreis zurechnen, der nun, gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Apokalyptikdiskussion nach Jahrzehnten des Stillstandes neu entfachtefiS.
1.2.4.3 Die "religionsgeschichtliche Schule" Die ,,religionsgeschichtliche Schule" geht von der Grundmaxime aus, daß die (israelitisch-) christliche Religion keine statische, sondern eine dynamischchristliche Größe darstellt. In dem Versuch, das Werden des Christentums zu bestimmen. d.h. den Weg nachzuzeichnen. der von den späten Schichten des Alten Testaments zu den frtlhen Schichten des Neuen Testaments führt, wird der Apokalyptik eine entscheidende Bedeutung zugemessen. Die Apokalyptik avanciert nicht nur von neuem zum Bindeglied zwischen Altem und Neuern Testament, sondern sie erscheint geradezu als Mutterboden des gesamten Urchristentums. In erster Linie widmen sich die Religionsgeschichtler der Aufgabe, das durch wichtige Handschriftenfunde angewachsene apokalyptische Quellenmaterial einer sorgfältigen Auswertung zu unterziehen. Unter Einsatz der traditionsgeschichtlichen Methode untersuchen sie die Entwicklungsstadien apokalyptischer Texte und suchen den Einfluß fremder Religionen wie z.B. der iranischen und altbabylonischen Religion nachzuweisen. Die in diesen Kreisen verfaßten Standardwerke zur jüdischen Apokalyptik konnten bis in unsere Tage kaum übertroffen werden. Leider verlagerte sich das Interesse der Religionsgeschichtler bereits kurz nach 1900 von der Frage nach der frtlhjüdischen Apokalyptik weg, hin zu den Problemen eines altorientalisch-hellenistischen Synkretismus66. Die Neigung vieler Religionsgeschichtler, eher für Paulus und die palästinische Urgemeinde apokalyptische Prägung zuzugestehen, von der Person Jesu jedoch apokalyptische Beeinflussung so weit wie möglich femzuhalten, erfreut sich bis in unsere Tage großer Beliebtheit67 • Werfen wir an dieser Stelle einen kurzen Blick auf das Apokalyptikverständnis von H. Gunkel und W. Bousset, die sicherlich als die bedeutendsten Vertreter der ,,religionsgeschichtlichen Schule" anzusehen sind.
1.2.4.3.1 Hermann Gunkel In seinem Bemühen. das Neue Testament streng historisch zu erklären, hat Gunkel frtlh erkannt, daß die ,,Propheten-Anschluß-Theorie" den überliefe64 Zu A. Schweitzer siehe W. Zager, Begriff und Wertung, 102-112. 65 Diesem in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts entstandenen Theologenkreis, der sich
primär aus Göttinger Theologen aus der .,Schule" Albrecht Ritschls zusammemetzte, gehörten Albert Eichhorn (1856-1926), William Wrede (1859-1906), Hermann Gunkel (1862-1932), Wilhelm Sousset (1865--1920) und Ernst Troeltsch (1865--1923) an. 66 Siehe K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, 36. 67 Siehe K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, 57.
Die zweite Blütezeit der Apokalyptikforschung um 1900
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rungs- und religionsgeschichtlichen Tatbeständen nicht gerecht wird. Gunkel mißt nicht dem Alten Testament, sondern der zwischentestamentliehen Literatur die entscheidende Bedeutung auf dem Weg zum Christentum bei68. Wenn es um ein angemessenes Verständnis neutestamentlicher Gedanken geht, ragen für ihn aus dieser Literatur die jüdischen Apokalypsen heraus. Das Wesen der Apokalyptik bestimmt Gunkel von ihrem Geheimcharakter her. Das ",eigentlich' Apokalyptische" liegt für ihn darin begründet, daß all diese Schriften "an einem eigentümlichen Material participieren", das eine "phantastische Haltung" aufweist69 • Dieses Material und damit die inhaltliche Ebene der Apokalypsen, besteht aus ,,Eschatologie, Angelologie, Kosmologie und Urgeschichte"70. Zentrales formales Kriterium ist die Vision71 . Da für Gunkel das Wesen der Apokalyptik dadurch bestimmt wird, wieweit es an den oben genannten Inhalten partizipiert, kommt der Herkunft dieses Inhalts eine entscheidende Bedeutung zu. Mit Hilfe der traditionsgeschichtlichen Methode versucht Gunkel diese Frage zu lösen. Für Gunkel ist nicht der Verfasser einer Apokalypse deren eigentlicher Urheber, sondern alles kommt darauf an, die Geschichte des verarbeiteten Materials zu erhellen. Neben der alttestamentlichen Prophetie treten in diesem Zusammenhang immer stärker die orientalischen Religionen, vor allem die babylonische Religion als Wurzelboden der Apokalyptik in den Vordergrund72 • Das Fundamentaldogma der jüdischchristlichen Eschatologie ist für Gunkel das "Urzeit-Endzeit-Schema", das sich für ihn nur als Aufnahme babylonischer Traditionen verstehen läßt73 . So grundlegend sich Gunkel in seiner Methodik von der "literarkritischen Schule" auch unterscheidet, in der negativen Bewertung der Apokalyptik, die gegenüber der klassischen Prophetie lediglich ein unschöpferisches Epigonenturn darstellt, ist man sich weitgehend einig. Diese Auffassung kommt in folgendem Zitat klar zum Ausdruck: ,,Die Propheten sind gewaltige, durch und durch individuelle, im Leben ihrer Zeit wurzelnde Personen, die aus ihrem Eigensten und für ihre Zeitgenossen reden. Ganz anders die Apokalyptiker, die von der hohen Originalität der Propheten nichts wissen und nicht einmal ihren Namen zu nennen wagen"74 . In der Apokalyptik weht uns nach Gunkel "die dumpfe Luft der jüdischen Conventikel" entgegen7s. Obwohl Gunkel bekennt, daß ihm die Inhalte der Apokalyptik "überaus wenig sympathisch" sind76, kann er die Auferstehungslehre sehr positiv bewertenn. Daneben schätzt Gunkel vor allem das 4. 68 Siehe W. Klan (Hg.). ZThK 1969.4. 69 70
Siehe H. Gunkel, Schöpfung. 290. Siehe H. Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis. 29; vgl. ders., Schöpfung,
290.
71 Siehe H. Gunkel, Schöpfung, 290f. 72 Siehe 7 3 Siehe
H. Gunkel, Schöpfung, 87. H. Gunkel, Das 4. Buch Esra, in: APAT II. 364 Anm.q. 74 Siehe H. Gunkel, Schöpfung, 210. 1S Siehe H. Gunkel, Schöpfung. 396. 76 Siehe H. Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis, 31. 77 Siehe H. Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis. 32.
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Forschungsgeschichtliche Annäherung
Esrabuch, da sich dessen Gedanken seiner Meinung nach in vielem mit der paulinischen Theologie berühren.
1.2.4.3.2 Wilhelm Bausset W. Bousset hat neben Gunkel von allen Religionsgeschiehtlern wohl die gewichtigsten Beiträge zur Apokalyptikforschung geliefert78. Dies zeigt sich bereits daran, daß sein im Jahre 1902 verfaßtes Werk ,,Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter" bis zum heutigen Tage immer wieder neu aufgelegt wurde und zu den Standardwerken über die Apokalyptik gehört. Für Bousset ist die Apokalyptik nicht nur eine religiöse Strömung neben anderen, sondern sie gilt ihm als die alles beherrschende Strömung des Frühjudentums79. Im Gegensatz zu Gunkel, der an einigen Stellen Gefahr läuft, die traditionsgeschichtliche Methode zu verabsolutieren, betont Bousset das bleibende Recht sowohl der zeitgeschichtlichen als auch der literarkritischen Methode80 . Dies zeigt sich bereits bei der Frage nach der Entstehung der Apokalyptik. So unternimmt Bousset den Versuch, die jüdische Apokalyptik aus der israelitisch-jüdischen Geschichte heraus zu begreifen, während die von Gunkel betonte Abhängigkeit der jüdischen Texte von fremden religiösen Traditionen ins zweite Glied zurticktritt81 . Der Sprachgebrauch von Apokalyptik ist bei Bausset ziemlich uneinheitlich. Zum einen bezeichnet er mit dem Begriff Apokalyptik ein literarisches Phänomen, sprich die apokalyptische Literatur von Danie) bis zur syr. Baruchapokalypse. Apokalyptik ist für ihn in diesem Zusammenhang eine ,,Literaturgattung von einheitlichem Gepräge"82. Zum anderen begreift Bousset die Apokalyptik jedoch auch als eine geistig-religiöse Größe. Die Apokalyptik unterscheidet sich nach Bousset von der ihr vorausgehenden Zeit primär durch "die eschatologische Bestimmtheit und Orientierung des ganzen Gedankenkreises" als auch durch "das stärkere Wiederhervortreten des national politischen Charakters der Frömmigkeit"83. Im Gegensatz zu früheren Zeiten sind die Apokalyptiker jedoch der Überzeugung, daß diese Hoffnungsziele sich nicht mehr im Rahmen eines immanent verlaufenden Geschichtsprozesses erreichen lassen. Folglich läßt sich für Bousset das Wesen der Apokalyptik am besten im Gegenüber zum "Messianismus" bestimmen. Die Hoffnungsbilderdes Messianismus und der Apokalyptik stehen sich diametral gegenüberM. Der Messianismus vertritt spezifisch diesseitige, nationale Hoffnungen, während die Hoffnungen der Apokalyptik transzendenter, universaler und 78 So W. Zager, Begriff und Wertung, 127. 79 Siehe K. Koch, Ratlos, 56. 80 Siehe W. Bousset, Der Antichrist, 5f. 8l Siehe W. Bousset, Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum. Ein religionsgeschichtlicher Vergleich, Göttingen, 1892, 19: Bausset mißt gerade dem ,.gewaltigen nationalen Aufschwung in der Makkabäerzeit" eine entscheidende Bedeutung für die Entstehung der Apokalyptik zu. 82 W. Bousset, Art. JUdische Apokalyptik, 612 Z.39f. 83 W, Bousset, Jesu Predigt, 11. 84 Siehe W. Bousset, Die Religion des Judentums, 3. Aufl., 286f + 213.
Die zweite BlUtezeit der Apokalyptikforschung um 1900
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kosmologischer Natur sind85. Im Zentrum der Apokalyptik steht zweifelsohne die ,,Zwei-Äonen-Lehre" und zwar völlig unabhängig von der Frage, ob die geprägte Formel von gegenwärtigem und zukünftigem Äon vorliegt oder nicht86. Das Kommen der Zukunft bedeutet in der Apokalyptik das Kommen einerneuen Weltordnung. Zwischen altem und neuem Äon besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz. Für Bousset stellt die Apokalyptik keine genuin jüdische Erscheinung dar. Zentrale Inhalte der Apokalyptik wie z.B. der Gerichtsgedanke, die Auferstehungsvorstellungen leitet er aus der persischen Eschatologie ab87 • Die jüdische Apokalyptik als Gesamtphänomen wird von Bousset folgendermaßen bestimmt. Die Apokalyptik wurde durch den Messianismus daran gehindert, sich in ,,reiner Form" auszubilden. Die universale, transzendente und individualistisch-ethische Ausrichtung der Apokalyptik wird immer wieder durch die nationale Hoffnung überlagert88 . Bousset konstatiert ferner einen Unterschied zwischen der gemeinjüdischen Gesetzesfrömmigkeit und der ,,Hoffnungsfrömmigkeit" der Apokalyptiker89, ohne diesen jedoch zu einer regelrechten Antithese zwischen Pharisäismus und Apokalyptik auszubauen. Die gattungsgeschichtlichen Betrachtungen Boussets zeichnen sich dadurch aus, daß er zwei Hauptgattungen, die weissagende und die darstellende Vision von den Nebenformen Paränese, Gebet, Hymnus, Klagelied unterscheidet90 . Wenn es um die Frage nach der Bewertung der Apokalyptik durch Bousset geht, so wertet dieser lediglich die Merkmale positiv, die das Christentum unmittelbar vorbereiten halfen. Es sind dies vorwiegend die über die ältere nationale Hoffnung hinausgehenden "universalen, transzendenten individualistisch-ethischen Ansätze", wie sie sich im Auferstehungs- und im Gerichtsgedanken zeigen91 . Deneben überwiegen jedoch die abwertenden Urteile. Bousset konstatiert einen "Mangel an straffer Gedankenzucht" und ein "Übermaß an zügelloser Phantasie''92. Die "kleinliche Zukunftsrechnerei''93 ist für Bousset ebenso ein Stein des Anstoßes wie die Überlagerung der universalen Eschatologie durch die nationale Hoffnung. Die Trägerkreise der Apokalyptik sieht Bousset in den frommen Laien der Makkabäerzeit94 • Er denkt sich die Apokalyptiker offenbar als in kleinen literarischen Kreisen organisiert, doch ändert dies nichts daran, daß die Vorstellungen, die sich in der Apokalyptik finden, weitgehend auch der ,,Frömmigkeit des Volkes und der Masse" zugehören 95 . Zwischen einer phari-
85 Siehe W. Zager, Begriffund Wertung, 131. 86 Siehe 87 Siehe
W. W. 88 Siehe W. 89 Siehe W. 90 Siehe W. 91 Siehe W. 92 Siehe W. 93 Siehe W. 94 Siehe W. 95 Siehe W.
Bousset, Die Religion des Judentums, 3. Aufl., 243. Bousset, Die Religion des Judentums, 3. Aufl., 506-513. Bousset, Die Religion des Judentums, 3. Aufl., 209. Bousset. Die Religion des Judentums. 3. Aufl., 211. Zager, Begriff. 140. Bousset, Die Religion des Judentums, 3. Aufl., 206-210. Bousset, Diejüdische Apokalyptik, 9. Bousset, Jesu Predigt, 25. Bousset, Die Religion des Judentums, 3. Aufl., 184. Bousset, Die Religion des Judentums, 3. Aufl., 523.
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Forschungsgeschichtliche Annäherung
säisch-gesetzlichen und apokalyptisch-eschatologischen Frömmigkeit existiert für Bousset kein grundlegender Gegensatz96 •
1.2.4.3.3 Robert Henry Charles An dieser Stelle wollen wir unseren Durchlauf durch die deutschsprachige Forschungsgeschichte kurz unterbrechen und einen kurzen Blick auf R.H. Charles, den zweifellos wichtigsten Repräsentanten der angelsächsischen Apokalyptikforschung der Zeit um die Jahrhundertwende werfen97 • Aus der Fülle seiner Forschungsarbeiten, die das weite Feld der jüdischen Apokalyptik und der jüdischen apokryphen Literatur umfassen, ragen vor allem dessen Textausgaben heraus, die bis heute vielfach unübertroffen sind. Seine englische Übersetzung der Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments ist dem von Kautzsch geschaffenen deutschsprachigen Sammelwerk an einigen Stellen sogar überlegen. Das Apokalyptikverständnis von R.H. Charles läßt sich folgendermaßen charakterisieren98 . Der Ursprung der Apokalyptik liegt auch für Charles in der alttestamentlichen Prophetie. Das Wesen der Apokalyptik erschließt sich ihm primär aus dem Gegenüber zur Prophetie99. Die Apokalyptik wurzelt in dem seit der Exilszeit bedrängenden Problem der unerfüllten prophetischen Verheißungloo. In dieser Situation, die durch eine tiefe Krise des Tun-ErgehenZusammenhangs noch zusätzlich an Schärfe gewann 101 , machten sich die Apokalyptiker zu einer Neuinterpretation der prophetischen Verheißungen auf. Die prophetische Hoffnung auf ein messianisches Zeitalter hat in diesem Zusammenhang eine Weiterentwicklung erfahren, wobei sich unterschiedliche Entwicklungsstufen feststellen lasseni02. Am Ende dieser Entwicklung steht eine rein jenseitige Eschatologie, die jede Hoffnung auf innerweltliches Heil ein fUr alle mal verabschiedet. Das irdisch messianische Reich wird zu einem zeitlich begrenzten Durchgangsstadium auf dem Weg zum jenseitigen Gottesreich degradiert103. Soziologisch ordnet Charles die Apokalyptik dem Pharisäismus zu, wobei er zwei Richtungen des Pharisäismus, nämlich die apokalyptische und die gesetzliche, unterscheidet 104 . Beide Richtungen hatten zunächst ihre Grundlage im Gesetz. Das Gesetz besaß ursprUnglieh auch für den Apokalypti96 Siehe W. Bousset, ThR 1907, 388: ,,Pharisäismus und Apokalyptik, Frömmigkeit der Observanz und Hoffnungsglaube, Gesetz und Gerichtsgedanke sind die zusammengehörenden Pole einer und derselben religiösen Erscheinung." 97 Siehe K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, 47. 98 Siehe vor allem R.H. Charles, Religious Development between the Old and the New Testament, London 1914, 12-26 (=Übersetzung der Seiten 12-26 durch U. Berger, Prophetie und Apokalyptik, in: Apokalyptik, hg. v. K. Koch und J.M. Schmidt, Dannstadt 1982, 173-192). 99 Siehe R.H. Charles, Prophetie und Apokalyptik, in: Apokalyptik, 175ff. 100 A.a.O., 181. IOI A.a.O., 180f. 102 A.a.O., 176-180. I03 A.a.O., 177. 104 A.a.o .• 185f.
Die Apokalyptikforschung nach dem 1. Weltkrieg
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ker ewige Gültigkeit, doch wurde bereits in der Spätphase der jüdischen Apokalyptik ein Weg beschritten, an dessen Ende mit dem Eingang der Apokalyptik ins Christentum die völlige Auflösung des Gesetzesgedankens stand. Einen wichtigen Meilenstein auf diesem Weg stellt das 4. Buch Esra dar, das nach Charles die Meinung vertritt, "daß das Gesetz nicht nur für die Erlösung Israels als Volk, sondern auch für die einer Handvoll Israeliten unzureichend war, wenn die Werke dieser wenigen nicht durch Glauben ergänzt und in Gottes Gnade angenommen würden"tos. Ein weiteres wichtiges Charakteristikum der Apokalyptik ist für Charles deren ethische Ausrichtung 106. Die Apokalyptik hat sowohl in religiöser als auch in ethischer Hinsicht den Weg für das Christentum bereitet. Die Apokalyptik ist nach Charles grundsätzlich positiv zu bewerten. 1.2.5 Die Apokalyptikforschung in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts
1.2.5.1 Der Niedergang der deutschsprachigen Apokalyptikforschung in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg Die zweite BlUtezeit der Apokalyptikforschung war jedoch nur von kurzer Dauer. Mit dem ersten Weltkrieg und der nach 1918 aufkommenden "dialektischen Theologie" erlebte die intensive Beschäftigung mit apokalyptischer Literatur ein jähes Ende. Für die Zeit vom Ende des ersten Weltkrieges bis zum Ausgang der 50er Jahre dieses Jahrhunderts kann zumindest im deutschsprachigen Bereich von einer eigentlichen Apokalyptikforschung keine Rede seint07 • Unter dem Einfluß von Paul Billerbecks "Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch" sah man in der deutschsprachigen Forschung immer stärker in der rabbinisch-pharisäischen Frömmigkeit und Theologie den religionsgeschichtlichen Hintergrund des Neuen Testaments. Die Apokalyptik wurde mehr und mehr als Randerscheinung abgetan. Erst um das Jahr 1960 erlebte die Apokalyptikforschung in Deutschland eine Renaissance, die bis in die Gegenwart anhält. Der Anstoß zu dieser Neuentdeckung der Apokalyptik ging jedoch weniger von der Exegese als von der systematischen Theologie aus. In diesem Zusammenhang sei in erster Linie auf W. Pannenberg verwiesen tos.
A.a.O., 186. A.a.O.,l83f. 107 Siehe W. Zager. Begriff und Wertung, 196. 108 Siehe K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, 93: ,,Mit Pannenberg hebt die Renaissance der Apokalyptik in der Nachkriegstheologie an". tOS 106
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1.2.5.2 Kurzer Ausblick auf die englischsprachige Apokalyptikforschung FUr den englischsprachigen Bereich sei fUr die Apokalyptikforschung dieses Zeitraumes in erster Linie auf Harold Henry Rowley verwiesen. Das 1944 von Rowley verfaßte Werk .,The Relevance of Apocalyptic" läßt sich als Zusammenfassung der Ergebnisse der britischen Apokalyptikforschung bis zu diesem Zeitpunkt verstehen t09. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist fUr Rowley die Überzeugung von der Einheitlichkeit der Apokalyptik und der Prophetietto. Die Apokalyptik stellt eine Weiterentwicklung der alttestamentlichen Prophetie dar. Im Zentrum der Apokalyptik steht eine rein zukünftige Heilserwartung. Neben der Prophetie mißt Rowley jedoch auch der persischen Religion einen entscheidenden Einfluß auf die Apokalyptik zullt. Auf der Suche nach soziopolitischen Faktoren, die für die Ausbildung der Apokalyptik verantwortlich zeichneten, betont Rowley in besonderem Maße die Makkabäerzeitii2. Die Apokalyptik erscheint geradezu als .,Kind" dieser Epoche. Zentrale inhaltliche Elemente der Apokalyptik sind fUr Rowley der Gedanke der göttlichen Leitung der Geschichte, eine optimistische Zukunftserwartung gepaart mit einer pessimistischen Einschätzung der Gegenwart und eine Hochschätzung der ethischen Lebensführung tt3. 1.2.6 Die Renaissance der Apokalyptikforschung um das Jahr 1960
1.2.6.1 Wolfhart Pannenberg Wolfhart Pannenberg entwickelte in den 50er Jahren in enger Zusammenarbeit mit seinen Heidelberger Kollegen Klaus Koch, Rolf und Trutz Rendtorff, Dietrich Rössler und Ulrich Wilckens sein systematisch-theologisches Programm der Universalgeschichte, das seinen deutlichsten Niederschlag in dem im Jahre 1961 erschienenen Sammelband .,Offenbarung als Geschichte"II 4 fandtts. Nach diesem in seinem Versuch, die tiefe Diskrepanz zwischen historisch-kritischer Forschung und dogmatischer Theologie, wie sie gerade für die Wort-GottesTheologie .,barthscher Prägung" Uber weite Strecken typisch ist, zu überwinden, einzigartigen Programm hat christliche Theologie .,ihren Sinn nur innerhalb des Rahmens der Geschichte, die Gott mit der Menschheit und durch sie mit seiner ganzen Schöpfung hat, auf eine Zukunft hin, die vor der Welt noch verborgen, an Jesus Christus jedoch schon offenbar ist" 1I6. Im Geschick Jesu Christi, insbesondere in seiner Auferstehung, hat sich das Ende der Geschichte proleptisch ereignet, während es fUr alle anderen Menschen noch aussteht. In 109 Siehe
K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, 48f. Apokalyptik, 3.Aufl., 17ff.
110 H.H. Rowley, 111 A.a.O., 37. 112
A.a.O .• 38. A.a.O., 33ff. W. Pannenberg (Hg.). Offenbarung als Geschichte, Göttingen 1961 (l982s). IIS Siehe K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, 95. II6 W. Pannenberg. Heilsgeschehen und Geschichte (1959), in : Grundfragen I. 22.
113 11 4
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der jüdischen Apokalyptik findet Pannenberg eine ausdrückliche Bestätigung dieses Programms. Vor allem zwei Merkmale der jüdischen Apokalyptik sind filr Pannenberg entscheidend: Zum einen nimmt in ihr zum ersten Mal "die Ausweitung der Geschichte auf das Ganze des Weltlaufs zwischen Schöpfung und Weitende" Gestalt an 117 • Zum anderen findet sich in ihr die Anschauung, daß erst am Ende allen Geschehens Jahwe als der eine und einzige Gott endgültig offenbar sein kann. Von besonderem Interesse für unsere Untersuchung ist die Tatsache, daß Pannenberg die jüdische Apokalyptik durchweg positiv würdigt. Diese positive Würdigung der apokalyptischen Tradition, die in krassem Widerspruch zu dem in dieser Zeit primär negativen Apokalyptikbild der historisch kritischen Wissenschaft stand, mußte unwillkürlich auf Einwände und Widerspruch stoßen 118 . Mit Blick auf unser Thema sei in diesem Zusammenhang vor allem auf die von verschiedener Seite erhobene Behauptung verwiesen, daß es der Apokalyptik an jedem echten Interesse an der Geschichte mangelt. Doch auch auf exegetischer Seite erwachte nun ein neues Interesse an der Apokalyptik.
1.2.6.2 Ernst Käsemann Ernst Käsemanns These, die Apokalyptik sei "die Mutter aller christlichen Theologie gewesen" 119 , löste vor allem innerhalb der ,,Bultmannschule" lebhafte Diskussionen aus. Während Jesu Verkündigung nach Käsemann die Unmittelbarkeit des nahen Gottes zur Sprache bringt und somit keine Beziehungen zu apokalyptischem Denken aufweist12°, sind die nachösterliche Gemeinde, die Synoptiker, und die paulinische Theologie weitgehend von der Apokalyptik bestimmt. Die Predigt Jesu vom nahen Gott wurde nach Ostern apokalyptisch abgelöst 121 • Im Zentrum dieser urchristlichen Apokalyptik steht nach Käsemann "die Thronbesteigung Gottes und seines Christus als des eschatologischen Menschensohnes", wobei sich gerade bei dieser Thronbesteigung Gottes Gerechtigkeit erweist 12 2. Käsemann treibt in diesem Zusammenhang die bereits aus den Zeiten der religionsgeschichtlichen Schule bekannte These vom un117 A.a.O., 26. Siehe K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, 94f: .Jndem Apokalyptik als legitimer Erbe des Alten und als notwendige Vorstufe des Neuen Testaments aufgefaßt wird, solche Apokalyptik zugleich als dogmatisch legitim, ja notwendig erscheint, wagt Pannenberg, sich zu einer Gedankenwelt zu bekennen, die seit dem Aufkommen der historisch-kritischen Forschung mehr als suspekt geworden war und zu der sich in der neueren Theologiegeschichte kein ernsthafter Theologe bekannt hat. Es gehört ein außergewöhnlicher Mut zu solcher Kehrtwendung eines systematischen Theologen; und es war unausweichlich, daß Widerspruch sehr bald laut werden mußte". ll9 E. Käsemann. Die Anfänge christlicher Theologie, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. II, 100. 120 A.a.O .• 99. 121 A.a.O., 100. 122 A.a.o .• 102. ll8
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apokalyptischen Jesus und seiner apokalyptischen Gemeinde derart auf die Spitze, daß die ganze Fülle von Unwahrscheinlichkeiten, die sie enthält, nur um so deutlicher zutage tritt 123 • Während jedoch auch die Arbeit Käsemanns, der völlig darauf verzichtet, den Begriff Apokalyptik religionsgeschichtlich zu verankern und von den apokalyptischen Texten her ausreichend zu begründen, noch nicht zur Apokalyptikforschung im eigentlichen Sinne zu rechnen ist 124 , kommt unzweifelhaft Otto Plöger das Verdienst zu, mit seiner Arbeit "Theokratie und Eschatologie" aus dem Jahre 1959 die Apokalyptikforschung selbst zu neuem Leben erweckt zu haben.
1.'2.6.3 Otto Plöger Otto Plöger unterscheidet innerhalb des Frühjudentums zwei große theologische Strömungen, die sich geradezu feindlich gegenüberstehen. Eine antieschatologische Priesteraristokratie, die theokratischen Gedankenmustern huldigt, läßt sich von eschatologischen Konventikeln unterscheiden, die in ihrem Denken in prophetischen Traditionen wurzeln. Zwar wird diese recht grobe ,,Zweiteilung" des Frühjudentums den tatsächlichen Gegebenheiten, die sich durch ein weit höheres Maß an unterschiedlichem Denken auszeichnen, sicherlich nicht gerecht, doch stellt sie zweifelsohne gegenüber allen ,,Einheitskonzeptionen" einen erheblichen Gedankenfortschritt dar. Gleiches gilt meines Erachtens für die bis in unsere Tage stark angefeindete, im Jahre 1960 erschienene Untersuchung "Gesetz und Geschichte" von Dietrich Rössler, die den Untertitel "Untersuchungen zur Theologie der jüdischen Apokalyptik und der pharisäischen Orthodoxie" trägt. Während Plöger mit Blick auf die Eschatologie das Frühjudentum in zwei unterschiedliche Strömungen teilte, wird bei Rössler die Antithese am Verhältnis zu Gesetz und Geschichte aufgezeigt.
1.2.6.4 Dietrich Rössler D. Rössler unternimmt in seiner Dissertation den Versuch, die apokalyptische Tradition als "theologischen Entwurf eigener Prägung" zu erweisen, der sich von der rabbinischen/pharisäischen Normaltheologie vor allem im Geschiehtsund Gesetzesverständnis unterscheidet. Im ersten Teil 125 seiner Untersuchung kommt Rössler zu dem Ergebnis, daß sich in der Theologie des pharisäischen Rabbinats, die er aus einigen wahllos zusammengestellten Zitaten aus der Rabbinischen Literatur (wobei er sich zumeist auf Strack-Billerbeck beruft), dem 1. Makkabäerbuch und dem Chronistischen Geschichtswerk erhebt, Geschiehtsund Gesetzesverständnis auffallend entsprechen. Betrachten wir zunächst das Gesetzesverständnis, so wird das Gesetz in dieser Tradition nur in der Gestalt 123 Siehe 124 Nach
K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, 73. W. Zager, Begriff und Wertung, 13, kann nur dort von Apokalyptikforschung im eigentlichen Sinne die Rede sein, wo eine ,.eigenständige methodische Durchdringung apokalyptischer Quellentexte" vorliegt. I2S Rössler, Gesetz und Geschichte, 1960 (= 19622), 12-42.
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seiner einzelnen Gebote zugänglich und faßbar. Das Gesetz erscheint als Summe der Einzelgebote126. Es ist eine ganz und gar ungeschichtliche Größe 127• Jede Gesetzesauslegung entfaltet lediglich das immer schon in der Tora Gegebene. Es gibt nichts Neues, eine Veränderung im Gesetz ist unmöglich12B. Die Gerechtigkeit des Frommen besteht in der Befolgung der einzelnen Gebote. Diese radikale Forderung, sich an der ständig wachsenden Fülle einzelner Gebote bewähren zu müssen, führt dazu, daß alles auf das Verhältnis von Verdienst und Schuld ankommt. Hierin ist die zentrale Stellung des Lohngedankens in dieser Konzeption begründet129 • Der Bundesgedanke wird dem Gesetzesgedanken untergeordnet. Werfen wir nun einen Blick auf Rösslers Ausführungen zum Geschichtsverständnis des pharisäischen Rabbinats, so zeichnet sich dieses, analog zum Gesetzesverständnis zunächst dadurch aus, daß die Geschichte in eine Kette einzelner Episoden und Situationen zerfä1Jt13o. Das Geschehen innerhalb eines geschichtlichen Ereignisses wäre prinzipiell zu jeder anderen Zeit auch möglich. Das Rabbinat versteht die Geschichte nicht als Einheit, folglich kann es auch die Vorstellung eines geschichtlichen Fortschritts nicht geben131. Im Grunde gibt es im Rabbinat keine "Geschichte", eine Tatsache, dem die Bedeutung der Toraals wesentlich ungeschichtlicher Größe entspricht132. Wenden wir uns nun dem für unsere Arbeit bedeutend interessanteren zweiten Tei1 133 der Untersuchung Rösslers zu, der sich mit dem Gesetzes- und Geschichtsverhältnis der apokalyptischen Tradition befaßt, so hat meines Erachtens die Tatsache, daß Rössler auch an dieser Stelle darauf verzichtet, seine Textauswahl ausfUhrlieh zu begründen, weit weniger Kritik verdient. Während seine Zusammenstellung der rabbinischen Literatur mit dem Chronistischen Geschichtswerk und dem 1. Makkabäerbuch als Quellen für das pharisäische Rabbinat doch recht abenteuerlich anmutet, befindet er sich mit dem äthiopischen Henochbuch, der syrischen Baruchapokalypse und dem 4. Esrabuch zweifellos im Zentrum der frühjüdischen Apokalyptik. Nach Rössler besteht auch in der apokalyptischen Tradition zwischen dem Gesetzes- und Geschichtsverständnis ein Entsprechungsverhältnis, wobei das Geschichts- und Gesetzesverständnis dieser Schriften demjenigen des pharisäischen Rabbinats jedoch diametral entgegensteht. Das apokalyptische Gesetzesverständnis zeichnet sich zunächst dadurch aus, daß die konkrete Forderung, das Einzelgebot offensichtlich keine Rolle spieJt134. Überall erscheint das Gesetz als eine absolute Größe. Wird das Gesetz im pharisäischen Rabbinat als die gebietende, das Verhalten im Einzel126
A.a.O., 29.
127 A.a.O., 32.
128 A.a.O., 30. A.a.O., 41 und 33. A.a.O., 29. 131 A.a.O., 29f. 132 A.a.O., 42. 133 A.a.O., 43-105. 134 A.a.O., 45 und 50. 129 130
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fall regelnde Norm verstanden, so hat das Gesetz in der apokalyptischen Tradition eine völlig andere, eine ganz und gar geschichtliche Funktion. Während das pharisäische Rabbinat Geschichte lediglich als Kette einzelner voneinander unabhängiger Ereignisse und Situationen versteht und somit im Grunde kein Geschichtsbild besitzt, wird in der apokalyptischen Tradition dem einzelnen Ereignis sein Sinn allein vom umfassenden Rahmen der Geschichte her zugemessen. Die Geschichte wird analog zum Gesetz als Einheit verstanden. Gottes Plan und mit ihm die Universalgeschichte stehen im Brennpunkt des Interesses135. Im Zentrum des göttlichen Geschichtshandelns steht in diesem Zusammenhang die Erwählung, die die Teilhabe Israels am eschatologischen Heil und damit das Ziel des göttlichen Heilsplanes mit dieser Welt sicherstelll 1 3~. Folglich wird von Rössler das Gesetz in apokalyptischer Tradition vornehmlich als Dokument der Erwählung verstanden, dessen geschichtliche Funktion darin besteht, "daß es dem einzelnen seine Zugehörigkeit zum Gottesvolk erhält, daß er so Glied der erwählten Gemeinde bleibt und mit auf das Heil hin geführt wird" 137 . Demnach handelt es sich bei der apokalyptischen Rede von der "Gerechtigkeit" nicht um eine durch genaue Gebotsbefolgung zu erwerbende Qualifikation, sondern um das "Sein des Gerechten, dem als Glied des vorzeitlich erwählten Volkes, indem er das Gesetz bewahrt, die Zugehörigkeit zu diesem Volk erhalten bleibt"l38. Mit anderen Worten, der Gesetzesgedanke wird nach Rössler in der apokalyptischen Tradition einseitig vom Bundesgedanken her interpretiert. Werfen wir nun einen kurzen Blick auf das Echo, das Rösslers Ausführungen über das Gesetzes- und Geschichtsverständnis in der pharisäisch/rabbinischen und apokalyptischen Tradition in den Kreisen der neutestamentlichen Forschung fand, so waren die Meinungen durchaus geteilt. Auf einhellige Abiehnung stieß wohl zurecht die An und Weise, wie Rössler die Queilen für die beiden postulierten theologischen Strömungen auswählte. Zum einen ist es in keinster Weise einsichtig, daß die Rabbinische Literatur ausgerechnet in Verbindung mit dem chronistischen Geschichtswerk und dem 1. Makkabäerbuch eine einheitliche theologische Strömung repräsentiert. Aber auch Rösslers Beschäftigung mit der Rabbinischen Literatur ist mehr als mangelhaft. Ein Blick in den Kommentar von Billerbeck ersetzt allzuoft die notwendige Auseinandersetzung mit dem Originaltext. Zudem wird der enorme zeitliche Abstand sowohl innerhalb der Rabbinischen Tradition selbst, als auch mit Blick auf die apokalyptischen Vergleichstexte mit keinem Wort bedacht. Hinzu kommt noch die Tatsache, daß Rössler die gesamte Qumranliteratur, die sich ebenfalls ausführlich mit Gesetz und Geschichte beschäftigt, einfach ausblendet. Aber auch die Tatsache, daß er seine Untersuchung auf das äthiopische Henochbuch, die syrische Baruchapokalypse und das 4. Esrabuch als legitime Repräsentanten 135 A.a.O .• 55-70. A.a.O .• 65 und 69. A.a.O .• 101. 138 A.a.O .• 104. 136 137
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der apokalyptischen Literatur beschränkt, hätte, obwohl diese Texten zweifellos zum Kernbestand der frühjüdischen Apokalyptik gehören, ausführlicher begründet werden müssent39. Mit Blick auf die Ergebnisse seiner Arbeit bezogen sich Kritik und Zustimmung der Forschung in erster Linie auf seine Ausführungen zum Geschichtsverständnis der apokalyptischen Tradition. Seine Thesen zu dieser Frage wurden- primär jedoch im systematisch theologischen Bereich- heftig diskutiert. Während die einen in Rösslers Interpretation des apokalyptischen Geschichtsverständnisses, in deren Zentrum Gottes vorgegebener göttlicher Plan als Grund der Einheit der Geschichte steht, die exegetische Grundlage ihrer eigenen systematischen Versuche über Welt und Geschichte sahen, wurden dessen Ausführungen von anderen unter Hinweis auf die radikal dualistische Entgegensetzung von gegenwärtigem und zukünftigem Äon innerhalb der apokalyptischen Literatur entschieden zurückgewiesen1 40. Im Gegensatz zu der recht heftigen Diskussion über das Geschichtsverständnis der Apokalyptik fanden Rösslers Ausführungen über die Rolle des Gesetzes innerhalb der apokalyptischen Tradition weit weniger Beachtung1 4 1. Man begnügte sich meist mit einer recht pauschalen und dazu schlecht begründeten Zurückweisung von Rösslers Versuch, ein eigenständiges apokalyptisches Gesetzesverständnis zu erweisen, ohne sich jedoch die Mühe zu machen, in eine fruchtbare Auseinandersetzung mit dessen Thesen einzutretent 42. Nicht zuletzt auch dies soll im Rahmen der nachfolgenden Untersuchung zur Rolle des Gesetzes in der apokalyptischen Tradition nachgeholt werden.
1.2.6.5 David Syme RusseU143 Für den englischsprachigen Bereich sei an dieser Stelle auf D.S. Russe) verwiesen. Russell lehnt sich in seinem Apokalyptikverständnis eng an H.H. Rowley an. An der These einer engen Zusammengehörigkeit von Apokalyptik und Pro-
139
Auch Exegeten, die Rösslers Thesen wohlwollend gegenüberstehen, können nicht umhin, die mangelhafte Textauswahl heftig zu kritisieren. So z.B. K. Koch, Ratlos vor der Ai»kalyptik, GUterstob 1970, 39f. 140 Siehe W.R. Murdock, Interpretation 1967, 167-187. 141 Eine positive Würdigung fanden die Thesen Rösslers bei U. Wilckens, ZThK 1959, 273-293. 142 Als abschreckendes Beispiel einer solch pauschalen und an vielen Stellen unreflektierten Auseinandersetzung mit Rösslers Thesen mOchte ich auf A. Nissen, NT 1967, 241-277, verweisen. Während der bleibende Wert von Rösslers Arbeittrotz aller Mängel im einzelnen darin besteht, auf Differenzen innerhalb des Gesetzes- und Geschichtsverständnisses des Frühjudentums und damit auf die Vielschichtigkeit des Frühjudentums selbst aufmerksam gemacht zu haben, geht A. Nissen hinter diesen Erkenntnisfortschritt weit zurtlck, indem er lediglich Positionen der 20er Jahre dieses Jahrhunderts reproduziert und den von vomherein zum Scheitern verurteilten Versuch unternimmt, ausschließlich die Einheitlichkeit frühjüdischen Denkens zu erweisen. Eine bedeutend ausgewogenere Kritik an Rösslerbietet H.D. Betz, ZThK 1968, 257270; vgl. zum Ganzen K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, 39f und SOff. 143 Siehe vor allem D.S. Russell, Zwischen den Testamenten, Neukirchen 1962.
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phetie wird auch hier nicht gerüttelt. Ähnlich wie in Deutschland Plöger und Rössler geht auch er von zwei Strömungen innerhalb der ,.spätisraelitischen" Geschichte aus. Eine apokalyptische Strömung, die sich eng an die alttestamentliche Prophetie anlehnt, läuft mit einer rabbinischen, stark an Gesetz und mündlicher Tora orientierten, einher1 44 .
Nachdem die Apokalyptikforschung durch die Arbeiten Plögers und Rösslers einmal neu erweckt war, erfreut sich das Thema ,,Apokalyptik" bis zum heutigell Tag sowohl im deutschsprachigen, als auc:h- in weit höherem Maßeim englischsprachigen Bereich stets wachsender Beliebtheit. Aus der Fülle von Forschungsbeiträgen, die bis in die Gegenwart hinein die Apokalyptikdiskussion bestimmen, sollen einige wenige repräsentative Versuche ausgewählt und kurz dargestellt werden. 1.2.7 Die Apokalyptikdebatte der neueren Zeit Die gegenwärtige Apokalyptikdebatte beschäftigt sich primär mit drei großen Fragekreisen. Da ist zum einen die Frage nach der Apokalyptik als eigenständiger Gattung. Hierbei ist es vor allem die Form-Inhalt Relation, die uns als zentrales Problem entgegentritt. Ihren Gipfelpunkt erreicht diese Debatte in dem Versuch, Erwägungen über den ,,Sitz im Leben" der Apokalyptik aus jeder Gattungsbestimmung auszuklammern. Zum anderen wird jedoch in letzter Zeit auch die seit den Anfängen der Apokalyptikforschung virulente Frage nach der Herkunft, nach den traditions- und religionsgeschichtlichen Wurzeln der Apokalyptik wieder heftig diskutiert. Die Ursache hierfür liegt wohl dalin begründet, daß sich die Ansicht, die Apokalyptik sei kein rein jüdisches, sondern ein internationales Phänomen, wenn auch nicht im Sinne ,.einer ,internationalen apk Bewegung' von Iran bis Rom"145, immer größerer Beliebtheit erfreut. Zu guter Ietzt sind es noch soziologische Fragestellungen, aus denen vor allem 144
Siehe, K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, 51.
145 Siehe K. Rudolph, ,,Apokalyptik in der Diskussion", in: Apocalypticism. 788. Rudolph weist zwar obige Vorstellung einer internationalen Bewegung zurück, kann jedoch mit Blick auf traditionsgeschichtliche Zusammenhänge folgendermaßen formulieren: ..So finden wir unter dieser Betrachtung doch so etwas wie eine ,internationale' Strömung wieder. allerdings als ein traditionsgeschichtlicher Komplex, der unter jüdisch christlichen Vorzeichen die damalige Welt erobert hat, mit seiner differenzierten Vorgeschichte und, wie schon angedeutet, auch seiner, nun wirlclich universell-ökumenisch werdenden Nachgeschichte, deren Zeuge und Beteiligte wir noch heute sind". Siehe hierzu auch K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Ders., Studien, 55: •.Das allerdings hieße, endgültig Abschied zu nehmen von der Sektierernische, in welcher man bis zur Stunde die frühjüdische Apokalyptik zu verwahren pflegt. Statt dessen mUßte es darum gehen, die frühjüdische Apokalyptik als ein weltanschauliches Phäncr men ernst zu nehmen, das zu einer bestimmten Zeit unter anderem im Judentum aufbrach, als die gesamte Welt des Vorderen Orients einer Verfinsterung ihrer jeweils national verschiedenen Hoffnungshorizonte ausgesetzt war".
Die Apokalyptikdebatte der neueren Zeit
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diejenige nach den Trägerkreisen der Apokalyptik herausragt, um die heftig gestritten wird. Von den Entwürfen, die bis in die Gegenwart hinein die Apokalyptik bestimmen, sei zunächst für den deutschsprachigen Bereich auf die Arbeiten G. v.Radsl46, K. Kochs und Ph. Vielhauers verwiesen.
1.2. 7.1 Die Arbeiten Gerhard von Rads, Klaus Kochs und Philipp Vielhauers 1.2.7.1.1 Gerhard von Rad G. v.Rad hat sich mehrfach zur Apokalyptik geäußert 147 . Formgeschichtliche Erwägungen, die mit dem Ziel, zu einer Gattung "Apokalyptik" zu gelangen, vorgetragen werden, hält v. Radangesichts der Beschaffenheit des apokalyptischen Materials fUr völlig aussichtslos. Die Apokalyptik ist in formgeschichtlicher Hinsicht ein ,,mixtum compositum"l48. G. v.Rad geht sowohl mit der apokalyptischen Eschatologie, als auch mit dem apokalyptischen Geschichtsverständnis hart ins Gericht. Die Apokalyptik ist nach v.Rad nicht in der Lage, einen positiven Beitrag zu einer theologischen Eschatologie zu leisten. Die Frage nach der Menschensohn- und Auferstehungsvorstellung und deren Bedeutung für das NT wird mit keinem Wort auch nur gestreift. Die apokalyptische Geschichtsauffassung wird als deterministisch abgewertet1 49 . Die Apokalyptik ist geradezu Symbol eines "großen Geschichtsverlustes"ISO. Hinter der Apokalyptik steht ein im Grunde geschichtsloses Denken. Zu diesen auf den ersten Blick völlig unverständlichen Aussagen kann v. Rad nur deshalb gelangen, weil er entgegen dem großen Strom der Apokalyptikforschung nicht in der alttestamentlichen Prophetie, sondern in der Weisheit den Wurzelboden der Apokalyptik erblicktiSI. Zwar gab es auch schon vor v.Rad Exegeten, die dem weisheitliehen Element eine große Bedeutung in der Entstehungsgeschichte der Apokalyptik zumaßen (so z. B. G. Hölscher, Die Entstehung des Buches Daniet, ThSK 1919, 113-139}, doch war v.Rad der erste, der jeglichen inneren Kontakt zwischen Prophetie und Apokalyptik in Abrede stellte und die Apokalyptik ganz einseitig von der Weisheit her abzuleiten suchte. Während sich Koch und Vielhauer primär mit der Gattungsproblematik auseinandersetzen und sich mit Blick auf Aussagen über die Herkunft und die Trägerkreise der Apokalyptik eine gewisse Zurückhaltung auferlegen, besteht v.Rads Bedeutung 146G. v. Rad gehört mit seiner Theologie, Bd. II, 1960 zweifellos zu den Forschern, die für das Neuerwachen der Apokalyptikforschung um das Jahr 1960 verantwortlich sind. Da seine Fragestellungen, vor allem diejenige nach einer Verortung der Apokalyptik in der Weisheit bis in die allerneueste Zeit von großer Bedeutung sind, habe ich mich entschlossen, ihn zusammen mit K. Koch und Ph. Vielhauer in einem eigenen Abschnitt zu behandeln. 147 G. v. Rad, Theologie des AT, Bd. 2. 1960; 81984, 316-338; ders., Weisheit in Israel, 1970;31985,337-363. 148 G. v. Rad, Theologie des AT, Bd. 2, 81984,331 Anm. 28. 149 A.a.O., 322. ISO A.a.O., 321. 151 A.a.O., 323-331.
48
Forschungsgeschichtliche Annäherung
gerade darin, daß er in der Frage nach den Wurzeln der Apokalyptik eindeutig Stellung bezieht.
1.2.7.1.2
Klaus Koch
K. Koch geht davon aus, daß das erklärte Ziel aller formgeschichtlichen Bemühungen um das Phänomen ,,Apokalyptik" darin bestehen muß, eine eigenständige Gattung "Apokalyptik" herauszuarbeiten 152 . Nach K. Koch ist es der Exegese jedoch leider noch nicht gelungen, dieses Ziel zu erreichen 15 3. Gerade die deutschsprachige Gattungsforschung steckt in dieser Frage trotz erheblicher Fortschritte noch immer in den Anfängents4. Auf seinem Weg zu diesem Ziel setzt Koch in seiner 1970 verfaßten Streitschrift "Ratlos vor der Apokalyptik" bei dem literarischen Phänomen der Apokalypse ein und unternimmt einen ausdrUcklieh als ,.vorläufig" charakterisierten Versuch, eine literarische Gattung Apokalypse nachzuweisen. Koch griindet seinen Versuch auf zwei Voraussetzungen, die zunächst unbegriindet statuiert werden. Zum einen hat jeder, der sich um eine Gattungsbestimmung des Phänomens Apokalyptik bemüht von den Schriften auszugehen, ,.die hebräisch oder aramäisch abgefaSt sind oder in denen zumindest hebräischer oder aramäischer Geist dominiert"155. Zu diesen Schriften rechnet Koch das äthiopische Henochbuch, die syrische Baruchapokalypse, das 4. Esrabuch, die Apokalypse Abrahams und die Johannesoffenbarung. Diese Schriften sind jedem Versuch, das Wesen der Apokalyptik zu ergründen, von vomherein zugrundezulegen. Die Frage nun, was an diesen Schriften apokalyptisch ist, läßt sich nur dann beantworten, wenn es gelingt, gemeinsame Gattungsmerkmale aufzuweisen. Sämtliche form-, Iiteratur- und sprachgeschichtlichen Untersuchungen müssen bei diesen Schriften ansetzen. Als Endziel dieser Bemühungen wird der Erweis einer eigenständigen Gattung Apokalyptik anvisiert. Von diesem Ziel sieht sich Koch jedoch noch weit entfernt, so daß er sich auf seinem Weg dorthin zunächst auf die Konstatierung gemeinsamer Gattungsmerkmale beschränkt. In erster Linie sei in diesem Zusammenhang auf die formalen Merkmale verwiesen, zu denen Koch unter an152 Siehe K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, 20: ,,Es gibt aber Beobachtungen in den Texten, die zu formgeschichtlicher Untersuchung geradezu reizen und bis zum Erweis des Gegenteils den Eindruck erwecken, daß es tatsächlich so etwas wie eine Gattung Apokalyptik gegeben hat". 153 So muß K. Koch zugestehen, daß die Gattungsforschung auf dem Gebiet der Apokalyptikforschung ..noch in den Anfängen steckt"; siehe ders.,Einleitung, in: Apokalyptik, 12. Von anderer Seite werden formgeschichtliche Erwägungen mit Blick auf apokalyptisches Material von vornherein für völlig aussichtslos gehalten. Diese Haltung findet sich z. B. bei G. v.Rad, für den die Apokalyptik in formgeschichtlicher Hinsicht ein ..mixtum compositum" ist; so G. v.Rad, Theologie des AT, Bd. 2, 8 1984,331 Anm. 28. Eine ähnliche Meinung vertritt auch A. Nissen, der in Apokalypsen nichts anderes als ,.Mischprodukte der verschiedensten Gattungen" erkennen kann; so A. Nissen, NT 1967,246. 154 Solche Fortschritte zeigen sich z.B. in dem Aufsatz von K. Koch, Vom prr>fetischen zum apokalyptischen Visionsbericht, in: Apocalypticism, 413-446. ISS K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik. 19f.
Die Apokalyptikdebatte der neueren Zeit
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derem die großen Redezyklen, die seelischen Erschütterungen nach dem unerwarteten Widerfahrnis von Vision und Audition, paränetische Reden bzw. auch Eingangslegenden, die Pseudonymität und eine Sprache, die aus symbolreichen mythischen Bildern zählt. Abschließend wird nochmals ausdrücklich der Kornpositionscharakter der Apokalypsen betont156. Bereits diese äußeren Kennzeichen genügen, "um die Apokalypse als eine um die Zeitenwende im hebräischaramäischen Sprachraum gebräuchliche Gattung aufzufassen"l5 7 . Da die Apokalyptik jedoch eine komplizierte Rahmengattung darstellt, die offensichtlich mehrere Gliedgattungen in sich aufgenommen hat, ist eine Unterscheidung von Rahmen- und Gliedgattung das entscheidende Problem auf dem Weg zum endgültigen Erweis einer Gattung ,,Apokalyptik"158. Im Gegensatz zu anderen Tendenzen in der Apokalyptikforschung betont Koch ausdrücklich, daß eine sprachliche Gattung nicht auf formale Merkmale beschränkt werden kann. Das inhaltliche Element darf aus einer Gattungsbestimmung nicht ausgeklammert werden. Zu den inhaltlichen Merkmalen einer Gattung Apokalyptik gehören in erster Linie eine drängende Naherwartung, die Vorstellung des Endes als kosmische Katastrophe, der feste Zusammenhang zwischen der Zeit des Endes und der Geschichte der Menschheit und des Kosmos, die Sukzession der Weltherrschaften, Angelologie und Dämonologie, das neue Heil jenseits der Katastrophe, Urzeit-Endzeit Schema und die Betonung des lndividualgeschicks15 9 . All diese von Koch herausgegriffenen Motivkreise sind nach diesem in den einzelnen Apokalypsen ziemlich gleichmäßig verteilt. Einzelne Motive lassen sich zwar auch in anderen Schriften finden, die nicht der Apokalyptik zuzuordnen sind, doch ist gerade die Zusammenordnung dieser Motive für die Apokalyptik bezeichnend. Die Apokalyptik ist keinesfalls nur als literarische Erscheinung zu begreifen, sondern stellt ohne Zweifel eine besondere Geisteshaltung dar 160. Die Frage nach dem "Sitz im Leben", nach den Trägerkeisen der apokalyptischen Literatur läßt Koch noch offen, wendet sich jedoch bereits hier gegen alle Versuche einliniger soziologischer Festlegungen 161 . Ähnliches gilt auch für die Frage nach dem Wurzelboden apokalyptischer Ideen. Die Alternative - Prophetie oder Weisheit- kann auch nach Koch angesichtsder Tatsache, daß wir keine zeitgenössischen Nachrichten darüber besitzen, ob es Prophetie und Weisheit als Geistesbeschäftigung zweier verschiedener Stände im 2./3. Jahrhundert v.Chr. überhaupt noch gab, in dieser Ausschließlichkeit nicht mehr aufrechterhalten werdenl62. Koch mißt der alttestamentlichen Prophetie eine zentrale Bedeutung für die Apokalyptik zu, wenn er auch die Art und Weise,
156 A.a.O., 20-24; vgl. ferner K. Koch, Einleitung, in: Apokalyptik, 12f. 157 K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, 24. 15 8 A.a.O., 24. 159 A.a.O., 24-31; vgl. ferner K. Koch, Einleitung, in: Apokalyptik,l4-18. 160
K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik. 31.
161 K. Koch, Einleitung, in: Apokalyptik, 19. 162 A.a.O., 21.
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Forschungsgeschichtliche Annäherung
wie die Apokalyptik prophetisches Erbe aufnimmt, noch nicht fUr ausreichend geklärt hält 163 •
1.2.7.1.3 Philipp Vielhauer164 Ph. Vielhauer orientiert den Begriff "Apokalyptik" weit enger als K. Koch arn literarischen Phänomen der Apokalypsen. Von einer einseitigen Betonung der formalen Ebene nimmt jedoch auch Vielhauer Abstand. Inhaltliche und fonnale Elemente stehen bei ihm gleichberechtigt nebeneinander. Zu den formalen Charakteristika der Apokalypsen rechnet Vielhauer die Pseudonymität, den Visionsbericht, die GeschiehtsUberblicke in Futur-Form und die Tatsache, daß unterschiedliche Formen bzw. Formenmischungen in die Apokalypsen Eingang gefunden haben 16S. Als die wichtigsten gemeinsamen inhaltlichen Gesichtspunkte der Apokalypsen fUhrt Vielhauer die Zwei-Äonen-Lehre, die sich durch ihren Dualismus auszeichnet, den Pessimismus, die Jenseitshoffnung, den Universalismus und Individualismus, den Determinismus, die Naherwartung und die Uneinheitlichkeit der Vorstellungswelt der Apokalyptik anl66. Bei der Frage nach der Herkunft der Apokalyptik und den Trägerkreisen legt sich auch Vielhauer große Zurtickhaltung auf. Bei der Suche nach den Wurzeln der frUhjUdischen Apokalyptik kommt nach diesem der Prophetie zwar sicher eine zentrale Stellung zu167, doch haben auch weisheitliehe Elemente168 und außerisraelitische Vorstellungen ihren Teil zur Entstehung der Apokalyptik beigetragen. Als die ,,Heimat der Apokalyptik" bestimmt Vielhauer ,jene eschatologisch bewegten und erregten Kreise ... , die von der Theokratie immer mehr in ein Konventikeldasein gedrängt wurden (0. Plöger), die durch eschatologische Naherwartung, dualistische Vorstellungen und Esoterik eine gewisse Verwandtschaft mit der Gemeinde von Qumran, durch Bildung, Wissensstoff und Formen eine gewisse Verwandtschaft mit den Kreisen der , Weisheit' besitzen"l69.
1.2.7.1.4 Zusammenfassung Fassen wir die Ergebnisse kurz zusammen, so steht sowohl fUr K. Koch als auch fUr Ph. Vielhauer die Gattungsproblematik im Vordergrund, während G. v.Rad seine besondere Aufmerksamkeit der traditionsgeschichtlichen Frage
163 Siehe jedoch hierzu den Versuch Kochs in seinem Aufsatz, Vomprofetischen zum apokalyptischen Visionsbericht. in: Apocalypticism, 413-446. 164 Siehe Ph. Vielhauer, Einleitung, in: NTApo 0, 491-515; ferner ders., Geschichte der urchristlichen Literatur, 485-494. 16S Ph. Vielhauer, Einleitung, in: NT Apo II, 494-497. 166 A.a.O., 498-503. 167 A.a.O., 505: ,,Dennoch sollte ... nicht bestritten werden. daß nicht nur durch die apokalyptischen ,Seher' ein prophetischer Anspruch erhoben wird, sondern auch faktisch Verbindungslinien zur alttestamentlich-jüdischen Prophetie bestehen". l68 A.a.O., 506. l69 A.a.O., 506.
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nach den Wurzeln der Apokalyptik zuwendet. Wurde in der bisherigen Forschung die zentrale Bedeutung der alttestamentlichen Prophetie und damit eines eschatologischen Geschichtskonzeptes fl.ir die Entstehung der Apokalyptik kaum in Zweifel gezogen, so betritt G. v.Rad mit seiner einseitigen Verortung der Apokalyptik in der Weisheit quasi ,,Neuland". K. Koch und Ph. Vielhauer halten dagegen, wenn auch in unterschiedlichem Maße, an einer engen Verbindung zwischen Prophetie und Apokalyptik fest. In ihrem Versuch, eine eigenständige Gattung "Apokalyptik" herauszuarbeiten, kommen beide über die Konstatierung bestimmter formaler und inhaltlicher Eigentümlichkeiten des Phänomens Apokalyptik kaum hinausi 70. Als formale Kriterien werden die Pseudonymität, die Verwendung literarischer Formen wie Vision oder Audition, Himmelsreisen, Geschichtsdarstellungen, Gebete, Dialoge, Abschiedsreden und Paräßesen angeführt, wobei jedoch die Bedeutung der einzelnen Kriterien von Autor zu Autor schwankt. Den inhaltlichen Charakteristika eignet noch ein weit höheres Maß an Uneindeutigkeit. Zu diesen werden in erster Linie die Zwei-Äonen-Lehre, Pessimismus, Jenseitshoffnung, Determinismus, Naherwartung, Universalismus, Individualismus, die Gegenwart als letzte böse Zeit vor dem Ende, Kosmologie und Angelologie gerechnet. All diese Kriterien sind zwar durchaus in der Lage, eine annähernde Beschreibung des Phänomens Apokalyptik zu geben, doch mangelt es ihnen immer dann an Eindeutigkeit, wenn es um die Gewichtung der einzelnen Elemente geht 17 1. Während z.B. Vielhauer mit Blick auf die Zwei-Äonen Lehre im Dualismus einen wesentlichen Grundzug der Apokalyptik siehtl72, stellt Koch die Vorstellung einer absoluten Diskontinuität zwischen den beiden Weltzeiten vehement in Fragel73. Da es in dieser Frage den inhaltlichen Kriterien gegenüber den formalen weit stärker an Eindeutigkeit mangelt, hat man sich vor allem in der amerikanischen Apokalyptikforschung für einen Weg entschieden, der von einer radikalen Trennung von Form und Inhalt ausgeht. Forscher wie M. Stone und P.D. Hanson versuchen dadurch für mehr terminologische Klarheit zu sorgen, daß sie für eine strikte Unterscheidung von "apocalypse", "apocalyptic eschatology" und "apocalypticism" eintreten. Inhaltliche und soziologische Aspekte werden als "apocalyptic eschatology" bzw. "apocalypticism" aus der formgeschichtlichen Bestimmung der "Gattung" Apokalypse herausgenommen, so daß sich hinter dem Terminus "apocalypse" nur noch ein rein literarischer Gesichtspunkt verbirgt1 74 . Durch diese Ausblendung aller historisch-politischen und so-
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17 Fortschritte auf diesem Gebiet sind jedoch nicht zu leugnen. So sei in diesem Zusammenhang nochmals ausdrücklich auf den Aufsatz K. Kochs, Vom profetischen zum apokalyptischen Visionsbericht, in: Apocalypticism. 413446. verwiesen. 171 So auch H. v.Lips. Weisheitliehe Traditionen, 78. 172 Siehe Ph. Vielhauer, Einleitung. in: NT Apo II, 498. 173 Siehe K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, 27. 174 Vgl. M. Stone, Lists of Revea1ed Things in the Apocalyptic Literature, in: F.M. Cross and others (Hg.). Magnalia Dei. New York 1976. 414-452; P.D. Hanson, ,,Apoca1ypse, Genre" . ..Apocalypticism", in: IDBSup 27-34.
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zialen Aspekte, sprich alles dessen, was die deutschsprachige Exegese im weitesten Sinn unter dem "Sitz im Leben" eines Textes versteht, aus der Bezeichnung "Gattung" erhält der englische Begriff "genre" gegenüber der letztlich auf H. Gunkel zurückgehenden deutschsprachigen Forschung eine eigenständige Färbung17S. Im Anschluß an M. Stone und P.D. Hanson hat dann vor allem J.J. Collins den Versuch unternommen, das Phänomen Apokalyptik unter rein literarischen Gesichtspunkten zu beschreiben176.
1.2.7.2 John J. Collins J.J. Collins kom..'llt auf dem oben postuli'!rten Weg ,,reiner Literaturbetrachtung" zunächst zu folgender Definition der Gattung "apocalypse": ",Apocalypse' is a genre of revelatory Iiterature with a narrative framework, in which a revelation is mediated by an otherworldly being to a human recipient, disclosing a transcendent reality which is both temporal, insofar as it envisages eschatological salvation, and spatial insofar as it involves another, supernatural world" 177 . Im Anschluß an diese Definition arbeitet er zwei literarische Grundtypen der Gattung "apocalypse" heraus, die sich nochmals in jeweils 3 "Untertypen" unterteilen lassen. Der Hauptunterschied besteht nach J.J. Collins zwischen Apokalypsen, die von einer "otherworldly journey" berichten (Typ I) und solchen, die diese nicht besitzen (Typ II). Bezüglich der Eschatologie dieser Schriften ergeben sich darüberhinaus 3 Spezifizierungsmöglichkeiten, je nachdem ob die einzelne Schrift sich am eschatologischen Geschick des Individuums (c), an dem eines Kollektivs bzw. des gesamten Kosmos (b) oder schließlich an einer Kombination von kosmischer Eschatologie mit einem ausführlichen Geschichtsrückblick (a) interessiert zeigt. J.J. Collins kann somit 6 titerarische Typen von Apokalypsen unterscheiden, die sich seiner Meinung nach vor allem dadurch auszeichnen, daß sie lediglich allgemein menschliche Probleme zum Ausdruck bringen und sich gegen jede Eingrenzung auf einen speziellen historisch-sozialen Kontext wehren. Diese ahistorische Betrachtungsweise erlaubt es J.J. Collins, die von ihren Entstehungsverhältnissen her unterschiedlichsten Schriften zu einer Einheit zusammenzufassen. Auf diese Weise kann er z.B. das Testament Abrahams (1~15), die gnostische Paulusapokalypse und das 6.Buch von Vergils Aenäis dem gleichen literarischen Einteilungstyp zuordnen. Gerade diese völlig ahistorische Betrachtungsweise stellt meines Erachtens jedoch einen großen Mangel innerhalb der Apokalyp-
17S Siehe E.P. Sanders, The Genre of Palestinian Jewish Apokalypses, in: Apocalypticism, 447-459.450. 176 So am ausführlichsten in J.J. Collins, The Jewish Apocalypses, in: Ders. (Hg.), Apocalypse: The Morphology of a Genre, Semeia 1979, 1-59; vgl. hierzu J.J. Collins, The Apocalyptic Imagination, New York 1984, bes. 1-32. 177 J.J. Collins, The Jewish Apocalypses, in: Ders. (Hg.), Apocalypse: The Morphology of a Genre, (Semeia 14), Missoula, Mont. 1979,9.
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tikkonzeption von J.J. Collins dari7B. Hinsichtlich der flilhjüdischen Apokalypsen kommt J.J. Collins zu dem Ergebnis, daß 15 Schriften bzw. Schriftpartien aus der Zeit zwischen 250 v. und 150 n.Chr. der Gattung "apocalypse" zuzurechnen sind. Diese lassen sich auf die bereits charakterisierten verschiedenen Einteilungstypen folgendermaßen verteilen: Typ Ia ("Historical" Apocalypses with No Otherworldly Joumey): Daniel 7-12; 1Hen 83-90 (Tierapokalypse); 1Hen 93 + 91, 12-17 (Zehn-Wochen-Apokalypse); Jub 23; 4.Esra; 2Baruch. Typ Da (Apocalypses with An Otherworldly Joumey and a Review of History): Apokalypse Abrahams 15-32. Typ Ilb (Otherworldly Joumeys with Cosmic and/or Political Eschatology): 1Hen 1-36; 1Hen 37-71(Bilderreden); 1Hen 72-82 (Astronomisches Buch); 2Hen; Testament Levi 2-5. Typ Ilc (Otherworldly Joumeys with Only Personal Eschatology): 3Baruch; Testament Abrahams 10-15 (8-12 in Rec. B); Apokalypse Zephaniah. Apokalypsen des Typs lb (Apocalypses with Cosmic and/or Political Eschatology, which have neither historical review nor otherworldly joumey) und Ic (Apocalypses with Only Personal Eschatology and no otherworldly joumey) lassen sich nach J.J. Collins im frühjüdischen Bereich nicht feststellen. Schriften wie das Testament des Moses, der paränetische Teil des äthiopischen Henochbuches (lHen 91-104), die Testamente der 12 Patriarchen, das Testament Hiobs, die Sibyllinen und einige Teile der Qumranliteratur (4Q Visions de ,Amram', 4Q Ps Daniel, Vision of the New Jerusalem, Angelic Liturgy), die von verschiedener Seite immer wieder der "Apokalyptik" zugerechnet werden, sind für J.J. Collins zwar mit den vorher genannten Apokalypsen verwandt, müssen jedoch trotzdem streng von diesen unterschieden werden. Vergleichen wir an dieser Stelle die Ergebnisse J.J. Collins mit denen einiger anderer Forscher, die sich unabhängig von diesem einer ähnlichen Arbeitsweise verschrieben haben, so sei in diesem Zusammenhang an erster Stelle auf den französischen Forscher J. Carmignac verwiesenl 79.
1.2.7.3 Jean Carmignac J. Carmignac legt analog zu J.J. Collins seinem Versuch, das Phänomen "Apokalyptik" zu erhellen, die Methoden ,,reiner Literaturbetrachtung" zugrunde und kommt auf diesem Wege zu einer Definition der Gattung "Apokalypse", die sich kaum von der Definition des Amerikaners J.J. Collins unterscheidet. J. Carmignac spricht von "genre litteraire qui presente, a travers 17 8 Zur Kritik an J.J. Collins siehe vor allem E.P. Sanders, The Genre of Palestinian Jewish Apocalypses, in: Apocalypticism, 447-459, besonders 454f. 179 Siehe J. Carmignac, Qu'est-ce que l'apocalyptique? Son emploi a Qumrän, RdQ 1979, 3-33; ferner ders., Description du ph~nom~ne de I' Apocalyptique dans I' Ancien Testament, in: Apocalypticism, 161-170.
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des symboles typiques, des revelations soit sur Dieu, soit sur les anges ou les demons, soit sur leurs partisans, soit sur les instruments de leur action" 18°. Für beide steht der Offenbarungscharakter einer Schrift eindeutig im Zentrum, wenn es darum geht, diese der Gattung ,,Apokalypse" zuzuordnen. Im Gegensatz zu J.J. Collins mißt J. Carmignac dem zeitlichen Aspekt der Rettung und dem Motiv eines "außerweltlichen Mittlers" der Offenbarung jedoch keine tragende Bedeutung zu 181• Trotz einer großen Nähe bei dem Versuch, eine Gattung "Apokalypse" zu definieren, kommen beide Forscher in der Frage der Zuordnung einzelner Schriften zu dieser Gattung doch zu teilweise recht unterschiedlichen Ergebnissen. Während J.J. Collins z.B. lediglich Jub 23 zur Gattung "apocalypse'' rechnet, dehnt J. Carmignac diese Bezeichnung auf das gesamte Jubiläenbuch aus. Stoßen wir doch gerade an dieser Stelle, neben derbereits kritisierten ahistorischen Betrachtungsweise, auf ein weiteres Problem, das sich jedem Versuch, das Phänomen "Apokalyptik" gattungsmäßig in den Griff zu bekommen, erbarmungslos entgegenstellt. Handelt es sich doch bei allen Schriften, die im Rahmen der Apokalyptikdebatte diskutiert werden, um Texte, die einen langen, kaum mehr nachvollziehbaren Überlieferungsprozeß hinter sich haben. Der in höchstem Maße kompilatorische Charakter dieser Schriften bereitet jeder Gattungsbestimmung des Makrotextes Schwierigkeiten, die kaum zu überwinden sind. Entscheidet man sich im Anschluß an Carmignac dafür, die Gattungsbezeichnung "Apokalypse" immer der jeweiligen Gesamtschrift vorzubehalten, auch dann, wenn sie nur in einzelnen Teilen die erarbeiteten Definitionskriterien erfüllt, läuft man Gefahr, große Teile des Materials einer Schrift einfach unter den Tisch zu kehren. Gibt man J.J. Collins den Vorzug und bezieht die Gattungsbezeichnung ,,Apokalypse" bereits auf einzelne Teile einer Schrift, so stellt sich die Frage, welcher Gattung die jeweilige Gesamtschrift zuzurechnen ist. Das Verhältnis der jeweiligen Gesamtschrift zu ihren einzelnen Teilen wird sich wohl auch in Zukunft mit Blick auf apokalyptische Texte gattungsmäßig kaum zufriedenstellend lösen lassenl82. Zu guter Letzt wollen wir in diesem Kontext ,,reiner Literaturbetrachtung" auch noch ein Beispiel aus der deutschsprachigen Forschung anführen und auf den Göttinger Neutestamentler H. Stegemann verweisen.
1.2.7.4 Hartmut Stegemann Auch für H. Stegemann ist "Apokalyptik" ausschließlich ein literarisches Phänomen, "nämlich die Anfertigung von ,Offenbarungsschriften', die Sachverhalte ,enthüllen', die sich nicht aus innerweltlichen Gegebenheiten, beispielsweise aus dem vorgegebenen ,Erfahrungswissen' ableiten lassen, sondern die Cannignac, Qu'est-ce que l'apocalyptique? Son emploi AQumrin, in: RdQ 1979, 20. Siehe J. Cannignac, Qu'est-ce que l'apocalyptique? Son emploi A Qumrin, in: RdQ 1979, 33; so auch E.P. Sanders, The Genre of Palestiman Jewish Apokalypses, in: Apocalypticism, 453. 182 Vgl. hierzu E.P. Sanders, The Genre of Palestinian Jewish Apokalypses, in: Apocalypticism, 454. 180 J.
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sich dem Autor und dem Leser nur erschließen durch den Rückgriff auf ,himmlisches Offenbarungswissen ' .. l83. Einige Zeilen weiter wird diese Definition noch etwas präzisiert: •.Bei ,apokalyptischer Literatur' muß es sich schon um ein regelrechtes Buch handeln, das speziell zu dem Zweck abgefaSt worden ist, ,himmlisches Geheimwissen' bewußt als solches zu traktieren und es dennoch einem bestimmten Leserkreis zu ,offenbaren'., 184 . Obwohl auch Stegemann das Phänomen •.Apokalyptik" auf das literarische Produkt .,Apokalypse" beschränkt, unterscheidet er sich - trotz aller Gemeinsamkeiten - von den bereits erwähnten Apokalyptikkonzeptionen eines J.J. Collins oder J. Carmignac, wenn er es ausdrücklich ablehnt, von einer eigenständigen literarischen Gattung .,Apokalypse" zu reden•ss. Angesichts der Versuche, wie sie vor allem im deutschsprachigen Bereich unternommen werdenl86, inhaltliche und formale Kriterien zu vermengen, wenn es darum geht, eine Apokalyptikdefinition zu erarbeiten, betont H. Stegemann, daß sich keinerlei inhaltliche Kriterien ausmachen lassen, die allen Apokalypsen gemeinsam sind und gleichzeitig auch nur auf diese beschränkt werden können 187 • Zum Kernbestand frühjüdischer .,Apokalyptik" rechnet H. Stegemann Teile der Henoch-Literatur, das Buch Daniel, die syrische-Baruchapokalypse und das 4. Buch Esra•ss. Daneben gehören für ihn auch das Jubiläenbuch 189 , vier Qumrantexte (.,Gigantenbuch", ,,Neues Jerusalem", ,,Engelliturgie", und die .,Amram-Visionen") 190 und einige andere Schriften, die er jedoch nicht explizit nennt, zur apokalyptischen Literatur. Entscheidendes Definitionskriterium ist für Stegemann der Topos .,Geheimwissen", der auf einen Ursprung der .,Apokalyptik" im Bereich priesterlichen Kalender- und Kultwissens verweist• 9 •. Mit diesem Kriterium fUhrt H. Stegemann ein traditionsgeschichtliches Element in seine Apokalyptikdefinition ein. Für H. Stegemann ist ein priesterlich-weisheitlicher, keinesfalls ein prophetischer Zusammenhang für die Ausbildung der Apokalyptik maßgebend. Analog zu G. v.Rad mißt Stegemann dem Geschichtskonzept der ,,Eschatologie" keine Bedeutung für die Entstehung der Apokalyptik zu1 92. Mit der Weigerung Stegemanns, in dem literarischen Phänomen .,Apokalypse" eine eigenständige literarische Gattung zu sehen, ist die formgeschichtliche ,,Methode" ..reiner Literaturbetrachtung" meines Erachtens an einem Punkt ange183 So H. Stegemann, Die Bedeutung der Qwnranfunde fUr die Erforschung der Apokalyptik, in: Apocalypticism. 498. 184 A.a.O .. 499. ISS A.a.O., 499. 186 Vgl. hierzu die Arbeiten zur Apokalyptik von Pb. Vielhauer, K. Koch und W. Harnisch. 187 So H. Stegemann, Die Bedeutung der Qumranfunde für die Erforschung der Apokalyptik, in: Apocalypticism, 499. 188 A.a.o .• 499. 189 A.a.O .. 509. 190 A.a.O., 520. 191 A.a.O., 501; vgl. hierzu K. Rudolph. ,,Apokalyptik in der Diskussion", in: Apocalypticism, 775. 192 Siehe H. Stegemann, Die Bedeutung der Qurnranfunde, 501.
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langt, der den Sinn dieser Methode doch vehement in Frage stellt und geradezu nach einem Gegenschlag verlangt, der den inhaltlichen Kriterien der "Apokalyptik" wieder mehr Aufmerksamkeit entgegenbringt. Angesichts der bereits mit Blick auf J.J Collins und J. Cannignac aufgezeigten Schwächen einer auf rein formalen Gesichtspunkten beruhenden Apokalyptikdefinition, entschließt sich deshalb E.P. Sanders dazu, zu einer ",essentialist' definition" zurockzukehren 193.
1.2.7.5 Ed Parish Sanders Das gemeinsame Band, das die Texte der fruhjüdischen Aookalyptik zusammenhält, beschreibt E.P. Sanders als "the combination of revelation with the promise of restoration and reversal" 194 • Die Themen ,,restoration" bzw. ,,reversal" beziehen sich nach Sanders in den der frohjüdischen palästinischen Apokalyptik zuzurechnenden Werken immer auf eine Gruppe, sei es Israel oder die "Gerechten", nie jedoch auf das einzelne lndividuuml 95. Das besondere Interesse am Ergehen des Einzelnen ist nach Sanders ausschließlich für die Apokalypsen der Diaspora bezeichnend 196. E.P. Sanders rechnet aufgrund dieser Kriterien folgende Texte zur fruhjüdischen palästinischen Apokalyptik: Daniel 7-12, das äthiopische Henochbuch in allen seinen Bestandteilen (1-36; 37-71, 72-82, 83-90, 91-104 [93.91,12-17]), das 4. Esrabuch, die syrische Baruchapokalypse, die Apokalypse Abrahams, das Testament Levis 2-5 und das 23. Kapitel des Jubiläenbuchesl 97 • Schriften, die von vielen Forschern mit der frohjüdischen Apokalyptik in Verbindung gebracht werden, wie die ,,Himmelfahrt des Mose" und die "Kriegsregel" aus Qumran ( 1QM), schließt Sanders aus dem Schriftenkorpus der frohjüdischen Apokalyptik aus, obwohl diese von der endzeitliehen Wiederherstellung Israels reden, da ihnen das Motiv einer "übernatürlichen Offenbarung" fehlt. Neben E.P. Sanders sei auch noch ganz kurz auf E. Brandenburger und K.H. Müller verwiesen, die gleichfalls eine Apokalyptikdefinition, die sich einseitig an dem literarischen Phänomen der "Apokalypse" orientiert, als nicht ausreichend empfinden.
1.2.7.6 Egon Brandenburger E. Brandenburger schlägt in seiner Studie zum 4. Esrabuch in bezug auf das zentrale Problem einer Wesensbestimmung des Phänomens Apokalyptik folgenden methodischen Weg vor. Angesichts der großen Unsicherheit, die in dieser Frage herrscht, bietet sich eine Methode an, in der "nach Verfahren und Absicht apokalyptischer Theologie im Gesamtentwurf einer klassischen Apoka19 3
So E.P. Sanders, The Genre of Palestiman Jewish Apokalypses, in: Apocalypticism.
458. 194
A.a.O., 456. A.a.O., 456.458. 196 A.a.O .• 456 Anm. 41. 197 A.a.O., 456f. 195
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lypse gefragt wird, und zwar so, daß dabei ihr engerer geschichtlicher und ihr weiterer theologiegeschichtlicher Horizont bedacht werden" 198 . Dieser methodische Ansatz wird von Brandenburger am 4. Esrabuch erprobt und ist filr seine an dieser Schrift gewonnene Apokalyptikdefinition verantwortlich. Brandenburger definiert eine Apokalypse "als eine Offenbarungsschrift..., die in einer verschlossen erscheinenden Weltsituation, in der Gottes weltordnendes Walten unter überkommenen Glaubens- und Verslehensvoraussetzungen nicht mehr einsichtig war, himmlisches Offenbarungswissen vermittelt; und zwar als geheime, der verschlossenen Weltsituation gegenüber jenseitige Weisheit, welche die Welt von ihrem Ende her entschlüsselt und auf dies Ende in Heil und Unheil hin orientiert"1 99 . Die Gültigkeit dieser Definition, die anhand des 4. Esrabuches entwickelt wurde, muß sich jedoch nach Brandenburger erst noch an der Untersuchung der übrigen apokalyptischen Schriften erweisen.
1.2. 7. 7 Karlheinz Müller K.-H. Müller verweist in seinem Bemühen, das Wesen der Apokalyptik zu ergründen, auf das Diktum A. Hilgenfelds, daß "der einzige Weg daher, auf welchem diese Einheit des Wesens, das sich in einer Mehrheit von Erscheinungen ausdrUckt, gefunden werden kann, die geschichtliche Entstehung dieser Apokalyptik (ist)" 200. Mit diesem Diktum gilt es nach K.-H. Müller nun endlich ernst zu machen. Das spezifisch "Apokalyptische" sieht Müller darin, daß sich im Frühjudentum ausgehend vom 2. Kapitel des Danielbuches eine völlig veränderte Vorstellung von dem sich in der Geschichte realisierenden Heil breit macht. Während für die Gesamtheit der älteren Überlieferungen Israels die Erinnerung an das von Gott bereits zugewandte Heil die je aktuellen Zukunftshoffnungen konstituierte, wird jetzt das Heil ausschließlich von der Zukunft her erwartet. Dieses Heil ist ohne jede Analogie, was sich im Gedanken zweier gänzlich verschiedener Weltzeiten niederschlägt201. Die Stimmung einer akuten Naherwartung gepaart mit der Vorstellung von der Einheit der Geschichte gehört nach K.-H. Müller von Anfang an zur unverzichtbaren Grundausstattung des eschatologischen Bekenntnisses202. Die Apokalyptiker erwarten keinen Fortschritt in der Geschichte, das Heil ist nicht das Ergebnis innerweltlicher Entwicklungen, sondern bleibt die "unantastbare Prärogative Gottes"203. Obwohl die Apokalyptiker alles von Gottes endzeitlichem Eingreifen her erhofften, versanken sie zum großen Teil nicht in Tatenlosigkeit, sondern waren trotzdem in der Lage, diese endzeitliche Hoffnung zum ,,Hebel einer aktiven Relativierung des Bestehenden" zu machen204. Das ,,Proprium des Apokalypti-
198 E. Brandenburger, Verborgenheit, 7. 199
A.a.O., 9.
200 Siehe A. Hilgenfeld, Die jüdische Apokalyptik, 8.
201 Siehe K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 52f. 202 A.a.O., 53f. 203 A.a.O., 54. 204 A.a.O., 54.
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sehen" besteht in der vehementen Eschatologisierung des Verständnisses der eigenen Geschichte. Die Ursachen für diese "abnorme Eschatologisierung" lassen sich nach MUller höchstens dann erklären, wenn man sich auf die "Suche nach vergleichbaren zeitgenössischen Reaktionen in benachbarten orientalischen Traditionsbereichen" macht2os. Die Apokalyptik ist ein weltanschauliches Phänomen, "das zu einer bestimmten Zeit unter anderem auch im Judentum aufbrach, als die gesamte Welt des Vorderen Orients einer Verfinsterung ihrer jeweils national verschiedenen Hoffnungshorizonte ausgesetzt war"206. Er kann in diesem Zusammenhang auf das "Orakel des Hystaspes" und das ägypt. "Töpferorakel" als analoge Phänomene verweisen207. 1.2.8 Zusammenfassung Am Ende dieses Überblicks Uber zentrale Positionen der neueren Apokalyptikforschung angelangt, wollen wir zu den eingangs erwähnten drei großen Fragekreisen zurückkehren, die fUr die gegenwärtige Apokalyptikforschung bestimmend sind. Da wir im Rahmen dieses Überblicks Zeugen recht unterschiedlicher Versuche, sich Uber Wesen, Herkunft und Trägerkreise der Apokalyptik Klarheit zu verschaffen, wurden, bietet es sich an, etwas innezuhalten, die unterschiedlichen Ansätze zu bUndein und mit einigen kritischen Bemerkungen zu versehen.
1.2.8.1 Das Phänomen der Apokalyptik aus formgeschichtlicher Sicht Im Zentrum aller formgeschichtlichen Bemühungen um das Phänomen der Apokalyptik steht zweifellos die Frage nach der Apokalyptik als eigenständiger Gattung. Zwar wird von verschiedener Seite und mit den unterschiedlichsten BegrUndungen immer noch darauf hingewiesen, daß formgeschichtliche Erwägungen in bezug auf apokalyptisches Material aussichtslos seinen, doch geht die große Mehrheit der Exegeten davon aus, daß das Endziel jeder formgeschichtlichen Beschäftigung mit dem Phänomen der Apokalyptik darin bestehen muß, eine eigenständige Gattung "Apokalyptik" zu erweisen. Im Kontext der Gattungsproblematik kommt in der Forschung vor allem der Form-lnhalt Relation eine besondere Bedeutung zu. Auf der einen Seite stehen all diejenigen, die an der engen Zusammengehörigkeit von Form und Inhalt festhalten, wenn es darum geht, eine Gattung "Apokalyptik" zu bestimmen208. Die Vielzahl von Schwierigkeiten, die gerade die inhaltlichen Elemente in diesem Zusammenhang bereiten, werden zunächst bewußt in Kauf genommen. Vor allem die Bedeutung von Eschatologie und Geschichte wird höchst konträr diskutiert. Die Tatsache, daß den inhaltlichen gegenüber den formalen Kriterien im Rahmen der Gattungsbestimmung ein weit höheres Maß an Uneindeutigkeit eignet, 205 A.a.O., 55. 206 A.a.O., 55. 207 A.a.O .• 55. 208 So z.B. K. Koch. Ph. Vielhauer. E. Brandenburger. W. Harnisch.
Zusammenfassung
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hat primär in der amerikanischen Apokalyptikforschung dazu geführt, die inhaltlichen Elemente auszuklammern. Die einseitige Konzentration auf die formalen Kriterien hat eine Ausblendung aller historisch-politischen und sozialen Aspekte aus der Gattungsbestimmung zur Folge. Die Apokalyptik wird zu einem rein literarischen Phänomen. Da im Rahmen der formgeschichtlichen Erforschung des Phänomens der Apokalyptik auch in Zukunft kaum ein wissenschaftlicher Konsens zu eiWarten ist, seien abschließend einige eigene Überlegungen in dieser Frage erlaubt. a) Die formgeschichtliche Beschäftigung mit dem Phänomen der Apokalyptik muß bestrebt sein, eine eigenständige Gattung "Apokalyptik" zu eiWeisen. Ein Verzicht auf dieses Endziel müßte unwillkürlich erhebliche Zweifel an Sinn und Zweck aller formgeschichtlichen Bemühungen in dieser Frage nach sich ziehen. Die rein literarische Betrachtung des Phänomens der Apokalyptik spricht sich somit selbst ihr Urteil, da sie immer weiter von diesem formgeschichtlichen Endziel wegfUhrt, eine Tatsache, die in H. Stegemanns Absage an eine eigenständige literarische Gattung "Apokalypse", einen beredten Ausdruck findet. b) Jede formgeschichtliche Arbeit an apokalyptischen Texten muß sich die Erkenntnis zu eigen machen, daß Form und Inhalt aufs engste zusammengehören. Nicht umsonst bilden bereits zu Beginn der Apokalyptikforschung Inhalt und Form eine terminologische Einheit. Hinter diese Position darf unter keinen Umständen zurückgegangen werden. Gerade dann, wenn man sich im Rahmen seiner Apokalyptikstudien etwas näher mit dem 4. Esrabuch beschäftigt hat, kann man sich eine Vorstellung von den verheerenden Auswirkungen für die Interpretation einer Schrift machen, die jedes Auseinanderreißen von Form und Inhalt unwillkürlich nach sich ziehen muß. Kann sich die Theologie des 4. Esrabuches doch nur demjenigen erschließen, der die Form-Inhalt-Relation ernst nimmt209. Über das 4. Esrabuch hinaus ist - sicherlich in etwas geringerem Maße- die Form-Inhalt-Relation aber auch für die Interpretation anderer apokalyptischer Schriften von großer Bedeutung21o. c) Eine eminente Schwäche der Position reiner Literaturbetrachtung liegt in deren ahistorischer Betrachtungsweise begründet. Ohne die genaue Kenntnis der historisch-politischen und sozialen Hintergründe einer Schrift ist ein angemessenes Verständnis derselben nicht möglich. Dies gilt meines Erachtens in besonderem Maße für apokalyptische Texte. Wer glaubt, apokalyptische Texte losgelöst von ihrem speziellen historischen Kontext als Ausdruck allgemein menschlicher Probleme verstehen zu können, unterliegt einem folgenschweren Mißverständnis211. 209 Siehe W. Harnisch. Der Prophet als Widerpan und Zeuge der Offenbarung. in: Apocalypticism. 461-493; ferner K. Rudolph ...Apokalyptik in der Diskussion", in: Apocalypticism. 775. 210 Vgl. hierzu z.B. die Ausführungen zur syrischen Baruchapokalypse. 2IJ Gegen J.J. Collins.
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Forschungsgeschichtliche Annäherung
d) Jeder formgeschichtliche Versuch, das Phänomen der Apokalyptik zu erfassen, muß von vomherein traditionsgeschichtliche und soziologische Fragestellungen mitbertlcksichtigen. Erst aus einer Verbindung formgeschichtlicher, traditionsgeschichtlicher und soziologischer Erkenntnisse, kann es zu einem überzeugenden Definitionsversuch der frtlhjüdischen Apokalyptik kommen. Bevor wir deshalb den Versuch unternehmen, diese vier .,formgeschichtlichen Grundmaxime" in einen eigenen Definitionsversuch zu überführen, sind einige Bemerkungen zur Frage nach der Herkunft und den Trägerkreisen der Apokalyptik unabdingbar.
1.2.8.2 Die Frage nach der Herkunft der Apokalyptik Die Frage nach den traditionsgeschichtlichen Wurzeln der Apokalyptik wird in der gegenwärtigen Forschung gleichfalls recht konträr diskutiert. Die Fragestellungen haben sich hierbei in den letzten drei Jahrzehnten Apokalyptikforschung kaum verändert. An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang immer noch auf den mächtigen Chor all der Stimmen zu verweisen, die in der alttestamentlichen Prophetie den entscheidenden Ausgangspunkt einer bis zur apokalyptischen Literatur reichenden Traditionskette erblicken 212. An zweiter Stelle seien diejenigen genannt, die sich in den Fußstapfen G. v.Rads bewegen und bemüht sind, in einer wie auch immer näher bestimmten weisheitliehen Tradition die Grundlage der Apokalyptik zu finden213. Zu guter Letzt verschaffen sich vor allem in neuererZeitvermehrt solche Stimmen Gehör, die auf die große Bedeutung außerjüdischer Traditionen verweisen, wenn es darum geht, den Ursprung der Apokayptik zu erhellen. In erster Linie fUhrt man in diesem Zusammenhang iranische Traditionen21 4 , daneben jedoch auch Heilszeit- und
212 Aus der Fülle von Veröffentlichungen zu diesem Thema seien genannt: K. Koch, Vom profetischenzum apokalyptischen Visionsbericht, in: Apocalypticism, 413-446; J. Carmignac, Description du ph~nomene de I' Apocalyptique dans I' Ancien Testament, in: Apocalypticism, 161-170; P.D. Hanson, Old Testament Apocalyptic Reexamined, JBR 1971. 454-479; P. von der Osten-Sacken, Die Apokalyptik in ihrem Verhältnis zu Prophetie und Weisheit, München 1969; H.H. Rowley, The Relevance of Apocalyptic, 1944, 21947= 1952. Deutsch: Apokalyptik. Ihre Form und Bedeutung zur biblischen Zeit, 1965. 213 Zwar ging man auch schon vor G. v.Rad davon aus, daß weisheitliehe Traditionen in die apokalyptische Literatur Eingang gefunden haben (so z.B. G. Hölscher, Die Entstehung des Buches Daniel. ThSK 1919, 113-139), doch war v.Rad der erste, der jeglichen inneren Kontakt zwischen Prophetie und Apokalyptik in Abrede stellte, und den Versuch unternahm, die Apokalyptik ausschließlich von der Weisheit her abzuleiten; siehe in diesem Zusammenhang G. v.Rad, Theologie des AT, Bd. 2, 81984, 316-338; ders., Weisheit in Israel, 31985, 337-363; J.C.H. Lebram, The Piety of the Jewish Apocalyptists, in: Apocalypticism, 171-210; H. Stegemann, Die Bedeutung der Qumranfunde für die Erforschung der Apokalyptik, in: Apocalypticism, 495-530, bes. 498-510. 21 4 Siehe A. Hultgard, Das Judentum in der hellenistisch-römischen Zeit und die iranische Religion- ein religionsgeschichtliches Problem, in: ANRW II 19,1, 1979, 512-590; H.G. Kippenberg, Die Geschichte der mittelpersischen apokalyptischen Traditionen, Stlr 1978, 49-80;
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Unheilsorakel mesopotamischer und ägyptischer Provinienz ins Feld215 . Neben diesen drei "Hauptrichtungen"216 innerhalb der Bemühungen, die Frage nach der Herkunft der Apokalyptik zu lösen, soll an dieser Stelle noch eine weitere traditionsgeschichtliche Wurzel erwähnt werden, deren Bedeutung gerade für die Frage nach dem Gesetzesverständnis der apokalyptischen Tradition des hebräisch/aramäisch sprechenden Judentums in griechisch-römischer Zeit nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Es handelt sich hierbei um die deuteronomisch-deuteronomistische Gesetzeslehre 217 . Vor allem mit Blick auf die syrische Baruchapokalypse und das 4. Esrabuch218 kann, wie im Laufe dieser Untersuchung noch ausführlich gezeigt werden wird, keinerlei Zweifel bestehen, daß die deuteronomisch-deuteronomistische Gesetzestradition eine wichtige traditionsgeschichtliche Wurzel dieser Schriften und damit der frühjüdischen Apokalyptik darstellt21 9 • Ohne bereits zu diesem frühen Zeitpunkt wesentlichen Ergebnissen dieser Studie vorgreifen zu wollen, kann zur Frage nach den Wurzeln der Apokalyptik bereits an dieser SteHe zumindest soviel gesagt werden. Es ist von vomherein zu vermuten, daß sämtliche monokausalen Erklärungsmuster zum Scheitern verurteilt sind, wenn es darum geht, die traditionsgeschichtlichen Grundfesten eines so vielschichtigen Phänomens, wie es die Apokalyptik darstellt, freizulegen. Die Apokalyptik gründet nicht auf einem einzigen, sondern auf einer Vielzahl traditionsgeschichtlicher Pfeiler, wobei jedem eine tragende Bedeutung filr das Gesamtgebäude zukommt. Selbst deljeG. Widengren, Leitende Ideen und Quellen der iranischen Apokalyptik. in: Apocalypticism, 77-162. 215 Zur Bedeutung der iranischen Weissagungen des Hystaspes und des ägyptischen Töpferorakels für die Frage nach den Ansätzen der Apokalyptik möchte ich auf K.-H. Müller, Die Ansätze der Apokalyptik, in : Studien, 19-33. verweisen. 2 16 Dieser Versuch. die traditionsgeschichtlichen Arbeiten zur frühjüdischen Apokalyptik zu systematisieren, darf nicht in dem Sinne mißverstanden werden, als ob jede Richtung von vomherein einen •.Ausschließlichkeitsanspruch" für ihre Herleitungsversuche erhebt. Dies trifft nur für eine Minderheit zu (z.B. G. v. Rad). Die große Mehrheit weiß um die Fragwürdigkeit aller monokausalen Erklärungsmodelle und ist durchaus bereit, mit verschiedenen Traditionsfaktoren zu rechnen. die lediglich unterschiedlich gewichtet werden. 217 Siehe in diesem Zusammenhang J. Maier, Apokalyptik im Judentum, in: Apokalyptik und Eschatologie. Sinn und Ziel der Geschichte. hrsg. v. H. Altbaus, Freiburg 1987, 43-72. 46: ... Apokalyptik' ist ein Symptom, das auftritt, sobald auf der Basis des deuteronorniseheschatologischen Geschichtsbildes die Überzeugung Platz greift, die eigene Gegenwart sei jene entscheidende Phase, in der im menschlichen und übermenschlichen Bereich die Wende zur Periode des endgültigen Heils einsetzt, so daß alles darauf ankommt. wie Israel als die für den Geschichtsprozeß verantwortliche Erwählungsgemeinschaft sich verhält". 2 18 Die deuteronomisch-deuteronomistischen Gesetzestradition ist jedoch auch für die Himmelfahrt des Mose und für Partien des biblischen Danielbuches von nicht geringer Bedeutung. 2 19 Siehe W. Harnisch, Der Prophet als Widerpart und Zeuge der Offenbarung. in: Apocalypticism, 461-493; O.H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, Neukirchen 1967, bes. 177ff.
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nige, der die Apokalyptik einseitig in prophetischer Tradition verankert sein läßt, tut sich schwer, die vehemente Eschatologisierung, wie sie für weite Strecken des apokalyptischen Geschichtsverständnisses bezeichnend ist, ausreichend zu erldären. Mehr Erfolg in dieser Frage verspricht wohl ein Blick über den Tellerrand alttestamentlich-jüdischer Traditionen hinaus auf analoge Phänomene in der persischen oder ägyptischen Umwelt220 . Die Apokalyptik läßt sich jedoch keinesfalls auf das Phänomen einer "abnormen Eschatologisierung", wie wichtig dieser Faktor auch immer sein mag, reduzieren. Tritt doch in einem Text wie dem "astronomischen Buch" der Henoch Literatur, der zweifelsohne zu den ältesten Zeugnissen der Apokalyptik gehört, das eschatologische Moment völlig zurtlck. Mit der starken Betonung priesterlichen Kalenderund Kultwissens weist dieser Text auf die "Weisheit" als entscheidende Wurzel der Apokalyptik221. Doch auch der Hinweis auf die "Weisheit" als ,,Mutter" der Apokalyptik greift wiederum viel zu kurz, wenn man an die Vielzahl von eindeutig prophetischen Elementen denkt, die sich innerhalb der apokalyptischen Tradition (z.B. die ausladenden Visionen) finden22 2. Ist es jedoch im Zusammenhang der Frage nach den traditionsgeschichtlichen Wurzeln der Apokalyptik überhaupt legitim, die Größen "Weisheit" und ,,Prophetie" so stark voneinander zu trennen, wie es lange Zeit üblich war. Hat die strenge Alternative "Weisheit oder Prophetie" ihren· Grund nicht in einer höchst unpräzisen Vorstellung dessen, was sich hinter dem Terminus "Weisheit" eigentlich verbirgt? Sieht man mit H.P. Müller in einer "mantischen Weisheit", in deren Zentrum die Wissenschaft von der Traumdeutung steht und die nach Dan 2 durchaus in der Lage ist, sich mit einer Periodisierung der Weltgeschichte zu verbinden, einen Ausgangspunkt der Apokalyptik, so verliert die Alternative "Weisheit oder Prophetie" ihre Schärfe223. Halten wir an der Überzeugung fest, daß die Apokalyptik aus einer Vielzahl unterschiedlicher Traditionen geschöpft hat, so besteht die Aufgabe der nachfolgenden Studie darin, in erster Linie die Traditionen herauszuarbeiten, die für das Gesetzesverständnis der frühjüdischen Apokalyptik bestimmend sind. Zum einen ist in diesem Zusammenhang die aus prophetischer, bzw. auch aus außerisraelitischer Tradition abgeleitete Tendenz einer "vehementen Eschatologisierung" zu nennen. Zum anderen wurden mit dem Hinweis auf das weisheitlieh geprägte priesterliche Kalender-und Kultwissen und der mit propheti-
220 Siehe
K.-H. MUIIer, Die frUhjUdische Apokalyptik, in: Studien, 52-57. 221 Siehe H. Stegemann, Die Bedeutung der Qumranfunde fUr die Erforschung der Apokalyptik, in: Apocalypticism, 498-510. 222 Siehe K. Koch, Vomprofetischen zum apokalyptischen Visionsbericht, in: Apocalypticism, 413-446; ferner ders., HZ 1961, 1-32. 223 Siehe H.P. MUIIer, Mantische Weisheit und Apokalyptik, VT Suppt. 1972, 268-293; vgl. hierzu auch J.C. VanderKam, The Prophetic-Sapiential Origins of Apocalyptic Thought. in: A Word in Season, FS W. McKane, Sheffield 1986, 163-176; ferner H. v. Lips, Weisheitliehe Traditionen, 1990, 80f.
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scher Überlieferung verbundenen deuteronomistischen Gesetzestheologie bereits zwei weitere Bereiche angeschnitten, die meines Erachtens fUr das traditionsgeschichtliche Verständnis der Gesetzesaussagen der frühjüdischen Apokalyptik von entscheidender Bedeutung sind.
1.2.8.3 Die Frage nach den Trägerkreisen der Apokalyptik Während die neuesten Arbeiten aus dem Bereich der Formgeschichte den Eindruck erwecken, als ob es sich bei der Apokalyptik um ein auschließlich literarisches Phänomen handle224 , kann im Gegenzug nicht oft genug darauf hingewiesen werden, daß sich hinter der Apokalyptik aller Wahrscheinlichkeit nach viel eher eine geistig-religiöse Strömung verbirgt225. Die Frage nach dem sozial-historischen Kontext der Apokalyptik gestaltet sich jedoch äußerst schwierig und muß vielfach im Bereich bloßer Hypothesen verbleiben226 . Beinhaltet doch die Tatsache, daß jeder Versuch, historische, politische oder soziale Gegebenheiten, die für die Ausbildung der verschiedenen apokalyptischen Texte bestimmend sind, herauszuarbeiten, ausschließlich auf die literarischen Zeugnisse selbst angewiesen bleibt, die stete Gefahr, in hermeneutische Zirkelschlüsse zu verfallen227 . Trotzdem kann und darf auf die soziologische Untersuchung apokalyptischer Texte nicht verzichtet werden. Die Frage nach den Träger- und Verfasserkreisen frühjüdischer Apokalypsen gestaltet sich jedoch besonders schwierig228. Zum einen deutet vieles darauf hin, daß die "apokalyptische Bewegung" alles andere als in sich selbst konsistent war. Für die verschiedenen frühjüdischen Apokalypsen, ja oftmals sogar für einzelne Textpartien innerhalb eines größeren Textganzen, werden immer wieder höchst unterschiedliche Verfasser- und Trägerkreise auf dem "Markt der Möglichkeiten" gehandelt. Nach P. Lampe treten zwei Richtungen deutlich zutage. 224 Siehe hierzu die Arbeiten von J.J. Collins, J. Cannignac und H. Stegemann, die- jeder auf seine Weise - das Phänomen der frühjüdischen Apokalyptik rein vom literarischen Gesichtspunkt her angehen. Eine ähnliche Auffassung findet sich bereits bei R. Buhmann, der 1927 in einer Rezension von E. Lohmeyers Buch ,,Die Offenbarung des Johannes" die Apokalyptik als "eine wesentlich literarische Bewegung, die ... im BUcherschreiben und BUcherlesen bestand", charakterisiert; siehe R. Buhmann, Thl.Z 1927, Sp. 506. 225 Diese Auffassung vertreten z.B. K.Koch, Einleitung, in: Apokalyptik, 14; K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, 24; J. Schreiner, Die apokalyptische Bewegung, in: Literatur und Religion des FrUhjudenturns, 214. 226 Siehe J. Schreiner, Die apokalyptische Bewegung, in: Literatur und Religion des Frühjudentums (hrsg. v. J. Maierund J. Schreiner), WUrzburg 1973, 214-253, 214: "So hinterließ sie uns ein buntes Bild von sich selbst, indem der grundlegende Gehalt einigermaßen klar heraustritt, jedoch die Konturen bisweilen zu verschwimmen drohen und manche, sogar wichtige ZUge wie fremd oder nicht zur Grundfarbe passend erscheinen. Das macht die Erforschung der Apokalyptik so schwierig". 227 So auch K. Rudolph, •.Apokalyptik in der Diskussion, in: Apoca1ypticism, 771-789,780. 228 Siehe z.B. J.C.H. Lebram, The Piety of the Jewish Apocalyptists, in: Apocalypticism, 171-210.
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Einer gewaltlosen, stark weisheitlieh geprägten individualistischen Richtung, die durch Gelehrte, Weise und Lehrer repräsentiert wird, steht eine eher priesterlich bestimmte gegenüber, die durchaus bereit ist, ihren Forderungen auch mit dem Schwerte Nachdruck zu verleihen 229 . Dieser recht groben Zweiteilung mangelt es an manchen Stellen zwar an der notwendigen Differenzierung230, doch ist hier ein Weg beschritten, der zweifellos in die richtige Richtung weist. Können wir bereits zu diesem frühen Zeitpunkt davon ausgehen, daß die Träger- und Verfasserkreise der frühjüdischen Apokalypsen alles andere als eine einheitliche Gruppierung bilden, sondern eher in eine Vielzahl "apokalyptischer Kreise" und ,,Konventikel" zerfallen, so stellt sich mit IJesonderer Vehemenz die Frage nach den Beziehungen zwischen diesen Kreisen und den übrigen uns bekannten frühjüdischen Gruppierungen. Falls die "apokalyptische Bewegung" im Kontext frühjüdischer Gruppenbildung nicht als eigenständige Gruppe im Gegenüber zu anderen zu fassen sein sollte23t, muß damit gerechnet werden, daß sich "apokalyptische Kreise" und damit apokalyptisches Gedankengut auch innerhalb der verschiedenen frühjüdischen Gruppen finden lassen. Dies gilt besonders dann, wenn man bedenkt, Uber welch ein geringes Maß an gesichertem Wissen die Forschung in der Frage nach dem Charakter frühjüdischer Gruppen verfUgt. Unser ganz besonderes Augenmerk werden wir in diesem Zusammenhang auf die schillemde Größe der Chassidim richten müssen, die immer wieder mit der "apokalyptischen Bewegung", aber auch mit den Pharisäern und Essenern in Verbindung gebracht werden232. Gab man sich innerhalb der neutestamentlichen Forschung lange Zeit der Illusion hin, durchaus in der Lage zu sein, ein klares Bild der frühjüdischen "Religionsparteien" zu zeichnen233, so zeugen die neuesten Veröffentlichungen von einem weit größeren Maß an Realismus in dieser Frage234 • Viele liebgewonnene "Urteile" und ,,Erkenntnisse" sind zu revidieren und oftmals durch bloße Fragezeichen zu ersetzen. Diese differenzierte Forschungslage macht ei-
229 So P. Lampe. Die Apokalyptiker - ihre Situation und ihr Handeln, in: Eschatologie und Friedenshandeln, 59-114, bes., 62-93. 230 Vor allem gegen die Behauptung, daß sich die Trägerkreise der Danielapokalypse einem gewaltlosen Widerstand verschrieben haben, erheben sich einige Bedenken. 231 Siehe z.B. J. Lebram. VT 1970. 522ff, für den" apokalyptisches Denken keine Parteigesinnung. sondern eine Methode isr·. 232 So z.B. M. Hengel, Judentum, 319-381, der in den Chassidim eine jüdische Partei zur Zeit der hellenistischen Reform erblickt, aus der sowohl Apokalyptiker, Essener und Pharisäer hervorgegangen sind (320f). Zur Kritik an dieser Auffassung, siehe J. Lebram, VT 1970, 503524. 233 So z.B. K. Schuhen. Die jüdischen Religionsparteien in neutestamentlicher Zeit, Stuttgart 1970; G. Baumbach, Der sadduzäische Konservatismus, in: Literatur und Religion des Frühjudentums, 201-213; C. Thoma, Der Pharisäismus, in: Literatur und Religion des Frühjudentums, 25~272. 234 Siehe G. Sternherger. Pharisäer, Sadduzäer.Essener, Stuttgart 1991; H. Stegemann. Die Essener. Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg-Basel-Wien 1993;
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ne Verhältnisbestimmung der "apokalyptischen Bewegung" zu frtihjüdischen Gruppen wie den Pharisäern oder Sadduzäern beinahe zu einem Ding der Unmöglichkeit. So kann z.B. nicht einmal völlig ausgeschlossen werden, daß das apokalyptische Gesetzesverständnis in enger Verwandtschaft zu einem pharisäischen Gesetzesverständnis steht, solange die Quellenlage für ein in höchstem Maße unklares Pharisäerbild verantwortlich ist. Exkurs 1) Das Problem eines pharisäischen Gesetzesverständnisses Die Rede von einem pharisäischen Gesetzesverständnis muß doch eine recht schillemde Größe bleiben, so lange sich für keinen einzigen Text aus der Zeit zwischen 200 v. und 100 n. Chr. nachweisen läßt, daß er unzweifelhaft pharisäischen Ursprungs ist23s. Stillschweigende Voraussetzung aller Aussagen in der neutestamentlichen Forschung über ein pharisäisches Gesetzesverständnis ist deshalb dessen Identifikation mit dem Gesetzesverständnis der Rabbinen. Doch läßt sich eine solche Kontinuität der Pharisäer zu den Rabbinen überhaupt beweisen236? Galt es in der Forschung lange Zeit als gesichert, daß das rabbinische Judentum aus dem pharisäischen Judentum hervorgegangen ist, so wird diesinneuerer Zeit immer stärker angezweifeJt237, so daß schon von daher einer vorschnellen Gleichsetzung dieser beiden Größen gegenüber Vorsicht geboten ist. Doch selbst dann, wenn die Rabbinen wirklich die legitimen Erben der pharisäischen Bewegung gewesen sein sollten, berechtigt dies noch lange nicht dazu, Schriften, deren Endredaktion zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert n. Chr. anzusetzen ist, einfach für Vorstellungen aus der Zeit des zweiten Tempels heranzuziehen. Gewiß enthält die rabbinische Literatur- zumindest die der tannaitischen Zeit- Traditionen aus früheren Jahrhunderten, doch gibt es leider zur Zeit noch keine allgemein anerkannte Methode, die es erlauben würde, mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit diese alten, bis in die Zeit des zweiten 235 Vor allem in der älteren Literatur wird oftmals für die Psalmen Salomos pharisäischer Ursprung reklamien. doch wird diese Auffassung in neuerer Zeit kaum noch vertreten. 236 Siehe hierzu vor allem G. Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Stuttgart 1991; vgl. J. Neusner, Das pharisäische und talmudische Judentum, TUbingen 1984. 237 So z.B. P.Schäfer. Der vorrabbinische Pharisäismus, in: Paulus und das antike Judentum, 170: ,,Da weder Josephus für die Zeit nach 70 n.Chr. in Anspruch genommen noch die rabbinische Literatur für die Zeit vor 70 n. Chr. ausgewenet werden kann, erlaubt die Quellenlage keinen Brückenschlag von den historischen Pharisäern zu den historischen Rabbinen. Die Pharisäer vor 70 n. Chr. sagen uns nicht, daß sie sich in die Rabbinen transformieren werden, und die Rabbinen nach 70 n. Chr. geben nicht vor, von den Pharisäern abzustammen. Allein Josephus stellt (möglicherweise) eine Verbindung her; ob sie seinem Wunschdenken oder historischer Realität entspricht. wissen wir nicht."; vgl. ferner G.Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, 133: ..Wenn wir die Rabbinen als Sammetbewegung betrachten dürfen, ist also die sofonige Führungsrolle ehemaliger Pharisäer nicht so sicher. Das würde aber von vornherein heißen, daß man zwar pharisäisches Erbe im rabbinischen Schrifttum onen, nicht aber rabbinische Aussagen, die vor 70 nicht belegt sind, sofon zur Ergänzung des Pharisäerbildes verwenden kann."
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Abschließende Überlegungen
Tempels zurückreichenden Traditionen herauszuarbeiten. Solange sich in dieser Frage innerhalb der Exegese rabbinischer Schriften kein Konsens abzeichnet, können diese Texte auf keinen Fall als Grundlage eines pharisäischen Gesetzesverständnisses dienenns. Die Möglichkeit, daß sich Traditionen eines pharisäischen Gesetzesverständnisses hinter Texten verbergen, die wir herkömmlicherweise mit ganz anderen frühjüdischen Gruppen in Verbindung bringen, kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden. Es zeigt sich einmal mehr, daß nur die Texte selbst, ohne vorschnelle Zuweisungen zu verschiedenen Gruppen, als Basis einer Untersuchung frühjüdischer Gesetzesaussagen dienen können.
1.3 Abschließende Überlegungen Nachdem wir uns nun ausführlich mit der Vielzahl von Problemen, die mit der Frage nach dem Wesen, der Herkunft und den Trägerkreisen der Apokalyptik verbunden sind, beschäftigt haben, wollen wir einen eigenen Versuch unternehmen, das Phänomen der Apokalyptik zu bestimmen. 1.3.1 Eigener Definitionsversuch a) Rückblickend auf unsere Auseinandersetzung mit formgeschichtlichen Fragestellungen sei nochmals darauf hingewiesen, daß an der Form-InhaltRelation unbedingt festzuhalten ist. Form und Inhalt bilden eine Einheit und dürfen keinesfalls getrennt werden. Unter den formalen Kriterien, die für die Apokalyptik bestimmend sind, ragt die Pseudonymität hervor. Daneben kommt der Art der Offenbarungsvermittlung eine entscheidende Bedeutung zu. Sie geschieht in Visionen, Auditionen oder einem Dialog zwischen der Offenbarungsgestalt und dem Empfllnger239. Die Beschreibung außergewöhnlicher Offenbarungsvorgänge dient primär der Autoritätssicherung240. Das zentrale inhaltliche Kriterium, das einen Text letztlich als apokalyptische Schrift ausweist, ist die radikale Eschatologisierung des Geschichtsbewußtseins24 1• Ge23B Zu den differierenden Forschungsmeinungen über Wert und Unwert rabbinischer Texte fUr den Versuch, das frühjüdische Gesetzesverstlndnis der Zeit zwischen 200 v. und 100 n. Chr.
zu erhellen, sowie zu dem Streit über die Methoden. ältere Traditionen aus der rabbinischen Literatur herauszuarbeiten, möchte ich vor allem auf die unterschiedlichen Positionen von J.Neusner, E.P. Sanders und K.-H. Müller verweisen; siehe hierzu J. Neusner, The Rabbinie Traditions about the Pharisees before 70, 3 Bde, Leiden 1971; ferner ders., From Politics to Piety.The Emergence of Pharisaic Judaism, Englewood Cliffs, 1973; E.P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, Philadelphia 1977. 239 Vgl. U.B. Müller, Apokalyptik, BZNW 1995, 145. 240 Siehe H. Stegemann, Die Bedeutung der Qumranfunde, in: Apocalypticism, 505-507. 526ff. 24! So auch Rudolph, •.Apokalyptik in der Diskussion", in: Apocalypticism, 773; ferner U.B. Müller, Apokalyptik, BZNW 1995, 146f.
Eigener Defmitionsversuch
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schichtsverständnis und Eschatologie bedingen sich gegense1t1g. Da Gottes Heilssetzungen der Vergangenheit nicht mehr in der Lage sind, zukunftsbegründend zu wirken, wird angesichts der völlig gescheiterten Geschichte Israels alles Heil von einem völlig neuartigen Akt Gottes von der Zukunft her erwartet. Die bestehende Welt gerät immer stärker in Unordnung, bewegt sich jedoch auf einen Wendepunkt, der in Gottes endzeitlichem Gerichtshandeln Gestalt gewinnt, zu. Dieser Wendepunkt ermöglicht schließlich eine neue Ordnung von Gott her. Die Erwartung einer rein jenseitigen Heilsverwirklichung ist als das "sine qua non" der Apokalyptik zu bezeichnen. Als Adressaten des Heils kommen die Erwählten in den Blick. Der geschichtliche Ort, der für die Ausbildung der Apokalyptik verantwortlich zeichnet, ist zweifellos eine religiöse oder soziale Krisensituation242 . Die apokalyptischen Schriften wollen trösten, indem sie sich bemühen, neue Heilsgewißheit zu begründen. b) Versuchen wir diese "fonngeschichtlichen Überlegungen" traditionsgeschichtlich weiterzuführen, so sind hinter der "vehementen Eschatologisierung", die auf einem radikalen Dualismus fußt, sicherlich Fremdeinflüsse zu vermuten. In allen weiteren traditionsgeschichtlichen Fragen sei an die bereits an anderer Stelle geäußerte Vermutung erinnert, daß sämtliche monokausalen Erklärungsmuster zum Scheitern verurteilt sind, wenn es darum geht, die traditionsgeschichtlichen Grundmauem eines so vielschichtigen Phänomens, wie es die Apokalyptik darstellt, freizulegen. Hinsichtlich des Streites um die Frage, ob die Weisheit oder die Prophetie als ,,Mutter" der Apokalyptik anzusehen ist, sei lediglich auf H.P. Müller und dessen These einer ,,mantischen Weisheit" verwiesen, die durchaus in der Lage ist, sich mit dem prophetischen Motiv einer Periodisierung der Weltgeschichte zu verbinden. Von daher verliert die Alternative "Weisheit oder Prophetie" ihre Schärfe. Es empfiehlt sich an dieser Stelle die traditionsgeschichtliche Fragestellung von vomherein auf das Thema dieser Arbeit und damit auf das Gesetzesverständnis der frühjüdischen Apokalyptik zu konzentrieren. Mit dem Hinweis auf das weisheitlieh geprägte priesterliche Kalender- und Kultwissen einerseits und die mit prophetischer Überlieferung verbundene deuteronomistische Gesetzestheologie andererseits wurden bereits zwei Bereiche angeschnitten, die meines Erachtens für das traditionsgeschichtliche Verständnis der Gesetzesaussagen der frühjüdischen Apokalyptik von entscheidender Bedeutung sind. Während das weisheitlieh geprägte priesterliche Kalender- und Kultwissen offensichtlich vor allem die Frühphase dieses Gesetzesverständnisses nachhaltig bestimmte, tritt in der Spätphase die mit prophetischer Überlieferung verbundene deuteronomistische Gesetzestheologie immer 242
Siehe U.B. MUller, Apokalyptik, BZNW 1995, 146; ferner K.-H. MUller, Die frühjUdische Apokalyptik, in: Studien, 32f.55f.73f.96-99; zudem E. Brandenburger. Die Verborgenheit Gottes. 12-14.13lf.
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Abschließende Überlegungen
stärker in den Vordergrund. Im Verlauf dieser Arbeit wird diese Vermutung eine nachdtilckliche Bestätigung erfahren. c) Zur Frage nach den Trägerkreisen der Apokalyptik kann an dieser Stelle noch kaum Verbindliches gesagt werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich bei diesen um keine einheitliche Gruppierung, sondern um eine recht vielschichtige Größe. Gehen wir jedoch davon aus, daß sowohl weisheitliehen Traditionen als auch einer mit prophetischer Überlieferung verbundener Gesetzestheologie deuteronomisch-deuteronomistischer Provinienz eine große Bedeutung innerhalb der Apokalyptik zukommt, so spricht vieles dafür, die Träg~rkreise der Apokalyptik primär in schriftgelehrtem Milieu zu suchen. Einige wenige Traditionskomplexe sind jedoch vermutlich in priesterlichem Milieu entstanden. 1.3.2 Das Problem der Textauswahl Es stellt sich nun die Frage, welche Schriften aus der Masse derjenigen, die gemeinhin mit dem Phänomen der Apokalyptik verbunden werden, diesem Definitionsversuch gerecht werden und somit in der Lage sind, der nachfolgenden Untersuchung als unbestreitbare Textgrundlage zu dienen. Die auf den ersten Blick vernünftige Maxime, den eigenen Definitionsversuch der Textauswahl zugrundezulegen, ist jedoch nicht frei von Gefahren. Bleibt doch jede Apokalyptikdefinition immer ein recht zweifelhaftes Instrument, um zu einer repräsentativen Auswahl apokalyptischer Texte zu gelangen, da ihr implizit immer schon ein Vorverständnis von ,,Apokalyptik" und damit auch eine Auswahl von Texten zugrundeliegt, die die Kriterien liefern, auf denen die nachfolgende Definition beruht. Jeder eigene Definitionsversuch bedarf deshalb in der Frage der Textauswahl eines dauernden Korrektivs in Gestalt anderer repräsentativer Definitionsversuche. Schon aus diesem Grunde scheint mir unsere ausführliche Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Forschungspositionen gerechtfertigt. An dieser Stelle soll zunächst auf einige Einschränkungen der Textbasis hingewiesen werden. Da die Apokalyptik zweifellos kein rein jüdisches Phänomen darstellt, wird sich diese Untersuchung lediglich mit einem, wenn auch gewichtigen Ausschnitt aus dem apokalyptischen Traditionskomplex beschäftigen. Nicht das Gesamtphänomen ,,Apokalyptik", sondern einzig die "frUhjUdische Apokalyptik" soll im Rahmen dieser Arbeit thematisiert werden. Doch auch der Terminus "frühjüdische Apokalyptik" bedarf einer weiteren Präzisierung, wobei der Frage nach der ursprünglichen Sprache, in der ein Text verfaßt wurde, die Rolle eines zentralen Unterscheidungskriteriums zukommt. Im Rahmen dieser Arbeit sollen nur die apokalyptischen Texte des Frühjudentums zu Wort kommen, die vermutlich aus palästinischem Milieu stammen, also ursprünglich in hebräischer oder aramäischer
Das Problem der Textauswahl
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Sprache abgefaSt worden sind243. Eingedenk der Komplexität unseres Themas, sollen zudem alle Bemühungen auf die für die frOhjüdische Apokalyptik zweifellos zentralen Texte konzentriert bleiben 244 . Meines Erachtens handelt es sich bei diesen Texten um das biblische Danielbuch, das äthiopische Henochbuch, die syrische Baruchapokalypse, das 4. Buch Esra und die Himmelfahrt des Mose. Diese Texte erfüllen nicht nur die im letzten Abschnitt herausgearbeiteten Definitionskriterien, sondern werden auch den Definitionsversuchen anderer Apokalyptikforscher gerecht24s. Deshalb sollen diese fünf Texte die Grundlage unserer Arbeit bilden. Da das Jubiläenbuch eine große Nähe zu diesen Schriften aufweist, wird dieses Buch in einem Anhang ausführlich gewürdigt werden. Die Reihenfolge, in der wir auf die einzelnen Schriften eingehen werden, richtet sich nach dem Zeitpunkt ihrer Endredaktion. Wir setzen mit dem Danielbuch als der ältesten Gesamtschrift ein und hören mit der vermutlich jüngsten Schrift, der syrischen Baruchapokalypse auf. Wir sind uns dabei jedoch der Tatsache bewußt, daß jede dieser Schriften aus einer Fülle von Traditionskomplexen unterschiedlichen Alters besteht, deren Entstehung zum Teil bis weit in die Zeit vor der Endredaktion des Danielbuches zurückreicht Dies trifft in besonderem Maße für Teile des äthiopischen Henochbuches zu. Innerhalb der einzelnen Kapitel des Hauptteils wird der Frage nach diesen einzelnen Traditionskomplexen, der Bestimmung ihres Alters etc. ein hohes Maß an Aufmerksamkeit entgegengehacht werden, ohne daß diese Traditionskomplexe selbst jedoch zum bestimmenden Element des Aufbaus dieses Hauptteils gemacht werden 246 • Birgt doch jede traditionsgeschichtliche Vergehensweise solch ein gewaltiges Maß an Unsicherheit bezüglich der Abgrenzung und zeitlichen Einordnung der einzelnen Traditionskomplexe in sich, daß wir uns auf der Stufe der Endredaktion einer Schrift immer noch auf bedeutend sichererem 243 So bleiben z.B. die griechische Baruchapokalypse. die Apokalypse Zephanias und die Apokalypse Elias, die ursprünglich in griechischer Sprache verfaßt wurden (siehe H.E. Gaylord, in: OTP I, 655; O.S. Wintermute, in: OTP I, 500; O.S. Wintermute, in: OTP I, 729) ausgeblendet. Gleiches gilt auch für die Sibyllinen. Zudem werden wir auch auf die Frage nach den Beziehungen zwischen der hellenistischen Orakelliteratur, zu der auch die Sibyllinen zu rechnen sind, und der frühjüdischen Apokalyptik nicht näher eingehen. Zu guter Letzt finden auch die Testamente der zwölf Patriarchen keine Beachtung. Diese berühren sich zwar in manchen Punkten mit der frühjüdischen Apokalyptik, doch stellen sie aufs Ganze gesehen ein Konglomerat der unterschiedlichsten Strömungen des Frühjudentums dar. Die Verbindungslinien zur Theologie der Qumrangemeinde sind besonders stark ausgeprägt (siehe das Nebeneinander eines hohenpriesterliehen und eines königlichen Messias in TestLev 18 und Testlud 24). 244 Die Apokalypse Abrahams. die ab Kapitel 9 zwar die Kriterien einer Apokalypse erfUIIt. fUr die Frage nach dem Gesetzesverständnis der frUhjUdischen Apokalyptik jedoch keine neuen Aspekte liefert, wird gleichfalls nur am Rande berücksichtigt. 245 Vgl. z.B. K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, 19f; H. Stegemann, Die Bedeutung der Qurnranfunde, in: Apocalypticism, 499; E.P. Sanders, The Genre of Palestinian Jewish Apocalypses, in: Apocalypticism, 456f. 246 Vgl. die entgegengesetzte Vorgehensweise von K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 35-173.
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Abschließende Überlegungen
Terrain befinden. Ausgehend von der jeweiligen Endredaktion einer Schrift wird jedoch die Frage nach den dieser zugrundeliegenden älteren Traditionskomplexen nie verstummen. Am Anfang unserer Untersuchung soll das biblische Danielbuch als älteste "Gesamtschrift" der apokalyptischen Tradition stehen 247 •
247 Die Vorgeschichte der Apokalyptik läßt sich, wie bereits aufgezeigt wurde, sicherlich bis in den alttestamentlichen Prophetenkanon zurückverfolgen. Dieser Vorgeschichte, die sich primlr in Texten aus Jesaja (z.B. Kap. 24-27), Sacharja (z.B. Kap. 12-14), Ezechiel (z.B. Kap.40-48) oder auch Joel widerspiegelt, können wir uns leider an dieser Stelle nicht näher widmen. Vgl. z.B. 0. Plöger, Theokratie und Eschatologie, 69-128; P.D. Hanson, Alttestamentliche Apokalyptik, in: Apokalyptik, 440-470.
2 Hauptteil Die Rolle des Gesetzes in den zentralen Texten der frühjüdischen Apokalyptik 2.1 Das biblische Danielbuch 2.1.1 EinfUhrende Bemerkungen Das biblische Danielbuch stand neben der Johannesapokalypse für Generationen von Exegeten unangefochten im Zentrum der Apokalyptikforschung. Diese herausragende Stellung verdankte das Danielbuch zum einen der Tatsache, daß es von allen frühjüdischen Schriften, die gemeinhin der Apokalyptik zugeordnet werden, als einzige in die Hebräische Bibel aufgenommen wurde. Wer die abwertenden Urteile kennt, mit denen bis auf den heutigen Tag "nichtkanonische" Schriften immer wieder zu kämpfen haben, kann einigermaßen ermessen, welchen Vorzug es besonders in früherer Zeit für eine Schrift bedeuten mußte, ,,kanonisiert" zu sein. Zum anderen galt das Danielbuch bis zur Entdekkung von ungefähr 20 aramäischen Fragmenten des äthiopischen Henochbuches in Qumran als die älteste apokalyptische Schrift, die zudem allgemeiner Überzeugung nach für die maßgeblichen Anstöße zur Ausbildung des Gesamtphänomens der frühjüdischen Apokalyptik verantwortlich zeichnete . .,Kanonizität" und "Alter'' sind somit die entscheidenden Gründe dafür, daß das biblische Danielbuch bis in die jüngste Zeit als "Typos einer Apokalypse schlechthin" gehandelt wird 1• Diese hohe Wertschätzung konnte jedoch auch für die Frage nach dem Anliegen des Verfassers des Danielbuches und darüber hinaus nach dem Zweck und der Absicht der frühjüdischen Apokalyptik im allgemeinen nicht ohne Auswirkungen bleiben. Da die Abfassung des Danielbuches auf der Stufe seiner Endredaktion zweifellos mit dem Beginn der Makkabäerkriege zusammenfällt, war man in der Forschung lange Zeit geneigt, in der frühjüdischen Apokalyptik nichts anderes als die religiöse Antwort auf die Bedrängnisse der Makkabäerzeit zu sehen. Diese Auffassung greift jedoch in dem Unternehmen, das Gesamtphänomen in all seiner Komplexität zu bestimmen, viel zu kurz. Die einseitige Degradierung des biblischen Danielbuches zu einem makkabäischen Trostbuch für den Religionskampf, wie sie sich in vielen Untersuchungen zum Danielbuch feststellen läßt2, konnte auch für die Interpretation der Theologie des Danielbuches nicht ohne Auswirkungen bleiben. Das erste "Opfer'' des "makkabäischen Vorverständnisses" war zweifellos das Gesetzesverständnis des biblischen Danielbuches. Die zentrale Stellung des 1 Siehe K. Koch, Einleitung, in: Apokalyptik, II. 2 Aus der Fülle von Arbeiten, die diese These vertreten, sei nur auf 0. Eissfeldt, Einleitung,
716f und M. Hengel, Judentum, 354, verwiesen.
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EinfUhrende Bemerkungen
Glaubenstrostes verbunden mit der Tendenz, das Gesetzesverständnis des Danielbuches einseitig von den Gesetzesaussagen des 1. und 2. Makkabäerbuches her zu interpretieren3, hatte die Überbetonung der Gesetzesaussagen des weisheitliehen Teils des Danielbuches (Kap. 1-6) zur notwendigen Folge. Die Vertreter dieses Interpretationsmusters legen den Akzent einseitig auf die Person Daniels, bzw. seiner drei Freunde und deren Rolle als Vorbild des frommen Israeliten, der sich durch unbedingten Gehorsam gegenüber den Geboten der Tora ausweist. Die Treue Daniels und seiner Freunde zur Tora geht sogar soweit, daß sie selbst vor der Gefahr des Martyriums nicht zurUckschrecken, sondern dieses bewußt auf sich nehmen. Das Danielbuch als Ganzes will im Rahmen dieses Interpretationsmusters gerade dadurch über die Religionsnot unter Antiochus IV. Epiphanes hinwegtrösten, daß es zu unbedingtem Gesetzesgehorsam motiviert. Sind doch die stark weisheitlieh geprägten Erzählungen über Daniel und seine Freunde ein schlagendes Beispiel dafür, daß im Angesicht tiefster Not einzig die Treue zu den Geboten der Tora in der Lage ist, das zukünftige Eingreifen Gottes und damit einen neuen Heilszustand zu verbürgen. An der grundsätzlichen Berechtigung dieses ,,makkabäischen Interpretationsmusters" für den weisheitliehen Teil des Danielbuches ist wohl kaum zu rUtteln, doch wird es keineswegs allen Aspekten des Gesetzesverständnisses des Danielbuches gerecht. Wird doch durch die einseitige Konzentration auf den weisheitliehen Teil des Danielbuches der Blick für die Gesetzesaussagen, die sich im Visionsteil dieses Buches finden, in nicht unerheblichem Maße getrübt. So zeichnet sich das Gesetzesverständnis des Visionsteiles unter anderem gerade dadurch aus, daß die kosmologischen Aspekte des Gesetzes in den Vordergrund treten, eine Tatsache, die von den Vertretern eines ,,makkabäischen Interpretationsmusters" weitgehend übersehen wird. Haben wir an dieser Stelle die Schwelle zum Zentrum unserer Untersuchung des biblischen Danielbuches bereits überschritten, so wollen wir doch nochmals kurz zurliektreten und mit unseren einleitenden Bemerkungen noch etwas weiter fortfahren. Mit der Entdeckung aramäischer Fragmente des äthiopischen Henochbuches in Qumran büßte das biblische Danielbuch auf einen Schlag seine bis dahin unangefochtene Stellung in der Frage nach den Anfängen der frUhjUdischen Apokalyptik ein. Eine paläographische Auswertung dieser Fragmente ergab, daß der astronomische und angelologische Teil innerhalb des äthiopischen Henochbuches im 3. oder gar 4.Jh. v.Chr. entstanden sein muß4 • Diese Teile des äthiopischen Henochbuches sind demnach weit älter als das biblische Danielbuch in seiner .,makkabäischen" Endgestalt Selbst das Postulat einer vormakkabäischen aramäischen Danielapokalypse aus der Zeit Antiochus m.. die die Kapitel 2-7 umfaßtes, reicht kaum in diese frühe Zeit zurUck. Die Anfänge der frUhjüdischen Apokalyptik liegen somit weit vor der makkabäischen Erhebung, ein ur3 Dieser Tendenz erliegt auch M. Hengel, Judentum, 319-381; zur Kritik siehe J. Lebram, VT 1970, 503-524. 4 Siehe K. Koch, Einleitung, in: Apokalyptik, 9ff. S Die Existenz einer solchen aramäischen Danielapokalypse vertreten z.B. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Teil2, 651 und J. Lebram, Das Buch Daniel, 18ff.
Das biblische Danielbuch
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sächlicher Zusammenhang dieser beiden Größen läßt sich nicht erweisen. Die Erkenntnis, daß die makkabäische Erhebung für die Anfänge der flühjüdischen Apokalyptik nicht verantwortlich ist, darf jedoch keinesfalls in der Weise überinterpretiert werden als ob dem Makkabäeraufstand überhaupt keine größere Bedeutung im Rahmen der frühjüdischen Apokalyptik zukomme. Die makkabäische Erhebung ist zwar nicht der Grundstein, doch sicherlich ein eminent wichtiger, wenn nicht gar der wichtigste Meilenstein in der Geschichte der frühjüdischen Apokalyptik. Diese Tatsache sollten sich all diejenigen vor Augen führen, die in neuester Zeit immer wieder bestreiten, daß der jüdischen Tora überhaupt eine tragende Rolle innerhalb des biblischen Danielbuches zukommt6. Statt dessen macht die Rede von dem ,,Zurücktreten der Gesetzesthematik" im Danielbuch die Runde 7• Versuche, die Gesetzesthematik innerhalb des Danielbuches zugunsten der Kultthematik auszublenden, kommen scheinbar immer stärker in Mode8• Die Vertreter dieser Richtung sprechen sich gegen eine enge Beziehung zwischen Gesetz und Kult aus und reden einer entschiedenen Trennung zwischen diesen beiden Größen das Wort9 • Entspricht diese radikale Trennung von Gesetz und Kult jedoch wirklich den geschichtlichen Gegebenheiten? Wird hier nicht eher eine Mauer errichtet, die es in Wirklichkeit in dieser Form nie gab? Zum anderen orientieren sich viele Versuche, die Bedeutung der Gesetzesthematik in apokalyptischen Schriften zu bestimmen, allzu einseitig an einer "explizit" feststellbaren Gesetzesterminologie. Die große Menge von "impliziten" Gesetzesaussagen, wie sie sich gerade in apokalyptischen Schriften feststellen lassen, wird dagegen meistens überhaupt nicht beachtet. Mit diesen Fragen befinden wir uns wiederum bereits im Zentrum unserer Beschäftigung mit dem Gesetzesverständnis des Danielbuches, doch sehen wir uns nochmals genötigt, diese für einen Moment zurückzustellen, da jeder inhaltlichen Beschäftigung mit dem Danielbuch eine kurze Reflexion der komplexen Entstehungsverhältnisse dieses Buches notwendigerweise vorausgehen muß.
So z.B. K. Koch, Das Buch Daniel, 127-131. Siehe K. Koch, Das Buch Daniel, 161. 8 Siehe J. Lebram, VT 1970, 503-524, bes. 512-515; ferner ders., An. DanieUDanielbuch, TRE VIII, 325-349, bes. 338-341. 9 Lange Zeit galt in der Bibelwissenschaft die Identität von Gesetz und Kult für diese Zeit als gesichert (vgl. J. Wellhausen, Israelitische und Jüdische Geschichte, 9 1958, 171t). Für eine Trennung dieser beiden Größen macht sich neben anderen vor allem K. Koch stark; siehe K. Koch, Das Buch Daniel, 128f. 6 7
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Die Entstehung des biblischen Daoielbuches
2.1.2 Die Entstehung des biblischen Danielbucheslo Während lange Zeit für die große Mehrheit der Exegeten kaum ein Zweifel an der Einheitlichkeit des Danielbuches bestand 11 , verschaffen sich zur Zeit in verstärktem Maße solche Stimmen Gehör, die im Danielbuch eine Kompilation unterschiedlicher Schriften sehenl2. Die Gründe, an denen sich die Diskussion um die Frage nach der Entstehungsgeschichte des Danielbuches immer wieder entzUndet, sind schnell genannt. In erster Linie ist die Kombination zweier Faktoren für die Frage nach der Einheitlich- bzw. Uneinheitlichkeit des Danielbuches von entscheidender Bedeutung. Zum einen ist das Danielbuch in zwei Sprachen abgefaSt. Die Verse 2,4-7,28 liegen in aramäischer, die Verse 1,1-2,4 und 8,1-12,13 dagegen in hebräischer Sprache vor. Zum anderen ist in den Erzählungen der Kapitel 1-6 von Daniel und seinen Freunden in der dritten Person die Rede, während die Visionskapitel 7-12 als ,,lchbericht" abgefaßt sind. Nimmt man diese beiden Faktoren zusammen, so stehen sämtliche Versuche, die Einheitlichkeit oder Uneinheitlichkeit des Danielbuches zu erweisen, vor dem großen Problem, daß die Trennmarke zwischen dem erzählenden ,,Er-" und dem visionären ,,Ichbericht" nicht mit deijenigen zwischen dem in aramäischer und hebräischer Sprache abgefaSten Teil Ubereinstimmt13. Zu diesem Grundproblem fllr die Frage nach der Komposition des Danielbuches treten noch weitere Beobachtungen erschwerend hinzu. So kann aufgrund sprachwissenschaftlicher Kriterien kaum ein Zweifel bestehen, daß das Hebräische des ersten Kapitels des Danielbuches nicht mit dem der Kapitel 8-12 identisch ist, sondern eine andere Sprachstufe repräsentiert 14. Zudem sorgt ein Blick auf die Textgestalt des Danielbuches in der Septuaginta und bei Theodotion fUr zusätzliche Verwinung.
IO Siehe 0. Eissfeldt, Einleitung, 702ff; K. Koch. Das Buch Daniel, 55-77; J. Lebram, Art. DanieVOanielbuch, TRE VIII, 334-337; ders., Das Buch Daniel, 18-37; R. Albertz, Der Gott des Daniel; H.-0. Steck, Weltgeschehen, in: Wahrnehmungen Gottes, 263f; J.J. Collins, The Apocalyptic Imagination, 70-72. 11 Die Exegeten des 19.Jh. votierten fast geschlossen dafür, das Danielbuch als einheitliches Werk aus makkabäischer Zeit zu verstehen; siehe K. Koch, Das Buch Daniel, 59-61. Um die Mitte unseres Jahrhunderts hat sich vor allem H.H. Rowley in verschiedenen Veröffentlichungen vehement für die einheitliche Abfassung des Danielbuches während der Jahre der Religionsverfolgung unter Antiochus IV. Epiphanes ausgesprochen; siehe z.B. H.H. Rowley, HUCA 23,1 (195
Das biblische Danielbuch
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Das komplizierte Beziehungsgeflecht zwischen der masoretischen Textfassung (M), der Septuagintafassung (G) und Theodotion (9) ist wohl kaum zu entschlüsselnls. Aus der Fülle von Problemen sei lediglich darauf verwiesen, daß die griechische Fassung des Danielbuches gegenüber der masoretischen Fassung eine ganze Reihe zusätzlicher TextstUcke enthält 16. Ferner weicht die Septuaginta, die in den Kapiteln 1-2 und 7-12 dem masoretischen Text im großen und ganzen folgt, in Kap 3-6 erheblich von diesem ab. In den Kapiteln 4-6 gleicht sie sogar eher einer großzUgigen Paraphrase als einer Übersetzung. Im Rahmen der Erforschung des biblischen Danielbuches wurden nun - primär auf literarkritischer Ebene - die unterschiedlichsten Versuche unternommen, den "gordischen Knoten" der Entstehungsgeschichte des Danielbuches zu entwirren, ohne daß es bisher zu einer in jeder Hinsicht befriedigenden Lösung gekommen wäre. Da eine ausfUhrliehe Auseinandersetzung mit der Frage nach der Komposition des Danielbuches den Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen wUrde 17 , sollen an dieser Stelle einige wenige Bemerkungen genügen, die für die Frage nach dem Gesetzesverständnis des Danielbuches unverzichtbar sind. Weitgehend Einigkeit herrscht in der Forschung lediglich darin, daß die Kapitel 9-12 einen einheitlichen Komplex darstellen 18 und ohne Zweifel aus der Feder des Endredaktors des Danielbuches stammen 19 • Weisen doch gerade diese Kapitel eine Vielzahl recht eindeutiger Beziehungen zu den geschichtlichen Ereignissen in Palästina während der Zeit des Antiochus IV. Epiphanes auf. Zur Frage nach der Komposition der Kapitel 1-8 und deren Verbindung zu den Kapiteln 9-12 kursieren in der Forschung recht unterschiedliche Auffassungen, von denen jedoch keine in der Lage ist, alle Unklarheiten restlos aufzuklären. Mit der großen Mehrheit der Exegeten gehe ich bei meiner Untersuchung der Gesetzesaussagen des Danielbuches von einer Entstehungsgeschichte des Danielbuches aus, die in der Forschung meist als ,,Aufstockungshypothese" bezeichnet wird 20 . Ausgehend von der formgeschichtlichen Trennung zwischen IS Siehe K. Koch, Das Buch Daniel, 17-26. 16
Zu diesen zusätzlichen TextstUcken gehören das "Gebet des Asarja", der ,,Hymnus der drei JUnglinge im Feuerofen samt einem erzählenden Zwischenstück" in 3,24-90 (VulgataZählung), die Erzählung von Susanna in 13,1-64 (Vulgata-Zählung), sowie die Geschichte von Bel und dem Drachen zu Babel in 14, 1-42 (Vulgata-Zählung). 17 In diesem Zusammenhang sei auf folgende Veröffentlichungen verwiesen: K. Koch, Das Buch Daniel, 55-77; J.J. Collins, The ApocaJyptic Vision, 1-25; H.L. Ginsberg, VT 4 (1954), 246-275; H.H. Rowley, HUCA 23,1 (1950151), 233-273; ders., VT 5 (1955),272-276. 18 Lediglich das Gebet Daniels in 9, 4-20 wird in diesem Zusammenhang oftmals als sekundärer Zusatz gehandelt. 19 Selbst J. Lebram, der mit einer recht komplizierten Wachstumsgeschichte des biblischen Danielbuches rechnet, nimmt für die Kapitel 9-12 eine einheitliche Verfasserschaft an; siehe hierzu ders., Art. DanieVOanielbuch, TRE vm, 336f. 20 Die ,,Aufstockungshypothese" ist jedoch keine einheitliche Größe. Auch diese Hypothese enthalt noch eine gewisse Variationsbreite, wenn es um Einzelheiten geht.
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Die Entstehung des biblischen Danielbuches
,,Er-" und ,.Ichbericht" steht im Zentrum dieser Hypothese das Postulat einer ursprünglichen Sammlung von stark weisheitlieh geprägten Daniellegenden, die keine eschatologische Ausrichtung aufweisen und zum großen Teil bereits in persischer Zeit zusammengestellt wurden21. Diese Weisheitserzählungen wurden in aramäischer Sprache abgefaSt und machen den Grundbestand der Kapitel 1-6 aus 22 . Von besonderer Bedeutung ist hierbei die These, daß Kapitel 2 auf dieser ältesten Stufe der Überlieferung noch keine eschatologischen Aussageziele aufweist23. Über den weiteren Verlauf der Entwicklung gehen die Meinungen bei den Vertretern der "Aufstockungshypothese" etwas auseinander. Für die einen wurde diese völlig uneschatologische "aramäische Danielbiographie" dann bereits in ptolemäischer Zeit durch eine eschatologische Be21 Zwar gibt es in letzter Zeit vermehrt Versuche, die Existenz einer solchen weisheitliehen Sammlung zu negieren. und in einer ..vonnakkabäischen" aramäischen Apokalypse. die die Kapitel 2-7 umfaßt, die älteste Überlieferungsstufe des Danielbuches zu sehen (z.B. J. Lebram. Das Buch Daniel, 18ff; P. Weimar. in: Jesus und der Menschensohn. 11-36) doch vennögen diese nicht zu überzeugen. Zum einen wird hierbei die ..fonngeschichtliche" Trennung zwischen •.Er-" und .Jchbericht" weitgehend ignoriert, zum anderen werden die Unterschiede zwischen Kapitel 2 und 7 viel zu gering veranschlagt. Zu guter Letzt wird die unterschiedliche Bewertung der staatlichen Macht, wie sie in den Kapiteln 1-6 gegenüber den Kapiteln 7-12 zum Ausdruck kommt. verwischt. 22 Mit Blick auf Kapitel 1 bleiben hierbei jedoch einige Unklarheiten bestehen, da über den postulierten ursprünglich aramäischen Bestand dieses Kapitels keine eindeutigen Aussagen möglich sind. Zudem ist die •.Aufstockungshypothese" nicht in der Lage zu erklären. weshalb die LXX. die in Kapitel 1-2 der hebräischen Bibel im großen und ganzen folgt, in den Kapiteln 4-6 völlig von dieser abweicht. Ausgehend von dieser Beobachtung macht sich Rainer A1bertz (R. Albertz, Der Gott d~ Danie1, Stuttgart 1988) zu einem eigenständigen Versuch auf, die Entstehung des Danielbuches zu erklären. Für ihn war das aramäische Danielbuch schon immer ein apokalyptisches Buch. das in makkabäischer Zeit lediglich einige Aktualisierungen erfahren hat. Eine Sammlung nicht-apokalyptischer, uneschatologischer Weisheitserzählungen in Kapitel 1-6läßt sich für ihn nicht erweisen. Lediglich in den Kapiteln 4-6 der LXX-Version ist uns die Vorstufe einer solchen Sammlung erhalten. R. Albertz versucht nachzuweisen, daß dem griechischen Übersetzer des biblischen Danielbuches die Kapitel 4-6, die durch ihre Aufnahme in die aramäische Danielapokalypse grundlegende Veränderungen erfahren haben, in ihrer ursprünglichen Fonn noch bekannt waren. so daß er bei seiner Übersetzung auf diese zurückgreifen konnte. Die .,vorapokalyptische" Fonn dieser Erzählungen mit ihrer starken Konzentration auf die Bekehrungsthematik paßte bedeutend besser in das Konzept des griechischen Übersetzers. der selbst an der universalen Ausbreitung des jüdischen Monotheismus stark interessiert war. Doch auch diese These nimmt die fonnale •.Zweiteilung" zwischen •.Er-" und .Jchbericht" viel zu wenig ernst und ist nicht in der Lage, die stark weisheitlieh akzentuierte Ausrichtung der Kapitel 1-6 ausreichend zu würdigen. 23 Einerseits wird in diesem Zusammenhang damit gerechnet, daß Dan 2 auf dieser ältesten Stufe der Überlieferung in Traumgesicht und Deutung noch nicht die Ankündigung der vier aufeinanderfolgenden Monarchien und ihrer Ablösung durch ein ewiges Reich enthalten hat (so z.B. S.Niditch/R. Doran. JBL 1977, 179-193), andererseits findet sich jedoch auch die Auffassung. daß das Traumgesicht und dessen Deutung zunächst uneschatologisch akzentuiert waren (so z.B. J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 34-46; M. Noth, Zur Komposition, in: Gesammelte Studien, Bd.ß, 11-28).
Das biblische Danielbuch
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arbeitung von Kapitel 2 und die Anfügung des aramäischen Visionskapitels 7 zu einem apokalyptischen Buch erweitert. Diese .,vonnakkabäische" aramäische Apokalypse wurde dann in makkabäischer Zeit redaktionell überarbeitet. Die Kap. 2 und 7 wurden zeitgeschichtlich aktualisiert und das ganze Buch durch Anfügung der hebräischen Kapitel 8-12 mit einem neuen Schluß versehen. Ferner wurde das aramäische Einleitungskapitel auf der Stufe der Endredaktion offensichtlich erweitert und ins Hebräische übersetzt 24 . Andere hingegen lehnen die These der Existenz einer .,vonnakkabäischen" aramäischen Danielapokalypse ab und gehen davon aus, daß der makkabäische Endredaktor des Danielbuches nicht nur für die hebräischen Schlußvisionen, sondern auch für die eschatologischen Erweiterungen in Kapitel 2 und die Anfügung der aramäischen Vision in Kapitel 7 verantwortlich war2S. Diese These einer einheitlichen Komposition des Danielbuches in makkabäischer Zeit hat meines Erachtens viel für sich, da sämtliche Versuche, innerhalb der Kapitel 2, 7 und 8 unterschiedliche Redaktionsstufen herauszuarbeiten, letztlich nicht zu überzeugen vennögen. Es ist bedeutend wahrscheinlicher, daß erst der Verfasser bzw. Endredaktor des biblischen Danielbuches den apokalyptischen Visionsteil der Kapitel 8-12, der ganz im Zeichen der Ereignisse in Jerusalem unter Antiochus IV. Epiphanes steht, mit den weisheitlieh geprägten Danielerzählungen verbunden hat, wobei Kapitel 7 eine Brückenfunktion zwischen diesen beiden Traditionskomplexen zukommt. Die symmetrische Komposition der Kapitel 2726 und deren Abfassung in aramäischer Sprache schafft einen engen Zusammenhang von Kap. 7 und dem weisheitliehen Teil des Danielbuches. Die zeitliche Abfolge der Kapitel 7-1227 , deren visionärer Inhalt, die eschatologische Ausrichtung und die historischen Anspielungen auf Antiochus IV. Epiphanes ordnen Kap. 7 in den Kontext des apokalyptischen Visionsteils ein. Den Schlußpunkt dieses ,,Editionsprozesses" markiert die (erweiternde) Übersetzung des ursprünglich aramäisch verfaßten 1. Kapitels der Daniellegenden in die Hebräische Sprache. Mit dieser Übersetzung mutiert dieses Kapitel zur Einleitung zum ganzen Danielbuch. Der Verfasser des Danielbuches war demnach ein zweisprachiger Autor, der für ein zweisprachiges Publikum schrieb28. Da das Ziel dieser Arbeit darin besteht, das Gesetzesverständnis der frühjüdischen Apokalyptik zu erhellen, darf die nachfolgende Untersuchung ihren Ausgangspunkt nicht bei den weisheitlieh akzentuierten Daniellegenden nehmen29, sondern im Vordergrund müssen die stark eschatologisch geprägten 24 Siehe O.H. Steck, Weltgeschehen, in: Wahrnehmungen Gones, 263f. 2S So z.B. J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 7-21.
26 Siehe A. Lenglet, Bib 1972, 169-190. 27 Siehe J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 13f.
28 So bereits H.H. Rowley. ZAW 1932,256-268. 29 Diesem Fehler sind meines Erachtens all diejenigen erlegen, die versuchten, den Gesetzesaussagen des Danielbuches vorschnell ein "makkabäisches lnterpretationsmuster" überzuziehen.
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Das 2. Kapitel des biblischen Danielbuches
Teile des Danielbuches, sprich die Visionen und deren Deutungen in den Kapiteln 7, 8, 9 und 10-12 stehen. Auf der anderen Seite zeigt die Tatsache. daß der Verfasser des biblischen Danielbuches den weisheitliehen Teil ziemlich unverändert in sein Gesamtwerk integriert hat, daß dem weisheitliehen Teil auch im Rahmen der apokalyptischen Gesamtschrift ein gewisses Maß an Bedeutung zuzumessen ist. Die weisheitlieh akzentuierten Daniellegenden (Kap. 1-6) sind deshalb in einem zweiten Schritt in das hierbei entstandene Bild einzuordnen. 2.1.3 Das 2. Kapitel des biblischen
Da:~ielbuches
2.1.3.1 Einführung Das zweite Kapitel des biblischen Danielbuches hat im wahrsten Sinne des Wortes ,,zwei Herzen in seiner Brust." Zum einen bewegt es sich über weite Strecken in weisheitliehen Bahnen, wie sie für die ursprünglich uneschatologische Sammlung von Daniellegenden in Kap. 1-6 charakteristisch sind. So wird Daniel auch in Kap. 2 ganz in den Farben eines "Weisen" gezeichnet, dessen Weisheit die aller anderer "Weisen" am Königshof weit übersteigt. Daniels Weisheit zeigt sich vor allem in seiner Fähigkeit, Träume zu deuten30 und gründet in der Gottesfurcht. Die "weisheitliche" Intention von Kap. 2 besteht darin, die Herrschaft des jüdischen Gottes über alle irdischen und himmlischen Potentaten zu unterstreichen, indem die Überlegenheit der von Gott verliehenen Weisheit gegenüber jeglicher menschlichen Weisheit aufgezeigt wird3t. Zum anderen weist dieses Kapitel jedoch bereits über diesen weisheitliehen Zusammenhang hinaus. Es zeigt sich nicht nur am Verlauf der Weltgeschichte, sondern auch an der Frage nach dem Ende dieser Geschichte und dem Beginn der endzeitliehen Heilszeit interessiert. Lassen sich Versuche, die Weltgeschichte zu periodisieren, mit etwas MUhe noch im Kontext einer ,,mantischen" Weisheit verorten 32 , so ist mit Spekulationen Uber das Ende der Geschichte, bzw. den Beginn der endzeitliehen Heilszeit der weisheitliehe Boden verlassen. Die Erwartung einer rein jenseitigen Heilsverwirklichung, wie sie uns innerhalb des biblischen Danielbuches in Kap. 2 zum ersten Mal entgegentritt, ist ein untrügliches Kennzeichen dafür, daß an dieser Stelle die frühjüdische Apokalyptik mächtig ihre Stimme erhebt. Somit nimmt Kap. 2 im Aufbau des Danielbuches eine entscheidende Stellung ein, da es, obwohl selbst noch fest im Kontext der weisheitlieh geprägten Daniellegenden der Kapitel 1-6 verankert, auf den
30 Vgl. die Josephsgeschichten in Gen 37-50. 31 Die ,.weisheitliche Seele" von Kap. 2 wird im Rahmen meiner Ausführungen zu den Daniellegenden in Kap. 1-6 im zweiten Teil dieses Kapitels noch ausführlicher thematisiert werden. 32 So z.B. J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 33--46; siehe ferner H.-P. Müller, VT S 1972, 268-293.
Das biblische Danielbuch
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eschatologischen Visionsteil der Kapitel 7-12 verweist. Der Traum Nebukadnezars und dessen Deutung in Kap. 2 bot dem Verfasser des Visionsteils einen geeigneten Anknüpfungspunkt, um eine Brücke zu schlagen, die die Kapitel 16 fest mit dem apokalyptisch geprägten Visionsteil 7-12 verbindet. Bleibt jedoch in Kap. 2 die für apokalyptische Texte typische Erwartung einer rein jenseitigen Heilsverwirklichung dem ursprünglichen Interesse der Legendensammlung, die Überlegenheit der von Gott verliehenen Weisheit gegenüber jeglicher menschlichen Weisheit zu demonstrieren, noch untergeordnet, so kann sich diese zukünftige Heilserwartung in den Kapiteln 7-12 frei entfalten. Die Eschatologie, die in Kap. 2 noch dazu verurteilt ist, ein weisheitliebes "Korsett" zu tragen, hat sich dieses ,,Korsetts" in Kap. 7 völlig entledigt. In einem ersten Arbeitsschritt wollen wir uns nun der "apokalyptischen Seele" von Kap. 2 zuwenden. Erinnern wir uns an den im Eingangskapitel unternommenen Versuch, das Phänomen der frühjüdischen Apokalyptik näher zu bestimmen, so kamen wir dort zu dem Ergebnis, daß in deren Zentrum die Erwartung einer rein jenseitigen Heilsverwirklichung steht. Diese Erwartung ist häufig mit GeschiehtsUberblicken verbunden, die oftmals -jedoch nicht in jedem Fall- die gesamte Weltgeschichte zum Thema haben. Diese beiden zentralen Aspekte frühjüdischer Apokalyptik treten uns innerhalb von Kap. 2 sowohl in Nebukadnezars Traum (2,25-35) als auch in dessen anschließender Deutung (2,36-45) entgegen.
2.1.3.2 Der Traum Nebukadnezars von den vier Weltreichen (Kap. 2,25-35) Nebukadnezars Traum wie auch dessen Deutung sind bereits von ihrem Kontext her fest in eschatologischen Gedankenbahnen verankert. Der Inhalt von Nebukadnezars Traum wird in den Versen 2,27-29 eindeutig als auf das Eschaton bezogen ausgewiesen. So lesen wir in Vers 2,28a: "Aber es gibt im Himmel einen Gott, der Geheimnisse enthüllt, und der dem König Nebukadnezar gesagt hat, was sich am Ende dieser Zeit ereignen soll"33. Der Traum enthält eine Offenbarung GottesUberden zukünftigen Verlauf der Weltgeschichte, wobei jedoch nicht der Verlauf der Geschichte an sich, sondern deren ,,Ende" im Zentrum des Interesses stehtl4. Doch nicht nur der Kontext sondern auch der Traum selbst atmet eschatologischen Geist. Die gesamte Weltentwicklung ist nach 2,31 ff in unterschiedliche Zeitperioden eingeteilt, die durch die Abfolge der vier Metalle symbolisiert werden. Der Verfasser dieser Zeilen greift an dieser Stelle wohl auf die traditionelle Vorstellung von den "vier Weltzeitaltern" zurück, wie sie uns auch in anderen antiken Texten entgegentritt3S. Die vier 33 Übersetzung nach N.W. Porteous, Das Buch Daniel, 25. 34
So auch J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 41; gegen K. Koch, Spätisraelitisches Geschichtsdenken, in: Apokalyptik, 276-310. JS So z.B. Hesiod, Erga I, 109-201 (in den Abschnitten 156-173 isljedoch noch von einem weileren Weltzeilaller, dem ,,heroischen Zeilaller'' die Rede); Ovid, Melamorphosen I. 89-150; vgl. M. Hengel, JudenlUm, 33lff; ferner K. Koch, Das Buch Daniel, 194-199.
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Das 2. Kapitel des biblischen Danielbuches
Metalle bezeichnen hier wie dort eine Reihenfolge von Weltreichen, wobei die wachsende Minderwertigkeit der Metalle als beredtes Zeugnis für die gegen Ende der Weltgeschichte zunehmende Schwäche der Weltreiche zu verstehen ist. Die Weltgeschichte präsentiert sich nach diesem Schema im Gewande einer "Verfallsgeschichte." Fragen wir nun, welche Weltreiche sich hinter den unterschiedlichen Metallen verbergen, so ist allein vom Traum her keine eindeutige Identifizierung möglich. Fest steht nur die Tatsache, daß der Autor dieser Zeilen glaubt, in der letzten Periode der Weltgeschichte zu leben. Folglich ist all seine Hoffnung auf das unmittelbar bevorstehende Ende dieser Geschichte gerichtet. Die Weltgeschichte ist nach dem Schema der ,.vier Weltzeitalter" in ihrer letzten und damit schlechtesten Periode angelangt. War es jedoch Hesiod, der gleichfalls mit dem Schema der "vier Weltzeiten" arbeitete, in einer analogen Situation36 noch möglich, auf eine innergeschichtliche Wende zum Guten, auf eine ,,Rückkehr" der ursprünglichen Periode eines goldenen Zeitalters zu hoffen3 7 , so ist dem Verfasser des Traumes in Kap. 2 solch eine innerweltliche Hoffnung nicht mehr möglich. Nur von einem Ende der gegenwärtigen Geschichte und einem eschatologisch begründeten Neuanfang vermag sich der Autor dieser Zeilen etwas zu versprechen. Dieses Ende der Weltgeschichte wird im Traum Nebukadnezars durch einen herabstürzenden Felsen, der sich "ohne Zutun von Menschenhand" gelöst hat, symbolisiert (2,34)38. Gott selbst wird in einem eschatologischen Akt die gegenwärtige Weltzeit beenden und sein zukünftiges Reich herbeiführen. Auf das Ende der Geschichte folgt die Errichtung des Gottesreiches, das sich hinter dem Bild von einem "großen Berg, der die gesamte Welt erfüllt" in 2,35b verbirgt. Da der herabstürzende Felsen die gesamte Statue mit einem Schlag vernichtet, ist dem Autor dieser Zeilen offenbar wenig an der zeitlichen Abfolge der Weltreiche gelegen, sondern alles ist auf die radikale Diastase zwischen der Summe aller Weltreiche auf der einen und dem Gottesreich auf der anderen Seite konzentriert39 • Angesichts der großen gegenwärtigen Not, in der sich der Verfasser dieser Zeilen aller Wahrscheinlichkeit nach befindet, richtet sich dessen ganze Hoffnung auf die nahe Zukunft, von der er eine eschatologische Wende zum Besseren erwartet. Eine nähere Charakterisierung des Gottesreiches wird an dieser Stelle jedoch nicht gegeben. Der feste Glaube an das bloße ,,Daß" des Gottesreiches genügt.
36 Auch Hesiod glaubt im vienen Zeitalter und damit in der letzten, schlechtesten Weltperiode zu leben. 37 Siehe Hesiod, Erga 1, 175-177. 38 Diejenigen, die dem Traum in Kap. 2 in seinem ursprünglich weisheitliehen Kontext der Kapitel 1-6 jegliche streng eschatologische Ausrichtung(= auf das Ende der Geschichte bezogen) absprechen, sind folglich gezwungen, die Notiz ,.ohne Zutun von Menschenhänden" einem späteren Redaktor zuzuschreiben; siehe z.B. J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 41ff. 39 Gegen K. Koch, Spätisraelitisches Geschichtsdenken, in: Apokalyptik. 276-310; siehe J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 41; R. Bultmann, Geschichte und Eschatologie, 28.
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2.1.3.3 Die Deutung der Traumvision (Kap. 2, 36-45) In der Deutung dieser Traumvision werden die vier Metalle ausdrücklich mit vier Königreichen identifiziert. Konnte der Traum Nebukadnezars an die traditionelle Vorstellung von den durch vier Metalle symbolisierten "Weltzeitaltem" anknüpfen, so ist auch das Schema der "vier Königreiche" traditionsgeschichtlich in hellenistischer Zeit fest verankert40. Im Gegensatz zur Traumvision läßt sich in der Deutung der Anfang der Reihe dieser vier Königreiche zweifelsfrei bestimmen. In den Versen 2,37f wird das "goldene Haupt" der Statue ausdrUcklieh auf Nebukadnezar gedeutet, so daß das babylonische Reich das erste Königreich darstellt. Gehen wir mit der großen Mehrheit der Exegeten davon aus, daß sich hinter dem letzten Weltreich, das durch Eisen symbolisiert wird, das Reich der Griechen verbirgt (2,40-43), so sind die beiden anderen Metalle wohl auf das medische (2,39a)4 1 und persische Reich (2,39b) zu beziehen. Die besondere Aufmerksamkeit des Verfassers dieser Zeilen gehört auf jeden Fall dem vierten Weltreich, dem er mit vier Versen arn meisten Raum einräumt. Die Zeit der griechischen Weltherrschaft läßt sich nach der Deutung in drei Phasen unterteilen, während der Traum selbst lediglich zwei Phasen kennt. Die Deutung fügt dem Bild von den eisernen Schenkeln und den Füßen, die teils aus Eisen, teils aus Ton bestehen, noch einige Ausführungen über die ,.Zehen" der Statue, die aus einem unverträglichen Gemisch von Eisen und Ton bestehen, hinzu. Während sich die beiden ersten Phasen leicht auf das Alexanderreich (2,40) und die nachfolgenden Diadochenreiche (2,41) deuten lassen, spielen die Verse 42-43 offensichtlich auf Versuche an, die andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem ptolemäischen und seleukidischen Reich durch dynastische Heiraten zu beenden 42. Der herabfallende Stein in Kap. 2,34f, der sich zu einem Gebirge, das die Welt bedeckt, auswächst, wird nun ausdrücklich auf Gottes endzeitliches Gerichtshandeln über die Weltreiche und die Errichtung des Gottesreiches bezogen. Diesen Zusammenhang bringt Vers 2,44 mit folgenden Worten zum Ausdruck: ,,Zur Zeit jener Könige wird der Gott des Himmels ein Reich aufrichten, das in Ewigkeit nicht zugrunde gehen wird; seine Herrschaft wird nicht mehr einem anderen Volk überlassen werden. Alle jene Königreiche wird er zermalmen und vernichten; in Ewigkeit wird es bestehen"43. Das Gottesreich tritt an die Stelle der irdischen Königreiche und markiert deren Ende. Einzig Gott selbst ist als handelndes Subjekt für das endzeitliche Geschehen verantwortlich. Gottes endzeitliches Gerichts40 So z.B. bei Aemilius Sura oder Sibyllinen 4, 49-101; siehe hierzu M. Hengel, Judentum, 34; ferner J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 37ff; zudem J.W. Swain, CP 1940, 1-21. 41 Die historische Tatsache, daß das babylonische Reich zeitgleich mit dem medischen Reich bestand und nicht von diesem, sondern von dem persischen Reich abgelöst wurde, beweist meines Erachtens. daß der Verfasser dieser Zeilen ein Schema übernommen hat, ohne den wahren Gang der Geschichte zu kennen. 42 Siehe J. Lebram, Das Buch Daniel, 57; ferner M. Hengel, Judentum, 334 Anm. 488. 43 Übersetzung nach J. Lebram, Das Buch Daniel, 51.
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handeln Uber die Königreiche ergeht als Vernichtungsgericht Über das Gottesreich selbst wird auch hier nicht viel gesagt. Es wird von Gott selbst in einem theokratischen Akt enichtet und ist im Gegensatz zu den weltlichen Königreichen, die jeweils nur für eine gewisse Zeitspanne exisitierten, von ewiger Dauer. Darüber hinaus zwingt die negative Aussage in V. 44, daß das Gottesreich keinem anderen Volk Oberlassen werden wird, zu der Annahme, daß einem ganz bestimmten Volk die Herrschaft im Gottesreich zugedacht ist. Nach Lage der Dinge ist bei diesem Volk wohl nur an Israel zu denken, doch wird dieser Gedanke nicht explizit ausgesprochen 44 • Da Kap. 2 jedoch davon ausgeht, daß es der Gott Daniels ist. der das Gottesreich herbeifUhrt, legt es sich nahe, das Volk, aus dem der Seher Daniel nach Kap. l stammt, sprich das Volk Israel, mit dem "Gottesvolk", von dem Kap. 2, 44 redet, zu identifizieren4S. Während sich der Traum Uber die Adressaten des Gottesreiches völlig ausschweigt, unternimmt die Deutung in Kap. 2 einen vorsichtigen Versuch, diese mit dem Volk Israel gleichzusetzen. Die Deutung verleiht somit einer gesamtisraelitischen Heilsperspektive Ausdruck.
2.1.3.4 Zusammenfassung Sowohl der Traum selbst als auch dessen Deutung bewegen sich in universellen, weltgeschichtlichen Bahnen. Das Volk Israel und seine Geschichte, Gottes Heilssetzungen in der Vergangenheit (z.B. Exodus- und Sinaitradition) liegen außerhalb jeglichen Interesses. Gottes Rettungstaten an Israel in der Vergangenheit sind nicht mehr in der Lage, in der Gegenwart heilsstiftend zu wirken. Das entscheidende Merkmal des Traumes wie auch seiner Deutung ist eine radikal eschatologische Heilsperspektive. Die Hoffnung auf eine erneute Zuwendung Gottes zu seinem Volk speist sich ausschließlich aus der Zukunft. Das Gottesreich erscheint als Gnadengeschenk Gottes an das ganze Volk Israel. Die konsequente Theozentrik dieser streng eschatologischen Hoffnung, gepaart mit einer gesamtisraelitischen Heilsperspektive, ist wohl dafUr verantwortlich, daß in diesem Zusammenhang nicht von der Tora die Rede ist. Der deterministische Zug, der den Verlauf der Weltgeschichte bis hin zur Enichtung des Gottesreiches bestimmt, läßt kaum einen Spielraum fUr die Frage nach der Verantwortlichkeit des Menschen für sein Tun. Ist die Menschheit jedoch zum bloßen "Statistendasein" auf der BUhne des Weltgeschehens verdammt, ist jeder Rekurs auf die Gebote der Tora sinnlos. Die gesamtisraelitische Perspektive dieser Zeilen ist meines Erachtens ein untrUgliches Zeichen dafUr, daß die Ereignisse in Palästina unter Antiochus IV. Epiphanes noch nicht im Blickfeld des Verfassers liegen. Von einer innerisraelitischen Spaltung, die sich an der Stellung des einzelnen, bzw. einer Gruppe zu Erst in Kapitel 7 wird Israel bzw. ein Teil Israels mit dem Volk Gottes, das das Gottesreich besitzt. eindeutig identifiziert. 4S Siehe N.W. Porteous, Das Buch Daniel, 39. 44
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den Geboten der Tora festmachen läßt, ist im 2. Kapitel des Danielbuches noch nichts zu spüren. Nicht radikaler Gehorsam gegenüber den Geboten der Tora, sondern einzig die Zugehörigkeit zum Volk Israel ist für die Stellung im Eschaton entscheidend. Der Bundesgedanke ist an dieser Stelle dem Gesetzesgedanken noch eindeutig vorgeordnet. Erst im Zuge der Ereignisse unter Antiochus IV. Epiphanes kommt es innerhalb der frühjüdischen Apokalyptik in dieser Frage zu einer anderen Gewichtung. Die gesamtisraelitische Heilsperspektive der apokalyptischen Frühzeit tritt nun immer stärker zugunsten einer universalen, am Heil des einzelnen Torafrommen orientierten Perspektive zurück. Folglich erfährt der Bundesgedanke bereits während der ma.kkabäischen Phase der frühjüdischen Apokalyptik eine deutliche Einschränkung. Sein Charakter als Zusage Gottes an Israel wird durch die einseitige Betonung der Bundesverpflichtung, die in konsequentem Gesetzesgehorsam besteht, zurückgedrängt. Ein erster Meilenstein auf diesem Weg stellt zweifellos die Tiervision in Daniel 7 dar.
2.1.4 Der apokalyptisch geprägte Visionsteil des biblischen Danielbuches (Kap. 7-12)
2.1.4.1 Das 7. Kapitel des biblischen Danielbuches 2.1.4.1.1 Einführung Das 7. Kapitel des Danielbuches ist mit gutem Grund als das ,,Herzstück des Danielbuches" zu bezeichnen46. Kommt doch gerade diesem Kapitel die Aufgabe zu, den stark weisheitlieh geprägten Erzählteil der Kapitel 1-6 mit dem apokalyptischen Visionsteil der Kapitel 8-12 zu verbinden. Als Anknüpfungspunkt zu diesem Brückenschlag konnte das 2. Kapitel des Danielbuches dienen. Verfügt doch gerade dieses Kapitel, obwohl es in einen weisheitliehen Kontext eingebunden ist, mit seiner radikal eschatologischen Ausrichtung über die notwendigen ,,Pfunde", mit denen sich mit Blick auf den apokalyptischen Visionsteil wuchern läßt. Die Tiervision und ihre Deutung greifen die Aussagen des 2. Kapitels über den Verlauf der Weltgeschichte bis hin zur Errichtung des Gottesreiches auf und bilden sie in neuem Sinne weiter. Das 7. Kapitel des Danielbuches zeichnet somit trotz aller Analogien zu Kap. 2 ein neues, den veränderten Zeitumständen entsprechendes Bild der Weltgeschichte. In einem ersten Arbeitsschritt wollen wir uns der Tiervision selbst, danach deren Deutung durch einen Offenbarungsengel zuwenden. Zur Frage nach der Einheitlichkeit dieses Kapitels sei lediglich darauf hingewiesen, daß der Verfasser der Tiervision und ihrer anschließenden Deutung sicherlich unterschiedliches Traditi-
46 So N.W. Porteous, Das Buch Daniel, 76.
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Der apokalyptisch geprägte Visionsteil des biblischen Danielbuches
ansmaterial verarbeitet hat. An der These der einheitlichen Konzeption dieses Kapitels braucht diese Tatsache jedoch noch nichts zu ändern47 .
2.1.4.1.2 Die Tiervision (Kap. 7,1-14) Der Aufbau der Tiervision geht weitgehend mit dem Traum Nebukadnezars und dessen Deutung in Kap. 2 parallel. Zunächst greift sie die Einteilung der Weltgeschichte in vier Perioden aus Kap. 2 auf, indem sie die vier Weltreiche durch vier Tiere repräsentiert sein läßt. Analog zur Deutung in Kap. 2 symbolisieren die vier Tiere die Herrschaft Babyloniens, Mediens, Persiens und Griechenlands48. Die Differenzierungen. die die Griechenherrschaft im Rahmen von Kap. 2 erfährt, werden aufgenommen und in Form der "Hornsymbolik" fortgeführt. War nach der Deutung in Kap. 2 die letzte Phase der Griechenherrschaft durch die dynastische Heiratspolitik zwischen Seleukiden und Ptolemäern gekennzeichnet, eine Politik, die in der Zeit zwischen der Mitte und dem Ende des 3.Jhs. v.Chr. bestimmend war49 , so sieht die Tiervision mit der Herrschaft des ,.kleinen Horns", ein Symbol, das sich mit ziemlicher Sicherheit auf die Gestalt des seleukidischen Königs Antiochus IV. Epiphanes bezieht5o, die letzte Phase gekommen. Es wäre jedoch gänzlich verfehlt, in der Tiervision lediglich eine .,aktualisierende Wiederholung" von Kap. 2 zu sehen. Trotz des analogen Aufbaus lassen sich in der Tiervision eine Fülle von Akzentverschiebungen feststellen. War dem Verfasser der Vision und ihrer Deutung in Kap. 2 über den traditionellen Gedanken einer stetigen "Verschlechterung" der Weltreiche hinaus kaum etwas am Verhältnis der vier Weltreiche untereinander gelegen, sondern alles auf den Gegensatz von Gottesreich und Weltreich konzentriert, so bietet Kap. 7 ein gänzlich anderes Bild. Das vierte Tier und damit das griechische Reich wird sowohl in der Vision als auch in deren Deutung von den drei vorangehenden Reichen deutlich unterschieden5 1• Der Maßstab, an dem die Reiche untereinander gemessen werden, ist hierbei eindeutig ethischer Natur. Während das durch den geflügelten Löwen symbolisierte babylonische Reich nach Vers 4b ein .,menschliches Herz" besitzt, werden die nachfolgenden Reiche bereits deutlich negativer bewertet. Ein gewisses Maß an ,.Menschlichkeit" läßt sich hinsichtlich des medischen Reiches zwar noch hinter der Bemerkung von V. 5, daß der Bär .,auf einer Seite aufgerichtet wird", vermuten, doch wird das medische Reich schon bedeutend negativer gezeichnet als das babylonische. Das persische Reich wird gänzlich negativ bewertet, doch 47
Siehe 0. Plöger, Das Buch Daniel, 1965, 119 und 25-28. Siehe z.B. J. Lebram. Das Buch Daniel, 88; ferner N.W. Porteous, Das Buch Daniel. 85f. 49 Vgl. M. Hengel, Judentum, 334 Anm. 488; J. Lebram, Das Buch Daniel. 57. 50 Gegen J. Lebram. Das Buch Daniel, 89. der an dieser Stelle das •.kleine Horn" auf Antioebus m. bezieht. 51 Dan 7,7b sagt vom vierten Tier: ,,Es war anders als alle Tiere vor ihm und hatte zehn Hörner." Auch die Deutung in 7,23 betont mit Blick auf das vierte Königreich: •.Das vierte Tier (bedeutet): Ein viertes Reich wird auf der Erde sein, das anders ist als alle (anderen) Reiche, und es wird die ganze Erde verschlingen, sie zerdreschen und zermalmen"(Übersetzung nach J. Lebram, Das Buch Daniel, 85+87). 48
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ist auch dieses noch um Welten vom griechischen Reich entfernt. Das griechische Reich stellt nach der Tiervision des Danielbuches den absoluten ethischen Tiefpunkt der Weltgeschichte dar. Das Böse dieses Weltreiches wird als im Rahmen der Weltgeschichte völlig analogielos empfunden. Das Griechenreich ist geradezu die Inkarnation der Feindschaft gegen Gott52 . Auf die ethische Dimension der Vergehen der Weltreiche und insbesondere des griechischen Reiches verweist nun auch die Gerichtsthematik, die für die Verse 7,10-12 bestimmend ist. Stand in Kap. 2 am Beginn der Endzeit der Vernichtungsbeschluß Gottes über die Weltreiche, so markiert in Kap. 7 eine regelrechte Gerichtsverhandlung den Übergang zum Gottesreich. Gottes Gerichtshandeln über die Weltreiche hat hier die Gestalt eines forensischen Gerichtsaktes angenommen. Gott, der sich hinter dem Symbol des "Alten an Tagen" verbirgt, führt zwar den Vorsitz im Gericht, an der Verhandlung selbst ist er jedoch ziemlich unbeteiligt. Ein himmlisches Gremium tritt zusammen, das unter Befragung der "himmlischen Bücher" zu einem Urteilsspruch gelangt. Der Hinweis auf die "Bücher" bezieht sich an dieser Stelle sicherlich nicht auf die babylonische Vorstellung von "Schicksalstafeln", sondern auf die Tatenbücher, die das irdische Tun eines jeden Menschen im einzelnen festhalten 53. Das Gericht über die Völker ergeht demnach nicht als bloßes Vernichtungsgericht, unabhängig vom Verhalten des Individuums, sondern orientiert sich am Tun des einzelnens4 • Dieser Zusammenhang von gegenwärtigem ethischen Verhalten und zukünftigem Ergehen, der in Kap. 2 völlig fehlt, kommt dann in der Deutung der Vision von den vier Tieren in Kap. 7,25 noch weit deutlicher zum Ausdruck. Korrektes ethisches Handeln in der Gegenwart stellt eine Brücke dar, die Gegenwart und Zukunft verbindet. Stand in Kap. 2 die radikale Diastase zwischen der gegenwärtigen Weltzeit und dem zukünftigen Gottesreich im Mittelpunkt des Interesses, so wird in Kap. 7 dieser dualistische Aspekt durch Einführung der ethischen Komponente abgeschwächt. Das himmlische Gerichtsszenario geht schließlich in den Versen 7,llf in einen Urteilsspruch über die Weltreiche über. Während die griechische Herrschaftaufgrund der "anmaßenden Worte" des •.kleinen Horns" dem göttlichen Vernichtungsgericht, das durch ,,Feuer" ergeht, überantwortet wird, fallt das Urteil den anderen "menschlicheren" Herrschaften gegenüber etwas milder aus. Sie werden lediglich mit der zeitlichen Begrenzung ihres Herrschaftsanspruchs bestraft. Den Abschluß der eschatologischen Ereignisse bildet das Kommen einer Gestalt, die einem "Menschensohn" gleicht und die aufs engste mit der Herbeiführung des Gottesreiches verbunden ist. Die Frage nach der Rolle der
S2 Siehe J. Lebram, Das Buch Daniel, 90. SJ Siehe N.W. Porteous. Das Buch Daniel. 89; ferner M. Hengel, Judentum, 366f; zudem
W. Bousset/H. Greßmann, Die Religion des Judentums, 258 und P. Volz, Die Eschatologie der jüdischen Gemeinde, 303f. 54 Diese Individualisierung des Gerichtsvorgangs. die eine Individualisierung des Heilserwerbs zur notwendigen Folge hat, läßt sich neben Dan 7 vor allem auch in der Henoch-Literatur feststellen.
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Der apokalyptisch geprägte Visionsteil des biblischen Danielbuches
Menschensohnvorstellung im Rahmen des Danielbuches und deren Bedeutung für die fiilhjüdische Apokalyptik birgt jedoch eine solche Fülle von Problemen in sich, daß jeder ernsthafte Versuch, auch nur zu einer annähernden Lösung zu gelangen, den Rahmen dieser Dissertation sprengen würde. Wir müssen uns deshalb auf einige wenige grundlegende Bemerkungen beschränken. Exkurs 2) Die Menschensohnproblematik in Dan 755 Jahrhundertelang konnte sowohl für die christliche als auch die jüdische Exegese keinerlei Zweifel bestehen, daß der "Menschensohn" in Dan 7 eine individuelle Gestalt und mit dem Messias gleichzusetzen ist. Beide Aussagen wurden jedoch im Laufe der Erforschung der •.Menschensohnthematik" stark erschüttert. Seit Ende des 19.Jhs. setzte sich vor allem unter dem Eindruck der Bilderreden des äthiopischen Henochbuches immer mehr die Überzeugung durch, daß die Erwartung eines transzendenten universal herrschenden ,,Menschensohnes" streng von der irdisch-nationalen Messiashoffnung abzusetzen ist56. Aber auch die Vorstellung vom individuellen Charakter der Menschensohngestalt wurde zugunsten einer kollektiven Deutung immer stärker in Zweifel gezogen. Der unaufhaltsame Siegeszug der kollektiven Deutung der Menschensohngestalt, die in fiilheren Jahrhunderten nur von einigen Außenseitern vertreten wurde, begann in der Mitte des 19.Jhs. und fUhrte soweit, daß sie in der Gegenwart beinahe Allgemeingeltung erreicht hat57 • Gleichwohl sind jedoch auch die Vertreter einer individuellen Deutung noch nicht gänzlich verstummt58. Darüber hinaus wurden im Laufe der Forschungsgeschichte auch die philologischen Probleme, die mit der Wendung MrDJ(M) ,~ verbunden sind, ausfUhrlieh diskutiert59 • Allem Anschein nach bezeichnet diese Wendung im Aramäischen einen einzelnen Menschen, ohne daß ihr jedoch eine besondere Sonderstellung zukommt. Diese Erkenntnis schließt jedoch nicht aus, "daß dieser allgemeine Begriff in festgeprägten apokalyptischen Zusammenhängen eine sehr klar umrissene Stellung als terminus technicus besitzt''60. Ein titularer Charakter dieser Wendung ist in diesen Zusammenhängen zwar nicht zu beweisen, aber auch nicht auszuschließen. Einen weiteren Forschungsschwer55 Vgl. hierzu K. Koch, Das Buch Daniel, 216-234; K.-H. Müller, Der Menschensohn, in: Studien, 229-278; K.-H. Müller, Menschensohn und Messias, in: Studien, 279-322; U.B. Müller, Messias und Menschensohn, 1972; E. Sjöberg, Der Menschensohn im äthiopischen Henochbuch, 1946; J. Theisohn, Der auserwählte Richter, 1975; F. Hahn, Christologische Hoheitstitel, 13-53; H.S. Kvanvig, Roots of Apocalyptic, 345--602. 56 Siehe z.B. P. Volz, Die Eschatologie, 12. 57 Siehe K. Koch, Das Buch Daniel, 21 S--222. 58 Eine individuelle Deutung wird heute vor allem in Form einer angelalogischen Deutung vertreten, so z.B. J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 123-147; siehe auch K. Koch, Das Buch Daniel, 216-134, der gleichfalls mit einer angelalogischen Deutung sympathisiert. 59 Siehe K. Koch, Das Buch Daniel, 223ff; F. Hahn, Christologische Hoheitstitel,l3ff. 60 Siehe F. Hahn, Christologische Hoheitstitel, 22.
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punkt stellt das Problem der Herkunft der Menschensohnvorstellung dar, auf das wir jedoch an dieser Stelle nicht näher eingehen können 61 . Kehren wir an dieser Stelle nochmals zu dem Problem einer individuellen bzw. kollektiven Deutung der Menschensohnvorstellung zurück, so wollen wir uns zunächst kurz die wichtigsten Argumente, die für ein kollektives Verständnis sprechen, vergegenwärtigen. Nimmt man den Gegensatz, der zwischen den Tieren als Repräsentanten der irdischen Weltreiche auf der einen und dem •.Menschensohn" als Vertreter des Gottesreiches auf der anderen Seite besteht, wirklich ernst, so legt es sich nahe, daß letzterer analog zu den Tieren gleichfalls ein Kollektiv symbolisiert, hinter dem sich nur das Volk Israel verbergen kann. Unterstützung findet diese These offensichtlich auch von der Deutung der Tiervision her. Bringt die Deutung in 7,17f den •.Menschensohn" doch in einen engen Zusammenhang mit den ,.Heiligen des Höchsten", eine Wendung, die gemeinhin ebenfalls auf Gesamtisrael oder zumindest die israelitischen Gesetzestreuen bezogen wird. Der •.Menschensohn" in 7, 13f wäre somit als Symbol für das eschatologische Israel zu verstehen. Gegen diese kollektive Deutung, so einleuchtend sie auf den ersten Blick auch sein mag, erheben sich jedoch auch starke Bedenken. In diesem Zusammenhang sei zunächst auf die "Wirkungsgeschichte" von Dan 7 verwiesen. Betrachten wir nämlich die Nachgeschichte der Menschensohngestalt in den Bilderreden des äthiopischen Henochbuches, so gehen diese eindeutig von einer individuellen Gestalt aus. Gehen die Bilderreden etwa auf eine vor- bzw. nebendanielische Menschensohntradition zurUck? Ist es denkbar, daß Dan 7 bereits in früher Zeit völlig mißverstanden wurde62 ? Die Tatsache, daß in der nachdanielischen Menschensohntradition des Judentums eindeutig eine individuelle Deutung vorliegt, darf jedoch keinesfalls unterbewertet werden. Diese und andere GrUnde63 sind dafür verantwortlich, daß neben der kollektiven Deutung auch die individuelle Deutung weiterhin Anhänger findet. Von den gegenwärtigen Versuchen, an einer individuellen Deutung der Menschensohngestalt in Dan 7 festzuhalten, verdient meines Erachtens die angelologische Deutung das höchste Maß an Aufmerksam61 Siehe hierzu vor allem H.S. Kvanvig, Roots of Apocalyptic, 345--602. 62 Das Vorhandensein einer vordanielischen Menschensohntradition, die sich als relativ fest
geprägtes Traditionsgut hinter Dan 7,9f.l3f verbirgt und den ,,Menschensohn" als Einzelgestalt kennt, kann wohl als gesichert angenommen werden: so z.B. M. Noth, Zur Komposition des Buches Daniel, ThStKr 1926, 143-163; ferner J. Theisohn, Der auserwählte Richter, 1975; K.H. Müller, Der Menschensohn, in: Studien, 229-278. Lediglich die Frage nach den Beziehungen zwischen dieser ,,Danielvorlage", dem Danielbuch und den Bilderreden des äthiopischen Henochbuches wird konträr diskutiert. Versuchen, die Menschensohnvorstellung der Bilderreden mit der •.Danielvorlage" zu verbinden (so z.B. M. Noth) oder als Umgestaltung bzw. Interpretation des danielischen Menschensohnes zu verstehen (so z.B. J. Theisohn) steht die Oberzeugung entgegen, daß der Danielzyklus, wie auch die Bilderreden eigenständige, geschlossene und mit unterschiedlichen Trägerkreisen verbundene Menschensohnerwartungen ihr eigen nennen (so z.B. K.-H. Müller). 63 So widerstrebt z.B. der Singular iM::l der Kollektivdeutung.
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keit64. Spielen doch gerade innerhalb des Danielbuches immer wieder die Engel als ,.menschenähnliche Wesen" (8,15; 10,16.18) eine herausragende Rolle, so daß der Schluß naheliegt, daß sich hinter dem ,,Menschensohn" eine individuelle Engelgestalt, vielleicht gar Michael, der Völkerengel Israels, verbirgt65 . Zwar lassen sich auch gegen diesen Deutungsversuch eine Menge von Einwänden erheben66, doch kann er meines Erachtens gerade dann ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit für sich verbuchen, wenn man die für die Texte aus der Frühphase der frühjüdischen Apokalyptik typische Tendenz ernst nimmt, kosmisches und irdisches Geschehen ganz eng aufeinander zu beziehen. Nach diesem kurzen forschungsgeschichtlichen Exkurs zur Menschensohnproblematik in Dan 7, wollen wir mit unserem eigenen Interpretationsversuch dieses Textes fortfahren. Bevor wir uns jedoch selbst in irgendwelche Spekulationen über ein angemessenes Verständnis der Menschensohnepisode verstrikken, sollen die Verse 7,13-14 selbst zu Worte kommen: "Ich sah in den Nachtvisionen, und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer, der einem Menschensohn glich, und zum Uralten gelangte er und vor ihn führte man ihn. 14 Da wurde ihm Ehre, Herrschaft und Macht gegeben, und alle Völker, Stämme und Spachgruppen beteten ihn an. Sein Reich ist ein ewiges, das nicht vergeht, und seine Herrschaft wird nicht zerstört''67. Die in der Forschung breit diskutierte traditionsgeschichtliche Frage, ob Vers 1368 bzw. die Verse 13+14 69 zusammen mit den Versen 9+10 einen ursprünglich eigenständigen Traditionszusammenhang bildeten 70 und welche Bedeutung der Menschensohngestalt im Rahmen dieses älteren Traditionskomplexes zukommt7•, ist an dieser Stelle zurückzustellen, da sie für das Thema dieser Arbeit nur von untergeordnetem Interesse ist. Gehen wir doch in all un-
64 FUr K.-H. Müller erstreckt sich die gesamte Entwicklungslinie der Menschensohnvorstellung im Danielzyklus ..gänzlich im Rahmen der Engellehre"; siehe K.-H. Müller, Der Menschensohn. in: Studien, 278. 6S Siehe hierzu J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 123-152; ferner K.-H. Müller. Der Menschensohn, in: Studien, 229-278. 66 Es sei in diesem Zusammenhang z.B. auf die höchst konträr diskutierte Frage verwiesen, ob die •.Heiligen des Höchsten", die zweifellos in einer engen Verbindung zum •.Menschensohn" stehen, als Engelwesen verstanden werden können (so z.B. M. Noth, Die Heiligen des Höchsten, in: FS s. Mowinckel (1955), 146-157), oder ob diese unbedingt auf das Volk Israel, bzw. die Gesetzestreuen zu beziehen sind. 67 Übersetzung nach J. Lebram, Das Buch Daniel, 85. 68 So z.B. K.-H. Müller, Der Menschensohn, in: Studien, 237f. 69 So z.B. H. Gunkel, Schöpfung, 323-333. 70 Siehe vor allem J. Theisohn, Der auserwählte Richter. 1975. 71 Allem Anschein nach war der ,,Menschensohn" in diesem älteren Traditionskomplex (Dan 7,9f+13) eng mit Gottes endzeitlichem Gerichtshandeln verbunden. Der ,,Menschensohn" der Danielvorlage erscheint als der bevollmächtigte Vennittler der himmlischen Strafgerichtsbarkeit; siehe hierzu K.-H. Müller, Der Menschensohn, in: Studien, 229-242.
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seren Bemühungen von der Überzeugung einer einheitlichen Komposition des 7. Kapitels des Danielbuches ausn, so daß unsere vordringliche Aufgabe nur darin bestehen kann, dieses Kapitel in seiner jetzigen Form einer Interpretation zu unterziehen. Betrachten wir deshalb die Stellung der Verse 13 und 14 im jetzigen Kontext der Tiervision, so fallt auf, daß die Gestalt des ,,Menschensohnes" erst zu dem Zeitpunkt auftritt, nachdem der Urteilsspruch am vierten Tier bereits vollstreckt ist. Wird im 13. Kapitel des 4. Esrabuches und in den Bilderreden des äthiopischen Henochbuches der Menschensohn primär mit Weltende und Gericht verbunden, so tritt im jetzigen Kontext von Dan 7 die Funktion des Menschensohnes als endzeitlicher Richter zurück. Im Gegensatz zu diesen späteren Stellen, die die Funktion des Menschensohnes im Rahmen des endzeitliehen Gerichtshandeins betonen, wird der Menschensohn in Dan 7 weitaus stärker mit der kommenden Heilszeit verbunden73. Der Menschensohn wird von Gott inthronisiert und ist der Repräsentant des Gottesreiches. Er steht zwar in großer Nähe zu Gott74 , bleibt diesem letztendlich aber subordiniert. Dem Menschensohn kommt in erster Linie die Funktion zu, für den Erhalt der Ordnung innerhalb des Gottesreiches zu sorgen. Dies alles spricht eher dafür, daß der ,,Menschensohn" nicht kollektiv zu verstehen ist, sondern eine individuelle "gottähnliche" Gestalt darstellt, die Gott gegenüber der Menschenwelt vertritt75 . Gegen eine Identifikation des ,,Menschensohnes" mit dem endzeitliehen Volk Israel spricht vor allem die Tatsache, daß nach 7,14a im Zusammenhang der Frage nach den Adressaten des Gottesreiches von den Menschen aller Nationen die Rede ist, sofern sie im eschatologischen Endgericht Bestand haben. Das Gottesreich in Dan 7 ist nicht nur dem Volk Israel vorbehalten, sondern bezieht sich eindeutig auf die gesamte Menschheit. Individualisierung des Gerichtsvorgangs und Universalität des Gottesreiches entsprechen sich gegenseitig. Kehren wir an dieser Stelle zur "gottähnlichen" Gestalt des ,,Menschensohnes" zurück, so gibt es genUgend Anhaltspunkte dafür, daß sich hinter dieser Gestalt ein Engelwesen verbirgt76. Da diese Interpretation meines Erachtens auch von der Deutung der Tiervision her eine ausdrUckliehe Bestätigung findet, wollen wir uns nun diesem Textkomplex zuwenden.
72 Die Rede von einer ..einheitlichen Komposition" des 7. Kapitels des Danielbuches schließt natUrlieh nicht aus, daß der Verfasser dieses Kapitels ursprünglich selbständige Traditionselemente verarbeitet hat. Meines Erachtens lassen sich sehr wohl solche Traditionselemente ausmachen; siehe A. Bentzen, Daniel (HAT Ul9). 1952, 56f. 62f; vgi.J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 127-132. 73 Siehe N.W. Porteous, Das Buch Daniel, 89; ferner F. Hahn, Christologische Hoheitstitel, 28f. 74 Auf diese große Nähe verweist sowohl seine menschliche Erscheinung als auch die Tatsache, daß die Nationen diesem "dienen" bzw. ihn sogar ,,anbeten" werden. 7S So auch J. Lebram. Das Buch Daniel, 90. 76 Siehe vor allem K.-H. Müller, Der Menschensohn, in: Studien, 229-278.
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2.1.4.1.3 Die Deutung der Tiervision (Kap. 7,15-28) Die Tiervision und ihre Deutung entsprechen sich zwar nicht in jedem Zug, doch sind aus dieser Beobachtung keine falschen literarkritischen SchlUsse zu ziehen. Die Unterschiede zwischen der Vision und ihrer Deutung rühren hier, wie auch in vielen anderen apokalyptischen Visionsschilderungen lediglich daher, daß die apokalyptische Vision in vielen Zügen bereits von sich aus verständlich ist, so daß sie nicht gänzlich entschlüsselt werden muß. Der Deutung kommt eher eine weiterführende und ergänzende Aufgabe zu. Mit Blick auf Dan 7 ist deshalb an der ursprUngliehen Zusammengehörigkeit von Vision und Deutung nicht :r.u zweifeln77. Am Anfang der Deutung der Tiervision durch einen Engel steht die Identifikation der vier Tiere mit vier aufeinanderfolgenden Weltreichen (7, 17). Diese Weltreiche werden bereits in 7,18 dem Gottesreich, das die ,,Heiligen des Höchsten"
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Während sich hinter dem Symbol des "kleinen Horns" mit ziemlicher Sicherheit der Seleukide Antiochus IV. Epiphanes verbirgt, lassen sich die Wendungen ,,Heilige des Höchsten", "Volk der Heiligen des Höchsten" sowie der Eingriff des "kleinen Horns" in •.zeiten und Gesetz" bedeutend schwerer identifizieren. PUr das Thema unserer Arbeit ist besonders die letzte Frage von entscheidender Bedeutung. Ist doch im Rahmen des apokalyptischen Teiles des Danielbuches in 7,25 zum ersten Mal ausdrUcklieh vom Gesetz die Rede. 2.1.4.1.4 Die .,Heiligen des Höchsten", die Veränderung von "Zeiten und Gesetz" und das., Volk der Heiligen des Höchsten" in Dan 7 2.1.4.1.4.1 Die "Heiligen des Höchsten"
Jeder Versuch, zu einer angemessenen Deutung dieser Wendung zu gelangen, muß mit der Beobachtung einsetzen, daß die ,,Heiligen des Höchsten" innerhalb der Deutung der Tiervision dieselbe Stellung einnehmen, die im Rahmen der Vision selbst der Gestalt des ,,Menschensohnes" zukommt. Die ,,Heiligen des Höchsten" wie auch der ,,Menschensohn" sind die Repräsentanten des zukilnftigen Gottesreiches. Während der ,,Menschensohn" jedoch ausschließlich mit dem kommenden Reich verbunden wird und erst nach Gottes endzeitlichem Gerichtshandeln die BUhne des Geschehens betritt, spielen die ,,Heiligen des Höchsten" bereits in der gegenwärtigen Weltzeit eine entscheidende Rolle. In 7,22 werden sie mit Gottes Gerichtshandeln verbunden, nach 7,25 sind sie gar in die Auseinandersetzungen mit Antiochus IV. Epiphanes involviert. Zwischen den ,,Heiligen des Höchsten" und der Gestalt des ,,Menschensohnes" bestehen demnach trotz aller Gemeinsamkeiten auch entscheidende Unterschiede, so daß jeder vorschnellen Identifikation dieser beiden Größen gegenüber Vorsicht geboten ist. Ist zwischen der Gestalt des ,,Menschensohnes" und den ,,Heiligen des Höchsten" zwar eine enge Verwandtschaft aber keine Identität vorauszusetzen, so verliert die kollektive Deutung der Menschensohnvorstellung eine ihrer wertvollsten StUtzen7B. Im Gegenzug bedarf dann auch die herkömmliche Deutung der "Heiligen des Höchsten" auf das Volk Israel einer erneuten Überprüfung. Die Tatsache, daß die ,,Heiligen des Höchsten" sowohl mit dem Gottesreich als auch mit der gegenwärtigen Weltzeit in Verbindung stehen, legt die Vermutung nahe, daß es sich bei diesen um Engelmächte handelt79. Spielen Engelmächte im Kontext des Danielbuches doch an vielen Stellen eine entscheidende Rolle. Wie wir noch sehen werden, ist das Ineinander von kosmischem und irdischem Geschehen sowohl fUr das 8. Kapitel des Danielbuches als auch fUr die große Schlußvision in den Kapiteln 10-12 bestimmend. Meiner Meinung nach ist jedoch auch das 7. Kapitel des Danielbuches als beredtes Zeugnis einer engen Verbindung kosmischer und irdischer Zusammenhänge zu verstehen.
78
Siehe K. Koch, Das Danielbuch, 234-239.
79 Vgl. M. Noth, Die Heiligen des Höchsten, in: Festschrift fürS. Mowinckel. 146-157.
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Der apokalyptisch geprägte Visionsteil des biblischen Danielbuches
Gehen wir davon aus, daß sich hinter den "Heiligen des Höchsten" Engelmächte verbergen, so bereiten uns die Verse 7,18 und 22, die davon reden, daß den "Heiligen des Höchsten" (bzw. den ,,Heiligen" ohne jede Näherbestimmung) die Herrschaft im Gottesreich zukommen wird, keinerlei Verstehensschwierigkeiten. Eine enge Beziehung zwischen Engelmächten und dem Gottesreich ist für jüdische Ohren nicht verwunderlich. Vor bedeutend größere Probleme stellt uns jedoch die Aussage von Vers 21, daß der Seleukide Antiochus IV. Epiphanes die ,,Heiligen" besiegt80. Nicht umsonst ist von den Gegnern einer angelologischen Deutung der Wendung "Heilige des Höchsten" immer wieder darauf hingewiesen worden, daß nach jüdischem Denken ein irdischer König die Engel nicht bekämpfen und schon gar nicht besiegen könne. Bereits ein kurzer Blick auf die Qumranschrift 1QM vermag uns jedoch eines Besseren zu belehren. In den Schlachtreihen für den eschatologischen Endkampf zwischen den "Söhnen des Lichts" und den "Söhnen der Finsternis" stehen Engelmächte und Menschen nebeneinander8 1• Ein weiterer Blick auf die nähere Erläuterung dieser Aussage in 7,25 zeigt jedoch, wie dieser "Sieg" im Kontext von Dan 7 zu verstehen ist. Der Sieg des Antiochus wird ausdrücklich als ,,Änderung von Zeiten und Gesetz" interpretiert. 2. /.4. 1.4.2 Die Änderung von ,.Zeiten und Gesetz" in Dan 7,25
Vergegenwärtigen wir uns zunächst den genauen Wortlaut von Dan 7,25: ,,Er wird Worte gegen den Höchsten sprechen und die Heiligen des Höchsten bedrängen, und er wird planen, Zeiten und Gesetz zu verändern, und sie werden seiner Macht Zeit, (zwei) Zeiten und eine halbe Zeit ausgeliefert sein"82. Der Frevel des gottfeindlichen Königs besteht neben der ,,Lästerung Gottes" vor allem darin, daß er sich an den ,,Zeiten" (zeman) und dem "Gesetz" (dat) vergeht. Wenden wir uns zunächst der Rede von der Änderung der ,,Zeiten" zu, so spielt diese sicherlich auf Verstöße gegen die Kalenderfrömmigkeit an. Vielleicht ist diese Stelle sogar in dem Sinne zu verstehen, daß der in Jerusalem gültige Kalender durch Antiochus IV. Epiphanes abgeschafft wurde (siehe Exkurs 3)83. Es spricht vieles dafür, daß dieser schwere Eingriff in die Kultge80 Zwischen den ,,Heiligen" und den ,,Heiligen des Höchsten" besteht innerhalb von Kapitel 7 keinerlei Bedeutungsunterschied. In den Versen 7,2lf werden beide Wendungen völlig parallel verwendet; so auch J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 126. 81 JQM I, 9b-lla: ,,Aber an dem Tag, an dem die Kittäer fallen, gibt es Kampf und gewaltiges Gemetzel vor dem Gott 10 Israels; denn dies ist der Tag, der von ihm seit ehedem bestimmt wurde für den Vernichtungskrieg gegen die Söhne der Finsternis. An ihm kämpfen zu einem großen Gemetzel die Gemeinde der Göttlichen und die Versammlung II der Menschen. Die Söhne des Lichts und das Los der Finsternis kämpfen miteinander für (den Erweis der) Stärke Gottes beim Lärm einer großen Menge und dem Geschrei der Göttlichen und Menschen am Tage des Verderbens" (Übersetzung nach E. Lohse, Die Texte aus Qumran, 181). 82 Übersetzung nach J. Lebram, Das Buch Daniel, 87. 83 Dan 7,25 macht einzig das ,,kleine Horn" und damit Antiochus IV. Epiphanes für die Abschaffung des Kalenders verantwortlich. Inwieweit die Initiative zu diesem folgenschweren
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setzlichkeit auch im Jubiläenbuch seinen Niederschlag gefunden hat84. Wie auch immer der Kalenderfrevel des Antiochus IV. Epiphanes im einzelnen zu bestimmen sein mag, die Veränderungen am Kalender mußten unwillkürlich auch zu einer Änderung der für den Kultus wichtigen Festtermine führen. Da diese ,,Festtermine" von den Umläufen der Himmelskörper abhängen, sind sie aufs engste mit der himmlischen Ordnung verbunden. Jede Veränderung des Kalenders stellt somit auch einen Eingriff in die kosmische Ordnung der Welt dar und ist als Verstoß gegen die "Schöpfungsordnung" zu werten. Die im Himmel lokalisierten Engelmächte sind als "Wächter" der kosmischen Ordnung automatisch von jeder Veränderung der Himmelsbewegungen betroffen, so daß die Änderung des Kalenders durch Antiochus IV. Epiphanes durchaus als "Sieg" über die Wächterengel verstanden werden kann. Daneben hat jeder Angriff auf die kosmische Ordnung unwillkürlich auch Auswirkungen auf den irdischen Bereich, auf die politischen und sozialen Ordnungen und damit auf die Möglichkeit korrekter Gesetzeserfüllung. Kosmische und ethische Vergehen bedingen sich gegenseitig. Folgerichtig stehen die ,,Festzeiten" qct) und das "Gesetz" (n,), kosmische Ordnung und Sinaigesetzgebung in einem engen Zusammenhang. Die Tatsache, daß der Verfasser an dieser Stelle das persische Lehnwort verwendet, darf nicht in dem Sinne überinterpretiert werden, daß hier lediglich die Kultordnung, nicht jedoch die Tora im Blicke seiBS. Eine scharfe Trennung zwischen Kult und Gesetz wird weder dieser Stelle, noch der frühjüdischen Apokalyptik überhaupt gerecht. Dan 7,25 redet weit eher einer Identität von Kult und Gesetz das Wort. Nimmt man die enge Beziehung zwischen kosmischer Ordnung und Sinaigesetzgebung, die in 7,25 zum Ausdruck kommt, ernst, so eignet dem Gesetzesverständnis dieser Zeilen ein wahrhaft universaler Charakter. Die Zeitspanne, in der es dem eschatologischen Gottesfeind Antiochus IV. Epiphanes vergönnt ist, die kosmische, wie auch die irdische Ordnung zu stören, ist jedoch begrenzt. Den Endpunkt dieser Zeitspanne markiert Gottes endzeitliches Gerichtshandeln (7 ,26a). Der eschatologische Gottesfeind wird vernichtet {7,26b), an die Stelle der vergänglichen Weltreiche tritt das Gottesreich, das sich primär durch seine ewige Dauer auszeichnet (7,27b). Als Adressaten des zukünftigen Gottesreiches nennt die Deutung eine Gruppe, die sich hinter der Wendung "Volk der Heiligen des Höchsten" verbirgt.
n,
2.1.4.1.4.3 Das .. Volk der Heiligen des Höchsten"
Diese Gruppe steht bereits von der Bezeichnung her in enger Verbindung mit den ,,Heiligen des Höchsten", ist jedoch auch deutlich von diesen unterschieden. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist bei den Mitgliedern dieser Gruppe, die Eingriff auf die hellenistenfreundlichen Kreise in Jerusalem. sprich auf die Hohenpriester Jason und Menelaos zurtlckgingen. läßt sich von Dan 7 her nicht entscheiden. 84 Siehe E. Schwarz, Identität durch Abgrenzung, lllff. ss Gegen K. Koch, Das Danielbuch, 129f.
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die Herrschaft im Gottesreich besitzen werden, an die irdischen Mitstreiter der Engelmächte im Kampf gegen den eschatologischen Gottesfeind gedacht. In der Literatur werden diese ,,Mitstreiter" oftmals mit dem jüdischen Volk in seiner Gesamtheit86 oder dem treuen Kern dieses Volkes, der sich in der Zeit der Unterdrückung durch Antiochus IV. Epiphanes durch konsequenten Gesetzesgehorsam ausgezeichnet hat, gleichgesetzt87 . Die Frage nach einer eindeutigen Identifikation dieser Gruppe ist jedoch von dem engeren Kontext des 7. Kapitels des Danielbuches her nicht ausreichend zu lösen. Nimmt man jedoch die Aussage innerhalb der Menschensohnvision in 7,14, daß das Gottesreich den "Gerechten"88 aller Nationen offensteht, ernst, ist eine "partikulare", einzig auf das Volk Israel bezogene Identifikation eher ais unwahrscheinlich zu bezeichnen. Erst ein Blick auf den weiteren Kontext, vor allem auf die enge Verbindung zwischen Kapitel 7 und der großen Schlußvision in den Kapiteln 10-12, ist in der Lage, für ein höheres Maß an Aufklärung zu sorgen. Die Kapitel 1012, die sich in Aufbau und Gedankenführung stark an Kap. 7 orientieren, werfen die entscheidenden Lichtstrahlen auf die Probleme, die sich um eine Näherbestimmung des eschatologischen Gottesreichs ranken. 2.1.4.1.5 Zusammenfassung
In der Tiervision von Kap. 7 lassen sich gegenüber der Traumvision von Kap. 2 eine Fülle von Akzentverschiebungen feststellen. So ist der Maßstab, an dem die Reiche untereinander, sowie in ihrem Verhältis zum Gottesreich gemessen werden, eindeutig ethischer Natur. Mit Blick auf das Gericht ist eine deutliche Individualisierung des Gerichtsvorgangs nicht zu übersehen. Zwischen dem ethischen Verhalten in der Gegenwart und dem zukünftigen Ergehen im Gottesreich besteht ein enger Zusammenhang. Im Kontext der Frage nach dem Gottesreich kommt besonders der Gestalt des ,,Menschensohnes" als dem Repräsentanten dieses Reiches eine entscheidende Bedeutung zu. Hinter dieser Gestalt verbirgt sich offensichtlich ein individuelles Engelwesen, das zwar in großer Nähe zu Gott steht, letzlieh diesem jedoch subordiniert bleibt. Eine gesamtisraelitische Heilsperspektive ist in der Tiervision nicht mehr festzustellen. Zudem begegnet uns hier ein Ineinander von irdischem und kosmischem Geschehen, das gerade für die Frühphase der frühjüdischen Apokalyptik charakteristisch ist. Es findet seinen deutlichsten Niederschlag im Kontext der Frage nach dem Gesetz. Kosmische Ordnung und Sinaigesetzgebung stehen in einem ganz engen Zusammenhang. Diese Verbindung konkretisiert sich primär in der Frage nach dem rechten Kalender. Jede Veränderung der Festzeiten stellt einen Eingriff in die kosmische Ordnung dar, ein Vergehen, das unwillkürlich auch Auswirkungen auf den irdischen Bereich, auf die politischen und sozialen Ordnungen hat. Kosmische und ethische Vergehen bedingen sich gegenseitig. 86 So z.B.J. Lebram, Das Buch Daniel, 92. 87 Siehe K. Koch, Das Buch Daniel, 234ff.
88 ..Gerecht" in dem Sinne verstanden, daß sie im Endgericht, das sich nach den ..Taten" richtet, als ..gerecht" empfunden wurden.
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2.1.4.2 Das 8. Kapitel des biblischen Danielbuches 2.1.4.2.1 Einführung Das 8. Kapitel des Danielbuches schließt sich inhaltlich und fonnal eng an Kap. 7 an. Analog zu Kap. 7 ist ein Visionsteil, der eine Tiervision beinhaltet (8,1-14), von der anschließenden Deutung der Vision (8.15-27) zu unterscheiden. Ferner sind die allegorische Verwendung der Hörner und die Reihenfolge des medischen, persischen und griechischen Reiches deutliche Anzeichen einer engen Zusammengehörigkeit dieser beiden KapiteJB9. Zudem geben beide Kapitel vor. unter der Herrschaft des Königs Belsazar geschrieben worden zu sein. Da an der engen Zusammengehörigkeit dieser beiden Kapitel kein Zweifel bestehen kann, braucht es nicht weiter zu verwundern. daß sämtliche Versuche der Forschung, innerhalb von Kap. 7 unterschiedliche literarische Schichten herauszuarbeiten, in Kap. 8 ihre Fortsetzung finden90. Doch auch an dieser Stelle gilt der Grundsatz. daß Unebenheiten, Spannungen, ja selbst "Widersprüche" geradezu zum Wesen apokalyptischer Texte gehören. Literarkritik, wenn sie als Quellenscheidung betrieben wird, hat meines Erachtens in apokalyptischen Zusammenhängen ausschließlich als "ultima ratio" eine Berechtigung.
2.1.4.2.2 Die Vision vom Widder und Ziegenbock (Kap. 8,1-14) Im Zentrum des ersten Teiles dieser Vision (8,1-Sa) steht der Kampf zwischen einem Widder und einem Ziegenbock, der mit der Vernichtung des Widders endet. Während sich hinter dem Widder zweifellos das persische Reich verbirgt. ist der Ziegenbock eindeutig mit dem Alexanderreich zu identifizieren9 1• Das Hauptinteresse des Autors dieser Zeilen liegt jedoch auf dem zweiten Teil der Vision (8,8b-14), der sich mit Ereignissen aus dessen Gegenwart beschäftigt. Wurden bereits in Kap. 8,3-8a die Hörner des Widders. bzw. das Horn des Ziegenbocks erwähnt, ohne daß diesen Stoßinstrumenten im Geschehensablauf eine entscheidende Bedeutung zukam92, so rUckt nun die Hornsymbolik in den Mittelpunkt des Interesses. Das Alexanderreich. das in Vers 8 als ,.großes Horn" umschrieben wird, zerbricht zunächst in vier Teile, eine Symbolik. hinter der sich die Diadochenreiche verbergen. Aus einem dieser Teile geht dann nach Vers 9 ein .,kleines Horn" hervor, das zweifelsohne den Seleukiden An-
89 Siehe J. Lebram, Das Buch Daniel, 93.
90 So z.B. J. Lebram, Das Buch Daniel, 97. 91 Die Tiersymbole für diese beiden Mächte entstammen wohl astrologischen Theorien der hellenistischen Zeit. Persien stand unter dem Tierkreiszeichen des Widders, Syrien (Kernland der Seleukiden) unter dem des Steinbocks; siehe M. Hengel, 336f (bes. Anm. 494). 92 Zur Beschreibung des Kampfes zwischen Widder und Ziegenbock ist die Hornsymbolik nur von untergeordneter Bedeutung. Offensichtlich wurde sie von vomherein mit Blick auf das ,,kleine Horn" in 8,9ffkonzipiert; so auch J.-C. Lebram, Das Buch Daniel, ZUrich 1984,97.
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tiochus IV. Epiphanes symbolisiert93. Die Verse 9-12 beschäftigen sich mit den Aktivitäten des Antiochus, wobei es jedoch nicht einfach ist, alle Anspielungen eindeutig zu identifizieren. Mit ziemlicher Sicherheit ist in diesen Versen zunächst von einigen Feldzügen des Antiochus IV. Epiphanes die Rede. Neben Ägypten im Süden und den Parthern im Osten erscheint "das schönste der Länder" als ein weiteres EroberungszieL Diese Umschreibung bezieht sich wohl auf Jerusalem und das jüdische Land94 • Bevor jedoch die Aktivitäten des Antiochus IV. Epiphanes gegen Jerusalem in den Versen 11-12 näher ausgeführt werden, verläßt der Autor in V. 10 die irdischen Gefilde und verlegt die BUhne des Geschehens in den himmlischen Bereich. Antiochus IV. Epiphanes kriegerische Aktivitäten bleiben nicht auf die Erde beschränkt, sondern greifen auf den himmlischen Bereich über. Dieser Zusammenhang wird in V. 10 mit folgenden Worten umschrieben: ,,Dann wuchs es (=das kleine Horn) bis zum Heer des Himmels, warf einige von dem Heer und von den Sternen zur Erde und zertrat sie"9 S. Die Vision vom Widder und Ziegenbock in Kap. 8 bewegt sich an dieser Stelle in demselben Vorstellungshorizont, der uns bereits in Kapitel 7 begegnet ist96 . Auch an dieser Stelle ist das Ineinander von irdischem und kosmischem Geschehen von herausragender Bedeutung. Die Engelmächte und Sterne selbst stehen jedoch nicht im Mittelpunkt des Interesses, sondern alles dreht sich um deren Funktion, die in der apokalyptischen Tradition gemeinhin darin besteht, über die Zeit- und Weltordnung zu wachen97. Der Sieg des Antiochus IV. Epiphanes über die Himmelsmächte ist- analog zu Kap. 7als empfindliche Störung der Zeit- und Weltordnung zu verstehen9s. Von 8,10 führt somit eine direkte Verbindungslinie zu 7,25. Hier wie dort wird der Sieg des Antiochus IV. Epiphanes über die Himmelsmächte explizit mit einer Änderung von ,,Festzeiten" und "Gesetz" in Verbindung gebracht. Gleichfalls sei in diesem Zusammenhang aber auch an das Lobgebet Daniels in 2.2~23 erinnert, das in Vers 21a betont, daß ausschließlich Gott selbst eine Veränderung von ,,Zeit" und "Stunde" und damit ein Eingriff in die Schöpfungsordnung erlaubt ist. Die Störung der Weltordnung durch Antiochus IV. Epiphanes erscheint auf diesem Hintergrund als Versuch, sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen. 93 So auch N.W. Porteous, Das Buch Daniel, 98; gegen J. Lebram, Das Buch Daniel, 97ff, der das ,,kleine Horn" in 8,9f. wie bereits durchgängig in Kapitel 7 auf Antiochus lß. deutet. 94 So auch N.W. Porteous, Das Buch Daniel. 102; ferner J. Lebram, Das Buch Daniel, 97. 9S Übersetzung nach J. Lebram, Das Buch Daniel, 94 (Text: M:::l:3-,17 ',,::tm). 96 In diesem Zusammenhang sei wiederum auf die "Kriegsregel" (1QM) sowie auf die "IIias" und ..Odyssee" des Homer verwiesen. Im Gegensatz zu Dan 8,10 stehen sich in diesen Texten jedoch auf beiden Seiten immer aus irdischen und himmlischen Personen gemischte Heere gegenüber. Eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen irdischen Truppen auf der einen, und einem himmlischen Heer auf der anderen Seite, die noch dazu mit einem menschlichen Sieg endet, ist so im frühjüdischen Bereich außer in Dan 8.10 meines Wissens nirgends belegt. 97 Siehe z.B. äthHen 2,1; 18,15; 21,6; 80.2-8. 98 So auch J. Lebram. Das Buch Daniel, 98.
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Hiennit ist das Ende der ,,Fahnenstange" heidnischer Hybris erreicht, eine Hybris, die vor allem innerhalb des weisheitliehen Teiles des Danielbuches (Kap. 1-6) ausführlich thematisiert wird. Stellen wir uns an dieser Stelle die Frage, was sich konkret hinter der Störung der kosmischen Ordnung durch Antiochus IV. Epiphanes verbirgt, so kann auch in 8,10- wiederum analog zu 7,25- nur an kalendarische Veränderungen gedacht sein. Leider schweigt sich das Danielbuch auch an dieser Stelle über alle näheren Einzelheiten in dieser Frage aus. Eingedenk der Tatsache, daß die Kalenderproblematik für große Teile der apokalyptischen Tradition, darüber hinaus jedoch auch für die Entstehung der Qumrangemeinde von entscheidender Bedeutung war, werden wir zu einem etwas späteren Zeitpunkt einen ganzen Exkurs dieser Problematik widmen. An dieser Stelle sei lediglich nochmals darauf hingewiesen, daß jede Veränderung des Kalenders negative Auswirkungen auf den Kosmos und auf die Gesellschaftsordnung hat. Mit dem richtigen Kalender steht und fällt das Wohl der gesamten Schöpfung. Nachdem mit dem Hinweis auf den Kalenderfrevel des Antiochus IV. Epiphanes der Reigen der Untaten dieses Herrschers einmal eröffnet ist, erfährt dieser in den Versen 11 und 12a seine Fortsetzung, bis er in Vers 12b schließlich seinen Höhepunkt erreicht99. Vergegenwärtigen wir uns den Wortlaut dieser Verse: ,,Bis zum Fürsten des Heeres erhob er sich und nahm ihm das tägliche Opfer weg, preisgegeben wurde die Stätte seines Heiligtums. 12 Frevlerisch wurde ein Heer gegen das tägliche Opfer aufgestellt. Es stürzte die Wahrheit hinab zur Erde; so handelte es und es gelang ihm" 100. In diesen Versen werden die Aktivitäten des Antiochus gegen das tägliche Tamidopfer und gegen den Tempel thematisiert. Die Angriffe des Antiochus auf diese ,,Institutionen" werden als notwendige Folge der durch den Kalenderfrevel ausgelösten Destruktion der Schöpfungsordnung verstanden. Das tägliche Opfer wird abgeschafft, der Tempel entweiht. Aus 8,13 geht deutlich hervor, daß die Entweihung des Tempels darin besteht, daß im Tempel ein "Greuel der Verwüstung" (C02t 17rD!ln) aufgestellt wird. Dieser "Greuel der Verwüstung", der auch in 9,27, 11,31 und 12,11 Erwähnung findet101, ist dafür verantwortlich, daß ein korrekter Kultbetrieb nicht mehr möglich ist. Die vieldiskutierte Frage, was sich im einzelnen konkret hinter dieser Bezeichnung 99 Die Verse 11-12a sind meines Erachtens als Fortführung der Anklage in Vers 10 und nicht als deren "Umdeutung" zu verstehen. Der gesamte Abschnitt 8, 1~12 und nicht nur der Teil 8, 11-12a bezieht sich auf Ereignisse unter Antiochus IV. Epiphanes. Literarkritische Operationen, wie sie z.B. J. Lebram, Das Buch Daniel, 100, vornimmt. sind abzulehnen. 100 Übersetzung nach J. Lebram, Das Buch Daniel, 94 10 1 Die Bezeichnungen, die auf den "Greuel der Verwüstung" hinweisen, sind jedoch nicht einheitlich. In 9,27 lesen wir CDrtfO C":!t,prtf und CDrtf-':llJ, in 11,31 CDrtfO f,prtfn und in 12.11 COrtf f,prtf Das Gemeinsame, das diesen unterschiedlichen Bezeichnungen zugrunde liegt. ist die Tatsache, daß in allen Fällen das jeweils erste Won offensichtlich eine Entstellung von "11::::1. das zweite Wort eine solche von CDrtf darstellt. Hinter diesen Wendungen verbirgt sich somit der semitische Name des in der ,,Akra" verehrten Gottes, Ba"al Samem; siehe E. Nestle, ZAW 1984, 248; ferner M. Hengel, Judentum, 542.
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verbirgtt02, ist wohl am besten mit E. Bickennann zu beantworten. Dieser hat überzeugend nachgewiesen, daß sich der Terminus "Greuel der Verwüstung" auf einen Aufsatz auf den großen Brandopferaltar bezieht, der vielleicht die Bedeutung eines heiligen Steines bzw, einer Massebe besaß. Keinesfalls darf der "Greuel der Verwüstung" jedoch in der Weise mißverstanden werden, als ob ein anthropomorphes Kultbild im Tempel errichtet worden wäre 103. Mit seinem Angriff gegen Kult und Tempel zerstört Antiochus IV. Epiphanes ein weiteres Fundament der göttlichen Ordnung. Sind diese Untaten letztlich aus dem Kalenderfrevel entsprungen, so kulminieren sie in der Aussage von 12b, in der vom "Niederwerfen der Wahrheit" die Rede ist. Der Terminus "Wahrh~it" (nDK) wird hier absolut gebraucht und steht zweifellos für den geoffenbarten Willen Gottes. Da sich Gottes Wille primär im Gesetz offenbart, legt es sich nahe, die "Wahrheit" an dieser Stelle mit dem Gesetz zu identifizieren 104. Kalender-, Kult- und Tempelfrevel des Antiochus IV. Epiphanes können demnach zusammenfassend als Angriff gegen das Gesetz charakterisiert werden. Der Verfasser dieser Zeilen ist in der Lage, die frühjüdische Kult- und Tempelfrömmigkeit in sein Gesetzesverständnis zu integrieren. Von einer Trennung zwischen Gesetz und Kult, ja gar von einer Überordnung des Kultes über das Gesetz ist in diesen Versen nichts zu spüren tos. Ist die zentrale Rolle des Gesetzes an dieser Stelle auch gesichert, so bleibt doch noch die Frage bestehen, weshalb sich das Gesetz hinter der Bezeichnung "Wahrheit" (nl:)K) "versteckt"? Der Terminus "Wahrheit" wirft meines Erachtens ein bezeichnendes Licht auf das Gesetzesverständnis dieser Zeilen. Dieses zeichnet sich gerade durch seinen universalen Charakter aus. Das Gesetz, von dem hier die Rede ist, beinhaltet weit mehr als nur die Sinaigesetzgebung. Das Gesetz ist mehr als die Summe einzelner Gebote und Verbote, mehr auch als die Sammlung von Verheißungen an das Volk Israel. Das Gesetz steht in ganz engem Zusammenhang mit der kosmischen Ordnung, der "Schöpfungsordnung" Gottes, die das natürliche, wie auch das politische und soziale Leben im gesamten Kosmos erhält. Die Aktivitäten des Antiochus IV. Epiphanes richten sich gegen ein jüdisches Religionsgesetz, das so stark ausgeweitet ist, daß es im Sinne eines wahrhaft universalen Weltgesetzes zu verstehen ist. Der universalisierte Gesetzesgedanke dieser Zeilen hat seinen traditionsgeschichtlichen Grund aller Wahrscheinlichkeit nach in frühjüdischen Weisheitsspekulationen, in denen "Gesetz" und "personifizierte Weisheit" aufs engste miteinander verbunden 10 2 Zur Debatte Uber die Frage, was sich konkret hinter der Bezeichnung "Greuel der Verwüstung" verbirgt, möchte ich auf einige ausgewählte Werke der Sekundärliteratur verweisen; siehe E. Bickermann, Der Gott der Makkabäer, SOff; M. Hengel, Judentum, S32ff; K. Bringmann, Hellenistische Reform, 97ff. 103 E. Bickermann, Der Gott der Makkabäer, 102. I04 So z.B. W. Porteous, Das Buch Daniel, 103; ferner H. Wildberger, Art. TDM, in: THAT
I, 208. lOS Gegen K. Koch, Das Buch Daniel, 130.
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werdenl06. Diese These wird zu einem späteren Zeitpunkt noch breiter entfaltet werden. Nach dieser ausfUhrliehen Schilderung der Untaten des Antiochus IV. Epiphanes geht die Vision in eine Weissagung Uber, in deren Zentrum die wohl fUr viele fromme Juden bedrängende Frage steht, wie lange die Entweihung des Tempels und die Aufhebung des täglichen Opfers noch andauern wird (8,13). Kultordnung und Tempeldienst stehen stellvertretend fUr die gesamte göttliche Weltordnunglo7. Die handelnden Personen dieses Weissagungsteils sind ausschließlich Engel. Nach Darstellung des Textes wird Daniel Zeuge eines himmlischen Gesprächs, wobei ein Engel nach dem Ende der Notzeit fragt (8,13), worauf ein anderer Engel die genaue Dauer der TrUbsal mit 1150 Tagen angibt (8,14a)IDB. Das Ende der Notzeit wird nach 8,14b durch die erneute Weihung des Tempels markiert. Im Gegensatz zu den Visionen in Kap. 2 und Kap. 7 ist hier nicht von Gottes endzeitlichem Gerichtshandeln oder vom Kommen des Gottesreiches und dessen Adressaten die Rede. FUr die Vision in Kap. 8 ist die erneute Weihung des Tempels das alles entscheidende Ereignis der Heilszeit Obwohl die zukUnftige Heilszeit auf solch ausschließliche Weise mit der Frage nach dem Tempel und der Möglichkeit eines korrekten Kultbetriebs verbunden wird, braucht dies nicht automatisch zu bedeuten, daß die Trägerkreise, die hinter dieser Tradition stehen, in priesterlichem Milieu zu suchen sind 109 • Wie wir an anderer Stelle noch deutlich sehen werden, spricht vieles dafUr, von Schriftgelehrten als den Trägem der apokalyptischen Danieltradition auszugehenll 0 . Lehrer und Gelehrte bildeten im 2.Jh. v.Chr. wohl bereits einen eigenen Stand, der organisatorisch nicht mehr mit dem Tempel ver-
I06 Vgl. J. Lebram, Das Buch Daniel, 98; ferner ders., Art. DanieVDanielbuch, TRE Vßl, 341. I07 Die Tatsache, daß an dieser Stelle lediglich Kult und Tempel und nicht das univerale Weltgesetz thematisiert werden, darf nicht in dem Sinne mißverstanden werden, als ob ein späterer Redaktor den Angriff des Königs auf die himmlischen Ordnungen zur Entweihung des Tempels umgedeutet hätte. Wurde doch bereits in den Versen 1~12 die Zusammengehörigkeit von Kalender, Kult und Tempel unter der Herrschaft eines universalisierten Gesetzesverständnisses nachgewiesen. 108 Harmonisierungsversuche zwischen der Zeitangabe in 8,14 (ll50 Tage) und 7,25 (dreieinhalb-Zeiten), die einen längeren Zeitraum umfaßt, sind abzulehnen. Wir haben es hier offensichtlich mit unterschiedlichen Traditionen zu tun. 109 Gegen J. Lebram, VT 1970, 523f. IIO Siehe R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. II, 636f: WeM Albertz die Danielapokalypse im Kreise von Schriftgelehrten abgefaßt sein läßt, trifft er sicherlich das Richtige. Wenn er diese Schriftgelehrten als ,,Angehörige einer intellektuellen Führungsschicht, ... die in schroffer Opposition zum hellenisierenden Teil der Oberschicht standen und sich mit der verarmten konservativen Stadt- und Landbevölkerung solidarisierten", beschreibt. so schießt er jedoch weit über das Ziel hinaus. Diese Charakterisierung, die in dieser Form keinen Anhalt an den Quellen hat, ist wohl Ausdruck eines bloßen Wunschdenkens, geboren aus den Erfahrungen des Autors während der Studentenunruhen gegen Ende der 60er Jahre.
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bunden war''', was jedoch der Hochschätzung für den Tempelkult noch keinen Abbruch tat112.
2.1.4.2.3 Die Deutung der Vision vom Widder und Ziegenbock (Kap. 8,15-27) Die Deutung der Vision vom Widder und Ziegenbock in 8,15-27 bewegt sich im großen und ganzen in denselben Bahnen wie die Vision selbst. Die entscheidende Neuerung gegenüber der Vision selbst besteht darin, daß die geschichtlichen Ereignisse um Antiochus IV. Epiphanes nun als ,,Endgeschehen" deklariert werden, das die letzte Periode der Menschheitsgeschichte markiert. In Vers 23a wirc! der Beginn dieser Epoche als Zeit charakteris!ert, in der ,.die Frevler Uberhandnehmen"(C.,17rD!::Ii1 Cnil::::l). Nehmen wir das substantivierte Partizip C.,17rD!:li1, das wir mit ,,Frevler" übersetzt haben, wörtlich, so verbergen sich hinter dieser Bezeichnung Menschen, die sich gegen etwas auflehnen, wobei hierbei meistens an ein Auflehnen gegen Gott gedacht ist tt3. Dieses "Auflehnen gegen Gott" ist an dieser Stelle sicherlich als Ungehorsam gegenüber Gottes Willen , wie er in seinem Gesetz zum Ausdruck kommt, zu verstehen. Da diese ,,Frevler" die Schreckenszeit unter Antiochus IV. Epiphanes quasi einleiten, liegt es nahe, sie mit den hellenisierenden Juden zu identifizieren, von denen uns die ersten beiden Makkabäerbücher berichten. Bereiteten doch diese mit ihrer hellenisierenden, tarafeindlichen Reformpolitik den Boden, auf dem die "Untaten" des Antiochus IV. Epiphanes erst richtig gedeihen konnten114. Mit Vers 23b betritt Antiochus IV. Epiphanes selbst die BUhne des Geschehens. Sein Charakter wird als "frech" und "verschlagen" umschrieben (n,,.,n l":ll:l1 C.,J!:)- T17 1':lC). Die Bezeichnung "frech" ist wohl im Sinne von "maßlos" zu verstehen und bringt ein Wissen um dessen "Hybris" zum Ausdruck, die in seinem Aufbegehren gegen die göttliche Weltordnung (vgl. 8,10) besteht. Das ..Aufbegehren" des Antiochus IV. Epiphanes gegen die göttliche Weltordnung steht demnach mit der "Auflehnung" der ,,Frevler" gegen Gott in Vers 23a in einem engen Zusammenhang. Diese Hybris des Antiochus IV. Epiphanes gepaart mit großer ,.Klugheit" (':l::::lrD) (V. 25a) weist den König als eschatologischen Gottesfeind par excellence aus. Die Aktivitäten des Antiochus IV. Epiphanes im Kontext der in Jerusalem stattfindenden Hellenisierungsbestrebungen werden in den Versen 24lr25a auf recht allgemeine Weise beschrieben, ohne daß Kalender, Kult, Tempel oder Gesetz explizit Erwähnung fanden. Es wird lediglich von Erfolgen des Königs gegen das ,,heilige Volk" (C.,rt1,p- C17) (V .24b) und den ,,Fürsten aller Fürsten" (C.,itD- itD) (25a) berichtet, wobei sämtliche Erfolge auf die Meisterschaft des Antiochus in der ,,LUge" (25a) zurückgeführt werden. Das ,.heilige Volk" muß als Opposition zu
Siehe M. Hengel, Judentum, 146-148. Die Apokalyptiker, in: Eschatologie und Friedenshandeln, 87. in Köhler/Baumgartner, 785. 114 Siehe E. Bickermann, Der Gott der Makkabäer.
III
112 Siehe P. Lampe, 113 Siehe Art. l1rD!)
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den ,,Frevlern" in V. 23a gesehen werden und kann demnach nicht Israel in seiner Gesamtheit, sondern lediglich eine Gruppe von ,,Frommen" bezeichnen. Zeichnen sich die ,,Frevler" nach V. 23a durch ihren Ungehorsam gegen den Willen Gones aus, so liegt es nahe, hinter dem ,,heiligen Volk" eine Gruppe zu vermuten, die Gottes Gebote erfüllt. Der ,,Fürst aller Fürsten" steht für Gott selbst, so daß sich die Taten des Antiochus IV. Epiphanes von der Unterdrtlkkung der ,,Frommen" bis zur "Absetzung Gottes" erstrecken. Hinter der ,,Absetzung Gottes" verbergen sich wohl die Maßnahmen des Königs gegen die Kultgesetzlichkeit, die in der Entweihung des Tempels gipfeln. Vers 25b weiß jedoch von einem tröstlichen Ende dieser Epoche zu berichten. Nachdem der Gipfelpunkt an Gottlosigkeit erreicht ist, wird sich das Blatt wenden und Antiochus IV. Epiphanes wird "ohne Zutun von Menschenhand" (i:lrD"~ ,., CDM:l1) vernichtet werden. Einzig Gon selbst, völlig unabhängig von menschlichen Aktivitäten, wird der Herrschaft des endzeitliehen Tyrannen ein schreckliches Ende bereiten. Die Frage nach der Dauer der Zeit bis zum Untergang des Tyrannen wird in der Deutung nicht mehr ausdrücklich gestellt, sondern V. 26 verweist automatisch zurück auf V. 14 und bildet somit eine Brücke, die Visionsteil und anschließende Deutung fest zusammenbindet. Das zukünftige Gottesreich wird in der Deutung analog zum Visionsteil nicht thematisiert. Alles ist auf die bedrängende Frage nach dem Ende der gegenwärtigen Weltzeit konzentriert. Im Zentrum sowohl des Visionsteils als auch der anschließenden Deutung stehen die Ereignisse in Israel zur Zeit des Antiochus IV. Epiphanes. Während die Vision sich damit begnügt, die Gegenwart dadurch erträglicher zu machen, daß sie die Hoffnung auf ein baldiges Ende dieser Schreckenszeit stärkt, stellt die anschließende Deutung dieses Geschehen in den größeren Zusammenhang der apokalyptischen Geschichtsschau. Die Gegenwart mutiert zur "letzten bösen Zeit", die dem Beginn der eschatologischen Heilszeit unmittelbar vorangeht. Die in der Vision geschaffene Zuversicht auf ein baldiges Ende der gegenwärtigen Schreckenszeit wird in der Deutung zum Beginn der endgültigen Heilszeit erhöht. Gott selbst wird der durch die Aktivitäten des Antiochus IV. Epiphanes symbolisierten "letzten bösen Zeit" ein definitives Ende bereiten. Konnte sich der Visionsteil noch mit der Hoffnung auf die Wiederherstellung eines korrekten Kultbetriebes als Zeichen der Heilszeit und damit auch als Trost für die Gegenwart begnügen, so vermochte die radikalisierte Zukunftshoffnung der Deutung diesen Ereignissen kaum noch eine größere Bedeutung zuzumessen. Alles ist auf den apokalyptischen Endkampf zwischen dem eschatologischen Gottesfeind Antiochus IV. Epiphanes und Gott selbst konzentriert. 2.1.4.2.4 Zusammenfassung Die Vision vom Widder und Ziegenbock in Dan 8 ist über weite Strecken von einem Ineinander kosmischer und irdischer Ereignisse geprägt. Im Zentrum
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dieser "Verquickung" steht wiederum die Kalenderfrage. Der "Kalenderfrevel" des Antiochus IV. Epiphanes in Verbindung mit seinem Angriff gegen Kult und Tempel stellt eine empfindliche Störung der "Schöpfungsordnung" dar. Zusammenfassend werden Kalender-, Kult- und Tempelfrevel des Antiochus IV. Epiphanes als "Vernichtung" des Gesetzes charakterisiert. Das Gesetz, von dem hier die Rede ist (MM), umfaßt jedoch weit mehr als nur die Sinaigesetzgebung. Das jüdische Religionsgesetz wird in diesem Kontext als das den ganzen Kosmos umfassende, wahrhaft universale Weltgesetz verstanden. Die entscheidende Neuerung, die der Deutungsteil gegenüber der Vision selb~t zum Ausdruck bringt. besteht darin, daß die geschichtlichen Ereignisse, die sich um den Seleukiden Antiochus IV. Epiphanes ranken, nun ausdrucklieh als •.Endgeschehen" deklariert werden. Im Zentrum dieser "letzten bösen Zeit" steht eine Polarisierung zwischen ,,Frommen" und ,,Frevlern", wobei offensichtlich der Frage nach der korrekten Gesetzeserfüllung eine entscheidende Bedeutung zu kommt.
2.1.4.3 Das 9. Kapitel des biblischen Danielbuches 2.1.4.3.1 Einführung Das 9. Kapitel des biblischen Danielbuches wurde im Verlauf seiner Erforschung noch in weit stärkerem Maße als wir es von den bisherigen Kapiteln bereits gewohnt sind das Opfer literarkritischer Spekulationen. Vor allem das Gebet Daniels in den Versen 9,3-19 wird immer wieder als sekundärer Zusatz gehandelt11S. Diese Meinung wird selbst von solchen Forschern vertreten, die sich ansonsten gerade für die Einheitlichkeit des biblischen Danielbuches stark machen116. Neben literark:ritischen Argumentenll7 sind es vor allem theologis~he Gtiinde, die gegen die ursprUngliehe Zugehörigkeit dieses Abschnittes zum Danielbuch ins Feld geführt werden. So wird in erster Linie die Tatsache, daß sich das Gebet Daniels in Sprache und Inhalt ganz in deuteronomistischen Bahnen bewegtiiB, als untrügliches Zeichen fUr die Hand eines späteren Redaktors gewertet 119 • Scheint es doch nur allzu offensichtlich zu sein, daß sich das deuteronomistische Geschichts- und Gesetzesverständnis der Verse 9, 3-19 in hohem Maße von der "apokalyptischen Theologie" der übrigen Kapitel des Danielbuches unterscheidet. Es sei jedoch auch an dieser Stelle nochmals ausdrtlcklich darauf hingewiesen, daß unterschiedliche theologische Konzeptionen, zumal wenn sie in apokalyptischen Texten auftreten, nicht von vomherein als Hinweis auf literarische Uneinheitlichkeit verstanden werden müssen. MeiIIS Siehe R.H. Charles, The Book of Daniel, 226; A. Bentzen, Daniel, 75. 116 So z.B. J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 185ff. 117 Siehe hierzu J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 20;
zur Kritik an diesen Argumenten sei aufN.W. Poneous, Das Buch Daniel, 111. verwiesen. 118 Siehe O.H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, 110ff. 119 Siehe J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 185f.
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nes Erachtens kann eine These, die davon ausgeht, daß das Gebet Daniels in Kap. 9 und die damit verbundenen theologischen Spannungen vom Autor des Danielbuches bewußt in den Text eingebaut wurden, um das unter dem Eindruck der gegenwärtigen Krise kraftlos gewordene deuteronomisch- deuteronomistische Geschichts- und Gesetzesverständnis zu korrigieren, bzw. apokalyptisch zu transformieren, bedeutend mehr Wahrscheinlichkeit fUr sich verbuchen. Im Verlauf des nachfolgenden Interpretationsversuchs soll diese These nun erhärtet werden.
2.1.4.3.2 Das Gebet Daniels in Kap. 9, 3-19 Das 9. Kapitel des Danielbuches setzt mit einer Verheißung des Propheten Jeremia ein, nach der Jerusalem, nachdem es von Nebukadnezar erobert worden ist, siebzig Jahre lang verwüstet bleiben soll (9,2)120. Dieses Schriftwort wird durch den Seher Daniel einer geistesmächtigen Schriftauslegung unterzogen 121 . Da die Eingangsnotiz das ganze Kap. 9 in das erste Jahr nach Untergang des babylonischen Reiches datiert122, nimmt es nicht wunder, daß der Seher Daniel dieses Jeremiawort genau auf diese Zeit, sprich den Niedergang dieses Weltreiches bezieht. Mit der drängenden Frage Daniels nach dem Zeitpunkt der Restitution Jerusalems tritt bereits zu Beginn von Kap. 9 das Volk Israel in das Zentrum des Geschehens. Dominierte in den bisher behandelten Kapiteln des Danielbuches eine universalgeschichtliche Perspektive, so lenkt Kap. 9 den Blick auf die Größe "Israel" und damit auf das Thema der Heilsgeschichte zurUck123. Das Gebet Daniels in 9,3-19 bewegt sich völlig in heilsgeschichtlichen Bahnen. Dies zeigt sich bereits in der Wortwahl dieses Textes, der heilsgeschichtlich relevante Termini wie ,,Bund" (M"'i:l)(9,4), "Tora" (i'Ti,n) (9,10t) oder den "Gottesnamen" (ini'T"') ) (9,2.4) verwendet. Gerade der Tora kommt in diesem Kontext eine zentrale Stellung zu. Daneben wird nur hier innerhalb des Danielbuches explizit auf die Gestalt des Mose und die Exodustradition (9,15) verwiesen. Das Gebet selbst besteht in seinem ersten Teil aus einem BuBbekenntnis (9,4-14), das im zweiten Teil in eine Bitte (9,15-19) übergeht. Den Beginn des BuBbekenntnisses in V. 4 markiert ein Bekenntnis Daniels zur unbedingten Zusammengehörigkeit von Gottes Bundestreue auf der einen und dem Gebotsgehorsam der Menschen auf der anderen Seite. In den Versen 9,4-5 120 Siehe
Jer 25,1 1.12; 29,10.
121 Die grundsätzliche Bindung geistesmächtiger Auslegungen an die Schrift spielt nicht nur in der Apokalyptik sondern auch in der Qumrangemeinde eine große Rolle (vgl. z.B. IQpHab). 122 Die historische Ungenauigkeit des Autors dieser Zeilen, der als .,Gefangener" seines universalhistorischen Vier-Reiche-Schemas nicht den Perser Kyros, sondern einen ansonsten schwer zu identifizierenden Mederkönig Darius für den Untergang des neubabylonischen Reiches verantwortlich macht, braucht uns hier nicht weiter zu tangieren. 123 Es sei in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, daß mit dem Hinweis auf das ,,herrliche Land" in 8,9 bereits im Kontext der Vision vom Widder und Ziegenbock der Blick auch auf das Volk Israel gewendet wird.
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heißt es: ,.Ach, Herr, der große und furchtbare Gott, der den Bund und die Treue denen bewahrt, die ihn lieben und seine Gebote halten! 5 Wir haben gesündigt, haben uns schuldig gemacht und gefrevelt; wir sind widerspenstig gewesen, sind von deinen Geboten und von deinen Gesetzen abgewichen" 124 . Da Gott die Erfüllung seiner Verheißung an die Forderung nach unbedingtem Gebotsgehorsam gebunden hat, ist die Weigerung Israels, Gottes Geboten gerecht zu werden, für das Ausbleiben der Verheißung verantwortlich. Die Verwüstung Jerusalems durch Nebukadnezar ist als Strafe für den Ungehorsam Israels gegenüber den Geboten der Tora zu verstehen. Dieser typisch deuteronomischdeuteronomistisch gefärbte Tun-Ergehen-Zusammenhang wird im Laufe des Sündenbekenntnisses in 9,4-14 breit entfaltet. Die Geschichte Israels wird summarisch als ,.Abfallsgeschichte" charakterisiert. Immer wieder wird betont, daß Israel in seiner Gesamtheit den Gesetzesgehorsam verweigert hat. Folglich trägt das Volk Israel für alles Leid der Gegenwart selbst die Verantwortung. Alles wird der Gesetzestradition untergeordnet. Selbst die Propheten werden auf ihre Rolle als Gesetzeslehrer beschränkt (9,10)125. Der Ungerechtigkeit Israels, die im Ungehorsam gegenüber den Geboten der Mosetora wurzelt, tritt die Gerechtigkeit Gottes, die sich in dessen Strafhandeln zeigt, kontrastierend gegenüber. Der radikale Bruch zwischen Gott und seinem Volk, der sich im Ausbleiben der Verheißung manifestiert, kann nach Auffassung des Autors dieser Zeilen einzig von Gott her geheilt werden. Daniels Appell an die Barmherzigkeit Gottes, an dessen unverdientes Gnadenhandeln, scheint der einzig gangbare Weg zu sein, doch noch zum verheißenen Heil zu gelangen. Diesen Zusammenhang bringt 9,18 mit folgenden Worten zum Ausdruck: ,,Neige dein Ohr, Gott, und höre! Öffne doch deine Augen und sieh unsere Verwüstungen und die Stadt, llber die dein Name genannt ist. Denn nicht wegen unserer Gerechtigkeit legen wir unsere flehentlichen Bitten vor deinem Angesicht nieder, sondern nur wegen deiner großen Barmherzigkeit"126. Israel selbst kann außer dem Bekenntnis seiner Schuld, das Daniel ja stellvertretend für das ganze Volk leistet, aus eigener Kraft nichts zu seiner Rettung beitragen. Gottes Heilserweise in der Vergangenheit sind nicht mehr in der Lage, zukunftsstiftend zu wirken. Die Gegenwart ist eine gänzlich heillose Zeit, innergeschichtliche göttliche Initiativen sind nicht mehr zu erwarten. Dem Verfasser dieser Zeilen kann die deuteronomisch-deuteronomistische Geschiehtsauffassung zwar noch dazu dienen, die leidvollen Erfahrungen Israels in der Gegenwart verständlich zu machen, den Optimismus der Deuteronomistik, die immer wieder auf eine Umkehr Gesamtisraels zur Tora und somit auf eine innergeschichtliche Wende zum Heil vertraut, vermag er nicht mehr zu teilen. 124 Übersetzung nach J. Lebram, Das Buch Daniel, 103. 12S In Dan 9,10 heißt es: ,,Nicht haben wir auf die Stimme Jahwes, unseres Gottes, gehört;
wir haben nämlich nicht nach seinen Gesetzen gelebt, die er durch seine Diener, die Propheten, vor uns aufgerichtet hat" (Übersetzung nach J. Lebram, Das Buch Daniel, 103). 126 Übersetzung nach J. Lebram, Das Buch Daniel, 104.
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2.1.4.3.3 Die Antwort des Engels auf das Gebet Daniels in Kap. 9,20-27 Die himmlische Botschaft, die der Erzengel Gabriel als Antwort auf Daniels Gebet überbringt, enthält einen negativen Bescheid. Daniels Versuch, die Verheißung des Propheten Jeremia auf seine eigene Zeit zu beziehen, wird als Irrtum entlarvt. Dem Engel Gabriel kommt nach 9,22b die Aufgabe zu, Daniel zur ,,rechten Erkenntnis" zu verhelfen. Die Verheißung einer Restitution Jerusalems und des Tempels bezieht sich nicht auf das Ende der neubabylonischen Vorherrschaft, sondern liegt noch in weiter Feme. In 9,24 werden die 70 Jahre der Verheißung des Jeremia auf 70 Jahrwochen (490 Jahre) gedeutet, die vergehen mUssen, bis die endgültige Heilszeit erscheint. Dieser Zusammenhang wird in 9,24a mit folgenden Worten zum Ausdruck gebracht: "Siebzig Jahrwochen fehlen deinem Volk und deiner heiligen Stadt, bis der Frevel verschlossen und SUnden versiegelt und Schuld gesühnt wird, bis ewige Gerechtigkeit gebracht, Vision und Prophet besiegelt und Allerheiligstes gesalbt wird"127 • Liegt dem Gebet des Sehers Daniel das Wissen um den Wiederaufbau Jerusalems und des Tempels in persischer Zeit zugrunde, so wird diese "irdische Heilserwartung" in der Antwort des Erzengels eschatologisch transformiert. Innergeschichtliche Heilsbegründungen sind selbst dann nicht mehr möglich, wenn sie sich an so bedeutende geschichtliche Ereignisse wie das Exodusgeschehen, den Wiederaufbau des Tempels oder die RUckkehr aus dem Exil heften. Das engUltige Heil wird ausschließlich von der Zukunft her erwartet. Die gesamte Geschichte Israels bis in die Gegenwart des Verfassers dieser Zeilen wird auch an dieser Stelle - analog zum Gebet Daniels - als Zeit des Frevels und der SUnde charakterisiert. Während im Gebet Daniels die Tora im Mittelpunkt des Interesses stand, tritt nun der Jerusalemer Tempel ins Zentrum des Geschehens. Der bestehende Tempel in Jerusalem gilt als unrein und bar jeglicher SUhnewirkung12s. Der wahre Tempel ist eine eschatologische Größe, die erst am Ende der Tage erscheinen wird. Dasselbe gilt auch für die "ewige Gerechtigkeit" (C"~FJ':>l7 p,~). Diese "Gerechtigkeit" ist keine innerweltliche Größe, sondern eine Gabe der Heilszeit Das traditionelle deuteronomisch-deuteronomistische Geschichts- und Gesetzesverständnis erfährt eine radikale Eschatologisierung. Eine Umkehr Gesamtisraels ist für die gegenwärtige Weltzeit nicht mehr zu erwarten. Betrachten wir noch kurz die Beschreibung der Ereignisse aus der Geschichte Israels, die das Ende dieser 490 jährigen Geschichtsperiode markieren (V .25-27), so läßt sich unschwer erkennen, daß dieser Zeitraum auf die Geschehnisse unter Antiochus IV. Epiphanes zuläuft. Das Volk Israel tritt nach seiner RUckkehr aus dem Exil in eine Periode "trügerischer Ruhe" ein, die durch die Erneuerung Jerusalems unter Serubbabel und Nehemia gekennzeichnet ist (9,25). Bereits ab 9,26 wird jedoch das Ende dieser ,,Ruhephase" thema127
Übersetzung nach J. Lebram, Das Buch Daniel, 105.
128 Die gleiche Vorstellung findet sich offensichtlich auch in der ..Tiervision" (89,23t) und der ,,Zehn-Wochen-Apokalypse" (93,9t); vgl. ferner AssMos 4,8f.
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tisiert. Die Rede vom •.Ausrotten eines Gesalbten" in 9,26a bezieht sich offensichtlich auf einen gewaltsamen Wechsel im Hohenpriesteramt 129, der als Beginn der Endzeit interpretiert wirdl3°. Nach 9,26b ist im Rahmen des Endgeschehens sowohl von der Vernichtung Jerusalems durch einen heranziehenden König als auch von der anschließenden Vernichtung dieses Königs durch ein •.Flutgericht" die Rede. Diese allgemeine Erwartung wird dann in 9,27 mit Blick auf die Ereignisse in Jerusalem unter Antiochus IV. Epiphanes präzisiertl31. Mit dessen Aktivitäten gegen Gesetz, Kult und Tempel ist fUr den Verfasser dieser Zeilen die Endzeit angebrochen. Das Verderben, das Gott über diesen brir.gen wird, ist bereits be~hlossen, der Beginn der Heilszeit steht unmittelbar bevor. Das Strafgericht Gottes über diese Welt wird offensichtlich als Vernichtungsgericht in Analogie zur Sintflut verstanden. 2.1.4.3.4 Zusammenfassung
Die Intention des Gebets in Dan 9,3-19 besteht primär darin, das in der Gegenwart kraftlos gewordene deuteronomisch-deuteronomistische Geschiehtsund Gesetzesverständnis zu korrigieren, bzw. apokalyptisch zu transformieren. Das Heil erscheint im Gegensatz zur .,traditionellen" Deuteronomistik als rein zukünftige Größe und entspringt einzig der Initiative Gottes. Gottes Gerichtshandeln bezeichnet das Ende der Geschichte. Im Gegensatz zum traditionellen Tun-Ergehen-Zusammenhang, wie er uns auch in der Deuteronomistik begegnet, wird jetzt am Ende der Zeit alles auf einmal abgerechnet 132 • FUr Israel in seiner Gesamtheit ist der Weg zur Umkehr versperrt. Es bleibt lediglich die Hoffnung auf Gottes Gnade. Der Autor von Dan 9,3-19 ist noch nicht in der Lage. die Tora positiv in seine Konzeption einer apokalyptischen Transformalion des deuteronomisch-deuteronomistischen Geschichts- und Gesetusverständnisses einzubeziehen. Die konsequente Theozentrik der eschatologischen Hoffnung und vor allem das Festhalten an einer gesamtisraelitischen Heilsperspektive sperren sich gegen Bemühungen in diese Richtung. Erst in der Spätphase der frühjüdischen Apokalyptik, im 4. Esrabuch und der syrischen Baruchapokalypse wird es zu einer produktiven Verbindung von konsequenter Theozentrik und Gesetzesgehorsam kommen, die jedoch offensichtlich nur um den Preis eines völligen Verzichts auf eine gesamtisraelitische Heilsperspektive gelingen konnte.
129 Hier ist wohl an die Vorgänge um die Verdrängung des amtierenden Hohepriesters Onias ßl. gedacht. von denen in 2Maklt 4,5 die Rede ist. 130 Zum Ganzen siehe J. Lebram, Das Buch Daniel, 109. 13l Vers 9,27a bereitet meines Erachtens einige Verstehensschwierigkeiten. Am besten übersetzt man diesen Teil wohl mit M. Hengel folgendermaßen: ,,Er macht stark einen Bund für die Vielen, eine (Jahr-)Woche lang." Mit dem Terminus ,,Bund" wird an dieser Stelle auf die enge Interessengemeinschaft zwischen Antiochus IV. auf der einen und den extremen Hellenisten auf der anderen Seite verwiesen; siehe M. Hengel, Judentum, 526. 132 Siehe K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums, 1. Aufl., 36.
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In der Antwort des Engels in Dan 9.2~27 treten Kult und Tempel ins Zentrum des Geschehens. Auch diese werden ihrem Anspruch, heilsstiftend zu wirken, nicht mehr gerecht. Der "wahre Tempel .., wie auch die "ewige Gerechtigkeit .. sind als Gaben der Endzeit rein zukünftige Größen.
2.1.4.4 Die große Schlußvision (Kap. 10,1-12,13) 2.1 .4.4.1 Einführung Die Kapitel 10,1-12,13 bilden eine zusammengehörige Überlieferungseinheit Sie beinhalten eine einzige große Offenbarung, die die bisherige Verkündigung des Danielbuches aufgreift und zum Abschluß bringt. In dieser Schlußvision laufen die Fäden, die das Danielbuch durchziehen, zusammen. Kosmische, universalgeschichtliche und heilsgeschichtliche Perspektiven werden zu einer Einheit zusammengeführt. Sämtliche Kapitel sind durch das In- und Miteinander kosmischer und irdischer Ereignisse geprägt. Während sich die Rahmen.kapitel 10 und 12 etwas stärker in kosmischen Bahnen bewegen, enthält das 11. Kapitel einen Abriß der Weltgeschichte, in dessen Zentrum eine Darstellung der nachexilischen Geschichte Israels bis in die Zeit des Seleukiden Antiochus IV. Epiphanes steht. Da der größte Teil des Geschichtsüberblicks sich mit den Ereignissen unter Antiochus IV. Epiphanes, und damit mit der unmittelbaren Zeitgeschichte beschäftigt, entsteht bereits durch den Aufbau der Schlußvision der Eindruck, als ob gerade die Epoche der israelitischen Geschichte, in der das Danielbuch seine abschließende Gestalt erfahren hat, den Mittelpunkt allen irdischen und kosmischen Geschehens bildet133.
2.1.4.4.2 Das 10. Kapitel des biblischen Danielbuches Das 10. Kapitel des Danielbuches stellt die irdische Geschichte in einen kosmischen Rahmen, der die Ereignisse auf Erden räumlich und zeitlich umfaßt134. Vergegenwärtigen wir uns den Inhalt dieses Kapitels, so erscheint dem Seher Daniel, nachdem er sich durch asketische Riten auf den Offenbarungsempfang vorbereitet hat (10,20 135 • eine himmlische Gestalt, die den Auftrag hat, Daniel die Geschichte Israels bis zum Ende der Tage zu offenbaren (10,14). Die nähere Beschreibung der Ereignisse um diesen Offenbarungsempfang, die Gewalt der Engelserscheinung 136, gepaart mit der Notiz über die Flucht der Begleiter Daniels (10,7) und dessen Zusammenbruch (10,8), dient dazu, den Seher als zuverlässigen Zeugen der himmlischen Offenbarung zu legitimieren. Diese Offenbarung ist die letztgültige Offenbarung und handelt von der Endzeit. Bevor der Engel auf die Geschichte Israels im einzelnen zu sprechen kommt, berichtet 133 Siehe hierzu J. Lebram, Das Buch Daniel. 111. 134 So J. Lebram. Das Buch Daniel, 122. 135
Vgl. hierzu Dan 1. 8ff; IV Esr9,24ff.
136 Die Analogie zur Erscheinung Gottes in Ez 1 ist unübersehbar.
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er Daniel von seinem Kampf gegen den Völkerengel Persiens, der jedoch noch nicht endgültig beendet ist (10,13) und weist auf seine zukünftige Auseinandersetzung mit dem Völkerengel Griechenlands hin (10,20). Bei diesen Kämpfen steht dem Offenbarungsengel immer Michael, der Völkerengel Israels zur Seite (10,13.20f). Die weltgeschichtlichen Auseinandersetzungen der Völker haben somit im Kampf der Völkerengel ihr kosmisches Pendant. Die himmlische Gestalt, die Daniel die überirdische Offenbarung zukommen läßt, bestimmt somit das gesamte Weltgeschehen. In 10,21a wird bereits zu Kapitel 11 und damit zu den Ereignissen der Weltgeschichte, die bis zum Ende der Geschichte noch ausstehen, übergeleitet. Diese Geschichte ist bereits jetzt ,,im Buch der Wahrheit" (MM :m;:,:::l), das sich im Himmel befindet, aufgeschrieben und dem Offenbarungsengel bekannt. 2.1.4.4.3 Das 11. Kapitel des biblischen Danielbuches
Gewährte Kapitel 10 Einblick in das In- und Miteinander kosmischer und weltgeschichtlicher Ereignisse, so wendet sich Kap. 11 den geschichtlichen Ereignissen der Endzeit im einzelnen zu. Kapitel 11 beschäftigt sich hierbei primär mit dem gleichen Zeitraum wie die 70 Jahrwochenprophezeiung in 9,25-27. Während Kap. 9,25-27 jedoch ausschließlich die Geschichte Israels (Jerusalems) thematisiert, stellt Kap. 11 die Geschichte Israels in einen universalgeschichtlichen Zusammenhang. Dieser uni versalgeschichtliche Rahmen wird zu Beginn von Kap. 11 durch die Erwähnung Persiens (11,2), Alexanders des Großen (11,3) und der Diadochenreiche (11,4) geschaffen. Die universalgeschichtliche Perspektive dominiert ferner in den Versen 11,5-20, die von den wechselhaften Auseinandersetzungen zwischen den Ptolemäern und Seleukiden im 3. und 2. Jh. v.Chr. handeln. Erst mit dem Auftreten des Antiochus IV. Epiphanes wird der Blickwinkel von den weltgeschichtlichen Zusammenhängen auf die Geschichte des Volkes Israel hin verschoben. Die Epoche des Antiochus IV. Epiphanes wird in 11,21-45 so ausführlich wie in keinem anderen Teil des Danielbuches behandelt. Nach 11,22-24 richten sich bereits die ersten kriegerischen Aktivitäten des Antiochus gegen Israel. Der ,,Fürst des Bundes" (M"i:::l ,.,lJ) ist das erste Opfer der Aggressionspolitik des Antiochus IV. Epiphanes. Die Bezeichnung ,,Fürst des Bundes" kann sich nur auf den Hohenpriester in Jerusalem beziehen. Es ist zu beachten, daß das Wort ,,Bund" an dieser Stelle ganz eng mit dem Tempelkult verbunden ist. Leider sind die Ereignisse, auf die die Verse 11,22-24 anspielen, nicht mehr eindeutig zu verifizieren, so daß wir auf bloße Vermutungen angewiesen sind. Wenn V. 23 analog zu 8,25 die Listigkeil des Antiochus unterstreicht und davon redet, daß dieser auch mit wenigen Leuten ("kleines Volk") in der Lage ist, große Macht zu gewinnen, könnte man hier eine Anspielung auf die Vorgänge in Jerusalem vermuten, die zur Absetzung des rechtmäßigen Hohenpriesters Onias m. durch
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dessen Bruder Jason fUhrtenl37. Hinter dem "kleinen Volk", das Antiochus unterstützt, wären dann diejenigen Israeliten zu vermuten, die eine entschiedene Hellenisierungspolitik betrieben haben. Die Verse 11,25-30a lassen sich hingegen recht eindeutig identifizierenl3s. Diese Verse beschreiben Ereignisse, die mit den beiden Feldzügen des Antiochus IV. Epiphanes gegen Ägypten in den Jahren 169 und 168 v.Chr. verbunden sind. Auf der RUckkehr von seinem ersten Feldzug nach Ägypten kommt es in Jerusalem zur Plünderung des Tempels (V. 28). Auch hier wird die Bezeichnung ,,Bund" ganz eng vom Tempelkult her bestimmt. Der Tempelkult wird offensichtlich als das Bundeszeichen Israels par excellence verstanden. Nachdem Antiochus unter dem Druck der Römer seinen zweiten Feldzug gegen Ägypten abbrechen mußte (11 ,29-30a), richtete sich seine Aggression ein weiteres Mal gegen Jerusalem. Die Verse 11, 301r35 sind nun ganz der Darstellung der Ereignisse in Jerusalem gewidmet139. Nach V. 30b kommt es im Rahmen der Aggressionspolitik des Antiochus IV. Epiphanes gegen den "heiligen Bund" dazu, daß dieser auf eine Gruppe von Juden aufmerksam wird, die bereits vor seinen Aktionen vom "heiligen Bund" (rD,p M.,i:J) abgefallen sind. Hinter dieser Gruppe können sich meines Erachtens nur hellenisierende Juden verbergen, die sich von den Geboten der Mosetora abgewandt haben und die in 1 Makk 1,11-15 mit folgenden Worten ausfUhrlieh charakterisiert werden: "In jener Zeit traten Männer aus Israel auf, die waren gesetzlos (1tapaVOJlOl) und überredeten viele (avE1tElCJav 1toA.A.o~), indem sie sagten: ,Laßt uns hingehen und einen Bund mit den Heiden um uns schließen (5la0roJlE9a 5la0iJKTJV JlE'tCx t&v tev&v t&v Jd>KA.cp itJl&v), denn seitdem wir uns von ihnen abgesondert haben, traf uns allerlei Unglück.' Der Vorschlag fand gute Aufnahme, und einige aus dem Volk erklärten sich bereit, zum König zu gehen. Der gab ihnen die Erlaubnis, die Ordnungen {ta 5lKalcOJlata) der Heiden einzuführen. Sie erbauten in Jerusalem ein Gymnasium nach heidnischer Sitte, ließen die Vorhaut wiederherstellen, fielen vom heiligen Bund ab, schlossen sich den Heiden an und verkauften sich, das Böse zu
137 Siehe z.B. N.W. Porteous, Das Buch Daniel, 139. 138
Siehe J. Lebram, Das Buch Daniel, 129f.
139 Zu den Ereignissen in Jerusalem unter Antiochus IV. Epiphanes möchte ich auf die hervorragenden Darstellungen von E. Bickermann (Der Gott der Makkabäer) und Martin Hengel (Judentum und Hellenismus, 464-564), der sich eng an E. Bickermann anschließt, verweisen. Versuche, E. Bickermanns These, die den Hellenisierungsbestrebungen in Jerusalem um die Hohenpriester Jason und Menelaos eine zentrale Rolle im Kontext der Ereignisse um die Religionsverfolgung durch Antiochus IV. Epiphanes zukommen läßt, zu destruieren, wie sie z.B. von J. Lebram (VT 20 (1970), 503-524) und K. Bringmann (Hellenistische Reform) unternommen wurden, vermögen nicht zu überzeugen. Vor allem K. Bringmann, der einzig soziale und machtpolitische Gründe für die Religionsverfolgung verantwortlich macht, unterschätzt die gerade fUr das jüdische Volk fundamentale Bedeutung religiöser Phänomene in unverzeihlicher Weise; siehe Sh. Applebaum, Rez. K. Bringmann, Hell. Reform und Religtonsverfolgung, Gnomon 57 (1985), 191-193.
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tun"140. Bezieht sich die Rede in V. 30b vom "Abfall vom Heiligen Bund" eindeutig auf die Tora, so wendet sich V. 31 den einzelnen Aktionen des Antiochus gegen Kult und Tempel zu. Diese Aktionen gipfeln in der Entweihung des Tempels durch Aufstellung des "Greuelbildes" (ClJrDC f,prdn). Vers 32a wendet sich wieder den in V. 30b erwähnten Apostaten und damit indirekt der Gesetzesproblematik zu. So weiß dieser Vers zu berichten, daß es Antiochus IV. Epiphanes gelungen ist, die Apostaten auf seine Seite zu ziehen und als Helfer für seine Untaten zu gewinnen. Die hellenisierenden Juden, die sich bereits lange Zeit vor den Aktivitäten des Antiochus von den väterlichen Gesetzen abgewandt hatten, lasser. sich von Alltiochus durch ,,RäJ'Ike" dazu verleiten, dessen Verbrechen gegen Kult und Tempel mitzutragen. Abfall vom Gesetz und Handlungen gegen Kult und Tempel gehen Hand in Hand. Kult- und Gesetzesproblematik sind nicht zu trennen, sondern sie bedingen sich gegenseitig. Für den Verfasser dieser Zeilen gehen die Aktionen gegen Kult und Tempel jedoch nicht von den hellenisierenden Juden aus, sondern diese sind lediglich bereit, sie zu tolerieren, bzw. aktiv zu unterstützen1 41. An dieser Stelle wird der Eindruck erweckt, daß Antiochus IV. Epiphanes selbst es war, der den Stein gegen den Tempelkult ins Rollen gebracht hat. Während sich Teile der Judenschaft auf die Seite des Antiochus stellen, bildet sich innerhalb des Volkes Israel jedoch auch eine Oppositionsbewegung gegen Antiochus heraus. Die Führer dieser Oppositionsbewegung werden als solche beschrieben, "die ihren Gott kennen",(32b) als "Verständige im Volk" (Cl1 """:::;)fDC), die "vielen zur Einsicht verhelfen". Auch diese Wendungen, die ohne Zweifel einem weisheitliehen Kontext entstammen, können als indirekte Anspielungen auf die Gesetzesproblematik verstanden werden. Unternehmen wir den Versuch, diesen "weisheitlichen" Sprachgebrauch in "Gesetzessprache" zu überfUhren, so kann die Wendung "Gott kennen" nichts anders bedeuten, als Gottes Willen, sprich dessen Gesetz zu tun. Kann doch nur detjenige Gott wirklich kennen, der auch seinen Willen tut. Ähnlich verhält es sich auch mit der Wendung "vielen zur Einsicht verhelfen". Ist nicht selbst die apokalyptische ,,Einsicht", wie sie z.B. dem Seher Daniel zuteil wird, an einigen Stellen an die Schrift und damit das Gesetz zurUckgebunden 142? Diese Gruppe, die mit Termini der "Weisheit" umschrieben wird, leistete dem Angriff des Antiochus IV. Epiphanes auf die jüdische Religion entschiedenen Widerstand. Nichts deutet darauf hin, daß sich diese Gruppe lediglich einem passiven Widerstand verschrieben hätte. Die Vielzahl von Leiden, die nach den Versen 33b und 35 die Mitglieder dieser Gruppe zu erdulden hatten, läßt eher darauf schließen, daß sie durchaus aktiv
140 Übersetzung nach M. Hengel, Judentum, 135. 141 Im Gegensatz dazu geht das I. Makkabäerbuch offensichtlich davon aus, daß der Anstoß zur Eskalation nicht vom König, sondern von den extremen Hellenisten ausging. 142 Siehe z.B. Dan 9, I f und 9, 2~27.
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ins Kampfgeschehen eingegriffen haben1 43. Da neben dieser Gruppe von "Verständigen" noch eine andere aktive Oppositionsgruppe erwähnt wird, die in V. 34 jedoch in ziemlich abwertendem Sinne lediglich als ,,kleine Hilfe" bezeichnet wird, legt es sich nahe, daß in den Augen des Autors dieser Zeilen nicht die Mittel des Kampfes, sondern dessen Ziele Uber eine positive bzw. negative Bewertung entscheiden. Hinter der Bezeichnung "kleine Hilfe" verbergen sich zweifellos die Makkabäer, deren "politischen" Ziele sich nur schwerlich mit den ,,religiösen" Zielen der "Verständigen" vereinen lassen. Der Autor dieser Zeilen, der mit ziemlicher Sicherheit zur Gruppe der "Verständigen" gehört, ist gerade dann kein Gegner einer aktiven Umsturzpolitik, wenn sich diese ausschließlich in ,,religiösen" Bahnen bewegt. Zur Verteidigung von Gesetz und Kult sind fUr die Trägerkreise der Danielapokalypse auch gewaltsame Mittel legitim. Sobald diese religiösen Restaurationsbemühungen jedoch in der Weise von einer politischen Ideologie überlagert werden, daß der Eindruck entsteht, als sei man in der Lage, das Gottesreich aus eigener Kraft herbeizuführen, ist für die "Verständigen" der Danielapokalypse ein Weg beschritten, dem sie nicht zu folgen gedenken. Den Trägerkreisen der Danielapokalypse ist jede Art eschatologischer Ungeduld ein Greuel. Folglich nimmt es nicht wunder, daß gerade dieser Abschnitt mit einem Hinweis auf das ,.Ende der Zeit", das es hoffnungsfroh und vertrauensvoll von Gott zu erwarten gilt, abschließt. Bereits die Verse 3fr-39 markieren den Übergang zu echter Weissagung. So wird mit Blick auf Antiochus IV. Epiphanes zunächst eine maßlose Zunahme der Frevelhaftigkeit erwartet. Antiochus IV. Epiphanes schlUpft in diesen Versen in die Rolle des endzeitliehen Widersachers Gottes. Die Endzeit setzt mit einem erfolgreichen Krieg des Antiochus IV. Epiphanes gegen Ägypten ein. Auch Jerusalem wird nochmals in Mitleidenschaft gezogen werden (11,4la). Auf der Höhe seines Triumphes angelangt, wird Gott selbst es sein, der diesem einen schnellen Untergang bereitet (11,45b). Die Weissagung vom Ende des Antiochus IV. Epiphanes, die es uns erlaubt, den Abschluß des Danielbuches in die Zeit um 165/164 v.Chr zu datieren 144 , wird dann in Kap.12 noch weitergeführt. Während nach Kap. 7 und der Deutung der Vision in Kap. 8 die Aufrichtung des Gottesreiches mit dem Tod des Antiochus IV. Epiphanes zusammenfällt, wird hier mit einer weiteren Steigerung der Not gerechnet. Erweckt doch gerade 12,1 den Anschein, als würde mit einer Vernichtung aller Völker gerechnet, aus der lediglich Israel durch den Engelfürsten Michael gerettet wird. Bevor wir uns nun abschließend Kap. 12 zuwenden, wollen wir noch kurz auf die Frage nach den Adressaten des Gottesreiches, die wir bereits in unseren Ausführungen zu Kap. 7 gestreift, jedoch nicht abschließend beantwortet ha14 3 Gegen P. Lampe. Die Apokalyptiker, in: Eschatologie und Friedenshandeln, 75f und
91f, der lediglich vom gewaltlosen Widerstand dieser Gruppe ausgeht. 144 Die wahren Ereignisse um das Ende des Antiochus IV. Epiphanes sind dem Verfasser dieser Zeilen nicht bekannt, so daß wir davon ausgehen können, daß die Endredaktion des Danielbuches kurze Zeit vor dem Tod des Antiochus stattgefunden haL
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Der apokalyptisch geprägte Visionsteil des biblischen Danielbuches
ben, zurUcklenken. Wie bereits erwähnt, thematisiert Kapitel 11 am ausführlichsten die Ereignisse in Jerusalem unter Antiochus IV. Epiphanes, Ereignisse, die auch für weite Teile der übrigen Kapitel des apokalyptischen Teils des Danielbuches Pate standen. Die Identifizierung der ,,Heiligen des Höchsten" in Kap. 7 mit Engelmächten erfährt meiner Meinung nach von den Kapiteln 10 und 11 her ein gewisses Maß an Bestätigung. Reden doch gerade diese Kapitel immer wieder einer engen Verbindung zwischen kosmischen und geschichtlichen Ereignissen das Wort. Was läge also näher, als den Versuch zu unternehmen, das "Volk der Heiligen des Höchsten" in 7,27, eine Größe hinter der sich die Adressaten des Gottesreiches verbergen, von Kap. 11 her zu identifizieren. Es spricht vieles dafür, hinter den "Verständigen", von denen Kap.ll an verschiedenen Stellen im Kontext der Auseinandersetzungen in Jerusalem um die Aggressionspolitik des Antiochus IV. Epiphanes spricht, das "Volk der Heiligen des Höchsten", das das zukünftige Gottesreich regieren wird, zu vermuten•4s. Die "Verständigen", deren Aktivitäten primär darin bestehen, "vielen zur Einsicht zu verhelfen", sind die Adressaten des Gottesreiches. Die Trägerkreise, die hinter diesen Zeilen stehen, sind fest in schriftgelehrtem Milieu verankert, wobei jedoch der Tempelkult weiterhin positiv bewertet wird. Das Gesetz ist für die Mitglieder dieser Gruppe bedeutend mehr als die Gebote und Verbote der Mosetora. So sind für die Mitglieder dieser Gruppe nationale, partikulare Kriterien wie die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk oder der Besitz der Tora nicht entscheidend, sondern sie definieren sich in erster Linie über die universalen Kriterien der "Weisheit" und ,,Einsicht". Das Gesetz erfährt eine Universalisierung und umfaßt auch kosmische Zusammenhänge. Der Tempelkult, dem im Kontext von Kap. 11 eine zentrale Stellung zukommt, wird an keiner Stelle gegen den Gesetzesgedanken ausgespielt. Kult und Gesetz gehören zusammen.
2.1.4.4.4 Das 12. Kapitel des biblischen Danielbuches In Kap. 12 erfährt die in den bisherigen Kapiteln beobachtete Tendenz, das endzeitliche Heil nicht mehr dem Volk Israel in seiner Gesamtheit, sondern lediglich einer bestimmten Gruppe zukommen zu lassen, ihre endgültige Bestätigung. Die erwartete Rettung Israels am Ende der Tage wird empfindlich eingeschränkt. So werden nach V. I nicht alle Israeliten, sondern nur diejenigen, die "im Buch geschrieben stehen" das endzeitliche Heil empfangen'46. Die Rede vom ,,Buch des Lebens" kann nur als eindeutiger Hinweis auf Gottes Gerichtshandeln verstanden werden. Im Gegensatz zu einer gesamtisraelitischen Perspektive, wie sie für die alttestamentliche Deuteronomistik bezeichnend ist, wird nicht mehr das Volk Israel als ganzes, sondern nur noch ein Teil des Volkes im Endgericht gerettet. Der Verfasser dieser Zeilen denkt hierbei wohl in erster Linie an die "Verständigen", die zur Zeit des Antiochus IV. Epiphanes 14 5
So auch J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 168.
146 Siehe G.W.E. Nickelsburg, Resurrection, 16.
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nicht vom ,.heiligen Bund" abgefallen sind, sondern getragen von ihrer apokalyptischen Schriftauslegung, am Gesetz festhielten. Einzig der Gehorsam gegenüber dem Gesetzesverständnis dieser Gruppe, in dessen Zentrum die enge Verbindung zwischen kosmischer und irdischer Gesetzlichkeit steht, garantiert die Rettung im Endgericht An dieser Stelle der Argumentation findet sich nun eine Notiz Uber die Auferstehung der Toten. In 12,2 lesen wir: ,.Und viele von denen, die in der Erde schlafen, sollen erwachen, manche zu ewigem Leben, manche zu Tadel und ewiger Verwerfung"l 47 • Dieser Vers beinhaltet keinesfalls den Glauben an eine allgemeine Totenauferstehungt 4B, sondern der Auferstehungsgedanke ist von vomherein auf .. viele" beschränkt. Hinter den ,,Vielen", die auferstehen, verbergen sich ferner nicht nur die ,,Frommen", die belohnt werden, sondern es ist auch von ,.Sündern" die Rede, die bestraft werden. Der Gedanke der Totenauferstehung steht völlig im Dienste der Gerichtsvorstellung, wie sie uns in V. 1 entgegentrittl 49. Soll der endzeitliche Gerichtsakt in der Lage sein, Gottes Gerechtigkeit ein für allemal zu verwirklichen, so muß jeder Fall, der im Verlauf der Weltgeschichte von einem gestörten TunErgehen-Zusammenhang zeugt, aufgegriffen und ins rechte Lot gesetzt werden. Folglich darf sich Gottes endzeitliches Gerichtshandeln nicht nur auf die Lebenden beschränken, sondern muß auchalldiejenigen Toten umfassen, bei denen es zu ihren Lebzeiten zu keinem innerweltlichen Ausgleich kamtso: Die Toten, deren Leben von einem funktionierenden Tun-Ergehen-Zusammenhang geprägt war, werden demnach nicht auferstehentst. Während die vorangegangenen Visionen kein einziges Wort Uber die Ordnungen der Heilszeit selbst verloren haben, bringt die Schlußvision des Danielbuches mit 12,3 dieser Frage zumindest ein geringes Maß an Aufmerksamkeit entgegen. In 12,3 heißt es: ,,Doch die Lehrer werden strahlen wie der Glanz des Firmaments, und solche, die die Vielen zur Gerechtigkeit führen, wie die Sterne in alle Ewigkeit"tsz. Die entscheidende Gruppe im Gottesreich sind offensichtlich die ,,Lehrer", die Gottes Geschichtsplan begriffen haben und durch ihre apokalyptische Gesetzesauslegung ,.viele" dazu gebracht haben, Gott gehorsam zu sein.
2.1 .4.4.5 Zusammenfassung In dieser Schlußvision laufen sämtliche Fäden, die das Danielbuch durchziehen, zusammen. Kosmische, universalgeschichtliche und heilsgeschichtliche Perspektiven verbinden sich zu einer Einheit. Während zu Beginn von Kap. 11 noch eine universalgeschichtliche Perspektive dominiert, tritt mit dem Auftreten des Antiochus IV. Epiphanes die Geschichte des Volkes Israel immer stärÜbersetzung nach N.W. Porteous, Das Buch Daniel, 123. Siehe G.W.E. Nickelsburg, Resurrection, 23. 149 So auch J. Lebram, Das Buch Daniel. 134. ISO Siehe G.W.E. Nickelsburg, Resurrection, 19. ISI Vgl. äthHen 22. IS2 Übersetzung nach J. Lebram, Das Buch Daniel, 121. 147
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Die weisheitlieh geprägten Daniellegenden in Kap. 1-6
ker ins Zentrum des Interesses. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen in Jerusalem zur Zeit des Antiochus IV. Epiphanes steht zweifellos die Frage nach der Gültigkeit von Tempelkult und Gesetz, wobei diese beiden Größen aufs engste zusammengehören. Das Gesetz erfährt eine Universalisierung und umfaßt auch kosmische Zusammenhänge. Die Tatsache, daß gerade die Aktivitäten der "Verständigen" im Rahmen von Dan 11 so breit entfaltet werden, läßt darauf schließen, daß auch der Autor dieser Zeilen dieser Gruppe zuzurechnen ist. Diese Gruppe, hinter der sich die Trägerkreise des Danielbuches verbergen, ist wohl in schriftgelehrtem Milieu verankert, wobei jedoch der Tempelkult weiterhin positiv bewertet wird. Die Mitglieder dieser Gruppe definieren sich nicht über nationale, partikulare Kriterien, wie z.B. die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk oder den Besitz der Tora, sondern über die universalen Kriterien der "Weisheit" und ,.Einsicht". Jedem Versuch, das Gottesreich aus eigener Kraft herbeizuführen, erteilt diese Gruppe eine Absage. Gott selbst wird am Ende der Tage sein Reich errichten. Nach Kap. 12 wird im Gegensatz zu einer gesamtisraelitischen Perspektive, wie sie gerade für die alttestamentliche Deuteronomistik bezeichnend ist, nicht mehr das Volk Israel in seiner Gesamtheit, sondern nur noch ein Teil des Volkes im Endgericht gerettet. Der Verfasser dieser Zeilen denkt hierbei an die "Verständigen", die zur Zeit des Antiochus IV. Epiphanes nicht vom "heiligen Bund" abgefallen sind, sondern am Gesetz festhielten. Der Auferstehungsgedanke steht völlig im Dienste der Gerichtsvorstellung. Die entscheidende Gruppe im Gottesreich sind die ,,Lehrer". Diese verfügen über die Einsicht in Gottes Geschichtsplan und besitzen durch ihre apokalyptische Gesetzesauslegung die Fähigkeit, "viele" zum Gehorsam gegenüber Gott zu bringen. 2.1.5 Die weisheitlieh geprägten Daniellegenden in Kap.
1-6153
2.1.5.1 Einführung Wie wir bereits in unseren Ausführungen zur Entstehungsgeschichte des biblischen Danielbuches ausfUhrlieh dargestellt haben, bildeten die weisheitlieh geprägten Daniellegenden der Kapitel 1-6 ursprUnglieh einen eigenständigen Traditionskomplex, dessen Grundstock wohl bis in die persische Zeit zurückreicht. Diese Erzählungen wurden demnach von Haus aus in einer ganz anderen historischen Situation und zu einem völlig anderen Zweck konzipiert als der apokalyptische Visionsteil der Kapitel 7-12. Was läge also näher, als diesen Teil des Danielbuches aus unseren Bemühungen um ein angemessenes Verständnis des Gesetzesverständnisses der frühjüdischen Apokalyptik auszuklammern? Doch ist es wirklich legitim, die Daniellegenden als ,,irrelevantes Material" aus einer Interpretation des Danielbuches als apokalyptischer Schrift auszuschließen? Angesichts der Tatsache, daß der Endredaktor des Danielbu153 Zum Ganzen siehe J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 27-66.
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ches die Daniellegenden in einem sorgfältig durchdachten Kompositionsprozeß bewußt mit dem apokalyptischen Visionsteil verbunden hat, ist nicht daran zu zweifeln, daß den Daniellegenden auch mit Blick auf die Visionen in 7-12 eine entscheidende Bedeutung zukommt 1S4 • Die Hauptfunktion der Daniellegenden im Rahmen der Gesamtschrift besteht darin, den Leser mit der Person des Daniel vertraut zu machen. Die Person des Daniel eröffnet dem Autor des Visionsteils zumindest in zwei Punkten einen idealen Anknüpfungspunkt. Zum einen fügen sich die Episoden, die von den Gefahren, die Daniel und seine Freunde aufgrund ihrer Treue zur väterlichen Religion erdulden mußten, trefflich in eine "Verfolgungssituation", wie sie zur Zeit der Endfassung des Danielbuches in Jerusalem herrschte. Liefern diese Erzählungen doch eindrucksvolle Beispiele dafür, wie man sich als gesetzestreuer Jude gegenüber dem Terror eines heidnischen Herrschers zu verhalten hat. Zum anderen bot die Charakterisierung Daniels als "idealen Weisen" für den Autor der Visionen die besten Voraussetzungen, sich mit diesem zu identifizieren. Gehörte doch der Autor des Visionsteiles aller Wahrscheinlichkeit nach selbst zu stark weisheitlieh geprägten Kreisen, wie sie sich hinter der Gruppe der "Verständigen" in Kap. 11,33-35 verbergen. Die Gesetzesthematik scheint auf den ersten Blick in den Kapiteln 1-6 nur äußerst schwach ausgeprägt zu sein. Vom lexikalischen Befund her lassen sich in diesen Kapiteln keinerlei hebräische bzw. aramäische Lexeme ausmachen, hinter denen sich mit Sicherheit das jüdische Gesetz verbirgt. Lediglich der Kontext einzelner Episoden läßt darauf schließen, daß das eine oder andere Gebot der Tora im Hintergrund dieser Erzählungen steht. So wird im Zusammenhang der Auseinandersetzungen zwischen Daniel und seinen Freunden mit dem Absolutheitsanspruch heidnischer Könige, wie sie vor allem in den "Konfliktgeschichten" in Kap. 3 und 6 zum Ausdruck kommen, immer wieder auf das erste und zweite Gebot des Dekalogs verwiesen. Die Treue Daniels und seiner Gefährten zur Alleinverehrung Jahwes wird gemeinhin als Gesetzesgehorsam verstanden. Am deutlichsten scheint die Gesetzesthematik im ersten Kapitel des Danielbuches angeschnitten zu sein. 2.1.5.2 Das 1. Kapitel des biblischen Danielbuches Daniel und seine Freunde werden im 1. Kapitel des Danielbuches ganz in weisheitliehen Farben gezeichnet. Bereits Vers 1,4 schüttet eine ganze Fülle weisheitlicher Termini über Daniel und seine Freunde aus. So gehören diese zu einer Gruppe von Israeliten, die von dem König Nebukadnezar für den Dienst am Königshofe bestimmt wurden. Diese Gruppe zeichnet sich dadurch aus, daß ihre Mitglieder von ,,königlichem Stamm und edler Abkunft" sind. Sie sind .Jn aller Weisheit unterrichtet" (ilr.l~n -C,~::l c.,C,.,~toc), ,,kenntnisreich" (nl7, "~17,.,) und "einsichtig" (l7,r.l "~J"~::lr.l). Zudem sollen diese in "Schrift und Sprache der Chaldäer" unterrichtet werden, eine Fähigkeit, die wiederum IS4 So auch J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 19.
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Die weisheitlieh geprägten Daniellegenden in Kap. 1--6
gerade für einen "Weisen" typisch istlss. Einen ganz besonderen Wert legt das 1. Kapitel des Danielbuches auf die Feststellung, daß die Weisheit Daniels und seiner Freunde die Weisheit aller anderen "Weisen" am Königshof weit übersteigt (V. 20). Im Kontext dieser Behauptung wird die Weisheit eng mit der Fähigkeit der ,,Zeichendeutung" verbunden (V. 17). Eingebettet in diesen "weisheitlichen" Kontext findet sich in den Versen 817 die Erzählung von der Weigerung Daniels und seiner Freunde, von der Speise des Königs zu essen und dessen Wein zu trinken, ein Vorzug, der nach 1,5 untrennbar mit der Erziehung am Königshof verbunden ist. Dieser bewußte Verzicht auf die Speise und den Wein des Königs entspringt nach 1.8 der Furcht, sich zu verunreinigen ("Kl im Hithpael). Zusammen mit vielen anderen Auslegeml56 vermag auch ich an dieser Stelle nichts anderes als eine deutliche Anspielung auf die jüdischen Speisegesetze zu sehen 157• Der gläubige Jude bleibt seinen Geboten selbst dann treu, wenn er Gefahr läuft, den Zorn des mächtigsten irdischen Herrschers auf sich zu ziehen. Zwar erheben sich gegen diese Interpretation gewisse Bedenken, doch sind diese letztlich nicht in der Lage, den Bezug dieser Verse auf die Gesetzesthematik überzeugend zu widerlegen 1ss. ISS Zur Verbindung von •.Schreiben" und .,Weisheit" sei vor allem auf das Jubiläenbuch verwiesen. 156 So z.B. N.W. Porteous, Das Buch Daniel, 20ff; H. v.Lips, Weisheitliehe Traditionen, 61; J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 32f. 157 Siehe auch Tob l.IOf. 158 Wie bereits gesagt, erheben sich gegen eine Interpretation, die den Verzicht Daniels und seiner f-reunde a11f die Speise und den Wein d~ Königs in der RUcksichtnfdtme auf die jUdischen Speisegebote und damit im Taragehorsam begründet sieht, einige Bedenken. So läßt sich die Ablehnung tierischer Nahrung, um die es sich bei der •.Speise" des Königs handelt, zwar von der Tora her gut begründen, nicht jedoch der Verzicht auf Wein. Lediglich Priestern ist für die Zeit, in der sie am Heiligtum tätig sind, der WeingenuS verboten (Lev 10,9; Ez 44,21). Darüber hinaus wird im AT von den ,,Rechabitem" der freiwillige Verzicht auf Wein berichtet (Jer 35). Ansonsten wird der WeingenuS gerade auch in Texten der apokalyptischen Tradition (siehe z.B. das Jubiläenbuch) oftmals positiv bewertet. Die Furcht, sich gerade durch WeingenuS ..zu verunreinigen", hat keinen Anhalt an den Geboten der jüdischen Tora. Zudem geht es nach V. 12 in der ganzen Episode weniger um den Verzicht auf die Königsnahrung an sich, als um den speziellen Verzicht auf tierische Nahrung und Wein, zugunsten von pflanzlicher Nahrung und Wasser. Der Gegensatz von Tier- und Pflanzennahrung bestimmt zusammen mit demjenigen von Wein und Wasser den Duktus des Geschehens. Von einem Verzicht Daniels auf Fleisch und Wein ist auch in Dan 10,2 die Rede, ohne daß hier ein Bezug zur jüdischen Speisegesetzlichkeit festzustellen wäre. Daniels Verzicht auf Fleisch und Wein dient an dieser Stelle auschließlich der Vorbereitung zum Offenbarungsempfang. Tierische Nahrung, die sich an dieser Stelle hinter der Umschreibung ..leckere Speise" verbirgt und Wein wirken der Qualifikation als ..Seher" entgegen, was gerade mit Blick auf den WeingenuS nicht weiter verwunderlich ist. Ferner ist in diesem Zusammenhang noch auf IV Esr 9,24ff zu verweisen. Auch hier bereitet sich der Seher Esra auf den Empfang der göttlichen Offenbarung dadurch vor, daß er lediglich pflanzliche Nahrung und Wasser zu sich nimmt. während der Genuß von Wein einem strengen Verdikt unterliegt. Die Weigerung Daniels und seiner Gefährten, tierische Nahrung
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Die standhafte Weigerung, königliche Nahrung zu sich zu nehmen, zahlt sich für Daniel und seine Freunde aus. Sie werden von Gott für ihre Standhaftigkeit in der Weise belohnt, daß sie mit ,,Einsicht und Verstand filr jede Art von Schrift und Weisheit" beschenkt werden. Daniel wird darüber hinaus mit der Fähigkeit bedacht, Träume zu deuten. Der Gehorsam Daniels und seiner Freunde gegenüber den Geboten der Tora ist nach diesen Versen Grundlage der Weisheit. Der Verfasser dieser Zeilen sieht somit in der Bereitschaft zu radikalem Gesetzesgehorsam ein notwendiges Element der Weisheit. Die Weisheit ist ausdrUcklieh an den Toragehorsam zurückgebunden 1S9 . Zwar werden beide Größen nicht ausdrücklich identifiziert, doch stehen sie in einem ganz engen Zusammenhang 160 •
2.1.5.3 Der weisheitliehe Kontext von Kapitel 2 Endet das erste Kapitel des Danielbuches mit der Feststellung, daß Daniel und seine Freunde allen Wahrsagern und Beschwörungspriestern am babylonischen Hof weit überlegen sind, so wird diese Behauptung im nächsten Kapitel eindrucksvoll bestätigt. Dieses Kapitel berichtet davon, daß der König Nebukadnezar von einem Traum zutiefst erschreckt wird (2, 1). Darauf ruft er sämtliche Zeichendeuterund Wahrsager des babylonischen Reiches zusammen und verlangt von diesen, seinen Traum zu erraten und anschließend zu deuten (2,2-9). und Wein zu sich zu nehmen, entspränge dann weniger der Furcht, die jüdischen Speisegesetze zu übertreten, als vielmehr der Absicht, sich zum Empfang göttlicher Offenbarungen zu qualifizieren. Die Nahrung des Königs hätte für Daniel keine ,,kultische Verunreinigung" zur Folge, wohl aber eine "Verunreinigung" in dem Sinne, daß er zum Offenbarungsempfang ..als untauglich empfunden" würde, eine Bedeutung, die dem Verb C,ac:l zwar nicht im Hithpael, wohl aber im Pual zukommen kann. Gegen diesen lnterpretationsversuch, der in der Weigerung Daniels und seiner Gefährten, die Speise des Königs zu essen und dessen Wein zu trinken, eine Art von ..prophetischem Fasten" sieht, das den Offenbarungsempflinger zum Visionsempfang qualifizien, spricht jedoch die Tatsache, daß im I. Kapitel des Danielbuches von keinem Visionsempfang die Rede ist. Geht man davon aus, daß der Königsnahrung in dieser Zeit eine Art ..magischer Kraft" zugesprochen wurde, so könnte man in dem Verzicht Daniels und seiner Freunde auf die Nahrung des Königs auch eine freiwillige Frömmigkeitsübung sehen, die in ihrer Wirkung die Folgen der Speise des Königs weit übertrifft (siehe K. Koch, Daniel, BK 2211, 67). Auch in diesem Fall wäre von einem Torabczug kaum die Rede. Wie auch immer der Verzicht auf die Königsnahrung letztlich zu verstehen sein mag, so läßt sich zumindest soviel sagen, daß diese Stelle im Rahmen der Auseinandersetzungen in Jerusalem um die Aktivitäten des Antiochus IV. Epiphanes. die für die Endredaktion des Danielbuches und damit für das 1. Kapitel in seiner jetzigen Form bestimmend sind, sicherlich als Beispiel unbedingter Gesetzestreue verstanden wurde. IS 9 So z.B. J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 32f: ..The point of the story is clear. Jews who succeed at court do so because of their wisdom. God gives wisdom to his servants who faithfully obey his laws. The thrust of the argument is not thal one can have a successful career al a foreign court while remaining a loyal Jew, bulthat stricl obedience lo the Jewish law, even in its distinctive elements, is a necessary prerequisite of the wisdom which brings success. Fidelily to the God of the Jews is an essential element of wisdom." 160 Siehe H. v.Lips, Weisheitliehe Traditionen. 61.
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Die weisheitlieh geprägten Daniellegenden in Kap. 1-6
Die Fähigkeit den Traum zu erraten gilt dem König als Zeichen für die Wahrheit der Deutung. Da keiner in der Lage ist, der Forderung des Königs zu genügen (2,10f), befiehlt dieser, sämtliche Weisen einschließlich Daniels und seiner Gefährten hinzurichten (2,120. In dieser Situation betritt Daniel die BUhne des Geschehens und zeigt sich als einziger der gestellten Aufgabe gewachsen. Daniet betet zu seinen Gott und bittet ihn um die Auflösung des Geheimnisses (2,17-24), deutet Nebukadnezar den Traum (2,25-45) und rettet dadurch sich selbst und allen übrigen Weisen Babyions das Leben. Die Episode endet mit einer Art "Bekenntnis" Nebukadnezars zum Gott Daniels und der "Beförderung" Daniels zum "Chefweisen" Babyions (2,4749). Im Zentrum dieses Kapitels steht ohne Zweifel der Traum Nebukandezars und dessen Deutung. Da dieser Text im Rahmen unserer Beschäftigung mit dem apokalyptischen Teil des Danielbuches bereits ausführlich behandelt wurde, sollen an dieser Stelle nur einige wenige Bemerkungen zur "weisheitlichen Seele" dieses Kapitels nachgetragen werden. Wie bereits gesagt, dient dieses Kapitel in seinem "weisheitlichen Kontext" der Bestätigung der in Kapitel 1 postulierten Überlegenheit der Weisheit Daniels und seiner Freunde gegenüber der Weisheit sämtlicher Wahrsager, Zauberer und Zeichendeuter Babylons. Es geht hier, wie auch in allden anderen Episoden der Kapitel 1~ nicht um den "traditionellen" Gegensatz Weisheit-Torheit, sondern um die Entgegenstellung von unterschiedlicher Weisheit 16 1. Hierbei verdienen vor allem die Stellen unsere Aufmerksamkeit, die die Weisheit Daniels und seiner Freunde näher charakterisieren. Wurde diese Weisheit in Kap. 1 eng mit dem Gesetzesgehorsam verbunden, so wird sie in Kap. 2 als Geschenk Gottes verstanden. In 2,20-23 lesen wir: ,,Daniel hob an und sprach: Gelobt sei der Name Gottes vom Beginn bis zum Ende der Zeiten, denn Weisheit und Stärke sind sein. 21 Er ist es. der den Wechsel der Zeiten und Fristen bewirkt; er setzt Könige ab und setzt Könige ein; er gibt Weisheit den Weisen und Erkenntnis den Verständigen. 22 Er ist es, der die Tiefen und Verborgenes enthüllt, der weiß, was in der Finsternis ist; denn das Licht wohnt bei ihm. 23 Dich, Gott meiner Väter, lobe und preise ich, daß du mir Weisheit und Stärke geschenkt hast; denn nun hast du mich wissen lassen, was wir erbeten haben von dir; denn die Sache des Königs hast du uns gezeigt"162. Die Schranke zwischen menschlicher Erkenntnis und göttlicher Weisheit kann nur von Gott her durchbrachen werdenl63. Gottes Weisheit ist in diesen Zeilen eng mit seiner Herrschaft über kosmische und politische Ereignisse verbunden. Gott bestimmt sowohl die kosmischen Zeitabläufe als auch die Regierungszeiten irdischer Könige. Diese Weisheit, die im Einblick in kosmische und politische Zusammenhänge besteht, ergeht als von Gott geschenkte Weisheit an Daniel. Der verstehende Aspekt der Weisheit steht im
161 Siehe H. v.Lips. Weisheitliehe Traditionen, 129. 162 Übersetzung nach J. Lebram, Das Buch Daniel, 51f. 163 Siehe auch Prov 30,1f; Hi 28,12-28.
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Vordergrundt64. Die Form, in der dieser "Weisheitsempfang" vor sich geht, ist die der Offenbarung eines Geheimnisses (2,27f0. Sowohl die Charakterisierung dieser Weisheit als auch die Form ihrer Übertragung an Daniel leiten bruchlos von den "weisheitlichen" Gedankenbahnen zu den "apokalyptischen" über, wie sie dann für die Traumvision Nebukadnezars und deren Deutung bezeichnend sind. Der Charakter des 2. Kapitels des Danielbuches als Bindeglied zwischen dem apokalyptischen und weisheitliehen Teil des Danielbuches erflihrt nochmals eine deutliche Bestätigung.
2.1.5.4 Die Kapite/3-6 des biblischen Danielbuches 2.1.5.4.1 Kapite/3 Das 3. Kapitel des Danielbuches ist für uns vor allem deshalb von Interesse, da wir auch hier mit der Gesetzesproblematik konfrontiert werden. So ist die Weigerung der Gefährten des Daniel, ein goldenes Standbild, hinter dem sich ein Symbol oder eine Götterfigur verbirgtt6s, anzubeten, nur auf dem Hintergrund des 1. und 2. Gebotes des Dekalogs zu verstehen. Die unbedingte Treue der Gefahrten Daniels zum ,,Einen Gott" zeigt sich in deren Gehorsam gegenüber der Tora. Dieser Gehorsam reicht soweit, daß sie lieber den Tod erleiden, als die Tora zu übertreten. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Verse 17f von besonderem Interesse: "Wenn unser Gott, den wir anbeten, uns aus dem Ofen des brennenden Feuers und aus deiner Hand erretten kann, König, dann wird er uns erretten. 18 Aber auch wenn (er es) nicht (tun wUrde), dann soll dir kundgetan werden, König, daß wir deine Götter nicht anbeten und die goldene Statue, die du aufgerichtet hast, nimmermehr verehren werden" 166 • Nach diesen Versen hängt die Legitimität Gottes nicht an dessen Wille und Fähigkeit, den Gesetzesgehorsam zu belohnen. Sie sind Ausdruck eines vollkommenen Vertrauens auf Gott. Selbst wenn Gott sich dazu entschließt, die Rettung seiner Getreuen, sprich eine innerweltliche Belohnung des Gesetzesgehorsams zu verweigern, hat dies keinerlei Auswirkungen auf den festen Glauben an dessen Macht und die Standfestigkeit seiner Anhänger. Das unbedingte Festhalten an Gott und dessen Gesetz ist wichtiger als jede irdische Rettungt67. Neben dieser Stelle verdient noch die Charakterisierung der drei Gefährten durch Nebukadnezar unsere Aufmerksamkeit. In 3,28 heißt es: ,,Dann hob Nebukadnezar an zu sprechen: Gepriesen sei der Gott Schadrachs, Meschachs und Abed-Negos, denn er hat seinen Engel und seine Knechte errettet. Sie haben sich auf ihn verlassen und (selbst) den Befehl des Königs übertreten; sie haben ihre Leiber 164 Siehe
H. v.Lips, Weisheitliehe Traditionen, 129. Siehe J. Lebrarn, Das Buch Daniel, 62; N.W. Porteous, Das Buch Daniel. 44f. Übersetzung nach J. Lebram, Das Buch Daniel, 60. 167 Der traditionelle Tun-Ergehen-Zusammenhang stand wohl auch fUr den Verfasser dieser Zeilen nicht mehr fest. l6S 166
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Die weisheitlieh geprägten Daniellegenden in Kap. 1-6
preisgegeben, um keinen anderen Gott anbeten und verehren zu müssen, außer ihren Gott"168. Die Zusammenstellung der ethischen Merkmale der Gefährten des Danielläßt sich folgendermaßen umschreiben. Die radikale Hingabe an die himmlische Welt, die in einem vollkommenen Vertrauen auf Gott besteht 169 , ist die unbestreitbare Grundlage sowohl des Gesetzesgehorsams als auch der Martyri umsbereitschaft.
2.1.5.4.2 Die Kapitel4 und 5 Die Kapitel 4 und 5 des biblischen Danielbuches sind fUr unsere Fragestellung von geringem Interesse und sollen m.&r der Vollständigkeit halber kurz gestreift werden. Diese Kapitel widmen sich wiederum ganz der Aufgabe, die Überlegenheit der Weisheit Daniels herauszustellen. Daniel erscheint in beiden Kapiteln als Traumdeuter, dessen Fähigkeiten das Können der babylonischen Traumdeuter bei weitem übertreffen. Beide Erzählungen betonen die überlegene Macht des jüdischen Gottes, die sich in Daniels Weisheit manifestiert 170. Die Gesetzesthematik spielt im Kontext dieser Geschichten allem Anschein nach keine Rolle. Diese betritt erst im 6. Kapitel des Danielbuches erneut die Bühne des Geschehens.
2.1.5.4.3 Kapitel6 Die Analogien zwischen dem 6. und 3. Kapitel des Danielbuches sind unübersehbar171. Aus Eifersucht auf Daniels Erfolge als Beamter des Königs trachten andere WUrdenträger des Königs danach, Daniel etwas anzuhaben (6,1-5). Da sie nichts gegen ihn finden können, hoffen sie, seine jüdische Gottesverehrung gegen ihn verwenden zu können. Sie überreden den König, ein Gebot zu erlassen, daß 30 Tage lang niemand von einem Gott oder Menschen irgendetwas erbitten darf, es sei denn, vom König (6,7-10). Daniel setzt trotzdieses Erlasses seine täglichen Gebetszeiten fort (6,11), wird vor dem König verklagt (6,1216) und in eine Löwengrube geworfen (6,17-19). Als der König am nächsten Tag zur Löwengrube kommt, ist Daniel jedoch am Leben, da ein göttlicher Engel Daniel vor den Löwen bewahrte (6,20-24). Anstelle des Daniel werden nun seine Ankläger in die Grube geworfen und aufgefressen (6,25). Der König erläßt schließlich ein Edikt, in dem er Daniels Gott und dessen unvergängliches Reich preist (6,26-29). Im Zentrum dieser Geschichte steht Daniels unbedingte Treue zu den Geboten seines Gones. Die Tatsache, daß sich ein Gebot, das das dreimalige Beten zur Regel macht, in der Tora nicht finden läßt, sagt nichts darüber aus, ob
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Übersetzung nach J. Lebram, Das Buch Daniel, 62.
169 Siehe J. Lebram, Das Buch Daniel, 64.
170 Siehe J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 46ff. 171 Siehe J.J. Collins, The Apocalyptic Vision, 49ff.
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nicht die spätere jüdische Übung zumindest in den Kreisen, aus denen diese Erzählung stammt, bereits damals zum festen Brauch avanciert war172 . Für den Verfasser dieser Zeilen war die Sitte, sich dreimal am Tag betend nach Jerusalem zu wenden, zweifellos ein unverzichtbarer Bestandteil der in dessen Kreisen gültigen Gesetzeshalacha. Mit dem Gehorsam gegenüber diesem Brauch steht und fällt die Gültigkeit des gesamten Gesetzes. Während die Treue Daniels einen Eindruck von der ewigen Gültigkeit der Tora gibt, wird der Anspruch der Gebote des Königs, gleichfalls unveränderlich zu sein, im Laufe der Geschichte destruiert. Die Überlegenheit des Anspruchs des jüdischen Gottes gegenüber den Ansprüchen irdischer Herrscher wird unterstrichen. 2.1.5.5 Zusammenfassung
Im Zentrum des Gesetzesverständnisses, das dem "weisheitlichen" Teil des Danielbuches zugrunde liegt, steht die enge Beziehung zwischen den beiden Größen "Weisheit" und "Tora". Die "Weisheit" ist im Gegensatz zu anderen apokalyptischen Schriften nicht Voraussetzung, sondern Gegenstand der Offenbarung. Sie ergeht als Gottes Geschenk an Daniel und seine Freunde und besteht darin, daß sie Einblick in kosmische und politische Zusammenhänge gewährt. Der verstehende Aspekt der Weisheit wird betont. Diese ,,mantische Weisheit" ist jedoch ausdrücklich an den Toragehorsam zurückgebunden. Radikaler Gesetzesgehorsam ist die Voraussetzung fllr den "Weisheitsempfang". Zu einer regelrechten Identifizierung von "Weisheit" und "Gesetz" kommt es jedoch noch nicht. Die Gesetzesaussagen selbst lassen mit ihrer Betonung der "Speisegesetzlichkeit" und des I. und 2. Gebotes auf ein kultisches Interesse schließen.
172 Die Unsitte, immer dann, wenn sich ein konkretes Torage- bzw. Verbot nicht nachweisen läßt, jeglichen Tarabezug zu leugnen, Ubersieht die bunte Vielfalt frühjUdischer Gesetzeshalacha; siehe K.-H. MUller, Gesetz und GesetzeserfUIIung, in: Das Gesetz im Neuen Testament, 11-27.
2.2 Das äthiopische Henochbuch 2.2.1 Vorbemerkungen Die Frage nach dem Gesetzesverständnis, das dem äthiopischen Henochbuch zugrunde liegt, ist äußerst schwer zu beantworten, da diese Apokalypse eine Kompilation unterschiedlicher Schriften aus verschiedenen Zeiten darstellt. Gerhard von Rad hat diesen Sachverhalt ziemlich genau getroffen, wenn er das äthiopische Henochbuch als "eine ganze Bibliothek wissenschaftlich~r Schriften" bezeichnet •. Die Entstehungsgeschichte des äthiopischen Henochbuches erstreckt sich über mehrere Jahrhunderte und läßt sich in kurzen Zügen kaum nachzeichnen2. Besonders die Funde aramäischer Fragmente des äthiopischen Henochbuches in Qumran haben die Frage nach dessen Entstehungsgeschichte zusätzlich kompliziert. Trotzdem ist es für eine Untersuchung zum Gesetzesverständnis des äthiopischen Henochbuches unabdingbar, sich der überlieferungsgeschichtlichen Problematik zu stellen, da die Frage nach der Rolle des Gesetzes auf der Stufe der Endredaktion dieser Schrift nicht von der nach dem Gesetzesverständnis der einzelnen Überlieferungseinheiten getrennt werden kann. Der Schlüssel zu kompetenten Aussagen über das Gesetzesverständnis des Henochbuches liegt in der geschichtlichen Entwicklung dieses Buches verborgen. Diese "geschichtliche Entwicklung" umfaßt jedoch bedeutend mehr, als sich gemeinhin hinter dem methodischen Schritt "Überlieferungsgeschichte" verbirgt. Während normalerweise die Vertreter dieses Methodenschrittes immer so tun, als ob Überlieferungen selbst Geschichte machten, soll hier der VoiT'clllg der geschichtlich~n Fakten vor all~r deuten~n 'L"berliefenmg betont werden3. Von daher kann es nicht darum gehen, aus dem äthiopischen Henochbuch unter Zuhilfenahme des herkömmlichen methodischen Instrumentariums lediglich einzelne Überlieferungsstränge herauszuarbeiten und somit quasi auf literarischer Ebene den Wandel von Traditionen aufzuzeigen, ohne daß sofort auch immer die Frage nach den konkreten geschichtlichen Erfahrungen, den zeitgeschichtlichen Verhältnissen, die zu diesem Wandel führten, mitreflektiert wird. Diese von K.-H. Müller vehement vertretene Maxime4 soll im Verlauf dieser Untersuchung immer dann so weit wie möglich leitend sein, wenn es um Aussagen zur Entstehungsgeschichte des äthiopischen Henochbuches geht. In den folgenden Kapiteln soll jedoch nicht der an Hybris grenzende Versuch unternommen werden, die Entwicklungsgeschichte des ganzen Henochbuches in allen Einzelheiten nachzuzeichnen, sondern die überlieferungsgeschichtliche Problematik des Henochbuches soll nur in dem Maße reflektiert So G. v.Rad. Theologie des AT ß, 324. So z.B. R.H. Charles, Book of Henoch, in: APOT II, 163: ..To describe in short compass the Book of Enoch is impossible. lt comes from many writers and ahnost as many periods". 3 Siehe K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, S1. 4 Siehe hierzu. K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik. in: Studien. 46-52. I
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EinfUhrende Bemerkungen zur Entstehungsgeschichte
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werden, soweit sie etwas für die Themenstellung dieser Arbeit, also zur Erhellung des Gesetzesverständnisses des äthiopischen Henochbuches, austrägt. 2.2.2 Einführende Bemerkungen zur Entstehungsgeschichte des äthiopischen Henochbuchess Das äthiopische Henochbuch besteht in seiner Endgestalt aus fünf Teilen, weshalb in der Forschung oftmals vom ,,Henochpentateuch" die Rede ist6. Gemeinhin wird zwischen dem Buch der Wächter bzw. dem angelalogischen Buch (6-36), den Bilderreden (37-71), dem astronomischen Buch (72-82), dem Buch der Traumvisionen bzw. dem Geschichtsbuch (83-91) und der Epistel Henochs bzw. dem paränetischen Buch (92-105) unterschieden. Bedeutend mehr Schwierigkeiten bereit'et jedoch die Zuordnung der Anfangs- ( 1-5) und Endkapitel (106-107 + 108) des äthiopischen Henochbuches. Während vieles dafür spricht, daß die Kapitel 106fTeile einer Noahtradition widerspiegeln, die sich auch an einer Vielzahl anderer Stellen innerhalb der Henochsammlung nachweisen läßt und ursprünglich vielleicht einmal ein eigenständiges Noahbuch bildete7, gehen die Meinungen über die Eingangs- und das Schlußkapitel des äthiopischen Henochbuches weit auseinander. Für die einen sind die Kapitel 1-5 ein fester Bestandteil des angelalogischen Buches und wurden ausschließlich als Einleitung zu diesem Buch verfaßtB. Andere dagegen sind der Überzeugung, daß die Eingangskapitel bewußt als Einleitungsrede in das äthio-
S Siehe 0. Eissfeldt, Einleitung, 836--843; 0. Rost, Einleitung, 101-106; M.E. Stone, Apocalyptic Literature, in: Jewish Writings of the Second Temple Period, 395ff; zudem S.Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 465-491. 6 Die Frage, inwieweit die These, daß das Henochbuch in bewußter Analogie zum Pentateuch gestaltet wurde, verifizierbar ist, kann an dieser Stelle nicht ausführlich diskutiert werden. J.T. Miliks Annahme eines festumrissenen Henoch-Pentateuchs für Qumran, der dann später durch einen christlichen Henoch-Pentateuch, der das Buch der Giganten durch die Bilderreden ersetzte, verdrängt wurde, läßt sich jedoch sicherlich nicht halten. Zudem sind bereits in Qumran Fragmente von mehr als fünf Henochschriften belegt. Zu diesen gehört z.B. das ,,Buch Noahs" ( 1Q19). Für die nachqumranische Zeit ist meines Erachtens die These eines Henochpentateuchs jedoch nicht völlig von der Hand zu weisen. Allem Anschein nach ist die Einteilung in fünf Bücher nicht zufällig. Das Buch der Wächter trifft sich in seiner Thematik zum Teil mit dem Buch Genesis (Angelologie), das astronomische Buch nimmt die Stelle des Buches Levitikus ein, während das paränetische Buch vergleichbar dem Deuteronomium den Henochpentateuch abschließt. Zum Ganzen siehe S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 574f Anm.2; ferner M.E. Stone, Apocalyptic Literature, in: Jewish Writings in the Second Temple Period .. 397ff. 1 Siehe hierzu K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 115f. K.-H. Müller sieht in folgenden Kapiteln des äthiopischen Henochbuches ursprüngliche Bestandteile des Noahbuches: lHen 6--11; 39,1-2a; 54,7-55,2; 60; 65,1-69,25; 106-107. 8 So z.B. S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 494; M.E. Stone, Apocalyptic Literature, in: Jewish Writings in the Second Temple Period, 400; H.S. Kvanvig, Roots of Apocalyptic, 85f.
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Das äthiopische Henochbuch
pisehe Henochbuch als Ganzes konzipiert wurden9 • Die gleiche Frontstellung begegnet uns auch mit Blick für die Mahnschrift Henochs an Methusala (108)10. Für alle Einzelteile des Henochbuches gilt jedoch das gleiche, was im letzten Abschnitt schon für das Henochbuch als Ganzes festgestellt wurde. Auch sie sind nur als Produkt eines komplizierten Überlieferungsprozesses zu verstehen, wobei im Laufe der Zeit in Auseinandersetzung mit den sich wandelnden geschichtlichen Erfahrungen unterschiedliche Traditionen miteinander verbunden wurden. Von daher gewinnt das Problem der Überlieferungsgeschichte des äthiopischen Henochbuches noch zusätzlich an Komplexität. Wenden wir uns nun kurz der Frage nach der Textgeschichte des äthiopischen Henochbuches zu 1:. Vollständig ist das äthiopische Henochbuch nur in äthiopischer Sprache erhalten 12. UrsprUnglieh wurde es jedoch in einer semitischen Sprache abgefaSt, wobei auch nach den Funden von aramäischen Fragmenten des äthiopischen Henochbuches in Qumran immer noch strittig ist, ob eine aramäische oder hebräische Fassung am Anfang stand. Die äthiopische Fassung geht auf eine griechische Fassung zurück. Diese ist jedoch sicherlich nicht mit deijenigen griechischen Fassung identisch, von der uns Fragmente für den Anfang und das Ende des Henochbuches erhalten sind 13 • Daneben wurden in der 4. Fundhöhle von Qumran ungefähr vierzig aramäische Fragmente des äthiopischen Henochbuches in neun verschiedenen Abschriften gefunden1 4 , die jedoch keine Beziehung zum griechischen Text aufweisen. Die Henochtradition war offensichtlich auch nach ihrer ersten Verschriftung immer in Bewegung. Das äthiopische Henochbuch als Einheit scheint jedoch erst im griechischsprachigen Bereich entstanden zu sein. Nun noch einige Bemerkungen zu der Frage nach dem zeitlichen Rahmen, in welchem das äthiopische Henochbuch vermutlich entstanden ist. Allgemein gelten das astronomische Buch und das Buch der Wächter als die ältesten Teile innerhalb des äthiopischen Henochbuches. Das astronomische Henochbuch ist in den Qumranfunden mit vier Handschriften vertreten, wobei die älteste bereits aus der Zeit um 200 v.Chr. stammtiS. Von den fünf in Qumran gefundenen Handschriften des angelologischen Buches läßt sich eine gleichfalls in die erste Hälfte des 2.Jhs. v.Chr. datieren16. Von daher legt es sich nahe, daß beide Schriften zwischen dem Ende 9 So z.B. F.Dexinger, Henochs Zehnwochenapokalypse, 100; ebenso Charles, The Book of Enoch, 2; ferner G. Beer, Das Buch Henoch, 220ff. 10 Siehe z.B. P. Sacchi, Art. Henochgestalt /Henochliteratur, in: TRE XV, 42-54, 43 und S.Uhlig. Das äthiopische Henochbuch, 494. Während S. Uhlig die Kapitel 106-108 mit in die Epistel Henochs und damit in das paränetische Buch hineinnimmt, wurde für P.Sacchi Kap. 108 als Abschluß der Henochsammlung konzipien. 11 Siehe S. Uhlig. Das äthiopische Henochbuch, 483ff; zudem E. Isaac, I Enoch, in: OTP I. 6. l2 Die wichtigste Edition des äthiopischen Textes ist sicherlich diejenige von M.A. Knibb, The Ethiopic Book of Enoch, I, 1978. 13 Siehe M. Black, Apocalypsis Henochi Graece, 5-44. 14 Siehe J.T.Milik, The Books ofEnoch, 1976. IS Siehe J.T. Milik, The Books ofEnoch, 22. 16 Siehe J.T. Milik, The Books of Enoch, 23f.
Grundsätzliche Bemerkungen zur Bedeutung der Tora
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des 3. und der Mitte des 2.Jhs. v.Chr. entstanden sind 17 • Damit sind diese Teile des äthiopischen Henochbuches älter als das Buch Daniel in seiner Endgestalt, das lange Zeit als die Apokalypse par excellence galt. Die Frage, welche SchlUsse aus dieser Tatsache für das Problem der Entstehung der frühjüdischen Apokalyptik zu ziehen sind, kann meines Erachtens nicht eindeutig beantwortet werden. Sicherlich muß eine Auffassung, die die frühjüdische Apokalyptik ausschließlich als religiöse Antwort auf die Bedrängnisse der makkabäischen Aufstandszeit versteht, nun endgültig verabschiedet werden. Greift diese These, wie bereits gezeigt wurde, doch schon mit Blick auf das Danielbuch zu kurz. Das hohe Alter des astronomischen Henochbuches darf jedoch auch nicht in der Weise gegen das Danielbuch ausgespielt werden, daß die Eschatologie ihrer zentralen Bedeutung für die Entstehung der frühjüdischen Apokalyptik zugunsten der einseitigen Betonung priesterlichen Kalenderwissens gänzlich beraubt wirdls. Fahren wir in unserem Überblick über die Entstehungszeit der einzelnen Teile des Henochbuches fort, so stammt das Buch der Traumvisionen wohl aus dem 2.Jh. v.Chr., die Epistel Henochs aus dem 1. Jh. v.Chr., während die Bilderreden als jüngster Teil in ihren wesentlichen Partien mit großer Wahrscheinlichkeit zur Zeit der Hasmonäerherrschaft verfaßt wurden 19 • Von den innerhalb der einzelnen Teile verarbeiteten Traditionskomplexen eignet der ursprünglichen Gestalt der Tiervision und der Zehnwochenapokalypse gleichfalls ein recht hohes Alter. Die Tiervison stammt sicherlich aus der Zeit des Judas Makkabäus, die Zehnwochenapokalypse ist nur wenig jüngeren Datums2o. Die Endredaktion des äthiopischen Henochbuches wurde offenbar erst nach der Zeitenwende vorgenommen und war das Werk eines jüdischen Redaktors2 1• 2.2.3 Grundsätzliche Bemerkungen zur Bedeutung der Tora innerhalb des äthiopischen Henochbuches Von verschiedener Seite begegnet immer wieder die Meinung, daß das Gesetz sowohl für das ganze Henochbuch22 als auch für dessen einzelne Teile23 lediglich von untergeordneter Bedeutung sei. In erster Linie ist wohl der lexikalische Befund des "Begriffs" Gesetz für diesen Schluß verantwortlich. Da in den grie17
Siehe H. Stegemann, Die Bedeutung der Qumranfunde, in: Apocalypticism, 502-508. Gegen H. Stegemann, Die Bedeutung der Qumranfunde, in: Apocalypticism, 504f; vgl. ferner H. Stegemann, Die Essener, 134. 19 Zur ganzen Datierungsproblematik siehe S.Uhlig, Das äthiopische Henochbuch,494; 506; 574; 636; 673f. 709; fernerE. lsaac, I Enoch, in: OTP I, 6f. 20 Siehe hierzu K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 58-64. 21 S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 494. 22 So z.B. S.Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 513 Anm. 4c: ,,Das Gesetz trin in Hen(äth) gegenüber anderen jüdischen Schriften zurück". 23 So z.B. Ch.MUnchow, Ethik und Eschatologie, 39: ,,Der zusammenfassende Überblick zu Fragen um Ethik und Eschatologie in I Hen soll mit Erwägungen zum Gesetzesverständnis beginnen, das in den einzelnen Abschnitten dieser Schrift eine Rolle spielt, wenn auch zum Teil von untergeordneter Bedeutung". 18
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Das äthiopische Henochbuch
chischen Fragmenten zum Henochbuch v6J.1<><; an keiner einzigen Stelle erscheint, sind wir primär auf die äthiopische Version angewiesen. Hier fehlt nun sowohl cheg ·, das Äquivalent für pn, als auch <erit, das im äthiopischen Sprachgebrauch ausschließlich das mosaische Gesetz bezeichnet 24 . Somit verbleiben nur noch ser <m und te' ezaz , denen beiden ein recht breites Bedeutungsspektrum eignet25, als Grundlage zur Erhebung des Gesetzesverständnisses des äthiopischen Henochbuches. Da beide Worte neben v6J.1<><; und tvtoÄ.i} noch viele weitere Bedeutungen haben können, kann immer nur der Kontext über den genauen Wortsinn und damit über den Wert der Stelle für die Frage nach dem Gesetzesverständnis entscheiden. Erhebt man nun die Quantität dieser Gesetzestermini zum Kriterium für das Gewicht, das dem Gesetz innerhalb des Henochbuches zukommt, so nehmen sich die etwas mehr als 20 Belege26 in der Tat recht spärlich aus, überhaupt dann, wenn man beachtet, daß nur an vier Stellen (5,4; 93,6; 99,2; 108,1) von der Mosetora in exklusivem Sinne die Rede ist. Doch ist es erlaubt, die Quantität von Belegen zum Maßstab für deren Qualität zu machen? Rein quantitativ scheint diesen Belegen zufolge das Gesetzesverständnis in der Tat eher ein Randproblem des Henochbuches zu sein. Stellen wir uns aber die Frage nach der Qualität der einzelnen Stellen, sprich nach deren Gewicht im Rahmen des jeweiligen Kontextes, so ergibt sich ein völlig anderes Bild. Darüber hinaus enthält das äthiopische Henochbuch noch eine Fülle weiterer Wendungen, die zweifellos in enger Beziehung zum Gesetz stehen, ohne daß das Gesetz ausdrUcklieh erwähnt wird. Zudem sei in diesem Zusammenhang auf die Vielzahl von weisheitliehen Termini verwiesen, die zwar nicht vorschnell und völlig unkritisch in ihrer Gesamtheit für die Gesetzestradition vereinnahmt27 , aber genauso wenig pauschal von dieser abgehoben werden dürfen2B. Das Problem der Zuordnung bzw. Abgrenzung weisheillieher und gesetzlicher Traditionen innerhalb des äthiopischen Henochbuches und darüber hinaus innerhalb des Gesamtrahmens der frühjüdischen Apokalyptik, das uns im Rahmen dieser Untersuchung noch ausfUhrlieh beschäftigen wird, erfordert zweifelsohne ein äußerst differenziertes Vorgehen29. Doch
24 Siehe Rössler, Gesetz und Geschichte, 46 Anm.3.
25 Vgl. A.Dillmann, Lexicon linguae aethiopicae, Lipsiae 1865, Sp. 742 bzw. 131f., 243f.• 793f. 26 ser tozu in Bedeutung ..Gesetz": 93,4.6; 99,2; 108,1; ser cät in Bedeutung .,Ordnung der Gestime":79,1.2; 80,7; 82,9.10;; te' ezZiz. in Bedeutung ..Gesetz":5,4; te' ezäz in Bedeutung ..Ordnung der Gestirne": 2,1;33,4; 72,2.35; 73,1; 74,1; 76,14; 80,6; ferner finden sich beide ,,Begriffe" noch im Zusammenhang mit gefallenen Engeln, die Gottes Befehl übertreten haben: 18,15; 20,5; 21,6; 106,14. 27 Gegen E.J. Schnabel, Law and Wisdom, 100-112, der allzuschnell sämtliche BezUge zwischen Gesetz und Weisheit im Sinne einer Identifikation versteht. 28 Gegen U. Luck. ZThK 1976, 283-305, der die These vertritt, daß Gesetz und Weisheit in den apokalyptischen Schriften grundsätzlich unterschieden sind. 29 Siehe H. v.Lips. der im Rahmen seiner Untersuchung der weisheitliehen Traditionen des Frühjudentums und des Neuen Testaments auf vorbildliche Art und Weise zu einer Verhältnis-
Das angelalogische Buch (Kap. 1-36)
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selbst dann, wenn wir uns vor jeglicher unkritischen Identifikation zwischen Gesetz und Weisheit hUten, werden uns im Rahmen unserer Beschäftigung mit dem äthiopischen Henochbuch eine ansehnliche Menge weisheitlicher Termini begegnen, die aufs engste mit der Gesetzestradition verbunden sind. Man denke hierbei vor allem an die Rede der Tiervision vom ,,rechten Weg" (89,32) oder an Wendungen wie "Wege der Gerechtigkeit" (94,1;99,10), "Worte der Wahrheit" (99,2) etc., wie sie primär im paränetischen Buch erscheinen. Da gerade das paränetische Buch immer wieder von einer engen Verbindung zwischen Gesetz und Weisheit zeugt, die manchmal geradezu ZUge einer Identifikation trägt, ist es meines Erachtens nicht gerechtfertigt, die paränetischen Mahnungen von vomherein gegen die Gesetzesbelehrung auszuspielen 30 • Bereits diese kurzen Bemerkungen haben hoffentlich gezeigt, daß mit einem einfachen Blick in die Konkordanz die Frage nach dem Gesetzesverständnis des äthiopischen Henochbuches keinesfalls zu lösen ist. Oftmals ist ein recht langer Anmarschweg durch das Dickicht komplexer Gedankengebilde notwendig, um endlich doch ans Ziel zu gelangen.
2.2.4 Das angelologische Buch (Kap. 1-36) 2.2.4.1 Einführung Der auf den ersten Blick recht verwirrende Aufbau des angelologischen Buches hat im Laufe der Forschungsgeschichte zu einer Vielzahl unterschiedlicher Gliederungsversuche gefUhrt, bis es soweit war, daß sich zumindest in der Frage nach den größeren Überlieferungseinheiten ein weitgehender Konsens abzeichnete. Vor allem die Kaptitel 1-5 bereiteten der Forschung lange Zeit Kopfzerbrechen. Stellen diese Kapitel lediglich einen ursprUngliehen Bestandteil des angelologischen Buches dar, oder wurden sie auf der Stufe der Endredaktion als Einleitung in das äthiopische Henochbuch als Ganzes konzipiert? Da die in Qumran gefundenen aramäischen Fragmente des angelologischen Buches zeigen, daß das angelologische Buch unter Einschluß der Kapitel 1-5 bereits zu Beginn des 2. Jhs. v.Chr. als Einheit existierte3 1, scheint die These, daß die Kapitel 1-5 der Endredaktion des äthiopischen Henochbuches zuzuordnen seien, endgültig widerlegt zu sein32. Die Kapitel 1-5 stellen die thematische Einleitung in das angelologische Buch dar. Daneben bilden die Kapitel 6-11 eine eigenständige Einheit, deren ursprUngliehe Zugehörigkeit zu einem
bestimmungder Größen Weisheit. Gesetz und Apokalyptik kommt; siehe vor allem H. v. Lips, Weisheitliehe Traditionen, 3~92. 129-134.136-145.149. 30 Gegen K. Berger, Das Jubillenbuch, 280, der dort davon ausgeht. daß die Henochparlnesen kaum etwas mit dem Gesetz zu tun haben. 3l Siehe J.T. Milik, The Books ofEnoch, 5+22. 32 So H.S. Kvanvig, Roots, 85f.
Das äthiopische Henochbuch
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nicht mehr vorhandenen Noahbuch als gesichert angenommen werden kann 33 . Des weiteren begegnet uns in Kapitel 12-16 eine ursprünglich selbständige Überlieferungseinheit, worauf schon die eindeutige Zäsur zwischen Kapitel II und 12 hinweist. Tritt doch mit Kapitel 12 Renoch als zentrale Gestalt des Buches, von dem in 6-11 nicht mehr die Rede war, wieder ins Zentrum des Geschehens34. Zusätzlich tritt die Vision als Erkenntnismittel an die Stelle des Erzählstiles, der die Kapitel 6-11 prägte3S. Schließlich sei noch auf den Neueinsatt in Kapitel 17 verwiesen, das zum ersten Mal innerhalb des Renochbuches von einer Himmelsreise Renochs zu berichten weiß. Die Kapitel 17-36 stehen nun ganz im Zeichen der verschiedenen Himmelsreis'!n Renochs und bilden gleichfalls eine zusammengehörige Einheit36.
2.2.4.2 Die "Einleitungsrede" innerhalb des äthiopischen Henochbuches (Kap. 1-5)
Die Kapitel 1-5 wurden zwar ursprünglich als Einleitung in das angelologische Buch konzipiert, vieles spricht jedoch dafür, daß sie nach Abschluß der En
Das angelalogische Buch (Kap. 1-36)
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(1,4). Gilt ansonsten gerade auch in Partien innerhalb des Henochbuches Jerusalem als Zentrum der Welt und als Ort des endzeitliehen Gerichtes (z.B. 26,227 ,2), so wird hier an exponierter Stelle der Berg Sinai und damit der Ort der Gesetzgebung mit dem Endgericht verbunden39 . Die Nennung des Berges Sinai impliziert die Gabe der Tora. Ist der Sinai Gerichtsort, so ist zu erwarten, daß das Gericht gleichfalls auf die Gesetzesthematik bezogen ist. Zunächst wird diese Erwartung jedoch enttäuscht, da im Kontext der Theophanieschilderung Gottes in 1,3c-9 die Tora mit keinem Wort erwähnt wird. Das Gericht wird in den Farben eines Vernichtungsgerichtes über die Erde gezeichnet, das in seiner Terminologie sehr stark an die Sintflutvision in lHen 83,3-5 erinnert. Durch das Motiv der ,,Furcht der Wächter" erhält Gottes Gerichtshandeln zudem eine kosmische Dimension. Ferner wird durch den Hinweis auf die "Wächterengel" eine Spannung erzeugt, die dann erst im Laufe der folgenden Kapitel des angelologischen Buches, ja des gesamten Henochbuches, aufgelöst werden soll40. In 1, 7-9 wird Gottes Gerichtshandeln weiter ausgeführt. Es wird nun zwischen dem Schicksal der Gerechten und Auserwählten auf der einen und dem der Sünder und Frevler auf der anderen Seite unterschieden. Gones Gerichtshandeln ist universal, es bezieht sich auf alle Menschen und schließt somit Juden und Heiden bewußt zusammen•'. Den Auserwählten wird im Endgericht Gnade und Segen zuteil werden, die Frevler dagegen werden vertilgt42. Während mit Blick auf die Auserwählten und Gerechten mit keinem Wort darauf eingegangen wird, worin deren "Gerechtigkeit" besteht, wird unser Text mit Blick auf die Frevler und Sünder deutlicher. So heißt es in 1,9b: "Und er wird vertilgen die Frevler, und er wird alles Fleisch überführen wegen aller (Dinge), mit de-
39 Vgl. hierzu äthHen 89, 30-32; auch an dieser Stelle innerhalb der Tiervision wird die Schilderung von Gottes Theophanie mit Gottes Strafhandeln über die Schafe, die vom ,,rechten Weg" abgeirrt sind, verbunden. Zwar ist auch hier nicht explizit von der Tora die Rede, doch verbirgt sich an dieser Stelle hinter dem weisheitliehen Terminus •.Abirren vom Weg" sicherlich Ungehorsam gegenüber den Geboten der Sinaitora. 40 Steht im ,,Buch der Wächter" das Schicksal der gefallenen Engel zur Debatte, so erscheinen diese in Gestalt der Gestirne auch im astronomischen Buch wieder. 41 In äthHen 1,5-7 lesen wir: "Und alle werden sich fürchten, und die Wächter werden beben, und große Furcht und (großes) Zittern wird sie ergreifen bis an die Enden der Erde. 6 Und die hohen Berge werden erschütten, und die hohen Hügel werden sich senken, und sie werden schmelzen wie Honigwachs vor der Aamme. 7 Und die Erde wird zerbrechen, und alles, was auf der Erde (ist), wird zugrunde gehen. Und ein Gericht über alle und über alle Gerechten wird stattfinden" (zitien nach S.Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 508; Hervorhebungen von mir). 42 In äthHen 1,8f.heißt es: ,,Den Gerechten aber wird er Frieden schaffen, und die Auserwählten wird er behüten, und Gnade wird über ihnen walten, und sie werden alle zu Gott gehören, und es wird ihnen wohl gehen, und sie werden gesegnet werden, und das Licht Gottes wird ihnen leuchten. 9 Und siehe, er kommt mit Myriaden von Heiligen, damit er Gericht über sie halte. Und er wird venilgen die Frevler, und er wird alles Aeisch überfUhren wegen aller (Dinge), mit denen sie gegen ihn gehandelt und gefrevelt haben, die Sünder und Frevler" (zitien nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 509f.).
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Das äthiopische Henochbuch
nen sie gegen ihn gehandelt und gefrevelt haben, die Sünder und Frevler"43 . Ist die Ursache für die Verurteilung der Frevler und Sünder in ihrem "Handeln und Freveln gegen Gott" zu suchen, so spielen diese einen aktiven Part. Den Gerechten und Auserwählten hingegen kommt eine völlig passive Rolle zu. Von ihnen ist nur als Adressaten von Gottes endzeitlichem Heilshandeln die Rede. Ihre Gerechtigkeit besteht nicht darin, etwas zu tun, sondern alles am Ende von Gott her zu erwarten. Dieser Zusammenhang wird in 1,8 folgendennaßen ausgedrilckt: •.Den Gerechten aber wird er Frieden schaffen, und die Auserwählten wird er behüten, und Gnade wird über ihnen walten, und sie werden alle zu Gott gehören, und ~s wird ihr.en wohl gehen, l!nd sie werden gesegnet werden, und das Licht Gottes wird ihnen leuchten"44 • Kehren wir an dieser Stelle nochmals zu den Frevlern zurUck, so bleibt immer noch die Frage offen, wie diese doch recht allgemeine Aussage vom ,.Handeln gegen Gott" konkret zu füllen ist. Die Tatsache, daß Gott am Sinai Gericht hält, legt zwar die Vermutung nahe, daß die SUnde der Frevler in Vergehen gegen die Tora besteht, doch wird dies auch hier nicht ausgesprochen. Im Anschluß an diese Aussagen über Gottes Gerichtshandeln ist in den Versen 2,1-5,3 von der Schöpfungsordnung in ihrer kosmischen und irdischen Dimension die Rede. Im Mittelpunkt steht hierbei der Gedanke des Gehorsams der Schöpfungswerke gegenüber der ihnen von Gott auferlegten Ordnung. So lesen wir in 2,1: ,,Beobachtet alle Werke am Himmel, wie sie nicht ihre Bahnen ändern, die Lichter am Himmel, wie sie alle ordnungsgemäß (=entsprechend ihrer Ordnung) aufgehen und untergehen, alle zu ihrer Zeit und nicht von ihrer Ordnung abweichen"4S. Dieser Abschnitt erfüllt den Zweck, den Gehorsam der Schöpfungswerke mit dem Ungehorsam der Frevler zu kontrastieren. Der weisheitliehe Gedanke, daß es lediglich in der Menschenwelt zu Gebotsübertretungen kommt, während die Schöpfung Gottes Geboten gegenüber in Gehorsam verharrt, wird hier offenbar als BegrUndung der Anklage gegen Sünder und Frevler verwendet46. Der Hinweis auf vorbildliche Gesetzeserfüllung im kosmischen Bereich kann jedoch nur dann seine Rolle als Gegensatz zu den Vergehen der Sünder und Frevler überzeugend spielen, wenn es sich bei deren Vergehen gleichfalls um Gesetzesübertretungen handelt. Dieser Sachverhalt wird in 5,4 deutlich zum Ausdruck gebracht, wenn die in 1,9 noch recht allgemeine Rede vom "Handeln und Freveln gegen Gott" jetzt bewußt als Gesetzesübertretung ausgewiesen wird. Dort heißt es: "Aber ihr habt nicht durchgehalten und das Gesetz des Herrn nicht erfüllt, sondern übertreten und habt mit großen(= hochmütigen) und harten(= trotzigen) Worten aus eurem unreinen Mund gegen seine Majestät geschmäht. Hartherzige, ihr werdet keinen
43 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch,
S09f.
44 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, S08f. 4 S Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch. SlOf.
46 So auch Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 18.
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Frieden haben""7. Was die Lokalisation des Endgerichtesam Sinai nur vermuten ließ und was bei der ersten Beschreibung dieses Endgerichtes in 1,4-9 .noch offen blieb, wird nun in 5,4 deutlich ausgesprochen. Das Gesetz Gottes, hinter dem sich fraglos die von Gott am Sinai erlassene Mosetora verbirgt, ist und bleibt Maßstab für Gottes Urteil im Endgericht An der Stellung zur Tora entscheiden sich Heil und Unheil, Segen und Fluch. Die sich aufdrängende Identifizierung der Wendung ,.Gesetz des Herrn" mit der Mosetora läßt jedoch immer noch einen Rest von Unklarheit Ubrig, wenn es um die Frage einer weiteren Konkretion geht. Verfügt die Mosetora innerhalb der jüdischen Tradition doch Uber ein recht weites Bedeutungsspektrum, das vom Pentateuch Uber die Sammlung von Halachot bis zum universalen ,.Weltgesetz" reicht. Der Kontext dieser Zeilen, der, wie wir bereits gesehen haben, in Kap. 1 von Gottes Gerichtshandeln Uber alle Menschen und in 2,1-5,3 vom Gesetzesgehorsam der Schöpfungswerke handelt, bewegt sich jedoch so deutlich in universalen Bahnen, daß es sich nahelegt, auch das "Gesetz des Herrn" in einem universalen Sinn zu verstehen 48 . Diese Vermutung wird sich im Laufe unserer Beschäftigung mit dem Eingangskapitel und darüber hinaus mit dem angelologischen Buch in seiner Gesamtheit immer stärker bestätigen. Einen recht interessanten Versuch einer Konkretion der allgemeinen Rede vom Gesetz an dieser Stelle unternimmt Eckhard Rau, der davon ausgeht, daß es in dem Abschnitt 2,1-5,4 gerade nicht darum geht, den Gehorsam der Schöpfungswerke dem Ungehorsam der Frevler gegenüberzustellen, sondern der Ungehorsam der Frevler besteht gerade darin, daß diese die Schöpfungswerke nicht beachten. Die Nichtbeachtung des kosmischen Geschehens und seiner Zeiten weist auf die Kalenderthematik, so daß an dieser Stelle die Gesetzesübertretungen der Frevler als Außerkraftsetzung des Festkalenders zu interpretieren seien. Eine zusätzliche StUtze findet diese Interpretation noch in dem Vorwurf an die Frevler vom ,.Sprechen großer Worte", da hier mit großer Wahrscheinlichkeit eine ursprUnglieh auf Antiochus IV. Epiphanes bezogene Tradition aufgegriffen und auf die Frevler übertragen wird, die sich in Dan 7,25 findet. Auch dort wird Antiochus IV. Epiphanes Lästerung und Veränderung der Zeiten vorgeworfen 49 . Sind die Gesetzesübertretungen der Frevler in 5,4 jedoch im Sinne von Vergehen gegen den gültigen Kalender und damit gegen die Zeit-und Weltordnung zu verstehen, so ist am universalen Charakter des Gesetzesverständnisses, das diesen Zeilen zugrunde liegt, kaum zu zweifeln. Doch selbst dann, wenn wir uns diese Gedanken nicht zu eigen machen und weiterhin davon ausgehen, daß der Kontrast zwischen dem Gehorsam der Schöpfungswerke im Gegensatz zum Ungehorsam der Frevler im Zentrum des Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 513f. Siehe auch M. Limbeck, Ordnung des Heils, 63-71. 49 Siehe E. Rau, Kosmologie, 92f. 47
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Interesses stehtso, ändert dies nichts an der universalen, Welt und Kosmos verbindenden Dimension dieser Gesetzesaussage. Das Verhalten der Schöpfungswerke kann nur dann sinnvoll mit demjenigen der Frevler kontrastiert werden, wenn die Bezugsgröße dieselbe ist. Die "Ordnung", nach der sich die Schöpfungswerke richten, muß mit dem "Gesetz des Herrn", das die Frevler übertreten, aufs engste verbunden sein, damit eine sinnvolle Entgegensetzung überhaupt möglich ist.s•. Kosmische und ethische Sachverhalte gehören untrennbar zusammen. An der These des universalen, ethisches und kosmisches Geschehen verbindenden Charakters des Gesetzes führt meines Erachtens kein Weg vorbei.S2. Diese Erkenntnis widerstreitet jedem Versuch, ein spezifisch apokalyptisches Gesetzesverständnis zu postulieren, das sich dadurch auszeichnet, daß es keinerlei Interesse an Einzelgeboten, am konkreten Inhalt der Tora hat53. Kommt es in diesem Zusammenhang doch primär darauf an, die Unbedingtheit und Totalität des Gotteswillens, der ethisches und kosmisches Geschehen zusammenbindet, einzuschärfen 54. Die ganze Tora ist Gottes Maßstab im Endgericht. Die Gehorsamsforderung gegenüber ihren Geboten und Verboten ist unteilbar.s.s. Hinter dem allgemeinen universellen Gesetzesbegriff, wie er uns in 5,4 entgegentritt, verbirgt sich ein angesichts des göttlichen "ius talionis" radikalisiertes Toraverständnis. Mit Blick auf diese Stelle wäre somit der Vorwurf des ,,Nomismus" immer noch angebrachter als der Versuch, eine apokalyptische von einer nomistischen Richtung innerhalb des Frühjudentums zu trennen56. Die in 1,9 aufgeworfene Frage nach dem Grund für die Verurteilung der Sünder und Frevler im Endgericht darf also von 5,4 her als geklärt angesehen werden. Die Ursache für ihre Vernichtung besteht in ihrem mangelnden Gehorsam gegen Gottes Gesetz, das sich durch seinen universalen, Welt und Kosmos verbindenden Charakter auszeichnet. Die universale Dimension des Gesetzes
so Siehe H. v.Lips, Weisheitliehe Traditionen, 87. SI Dies geht eindeutig aus 5,2 hervor, wenn am Ende dieses Abschnittes nochmals in Geset-
zesterminologie der Gehorsam der Schöpfungswerke betont wird, bevor dann in 5,4 vom Ungehorsam der Frevler die Rede ist. Ist doch in 5,2 ausdrUcklieh davon die Rede, daß die Schöpfungswerke sich so verhalten, ..wie Gott es geboten hat". Hier wird die Gesetzesterminologie mit Blick auf den Gehorsam der Schöpfungswerke positiv verwendet, während sie dann in 5,4 mit Blick auf die Frevler in negativem Kontext erscheint. .52 Vgl. Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie, 25: •.Kosmische und ethische Sachverhalte sind dem gleichen Gesetz unterworfen. Dieses Verständnis der Toraals ethisches und zugleich kosmisches Gesetz ist als eine Weiterbildung weisheitlieber Vorstellungen unter Aufnahme von Gedanken der stoisch-platonisch geprägten Popularphilosophie zu verstehen". S3 GegenD. Rössler, Gesetz und Geschichte, 45 . .5 4 Siehe K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 124. .5.5Eine weitere Ursache für die undifferenzierte Rede von .,dem Gesetz" könnte auch darin liegen, daß der Inhalt des in der Tora Gebotenen bei den Adressaten einfach als bekannt vorausgesetzt wird; siehe Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 40. .56 Gegen die grobe Unterscheidung Rösslcrs von ,,apokalyptischem" und •.rabbinischem" Judentum.
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wird schließlich in den Versen 5, 7-9 besonders deutlich, wenn Gesetz und Weisheit eng aufeinander bezogen werden5 7 . Betrachten wir die Schlußverse von Kap. 5 etwas näher, so kommt den Auserwählten wiederum nur eine passive Rolle zu. Nirgends ist davon die Rede, daß die Auserwählten im Gegensatz zu den Frevlern die Gebote Gottes erfüllen und sich somit als gerecht erweisen. Die Auserwählten kommen lediglich als passive Empfänger der endzeitliehen Heilsgaben in den Blick. Die Weisheit ist die alles entscheidende eschatologische Heilsgabe. Der enge Zusammenhang von Weisheit und Endzeit gehört zu den besonders relevanten Weisheitsmotiven der frilhjüdischen Apokalyptik5B und wird uns im Rahmen dieser Untersuchung noch oftmals begegnen. Nach 5,8 erscheint die Weisheit als eschatologisches Heilsgut59 , die es den Auserwählten ermöglicht, von nun an ein sündloses Leben zu führen. Aus 5,8 geht eindeutig hervor, daß auch die Auserwählten in der Zeit vor Gottes Gerichtshandeln nicht frei von Sünde waren. Sie machten sich der Sünde aus ,,Pflichtvergessenheit" und "Überheblichkeit" schuldig60. Die entscheidende Frage lautet nun, wie sich die in 5,4 als Übertretung des Gesetzes qualifizierte Sünde, die zur Verurteilung der Frevler im Endgericht führt, zu der Sünde verhält, der sich nach 5,8 auch die Auserwählten in der Zeit vor dem Gericht Gottes schuldig machen und deren Wirkung erst Gott selbst mit der eschatologischen Gabe der Weisheit ein Ende setzen wird. Das In-, Mit- und Gegeneinander einer ethischen, kosmischen und eschatologischen Perspektive auf dem Boden eines universalisierten Gesetzesbegriffs sorgt zweifellos für Verwirrung und fordert unwillkürlich zu einem ,,Entwirrungs"- und Systematisierungsversuch heraus. E.P. Sanders versucht diesen scheinbaren Widerspruch dadurch aufzulösen, daß er die Übertretung des Gesetzes, von der in 5,4 die Rede ist, gerade nicht als Übertretung einzelner Gebote der Mosetora versteht61. Gebotsübertretungen im Sinne von einzelnen Tatsünden machen sich nach E.P. Sanders alle Menschen, selbst die Gerechten schuldig, so daß der Verstoß der Frevler gegen das Gesetz von qualitativ anderem Range sein müsse. Offensichtlich steht hier das Gesetz als Ganzes zur Disposition, so daß sich hinter den Frevlern eindeutig
57 Siehe auch E.J. Schnabel, Law and Wisdom, 1~112. 58 Siehe H. v.Lips, Weisheitliehe Traditionen, 87 und 170. 59 Die Auffassung, die in der Weisheit ein eschatologisches Gut sieht, knüpft offensichtlich
an eine Vorstellungen an, wie sie äthHen 40,1-3 zugrunde liegt, wenn davon die Rede ist, daß die Weisheit ihre Wohnung im Himmel nahm, da sie auf Erden keinen Platz fand. Vgl. auch äthHen 100.6, wenn es von der Endzeit heißt: .,Und die Menschen der Weisheit werden die Wahrheit sehen, und die Söhne der Erde werden die ganze Rede dieses Buches verstehen, daß ihr Reichtum sie nicht retten kann beim Sturz ihrer Sünde" (Übersetzung nach S.Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 730). 60 Übersetzung der äthiopischen Tennini nach S.Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 515. 61 Siehe E.P. Sanders, Paulus und das Palistinische Judentum, 339f: ..Es ist nicht bloß die Übertretung von Geboten, die SUnder zu ,Sündern' macht - auch die gerechten Auserwählten begehen Übertretungen".
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Apostaten verbergen62. Nimmt man Sanders Gedankengang auf, dann wäre bei den Übertretern des Gesetzes in 5,4 aller Wahrscheinlichkeit nach an Juden zu denken, die im Rahmen von Hellenisierungstendenzen in Palästina gerne bereit waren, ihre nationale Identität aufzugeben, indem sie die Tora und mit ihr den Erwählungsglauben als das identitätsstiftende Moment verleugneten. Weiß doch auch das l.Makkabäerbuch von solchen "nichtswürdigen Menschen" zu berichten, die in der Zeit des Antiochus IV. Epiphanes den ,,heiligen Bund" verließen. Sanders Interpretationsversuch vermag jedoch aus mehreren Gründen nicht zu überzeugen. So geht es im universalen Kontext von äthHen 1-5 nirgends um die jüdische Tora als Dokument der Erwählung Israels, sondern sie erscheint eindeutig als Norm des göttlichen "JUS talionis''63. Der universale Charakter des Gesetzes, wie er gerade fUr den Zusammenhang der Kapitel 1-5 bezeichnend ist, sperrt sich gegen eine "partikulare" Inanspruchnahme dieses Gesetzes als Zeichen des Bundes zwischen Gott und seinem Volk. Die gesamte Menschheit und nicht das Volk Israel ist hier im Blick. Spielt der Bundesgedanke keine Rolle, dann kann es sich bei den Übertretern der Tora in 5,4 auch nicht um Apostaten handeln, die freiwillig den Bund Gottes mit seinem Volk verlassen. Von daher wirkt auch die Unterscheidung von Sündern, die die ganze Tora und solchen, die lediglich einzelne Gebote übertreten, künstlich in den Zusammenhang eingetragen. Ist es jedoch überhaupt geboten, einen Versuch zu unternehmen, diesen scheinbaren Widerspruch aufzulösen? Einerseits wird in diesen Versen betont, daß sich Gottes Endgericht ausschließlich am Gesetzesgehorsam des einzelnen orientiert. Andererseits ist davon die Rede, daß auch die ,,Auserwählten", die das Gesetz erfüllt haben, erst durch die eschatologische Gabe der Weisheit in einen Zustand absoluter SUndlosigkeit versetzt werden. Was aus unserer Warte als "Widerspruch" erscheint, braucht zur Zeit der Entstehung dieser Zeilen keinesfalls als solcher empfunden worden zu sein. Ist die jüdische Theologie der gesamten Antike doch alles andere als ein kohärentes gedankliches System64. Der Autor dieser Zeilen hat offensichtlich ganz bewußt die Vorstellung von einer allgemeinen SUndenverfallenheil der Menschheit mit der Ansicht, daß nur unbedingter Gehorsam gegenüber dem Gesetz dazu fUhrt, daß der Mensch vor Gottes Gericht bestehen kann, kombiniert. Nur so ist es ihm möglich der freien Verantwortlichkeit des einzelnen für sein Tun (ethisches Anliegen) und der totalen SUndenverfallenheil der gegenwärtigen Welt, die nur durch Gottes Eingreifen verändert werden kann (eschatologisches Anliegen), gleichzeitig gerecht zu werden. Die starke Betonung des Gesetzesgehorsam wirkt jeglicher Vorstellung einer "billigen Gnade" entgegen, wie umgekehrt die Rede von der allgemeinen SUndenverfallenheil der Menschheit den Gedanken der Souveränität Gottes in der Weise stärkt, daß jegliches menschliche Tun dem Verdacht 62 Vgl. E.P. Sanders, Paulus und das Palästinische Judentum, 340. 63 So auch K.-H. MUIIer, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 123. 64 Siehe K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums, I.Aufl., 103.
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eines bloßen "Nomismus", der in Gefahr steht, zur Selbstrechtfertigung zu fUhren, enthoben bleibt6S. Wir begegnen hier in dem Versuch, den Gedanken einer allgemeinen SUndhaftigkeit der gegenwärtigen Welt mit der Forderung nach unbedingtem Gesetzesgehorsam zu verbinden, zweifellos einem Grundaxiom apokalyptischer Theologie. Der Rahmen, der diese Verbindung ermöglicht, ist die Eschatologie.
2.2.4.3 Die Noahtradition innerhalb des angelologischen Buches (Kap. 6-11) Mit den Kapiteln 6--11 befinden wir uns auf der ältesten Überlieferungsstufe innerhalb des angelologischen Buches66. Dies geht eindeutig aus der Art und Weise hervor, wie in diesem Traditionskomplex das Hauptthema des angelologischen Buches (zumindest seines ersten Hauptteiles), nämlich die Frage nach der Ursache des Bösen in der Welt, einer Antwort entgegengeführt wird. Hinsichtlich der Gesamtkonzeption des äthiopischen Henochbuches bleibt zu bemerken, daß die SUndenthematik der Einleitungsrede wiederaufgenommen wird. Zudem kommen von nun an die Wächterengel in den Blick, deren Schicksal in der Einleitungsrede zwar kurz angesprochen (1,5), jedoch nicht weiter ausgeführt wurde. Vom Gesetz ist in dieser Überlieferungseinheit explizit noch nicht die Rede. Die SUndhaftigkeit der Welt wird auf die Vergehen der Engel zurUckgefUhrt. Es lassen sich hierbei mehrere Arten von Vergehen unterscheiden. An erster Stelle steht der Gedanke, daß die Vermengung der Engel mit den Frauen der Menschen für alles Unheil auf der Welt verantwortlich zeichnet. Während in 6,2 von dem Wunsch der Engel, sich mit den Frauen der Menschen zu vereinigen, die Rede ist, berichtet 7,1 vom Vollzug dieses Vorhabens, bis schließlich in 9,8 dieses Tun eindeutig als SUnde ausgewiesen wird. So heißt es an dieser Stelle: "Und sie sind zu den Töchtern der Menschen auf Erden gegangen und haben mit ihnen, mit jenen Frauen, geschlafen und sich verunreinigt und mit ihnen alle SUnden offenbar gemacht''67• Kommt nach dieser Tradition durch die sexuelle Verirrung der Engel die SUnde in die Welt, so findet sich in den Kapiteln 6--11 noch eine andere Tradition, die im Verrat göttlicher Geheimnisse an die Menschen durch die Engel, die Ursache fUr das Böse in der Welt sieht. In 10,8 lesen wir: "Und die ganze Erde ist verdorben worden durch die Lehre der Werke Azaz'els, und ihm schreibe alle SUnden zu''68 . Doch wenn es darum geht, diese Lehren näher zu bestimmen, ist die 6S Der Gedanke einer allgemeinen Sündenverhaftung der Menschheit ist auch sonst im Frühjudentum, ja bereits in Texten des Alten Testamentes virulent (siehe z.B. Jer 31,3lff; Ez.36,260. Besonders innerhalb der Qumrantexte kommt es zu einer Verbindung zwischen der Vorstellung einer allgemeinen Sündenverfallenheil auf der einen und einem radikalisierten Toraverstllndnis auf der anderen Seite. Im Rahmen dieser Arbeit wird hierauf noch ausführlich eingegangen werden. 66 Zu den Datierungsversuchen möchte ich auf H.S. Kvanvig, Roots, 95ff verweisen. 6 7 Übersetzung nach S. Uhlig,Das äthiopische Henochbuch, 525. 68 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 528.
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Überlieferung keineswegs eindeutig. Während nach 7.1 an magische Praktiken zu denken ist69 und in 8,3 kosmische Geheimnisse im Mittelpunkt des Interesses stehen70, bewegt sich 8,1 in völlig anderen Bahnen, da hier eindeutig Techniken der hellenistischen Lebensweise abgelehnt werden7t. In 8,1 heißt es: .,Und Azaz'el lehrte die Menschen Schwerter und Messer, Schilde und Brustpanzer herzustellen, und er zeigte ihnen ,die Metalle' und ihre Bearbeitung, Armspangen, Schmuck und den Gebrauch der Augenschminken und der Augenverschönerung und das kostbarste und auserlesenste Gestein und allerlei Farbtinkturen. Und die Welt veränderte sich"72 • Die Ursache dafür, daß die Engellehren. die für die Sünde in der Welt verantwortlich zeichnen, so unterschiedlich bestimmt werden, liegt sicherlich in der sich wandelnden geschichtlichen Situation begründet. in der eine Tradition ausgebildet wurde. So ist die negative Bewertung hellenistischer Kulturgüter nur auf dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um Hellenisierungsbestrebungen innerhalb des Judentums verständlich 73, während das über magische Praktiken verhängte Verdikt nicht unbedingt mit Abwehr des Hellenismus in Verbindung gebracht werden muß74 . Die negative Bewertung von Totenbeschwörung und Zauberei ist schon aus dem AT bekannt7S und kann wohl als jüdisches Gemeingut bezeichnet werden. Dagegen läßt sich die Rede von falschem astrologischen Wissen als Ursache der Sünde wieder recht gut auf dem Hintergrund der frühjüdischen Auseinandersetzungen um den rechten Kalender verstehen. Die Tatsache. daß in 8,3 gerade die Beobachtung des Mondlaufes. nicht aber die des Sonnenlaufes76 als negatives Wissen erwähnt wird, ist wohl ein auffälliges Zeichen dafür, daß diese Verse nur in den Kreisen entstanden sein können, die einen solaren Kalender gegenüber einem lunaren bzw. Junisolaren eindeutig favorisieren. Neben der sexuellen Verunreinigung der Engel und deren fatschem Wtssen weiß unsere Noahtradition jedoch noch von einer weiteren Ursache des Bösen in der Welt zu berichten. Nach 7,2ff, 9,9f und 10,15 sind die aus der sexuellen Verbindung zwischen den Engeln und den Menschenfrauen hervorgegangenen Riesen für das Unheil in der Welt verantwortlich. Dies kommt am deutlichsten in 9,9 zum Ausdruck: ,.Und die Frauen haben Riesen geboren, und dadurch
69 Vers 7,1 spricht von Zaubermitteln, Beschwörungen und dem Schneiden von Wurzeln. 70 Vers 8,3 spricht neben den aus 7,1 bekannten magischen Praktiken von Stembetrachtung,
Sterndeutung und der Lehre des Mondlaufes. 71 Vgl. Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie, 21. 72 Übersetzung nach S. Uhlig. Das äthiopische Henochbuch, 521. 73 Siehe H.S. Kvanvig, Roots, 98; ferner M. Hengel, Judentum, 486-503. 74 Gegen Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 21, der gerade die Verbindung von Magie und Hellenismus herausstellt. 15 So z.B. lSam 28,3.9; eine negative Charakteristik von Zauberei tritt uns auch in der Erzählung über den Wettstreit des Mose mit den ägyptischen Zauberern in Ex 7ff entgegen. 76 Von der Sonne ist in diesem negativen Zusammenhang bezeichnenderweise nicht die Rede. Dies ist Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 21, entgangen.
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wurde die ganze Erde mit Blut und Unrecht angefüllt"77 • Eine Variation dieser Aussage findet sich in 7 .2~. Danach stellen die Riesen eine Gefahr für den Bestand der Menschheit dar, da sie den Menschen nicht nur ihre Nahrung rauben (7,3), sondern diese selbst zu bloßer Nahrung degradieren (7,4). Dieses Verhalten der Riesen zieht unwillkürlich auch ein frevelhaftes Verhalten der Menschen nach sich 7 8. Da die Menschen durch die Riesen ihrer rechtmäßigen Nahrung beraubt wurden, sehen sie sich nun ihrerseits dazu gezwungen, Gottes Gebote zu übertreten, um ihr eigenes Überleben zu sichern. Die Menschen lassen sich zu Kannibalismus und BlutgenuS hinreißen (7,5)19 . Mit diesem Verhalten erweisen sich auch die Menschen als Frevler, so daß die diesen Abschnitt abschließende Klage der Erde über die Frevler verständlich wird (7,6). Bemerkenswert ist nun die Tatsache, daß die Ursache des Bösen mit den Riesen zwar weiterhin im "metaphysischen" Bereich verbleibt, das menschliche Verhalten jedoch bei dieser Herleitung des Bösen miteinbezogen wird. Zumindest eine kleine Ahnung von der Mitverantwortung des Menschen für das Böse in der Welt ist an dieser Stelle angedeutet. Die Menschen freveln zwar nicht aus freien Stücken, aber sie freveln. Explizit ist in diesem Zusammenhang zwar nicht von Geboten Gottes die Rede, doch spricht einiges dafür, daß sich hinter der Beschreibung der Verbrechen der Engel wie auch der Riesen Anspielungen auf die jüdische Tora verbergen 80 . Zumindest in der Frage des Blutgenusses ist für jeden jüdischen Leser deutlich, daß mit dem Genuß von Blut gegen Gebote der Tora verstoßen wird. Die Noahtradition befaßt sich jedoch nicht ausschließlich mit der Frage nach dem Ursprung des Bösen in der Welt, sondern sie weiß auch ausführlich von Gottes Gerichtshandeln über die sündige Welt und einem zukünftigen Heilszustand zu berichten. In diesem Zusammenhang ist zunächst die Tatsache von Bedeutung, daß innerhalb der Kapitel 6-11 von einem zweifachen Gerichtshandeln Gottes die Rede ist. Mit dem Hinweis auf die Sintflut als Gottes Gericht über die Sündhaftigkeit der Erde in 10,2 wird auf ein Ereignis der Vergangenheit angespielt, während schon in 10,6, besonders aber ab 10,13 Gottes Gerichtshandeln eine zukünftige Größe darstellt. Es stellt sich nun die Frage, wie sich vergangenes und zukünftiges Gerichtshandeln Gottes zueinander verhalten? Die Sintflut ist hierbei nur eine Komponente, wenn es darum geht, 77
Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 525f. Mit G.Beer, Das Buch Henoch, in: APAT II, 239 halte ich die Menschen und nicht die Riesen für das Subjekt von 7,5. So auch K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 116. 79 Vgl. Jub 11,2-4. 80 So lassen sich z.B. Übereinstimmungen zwischen diesen Stellen und einigen halachischen Regeln der rabbinischen Tradition, die aus den noachitischen Geboten, wie sie sich in den priesterschriftlichen Partien der Genesis finden, abgeleitet wurden, feststellen; siehe hierzu D. Dimant, 1 Enoch 6-11: A Methodological Perspective, 323-339. Vgl. ferner Jub 7,2(}.-25, eine Stelle, an der der Fall der Wächterengel explizit mit den noachitischen Geboten verbunden wird. 78
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Gottes vergangenes Gerichtshandeln zu illustrieren. Weitere Komponenten sind die Erzählungen von Gottes Gericht über Azaz'el (10,4--6) und über die ,.Kinder der Wächter" (10,9-12). Gerade bei diesen Erzählungen fällt sofort auf, daß Gottes Gericht hier nur als vorläufiges Geschehen in den Blick kommt, dessen endgültige Bestätigung noch aussteht 81 • Gones Gerichtshandeln an den Engeln und ihren Söhnen hat in der Vergangenheit mit deren Gefangennahme begonnen und wird erst in der Zukunft seinen endgültigen Abschluß finden. Zwischen Gottes vergangenem und zukünftigem Handeln besteht mit Blick auf die Engel und Riesen ein hohes Maß an Kontinuität. Dies gilt aber auch für scic Gerichtshandeln an der Erde u!ld ihren Bewohnern. Auch hier korrespondiert Gottes vorläufiges Gerichtshandeln in der Sintflut mit dessen endgültigem Gerichtshandeln im Endgericht Dieser Zusammenhang zwischen Anfangsgeschehen und Endgeschehen wird durch 10,22 eindeutig bestätigt. Dort findet sich als Abschluß der Schilderung des zukünftigen Heilszustandes folgende Bemerkung: ,.Und die Erde wird rein sein von aller Verderbnis, von aller Sünde, von aller Strafe und von aller Qual; und ich werde nicht wieder (so etwas) über sie bringen von Generation zu Generation und bis in Ewigkeit"B2. Die Selbstverpflichtung Gottes, niemals mehr eine Flut über die Erde zu bringen, findet sich also nicht im Kontext der Sintfluterzählung, wie es eigentlich zu erwarten wäre (und aus dem Buch Genesis bekannt ist), sondern bezeichnenderweise erst als Abschluß der endgültigen, von der Zukunft erwarteten eschatologischen Erneuerung der Erde. Analog zu Gottes Gerichtshandeln verhält es sich nun auch mit dessen Heilshandeln. Gottes vergangenes Heilshandeln an Noah und seinen Söhnen erhält erst im Rahmen des Endgerichts seine endgültige Bestätigung. Erst vom Eschaton her wird sich zeigen, wer zu der Nachkommenschaft Noahs gehört, die für alle Generationen erhalten bleiben wird83. Eine universale, auf die gesamte Menschheit hin ausgerichtete Auslegung (10,1~11,2) widerstreitet einer partikularen (10,7), die auf Israel bezogen ist (10,16). Gottes zukünftiges Gerichtshandeln, das mit recht unterschiedlichen Termini beschrieben wirdB4, hat demnach entweder das Heil Israels oder das der ganzen Menschheit zum Ziel. Auf das Heil Israels hin ausgerichtet ist offensichtlich schon der Auftrag Gottes an den Erzengel Rufael in 10,7: ,.Und heile die Erde, die die Engel verdorben haben, und kündige die Heilung der Erde an, daß sie die Erde heilen, so daß nicht alle Menschenkinder umkommen durch das Geheimnisall dessen, was die Wächter ,kundgemacht' und ihre SöhBI Nach 10,4-5 ist Azaz'el zwar gefangen. gerichtet wird er nach V.6 jedoch erst am ..Tag des Gerichtes", der noch aussteht. Dasselbe gilt rur die Engelsöhne. Nach 10,13 werden auch diese erst im zukünftigen Gericht ihre endgültige Strafe bekommen. 82 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 532. BJ Siehe lthHen 10.3. 84 In äthHen 10,16 ist von der Vemichtung aller Gewalttat und vom Ende jedes Werkes der Bosheit die Rede. während in 10,20 von der Reinigung von aller Gewalttat, Ungerechtigkeit. SUnde, Gottlosigkeit und Unreinheit gesprochen wird.
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ne gelehrt haben"8S. Nur ein Teil der Menschheit soll gerettet werden, ein Teil, der sich dann leicht mit der •.Pflanze der Gerechtigkeit", eine Bezeichnung, hinter der sich zweifellos Israel verbirgt, identifizieren läßt86. Festzuhalten bleibt die Tatsache, daß Israel quasi ein ,,Produkt" des endzeitliehen Heilshandeins Gottes darstellt und nicht vorschnell mit einem zur Zeit der Abfassung dieses Textes real existierenden Israel im Sinne einer empirischen Größe gleichgesetzt werden darf. Gleichgültig, ob sich mit dem endgültigen Gerichtshandeln Gottes eine partikulare, auf das Volk Israel oder eine universale, auf die gesamte Menschheit bezogene Hoffnung verbindet, in beiden Fällen erscheint Gottes endgültiges Gericht aus dem Blickwinkel der Menschen primär als Heils- und weniger als Strafhandeln. Das Ziel dieses Heilshandeins ist entweder auf das Erscheinen der •.Pflanze der Wahrheit" und damit auf das endzeitliche Israel hin ausgerichtet (10,16) oder beinhaltet eine universale Hoffnung, die in 10,21 mit folgenden Worten ausgedrUckt wird: "Und alle Menschenkinder sollen gerecht werden, und alle Nationen werden mich verherrlichen, mich preisen, und alle werden mich anbeten"87 • Erscheinen die Menschen primär als Opfer "metaphysischer" Vorgänge88 , so ist es nur konsequent, daß auch im Rahmen von Gottes Gerichts- und Heilshandeln den einzelnen Taten des Individuums nur wenig Gewicht zukommt. So ist zwar in 10,20 davon die Rede, daß "Gewalttat", "Ungerechtigkeit", "SUnde", "Gottlosigkeit" und "Unreinheit" auf Erden einem "Tun" entspringen, trotzdem kommt hier der Mensch als "Täter" und damit als Adressat von Gottes Strafgericht kaum in den Blick. Hat es doch beinahe den Anschein, als ob es sich auch bei dieser Aufzählung weniger um Vergehen des Menschen als um ,,metaphysische" Potenzen handelt, von denen die Menschheit zu befreien ist. Der Mensch hat hier viel eher eine Statistenrolle inne, als daß er als selbständiger Akteur auf der BUhne der Handlung auftritt. Der Gedanke der Souveränität Gottes ist auch an dieser Stelle gegenüber dem der Verantwortung des einzelnen für sein Tun deutlich überbewertet.
2.2.4.4 Die Erweiterung des Noahbuches in Kapitel 12-16 Bewegten sich die Kapitel 6-11 primär in ,,metaphysischen Bahnen", so verlagert sich mit den Kapiteln 12-16 das Geschehen mehr in menschliche Gefilde. Dies zeigt sich schon daran, daß nun mit Henoch eine menschliche Gestalt ins Zentrum der Erzählung tritt, während bisher "metaphysische Potenzen" domi85 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 527f.
86 Vgl. äthHen 10,16; hier ist der zukünftige Heilszustand eindeutig auf Israel bezogen, das sich hinter der Bezeichnung ,,Pflanze der Gerechtigkeit" verbirgt; siehe S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 530 Anm. 16c. 87 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 532. 88 Siehe äthHen 10,8: "Und die ganze Erde ist verdorben worden durch die Lehre der Werke Azaz'els, und ihm schreibe alle Sünden zu" (Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch. 528).
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nierten. War im Noahbuch alles auf diese ,,Mächte" hin zugeschnitten, so daß dem Menschen weder mit Blick auf den Ursprung des Bösen noch innerhalb des Gerichts- und Heilsgeschehens eine eigenständige Rolle zukam, so ist die Situation der Kapitel 12-16 eine andere. Zu Beginn erteilen die Erzengel Henoch den Auftrag, die gefallenen Engel mit den Beschlüssen Gottes Uber ihr weiteres Ergehen zu konfrontieren (12,4-6). Der Inhalt dieser BeschlUsse und die GrUnde, die zu ihnen führten, sind mit dem, was das Noahbuch darüber berichtete, weitgehend identisch. Ein neuer Zug besteht jedoch darin, daß die gefallenen Engel Henoch bedrängen, fUr sie eine Bittschrift zu verfassen und diese in ihrem Auftrag Gott zu überreichen (13,40. Henoch gibt ihrer Bitte nach, doch Gottes Antwort, die diesem im Rahmen einer Vision zuteil wird, ist verheerend: ,,Eure Bitte wird nicht erfüllt in alle Ewigkeit, und das Gericht Uber euch wird vollendet und euch nichts gewährt"(l4,4)89 . Die gefallenen Engel sind dazu verurteilt, der Vernichtung ihrer Söhne zuzuschauen, bevor sie selbst für alle Zeiten auf Erden gebunden werden (14,50. Doch daneben wird Henoch noch eine weitere Antwort Gottes auf das Bittgesuch der gefallenen Engel offenbart. Diese Antwort wird in 15,2 mit folgenden Worten eingeleitet: "Ihr solltet für die Menschen bitten, und nicht die Menschen fUr euch''90. In den an dieses Diktum anschließenden Ausführungen werden nun jedoch weniger die gefallenen Engel und deren Söhne, die Riesen, als vielmehr die aus den toten Riesen hervorgegangenen "bösen Geister" zu den Urhebern alles Bösen auf Erden91. Diese gegenüber dem Noahbuch veränderte "Ätiologie des Bösen" stellt eine Akzentverschiebung hin zu mehr Mitverantwortung des Menschen für das Unheil auf der Erde dar. Sind doch diese Geister nicht mehr rein metaphysischer Provenienz, da sie zu gleichen Teilen himmlischen und irdischen Ursprungs sind. Dies wird in 15,12 mit folgenden Worten ausgedrUckt: "Und diese Geister werden sich erheben gegen die Menschenkinder und die Frauen, weil sie (von ihnen) ausgegangen sind"92. Diese Tendenz, den Menschen ein höheres Maß an Mitverantwortung für das Böse auf der Welt zuzuschreiben, kommt in Kapitel 12-16 nicht nur in der Erzählung von den "bösen Geistern" zum Ausdruck, sondern sie findet sich am deutlichsten in der Erweiterung, die die aus dem Noahbuch bekannte Tradition vom Verrat himmlischen Geheimwissens als Ursache der SUnde auf Erden erfahrt. So heißt es in 16,3 von den gefallenen Engeln: "Ihr seid im Himmel gewesen, aber die Geheimnisse kanntet ihr, und das habt ihr in eurer Hartherzigkeit den Frauen mitgeteilt, und durch dieses Geheimnis vermehren die Frauen und Männer das Böse auf Erden"93. In diesem Vers wird zum ersten Mal im Kontext des angelalogischen Buches die aktive Mitverantwortung der Menschen für das Böse auf Erden explizit ausge89 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 537. 90 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 542. 9t Siehe hierzu K.-H. MUIIer ,Die frUhjUdische Apokalyptik, in: Studien, 117. 92 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 544.
93 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 545.
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sprochen. Der "metaphysische" Ursprung des Bösen, der im Verrat des göttlichen Geheimwissens durch die gefallenen Engel besteht, bleibt zwar erhalten, aber dieses Geheimwissen entfaltet nicht aus eigener Kraft seine verhängnisvolle Wirkung, sondern "die Frauen und Männer'' sind hierbei aktiv beteiligt. Sind sie doch fUr eine "Vermehrung" des Bösen verantwortlich.
2.2.4.5 Benochs Himmelsreisen im angelologischen Buch (Kap. 17-19 und 20-36) Mit Kapitel 17 beginnt Henochs erste Himmelsreise, auf der er unter anderem auch an den Ort geführt wird, an dem die gefallenen Engel bis zum Endgericht gefangengehalten werden, ein Ort, von dem auch schon im Kontext des Noahbuches die Rede war. Zwar werden in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich Engel, sondern Sterne genannt, doch sind diese mit den gefallenen Wächterengeln gleichzusetzen94 • Eine solche Gleichsetzung findet sich in 18,14, wenn der Ort, an dem sich Henoch befindet, als Gefängnis für die Sterne und das Heer des Himmels bezeichnet wird. In der Antwort auf die Frage nach den Vergehen, die sich die Sterne bzw. die Wächterengel haben zuschulden kommen lassen, besteht jedoch gegenüber dem Noahbuch und seinen Erweiterungen ein bezeichnender Unterschied. Standen dort die sexuellen Vergehen der Wächterengel bzw. deren Verrat göttlicher Geheimnisse im Vordergrund, so klingt dies in Kap. 19 zwar immer noch an, doch wird diese Tradition nun eindeutig von einer anderen überlagert, die im Ungehorsam der Sterne gegen Gottes Gebot die Ursache für ihre Bestrafung sieht. Dies bringen die Verse 18,15f mit folgenden Worten zum Ausdruck: "Und die Sterne, die über dem Feuer rollen, sie sind es, die das Gebot Gottes übertreten haben vom Anfang ihres Aufgehens an, weil sie nicht zu ihrer Zeit hervorkamen. 16 Und er wurde zornig über sie und band sie ,zehntausend Jahre' bis zur Zeit der Vollendung ihrer Schuld''95 . Das Vergehen der Sterne wird an dieser Stelle ausdrtlcklich als Gebotsübertretung gebrandmarkt. Doch wie ist diese Gebotsübertretung im kosmischen Bereich näher zu bestimmen? In welchem Verhältnis steht sie zur jüdischen Tora? Eine erste Näherbestimmung der Gebotsübertretung der Sterne ergibt sich aus dem Kontext. Besteht sie doch darin, daß die Sterne nicht zu der Zeit hervorkommen, die Gott ihnen bestimmt hat. Die Sterne machen sich eines Vergehens gegen die kosmische Ordnung schuldig. Da die kosmische Ordnung untrennbar mit der Frage nach der rechten Beachtung des Kalenders verbunden ist, ist Kapitel 16 nur auf dem Hintergrund der frühjüdischen Kalenderdiskussion zu verstehen, die in einer Vielzahl apokalyptischer und der frühjüdischen Apokalyptik nahestehender Texte ihren Niederschlag gefunden hat. Der enge Zusammenhang von kosmischer Ordnung, Festterminen und Kalenderfrömmigkeit stellt ein Grundaxiom apokalyptischer Gesetzesfrömmigkeit dar. Auf 94
Siehe W, Bousset/H. Greßmann, Die Religion des Judentums, 322f.
9S Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 550.
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Das äthiopische Henochbuch
Henochs zweiter Himmelsreise wird dieser nochmals an den Gerichtsort der gefallenen Engel geführt (21,1-10), wobei das an dieser Stelle Berichtete an einigen Punkten von dem Vorherigen differiert. So werden in der Frage nach der Ursache für die Bestrafung der Sterne deren Vergehen mit dem Terminus "Sünde" belegt96, ein Terminus, der dann nochmals in der Antwort des Engels in 21,6 aufgenommen wird. In dieser Antwort des Engels wird wiederum die Tatsache, daß die Sterne Gottes Gebot übertreten haben, als Ursache für deren Bestrafung angegeben, ohne daß diese Aussage näher präzisiert würde97 . Im Gegensatz zu 18,15 ist in 21,6 nicht davon die Rede, daß die Sterne nicht zu den von Gott festgesetzten Zeiten erschien~n sind. B~zieht $ich 18,15 zweifellos auf die Kalenderproblematik, so wird in 21,6 nur ganz allgemein darauf verwiesen, daß sich die Sterne der Gebotsübertretung schuldig gemacht haben. Was sich genau hinter dieser Gebotsübertretung verbirgt, wird nicht ausgesagt und bleibt dem Verständnis des jeweiligen Lesers überlassen. Die Aussage von der Gebotsübertretung der Sterne gewinnt somit an Allgemeingültigkeit und Universalität. Zudem handelt es sich um kein einmaliges Vergehen, sondern die ,,zahl ihrer Sünde" ist noch längst nicht voll. Diese Aussage beinhaltet mit Blick auf die Zukunft ein durchaus dynamisches Element. Mit dem Hinweis auf die Gesetzesübertretung der gefallenen Engel ist nun nicht mehr ein ,,metaphysisches" Ereignis der Vergangenheit, sondern ein konkreter Verstoß gegen Gottes kosmische Ordnung für deren Verurteilung verantwortlich. Da Gottes kosmische Ordnung untrennbar mit Festzeiten und Kalender verbunden ist, haben die Gesetzesübertretungen der Engelmächte im kosmischen Bereich auch eine irdische Dimension. Kosmische und ethische Sachverhalte gehören untrennbar zusammen. Die SUnde der Engelmächte wird für jeden Juden, der selbst tagtäglich mit Gottes Geboten konfrontiert ist, nachvollziehbar. Zudem dienen die als Gebotsübertretung dargestellten Vergehen der Sterne nicht mehr als ,,Ätiologie" des Bösen in der Welt. Die verhängnisvolle Wirkung der SUnde der Sterne bleibt auf deren Ergehen beschränkt. Die Sterne sind nur noch für ihr eigenes Schicksal, nicht aber fUr das der Welt verantwortlich. Damit werden die Welt und die Menschen, die sie bewohnen, selbst dazu verpflichtet, die Verantwortung für die Folgen ihres Tuns zu übernehmen. Ferner macht die Bemerkung, daß die ,,Zahl der SUnde" der Engel noch nicht voll sei, deren GebotsUbertretung von einem einmaligen Geschehen der Vergangenheit zu einem kontinuierlichen Vorgang der Geschichte, der erst im Eschaton seinen Abschluß findet. Im kosmischen Bereich gelten die gleichen Regeln, wie sie dem Leser dieser Zeilen aus seiner eigenen Zeit bekannt waren. Himmel und Erde 96 Siehe äthHen 21,4: ,,Das sprach ich: Wegen welcher SUnde sind sie gebunden, und weswegen sind sie nach hier verstoßen?" (Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 553). 97 Siehe äthHen 21.6: "Sie gehören zu den Sternen, die das Gebot Gottes übertreten haben, und sie sind hier gebunden, bis daß zehntausend Jahre, die Zahl ihrer SUnde, vollendet sind" (Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 554).
Das angelologische Buch (Kap. 1-36)
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entsprechen sich gegenseitig. SUnde wird hier wie dort als Gebotsübertretung verstanden. Obwohl die Gebotsübertretungen der Engel noch nicht zum endgültigen Abschluß gelangt sind, hat Gott sein Urteil Uber diese schon gesprochen. Was mit den Engeln in ihrem schrecklichen Gefängnis jetzt schon geschieht, wird auch all denen bereitet werden, die sich auf Erden gegen Gottes Gesetz wenden. Diese Analogie wird in den folgenden Reisen Henochs entfaltet. Der bereits erfolgten Bestrafung der SUnde im kosmischen Bereich entspricht die noch ausstehende Bestrafung der SUnde im irdischen Bereich98 • Fahren wir in unserer Interpretation der Himmelsreisen Henochs weiter fort, so wird Henoch in Kap. 22, nachdem er den Gerichtsort der gefallenen Engel besichtigt hat, dorthin gefUhrt, wo die Seelen der gestorbenen Menschen bis zum Tage des Endgerichtes aufbewahrt werden. Kap. 22 gibt Auskunft Uber das menschliche Schicksal nach dem Tode und bringt in Vers 13 den Gedanken einer Totenerweckung zum Ausdruck. Dieser Auferstehungserwartung wollen wir uns nun etwas näher zuwenden. Nach seiner Ankunft begegnet Henoch am Gerichtsort der verstorbenen Seelen dem Geist Abels, dessen Klagen gegen seinen Bruder Kain bis in den Himmel hineindringen. Abels Geist wird erst dann seine Ruhe finden, wenn das an ihm vertlbte Unrecht gesUhnt ist, d.h. alle Nachkommen Kains vernichtet sind (22,7). Abels Geist hofft demnach auf eine endzeitliche Restitution des Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Hatte doch der traditionelle Tun-Ergehen-Zusammenhang in seiner Funktion als innergeschichtliches Ordnungsprinzip im Falle Abels versagt. Die Tat Kains zog keineswegs die ihr entsprechende Folge, nämlich den Tod Kains nach sich. Folglich ist erst vom Endgericht her ein eschatologischer Ausgleich zu erwarten. Die Frage nach der endzeitliehen Wiederherstellung eines Tun-Ergehen-Zusammenhangs, der innergeschichtlich an Kraft eingehUßt hat, steht zweifellos im Zentrum dieses Kapitels. Im Anschluß an diese Episode ist nun von unterschiedlichen Räumen fUr verschiedene Gruppen von Seelen die Rede (22,8-14). Während Vers 2 vier Aufenthaltsorte fUr die Verstorbenen nennt, weiß Vers 9 allem Anschein nach nur von drei Aufenthaltsplätzen zu berichten99 • FUr unsere Fragestellung ist jedoch lediglich die Tatsache von Bedeutung, daß die Seelen der Gerechten von den Seelen der Frevler unterschieden werden, wobei die Frevler dann nochmals in zwei Gruppen zerfallen. Auf der einen Seite stehen die Seelen der Frevler, bei denen von einem Tun-Ergehen-Zusammenhang während ihres irdischen Daseins nichts zu sehen war. Diese werden auferweckt, so daß der Tun-Ergehen-Zusammenhang eschatologisch zur Geltung gebracht wird. Von dem Geschick dieser Seelen handeln die Verse 1~ 11. Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch Frevler, bei denen der Tun-Ergehen-Zusammenhang schon zu ihren Lebzeiten eingetroffen ist. Diese Seelen sind schon gerichtet, 98 So auch Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 24. 99 Zu den Versuchen, zu einem Ausgleich zwischen diesen unterschiedlichen Aussagen zu
kommen, sei auf G.W.E. Nickelsburg, Resurrection, 137, verwiesen; siehe ferner Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 24; zudem G. Wied, Der Auferstehungsglaube, Slff.
Das äthiopische Henochbuch
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der Tun-Ergehen-Zusammenhang ist in Kraft, ein Endgericht zu dessen endzeitJicher Restitution ist nicht mehr nötig. Diese Seelen, von denen die Verse 12-13 berichten, werden deshalb fUr immer in ihren Kammern bleiben und nicht zum endgültigen Gerichtshandeln Gottes auferstehen. Analog zu Dan 12 beinhaltet auch Kap. 22 keineswegs den Glauben an eine allgemeine Totenauferstehung. Auch hier steht die Auferstehungshoffnung ganz im Dienste der Gerichtsvorstellung. Die Totenerweckung ist als Komponente des Endgeschehens zu verstehentoo. Gottes endzeitlicher Gerichtsakt ist nur dann in der Lage, Gerechtigkeit zu verwirklichen, wenn er auch die Toten, deren Leben nicht von einem funktionierenden Tun-Ergehen-Zusammenhang geprägt war, umfaßt. Die Auferstehungshoffnung, die in Kap. 22 zum Ausdruck kommt, hat ihren Platz eindeutig im Kontext der endzeitliehen Wiederherstellung des innergeschichtJich gestörten Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß das Interesse dieser Zeilen, wie auch all der anderen, die sich mit dem Gerichtsort der gestorbenen Seelen befassen (siehe z.B. Kap. 27), viel stärker auf dem Schicksal der Frevler als auf demjenigen der Gerechten liegt. Ist doch auch in 27 ,2ff wieder ausfUhrlieh vom Gericht Uber die Frevler die Rede, während die Gerechten primär als stumme Zuschauer dieses Schauspiels in den Blick kommen. An dieser Stelle wird Uber Kap. 22 hinaus die Frage nach dem konkreten Inhalt der Vergehen der Frevler thematisiert. Die konkreten Verfehlungen der Frevler bestehen darin, daß sie "in ihrem Munde ungehörige Worte fUhren" und "über seine Herrlichkeit Schlimmes hören lassen"tOt. Die Verfehlungen der Frevler werden an dieser Stelle zwar nicht ausdrücklich als ToraUbertretungen gekennzeichnet, doch findet sich, wie wir bereits gesehen haben, im Rahmen der Einleitungsrede zum angelologischen Buch in 5,4 eine enge Verbindung zwischen dem Vorwurf der ,,Lästerung" und dem Ungehorsam gegenüber den Geboten des Gesetzestoz. Werfen wir nun noch einen kurzen Blick auf die restlichen Kapitel des angelologischen Buches, so haben die Gerechten ihren Status als Gerechte nicht der Tatsache zu verdanken, daß sie untadelig in der Gesetzeserfüllung waren, sondern dieser Status ist einzig und allein ein Geschenk der Barmherzigkeit Gottes (27,4). Kontrastierend zu der Gerichtsthematik, die die Kapitel 22-23 und 27 bestimmt, wird in den Kapiteln 24-26 ein Bild all dessen entworfen, was den Gerechten bzw. den Auserwählten nach dem Gerichtsakt Gottes zuteil werden soll. Bei der Beschreibung der Heilszeit spielt die Tradition vom "Paradies" eine große Rolle. In Aufnahme der ,,Paradiestradition" steht der Baum des Lebens im Mittelpunkt des Interesses. Seine Frucht wird den Auserwählten übergeben werden, damit sie- analog zu den Vätern der Urzeit- ein Siehe G. Wied, Der Auferstehungsglaube. 83. Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch. 563. Eine Verbindung zwischen Lästerung und Veränderung der Zeiten, d.h. Außerkraftsetzung des Festkalenders findet sich auch in Dan 7 ,25. Don werden diese Vergehen Antiochus IV. Epiphanes vorgeworfen. 100 101 102
Das angelologische Buch (Kap. 1-36)
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langes Leben ihr eigen nennen. Die Heilszeit entspricht der in paradiesischen Farben gemalten Urzeit, in der sich die Erde frei von allem Leid präsentierte (25,50. Aber nicht nur die einzelnen Individuen werden als Auserwählte dieses Heilszustandes teilhaftig werden. Auch das Volk Israel in seiner Gesamtheit kann nach 26,1 hoffen, zu den Auserwählten zu gehören. So heißt es: "Von dort ging ich zur Mitte der Erde, und ich sah einen gesegneten, fruchtbaren Ort, , wo es Bäume gab' mit treibenden Zweigen, und sie sproßten aus einem abgehauenen Baum"IOJ. Ist doch dieser Vers sicherlich so zu verstehen, daß Jerusalem als die Mitte der Welt bezeichnet wird und Israel sich hinter dem treibenden Zweig, der aus dem abgehauenen Baum hervorwächst, verbirgt. Die gesamtisraelitische Heilsperspektive, die hier zum Ausdruck kommt, ist nicht zu Ubersehen. Parallel zu dem in diesen Kapiteln ausgeführten Bild vom paradiesischen Heilszustand der Auserwählten nach dem Gericht findet sich noch das Bild vom "Garten der Gerechtigkeit" (32,3--6). Hier steht nun nicht der Baum des Lebens, sondern der Baum der Weisheit im Zentrum der Geschichte. Dieser Baum der Weisheit erscheint jedoch eher in negativem Licht. Der Erzengel Rufael umschreibt diesen in 32,6 mit folgenden Worten: ,,Dies ist der Baum der Weisheit, von dem dein alter Vorfahre und deine alte Vorfahrin, die vor dir waren, gegessen haben und Weisheit kennenlernten, und ihre Augen wurden geöffnet, und sie erkannten, daß sie nackt waren, und sie wurden aus dem Paradies vertrieben"I04. Die Weisheit wird hier im Gegensatz zu vielen anderen Stellen apokalyptischer Texte, in denen sie in höchstem Maße positiv gezeichnet wird, als gefährliche Größe dargestellt, die fUr die Vertreibung aus dem Paradies, fUr den Verlust des heilvollen Urzustandes verantwortlich war. AmEnde des angelologischen Buches wird ausdrücklich darauf verwiesen, daß Henoch in kosmisches Geheimwissen eingeführt wird. Dieser Vorgang wird in 33,3-4 mit folgenden Worten umschrieben: "Und ich sah, wie die Sterne des Himmels hervorkamen, und ich zählte die Tore, aus denen sie herausgingen, und schrieb alle ihre Ausgänge auf, von jedem einzelnen (besonders) nach ihrer Zahl und ihren Namen, nach ihrer Verbindung, ihrer Position, ihrer Zeit und ihren Monaten, wie (es) mir der heilige Engel Uriel, der bei mir (war), zeigte. 4 Alles zeigte er mir und schrieb es mir auf, und auch ihre Namen schrieb er mir auf, ihre Gesetze und ihre Ansammlungen"JOs. Das kosmische Geheimwissen, das Henoch durch den Engel Uriel offenbart wird, ist nach diesen Versenl06 dafUr verantwortlich, daß die durch die gefallenen Engel bzw. Sterne gestörte Gesetzes- und Kalenderobservanz wiederhergestellt werden kann 107. So schließt sich der Kreis. Am Ende des angelologischen Buches wird nochmals deutlich zum Ausdruck gebracht, daß kosmische und ethische Sachverhalte dem glei103
Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 562.
104 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 569. lOS Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 569.
106 Siehe auch äthHen 36,1-4. 107
Siehe M. Hengel, Judentum, 377f.
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Das äthiopische Henochbuch
chen Gesetz unterworfen sind, so daß eine Veränderung in einem Bereich nicht ohne Auswirkungen auf den anderen bleiben kann 108. Diese Thematik wird im Rahmen der Henochsammlung noch weit ausführlicher zur Sprache kommen. 2.2.4.6 Zusammenfassung
Lassen wir am Ende dieses Kapitels die Kerngedanken der einzelnen Überlieferungseinheiten, aus denen das angelologische Buch zusammengesetzt ist, kurz an uns vorüberziehen, so läßt sich in bezug auf die Gesetzesthematik folgendes festhalten. Die Einleitungsrede bewegt sich durch ur.d durch in univen;ellen Bahnen. Gottes Gerichtshandeln, der Gehorsam der Schöpfungswerke, die Weisheit und das Gesetz sind universale Größen. Der universale Charakter des Gesetzes, der sich gegen jede "partikulare" Inanspruchnahme sperrt, kommt vor allem in der irdisches und kosmisches Geschehen verbindenden Dimension des Gesetzes zum Ausdruck. Die These eines universalen, ethische und kosmische Sachverhalte verbindenden Gesetzesverständnisses, ist nicht in dem Sinne mißzuverstehen, daß keinerlei Interesse an Einzelgeboten, am konkreten Inhalt der Tora besteht. Die ganze Tora ist Gottes Maßstab im Endgericht Die Gehorsamsforderung gegenüber ihren Geboten ist absolut. Hinter dem universellen Gesetzesbegriff der Einleitungsrede verbirgt sich ein angesichts des göttlichen "ius talionis" radikalisiertes Gesetzesverständnis. Der aus heutiger Sicht wohl nur als "unmögliche Möglichkeit" zu bezeichnende Versuch, dieses radikale Gesetzesverständnis mit der Überzeugung der allgemeinen Sündhaftigkeit der Menschheit zu verbinden, steht zweifellos im Zentrum des angelologischen Buches. Die Gesetzesthematik, wie sie uns in der Noahtradition (6-11), in deren Erweiterungen (12-16) und in Henochs Himmelsreisen (17-19; 20-36) entgegentritt, ist fest in diesem Spannungsfeld verankert. Der Gedanke der SUndenverfallenheit der gegenwärtigen Welt und die Lehre von der freien Verantwortlichkeit des einzelnen für sein Tun bilden die beiden Pole, um die sich alles dreht. Die unterschiedlichen Versuche, die sich in diesen Überlieferungseinheiten finden, die Ursache des Bösen in der Welt zu ergründen, unterscheiden sich vor allem darin, in welchem Maße sie dem Menschen eine Mitverantwortung an der SUndhaftigkeit der Welt zuerkennen. Zwar halten sowohl das Noahbuch als auch dessen Erweiterungen primär an einem ,,metaphysischen" Ursprung des Bösen fest, doch auch hier betritt bereits mit derleisesten Überzeugung von einer Mitverantwortung des Menschen für das Böse in der Welt, sofort die Tora die BUhne des Geschehens. Auf der Suche nach den Ursachen fUr das Böse ist somit ein Weg beschritten, der zwar an dem Gedanken der radikalen SUndenverfallenheit der gegenwärtigen Welt festhält, im gleichen Atemzug jedoch auch die Lehre von der freien Verantwortlichkeit ei108 So besonders Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 24f.
Die Bilderreden
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nes jeden für sein Tun immer stärker herausstellt. Im Noahbuch und in dessen Erweiterungen werden wir zu einem recht frUhen Zeitpunkt der apokalyptischen Traditionsbildung Zeuge einer gefährlichen Gratwanderung, wie sie uns auch an anderen Stellen der apokalyptischen Literatur, aber auch in Teilen der Qumranschriften begegnet. Zum einen erfährt in diesem Zusammenhang der SUndengedanke eine so starke Ausweitung, daß er in der Lage ist, die gegenwärtige Welt als völlig heillos zu charakterisieren. Diesem Verhängnisgedanken entspricht dann eine Eschatologie, die alles Heil einzig von Gott her erwartet. Zum anderen darf der Gedanke eines allgemeinen Sündenverhängnisses jedoch nicht so stark überstrapaziert werden, daß er jegliches verantwortliches Tun des Menschen verhindert. Soll der apokaylptische Gerichtsgedanke nicht zu einem bloßen göttlichen Willkürakt verkommen, muß die menschliche Entscheidungsfreiheit gewahrt bleiben. Im Kontext der Entscheidungsfreiheit des einzelnen ist der Gesetzesgedanke fest verankert. Dieses paradoxe ,,Zugleich" von SUndenverfallenheit und mit der Tora verbundener Entscheidungsfreiheit des einzelnen läßt sich in Ansätzen bereits in der recht alten Noahtradition und deren Erweiterungen feststellen,wenn auch der Verhängnisgedanke noch deutlich überbetont ist. Bewegten sich das Noahbuch und seine Überarbeitungen- wenn auch nicht ausschließlich, so doch über weite Strecken hinweg - in der Frage nach dem Ursprung des Bösen in ,,metaphysischen" Bahnen, so wird diese Argumentation in dem Bericht von Henochs Himmelsreisen durchbrachen. Mit dem Hinweis auf die Gesetzesübertretungen der Sterne (bzw. der Engel) zeichnet zumindest für den kosmischen Bereich kein "metaphysisches Ereignis" der Vergangenheit, sondern ein konkreter Verstoß gegen Gottes "Schöpfungsordnung" für die SUnde verantwortlich. Der Verhängnisgedanke erfährt somit eine deutliche Einschränkung. Da Gottes kosmische Ordnung untrennbar mit Festzeiten und dem Kalender verbunden ist, haben kosmische Sachverhalte auch eine irdische, sprich ethische Dimension. Ein enger Zusammenhang von kosmischer und irdischer Gesetzlichkeit ist bereits für den angelologischen Teil des äthiopischen Henochbuches bezeichnend. 2.2.5 Die Bilderreden
2.2.5.1 Einfiihrung Die Bilderreden 109 galten der Forschung schon immer als recht fremdartiges TextstUck, das sich nur unter großen Schwierigkeiten in den Zusammenhang des äthiopischen Henochbuches einordnen läßt110. Vor allem die Tatsache, daß 109
Die Bezeichnung •.Bilderreden" richtet sich nach 37,5: ,,Drei Bilderreden wurden mir zuteil"; vgl. ferner 68,1, eine Stelle, an der vom •.Buch der Parabeln" die Rede ist. IIO So S. Uhlig. Das äthiopische Henochbuch. 573; siehe auch G. Schimanowskl, Weisheit und Messias, 153f.
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Das äthiopische Henochbuch
die Bilderreden eine große Anzahl einzelner Termini und Wendungen enthalten, die sich nur hier und sonst an keiner anderen Stelle innerhalb des äthiopischen Henochbuches finden 111 , wird immer wieder gegen eine ursprungliehe Zugehörigkeit der Bilderreden zum äthiopischen Henochbuch ins Feld geführt. Die alte Diskussion um diese Frage hat schließlich durch die Entdeckung zahlreicher aramäischer Fragmente des Henochbuches in Qumran zusätzlich an Brisanz gewonnen. So wurden in Qumran, wie wir bereits an anderer Stelle dieser Untersuchung bemerkt haben, aramäische Fragmente zu allen Partien des äthiopischen Henochbuches mit Ausnahme gerade der Bilderreden gefunden. Da an Stelle der Bildem-.-den in ~inigen aramäischen Henochfragmenten Teile eines •.Buches der Giganten" auftauchen, ist die Vermutung, daß dieses •.Buch der Giganten" einen ursprungliehen Teil des äthiopischen Henochbuches darstellt, der dann in nachchristlicher Zeit von den Bilderreden ersetzt worden ist112, nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Dennoch wird dieses "argumentum e silentio" in der gegenwärtigen Diskussion oftmals überstrapaziert. So ist das Faktum, daß die Bilderreden in den aramäischen Fragmenten des äth. Henochbuches fehlen, für sich genommen sicher noch kein ausreichender Beweis gegen deren ursprüngliche Zugehörigkeit zum Henochbuch. Ist doch die Überzeugungskraft dieser These an die Annahme eines festumrissenen ,,Henoch-Pentateuchs" gebunden, eine Annahme, die sich in dieser Form nicht erweisen läßt. Die, neben anderen vor allem von Milik vertretene These, daß um 400 n.Chr. ein christlicher griechischer Henochpentateuch den qumranischen verdrängt habe 11 3, wobei das "Buch der Giganten" durch die Bilderreden ersetzt wurde, krankt bereits an dem Faktum, daß in Qumran mehr als fünf Henachschriften belegt sind 114 . Zudem spricht die enge Verwandtschaft zwischen der Terminologie der Bilderreden und derjenigen einiger Qumranschriften dafür115, daß auch die Bilderreden in qumranischer Zeit abgefaSt wurden. Aus diesen Gründen, die sich leicht noch um einige weitere vermehren ließen116, sind wir meines Erachtens gezwungen, bis zum eindeutigen Beweis des Gegenteils an der ursprungliehen Zugehörigkeit der Bilderreden zum äthiopischen
111 In diesem Zusammenhang sei auf die Gottestitel •.Herr der Geister" .•.Haupt der Tage". ,,Herr der Mächtigen", •.Herr der Reichen" oder ,,Herr der Weisheit" verwiesen; ferner bereitet das Verständnis der •.Messiasprädikate" ,,Erwählter", ..Gerechter", •.Menschensohn", und •.Messias" große Probleme. 11 2 So J.T.Milik, The Books of Enoch. 57f.; 89-100; dagegen S.Uhlig, Das äthiopische Henochbuch. 469. 113 So.T.Milik, The Books of Enoch, 57f.; 89-100. 114 Über die Schriften des ,,Henochpentateuchs" hinaus kennen die Qurnranschriften z.B. ein ,,Buch Noah" (siehe DJD I, 1955, 84ff ). 115 Siehe hierzu J.C. Greenfield/M.E. Stone, HThR 1977, 56f. 116 Ferner gibt es einige Anhaltspunkte dafür, daß auch die Bilderreden ursprünglich in aramäischer Sprache abgefaßt worden sind; siehe S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 574.
Die Bilderreden
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Henochbuch festzuhaltenll 7 . Mit dieser Entscheidung haben wir uns auch in der Datierungsfrage dieses Textes in gewisser Weise festgelegt. Gehören die Bilderreden zur ursprünglichen Henochsammlung hinzu, so ist eine Entstehung erst in christlicher Zeit ausgeschlossen 118 • Die Bilderreden sind wohl eine genuin jüdische Schrift119, deren Grundbestand aller Wahrscheinlichkeit nach im 1.Jh. v.Chr. verfaßt wurde. Die Endredaktion der Bilderreden ist wohl ins l.Jh. n.Chr. zu datierenl2o.
2.2.5.2 Der Aufbau der Bilderreden Die Bilderreden wirken zum großen Teil recht ungeordnet. Die Ursachen hierfür liegen wohl in den komplexen Überlieferungsverhältnissen dieser Schrift begründet, die immer noch nicht ausreichend erhellt sind. Nach den ziemlich fruchtlosen Versuchen in der Vergangenheit, die überlieferungsgeschichtlichen Probleme dieser Schrift mit Hilfe der Quellenscheidung zu lösen 121, versprechen die in der Gegenwart vermehrt unternommenen traditionsgeschichtlichen Untersuchungen zu einzelnen Vorstellungskomplexenl22 innerhalb der Bilderreden bedeutend größere Aussicht auf Erfolg 123 .Doch auch hier bleibt noch viel zu tun. Bei dieser recht unübersichtlichen Forschungslage bietet es sich meines Erachtens an, die Bilderreden als in sich geschlossenes Ganzes ernst zu nehmen 124 . Der Text in seiner uns vorliegenden Endfassung läßt sich in drei Hauptteile, einen Anhang und eine Einleitung gliedern. Auf eine Einleitung, die die Verse 37,1-5 umfaßt, folgt der Hauptteil der Bilderreden, der aus drei ,,Parabeln" (38,1-44,1; 45,1-57,3; 58,1-69,29) besteht. Dieser Hauptteil wird dann durch einen Anhang in 70,1-72,17 abgeschlosseni2S.
2.2.5.3 Das Einleitungskapitel zu den Bilderreden (Kap. 37, 1-5) Die Einleitung zu den Bilderreden weist diese als "Vision der Weisheit" (V. 1) bzw. als "Weisheitsrede" (V. 2) aus. Der gesamte Inhalt der Bilderreden wird 11 7 So z.B. auch S.Uhlig. Das äthiopische Henochbuch, 575; ferner J.J. Collins, The Apocalyptic Imagination, 142f. ll8 Zu der Vielzahl von Gründen. die für eine Frühdatierung sprechen sei auf S.Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 574f verwiesen. 11 9 Siehe U.B. Müller, Messias und Menschensohn, 36-60. 120 Siehe G. Schimanowski, Weisheit und Messias, 155; 0. Plöger, Theokratie, 37~8; S.Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 575. 121 Während R.H. Charles zwei Quellen unterscheidet, versucht G.H. Dix sechs Quellen herauszuarbeiten. 122 So z.B. die Menschensohnvorstellung, die noachitischen Stücke etc. 123 Siehe z.B. J. Theisohn, Der auserwählte Richter, 1975. 124 So auch G. Schimanowski, Weisheit und Messias, 156. 125 So S.Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 573 (bei der Abgrenzung des dritten Hauptteils liegt mit 69.3 offensichtlich ein Druckfehler vor); siehe ferner G. Schimanowski, Weisheit und Messias. 156 Anm. 8; siehe zudem J.J. Collins, The Apocalyptic Imagination, 143f.
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bereits in der Einleitung dem Terminus "Weisheit" subsumiert. Lassen wir den Inhalt der Bilderreden kurz an uns vorüberziehen, so geben diese einen Einblick in die Abläufe der kommenden Geschichte. Der "verstehende Aspekt" der Weisheit wird analog zum weisheitliehen Teil des Buches Daniel besonders betont. Die Weisheit erscheint als ,,mitteilende Weisheit", die dem Adressaten der Bilderreden Auskunft über den zukünftigen Geschichtsverlauf vermittelt 126 . Nach Vers 4 gründet diese Art von "Weisheit" ausschließlich in Gott selbst. Dort heißt es: ,,Bis jetzt ist solche Weisheit (noch) nicht von dem Herrn der Geister gegeben worden, wie ich empfangen habe entsprechend meinem Verständnis, entsprechend dem Willen des Herrn der Geister, von dem mir der Anteil des ewigen Lebens gegeben wurde"127 • Im Kontext der Bilderreden wird die "Weisheit" hauptsächlich als Gabe Gottes verstanden, die dem Offenbarungsempfänger Einblick in die Geheimnisse des zukünftigen Geschichtsverlaufs gewährt. Die "Weisheit" wird ausdrücklich als Gegenstand der Offenbarung, nicht als deren Voraussetzung verstanden128.
2.2.5.4 Die erste Bilde"ede (Kap. 38,1-44,1) Die erste Bilderrede setzt mit einem Ausblick auf das von der Zukunft her erwartete Gerichtshandeln Gottes ein (38,1-6). In der Gegenwart ist die "Gerechtigkeit" verborgen. Die "Gemeinde der Gerechten" ist von den "Sündern" nicht zu unterscheiden. Der traditionelle Tun-Ergehen-Zusammenhang hat in seiner Funktion als innergeschichtliches Ordnungsprinzip versagt. Folglich ist erst vom Endgericht her ein eschatologischer Ausgleich zu erwarten. Die Hoffnung der Gerechten speist sich einzig und allein aus der Zukunft. Gottes endzeitliches Gerichtshandeln wird den innergeschichtlich kraftlos gewordenen Tun-Ergehen-Zusammenhang wiederherstellen und die Gerechtigkeit der Gerechten sowie die Sündhaftigkeit der Sünder offenbar machen. Folglich wird erst am Ende der Tage, quasi als ,,Frucht" von Gottes endzeitlichem Gerichtshandeln die Gerechtigkeit erscheinen (38,2). Die Gerechtigkeit selbst ist eng an die menschlichen Taten gebunden. Die "Werke" des einzelnen, die im Rahmen von Gottes endzeitlichem Gerichtshandeln auf einer Waage gewogen werden (38,2), entscheiden über dessen Ergehen. Die "Werke" selbst werden sowohl in ihren positiven als auch negativen Ausprägungen kaum näher erläutert. Nach 38,2 bestehen die negativen "Werke" der Sünder vor allem darin, daß sie "den Herrn der Geister verleugnet haben"l29 • Noch weitaus spärlicher sind die Nachrichten über die "Gerechten". Nach 38,3 besteht der Lohn der Gerechten in der endgültigen Offenbarung von Geheimnissen, wie sie in der Gegenwart lediglich dem Verfasser der Bilderreden zuteil wurden. Zudem kommt den Gerech126 Siehe
hierzu v. Lips. Weisheitliehe Traditionen. 129f.
127 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 576. 128 Im Gegensatz hierzu ist ein Leben gemäß der Weisheit im 4. Esrabuch und der syrischen Baruchapokalypse die Vorausetzung des Offenbarungsempfangs. 129 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 577.
Die Bildeneden
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ten eine aktive Rolle im Endgeschehen zu. Sie sind die ausführenden Organe von Gottes endzeitlichem Gerichtsspruch. Alle Appelle an Gottes Gnadenhandeln, an dessen Bannherzigkeil sind angesichts des Endgerichts nutzlos. Die Zeit nach dem Endgericht wird gleichfalls nur ganz allgemein charakterisiert. In der Tradition alttestamentlicher Herrschaftskritik wird der Besitz von Macht und Herrschaft für alle Zeit ausgeschlossen. In Kap. 39,1-14 setzt Henochs himmlische Vision mit einer Beschreibung der himmlischen Wohnungen der Engel und Gerechten ein. Die Gerechten zeichnen sich vor allem durch ihre Fürbitten für die Menschenkinder aus (V. 5). Im Zentrum dieses himmlischen Reiches steht die Gestalt des ,,Erwählten", der vor allem durch "Gerechtigkeit" und "Treue" charakterisiert wird (V. 6). Im Himmel ist alles, was auf Erden noch geschehen wird, bereits vorab abgebildet. Nach einigen Aussagen über die vier Erzengel (Kap. 40,1-10) wendet sich Henoch erneut dem Endgeschehen zu. Die Verse 41,1-2 greifen auf Kap. 38 zurück. Das, was Henoch in Kap. 38 als zukünftiges irdisches Geschehen prophezeit, hat im Himmel bereits Gestalt angenommen. Henochs Erkenntnisse bleiben jedoch nicht auf den Ablauf der Geschichte beschränkt. Darüber hinaus erhält er auch Einblick in das kosmische Geschehen. So ist auch der kosmische Bereich einer gewissen Gesetzmäßigkeit unterworfen. Analog zum irdischen Bereich sind auch die Gestirne, ja selbst Naturgewalten wie Wind, Regen, Blitz und Donner dazu verpflichtet, den kosmischen Gesetzen gegenüber gehorsam zu sein. Der Gesetzesgehorsam der kosmischen Gewalten wird mit denselben Termini belegt, wie sie uns auch im Zusammenhang der Frage nach dem Gehorsam Israels gegenüber der Mosetora begegnen. In 41,5 lesen wir: "Und ich sah die Vorratskammern der Sonne und des Mondes, aus denen sie hervorkommen und wohin sie zurückkehren, und ihre Rückkehr ist herrlich; (ich sah,) wie eines Vorrang gegenüber dem anderen hat und (wie) ihre Bahn prächtig (ist) und sie ihre Bahn nicht verlassen, nichts hinzufügen und ihre Bahn nicht verkleinern, (wie) einer dem anderen die Treue bewahrt, indem sie bei dem Bund bleiben" 13°. Der kosmische Bereich ist einer ewigen, unveränderlichen Ordnung unterworfen. Der Gehorsam von Sonne und Mond im kosmischen Bereich wird mit ihrer Bundestreue begründet. Vergleicht man diese Stelle mit anderen apokalyptischen, bzw. der Apokalyptik verwandten Texten, die sich ebenfalls mit dem Lauf von Sonne und Mond beschäftigen, so fällt auf, daß der Sonne in 41,5 kein eindeutiger Vorrang gegenüberdem Mond eingeräumt wird. Beide Größen werden in ihrer Bedeutung für die kosmische Ordnung nahezu gleichgestellt. Zwar weist auch diese Notiz sicherlich auf das weite Feld frühjüdischer Kalenderspekulationen, doch ergibt sich hier ein völlig anderes Bild, als wir es vom astronomischen Henochbuch, dem Jubiläenbuch und den Texten der Qumrangemeinde her gewohnt sind. Während diese Texte einem Kalender das Wort reden, der sich primär an der Sonne orientiert, vertreten die Bilderre-
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Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 583.
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Das äthiopische Henochbuch
den allem Anschein nach einen lunisolaren, an Sonne und Mond gleichermaßen ausgerichteten Kalender. Diese Differenz in der Kalenderfrage unterscheidet die Bilderreden von anderen Schriften der frühjüdischen Apokalyptik und ist unter Umständen dafür verantwortlich, daß die Bilderreden in Qumran nicht rezipiert wurden 131. Die Tatsache, daß auch die Bilderreden des äthiopischen Henochbuches von einem engen Zusammenhang zwischen der kosmischen Ordnung auf der einen und der die irdische Ordnung garantierenden Sinaitora auf der anderen Seite ausgehen, kommt schließlich in 41,8 klar zum Ausdruck: ,,Denn die Sonne macht viele Umdretaungen z:um Segf'!n und ZUJll Fluch, und die Bahn des Mondes ist für die Gerechten Licht und für die Sünder Finsternis - im Namen des Herrn, der (eine Trennung) geschaffen hat zwischen Licht und Finsternis und die Geister der Menschen geschieden hat und die Geister der Gerechten gestärkt hat im Namen seiner Gerechtigkeit" 132 . Vers 8a ist ganz deutlich als Anspielung auf das Deuteronomium (Dtn 28) zu verstehen. Verheißt das Deuteronomium denjenigen, die die Mosetora tun, Segen und belegt diejenigen, die die Tora übertreten, mit einem Fluch, so gilt dieses Prinzip nach unseren Versen auch für den kosmischen Bereich. Da der Gehorsam des Mondes gegenüber den kosmischen Gesetzen auch für die Frage nach der ethischen Qualifizierung als Gerechter bzw. Sünder im irdischen Bereich von Bedeutung ist, begegnet uns an dieser Stelle eine enge Verquickung irdischen und kosmischen Geschehens, wie sie uns auch im Danielbuch und anderen Teilen des äthiopischen Henochbuches begegnet. Diese enge Verquickung kosmischen und irdischen Geschehens zeigt sich schließlich noch darin, daß sich nach 43,1-4 auch die kosmischen Gewalten vor Gottes endzeitlichem Gericht verantworten müssen: "Und ich sah die gerechte Waage, wie sie (darauO gewogen wurden nach ihrem Licht, nach der Weite ihrer Räume und dem Tag ihres Aufgehens, und (ich sah, wie) ihre Umdrehung den Blitz erzeugt, (und ich sah) ihren Umlauf entsprechend der Zahl der Engel und (wie) sie sich untereinander ihre Treue bewahren"l33. Die "Werke" der Gestirne, die in ihrer Treue gegenüber den Gesetzen, die den Kosmos regieren, bestehen, werden auf einer "Waage" gewogen und entscheiden Uber Heil oder Verdammnis im Endgericht Der kosmischen Gesetzlichkeit eignet analog zur irdischen Gesetzlichkeit gleichfalls eine ethische Qualität. Aus dem Kontext der Kapitel 41-44, die sich primär mit der kosmischen Ordnung befassen, fällt Kap. 42 heraus. Kap. 42 hat erneut die "Weisheit" zum Thema und wurde wohl erst nachträglich in diesen Zusammenhang eingefügt134. Vergegenwärtigen wir uns zunächst den genauen Wortlaut des Textes: ,,Die Weisheit fand keinen Platz, wo sie wohnen konnte, da hatte sie eine 131 Siehe J.C. Greenfield and M.E. Stone, HTR 1977. 51-65. l32 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 583f. 133 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 584f.
134 Siehe H. v.Lips, Weisheitliehe Traditionen, 174.
Die Bilderreden
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Wohnung in den Himmeln. 2 Die Weisheit ging aus, um unter den Menschenkindern zu wohnen, und sie fand keine Wohnung; die Weisheit kehrte an ihren Ort zurtick und nahm ihren Sitz unter den Engeln. 3 Und die Ungerechtigkeit kam hervor aus ihren Kammern: die sie nicht suchte, fand sie, und wohnte unter ihnen, wie der Regen in der Wüste und wie der Tau auf dem durstigen Land"IJS. Die "Weisheit" erscheint hier als "verborgene", ja als "entschwundene" Größe, die für den Menschen nicht mehr erreichbar ist. Das Entschwinden der Weisheit ist in apokalyptischem Kontext ein sicheres Anzeichen dafür, daß die Endzeit bereits angebrochen ist (siehe syrBar 48,36; IV Esr 5,9f; 14, 15ff; äthHen 94,5). Mit dem Verschwinden der Weisheit geht folglich ein Überhandnehmen der Ungerechtigkeit einher. Anders als in der Weisheitsliteratur, für die die Drohung mit dem Fernsein ein immerwährendes Faktum darstellt136, fügt die Apokalyptik das Entschwinden der Weisheit in einen geschichtlichen Ablauf ein 137• Von daher ist bereits an dieser Stelle die Hoffnung auf eine Wiederkunft dieser Weisheit impliziert. Die zukünftige Heilszeit wird der Weisheit wieder zu ihrem angestammten Recht verhelfen. Die Weisheit erscheint dann als eschatologische Gabe der Heilszeit
2.2.5.5 Die zweite Bilderrede (Kap. 45,1-57,3) Auch die zweite Bilderrede setzt analog zur ersten Bilderrede mit einem Ausblick auf das endzeitliche Schicksal der Sünder und Gerechten ein. Wiederum werden die Ausführungen über das Schicksal der Sünder und Gerechten (bzw. Erwählten) aufs engste mit den Aktivitäten der himmlischen Gestalt des ,,Erwählten" verbunden. Diese Gestalt, die uns bereits im Rahmen der ersten Bilderrede begegnet ist (39,6; 40,5), tritt nun mehr und mehr ins Zentrum des Geschehens. Während die I. Bilderrede jedoch nur die Bezeichnung ,,Erwählter'' kennt, ist in der 2. und 3. Bilderrede vermehrt von einem ,,Menschensohn" die Rede, so daß sich an dieser Stelle zunächst die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Größen zueinander stellt. Zum einen läßt sich ein formales Nebeneinander der beiden Wendungen feststelleniJB, das auf den ersten Blick dafür zu sprechen scheint, daß wir es hier mit zwei selbständigen Gestalten zu tun haben. Richten wir unser Augenmerk dagegen auf die mit den unterschiedlichen Bezeichnungen verbundenen Vorstellungskomplexe, so lassen sich kaum Unterschiede feststellen. Sowohl die Funktion dieser Gestalten im Endgeschehen als auch die ihnen zugemessenen Attribute stimmen fast völlig überein. Von Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 584. Vgl. Prov 1.24ff. 13 7 Siehe H. v.Lips. Weisheitliehe Traditionen, 174ff. 138 Die beiden Wendungen sind auf unterschiedliche Textblöcke verteilt. Die Bezeichnung ..Erwählter" findet sich in der 2. Bilderrede in 45,3.4; 49, 2.4; 51,3.5; 52,6; 53,6; 55,4 und in der 3. Bilderrede in 61,5.8.10; 62,1. Vom ,,Menschensohn" ist im Rahmen der 2. Bilderrede in 46,2.3.4 und 48,2 die Rede, während in der 3. Bilderrede 62,5.7.9.14; 63,11 und 69,26 vom ..Menschensohn" sprechen; siehe J. Theisohn, Der auserwählte Richter, 48. 135 136
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daher kann kaum ein Zweifel bestehen, daß die Bilderredentrotz verschiedener Bezeichnungen nur mit einer eschatologischen Gestalt rechnen 139 . Nimmt man die traditionsgeschichtlichen Beziehungen zur Menschensohnvorstellung der Tiervision des Danielbuches, wie sie uns insbesondere in Kap. 46 und 47 entgegentreten, ernst, so spricht vieles dafür, daß die Bilderreden den "Menschensohn" von Dan 7 durch seine Identifikation mit der Figur des ,,Erwählten", hinter dem sich eine eschatologische Richtergestalt verbirgt, einer Uminterpretation unterzogen haben140. Während uns die Frage nach einer Identifikation des ,,Menschensohnes" in Dan 7 große Probleme bereitet hat, ist für die Bilderreden des äthiopischen Henochbuches durch die Gleichsetzung des "Menschensohnes" mit dem ,,Erwählten" zumindest der individuelle Charakter dieser Gestalt gesichert. Bevor wir uns über diese Feststellung hinaus noch weitere Gedanken in dieser Frage machen, legt es sich nahe, die Attribute und Funktionen, die dieser Gestalt im Kontext der Bilderreden zugemessen werden, näher zu bestimmen. Der ,,Menschensohn" bzw. der ,,Erwählte" erscheint innerhalb der Bilderreden in erster Linie in einer Doppelfunktion als Richter und Offenbarer. Seine herausragen
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,.Denn Weisheit ist ausgegossen wie Wasser, und Herrlichkeit hört vor ihm von Ewigkeit zu Ewigkeit nicht auf. 2 Denn er ist mächtig in allen Geheimnissen der Gerechtigkeit, und die Ungerechtigkeit wird wie ein Schatten vergehen und keinen Bestand haben, denn der Erwählte ist vor dem Herrn der Geister aufgestanden, und seine Herrlichkeit (dauert) von Ewigkeit zu Ewigkeit und seine Macht von Generation zu Generation"1 43. Im Anschluß an diese Zeilen ist dann in 49,4 nochmals ausdrucklieh von der Richterfunktion des ,,Erwählten" die Rede. Die Gestalt des ,.Menschensohnes" steht jedoch nicht nur in seiner Funktion als Richter in einer engen Beziehung zur Weisheit. Auch seine Funktion als "Offenbarer", der im Besitz aller Geheimnisse ist, zeichnet sich durch eine enge Verbindung zur Weisheit aus. Heißt es doch in 51,3: "Und der Erwählte wird in jenen Tagen auf meinem Thron sitzen, und alle Geheimnisse der Weisheit werden aus dem Urteil seines Mundes hervorgehen, denn der Herr der Geister hat (dies) ihm gegeben und ihn verherrlicht" 144 Zu guter Letzt sei noch darauf verwiesen, daß der •.Menschensohn" neben seiner Doppelfunktion als Richter und Offenbarer auch als der Herrscher im zukünftigen Gottesreich erscheint (45,4;62,14). Zu bemerken bleibt noch, daß die Bilderreden zwar auch von einer Richterfunktion Gottes selbst im Endgericht zu berichten wissen (siehe z.B. 47 ,3ff}, aufs Ganze gesehen wird diese Vorstellung jedoch stark zurückgedrängt1 4S. Die entscheidende Gestalt im Endgericht ist und bleibt der •.Menschensohn". Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die restlichen Kapitel der 2. Bilderrede, so stehen auch diese gänzlich im Zeichen des endzeitliehen Gerichtshandelns. Neben den "Königen" und den ,.Mächtigen dieser Erde" (53,5;54,2; 56,5ff}, die immer wieder als ,,Hauptadressaten" des Endgerichts erscheinen, findet in diesem Zusammenhang das Gerichtshandeln an den gefallenen Engeln, wie es uns bereits innerhalb des angelologischen Buches entgegengetreten ist, Erwähnung (54,5f;55,3-56,4)1 46 . Das endzeitliche Strafgericht ergeht gleichermaßen über kosmische und soziale Vergehen.
2.2.5.6 Die dritte Bilderrede (Kap. 58,/-69,29) Die dritte Bilderrede soll nur noch ganz kurz gewürdigt werden, da sie über das bereits Festgestellte hinaus, kaum neue Aspekte enthält, die für unsere Untersuchung von Interesse sind. Wiederum steht das endzeitliche Schicksal der Gerechten und Sünder im Mittelpunkt des Geschehens (Kap. 58; 61; 62; 63). Das Gericht selbst wird auch hier primär mit dem ,.Menschensohn" (Kap. 62; 63; 69) bzw. dem ,,Erwählten" (Kap. 61; 62) verbunden. Wenden wir uns zunächst den "Sündern .. zu, die im Endgericht ihrer wohlverdienten Strafe teilhaftig 143
Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 592.
144 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 594. 145
Siehe J. Theisohn, Der auserwählte Richter, 203f.
l46 Die Kapitel 54,7-55,2 stellen wohl einen Bestandteil einer ursprünglich selbständigen
Noahtradition dar. Siehe S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 599 Anrn. 7a.
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Das äthiopische Henochbuch
werden, so sind es immer wieder die "Könige" und die ,,Mächtigen" (Kap. 6263), die als Sünder par excellence gelten. Neben sozialen Vergehen ist das "Führen einer leeren Rede" (62,3) für deren Verurteilung verantwortlich. Das Endgericht hat auch an dieser Stelle neben seiner irdischen eine kosmische Dimension. Folglich steht das Gerichtshandeln an den "Sündern" in einem engen Zusammenhang mit dem Gericht über die gefallenen Engel. Die Kapitel 64-66 und 67,4-69,25 sind ganz dieser Thematik gewidmet1 47. Betrachten wir die Vergehen der gefallenen Engel etwas genauer, so bestehen diese analog zum angelologischen Buch darin, daß sie die Menschen zu Zauberei, Magie und Götzendienst verführt haben (65.6). Einer engen Verbindung von Schöpfungsordnung und Sinaitora redet Kap. 59 das Wort. In 59,1-2 heißt es: "1 In jenen Tagen sahen meine Augen die Geheimnisse der Blitze und der Lichter und ihre Rechtsordnung; und ihr Blitzen geschieht zum Segen oder zum Fluch, wie es der Herr der Geister will. 2 Und dort sah ich die Geheimnisse und (wie es ist,) wenn es (oder: er) oben im Himmel schmettert und ihr Geräusch zu hören ist; und er offenbarte mir die Wohnstätten des Festlandes und das Geräusch des Donners- zum Frieden und Segen, aber auch zum Fluch- nach dem Wort des HeiTTI der Geister" 148. Die kosmische Welt wird analog zum menschlichen Bereich von Gesetzen regiert, die unbedingt einzuhalten sind. Verstöße gegen die kosmische Gesetzlichkeit haben jedoch immer auch für den irdischen Bereich Auswirkungen. Steht das ,,Blitzen" mit der kosmischen Gesetzmäßigkeit im Einklang, dann hat es "Segen" zur Folge. Verstößt das ,,Blitzen" gegen dieses Gesetz, so zieht es auch für den irdischen Bereich den ,,Fluch" nach sich. Wenden wir uns nun noch kurz den "Gerechten" und "Auserwählten" zu, so ist in 61,8 ausdrücklich davon die Rede, daß sie aufgrundihrer Taten im Endgericht bestehen konnten: "Und der Herr der Geister hat den Erwählten auf den Thron der Herrlichkeit gesetzt, und er wird alle Werke der Heiligen oben im Himmel richten, und ihre Taten werden auf der Waage gewogen werden"1 49. Die Taten der "Gerechten" sind der alles entscheidende Maßstab im Endgericht Stellen wir uns an dieser Stelle die Frage, worin die guten Taten der "Gerechten" im einzelnen bestehen, so finden sich wiederum kaum konkrete Hinweise. Auf recht allgemeine Art und Weise ist von der "Gerechtigkeit" (61,4), der "Treue" (61,4) und der "Weisheit" (61,7) der "Gerechten" die Rede. Unternehmen wir den Versuch, diese allgemeinen Termini näher zu bestimmen, so ist es zwar durchaus möglich, daß diese allgemeinen Termini auf den
147 Offensichtlich sind die Kapitel 65,1-69,25 Teil einer ursprünglich selbständigen NoahTradition. Siehe S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 618 Anm. LXV a. 148 In einem Punkt weiche ich hier von der Übersetzung Uhligs ab und mache mir dessen Bedenken, die er in seiner Anmerkung 49 d äußert, zu eigen. Meiner Meinung nach ist der äthiopische Terminus kwennane nicht mit ..Gericht", sondern mit Rechtsordnung bzw. Gesetz zu übersetzen. 149 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 611f.
Das astronomische Buch (Kap. 72-82)
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Gesetzesgehorsam zu beziehen sind 150, ausdrilcklich ausgesprochen wird dies jedoch nicht. Deutlich erkennbar ist lediglich die Tatsache, daß die "Gerechtigkeit" der •.Auserwählten" in erster Linie in deren unerschütterlichem Vertrauen auf Gott und das endzeitliche Gerichtshandeln des ,,Menschensohnes" besteht (62,9f0. Die feste Hoffnung der "Gerechten", daß das Gerichtshandeln des endzeitliehen Richters zu einer Restitution des innergeschichtlich gestörten Tun-Ergehen-Zusammenhangs" führen wird, ist der zentrale Aspekt ihrer "Gerechtigkeit". Da die "Gerechten" mit den gleichen Termini umschrieben werden, wie sie auch für den Menschensohn in seiner Funktion als endzeitlicher Richter charakteristisch sind (siehe z.B. 48,1-2 oder 49,1-3), erscheint der "Menschensohn" geradezu als das "himmlische Gegenüber" der "Auserwählten" und "Gerechten"ISI. 2.2.5.7 Der Anhang zu den Bilderreden (Kap. 70,1-72,17) Der Anhang zu den Bilderreden in 70,1-72,17, der eine Himmelsreise Henochs beinhaltet, betont nochmals abschließend die enge Zusammengehörigkeit der kosmischen mit der irdischen Dimension. In 71,3f lesen wir: "Und der Engel Michael hob mich auf und führte mich bei meiner rechten Hand, und er hob mich auf und führte mich hin zu allen Geheimnissen, und er zeigte mir alle Geheimnisse der Barmherzigkeit, und er zeigte mir alle Geheimnisse der Gerechtigkeit. 4 Und er zeigte mir alle Geheimnisse der Enden des Himmels und alle Kammern der Sterne und alle Lichter, von wo sie ausgehen vor das Angesicht der Heiligen (=zu den Heiligen)" 152. Die Vorstellung, daß ethische und kosmische Sachverhalte eng aufeinander bezogen und in Harmonie vereint sind, ist ein entscheidendes Kennzeichen der zukünftigen Welt. 2.2.6 Das astronomische Buch (Kap. 72-82) 2.2.6.1 Einfiihrung Das astronomische Buch umfaßt die Kapitel 72-82 des äthiopischen Henochbuches. Neben dem äthiopischen Text 153 besitzen wir auch zu dieser Schrift einige Fragmente einer in Qumran gefundenen aramäischen Textfassung1S4 • Diese aramäischen Fragmente lassen sich auf vier Handschriften verteilen, die keines der anderen Henochbücher mitenthaltenl5s. Das aramäische astronomische Henochbuch aus Qumran lief offenbar ursprünglich als selbständige Schrift um. Betrachten wir die einzelnen Fragmente etwas näher, so lassen sich diese 150 Siehe
W.D. Davies, Torah in the Messianic Age, 42.
151 Siehe J.J. Collins, The Apocalyptic Imagination, 149f. 152 Übersetzung nach S. Uhlig. Das äthiopische Henochbuch, 632. Siehe M.A. Knibb, The Ethiopic Book ofEnoch, Vol. I. 1978. Siehe J.T. Milik, The Books ofEnoch, 7-22. 155 Siehe H. Stegemann, Essener, 133. IS3
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Das äthiopische Henochbuch
in drei Gruppen einteilen. Zu den Fragmenten, die leicht als Parallelen zum äthiopischen Text auszumachen sind 1S6, treten solche hinzu, die keine direkte Beziehung zum äthiopischen Text aufweisen. Diese Fragmente gehören zum einen zu der ältesten Rolle Enastrl und bestehen aus kalendarischen Tabellen, die primär an einer Synchronisierung der Mondphasen mit dem Solarjahr interessiert zu sein scheinen IS7 • Zum anderen besitzen wir noch ein weiteres Fragment (Enastrd), das ursprünglich vielleicht am Ende unserer äthiopischen Textfassung standtss. Das äthiopische astronomische Henochbuch stellt wohl nur die Kurzfassung eines ursprünglich weit umfangreicheren Werkes dar1S 9 . Es wUrde nun jedoch den Rahmen dieser Untersuchung bei weitem sprengen, wollten wir den Versuch unternehmen, die komplexe Entstehungsgeschichte dieser Schrift näher zu durchleuchten. Würde doch bereits eine ausführliche Verhältnisbestimmung zwischen der äthiopischen und aramäischen Textfassung eine eigene Dissertation erfordemt60. Es sei nur noch soviel gesagt, daß die Überlieferungsverhältnisse der Texte, die sich innerhalb dieses Teiles der Henochsammlung befinden, auch nach Auffindung der aramäischen Fragmente in Qumran nicht eindeutig geklärt sind 161• Die äthiopische Textfassung ist in sich selbst keineswegs kohärent. Sowohl die Kapitel 73 und 74 als auch das Ende der Schrift (ab Kap 79,2) bieten ein recht uneinheitliches Bild, so daß man nur schwer umhin kann, auch das astronomische Buch in seiner äthiopischen Textfassung als ,,Fragment" zu bezeichnen. Die wichtigste Erkenntnis, die uns der Fund aramäischer Fragmente gebracht hat, ist jedoch die des hohen Alters des aramäischen astronomischen Buches. Es liegt zwischen dem Ende des 3. und dem Beginn des 2. Jahrhunderts v.Chr.t6 2, so daß diese Schrift erheblich älter als das um 164 v. Chr. fertiggestellte biblische Danielbuch ist. Die hohe Bedeutung dieser Erkenntnis für die Frage nach den Anfängen der tii.lhjüdischen Apokalyptik liegt auf der Hand. Das astronomische Henochbuch ist das älteste Dokument, das mit dem Namen Renochs in Verbindung gebracht wird. Wenden wir uns nun noch kurz dem Inhalt des Buches zu. Während sich die Kapitel 72,1- 80,1 ganz in den Bahnen kosmischer Spekulation und astronolS6 Nach J.T. Milik, 284-296 stellen diese Fragmente Parallelen zu folgenden Partien des äthiopischen Henochbuches dar: 76,3-10; 76,13-77,4; 78,6-8; 78,9-12; 79,3-5 + 78.17-79,2; 82,9-13. IS 7 Siehe H.S. Kvanvig, Roots, 54+60ff; ferner H. Stegemann, Essener, 133. ISS Siehe J.T. Milik, The Books ofEnoch, 274. lS9 Siehe H. Stegemann, Essener, 133. 160 Siehe den Versuch H.S. Kvanvigs, Roots, 53-84. 161 Siehe hierzu S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 635; 0. Neugebauer, The ,Astronomical' Chapters of the Ethiopic Book of Enoch, in: M. Black, The Book of Enoch, 386-419; E. Rau, Kosmologie, 1974; H.S. Kvanvig, Roots, 53-84. 162 Das hohe Alter dieser Schrift wird zudem durch das Jubiläenbuch bestätigt, da Jub 4,16ff offensichtlich diesen Teil der Henochsammlung voraussetzt; vgi.E. Rau, Kosmologie, 402-405.
Das astronomische Buch (Kap. 72-82)
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misch-kaiendarischer Beobachtungen bewegen, Gedanken, die dann in 82,9-20 wiederaufgenommen werden, fallen die TextstUcke 80,2-82,8 auf den ersten Blick aus diesem Rahmen heraus. Tritt doch in diesen Versen die kosmologische Thematik scheinbar zugunsten ethischer Sachverhalte zurück. Diese Tatsache hat einige Forscher dazu veranlaßt, in den Versen 80,2-8 und 81,1-10 spätere Zusätze zu vermutenl63. Wie wir im Verlauf dieses Kapitels sehen werden, wird eine Unterscheidung zwischen kosmologischen und ethischen Sachverhalten zumindest Kap. 80,2-8 keineswegs gerecht 164, sondern scheint kUnstlieh in den Zusammenhang eingetragen. Der engen Verbindung von kosmologischen bzw. astronomisch-kalendarischen und ethischen Aussagen innerhalb des astronomischen Buches kommt besonders mit Blick auf das Gesetzesverständnis eine entscheidende Bedeutung zu.
2.2.6.2 Interpretation der Kapite/72,1-82,20 Wer sich der Frage nach dem Gesetzesverständnis des äthiopischen Henochbuches mit einer äthiopischen Konkordanz nähert, wird gerade im astronomischen Teil der Henochsammlung eine Häufung der ,,Begriffe" ser 'llt und te' ezzzz feststellen, die sich auch in anderen Teilen der Henochsammlung finden und dort primär mit Gesetz wiedergegeben werden. Während ser 'llt an fünf Stellen vor allem gegen Ende des astronomischen Buches vorkommt (79,1.2; 80,7; 82,9.10), begegnet uns te' ezzzz sechsmal, davon fünfmal im ersten Teil des astronomischen Buches, also vor Kap.79,2 (72,2.35; 73,1; 74,1; 76,14; 80,6). Ein Bedeutungsunterschied läßt sich jedoch zwischen den beiden Worten innerhalb des astronomischen Buches nicht feststellen. Dies zeigt sich besonders schön in Kap. 80,6f. Hier ist in beiden Versen von dem "Gesetz" oder besser der "Ordnung" der Sterne die Rede, wobei sich in Vers 6 das Wort te' ezzzz in Vers 7 jedoch das Wort ser ~llt findet. Beide Begriffe werden also innerhalb des astronomischen Buches völlig synonym gebraucht16s, und zwar in erster Linie zu dem Zwecke, den Lauf der Himmelskörper zu beschreiben. Folglich werden sie mit der Sonne, dem Mond oder den Sternen verbunden, wobei sie der Vorstellung Ausdruck verleihen, daß der ganze Kosmos einer von Gott geschaffenen Ordnung unterliegt 166 . Dies kommt besonders schön in Kapitel 76,1-14 163 So z.B. R.H. Charles, APOT II, 169. 164 So
auch H.S. Kvanvig, Roots, 59.
72-76 des astronomischen Buches dominiert, während ser ~"lll ausschließlich gegen Ende dieses Buches vorkommt, hängt wohl mit den komplizierten Entstehungsverhältnissen dieser Schrift zusammen. In 72-76 liegt aller Wahrscheinlichkeit nach ein ursprünglich eigenständiger Traditionskomplex vor (siehe O.Neugebauer, Ethiopic Astronomy and Computus, Wien 1979. 3). Es handelt sich jedoch lediglich um unterschiedliche Bezeichnungen fUr dieselbe Sache. 166 Selbst dann, wenn sich an einigen Stellen hinter diesen beiden äthiopischen Begriffe nicht das aramäische pn sondern verbirgt (siehe 4Q Enastrb 25 Zeile 3 und 26 Zeile 7). das mit •.Berechnung" wiederzugeben ist (siehe H.S. Kvanvig, Roots. 60ft), ändert dies meines 16S Die Tatsache. daß der Begriff te' eilll vor allem die Kapitel
1,:11Dn
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Das äthiopische Henochbuch
zum Ausdruck, das von den 12 Winden und deren unterschiedlichen Auswirkungen auf das Wohl der Erde handelt. Die Winde, die Plagen und Verwüstung auf Erden nach sich ziehen, sind in der Überzahl und werden von denen unterschieden, die für Glück und Segen verantwortlich sind. Die Funktion jedes Windes und die Zeit seiner jeweiligen Wirksamkeit unterstehen einer von Gott geschaffenen Gesetzmäßigkeit. Am Gehorsam der Winde dieser Gesetzmäßigkeit gegenüber hängt das Wohl und Wehe der gesamten Menschheit. Bereits an dieser Stelle zeigt sich das Ineinander von "kosmischer Gesetzmäßigkeit" auf der einen und dem Ergehen der Menschheit auf der anderen Seite. Es ist nun gewiß kein Zufall. daß der bzw. die Verfasser des astronomischen Buches zur Beschreibung kosmischer Sachverhalte dieselben Termini verwenden, die uns in anderen Teilen der Henochsammlung auch als Bezeichnung für die Mosetora begegnen (siehe z.B. 93,6 und 99,2). Wird das Volk Israel, ja darüber hinaus die gesamte Menschheit durch Gottes Gesetz mit dem Willen Gottes konfrontiert und zum Gehorsam verpflichtet, so gilt dies über den menschlichen Bereich hinaus für die gesamte Schöpfung. Nichts innerhalb der Schöpfung hat seinen eigenen Willen, der gesamte Kosmos ist einzig dem Willen Gottes unterworfen167. Verleiht Gott im menschlichen Bereich seinem Willen durch die Mosetora Ausdruck, so spricht er auch im kosmischen Bereich die Sprache unbedingten Gesetzesgehorsams. Neben den Winden sind es die Himmelskörper Sonne, Mond und Sterne, deren Lauf ein ehernes Gesetz Gottes bestimmt. Analog zum menschlichen Bereich kann es auch im kosmischen Bereich zu Akten des Ungehorsams der Himmelskörper gegenüber Gottes Gesetz kommen. Die den Gang der Himmelskörper lenkenden Gesetze Gottes erscheinen gerade nicht als ein für alle Mal festgesetzte Naturordnungen, sondern als verpflichtende göttliche Befehle. Die Überzeugung der älteren Weisheit, daß nur in der Menschenwelt Verstöße gegen Gottes Gebot vorkommen, während die Schöpfung in ungetrübtem Gehorsam verharrt, wie sie z.B. in der Einleitungsrede zum angelologischen Buch zum Ausdruck kommt, wird im astronomischen Henochbuch bewußt verabschiedet. Die Schöpfungswerke werden gerade nicht als Vorbild korrekter Gesetzeserfüllung den Verfehlungen im menschlichen Bereich gegenübergestellt, sondern beide Größen sind eng miteinander verbunden 168 . Dieser Zusammenhang kommt in den Versen 80,2-8 besonders deutlich zum Ausdruck, die wir nun einer ausführlichen Interpretation unterziehen wollen. Setzen wir zunächst mit 80,2 ein: "Und in den Tagen der Sünder werden die Jahre kürzer werden, und ihre Saat wird sich auf ihrem Lande und auf ihrem Acker verspäten, und alle Dinge auf Erden werden anders, und sie werden nicht zu ihren Zeiten erscheinen, und der Regen wird zurückgehalten werden, und Erachtens nichts an der Tatsache, daß die Vorstellung einer kosmischen Gesetzmäßigkeit für das astronomische Henochbuch prägend ist. 167 Siehe hierzu M. Limbeck, Die Ordnung des Heils, 66; vgl. E.Rau, Kosmologie, l58ff. 168 Siehe Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie, 28.
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der Himmel wird stillstehen"l69. Dieser Vers bezieht sich eindeutig auf die Endzeit. Die "letzte böse Zeit" vor dem Ende der gegenwärtigen Welt wird mit der Wendung "Tage der Sünder'' umschrieben. Das hervorstechende Charakteristikum dieser letzten Phase der Geschichte ist die radikale Verfallenheil der gegenwärtigen Weltzeit an die Sünde. Doch bereits aus diesem Vers wird deutlich, daß die SUnden der Menschen nicht nur Auswirkungen auf den irdischen Bereich haben, sondern der gesamte Kosmos ist in das Sündigen involviert. Während sich hinter der Bezeichnung "Tage der Sünder" ethische Verfehlungen in der irdischen Sphäre verbergen, stehen diese in Korrelation zu kosmischen Vergehen. Diese bestehen darin, daß "sie (= kosmische Größen) nicht zu ihren Zeiten erscheinen". Die Tatsache, daß in beiden Bereichen die Möglichkeit des SUndigens besteht, wobei gerade im kosmischen Bereich SUnde mit "Gesetzesübertretung", d.h. mit Verstößen gegen die kosmische Ordnung gleichgesetzt wird, wird noch deutlicher, wenn wir uns 80,6 vergegenwärtigen: "Und viele Häupter der Sterne werden gegen die (vorgeschriebene) Ordnung sündigen, und diese werden ihre Bahnen und ihre Funktionen ändern, und sie werden nicht zu ihren Zeiten, die ihnen vorgeschrieben sind, erscheinen" 170 . Doch nicht nur an dieser Stelle innerhalb des astronomischen Buches, sondern auch an anderen Stellen der Henochsammlung, die sich mit kosmologischen Fragen beschäftigen, wird SUnde im kosmischen Bereich bewußt als "Gesetzesübertretung" ausgewiesen. Wird die SUnde im kosmischen Bereich klar als Verstoß gegen die "Schöpfungsordnung" gekennzeichnet, so müssen wir uns nun die Frage stellen, worin für den Autor dieser Zeilen das sündige Verhalten der Menschheit konkret besteht, das dazu fUhrt, eine ganze Zeitepoche als "Tage der Sünder" zu charakterisieren. Eine Antwort auf diese Frage finden wir in 80,7: "Und die ganze Ordnung der Sterne wird den SUndern verschlossen sein, und die Gedanken derer, die auf Erden wohnen, werden über sie in die Irre gehen, und sie werden von all ihren Wegen abweichen, und sie werden sich versündigen und sie für Götter halten"l 71 . Die HauptsUnde der Menschen, aus der alle anderen Vergehen folgen, besteht demnach darin, daß diese die Ordnung der Sterne Oberhaupt nicht erkennen, bzw. den Lauf der Sterne falsch berechnen. Diese Bemerkung ist wiederum nur als Anspielung auf die frühjüdische Kalenderproblematik zu verstehen. Falsches astronomisches Wissen fUhrt automatisch zu einem falschen Kalender und damit zu Gebotsübertretung und falscher Gottesverehrung 172 • Diese Überzeugung steht wohl auch 169 Übersetzung nach S. Uhlig. Das äthiopische Henochbuch. 664. Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch. 664f. Übersetzung nach S. Uhlig. Das äthiopische Henochbuch, 665. Der Kalender entscheidet z.B. über die FestJegung der Sabbate und großen Festtage. Die Sabbatgesetze können nur dann korrekt eingehalten werden, wenn man sie auch am richtigen Tag befolgt. Die Qurnrangemeinde z.B. berechnete ihre Festtage offensichtlich nach einem anderen Kalender als nach dem offiziell in Jerusalem herrschenden. Nur so läßt sich die Notiz in 1QpHab 11,4-7 verstehen, nach der der ..gottJose Priester" den •.Lehrer der Gerechtigkeit" am 170
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hinter 82,5, wenn es dort mit Blick auf die Berechnung bestimmter Tage heißt: "Ihretwegen(= der Epagonaltage wegen) sind die Menschen im Irrtum und berechnen sie nicht bei der Berechnung des ganzen Weltlaufs, weil die Menschen über sie im Irrtum sind und sie nicht genau kennen .. I7J. Falsches kaiendarisches Wissen ist demnach für die Trägerkreise dieses Traditionszusammenhangs die Wurzel allen Übels. Aus dieser Wurzel gehen sämtliche ethischen Verfehlungen der Menschen hervor, die in 80,7 in den Wendungen "von allihren Wegen abweichen" und "sie(= die Gestirne) für Götter halten" zusammengefaSt werden. Das Abweichen vom rechten Weg und falsche Gottesverehrung stehen hier wohl stcllvertret~nd für sämtliche menschliche Verfehlungen im kultischen und sozialen Bereich. Diese Verfehlungen sind sicherlich als Taraübertretungen zu verstehen, als Verstöße gegen die Gesetze, die die Beziehungen der Menschen untereinander und zu ihrem Schöpfer regeln, ohne daß es notwendig wäre, die Tora explizit zu nennen. Die Kultproblematik wird auch an dieser Stelle eng mit der Gesetzesproblematik verbunden. Gesetz und Kult werden auch hier keinesfalls gegeneinander ausgespielt. Ist die Stellung des einzelnen zum Kalender das alles entscheidende Kriterium174, so haben die aus dem falschen kalendarischen Wissen folgenden ethischen Verfehlungen der Menschen nicht nur für diese selbst, sondern für die ganze Schöpfung verheerende Auswirkungen. Der ganze Kosmos wird schließlich aufgrunddes falschen Kalenders zugrunde gehen. Wer die kosmische Gesetzmäßigkeit nicht richtig erkennt, ist nicht nur nicht in der Lage, sich ethisch korrekt zu verhalten, sondern er trägt sein Scherflein zum Untergang der gesamten Schöpfung bei. So heißt es abschließend in 80,8: "Und das Unheil wird in Fülle über sie hereinbrechen, und Plagen werden Uber sie kommen, um alles zu vernichten"I 7S. Steht am Ende die Vernichtung der gesamten Schöpfung, so ist es nicht weiter verwunderlich, daß in 72,2, zu Beginn des astronomischen Buches, sämtliche in ihm dargestellten kosmischen Ordnungen als bis zum Erscheinen einerneuen Schöpfung terminiert angesehen werden. Gott hat diese Schöpfung von Anfang an auf ihr Ende hin angelegt. An der Stellung seiner Geschöpfe zum Gesetz, das neben dem menschlichen Bereich den gesamten Kosmos regiert, entscheidet sich das Geschick der Schöpfung. Da sowohl der menschliche als auch der kosmische Bereich von GesetzesUbertretungen, letztlich vom Scheitern am Gesetz geprägt ist, kann am Ende nur die Vernichtung der gesamten Schöpfung und all ihrer Ordnungen stehen. Nach diesem Szenario ist der gesamte Kosmos der SUnde verfallen und dem Versöhnungstage in dessen Versteck angreift. Identifiziert man den ..gottlosen Priester" mit dem in Jerusalem amtierenden Hohenpriester, so ist dessen militärische Aktion am Versöhnungstage nur dann zu verstehen, wenn in Qumran dieser Tag zu einem anderen Zeitpunkt gefeiert wurde als in Jerusalem. 173 Übersetzung nach S. Uhlig. Das äthiopische Henochbuch, 668. 174 Siehe M.Hengel, Judentum, 429. l7S Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 665.
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Untergang geweiht. Ist Gottes letztes Wort über das Schicksal dieser Welt und aller, die in ihr leben, gesprochen, so bleibt die drängende Frage bestehen, worin sich dann das Schicksal derer, die den richtigen Kalender verehrt und sich somit als gerecht erwiesen haben, von dem der großen Masse der Sünder unterscheidet? Es besteht ja kein Zweifel, daß es im Judentum Gruppen gab, die den im astronomischen Buch proklamierten 364tägigen Jahreszyklus einzuhalten suchtenl76. Eine innerweltliche Hoffnung kann es nach 80,8 jedoch auch für diese Gerechten nicht mehr geben. Mit Blick auf die gegenwärtige Weltzeit, die von Gott zeitlich limitiert ist, ergeht es auch den Gerechten nicht anders als den Sündern. Dies bringt 81,8f zum Ausdruck, wenn es dort heißt: "Aber der Sünder wird mit dem Sünder sterben, und der Abtrünnige mit dem Abtrünnigen versinken. 9 Und die, die Gerechtigkeit üben, werden wegen der Werke der Menschen sterben, und sie werden versammelt werden wegen des Tuns der Gottlosen" 177 . Die gegenwärtige Weltzeit ist dadurch gekennzeichnet, daß der Tun-Ergehen-Zusammenhang außer Kraft ist. Für die Gerechten gibt es keine Hoffnung mehr auf innerweltliches Heil. Angesichts der hoffnungslosen Not der Gegenwart wird der Blick in die Zukunft gewendet, wobei alles Heil einzig von Gott her erwartet wird. Einzig die Hoffnung auf Gottes endzeitliches Gerichtshandeln, das endgültig Gerechtigkeit schafft, vermag über die Widernisse der Gegenwart zu trösten 17 B. Diese Funktion erfüllen Verse 81,1-4. Betrachten wir zunächst die Verse 1-2, so ist dort von den himmlischen Tafeln und vom himmlischen Tatenbuch die Rede, in dem alle Werke der Menschen für das Endgericht aufgezeichnet sindl 79. Dem in 80,8 erwähnten Vernichtungsgericht über die Erde wird also noch ein weiterer Gerichtsakt im Himmel folgen, durch den der Gerechte zu seinem ihm auf Erden verwehrten Heil gelangen wird. So lesen wir in 81,4: "Und danach sprach ich: Selig der Mann, der als Gerechter und Guter stirbt und über den kein Buch der Ungerechtigkeit geschrieben ist und (gegen den) kein Tag des Gerichts stattfinden wird" ISO. Exkurs 3) Kurze Anmerkungen zu Kalenderdiskussion im Frühjudentum Nachdem wir im Verlauf dieser Untersuchung immer wieder auf die Kalenderfrage zu sprechen kamen, scheint es an der Zeit, dieser Frage einen kurzen Ex176 Allem Anschein nach vertreten auch die Qumrangemeinde und das Jubiläenbuch einen Kalender, der dem im astronomischen Henochbuch proklamierten Kalender äußerst nahe kommt. m Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 666. 178 Siehe Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 28. 179 Siehe äthHen 81,1-2: ,.Und er sprach zu mir: ,Henoch, betrachte diese himmlischen Tafeln und lies, was auf ihnen geschrieben ist, und merke dir jede Einzelheit!' Und ich betrachtete die himmlischen Tafeln und las alles, was geschrieben war, und merkte mir alles; und ich las das Buch aller Werke der Menschen und aller Aeischgeborenen, die auf Erden (sein werden) bis in ewige Generationen" (Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 665). 180 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 666.
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kurs zu widmen. Die Kalenderproblematik im Frühjudentum ist ein zu weites und vielerorts noch recht ungeklärtes Feld181 , als daß sie an dieser Stelle ausführlich gewürdigt werden könnte. Vor allem die Tatsache, daß der Kalenderstreit in der Forschung vorwiegend im Kontext der Frage nach der Entstehung der Qurnrangemeinde diskutiert wird, sorgt für eine Menge von zusätzlichen Problemen. Wir müssen uns deshalb auf einige grundsätzliche Bemerkungen beschränken tB2. Im Zentrum der Kalenderdiskussion des Frühjudentums stand zweifellos die Alternative zwischen einem primär durch die Sonne und einem mehr durch den Mond bestimmten Kalender. Lediglich in der Frage nach dem Charakter und der Intention des solaren Kalenders herrscht in der Forschung weitgehend Einigkeit183. Dagegen sind sämtliche Versuche, das Alter, die Herkunft, die Trägerkreise, die Fronten und die Geltung der jeweiligen Kalendersysteme zu bestimmen, von einem hohen Maß an Unklarheit gekennzeichnet. Wenden wir uns zunächst der Frage nach Charakter und Intention des Sonnenkalenders zu, der uns an verschiedenen Stellen der Qumranschriften 184, im astronomischen Teil des äthiopischen Henochbuches und im Jubiläenbuch entgegentritt18S, so ergibt sich ein recht klares Bild. Der Sonnenkalender war in 4 Quartale zu je 3 Monaten eingeteilt, von denen die beiden ersten jeweils 30, der dritte Monat jeweils 31 Tage hatte. Folglich beinhaltete jedes Quartal 91 Tage (= 13 Wochen), das ganze Jahr umfaßte 364 Tage (= 52 Wochen). Die Struktur dieses Kalenders beruhte darauf, daß in jedem Quartal die fortlaufenden Tage eines Monats jeweils bestimmten Wochentagen entsprachent86. Jeder Jahresbeginn und der Anfang eines jeden Vierteljahres fielen auf einen Mittwoch. Die Vorteile dieses primär an der Sonne orientierten Kalenders gegenüber einem stärker am Mond orientierten Kalender liegen auf der Hand. Die Jahreseinteilung wurde durch diesen Kalender bedeutend übersichtlicher. Die Feste fanden jedes Jahr an den gleichen Wochentagen statt, kein Festtermin fiel jemals auf einen Sabbat. Gebotskollisionen zwischen dem Gebot der Sabbatruhe und den Opferverpflichtungen an großen Festtagen waren somit ausgeschlossen 187 . 181 Siehe M. Hengel, Judentum, 429 Anm. 745. l82 Zur Forschungslage sei auf folgende Arbeiten verwiesen: A. Jaubert, VT 1953, 250264; Dies., La date de Ia C~ne. 1957; S. Talmon, The Calendar of the Convenanters, in: The World of Qumran from Within, 147-185; J.T. Milik, The Books of Enoch, 61~9; J.M. Baumgarten, JBL 1958, 355-360; K.G. Kuhn, ZNW 1961, 65-73; 0. Neugebauer and M. Black, The •.Astronomical" Chapters, in: M. Black, The Book of Enoch, 386-419; R.T. Beckwith, RdQ 1992,457~.
183 Siehe E. Schwarz, Identität, 112. 184 Eine Autlistung der fUr die Kalenderfrage wichtigsten Qumranschriften findet sich bei H.-W. Kuhn, Die Bedeutung der Qumrantexte, in: New Qumran Texts and Studies, 196f. ISS Auf die Frage nach den Unterschieden, die zwischen den Ausführungen der verschiedenen Schriften zu einem SaMenkalender bestehen, kann ich an dieser Stelle nicht näher eingehen. 186 Siehe A. Jaubert, VT 1953, 250-264. 187 Siehe M. Hengel, Judentum, 429; E. Schwarz, Identität, 112.
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Die Annahme, daß gerade der Wunsch nach "vollständiger Sabbatheiligung.. den Grund für die Entstehung dieses Kalenders lieferte, ist nicht von der Hand zu weisen 1ss. Einzig die richtige Zeitrechnung war in der Lage, ein toragemäßes Leben in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Schöpfung und des Geschichtslaufes zu verbürgeniB9. Lassen sich Intention und Charakter des Sonnenkalenders auch in dieser Kürze recht leicht bestimmen, so bereitet die Frage nach der Funktionsfähigkeit dieses Kalenders bedeutend mehr Schwierigkeiten. Gründete der Sonnenkalender doch auf einem pauschal errechneten "theoretischen .. Sonnenjahr von genau 364 Tagen 190, das mit dem "wirklichen .. Sonnenjahr von etwa 36514 Tagen, auf dem der julianische Kalender beruhte, nicht übereinstimmte. Zwischen beiden "Sonnenjahren.. klaffte eine Lücke von ungefähr ein und ein Viertel Tagen 191. Sollte dieser Kalender also wirklich funktionieren, war es notwendig, diesen mit dem tropischen Sonnenjahr durch lnterkalation auszugleichen. Da uns jedoch die Texte keine eindeutigen Aussagen zur Interkalationspraxis liefeml 92, sind sämtliche Versuche, die die Forschung in dieser Richtung unternimmt, mit großer Vorsicht zu genießen. Am meisten Wahrscheinlichkeit kann wohl noch die Annahme, daß innerhalb von 28 Jahren insgesamt 5 Wochen eingeschaltet wurdenl93, für sich verbuchen. Richten wir unser Augenmerk nun auf die Frage nach dem Alter und der Herkunft der jeweiligen Kalendersysteme, so ergibt sich erst für die Zeit nach der Entstehung der Qumrangemeinde zumindest ein halbwegs klares Bild. So spricht vieles dafür, daß die Anhänger der Qumrangemeinde dem zu dieser Zeit am Tempel in Jerusalem herrschenden Junisolaren Kalender ihren eigenen solaren Kalender gegenüberstellten 194 . Der primär am Lauf der Sonne orientierte Kalender der Qumrangemeindei 9S fand jedoch auch in qumrannahen Schriften wie dem astronomischen Teil des äthiopischen Henochbuches und dem Jubiläenbuch (Jub 6,29-38) seinen Niederschlag, eine Tatsache, die die Frage nach Alter und Herkunft dieses Kalenders zusätzlich kompliziert. Handelt es sich bei dem solaren Kalender der Qumrangemeinde um einen neuen Kalender (bzw. gar um eine bloße Erfindung), oder stellt dieser ein älteres Kalendersystem dar, das durch die Qumrangemeinde bewußt restauriert wurde? Mit dieser Frage beSiehe K.G. Kuhn, ThLZ 1960, Sp. 654f. M. Hengel, Judentum, 429. 190 Zur Zahl 364 siehe z.B. äthHen 72,32; 74,12 und Jub 6,38. 191 Siehe S. Talmon, Kalender und Kalenderstreit, in: Gesellschaft und Literatur in der Hebräischen Bibel, Gesammelte Aufsätze Bd.l, 167ff. 192 Von verschiedener Seite wird deshalb die Funktionsfähigkeit dieses Kalenders überhaupt geleugnet; siehe z.B. K.G. Kuhn, ThLZ 1960, Sp. 656f. l93 Vgl. E. Kutsch, VT 1961, 39f; fernerE. Schwarz, Identität, 113. 194 Die Tatsache, daß in Qumran ein anderer Kalender herrschte als in Jerusalem, läßt sich sehr schön an der Notiz in 1QpHab11.4-8 erkennen. die davon spricht. daß der Hohepriester am Versöhnungstag kriegerische Aktivitäten gegen die Gemeinde unternommen habe. Der Versöhnungstag der Qumrangemeinde mußte somit von demjenigen, der in Jerusalem begangen wurde, differieren. 195 Siehe S. Talmon, Kalender und Kalenderstreit, in: Gesellschaft und Literatur in der Hebräischen Bibel, Gesammelte Aufsätze Bd. I. 152-189. 188
189 Siehe
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finden wir uns nun unwillkürlich in dem hinsichtlich der Kalenderproblematik weit .,dunkleren" Zeitraum vor der Entstehung der Qumrangemeinde. Da es uns für diese Zeit an eindeutigen Aussagen mangelt, müssen alle Urteile in hohem Maße hypothetisch bleiben. Zunächst sei darauf hingewiesen, daß die große Bedeutung, die dem solaren Kalender in dem astronomischen Henochbuch, das wohl schon im 3. Jh. v. Chr. verfaßt wurde, zukommt, sich gegen eine Auffassung, die Qumrangemeinde habe aus Opposition zu den in Jerusalem herrschenden Priesterkreisen ein völlig neues Kalendersystem geschaffen, spem. Daneben erheben sich jedoch noch weitere Bedenken gegen die These von dem solaren Kalender als eines neuen Kalendersystems 196. Vor allem das Gegeneinander von lunarem und solarem Kalender, wie es uns im 6. Kapitel des Jubiläenbuches entgegentritt, macht unwillkürlich den Eindruck, daß der solare Kalender keine Neuerung, sondern ein älteres Kalendersystem darstellt 197 . Spricht somit vieles dafür, daß die Qumrangemeinde auf ein älteres Kalendersystem zurückgreift, so erhebt sich die Frage, wo dieses solare Kalendersystem ursprünglich verankert war. Von grundlegender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang immer noch die These, daß das solare Kalendersystem seit dem Exil gebräuchlich war und in nachexilischer Zeit am Tempel in Jerusalem offiziell in Geltung stand, aber im Zuge der Hellenisierungsbestrebungen in Jerusalem zur Zeit des Antiochus IV. Epiphanes zugunsten des Junisolaren Systems abgeschafft wurde 19B. Diese These fügt sich recht gut zu den Zeugnissen des biblischen Danielbuches, nach denen wohl kaum ein Zweifel bestehen kann, daß es zur Zeit des Antiochus IV. Epiphanes zu schwerwiegenden Veränderungen am offiziellen jüdischen Kalender gekommen ist. Ein Schwachpunkt dieser These besteht jedoch darin, daß sie nur schwer erklären kann, weshalb nach dem Erfolg der Makkabäerrevolte das von den Hellenisten bzw. von Antiochus lV. Ep1phanes eingeführte Junisolare System weiter beibehalten wurde 199 . Meines Erachtens läßt sich jedoch dieser Einwand überwinden, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß es zu Beginn der makkabäischen Aufstandsphase zu einer Allianz recht unterschiedlicher jüdischer Gruppierungen gegen die Politik des Antiochus IV. Epiphanes kam. Die Gründe, die die einzelnen Gruppierungen zur Teilnahme am Aufstand veranlaßten, waren sicherlich keineswegs einheitlicher Natur. Waren die apokalyptischen Kreise, die hinter dem biblischen Danielbuch stehen, in ihren Aktivitäten stark von kultischen Interessen geleitet und kämpften in erster Linie für eine Restitution des Kalenders und gegen die Entweihung des Tempels, so waren für den Widerstand anderer Gruppierungen nationale, politische Gründe ausschlaggebend. Von daher kann es durchaus sein, daß die Hasmonäer, die von Haus aus der Kalenderfrage wohl kaum eine große Bedeutung zumaßen, durchaus in der Lage waren, sich nach ihrem Sieg mit den Kalenderreformen der mit Antiochus IV. verbündeten Hellenisten ab196 Siehe z.B. J. Maier, Die Texte vom Toten Meer, Bd.II, 115. 197 Siehe E. Schwarz, Identität, 121; Rau, Kosmologie, 379. 198 Siehe E. Schwarz, Identität. 118ff. 199 Siehe J. Maier/K. Schuhen, Qumran-Essener, 55.
Das Geschichtsbuch/Das Buch der Traumvisionen (Kap. 83-90)
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zufinden2oo. Gehen wir im Gegenzug davon aus, daß bereits in nachexilischer Zeit am Jerusalemer Tempel ein lunisolarer Kalender in Geltung stand, so mUßte es neben diesem offiziellen Kalender zu dieser Zeit einen "inoffiziellen" solaren Kalender gegeben haben, der bei bestimmten, nicht näher zu bestimmenden Gruppen in Geltung stand und der innerhalb der Qumrangemeinde eine Restauration erlebte. Der große Schwachpunkt dieser Hypothese besteht jedoch darin, daß wir von diesen Trägerkreisen eines solaren Kalenders keinerlei Nachrichten besitzen. Zudem stellt sich dann sofort die Frage, worin der Kalenderfrevel des Antiochus IV. Epiphanes, dem gerade innerhalb des biblischen Danielbuches eine zentrale Bedeutung zukommt, konkret besteht? Die These, daß es im Kontext der Politik des Antiochus IV. Epiphanes bzw. der Anhänger einer hellenistischen Reform zu einer Korrektur des in Jerusalem herrschenden lunisolaren Kalenders durch einen seleukidischen luDisolaren Kalender gekommen ist, scheint mir doch recht konstruiert201. Trotz aller Einwände kann meines Erachtens die These, daß ursprUnglieh am Jerusalemer Tempel ein solarer Kalender in Geltung war, der nach einer Kette heftiger Auseinandersetzungen durch einen lunisolaren Kalender ersetzt wurde, immer noch am meisten Wahrscheinlichkeit für sich verbuchen. Zwar liegt die Geschichte dieser Auseinandersetzungen, in die der astronomische Teil des äthiopischen Henochbuches und das Jubiläenbuch lediglich einen kleinen Einblick gewähren, weitgehend im Dunkeln, doch spricht vieles dafür, in den kalendarischen Veränderungen durch Antiochus IV. Epiphanes bzw. der hellenistischen Reformbewegung in Jerusalem ein, wenn nicht das entscheidende Kettenglied auf dem Weg zur endgültigen Herrschaft des lunisolaren Kalenders in Jerusalem zu sehen. Die Entscheidung der Qumrangemeinde, den alten solaren Kalender erneut zum Leben zu erwecken, ist eindeutig als restaurative Erneuerungstendenz zu verstehen.
2.2.7 Das Geschichtsbuch/Das Buch der Traumvisionen (Kap. 83-90) 2.2. 7.1 Einführung Das Buch der Traumvisionen umfaßt die Kapitel 83-90 des äthiopischen Henochbuches. Neben der äthiopischen Textfassung besitzen wir auch zu diesem Buch einige in Qumran gefundene aramäische Fragmente. Während diese Fragmente keine Parallelen zu den Kapiteln 83-84 enthalten, sind die Kapitel 85-90 recht gut bezeugt. Die äthiopische Version dieses Kapitels ist offensichtlich länger als die aramäische202. Richten wir unser Augenmerk auf den Aufbau dieses Buches, so ist es als der am stärksten in sich geschlossene Teil 200 Die inlemational orientienen machtpolilischen Interessen der Makkabäer erforderten nicht zuletzt aus winschaftlichen Gründen ein Arrangement mit dem Mondkalender; siehe auch H. Stegemann, Die Essener, 231-241. 201 Gegen E. Schwarz, Identität, 126. 202 Siehe J.T. Milik, The Books ofEnoch, 41f; H.S. Kvanvig, Roots, 104.
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Das äthiopische Henochbuch
der Henochsammlung zu bezeichnen20J. Lediglich die Abgrenzung dieses Buches gegenüber dem nachfolgenden paränetischen Buch bereitet recht große Schwierigkeiten, die uns an dieser Stelle jedoch nicht weiter beschäftigen sollen204. Im Zentrum dieses Buches stehen mit der Sintflut-(83-84) und Tiervision (85-90) zwei Traumvisionen, in denen die Welt- und Heilsgeschichte thematisiert werden. So geht es in der Tiervision zum ersten Mal innerhalb der Henochsammlung explizit um den Verlauf der Geschichte, während bisher primär Ur- und Endgeschichte in den Blick kamen. Die Abfassungszeit der Tiervision ist wohl um das Jahr 164 v. Chr. anzusetzen20s.
2.2. 7.2 Die Tiervision (Kap. 85-90) 2.2. 7.2.1 Einleitende Bemerkungen Die Tiervision gehört aller Wahrscheinlichkeit nach zusammen mit der ZehnWochen-Apokalypse zu den ältesten Teilen der ganzen Henochsammlung206 und soll zunächst unabhängig von ihrer jetzigen Verbindung mit der Sintflutvision und ihrer späteren Einbindung in das Buch der Traumvisionen behandelt werden. Das Leitmotiv, unter dem alle unsere Bemühungen um eine Interpretation der Tiervision stehen, bleibt die Frage nach der Rolle des Gesetzes innerhalb dieser Vision. Hierzu ist es zunächst jedoch unabdingbar, sich mit dem Inhalt und den Eigenheiten dieser Vision vertraut zu machen. Der Verfasser der Tiervision bedient sich durchweg einer Symbolsprache, deren grundlegende Metapher die traditionelle Benennung der Israeliten durch "Schafe" ist207. Gerade die Tatsache, daß die gesamte Tiervision in einer Symbolsprache abgefaSt ist, rechtfertigt unseren Versuch, das Gesetzesverständnis dieses Textes zu erhellen, obwohl das Stichwort "Gesetz" an keiner Stelle erscheint. Werden doch auch andere Ereignisse der Heilsgeschichte nicht mit den Termini belegt, die man eigentlich erwarten würde208. So ist z.B. im Gegensatz zur ,,ZehnWochen-Apokalypse" auch von der Erwählung Abrahams nicht direkt die Rede, sondern Gottes Erwählungshandeln wird durch die Geburt eines "weißen Bullen" symbolisiert (89,10). Der Auszug aus Ägypten erscheint als Flucht vor "Wölfen" (89,21f0. Jerusalem ist ein großes und weites ,.Haus", während der Tempel als "Tunn" auf diesem Haus dargestellt wird (89,50). Die Symbolsprache der Tiervision zwingt uns also dazu, auch mit Blick auf die Rolle des Gesetzes nach Metaphern zu suchen, die das Gesetz symbolisieren. Der GeschichtsrUckblick selbst umfaßt die gesamte Weltgeschichte von Adam bis zum 203 So S.Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 673.
204 Siehe z.B. S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 674. 20S Siehe S. Uhlig. Das äthiopische Henochbuch, 673f; J.T. Milik, The Books of Enoch, 44; M. Hengel, Judentum, 342f. 206 Siehe K.-H. Milller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 58; M. Hengel, Judentum, 345. 207 Siehe hierzu J.Jeremias, Anikel JtOlJ.I.iJv JC:tA.,ThWNT VI 484-501. 208 Siehe H.S. Kvanvig, Roots, 106f.
Das Geschichtsbuch/Das Buch der Traumvisionen (Kap. 83-90)
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Anbruch des messianischen Reiches. Im Mittelpunkt steht eindeutig die Heilsgeschichte Israels. Sie ist die Achse, um die sich alles andere dreht 209 • Die gesamte Weltgeschichte wird in drei Perioden aufgeteilt, wobei die erste Periode von der Urzeit bis zum Exil Israels reicht, während die zweite Periode von der Preisgabe Israels an die 70 Hirten handelt, bis schließlich in der dritten Periode mit Gottes Gericht und dem Kommen des messianischen Zeitalters die Weltgeschichte an ihr Ende gelangt.
2.2. 7.2.2 Die erste Epoche: Von der Urzeit bis zur Preisgabe Israels an die 70 Hirten (Kap. 85,1-89,58) Die Urzeit (Kap. 85,3-89,1 Ja) Befassen wir uns mit der ersten Periode, so erscheint die Urzeit zunächst in einem positiven Licht. Sowohl Adam als auch Eva werden als "weiße Bullen" vorgestellt. Die Farbe "weiß" steht eindeutig für deren Gerechtigkeit (85,3). Keiner von beiden wird mit der SUnde oder dem Übertreten von Gottes Geboten in Verbindung gebracht210. Erst mit dem Brudermord Kains an Abel tritt das Böse ans Licht der Welt (85,4)2 11 • Die Entstehung und Verbreitung der SUnde wird also im Gegensatz zu Traditionen des angelologischen Buches nicht auf eine metaphysische Ursache zurückgeführt, sondern ihr menschlicher Ursprung wird ausdrücklich betont. Damit redet die Tiervision von Anfang an der vollen Verantwortlichkeit des Menschen für das Böse auf der Erde das Wort und erteilt jedem Versuch, menschliche Schuld in der Geschichte ,,metaphysisch" zu relativieren, eine deutliche Absage 212 . Zusammen mit dieser Entmythisierung des Bösen läßt sich in der Tiervision auch eine Tendenz zur Individualisierung feststellen. So bleibt der Brudermord Kains dessen eigene sUndhafte Tat, die er selbst zu verantworten hat, ohne daß sie in der Lage ist, die Geschichte der Menschheit vollständig zu pervertieren. Folglich ist am Ende von Kapitel 85 nicht nur von "schwarzen", sondern auch von vielen "weißen Rindern" die Rede (85,10). Im Anschluß an Kap. 85, das sich mit der Sünde Kains und deren Folgen beschäftigte, greift auch die Tiervision die Tradition vom Engelfall auf, der als Sternensturz und damit als grundlegende Störung der 2.2.7.2.2.1
209 So auch K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 139: ,,Nirgends ist der Tiervision an einem die ganze Weltgeschichte umfassenden ,Universalis~us· gelegen. der zur Folge haben könnte, daß Israel nicht mehr im Mittelpunkt der Geschichte stUnde"; ferner G. Reese, Die Geschichte Israels. 22. 210 Hier unterscheidet sich die Tiervision von anderen apokalyptischen und der Apokalyptik nahestehenden Schriften. So übenritt nach IV Esra 3,7 bereits Adam das Gebot, das ihm Gott auferlegt hat und erweist sich somit als Sünder. Auch nach syrBar 4,3 machte sich bereits Adam der Sünde schuldig. Von der SUnde Evas wissen ApkMos (Kap. 10) und die Schrift ..Leben Adams und Evas" in Kap. 18 zu berichten (=Vita 18). 211 Auch im Jubiläenbuch wird Adam primär positiv gezeichnet, während dem Brudermord Kains eine zentrale Stellung in der Ätiologie des Bösen zukommt (siehe Jub 3-4). 212 Siehe Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie, 29; K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 120.
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kosmischen Ordnung verstanden wird (86,3). Im großen und ganzen wird der Fall der Wächterengel in denselben Farben gemalt, wie wir es bereits aus den im angelologischen Buch verarbeiteten Traditionen kennen. Die Sünde der Engel besteht in deren sexueller Vereinigung mit den Menschenfrauen, die in 86,4 als ,,Kühe der Bullen" bezeichnet werden. Vor allem das Treiben der aus dieser Vereinigung hervorgegangenen Riesen, die sich hinter der Bezeichnung ,,Elefanten, Kamele und Esel" in 86,4 verbergen, führt zu einer akuten Gefährdung aller Lebewesen auf Erden213, so daß sich Gott dazu entschließt, deren Unwesen ein Ende zu setzen. Während sich die Riesen auf Initiative der zum Strafvollzug Gottes eingesetzten Erzengel selbst vernichten21 4 , besteht die Strafe der gefallenen Wächterengel darin, daß sie in einen Abgrund geworfen und dort bis zum Endgericht aufbewahrt werden (88, 1). Die Strafe der Engel ist eine vorläufige, die bis zum Endgericht terminiert ist. Neben vielen Gemeinsamkeiten besteht jedoch im Vergleich zur Schilderung dieser Ereignisse im angelologischen Buch ein gravierender Unterschied. Nach der Tiervision ist die Sünde der Engel nicht in der Lage, mit Blick auf die Menschheit eine verhängnisbildende Wirkung zu entfalten, sondern auch die Engel sind nur für die Folgen ihrer eigenen Vergehen verantwortlich. Deshalb werden sie von Gott auch nur für ihre eigenen Sünden bestraft. Zu einer Verbindung zwischen der Verantwortlichkeit der Sterne für ihr Tun und der Verpflichtung zum Gesetzesgehorsam, wie wir sie aus dem angelologischen Buch kennen2 15, kommt es in der Tiervision jedoch nicht. Vom Gesetz ist in diesem Zusammenhang nicht die Rede. Ist die Verbannung in "eine Schlucht der Erde" die vorläufige Strafe Gottes für die Sünde der Engelmächte, so ist die Sintflut die vorläufige Strafe für die SUnden der Menschheit. Der richterliche Akt Gottes ist in beiden Fällen als dessen Antwort auf die Eigenmächtigkeit der verschiedenen Größen in ihrem jeweiligen Bereich zu verstehen216. Kosmische und irdische Sachverhalte gehören auch hier zusammen. Die ursprünglich heilvolle Urzeit endet nach der Tiervision in einem Desaster. Gottes ursprünglich der ganzen Menschheit zugedachtes ,,Erwählungshandeln" ist vorerst völlig gescheitert. Gott kann sich jedoch nicht zu einer völligen Vernichtung seiner Schöpfung entschließen, sondern mit Noah und den Seinen bleibt ein "kleiner Rest" dem Gerichtshandeln Gottes entnommen. Gott entschließt sich nach dem "ersten Ende" (siehe auch äthHen 91,6) zu einem zweiten Neuansatz. Doch dieser Neubeginn erweist sich gleich21 3 Siehe äthHen 86,6: .,Und sie fingen an, jene Bullen zu fressen. und siehe, alle Kinder der Erde fingen an zu zittern und vor ihnen zu beben und vor ihnen zu fliehen" (Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 681). 214 Siehe äthHen 88,2: ..Und einer von ihnen zog das Schwert und gab es jenen Elefanten, Kamelen und Eseln. und sie fingen an, einer den anderen zu schlagen, und die ganze Erde erbebte ihretwegen" (Übersetzung nach S. Uhlig. Das äthipische Henochbuch, 682). 2l5 Die Vorstellung, daß auch die gefallenen Sterne nur für ihre eigenen Vergehen die Verantwortung tragen, findet sich im angelologischen Buch in 17,14ff und 21,4ff. Da dort die Vergehen der Sterne als Gebotsübertretungen konkretisiert werden, findet sich eine enge Verbindung von Gesetzesgehorsam und Verantwortlichkeit im kosmischen Bereich. 216 Siehe hierzu vor allem K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik. in: Studien, 120f.
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falls schon bald als vergebliche LiebesmUhe. Dies gilt zumindest mit Blick auf die Völkerwelt, die in 89,10 durch eine Liste unreiner Tiere (vgl. Lev.ll) symbolisiert und deren Treiben in 89,11 völlig negativ charakterisiert wird2 17 . Auf der anderen Seite war der zweite Neuansatz jedoch nicht völlig vergeblich, da im Kontrast zu den vielen unreinen Tieren, die die Völkerwelt symbolisieren, zumindest von der Geburt eines einzigen "weißen Bullens" die Rede ist (89,10). Hinter diesem Symbol verbirgt sich zweifelsohne die Gestalt Abrahams. 2.2.7.2.2.2 Die Zeit der Erzväter, tkls Exodusgeschehen und die Wüstenwanderung (Kap. 89,llb-38)
Abraham, der die Epoche der Erzväter einleitet, wird durch und durch positiv gezeichnet. Er markiert den Beginn der Geschichte Israels, die von nun an im Zentrum der Tiervision steht. Der weitere Verlauf der Tiervision ist von der spannenden Frage geleitet, ob das Volk Israel in der Lage ist, mit dem verheißungsvollen Beginn seiner Geschichte zu wuchern, oder ob es zu einer Art "Wiederholung" der Urgeschichte kommt, so daß sich der verheißungsvolle Anfang in sein Gegenteil verkehrt? Der umfangreiche Geschichtsrückblick der Tiervision kann nicht in allen Einzelheiten nachgezeichnet werden, sondern wir wollen uns auf die für unsere Untersuchung entscheidenden Punkte beschränken. Im Mittelpunkt dieser Geschichtsdarstellung, die sich weniger in der Abfolge der einzelnen Ereignisse als in der Art ihrer Gewichtung von dem Bild unterscheidet, das wir aus dem Alten Testament kennen, stehen immer wieder Schafe, die ihre Augen aufmachen bzw. deren Augen geöffnet werden (89,28.41.44; 90,6.10.35) und verblendete Schafe, die vom Weg des ,.Herrn der Schafe" abirren (89,32f.41.54. 74; 90,7.26). Der stete Wechsel zwischen Geschichtsperioden, die durch die "offenen Augen" der Israeliten geprägt sind und solchen Perioden, die im Zeichen der "verblendeten Augen" stehen, erinnert stark an das deuteronomisch- deuteronomistische Geschichtsbild, wie es uns an vielen Stellen des Alten Testaments entgegentritt. Auch dort ist der stete Wechsel zwischen Zeitabschnitten, an denen Israel den Geboten seines Gottes gehorsam ist und Perioden des Ungehorsams die letztlich alles bestimmende Kraft. Während jedoch die deuteronomistischen Partien des Alten Testaments Heilsund Unheilsperioden innerhalb der Geschichte fest mit dem Verhalten Israels gegenUber den Geboten der Mosetora verbinden218, bezieht die Tiervision die Metapher von den "offenen" und "geschlossenen·• Augen zunächst keineswegs auf die Tora. So findet sich in 89,28 die Metapher von den "geöffneten" Augen zum ersten Mal innerhalb der Tiervision im Kontext des Exodusgeschehens bzw. des Aufenthaltes in der WUste2 19 . Der Verfasser der Tiervision sieht im 217 Siehe llthHen 89,11: "Und sie fingen an, sich untereinander, einer den anderen, zu beißen." (Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische He noch buch, 684f). 2l8 Vgl. z.B. Ri 2,11-19. 219 Siehe äthHen 89,28: ,,Aber die Schafe entkamen aus jenem Wasser und zogen in eine Wüste, wo es weder Wasser noch Gras gab; und sie fingen an, ihre Augen zu öffnen, und sie
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Exodusgeschehen und im Wüstenaufenthalt die entscheidenden Heilsereignisse am Beginn der Geschichte Israels. Besonders die Zeit in der Wüste gilt als Heilszeitpar excellence, als Zeit ungestörter Gemeinschaft zwischen Gott und seinem Volk. Sowohl die Erwählung Abrahams als auch das Sinaigeschehen verlieren gegenüber diesen Heilsereignissen deutlich an Gewicht, ja es scheint zunächst fraglich, ob die Gesetzgebung am Sinai überhaupt noch als Heilsereignis verstanden wird. Wenn man bedenkt, was andere frühjüdische Texte über die Gestalt Abrahams und die Bedeutung seiner Erwählung zu berichten wissen22o, ist die Kürze, in der die Tiervision diese Ereignisse reflektiert, recht verwunderlich. Dies gilt gerade dann, wenn man in Rechnung stellt, daß der Gestalt Abrahams an anderen Stellen innerhalb des apokalyptischen Schrifttums eine sehr hohe Bedeutung zugemessen wird (vgl. z.B. äthHen 93,5; IV Esr 13f; syrBar 4,4). Das Sinaigeschehen wird zwar bedeutend ausführlicher entfaltet, jedoch liegt der Schwerpunkt nicht auf dem Faktum der Gabe der Tora, sondern auf der Schilderung der machtvollen Theophanie Gottes. So heißt es in 89,30: "Und danach schaute ich den Herrn der Schafe, der vor ihnen stand, und seine Erscheinung war majestätisch und ehrfurchtgebietend und mächtig, und alle jene Schafe sahen ihn und fürchteten sich vor seinem Angesicht"221. Ein Rekurs auf die Sinaigesetzgebung fehlt jedoch nicht völlig222, lediglich die Art und Weise, in der hier von der Tora geredet wird, ist ungewohnt. Der Schlüsselvers für die Frage nach der Rolle der Tora im Rahmen der Sinaierzählung findet sich in 89,32: "Und jenes Schaf, das sie führte, kehrte um und stieg auf den Gipfel jenes Felsens; aber die Augen der Schafe begannen, verblendet zu werden und vom Wege abzuirren, den es ihnen gezeigt hatte; aber jenes Schaf wußte (es) nicht" 223. Nachdem schon in Vers 29 von einem ersten Aufstieg des Mose, der sich hinter dem Symbol des ,,Leitschafes" verbirgt, auf den Berg Sinai berichtet wurde, ist nun in Vers 32 von einem zweiten Aufstieg die Rede. Die Episode der Theophanie Gottes spielt zwischen diesen beiden Ereignissen. Der Verfasser der Tiervision legt seinem Bericht über das Sinaigeschehen das gleiche Schema zugrunde, wie wir es auch aus Ex 19 kennen. Der zweite Aufstieg geschieht somit eindeutig zu dem Zweck, die Tora entgegenzunehmen. Über den Akt der Gesetzgebung selbst und den Inhalt der Gebote verliert die Tiervision jedoch kein einziges Wort. Statt dessen begegnet uns die Metapher von den "verblendeten Augen", die auf die Weise interpretiert wird, daß die Schafe vom Weg, den Mose ihnen gezeigt hat, abirren. Beachtet man, daß innerhalb der Tiervision zum ersten Mal im Kontext der Wüstenzeit von den "offenen Augen" der Schafe die Rede war, so beginnt mit dem Sinaigeschehen die "Verblendung" der Schafe, die als "Abirren vom Weg sahen. Und ich schaute den Herrn der Schafe, (wie) er sie weidete und ihnen Wasser und Gras gab, und jenes Schaf, wie es ging und sie führte" (Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 687). 220 Siehe J. Jeremias, Art .. 'Ajlpaiql ~A, THWNT I, 7-9. 221 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 687f. 222 Gegen K.-H. MUIIer, Die frühjUdische Apokalyptik, in: Studien, 102. 223 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 688.
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des Mose" charakterisiert wird. Hinter dem "Weg des Mose" kann sich im Grunde nichts anderes verbergen als die Gesetzgebung am Sinai. Auch wenn die Aussage von Vers 32, daß Mose nicht wußte, daß die Israeliten vom rechten Weg abwichen, sicherlich mit Blick auf die Geschichte vom Goldenen Kalb konzipiert wurde224, ist mit dem "Abirren vom Weg des Mose" mehr intendiert, als nur der Verstoß Israels gegen das erste und zweite Gebot. Diese beiden Hauptgebote, die nach dem Buch Daniel auch in den Auseinandersetzungen um die Schändung des Jerusalemer Tempels durch Antiochus IV. Epiphanes im Mittelpunkt des Geschehens standen, stehen hier sicherlich stellvertretend für die ganze Tora. Die Tora erscheint als absolute Größe, deren Gebote jedoch bereits in ihrer Geburtsstunde nicht erfüllt wurden. Die Gesetzgebung am Sinai ist von Anfang an in einem negativen Kontext verankert. Mit der Gabe der Tora am Sinai scheint die Heilszeit Israels, die durch Gottes Handeln während des Auszugs aus Ägypten und in der Wüste so hoffnungsfroh begann, bereits wieder an ihrem Ende angelangt zu sein. Die Gesetzgebung am Sinai nimmt innerhalb der Tiervision nicht die Heilsrolle ein, die ihr an anderer Stelle innerhalb des äthiopischen Henochbuches (siehe z.B. die Zehn-Wochen-Apokalypse und das Paränetische Buch) zukommt. Die Mosetora wird hier ganz gewiß nicht als heilsgeschichtliches Dokument der Erwählung Israels verstanden 225 , sondern die Erwählung wird vom Gesetz her eher in Frage gestellt. Die Tora ist Ausdruck des verpflichtenden, Gehorsam fordernden Willens Gottes. Mit der Gabe der Tora hat das Volk Israel die durch Exodusgeschehen und Wüstenaufenthalt charakterisierte Epoche ungetrübter Heilsgewißheit verlassen und ist in eine Epoche der Bewährung eingetreten. Der Beginn der Geschichte Israels mit seinem Gesetz steht jedoch unter keinem guten Stern und läßt die Möglichkeit eines völligen Scheiteros am Gesetz bereits jetzt als dunkle Wolke am Horizont erkennen. Der Erfolg des Neuansatzes Gottes nach der Sintflut ist seit der Gabe der Tora mehr als fraglich. 2.2. 7.2.2.3 Von der Landnahme über die Richterzeit bis zur Reichsteilung (Kap. 89,39-58)
Besonderes Gewicht mißt der Verfasser der Tiervision dem Stiftszelt (89,3640), der Stadt Jerusalem und dem Tempel (89,50) zu. Werden die ,,Zeit des Stiftszeltes" und die Königszeit als Zeit der Erwählung Jerusalems und des Tempels226 zunächst ausdrücklich positiv gezeichnet227 , so überwiegen dann, wenn man die gesamte Periode betrachtet, deutlich die negativen ZUge. Während die Richterzeit in deuteronomistischen Farben als Zeit sich abwechselnden 2 24 Mose befand sich nach dem Bericht des Buches Exodus ja noch auf dem Berg Sinai und konnte von dem Abfall des Volkes somit nichts bemerken. 225 GegenD. Rössler, Gesetz und Geschichte, 104. 226 In äthHen 89,50 ist ausdrücklich davon die Rede, daß Gott sich im Tempel niederließ und dort verehrt wurde. 227 Die Herrschaft Sauls wirft jedoch einen Schatten auf dieses Bild, da der Verfasser der Tiervision in 89,44 Saut recht negativ darstellt.
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Gehorsams und Ungehorsams gegenüber Gott erscheint (89,4la), endet die Königszeit, die verheißungsvoll begann (89,4lb), in einer Katastrophe. In 89,51 ist erneut vom ,,Abirren der Schafe" und in 89,54 von den "verblendeten Augen" die Rede. Auch Jerusalem und der Tempel fungieren nicht in der Weise als HeilsgUter, daß sie in der Lage wären, Israel den Bestand des Heils zu garantieren. Nach 89,51 hat Israels ,,Abirren vom Wege", eine Bezeichnung hinter der sich sicherlich Israels Ungehorsam gegenüber Gott und dessen Geboten verbirgt, automatisch auch den Verlust aller aus dem Besitz des Tempels abgeleiteter Heilsgarantien zur Folge. Kommt doch Israels Ungehorsam gegentlher Gott und dessen Geboten einem "Verlassen des Tempels" gleich (89,54). Gesetzesfrömmigkeit und Kultfrömmigkeit sind eng aufeinander bezogen. Der Ungehorsam Israels fUhrt zu dem Entschluß Gottes, sein Volk zu vernichten, indem er es den fremden Völkern ausliefert (89,55-58). In diesem Zusammenhang taucht innerhalb der Tiervision das Motiv von den siebzig Hirten auf228, die ab Kap. 89,59 an die Stelle der fremden Völker treten.
2.2. 7.2.3 Die zweite Epoche: Die Preisgabe Israels an die 70 Hirten (Kap. 89,59-90,19)
Die Vorstellung von den siebzig Hirten bedeutet eine nicht unerhebliche Einschränkung des ursprUngliehen Vernichtungsbeschlusses Gottes Uber sein Volk und verlagert automatisch den Blick weg von dem Ungehorsam Israels hin zu den erwarteten Vergehen der siebzig Hirten. Deren Aufgabe besteht im Gegensatz zu deijenigen der fremden Völker nicht mehr in der völligen Vernichtung aller Israeliten. Nur noch ein Teil Israels ist von Gott zur Vernichtung bestimmt. Gott entschließt sich mit der Übergabe seines Volkes in den Machtbereich der Völkerengel dazu, einen Rest aus Israel zu verschonen. Der Erzengel Michael (= der Völkerengel Israels) wird beauftragt, das Treiben der Völkerengel an Israel zu überwachen und ihre erwarteten Vergehen, die darin bestehen, daß sie den Restgedanken mißachten und sämtliche Israeliten vernichten wollen, fürs Endgericht aufzuschreiben (89,61-64.68-71). Die Geschichte Israels von der Zerstörung Jerusalems bis zum Endgericht und dem Beginn eines messianischen Zeitalters wird nun in vier Hirtenperioden eingeteilt. Die erste Hirtenperiode beinhaltet die eben geschilderte Zeit der Zerstörung Jerusalems. Die zweite umfaßt den Zeitraum von Kyros bis zu Alexander dem Großen und handelt von der Rückkehr Israels aus dem Exil. Die RUckkehr aus dem Exil wird nicht als Neuanfang verstanden, sondern extrem negativ charakterisiert. Die Erneuerung des Tempels gilt als illegitimer Akt, Israel ist als Ganzes verunreinigt (89,73). Die Metapher von den "verblendeten Augen" wird jedoch nicht nur auf Israel, sondern auch auf die siebzig Hirten bezogen. So heißt es in 89,74: "Und überdies waren die Augen der Schafe verblendet, so 228
Mit dem Motiv von den siebzig Hirten verschafft sich offensichtlich die Vorstellung von den verschiedenen Völkerengeln innerhalb der Tiervision Raum (vgl. Dan 1~12); siehe M. Hengel, Judentum. 342f.
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daß sie nicht sahen, und (die) ihrer Hirten ebenso~ und man übergab sie in großer Zahl ihren Hirten zur Vernichtung, und sie traten die Schafe mit FUßen nieder und verschlangen sie"229. Die dritte Periode reicht von Alexander bis zur Seleukidenherrschaft, während die vierte Periode Ereignisse aus der Zeit der Gegenwart des Verfassers der Tiervision widerspiegelt. Die vierte Hirtenperiode unterscheidet sich schon deshalb von den drei vorangegangenen Perioden, da gleich zu Beginn dieser Periode von einer Wende im Verhalten eines Teils des Volkes gegenüber Gott die Rede ist. Richten wir unser Augenmerk zunächst auf 90,6: .,Und siehe, von jenen weißen Schafen wurden Lämmer geboren, und sie begannen, ihre Augen zu öffnen und zu sehen und nach den Schafen zu schreien"230. Nicht das Volk Israel in seiner Gesamtheit, wohl aber ein Teil des Volkes, eine Gruppe, die sich hinter der Bezeichnung ,,Lämmer'' verbirgt, kehrt zu Gott und damit auch zu dessen Geboten um. Eine eindeutige geschichtliche Identifikation dieser Gruppierung, in deren Umfeld sicherlich die Trägerkreise der Tiervision und weiterer apokalyptischer Schriften231 entstanden sind, bereitet jedoch große Schwierigkeiten. Meist wird diese Stelle auf die .,Chassidim" bzw. ,,Asidäer" bezogen 232, von denen sowohl im ersten als auch im zweiten Makkabäerbuch die Rede ist233. Auf die kaum mehr überschaubare Diskussion, die um das Problem der Chassidim entbrannt ist, kann an dieser Stelle jedoch nicht ausfUhrlieh eingegangen werden234 • In bezug auf unser Thema sei lediglich soviel gesagt. Die Chassidim stellen zweifellos eine feste frühjüdische Gruppierung dar23S, wobei sich gegen eine vorschnelle Identifikation dieser Gruppe mit den Trägem der sich ausbildenden Apokalyptik jedoch einige Bedenken erheben. Trotz aller Verbindungslinien, die zwischen den Asidäern und den Essenern bzw. der Qumrangemeinschaft bestehen236, dürfen die Linien, die diese Gruppe mit den Pharisäern verbinden, nicht unterbewertet werden237 • Da sich die Pharisäer in ihrem eschatologischen Denken jedoch weitgehend in traditionellen Bahnen bewegten, spricht vieles dafür, in den Asidäern eher Repräsentanten einer traditionel-
229 Übersetzung nach S.Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 696 230 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 698.
231 Diese Gruppierung zeichnet wohl auch für weitere Texte innerhalb des äthiopischen Henochbuches und darüber hinaus für dessen Endredaktion verantwortlich. Auch das biblische Danielbuch ist sicherlich in diesen Kreisen entstanden; siehe z.B. R. Albertz. Religionsgeschichte Israels, Bd. 2, 599. 232 So z.B. 0. Plöger, Eschatologie, 16ff und 66f; M. Hengel, Judentum, 319ff und 343; R. Albertz. Religionsgeschichte Israels, Bd. 2, 598f. 233 Siehe I Makk 2,42; 7,12ff; 0 Makk 14,6 234 Siehe hierzu J. Kampen, Hasideans, 1-43. 23S Dies ergibt sich aus der Charakterisierung der Asisäer in I Maldc 2,42 als crovayaryit. 236 Siehe z.B. M. Hengel, Judentum, 319ff. 237 Siehe J. Kampen, Hasideans, 214ff.
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Jen als einer apokalyptischen Eschatologie zu vermuten23 8 • In diesem Falle fielen die Asidäer als Träger der frUhjUdischen Apokalyptik natUrlieh aus239 . Fahren wir in unserer Textinterpretation weiter fort, so ist die Masse des Volkes nicht bereit bzw. nicht in der Lage, dieser Gruppierung auf ihrem Weg zu folgen. Dies geht aus 90,7 klar hervor: "Aber sie schrieen nicht nach ihnen und hörten nicht auf ihr Rufen, sondern sie waren außerordentlich (=völlig) taub, und ihre Augen waren außerordentlich geblendet und schwer"240 • Die Steigerungspartikel, die in diesem Vers zur Beschreibung der ,,Blindheit" des Volkes verwendet werden, lassen darauf schließen, daß die BemUhungen, das gan-re Volk zum C'..ehorsam gegenUber Gott zu bewegen. genau das Gegenteil bewirken. Der Ungehorsam Israels hat endgUltig seinen Höhepunkt erreicht. Doch gerade in diesem Moment, in dem sich Gehorsam und Ungehorsam innerhalb des Volkes so weit wie nie im Verlauf seiner Geschichte voneinander entfernt gegenUberstehen, kommt es unter dem Druck äußerer Feinde zu einer wundersamen Wandlung auch der ungehorsamen Mehrheit des Volkes. Im Rahmen der Solidarisierung der unterschiedlichen Gruppen im Abwehrkampf gegen äußere Feinde wird die Metapher von den "offenen Augen" auch auf die "Schafe" Ubertragen. So lesen wir in 90,9: "Und ich schaute, bis jenen Lämmern Hörner hervorbrachen, aber die Raben warfen die Hörner nieder. Und ich schaute, bis ein großes Horn hervorsproßte, eins jener Schafe, und ihre Augen wurden geöffnet"241 . Den ,,Lämmern" kommt eine Vorreiterrolle zu, wenn es darum geht, "die Augen zu öffnen". Die Umkehr dieser gehorsamen Minderheit wird als Beginn der Umkehr des ganzen Volkes verstanden. Die Gruppe, die fUr die Entstehung der Tiervision verantwortlich zeichnet, nimmt demnach nicht als "heiliger Rest" die Stelle des Volksganzen ein. Der Erwählungsgedanke bleibt auf ganz Israel ausgerichtet. Die Tiervision hält an einer gesamtisraelitischen Heilsperspektive fest24 2. Stellen wir uns an dieser Stelle nochmals die Frage, was sich hinter der Metapher von den "offenen" und "geschlossenen" Augen konkret verbirgt, so kann damit nur an den Gehorsam bzw. Ungehorsam gegenUber Gottes Wegen gedacht sein243. Dies geht eindeutig aus dem parallelen Gebrauch dieser Wendungen in 89,32 und 89,51 hervor. Da nun in 89,32 im Rahmen der Beschreibung der Sinaiereignisse mit dem "Weg des Mose" sicherlich an die Tora gedacht ist, kann man davon ausgehen, daß gerade dem Gesetzesgehorsam in diesem Zusammenhang eine entscheidende Bedeutung zukommt. Unternehmen wir einen Versuch, die allgemeine Rede vom Gesetzesgehorsam noch etwas zu präzisieren, so steht die kultische 238 Siehe F. Hahn, Christologische Hoheitstitel. 144f Anm.2. 239 Siehe J. Kampen. Hasideans, 219. 240 Übersetzung 24 1 Übersetzung
nach S. Uhlig. Das äthiopische Henochbuch, 698. nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 698. 242 Siehe K.-H. MUIIer, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 64; so auch G. Reese, Die Geschichte Israels, 52. 243 So auch Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie, 30.
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Seite der Tora im Mittelpunkt des Interesses. Wird im Rahmen der Sinaiperikope in erster Linie der Verstoß gegen das erste und zweite Gebot und somit die Frage der rechten Gottesverehrung thematisiert, so wird am Ende der Vorexilischen Geschichte Israels mit der Rede vom "Verlassen des Tempels" eindeutig auf kultische Vergehen angespieJt244. In bezugauf die nachexilische Geschichte zeigt sich das gleiche Bild. Auch hier ist vom Ungehorsam Israels primär im Kontext des Tempelkultes die Rede. Der Wiederautbau des Tempels erscheint als Verstoß gegen Israels Reinheitsvorschriften 24S. An der Frage nach der rechten Gottesverehrung entscheidet sich das Schicksal des Volkes Israels. Dies war in der Vergangenheit so und wird sich auch in der Zukunft nicht ändern. Israels Verhalten gegenüber den kultischen Vorschriften der Tora ist von eschatologischer Relevanz. Die große Bedeutung, die im Rahmen der Tiervision gerade den kultischen Vorschriften der Tora und somit der Frage nach der rechten Gottesverehrung zukommt, läßt sich sehr gut mit den historischen Vorgängen, die aller Wahrscheinlichkeit nach für die Entstehung der Tiervision verantwortlich sind, in Verbindung bringen. Analog zur Endredaktion des biblischen Danielbuches verdankt auch die Tiervision ihre Entstehung den Ereignissen in Jerusalem, die schließlich zum Aufstand der Makkabäer führten246. Die Entweihung des Heiligtums durch den "Greuel der Verwüstung" und die Abschaffung des täglichen Opfers ist für die Trägerkreise, die hinter dem biblischen Danielbuch stehen, ein Grundproblem. Während den Trägerkreisen des biblischen Danielbuches jedoch eine gewisse Distanz gegenüber den Makkabäern zu eigen war247 , vermag die Tiervision den politischen Befreiungskampf der Makkabäer bedeutend positiver zu würdigen. Eine einfache Gleichsetzung der Trägerkreise der Tiervision und des biblischen Danielbuches greift schon deshalb zu kurz. Offensichtlich bestand zur Zeit der Abfassung der Tiervision eine regelrechte Koalition zwischen den Kreisen, die hinter der Tiervision stehen und den Makkabäern, wobei diese Koalition erste Erfolge gegen die Seleukiden zu verzeichnen hat (90,12) 248. Der alles entscheidende Befreiungsakt steht jedoch nach dem Glauben dieser Gruppe noch aus und wird einzig von Gott her erwartet. Der Befreiungskampf der Makkabäer wird von dieser Gruppe lediglich als Auftakt zum "eschatologischen" Freiheitskampf gesehen, ein Freiheitskampf der letztlich durch das Eingreifen Gottes entschieden wird. 244 So heißt es in äthHen 89.54 im ersten Teil des Verses: ,.Und danach schaute ich: Als sie das Haus des Herrn und seinen Turm verlassen hatten, wichen sie von allem ab und ihre Augen wurden verblendet'' (Übersetzung nach S. Uhlig. Das äthiopische Henochbuch. 693). 24S In äthHen 89,73 lesen wir: .. Und sie fingen wieder an zu bauen wie zuvor, und sie brachten jenen Turm in die Höhe. und er wurde der hohe Turm genannt, und sie fingen wieder an, einen Tisch vor dem Herrn zu errichten, aber alles Brot auf ihm (war) verunreinigt und nicht rein" (Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 696). In Vers 74 wird dies mit der ..Verblendung" der Augen der Schafe in Verbindung gebracht. 246 Siehe M. Hengel. Judentum, 342f. 247 Vgl. Dan 2,34; 6,25; 11.33-35. 24 8 Siehe M. Hengel. Judentum, 343.
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Nach 90,14-19 entspringt die entscheidende Wende im Kampf gegen die Seleukiden allein der Initiative Gottes. Dieser schickt den Israeliten zunächst den Schreiberengel Michael zu Hilfe (90,14.17), bevor Gott selbst sowohl direkt (90,15f.l8) als auch indirekt (90,19) in das Geschehen eingreift. Der makkabäische Befreiungskampf wächst sich zu einem alle Völker der Welt umgreifenden endzeitliehen Krieg aus, den Gott für sein Volk siegreich beenden wird249 . Die Universalisierung der lokalen Auseinandersetzung mit der tomfeindlichen Politik des Antiochus IV. Epiphanes wird soweit getrieben, daß selbst der Kosmos, symbolisiert durch die Vergehen der Völkerengel, miteinbezogen wjnJ2SO. Die religiö~ Konfrontation erhält kosmische Dimensionen. Folgerichtig schließt sich an das Kapitel vom endzeitliehen Krieg Gottes gegen die Feinde Israels ein Kapitel vom letzten Gericht Gottes über seine gesamte Schöpfung an (90,20-36). 2.2. 7.2.4 Die drine Epoche: Gones Endgericht und die Errichtung des Neuen Jerusalem (Kap. 90, 20-36)
Gottes Endgericht ergeht zunächst über die gefallenen Wächterengel (90,230, darauf über die siebzig Hirten (90,25) und zuletzt über die verblendeten Schafe, also jene Israeliten, die bis zum Schluß nicht bereit sind, zur rechten Gottesverehrung, zum Gehorsam gegenüber Gottes Geboten umzukehren2SI. Gottes endzeitliches Gerichtshandeln besitzt analog zum endzeitliehen Krieg wahrhaft kosmische Dimensionen. Waren die Endereignisse einzig das Werk Gottes, so ist es nun auch Gott selbst, der das messianische Reich errichtet. Zwar ist in einem vermutlich sekundären Einschub in 90,36-38 symbolisiert durch die Gestalt eines "weißen Bullen" auch vom Messias die Rede, doch kommt diesem im Ablauf der Endereignisse keine eigenständige Bedeutung zu. in Abwandlung der messianischen Erwartung, wie sie z.B. die alttestamentliche Prophetie zum Ausdruck bringt, erscheint der Messias erst dann als Heilskönig, nachdem Gott selbst das messianische Reich schon errichtet hat. Die Tiervision ist damit Zeugnis einer rein theokratischen Heilserwartung. Im Zentrum der Schilderung des messianischen Reiches steht eindeutig die Zionstradition. Nachdem Gott das "neue Jerusalem" und seinen Tempel auf dem Zion errichtet hat (90,280, wird es zur Völkerwallfahrt zum Zion kommen (90,30). Auch die Toten werden sich offensichtlich an dieser Wallfahrt beteiligen (90,33). Die Tiervison vertritt demnach die Vorstellung, daß auch die Heiden vom eschatologischen Heil nicht ausgeschlossen bleiben. Besonderes Gewicht legt der Verfasser dieser Zeilen jedoch auf die Feststellung, daß ganz Israel am Ende der Tage des Heils teilhaftig werden wird. So findet sich am Ende der Tiervision in 249
An dieser Stelle werden zweifelsohne Traditionen vom .,Völkersturm" aufgenommen, wie wir sie z.B. von Ps 46,7 etc. her keMen. 2SO Vgl. K.-H.MUiler, Die frUhjUdische Apokalyptik, in: Studien, 6lf. 2S 1 Hinter diesen Israeliten verbergen sich diejenigen, die hartnäckig an ihrer hellenistischen Lebensweise festhalten.
Das Geschichtsbuch/Das Buch der Traumvisionen (Kap. 83-90)
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90,35 nochmals die zentrale Metapher von den .,offenen Augen: .,Und ihnen allen wurden die Augen geöffnet und sie sahen gut, und es war nicht eines unter ihnen, das nicht sah"252. Trotz des in 90,26 berichteten Vernichtungsgerichtes Uber die hellenistischen Verächter der Tora innerhalb des Volkes Israel hält die Tiervision am gesamtisraelitischen Aspekt des eschatologischen Heiles fest. Israels Geschichte mit seinem Gott wird gegen allen Anschein ein gutes Ende nehmen. Dies ist der Trost, den der Verfasser der Tiervision fUr all diejenigen übrig hat, die angesichts gegenwärtiger Not die bange Frage nach dem Bestand der Erwählung Israels umtreibt. Diese Frage, auf die die Tiervision eine tröstliche Antwort findet, begegnet uns innerhalb des Geschichtsbuches auch in der Sintflutvision, die somit ihrer Rahmenfunktion gegenüber der Tiervision gerecht wird. 2.2.7.3 Die Sintflutvision als Rahmung der Tiervision (Kap. 83-84) Wenden wir uns nun dem Inhalt der Kapitel 83 und 84 zu, so ist bereits in 83,2 von zwei Visionen die Rede, die Henoch zuteil wurden. Dieser Einleitungsvers stellt eine erste Verbindung zwischen der Sintflutvision und der Tiervision dar. Inhalt der Sintflutvision in 83,3-5 ist die totale Vernichtung der Erde. Mehr wird in der Vision nicht gesagt. Weder wird ein Grund fUr diese Vernichtung angegeben, noch kommt Gott als derjenige, der die Erde vernichtet, in den Blick. Zu einer Deutung dieser Vision kommt es erst im Anschluß an die Visionsschilderung durch Renochs Großvater. Dieser sieht in der SUnde die Ursache für die Zerstörung der Erde und fordert Henoch auf, ein Bittgesuch an Gott zu richten, damit dieser die Erde nicht vollständig vernichte, sondern einen Rest übriglasse (83,7-8). Die Vernichtung der Erde erscheint in der Deutung des Großvaters als Strafe Gottes für die SUnde, als Gericht Gottes Uber die verderbte Welt. Wiederum wird weder Uber die Ursachen für diese totale SUndenverfallenheit reflektiert noch wird der Versuch unternommen, die allgemeine Rede von der SUndhaftigkeit zu konkretisieren. Es stellt sich lediglich die Frage, ob Gottes Gericht gleichsam total sein wird, oder ob noch Raum für Gottes Barmherzigkeit bleibt, die sich in der Gestalt eines Restgedankens offenbart. Doch auch der Restgedanke bleibt zunächst bar aller Konkretionen. Henoch kleidet darauf seine Bitte, einen Rest zu verschonen, in ein ausführliches Lobgebet Gottes ein, in dessen Zentrum Gott in seiner Eigenschaft als Schöpfer und Richter steht (84,1-6). Bevor wir uns nun dem Lobgebet selbst zuwenden, wollen wir noch einen kurzen Blick auf den Vers 83,11 werfen, der nicht nur als Überleitung zum Lobgebet fungiert, sondern gleichzeitig eine Biilcke zum vorangehenden astronomischen Buch herstellt. Lenkt doch dieser Vers, nachdem in der Deutung der Traumvision (83,7-11) von der .,SUnde aller Welt" als Ursache für Gottes Vernichtungsbeschluß Uber die Erde die Rede war, den Blick auf die vorbildliche Ordnung des Kosmos. Die kosmische Ordnung wird der Unordnung im irdischen Bereich entgegengesetzt. Auch diese 252 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 704.
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Stelle zeugt von einer engen Verbindung kosmischer und ethischer Zusammenhänge, wie sie uns im Verlauf unserer Beschäftigung mit dem äthiopischen Henochbuch schon an vielen Stellen begegnet ist. Das Lobgebet selbst stellt Gott als den universalen Herrscher des ganzen Kosmos dar, der zu dem universalen Vernichtungsgericht voll und ganz berechtigt ist. Henoch gibt besonders in 84,4 dem Vernichtungsbeschluß Gottes über seine Schöpfung recht, appelliert jedoch gleichzeitig an Gottes Barmherzigkeit, indem er ihn in den Versen 5 und 6 darum bittet, nicht die gesamte Menschheit zu vernichten, sondern einen Rest auf Erden übrig zu lassen. In Vers 6 unterscheidet Henoch zwischen dem der Vernichtung geweihten "Fleisch von der Erde. das deinen Zorn erregt hat" und dem ,,Fleisch der Gerechtigkeit und des Rechtes", das Gott "für ewig zur samentragenden Pflanze" machen soll 253 • Das ,,Fleisch der Gerechtigkeit und des Rechtes" soll also nicht nur der Vernichtung entgehen, sondern darüber hinaus für alle Ewigkeit zur "samentragenden Pflanze" werden. Während V.5 also nur vom Bewahren eines Restes auf Erden spricht, weitet V.6 diesen Gedanken in der Weise aus, daß es nun um den ewigen Bestand dieses Restes geht. Ohne Zweifel will die Tiervision als Antwort auf die bedrängende Frage, ob Gott bereit ist, Henochs Bitte zu erfüllen, verstanden sein. Die Identifizierung der in 83,3-5 geschauten Vision von der Vernichtung der Erde mit der Sintflut, wie sie in der Tiervision, aber auch im paränetischen Schlußteil des Geschichtsbuches (91,6) vollzogen wird 2S4 , verleiht nun dem Leser dieser Zeilen die Gewißheit, daß Gott zumindest dem ersten Teil der BitteHenochs entsprochen hat. Gott hat in der Tat die Erde nicht völlig vernichtet, sondern mit Noah und den Seinen einen Rest verschont. Um so bedrängender stellt sich nun jedoch die Frage, ob auch der zweite Teil der BitteHenochs von Gott eines positiven Bescheides gewürdigt wird. Eine Antwort auf diese Frage, bei der es um den Bestand des Restes als "samentragende Pflanze" für alle Ewigkeit geht, ist nur von der Zukunft, vom Ende der Geschichte her möglich. Die Tiervision will gerade auch als Antwort auf diese Frage verstanden sein. Da im Zentrum der Tiervision das Volk Israel und seine Geschichte stehen, liegt es auf der Hand, daß sich hinter der "samentragenden Pflanze" von 84,6 nur das Volk Israel verbergen kann. Es geht damit im zweiten Teil der Bitte Henochs um nichts weniger als um die Frage nach dem ewigen Bestand der Erwählung Israels. Hat diese für alle Ewigkeit Bestand, oder wird sie Gott in seinem zweiten und damit endgültigen Gericht doch noch revidieren? Nicht das Erkennen "universalgeschichtlicher" Zusammenhänge, sondern die Geschichte Israels
Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 678. Liest man 83,3-5 für sich, so ist dort weder von Noah noch von "Wasserfluten" etc. die Rede. Der Bezug dieser Verse zur Sintflut ergibt sich erst von der Tiervision und dem paränetischen Anhang her. So ist in der Tiervison in Kap.89,l-9 ausfUhrlieh von der Sintflut die Rede. während auch in 91,5ff von einem zweimaligen Gerichtshandeln Gottes die Rede ist, wobei das erste Gerichtshandeln (91 ,5) auf die Sintflut zu beziehen ist. 253 254
Das paränetische Buch (Kap. 91-105)
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und die Frage nach Israels Erwählung stehen im jetzigen Kontext im Mittelpunkt der Tiervision2Ss. 2.2.8 Das paränetische Buch (Kap. 91-105)
2.2.8. 1 Einführung Das paränetische Buch ist innerhalb der Henochsammlung am vielfaltigsten bezeugt. Neben dem äthiopischen Text stehen aramäische Fragmente aus Qumran, eine griechische Handschrift aus dem 4.Jh. n.Chr., die die Kapitel 97,6107,3 enthält und schließlich noch ein Fragment von 93,3-8 in koptischer Sprache zur Verfügung2S6. Während nach S. Uhlig das paränetische Buch von 91,1-108,15 reicht und mit ,,Henochs Epistel" überschrieben wird, halten andere2S7 eine Begrenzung auf 91,1-105,2 für weitaus angemessener. Die Kapitel 106 und 107, die Teile einer Noahtradition beinhalten, fallen aus dem Duktus des paränetischen Buches heraus, während Kap.108 eventuell einen eigenständigen paränetischen Anhang darstellt. Von besonderer Bedeutung sind die Verse 93,1-10, die zusammen mit 91,12-17 eine zusammenhängende Überlieferungseinheil darstellen. Dieser Teil beinhaltet einen GeschichtsUberblick, der die Weltgeschichte in sieben scharf voneinander abgehobene Zeitabschnitte gliedert. Dieser Teil des paränetischen Buches, den man gemeinhin als ZehnWochen-Apokalypse bezeichnet, soll zu Beginn dieses Paragraphen besprochen werden. Der paränetische Hauptteil der Schrift (Kap. 94-104) läßt sich nur äußerst schwer gliedern. Während sich die Kapitel 94,1-97,10 hauptsächlich in traditionell weisheitliehen Bahnen der Paränese bewegen, wobei der Aufruf zum Wandel in Gerechtigkeit verbunden mit Weherufen über die Sünder im Mittelpunkt des Interesses stehen, treten in den Kapiteln 98,1-104,13 in erster Linie apokalyptische Traditionen zu Tage. Die ursprUnglieh weisheitliehen Traditionen werden somit im Laufe des paränetischen Buches immer stärker apokalyptisch transformiert. Die Entstehungszeit des paränetischen Buches läßt sich nicht genau bestimmen258. Der Terminus ante quem dUrfte wohl in der Mitte des 1.Jh. v.Chr. anzusiedeln sein2S9 . Die Zehn-Wochen-Apokalypse ist jedoch sicherlich früher anzusetzen und wurde vielleicht gar gegen Ende des 2.Jh. v.Chr. verfaßt260.
255 Siehe K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 139. 2S6 Zu den Einleitungsfragen siehe S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 708f; ferner
M.E. Stone, Apocalyptic Literature, in: Jewish Writings of the Second Temple Period, 405ff. 257 So z.B. G. Beer, Das Buch Henoch, in: APAT II, 298. 25 8 Siehe S. Uhlig. Das äthiopische Henochbuch, 709; Vgl. K. Koch, ZA W 1983, 405. 25 9 So S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 709. 260 K. Koch. ZAW 1983. 405; M. Hengcl, Judentum. 320.
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2.2.8.2 Die Zehn-Wochen-Apokalypse (Kap. 93,1-10 und 91, 11-17) Die Zehn-Wochen-Apokalypse, die, wie bereits gesagt, sicherlich zu den ältesten Traditionszusammenhängen innerhalb der Henochsammlung gehört261, ist mit großer Wahrscheinlichkeit vor ihrer Aufnahme in das Paränetische Buch der Henochsammlung selbständig umgelaufen. Ihre ursprUngliehe Gestalt wurde durch ihre Einarbeitung in die Henochsarnrnlung jedoch nicht unerheblich verändert. Die ersten sieben Wochen der Zehn-Wochen-Apokalypse wurden als Sieben-Wochen-Apokalypse an den Anfang des paränetischen Buches gestellt (93,1-9), während die letzten drei Wochen von dieser abgetrennt wurden und im jetzigen Kontext den Abschluß des Geschichtsbuches markieren (91, 12-17). Die ursprUngliehe Gestalt der Zehn-Wochen-Apokalypse ergibt sich erst durch eine Umstellung der in der äthiopischen Fassung enthaltenen Reihenfolge (93, 1-14; 91, 12-17). Während lange Zeit diese Umstellung lediglich das Produkt einer gut begrUndeten literarkritischen Hypothese war, erfuhr diese durch das in Qumran gefundene aramäische Fragment Eng eine eindrucksvolle Bestätigung262. Das Fragment Eng enthält vom Text der Zehn-Wochen-Apokalypse zunächst den Teil 93,1-4a und dann, nach einer LUcke von ungefähr 10 Zeilen, den ziemlich fragmentarisch enthaltenen Text von 91, ll-17263. Die ZehnWochen-Apokalypse soll nun zunächst in ihrer Urgestalt unabhängig von ihrer Einordnung ins paränetische Buch untersucht werden. Hierbei wird vor allem die Frage nach dem Gesetzesverständnis, das dieser Vision zugrunde liegt, von leitendem Interesse sein. Die Zehn-Wochen-Apokalypse264 stellt, wie schon die Tiervision, einen Geschichtsabriß dar, der von der Weltschöpfung bis zum Ende der Tage reicht. Die gesamte Weltgeschichte wird in zehn ,.Wochen" eingeteiJt26S. Von diesen 10 "Wochen" entfallen 7 auf die Schilderung der Weltgeschichte selbst, während 3 "Wochen" der sich stufenweise entwickelnden Heilszeit gewidmet 261
Siehe z.B. M. Hengel, Judentum, 320 Anm. 443 und 345.
262 Siehe J.T. Milik, The Books of Enoch. 48. 263 Siehe K. Koch, ZAW 1983, 405ff; ferner zum Ganzen J.T. Milik; The Books ofEnoch. 245--272. 264 K.Koch, ZAW 1983, 404f, wendet sich gegen die Klassiftzierung dieses Textes als Zehn-Wochen-Apokalypse. da für ihn zentrale Merkmale einer Apokalypse fehlen. Visionire ZUge, eine Himmelsreise und die Schilderung eines irdisch-himmlischen Zwiegesprächs bleiben ausgeblendet. Deshalb spricht K. Koch lieber von einer Zehn-Wochen-Lehre. Ich sehe jedoch aufgrund meines eigenen Apokalyptikverständnisses. in dessen Zentrum Eschatologie und Geschichtsversutndnis stehen, keinen Grund diesen Textabschnitt nicht als Apokalypse zu bezeichnen. 26S Ich werde zwar die traditionelle Bezeichnung ..Woche" ftlr die einzelnen Zeitabschnitte beibehalten, setze diese jedoch in Anführungszeichen, da mir K. Kochs Bedenken gegen die Übersetzung des aramäischen Wortes sabu'in mit ..Woche" durchaus einleuchten. Hat doch die Annahme K. Kochs, daß die Zehn-Wochen-Apokalypse die Weltgeschichte in Zeitabschnitte gliedert. die als ,,ZCitsiebent" zu bezeichnen sind und jeweils eine Epochengröße von 490 Jahren beinhalten, viel für sich; siehe K. Koch, ZAW 1983,303--430.
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sind266. Der Ort des Verfassers dieses Textes ist wohl am Ende der 7. "Woche" anzusiedeln267. Die einzelnen "Wochen" sind auf folgende Art und Weise charakterisiert. In der ersten "Woche" herrschen auf Erden Recht und Gerechtigkeit (93,3)268, Die Zeit von Adam bis Henoch wird ausdrücklich als Heilszeit charakterisiert. Die Zehn-Wochen-Apokalypse geht demnach - wie auch die Tiervision- von einem heilvollen Urzustand der Welt aus. Erst mit der zweiten "Woche" (93,4), die den Zeitraum von Henoch bis Noah umfaßt, nimmt das Böse auf Erden seinen Lauf. Diese "Woche" ist von sich mehrender ,,Bosheit" und ,,Falschheit" geprägt. Das Ende dieser Epoche wird durch Gottes Strafgericht in der Sintflut und die Gabe einer "Ordnung fUr die Sünder" markiert. Da das Strafgericht Gottes über die Erde nicht in der Lage war, die Ungerechtigkeit auszurotten, entschließt sich Gott, ein "Gesetz für die Sünder" zu erlassen. Dieses Gesetz kann nur den Zweck haben, die Ungerechtigkeit auf Erden einzudämmen. Was verbirgt sich nun jedoch hinter der Bezeichnung "Gesetz für die Sünder" in 93,4? Mit Blick auf das Alte Testament bleibt eigentlich nichts anderes übrig, als die "noachitischen Gebote", von denen in Gen 9,3-6 die Rede ist, hinter dieser Wendung zu vennuten269 . Im alttestamentlichen Kontext stellen diese jedoch "einen uneingeschränkt positiven und zentralen Bestandteil des Noahbtindnisses" dar270. An keiner Stelle ist explizit davon die Rede, daß die Gabe der "noachitischen Gebote" von einer "wachsenden Ungerechtigkeit" auf Erden verursacht worden wäre. Dieser Gedanke läßt sich allenfalls aus der Tatsache erschließen, daß dem Bericht von der Gabe der Noahgebote in Gen 8,21 die resignative Erkenntnis Gottes vorausgeht, daß das Trachten des Menschen von Jugend an böse ist. Was liegt nun näher, als diese Bemerkung auf die Weise mit der nachfolgenden Erzählung zu verknüpfen, daß den noachitischen Geboten eine "Schutzfunktion" vor den Ungerechtigkeiten, die aus dem bösen Trachten des Menschen unwillkürlich hervorgehen müssen, zugebilligt wird. Neben einem alttestamentlichen Ansatzpunkt dieser Tradition kommt unter Umständen jedoch auch Jub 7 als Vorlage in Betracht271. Gleichgültig, wie die traditionsgeschichtliche Herleitung dieses Gedankens auch aussehen mag, dem Verfasser der Zehn-Wochen-Apokalypse liegt neben dem Gedanken der universalen Verfallenheit des Menschen an die Sünde vor allem die Tatsache am Herzen, daß das "Gesetz für die Sünder" allen Menschen gilt. Somit ist schon an dieser Stelle der Zehn-Wochen-Apokalypse die Intention des Verfassers zu spüren, den universalen, die ganze Menschheit umfassenden Akzent von Gottes 266 Siehe M. Hengel, Judentum, 345. 267 Siehe R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 2, 674; K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 77. 268 Zur Problematik dieser Stelle siehe F. Dexinger, Henochs Zehnwochenapolcalypse, 121. 269 Der Noah-Bund (Gen 8,21f) fällt aus verschiedenen Gründen als Inhalt des "Gesetzes für die Sünder'' aus; vgl. hierzu F. Dexinger, Zehnwochenapokalypse, 123f. 270 So K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 154. 271 Vgl. hierzu F. Dexinger, Henochs Zehnwochenapokalypse, 124.
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Gesetz zu betonen272. Mit der dritten "Woche" (93,5) richtet der Verfasser der Zehn-Wochen-Apokalypse sein Augenmerk auf die Geschichte Israels und bewegt sich damit in heilsgeschichtlichen Bahnen. Im Mittelpunkt der dritten "Woche" steht die Gestalt Abrahams, die sich hinter der Bezeichnung ,.Pflanze des gerechten Gerichtes" verbirgt. Mit der Gestalt Abrahams betritt auch das Volk Israel die BUhne des Geschehens, auf das sich die Wendung "Pflanze der Gerechtigkeit", die "für immer und ewig erscheinen" wird, bezieht. Von besonderem Interesse ist hierbei das Faktum, daß Abraham mit dem Endgericht Gottes in Verbindung gebracht wird273. Auf diese Weise wird der Eindruck erweckt, daß die Anfangsze-it des eschatologischen Glauhens, wie er fUr die Trägerkreise der Zehn-Wochen-Apokalypse bezeichnend ist, in die Zeit Abrahams fällt und somit den Beginn der Geschichte Israels markiert. Die Geschichte Israels, die mit der Erwählung Abrahams ihren Anfang nimmt, erscheint von vomherein auf ein endzeitliches Heil hin geplant274 . Im Zentrum der vierten "Woche" stehen weitere zentrale Heilsereignisse der Geschichte Israels. Vergegenwärtigen wir uns zunächst den Wortlaut von Vers 6: "Und danach, in der vierten Woche, an ihrem Ende, werden die Visionen der Heiligen und Gerechten gesehen werden, und ein Gesetz wird fUr alle Generationen und ein umfriedeter Raum wird für sie geschaffen werden"27s. Im Mittelpunkt dieses Verses steht zweifellos die Gabe der Sinaitora, die jedoch als ewige, alle Zeiten gleichmäßig betreffende Größe verstanden wird276. Die "Visionen der Heiligen und Gerechten" werden von vielen Auslegern auf die Wunder beim Auszug aus Ägypten gedeutet277 , doch besteht auch die Möglichkeit, diese auf die Gesetzgebung zu beziehen, da gerade in der Apokalyptik heilsrelevante Tatsachen oftmals durch Visionen vermittelt werden2 78 . In diesem Fall würde die Rede von den "Visionen" die Bedeutung der Gesetzgebung für die vierte Woche noch verstärken. Hinter der Rede vom "umfriedeten Raum" vermutet mangemeinhin die StiftshUtte279 . Auch die fünfte "Woche" (93,7) weiß mit dem Bau des Tempels, der sich hinter der Bezeichnung "Haus der Herrlichkeit und Herrschaft fUr die Ewigkeit" verbirgt2BO, nochmals von einem zentralen Heilsereignis der Geschichte Israels zu berichten. Sieht man in der StiftshOtte von Vers 6 272 Siehe K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 155. 273 In leicht variierter Form kennen wir eine Verbindung von Abraham und Gottes endzeit-
lichem Gerichtshandeln auch von anderen apokalyptischen Schriften her; vgl. IV Esra 13f und syrBar 4,4; 57,2. 274 Siehe K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 76. 27S Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 712. 276 Siehe K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 78. 277 So z.B. S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 712 Anm.6a; vgl. G.Beer, Das Buch Henoch, in: APAT U, 300 Anm c. 278 So F.Dexinger, Henochs Zehnwochenapokalypse, 127f 279 So z.B. G.Beer, Das Buch Henoch, in: APAT II, 300 Anm.e; ferner Reese, Die Geschichte Israels, 75. 280 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 712.
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lediglich eine Präfiguration des Tempels, dann bestehen nach der ZehnWochen-Apokalypse die zentralen Heilsereignisse der Geschichte Israels in der Erwählung Abrahams, der Gabe der Sinaitora und dem Bau des Tempels. Bezeichnenderweise werden alle drei Heilsereignisse als von ewiger Dauer gepriesen, obwohl bereits in Vers 8 von einem vorläufigen ,,Ende" der Gültigkeit dieser Heilsereignisse die Rede ist28t. Offensichtlich sieht der Verfasser der Zehn-Wochen-Apokalypse hinter jedem Heilsereignis der Vergangenheit eine erst vom Ende der Zeit her verifizierbare historische Größe282. Die sechste "Woche" (93,8) steht ganz im Zeichen der Revidierung des bisher auf alle Ewigkeit hin ausgelegten Erwählungshandelns Gottes. Diese "Woche" spiegelt die Ereignisse der Geschichte Israels in der Zeit zwischen dem Tempelbau Salomos und der Zerstörung des Tempels durch Nebukadnezar und der anschließenden Verschleppung ins Exil wieder. Die ganze Epoche wird durchweg negativ gekennzeichnet. So heißt es in Vers 8a: "Und danach, in der sechsten Woche, werden die, die in ihr leben werden, alle verblendet sein, und die Herzen aller werden die Weisheit vergessen" 28 3. Erinnert der Terminus "verblendet" an die Sprache der Tiervision, so würde man mit Blick auf die deuteronomistische Geschichtssicht, die der negativen Charakterisierung Israels zweifellos auch hier zugrunde liegt, eher erwarten, daß in diesem Zusammenhang vom Abfall von den Geboten der Toraals vom "Vergessen der Weisheit" die Rede ist. Die Weisheit tritt hier ganz bewußt an die Stelle der Tora. Durch diese Identifizierung, wie sie gerade für das paränetische Buch typisch ist, wird der bereits in 93,6 angesprochene universale Rahmen der jüdischen Tora nochmals ausdrücklich betont. Die siebte "Woche" (93,9-11) reflektiert die Zeit von der Rückkehr aus dem Exil bis zum Beginn des Gerichtshandeins Gottes am Ende der Tage. Betrachten wir den Inhalt dieser "Woche" etwas genauer, so bezieht sich Vers 9 sicherlich auf die Rückkehr der Israeliten aus dem Exil und den Beginn der Wirren des makkabäischen Aufstandes gegen die Seleukiden284. Weder die Rückkehr aus dem Exil noch der Aufstand der Makkabäer gegen die Seleukiden vermag jedoch an der negativen Qualifizierung der Geschichte Israels etwas zu ändern. Markiert das Exil das Ende der Geschichte IsraeJs2ss, so bedeuten weder die RUckkehr aus dem Exil noch die Aktivitäten der Makkabäer einen Neuanfang der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Für Israel in seiner Gesamtheit ist die Erwählung endgültig verspielt. Gegen Ende dieser siebten 281 In Vers 8 ist explizit von der Zerstörung des Tempels die Rede. Bezieht man das .. Vergessen der Weisheit" auf die Tora und sieht in der ,,Zerstreuung Israels" eine eminente Gefährdung der Erwählung. so kann man guten Gewissens von einem vorläufigen ,,Ende" der Gültigkeit dieser Heilsereignisse reden. 282 So K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 76. 283 Übersetzung nach S. Uhlig. Das äthiopische Henochbuch, 712. 284 Vgl. hierzu M.Hengel, Judentum, 328f; K.-H. MUller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 76f. 28S So K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 77.
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"Woche" kommt es nach Vers 10 jedoch doch noch zu einem erneuten Erwählungshandeln Gottes. Dieses bezieht sich aber nicht mehr auf die "ewige Pflanze der Gerechtigkeit", eine Metapher, die eindeutig das Volk Israel symbolisiert, sondern lediglich auf einen Teil dieser Pflanze. Die Mitglieder dieser Gruppe bezeichnen sich als "erwählte Gerechte". Die urspfUngliche Erwählung Gesamtisraels wird durch die Erwählung eines Teils des Volkes ersetzt. Hinter diesem Teil verbergen sich mit großer Wahrscheinlichkeit die Trägerkreise der Zehn-Wochen-Apokalypse. Nach dem Geschichtsverständnis der ZehnWochen-Apokalypse kommt diese "Verlagerung" der Erwählung von Gesamtisrael auf die apokalyptische Bewegung286 jedoch nicht zufällig, sondern sie war von Anfang an von Gott intendiert. Hatte doch schon Abraham das gleiche Wissen über das Gericht, wie es nun in Vers 10 den Apokalyptikern als "siebenfache Unterweisung über seine ganze Schöpfung" zuteil wird. Die Erwählung Abrahams war von vomherein auf die Erwählung der Apokalyptiker hin ausgerichtet. Gleiches gilt von den zentralen Heilsgütern Israels, der Sinaitora und dem Tempel. Auch diese wurden von Gott auf ihre Bedeutung im Rahmen der apokalyptischen Bewegung und der anschließenden Endereignisse hin konzipiert. Aus diesem Grunde ist der Autor der Zehn-Wochen-Apokalypse auch in der Lage, gegen allen historischen Anschein von der ewigen Gültigkeit dieser Heilsereignisse zu reden. Erst vom Eschaton her wird sich der ewige Bestand der Tora und des Tempels bewahrheiten. Mag es mit Blick auf die bisherige Geschichte Israels und die Gegenwart des Autors auch den Anschein haben, als ob Gottes mit der Gabe der Tora und dem Tempel verbundenen Heilszusagen keinerlei Bedeutung zukommt, so wird sich dies vom Eschaton her als gravierender Intum erweisen. Den Anhängern der apokalyptischen Bewegung ist dies alles jedoch jetzt schon bekannt. Sie verfUgen in bezug auf die Bedeutung von Tempel und Tora bereits in der Gegenwart über ein Wissen, wie es Gesamtisrael bzw. der gesamten Menschheit erst im Rahmen des Endgerichtes zuteil werden wird. Das besondere und umfassende Wissen dieser Gruppe über die Schöpfung, von dem in Vers 10 die Rede ist, darf deshalb keinesfalls in der Weise gegen die Tora ausgespielt werden, als ob es sich hier um ein von dieser unabhängiges Spezialwissen handle287 • Da die Sinaitora nach dem Selbstverständnis der hinter der Zehn-Wochen-Apokalypse stehenden Trägerkreise als "Gesetz für alle Generationen" von Gott auf das Eschaton und damit auf das 286 Während die Forschung die Trllgerkreise, die hinter dem äthiopischen Henochbuch und dem biblischen Danielbuch stehen, meistens mit der Gruppe der Chassidim bzw. Asidäer identifiziert und deshalb von der asidäischen Bewegung redet, ziehe ich die allgemeine Redeweise von der ,,apokalyptischen Bewegung" vor. Erheben sich doch gegen eine vorschnelle Identifizierung sämtlicher Trägerkreise der frühjüdischen Apokalyptik mit der Gruppe der Asidäer durchaus einige Bedenken. 287 Gegen K.-H. Müller. Die frühjüdische Apokalyptik, 78, bei dem in der Tat die Gefahr einer solchen Trennung besteht, wenn er sagt: ,,Konstitutiv für das unterschiedliche Profil dieser Gemeinde ist demnach nicht die Tora schlechthin, sondern darilber hinaus ein besonderes und umfassendes Wissen über die ,Schöpfung'".
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apokalyptische Schöpfungswissen, das das eschatologische Wissen quasi proleptisch vorwegnimmt, hin konzipiert wurde, bleibt auch fUr diese Gruppe einzig die Tora das alles verpflichtende Medium. Die spezifische Gesetzesinterpretation der Apokalyptiker nimmt für sich in Anspruch, die einzig wahre Interpretation der Mosetora zu sein, eine Interpretation, wie sie von Gott bereits am Sinai ursprUnglieh festgelegt wurde, jedoch erst vom Eschaton her für die gesamte Menschheit einsichtig sein wird. Dieser apokalyptischen Gesetzesauslegung eignet bei aller Gesetzesstrenge eine durchaus universale Dimension. Diese Erkenntnis spricht für die relative Weltoffenheit dieser Bewegung2ss. Von einer Verminderung der Bedeutung des Gesetzes kann keinesfalls die Rede sein289. Eine gesetzeskritische Tendenz läßt sich nicht erkennen290. Die konkreten Gesetzesinhalte werden zwar mit keinem Wort genannt, doch kann man wohl davon ausgehen, daß diese als bekannt vorausgesetzt werden. Das Interesse an den Gegensätzen innerhalb Israels ist im Vergleich zur Tiervision deutlich gestiegen. Es stehen sich primär nicht mehr Israel und die fremden Völker gegenüber, sondern Gerechte und Sünder bzw. Gottlose innerhalb des Volkes Israel bilden den entscheidenden Gegensatz. Die letzten drei "Wochen" der Zehn-Wochen-Apokalypse sind schließlich der Schilderung der endzeitliehen Geschehnisse gewidmet. Markiert die Existenz der apokalyptischen Bewegung die Wende der Zeiten291, so nimmt die Heilszeit mit dem Ende der siebten "Woche" ihren Lauf. Im Zentrum der achten "Woche" (91,12-13) stehen Ereignisse aus dem unmittelbaren Gesichtskreis der Adressaten der ZehnWochen-Apokalypse, die neunte "Woche" beschäftigt sich mit der ganzen Erde (91,14), während in der zehnten "Woche" der gesamte Kosmos als "Objekt eschatologischer Veränderungen" in den Blick kommt292. Entsprechend dieser Abfolge lassen sich auch innerhalb von Gottes eschatologischem Gerichtshandeln drei Phasen unterscheiden. Zunächst ergeht Gottes Gericht als forensisches Gericht über die Sünder aus Israel. Die erste Phase des Endgerichts beschäftigt sich offensichtlich mit den hellenistischen Reformern in Jerusalem, die durch ihre torafeindliche Politik den Boden für die Vergehen des Antiochus IV. Epiphanes bereiteten 293 . Nach 91,12 spielen die "Gerechten" in diesem Zusammenhang eine durchaus aktive Rolle, da ihnen Gott im Zuge seines eschatologischen Strafhandeins eine Mitwirkung zugesteht. Die "Gerechten" werden somit in der Zehn-Wochen-Apokalypse an einem Part beteiligt, der in der Tiervision ausschließlich Gott selbst zukommt. Steht die achte "Woche" ganz im Zeichen von Gottes Gericht über die jüdischen Apostaten zur Zeit des Antiochus IV. Epiphanes, so beinhaltet die neunte "Woche" Gottes Gericht über die 288 Siehe M. Hengel, Judentum, 326f; 0. Plöger, Theokratie. 37ff und 6lff. 289 So F. Dexinger, Henochs Zehnwochenapokalypse. 186. 290 So auch F.Dexinger, Henochs Zehnwochenapokalypse, 185.
291 Siehe M. Hengel, Judentum, 329; R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 2, 674f. 292 Siehe K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 78. 293 Siehe K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien: 78f.
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gesamte Erde. Neben den .,Werken der Gottlosen" wird die Erde selbst ,,zur Vernichtung aufgeschrieben werden"294. Mit dem Gericht über die Engel, das die Ereignisse der zehnten .,Woche" einleitet, wird der ganze Kosmos in das Gerichtsgeschehen miteinbezogen. Diesen drei Etappen des göttlichen Gerichtshandelns korrespondieren drei Phasen, die der Durchsetzung des göttlichen Heilshandeins gewidmet sind. Wenden wir uns zunächst wieder der achten ,.Woche" zu, so steht mit Blick auf Israel die Erwartung eines neuen, eschatologischen Tempels im Zentrum der Heilszeit, der für alle Ewigkeit Bestand haben soll (91,13)29S. Die Heilsperspektive der neunten "Woche", die sich auf die gesamte Menschheit bezieht, wird in 91,14 mit folgenden Worten umschrieben: "Und alle Menschen werden nach dem Weg der Rechtschaffenheit schauen"296. Hinter der Wendung ,.Weg der Rechtschaffenheit" kann sich im Kontext der Zehn-Wochen-Apokalypse meines Erachtens nichts anderes verbergen, als die in 93,6 als "ewiges Gesetz" bezeichnete Sinaitora. Die Erwartung des Gehorsams aller Menschen gegenüber der spezifischen Gesetzesauslegung der Apokalyptiker stellt eine zentrale Heilshoffnung dieser Bewegung dar. Die Tora erscheint auch in ihrer Beziehung zur eschatologischen Heilszeit völlig losgelöst von der Geschichte Israels. Sie ist das die gesamte Menschheit verpflichtende Weltgesetz. Die universale Dimension der apokalyptischen Gesetzesfrömmigkeit erfährt von diesen Zeilen her nochmals eine eindrucksvolle Bestätigung. Die zentrale kosmische Heilsperspektive, von der im Kontext der zehnten "Woche" die Rede ist, ist zweifellos die Erwartung eines "neuen Himmels" (91,16)297. Kennzeichen der "kosmischen Heilszeit" sind der Verzicht auf jegliche Periodisierung der Geschichte und die völlige Machtlosigkeit der Sünde (91,17). Dem dreifachen Gerichtshandeln entspricht also ein dreifaches Heilshandeln Gottes, in dessen Zentrum Israel, die Menschheit und der gesamte Kosmos stehen. 2.2.8.3 Die paränetischen Stücke innerhalb des paränetischen Buches (Kap. 93,11-104,5) Im Anschluß an die Zehn-Wochen-Apokalypse begegnet uns der ausführlichste paränetische Teil des ganzen Henochbuches (93,ll-104,5). Die jetzige Stellung der Zehn-Wochen-Apokalypse am Anfang des paränetischen Teiles ist sicherlich nicht zufällig, sondern Ausdruck einer engen Zusammengehörigkeit dieser beiden Traditionskomplexe 298 . Begegneten uns doch im Rahmen der 294 Siehe äthHen 91.14 (Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 714). 29S Diese Erwartung beinhaltet offensichtlich eine radikale Kritik am bestehenden Tempel.
296 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 714. 297 Die Rede vom ,,neuen Himmel" erinnert an Jes 65,17; 66,22; Ps 102,26f. Im Gegensatz zu diesen Stellen ist in äthHen 91,16 jedoch nicht von einer ,,neuen Erde" die Rede. 298 FUr diese enge Zusammengehörigkeit sprechen eine Menge inhaltlicher Berührungspunkte. wie z.B. der innerjüdische Gegensatz zwischen Gerechten und Sündern, die Tendenz der apokalyptischen Bewegung zur Absonderung und die Vorstellung vom .,ewigen Gesetz".
Das paränetische Buch (Kap. 91-105)
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Zehn-Wochen-Apokalypse theologische Grundaxiome der apokalyptischen Bewegung, die sich nun sowohl innerhalb dieser Bewegung als auch mit Blick nach außen bewähren müssen. Die Paränesen richten sich zum einen an die Anhänger der apokalyptischen Bewegung selbst. Angesichts der recht erfolgreichen hasmonäischen Politik bestand wohl die Gefahr, daß viele in ihrem Glauben an die endzeitliche Neuordnung der kosmischen und irdischen Verhältnisse durch Gottes universales Gerichtshandeln irre wurden 299 • Die eschatologische Hoffnung der "Gerechten" auf Gottes Handeln am Ende der Geschichte drohte durch eine innerweltliche, an den konkreten politischen Erfolgen orientierte Heilsperspektive verdrängt zu werden. In diesem Zusammenhang besteht die Aufgabe der Paränesen zweifellos darin, die "Gerechten", d. h. die Anhänger der apokalyptischen Gruppierung zum Festhalten an ihrer eschatologischen Hoffnung zu bewegen3oo. Zum anderen wird in den Paränesen der innerjüdische Gegensatz zwischen den "Gerechten" und den "Sündern" noch bedeutend verschärft301 . Auch hier ist von einer gesamtisraelitischen Heilsperspektive nichts mehr zu spüren. Wenden wir uns an dieser Stelle der Frage nach der Rolle der Tora innerhalb des paränetischen Buches zu, so sind vor allem die Textzusammenhänge von Bedeutung, die einer Individualisierung der Frömmigkeit das Wort reden. Meines Erachtens läßt sich gerade hier eine apokalyptische Transformation weisheitlieber Traditionen feststellen. Da sich die Kapitel 93,11-97,10 primär in den von der jüdischen Weisheit vorgezeichneten Bahnen traditioneller Paränese bewegen302, wollen wir unser Augenmerk auf die Verse 98,1-104,13 richten. Bereits die Verse 98,4f greifen die Frage nach der Herkunft der SUnde, die uns vor allem im angelologischen Buch beschäftigt hat, wieder auf, wobei ausdrücklich die Eigenverantwortlichkeit eines jeden für sein Tun herausgestellt wird. In 98,4 heißt es: ,Jch habe euch geschworen, ihr Sünder: Wie ein Berg weder zu einem Sklaven geworden ist noch werden wird und ein Hügel nicht zur Sklavin einer Frau, ebenso ist auch die Sünde nicht auf die Erde geschickt worden, sondern die Menschen haben sie aus sich selbst erschaffen und denen, die sie begehen, wird eine große Verfluchung widerfahren"303. An dieser Stelle wird jeglicher Vorstellung von der SUnde als einem Verhängnis, dem sich niemand entziehen kann, ein endgültiger Abschied erteiJt304. Damit ist innerhalb 299
Siehe K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 88.
300 Siehe äthHen 104,3f: "Und mit eurem Geschrei schreit nach Gericht, und es wird er-
scheinen, denn von den Herrschern wird Rechenschaft geforden (für) all eure Bedrängnis und von all jenen, die denen geholfen haben, die euch beraubten. 4 Hofft und gebt eure Hoffnung nicht auf, denn ihr werdet große Freude haben wie die Engel im Himmel" (Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 740). 301 Siehe K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 90ff. 302 Das Zwei-Wege-Schema und eine Unzahl von "Weherufen" stehen im Mittelpunkt dieser Kapitel. 303 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 722f. 304 So auch K.-H. Müller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 121.
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Das äthiopische Henochbuch
der apokalyptischen Tradition ein Zustand erreicht, an dem die Verpflichtung zu absoluter Taraobservanz als sinnvolles Unterfangen erscheint. Gehen wir im Text etwas weiter, so begegnet uns in 99,2 die Wendung "ewiges Gesetz", die uns schon im Rahmen unserer Interpretation der Zehn-Wochen-Apokalypse ausführlich beschäftigt hat. Vergegenwärtigen wir uns zunächst den Inhalt dieses Verses: "Wehe euch, die die Worte der Wahrheit verdrehen und das ewige Gesetz Obertreten und sich selbst (für unfehlbar halten) - auf Erden werden sie niedergetreten werden"30S. Aus dem Zusammenhang geht klar hervor (siehe 98,10; 99,3f.), daß sich dieser Vers auf das Endgericht bezieht. Die Übertreter des "ewigen Gesetzes" werden ihrer gerechten Strafe nicht entgehen. Stellen wir uns zunächst die Frage, was sich genau hinter der Rede vom "ewigen Gesetz" verbirgt, so ist es unabdingbar, noch andere Stellen aus dem paränetischen Teil heranzuziehen. Handelt 99,2 von der Bestrafung der Gottlosen, so weiß 99,10 vom Heil der Gerechten zu berichten: "Aber in jenen Tagen werden all die glOcklich (sein), die die Weisheitsrede annehmen und sie verstehen und die Wege des Höchsten befolgen und wandeln auf dem Weg seiner Gerechtigkeit und nicht frevelhaft werden mit denen, die frevelhaft sind, denn sie werden gerettet werden"306. Den Kontrast zum "Verdrehen der Worte der Wahrheit" in Vers 2 bildet das ,,Annehmen der Weisheitsrede" in Vers 10, während dem "Übertreten des ewigen Gesetzes" das ,,Befolgen der Wege des Höchsten" und das "Wandeln auf dem Weg seiner Gerechtigkeit" gegenObergestellt wird. Diese GegenObersteilungen sind nur dann sinnvoll, wenn sich hinter den verschiedenen Wendungen jeweils der gleiche Sachverhalt verbirgt. Die "Worte der Wahrheit" sind somit mit der "Weisheitsrede", das "ewige Gesetz" mit dem "Weg des Höchsten" bzw. dem "Weg seiner Gerechtigkeit" identisch. Ein ganz enger Zusammenhang zwischen Weisheit und Wahrheit findet sich auch in 100,6, wenn dort gleichfalls im Kontext des Gerichtshandeins Gottes davon die Rede ist, daß die Menschen der Weisheit die Wahrheit sehen werden307. Gehen wir nochmals kurz zu den Versen 99,2 und 99,10 zurUck, so geht es in beiden Versentrotz unterschiedlicher Terminologie um die Frage nach dem Verhältnis zwischen Weisheit und Gesetz. Die Parallelität zwischen den Wendungen "Worte der Wahrheit" und "ewiges Gesetz" in 99,2 und die zwischen "Weisheitsrede", "Wege des Höchsten" bzw. "Wege der Gerechtigkeit" in 99,1()308 berechtigt von einer Identifikation zwischen Weisheit und Tora zu 305 Übersetzung nach S. Uhlig. Das äthiopische Henochbuch, 725.
306 Übersetzung nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 727. 307 äthHen 100,6: .,Und die Menschen der Weisheit werden die Wahrheit sehen, und die Söhne der Erde werden die ganze Rede dieses Buches verstehen, daß ihr Reichtum sie nicht retten kann beim Sturz ihrer Sünde" (Übersetzung nach S. Uhlig. Das äthiopische Henochbuch,730). 308 Bereits die Handschrift GrCB sieht zwischen der Rede von Gottes Wegen und dem Terminus Gesetz keinen Unterschied, so daß sie die Wendung ..Wege des Höchsten" in 99,10 einfach mit ..Gebote des Höchsten" ('t~ iV'to~) wiedergibt; siehe S.Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 727 Anm.10c.
Zusammenfassung
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sprechen309. Im Rahmen dieser Identifikation kommt es zum einen zu einer Universalisierung der Tora, so daß diese nun endgültig als das alle Menschen verpflichtende Weltgesetz erscheint. Die Tora hat sich von ihrer Verankerung in der Geschichte Israels emanzipiert. Zum anderen kommt es in diesem Zusammenhang zu einer Auflösung des innergeschichtlichen Tun-ErgehenZusammenhangs (102,4ff). Für den einzelnen, der den Forderungen Gottes, wie sie ihm in der Tora entgegentreten, gerecht zu werden sucht, bleibt nur die Hoffnung auf Gottes endzeitliches Gerichtshandeln. Der Tun-ErgehenZusammenhang, dessen Gültigkeit mit Blick auf die gegenwärtige Welt außer Kraft gesetzt ist, wird vom Eschaton her eine machtvolle Bestätigung erfahren. 2.2.9 Zusammenfassung Fassen wir unsere Ergebnisse kurz zusammen, so ist zunächst zu betonen, daß trotz der Tatsache, daß die Gesetzesterminologie innerhalb des äthiopischen Henochbuches nur an wenigen Stellen erscheint, die Gesetzesthematik zumindest für große Teile der Überlieferung von entscheidender Bedeutung ist. Dies gilt für die Tiervision, die Zehn-Wochen-Apokalypse, das astronomische Buch, die paränetischen Stücke innerhalb des paränetischen Buches und nicht zuletzt für die Einleitungsrede, die für die Gesamtintention des äthiopischen Henochbuches nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Von daher ist jede Meinung entschieden zurückzuweisen, die von einem Fehlen der Gesetzesthematik innerhalb des äthiopischen Henochbuches spricht.31°. Lediglich innerhalb des angelologischen Buches und dort primär im Rahmen der Noahtradition und ihren Erweiterungen spielt die Gesetzesthematik offenbar nur eine untergeordnete Rolle. Dies hat seine Ursache darin, daß dort der Verhängnisgedanke der Sünde eindeutig über jede Vorstellung von einer Eigenverantwortlichkeit des Menschen für sein Tun dominiert. Wird jedoch die Sünde in erster Linie als zwangsläufiges Geschehen gedacht, so macht ein verstärkter Rekurs auf die Forderungen des Gesetzes auf den ersten Blick nur wenig Sinn, zumal dann, wenn das Gesetz in erster Linie als göttliche Gerichtsnorm erscheint.31 1 Das Gesetz wird innerhalb des äthiopischen Henochbuches in erster Linie als verptlichtende Willenskundgabe Gottes verstanden, die vom Menschen ein konkretes Tun verlangt. Dies gilt auch für die Tiervision, die den Gedanken der Erwählung Gesamtisraels zwar beibehält, diesen jedoch von Anfang an an die ,,Erfüllung der Tora", wobei wohl primär an die Erfüllung des 1. und 2. Gebotes gedacht ist, bindet. Die Sinaigesetzgebung ist nicht Zeichen der Erwählung Israels, sondern die Erwählung wird von der Gesetzgebung gerade in Frage gestellt. Ferner ist die Tatsache, daß auch im äthiopischen Henochbuch die undif309
So K.-H.MUller, Die frühjüdische Apokalyptik, in: Studien, 95; vgl. U.Wilckens, Art. nA., ThWNT Vll, 503; ferner E.J. Schnabel, Law and Wisdom, 110. 310 Sowohl E.Rau, Kosmologie, 95 als auch M.Limbeck, Die Ordnung des Heils, 72 lassen sich zu solch einem Fehlurteil verleiten. 311 Vgl. hierzu äthHen 90,26; 9l,l4; 99,1-15; 100,7. aoq~ia
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Das äthiopische Henochbuch
ferenzierte Rede vom Gesetz derart überwiegt, daß an keiner Stelle die Mosetora direkt zitiert wird, nicht in dem Sinne mißzuverstehen, daß das konkrete Einzelgebot innerhalb dieser Überlieferung keine Rolle spielt. Dominiert doch schon innerhalb der Zehn-Wochen-Apokalypse, aber auch im astronomischen Buch und in den paränetischen StUcken innerhalb der Epistel Henochs ein derart weitgefaSter Torabegriff, dem es in erster Linie darauf ankommt, die Unbedingtheit und Totalität der Gesetzesforderungen einzuschärfen. Ein derart radikalisiertes Gesetzesverständnis , das von der Unteilbarkeit des einen Willens Gottes ausgeht, setzt offensichtlich die Kenntnis der Einzelgebote einfach voraus. Der weitgefaSte Torabegriff, der uns im äthiopischen Henochbuch entgegentritt geht zum einen sicherlich auf eine enge Verbindung von Tora und Weisheit zurück, die sich im paränetischen Teil des äthiopischen Henochbuches geradezu zu einer Identifizierung dieser beiden Größen auswächst. Zudem ist die kosmische Ausweitung der Tora ein Spezifikum apokalyptischer Gesetzesauslegung. Zeichnet sich deren Gesetzesverständnis doch gerade durch den engen Zusammenhang von kosmischer und irdischer Gesetzlichkeit aus, wie er uns besonders im astronomischen Teil des äthiopischen Henochbuches und den Bilderreden entgegentritt. Kehren wir abschließend nochmals kurz zu der Frage nach dem Verhältnis von SUndenverfallenheit und Taragehorsam zurück, so können wir darauf hinweisen, daß diese Diskussion innerhalb der apokalyptischen Tradition noch lange nicht abgeschlossen war, sondern gerade in den späten apokalyptischen Schriften, wie z.B. dem 4. Esrabuch und der syrischen Baruchapokalypse, nochmals eine große Rolle spielen wird.
2.3 Die Himmelfahrt des Mose 2.3.1 Vorbemerkungen Während in der Forschung ein breiter Konsens besteht, daß das biblische Danielbuch und das äthiopische Henochbuch dem apokalyptischen Schrifttum im engeren Sinn zuzurechnen sind, begeben wir uns mit Blick auf die vorliegende Schrift auf weit unsichereres Gelände. Die Frage, ob die Himmelfahrt des Mose eine Apokalypse darstellt, wird höchst konträr diskutiert. Ist ein Teil der Forschung durchaus bereit, die Himmelfahrt des Mose als Apokalypse zu bezeichnen•, so spricht sich der andere gegen eine solche Identifikation aus 2 • Da beide Gruppen primär formgeschichtliche Argumente für ihre jeweilige Auffassung anführen, ist die Verwirrung perfekt. Wenn es um das Problem der frühjüdischen Apokalyptik geht, spricht die Formgeschichte offensichtlich keine eindeutige Sprache. Begeben wir uns auf eine rein formale Ebene, so ist die Himmelfahrt des Mose zweifellos der Gattung der Testamentenliteratur zuzurechnen3. Gerade die Rahmenhandlung unserer Schrift weist diese als "Testament" aus. Diese Gattungsbestimmung teilen auch diejenigen, die die Himmelfahrt Moses den Apokalypsen zuordnen. Für diese wurde jedoch im Falle der Himmelfahrt des Mose die Gattung Testament ,,im Sinne einer Apokalypse umgeprägt"4 bzw. "dem Anliegen apokalyptischer Theologie dienstbar gemacht"S. Für diese Auffassung lassen sich vor allem inhaltliche Gründe anführen. So finden sich in der Himmelfahrt des Mose eine Fülle von Sachzusammenhängen und Einzelmotiven, wie sie uns auch von anderen mit Sicherheit der apokalyptischen Literatur zuzurechnenden Texten her bekannt sind6 • Von weit größerer Bedeutung ist meines Erachtens jedoch die Tatsache, daß über diese inhaltlichen Berührungspunkte hinaus, auch das Gesamtkonzept dieser Schrift, wie es in erster Linie in den Kapiteln 2,1-10,10 zum Ausdruck kommt, apokalypti1 So z.B. Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 65; D.S. Russel, The Method and Message, 58f; E. Brandenburger, Himmelfahn Moses, 61. 2 So z.B. H.H. Rowley, The Relevance of Apocalyptic, 90f; F. Rosenthal, Vier apokryphische Bücher, 19-21; E. Janssen, Das Gottesvolk, 101; J.J. Collins, The Apocalyptic Imagination, 102. 3 Charakteristische Merkmale dieser Gattung sind die Ankündigung des Todes des Redenden (1,15), das Heranrufen (1,6) und Einsetzen (1,7ff) des Nachfolgers als Adressaten einer Abschiedsrede, sowie die Abschiedsrede selbst (2,1-10,15). Es lassen sich jedoch auch auf der formalen Ebene bereits Übereinstimmungen zur apokalyptischen Literatur feststellen, wie z.B. die Pseudonymitllt und die Deutung des Geschichtsverlaufs durch spezielle Offenbarung (siehe J.J. Collins, The Apocalyptic Imagination, 105). 4 So E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, 61. 5 So Ch. MUnchow, Ethik und Eschtologie, 65. 6 Siehe E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, 63.
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Die Himmelfahrt des Mose
sehen Geist atmet. Wie wir im Verlauf unserer Untersuchung der Himmelfahrt des Mose aufzeigen werden, ist sowohl das Geschichtsverständnis dieser Schrift als auch deren Eschatologie eindeutig apokalyptisch bestimmt. Es scheint mir deshalb durchaus berechtigt, diese Schrift bis zum klaren Erweis des Gegenteils dem apokalyptischen Schrifttum zuzurechnen und sie als Grundlage unserer Untersuchung der Gesetzesaussagen der frühjüdischen Apokalyptik zu verwenden. 2.3.2 Aufbau, Entstehungs- und Überlieferungsverhältnisse der Himmelfahrt Moses Die Himmelfahrt Moses ist nur noch fragmentarisch erhalten. Die Tatsache, daß sie in Kapitel 12,13 unvermittelt abbricht, gibt und gab schon immer Anlaß zu Spekulationen über den ursprUngliehen Schluß dieser Schrift. Eng mit der Frage nach dem ursprUngliehen Schluß ist das Problem einer korrekten Bezeichnung dieser Schrift verbunden, da die ursprUngliehe Überschrift leider verlorengegangen ist. 7 Ausgehend von altkirchlichen Zeugnissen, die von einer Vielfalt apokrypher Moses-Schriften wissen, wurden die verschiedensten Versuche unternommen, unsere Schrift mit einer der dort genannten Schriften zu identifizieren, ohne daß die Forschung zu einem einhelligen Urteil in dieser Frage gekommen wäre. Da mehrere altkirchlichen Kanonverzeichnisse nebeneinander sowohl von einer avlxA.Tt'lflc; als auch von einer &1a91lKTt Mmuotmc; sprechen, konzentriert sich der Streit der Forschung primär auf diese beiden Alternativen. Ist unsere Schrift somit als ,,Himmelfahrt"B oder besser als "Testament'"9 des Mose zu bezeichnen. Ohne auf den Streit um diese Frage im einzelnen näher eingehen zu können 1o, spricht meinesErachtenseiniges dafür, daß unserer Schrift ursprUnglieh mit einer Erzählung von Moses Himmelfahrt abgeschlossen hat. Neben den von E. Brandenburger für diese Auffassung genannten GrUnden 11 , möchte ich darauf verweisen, daß 10,9 die im Frühjudentum singuläre Vorstellung einer ,,Himmelfahrt Israels" kennt. Beendet der Verfasser unserer Schrift deren Hauptteil, der einen Überblick über die Geschichte Israels bis zum Eschaton beinhaltet, mit der Erzählung einer eschatologischen ,,Himmelfahrt Israels", so liegt die Vermutung nahe, daß auch die Rahmenhandlung dieser Schrift, in deren Zentrum die Person des Mose steht, auf analoge Weise mit einer ,,Himmelfahrt des Mose" endete. 1 Zu den verschiedenen Versuchen, den ursprünglichen Wortlaut der Überschrift wiederherzustellen, siehe E. Brandenburger. Himmelfahrt Moses, 68 Anm.1a. 8 So z.B. E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses. 57; ebenso C. Clemen, Die Himmelfahrt des Mose. in: APAT U, 311; 0. Eissfeldt, Einleitung, 844. 9 So z.B. Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie, 65; J.J. Collins, The Apocalyptic Imagination, 102. 10 Siehe hierzu E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, 60-62. 11 In erster Linie sei darauf verwiesen, daß Gelasius in seiner Geschichte des Konzils von Nicäa aus einer •.Himmelfahrt des Mose" zitiert, und dieses Zitat offensichtlich aus dem 14. Vers des ersten Kapitels unserer Schift stammt.
Aufbau, Entstehungs- und Überlieferungsverhältnisse
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Nun jedoch noch einige kurze Bemerkungen zum Aufbau der Schrift. Die Himmelfahrt des Mose in ihrer jetzigen Fonn besteht aus zwei Teilen. Im Zentrum der Schrift stehen die "Worte des Mose", eine prophetische Rede, die die Zeit von der Landnahme bis zum Kommen des Gottesreiches umfaßt (2,110,15). Diese prophetische Rede ist in 1,1-18 und 11,1-12,13 von einer Rahmenhandlung umschlossen, die aus einem Dialog zwischen Mose und Josua besteht. Vor allem diese Rahmenhandlung und nicht der "apokalyptische Hauptteil" ist für den Testamentscharakter dieser Schrift verantwortlich. Die prophetische Rede selbst läßt sich nochmals in zwei Teile zerlegen, wobei der erste Teil geschichtliche Ereignisse der Vergangenheit beinhaltet (2,1-6,9), während der zweite Teil einen Ausblick auf die Zukunft enthält (7,1-10,15) 12 . Auf der Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft innerhalb dieses GeschichtsUberblicks ist hierbei wohl der Standort des Verfassers der Himmelfahrt des Mose zu lokalisieren. Dieser Standort des Verfassers wurde im Laufe der Erforschung der Himmelfahrt des Mose recht unterschiedlich bestimmt. Die Datierungsversuche dieser Schrift differieren um Uber hundert Jahre und bewegen sich in der Zeit zwischen dem Ende der Regierungszeit des Königs Herodes und dem Bar-Kochba-Aufstandt3. Angesichts der Tatsache, daß die Zerstörung des Tempels offenbar nirgends vorausgesetzt wird, ist eine Spätdatierung jedoch auszuschließen1 4 • Zudem legen die klaren zeitgeschichtlichen Angaben in Kapitel 6 eine Abfassung der Himmelfahrt Moses in der Zeit kurz nach 6 n.Chr. naheiS. 12 Die Kapitel 8 und 9 scheinen sich auf den ersten Blick gegen diese zeitliche Einteilung des GeschichtsUberblicks zu sperren, da in Kapitel 8 allem Anschein nach auf Ereignisse unter Antiochus IV. Epiphanes angespielt wird, die dann zeitlich vor den in Kapitel 6 geschilderten Ereignissen einzuordnen wären. Diese Überlegung hat in der Forschung zu einer Fülle von literar-und redaktionskritischen Hypothesen geführt (siehe E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, 62), die jedoch bedeutend mehr Probleme schafften, als sie zu lösen in der Lage waren. Sämtliche Probleme lösen sich jedoch von selbst auf, wenn man beachtet, daß sich lediglich die Kapitel 2-6 in historischen Bahnen bewegen, während in den Kapiteln 8 und 9 kein historischchronologisches Interesse vorliegt. Die Motive aus der Schreckenszeit des Antiochus IV. Epiphanes dienen innerhalb eines apokalyptischen Schemas lediglich als Typos für die Schrecknisse der letzten bösen Zeit vor dem Ende (siehe E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, 62). IJ Zu den unterschiedlichen Datierungsversuchen siehe C. Clemen, Die Himmelfahrt des Mose, in: APAT ß, 313; 0. Eissfeldt, Einleitung, 846: J.J. Collins, The Apocalyptic Imagination, 103; J. Priest, Testament ofMoses, in: OTP I, 920f. 14 Eine Spätdatierung der Himmelfahrt Moses wird heute kaum noch vertreten. IS Auf den Tod des Königs Herodesund den Varus-Krieg wird in Kap. 6,7f angespielt. Diese Ereignisse liegen zur Zeit der Abfassung der Himmelfahrt Moses wohl noch nicht allzulange zurück. Da Vers 7 mit großer Wahrscheinlichkeit die Verbannung des Archelaos (6 n. Chr.) voraussetzt, ist die Himmelfahrt Moses wohl kurz nach diesem Zeitpunkt verfaßt worden. Ganz gewiß ist sie vor 30 n.Chr. abgefaSt worden, da sich die Weissagung in Vers 7, daß die Söhne des Herodes kürzer als dieser regieren werden (Hemdes regierte 34, Philippus und Herodes Antipas 37 bzw. 43 Jahre). spätestens bis zu diesem Zeitpunkt hätte erfüllen müssen. Siehe E.
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Die Himmelfahrt des Mose
Zu den Überlieferungsverhältnissen der Himmelfahrt Moses bleibt nur soviel zu sagen, daß sich lediglich eine einzige Handschrift dieser Schrift in unserem Besitz befindet. Diese zum Teil stark verderbte Handschrift ist die späte Abschrift einer lateinischen Version aus dem 5.Jh. n.Chr.' 6 • Ursprtlnglich wurde die Himmelfahrt Moses mit großer Wahrscheinlichkeit in hebräischer Sprache abgefaSt, obwohl auch die These eines aramäischen Orginals nicht völlig von der Hand zu weisen ist17. Als Textgrundlage diente mir die Textversion, die sich im Anhang zu W. Lechner-Schmidts Wortindex der lateinisch erhaltenen Pseudepigraphen zum AT findet 1B. Dieser Version liegt die Edition von O.F. Fritzsche zugn•ncie19, die von Lechner-Schmidt mit der Transkription von C. Clemen2o verglichen wurde21. Sämtliche Zitate richten sich nach der Übersetzung von E. Brandenburger, die an manchen Stellen jedoch von dem lateinischen Text Lechner-Schmidts abweicht. In diesem Falle wird in der Fußnote nicht nur der lateinische Text angegeben, sondern auch auf die Grtlnde ftir die Abweichung verwiesen. 2.3.3 Der Geschichtsüberblick von der Landnahme bis zum Kommen des Gottesreiches (Kap. 2,1-10,15) 2.3.3.1 Der Geschichtsrückblick von den Anfängen der Geschichte Israels bis in die Gegenwart des Autors (Kap. 2.1~.9) 2.3.3.1.1 Landnahme, Richter- und Königszeit (Kap. 2,1-9)
Der Geschichtsüberblick setzt in Kap. 2,1 mit der Landnahme Josuas, die als Erfüllung der Väterverheißung verstanden wird, ein. Während die großen Geschichtsrtlckblicke, die wir aus anderen apokalyptischen Schriften kennen, in vielen Fällen bemüht sind, die Geschichte Israels im Kontext der Welt- bzw. Menschheitsgeschichte zu verankern, zeigt sich der Verfasser dieser Zeilen in weit geringerem Maße daran interessiert, die Geschichte Israels in einen universalen, weltgeschichtlichen Horizont einzuordnen. Theologische Themen, die in anderen apokalyptischen Geschichtsrückblicken gerade diesem Zwecke dienen, wie z.B. die Adams- und Noahthematik, bleiben völlig ausgeblendet. Die Schöpfungsthematik wird erst am Ende des Geschichtsüberblicks mit Blick auf Brandenburger, Himmelfahrt Moses. 59f; vgl. ferner J.J. Collins, The Apocalyptic Imagination, 103. 16 Diese lateinische Version wurde von Ceriani in der Ambrosianischen Bibliothek in Mailand entdeckt und 1861 unter der Bezeichnung •.Fragmenta Assurnptionis Mosis" veröffentlicht. 17 Zur Frage nach der ursprUngliehen Sprache der Himmelfahrt Moses siehe, D.H. Wallace. ThZ 1955, 321ff. 18 W. Lechner-Schmidt, Wortindex der lateinisch erhaltenen Pseudepigraphen zum AT, TUbingen 1990,219-224. 19 O.F. Fritzsche, Libri veteris testamenti pseudepigraphi selecti, 641-645. 20 C. Clemen. Die Himmelfahrt des Mose. 21 Siehe W. Lechner-Schmidt, Wortindex. Vorwort I.
Von der Landnahme bis zum Kommen des Gottesreiches
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die eschatologische Heilszeit breit entfaltet. Doch auch die zentralen Heilsereignisse aus der Frühzeit der Geschichte Israels werden nur gestreift oder gar völlig übergangen. Die Erzväter werden nicht erwähnt22, die Väterverheißungen werden auf die Landverheißung reduziert. Aber auch die Sinai- und Exodustradition spielen an dieser Stelle nur eine untergeordnete Rolle. Diese starke Konzentration auf die Landnahmetradition stellt ein erstes herausragendes Merkmal dieses Geschichtsüberblicks dar. Die gesamte Geschichte der Richterund Königszeit wird im Eilschritt durchlaufen (2, 1-9), wobei im Mittelpunkt des Interesses an dieser Epoche eindeutig die Frage nach der Stellung Israels zum Gesetz steht23. Eng verbunden mit der Gesetzesthematik der Verse 2,3-7 ist das Gegenüber von zwei Stämmen, die dem Gesetz treu bleiben und zehn Stämmen, die sich vom Gesetz lossagen und nach eigenen Ordnungen leben. Vergegenwärtigen wir uns kurz die entscheidenden Passagen der Verse 2,3-7, so heißt es am Ende von 2,3, nachdem davon berichtet worden war, daß sich "zehn ,Stämme losreißen'" 24 : "Aber zwei Stämme werden hinabgehen und das Zeugnis des Zeltes hinüberbringen"25. Mit der Wendung "scenam testimonii" ist an dieser Stelle sicherlich das Gesetz gemeint26. Neben der Beobachtung, daß auch in der Zehn-Wochen-Apokalypse des äthiopischen Henochbuches in 93,6 ein ganz enger Zusammenhang von ,.Bundeszelt" und "Gesetz" hergestellt wird, spricht meines Erachtens vor allem der engere Kontext dieser Stelle für diese Bedeutung. Steht in 2,3 das ,,Hinüberbringen des Zeugnis des Zeltes" der zwei Stämme doch im Gegensatz zum ,,Losreißen" der zehn Stämme, eine Wendung, die in 2,5 folgendermaßen näher bestimmt wird: "die zehn Stämme aber werden sich Königsherrschaften nach eigenen Ordnungen aufrichten"27. Hinter der Wortverbindung "secus ordinationes suas", der Rede von den "eigenen Ordnungen", verbirgt sich zweifellos die Vorstellung eines Abfalls von den Geboten des Gesetzes Gottes. Der Verfasser dieses Geschichtsüberblicks sieht in der Übertretung des Gesetzes durch große Teile des Volkes die Ursache für den Untergang des Staates Israel. Doch nicht nur große Teile des Volkes, sondern auch die Mehrheit der Könige Israels wurden dem Gesetz nicht gerecht. Ist doch in 2,7 von vier Königen die Rede, die "den Bund des Herrn ,übertreten' und den ,Vertrag' besudeln, den der Herr mit ihnen gemacht 22 Im Vergleich zu anderen apokalyptischen Geschichtsrückblicken ist es höchst verwunderlich, daß gerade die Abrahamsthematik, die sowohl in der Zehn-Wochen-Apokalypse, als auch im 4. Esra- und syrischen Baruchbuch von großer Bedeutung ist, völlig ausgeblendet bleibt. 23 So auch Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 66. 24 Zur Übersetzung siehe E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, 70 Anm.3e. 2S AssMos 2,3: "[illi] ... autem, postquam intrabunt in terram suam annos [V] ... et postea dominabitur a principibus et tyrannis per annos xviii et xviiii annos abrumpent tib x, nam descendent tribus duae et transferent scenam testimonii". 26 So C. Clemen, Die Himmelfahrt des Mose, in: Kautzsch Bd. II, 320 Anm.l; E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, 70 Anm.g. 2 7 AssMos 2,5: .,(nam x tribus stabilient sibi secus ordinationes suas regna)".
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hat"2B. Auch hier kommt den Verstößen gegen die Bundessatzungen. und damit den Vergehen gegen die Tora die Verantwortung für den Untergang des Königtums zu. Mangelnder Gehorsam gegenüber den Geboten der Tora, wie er für die Mehrzahl der israelitischen Könige und große Teile des israelitischen Volkes typisch war, ist die alleinige Ursache des staatlichen Niedergangs lsraels29 • Die zehn Stämme tragen die volle Verantwortung für ihr Tun3°. Ihre Vergehen gegen das Gesetz sind das Produkt ihrer freien Entscheidung und nicht Folge königlicher Zwangsmaßnahme 31 . Der Verfasser dieser Zeilen bewegt sich eindeutig in den Bahnen deuteronomisch-deuteronomistischer Geschichtsbetrachtung. Unternehmen wir an dieser Stelle einen ersten Versuch, die Vergehen gegen die Tora etwas zu konkretisieren, so ist nach 2,8f in erster Linie an Verstöße gegen die Kultgesetzlichkeit zu denken. Analog zur Tiervision des äthiopischen Henochbuches stehen das erste und zweite Gebot des Dekalogs im Zentrum des Interesses. Wenden wir uns nun dem Gegensatz zwischen den zwei ..gesetzestreuen" Stämmen auf der einen und den zehn ..untreuen" Stämmen auf der anderen Seite zu. Da dieser Gegensatz den ganzen Geschichtsrückblick bis in die Zeit der Gegenwart des Autors durchzieht, sind diese Stämme sicherlich nicht einfach •.historisierend" auf das Nord- und Südreich zu beziehen. Entsteht doch nicht nur hier. sondern auch an vielen anderen Stellen des Geschichtsrückblicks32 unwillkürlich der Eindruck, als ob es dem Autor weniger um die historischen Ereignisse selbst, als um seine eigene theologische Intention zu tun ist33 . Der Gegensatz zwischen den zehn und zwei Stämme ist bereits hier als Chiffre für einen anderen Gegensatz zu verstehen34. Hinter dieser Chiffre verbergen sich mit ziemlicher Sicherheit aktuelle Gruppengegensätze innerhalb Israels, wie sie für die Zeit der Abfassung dieser Schrift bestimmend waren3s. Die Chiffre von den zwei ..gesetzestreuen" Stämmen steht sicherlich in einem gewissen Zusammenhang mit den Trägerkreisen der Himmelfahrt des Mose. Unternehmen wir an dieser Stelle einen ersten Versuch, diese Trägerkreise näher zu bestimmen, so kommt in dieser Frage dem Vers 2,4 eine ganz besondere Bedeutung zu. Dort heißt es: ,,Dann wird der Gott des Himmels ,den Pfahl' seines Zeltes und das Eisen seines Heiligtums 28 AssMos 2,7: .. et vii circumvallabunt muros et circumibo viiii et .. adcedent ad testamentum domini, et finem polluent, quem fecit dominus cum eis". Zu den Abweichungen in der Übersetzung siehe E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, 70 Anm.7a-e. 29 So auch Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie, 66. 30 Vgl. syrBar 1,3; an dieser Stelle ist mit Blick auf die Sünden der zehn Stämme davon die Rede, daß diese von ihren Königen zur Sünde gezwungen wurden. 31 So auch E. Janssen, Das Gottesvolk und seine Geschichte, 103. 32 Es sei in diesem Zusammenhang vor allem auf die Schilderung der exilischen und nachexilischen Zeit verwiesen. Auch hier ist das theologische Anliegen des Autors seinen historiegraphischen Bemühungen eindeutig übergeordnet. 33 Siehe Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie, 67. 34 Siehe E. Janssen, Das Gonesvolk, 103. 3S Ein ähnliches Phänomen findet sich meines Erachtens auch in 4 Esr 13,39ff.
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,festmachen', und die zwei heiligen Stämme werden (dort) eingesetzt-"36 • Die zwei Stämme werden nach diesem Vers in der Weise mit dem Opferkult verbunden, daß sie von Gott am Tempel in Jerusalem als legitime Repräsentanten des Kultes eingesetzt werden. Die Chiffre von den zwei Stämmen spielt demnach auf eine Gruppe priesterlicher Provinienz an, die in vorexilischer Zeit eine zentrale Stellung am Tempel innehatte37• Die Tatsache, daß im Kontext des GeschichtsUberblicks vielerorts gerade der Kultgesetzlichkeit eine große Bedeutung zukommt, vermag diese These noch zu unterstUtzen3B. Fahren wir in unserer Betrachtung des Geschichtsüberblicks fort, so endet die vorexilische Epoche mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch Nebukadnezar. Die Tatsache, daß der Gegensatz zwischen den zehn und den zwei Stämmen auch für die Zeit des Exils und die nachexilische Epoche bestimmend bleibt, verbunden mit der Beobachtung, daß die Zerstörung des Nordreiches im Jahre 722 v.Chr. völlig übergangen wird39, ist meines Erachtens ein weiteres Indiz dafür, daß es nicht um das Gegenüber verschiedener israelitischer Stämme in der Vergangenheit40, sondern um aktuelle Gruppengegensätze geht.
2.3.3.1.2 Die Exilszeit (Kap.
3.1~.6)
Werfen wir nun einen Blick auf die Darstellung der Exilszeit (3,1-4,6), so erscheint auch diese Epoche durch und durch von dem Gegensatz zwischen den zwei und zehn Stämmen geprägt. Nachdem Nebukadnezar das ganze Volk Israel ins Exil verschleppt hat4 1, kommt es nach 3,4-8 zu einem Streit zwischen den zwei und den zehn Stämmen um die Frage nach dem unterschiedlichen Maß an Verantwortung, die der jeweiligen Seite für die geschichtliche Katastrophe, die über Israel hereingebrochen ist, zukommt. Die Gruppe von geset36 AssMos 2,4: .,Tune deus caelestis faciet palum scenae suae et ferrum sanctuarii sui, et ponentur duae tribus sanctitatis". E. Brandenburger legt seiner Übersetzung die Korrektur von C. Clemen zugrunde, der ..faciet palum" durch ..figet palum" ersetzt; siehe E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, 70 Anm.4a. 37 Siehe E. Janssen, Das Gottesvolk, 102f, der die •.zwei Stimme" auf eine priesterliche Gruppe bezieht, die ihre Ursprünge auf die Zeit nach der Landnahme zurückführt. 38 Die Tatsache einer Hochschätzung der Kultgesetzlichkeit allein, vermag jedoch die priesterliche Herkunft eines Textes noch nicht zu begründen. Gerade die Tiervision des äthiopischen Henochbuchs und Teile des biblischen Danielbuches zollen der Kultgesetzlichkeit einen hohen Respekt, ohne daß diese Schriften in priesterlichem Milieu verfaßt worden wären. 39 Diese Tatsache ist um so verwunderlicher, wenn man bedenkt, daß der Verfasser dieser Zeilen sich in hohem Maße von dem deuteronomisch-deuteronomistischen Geschichtsbild beeinflußt zeigt, einem Geschichtsbild, das gerade dem Jahre 722 v. Chr. eine große Bedeutung zum ißt. 40 Mit den zwei Stämmen ist sicherlich nicht in historischem Sinne an Juda und Levi gedacht. 41 Unser GeschichtsUberblick bewegt sich an dieser Stelle offensichtlich in gedanklichen Bahnen, wie sie dem Chronistischen Geschichtswerk zugrunde liegen. Vertritt doch gerade das chronistische Geschichtswerk die Vorstellung, daß ganz Israel ins Exil geführt wurde, so daß in der exilischen Periode das israelitische Gebiet Palästinas regelrecht ,,entvölkert" war.
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zestreuen Israeliten, die sich hinter der Chiffre von den zwei Stämmen verbirgt, weiß sich selbst völlig frei von aller Schuld an dem über Gesamtisrael hereingebrochenen Unheil. Ihr Vorwurf in Vers 3,5 an die Adresse der Gegenseite lautet: "Gerecht und heilig ist der Herr. Denn weil ihr gesündigt habt, sind auch wir ebenso mit euch hergeführt worden"42. Die Deutungskategorien des TunErgehen-Zusammenhangs sind nach Auffassung dieser Gruppe nicht in der Lage, ihr eigenes Schicksal plausibel zu machen. Die gesetzestreuen Mitglieder dieser Gruppe sehen sich selbst als Opfer eines Sündenverhängnisses, das von den Sünden der zehn Stämme und damit der großen Mehrzahl des Volkes seine'l Ausgang 11immt. Als logische Konsequenz dieser Überzeugung käme eigentlich nur die radikale Trennung dieser kleinen Gruppe von Gesetzestreuen von der sündigen Masse des Volksganzen in Frage. Doch gerade diesen Schritt gilt es für den Verfasser dieses Geschichtsüberblicks unter allen Umständen zu verhindern. Allen Bestrebungen, sich als "wahres Israel" aus dem Gesamtverband des Volkes auszuklinken, wird eine Absage erteilt. Der Verfasser dieses Geschichtsrtickblicks begibt sich somit auf eine gefährliche Gratwanderung. Auf der einen Seite gilt es das Besondere seiner Gruppe, sprich deren radikalen Gesetzesgehorsam, zu betonen, auf der anderen Seite ist dieses Besondere dem Allgemeinen immer dann unterzuordnen, wenn es um das Heil Gesamtisraels geht. Analog zur Tiervision des äthiopischen Henochbuches hält auch die Himmelfahrt des Mose an einer gesamtisraelitischen Heilsperspektive fest. Bereits in der Antwort der zehn Stämme auf die Vorwürfe der zwei Stämme in 3,7 wird dies deutlich: "Was haben wir euch ,getan', Brüder? Ist diese Drangsal nicht über das ganze Haus Israel gekommen"43? Der Hinweis darauf, daß "das ganze Haus Israel" unter der Katastrophe steht, darf jedoch nicht im Sinne des Tun-Ergehen-Zusammenhangs mißverstanden werden. Dem Verfasser dieser Zeilen geht es nicht darum nachzuweisen, daß auch die gesetzestreue Minderheit Sünden auf sich geladen und damit ihr negatives Schicksal selbst verschuldet hat44. Ist doch der Verfasser, wie bereits mehrfach betont, vermutlich selbst ein Mitglied dieser gesetzestreuen Gruppierung. Es liegt gewiß nicht in seiner Absicht, die Bedeutung des Tomgehorsams auf irgendeine Weise zu schmälern, sondern es geht ihm lediglich darum, daß der radikale Gesetzesgehorsam der einen Gruppe nicht gegen den Gedanken der Erwählung Gesamtisraels ausgespielt werden darf. Bundes- und Gesetzesgedanke gehören zusammen. Der Gesetzesgedanke darf sich keinesfalls in der Weise verselbständigen, daß er den Bundesgedanken zu zerstören droht und zu einer Trennung in ein wahres und falsches Israel führt. Diese vom Verfasser des Geschichtsüberblicks intendierte Einheit von Bundes- und Gesetzesgedanken 4 2 AssMos 3.5: .,et clamabunt: iustus et sanctus dominus, quia enim vos peccastis et nos pa-
riter abducti sumus vobiscum". 43 AssMos 3,7: .,et dicent: quid faciemus vobis, fratres? nonne in omnem domwn Istrahel advenit thlibsis haec?" 44 Gegen Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 67.
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kommt in den Versen 3,9-12 klar zum Ausdruck. Innerhalb eines gemeinsamen Klagegebets aller Stämme steht in 3,9 zunächst der Bundesgedanke im Zentrum des Interesses: "Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs, gedenke an deinen Bund, den du mit ihnen geschlossen, und an den Eid, den du ihnen bei dir selbst geschworen hast: daß ihr Same niemals von dem Land, das du ihnen gegeben hast, weichen soll"4S. Israel als Ganzes wendet sich in diesen Versen aus tiefer Not an Gott und erinnert diesen an seine Bundeszusage, die primär in der Verheißung des Landbesitzes besteht. Dieser Appell an Gott, sich seiner den Vätern gegebener Zusage zu erinnern, und das sich im Exil befindliche Volk Israel in sein Land zurtlckzuführen, wird durch 3,11-12 eng mit dem Exodus- und Sinaigeschehen verbunden. Hatte 3,9 die Hoffnung des Volkes zum Inhalt, Gott möge sich um des bestehenden Bundes willen erbarmen, so erinnern die Verse 3,11-12 an die Bedingungen, die mit dem Bundesgedanken untrennbar verbunden sind. Merkwürdigerweise weiß 3,11 recht wenig über die befreiende Intention des Exodusgeschehens zu berichten. Alles Gewicht liegt auf der Unzahl von Leiden, die dieses Geschehen für Mose beinhaltete. Darauf heißt es in 3,12: ,,Nachdem er es bezeugt hatte, rief er auch Himmel und Erde zu Zeugen über uns an, daß wir seine Gebote nicht übertreten sollten, die er uns vermittelt hatte"46. Vers 3,12 erinnert nochmals ausdrtlcklich daran, worin die Ursache für die gegenwärtige Misere des israelitischen Volkes besteht. Mangelnder Gehorsam gegenüber den "mandata" Gottes, eine Bezeichnung hinter der sich zweifelsohne die Gebote der jüdischen Tora verbergen, ist für Israels Niederlage gegen Nebukadnezar verantwortlich. Die Exilssituation ist als Gottes gerechte Strafe anzuerkennen. Am Beginn von Kap. 4 steht eine recht schwer zu identifizierende Gestalt, deren Funktion es ist, fürbittend für das sich im Exil befindliche Volk einzutreten47. War Israel doch nach 3,12 vor den Folgen gewarnt, die jedweder Un-
4 S AssMos 3.9: ..deus Abraham et deus Isaac et deus Iacob. reminiscere testamenturn tuum. quod factasti cum eis et iusiurandum. quod iurasti eis per te. ne umquam deficiat semen eorum a terra. quam dedisti illis". 46 AssMos 3.12: ..Testatus et invocabat nobis testes caelum et terram. ne praeteriremus mandata illius, in quibus arbiter fuit nobis". 47 In der Forschung werden primär zwei Namen gehandelt, wenn es darum geht, diesen fürbittenden Mittler zu identifizieren. Zum einen wird in diesem Zusammenhang immer wieder auf Daniel verwiesen; so z. 8. auch E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, 72 Anmerkung zur Stelle. FUr Daniel spricht vor allem die Tatsache, daß sich in dem Gebet AssMos 4,2-5 Anklänge an das Gebet Daniels in Dan 9,4-19 finden. Der zweite wichtige Identifikationsversuch richtet sich auf die Person Esras. Paßt doch Esra gerade vom zeitgeschichtlichen Kontext her bedeutend besser an diese Stelle des Geschichtsüberblicks als Daniel; so z.B. C.Ciemen, Die Himmelfahrt des Mose, in: APAT U. 322 Anm. i; E. Janssen, Das Gottesvolk, 102 Anm 8. Gegen Esra spricht jedoch die Tatsache, daß sämtliche Gebete, die explizit mit der Person Esras verbunden sind. am Tempel in Jerusalem lokalisiert werden. Manchmal wird die Wendung .. unus qui supra eos est" auch auf Nehemia bezogen. Möglicherweise liegt jedoch auch G. Reese mit seiner Auffassung richtig. Nach ihm hat der Verfasser ..gar keine bestimmte Person im
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gehorsam gegenüber den Geboten des Gesetzes notwendigerweise nach sich ziehen mußte. Im Mittelpunkt des die Verse 4,2-4 umfassenden Fürbittgebetes der Mittlergestalt steht wiederum der Bundesgedanke. Die Bitte um Gottes gnädiges Erbarmen über sein ungehorsames Volk wird durch den Hinweis auf Gottes Bundeszusage gegenüber den Vätern untermauert. Das Bittgebet der Mittlergestalt stößt auf offene Ohren. Die Verse 4,5ff wissen davon zu berichten, daß Gott in der Tat bereit ist, aufgrund seiner Bundestreue zugunsten seines Volkes Israel in den Geschichtsablauf einzugreifen. Diesen Gedanken bringt 4,5 mit folgenden Worten zum Ausdruck: ,,Dann wird Gott ihrer gedenken wegen des Bunde~. den er mit ihren Vätern geschlos~n hat, und wird seine Barmherzigkeit auch in jenen Zeiten (wieder) offenbaren"48. Gottes Barmherzigkeit wird vom Bundesgedanken her begründet. Sie zeigt sich darin, daß Gott die RUckkehr Israels aus dem Exil ermöglicht. Gott gibt seinem ganzen Volk trotz der früheren Verfehlungen nochmals die Chance zu einem Neuanfang. Auf Gottes Veranlassung hin entläßt der Perserkönig Kyros das Volk Israel aus dem Exil und erlaubt diesem in seine Heimat zurtlckzukehren (4,6). Mit Kap. 4,7 wendet sich der Geschichtsrückblick der nachexilischen Zeit zu.
2.3.3.1.3 Von der nachexilischen Zeit bis zur Gegenwart des Verfassers (Kap. 4,7-6,9)
Der Bericht über die nachexilische Epoche setzt mit einer Notiz von der RUckkehr eines bestimmten Volksteiles und über den Wiederaufbau Jerusalems ein49 • In diesem Kontext ist in den Versen 4,8f erneut davon die Rede, daß sich zwei und zehn Stämme gegenüberstehen. Diese Gegenüberstellung, die wir bereits von der exilischen und vorexilischen Periode her kennen, ist auch in bezug auf die nachexilische Zeit in erster Linie nicht historisch zu verstehen. Sie hat gewiß nur ganz am Rande etwas mit dem geläufigen Bild der nachexilischen Epoche zu tun, demzufolge zehn Stämme untergegangen sind, während zwei Stämme aus dem Exil zurückkehrten und einen Neuanfang starteten. Vergegenwärtigen wir uns zunächst den Wortlaut der Verse 4,8f: "Aber zwei Stämme werden in ihrer (?) früheren Treue aushalten, traurig und seufzend, weil sie dem Herrn ihrer Väter keine Opfer werden darbringen können. 9 Und zehn Stämme werden wachsen und ,sich mehren?' unter den ,Heiden' in der Zeit der ,Heimsuchung"•so. Vor allem zwei Aspekte verdienen unsere besondere BeAuge, sondern eine bestimmte Funktion, nämlich die eines stellvertretenden Beters"; so G. Reese, Die Geschichte Israels, 97. 48 AssMos 4,5: "Tune reminiscitur deus eorurn propter testamentum, quod fecit cum patribus illorum et palam faciet misericordiam suam et temporibus illis". 49 AssMos 4,7: "Tune ascendent aliquae partes tribuum et venient in locum costitutum suwn et circumvallabunt locum renovantes". SO AssMos 4,8f: ,,Duae autem tribus permanebunt in praeposita fide sed, tristes et gementes, quia non poterint referre immolationes domino patrwn suorum. 9 Et x tribus crescent et devenient apud natos in tempore tribuum" (Zur Übersetzung siehe, E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, 72 Anm IV,9a+b).
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achtung. Zum einen ist von einem Verharren der zwei Stämme in "früherer Treue" die Rede, eine Aussage, die auf dem Hintergrund dessen, was wir aus den Kapiteln 2 und 3 Uber die zwei Stämme wissen, nur als Gesetzestreue verstanden werden kann. Zum anderen besteht fUr die zwei Stämme in der nachexilischen Zeit keine Möglichkeit zu opfern. War in 2,4 davon die Rede, daß gerade diese zwei Stämme in vorexilischer Zeit die von Gott legitimierten Repräsentanten des Opferkultes in Jerusalem waren, so sehen sich diese nach 4,8 in nachexilischer Zeit nicht mehr in der Lage, am Tempelkult teilzunehmen. Analog zur Tiervision des äthiopischen Henochbuchesst ist auch nach Auffassung der Trägerkreise, die hinter der Himmelfahrt des Mose stehen, der Tempelkult in nachexilischer Zeit von völliger Illegitimität gekennzeichnetS2. Kultische Unreinheit ist das hervorstechendste Zeichen der nachexilischen Zeit. Kommen wir an dieser Stelle nochmals auf den zu Beginn dieses Abschnitts unternommenen Versuch einer Identifizierung der Gruppe, die sich hinter der Chiffre von den zwei Stämmen verbirgt, zurUck, so verweisen auch diese Zeilen auf priesterliches MilieuS 3 • Die Chiffre von den zwei Stämmen bezieht sich am ehesten auf eine Gruppe priesterlicher Provinienz. Die Vorfahren dieser Gruppe hatten während der Königszeit offensichtlich eine einflußreiche Stellung am Tempel inne, wurden in nachexilischer Zeit jedoch völlig entmachtet. Kennzeichen dieser Gruppe ist ein konsequenter Gesetzesgehorsam, der sehr stark an der Kultgesetzlichkeit orientiert ist. Die zehn Stämme dagegen stehen auch hier für die große Mehrheit des Volkes Israel. Diese Mehrheit konnte die Chance eines Neuanfangs, wie ihn die RUckkehr aus dem Exil eröffnete, nicht nutzen und fiel sofort in ihre alten Verhaltensweisen zurUck. Das durch seine Bundestreue motivierte Gnadenhandeln Gottes ist von vomherein zum Scheitern verurteilt. Der Passage 5,1--6,9 kommt nun die Aufgabe zu, den Abfall der großen Mehrheit des Volkes Israel vom rechten Weg zu illustrieren. Als Illustrationsmaterial dienen Ereignisse aus der Geschichte Israels von der Makkabäerzeit bis hin zur Gegenwart des Verfassers dieser Zeilen. Im Mittelpunkt dieser nachexilischen Abfallgeschichte stehen wiederum kultische, daneben jedoch auch soziale Vergehen. Vor allem die Tatsache, daß der Opferkult in Jerusalem sich in Händen einer illegitimen Priesterschaft befindet, wird besonders hervorgehoben. In 5,4 lesen wir: ,,Denn sie werden nicht der Wahrheit Gottes folgen, sondern einige werden den Altar mit ... Gaben beflecken, die sie dem Herrn darbringen, sie, die keine Priester sind, sondern Sklaven, von Sklaven gebo-
SI Siehe äthHen 89,73; vgl. zudem syrBar 68,6.
sz Die Aussage, daß die Möglichkeit des Opfems nicht besteht, ist als Aussage Uber die Illegitimität des TempelkuJtes in der nachexilischen Zeit und nicht in dem Sinne, daß der Tempel noch gar nicht wiederaufgebaut ist, zu verstehen; siehe z.B. W. Bousset!H. Greßmann, Die Religion des Judentums, 115; gegen G. Reese, Die Geschichte Israels, 100. S3 So auch R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd.2. 672 Anm.l45.
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ren"54 . Da sich der Geschichtsrückblick erst ab 6,1 der mak.kabäischen Zeit selbst zuwendet55, ist diese Aussage sicherlich nicht auf Johannes Hyrkanus, für den nach Josephus die Abkunft von Sklaven behauptet worden ist56 , oder auf die Priester nach der Zeit Onias ill. zu beziehen5 7 • FUr den Verfasser des Geschichtsrückblicks befindet sich der Kult in nachexilischer Zeit von Anfang an in den Händen einer illegitimen Priesterschaft, so daß zweifellos sämtliche Hohepriester der nachexilischen Epoche unter das Verdikt von 5,4 fallen. Den Schriftgelehrten werden soziale Vergehen vorgeworfen, wobei das Annehmen von Bestechungsgeschenken als besonders verderblich eingestuft wird. Mit Kapitel 6,1 tritt die hasmonäische Periode der israelitischen Geschichte auf den Plan, wobei dieser ganzen Periode jedoch nur ein einziger Vers gewidmet wird. Die hasmonäische Epoche wird gänzlich negativ gezeichnet58 . Etwas ausführlicher wendet sich der Geschichtsüberblick noch der Zeit Herodes des Großen zu (6,2~). bevor mit dem Hinweis auf die Regierungszeit von dessen Söhnen (6,7) und den Einfall des Quintilius Varus (6,8f) Ereignisse thematisiert werden, die unmittelbar an die Entstehungszeit der Himmelfahrt des Mose heranreichen. Hierbei wird die Herrschaft des Herodes und seiner Söhne analog zu der Herrschaft der seleukidischen Könige (5,1) nicht nur als Zeit des Abfalls, sondern auch als Straf- und Rachezeit verstanden59 •
2.3.3.2 Die Geschichte Israels von der Gegenwan des Autors bis zur eschatologischen Heilszeit (Kap. 7,1-10,10) Mit Kapitel 7,1 beginnt der futurische Teil des Geschichtsüberblicks, der in Kapitel 10,10 mit der Errichtung der Gottesherrschaft sein natürliches Ende findet. Die Kapitel 7, 8 und 9 thematisieren in apokalyptischer Manier die letzte böse Zeit vor dem Ende, wobei sich die Kapitel 8 und 9 antithetisch gegenüberstehen. Kapitel 7 beschreibt auf recht allgemeine Weise die totale Sündhaftigkeit der Gegenwart. Während in den vorangegangenen Epochen der Geschichte Israels die Gesetzesübertretungen der großen Mehrheit des Volkes 54 AssMos 5,4: ,,Non enim sequentur veritatem dei, sed quidam altarium inquinabunt de[decoris] muneribus, quae imponent domino, qui non sunt sacerdotes, sed servi de servis nati." (Zur Übersetzung siehe. E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, 73 Anm.V,4a+b). 55 Die Worte .. tune exurgent" in 6,1 markieren eindeutig einen Neueinsatz. 56 Siehe Josephus, Ant. 13,10,5. 57 Gegen C. Clemen, Die Himmelfahrt des Mose, in: APAT.D, 323 Anm.h. 58 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die Bedrängnis unter Aniochus IV. Epiphanes allem Anschein nach nicht erwähnt wird. Dies hängt offenbar mit der Tatsache zusammen, daß in Kapitel 8, also innerhalb des Ausblicks auf die Zukunft. gerade diese Bedrängnis zur Veranschaulichung der letzten bösen Zeit vor dem Ende herangezogen wird. Der Autor des GeschichtsUberblicks wollte wohl der Gefahr entgehen, die Schrecken der letzten bösen Zeit dadurch abzumildern, daß er diese in einen allzu engen Zusammenhang mit konkreten geschichtlichen Ereignissen, die noch dazu nur von kurzem Bestand waren, bringt; so auch Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 67 Anm. 87. 59 Siehe Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 67f.
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hauptsächlich als kultische Vergehen verstanden wurden, treten nun sehr stark Verfehlungen im sozialen Bereich in den Mittelpunkt des Interesses. Gerade die unsozialen Verhaltensweisen einer reichen Oberschicht«> sind ein sicheres Anzeichen dafür, daß das Ende der Geschichte unmittelbar bevorsteht. Diese unsoziale reiche Oberschicht setzt sich wohl aus Mitgliedern der verschiedensten religionspolitischen Gruppierungen zusammen, ohne daß es jedoch möglich wäre, aus dem Textzusammenhang nähere Einzelheiten zu entnehmen6 1• Ist für den Verfasser dieser Zeilen der Beginn der Endzeit durch ein Übermaß von sozialen Vergehen der reichen jüdischen Oberschicht gekennzeichnet, so ist die nächste Etappe auf dem Weg zum Ende von der Erwartung eines fürchterlichen Strafgerichts geprägt, das aufgrund alldieser Vergehen über Israel ergehen wird. Dieses Strafgericht wird in Kapitel 8 ausführlich thematisiert. Das ausführende Organ der göttlichen Rache ist ein "König der Erdenkönige" (8, 1), der ganz in den Farben des Seleukiden Antiochus IV. Epiphanes gezeichnet wird62. Der Verfasser dieses Geschichtsüberblicks benutzt Motive aus dieser notvollen Epoche der Geschichte Israels, um die Endzeit zu illustrieren. Die Ereignisse unter Antiochus IV. Epiphanes werden so zum Typos der Endzeit. Betrachten wir die geschilderten Ereignisse etwas genauer, so handelt es sich bei diesen in erster Linie um Vergehen gegen das Gesetz. Die kultische Komponente des Gesetzes wird auch hier besonders betont. Nicht umsonst schließt der Hinweis auf die Übertretung bzw. "Schmähung" des Gesetzes in 8,5 die gesamte Reihe der in 8,1-5 aufgezählten Vergehen ab. Kapitel 8,1-363 befaßt sich ausführlich mit der Beschneidungsproblematik. Thematisiert werden der Epispasmos (8,3) und Zwangsmaßnahmen des endzeitliehen Tyrannen gegen die 60 Neben dem verschwenderischen Lebensstil dieser Gruppe (7 ,4+8) wird vor allem deren rücksichtsloses Verhalten gegenüber den ärmeren Bevölkerungsschichten gegeißelt (7,6). 61 Gewiß denkt der Verfasser an die schon an anderer Stelle gegeißelte illegitime Priesterschaft. Schriftgelehrte, Sadduzäer und Pharisäer werden gleichfalls angegriffen. falls sie sich sozialer Vergehen schuldig machen. Entscheidend ist einzig der soziale Gegensatz. Hinter Vers 7,9 ist eine Polemik gegen pharisäische Reinheitsvorschriften zu vermuten. 62 Die Tatsache. daß der •.König der Erdenkönige" ZUge des Antiochus IV. Epiphanes trägt. hat einige Forscher dazu veranlaßt, Umstellungen innerhalb des Textganzen vorzunehmen und Kapitel 8 vor Kapitel 6 einzuordnen; so z.B. Charles, The Assumption of Moses, 28f. Diese Umstellung entspringt der Überzeugung, daß die Kapitel 7 und 8 noch als Teil des Geschichtsrückblicks der Kap. 2~ und damit rein historisch zu verstehen sind. Dies ist jedoch ein Irrtum. Anders als in Kapitel 2~ liegt hier kein historisch-chronologisches Interesse vor. was sich schon allein daraus erkennen läßt. daß die Bezeichnung ,,König der Erdenkönig" auf einen Weltherrscher von wahrhaft universaler Gewalt verweist, wie es der Seleukide Antiochus IV. Epiphanes nie war; siehe auch E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses. 62. 63 AssMos 8,1-3: ..[Ecce tanta] veniet in eos ultio et ira. quae talis non fuit in illis a saeculo usque ad illum tempus, in quo suscitabit illis regem regum terrae et potestatem a potentia magna. qui confitentes circumcisionem in cruce suspendet. 2 nam negantes torquebit et traded duci vinctos in custodiam 3 et uxores eorum disdonabuntur gentibus. Et filii eorum pueri secabantur a medicis pueri inducere acrobystiam illis" (Zur Übersetzung siehe E.Brandenburger, Himmelfahrt Moses. 75 Anm. Vßl, la+2a+3a+b).
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Beschneidung (8,1-2). Diese Strafhandlungen treffen das gesamte Volk. Nach diesen Zeilen besteht kein Unterschied zwischen denjenigen, die sich zur Beschneidung bekennen und solchen, die die Beschneidung verleugnen. Gleiches gilt auch mit Blick auf den Götzendienst (8,40 oder die Reinheitsvorschriften (8,30. Israel in seiner Gesamtheit ist der Macht des endzeitliehen Tyrannen ausgeliefert, selbst der Gehorsam gegenüber dem Gesetz vermag vor dessen Strafhandeln nicht zu schützen. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang ist endgültig zerschlagen, eine innergeschichtliche Wende zum Heil ist nicht mehr möglich64. Befinden wir uns am Ende von Kapitel 8 in einer Situation, in der die Sün~ auf ejn solches Maß angewach~en ist, daß alles Heil nur noch vom Eingreifen Gottes her erwartet werden kann, so kommt dieses erwartete Heilshandeln Gottes jedoch erst in Kapitel 10 zur Sprache. Während die Rede von der Universalität des Heils in Kapitel 10 an die Beschreibung der Universalität der SUnde in Kapitel 8 gedanklich anknüpft, wirkt Kapitel 9 auf den ersten Blick wie ein Störfaktor, der diesen Zusammenhang bewußt zerbricht. Wurde in Kap. 8 gerade ausdrUcklieh betont, daß dem Gesetzesgehorsam keinerlei Bedeutung für das Ergehen des einzelnen während der letzten Epoche der Weltzeit zukommt, so weiß Kap. 9 erneut von der großen Bedeutung des Gesetzesgehorsams zu berichten. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich jedoch sofort auf, wenn wir beachten, daß die Perspektive von Kap. 8 auf innergeschichtliche Zusammenhänge, diejenige von Kap. 9 dagegen auf eschatologische Zusammenhänge ausgerichtet ist. Innerweltlich betrachtet ist die Frage nach dem Tun des Gesetzes in der Tat bedeutungslos, da der Tun-Ergehen-Zusammenhang in seiner Funktion als innergeschichtliches Ordnungsprinzip zur Kraftlosigkeit verdammt ist. Mit Blick auf das Eschaton jedoch kommt dem Gesetzesgehorsam wieder eine entscheidende Rolle zu, da mit einer eschatologischen Restitution des Tun-Ergehen-Zusammenhangs zu rechnen ist (9,7). Die Frage nach korrekter Gesetzeserfüllung ist somit von eschatologischer Relevanz. In Kapitel 9 wird die Frage nach der eschatologischen Relevanz konsequenten Gesetzesgehorsams im Kontext einer Geschichte entwickelt, die vom Auftreten eines Mannes namens "Taxo" und dessen sieben Söhnen berichtet. Das Auftreten dieser Personen wird für die Zeit unmittelbar vor dem Hereinbrechen der Gottesherrschaft erwartet. Im Rahmen der Erforschung der Himmelfahrt des Mose wurden unzählige Versuche unternommen, die Gestalt des "Taxo" zu identifizieren, wobei meines Erachtens keiner in der Lage ist, völlig zu überzeugen6s. Die Spanne der Identifizierungsversuche reicht von konkreten historischen Gestalten bis zum Messias. Aus unserem Text können wir mit Blick auf diese Gestalt jedoch nur wenige konkrete Anhaltspunkte entnehmen. So entstammt sie zweifelsohne priesterlichem Geschlecht (9,1). Ferner geht das Auftreten dieser 64
So auch Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 69.
65 Siehe Ch.C. Torrcy, JBL 1943, 1-7; ders., JBL 1945, 395-397; H.H. Rowlcy, JBL 1945,
141-143; ders., Apokalyptik, 123-130; J. Licht, JJS 1961, 95-103; siehe hierzu auch J. Priest. Testament of Moses. in: OTP I. 922f.
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Gestalt dem Erscheinen der Gottesherrschaft unmittelbar voraus. Daneben ist die Gestalt des "Taxo" noch mit Zügen der Märtyrer von D Makk 6f ausgestattet. Während gerade der letzte Punkt jede Einordnung dieser Gestalt sehr erschwert, spricht dessen priesterliche Herkunft und das Auftreten unmittelbar vor dem Anbruch der Gottesherrschaft wohl am ehesten für eine Verbindung zwischen "Taxo" und der Vorstellung vom endzeitliehen Elia. In diese Richtung weist auch der Name "Taxo", der mit der Ordnerfunktion des Elia in Beziehung gebracht werden kann66. Mit Sicherheit kann über die Gestalt des "Taxo" jedoch nur soviel gesagt werden, daß sie für den Verfasser des Geschichtsüberblicks analog zum "König der Erdenkönige" eine zukünftige Gestalt darstellt, der eine ganz bestimmte Funktion im Rahmen der Endereignisse zukommt. Zeichnet der "König der Erdenkönige" für Gottes Strafhandeln über ganz Israel verantwortlich, wobei die Bedeutung des Gesetzesgehorsams hinter der Betonung der Universalität der SUnde zurücktritt, so stehen "Taxo" und seine Söhne in der Endzeit stellvertretend für die gleiche kleine Schar von Gesetzestreuen, die sich innerhalb des GeschiehtsTUckblicks der Kapitel 2~ hinter der Chiffre von den zwei Stämmen verborgen haben. Explizit weist wohl 9,4 auf diese Gruppe zurück, wenn Taxo von seinen Vorvätern behauptet: ,,Nun also, meine Söhne, hört auf mich! Seht doch und wißt, daß niemals weder die Väter noch deren Vorväter Gott versuchten, daß sie seine Gebote Uberträten"67 • Die Wendung "nec parentes nec proavi eorum" kann angesichtsder Vielzahl von Gesetzesübertretungen Israels, von denen unser GeschiehtsTUckblick für die Zeit von der Landnahme bis zum Auftreten des endzeitliehen Tyrannen berichtete, keineswegs auf die "Vorväter" Gesamtisraels bezogen werden6B. Gewiß hat der Verfasser des GeschichtsUberblicks an dieser Stelle lediglich seine eigene kleine Gruppe von Gesetzestreuen und deren Tradition im Blick. Nach dem Selbstverständnis dieser Gruppe wird in der Zeit unmittelbar vor dem Hereinbrechen der Gottesherrschaft die Forderung nach konsequentem Gesetzesgehorsam von neuem den ihr angestammten Platz zugewiesen bekommen. Führte nach Kapitel 8 konsequenter Gesetzesgehorsam angesichts totaler SUndenverfallenheil der gegenwärtigen Welt in die Katastrophe, so kann "Taxo" deshalb wieder zu unbedingtem Gesetzesgehorsam auffordern, weil er der Überzeugung ist, daß es von Gottes eschatologischem Handeln her zu einer Erneuerung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs kommen wird. Vergegenwärtigen wir uns die Verse 9,6-7, so besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Forderung nach konsequenter Gesetzeserfüllung und dem Wissen um einen eschatologischen Ausgleich: ,.Laßt uns drei Tage lang fasten und am vierten in eine Höhle gehen, die auf dem Felde ist, und laßt uns lieber sterben, als die Gebote des Herrn der Herren, des Gottes unserer Väter, übertreten! 7 Denn wenn 66 Siehe F. Hahn, Christologische Hoheitstitel, 355f. 67 AssMos 9,4: •.Nunc ergo, filii, audite me; videte enim et scite, quia numquam temptavi-
mus deum, nec parentes [nostri] nec proavi eorum, ut praetereant mandata illius". 68 So auch Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 69 Anm.91.
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wir das tun und so sterben, wird unser Blut vor dem Herrn gerächt werden"69 . Die aus 9,7 sprechende Gewißheit, daß Gottes heilbringendes Eingreifen unmittelbar bevorsteht, vermagtrotzder totalen Sündenverfallenheit der Welt zu unbedingtem Gesetzesgehorsam zu motivieren. Der Gesetzesgehorsam der Gruppe, die sich hinter der Gestalt des "Taxo" verbirgt, orientiert sich ausschließlich am Vertrauen auf Gottes eschatologisches Heilshandeln. Gottes endzeitliches Heilshandeln wird zu einer machtvollen Restitution des innergeschichtlich gestörten Tun-Ergehen-Zusammenhangs führen. Vermag die Hoffnung auf die endzeitliche Wiederberstellung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs dje Trägerkreise der Himmelfahrt des Mose zu radikalem Gesetzesgehorsam zu motivieren, so scheut man jedoch auch an dieser Stelle vor der Konsequenz zurück, Gottes Heilshandeln lediglich auf diese gesetzestreue Gruppe innerhalb des Volkes zu beschränken. Die Himmelfahrt des Mose hält eisern an einer gesamtisraelitischen Heilsperspektive fest. Die Trägerkreise des Geschichtsüberblicks fühlten sich wohl von der Hoffnung getragen, daß ganz Israel in der Zeit unmittelbar vor dem Anbruch der Gottesherrschaft dem Beispiel ihrer gesetzestreuen Sondergruppe folgen und sich den Forderungen eines konsequenten Gesetzesgehorsams unterwerfen werde. Wenden wir uns nun abschließend KapitellO,l-lO zu, das sich ganz mit der Frage nach der Errichtung der Gottesherrschaft am Ende der Tage beschäftigt. Dieses Kapitel bewegt sich durch und durch in kollektiven Bahnen und zeigt sich an der endzeitliehen Restitution Gesamtisraels interessiert. Reflektionen über die Frage nach dem Gesetzesgehorsam Israels oder einer jüdischen Sondergruppe bleiben völlig ausgeblendet. Alles ist auf Gott selbst und dessen Aktivität als handelndes Subjekt konzentriert. Im Zentrum der Schilderung des Endgeschehens steht die traditionelle Vorstellung eines Endkampfes zwischen Gott und den Feinden Israels70. Bei der Beschreibung dieses Kampfes wird nach l0,7b besonderer Wert auf die endzeitliche Vernichtung der Götzenbilder durch Gott gelegt71 . Aus dieser Bemerkung läßt sich wiederum auf das stark kultische Interesse der Trägerkreise der Himmelfahrt des Mose schließen. Das Strafgericht Gottes am Ende der Tage bewegt sich sowohl in irdischen als auch in kosmischen Bahnen. Es ergeht nicht nur über alle Feinde Israels (l0,2f.7.9)12, sondern auch Uber die Werke der Schöpfung (10,4-6)73. Kosmi-
69 AssMos 9,6f: ,,ieiunemus triduo, et quarto die intremus in speluncam, quae in agro est, et moriamur potius, quam praetereamus mandata domini dominorum, dei parenturn nostrorum. 7 Hoc enim si faciemus et moriemur, sanguis noster vindicabitur coram domino". 10 Hinter den Feinden Israels verbergen sich in erster Linie die Heiden. 7 1 AssMos 10,7: ..quia exurget summus deus, aetemus solus, et palam veniet ut vindicet gentes, et perdet omnia idola eorum". 12 An erster Stelle werden in diesem Zusammenhang der ..Teufel" und die .,Traurigkeit" genannt (AssMos 10,1: •.Et tune parebit regnum illius in omni creatura illius et tune zabulus finem habebit et tristitia cum eo abducetur.").
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sehe und ethische Sachverhalte sind auch an dieser Stelle eng aufeinander bezogen. Nach 10,2 ist neben Gott selbst auch der Erzengel Michael (=der Völkerengel Israels) an diesem endzeitliehen Gerichtshandeln mitbeteiligt74 • Gott bleibt jedoch eindeutig übergeordnet und weist diesem seine richterliche Funktion zu. Konnte Gottes endzeitliches Gerichtshandeln sowohl eine irdische als auch eine kosmische Komponente sein eigen nennen, so lassen sich diese beiden Komponenten auch mit Blick auf Gottes endzeitliches Heilshandeln feststellen. So geht mit der Restitution Israels die Restitution der Schöpfung einher. Zur näheren Beschreibung der Restitution Israels findet das recht merkwürdige Bild einer ,,Entrückung" bzw. einer ,,Himmelfahrt" Israels Verwendung, eine im Kontext der frühjüdischen Apokalyptik singuläre Vorstellung. Vergegenwärtigen wir uns die Verse 10,8f: ,,Dann wirst du glücklich sein, Israel, und du wirst auf die Nacken und Aügel des Adlers hinaufsteigen, und so werden sie ihr Ende haben. 9 Und Gott wird dich erhöhen, und er wird dir festen Sitz am Sternenhimmel verschaffen, am Ort ihrer Wohnung"7S. Gottes endzeitliches Heilshandeln bezieht sich auf das ganze Volk und zeichnet sich dadurch aus, daß ganz Israel den geschichtlichen Zusammenhängen entzogen wird und einen Platz außerhalb dieser Welt zugewiesen bekommt. 2.3.3.3 Zusammenfassung Die Geschichte Israels von der Landnahme bis zum Kommen des Gottesreiches bewegt sich ohne Zweifel in deuteronornisch-deuteronornistischen Bahnen. Die Deuteronomistik begegnet uns innerhalb dieses Geschichtsüberblicks jedoch keineswegs in "Reinform", sondern in einem an entscheidenden Punkten veränderten Gewand. So tritt an die Stelle der Hoffnung auf einen innergeschichtlichen Neuanfang die Überzeugung, daß nur ein theokratischer Akt Gottesam Ende der Tage in der Lage ist, einen neuen Heilszustand zu schaffen. Das Schema der deuteronornistischen Geschichtsbetrachtung wird deutlich durchbrachen bzw. apokalyptisch transformiert. Im Gegensatz zur Deuteronornistik, die ausschließlich in kollektiven, auf das Volk Israel als Ganzes bezogenen Bahnen denkt, ist der gesamte Geschichtsüberblick von dem Gegeneinander der zwei und der zehn Stämme geprägt. Sieht der Verfasser des Geschichtsüberblicks in dieser Polarität zwischen einer gesetzestreuen Minderheit und der großen Mehrheit des Volkes ein unverrückbares Spezifikum der israelitischen Geschichte, so wendet er sich trotzdem entschieden gegen Tendenzen, diese Polarität zu einem regelrechten Bruch auszuweiten. Mit Blick auf das ge73 Siehe vor allem die Veränderungen der kosmischen Ordnung (AssMos 10.5: •.Sol non dabit Iumen et in tenebris convertent se comua lunae et confringentur et tota convertit se in sanguinem et orbis stellarum conturbabitur. "). 7 4 Siehe E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, 76, Anm.X,2a. 75 AssMos 10,8f: "Tune felix eris tu, lstrahel, et ascendes supra cervices et alas aquilae et inplebuntur [dies tuil.9 Et altabit te deus et faciet te haerere caelo stellarum, loco habitationis eorum" (Zur Übersetzung siehe, E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses. 77 Anm.X, 8b+9b).
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schichtliehe Ergehen Israels darf der radikale Gesetzesgehorsam einer Minderheit keinesfalls in der Weise gegen den Ungehorsam der Mehrheit ausgespielt werden, daß einzig letzterer die Verantwortung fUr alles Unglück zugeschoben wird. Wäre doch dann die Spaltung Gesamtisraels in ein gesetzestreues "wahres Israel" und ein den Geboten der Tora gegenüber ungehorsames "falsches Israel" die notwendige Folge. Um eine radikale Spaltung, wie sie uns auch andernorts innerhalb der frühjüdischen Apokalyptik begegnet, zu verhindern, sah sich der Verfasser offensichtlich zu einer ,,Abschwächung" der Gesetzesthematik gezwungen. Diese Abschwächung läßt sich sowohl in den Partien des Geschichtsüberblicks feststellen. die sich mit der Vergangenheit beschäftigen, als auch in denjenigen, die ihr Augenmerk auf die Zukunft richten. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang ist im Rahmen der gegenwärtigen Weltzeit zu völliger Kraftlosigkeit verdammt. Das innergeschichtliche Schicksal Israels entscheidet sich nicht an der Frage des Gesetzesgehorsams, sondern ist das Produkt von Gottes souveränem Geschichtshandeln. Einzig Gott selbst war in der Vergangenheit fUr das Schicksal Israels verantwortlich. Folglich verschiebt sich die Argumentation von der Gesetzesthematik auf die Bundesthematik. War somit Israels vergangene Geschichte primär Objekt göttlicher Determination, so erwartet der Verfasser des Geschichtsüberblicks auch für Israels zukünftige Geschichte ein kaum verändertes Bild. Auch diese Zeit wird für den Verfasser des Geschichtsüberblicks von der Polarität einer gesetzestreuen Minderheit und einer ungehorsamen Mehrheit innerhalb Israels geprägt sein. Die Chiffre von den zwei und zehn Stämmen wird nun durch andere Symbolismen ersetzt. Stellvertretend für die gesetzestreue Minderheit am Ende der Tage stehen "Taxo" und seine Söhne. Doch auch jetzt, mit Blick auf die Zukunft, geht der Verfasser des Geschichtsüberblicks an keiner Stelle über die von ihm festgestellte Polarität hinaus. Das Verhalten Gesamtisraels oder einer Gruppe des Volkes gegenüber den Geboten der Tora ist mit Blick auf das endzeitliche Heil Israels völlig unerheblich. Auch in der letzten bösen Zeit vor dem Ende läßt sich innergeschichtlich kein Tun-Ergehen-Zusammenhang feststellen. Nicht nur die letzte böse Zeit, sondern auch die kommende Heilszeit ist gänzlich Gottes Alleinwirksamkeit unterworfen. Die endzeitliche Restitution Gesamtisraels ist einzig Gottes Werk, menschliches Tun ist in diesem Zusammenhang zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Andererseits kommt jedoch gerade im Rahmen des Ausblicks auf die Zukunft der Gesetzesthematik doch noch eine tragende Bedeutung zu. So wissen diese Zeilen davon zu berichten, daß es am Ende dieser Weltzeit zu einer endzeitliehen Restitution des Tun-ErgehenZusammenhangs kommen wird. Der Gesetzesgehorsam der Sondergruppe innerhalb Israels, der Gottes endzeitlichem Heilshandeln unmittelbar vorausgeht, zahlt sich mit Blick auf das Eschaton doch aus.
Die Rahmenerzählung (Kap. 1,1-18 und Kap. 10,11-12,13)
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2.3.4 Die Rahmenerzählung (Kap. 1,1-18 und Kap. 10,11-12,13)
2.3.4.1 Moses Amtsübergabe an Josua (Kap. 1,1-18) Die Rahmenerzählung setzt mit der Zeit unmittelbar vor dem Beginn der Landnahme Israels ein. Kurz vor seinem Tode bestimmt Mose Josua zu seinem Nachfolger (1,6) und macht ihn mit einigen Aufträgen bekannt, die in der Aufforderung, die Mose-Prophetie (2,1-10,10) als apokalyptische Geheimschrift bis zum Ende der Tage zu verwahren (1,18), ihren Gipfelpunkt erreicht. Betrachten wir zunächst den Ansatzpunkt dieser Schrift, so ist die Analogie zum Deuteronomium gewiß beabsichtigt. Hinzu kommt noch die Tatsache, daß das ,.Buch Deuteronomium" in 1,5 ausdrtlcklich erwähnt wird. Durch diese historische Fiktion versetzt der Verfasser der Himmelfahrt des Mose sich selbst sowie die Leser seiner Schrift zurück an den Anfang der Geschichte Israels, der analog zum Geschichtsüberblick nicht mit dem Exodus- oder Sinaigeschehen, sondern mit der Landnahme identifiziert wird. Die Landnahmetradition kann in 1,8 zwar mit der Väterverheißung in Verbindung gebracht werden, eine entscheidende Bedeutung wird jedoch auch der Vätertradition nicht zugebilligt. Einzig die Landnahme ist das den Anfang der Geschichte Israels bestimmende Heilsereignis. Der Verfasser der Himmelfahrt Moses versteht seine eigene Gegenwart offensichtlich in Analogie zu der Situation Israels vor dem Einzug ins heilige Land76. Das ,,heilige Land" wird somit zur Chiffre für die neue Weltzeit. Die Landverheißung selbst ist nach 1,9 untrennbar mit dem Bundesgedanken verbunden. Der Bundesgedanke wird an dieser Stelle ganz von Gottes Zuspruch her verstanden. Der mit diesem Zuspruch verbundene Anspruch tritt an dieser Stelle völlig zurück. Gottes Bundeszusage an Israel wird als Garant für die Erfüllung der Verheißung verstanden. Die Bundestreue Gottes ist für geschichtliches wie eschatologisches Ergehen verantwortlich. Denkt Vers 1,9 ausschließlich von Gott her, so tritt in den Versen 1,12-14 die menschliche Seite in den Vordergrund. Vergegenwärtigen wir uns zunächst den recht schwer verständlichen Wortlaut der Verse 1,12-13: ,,Denn er hat (zwar) die Welt um seines Volkeswillen geschaffen, 13 aber er hat nicht (damit) angefangen, es, den Erstling der Schöpfung, auch von Anfang der Welt an offenbar zu machen, so daß die Heiden dadurch überführt würden und demütig durch Erörterungen einander hätten überführen können"77 • Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als ob in diesen beiden Versen viel vom Volk Israel, auf keinen Fall jedoch vom Gesetz die Rede ist. So begegnet uns in 1,12 zunächst die auch aus anderen apokalyptischen Zusammenhängen bekannte Vorstellung, daß die Welt um Israels willen geschaffen wurde (siehe z.B. IV Esr 6,55-59; 7,11;
76
Siehe E. Janssen, Das Gottesvollt, 102.
77 AssMos l,l2f: ..Creavit enim orbem terrarum propter plebem suam 13 et non coepit eam
inceptionem creaturae et ab initio orbisterrarum palam facere, ut in ea gentes arguantur et humiliter inter se disputationibus arguant se".
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Die Himmelfahrt des Mose
syrBar 14,18). Dieser Gedanke wird in 1,13a durch den Hinweis auf die Präexistenz Israels als ,,Erstling der Schöpfung" weitergeführt, ein Gedanke, der im prophetischen Hauptteil der Schrift in der Erwartung einer eschatologischen "Himmelfahrt Israels" seine Entsprechung findet. So stimmig der Gedankengang bis jetzt auch sein mag78 , Vers 13b fällt aus dem bisherigen Argumentationsduktus völlig heraus. Wie hätte die rechtzeitige Offenbarung Israels als ,,Erstling der Schöpfung" bewirken können, daß die Heiden "demütig durch Erörterungen einander hätten überführen können"? Diese Aussage gibt keinen Sinn, so daß wir gezwungen sind, den Satz völlig anders zu verstehen. Es empfiehlt sich meines Erachtens in diesem Zusammenhang der Konjektur C. Clemens zu folgen, der in seiner Übersetzung der Himmelfahrt des Mose das Wort "plebem" durch "Iegern" ersetzt79 . Dieser Eingriff ist vom Gesamtverständnis dieser Stelle her durchaus legitim. Für den Verfasser dieser Zeilen verbirgt sich hinter der präexistenten Größe, die er mit der Bezeichnung ,,Erstling der Schöpfung" umschreibt, wohl nicht das Volk Israel, sondern das Gesetz. Ist die Vorstellung einer Präexistenz des Gesetzes im Gegensatz zur Präexistenz Israels8o in frühjüdischen Texten vielfach bezeugt, so kann überhaupt kein Zweifel bestehen, daß allein dem Gesetz, nicht aber dem Volk Israel die Aufgabe zufällt, die Heiden zu "überführen". Diese Umschreibung, die sich nur auf die Sündenerkenntnis beziehen kann, ist nur vom Gesetz, keineswegs vom Volk Israel her verständlich. Einzig das Gesetz ist in der Lage, den Heiden ihre sündige Existenz zu offenbaren und diese zur Läuterung zu führen. Ist somit in 1,13 ganz gewiß vom Gesetz die Rede, so legt es sich nahe, auch 1,12 in diese Richtung zu interpretieren. Unsere Interpretation der Verse 12-13 findet meines Erachtens durch Vers 14 eine ausdrückliche Bestätigung: ,,Deshalb hat er mich ausersehen und gefunden, der ich von Anfang der Welt bereitet worden bin, der Mittler jenes Bundes zu werden"8'. Die Wendung ,,Mittler jenes Bundes" bezieht sich einerseits auf Gottes Bundeszusage an Israel in 1,9 zurück, andererseits greift sie jedoch auch die Gesetzesaussagen von 1,13 auf. Die Verwirklichung der in der Landverheißung bestehenden Bundeszusage Gottes an Israel wird somit ausdrücklich an die Mittlertätigkeit des Mose und damit an die Gesetzgebung gebunden. Gerade mit Blick auf die Heiden in 1,13 besteht die Mittlerfunktion des Mose darin, den ,,Erstling der Schöpfung", sprich das Gesetz offenbar zu machen. Dem einzig im Sinne von Gottes Zusage verstan78 Die Vorstellung einer Präexistenz Israels ist im frühjüdischen Schrifttum zwar singulär, doch spricht diese Beobachtung allein noch nicht gegen obiges Verständnis der Stelle, da auch der Gedanke einer ,,Himmelfahrt Israels" in 10,9 ein Einzelfall darstellt. 79 Siehe C. Clemen, Die Himelfahrt des Mose, in: APAT ß, 319 Anm.h. 80 Lediglich die Vorstellung von Israel als ..erstgeborenem Sohn" ist mehrfach bezeugt (z.B. Ex 4,22; PsSal 18,4; IV Esr 6,58). Diese Aussagen sindjedoch nicht im Sinne einer Präexistenz Israels zu verstehen. 81 AssMos 1,14: .Jtaque excogitavit et invenit me, qui ab initio orbisterrarum praeparatus sum, ut sim arbiter testamenti illius".
Die Rahmenerzählung (Kap. 1,1-18 und Kap. 10,11-12,13)
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denen Bundesgedanken in 1,9 tritt nun ein Bundesverständnis zur Seite, das durch die Verbindung mit Mose und dem Gesetzesgedanken den Anspruchscharakter betont. Der Verfasser dieser Schrift kann und will gerade auf die Verpflichtung zu unbedingtem Gesetzesgehorsam nicht verzichten. Dies zeigt sich schließlich auch darin, daß nach 1,16f unsere Schrift und damit die in ihr gesammelte apokalyptische Geheimlehre eindeutig an die Tora zutilckgebunden wird. Ergeht doch nach 1,16-17 von Mose folgender Auftrag an Josua: ",Du' aber nimm diese Schrift entgegen, um den Schutz der Bücher zu bedenken, die ich dir übergeben werde. 17 Die sollst du ordnen und mit Zedernöl salben und in irdenen Geflißen an dem Ort aufbewahren, den er von Anfang der Welterschaffung (dazu) schuf' 82. Hinter den Büchern, die Mose dem Josua übergeben wird, und die dieser mit Zedernöl salben und in Jerusalem bzw. dem Tempel verbergen so1183, verbirgt sich mit Sicherheit die Tora, wobei wohl primär an den Pentateuch gedacht ist84. Die recht ,,kryptische" Bemerkung, daß die Himmelfahrt des Mose den Zweck erfülle, "den Schutz der Bücher zu bedenken", kann in diesem Zusammenhang eigentlich nur im Sinne einer Legitimation des apokalyptischen Geheimwissens unserer Schrift als Gesetzesauslegung verstanden werden. Der Verfasser der Himmelfahrt des Mose sieht in seiner Schrift zweifellos einen Akt korrekter Gesetzesauslegung.
2.3.4.2 Der Dialog zwischen Mose und Josua am Ende der Himmelfahrt des Mose (Kap. 10,11-12,13) Die Rahmenhandlung setzt in 10,11-14 mit einer Neuauflage einiger bereits aus 1,1-18 bekannter Gedanken ein. So wird nochmals der Auftrag des Mose an Josua erwähnt, die Worte des prophetischen Geschichtsüberblicks für die Nachwelt aufzubewahren (10,11), bevor in den Versen 10,12f der Versuch unternommen wird, die Zeit bis zur Ankunft des Gottesreiches zu terminieren. Erneut wird die zentrale Stellung des Bundesgedankens hervorgehoben, wenn in 10,15 Josua bewußt als ,,Nachfolger in diesem Bund" bezeichnet wird8S. Das ganze Kapitel 11 ist den Einwänden des Josua, die dieser gegen seine Beauftragung, die Nachfolge des Mose als "Bundesmittler" anzutreten, vorzubringen hat, gewidmet. Josua fühlt sich keineswegs in der Lage, Moses Stellung zu übernehmen. Um diese Ansicht zu untermauern, entwirft Josua in Ka82 AssMos 1,16f: ..... [tu] ... autem percipe scribturam hanc ad recognoscendam tutationem librorurn, quos tibi tradam, 17 quos ordinabis et chedriabis et repones in vasis fictilibus in loco, quem fecit ab initio creaturae orbis terrarum" (Zur Übersetzung siehe, E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, 69 Anm.I, 16a). 83 Auch in anderen frühjüdischen Texten wird Jerusalem als Ausgangspunkt der Schöpfung verstanden. So auch im rabbinischen Judentum, siehe Joma 54b. 84 So auch E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, 69 Anm.16b. 85 AssMos 10,15: ,,Darum, Josua, (Sohn) Nuns, <Sei stark>! Dich hat Gott erwählt, mein Nachfolger in diesem Bund zu sein." (Übersetzung nach E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses. 78).
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Die Himmelfahrt des Mose
pitel 11 ein Mosebild, das dessen Einmaligkeit, Vollkommenheit und Unersetzlichkeil betont. Im Zentrum steht hierbei der Versuch, den Bundesmittler Mose, der bereits in den vorangegangenen Kapiteln als der in die verborgenen apokalyptischen Geheimnisse eingeweihter Prophet erscheint, in den Farben eines kosmisch-universalen, überirdischen Wesens zu zeichnen. So läßt sich Moses Leichnam nicht an einem bestimmten Ort plazieren, sein Grab ist die ganze Welt (11,9). Vor allem 11,16 betont den universalen Charakter der Gestalt des Mose, die in einem seltsamen Widerspruch zu dessen mit dem Schicksal Israels verbundener Funktion als ,,Bundesmittler" steht. Die Aufgabe des Mose bezieht sich nach diesem Vers offenbar auf die gesamte Welt, da Mose als "der göttliche Prophet über die ganze Erde" und "der vollkommene Lehrer in der Welt" vorgestellt wird86. Diese mit der Person des Mose verbundene Universalistische Tendenz wird jedoch bereits im nächsten Vers wieder eingeschränkt, wenn Mose als Garant der Bundestreue Gottes zu seinem Volk in den Blick kommt. Einzig Moses Appell an Gottes Barmherzigkeit scheint in der Lage, Gottes Bund mit Israel zu erhalten 87 . Der Verfasser der Himmelfahrt des Mose sieht demnach in der Person des Mose eine universalistische, auf die gesamte Welt und eine partikularistische, einzig auf das Volk Israel bezogene Tendenz vereinigt. Die partikularistische Funktion des Mose, die ausdrücklich vom Bundesgedanken her bestimmt wird, behält jedoch offensichtlich das Übergewicht. Richten wir unser Augenmerk nun auf Kapitel 12, so weist Mose die Befürchtungen Josuas, den Anfforderungen als sein Nachfolger nicht gerecht zu werden, zunächst mit dem Hinweis auf das göttliche Vorherwissen und die Determination allen Geschehens zurtick (12,3-7). Gott allein ist das handelnde Subjekt der Geschichte. Er ist es, der sowohl für den Verlauf der Weltgeschichte als auch für das HerbeifUhren der endzeitliehen Heilszeit verantwortlich zeichnet. Da in diesem Zusammenhang dem menschlichen Handeln nur eine völlig untergeordnete Bedeutung zukommt, versinkt der von Josua konstatierte Abstand zwischen seiner Person und der des Mose in völliger Bedeutungslosigkeit. Betont doch Mose in 12,7 mit Blick auf seine eigene Person: ,,Denn nicht auf Grund meiner Tüchtigkeit oder ,Fertigkeit', sondern ,durch die Milde' seiner Barmherzigkeit und durch seine Langmut ist mir das zugefallen"88. Sind nach 12,3-8 die Menschen zu bloßen Statisten auf der BUhne des 86 Übersetzung nach E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, 79. 87 AssMos 11,17: •.Si inimici impie fecerunt semel adhuc in dominwn suum, non est defensor illis, qui ferat pro eis preces domino, quomodo Moyse erat magnus nuntius qui singulis horis, diebus et noctibus habebat genua sua infixa in terra, orans et intuens omnipotentem [visitare] orbem terrarum cum misericordia et iustitia, reminiscens testamenturn parentum et iureirando placando domminum". 88 AssMos 12,7: ,,Non enim propter meam virtutem aut infirmitatem, se temperantius misericordiae ipsius et patientia contigerunt mihi" (Zur Übersetzung siehe, E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses, 80 Anm.XII 7a+b).
Die Rahmenerzählung (Kap. 1,1-18 und Kap. 10,11-12,13)
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Weltgeschehens verdammt und somit jeglicher Verantwortung enthoben, so sprechen die Verse 12,10-11 jedoch wieder eine andere Sprache: ,,Daher werden die, die Gottes Gebote halten und erfüllen, wachsen und einen glücklichen Weg vollenden. 11 Denen aber, die sündigen und die Gebote nicht beachten, werden die verheißenen ,GUter mangeln', und sie werden von den Heiden mit vielen Plagen bestraft werden"B9. Diese Verse reden einem funktionierenden Tun-Ergehen-Zusammenhang das Wort und messen gerade dem Gesetzesgehorsam eine entscheidende Bedeutung zu. An der freien Verantwortlichkeit des Menschen fUr sein Tun wird nicht gerUttelt. Bereits in 12,12 erfährt dieser Gedanke jedoch wieder eine Einschränkung, indem darauf insistiert wird, daß selbst ein völliger Abfall vom Gesetz an der Erwählung Israels nichts zu ändern vermag. Dort lesen wir: ",Daß' er sie aber gänzlich ausrotte und verlasse, ist unmöglich''90. Der Verfasser der Himmelfahrt des Mose unternimmt somit auch an dieser Stelle den paradoxen Versuch, gleichzeitig die Determination allen Geschehens und die freie Verantwortlichkeit des einzelnen fUr sein Tun zu betonen. Das Hauptgewicht liegt in der Himmelfahrt des Mose jedoch stärker auf dem Determinationsgedanken91 , der als Determination ganz Israels zum Heil verstanden wird. Die Gefahr eines starren Vergeltungsschemas, die jede zu einseitige Betonung menschlichen Tuns mit sich bringt, und damit die Gefahr des endzeitliehen Heilsverlustes fUr die große Mehrheit Israels, schätzte der Verfasser dieser Schrift wohl größer ein, als die eines allgemeinen ethischen "Tohuwabohus" in der Gegenwart. So schränkt er den "Vergeltungsgedanken" in 12,10f sofort wieder ein, indem er in 12,12f auf den Bundesgedanken und damit auf Gottes gnädiges Handeln an Israel verweist92. Der Verfasser der Rahmenhandlung unternimmt in einer Situation, die durch die Überzeugung geprägt ist, daß der Tun-Ergehen-Zusammenhang innergeschichtlich kraftlos geworden, eine Wende zu innerweltlichem Heil nicht mehr möglich ist, den Versuch, den Gedanken der Sicherung des eschatologischen Heils fUr ganz Israel mit der Aufforderung zu konsequentem Gesetzesgehorsam zu verbinden.
89 AssMos 12,10f: •.Facientes itaque et consummantes mandata dei crescent et bonam viam exigent; 11 nam peccantibus et negligentibus mandata carebunt bona, quae praedicta sunt. Et punientur a gentibus multis tormentis" (Zur Übersetzung siehe, E. Brandenburger, Himmelfahrt Moses. 80f Anm.XII 11a). 90 AssMos 12,12: ..nam [ut) in totum exterminet et relinquat eos fieri non potest". 91 So auch J. Priest, Testament of Moses, in: OTP I, 922. 92 Siehe Manuel Vogel, Das Heil des Bundes, 51: .. Zwar ahndet Gott gesetzloses Handeln; dies kann jedoch nie zu einer völligen Preisgabe Israels führen. Der Gottesvolkbegriff bildet mit der innerisraelitischen Unterscheidung von Gerechten und Ungerechten. die, wie 4. Esra zeigt, in letzter Konsequenz zur Auflösung des Gottesvolkbegriffs führt. ein spannungsvolles Gleichgewicht. dessen Schwerpunkt auf dem Bundesgedanken aufruht."
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Die Himmelfahrt des Mose
2.3.5 Ergebnisse Fassen wir die bisherigen Ergebnisse mit Blick auf die Frage nach der Rolle des Gesetzes innerhalb der Himmelfahrt des Mose zusammen, so ergibt sich ein recht ambivalentes Bild. Wenden wir uns zunächst dem Geschichtsüberblick zu, so steht einerseits die Geschichte Israels von ihren Anfängen bis zur eschatologischen Heilszeit gänzlich im Zeichen göttlicher Determination. Einzig Gott allein zeichnet als handelndes Subjekt für Israels Ergehen in Vergangenheit und Zukunft verantwortlich. Der Universalität der Sünde wird ein auf Gesamtisrael bezogenes universales Heilshandeln Gottes entgegengestellt. Andererseits kann der Verfasser des Geschichtsrückblicks immer wieder auf die Gesetzestreue einer Minderheit innerhalb Israels verweisen und damit implizit oder explizit (9,6) zu unbedingtem Gesetzesgehorsam auffordern, obwohl er davon überzeugt ist, daß menschliches Tun für geschichtliches Ergehen völlig irrelevant ist. Mit Blick auf die zukünftige Heilszeit kann der Verfasser des Geschichtsüberblicks zwar auf eine ausgleichende Gerechtigkeit hoffen (9,7), doch wird dieser Vergeltungsgedanke durch die Betonung von Gottes gnädigem Handeln an Gesamtisrael in seiner Bedeutung sofort wieder eingeschränkt. Die mit dem Gesetzesgedanken verbundene Überzeugung von der freien Verantwortung des Menschen für sein Tun kommt innerhalb des Geschichtsüberblicks zwar deutlich zum Ausdruck, aufs Ganze gesehen bleibt sie jedoch dem Gedanken einer göttlichen Determination allen Geschehens untergeordnet. Das gleiche paradoxe In- und Miteinander von göttlicher Determination und freier Verantwortlichkeit des einzelnen für sein Tun begegnet uns auch in der Rahmenerzählung. Dieses ,.Paradoxon" wird vom Autor der Himmelfahrt des Mose und der hinter ihm stehenden Kreise keinesfalls als Widerspruch verstanden9J. Das Wissen um die Sündenverfallenheil der gegenwärtigen Welt und die Hoffnung auf Gottes endzeitliches Heilshandeln an ganz Israel wird nicht gegen die Verpflichtung zu konsequentem Gesetzesgehorsam ausgespielt, sondern dient geradezu als Ermutigung zu unbedingter Gesetzeserfüllung. Die Trägerkreise der Himmelfahrt des Mose sind in priesterlichem Milieu zu vermuten. Neben der Kultgesetzlichkeit wirdjedoch auch sozialen Vergehen eine große Bedeutung zugemessen.
93 So Ch. MUnchow. Elhik und Eschatologie, 73; siehe das 4. Esrabuch.
2.4 Das 4. Esrabuch 2.4.1 Vorbemerkungen
An der Frage nach dem Gesetzesverständnis, das dem 4. Esrabuch zugrunde liegt, scheiden sich die Geister. Allzuweit liegen die Forschungsergebnisse in dieser Frage auseinander. Die Spannbreite reicht von der Überzeugung, daß ,.das Gesetz im Mittelpunkt des Interesses" dieses Buches steht 1, bis zu der Auffassung, daß gerade nicht ,.die Frage nach dem Gesetz das eigentlich Bewegende" sei2. Aber nicht nur der Stellenwert der Gesetzesproblematik innerhalb des theologischen Gesamtkonzeptes des 4. Esrabuches ist in der Forschung umstritten. Darüber hinaus kommt es auch dann, wenn dem Gesetz die größte Bedeutung zugemessen wird, noch zu völlig unterschiedlichen Bewertungen dieses Phänomens. Während die einen den Verfasser des 4. Esrabuches geradezu als ,.vorchristlichen Paulus" feiern, der bereits unabhängig von Paulus ,.das Bewußtsein der menschlichen Unfahigkeit zur Erfüllung des göttlichen Gesetzes erreicht hat"3, so können andere davon reden, daß man ,.es hier mit der stärksten Annäherung an gesetzliche Werkgerechtigkeit zu tun (habe), die sich in der jüd. Literatur jener Jahre finden läßt''4 • Die Ursache dafUr, weshalb es zu solch unterschiedlichen, ja, sich geradezu widersprechenden Interpretationen des gleichen Phänomens kommt, liegt darin begründet, daß das Problem der Autorschaft des 4. Esrabuches, also der Versuch, die Meinung des Verfassers bzw. Endredaktors dieser Schrift zu erheben, immer noch als weitgehend ungelöst bezeichnet werden muß. Allzuoft werden einzelne, dem Textzusammenhang enthobene theologische Vorstellungskomplexe vorschnell mit der Meinung des Verfassers identifiziert und damit das 4. Esrabuch zum ,.Steinbruch" unterschiedlicher theologischer Auffassungen degradiert. Doch auch diejenigen, die gewillt sind, an der Einheitlichkeit des 4. Esrabuches festzuhalten und sich bemühen, ,.die bewegte und spannungsreiche Gedankenführung zu beachten" 5, kommen dann, wenn es darum geht, die Meinung des Verfassers zu erhellen, zu recht unterschiedlichen Ergebnissen6 • Trotzdem bleibt festzuhalten, I
So W. Harnisch, Verhängnis und Verheißung, 179.
2 So M. Limbeck, Die Ordnung des Heils, 97. 3 So z.B. A. Hilgenfeld, Diejüdische Apokalyprik, 191 Anm.l. 4
So z.B. E.P. Sanders, PauJus und das Palästinische Judentum, 395.
S So E. Brandenburger, Adam, 30. 6 Dies zeigt sich besonders deutlich. wenn man die Ergebnisse, zu denen in dieser Frage A
P. Hayman in seinem Artikel ..The Problem of Pseudonymity in the Ezra Apocalypse" kommr. mit denen von E. Brandenburger vergleichr, wie sie dieser z B. in seiner Schrift •.Die Verborgenheit Goues im Wehgeschehen" herausgearbeitet hat. Während sich für E. Brandenburger die Meinung des Verfassers des 4. Esrabuches primär in den Engelaussagen der Visionen 1-III finder. gehr A.P. Hayman davon aus, daß gerade die Klagen und Einwände des Sehers Esra die Meinung des Autors des 4. Esrabuches widerspiegeln; saehe E. Brandenburger, Verborgenheit Gottes, 148-154 und A.P. Hayman, JSJ 1975, 49.
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Das 4. Esrabuch
daß der Schlüssel zum Verständnis des 4. Esrabuches und damit auch zur Frage nach der Rolle des Gesetzes im literarischen Charakter dieser Schrift verborgen liegt. Diesen Zusammenhang bringt E.P. Sanders mit folgenden Worten treffend zum Ausdruck: "So wird die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Buches z.T. durch die Frage nach der Autorschaft bestimmt"7 • 2.4.2 Der literarische Charakter des 4. Esrabuches im Spiegel seiner Erforschung Der literarische Charakter des 4. Esrabuches wurde im Laufe der Forschungsgeschichte recht unterschiedlich bestimmt. Unter der Vorherrschaft der literarkritischen Methode innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft versuchte man die WidersprUche innerhalb des 4. Esrabuches dadurch auszugleichen, daß man das 4. Esrabuch analog zum Pentateuch und den Evangelien in unterschiedliche Quellenschriften (meistens fünf) zerlegtes. Auf der Stufe der Endredaktion wurde dem 4. Esrabuch dagegen nur wenig Aufmerksamkeit zuteil. Stellvertretend für andere deutschsprachige Forscher sei in diesem Zusammenhang nur auf die Auffassung Kabischs verwiesen, daß das 4. Esrabuch durch einen ,.ganz elenden Redaktor zusammengeschustert worden sei''9. Im angelsächsischen Raum bot sich von geringfügigen Modifikationen abgesehen im Grunde dasselbe Bild. Im Zentrum der Arbeiten von G.H. Box und R.H. Charles zum 4. Esrabuch stand gleichfalls der Versuch, den komplizierten literarischen und theologischen Charakter dieser Schrift dadurch zu erhellen, daß man sie in verschiedene Quellenschriften aufteilte 1o. Zu einer ganz anderen Bewertung gerade der Endgestalt des 4. Esrabuches 11 kam es jedoch unter dem Eindruck der traditionsgeschichtlichen Arbeitsweise, der im deutschsprachigen Raum ausgehend von den grundlegenden Arbeiten Hermann Gunkels eine immer größere Bedeutung innerhalb der alt- und neutestamentlichen Exegese zukam. Unebenheiten, Wiederholungen sowie die unterschiedlichen theologischen Vorstellungskomplexe innerhalb des 4. Esrabuches erklärten sich nun "meist aus der Aufnahme verschiedener Traditionen" 12 , so daß die Einheitlichkeit der Schrift trotz ihres disparaten Charakters gewahrt blieb. Aus einem Redaktor, der verschiedene Quellentexte ziemlich plan- und konzeptlos ,,zusammenschusterte", wurde der Autor einer Schrift, der ganz bewußt unterschiedli7 So E.P. Sanders, Paulus und das Palistinische Judentum, 394. 8 So z.B. R. Kabisch, Das 4. Buch Esra, Göttingen 1889; vgl. M.E. Stone, Apocalyptic Lite-
rature, in: Jewish Writings of the Second Temple Period, 414 Anm. 170. 9 Zitat nach H. Gunkel, Das vierte Buch Esra, in: AP AT ll, 351. 10 Siehe G.H. Box, The Ezra-Apocalypse, London 1912; ders, IV Ezra, in: APOT II. London 1913, 542-624; R.H. Charles, A Critica1 History of the Doctrine of a Future Life, London 1913. II G.H. Box wußte über die Endgestalt des 4. Esrabuches nichts weiter zu sagen, als daß der Redaktor von der Absicht getragen war, dem 4. Esrabuch einen Platz innerhalb des orthodoxen. rabbinischen Judentums zu sichern; siehe G.H. Box, IV Ezra, in: A.POT II, 542. 12 H. Gunkel, Das 4. Buch Esra, in: APAT ll, 350.
Der literarische Charakter des 4. Esrabuches im Spiegel seiner Erforschung
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ehe, ursprtlnglich unabhängig voneinander überlieferte Traditionskomplexe zu einem sinnvollen Ganzen vereinte. Die letztendlich auf Gunkel zurtickgehende Überzeugung von der Einheitlichkeit des 4. Esrabuches bildet seit Mitte der 40er Jahre dieses Jahrhundertsll den Ausgangspunkt fast aller Versuche, das literarische Problem des 4. Esrabuches zu lösen. Doch auch dann, wenn man davon ausgeht, daß das 4. Esrabuch ein komplexes, kunstvoll kombiniertes literarisches Gebilde darstellt, in dem unterschiedliche theologische Traditionen in der Form eines Gespräches miteinander konfrontiert werden, wobei die Meinung des Autors bzw. Endredaktors dieser Schrift als Endprodukt dieses theologischen Gesprächs zu bestimmen ist, bleiben noch viele Fragen offen. Sämtliche neueren Versuche in diese Richtung kommen jedenfalls zu recht unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem, welche Argumentationsmuster innerhalb des Textganzen stärker betont werden. Unter der Voraussetzung der Einheitlichkeit des 4. Esrabuches kommt für E. Breech1 4 , A. P. Hayman 1s und A. L. Thompson 16 vor allem den Visionen IV-VI und dem Schlußabschnitt VII des 4. Esrabuches - eingedenk aller Unterschiede im einzelnen - eine entscheidende Bedeutung zu, wenn es darum geht, die Intention des Verfassers dieser Schrift zu erhellen 17 • Allzulange orientierte sich ihrer Meinung nach die Forschung in dieser Frage einzig an dem dialogischen Teil des 4. Esrabuches (Visio I-ID), eine Tatsache, die sich nur schwerlich leugnen läßt. Innerhalb des dialogischen Teils des 4. Esrabuches kommt für diese der Verfasser in erster Linie in den Aussagen des Sehers Esra zu Wort, während die Relevanz derEngelaussagen im Verhältnis hierzu ziemlich gering bewertet wird 1B. Die deutschsprachigen Forscher W. Hamischl9 und E. Brandenburger20 kommentrotz gleicher Ausgangslage zu geradezu entgegengesetzten Auffassungen. Für sie findet sich die Meinung des Verfassers primär in den Engelaussagen der Visionen Im. Darüber hinaus mißt E. Brandenburger gerade der Vision IV eine entE. Brandenburger, Verborgenheit Gottes. 25. Breech, ffiL 1973,267-274. IS P. Hayman, JSJ 1975, 47-56. 16 A.L. Thompson. Responsibility For Evil in The Theodicy Of IV Eua, Missaula 1977. In dieser Studie kommt Thompson zu dem Ergebnis, daß der Autor des 4. Esrabuches einen theologischen Universalismus vertrete, den er einer partikularistisch denkenden jüdischen Orthodoxie entgegensetzt. 17 E. Breech läßt sich in seiner Schrift ..These Fragments I Have Shored Against My Ruins". zu einer völligen Abwertung des dialogischen Teiles des 4. Esrabuches hinreißen, wenn er diesem in Anlehnung an Gunkel lediglich die Aufgabe zuweist, die religiöse Problemlage. sprich die Not und das Elend der Gemeinde Esras zur Sprache zu bringen. Die Lösung dieser Problemlage bleibt einzig den Visionen in 9,23-13.58 vorbehalten. 18 Auch P. Hayman lehnt sich in seiner Arbeit, .,The Problem of Pseudonymity in the Eua Apocalypse", eng an H. Gunkel an und redet mit Blick auf die Intention des Verfassers des 4. Esrabuches einer religionspsychologischen Lösung das Won. Die Position des Verfassers spiegeh sich primär in den Klagen und Fragen des Sehers Esra wider, der im Laufe des Dialogs einer Katharsis entgegengeftlhrt wird. 19 W. Harnisch, Verhängnis und Verheißung, Göttingen 1969. 20 E. Brandenburger, Die Verborgenheit Gottes, ZUrich 1981. 13 So 14 E.
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Das 4. Esrabuch
scheidende Bedeutung filr das Verständnis des 4. Esrabuches zu2 1• Zu einer höchst interessanten Revision seiner früheren Meinung ließ sich in neuester Zeit W. Harnisch verleiten. Im Gegensatz zu der in seiner Dissertation vertretenen Auffassung, vermag W. Harnisch nun in den Visionen V und VI keinen ursprünglichen Bestandteil des 4. Esrabuches mehr zu sehen22. Er greift wie bereits vor ihm E.P. Sanders, der die Schlußvision unter Einschluß von Kap.14 als späteren Zusatz betrachtet 23 , auf längst vergessene literarkritische Lösungsversuche zurück24. Bei diesem disparaten Forschungsstand bleibt demjenigen, der sich mit dem 4. Esrabuch beschäftigt, nichts anderes übrig, als sich selbst ein Bild vom Aufbau und Gedankengang dieser Schrift zu machen, bevor kompetente Aussagen über die Theologie des Verfassers und damit auch über das Gesetzesverständnis dieser Schrift möglich sind. Ausgangspunkt unserer eigenen Bemühungen muß jedoch die Überzeugung von der literarischen Einheitlichkeit des 4. Esrabuches bleiben. Literarkritische Eingriffe in den Textbestand des 4. Esrabuches, wie sie uns neuerdings wieder bei Harnisch und Sanders begegnen, dienen meines Erachtens nicht der Lösung der aufgeworfenen Probleme, sondern sind eher als Kapitulation vor diesen zu begreifen. Literarkritik als Quellenscheidung hat nur dann eine Berechtigung, "wenn es nicht gelungen ist, ein Textstück auf irgendeine Weise formal oder semantisch dem Kontext zuzuordnen"25. Sie muß demnach unter allen Umständen "ultima ratio" bleiben26. 2.4.3 Aufbau und Überlieferungsverhältnisse des 4. Esrabuches
2.4.3.1 Der Aufbau des 4. Esrabuches Das 4. Buch Esra besteht aus 7 Visionen, wobei sich die Visionen I-m von den Visionen IV-VII in erheblichem Maße unterscheiden. Während erstere eher als Dialoge mit knappem visionären Rahmen zu beschreiben sind, tritt bei letzteren das Gespräch zwischen dem Seher Esra und dem Engel gegenüber den ausladenden Visionen stark zurück27. Eine Schlüsselstellung bei dem Versuch, das literarische Problem und damit auch die Frage nach dem Gesetzesverständnis
21 Siehe E. Brandenburger, Die Verborgenheit Gottes, 58-90.
22 So W. Harnisch, Der Prophet als Widerpart, in: Apocalypticism, 469. 23 Siehe E.P. Sanders, Paulus und das Palästinische Judentum, 394. 24 Zur Kritik an diesem literarkritischen RUckfall Harnischs siehe E. Brandenburger, Die Verborgenheit Gottes, 107ff. 25 So K. Berger, Exegese des Neuen Testaments, 31. 26 Wie wir im Verlauf dieses Kapitels noch sehen werden, sind die inhaltlichen und fonnalen Spannungen innerhalb des 4. Esrabuches an keiner Stelle so groß, daß ein Rückgriff auf die Literarkritik als Quellenscheidung unverzichtbar wäre. 27 Zum Aufbau des 4. Esrabuches siehe J. Schreiner, Das 4. Buch Esra, 297-301; H. Gunkel, Das 4. Buch Esra, in: APAT li, 335-352; E. Brandenburger, Die Verborgenheit Gottes, Zürich 1981.
Aufbau und Überlieferungsverhältnisse des 4. Esrabuches
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des 4. Esrabuches zu lösen, kommt sicherlich der vierten Vision zu2B. Die Gelenkfunktion dieser Vision, die mit der Eingangsklage (9,29-37) als Abschluß des Dialogteiles und mit der Zionsvision (9,38-10,60) als Auftakt des Visionsteiles im engeren Sinn zu verstehen ist, ist nicht zu übersehen. Kulminieren doch gerade hier Linien, die sowohl vom Anfang als auch vom Ende des 4. Esrabuches ausgehen. Neben der vierten Vision kommt meines Erachtens jedoch auch der Schlußvision (14,1-47) und dem Anfangsdialog (3,1-5,19) eine entscheidende Bedeutung zu, wenn es darum geht, die Gesamtintention des Verfassers zu erfassen. Mit Blick auf das Gesetzesverständnis ist besonders die Tatsache, daß am Anfang (3,4-27), am Ende (14,27-36) und in der Mitte (9, 29-37) des 4. Esrabuches ein Geschichtsrückblick steht von besonderem Interesse. Ist nicht bereits die exponierte Stellung dieser Geschichtsrückblicke, von denen zumindest die beiden letzten ihre Nähe zur Deuteronomistik unschwer verbergen können, als Hinweis auf das Sachinteresse des Verfassers dieser Schrift zu werten? Ist das 4. Esrabuch etwa als Versuch zu verstehen, die angesichtsder nationalen Katastrophe Israels in Verruf geratene deuteronomistische Gesetzestheologie und das sie tragende Geschichtsbild zu erneuern? Muß gar über das 4. Buch Esra hinaus ,.die mit prophetischer Überlieferung vermittelte Gesetzestheologie deuteronomistischer Provinienz als die Mutter jüdischer Apokalyptik" bezeichnet werden 29 ? Bevor wir uns nun der schwierigen Aufgabe zuwenden, diese und andere Fragen einer Lösung entgegenzuführen, wollen wir noch kurz auf die Überlieferungsverhältnisse des 4. Esrabuches eingehen.
2.4.3.2 Die Überlieferungsverhältnisse des 4. Esrabuches Das 4. Esrabuch ist in lateinischer, syrischer, äthiopischer, einer armenischen und einer georgischen Übersetzung überliefert. Ferner kennen wir noch zwei arabische Übersetzungen sowie ein Fragment in sahidischem Dialekt, das Teile von Kapitel 13,40-46 enthäJt3°. Alle diese Übersetzungen gehen jedoch sicherlich nicht auf den Urtext des 4. Esrabuches zurtlck, sondern sie fußen zweifelsohne auf einer griechischen Fassung31, während das 4. Esrabuch ursprtlnglich wohl in hebräischer oder aramäischer Sprache abgefaSt wurde32. Die Annahme eines hebräischen Urtextes scheintjedoch wahrscheinlicher33. Da der lateinische Text von allen erhaltenen Übersetzungen gewiß die zuverlässigste 28 So vor allem E. Brandenburger, Die Verborgenheit Gottes, 58-90. 29
Siehe W. Harnisch, Der Prophet als Widerpart, in: Apocalypticism, 485.
JO Siehe J. Schreiner, Das 4. Buch Esra, 292; M.E. Stone, Apocalyptic Literature, in: Jewish
Writings of the Second Temple Period, 412. 31 So J. Schreiner, Das 4. Buch Esra, 294; vgl. Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie, 76. 3 2 Für einen aramäischen Urtext sprechen sich vor allem L. Gry, Les dires prophetiques d'Esdras (IV Esdras), Paris 1938, I, 26 und J. Bloch, JQR 1957/58, 294, aus; gegen diese Theorie siehe M. Stone, HThR 1967, 107-115. 33 Siehe J. Schreiner, Das 4. Buch Esra, 295; ferner Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie, 76; vgl. B.M. Metzger, The Fourth Book ofEzra, in: OTP I, 519f.
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Das 4. Esrabuch
Textgrundlage darstellt34, soll er unter Bertlcksichtigung der anderen Überlieferungen die Grundlage der nachfolgenden Überlegungen bildenJs. Die Abfassungszeit des 4. Esrabuches ist mit großer Wahrscheinlichkeit zwischen 95 und 100 n. Chr. anzusetzen36. 2.4.4 Der dialogische Teil des 4. Esrabuches (Visio I-ID)
2.4.4.1 Einleitende Bemerkungen In der ersten Vision bedrängt den Seher Esra sicherlich nicht so sehr die Frage nach dem Ursprung der SUnde und des Elends dieser Weltl 7 , als vielmehr das Problem, wie sich die geschichtliche Erfahrung der Vernichtung Jerusalems und des Tempels angesichts des Glücks der Heiden noch mit Gottes Gerechtigkeit und der Gültigkeit der Israel gegebenen Verheißung vereinbaren läßt. Damit ist nicht nur das Problem der ersten Vision des Esrabuches, sondern das Problem des ganzen Buches genannt. Die Gerechtigkeit Gottes und die Wahrheit seiner Verheißung stehen auf dem SpieP 8 . Mit der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und der GUltigkeit der Verheißung steht sofort auch die jüdische Tora zur Disposition. Ist diese doch nicht nur Maßstab für Gottes Gerichtshandeln, sondern auch Inhalt der Verheißung. Gerechtigkeit Gottes und Verheißung sind untrennbar mit der Gesetzesproblematik verbunden, so daß die Intention des Autors des 4. Esrabuches auch als Versuch umschrieben werden 34 Siehe J. Schreiner, Das 4. Buch Esra, 296. 3S Der lateinische Text der Zitate wird von nun an immer in den Fußnoten genannt werden. Grundlage dieser Zitate ist die kritische Textausgabe von A.F.J. Klijn, Der Lateinische Text der Apokalypse des Esra, Berlin 1983. Falls eine andere Textausgabe zitiert wird, wird dies extra vermerkt. Das gleiche Verfahren gilt fUr die deutsche Übersetzung der Zitate. Falls nichts anderes vermerkt ist, richtet sie sich nach J. Schreiner, Das 4. Buch Esra, Gtltersloh 1981. 36 Ausgehend von der Adlervision, wo üblicherweise die drei Häupter mit den römischen Kaisem Vespasian, Titus und Domitian idenliftziert werden, kommt man, da die Vision, indem sie vom Untergang des dritten Hauptes redet, den Tod Domitians offensichtlich voraussetzt, zu einer Abfassungszeit zwischen 95 und 100 n.Chr. fUr die Endgestalt des 4. Esrabuches. Auf den gleichen Zeitpunkt könnte auch die Zeitangabe in 3,1, die von "dreißig Jahren" zwischen dem Untergang Jerusalems und dem VisionsempfangEsras spricht, verweisen (so bereits J.Keulers, Die eschatologische Lehre, 119f; gleichfalls J.Schreiner. Das 4. Buch Esra, 301), doch ist diese Zeitangabe wohl eher in Anlehnung an Ez 1,1 entstanden. Diese Zeitkonstruktion gerät nur dann ins Wanken, wenn man, wie in neuester Zeit W. Harnisch, davon ausgeht, daß die Adlerund Menschensohnvision dem ursprüngliche Bestand des 4. Esrabuchcs sekundär zugewachsen sind (so W. Harnisch, Der Prophet als Widerpart, 469). In diesem Falle läge eine Abfassung der Primärgestalt des 4. Esrabuches in der Zeit vor 70 n.Chr. durchaus im Bereich des Möglichen. Für eine Abfassungszeit vor 70 n.Chr. spricht sich auch Johann Maieraus (siehe J.Maier,. Apokalyptik im Judentum, 43-72). Zur berechtigten Kritik an dem Versuch W. Harnischs, die Adler- und Menschensohnvision als sekundären Zusatz zu erweisen, sei auf E. Brandenburger, Die Verborgenheit Gottes, 104-113, verwiesen. 37 Gegen H. Gunkel, Das 4. Buch Esra, 352. 38 So auch W. Harnisch, Verhängnis und Verheißung in der Geschichte, 42.
Der dialogische Teil des 4. Esrabuches (Visio 1-ill)
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kann, diejenigen, die angesichts der nationalen Katastrophe des Jahres 70 n. Chr. an der Kraft und Wirksamkeit des jüdischen Gesetzes zweifelten, von der ewigen Gültigkeit der Tora zu überzeugen. Die einzelnen Gesprächsgänge zwischen Esra und dem Engel im "dialogischen Teil" des 4. Esrabuches kulminieren folgerichtig in dem bekenntnisartigen Ausruf Esras in 9,37: ,,Das Gesetz aber vergeht nicht, sondern bleibt in seiner Herrlichkeit"39. Unter allen Umständen galt es der Gefahr, daß sich die Krise des jüdischen Staatswesens, wie sie sich in der Zerstörung des Tempels manifestierte, zu einer Krise der jüdischen Gesetzesfrömmigkeit ausweitete, zu begegnen. Wenden wir uns nun der ersten Vision des 4. Esrabuches zu.
2.4.4.2 Visio I (Kap. 3,1-5,19) 2.4.4.2.1 Die Problemstellung Wie bereits erwähnt, ist in Visio I der Kontrast zwischen der "Verwüstung Zions" auf der einen und dem "Überfluß der Bewohner Babylons" auf der anderen Seite der Ausgangspunkt der Überlegungen Esras40. Die Erfahrung der Zerstörung Jerusalems durch die Römer, auf die sich der Bericht von der Zerstörung Jerusalems durch die Babyionier sicherlich bezieht'', läuft Gefahr, angesichts des Glücks der Heiden sämtliche Deutungsschemata traditioneller Theologie zu sprengen. So erweisen sich bei dem Versuch, die Vernichtung Jerusalems zu erklären, nicht nur die Kriterien deuteronomistischer Geschichtsbetrachtung als unbrauchbar, sondern auch der eng mit weisheitlichem Denken verbundene alttestamentliche Tun-Ergehen-Zusammenhang scheint innergeschichtlich außer Kraft gesetzt42. Der Untergang Jerusalems läßt sich für den Seher Esra weder auf deuteronomistische Weise als Gottes gerechte Strafe über den Ungehorsam seines Volkes noch als unmittelbare Folge der bösen Taten dieses Volkes verstehen. In beiden Fällen ist es das Glück der Heiden, das diesen Erklärungsmustern im Wege steht. Nur wenn sich der Sieg Babels als Folge der Gerechtigkeit Babels erweisen ließe, wäre für den Seher Gottes Straf-
39 IV Esr 9,37: ..nam Iex non perit sed permanet in suo honore". 40 Siehe IV Esr 3,1f: •.Anno tricesimo ruinae civitatis eram in Babilone, ego Salathiel, qui et
Ezras, et conturbatus eram super cubili meo recumbens, et cogitationes meae ascendebant super cor meum, 2 quoniam vidi desertionem Sion et habundantiam eorum qui habitabant in Babilone". 41 Die große Mehrheit der Exegeten geht davon aus. daß das 4. Esrabuch die Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 n.Chr. voraussetzt, ja als Antwort auf die mit dieser geschichtlichen Katastrophe verbundenen Probleme zu verstehen ist; so z.B. W. Harnisch, Verhängnis und Verheißung, 39 Anm.4. 42 Der Tun-Ergehen-Zusammenhang ist oftmals in weisheitliehen Zusammenhängen verortet Trotzdem stellt er wohl kein spezifisch weisheitliches Motiv dar, sondern ist eher als gemeinisraelitisches, ja dartlber hinaus als gemeinantikes Phänomen zu betrachten; siehe hierzu G. v.Rad. Weisheit. 253; ferner H. v. Lips, Weisheitliehe Traditionen, 96.
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Das 4. Esrabuch
handeln an seinem Volk verständlich 43 . Davon kann jedoch keineswegs die Rede sein. Diesen Zusammenhang bringt der Seher Esra in 3,33b folgendennaßen zum Ausdruck: "Ich habe doch die Völker hin und her durchwandert und sie im Überfluß gesehen, obwohl sie nicht an deine Gebote denken"44 . Die Wirklichkeit straft Gottes Gesetz LUgen, wenn es in Dtn 30,15ff denen, die die Gebote tun, Leben, denen aber, die sie nicht tun, den Tod verheißt45 . Der Seher kann sich des Anscheins nicht erwehren, daß Gottes Gesetz mit Blick auf innergeschichtliche Zusammenhänge zur totalen Bedeutungslosigkeit verdammt ist. Zwar vennag der Seher nicht zu bestreiten, daß Israel sündigte, doch im Verg!eich zu allen anderen Völkern sündig~e Israel weir weniger. So lcann der Seher Gott in 3,34 mit folgender Aufforderung begegnen: ,,Nun also wiege unsere SUnden und die der Weltbewohner auf einer Waage! Dann wird sich zeigen, wohin der Ausschlag des Waagebalkens sich neigt"46 • Relativ gesehen sündigte Israel demnach weniger als die Heiden 47 , trotzdem wurden ausschließlich Israels SUnden bestraft. Diese Tatsache stellt für den Seher die Gerechtigkeit Gottes in Frage. Gottes Handeln erscheint willkürlich, das Gesetz hat offensichtlich als Maßstab für Gottes Gericht keine Gültigkeit mehr. Der Begrundung dieser Auffassung dient der diesen Versen vorausgehende Geschichtsrückblick in 3,4-27. Hier geht es primär nicht darum, das "völlige Scheitern der Geschichte Israels" zu konstatieren 48, sondern der Geschichtsrilckblick soll die Argumente liefern, die die Anklage Gottes in 3,28-36 erst ennöglichen.
2.4.4.2.2 Der Geschichtsrückblick in Kap. 3,4-27 als Begründung der Anklage Gones in Kap. 3,28-36 Der GeschichtsrUckblick beginnt mit der Erschaffung Adams. Dieser war, obwohl ein Gebilde Gottes, nicht in der Lage, das eine Gebot, das Gott ihm auferlegt hatte, zu tun (3,5-7). Gott hat dieses Vergehen sofort geahndet, indem er 43
Siehe W. Harnisch, Verhängnis und Verheißung der Geschichte, 34. IVEsr 3,33b: ,,Pertransiens enim pertransivi in gentibus, et vidi habundantes eas et non memorantes mandatorum tuorum". 45 Hinter den ,,mandata" in 3,33b verbergen sich wohl eindeutig Gebote der Tora. Dies geht z.B. aus dem völlig parallelen Gebrauch der Termini ,,mandata" und ,.Iex" in 7,72 eindeutig hervor. Auch andere Termini wie z.B. ,,sponsio", "opera", oder "legitima" werden innerhalb des 4. Esrabuches völlig parallel zu ,.Iex" verwendet und sind von daher von der jüdischen Tora her zu füllen (siehe hierzu z.B. IV Esr 7,24). Die Liste derjenigen Begriffe. hinter denen sich innerhalb des 4. Esrabuches ein Torabczug verbirgt. ließe sich ohne weiteres noch erweitern, doch soll auf diese erst dann näher eingegeangen werden, wenn die Interpretation der jeweiligen Stelle dies erfordert. 46 IV Esr 3,34: •.Nunc ergo pondera in statera nostras iniquitates et eorum qui habitant in saeculo, et invenietur momentum puncti ubi declinet''. 47 Zu dem Gedanken. daß das Volk Israel zwar sündigte, seine Feinde jedoch noch mehr sündigten vgl. U Makle 7,18f.+7,31-38; ferner LibAnt 35,4. 48 Gegen G. Reese, Die Geschichte Israels, 148. 44
Der dialogische Teil des 4. Esrabuches (Visio 1-lll)
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über ihn und alle seine Nachkommen den Tod als Strafe verhängte (3,7). Adams Gebotsübertretung erscheint an dieser Stelle zwar als eigenverantwortliche Tat, doch kommt dieser über die Person Adams hinaus eine verhängnisbildende Wirkung zu. Mit Adams Ungehorsam hält das Todesverhängnis, das alle Generationen in seinen Bann schlägt, seinen Einzug in diese Welt. Neben Adam machten sich jedoch auch dessen Nachkommen der Übertretung der Gebote Gottes schuldig (3,8). Zwar werden deren Vergehen in 3,8a ausd.Iiicklich als Frucht ihres eigenen Willens bezeichnet, doch läßt die Bemerkung in 3,8b, Gott habe diese an ihren Gebotsübertretungen nicht gehindert, einen leisen Vorwurf an die Adresse Gottes erkennen, als ob es eigentlich dessen Aufgabe gewesen wäre, für Gebotsgehorsam zu sorgen49 • Die Verantwortlichkeit der Nachkommen Adams für ihre Gebotsübertretungen ist somit nicht mehr voll gewahrt, die Berechtigung des anschließenden Strafgerichtes Gottes in Form der Sintflut erscheint zumindest fragwürdig. In den Versen 11 und 12 werden Noah als "Stammvater" der Gerechten und das Anwachsen des Unrechts auf Erden nach der Sintflut thematisiert, bis dann mit dem Bericht von der Erwählung Abrahams in 3,13 die Geschichte Israels auf den Plan tritt. Israels Geschichte erscheint im ersten Geschichtsrückblick innerhalb des 4. Esrabuches in die Weltgeschichte eingebunden. Die Erwählung Abrahams konkretisiert sich erst in zweiter Linie im Bundesgedanken (3,15), während sie hauptsächlich in einer geheimen Offenbarung über das ,,Ende der Zeiten" besteht (3,14)50 • Der Person Abrahams - ähnlich der des Mose in 14,5 - kommt eindeutig eine Brückenfunktion zwischen der gegenwärtigen und zukünftigen Welt zuS 1• Derselbe Gedanke liegt wohl auch der recht schwer verständlichen Stelle in 6,7f zugrunde. In 6,8 erhält Esra auf seine Frage nach dem Ende der ersten und dem Anfang der kommenden Welt die Antwort: "Von Abraham bis zu Abraham." Abraham und mit ihm die Erwählung Israels stehen demnach sowohl am Anfang des gegenwärtigen als auch des zukünftigen Äons. Gottes Verheißung an Israel im gegenwärtigen Äon war von vomherein einzig auf den zukünftigen Äon hin konzipiert. Erst im Eschaton, erst in der kommenden Welt wird sich Gottes Verheißung erfüllen. Im gegenwärtigen Äon ist von dieser nichts zu spüren. Aus diesem Grunde besteht in der Gegenwart die Gefahr, den Glauben an die Wahrheit der Verheißung und damit an die Gültigkeit der Tora zu verlieren.
49 Siehe hierzu auch E. Brandenburger, Verhängnis und Verheißung, 171.
so Vgl. äthHen 93,5. SI Zudem verbindet der Gedanke von der geheimen Offenbarung über das •.Ende der Zei-
ten" Abraham mit dem Seher Esra, wie dieser im zweiten Teil des 4. Esrabuches ab der Zionsvision in 9,38ff erscheint. Wird der geläuterte Esra von Gott doch gerade dadurch vor allen Menschen ausgezeichnet, daß ihm analog zu Abraham und Mose die Offenbarung über das ..Ende der Zeiten" zuteil wird (siehe rv Esr 12,9; 14,5ff).
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Das 4. Esrabuch
In den Versen 3,17-22 steht die Sinaigesetzgebung und damit das Problem des Gesetzes im Mittelpunkt des Interesses. Das Gesetz wurde am Sinai im Rahmen einer mächtigen Theophanie Gottes erlassen (3,17-19)5 2 , ein Vorgang, der durchaus als Auszeichnung Israels vor allen Völkern zu verstehen ist. Die mit der Gabe der Tora verbundene Hoffnung Israels auf ,,Frucht", sprich auf die Erfüllung von Gottes Verheißung, wurde jedoch bitter enttäuscht. Die "Ohnmacht der Tora" ist offensichtlich. Die Ursache von Israels "Scheitern am Gesetz" liegt jedoch nicht in der Eigenverantwortlichkeit des Volkes begründet, sondern wird auf ein mit Adam und dem Gedanken eines "cor malignum" verbundene~ Sündenverhängnis zurückgeführt. Die~r Zusammenhang wird in 3,2022 folgendermaßen beschrieben: "Aber du hast das böse Herz nicht von ihnen weggenommen, damit dein Gesetz in ihnen Frucht brächte. 21 Weil er nämlich ein böses Herz (in sich) trug, verging sich der erste Adam und wurde besiegt, ebenso aber auch alle, die von ihm abstammen. 22 So entstand eine dauernde Krankheit: das Gesetz im Herzen des Volkes zusammen mit der Wurzel des Bösen; das Gute schwand, das Böse blieb"S3. War schon zu Beginn des Geschichtsabrisses von Adams Gebotsübertretung als Ursache eines die gesamte Menschheit bestimmenden Todesverhängnisses die Rede, so wird dies nun durch Einführung des Gedankens vom "cor malignum" zu einem Sündenverhängnis ausgeweitetS 4 . Das "böse Herz" trägt für Israels SUnde und daS2 Vgl. äthHen 89,30ff. S3 IV Esr 3.2~22: ,,Et non abstulisti ab eis cor malignwn, ut faceret Iex tua in eis fructum.
21 Cor enim malignwn baiolans primus Adam transgressus et victus est, sed et omnes qui ex eo nati sunt. 22 Et facta est permanens infumitas et Iex cum corde populi cum malignitate radicis, et discessit quod bonwn est et mansit malignwn". S4 Gegen E. Brandenburger, der mit Blick auf diese Ausftlhrungen zwar von einem mit Adam verbundenen Todesverhängnis sprechen kann, jedoch jedem Versuch, dieses als Sündenverhängnis zu fassen, entschieden entgegentritt. E. Brandenburger interpretiert diesen Abschnitt ganz von der rabbinischen Vorstellung des .. bösen Triebes" her. Der Hauptgegensatz besteht nach Brandenburger nicht zwischen der Tora und dem ..cor malignwn", sondern zwischen der Tora und der ..Wurzel des Bösen". Das Herz wird somit zum Kampfplatz zwischen dem Gesetz und der ..Wurzel des Bösen", die Brandenburger als ..bösen Trieb" interpretiert. Das Herz wird nach dieser Interpretation erst daM zum ..bösen Herzen", weM der ..böse Trieb" den Kampf gegen das Gesetz für sich entscheidet. Der "böse Trieb" muß jedoch nicht zwangsweise siegen, so daß die Wahlfreiheit des Menschen nicht eingeschränkt ist; vgl. hierzu E. Brandenburger, Adam, 3~36. besonders jedoch S.33f; ferner ders., Verborgenheit Gottes, 169-176.- Meines Erachtens geht jedoch aus 3,20 eindeutig hervor, daß das .. böse Herz" selbst für das Scheitern Israelsam Gesetz die volle Verantwortung trägt. Das menschliche Herz wird nicht deshalb böse, weil der Mensch dem ihm innewohnenden ..bösen Trieb" nachgibt und das Gesetz übertritt, sondern der Mensch übertritt das Gesetz, weil er das ..böse Herz" in sich trägt. Zudem vermag ich nicht zu erkennen, weshalb sich hinter der Rede von der ..Wurzel des Bösen" in 3,22 überhaupt die rabbinische Lehre vom ..bösen Trieb" verbergen soll. Viel einleuchtender scheint es mir, hier an die .,Wurzel der Sünde" zu denken; siehe auch J. Schreiner, Das 4. Buch Esra, 314 Anm. 22a; vgl hierzu auch A.L. Thompson, Responsibility For Evil, 332-339; siehe auch Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie, 88: ,,Diese pessimistische Akzentuierung zeigt. daß die von Esra geäußerten Gedanken nicht mit den pharisäisch-rabbinischen Anschauungen vom Bösen
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mit für das "Scheitern am Gesetz" die Verantwortung. Israels Unfähigkeit, den Geboten der Tora gerecht zu werden, ist Folge einer "metaphysischen Verfaßtheit" und somit bar jeglichen Schuldcharakters. Von daher ist Gottes Strafhandeln ungerecht. Gott trägt im Grunde selbst die Verantwortung für Israels Unfähigkeit, das Gesetz zu erfüllen, da er es in seiner Funktion als Schöpfer versäumt hat, die Macht des "bösen Herzens" zu begrenzenss. Dieser Gedanke liegt implizit auch dem Ende des Geschiehtsahrisses zugrunde, wenn die Sünden der Bewohner Jerusalems damit entschuldigt werden, daß sie wie Adam und seine Nachkommen das "böse Herz" besaßen und somit gar nicht anders konnten als zu sündigen (3,25t)S6 . Der Geschichtsrückblick in 3,4-27 verfolgt eindeutig die Tendenz, das Volk Israel von jeglicher Verantwortung für sein sündiges Tun zu entlasten und diese letztendlich auf Gott selbst als den Schöpfer dieser Welt abzuwälzen. Trägt Gott aber selbst die Verantwortung fUr Israels Sünde, ist jegliches Gericht, das das Tun der Tora zum Maßstab erhebt, ungerecht. Es sei an dieser Stelle jedoch noch darauf hingewiesen, daß sich die Argumentation des Sehers Esra in Kapitel 3 einer gewissen Inkonsequenz der Gedankenführung nicht erwehren kann. Während der Seher Esra innerhalb des Geschichtsrtlckblicks mit Blick auf das Volk Israel vehement die Universalität der Sünde und damit die Sündenverfallenheil aller Menschen betont, kann er in 3,36 davon reden, daß es einzelne Menschen gibt, die in ihrem Leben den Geboten der Tora gerecht wurdenS 7 • Die Überzeugung von der SUndenverfallenheil aller wird bereits von dem opponierenden Esra der ersten Vision nicht so eng gefaßt, daß nicht noch Raum bliebe für die Gerechtigkeit einiger weniger. Dieser "Widerspruch", der uns innerhalb der Argumentation des Sehers Esra innerhalb der Visionen I-m des 4. Esrabuches noch des öfteren begegnen wird, wird jedoch allem Anschein nach nicht als ein solcher empfunden. Der Seher Esra denkt hier ganz in kollektiven Bahnen, nicht dem Geschick einzelner, sondern dem Schicksal Gesamtisraels gilt an dieser Stelle seine gesamte Aufmerksamkeit. Lief die Argumentation des Sehers Esra bisher darauf hinaus, den Glauben an die Gerechtigkeit Gottes und die Wahrheit und Gültigkeit des Gesetzes aufgrund empirischer, geschichtlicher Erfahrungen in Frage zu stellen, so fällt der
Trieb in Einklang zu bringen sind, da diese mit der exegetischen Herleitung aus Gen 2,7 die Polarität von Gutem und Bösem Trieb betonen. Die Rede vom cor malignum im 4. Esra verrät eine pessimistischere Grundhaltung, als je in den rabbinischen Quellen nachweisbar ist". ss Vgl. in diesem Zusammenhang auch den ..Vorwurf' an Gott in Vers 3,8, die Gebotsübertretungen der Nachkommen Adams nicht ..gehindert" zu haben. S6 IV Esr 3,25f: •.Et factum est hoc annis multis. Et deliquerunt qui habitabant civitatem, 26 in omnibus facientes sicut fecit Adam et omnes generationes eius; utebantur enim et ipsi cor malignum". S7 IV Esr 3,36: ,,Homines quidem per nomina invenies servasse mandata tua, gentes autem non invenies".
Das 4. Esrabuch
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ersten Antwort des Engels die Aufgabe zu, sich mit dieser Gedankenkette kritisch auseinanderzusetzen.
2.4.4.2.3 Die Antwort des Engels und neuerliche Einwüife des Sehers (Kap. 4,1-5.19)
Esras Bitte, den Weg Gottes zu begreifen, hinter der sich zweifellos die Aufforderung an Gott verbirgt, sich zu ,,rechtfertigen", wird durch den Engel zunächst zurtlckgewiesen. Diese Zurtickweisung erfolgt in Zusammenhang mit der Frage nach dem Sinn des "bösen Herzens", in der der Engel die Spitze der Argumenta:icn :&r..s sieht. Zwar ist das "böse Herz" nicht nur fi\r Esra, sondern auch für den Engel eine unbestreitbare Tatsache58 , jeglicher weiteren Spekulation über Sinn und Zweck des "bösen Herzens" wird jedoch eine deutliche Absage erteilt. Während Esra das "böse Herz" gegen die Gerechtigkeit von Gottes Gericht und die Gültigkeit der Tora wendet, versucht der Engel im Verlauf des Dialogteiles des 4. Esrabuches das "böse Herz" mit der Gültigkeit des Gesetzes zu verbinden. Die Visionen I-m sind von dem paradoxen Versuch geprägt, den Gedanken einer Sündenverfallenheil der Menschheit mit der Überzeugung von der Verantwortlichkeit des einzelnen für sein Tun in Einklang zu bringen. Die Intention des 4. Esrabuches besteht nicht darin, den Glauben an die totale Sündhaftigkeit der Welt zu zerschlagen, sondern einen Weg zu finden, der es trotzder Übermacht der Sünde erlaubt, ein hoffnungsvolles Leben zu führen. Von daher kann man schwerlich sagen, daß das Ansinnen Esras brtlsk zurtickgewiesen wirds9. Verweist doch der Engel in dem ersten Teil seines Dialogs mit Esra in den Versen 4,1-21 nicht nur auf den "unendlichen qualitativen Unterschied" zwischen Mensch und Gott, sondern in der Aussage von Vers ! 1c, "du kannst nicht, vergänglich in einer vergänglichen Welt, den Weg dessen, der unvergänglich ist, erkennen", schwingt bereits die Hoffnung mit, daß es von einem Standpunkt "außerhalb" der vergänglichen Welt durchaus die Möglichkeit gibt, Gottes Handeln zu begreifen60 • Das mangelnde Verständnis des Weges Gottes ist lediglich zeitlich limitiert61 • Ganz deutlich wird dies schließlich in der Antwort des Engels auf den neuerlichen Einwurf Esras in 4,22-25 ausgesprochen. Zunächst wiederholt Esra in diesen S8 IV Esr 4,4: •.De quibus si mihi renunciaveris unam ex his, et ego tibi demonstrabo viam quam desideras videre, et doceam te quare cor malignum". Esras Argurnentalion innerhalb der Verse 3,4-36 wird vom Engel als Frage nach Sinn und Zweck des .,bösen Herzens" verstanden. 59 Gegen E.P. Sanders, Paulus und das Palästinische Judentum, 389. 60 Der gesamte Textzusammenhang IV Esr 4,10f lautet: ,,Et dixit mihi: Tu quae tua sunt tecum coadolescentia non poles cognoscere, 11 et quomodo poteril vas tuum capere Altissimi viam, et iam textentust corruplo saeculo intellegere incorruptionem?....
in faciem meam". Der oben zitiene Satz ist neben der lateinischen Überlieferung noch in etwas anderer Form in anderen Lesanen (syr. äth,. etc) erhalten, ohne daß dadurch der Sinn des Verses grundlegend veränden würde; siehe J. Schreiner, Das 4. Buch Esra, 318 Anm.11c. 61 Diese Hoffnung steht gewiß auch hinter IV Esr 4,21: ..Quemadmodum enim terra silvae data est et mare fluctibus suis, sie et qui super terram habitant quae sunt super terram intellegere solummodo possunt, et qui super caelos super altitudinem caelorum".
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Versen in leicht variierter Fonn seine •.Anklage Gottes" von 3,28-36. Explizit spricht er sogar davon, daß die Tora "vernichtet" sei 62. Es ist nun müßig, darüber zu spekulieren, wie dieses Vernichtetsein näher zu verstehen ist63, da es in erster Linie auf das bloße Faktum der "Vernichtung" ankomm&'. Mit der Tora fällt der Maßstab für Gottes innerweltliches Richten, die Verheißung Gottes scheint am Ende angelangt zu sein. Aber die Vernichtung der Tora, der Untergang des Volkes Israel, hat nach dem Seher auch Auswirkungen auf Gott selbst und dessen Stellung in diesem Äon. Bezweifelte der Seher in seiner ersten Rede lediglich Gottes "Gerechtigkeit", so steht für ihn nun Gott selbst in Gefahr, mit seinem Volk und dessen Gesetz zu stürzen. "Aber was wird er für seinen Namen tun, der über uns ausgerufen ist? Danach habe ich gefragt" (4,25)65. Gottes Name ist für den Seher so untrennbar mit Israel und seinem Gesetz verbunden, daß der Untergang der einen Größe nicht ohne Auswirkung auf die andere bleiben kann. Gott selbst und seine Herrschaft über diesen Äon stehen auf dem SpieJ66. Vergegenwärtigen wir uns abschließend die Erwiderung des Engels in 4,2fr37 auf diesen Einwurf Esras, so wird Esra nun explizit verheißen, daß das Ende der Weltzeit eine Antwort auf seine Fragen und Befürchtungen bereithält. Erst vom Eschaton her ist die Erkenntnis innergeschichtlicher Vorgänge möglich. Was sich aus der beschränkten Perspektive dieses Äons als Ungerechtigkeit und Machtlosigkeit Gottes ausnimmt, gewinnt aus der Perspektive des zukünftigen Äons eine völlig andere Gestalt. Zum ersten Mal versucht sich innerhalb des 4. Esrabuches die apokalyptische ,,Zwei-Äonen-Lehre" vorsichtig Gehör zu verschaffen67 • Gott hat zwei Äonen geschaffen, den gegen-
62
Der gesamte Textzusammenhang IV Esr 4,23 lautet: ,,Non enim volui interrogare de superioribus viis. sed de his quae pertranseunt per nos cotidie, propter quod Israel datus est in Obproprium gentibus, quem dilexisti populum datus est tribubus impiis, et Iex patrum nostrorurn in inritum deducta est, et dispositiones scriptae nusquam sunt". Hinter dem Ausdruck "Gesetz unserer Väter" verbirgt sich eindeutig die jüdische Tora. Diese Bezeichnung findet sich wechselweise mit dem absoluten Gebrauch von Tora bzw. mit dem Ausdruck "Tora Gottes" auch in anderen frühjüdischen Schriften (z.B. Josephus, Makkabäerbücher etc.). ohne daß ein Bedeutungsunterschied festzustellen wäre. Auf keinen Fall darf dieser Ausdruck gegen andere Bezeichnungen der jüdischen Tora innerhalb des 4. Esrabuches ausgespielt werden. Spekulationen in diese Richtung. wie sie sich z.B. bei J.Schreiner, Das 4. Buch Esra, 319 Anm.23d finden, sind entschieden zurückzuweisen. 63 So wehrt sich z.B. A. Kaminka gegen ein allzu wörtliches Verständnis dieser Stelle. Er versteht das Vernichtetsein der Tora in übertragenem Sinne als ein Vernichtetsein durch mangelnde Pflege; siehe A.Kaminka. Beiträge, 499. 64 Siehe auch IV Esr 14,21; vgl. M.E. Stone, Fourth Esra, 88. 6S IV Esr 4,25: .,Sed quid faciet nomini suo quod invocatum est super nos? De his interrogavi". 66 Der ,,Name" einer Person ist sowohl nach alttestamentlicher als auch nach griechischhellenistischer Auffasung nie bloße Etikette. sondern immer aufs engste mit Wesen und Wirken seines Trägers verbunden; siehe H.Bietenhard, Art. ÖVOJla K"tA., ThWNT V ,242-283. 6 7 Zu der mit dem Begriff ,Oiam' und dessen Verwendung innerhalb des 4. Esrabuches verbundenen Problematik möchte ich auf W. Harnisch, Verhängnis und Verheißung, 90-106, verweisen.
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wärtigen und den zukünftigen, wobei der zukünftige Äon quasi im Verborgenen jetzt schon vorhanden ist. Der Engel versucht von der apokalyptischen ,,Zwei-Äonen-Lehre" her, die Befürchtungen des Sehers Esra zu zerstreuen. Doch kann die ,,Zwei-Äonen-Lehre" den Angriff auf den Glauben an Gottes Gerechtigkeit und die Gültigkeit des Gesetzes wirklich zurückschlagen? Zu einer ersten Ausgestaltung der ,,Zwei-Äonen-Lehre" durch den Engel kommt es in 4,27-32. Der Engel unternimmt in diesen Versen den Versuch, in Form eines Gleichnisses, das mit Metaphern aus der Landwirtschaft arbeitet, das Verhältnis der beiden Äonen zueinander und vor allem die Rolle, die dem Menschen in diesem Weltendrama zugedacht ist, näher zu bestimmen. Der gegenwärtige Äon ist nach Auffassung des Engels völlig verderbt, so daß er diesen in 4,27b als "voll Trauer und Übeln" bezeichnen kann. In diesem Zusammenhang nimmt der Engel auch die Aussagen des Sehers Esra über Adam und das "böse Herz" aus dem Geschichtsrückblick in 3,4-28 positiv auf. Der Engel verweist in seiner Beschreibung der Beschaffenheit des gegenwärtigen Äons auf die große "SUndenfrucht", die das ,,Korn des bösen Samens", das am Anfang in Adams Herz gesät wurde, hervorgebracht hat6B. Der Engel redet hier einer auf die existentielle Beschaffenheit der Menschheit zurückgehenden Sündenverfallenheil das Wort, die Esras Ausführungen innerhalb des Geschichtsrückblicks gleichsam zu bestätigen scheinen. Das im Verhängnisgedanken gipfelnde SUndenverständnis Esras wird vom Engel an dieser Stelle gerade keiner Korrektur unterzogen69 . Der gegenwärtige Äon steht auch für den Engel gänzlich im Zeichen der SUnde. Während dem Seher Esra in 3,4-28 jedoch jegliche über diese negative Wirklichkeitsbeschreibung hinausgehende Erkenntnis verwehrt blieb, weiß der Engel davon zu berichten, daß das Gute schon immer ausschließlich dem zukünftigen Äon vorbehalten war. Deshalb wird es auch erst nach dem
68 IV Esr 4,30: ,.Quoniam granum seminis mali seminaturn est in corde Adam ab initio, et quantum impietatis generavit usque nunc et generabit usque cum veniat area". 69 Diesem Ergebnis kann sich auch W. Harnisch, Verhängnis und Verheißung der Geschichte, 170, nicht entziehen, obgleich er sofort den Versuch unternimmt, diese so gar nicht in das Bild seiner Interpretation des 4. Esrabuches passende Erkenntnis abzuschwächen. Geht doch W. Harnisch in seiner Untersuchung zum 4. Esrabuch davon aus. daß sich innerhalb des dialogischen Teiles des 4. Esrabuches die Position des Verfassers primär in den Aussagen des Engels widerspiegelt und diese Position sich dadurch auszeichnet, daß jeglicher Verhängnisgedanke mit Blick auf die SUnde entschieden zurückgewiesen wird. Für W. Harnisch,- getreu der Devise, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, - liegt das Schwergewicht der Aussage des Engels nicht auf Vers 30 sondern ausschließlich auf dem Kontrast zwischen den negativen Wirkungen des Bösen und den diese weit übertreffenden positiven Folgen des Guten, den die Verse 30 und 31 zum Ausdruck bringen. Die Intention des Engels besteht nach W. Harnisch nicht darin, den SUndenverhängnisgedanken des Sehers zu bestltigen, sondern dieser Abschnitt hat einzig den Zweck aufzuzeigen, ,,daß die positiven Folgen des Guten die negativen Wirkungen des Bösen bei weitem übertreffen werden"(S. 171). Die Tatsache, daß der Engel in Vers 30 explizit den SUndenverhängnisgedanken vertritt, bleibt jedoch trotz aller intellektuellen ..Verrenkungen" weiterhin bestehen.
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Untergang des gegenwärtigen Äons als ,,Frucht des Guten" erscheinen7o. Der Gedanke der Sündenverfallenheit der gegenwärtigen Welt wird durch den Verfasser des 4. Esrabuches nicht "mit Hilfe des Gesetzesbegriffes ad absurdum geführt"7 '. sondern er ist die unbestrittene Grundlage, auf der auch die Argumentation des Engels und damit sicherlich auch die des Verfassers des 4. Esrabuches fußt. Während jedoch die auf den gegenwärtigen Äon beschränkte Perspektive des Sehers Esra diesen dazu verleitet, aus der Tatsache der Sündenverfallenheil der gegenwärtigen Welt die falschen Folgerungen mit Blick auf die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und der Gültigkeit des Gesetzes zu ziehen, ist der Engel aufgrund seines eschatologischen Wissens über den zukünftigen Äon in der Lage, den Verhängnisgedanken mit dem Glauben an die Gültigkeit von Gottes Gesetz zu verbinden. Die Erkenntnis Esras in 3,1-36, daß in der gegenwärtigen Welt keinerlei Hoffnung auf Heil besteht, braucht denjenigen nicht mehr anzufechten, der alles Heil einzig von der Zukunft her erwartet, und der der festen Überzeugung ist, daß Gott bereits vor der Weltschöpfung dies so festgelegt hat (6,6). Im Zentrum dieser Gedanken steht somit die radikale Eschatologisierung von Gottes Gerechtigkeit und Gottes Verheißung. Die große Stärke dieser Konzeption besteht zweifellos darin, daß sie über die Trauer und Verzweiflung der Gegenwart hinwegzutrösten vermag. Eine große Schwäche dieser Konzeption liegt jedoch darin begründet, daß sie nur schwerlich in der Lage ist, zu aktivem, hoffnungsfrohem Handeln zu motivieren. Wer alles von der Zukunft her erwartet, ist nur allzugerne bereit, auf jegliches Handeln in der Gegenwart zu verzichten. Dieser Gefahr ethischer Indifferenz gilt es für den Verfasser des 4. Esrabuches nun unter allen Umständen zu entgehen. So ist es gewiß kein Zufall, daß mit dem Hinweis des Engels in 4,27, daß das Heil des zukünftigen Äons einzig den "Gerechten" vorbehalten bleibt, eine eindeutig ethische Kategorie in die bis zu diesem Zeitpunkt radikal dualistische Argumentation der ,,Zwei-Äonen-Lehre" eingefUgt wird. Fahren wir in der Interpretation von Visio I fort, so stößt diese radikal dualistische Form der ,,Zwei-Äonen-Lehre", wie sie der Engel gerade entwickelt hat, bei dem Seher Esra auf offene Ohren. Dies läßt sich bereits darin erkennen, daß Esra sowohl gegen Ende von Visio I als auch innerhalb von Visio ll immer heftiger von der Frage nach dem Zeitpunkt, an dem der neue Äon und mit ihm die Erfüllung von Gottes Heilszusagen erscheinen wird, bedrängt wird12. Esras Interesse scheint gänzlich von den ,,Zeichen der Endzeit" als Vorboten des Heils bestimmt7 3. Werfen wir einen kurzen Blick voraus, so ist der Engel im Verlauf von Visio II (5,20-6,34) zunächst damit beschäftigt, die ,,Zwei-ÄonenLehre" näher zu explizieren, wobei er die Gefahr eines radikal dualistischen Mißverständnisses dieser Lehre offensichtlich bewußt in Kauf nimmt. Erst der 70 IV Esr 4,29: ..Si ergo non mensum fuerit quod seminaturn est, et discesserit locus ubi seminatum est malum, non veniet ager ubi seminaturn est bonum". 7 ' Gegen W. Harnisch, Verhängnis und Verheißung der Geschichte, 172. 72 Siehe IV Esr4,51; 5,44,; 6,7. 73 Siehe IV Esr S,lff; 6.18ff.
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Das 4. Esrabuch
Gesprächsgang zwischen Esra und dem Engel in Visio ill (6,35-9,25) ist dann ganz von dem Versuch gekennzeichnet, dieses Mißverständnis, dem der Engel bereits in seinen Ausführungen über die Zeichen der Endzeit in 5,1-12 Vorschub geleistet hat, wieder auszuräumen. Gehen wir am Ende dieses Abschnittes noch kurz auf 5,1-12 ein, so beschließt dort der Engel seine Charakterisierung der Endzeit, nachdem er darauf verwiesen hat, daß in ihr sowohl die irdische als auch die kosmische Ordnung aus den Fugen geraten wird (5,4f), in 5,9lr12 mit folgenden Worten: ,,Freunde bekämpfen einander plötzlich; dann wird sich die Weisheit verbergen, und die Einsicht sich in ihre Kammer zurüclcrieh~n. J0 Sie wird vo'l vielen gesucht aher nicht gefunden. Ungerechtigkeit und Zuchtlosigkeit werden sich auf der Erde vervielfachen. 11 Dann fragt ein Land das nächste und sagt: Ist die Gerechtigkeit oder einer der das Rechte tut, bei dir vorbeigezogen? Es wird das verneinen. 12 In jener Zeit wird es geschehen, daß die Menschen hoffen und nichts erlangen, sich abmühen, und ihre Wege nicht (zum Erfolg) gelenkt werden"74 • Der Engel scheint mit Blick auf die "letzte böse Zeit" aus der Sündenverfallenheil dieser Welt die gleichen ethischen Schlußfolgerungen zu ziehen, wie wir sie vom Seher aus 3,35f kennen. Die Weisheit ist verborgen, kein Mensch ist fähig, das Rechte zu tun. Der weisheitliehe Topos von der verborgenen Weisheit begegnet uns an dieser Stelle im Gewande einer apokalyptischen Transformation. Konnte in weisheitliehen Zusammenhängen die Weisheit von jedem Menschen zu jedem Zeitpunkt als ferne oder entschwunden erfahren werden, so wird die Weisheit nun in den Geschichtsverlauf eingeordnet. Sie ist in der Endzeit völlig von der Erde verschwunden. Das Verhalten des einzelnen spielt hierbei keine Rolle. Es besteht lediglich die Hoffnung, daß in der zukünftigen Heilszeit die verborgene Weisheit den Auserwählten und Gerechten zuteil wird7s. Hinter der Wendung "das Rechte tun" verbirgt sich an dieser Stelle zweifellos die Gesetzesthematik76. Nehmen wir die Parallelität ernst, die zwischen den Aussagen von dem ,,Entschwinden der Weisheit" und dem "Überhandnehmen der Ungerechtigkeit" besteht, so stehen Weisheit und Gesetz für den Verfasser dieser Zeilen in einem solch engen Verhältnis, daß dieses sicherlich im Sinne einer ,,Identifikation" verstanden werden kann 77 . Die Identifikation von Gesetz und 74 IV Esr 5,91;-12: ,,Et amici omnes semetipsos expugnabunt; et abscondetur tune sensus, et intellectus separabitur in promptuarium suum. 10 Et queretur a multisetnon invenietur, et multiplicabitur iniusticia et incontinentia super terram. 11 Et interrogabit regio proximam suam et dicet: Numquid per te pertransiit iusticia iustum faciens? Et haec negabit. 12 Et erit in illo tempore, et sperabunt homines et non impetrabunt, labarabunt et non dirigentur viae eorum". 7S Zu dem Motiv der verborgenen Weisheit sei auf H. v.Lips. Weisheitliehe Traditionen. 171 ff (bes. 174-76+ 180f) verwiesen. 76 Vgl. IV Esr 7,88-99, eine Passage, in der .,Gerechtigkeit", bzw. das .,Tun des Rechten" eindeutig mit dem Gesetzesgehorsam identifiziert wird; siehe E.J. Schnabel, Law and Wisdom, 149. 77 Siehe E.J. Schnabel, Law and Wisdom, 149ff; gegen U. Luck, ZThK 1976, 292ff. derbestreitet, daß innerhalb des 4. Esrabuches eine Identität zwischen Weisheit und Gesetz besteht.
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Weisheit hat eine Stärkung der universalen Dimension des Gesetzes zur Folge, ein Gedanke, der im Kontext unserer Auseinandersetzung mit dem 4. Esrabuch noch breiter entfaltet werden soll. Kehren wir kurz zu der Beschreibung der Endzeit durch den Engel zurück, so ist diese, wie bereits gesagt, auf den ersten Blick dazu geeignet, ethischer Indifferenz TUr und Tor zu öffnen. Um dieser Gefahr zu entgehen, ist eine "Weiterentwicklung" der dualistischen ,,ZweiÄonen-Lehre" unverzichtbar.
2.4.4.3 Visio II (Kap. 5,20-6,34) Nach einem kurzen redaktionellen Rahmenstück (5,16-19), das bereits an dieser Stelle auf die Volksreden Esras in Kap 14 verweist78 , beginnt Visio II mit einem feierlichen Gedicht Esras über Israels Erwählung (5,23-27), wobei die Analogie zum Aufbau des Schöpfungshymnus am Anfang von Visio m (6,3854) nicht zu übersehen ist79. Kam in Visio I dem Geschichtsrückblick in 3,4-28 die Aufgabe zu, die Anklage Gottes zu begründen, so legt der Erwählungshymnus zu Beginn von Visio II die Grundlage für die Klagerede in 5,28ff. Die Blickrichtung in Visio II ist gegenüber der in Visio I deutlich verschoben. Nicht mehr das Verhalten der sündigen Menschheit und der Versuch einer Relativierung der Sünden Israels stehen im Mittelpunkt des Interesses, sondern es dominiert die Frage nach Gott als dem Subjekt der Geschichte. Der Seher Esra kann die ,,Zwei-Äonen-Lehre" nur in ihrer radikal dualistischen Form, wie sie innerhalb von Visio I vom Engel als Antwort auf Esras Zweifel an Gottes Gerechtigkeit und der Gültigkeit von Gottes Verheißung entwickelt wurde, akzeptieren. Für Esrcl muß sichergestellt sein, daß der neue Äon völlig unabhängig von menschlichem Zutun einzig und allein durch Gott selbst heraufgeführt wird (vgl. 4,38-43). War für Esra in Visio I noch die Tatsache des Untergangs Jerusalems selbst der Stein des Anstoßes, so ist in Visio ll die Blickrichtung auf das "Wie" des Untergangs verschoben. Die Erwählung Israels, deren Grunddatum für den Seher in der Gabe der Tora besteht, war einzig und allein Gottes Werk. Ausdrücklich wird in diesem Kontext die universale Dimension der Tora betont, wenn es in 5,27 von diesem Akt Gottes heißt: "Aus all den vielen Völkern hast du dir das eine Volk erworben, und das von allen als gut anerkannte Gesetz hast du diesem Volk gegeben, das du geliebt hast"80. Zeich78 Dies ist nur eine ,,Brücke", die das Schlußkapitel des 4. Esrabuches mit dem dialogischen Teil verbindet Daneben gibt es noch eine Menge anderer Themen (so z.B. die Offenbarungen an Esra über das ,,Ende der Zeiten", die Kap. 14 mit der Abrahamthematik in 3,14 verbinden), die keinen Zweifel an der ursprünglichen Zusammengehörigkeit von Kap.l4 und dem Rest der Esraapokalypse dulden; vgl. zu dieser Problematik E. Brandenburger, Die Verborgenheit Gottes, 132-139. 79 Siehe D. Rössler, Gesetz und Geschichte, 76 Anm. 2. 80 IV Esr 5,27: ,,et ex omnibus multiplicatis populis adquisisti tibi populurn unurn, et ab omnibus probatam Iegern donasti huic quem desiderasti populo". Hinter dieser Aussage verbirgt sich offensichtlich eine Variation der auch aus der rabbinischen Literatur bekannten Tradition,
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net Gott für die Erwählung Israels verantwortlich, so ist es völlig unverständlich, daß Gott die innergeschichtliche ,,Revision" der Erwählung nicht in seine eigenen Hände nimmt, sondern diese den Heiden überläßt. Die Tatsache, daß Gott sein Volk nicht selbst züchtigt, untergräbt nicht nur den Glauben an die Macht Gottes innerhalb des gegenwärtigen Äons, sondern läßt auch an der Fähigkeit Gottes zweifeln, den zukünftigen Äon unabhängig von menschlichem Tun heraufzuführen. Von daher ist die bedrängende Frage des Sehers, warum Gott sein Volk nicht selbst züchtigt (5,30), durchaus verständlich. Der Engel tritt nun in seiner Antwort an Esra dessen Befürchtungen entgegen, indem er die Heraufführung des neucn Äons eindeutig als Tat Gottes 3.US\'Ie!st. So heißt es in 6,5f: ,,Bevor die Jahre der Gegenwart aufgespürt wurden, bevor die Ränke der jetzigen Sünder vereitelt wurden, und die, die Schätze des Glaubens sammeln, versiegelt wurden, - 6 damals habe ich es durchdacht. Und durch mich und keinen anderen ist es erschaffen worden; so (geschieht) auch das Ende durch mich und keinen anderen"8 1• Gottes Erwählungshandeln an Israel war von vornherein, bereits vor der Weltschöpfung auf den zukünftigen Äon bezogen. Abraham und Jakob, die die Erwählung Israels "personifizieren", stehen nach 6,8f am Beginn der neuen Weltzeit. Die Erwählung Israels wird jeglicher geschichtlichen Bedingtheit enthoben und wird erst vom Eschaton her verifiziert werden. Gott wird jedoch am Ende dieses Äons nicht nur dafür sorgen, daß die Erwählung Israels offenbar wird, sondern er selbst wird das die gegenwärtige Weltzeit kennzeichnende Sündenverhängnis ein für alle Mal vernichten. Der Universalität der Sünde in der gegenwärtigen Weltzeit wird die eschatologische Erwartung universalen Heils entgegengestellt. Diese Erwartung kommt in den Ausführungen des Engels in 6,26-28 deutlich zum Ausdruck, wenn er an dieser Stelle über seine bisherige Charakterisierung der Endzeit (siehe 5,1-12) in der Weise hinausgeht, daß er für die Zeit nach dem Endgericht Gottes über die gegenwärtige Welt formulieren kann: ,,Dann schaut man die Männer, die entrückt wurden und den Tod seit ihrer Geburt nicht verkosteten. Dann wird das Herz der Erdenbewohner verwandelt und zu einer anderen Gesinnung hingelenkt 27 Denn das Böse wird zerstört, die Hinterlist ausgelöscht. 28 Der Glaube aber blüht, die Verderbnis wird überwunden, die Wahrheit herausgestellt, die so lange ohne Frucht geblieben war''82. Der gedaß Gott die Tora ursprünglich allen Völkern angeboten hat. Während die rabbinischen Texte jedoch primär davon sprechen, daß die Heiden die Tora abgewiesen haben, weiß unsere Stelle davon zu berichten, daß auch die Heiden das Gesetz als gut anerkannt haben; zu der rabbinischen Vorstellung vgl. F. Weber, Jüdische Theologie, 57f. 81 IV Esr 6,5f: "et antequam investigarentur praesentes anni, et antequam abaJienarentur eorum qui nunc peccant adinventiones et consignarentur eorum qui fidem thesaurizaverunt, 6 tune cogitavi, et facta sunt haec par me et non per alium, ut et finis per me et non per alium". 82 IV Esr 6,26-28: ,,Et videbunt qui recepti sunt homines, qui mortem non gustaverunt a nativitate sua, et mutabitur cor inhabitantium et convertetur in sensum alium. 27 Delebitur enim malum et extinguetur dolus. 28 Florebit autem fides et vincetur corruptela, et ostendebitur veritas quae sine fructu fuit tantis temporibus".
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genwärtige Äon steht ganz im Zeichen der Sündenverfallenheit, wie sie sich hinter der Rede vom "bösen Herzen.. verbirgt. In dieser Situation verspricht der Engel für den zukünftigen Äon die eschatologische Gabe eines "neuen Herzens". Dieses "neue Herz" wird die endgültige Befreiung von jeglichem Sündenverhängnis nach sich ziehen83. Gott selbst wird es sein, der die Macht der Sünde bricht und den Erdenbewohnern ein heilvolles Dasein ennöglicht84. Wenn jedoch der gegenwärtige Äon durch die Macht der Sünde durch und durch negativ qualifiziert und die Befreiung aus dieser Knechtschaft einzig von Gottes eschatologischem Handeln her zu erwarten ist, ist der Gefahr, in der Gegenwart in einen "ethischen Fatalismus" zu verfallen, nur schwer zu entgehen8S. Wir sind damit wieder am Grundproblem des 4. Esrabuches angelangt. Der Verfasser des 4. Buches Esra steht vor dem paradoxen Problem, gleichzeitig sowohl die Relevanz als auch die Irrelevanz geschichtlichen Geschehens für die Frage nach dem Gewinn oder Verlust eschatologischen Heils vertreten zu müssen86. Er ist einerseits genötigt, eine schroffe ,,Zwei-Äonen-Lehre" zu postulieren, da einzig diese in der Lage ist, die vom Seher Esra immer wieder geäußerten Zweifel bezüglich Gottes Gerechtigkeit und der Wahrheit seiner Verheißung zu zerstreuen, indem sie diese Größen und damit auch das Gesetz dem Bereich geschichtlicher Kontingenz entzieht. Die mit der Gabe der Tora verbundene Verheißung Gottes bezieht sich seit Anbeginn der Welt ausschließlich auf einen jenseitigen Zeitraum. Geschichtlich kontingente Ereignisse vermögen sie deshalb in keiner Weise zu tangieren. Gottes Heilszusage an sein Volk wird sich erfüllen, auch wenn sämtliche geschichtlichen Erfahrungen dagegen sprechen. Wird jedoch die Tora dem geschichtlichen Bereich derart entnommen, daß der Frage nach der konkreten Toraerfüllung innerhalb der Geschichte keinerlei Bedeutung für die Frage nach deren Wahrheit und Gültigkeit zukommt, ist ein allgemeines "ethisches Tohuwabohu" die unvermeidbare Folge. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, sieht sich der Verfasser des 4. Esrabuches gezwungen, der Frage nach der Gesetzeserfüllung im gegenwärtigen Äon doch noch eine Bedeutung zuzumessen, wenn es darum geht, das eschatologische Heil zu erlangen. Diese gleichzeitige Betonung von Relevanz und Irrelevanz geschichtlichen Geschehens kann jedoch nur um den Preis des Verzichts auf eine eschatologische Perspektive, die das Heil der gesamten Menschheit bzw. Gesamtisraels im Blick hat, gelingen. Gottes Heilszusage des Gesetzes gilt weder der gesamten Menschheit noch dem Volk Israel als Ganzem, sondern nur noch einer kleinen Gruppe von Gerechten, die sich bereits im gegenwärtigen Äon am Gesetz bewährt hat. In diesem Zusammenhang kommt somit der Frage nach den Adressaten des Heils eine entscheidende Bedeutung 83 Die Tradition vom ,,neuen Herzen" als eschatologischer Gabe Gones findet sich bereits im AT; siehe Ez 11,19; 36.26 oder auch Jer 31,33. 84 Vgl. äthHen 5,7ff. 85 So auch W. Harnisch, Verhängnis und Verheißung, 144. 86 Siehe W. Harnisch. Verhängnis und Verheißung. 178.
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zu. Hatten die Visionen I und U primär den Nachweis der Irrelevanz geschichtlichen Geschehens für die Frage nach dem eschatologischen Heil zum Thema, so steht in Visio ill die Betonung der Relevanz geschichtlich kontingenter Ereignisse, konkretisiert im Toragehorsam der Gerechten, im Zentrum des Interesses.
2.4.4.4 Visio /II (Kap. 6,35-9,25) Die dritte Vision nimmt den breitesten Raum innerhalb des "dialogischen Teiles" des 4. Esrabuches ein. Sie beginnt mit einem Schöpfungshymnus (6,3854), der analog zu den vorangegangenen Visionen in eine Anklage Gottes mUndet (6,55-59). Lief der Seher in Visio U Gefahr, angesichts des Unheils, das über das Volk Israel hereingebrochen ist, an der Erwählung Israels zu zweifeln, so ist es nun das Ausbleiben der Verheißung, daß die Welt um Israels willen geschaffen wurde87, die den Seher bedrückt. Die bedrängende Frage des Sehers lautet in 6,59: "Wenn aber die Welt unseretwegen geschaffen ist, warum besitzen wir unsere Welt nicht als Erbe? Wie lange soll das noch so sein"88? Israel wurde der gegenwärtige Äon von Gott als Besitz verheißen, trotzdem befindet er sich in der Hand der Heiden. Die Antwort des Engels auf diese Frage ergeht in zwei Gleichnissen (7,3-5+7,6-9) und deren anschließender Deutung (7,10-16). Zunächst bewegt sich die Argumentation des Engels wieder in den Bahnen des ,,Zwei-Äonen-Schemas", wie wir es bereits aus Visio I und II kennen. Nicht der gegenwärtige, sondern der zukünftige Äon wurde Israel von Gott als Erbteil zugedacht. Gottes Verheißung an sein Volk, die Erde zu besitzen, erfährt eine radikale Eschatologisierung. Der gegenwärtige Äon wurde bereits durch Adams Gebotsübertretung als Israels Erbteil disqualifiziert. Dies wird in 7,11 mit folgenden Worten zum Ausdruck gebracht: ,,Denn ihretwegen habe ich die Welt erschaffen. Als aber Adam meine Gebote übertrat, wurde das Geschaffene gerichtet''89. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Visionen beläßt es der Engel jedoch nicht bei dieser Kontrastierung zwischen dem gegenwärtigen und zukünftigen Äon. Wurde die gegenwärtige Weltzeit bisher ausschließlich negativ charakterisiert, so kommt ihr an dieser Stelle mit Blick auf die Zukunft eine weit positivere Rolle zu. Sah der Verfasser des 4. Esrabuch~s in Visio I und U in der Betonung der absoluten Indifferenz der Geschichte die einzige Möglichkeit, den Glauben an die Gültigkeit der Heilszusage des Geset87 Die Verheißung Gottes, daß die Welt um Israels willen geschaffen wurde, findet sich auch in AssMos 1,13, obwohl dort die Überlieferungssituation nicht eindeutig ist. Es könnte in AssMos 1,13 auch davon die Rede sein, daß die Welt um des Gesetzeswillen geschaffen wurde, eine Vorstellung, wie sie besonders von den Rabbinen gepflegt wurde; siehe hierzu F. Weber, Jodische Theologie, 197f. 88 IV Esr 6,59: ..Et si propter nos creatum est saeculum, quare non hereditatem possidemus nostrum saeculum? Usquequo haec?'' 89 IV Esr 7,11: •.Propter eos enim feci saeculum, et quando transgressus est Adam constitutiones meas. iudicatum est quod factum est".
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zes zu retten, so relativiert er nun diese Auffassung, indem er bereit ist, dem gegenwärtigen Äon doch noch eine gewisse Relevanz in bezug auf das eschatologische Heil zuzugestehen. Der gegenwärtige Äon wird für das einzelne Individuum zum Durchgangsstadium auf dem Weg zum Heil. Die gegenwärtige Welt wird als Ort der Bewährung verstanden. Bereits in der Gegenwart werden von jedem einzelnen selbst die Weichen fUr das Ergehen im zukünftigen Äon gestellt. Die universale Hoffnung auf Gottes Rechtfertigung der Sünder und damit aller Menschen am Ende der Tage, wie sie sich der Seher Esra bisher erhofft hatte und wie sie sich als Konsequenz der Ausführungen des Engels in Visio II auch nahelegte, erfährt in Visio meine empfindliche Einschränkung. Von den Lebenden wird nur detjenige des zukünftigen Heils teilhaftig, der sich in der Gegenwart bewährt hat, der "in diese Engpässe und Nöte wirklich hineingegangen" ist (7,14). Damit tritt die Frage nach den Adressaten des eschatologischen Heils auf den Plan. Vermittelten die vorangegangenen Gespr.ichsgänge zwischen Esra und dem Engel den Eindruck, daß alle Weltbewohner, zumindest aber das Volk Israel als Ganzes, als Objekte des diesen Äon beherrschenden Sündenverhängnisses gleichzeitig auch Adressaten des zukünftigen Heils seien, so wird dieser in Visio Iß grundlegend revidiert. Der zukünftige Äon steht nicht mehr allen Menschen offen, sondern ist lediglich einer kleinen Schar von Gerechten zugedacht. An der Stellung des einzelnen zum Gesetz entscheidet sich die Frage, wer als Gerechter in den zukünftigen Äon eingehen wird. Die Gesetzesthematik erfährt eine radikale Individualisierung. Die Position des Sehers in Visio III ist in den folgenden Argumentationsgängen von dem vergeblichen Versuch gekennzeichnet, die Universalität des Heils für Gesamtisrael zu retten 90 , während der Engel nur immer wieder betont, daß das eschatologische Heil ausschließlich den Gerechten, die sich am Gesetz bewährt haben, vorbehalten bleibt. Betrachten wir zunächst die Argumentation des Sehers, so ist diese im Vergleich zu der des Engels alles andere als einlinig. Auf der einen Seite weitet er den Gedanken, daß der gegenwärtige Äon einem SUndenverhängnis ausgeliefert ist, derart aus, daß die Existenz von Gerechten und damit die Möglichkeit des Gesetzesgehorsams von Grund auf bezweifelt wird. Auf der anderen Seite kann er sich immer dann auf die Existenz von Gerechten berufen, wenn er sich daraus einen argumentativen Vorteil verspricht. In diese Richtung verweist bereits die bedrängende Frage in 7,46: "Aber darauf ging meine Bitte: Wer ist es von den Lebenden, der nicht gesündigt hätte? Oder wer von den Geborenen ist es, der deinen Bund nicht übertreten hätte''91? Als Ursache fUr die totale SUn90 Am Schicksal der Menschheit ist der Seher nach seinen eigenen Wonen (siehe 8,15) nicht interessiert. Lediglich die Auswirkungen einer radikal dualistischen •.Zwei-Äonen-Lehre" für das Volk Israel sind für den Seher von Interesse. Sein Denken bewegt sich ausschließlich in gesamtisraelitischen Bahnen. 91 IV Esr 7,46: "Sed de quibus erat oratio mea, quis enim est de praesentibus qui non peccavit. vel quis natorum qui non praeterivit sponsionem tuam"?
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denverfallenheil der Menschheit führt der Seher in Vers 48 erneut das "böse Herz" an: ,,Denn in uns ist das böse Herz gewachsen, das uns diesem entfremdet, uns dem Verderben entgegengeführt, uns die Wege des Todes zeigte, die Pfade der Vernichtung (wies) und uns vom Leben entfernte, und zwar nicht wenige, sondern beinahe alle, die erschaffen wurden"92. Die Argumentation des Sehers schreckt jedoch vor der letzten Konsequenz zurück. Obwohl er in seiner Frage von 7,46 eine Totalität des Sündenschicksals suggeriert, schränkt er diese in 7,48 wieder ein, indem er die Existenz einer kleinen Zahl von Gerechten zugesteht93. Diese Inkonsequenz ist typisch für die Position des Sehers innerhalb VO!l Visio m. Imm~r wieder führt er die totale Sündenverfallenheil aller Menschen im Munde94, obwohl er gleichzeitig auch mit der Existenz einiger weniger Gerechter rechnet9S. Die Inkonsequenz des Sehers wird jedoch auf den Gipfel getrieben, wenn dieser gerade in dem Zusammenhang, in dem er sich innerhalb von Visio m zur stärksten Betonung der Sündenverfallenheil der Menschheit durchringt, die Existenz von Gerechten zur Unterstützung seiner Argumentation heranzieht. So gipfelt das Gebet des Sehers in 8,6-36 in dem Versuch, durch andauernde Verweise auf die vielfaltigen Taten der Gerechten, von Gott Vergebung für die Sünder zu erlangen. In 8,29 gesteht der Seher sogar ausdrücklich die von ihm ansonsten immer wieder geleugnete Möglichkeit der Gesetzeserfüllung zu, wenn es heißt: "Wolle nicht die zugrunde richten, die sich wie das Vieh benommen haben, sondern schau auf die, die dein Gesetz deutlich gelehrt haben''%. War in 8,33 noch von den vielen guten Werken der Gerechten die Rede, so heißt es zwei Verse weiter: ,,In Wahrheit gibt es nämlich niemand unter den Geborenen, der nicht böse gehandelt, und unter den 9 2 IV Esr 7,48: ,,Increvit enim in nos cor malum, quod nos abalienavit ab his et deduxit nos in corruptionem et in itinera mortis, ostendit nobis semitas perditionis, et Ionge fecit nos a vita; et hoc non paucos, sed paene omnes qui creati sunt''. 93 Der Versuch von Violet. Apokalypsen z. St., sich textkritisch gegen das ..paene omnes" zu entscheiden und anstatt ..fast alle", das umfassendere ,,alle" zu lesen, vermag nicht zu überzeugen. Die Tatsache, daß in den Äußerungen des Sehers Esra mit Blick auf die Sünder sowohl der universale als auch ein leicht eingeschränkter Aspekt auftaucht. ist ein Wesensmerkmal der Argumentation des Sehers (vgl. bereits 3,35f), und darf nicht zum Anlaß von Harmonisierungsbestrebungen werden; vgl. E. Brandenburger, Die Verborgenheit Gottes, 176f. 94 Vgl. z.B. IV Esr 7,68: "Omnes enim qui nati sunt commixti sunt iniquitatibus et pleni sunt peccatorum et gravati delictis"; siehe auch IV Esr 7,118:" 0 tu quid fecisti, Adam? Si enim tu peccasti, non est factum solius tuus casus et nostrum qui ex te advenimus''. 9S Vgl. z.B. IV Esr7,17f: ,,Et respondi et dixi: Dominator Domine, ecce disposuisti in lege tua, quoniam iusti haereditabunt haec, impii autem peribunt. 18 Iusti autem ferent angusta sperantes spatiosa; qui enim impie gesserunt. et angusta passi sunt et spatiosa non videbunt"; siehe auch IV Esr7,45: ,,Et respondi: Tune et dixi, Domine, et nunc dico: Beati qui praesentes et observantes quae a te constitutae sunt". 96 IV Esr 8,29: •.Neque volueris pereiere qui pecorum mores habuerunt, sed respicias eos qui Iegern tuam splendide docuerunt" .(Die Handschriften MNEPVL bieten einen abweichenden Text: ,,Neque volueris perdere eos qui iumentorum mores habuerunt, sed respicias super eos qui claram Iegern tuam demonstraverunf').
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Gewordenen, der nicht gesündigt hätte"97 • Diese logische Inkonsequenz des Sehers liegt offensichtlich darin begründet, daß dieser zwei ursprUnglieh unabhängige Traditionen aufgreift und miteinander verbindet, um sein erklärtes Ziel zu erreichen, das darin besteht, die Heilszusage des Gesetzes fUr Gesamtisrael zu erhalten9B. Zum einen versucht er die Universalität des eschatologischen Heils dadurch zu retten, daß er auf die Universalität der SUnde in der Gegenwart verweist. Die gesamte Menschheit ist einem auf das "böse Herz" zurtickgehenden SUndenverhängnis ausgeliefert, so daß einzig Gott selbst in der Lage ist, diesen Unheilszusammenhang zu zerbrechen. Dem SUndenautomatismus des gegenwärtigen Äons wird ein ,,Heilsautomatismus" im zukünftigen Äon entsprechen. Ist in letzter Konsequenz Gon selbst fUr alles Unheil dieser Welt verantwortlich, so wird auch das eschatologische Heil ohne alles menschliche Zutun heraufgefUhrt99. Zum anderen versucht der Seher die Existenz von Gerechten in seinem Sinne zu verwenden, indem er auf die jüdische Tradition der FUrbitte der Gerechten fUr die SUnder zurückgreift. Dies kommt explizit in der Frage des Sehers in 7,102 zum Ausdruck: ,,Ich antwortete und sagte: Wenn ich Gnade vor deinen Augen gefunden habe, zeige mir, deinem Knecht noch, ob am Tag des Gerichts die Gerechten die Gottlosen entschuldigen oder fUr sie den Höchsten bitten können"IOO. Wir können abschließend festhalten, daß der Seher sich immer nur dann auf die Existenz von Gerechten beruft, wenn er diesen Gedanken zur Entschuldigung der SUndereinsetzen kann 10I. Der Seher ordnet die Stringenz seiner GedankenfUhrung dem von ihm intendierten Ziel der Sicherung des eschatologischen Heils fUr Gesamtisrael unter. Ganz anders stellt sich die Position des Engels dar. Diese ist innerhalb von Visio III von Anfang an durch eine von allen Unebenheiten freie, stringente Gedankenführung gekennzeichnet. FUr die Argumentation des Engels in Visio III war die Heilzusage des Gesetzes immer schon ausschließlich einer kleinen
97 IV Esr 8,35: .Jn veritate enim nemo de genitis est qui non impie gessit, et de confitentibus qui non deliquit". (Die Handschriften MNEPVL bieten einen abweichenden Text: ..Enimvero nemo est eorum qui nati sunt qui non iniquitatem fecerit, neque horum qui increverunt qui non peccaverit"). 9 8 Siehe hierzu IV Esr 8,15f: ,,Et nunc dicens dicam: De omni homine tu magis scis, de populo autem tuo quod mihi dolet, 16 et de hereditate tua propter quam lugeo, et de Israel propter quem tristis sum, et de semine Iacob propter quod conturbor''. 99 Diese Vorstellung liegt offensichtlich den Versen 8,5-14 zugrunde und kommt ganz deutlich in den Versen 6 und 7 zum Ausdruck: .,0 Domine super nos, si permittes servo tuo, ut oremus coram te et des nobis semen cordis et sensui culturam unde fructurn fiat, unde vivere possit omnis corruptus qui portavit locum hominis. 7 SoJus enim es, et una plasmatio nos sumus manuum tuarum, sicut locutus es". 100 IV Esr 7,102: ,,Et respondi et dixi: Si inveni gratiam ante oculos tuos, demonstra mihi adhuc servo tuo, si in die iudicii iusti impios excusare poterint vel deprecari pro eis Altissimum". 101 Siehe auch IV Esr 8,26-30.
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Gruppe der Gerechten vorbehalten. Am Schicksal der Gottlosen zeigt sich der Engel gänzlich uninteressiert. Aus der Fülle der Belege, die in diese Richtung weisen•oz, solllediglich 9,22 zitiert werden: "So gehe denn die Menge zugrunde, die nutzlos geboren ist, und gerettet werde meine Beere und mein Sproß, denn ich habe sie mit viel Mühe zustande gebracht" 103. Immer wieder betont der Engel mit Blick auf die Frage nach der Gesetzeserfüllung die freie Verantwortlichkeit des einzelnen für sein Tun. Auch dem kleinsten Versuch des Sehers, den Sündenverhängnisgedanken in der Weise mit dem Gesetzesgedanken zu verbinden, daß die Möglichkeit der Gesetzeserfüllung ad absurdum geführt wird, wird heftigst widersprochen. Die Gottlose'l tngen selbst die Verantwortung für ihren Ausschluß vom eschatologischen Heil, da sie Gottes Geboten nicht gerecht wurden. So heißt es in 7,24: "Sie verachteten sein Gesetz, leugneten seinen Bund, seinen Geboten glaubten sie nicht, und seine Werke taten sie nicht" 104. Auch an dieser Stelle kann der Verfasser des 4. Esrabuches die Termini "Gesetz", ,,Bund", "Gebot" und "Werk" völlig parallel verwenden 10S, wobei dem Gesetzesgedanken eindeutig eine Vorrangstellung eingeräumt wird. Der Bundesgedanke wird vor allem in den Engelaussagen von Visio lll eindeutig vom Gesetzesgedanken her bestimmt, so daß die Frage nach der Erwählung Israels vom absoluten Taragehorsam der Gerechten her deutlich relativiert wird. Bis zur Eintönigkeit strapaziert der Engel das Prinzip der Verantwortlichkeit eines jeden für seine Taten. Grämt sich der Seher Esra anhand der Tatsache, daß der Verstand des Menschen durch die Sünde so stark korrumpiert ist, daß er nicht in der Lage ist, den Menschen aus der SUndengefangenschaft zu befreien, so läßt der Engel diese Entschuldigung nicht gelten, sondern erwidert in 7, 72: "Gerade deshalb werden die, die auf Erden weilen, gequält, weil sie Verstand hatten und dennoch Sünden begingen, die Gebote empfingen und sie nicht beachteten, das Gesetz erhielten und es, das sie doch erhalten hatten, brachen"I06. Appelliert der Seher an Gottes Langmut und Barmherzigkeit•07, schränkt der Engel deren Gültigkeit auf den gegenwärtigen Äon ein. Die Barmherzigkeit Gottes zeigt sich gerade darin, daß Gott erst am Ende dieses Äons Gericht halten wird und somit den Menschen eine lange Zeit zur Umkehr 102 Siehe IV Esr 7,60f; 8,1-3. 103 IV Esr 9,22: •.Pereat ergo
multitudo quae sine causa nata est. et servetur acinus meus et plantatio mea, quia cum multo Iabore perfeci haec". 104 IV Esr 7,24: ,,Et Iegern eius spreverunt et sponsiones eius abnegaverunt et legitimis eius fidem non habuerunt et opera eius non perfecerunt". lOS Vgl. hierzu IV Esr 7,72.79; 8,56. 106 IV Esr 7,72: ..Qui ergo commorantes sunt in terra hinc cruciabuntur, quoniam sensum habentes iniquitatem fecerunt, et mandata accipientes non servaverunt ea, et Iegern consecuti fraudaverunt eam quam acceperunt". I07 Siehe z.B. IV Esr 8,36: .Jn hoc enim adnuntiabitur iusticia tua et bonitas tua, Domine, cum misertus fueris eis qui non habent substantiam operum bonorum" (Die Handschriften MNEPVL bieten einen abweichenden Text, den ich jedoch mit J. Schreiner, Das 4. Buch Esra, 367 Anm.36a-d nicht für ursprünglich halte.).
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einräumtiOB. Der Engel kann in diesem KontextH)9 nun auch die aus rabbinischen Texten bekannte Tradition vom "bösen Trieb" aufgreifen, wenn es darum geht, der vom Seher intendierten Behauptung, der Mensch sei zwangsläufig zur SUnde verdammt, entgegenzutreten" 0 . Der "böse Trieb" ist dazu gegeben, mit Hilfe der Tora Oberwunden zu werden, eine Aufgabe, die nach Auffassung des Engels von jedem Menschen gelöst werden kann. Immer wieder betont der Engel gerade im Schlußteil von Visio m die Freiheit eines jeden, das Gesetz Gottes zu halten. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang auf die Verse 9,10-12 verwiesen: ,,Denn alle, die mich in ihrem Leben nicht erkannt haben, als sie von mir Wohltaten empfingen, 11 und alle, die mein Gesetz verschmäht haben, als sie noch die Freiheit hatten, 12 und den Raum der Buße, als er für sie noch offen war, nicht wahrnahmen, sondern verachteten, die mUssen nach dem Tod in der Marter zur Erkenntnis kommen"lll. Der gegenwärtige Äon ist der Ort der Bewährung. Die Freiheit des einzelnen, das Gesetz Gottes zu tun, ist durch die Macht der SUnde gerade nicht eingeschränkt. An der Stellung des einzelnen in dieser Welt zur Tora bemißt sich sein Anteil am Heil in der zukünftigen Weltzeit. Nur die kleine Zahl der Gerechten wird gerettet, die große Zahl der Gottlosen wird im Gericht zugrunde gehen. Gerichtsnorm ist und bleibt einzig die Tora. FUr den Engel ist im Gegensatz zum Seher Esra ausschließlich das Schicksal der Gerechten, nicht aber das der SUnder von Interesse. Folgerichtig beendet der Engel den vorletzten Gesprächsgang in Visio ill mit der Aufforderung an den Seher: "Du also forsche nicht weiter, wie die Frevler gepeinigt werden, sondern frag, wie die Gerechten gerettet werden, denen die Welt gehört und wegen derer sie ist und wann"(9,13)112. Der Engel greift mit diesem Vers auf die Fragestellung des Sehers zu Beginn von Visio ill zurilck. Ausgangspunkt des Gesprächsgangs war in 6,59 die Frage des Sehers, warum das Volk Israel den gegenwärtigen Äon nicht als Erbteil besitzt, obwohl dieser doch um Israels willen geschaffen wurde. Die Heilszusage des Gesetzes an das Volk Israel fUr die gegenwärtige Weltzeit wurde durch den Engel im Laufe des Gesprächsganges von Visio m in eine Heilsverheißung an die Ge-
108 Siehe z.B. IV Esr 7,74: .,Quantum enim tempus ex quo longanimitatem habuit Altissimus his qui inhabitant saeculum, et non propter eos, sed propter ea quae providit tempora". 109 In 3,20-22 ist die rabbinische Tradition vom .,bösen Trieb" jedoch nicht aufgegriffen; siehe Anm. 54. IIO In IV Esr 7,92 heißt es von den Gerechten: .,Ordo primus, quoniam cum Iabore multo certati sunt, ut vincerent cum eis plasmaturn cogitamentum malum, ut non eas seducat a vita ad mortem". 111 IV Esr 9,10-12: ..Quotquot enim non cognoverunt me viventes beneficia consecuti, 11 et quotquot fastidierunt Iegern meam, cum adhuc erant habentes libertatem, 12 et cum adhuc esset eis aperturn paenitentiae locus non intellexerunt sed spreverunt, hos opportet post monem in cruciamento cognoscere". 112 IV Esr 9,13: ..Tu ergo adhuc noh curiosus esse quomodo impii cruciabuntur, sed inquire quomodo iusti salvabuntur, et quorum saeculum et propter quos saeculum et quando''.
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rechten im zukünftigen Äon transfonniert113. Konnte der Seher die Transformierung des Heils in die zukünftige Weltzeit und damit eine radikal dualistische ,,Zwei-Äonen-Lehre" bereits in Visio II als Antwort auf seine Fragen nach der Gültigkeit von Gottes Verheißung akzeptieren, so leistet er in Visio jedem Versuch, Gesamtisrael zugunsten einzelner Gerechter vom eschatologischen Heil auszuschließen, erbitterten Widerstand. Der Seher zieht alle Register seines Könnens, um eine Revision des Bundesgedankens durch ein radikal individualistisches, auf absoluten Tomgehorsam gegründetes Gesetzesverständnis, zu verhindern. Alle MUhen des Sehers sind jedoch letztendlich vergebem:. Das letzte Wort in d!eeer Auseinandersetzung b!eibt dem Engel vorbehalten. An die Stelle einer auf das Volk Israel beschränkten Heilsperspektive tritt nun eine universale, auf die kleine Schar der Gerechten bezogene Perspektive. Das, was Gottes Gesetz ursprUnglieh Gesamtisrael für diesen Äon verheißen hat, war angesichts der SUndenverfallenheit dieser Welt nicht einzulösen und wird nun in der zukünftigen Welt der kleinen Schar von Gerechten zufallen. Die Gerechten rekrutieren sich dabei aus denjenigen, die gegen jede Hoffnung auf innerweltliches GIUck 114 Gott die Treue hielten und seine Gebote erfüllten. Der Verfasser des 4. Esrabuches denkt in diesem Zusammenhang wohl an einen Personenkreis, der sich vornehmlich aus Israeliten rekrutiert, jedoch nicht auf diese beschränkt ist. Tomgehorsam ist allen Menschen möglich, da die Tora im Kontext des 4. Esrabuches eindeutig als universales, jedem vernünftigen Wesen einsichtiges Weltgesetz erscheint. Für diese These lassen sich eine Fülle von Textbelegen anfUhren. Geht doch bereits der SeherEsrain 3,36 davon aus, daß es auch einzelnen Menschen außerhalb des jüdischen Volkszusammenhanges möglich ist, Gottes Gebote zu halten. In die gleiche Richtung weist die enge Verbindung, die der Engel in 7,72 zwischen der allgemeinmenschlichen Kategorie des Verstandes und der Fähigkeit, die Gebote der Tora zu erfüllen, zieht. Vor allem jedoch die enge Verbindung zwischen der Tora und der Weisheit, wie sie uns an vielen Stellen innerhalb des 4. Esrabuches begegnet115 und die mancherorts geradezu die Gestalt einer regelrechten Identifizierung annimmt (so z.B. in 13,54f) 116 , treibt meines Erachtens die Universalisierung der Tora im 4. Esrabuch auf die Spitze. Zur Charakterisierung der gegenwärtigen Weltzeit im Gegenüber zum zukünftigen Äon darf nach Ansicht des Verfassers des 4. Esrabuches der SUndenverhängnisgedanke durchaus an-
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113 Siehe auch M. Vogel, Das Heil des Bundes, 154: .Zugleich wird der Begriff des Gottesvolkes durch den Gegensatz von Gerechten und Ungerechten in einer Weise überlagert, daß der Gonesvolkgedanke daneben kein Eigengewicht mehr hat." 114 Nach IV Esr 7,12 haben die Gerechten in diesem Äon trotz ihres Gesetzesgehorsams nichts Gutes zu erwarten. In der gegenwärtigen Weltzeit ist der Tun-Ergehen-Zusammenhang als ordnungsstiftendes Prinzip außer Kraft. So hei& es an dieser Stelle: ,,Et facti sunt introitus huius saeculi angusti et dolentes et laboriosi, paucae autem et malae et pericolorum plenae et laborum magnorwn fultae". 115 Siehe z.B. IV Esr 5,9-11; 7,70-74; 8,7-13; 8,52-58;13,54(. 116 Siehe E.J. Schnabel, Law and Wisdom, 149ff.
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gewendet werden. Sobald jedoch dieser Gedanke dazu eingesetzt wird, die Verantwortlichkeit des einzelnen für sein Tun zu untergraben oder einer gesamtisraelitischen Heilsperspektive das Wort zu reden, die sich auf das innergeschichtliche Faktum eines Bundesschlusses zwischen Gott und seinem Volk beruft, untersteht dieser Verhängnisgedanke dem strengsten Verdikt. Über das Für und Wider des SUndenverhängnisgedankens innerhalb des 4. Esrabuches entscheidet letztendlich der argumentative Kontext, in dem dieser jeweils verankert ist. Das Gesetz wird im 4. Esrabuch aus seiner Verbindung mit der Geschichte Israels herausgelöst. Das Gesetz ist im 4. Esrabuch eine ganz und gar ungeschichtliche Größe. Es wird nicht als das Zeichen der Erwählung Israels verstanden, sondern es begegnet in der universalen Gestalt des ewigen Weltgesetzes. 2.4.5 Die Verbindung von "dialogischem" und "visionärem" Teil des 4. Esrabuches in Visio IV (Kap. 9,26-10,60)
2.4.5.1 Einleitende Bemerkungen Es läßt sich, wie bereits zu Beginn dieses Kapitels festgestellt wurde, schwerlich leugnen, daß gerade Visio IV eine Schlüsselstellung innerhalb der Gesamtkonzeption des 4. Esrabuches zukommt. Rein formal betrachtet nimmt Visio IV eine Brückenfunktion wahr, indem sie den dialogischen Anfangsteil des 4. Esrabuches (1-ill) mit dem visionären Schlußteil (V-VI) verbindet. Während sich die Verse 9,28-37 noch ganz in den "dialogischen" Bahnen der vorangegangenen Kapitel bewegen, leiten die Verse 9,38-10,60 zum visionären Teil des 4. Esrabuches über, ja können bereits als fester Bestandteil desselben angesehen werden. Waren die Visionen I-m von der Auseinandersetzung zwischen dem Seher Esra und dem Engel geprägt, so haben die Verse 9,28-37 die Aufgabe, diese Auseinandersetzung zu einem ersten Abschluß zu bringen. So ist es gewiß kein Zufall, daß mit den Versen 9,29-33 analog zum Beginn des dialogischen Teils des 4. Esrabuches ein GeschichtsrUckblick auf den Plan tritt, der sich jedoch von seinem Vorgänger deutlich unterscheidet.
2.4.5.2 Der Geschichtsrückblick in Kap. 9,29-33 War der Seher Esra innerhalb des GeschichtsrUckblickes in 3,4-28 noch eifrig darum bemüht, die Geschichte Israels als eine Art "Spezialfall" in den größeren Rahmen einer Universalgeschichte, die mit der Person Adams ihren Anfang nimmt, einzuordnen, so erscheint Israels Geschichte nunmehr als eine durch und durch eigenständige Größe. Die Verse 9,29-33 haben ausschließlich die Geschichte Israels zum Thema und knüpfen auf diese Weise bruchlos an die Argumentation des Sehers an, wie sie uns in Visio m entgegengetreten ist. Ist doch die Argumentation des Sehers in Visio m gerade durch den Verzicht auf eine allgemeinmenschliche Perspektive zugunsten einer auf das Volk Israel als
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Ganzes bezogenen Sichtweise bestimmt 117 . Die Geschichte Israels wird auf die zentralen Heilsereignisse des Exodus, der Wüstenwanderung und der Gesetzgebung am Sinai reduziert. Im Zentrum steht die Gesetzgebung am Sinai, der die Rolle des alles entscheidenden Heilsereignisses zukommt. Im Gegensatz zu dem Geschichtsrückblick in 3,4-28 wird die Erwählung Abrahams mit keinem Wort erwähnt. Israels Erwählungsglaube, der im Bundesgedanken seinen deutlichsten Ausdruck findet, wird, wie wir bereits an anderen Stellen festgestellt haben, vom Gesetzesgedanken her relativiert IIB. Der Erwählungsgedanke wird zwar nicht aufgehoben, jedoch eindeutig der Frage nach dem Gesetzesgehorsam des einzelner. un~ergf'ordnet. Um sich jedoch den Hauptunterschie--d zu vergegenwärtigen, der die Argumentation des Sehers in 3,4-28 von der in 9,29-33 trennt, ist es notwendig, die Verse 9,31-33 mit 3,19-22 zu vergleichen. War in 3,19ff davon die Rede, daß das Gesetz als Folge der mit dem "bösen Herzen" verbundenen Sündenverfallenheit der Menschheit nicht in der Lage ist, Israel ,,Frucht" zu bringen" 9 , so gibt der Seher in 9,32b der Überzeugung Ausdruck, daß die ,,Frucht des Gesetzes" völlig unabhängig vom Verhalten der Menschen in diesem Äon existierti20. Diese Aussage setzt die dualistische ,,Zwei-Äonen-Lehre" voraus, wie sie primär in der Auseinandersetzung zwischen Esra und dem Engel innerhalb der Visionen I-11 entwickelt wurde. War der SeherEsrain 3,19ff noch davon überzeugt, daß die Gültigkeit der Verheißung mit dem Gesetzesgehorsam Israels steht und fällt, so besitzt diese nach 9,29ff auch dann ihre volle Gültigkeit, wenn in diesem Äon das Volk Israel den Forderungen der Tora nicht gerecht wird. Gottes Verheißung bezieht sich ausschließlich auf den zukünftigen Äon, geschichtlich kontingente Ereignisse sind nicht in der Lage, deren Gültigkeit und Wahrheit zu tangieren. War die ,,ZweiÄonen-Lehre" in der Lage, dem Seher Esra den Glauben an Gottes Gerechtigkeit und die Gültigkeit der Verheißung zurückzugeben, so macht sich dieser nun offensichtlich auch die von ihm in den bisherigen Gesprächsgängen heftig bekämpfte "ethische Weiterentwicklung" dieser Lehre, wie sie uns primär in der Argumentation des Engels in Visio III entgegentritt, zu eigen. Der Seher Esra beläßt in Visio IV den Verhängnisgedanken an dem Ort, der ihm in der Argumentation des Engels in Visio I und II zugewiesen wurde und erteilt seinen vor allem in Visio III unternommenen Versuchen, den Verhängnisgedanken gegen den Gesetzesgedanken zugunsten einer gesamtisraelitischen Heils-
117 Diese einseitige Konzentration des Sehers Esra auf eine gesamtisraelitische Perspektive bringt dieser in IV Esr 8,15f mit folgenden Worten zum Ausdruck: ,,Et nunc dicens dicam: Oe omni homine tu magis scis, de populo autem tuo quod mihi dolet, 16 et de hereditate tua propter quam lugeo, et de Israel propter quem tristis sum, et de semine lacob propter quod conturbor". 118 Siehe auch M. Vogel, Das Heil des Bundes, 157. 119 Siehe IV Esr 3,20: ,,Et non abstulisti ab eis cor malignum, ut faceret Iex tua in eis fructum". 120 Siehe IV Esr 9.32b: •.Et factum est fructum legis non periens; nec enim poterat, quoniam tuus erat".
Die Verbindung von ,.dialogischem" und ,.visionärem" Teil
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perspektive auszuspielen, eine endgültige Absage. Der Seher Esra schwenkt auf die Linie des Engels ein121 und sieht sich nun in der Lage, den Ungehorsam Israels gegenüber den Geboten der Tora als selbstverschuldete Tat zu akzeptieren. Diese selbstverschuldete Tat fallt zwar auf den einzelnen Täter zurück, hat jedoch fUr die Frage nach der Gültigkeit der Verheißung keinerlei Auswirkungen. Folgerichtig kann der Verfasser des 4. Esrabuches den dialogischen Teil seines Werkes (3,4-9,37) in 9,36f mit folgenden Worten des Sehers beschließen: "Wir, die wir das Gesetz empfangen haben, gehen, wenn wir sündigen, zugrunde samt unserem Herzen, das es aufgenommen hat. 37 Das Gesetz aber vergeht nicht, sondern bleibt in seiner Herrlichkeit" 122. Der Seher Esra vertritt somit am Ende des dialogischen Teils eine Position, die es ihm ennöglicht, gleichzeitig an der ewigen Gültigkeit des Gesetzes und der Verantwortlichkeit des einzelnen für sein Tun festzuhaltenm. Der Glaube an die ewige Gültigkeit der Tora ist als Frucht einer radikal dualistisch konzipierten ,,ZweiÄonen-Lehre" zu verstehen, während die Betonung der Eigenverantwortlichkeit als Folge der "ethischen Ausgestaltung" dieser Lehre anzusehen ist 124. Eine apokalyptische Theologie, die ganz im Banne der dualistischen ,,ZweiÄonen-Lehre" steht, wird nicht außer Kraft gesetzt 125, sondern weiterentwikkelt. Von dieser Position her ist es dem Seher Esra möglich, den Untergang Jerusalems als Gottes gerechtes Gericht zu akzeptieren und gleichzeitig, angesichts einer trotz aller gegenwärtigen Not hoffnungsfrohen Zukunft, die Rolle 12 1 Vgl.
W. Harnisch, Der Prophet als Widerpart, 478ff.
122 IV Esr 9,36f: ,,Nos quidem qui Iegern accepimus peccantes peribimus et cor nostrum
quod suscepit eam, 37 nam Iex non perit sed permanet in suo honore". 123 Im Gegensatz zu E. Brandenburger, Die Verborgenheit Gottes, 62f, vermag ich in den Versen 34-37 keinen letzten speziellen Einwand des Sehers Esra gegen die Position des Engels von Visio III zu sehen. Nach E. Brandenburger ahmt der Seher Esra an dieser Stelle die weisheitliehe Argumentation des Engels, wie sie uns an zahlreichen Stellen der vorausgegangenen Gesprächsgänge entgegengetreten ist, nach, um den Engel quasi mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Nach E. Brandenburgers Exegese hält der Seher Esra dem Engel in den Verse 34-37 entgegen, daß nach Gottes Schöpfungsordnung das gegenwärtige Gottesvolk, auch wenn es sündigt, nicht ins Verderben gestUrzt werden darf. Nimmt man den Zusammenhang der Verse 34-37 jedoch ernst, dann hätte diese Argumentation des Sehers als logische Konsequenz die Behauptung zur Folge, daß nach Gones Schöpfungsordnung nicht das sündige Volk Israel, wohl aber die Tora zugrunde gehen müsse. Mit dieser Behauptung, daß der Untergang von Gottes Gesetz und damit von Gottes Verheißung eine notwendige Folge der Schöpfungsordnung sei, würde der Seher Esra in jenen hoffnungslosen Zustand zurückfallen, von dem ihn schon die duaJistische ,,Zwei-Äonen-Lehre" in Visio I und ll befreite. Meines Erachtens begegnet uns bereits in 34-37 ein geläuterter Esra, der voll und ganz auf die Linie des Engels von Visio III eingeschwenkt ist; siehe auch W. Harnisch, Verhängnis und Verheißung, 230. 124 Der Verhängnisgedanke hat seinen ..Sitz im Leben" im Kontext der radikal dualistischen .Zwei-Äonen-Lehre" und darf nach Auffassung des Verfassers des 4. Esrabuches nicht in die "ethische Weiterentwicklung" dieser Lehre eingetragen werden. Gegen diesen Versuch, den der SeherEsrain erster Linie in Visio III unternimmt, wendet sich der Verfasser des 4. Esrabuches, indem er seine Position in Visio 111 vollständig mit der des Engels identifiziert. 12S Gegen E. Brandenburger, Verborgenheit Gottes, 88.
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des Trösters seines Volkes glänzend zu spielen. In dieserneuen Rolle begegnet uns der Seher Esra zum ersten Mal in der ,,Zionsvision", die an das Ende des dialogischen Teiles in 9,37 unmittelbar anschließt.
2.4.5.3 Die Zionsvision (Kap. 9,38-10,60) Esra wird in dieser Vision nochmals mit dem gegenwärtigen Geschick Jerusalems konfrontiert, das sich symbolisch hinter der Klage einer Frau um ihren einzigen Sohn verbirgt. War der Esra der Visionen I-m in höchstem Maße geneigt, selbst in die Klage über den Untergang Jerusalems einzustimmen und diese g&r in eii1e Anklage Gottes auszuweiten, so weist er nun jegliches in di~sc Richtung weisende Ansinnen entschieden zurück. Dies zeigt sich recht deutlich in seiner Antwort auf die Klagen der Frau, wenn er dieser in 10,15f erwidert: ,,Halte also nun deinen Schmerz bei dir selber zurück und trag das Unglück tapfer, das dir zustieß. 16 Wenn du nämlich dem Beschluß Gottes recht gibst, wirst du deinen Sohn zu seiner Zeit zurückerhalten und unter den Frauen gepriesen werden"t 26. Gottes Gericht über Jerusalem ist gerecht, das Gesetz ist nicht ohnmächtig, sondern es ist in Kraft und bleibt die entscheidende, weil die den zukünftigen Äon bestimmende Größe. Gottes Gerichtshandeln in diesem Äon ist nicht dessen letztes Wort über sein Volk, sondern jeder einzelne, der sich durch entschiedenen Taragehorsam als Gerechter qualifiziert, geht einer heilvollen Zukunft entgegen. Das zu erwartende Heil ist ein rein eschatologisches Gut und auf den zukünftigen Äon beschränkt. Eine Wende zum Heil innerhalb des gegenwärtigen Äons ist ausgeschlossen. Nach dieser Entwicklung Esras vom Ankläger Gottes zum Tröster seines Volkes wird Esra für würdig empfunden, die apokalyptischen Geheimnisse offenbart zu bekommen und diese seinem Volk mitzuteilen. In der Adlervision (11,1-12,40a) und der Vision vom Menschensohn (13,1-57) erhält Esra Aufschluß über das ,,Ende der Tage" und den "Schluß der Zeiten", ein Vorzug, der bisher nach Auffassung des Verfassers des 4. Esrabuches nur Abraham (3,14) und Mose (14,5) zuteil wurde. Der Seher Esra befindet sich mit diesen Autoritäten der Vergangenheit auf ein und derselben Linie. Folgerichtig sieht Kapitel 14 den Seher Esra ganz im Lichte der Mosetypologie und faßt die apokalyptischen Geheimnisse der Adler- und Menschensohnvision ausschließlich als Gesetzesinterpretation (14,50. Wenden wir uns jedoch zunächst diesen beiden großen Visionen innerhalb des 4. Esrabuches zu.
t26 IV Esr IO,I5f: ,,Nunc ergo retine apud temetipsam dolorem tuum et fortiter fer quae tibi contigeruni casus. 16 Si enim iustificaveris terminum Dei, et filium tuum recipies in tempore et in mulieribus conlaudaberis".
Der visionäre Teil des 4. Esrabuches
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2.4.6 Der visionäre Teil des 4. Esrabuches
2.4.6.1 Einleitende Bemerkungen zu Visio V (Kap. 11,1-12,40a) und VI (Kap. 13,1-57)
Herrschte Uber weite Strecken der neueren Forschungsgeschichte in der Frage nach der literarischen Integrität des 4. Esrabuches EinmUtigkeit 127, so verschaffen sich jedoch in allerletzter Zeit wieder vermehrt Stimmen Gehör, die mit Blick auf einige Partien des 4. Esrabuches literarkritische Operationen durchaus befUrworten. Neben Kapitel 14 werden vor allem die Adler- und Menschensohnvision immer wieder als sekundäre Zusätze gehandelt 128 • Die Versuche, die Adler- und Menschensohnvision als nicht zum ursprUngliehen Bestandteil des 4. Esrabuches gehörig zu erweisen, stUtzen sich sowohl auf formale als auch auf inhaltliche Beobachtungen 129• In bezugauf unser Thema verdient vor allem die Behauptung, daß die Eschatologie, die der Adler- und Menschensohnvision zugrunde liegt, sich von derjenigen der anderen Teile des 4. Esrabuches unterscheidet 130, unsere besondere Aufmerksamkeit. Nach U.B.MUIIer enthalten die Visionen V und VI eine messianisch geprägte, national-terristisch orientierte Eschatologie 13 1, die zu der dualistischen ,,ZweiÄonen-Lehre", wie sie fUr die Ubrigen Partien des 4. Esrabuches typisch ist, in Spannung steht. Hat sich in den Visionen I-IV nach langen Auseinandersetzungen zwischen dem Seher Esra und dem Engel die Überzeugung Bahn gebrochen, daß sich Gottes Heilserweise ausschließlich auf den zukUnftigen Äon und die kleine Schar der Gesetzestreuen beziehen, so hat es den Anschein, als ob die Adler- und Menschensohnvision wieder von einer innerweltlichen Hoffnung fUr Gesamtisrael zu berichten wissen. In einem ersten Arbeitsschritt wollen wir uns nun der Adlervision in 11,1-12,34 selbst zuwenden.
2.4.6.2 Die Adlervision (Kap. 11,1-12,34) Innerhalb der Adlervision läßt sich ein Visionsteil im engeren Sinn (11,1-12,3) klar von der Deutung dieses Visionsteiles (12,10-34) unterscheiden. Zwischen Vision und Deutung ist ein Gebet des Sehers Esra eingeschoben, das in der 127 Seit dem Verdikt H. Gunkels über Versuche, das 4. Esrabuch durch literarkritische Operationen in verschiedene Qullenschriften zu zerlegen, wurde dessen literarische Einheitlichkeit kaum noch in Zweifel gezogen. l28 So zuletzt W. Harnisch, Der Prophet als Widerpart, in: Apocalypticism, 469. W. Harnisch revidiert in dieser Schrift seine frühere Position, die von der literarischen Integrität des 4. Esrabuches ausgeht. Diese Position vertritt er in seiner Dissertation, W. Harnisch, Verhängnis und Verheißung. 129 Siehe W. Harnisch. Der Prophet als Widerpart, in: Apocalypticism, 465--483. l30 So vor allem U.B. Müller, Messias und Menschensohn, 83ff; 107ff; ferner O.H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick, 191 Anm.3; K.-H.Müller, Menschensohn und Messias, in: Studien, 298-307. 131 Siehe U.B. Müller, Messias und Menschensohn, 83ff; 107ff.
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Bitte um Einblick in das ,,Ende der Tage" und den "Schluß der Zeiten" gipfelt (12,9). Die Deutung der Vision wird demnach als Offenbarung über die Endzeit verstanden. Die Deutung der Vision findet ihren Abschluß in einer Aufforderung Gottes an Esra, die Offenbarung Gones niederzuschreiben und lediglich den "Weisen", jedoch nicht dem Volk Israel in seiner Gesamtheit mitzuteilen (12,370132. Der ganze Abschnitt mündet schließlich in eine Volksszene ein (12,40b-51), in der Esra der Befürchtung des Volkes, mit seiner Person auch den letzten Propheten zu verlieren, folgendermaßen entgegentritt: " Hab Mut, Israel, und sei nicht traurig, du Haus Jakob! 47 Denn beim Höchsten wird euer gedacht; der Gewaltige hat euch n!cht für immer vergessen" 133 . IP der Tat hllt es den Anschein, als würden diese Verse doch noch eine Hoffnung auf innerweltliches Heil für Gesamtisrael implizieren. Stehen diese Verse dann aber nicht in diametralem Gegensatz zu dem, was wir als Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen Esra und dem Engel innerhalb des dialogischen Teiles festgestellt haben? In eine ähnliche Richtung wie die Volksszene weisen auch die Adlervision und ihre Deutung. Im Zentrum von Vision und Deutung steht eindeutig die traditionelle Messiaserwartung. Dies geht aus der Deutung des Löwen in 12,3lf klar hervor. Dort lesen wir: ,,Der Löwe aber, den du gesehen hast, wie er aus dem Wald mit Gebrüll auffuhr, zum Adler sprach und ihm seine ungerechten Taten vorhielt durch alle jene Worte, wie du gehört hast, 32 das ist der Gesalbte, den der Höchste bis zum Ende der Tage aufbewahrt, der aus dem Samen Davids hervorgehen und kommen wird. Er wird mit ihnen reden, sie schelten wegen ihrer Frevel, ihnen ihre ungerechten Taten vorhalten und ihre Übertretungen vor Augen führen"l3 4 . Der Messias wird die Feinde Israels, die durch den Adler 13S symbolisiert werden, am Ende der Tage richten und anschließend vernichten. Nach dieser juridischen Aktion, von der 12,33 berichtet136, begegnet uns der Messias dann ganz in seiner klassischen Funktion als Befreier und Restitutor Israels. Heißt es doch in 12,34: "Mein übriggebliebenes 132 IV Esr 12,37f: "Scribe ergo omnia ista in libro quae vidisti et pones ea in loco abscondito. 38 Et docebis ea sapientes de populo tuo, quorum scis corda passe capere et servare secreta haec". 133 IV Esr l2,46f: ,,Et respondi ad eos et dixi: Confide, Israel, et noli tristari, tu domus Jacob. 47Est enim memoria vestri corarn Altissimo, et Fortis non est oblitus vestri in contentionc... IJ4 Die Übersetzung weicht in Vers 32 von der lateinischen Fassung ab und folgt der syrischen, äthiopischen und den beiden arabischen Übersetzungen; siehe hierzu J. Schreiner, Das 4. Buch Esra, 391 Anm.32b. Die lateinische Version von IV Esr 12,31f lautet in der von A.F.J. Klijn hergestellten Textfassung: ,,Et leonem quem vidisti de silva evigilantem et mugientem et loquentem ad aquilarn et arguentem eam iniustitias ipsius et omnes sermones eius, sicut audisti, 32 bis est unctus, quem reservavit Altissimus in finem ... ad eos et impietates ipsorum arguet illos de iniustitiis ipsorum et infulciet corarn ipsis spretiones eorum". 135 Hinter dem Symbol des Adlers verbirgt sich wohl in erster Linie die heidnisch römische Militlnnacht. IJ6 IV Esr 12,33: ..Statuet enim eos primum in iudicium vivos, et erit cum arguerit eos, tune corrumpet eos".
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Volk aber, diejenigen, die in meinem Land gerettet wurden, wird er gnädig befreien. Er wird ihnen Freude bereiten, bis das Ende, der Tag des Gerichts kommt, über den ich am Anfang mit dir gesprochen habe" 137• Diese Verse bewegen sich zweifellos in den Bahnen einer national-jüdischen Eschatologie und verheißen dem Volke Israel eine neue Zeit innerweltlichen Heils. Trotzdem kann diese Stelle auf keinen Fall als Zeugnis einer traditionell jüdischen Messiaserwartung gegen die dualistische ,,Zwei-Äonen-Lehre", wie sie dem Dialogteil des 4. Esrabuches zugrunde liegt, ausgespielt werdeni3B. Im Gegensatz zur traditionellen jüdischen Messianologie ist diese .,messianische Heilsperiode" nicht Gottes letztes Wort. Der messianische Heilszustand ist nach 12,34b ausdrücklich bis zum "Tag des Gerichtes" befristet. Die alles entscheidende Größe ist und bleibt das Endgericht, in dem sich alle Menschen vor Gott aufgrund ihrer Taten verantworten müssen. Folglich wird sich auch nicht das Volk Israel in seiner Gesamtheit, sondern lediglich die kleine Zahl von Gerechten für den Heilsempfang im zukünftigen Äon qualifizieren. Die national-jüdische Eschatologie wird durch den Autor des 4. Esrabuches in sein Konzept eingeordnet. Sie bleibt als Beschreibung eines bloßen Zwischenzustands der universalen Eschatologie des Zwei-Äonen-Schemas eindeutig untergeordnet. Wenn wir beachten, in welch hohem Maße gerade in apokalyptischen Texten unterschiedliche Traditionen miteinander verbunden werden, ist die Tatsache einer Spannung zwischen verschiedenen eschatologischen Vorstellungen noch lange kein Indiz, das literarkritische Operationen rechtfertigen könnte. Das gleiche gilt meines Erachtens auch für die Menschensohnvision, der wir uns nun zuwenden wollen.
2.4.6.3 Die Menschensohnvision (Kap. 13,1-57) Der Aufbau der Menschensohnvision gestaltet sich analog zu dem der Adlervision. So läßt sich auch innerhalb der Menschensohnvision ein Visionsteil im engeren Sinne (13,1-13) klar von dessen Deutung unterscheiden (13,21-49). Zwischen diesen beiden Teilen ist wiederum ein Gebet des Sehers eingeschoben, in dem dieser Gott um eine Deutung der Vision bittet (13,14-20). Kommt es nach der Deutung der Adlervision zu einer Auseinandersetzung zwischen Esra und dem Volk, so folgt auf die Deutung der Menschensohnvision ein kurzer Dialog zwischen dem Seher und Gott, in dessen Verlauf nochmals ausdrücklich betont wird, aus welchem Grunde gerade der Seher Esra als würdig empfunden wurde, Einblick in die apokalyptischen Geheimnisse zu erhalten (13,51-57).
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IV Esr 12,34: ,,Nam residuum populum meum liberabit cum misericordia, qui salvati sunt super fines meos, et iocundabit eos, quoadusque veniat finis, dies iudicii, de quo Jocutus sum tibi ab initio". 138 Gegen U.B. MUller, Messias und Menschensohn, 83ff.
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Die Vision selbst berichtet in 13,1-13 von einer "menschlichen Gestalt" 139 (13,3), die, nachdem sie eine kriegerische Menge von Menschen vernichtet hat (13,5-11), eine friedliche Menge um sich versammelt. Diese friedliche Menge fUhrt die "menschliche Gestalt" allem Anschein nach einer heilvollen Zukunft entgegen (13,12-13). Es kann überhaupt kein Zweifel bestehen, daß die "menschliche Gestalt", von der Vers 3 redet 140, in den Überlieferungskreis um den Menschensohn, wie er uns aus Dan 7,13f und den Bilderreden des äthiopischen Henochbuches bekannt ist, gehört 141 • Besonders die Analogie zwischen 13,3 und Dan 7,13 liegt klar auf der Hand' 42. In IV Esr 13 ist die ,,menschliche Gestalt" analog zu den Bilderreden de-; äthiopischen Henochhuches eine individuelle Gestalt. Ein korporatives Verständnis liegt hier nicht vor. Daneben werden jedoch bereits innerhalb des Visionsteils (13,1-13) ZUge auf den ,,Menschensohn" übertragen, die offensichtlich aus dem jüdisch-messianischen Überlieferungskreis stammen' 43. In diesem Zusammenhang ist vor allem die Tatsache von Interesse, daß der ,,Menschensohn" der kriegerischen Menge, die gegen ihn heranstUrmt, nicht mit Gewalt entgegentritt, sondern diese lediglich durch einen seinen Lippen entströmenden Feuerhauch vernichtet. In 13,9f wird dies mit folgenden Worten ausgedrUckt: "Und siehe, als er den Ansturm der herankommenden Menge sah, erhob er seine Hand nicht und griff weder zum Schwert noch zu einer anderen Waffe, sondern ich sah nur, 10 wie er aus seinem Mund etwas wie Feuerwogen und von seinen Lippen einen Flammenhauch aussandte; von seiner Zunge sandte er einen Sturm von Funken aus. Alle diese vermischten sich miteinander: die Feuerwogen, der Flammenhauch und der gewaltige Sturm"' 44 • Erinnert doch gerade diese Stelle sehr stark an die Schilderung des Davidsohnes in PsSal 17,33 und 35a' 4s. Doch wird die Menschensohnvorstellung im Verlauf der Deutung der Vision wirklich in solch starkem Maße von der national-jüdischen Messiasvorstellung überlagert, wie
' 39 Wörtlich steht für ,,menschliche Gestalt" die Wendung ,.quasi similitudinem hominis". 140 Zwar wird an dieser Stelle analog zu Dan 7,13f nur im Vergleich und damit quasi
"bildlich" vom ,,Menschen" gesprochen, doch ändert dies wohl nichts an der Tatsache, daß es sich um eine feste Größe handelt. Die Tatsache, daß es sich hier um die Bezeichnung eines bestimmten himmlischen Wesens handelt, kann wohl schwerlich bestritten werden. Lediglich der titulare Gebrauch dieser Wendung ist problematisch; vgl. F. Hahn, Christologische Hoheitstitel, 16f. 141 So z. 8. K.-H. Müller, Menschensohn und Messias, in: Studien, 300. 142 Das Motiv, daß der ,,Menschensohn" mit den "Wolken des Himmel" fliegt, findet sich sowohl in IV Esr 13,3a als auch in Dan 7,13. 143 Siehe hierzu K.-H. Müller, Menschensohn und Messias, in: Studien, 300f. 144 IV Esr 13,9f: ,,Et ecce ut vidit impetum multitudinis venientis, non levavit manum suam neque frameam tenebat neque aliquod vas bellicosum, nisi solummodo vidi, 10 quomodo emittit de ore suo sicut fluctum ignis, et de labiis eius spiritum flammae, et de lingua eius emittebat scintillas tempestatis. Et commixta sunt simul omnia haec, fluctus ignis et spiritus flammae et multitudo tempestatis". 145 Vgl. K.-H. Müller, Menschensohn und Messias, in: Studien, 301.
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weithin angenommen wirdl46? Betrachten wir die Deutung der Menschensohnvision (13,21.49) etwas näher, so sperrt sich bereits 13,26 einer vorschnellen Identifikation von Menschensohn und Messias. Wird in diesem Vers die "menschliche Gestalt" von 13,3 doch folgendermaßen gedeutet: ,,Das ist jener, den der Höchste lange Zeit aufbewahrt, durch den er seine Schöpfung erlösen will; er wird die Übriggebliebenen ordnen"1 47. Dieser Stelle liegt eindeutig die Vorstellung einer Präexistenz des ,,Menschensohnes" zugrunde, die sich so für den Messias in ftilhjüdischen Quellen nicht nachweisen läßt. Erst gegen Ende der tannaitischen Periode taucht auch im rabbinischen Judentum die Vorstellung eines präexistenten Messias auf. Betrachten wir die übrigen Stellen innerhalb der Deutung der Menschensohnvision, die sich direkt mit der ,,menschlichen Gestalt" beschäftigen, so wird diese in 13,32 und 13,37 nach der lateinischen, syrischen und sahidischen Überlieferung als "mein Sohn" (filius meus) bezeichnet. Diese Bezeichnung kann, muß sich aber nicht automatisch auf den Messias beziehen 148 . Lediglich die arabische Überlieferung, die an dieser Stelle "mein Knecht" liest, kommt einer Gleichsetzung von Menschensohn und Messias bedeutend näher. Richten wir unser Augenmerk nun auf inhaltliche Merkmale, die immer wieder für die These einer Überlagerung der Menschensohnvorstellung durch die Messiasvorstellung angeführt werden, so verdient vor allem die Deutung von 13,9f in 13,37f unsere besondere Aufmerksamkeit. Dort heißt es: ,,Er aber, mein Sohn, wird die Völker, die gekommen sind, und die dem Stunn gleichen, wegen ihrer Sünden zurechtweisen und ihnen ihre bösen Machenschaften vorhalten und die Qualen, mit denen sie gequält werden sollen (, ankündigen); 38 diese gleichen der Flamme. Und er wird sie mUhelos vernichten durch das Gesetz, das dem Feuer gleicht"1 49. Der ,,Messias", von dem hier die Rede ist, ist gerade nicht der kriegerische Restitutor des Staates Israel, sondern eine eschatologische Richtergestalt, wie wir sie von der Menschensohnüberlieferung her kennen. Von einer "Überfremdung" der Menschensohnvorstellung ist meines Erachtensan dieser Stelle nichts zu erkennen. Der Maßstab für die Vernichtung der Heiden ist einzig und allein deren Stellung gegenüber den Geboten der Tora. Die alttestamentliche Erwartung vom Völkersturm wird dergestalt variiert, daß die Heiden durch die Tora als Sünder entlarvt und aufgrund ihrer Vergehen gegen die Tora gerichtet werden. Der ,,Menschensohn" ist derjenige, der den Urteilsspruch der Tora ausführt. Der Ungehorsam 146 Siehe K.-H.Müller, Menschensohn und Messias, in: Studien, 301-306. IV Esr 13,26: ..ipse est quern conservat Altissirnus rnultis ternporibus, qui per sernetipsum liberabit creaturam suam et ipse disponet qui derelicti sunr•. l48 Hinter der Bezeichnung ..filius rneus" verbirgt sich wohl ein ursprüngliches .,,:J:s7; siehe 8. Violet, Die Apokalypsen des Esra und des Baruch, 74f. 149 IV Esr 13,37f: .Jpse autern filius rneus arguet quae advenerunt gentern impietates corum, has quae ternpestati adpropriaverunt, et inproperabit coram eis rnala cogitamenta eorum et cruciamenta quibus incipient cruciari, 38 quae adsirnilatae sunt flamrnae, et perdet eos sine Iabore et Iegern quae igni adsirnilata est". 147
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der Heiden gegenüber den Geboten der Tora und nicht die Tatsache, daß sie keine Juden sind, ist für deren Untergang verantwortlich. Das Urteil erfolgt nicht nach ethnischen, sondern ausschließlich nach ethischen Kriterien. Diesen Überlegungen liegt zweifelsohne ein weitgefaSter Torabegriff, wie er sich aus der engen Verbindung zwischen Gesetz und Weisheit, wie sie sich gerade im 4. Esrabuch feststellen läßt 150, zugrunde. Die als Gerichtsnorm gedachte Tora ist das Weltgesetz, dem Juden wie Heiden gleichermaßen unterstehen. Die Tora ist jedem vernunftbegabten Wesen einsichtig und kann deshalb von jedem Menschen erfüllt werden. Der Bundesgedanke tritt gegenüber diesem universaHsierlen Taraverständnis ins zweite Glied zurück. Das Gesetz gilt gerade nicht als Dokument der Erwählung, das das ,,Bleiben im erwählten Volk" verbürgt151, sondern es ist die Norm, die über Heil und Unheil des Menschen im Eschaton entscheidet15 2• Das Gesetz verlangt ein bestimmtes Tun und dieses "Tun" ist die alles entscheidende Größe153. Dem Volk Israel kommt allein aufgeund seiner Zugehörigkeit zum Bund noch keine Sonderstellung gegenüber den Heiden zu. Dies zeigt sich darin, daß aus dem Volk Israellediglich diejenigen gerettet werden, die den Geboten der Tora unbedingten Gehorsam entgegenbringen. Die Erwählung konkretisiert sich in der kleinen Schar von Gesetzestreuen154. So heißt es in 13, 4lf von denjenigen, die am Ende gerettet werden: "Sie selber aber faßten den Plan, die Menge der Völker zu verlassen und in ein noch mehr im Innern gelegenes Land zu ziehen, wo bisher niemals das Menschengeschlecht gewohnt hatte, 42 um wenigstens dort ihre Gesetze zu halten, die sie in ihrem Land nicht gehalten hatten"lss. Einzig der Toragehorsam entscheidet über zukünftiges Heil oder Unheil. Mögen auf die Gestalt des "Sohnes" in der Deutung der Menschensohnvision auch Züge des irdischISO Siehe H. v.Lips, Weisheitliehe Traditionen, 82f; ferner E.J. Schnabel, Law and Wisdom,
149ff.
151 GegenD. Rössler, Gesetz und Geschichte, 102. 152 Siehe Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 93. 15 3 Die von D. Rössler zur Unterstützung seiner These vom Gesetz als Dokument der Erwählung immer wieder angeführte Beobachtung, daß in apokalyptischen Texten konkrete Einzelforderungen der Tora kaum jemals erwähnt werden, darf nicht in der Weise mißverstanden werden, daß die Apokalyptik an den Einzelgeboten nicht interessiert ist. Im 4. Esrabuch, wie auch in anderen apokalyptischen Schriften entscheidet sich die ethische Frage gerade nicht an einzelnen Ge- und Verboten, sondern es geht immer um die ..grundsätzlichen Fragen des Gesetzesgehorsams und dessen eschatologische Relevanz". Geht es immer um die .,Sinnhaftigkeit des Gesetzesgehorsams überhaupt", so braucht es nicht zu verwundern, daß sich die Auseinandersetzungen nicht auf der kasuistischen Ebene abspielen. Nicht die Fragen marterieller Ethik, d.h. die Realisierung gewisser Gebote, sondern grundsätzliche Erörterungen Uber den Gesetzesgehorsam an sich und dessen Bedeutung fUr das Ergehen im Eschaton stehen im Mittelpunkt des Interesses; siehe auch Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 93. 154 Siehe auch IV Esr 7,132ff; 7,45ff. ISS IV Esr 13,4lf: .Jpsi autem sibi dederunt consilium hoc, ut derelinquerent multitudinem gentium, et proficiscerentur in ulteriorem regionem, ubi nunquam inhabitavit ibi genus humanum, 42 ut vel ibi observarent legitima sua, quae non fuerant servantes in regione sua".
Das Schlußkapitel des 4. Esrabuches: Visio Vß (Kap. 14,1-47)
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nationalen Messias übertragen worden sein, im Kern bleibt jedoch eine universalistische, nur an der Frage nach dem Tun der Tora orientierte Eschatologie erhalten, die in voller Hannonie zu der das 4. Esrabuch als Ganzes bestimmenden ,,Zwei-Äonen-Eschatologie" steht. Da auch die Vision selbst, wie wir bereits gesehen haben, in ihrer Eschatologie nicht völlig von der Messiasvorstellung überlagert wurde, besteht meines Erachtens nicht der geringste inhaltliche Grund, die Menschensohnvision und deren Deutung aus dem ursprünglichen Textbestand des 4. Esrabuches auszuscheiden156. Wenden wir uns nun noch kurz dem Dialog zwischen dem Seher Esra und Gott am Ende der Menschensohnvision zu, so begrUndet Gott in 13,54f seine Entscheidung, Esra das apokalyptische Geheimwissen über das Ende der Tage zu offenbaren, mit folgenden Worten: ,,Denn du hast das Deinige verlassen, dich dem Meinigen gewidmet und mein Gesetz erforscht. 55 Du hast dein Leben auf die Weisheit ausgerichtet und die Einsicht deine Mutter genannt" 157 • Ein Leben gemäß der mit der Weisheit identifizierten Tora158 ist demnach die Voraussetzung für die Offenbarung apokalyptischer Geheimnisse. Die Weisheit wird somit an dieser Stelle im Gegensatz zu anderen apokalyptischen Zusammenhängen 159 gerade nicht als Gegenstand der Offenbarung verstanden, sondern sie geht dieser eindeutig voraus 160. Die offenbarten Geheimnisse fUhren kein unabhängiges Dasein, sondern sie werden an die mit der Weisheit identifizierte jüdische Tora zurUckgebunden. Die apokalyptische Tradition wird hier ganz bewußt als Gesetzestradition dargestellt, wobei die Identifikation zwischen Gesetz und Weisheit dafür sorgt, daß uns die jüdische Tora von nationalen Fesseln befreit als universales Weltgesetz entgegentritt. Diese enge Verbindung von apokalyptischer Tradition und einem universalen Gesetzesverständnis wird dann im letzten Kapitel des 4. Esrabuches, dem wir uns nun zuwenden wollen, noch breiter entfaltet werden. 2.4.7 Das Schlußkapitel des 4. Esrabuches: Visio VII (Kap. 14,1-47) Nicht nur die Adler- und Menschensohnvision, sondern auch das Schlußkapitel des 4. Esrabuches wurde in neuester Zeit wieder Opfer von literarkritischen Spekulationen, mit dem Ziel, die gesamte Visio VII als sekundärer Zusatz aus dem ursprUngliehen Textbestand des 4. Esrabuches auszuscheiden161. Diese 156 Gegen W. Harnisch, Der Prophet als Widerpart, in: Apocalypticism, 469. 157 IV Esr 13,54f: ,,Dereliquisti enim tua el circa mea vacasti ellegern meam exquisisli. 55 Vitam enim tuam disposuisti in sapientiam, et sensum tuum vocasti matrem". 158 ,,Lex", ..sapientia" und .,sensus" werden in diesen beiden Versen völlig parallel verwendet, so daß jeder dieser Begriffe an die Stelle des anderen treten kann. 159 Es sei in diesem Zusammenhang vor allem auf das Buch Daniel und Teile des äthiopischen Henochbuches verwiesen. 160 Siehe H. v.Lips. Weisheitliehe Traditionen, 169. 161 Siehe E.P. Sanders, Paulus und das Palistinische Judentum, 394f.
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Das 4. Esrabuch
Spekulationen lassen sich anhand der Vielzahl von direkten und indirekten Beziehungen zwischen Visio Vß und den anderen Kapiteln des 4. Esrabuches leicht widerlegen. Von den •.indirekten" Beziehungen, eine Bezeichnung, hinter der sich gleiche Motive und Sachbezüge verbergen, soll lediglich auf Motive der Äonenlehre verwiesen werden (z.B. 14,10.16), die auf 4,26 und 5,50-55 zurückweisen. Direkte Bezüge liegen zwischen 14,2la und 4,23 162, aber auch zwischen 14,5f und 10,38 bzw. 12,38 vori6J. An der ursprungliehen Zugehörigkeit von Visio Vß zum Gesamtwerk kann meines Erachtens überhaupt kein Zweifel bestehenl64. Wenden wir uns nun der letzten Vision im einzelnen zu, so wird der Seher Esra schon zu Beginn von Visio Vß ganz in den Farben eines zweiten Mose gezeichnet. Charakteristika der Mosetypologie wie z.B. die Stimme Gottes an Mose aus dem Dombusch werden auf Esra übertragen (14,2). Alle apokalyptischen Geheimnisse, die Gott im Verlauf des 4. Esrabuches dem Seher Esra offenbarte, hatte Gott bereits Mose am Sinai zusammen mit der Verpflichtung, diese nicht zu veröffentlichen, mitgeteilt. Die apokalyptische Tradition wird demnach als Teil der Sinaitora verstanden. Dieser Zusammenhang wird in 14,4-6 mit folgenden Worten zum Ausdruck gebracht: ,,Ich sandte ihn, führte mein Volk aus Ägypten heraus und brachte es zum Berg Sinai. Ich behielt ihn bei mir viele Tage lang, 5 teilte ihm viele wunderbare Dinge mit und zeigte ihm die Geheimnisse der Zeiten und das Ende der Zeiten. Ich habe ihm befohlen und gesagt: 6 Diese Worte sollst du veröffentlichen und jene geheimhalten"l6s. Das apokalyptische Geheimwissen, rückgekoppelt an die Person des Mose, ist kein selbständiges Spezialwissen, sondern Teil der Sinaitora. Die apokalyptische Tradition versteht sich bewußt als Gesetzestradition, als legitime Ausiegung der Torcl. Dieser Zusammenhang von apokalyptischer Tradition und Tora, der in den Anfängen der Geschichte Israels gründet, wird durch die Identifikation von Esra mit Mose für die Zukunft erneut zur Geltung gebracht. Der Seher Esra erneuert für die Zeit nach der geschichtlichen Katastrophe des Jahres 70 n.Chr. die Torades Mose in ihren beiden Bestandteilen, dem "öffentlichen" und dem "geheimen". Heißt es doch in 14,2lf: "Weil dein Gesetz verbrannt ist, weiß niemand, was von dir getan wurde, noch welche Taten geschehen sollen. 22 Wenn ich also vor dir Gnade gefunden habe, schicke in mich hinein den heiligen Geist. Dann will ich alles, was in der Welt von Anfang an 162 War in 4,23 vom Verbrennen der Tora die Rede, so greift der Verfasser des 4. Esrabuches diesen Gedanken in 14,21 offensichtlich bewußt wieder auf, um das letzte Kapitel fest mit dem Anfang zu verbinden. 163 Hier wie dort ist von den offenbarten "Geheimnissen" die Rede. 164 Siehe hierzu vor allem E. Brandenburger, Die Verborgenheit Gottes im Weltgeschehen, 132-139. 16S IV Esr 14,4-6: •.Et misi eum et eduxi populum meum de Aegypto, et adduxi eum super montem Sina et detenebam eum apud me diebus multis, 5 et enarravi ei mirabilia multa, et ostendi ei temporum secreta et temporum finem. Et praecepi ei dicens: 6 Haec in paJam facies verba et haec abscondes".
Das Schlußkapitel des 4. Esrabuches: Visio Vll (Kap. 14,1-47)
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geschehen ist, was in deinem Gesetz geschrieben war, niederschreiben, damit die Menschen den Weg finden können und die, welche leben wollen, in der Endzeit das Leben erlangen"l66. War bereits zur Zeit des Mose die apokalyptische Gesetzesauslegung die einzig gültige, so hat sich daran bis in die Gegenwart nichts geändert. Da nach dem 4. Esrabuch im Zentrum apokalyptischer Gesetzesinterpretation die ,,Zwei-Äonen-Lehre" steht, vermögen geschichtlich kontingente Ereignisse die Gültigkeit der Tora nicht zu tangieren. Die Gebote der Tora, die das gesamte Weltwissen enthalten, bleiben weiterhin in Kraft und regeln den Zugang zum Heil, das jedoch ausschließlich vom zukünftigen Äon her erwartet wird. Die freie Verantwortlichkeit des einzelnen fUr sein Tun bleibt gewahrt. Der von der Weltwirklichkeit desavouierte Tun-ErgehenZusammenhang bleibt mit Blick auf den zukünftigen Äon in Kraft. Diese Erkenntnisse bleiben jedoch dem Apokalyptiker vorbehalten. Aufgrund dieser der apokalyptischen Gesetzesauslegung entsprungenen Erkenntnisse, sieht sich der Verfasser des 4. Esrabuches in der Lage, die in seinen Tagen kraftlos gewordene deuteronomisch-deuteronomistische Geschichts- und Gesetzestheologie zu erneuern 167 . Folglich gestaltet er den Schlußteil von Visio VII und damit das Ende des 4. Esrabuches ganz in deuteronomistischem Geist. So findet sich in 14,28-36 erneut ein Geschichtsabriß, der sich ganz in deuteronomistischen Bahnen bewegt. Die geschichtliche Katastrophe Israels im Jahre 70 n.Chr. wird als Gottes gerechte Strafe für den Ungehorsam des Volkes gegenüber den Geboten der Tora verstanden. Dies ist jedoch nicht Gottes letztes Wort. Die Verse 14,34f wissen durchaus von einer hoffnungsvollen Zukunft zu berichten. Dort heißt es: .,Wenn ihr also euren Sinn beherrscht und euer Herz in Zucht nehmt, werdet ihr am Leben erhalten werden und nach dem Tod Erbarmen erlangen. 35 Denn das Gericht wird nach dem Tod kommen, wenn wir wieder zum Leben gelangen. Dann werden die Namen der Gerechten offenbar und die Taten der Sünder sichtbar werden"l68. Die alttestamentliche Deuteronomistik begegnet uns an dieser Stelle in apokalyptisch transformierter Gestalt. Das Heil ist nun ganz auf das einzelne Individuum und den zukünftigen Äon beschränkt. Eine innergeschichtliche Wende zum Besseren ist ausgeschlossen. Den Zugang zum Heil regelt ausschließlich die durch Identifikation mit der Weisheit universalisierte Tora, die von allen nationalistischen Fesseln befreit ist. Der universale Gegensatz zwischen Gerechten und SUndern ist an die Stelle des partikula166 IV Esr l4,2lf: ,.quoniam Iex tua incensa est, proper quod nemo seit quac a te facta sunt vel quae incipient opera. 22 Si enim inveni gratiam coram te, inmitte in me spiritum sanctum, et scribam omne quod factum est in saeculo ab initio, quac erant in lege tua scripta, ut possint homines invenire semitam, et qui voluerint vivere in novissimis vivant". 167 Siehe W. Harnisch. Der Prophet als Widerpart. in: Apocalypticism, 485. 168 IV Esr 14.34f: ..Si ergo imperaveritis sensui vestro et erudieritis cor vestrwn, vivi conservati estis et post mortem misericordiam consequemini. 35 ludicium enim post mortem veniet, quando iterum reviviscemus, et tune iustorum nomina parebunt et impiorum facta ostendentur".
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Das 4. Esrabuch
ristischen Gegensatzes von Juden und Heiden getreten. Das Heil im zukünftigen Äon steht jedem Menschen gleich welcher Herkunft offen, der bereit ist, den Geboten der Tora unbedingten Gehorsam zu leisten. Der Verfasser des 4. Esrabuches versucht, die deuteronomisch- deuteronomistische Geschiehtsund Gesetzestheologie auf zwei Wegen zu retten. Zum einen "wiederholt er den Anspruch des Gesetzes im neu konzipierten Rahmen einer dualistischen Zeitlehre"l69, zum anderen versieht er diesen Entwurf "mit der Autorität von Offenbarung" 170. Den Abschluß des 4. Esrabuches bildet eine Aufforderung an den Seher, "a!le Bücher" niederzuschreiben (14,42f0. Es ist ir. diesem Zusammenhang von 94 BUchern die Rede, wobei 24 für die Öffentlichkeit bestimmt sind, während 70 geheimgehalten werden sollen. Auch an dieser Stelle werden die apokalyptischen Geheimlehren aufs engste mit dem jüdischen Gesetz, das sich zweifelsohne hinter den 24 BUchern verbirgt1 7 1, verbunden. Die apokalyptische Tradition wird nochmals ausdrUcklieh als Gesetzestradition bestimmt. 2.4.8 Zusammenfassung Das 4. Esrabuch ist meines Erachtens als Versuch zu verstehen, das durch die nationale Katastrophe Israels im Jahre 70 n. Chr. stark erschütterte Vertrauen in die deuteronomistische Geschichts- und Gesetzestheologie zu erneuern. Auf dem Weg zu diesem Ziellassen sich verschiedene Etappen unterscheiden. Zunächst galt es, den Glauben an Gottes Gerechtigkeit und die Gültigkeit seiner Verheißung zu sichern. Diese Aufgabe wurde mit Hilfe der dualistischen ,,Zwei-Äonen-Lehre" gelöst. Die mit der Gabe der Tora verbundene Verheißung Gottes bezieht sich ausschließlich auf den zukünftigen Äon, geschichtlich kontingente Ereignisse vermögen sie nicht zu tangieren. Selbst eine geschichtliche Katastrophe wie die Zerstörung Jerusalems und des Tempels hat keine Auswirkung auf die Gültigkeit der Verheißung. Einzig im Kontext dieser dualistischen ,,Zwei-Äonen-Lehre" hat für den Verfasser des 4. Esrabuches auch der Gedanke einer radikalen SUndenverfallenheil des gegenwärtigen Äons seine Berechtigung. War die schroffe ,,Zwei-Äonen-Lehre" bestens geeignet, das Vertrauen in die Gültigkeit von Gottes Heilszusage zu festigen, so mußte die einseitige Betonung der Irrelevanz geschichtlichen Geschehens verheerende Auswirkungen für das menschliche Miteinander nach sich ziehen. SUndenverfallenheil auf der einen und damit verbunden die Hoffnung auf einen Heilsuniversalismus auf der anderen Seite sind nicht in der Lage, zu verantwortlichem Handeln in der Gegenwart zu motivieren. Die ,,Zwei-Äonen-Lehre" drängte geradezu zu einer Weiterentwicklung, um der Gefahr völliger ethischer Indifferenz in der Gegenwart zu entgehen. Die mit dem Gedanken der SUndenverfal169 So W. Harnisch. Der Prophet als Widerpart, in: Apocalypticism. 485. 170 Siehe O.H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick, 179. 171 Nach talmudischer Zählung besteht das AT aus 24 Büchern.
Zusammenfassung
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lenheit und der Hoffnung auf Gottes endzeitliches Heilshandeln verbundene ,,Zwei-Äonen-Lehre" wird folgerichtig durch eine die Verantwortlichkeit des einzelnen betonende, radikal individualistische Gesetzestheologie ergänzt. Das mit der Bezeichnung "paradox" verbundene Problem, daß gleichzeitig zwei sich grundsätzlich widersprechende Konzeptionen miteinander verbunden werden, wird vom Verfasser des 4. Esrabuches offensichtlich nicht als ein solches empfunden. Mit Blick auf das endzeitliche Heil verzichtet die individualistische Gesetzestheologie bewußt auf eine gesamtisraelitische Perspektive. Lediglich einzelne Gerechte, die sich durch ihren unbedingten Gehorsam gegenüber den Geboten der Tora bewährt haben, werden des zukünftigen Heils teilhaftig sein. Die Willensfreiheit des einzelnen Individuums ist nicht eingeschränkt. Aufgrund einer Identifikation von Tora und Weisheit ist jeder Mensch in der Lage, das Gesetz zu erfüllen. Die apokalyptischen Geheimlehren werden an die Tora zurückgebunden. Das Phänomen einer Historisierung der Offenbarung ist auch hier mit Händen zu greifen. Die alttestamentliche Deuteronomistik wird im 4. Esrabuch somit unter dem Eindruck der geschichtlichen Katastrophe des Jahres 70 n. Chr. in zweifacher Hinsicht verändert. Zum einen erfährt die deuteronomistische Geschichtsbetrachtung durch das Konzept der ,,Zwei-Äonen-Lehre" eine radikale Eschatologisierung, zum anderen wird der deuteronomistische Gesetzesbegriff deutlich von seiner alttestamentlichen Verankerung im "Volksgedanken" gelöst und einer Individualisierung unterzogen. ,.Eschatologisierung" und ,,Individualisierung" des Gesetzesgedankens, wie sie uns im 4. Buch Esra entgegentreten, können als das Ende eines Weges beschrieben werden, der bereits im Alten Testament beschritten wurde.
2.5 Die syrische Baruchapokalypse 2.5.1 Einführung
2.5.1.1 Das Verhältnis der syrischen Baruchapokalypse zum 4. Buch Esra Wer auch immer sich mit der syrischen Baruchapokalypse beschäftigt, kann die enge Vetwandtschaft, die zwischen dieser und dem 4. Buch Esra besteht, schwerlich leugnen. Beide Apokalypsen stammen "aus der gleichen Zeit und dem nämlichen gei~tigen Milieu" 1• Die Probleme, die verhandelt werden, sind eng vetwandt2. Ob jedoch die Tatsache, daß sich eine Fülle von "Übereinstimmungen im Aufbau und im Detail"3 dieser beiden Apokalypsen feststellen lassen, dazu ausreicht, eine gegenseitige literarische Abhängigkeit zu postulieren, ist meines Erachtens immer noch nicht ausreichend geklärt. Gibt es doch neben den Übereinstimmungen auch große formale und inhaltliche Differenzen zwischen diesen Schriften, die dem Postulat einer literarischen Abhängigkeit geradezu widersprechen". Sollte man aus diesem Grunde die Vorstellung einer direkten literarischen Abhängigkeit nicht eher zugunsten der Annahme apokalyptischer Traditionskomplexe, die in beide Schriften Eingang gefunden haben, aufgebenS? Dieses Erklärungsmuster hat den großen Vorteil, daß es in der Lage ist, sowohl die starken Übereinstimmungen, als auch die großen Differenzen zwischen der syrischen Baruchapokalypse und dem 4. Buch Esra einsichtig zu machen. Wie dem auch sei, die syrische Baruchapokalypse soll in den folgenden Zeilen als eigenständige Schrift ernst genommen werden und soweit möglich unabhängig von ihren "vetwandtschaftlichen Beziehungen" zum 4. Esrabuch Gegenstand der Untersuchung sein. Doch auch dann, wenn keine direkte literarische Abhängigkeit zwischen beiden Schriften vorliegt, können wir nicht umhin, die Frage, welcher von beiden Schriften die zeitliche Priorität zukommt, ausführlich zu thematisieren. In diesem Zusammenhang werden sowohl inhaltliche als auch formale Grtlnde immer wieder für die Priorität des 4. Esrabuches ins Feld geführt. Rein formal erscheint das 4. Esrabuch zwar erheblich besser durchstrukturiert, als dies für die syrische Baruchapokalypse der Fall ist6, doch läßt sich auch bei dieser ein durchdachter Aufbau erkennen. Mag dem Dialogstil innerhalb des 4. Buches Esra auch eine für die Theologie des Verfassers weit spezifischere Rolle zukommen, als wir es von der syrischen I
So J. Schreiner, Das 4. Buch Esra, 300; so auch W. Harnisch, Verhängnis und Verheißung,
72. 2 Siehe E. Brandenburger, Adam, 36. 3 So A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 113. 4
Siehe Charles, Eschatology, 337, Anm. I.
S So auch A. F. J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 113. 6 Siehe E. Brandenburger, Adam, 36: ,,Es fehlt in syr. Bar. die spannungsreiche Gedanken-
führung wie in IV. Esra, weil schon die drängende und quälende Problemstellung in den Fragen und Klagen Esras in der Gestalt des Baruch keine rechte Entsprechung findet".
Die syrische Baruchapokalypse
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Baruchapokalypse her kennen, so besitzt letztere in ihrer Konzentration auf die paränetischen StUcke, auf die ,,Reden an das Volk", ebenfalls ein ernstzunehmendes Strukturprinzip7 • Die syrische Baruchapokalypse macht zwar in der Tat einen "ungeordneteren Eindruck", und das 4. Esrabuch besitzt zweifellos die "kunstvollere Komposition", doch reichen beide Gründe nicht dazu aus, die "Orginalität" des 4. Esrabuches letztendlich zu beweisen 8• Diese Aufgabe bleibt den inhaltlichen Grilnden vorbehalten. Unter inhaltlichen Gesichtspunkten spricht vor allem die Tatsache, daß die syrische Baruchapokalypse gegenOber dem 4. Esrabuch "eine weit fortgeschrittene theologische Reflexion" ihr eigen nennt9 , fUr die Priorität des 4. Esrabuches. Tritt doch innerhalb der syrischen Baruchapokalypse die Frage nach dem Grund der Uber Israel hereingebrochenen Katastrophe und damit verbunden nach der Gültigkeit von Gottes Verheißung hinter der Frage nach dem Zeitpunkt der endgUltigen Erfüllung von Gottes Heilszusage zuruck 10• Nicht mehr die Verheißung selbst, sondern lediglich das "Wann" der Verheißung wird zum Problem. Die syrische Baruchapokalypse setzt mit Blick auf die ,,Zwei-Äonen-Lehre" an der Stelle ein, an der das 4. Esrabuch endet. Mußte der Verfasser des 4. Esrabuches die ,,ZweiÄonen-Lehre" als Antwort auf die Frage nach der GUltigkeit der Verheißung unter Zuhilfenahme des SUndenverhängnisgedankens erst entwickeln und diese anschließend mit Hilfe der Gesetzesthematik vor allen ethisch bedenklichen Konsequenzen bewahren, so finden sich innerhalb der syrischen Baruchapokalypse nur noch einige Rudimente dieses großen Entwurfes. Die ,,Zwei-ÄonenLehre" und die mit der Frage nach dem Gesetz verbundene Überzeugung von der Verantwortlichkeit des einzelnen für sein Tun sind so selbstverständlich miteinander verbunden, daß von den Schwierigkeiten dieser Verbindung, mit denen der Verfasser des 4. Esrabuches Uber weite Strecken seines Werkes ringt, kaum noch etwas zu spUren ist. Diese inhaltlichen GrUnde, die im Verlauf unserer Beschäftigung mit der syrischen Baruchapokalypse noch weit ausführlicher zur Sprache kommen sollen, lassen meines Erachtens jeden Zweifel an der Priorität des 4. Esrabuches gegenüber der syrischen Baruchapokalypse verstummen.
7 Innerhalb der syrischen Baruchapokalypse kommt dem Dialog zwischen Baruch und Gon (bzw. dem Engel) nur eine untergeordnete Bedeutung zu, wenn es darum geht. die theologische Intention des Verfassers dieser Schrift zu erhellen. Von Anfang an spiegelt sich die Meinung des Verfassers sehr häufig auch in den Äußerungen des Sehers Baruch. Zurecht betont H. Gunkel, Das vierte Buch Esra, 351, daß Baruch verschiedentlich ,,selber aus eigenen Kräften die Antwort giebt, die bei IV Esra nur ein Engel geben kann." Tritt der Dialogteil in seiner Bedeutung für die Theologie des Autors auch zurück, so gewinnt der paränetische Teil der •.Reden an das Volk" im Gegenzug immer mehr an Bedeutung. 8 So Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie, 97. 9 So A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 114. 10 Siehe W. Harnisch. Verhängnis und Verheißung, 73.
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Einführung
2.5.1.2 Der Aufbau der syrischen Baruchapokalypse Trotz der Tatsache, daß die syrische Baruchapokalypse im Vergleich zum 4.Esrabuch über eine weit weniger strenge Gedankenführung verfügt, muß von Anfang an dem weitverbreiteten Vorurteil, der syrischen Baruchapokalypse liege überhaupt keine durchdachte Ordnung zugrunde 11 , entschieden widersprochen werden. Trägt doch gerade die Überzeugung von der Unordnung der Gedankenführung innerhalb der syrischen Baruchapokalypse die Verantwortung dafür, daß dieser Schrift immer wieder einfach das Gliederungsprinzip des 4. Esrabuches zugrunde gelegt und sie dadurch gleichfalls in sieben Abschnitte unterteilt wird 12 • Gehen wir jedoch davon aus, daß uns in der syrischen Baruchapokalypse trotz aller "verwandtschaftlichen Beziehungen" zum 4. Esrabuch ein eigenständiges Werk entgegentritt, das über einen wohlstrukturierten Aufbau verfügt, so muß dieser Gliederungsversuch von vomherein zu kurz fassen. Die Tatsache, daß es auch dem Verfasser der syrischen Baruchapokalypse nicht in allen Punkten geglückt zu sein scheint, die Vielfalt unterschiedlicher Traditionskomplexe, die in sein Werk Eingang fanden, zu einer völlig hannonischen Einheit zu verbinden, darf nicht in der Weise überinterpretiert werden, daß man diese Apokalypse zu einem ziemlich gedankenlos zusammengestellten Konglomerat verschiedener Auffassungen degradiert 13. Trotz einiger formaler und inhaltlicher Widersprüche 14, die zum Charakter einer jeden Schrift gehören, die in hohem Maße von der Rezeption verschiedener Traditionskomplexe lebt, eignet der syrischen Baruchapokalypse eine klare Gedankenführung, die sich bereits im Aufbau dieser Apokalypse widerspiegelt. Der Verfasser der syrischen Baruchapokalypse bringt offensichtlich schon in der Gliederung seine theologische Intention zum Ausdruck. Die syrische Baruchapokalypse besteht aus drei Hauptteilen, die jeweils mit einer ausfUhrliehen Paränese, in deren Mittelpunkt die Aufforderung zu absolutem Toragehorsam steht, enden. Es handelt sich hierbei um die Abschnitte 10,1-34,1, 35,1-47,1 und 47,2-77,26. Der Abschnitt 1,1-9,2 ist wohl als Einleitung, der Brief Barochs (78,1-87,1)
11 Dieses Vorurteil bringt z.B. H. Gunkels, Das vierte Buch Esra. in: APAT II, 351 mit folgenden Worten Uber die Argumentationsweise des Verfassers der syrischen Baruchapokalypse zum Ausdruck: ..Auch im Einzelnen ist die Baruchapokalypse oft ziemlich konfus ..... Diese schlechte Anordnung beweist, daß der Verfasser nicht Herr und Schöpfer seiner Gedanken ist". 12 Die große Mehrzahl der Exegeten legt der syrischen Baruchapokalypse ein Siebenerschema zugrunde, wobei sich die Schemen jedoch durchaus unterscheiden können. Ein Vergleich der unterschiedlichen Siebenerschemen findet sich bei F.J. Murphy, The Structure And Meaning Of Second Baruch, 12; Siehe auch A.F.J. Klijn. Die syrische Baruch-Apokalypse. 118fund V. Ryssel, Die syrische Baruchapokalypse, in: APAT U, 404 Anm. a. l3 Das 4. Esrabuch erscheint zwar besser strukturiert, doch bleiben auch hier, wenn auch in geringerem Maße, Spannungen zwischen den unterschiedlichen Traditionskomplexen, die der Autor zu verschmelzen suchte, bestehen. 14 Siehe A. F. J. Klijn. Die syrische Baruch-Apokalypse, lllf.
Die syrische Baruchapokalypse
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als das die Hauptargumente des Verfassers zusammenfassende Schlußkapitel, sprich als eine Art Epilog zu verstehen 1s. Die Einleitung (1,1-9,2) wird durch die wiederholte Aufforderung Gottes an Baruch und Jeremia, die Stadt Jerusalem zu verlassen (2,1; 4,8; 5,4) und durch die Notiz von der Ausführung dieser Aufforderung (5,5; 8,3) eindeutig zu einer Einheit verbunden. Dartlber hinaus sind die Kapitel 6,1-8,5, die ursprUnglieh sicherlich einen eigenen Traditionskomplex bildeten 16, als Explikation von 5,3 zu verstehen. Die Ankündigung von 5,3, daß die Feinde Jerusalem nicht zerstören werden, findet in dem Bericht von der Vernichtung Jerusalems durch die Engel Gottes (6,4- 7,2) ihre Bestätigung. Zu guter Letzt kommt den Versen die vom ,,Fasten" Baruchs, Jeremias etc. sprechen (5,6; 9,2) eine Brückenfunktion zu. Hier - wie auch an vielen anderen Stellen der syrischen Baruchapokalypse - garantieren die Fastennotizen die Kohärenz des Textes. Dadurch, daß sie immer dann in den Text eingebaut werden, wenn vom verarbeiteten Traditionsmaterial her ein Bruch droht, weisen sie zwar auf Einschnitte im Text hin, doch verbirgt sich nicht hinter jedem eine bewußte vom Autor der Schrift selbst gesetzte Zäsur. Nicht jede Fastennotiz ist von vomherein auch als Gliederungsmerkmal für den Aufbau der Gesamtschrift zu verstehen 17 • Das Leitmotiv, das die Kapitel 10,1-34,1 zu einer Einheit verbindet, verbirgt sich hinter der Vielzahl von Bemerkungen, die sich mit dem ,,Ende der Zeiten" bzw. dem ,,Lauf der Zeit" beschäftigen. Bereits in 10,3 wird Baruch von Gott verheißen, daß er ihm die Ereignisse "am Ende der Tage" offenbaren werde. Von nun an ist immer wieder vom ,,Ende der Tage" und vom ,,Lauf der Zeit" die Rede. Diese ,,Zeitterminologie" macht das Wortfeld aus, das diesen Abschnitt eindeutig bestimmt (10,3; 13,3; 14,1; 20,1; 21,8; 23,6; 25,1; 27,1; 29,2.8). Zudem ist dieser Abschnitt nach 10,5 "vor den Türen des Tempels" lokalisiert, während 34,1 von der Absicht Baruchs, nun ins Allerheiligste vorzudringen, spricht. Die Klage Barochs in 35,1-5 ist dann analog zur Klage in 10,5ff zwar am Tempel lokalisiert, der Ort des Geschehens hat sich jedoch ins Innere des Tempels verschoben. Kap 34, 1 kommt somit die Aufgabe zu, die Teile 10,1-33,3 und 35,1-47,1 miteinander zu verbinden. Bildet die Aufforde15 Diese Gliederung lehnt sich eng an 0. Plöger, 3RGG 1,901f, an, der zu einer Drei- bzw. Vierteilung der Schrift kommt ( 1-34; 35-46; 47-77; Brief Baruchs). Plögers Gliederung ist gleichfalls aus der Erkenntnis erwachsen, welch große Bedeutung gerade den parä.netischen Abschnitten für den Aufbau der Schrift und darüber hinaus für die Zielsetzung des Autors zukommt; siehe auch Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie,97f, der diese Gliederung seinen Ausführungen zugrunde legt. 16 Vgl. den Widerspruch der zwischen den Versen 1,1 und 8,5 besteht. 17 Gegen A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 118, der gerade den Versen, die vom Fasten reden, eine große Bedeutung zumißt, wenn es darum geht. den Gesamttext zu strukturieren. Gegen diesen Gliederungsversuch spricht jedoch bereits die Beobachtung, daß auch an anderen Stellen der syrischen Baruchapokalypse, die A.F.J. Klijn nicht f\lr die Gliederung heranzieht, vom Fasten die Rede ist (z.B. 5,6; 43,3); vgl. hierzu Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 97.
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Einftlhrung
rung Barochs zum Gesetzesgehorsam in 32, 1ff den eindeutigen Abschluß dieses Kapitels, so leitet neben der Lokalisationsnotiz in 34,1 auch das Gespräch zwischen Baroch und dem Volk in 32,8-34,1 zum nächsten Hauptteil der syrischen Barochapokalypse Uber. Hier wird zum erstenmal ausführlich der Problemkreis angesprochen, der sich um die Befürchtung des Volkes dreht, Baroch könnte es verlassen. Dieser Problemkreis, der eindeutig die Struktur des Teiles 34,1-47,1 bestimmt1 8, wird jedoch erst am Ende des dritten Hauptteiles zum endgültigen Abschluß gebracht (77,15). Auch der zweite Hauptteil findet seinen natürlichen Abschluß in einer Parän~se. in deren Zentrum die Mahneng zum Ge&etzesgehorsam s~eht (44,3ff; 45,lf; 46,5). Der dritte Hauptteil, in dessen Mitte die Wolkenvision 53,1-12 und ihre Deutung 56,1-74,4 stehen, die durch die Verse 54,lf und 76,1ff klar als Einheit gekennzeichnet sind, endet gleichfalls mit einer Aufforderung zu absolutem Gesetzesgehorsam (77,2ff). Gerade die letzten Verse dieses Abschnitts enthalten die gesamte Theologie des Verfassers der syrischen Barochapokalypse in nuce. Der Brief Barochs am Ende der Apokalypse faßt die Hauptargumente des Autors, wie sie uns innerhalb der Kapitel 1-77 begegnet sind, nochmals zusammen und stellt somit den logischen Abschluß des ganzen Werkes dafl9. Vergleicht man den oben vorgestellten Gliederungsversuch mit den Versuchen, die der syrischen Baruchapokalypse ein Siebenerschema zugrunde legen, so kommen einige was den Aufbau der Kapitel 35,1-77,17 betrifft zum gleichen
18 Auf die Befürchtung des Volkes, Baruch könnte es verlassen, erwidert dieser in 34,1: •.Das verhüte Gott, daß ich euch verlassen oder von euch weggehen sollte". Dieser Vers stellt eine Brücke zu 46,7 dar. An dieser Stelle offenbart Baruch dem Leser: ,,Doch daß ich weggenommen werden sollte, tat ich ihnen nicht kund. nicht einmal meinem Sohn"(Übersetzung nach A.F.J. Klijn. Die syrische Baruch-Apokalypse. 144 + 150); ferner findet sich diese Thematik in syrBar 43,2f. 19 Immer wieder wird behauptet, der Brief Barochs am Ende des Buches stelle keinen ursprünglichen Bestandteil der syrischen Baruchapokalypse dar; so zuletzt, G.B.Sayler, Have the Promises Failed?, 98-102). Ohne auf die Diskussion um diese Frage hier näher eingehen zu können, sei doch soviel gesagt. Die Tatsache, daß sich neben Gemeinsamkeiten (siehe vor allem das völlig identische Gesetzesverständnis) zwischen dem Brief Barochs und den Kapiteln 1,1-77,17 auch Widersprüche (die messianischen Partien fehlen im BrieO feststellen lassen, genügt nicht, um den Brief als späteren Zusatz auszuscheiden. Inhaltliche ..Widersprüche" lassen sich nicht nur zwischen dem Brief Barochs und den anderen Kapiteln feststellen, sondern auch die Kapitel 1.1-77,17 enthalten recht unterschiedliches TraditionsmateriaL Nicht die Vielfalt der in einer Apokalypse verarbeiteten Traditionsstoffe, sondern die gestaltende Hand des Verfassers dieser Schrift ist das Entscheidende. Erst dann, wenn sich nachweisen ließe, daß die Intention des Verfassers der Kapitel 1,1-77,17 in Opposition zu der des Autors des Briefes Baruchs stUnde, wäre ein literarkritischer Eingriff geboten. Für solch eine Annahme gibt es meiner Meinung nach keinen Anlaß; siehe auch F.J. Murphy. The Structure and Meaning of Second Baruch, 28f.
Die syrische Baruchapokalypse
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Ergebnis20. Mit Blick auf die Kapitel 1,1-34,1 findet der Einschnitt in 9,2 gleichfalls starke Anerkennung21, so daß lediglich die Zusammenfassung der Kapitel 10,1-34,1 zu einem eigenständigen Abschnitt ein Novum darstellt22. Die besondere Bedeutung, die den paränetischen Teilen und damit dem Gesetzesverständnis innerhalb der syrischen Baruchapokalypse zukommt, läßt jedoch keine Zersplitterung dieses Abschnittes zu. Wie bereits oben erwähnt, ist ein Siebenerschema schon von Hause aus nicht in der Lage, dem Aufbau der syrischen Baruchapokalypse gerecht zu werden, da es allzustark im Schatten des 4. Esrabuches steht und eine Überbewertung des Dialogstiles, der zwar für das 4. Buch Esra, nicht aber für die syrische Baruchapokalypse von entscheidender Bedeutung ist, zum Vater hat. Ist doch der Dialog zwischen dem Seher Baruch und Gott bzw. dem Offenbarungsengel im Gegensatz zum 4. Esrabuch nur an den wenigsten Stellen von einer echten Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen theologischen Positionen gekennzeichnet 23. Macht sich doch der Seher im großen und ganzen bereits von Anfang an die Weisung Gottes zu eigen. Es kann nicht oft genug betont werden, daß sich die Lösung der Frage nach der Theologie des Verfassers der syrischen Baruchapokalypse nicht vom Dialogteil, sondern nur vom paränetischen Teil her ergibt. Die Reden Barochs an das Volk und nicht dessen Auseinandersetzung mit Gott enthalten den Schlüssel zum Verständnis der syrischen Baruchapokalypse. 2.5.1.3 Die Oberlieferungsverhältnisse der syrischen Baruchapokalypse Wenden wir uns nun noch kurz den Überlieferungsverhältnissen der syrischen Baruchapokalypse zu, so ist sie nur in der syrischen Handschrift Bibliotheca Ambrosiana B 21 Inf., fol. 257a-267a vollständig erhalten. Diese Handschrift stammt aus dem 6. oder 7. Jahrhundert n.Chr. und ist Teil einer PesehittaHandschrift mit dem Text des Alten Testaments. Der Brief Barochs dagegen hat eine eigene Überlieferung und ist in vielen Peschino-Handschriften unabhängig von den anderen Teilen der Apokalypse bezeugt. Der syrischen Übersetzung der Baruchapokalypse lag wohl ein griechischer Text zugrunde, von dem wir jedoch keine Zeugnisse mehr besitzen. Die wenigen griechischen Fragmente der syrischen Baruchapokalypse, die wir kennen, sind nur als äußerst nachlässige Wiedergabe dieses griechischen Textes zu bezeichnen24. Doch auch der verlorengegangene griechische Text war wiederum nur eine Übersetzung, die auf einen hebräischen oder aramäischen Originaltext zurück20 So z. B. F.J. Murphy, The Structure and Meaning of Second Baruch, 12; AL. Thompson, Responsibility for Evil in the Theodicy of IV Ezra, 123f. 21 So z.B. F.J. Murphy, The Structure and Meaning of Second Baruch, 12; A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 118. 22 Meist geht man von einer ZäsW' in 20,5 aus, die sich meines Erachtens, wie oben bereits nachgewiesen, jedoch nicht halten läßt. 23 Siehe hierzu W. Harnisch, Verhängnis und Verheißung, 179. 24 So A.FJ. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 108.
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Die Einleitung in die syrische Baruchapokalypse (Kap. 1,1 -9,2)
geht, wobei die Annahme eines hebräischen Originaltextes mehr Wahrscheinlichkeit für sich verbuchen kann25. Grundlage der nachfolgenden Untersuchung ist der von M. Krnosko edierte syrische Text, auf dem auch die deutsche Übersetzung von A.F.J. Klijn fußt26.
2.5.2 Die Einleitung in die syrische Baruchapokalypse (Kap. 1,1 -9,2)
2.5.2.1 Vorbemerkungen Vergleicht man die Anfangskapitel der syrischen Baruchapokalypse mit denen des 4. Esrabuches, dann ist zumindest der geschichtliche Ausgangspunkt beider Apokalypsen derselbe. In beiden Apokalypsen werden die Ereignisse des Jahres 70 n.Chr. mit denen des Jahres 587 v.Chr. parallelisiert. Die Zerstörung Jerusalems und seines Tempels durch Nebukadnezar wird zum Typos der Zerstörung Jerusalems durch die Römer. Hier wie dort wird der Versuch unternommen, die geschichtliche Katastrophe des Jahres 70 n.Chr. theologisch zu verarbeiten. In beiden Büchern "spiegeln sich die Verwirrung der unmittelbar nach dem Krieg lebenden Generation, aber zugleich die ersten Regungen von Hoffnung"27. Während jedoch das 4. Esrabuch neben der letztlich hoffnungsvollen, an der ewigen Gültigkeit der Tora orientierten Botschaft noch deutliche Anzeichen einer tiefen, an Verzweiflung grenzenden Depression enthält, überwiegen in der syrischen Baruchapokalypse von Anfang an hoffnungsfrohere Töne. Galt es für den Verfasser des 4. Esrabuches den Glauben an Gottes Gerechtigkeit und die Gültigkeit seiner Verheißung zu retten, so stehen diese Größen für den Verfasser der syrischen Baruchapokalypse offenbar überhaupt nicht zur Disposition28. Diese Tendenzverschiebung zeigt sich bereits zu Beginn dieser Schrift. 2.5.2.2 Die Kapitell,J-9,2 Die syrische Baruchapokalypse beginnt in 1,1-2,2 mit einer Rede Gottes an den Seher Baruch. Gott setzt den Seher von der unmittelbar bevorstehenden Zerstörung Jerusalems in Kenntnis. Im Gegensatz zum 4. Esrabuch setzt die sy25 So A.F.J. Klijn. Die syrische Baruch-Apokalypse. 110. 26 Zu den Überlieferungsverhlltnissen der syrischen Baruchapokalypse sei auf folgende Literatur verwiesen: A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 107-111; L. Rost, Einleitung in die alttestamentlichen Apokryphen und Pseudepigraphen, 95; Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie, %; M.E. Stone, Apocalyptic Literature. in: Jewish Writings of the Second Temple Period, 408-410. 27 So S. Safrai, Das Zeitalter der Mischna und des Talmuds, in: Geschichte des jüdischen Volkes, Bd.l, 390. 28 M. Limbeck. Die Ordnung des Heils, 102, bringt diesen Sachverhalt mit folgenden Worten zum Ausdruck: .,Konnte der Verfasser von 4 Esr die Zweifel, die an Gottes Liebe und Treue laut geworden waren. nur durch den (dogmatischen) Hinweis auf das Gesetz bewältigen (vgl. IV Esr 5,31-40; 8, 42-47), so kannte syrBar diesen Zweifel überhaupt nicht".
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rische Baruchapokalypse nicht erst nach der Zerstörung Jerusalems ein, sondern der Ausgangspunkt wird in die Zeit kurz vor der Zerstörung verlagert. Die Gottesrede nimmt somit in Anlehnung an prophetische Traditionen die Gestalt einer Gerichtsankündigung an, die nationale Katastrophe Israels erscheint von vornherein als gerechtes Gericht Gottes. Steht am Anfang des 4. Esrabuches der Zweifel an Gottes Gerechtigkeit, so ist dieser Zweifel schon im ersten Kapitel der syrischen Baruchapokalypse grundsätzlich überwunden. Im gleichen Atemzug wird auch dem Gedanken einer SUndenverfallenheit der Menschheit der Boden entzogen, indem die SUnde bereits an dieser Stelle als selbstverschuldete Tat herausgestellt wird29 . Diesen Zusammenhang bringt 1,3 mit folgenden Worten zum Ausdruck: ,,Denn die früheren Stämme wurden von ihren Königen gezwungen zu sündigen, diese zwei aber haben selbst ihre Könige gezwungen und genötigt zu sündigen" 30. Steht der Schuldcharakter der SUnde fest, gibt es auch keinen Grund, an der Gerechtigkeit von Gottes Gerichtshandeln zu zweifeln. Gleichzeitig enthält das Einleitungskapitel die Versicherung Gottes, daß diese geschichtliche Katastrophe Israels nicht Gottes letztes Wort über sein Volk sein wird. Nach 1,4 ist Gones Strafhandeln nicht endgültig, sondern lediglich zeitlich befristet. Die syrische Baruchapokalypse gibt bereits in ihren ersten Versen der Hoffnung Raum, daß Gott sich am Ende erneut seinem Volk zuwenden und seine Verheißung erfüllen wird31. An die Stelle der bedrängenden Frage des Sehers Esra nach dem ,,Daß" der Verheißung tritt in der syrischen Baruchapokalypse die bedeutend zuversichtlichere nach dem "Wann" der Verheißung 32. Nicht die Zerstörung Jerusalems an sich, sondern die Zeit nach der Zerstörung ist das Problem33. Es stellt sich nun die Frage, weshalb der Verfasser der syrischen Baruchapokalypse in der Lage ist, die nationale Katastrophe Israels scheinbar mühelos in Gottes Heilskonzept zu integrieren, während der Verfasser des 4. Esrabuches an dieser Katastrophe fast zerbricht? Die Befürchtungen, die Zerstörung Jerusalems impliziere, daß Israels Namen vergessen (3,5), die Heilszusage des Gesetzes ungültig (3,6.9), ja die gesamte Schöpfung rUckgängig gemacht werde (3,7)34, werden zwar auch 29
Vergleiche zu dieser Stelle AssMos 2.5ff.
30 Übersetzung nach A.F.J. Klijn. Die syrische Baruch-Apokalypse. 123. 3l SyrBar 1,4f: •.Siehe, darum werde ich Unheil über diese Stadt und ihre Bewohner bringen, und es (das Volk) soll für einen (bestimmten) Zeitraum aus meiner Gegenwart entfernt werden. Und ich werde dieses Volk unter die Völker zerstreuen, daß es den Völkern wohltun werde. 5 Und mein Volk wird gezüchtigt werden. (Und) dann wird die Zeit kommen, daß sie die Zeiten ersehnen, die sie glücklich machen" (Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse. 123). 32 So auch W. Harnisch. Verhängnis und Verheißung. 73. 33 Dies geht aus syrBar 3.5 klar hervor. Dort lautet die bedrängende Frage des Sehers: .. Was wird nach diesen Dingen nun geschehen" (Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische BaruchApokalypse, 124). 34 Die Vorstellung, daß mit der Gültigkeit von Gottes Heilszusage des Gesetzes nicht nur Gottes Erwählungshandeln an Israel, sondern die gesamte Schöpfung steht und flillt. setzt eine
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in der syrischen Baruchapokalypse ausgesprochen, doch kommt ihnen nie auch nur annähernd die Bedeutung zu, wie sie ihnen im Rahmen des 4. Esrabuches zugemessen wurde. Mußte der Verfasser des 4. Esrabuches einen langen Weg zurtlcklegen, bis der Versuch geglUckt war, zunächst mit Hilfe einer schroff dualistischen ,,Zwei-Äonen-Lehre" den Glauben an die Gültigkeit der mit dem Gesetz verbundenen Heilszusage Gottes zu retten, und in einem nächsten Arbeitsschritt die ,,Zwei-Äonen-Lehre" durch Betonung des Gesetzesgehorsams in einen "ethisch geläuterten" Zustand zu überfUhren, so setzt der Verfasser der syrischen Baruchapokalypse mit seinen Überlegungen bereits an dieser Stelle ein. Für die Theologie der syrischen Baruchapokalypse bedeutet dies, daß es ihr von Anfang an möglich ist, den Fall Jerusalems in ihr Konzept zu integrieren. Dies kommt in 4,1-7 klar zum Ausdruck, wenn bereits zu diesem frtlhen Zeitpunkt innerhalb des Einleitungskapitels dem irdischen Jerusalem das himmlische und dem irdischen Tempel der himmlische Tempel gegenübergestellt werden. Das Sinaigeschehen (4,6), der Abrahambund (4,5) und die Schöpfung (4,4)3 5 , sprich Gottes Heilszusage an sein Volk und darüber hinaus an die gesamte Menschheit, werden ausschließlich mit dem himmlischen Jerusalem und dem himmlischen Tempel verbunden. Dies hat zur Folge, daß all diese HeilsgUter für den Verfasser der syrischen Baruchapokalypse immer schon dem Bereich geschichtlich kontingenter Ereignisse entzogen waren. Der Untergang des irdischen Jerusalem kann Gottes Verheißung nicht tangieren, da diese noch nie Teil des gegenwärtigen Äons war. Kristallisierte sich diese Auffassung innerhalb des 4. Esrabuches in etlichen Gesprächsgängen zwischen dem Seher und dem Offenbarungsengel erst langsam heraus, so erscheint sie uns innerhalb der syrischen Baruchapokalypse zur unbedingten Voraussetzung aller nachfolgenden Überlegungen mutiert. Von dieser gefestigten Position aus ist der Verfasser dieser Schrift von Beginn an in der Lage, die Verteidigungsstellung, aus der sich der Verfasser des 4. Esrabuches kaum zu lösen vermochte, zu verlassen und zur Offensive überzugehen. Der Untergang Jerusalems ist vom Stein des Anstoßes innerhalb des 4. Esrabuches zum unverzichtbaren Meilenstein auf Gottes Heilsweg mit seinem Volk geworden. Die nationale Katastrophe Israels stellt Gottes Heilszusage nicht in Frage, sondern fungiert geradezu als Beweis für deren Wahrheit. Gott ist an seinen Heilsplan gebunden. Er mußte Jerusalem zerstören, damit Israel des eschatologischen Heils UberIdentifikation von Tora und Schöpfungsordnung voraus, wie sie uns auch in anderen frühjüdischen Schriften begegnet. Die Spanne dieser Texte reicht von der Apokalyptik (äthHen 18,15; 21,6) bis zum Rabbinischen Judentum (vgl. die Vorstellung von der Tora als •.Bauplan der Welt"). Die Tora als Schöpfungsmittlerin kann von der Tora als Heilszusage Gottes an sein Volk nicht getrennt werden. Gottes Erwählungshandeln ist untrennbar mit seinem Schöpfungshandeln verbunden. Am Schicksal des Volkes Israel und dessen Tora entscheidet sich die Zukunft des gesamten Kosmos. 3S Die Tatsache, daß Adam vor dem SUndenfall das himmlische Jerusalem gezeigt WW"de, kann nur in dem Sinne verstanden werden, daß der Beginn der Menschheitsgeschichte und damit der gesamten Schöpfung mit dem zulttlnftigen Äon verbunden wird.
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haupt teilhaftig werden kann36. Folgerichtig sind es nach den Kapiteln 6,1-8,5 auch nicht die Heiden, die Jerusalem zerstören, sondern die Engel Gottes. Diese zerstören im Alleingang die Stadt und den Tempel (7,1-3)37 • Die Heiden können Jerusalem erst in Besitz nehmen, nachdem die Engel ihr Vernichtungswerk beendet haben und Gott seinen Tempel verlassen hat (8,1-5). Gott selbst ist und bleibt das Subjekt allen Geschehens. Gott selbst garantiert mit der Züchtigung Israels die Gültigkeit seiner Verheißung. Die Tatsache, daß Gottes Engel die Kultgegenstände des Tempels vor ihrer Vernichtung bewahren und für die Zeit des Wiederaufbaus Jerusalems am Ende der Tage bereithalten (6,79), wird als eindrucksvolles Zeichen ftlr Gottes ungebrochenen Heilswillen fUr sein Volk verstanden. Es sei bereits hier auf die Frage verwiesen, ob diese Stelle darauf schließen läßt, daß der Verfasser der syrischen Baruchapokalypse ein besonderes Interesse am Kult zeigtlB oder ob die syrische Baruchapokalypse unter anderem gerade zu dem Zweck geschaffen wurde, jegliches Vertrauen auf den Kult endgUitig ad absurdum zu fUhren39? Diese Frage soll jedoch für den Moment noch zurtlckgestellt werden, da sie an anderer Stelle noch weit ausführlicher thematisiert wird. Fassen wir die bisherigen Ergebnisse kurz zusammen, so kommt dem Einleitungsteil der syrischen Baruchapokalypse die Aufgabe zu, die nationale Katastrophe Israels im Jahre 70 n.Chr. als notwendiger Bestandteil des Heilsplanes Gottes mit seinem Volk begreiflich zu machen. Gottes Heilsplan wurde bereits vor Schaffung des Paradieses aufgestellt und kann deshalb durchaus als präexistent bezeichnet werden. Der Untergang Jerusalems ist als eindrucksvolle Bestätigung von Gottes Verheißung und nicht als Angriff auf diese zu verstehen. Ermöglicht wird dieses Verständnis dadurch, daß die ,,Zwei-ÄonenLehre" zur unbestrittenen Grundlage aller folgenden Überlegungen avanciert ist. Die ausschließliche Verankerung von Gottes Verheißung in der transzendenten Größe eines himmlischen Jerusalems verbunden mit der Vorstellung von der Vernichtung des irdischen Jerusalems nicht durch die Heiden, sondern durch die Engel Gottes, schafft die notwendige Voraussetzung dafUr, daß der Untergang als Züchtigung Israels auf dem Weg zum Heil akzeptiert werden 36 Dies kommt an mehreren Stellen der syrischen Baruchapokalypse zum Ausdruck. Am deutlichsten wird es in syrBar 13,10 ausgesprochen, weM es heißt: ,,Darum wurden sie damals gezüchtigt, damit ihnen vergeben werden könnte"(Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 131). 37 In diesem Zusammenhang sei noch kurz auf die Bemerkung in 7,2f verwiesen, Gott wolle dadurch, daß er seine Engel mit der Ausführung des Vernichtungsgerichtes Ober Jerusalem betraut, verhindern, daß die Heiden sich dieser Tat rühmen können. Wurde innerhalb des 4. Esrabuchs gerade die Tatsache, daß die Heiden Ober Gottes Volk triumphieren in solchem Maße als anstößig empfunden, daß in 5,30 die Forderung erhoben wird, Gott solle sein Volk selbst mit seinen eigenen Händen züchtigen, so stellt sich dieses Problem für die syrische Baruchapokalypse nicht mehr. 38 So z.B. Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 110. 39 So z.B. F.J. Murphy, JBL 1987,671-683.
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kann. Von daher besteht kein Grund, angesichts der leidvollen Gegenwart zu verzweifeln. Ist doch gerade das Unglück Israels der beste Beweis dafür, daß die eschatologische Erfüllung von Gottes Verheißung nahe bevorsteht. Alles kommt in dieser Situation nun darauf an, die verbleibende Zeit zu nutzen, und die Voraussetzungen zu erfüllen, die zur Teilhabe am endgültigen Heil berechtigen. Es kann aus diesem Grunde nicht überraschen, daß der erste Hauptteil der syrischen Baruchapokalypse ganz im Zeichen der Zeitthematik steht. 2.5.3 Der erste Hauptteil der syrischen Baruchapokalypse (Kap. 10,1-34,2) Ist es dem Verfasser der syrischen Baruchapokalypse bereits innerhalb der Einleitungskapitel gelungen, das Faktum der Zerstörung Jerusalems in Gottes Heilsplan zu integrieren, so ist der Blick nun völlig frei, sich ganz auf die Zeit nach diesem katastrophalen Ereignis zu konzentrieren. Der Zeitraum zwischen der Zerstörung Jerusalems und dem Beginn des neuen Äons, der ,,Lauf der Zeiten" bis zum ,,Ende der Tage" steht von nun an im Mittelpunkt des Interesses. Die einseitige Konzentration von Gottes Verheißung auf den zukünftigen Äon birgt jedoch unwillkürlich die Gefahr einer völligen Sinnentleerung des gegenwärtigen Äons in sich. Kann der Gegenwart noch irgend eine positive Rolle zukommen, wenn Gott bereits vor der Schöpfung bestimmt hat, daß erst der zukünftige Äon die Erfüllung seiner Heilzusage bringen wird? Der mit der dualistischen ,,Zwei-Äonen-Lehre" verbundenen Gefahr eines ethischen Fatalismus für die Gegenwart muß sich analog zum 4. Esrabuch auch der Autor der syrischen Baruchapokalypse stellen. Diese Gedanken verbergen sich wohl hinter der Klage Barochs in 10,Crl9, die von der Sinnlosigkeit des Lebens handelt. Immer wieder stellt der Seher die hange Frage, wie lange es noch dauern wird, bis dieser Äon endlich vergeht und Gottes Verheißung sich erfüllr0 . Diese übersteigerte Sehnsucht nach dem Ende dieser Weltzeit kulminiert in dem Wunsch, Gott möge die Zeiten, die den gegenwärtigen Äon bestimmen, beschleunigen41. Mußte der Verfasser des 4. Esrabuches noch alle Kraft aufwenden, um einer Stimmung, wie sie sich in diesen Worten ausdrückt, entgegenzuwirken und war ein langer argumentativer Anlaufweg vonnöten, um die Argumente, die für diese resignative Haltung verantwortlich zeichneten, zu widerlegen, so geht dies dem Verfasser der syrischen Baruchapokalypse viel leichter von der Hand. Zwar wird auch innerhalb der syrischen Baruchapokalypse durch die Dialogform der Anschein gewahrt, als ob es in der Frage nach der ethischen Verantwortlichkeit des einzelnen für sein Tun noch etwas zu diskutieren gäbe, doch in Wirklichkeit ist diese Frage schon längst entschieden. Alle Versuche, sofern sie überhaupt unternommen werden, an der Möglichkeit konsequenten Gesetzesgehorsams und somit an der Eigenverantwortung des Menschen zu zweifeln, werden nur halbherzig vorgetragen. Der Sündenver-
40 Siehe syrBar 21,19.23.
41 Siehe syrBar 22,1-8.
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hängnisgedanke spielt im Kontext der syrischen Baruchapokalypse im Vergleich zum 4. Buch Esra nur eine untergeordnete Rolle. Doch zunächst zu den Aussagen im einzelnen. In einem ersten Arbeitsschritt kommt es darauf an, sich die Argumente zu vergegenwärtigen, die als Beweis fUr die Sinnlosigkeit der gegenwärtigen Weltzeit angeführt werden. Ein erstes Problem stellt in diesem Zusammenhang das Glück der Heiden dar. Entzündete sich innerhalb des 4. Esrabuches gerade an dieser Tatsache ein heftiger Disput über die Frage nach Gottes Gerechtigkeit und die Gültigkeit seiner Verheißung, so kommt dieser Frage innerhalb der syrischen Baruchapokalypse eine weit geringere Bedeutung zu. Dies zeigt sich schon an deren Stellung im Kontext. Während das 4. Buch Esra mit diesem Problem einsetzt, begegnet es in der syrischen Baruchapokalypse erst im elften Kapitel, nachdem in den Kapiteln 110 die Gerechtigkeit Gottes und die Gültigkeit der Verheißung bereits herausgearbeitet worden sind. Steht die Gerechtigkeit Gottes unverrückbar fest, muß der Züchtigung Israels notwendigerweise auch die Bestrafung der Heiden folgen42. Der Verfasser der syrischen Baruchapokalypse kann das gegenwärtige Glück der Heiden ertragen, weil für ihn deren zukünftige Bestrafung gewiß ist. Die Klage Barochs in 14,1-3 zieht jedoch den Nutzen dieser Gewißheit in Zweifel. Der Blick dieser Verse ist nun ganz auf die Gegenwart gerichtet. Kann doch das Unheil, das für die Heiden im Moment noch aussteht doch auch nicht schlimmer sein als das, das das Volk Israel in der Gegenwart bereits getroffen hat. Zudem besteht die Gefahr, daß die zukünftige Strafe Gottes nur die Heiden erreicht, die am Tage des Endgerichtes noch am Leben sind. Entgehen somit nicht alle Heiden, die vor dieser Zeit gestorben sind, dem Gericht? Die Gewißheit, daß Gott am Ende der Tage auch über die Heiden ein Strafgericht bringen wird, ist fUr diejenigen ein nur geringer Trost, die Gottes Züchtigung im Moment zu erdulden haben. Auch die Verse 5-7 haben die Gegenwart im Blick und befassen sich mit der Frage, welchen Nutzen die Gerechtigkeit der Gerechten ihnen selbst und dem Volksganzen bringt. Weder die Gerechten selbst, noch das Volk Israel in seiner Gesamtheit ziehen irgendeinen Gewinn aus ihrem Tun. Steht in den Versen 1-7 das Gegenüber von den Heiden und dem Volk Israel im Zentrum der Überlegungen, so sprechen die Verse 9-19 ganz allgemein vom Menschen. An die Stelle des Gegenüber von den Heiden und dem Volk Israel tritt nun der Gegensatz zwischen Gott und Mensch. Die gegenwärtige Welt wurde um des Menschen willen geschaffen, trotzdem ist der Mensch zur Vergänglichkeit verdammt, während die Welt bestehen bleibt. Diese Aussage impliziert, daß es eigentlich umgekehrt sein müßte. Die Welt sollte vergehen, der Mensch dagegen erhalten bleiben und auf schnellstem Wege in die zukünftige Weltzeit eingehen. Nicht nur die Gerechten, von denen die Verse 12 und 13 handeln, sondern die gesamte Menschheit sollte des Heils des zukünftigen Äons teilhaftig werden. An dieser Stelle begegnet uns eine universa42 Siehe syrBar 13,4-12.
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listische, auf Gottes Heilsschaffen am Ende der Tage bezogene Hoffnung, wie wir sie bereits aus den Einwänden des Sehers Esra gegen die Argumentation des Engels kennen. Dem "universalen Ursprung" der Menschen als Geschöpfe Gottes mUßte eine "universale Neuschöpfung" im Eschaton entsprechen4 J. MUssen nicht Sünder wie Gerechte im gegenwärtigen Äon das gleiche Schicksal erleiden? Die Gerechten erwartet jedoch ein eschatologischer Ausgleich, den SUndern dagegen bleibt dieser versagt. Die vermeintliche Ungerechtigkeit dieses Verfahrens liegt darin begründet, daß die Klage des Sehers offensichtlich davon ausgeht, daß es den SUndern nicht möglich war, gut zu handeln, da es keine innenveltlichen Kriterien gibt, die es erlauben, gerechte von ungerechten Taten zu unterscheiden. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß sich innergeschichtlich ein Tun-Ergehen-Zusammenhang nicht mehr feststellen läßt, ja daß sich dieser geradezu in sein Gegenteil verkehrt hat. In einer Welt, in der die SUnde nicht mehr den Tod, sondern das Leben, Gerechtigkeit dagegen Leid und Tod nach sich zieht, ist nicht mehr zu erkennen, wer sich auf dem rechten Pfad befindet. Der Mensch kann von seiner auf innergeschichtliche Zusammenhänge beschränkten Perspektive aus Gottes Urteil nicht mehr erkennen. Beurteilt man eine Tat von ihren Folgen her, so mUßten gerade die Sünder gerecht, die Gerechten dagegen Sünder sein. Nur das Postulat einer eschatologischen ,,Rettung aller'' scheint dazu fähig zu sein, diese unübersichtliche Lage zu beenden, ohne Gottes Gerechtigkeit in Frage zu stellen. Dieser Argumentation, die im 4. Esrabuch über mehrere Gesprächsgänge hinweg breit entfaltet wird, wird in der syrischen Baruchapokalypse jedoch sofort der Boden entzogen, indem die Gottesrede in 15,1-8 auf das Gesetz als absolutes Kriterium für die Unterscheidung von "Gut" und ,,Böse" verweist. Das Gesetz ist und bleibt die Richtschnur allen Handelns. Die Gebote der Tora bleiben gültig, auch wenn die Verheißung, die an den Tomgehorsam geknüpft ist, vorerst ausbleibt. Dies bringt 15,5f mit folgenden Worten zum Ausdruck: ,,Mit Recht kann der Mensch mein Urteil nicht genau kennen, wenn er nicht das Gesetz empfangen und ich ihn nicht zum Verständnis unterwiesen hätte. Nun aber hat er übertreten wissentlich, darum wird er als Wissender gestraft"44 • Der gegenwärtige Äon wurde zwar um der Gerechten willen geschaffen, doch bedeutet dies nicht, daß sie bereits in der gegenwärtigen Weltzeit die FrUchte ihres Handeins genießen und glücklich leben können. Ganz im Gegenteil, die Gegenwart wird zu einem Ort der Bewährung reduziert, an dem lediglich die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Am Verhalten des einzelnen gegenüber den Geboten des Gesetzes entscheidet sich dessen Stellung im zukünftigen Äon. Nur derjenige, der sich in der Gegenwart im Gesetzesgehorsam bewährt, hat auch ein Anrecht auf den zukünftigen "Siegeskranz". Die gegenwärtige 43
Das Schicksal der Menschheit ist für den Seher jedoch sicherlich nur von untergeordneter Bedeutung. Er verwendet dieses universale Argumentationsschema analog zu der Person des Sehers Esra wohl nur zu dem Zwecke, das eschatologische Heil fUr Gesamtisrael zu retten. 44 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 133.
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Weltzeit erfährt durch diese Argumentation eine enorme Aufwertung. Die "Vergeltungslehre", die von Baruch in seiner Klagerede mit Blick auf die gegenwärtige Weltzeit zunächst in Abrede gestellt wird, erfährt vom zukünftigen Äon her ihre Rehabilitierung. Das "Tun" in diesem Äon ist mit dem ,,Ergehen" im zukünftigen Äon untrennbar verbunden und die Tora ist die Brilcke, die für diese Verbindung verantwortlich zeichnet45 • Dieser Aufwertung der Gegenwart trägt der Seher Baruch sogleich Rechnung. War diesem bisher der Zeitraum bis zum Beginn des neuen Äons immer viel zu lange, so befürchtet er nun, die verbleibende Weltzeit könnte zu kurz sein, um sich in ihr als Gerechter für die zukünftige Welt zu qualifizieren. Diese Befürchtung wird jedoch durch einen Hinweis auf die Gestalten des Adam und des Mose sofort zerstreut. Trotz einer langen Lebenszeit scheiterte Adam am Gesetz, Mose dagegen war eine im Vergleich zu Adam viel kürzere Lebenszeit beschieden, in der er sich trotzdem im Gesetzesgehorsam bewährte. Die Fähigkeit den Geboten der Tora gerecht zu werden ist nicht an die Dauer der Lebenszeit gebunden. Bedauerlich ist in diesem Zusammenhang lediglich die Tatsache, daß der bedeutend größere Teil der Menschheit dem Beispiel Adams folgte und nur wenige sich Mose als Vorbild wählten46. An dieser Stelle wird ausdrücklich die Entscheidungsfreiheit eines jeden in der Frage des Gesetzesgehorsams betont. Die Gestalt Adams wird zwar mit einem Todesverhängnis, nicht jedoch mit dem Gedanken der Sündenverfallenheit in Verbindung gebracht. Am Schuldcharakter der Sünde wird festgehalten. Das Gesetz ist und bleibt der Maßstab, an dem sich die Sünde auch als solche qualifiziert. So heißt es in 19,3 mit Blick auf die Generationen nach Mose: "Sie aber sündigten nach seinem Tod und brachten andere zur Sünde, obwohl sie wußten, daß sie das Gesetz hatten, um sie zu überführen, und jenes Licht, daß (uns) nicht irren läßt, und dann die Sphären, die Zeugnis geben, und dann mich"47 • Bemerkenswert ist hierbei die Parallelität zwischen dem "Gesetz" und den "Sphären", wenn es darum geht, Sünde als SUnde zu überführen. Diese Parallelität setzt eine Ausweitung des Wirkungskreises der Tora von irdischen auf kosmische Zusammenhänge und damit einen engen Zusammenhang von Gesetz und "Schöpfungsordnung" voraus, wie wir es besonders aus Partien des Daniel- und äthiopischen Henochbuches her kennen. Die Tora ist auch in der syrischen Baruchapokalypse in der Lage, sowohl die ethische als auch die kosmische Dimension der SUnde zu entlarven. Irdische und kosmische Verfehlungen stehen in enger Korrelation. Baruch, der in seinen bisherigen Ausführungen, vergleicht man diese mit denen des Sehers Esra, in weit geringerem Maße opponierte, schließt sich diesen Antworten Gottes auf breiter Front an. Die Verantwortlichkeit eines jeden für sein Tun und damit die Freiheit zum Gesetzesgehorsam wird in 21,11 ausdrücklich bestätigt, wenn es heißt: "Und haben zur Zeit auch viele gesündigt, so haben andere, nicht weni4 5 So auch W. Harnisch, Verhängnis und Verheißung, 187. 46
So in syrBar 18,lf.
47 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 134.
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Der erste Hauptteil der syrischen Baruchapokalypse (Kap. 10,1-34,2)
ge, sich rechtschaffen gezeigt"48. Da nach 17,2-4 keine lange Zeitspanne nötig ist, um sich in diesem Äon am Gesetz zu bewähren, nimmt Baruch die Zeitthematik erneut in dem Sinne auf, daß er das ,,Ende der Zeiten" schnell herbeisehnt49. Der Bitte Barochs nach Beschleunigung der Zeiten wird jedoch unter dem Hinweis darauf, daß Gott bereits vor der Schöpfung den ganzen Geschichtsverlauf festgelegt hat, eine Absage erteilt. Eine Änderung dieses Planes ist nicht möglich. Gottes Gerichtshandeln bleibt ausschließlich dem Ende dieser Zeit vorbehalten. Die ganze Geschichte des gegenwärtigen Äons ist durch die Langmut Gottes gekennzeichnet. Die Kapitel 25-30 beschäftigen sich hauptsächlich mit dem a•Jch at1s and~ren Apt>kalypsen bekannten und dort meist viel breiter ausgeführten Versuch, das ,,Ende der Zeiten" zu terminieren. In diesem Kontext verwendet der Verfasser der syrischen Baruchapokalypse auch messianische Traditionen, wobei diese jedoch eine Veränderung, eine "apokalyptische Transformation" erfahren. Ausgehend von dem Versuch, die Vorstellung von der messianischen Heilszeit in das Konzept der ,,Zwei-ÄonenLehre" zu integrieren, verliert das messianische Reich in der syrischen Baruchapokalypse analog zum 4. Esrabuch die zentrale Stellung, die ihm z.B. in der alttestamentlichen Prophetie aber auch in anderen frühjüdischen Schriften (z.B. Psalmen Salomos) zukommt. Das messianische Reich ist nur noch einwenn auch wichtiger - Meilenstein im endgeschichtlichen Ablauf50. Die beschränkte Rolle, die dem Messias in der syrischen Baruchapokalypse mit Blick auf das Ende zukommt, zeigt sich in Vers 30,1: "Und danach wird geschehen: Vollendet sich die Zeit der Erscheinung des Messias und kehrt er dann in die Herrlichkeit zurück, dann werden alle jene auferstehen, die in der Hoffnung auf ihn eingeschlafen sind"St. Dieser Vers, wie auch immer er im einzelnen zu verstehen sein mags 2, weist die Periode der Herrschaft des Messias eindeutig als zeitlich begrenzten Abschnitt vor dem ,,Ende", das mit der Auferstehung der Gerechten verbunden wird, aus. Die Gerechten werden dann andeutungsweise bereits in 30,2 (siehe den Hinweis auf die "Schatzkammern"), explizit jedoch erst in den diesen Abschnitt abschließenden Ermahnungen Barochs in 32,1-8 als diejenigen ausgewiesen, die im gegenwärtigen Äon den Geboten der Tora gehorsam waren. Wendet sich doch Baruch in 32,1 mit folgenden Worten an das Volk: "Bereitet ihr indessen eure Herzen vor, um des Gesetzes Früchte einzusäen, dann wird er euch in jener Zeit bewahren, in der der Mächtige die gan-
48 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse. 136.
49 Siehe syrBar 21,19.25. SO So auch Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie. 102f. SI Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse. 142. Sl Meines Erachtens wird hier nicht von der Präexistenz des Messias geredet. Aus der Wen-
dung, daß er in die ,,Herrlichkeit" bzw. in den Himmel zurückkehrt. ist nicht :twingend zu schließen, daß er auch aus der ,,Herrlichkeit" auf die Erde kam. Diese Stelle besagt nur, daß der Messias wie die Gerechten am Ende der Tage in den ..neuen Äon" eingehen wird.
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ze Schöpfung erschüttern wird"SJ. Wer jetzt die Gebote der Tora tut, kann der Teilhabe am zukünftigen Heil gewiß sein, ein Heil, das alles gegenwärtige Leid aufwiegt. Nicht der Messias, sondern der Tomgehorsam jedes einzelnen ist mit Blick auf das Eschaton letzthin entscheidend. Die nachfolgende Unterhaltung zwischen Baruch und dem Volk, die von der Befürchtung des Volkes, Baruch könnte sie für immer verlassen, getragen wird, leitet zum zweiten Hauptteil der syrischen Baruchapokalypse über.
2.5.4 Der zweite Hauptteil der syrischen Baruchapokalypse (Kap. 35,1-47,1)
2.5.4.1 Die Zedernvision (Kap. 36,1-37,1), das Gebet Baruchs (Kap. 38,1-4) und die Deutung der Zedemvison (Kap. 39,1-40,4) Spielte die bisherige Szene vor den Toren des zerstörten Tempels, so ist der zweite Hauptabschnitt an der ehemaligen Stelle des Allerheiligsten lokalisiert (34,1). Auf eine Klage Barochs über den Untergang des Tempelkults folgt die Zedernvision (36,1-37,1) und deren Deutung (39,1-40,4). Bemerkenswert ist hierbei, daß in 38,1-4 zwischen Vision und Deutung ein Gebet Barochs eingeschoben ist, das die große Bedeutung des Gesetzes und der Weisheit betont. Die Verse 38,2-4 lauten: " Dein Gesetz ist Leben, und deine Weisheit ist der rechte Weg. 3 Zeige mir nun die Deutung. 4 Denn du weißt, daß meine Seele sich mit deinem Gesetz beschäftigt immerdar und daß ich mich, solange ich lebe, nicht von deiner Weisheit losgesagt habe"S4. Weisheit und Tora werden auch an dieser Stelle eng aufeinander bezogen, ja, mit einer gewissen Berechtigung kann man wohl gar von einer Identifikation dieser beiden Größen sprechen55. Das Bekenntnis Barochs zum Gesetzesgehorsam geht dem Empfang der Deutung der Vision voraus. Gesetz und Weisheit sind die notwendigen Voraussetzungen, die das Verständnis des apokalyptischen Geheimwissens erst ermöglichen. Das apokalyptische Geheimwissen selbst ist in diesem Kontext kein Gegenstand der WeisheitS6_ Das apokalyptische Geheimwissen wird auch hier analog zum 4. Esrabuch an das Gesetz zurUckgebunden. Es kann nur im Kontext des Gesetzes und keinesfalls unabhängig von diesem existierens7_ SJ Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 143. S4 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 146.
ss Siehe E.J. Schnabel, Law and Wisdom, 158ff. 56 ln der syrischen Baruchapokalypse, wie auch im 4. Esrabuch ist die Weisheit Vorausset-
zung, nicht Gegenstand der apokalyptischen Offenbarung. ln diesem Punkt unterscheiden sich diese beiden Apokalypsen vor allem vom Weisheitsverständnis des biblischen Danielruches. S7 Nicht nur vom 4. Esrabuch her, sondern auch mit Blick auf die syrische Baruchapokalypse ist folgender These von U. Luck, ZThK 1976, 299, aufs entschiedenste zu widersprechen: ..Gesetz und Weisheit sind in den apokalyptischen Schriften unterschieden. Die apokalyptischen BUcher leben geradezu von dieser Unterscheidung. Die Weisheit steckt nicht im Gesetz; wer weise werden will, der muß die esoterischen Oberlieferungen kennen"; vgl. auch H. v.Lips, Weisheitliehe Traditionen, 60 Anm.I03.
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Der zweite Hauptteil der syrischen Baruchapokalypse (Kap. 35,1-47,1)
Durch die Identifikation mit der Weisheit erhält das Gesetz dariiber hinaus einen universellen Rahmen. Betrachten wir nun die Deutung der Vision, so steht in deren Zentrum der Hinweis auf das messianische Reich, wobei dieses wiederum eindeutig auf die letzte Zeit dieses Äons begrenzt bleibt. Auf die Periode des messianischen Reichs folgt das Endgericht und darauf die neue Weltzeit. Die messianische Eschatologie wird auch hier der Zwei-Äonen-Eschatologie untergeordnet. 2.5.4.2 Die Stellung der Apostaten und Proselyten im Endgeschehen (Kap. 41,1-42,8) Die Kapitel 41 und 42 beschäftigen sich mit dem endzeitliehen Geschick der Proselyten und Apostaten. Da der zum Teil ungesicherte Text von Kapitel 41 .3~ eine Deutung dieser Stelle extrem schwierig macht, wollen wir uns zunächst den Wortlaut der Verse 41,3~ vergegenwärtigen: ,,Denn siehe, ich sehe viele aus deinem Volk, die sich von deinen Bundesvorschriften losgesagt und das Joch deines Gesetzes von sich geworfen haben. 4 Aber ich sah auch andere, die ihre Eitelkeit aufgegeben und unter deine FIUgel sich geflUchtet haben. 5 Was wird darum mit ihnen geschehen? Oder wie wird jene letzte Zeit sie aufnehmen? 6 Wird ihre Zeit vielleicht genau gewogen und werden sie beurteilt werden je nach dem Gewicht?" Diesen Zeilen liegt offensichtlich die Vorstellung zugrunde, daß sich der Urteilsspruch Gottes im Endgericht ausschließlich am Gesetzesgehorsam der Israeliten und Proselyten orientiert. Die Frage der Beschneidung spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Der Bundesgedanke wird einmal mehr der Forderung nach strenger Gesetzesobservanz untergeordnet. Einzig der Gesetzesgehorsam entscheidet Uber die Zugehörigkeit zur endzeitliehen Gemeinde, der Israelit hat dem Proselyten nichts voraus. Diese einseitige Konzentration auf den Gesetzesgehorsam bringt das Bild von der Waage in 41,6 klar zum Ausdruck. Werden doch im Endgericht die Perioden eines jeden Menschenlebens, die von Gesetzesgehorsam geprägt waren, mit denen, in denen der Ungehorsam die Oberhand hatte, genau verrechnet, wobei der Frage nach der Volkszugehörigkeit keine Bedeutung zugemessen wird!!B. Der unbedingte Gesetzesgehorsam des einzelnen erscheint hier als "universales Prinzip", das dem "nationalen Prinzip" der Beschneidung entgegengestellt wird. Die Bedeutung des Bundesgedankens wird zwar nicht aufgehoben, doch wird der Bundesgedanke eindeutig vom Gesetzesgehorsam her definiert und nicht umgekehrt59. Die Unerbittlichkeit der Vergeltung im Endgericht, deren einziges Kriterium der Gesetzesgehorsam ist, wird in der Gottesrede in 42,2
SB Siehe W. Harnisch, Verhängnis und Verheißung, 226: ,,Ausschlaggebend für die Heilszugehörigkeit des einzelnen ist dann das Übennaß (bzw. Übergewicht- vgl. 41,6) derjenigen Lebensabschnitte, die ihn als einen Täter des Gesetzes ausweisen". S9 Vgl. in diesem Zusammenhang Röm 2, 25-29.
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ausdrUcklieh bestätigt60. Die Verse 42,4-5 sprechen jedoch eine ganz andere Sprache, was das Geschick der Apostaten und Proselyten im Endgericht angeht. Leider läßt sich der ursprüngliche Sinn dieser textkritisch in höchstem Maße unsicheren Stelle kaum noch erhellen. Nach V. Ryssellautet unser Text: .,Die, welche vorerst sich unterwalfen und nachher [erst] sich losgesagt und sich vermischt haben mit dem Samen der Völker, die [schon ihrerseits] gemischt waren, deren frühere Zeit gilt und wird für etwas Hohes angesehen. 5 Und die, welche vorerst das Leben nicht erkannten und nachher [erst] es erkannten und sich vermischten haben mit dem Samen ,des Volkes', das sich abgesondert hat, deren ,spätere' Zeit wird für etwas Hohes angesehen''6 1• Falls Ryssel den Text richtig rekonstruiert hat, vertreten diese Verse offenbar eine Position, in deren Mittelpunkt der Gedanke der göttlichen Barmherzigkeit stehf:62. Der am absoluten Taragehorsam orientierte radikale Vergeltungsgedanke der Verse 41,3-6 erfährt eine entscheidende Einschränkung. Gott rechnet nicht mehr die durch Gehorsam bzw. Ungehorsam gegenüber der Tora geprägten Lebensperioden gegeneinander auf, sondern für ihn zählen einzig die Gehorsamsperioden völlig unabhängig von ihrer zeitlichen Dauer. Jeder, der auch nur einmal in seinem Leben zu den Tätern der Tora gehörte, wird gerettet werden, auch wenn die längere Lebenszeit von Ungehorsam geprägt war. Erscheinen die Proselyten auch nach dieser stärker an Gottes Erbarmen orientierten Konzeption als den geborenen Israeliten völlig gleichgestellt, so könnte diesen Versen jedoch auch eine proselytenfeindliche Stimmung zugrunde liegen, nämlich dann, wenn wir davon ausgehen, daß A.F.J. Klijn diesen Text richtig rekonstruiert hat. Nach A.F.J. Klijn lautet Vers 42,5: ,,Für die, die früher nichts vom Leben wußten und später dieses erst erkannten und sich vermischten mit des Volkes Samen, das sich abgesondert hat, gilt ihre frühere Zeit wie Berge''63. Nimmt man die letzten Worte dieses Verses ernst, so besteht für die Proselyten keine Hoffnung auf Heil, da sie Gon immer nach ihrer .,gesetzlosen" Zeit richten wird. Da nach 42,4 auch die Israeliten, die sich von der Tora losgesagt haben, aufgrundihres ursprünglichen Gehorsams gerettet werden, kommt nach dieser Textrekonstruktion eine stark auf Gesamtisrael ausgerichtete Eschatologie zu Wort. Sollte durch 42,4-5 die universale Eschatologie der Verse 41,3-6 nachträglich ,.nationalisiert" werden? Solange der Textbestand von
60 SyrBar 42,2: ,.Weil du gefragt hast: > Für wen und fUr wie viele wird doch dies geschehen?< - den Gläubigen nur wird das genannte Gute zuteil werden, doch denen, die verachten, wird das Gegenteil davon zuteil" (Übersetzung nach A.F.J. Klijn. Die syrische BaruchApokalypse. 147) . .,Glaube an Gott" ist nach dem Verständnis der syrischen Banachapokalypse gleichbedeutend mit einem Leben nach ..Gottes Gesetz". Dies kommt z. 8. auch in 54,5.21 und 59.2 klar zum Ausdruck. Ein gleiches Verstlndnis liegt auch in IV Esr 6,27f und 7,84 vor. 6l Übersetzung nach V. Ryssel, Die Apokalypse des Baruch, in: APAT 0, 426. 62 So auch W. Harnisch, Verhängnis und Verheißung, 226. 63 Übersetzung nach A.F.J. Klijn. Die syrische Baruch-Apokalypse. 148.
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Der zweite Hauptteil der syrischen Baruchapokalypse (Kap. 35,1-47,1)
42,4-5 derart ungesichert bleibt, müssen diese und andere Fragen jedoch letztlich offen bleiben.
2.5.4.3 Die Mahnrede Baruchs an die Ältesten (Kap. 44,1-47,1) Den Abschluß des zweiten Hauptteiles bildet wiederum eine Mahnrede Baruchs an die Ältesten, in deren Zentrum die Verpflichtung zu unbedingtem Gesetzesgehorsam steht. Baruch richtet in 44,1 folgende Worte an die Ältesten des Volkes: ..Ihr aber sollt nicht abweichen vom Weg des Gesetzes! Bewahrt es und mahnt das Volk, das noch übriggeblieben ist, daß sie nicht abweichen von den Anordnungen des Mächtigen''ii4. An der gegenwärtigen Stellung des einzelnen zum Gesetz entscheidet sich die Frage, wer Gottes Verheißung im zukünftigen Äon teilhaftig wird6s. In 44,14 wird schließlich der Versuch unternommen, die Adressaten des zukünftigen Heils einer abschließenden Charakterisierung zu unterziehen: .,Sie sind es, die für sich der Weisheit Schätze zubereitet haben, Vorräte der Einsicht sind bei ihnen zu finden. Nicht haben sie sich von der Gnade losgesagt, und des Gesetzes Wahrheit haben sie bewahrt''66. Zunächst sei nochmals darauf hingewiesen, daß auch dieser Vers die Größen Weisheit und Gesetz eng miteinander verbindet. Ein Leben gemäß der Weisheit bedeutet, dem Gesetz Gottes gehorsam zu sein. Dieser Gesetzesgehorsam steht jedem Menschen offen. Im Gegensatz zu anderen Stellen innerhalb des apokalyptischen Schrifttums wird die Weisheit an dieser Stelle keineswegs als dem in der gegenwärtigen Weltzeit lebenden Menschen verborgene67 oder rein eschatologische Größe verstanden6s. Weisheit und Gesetz sind bereits in der Gegenwart die entscheidenden Größen, wenn es darum geht, zukünftiges Heil zu erlangen. Abschließend weist Kapitel 46 noch auf die Befürchtung des Volkes hin, Baruch könnte es verlassen, ein Verlust, der nach Überzeugung des Volkes für die Frage nach der Gesetzeserfüllung von schwerwiegender Bedeutung sein muß. Erscheint doch Baruch in 46,3 als Gesetzeslehrer, als autoritativer Ausleger der Tora, dessen Weisungen eine korrekte Toraerfüllung erst ermöglichen69. Dieser Befürchtung des Volkes erteilt Baruch in 46,5 eine klare Absage: ,,Bereitet einzig und allein euer Herz, daß ihr dem Gesetze gehorsam seid und untertänig denen, die in (Gottes-) Furcht weise und verständig sind.
64
Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 149. So syrBar 44,7: •.Denn wenn ihr beharn und bleibt in seiner Furcht und nie vergeßt sein Gesetz, dann werden die Zeiten sich für euch wieder zum Heil wenden, ihr aber werdet des Trostes Zions teilhaftig werden" (Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische BaruchApokalypse, 149). 66 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse. 150. 6 7 Von der verborgenen Weisheit ist z.B. in äthHen 42,1-3 die Rede. 68 Als eschatologische Größe begegnet uns die Weisheit z.B. in äthHen 5,8; 91,10. 69 SyrBar 46,3: ,,Denn wo sollen wir fernerhin das Gesetz befragen, und wer wird uns den Unterschied erkennen lassen zwischen Tod und Leben?" (Übersetzung nach A.F.J. Klijn. Die syrische Baruch-Apokalypse, 150). 65
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Bereitet eure Seele, daß ihr nicht von ihnen weicht"70! Das Gesetz und die Weisheit sind von sich aus in der Lage, den Menschen zum Gesetzesgehorsam bzw. zur Gottesfurcht zu fuhren. Jeder Mensch, der das Gesetz tut, wird sich als "Weiser" erweisen. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist auch die Verheißung in 46,5, die davon spricht, daß es Israel nie an einem "Weisen" bzw. einem ,,Sohn des Gesetzes" mangeln wird, im gegenwärtigen Kontext so zu verstehen, daß in jedem Menschen, der den Geboten der Tora gerecht wird, ein "Weiser" bzw. "Sohn des Gesetzes" verborgen ist. Die Stellung gesetzeskundiger Autoritäten7• wird in der syrischen Baruchapokalypse in ihrer Bedeutung gegenüber den absoluten, allgemein einsichtigen Größen "Gesetz" und "Weisheit" stark eingeschränkt. Dieses Thema wird in der letzten Rede Baruchs an das Volk noch breiter entfaltet werden. 2.5.5 Der dritte Hauptteil: Die Kapitel47,2-77,26
2.5.5.1 Die Gesprächsgänge zwischen Baruch und Gott in Kap. 48,1-50 Dieser von Umfang und Inhalt her gewichtigste Teil der syrischen Baruchapokalypse beginnt mit einem Gebet Baruchs. Dieses Gebet setzt mit einem Lobpreis von Gottes Allmacht (48,1-10) ein, an den sich eine Bitte um Gnade für die Menschheit im Endgericht anschließt: "(Ach) zürne darum nicht dem Menschen - ist er doch nichts! - und rechne nach nicht unsere Werke"(48,14)72. Der Hinweis auf die Geschöpfliehkeil des Menschen dient wohl dem Versuch, die Verantwortlichkeit des einzelnen für seine Taten zu leugnen. Folgt aus Gottes Allmacht, aus seiner Funktion als Schöpfer des Menschen nicht auch die Verantwortung Gottes für alles, was seine Geschöpfe betrifft? Sind somit nicht auch die negativen Taten seiner Geschöpfe von Gott letztlich selbst zu verantworten? Gottes Allmacht in diesem Äon mUßte eigentlich mit Blick auf den zukünftigen Äon einen "eschatologischen" Heilsuniversalismus in dem Sinne nach sich ziehen, daß Gott selbst für das Heil aller Menschen sorgt. Redet der Seher in den Versen 14-18 offensichtlich einem auf die gesamte Menschheit bezogenen "eschatologischen" Heilsuniversalismus das Wort, so geht aus den Versen 19-24 deutlich hervor, daß dieser Heilsuniversalismus ganz im Schat70
Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 150. Die enge Verbindung von Weisheit und Gesetz innerhalb der syrischen Baruchapokalypse, die es uns sogar erlaubt, von einer Identifikation dieser beiden Größen zu sprechen, hat zur Folge, daß es in diesem Kontext auch zu einer Identifikation von Gesetzeslehrern und Weisheitslehrem kommt, eine Identifikation, die jedoch nicht vorschnell auf alle apokalyptischen und schon gar nicht auf alle frühjüdischen Schriften übertragen werden darf. Zurecht betont H. v.Lips in seinem Buch, Weisheitliehe Traditionen, 68: •.Es sollte insgesamt Abstand genommen werden von der vereinfachenden Sicht, wonach ab Sir generell die Gleichsetzung Weisheit = Gesetz und Weiser =Schriftgelehrter gelten und somit Weisheitstradition und Gesetzestradition eine untrennbare Einheit sind. Das Bild stellt sich insgesamt differenzierter dar''. 72 Übersetzung nach A.F.J. Klijn. Die syrische Baruch-Apokalypse, 152. 71
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Der dritte Hauptteil: Die Kapitel47,2-77,26
ten der Frage nach dem Schicksal Israels steht, eine Argumentation, wie sie uns auch aus dem 4. Buch Esra bekannt ist. Die Verse 19-24 bringen alles zur Sprache, was das Volk Israel von allen anderen Völkern unterscheidet und seinen besonderen Status im Gegenüber zu Gott ausmacht. Während die Verse 14-18 von der Hoffnung auf einen "zukünftigen" Heilsuniversalismus geprägt sind, kommt in den Versen 19-24 ein "gegenwärtiger'' Heilspartikularismus zum Ausdruck. Die universale Dimension der bisherigen Argumentation, die sich hinter den Größen Gesetz und Weisheit verbirgt, tritt gegenüber einer partikularen, lediglich am Heil Gesamtisraels interessierten Dimension zwilck. Der bloße Bec.;itz der Tora gewinnt geeenüber der Frage nach ihrer Erfüllung den Vorrang. Das Bewußtsein der mit der Gabe der Tora verbundenen Erwählung Israels wird dem konkreten Toragehorsam vorgeordnet73. Die Tora kommt nach diesen Zeilen nicht als das universale, völkerumspannende Weltgesetz in den Blick, sondern sie ist exklusiver Besitzstand des Volkes Israel. Auch die Weisheit steht hier allem Anschein nach ganz im Banne eines partikularistischen, einzig auf das Heil Israels konzentrierten Toraverständnisses. Die enge Verbindung, die auch hier zwischen Tora und Weisheit festgestellt werden kann, ist an dieser Stelle wohl nicht als Universalisierung des Gesetzes, sondern viel eher als Nationalisierung und Partikularisierung der Weisheit zu verstehen. Nicht das universale Prinzip des "Tuns der Tora", sondern das partikulare Prinzip des "Torabesitzes" zeichnet für das Heil verantwortlich. Ist doch 48,24 zweifellos von der Erwartung gekennzeichnet, daß die Größen Gesetz und Weisheit sich zum Subjekt der Handlung aufschwingen und zugunsten Israels in den Geschehensablauf eingreifen werden: "Wir alle sind ein Volk von (hochgeehrtem) Namen, wir, die wir von Einem ein Gesetz empfingen. Und solch Gesetz, das mitten unter uns ist, wird uns nun helfen, die vorzügliche Weisheit, die in uns ist, wird uns beistehen"74 . Der Vorstellung, daß Gesetz und Weisheit als handelnde Subjekte in einen Geschehensablauf eingreifen, liegen wohl weisheitliehe Spekulationen, die von einer Hypostasierung bzw. Personifikation der Größen Gesetz und Weisheit ausgehen, zugrunde, wie wir sie auch aus anderen frühjüdischen Schriften kennen7s. Besteigen jedoch das Gesetz und 7 3 Siehe syrBar48,2~22: .Jst's doch das Volk, das du dir auserwählt, und diese sind das Volk, dem du keins gleich gefunden hast. 21 Doch reden will ich jetzt zu dir und sagen, wie mein Herz denkt. 22 Auf dich vertrauen wir. DeM siehe, dein Gesetz -es ist bei uns. Wir wis· sen (auch), daß wir nicht fallen, solange wir an deines Bundes Vorschriften uns halten" (Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 152). 74 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 152. 7S Eine gewisse Nähe von Weisheit und Gesetz läßt sich bereits im alttestamentlichen Be· reich feststellen. In diesem Zusammenhang sei lediglich auf Psalm 1, der gemeinhin sowohl als Weisheits- wie auch als Gesetzespsalm bezeichnet wird, und auf einige Partien des Deuteronomiums (z.B. Dtn 4,6) verwiesen. Bereits in Texten des Alten Testaments wird somit ein Weg beschritten, der letzlieh in einer Identifikation der beiden Größen Weisheit und Gesetz, wie sie uns an gewichtigen Stellen frühjüdischer Texte entgegentritt. sein Ende findet. Zu einer allgemeinen Gleichsetzung von Weisheit und Gesetz im Frühjudentum ist es jedoch nicht ge-
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die Weisheit als handelnde Personen die Bühne des Geschehens, so droht der Charakter des Gesetzes als objektive, universale Gerichtsnorm zu verschwimmen. Gegen dieses partikulare auf Israel und den Besitz der Tora bezogene Gesetzesverständnis richtet sich die Antwort Gottes in den Versen 26-41. Bereits 48,27 muß als Widerlegung der vorangegangenen Ausführungen verstanden werden, wenn die Tora ausdrücklich mit dem Endgericht verbunden wird: .,Doch mein Gericht fordert das Seine, und mein Gesetz verlangt mein Recht" 76. Der forensische Charakter der Tora wird herausgestrichen. Nicht die Tora als Zeichen der Erwählung Israels, sondern ihre Funktion als ius talionis ist entscheidend77 • Ist mit dem Hinweis auf das Gesetz in seiner Bedeutung als Gerichtsnorm dessen universaler Charakter gegenüber jedem Partikuarisierungsversuch gerettet78 , so widmen sich die folgenden Verse der bereits in 1418 aufgeworfenen Frage nach einem "eschatologischen" Heilsuniversalismus. In diesem Zusammenhang kommt dem Postulat der Verantwortlichkeit des einzelnen für sein Tun die entscheidende Bedeutung zu. Folgerichtig wird jedem Versuch, der darauf ausgerichtet ist, den Menschen der Verantwortung für die Folgen seines Tuns zu entheben, eine klare Absage erteilt: ,,Denn jeder der Bewohner der Erde wußte, wann er ungerecht handelte, und sie erkannten mein Gesetz nicht ihres Stolzes wegen"(48,40)19 • Die Gabe des Gesetzes stellt den Schuldcharakter menschlicher Taten sicher. Der Gedanke einer Sündenverfallenheil der Menschheit, der innerhalb des 4. Esrabuches in den Anfangspartien, die sich der Herausbildung einer dualistischen ,,Zwei-Äonen-Lehre" widmen, noch seine Berechtigung hatte und nur unter großen Mühen wieder zurückgedrängt werden konnte, erscheint innerhalb der syrischen Baruchapokalypse nur noch als Schatten seiner selbst. Die ,,Zwei-Äonen-Lehre" ist fest etabliert, das Postulat einer Sündenverfallenheil von daher obsolet. Lediglich ganz am Rande der eigentlichen Argumentation erhebt der Verhängnisgedanke von Fall zu Fall noch schwach sein Haupt. So impliziert der Hinweis Barochs auf Adam und Eva in 48,42 sicherlich einen Verhängnisgedanken, wenn es heißt: "Und ich antwortete und sagte: Oh was hast du, Adam, getan an allen, die aus dir geboren sind? Was wird man von der ersten Eva sagen, daß sie der Schlange gehorcht hat, so daß zum Untergang diese ganze Menge geht und Ungezählte
kommen (siehe H. v.Lips, Weisheitliehe Traditionen, bes. 184ff). Erscheint bereits in Spr 8,2231 die Weisheit als Hypostase (Personifikation?), die bei der Schöpfung der Welt anwesend war (= Präexistenz der Weisheit), so wird diese universelle und präexistente Größe in Jesus Sirach 24 mit der Tora ausdrücklich identifiziert. Durch diese Gleichsetzung mit der kosmischen Weisheit erfährt die Tora eine Ausweitung, die sämtliche Bereiche, irdische wie kosmische, um faßt. 76 Übersetzung nach A F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 153. 77 So auch Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 105. 78 Siehe auch 0.8. Sayler, Have the Promises Failed?, 64. 79 Übersetzung nach A.F.J. KJijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 154.
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(dann) das Feuer verschlingt"SO. Doch ist es der Seher Baruch selbst, der diese Überlegungen in 48,47 sofort wieder revidiert: "Und was sie alle betrifft- ihr Ende wird sie zuschanden machen; und dein Gesetz, das sie ja übertraten, wird sie dann bestrafen an deinem Tage" 81 . Zum wiederholten Mal ist es das Gesetz, das jeglichen Verhängnisgedanken unmöglich macht und die individuelle Verantwortlichkeit eines jeden für sein Tun sicherstellt. 2.5.5.2 Die Frage nach den Gerechten als Adressaten des Heiles (Kap. 49,1-52,1) Die folgenden Zeilen sind ganz den Gerechten als Adressaten des Heils gewidmet (49,1-52,1). Zeigt sich doch der Seher Baruch im Gegensatz zur Rolle des Sehers im 4. Esrabuch, der sich immer wieder für die Sünder einsetzt, ausschließlich an dem Schicksal der Gerechten interessiert. Im Anschluß an diese Überlegungen begegnen uns die Wolkenvision (53,1-12) und ihre Deutung (56,1-75,8), wobei das ZwischenstUck zwischen Vision und Deutung nochmals ganz im Zeichen der Frage nach der Verantwortlichkeit des einzelnen für sein Tun steht (54,1-55,8 besonders 54,14-19). Wenden wir uns zunächst der Diskussion zwischen Gott und dem Seher Baruch um das Problem der Gerechten zu, so wird wiederum das Verhalten des einzelnen gegenüber den drei Größen Gesetz, Einsicht und Weisheit als Maßstab für zukünftiges Ergehen hervorgehoben. Den zukünftigen Äon wird derjenige ererben, der im gegenwärtigen Äon den Forderungen dieser "Trias" gerecht wird. Gegenwart und Zukunft, dieser und der kommende Äon sind an dieser Stelle durch die mit der Weisheit identifizierte Tora zu einer Einheit verbunden. Diesen engen Zusammenhang bringt 51,3 mit folgenden Worten zum Ausdruck: ,.Die Herrlichkeit von denen, die sich jetzt rechtschaffen gezeigt haben, wie mein Gesetz es will, und die in ihrem Leben Einsicht hatten und die in ihrem Herzen hier der Weisheit Wurzel pflanzten - ihr Glanz wird dann verherrlicht sein in unterschiedlicher Gestalt. Ins Licht ihrer Schönheit wird verwandelt sein das Ansehen ihres Angesichts. So können sie die Welt bekommen und empfangen, die nicht vergeht, so wie sie ihnen versprochen ward'' 82 • Der Weg zum zukünftigen Heil steht jedem Menschen offen, der bereit ist, die Gebote der Tora zu erfüllen, und sein Leben durch Einsicht und Weisheit leiten zu lassen 83 . Diejenigen jedoch, die dieses Angebot Gottes ablehnen, werden der
SOObersetzung nach A F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse. 154; vgl. hierzu syrBar 23,4: •.Denn als Adam sündigte und der Tod verhängt wurde über die, die noch geboren werden sollten. da war die Menge derer, die noch entstehen sollten, gezählt"(Übersetzung nach A.F.J. Klijn. Die syrische Baruch-Apokalypse. 138). 81 Übersetzung nach A.F.J. Klijn. Die syrische Baruch-Apokalypse, 154. 82 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse. 156. 83 So auch syrBar 51.7: ,,Die aber. die gerettet sind durch ihre Werke und denen das Gesetz jetzt eine Hoffnung war und denen Einsicht ihre Hoffnung und Weisheit ihr Vertrauen war - ih-
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ewigen Verdammnis nicht entkommenB4. Das Prinzip des Toragehorsams verbunden mit einer Identifikation von Tora und Weisheit stellt die universale Dimension des Heils sicher. Jeder Mensch kann Gottes Verheißung teilhaftig werden, wenn er die ,,Einlaßbedingungen" erfüllt. Dieser Universalismus ist durch die enge Verbindung mit der Tora und der damit verbundenen Betonung der Verantwortlichkeit des einzelnen für seine Taten vor der Gefahr gefeit, in einen "eschatologischen" Heilsautomatismus verkehrt zu werden. Jeder Mensch kann, muß jedoch nicht gerettet werden. Es liegt jeweils in seiner eigenen Hand. Die tragende Rolle, die in dieser ganzen Konzeption gerade der Frage nach der individuellen Verantwortlichkeit zukommt, zwingt den Verfasser der syrischen Baruchapokalypse dazu, sich abschließend nochmals mit dem Sündenverhängnisgedanken zu beschäftigen. Nur das Postulat eines Sündenverhängnisses in der gegenwärtigen Welt wäre in der Lage, mit Blick auf den zukünftigen Äon einen von Gott ausgehenden Heilsautomatismus zu begründen. Zu dieser, den bisherigen Gedankengang abschließenden Bekräftigung der individuellen Verantwortlichkeit kommt es innerhalb eines Gebets des Sehers, das zwischen die Wolkenvision und deren ausführlicher Deutung eingeschoben ist.
2.5.5.3 Das Gebet Baruchs in Kap. 54,1-22 als Bekräftigung der individuellen Verantwortlichkeit Die Stellung dieses Gebetes zwischen der Wolkenvision und ihrer Deutung ist sicherlich bewußt gewählt, da bereits die Wolkenvision dadurch, daß sie die Geschichte Israels in zwölf sich ablösende Unheils- und Heilsperioden einteilt, der menschlichen Eigenverantwortung Rechnung trägt. Betrachten wir nun das Gebet im einzelnen, so beginnt es analog zu 47,1ff in 54,1 mit einem Lob der Allmacht Gottes: ,,Du allein, o Herr, hast zuvor die Höhen der Welt gekannt, und was (noch) geschehen wird in den Zeiten, das bringst du durch dein Wort. Und gegen die Werke der Erdbewohner bringst du eilends nahe die Anfänge der Zeiten. Das Ende der Perioden kennst nur du allein"BS. Im Gegensatz zu dem Gebet in 48,1ff kommt es innerhalb von 54,1-22 zu keiner Anklage Gottes. Der Seher ist mit Gottes Walten völlig einverstanden. Bereits in Vers 5 gibt
nen werden Wunder erscheinen daM, weM ihre Zeit gekommen ist" (Übersetzung nach A. F. J. Klijn. Die syrische Baruch-Apokalypse. 156). 84 Diesen .. negativen Zusammenhang" bringen die Verse 51,4f klar zum Ausdruck: ..Besonders darum werden, die dann kommen, traurig sein, weil sie mein Gesetz gering geachtet und ihre Ohren so verstopft haben, daß sie Weisheit nicht hören und Einsicht nicht empfangen konnten. 5 Darum - wenn sie sehen werden. daß die, Uber die sie sich jetzt hoch erhaben dUnkten. alsdann erhoben und verherrlicht werden weit mehr als sie und verwandelt werden diese wie auch jene - zum Glanz der Engel diese, jene (aber) zu bestürzenden Erscheinungen und gräßlichen Gestalten- noch schlimmer werden sie vergehen" (Übersetzung nach A. F. J. Klijn. Die syrische Baruch-Apokalypse. 156). BS Übersetzung nach A. F. J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse. 158.
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er der Überzeugung Ausdruck, daß Gott nur die Gesetzestreuen in die apokalyptischen Geheimnisse einweihen wird: ,,zeig deine mächtigen Taten denen, die dich nicht kennen; du reißt die Umzäunung ab für die, die unerfahren sind, und du machst hell die Dunkelheiten und offenbarst Vergangenes denen, die ohne Tadel sind und sich in Zuversicht dir unterworfen haben und deinem Gesetz"86. Toragehorsam und die Einsicht in das apokalyptische Geheimwissen bedingen sich gegenseitig. Analog zum 4. Esrabuch wird auch in der syrischen Baruchapokalypse das apokalyptische Geheimwissen ausdrücklich an die Tora zurückgebunden. Die enge Verbindung zwischen Gesetz und Gericht, deren Berechtigung in 48,20ff noch in Zweifel gezoger. wurde, wird durch den Seher in Vers 14 ausdrücklich hervorgehoben: ,,Mit Recht gehen auch die zugrunde, die dein Gesetz nicht lieben. Die Qualen des Gerichts werden auf die treffen, die sich nicht deiner Macht gebeugt haben"87. Gottes Macht zeigt sich im forensischen Charakter der Tora. Das Gesetz ist und bleibt Gerichtsnorm88. In diesem Kontext ist für Versuche, die Sünden der Menschen als Folgen eines auf Adam zurückgehenden Sündenverhängnisses zu entschuldigen, kein Platz mehr. Diese Überzeugung bringt 54,15 klar zum Ausdruck: ,;zwar sündigte einst als erster Adam und hat damit vorzeitigen Tod gebracht für alle, doch hat von denen, die aus ihm geboren sind, ein jeder auch für sich selbst zukünftige Strafe bereitet. Und also wählte ein jeglicher auch für sich selbst die künftige Herrlichkeit"89 . Lediglich für die Tatsache, daß alle Menschen sterben müssen, nicht aber für die einzelnen Sünden der Individuen trägt •.Adams Sündenfall" die Verantwortung. Auf die Tat Adams läßt sich höchstens ein Todesverhängnis, jedoch kein Sündenverhängnis zurückführen90. Mit diesem Bekenntnis zur Freiheit und Verantwortlichkeit des Individuums hat sich Baruch endgültig von allen Versuchen, die Berechtigung der engen Verbindung von Gesetz und Gericht in Frage zu stellen, emanzipiert. Der Charakter des Gesetzes als Norm für Gottes endgültiges Gerichtshandeln ist gefestigt. Nicht mehr das Walten Gottes ist für den Seher völlig unverständlich (vgl. 14,8), sondern das Verhalten der Menschen, die den Toragehorsam verweigern: "Und ich wunderte mich und war erstaunt und sann nach in meinen Gedanken über die Vielfalt der Güte, die die Sünder auf Erden doch (immer wieder) von sich stießen; (ich sann nach) über die große Strafe, die sie mißachteten, wenngleich sie doch wußten, daß sie Pein erleiden müßten für die Sünden, die sie begehen" (55,2)91. Baruch, der im Vergleich zum Seher Esra immer nur ein recht halbherziger Oppositionsführer 86 Übersetzung nach A. F. J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 159. 87
Übersetzung nach A. F. J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 160.
88 So auch Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie, 105 und 111. 89 Übersetzung nach A. F. J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 160. 90 Siehe auch syrBar 54,19: ,,5omit ist Adam einzig und allein für sich der Grund; wir alle aber wurden Stück für Stück zu Adam für uns selbst" (Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 160). 91 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 160.
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war, ist nun endgültig auf die Linie Gottes eingeschwenkt und damit für den Empfang apokalyptischen Geheimwissens in Gestalt der Deutung der Wolkenvision qualifiziert.
2.5.5.4 Die Wolkenvision (Kap. 53,1-12) und ihre Deutung (Kap. 56,1-75,8) 2.5.5.4.1 Die Wolkenvision In der Wolkenvision sieht Baruch eine Wolke, aus der abwechselnd schwarzes und weißes Wasser auf die Erde niedergeht. Dieser Vorgang wiederholt sich zwölfmal, wobei die Menge des schwarzen gegenüber der des weißen Wassers immer überwiegt (53,1-6). Nach der letzten Periode des schwarzen Wassers, das sogar mit Feuer gemischt ist, erscheint ein Blitzstrahl, der die ganze Erde beherrscht (53,7-10). Am Ende erscheinen zwölf Ströme, die dem Blitzstrahl dienen (53,11). Die Vision bezieht sich sicherlich auf die Geschichte Israels bzw. die Geschichte der Menschheit92 • Die gesamte Weltgeschichte wird in unterschiedliche Perioden eingeteilt, wobei sich Unheil und Heil gegenseitig abwechseln. Die Weltgeschichte beginnt im Gegensatz zu den Geschichtsrückblicken innerhalb des äthiopischen Henochbuches mit einer Unheilsperiode. Die Urzeit kommt gerade nicht als Typos der Heilszeit in den Blick93. Über der gesamten Geschichte dieses Äons steht von Anfang an ein böser Stern. Die ganze Weltgeschichte ist von der Tatsache gezeichnet, daß das Böse gegenüber dem Guten überwiegt. Zu einer Determination der Weltgeschichte zum Bösen, wie wir sie aus dem Geschichtsrückblick in IV Esr 3,4-28 kennen, kommt es an dieser Stelle jedoch nicht. Die Tatsache, daß sich die verschiedenen Unheils- und Heilsperioden gegenseitig ablösen, läßt menschlicher Eigenverantwortung einen recht weiten Spielraum94 • Den Endpunkt dieses Geschichtsverlaufs in der Wolkenvision markiert das Eingreifen des Messias, der sich hinter dem Bild eines Blitzstrahles verbirgt. Das messianische Zeitalter ist innerhalb der Wolkenvision der zentrale Punkt des geschichtlichen Ablaufs. Die der Wolkenvision zugrundeliegende Eschatologie ist durch und durch diesseitig orientiert9S, die Vorstellung eines kommenden Äons ist diesem Traditionsstück noch fremd. Der Verfasser der Deutung der Wolkenvision hat offensichtlich gerade diese rein diesseitige Orientierung der Wolkenvision als Mangel empfunden und durch eine auf den kommenden Äon bezogene Perspektive 92 Beides ist möglich und braucht sich nicht gegenseitig auszuschließen. Auch die Geschichtsrückblicke innerhalb des äthiopischen Henochbuches und des 4. Esrabuches thematisieren zum Teil gleichzeitig Weh- und Heilsgeschichte. 93 Sowohl die Zehn-Wochen-Apokalypse als auch die Tiervision setzen mit einer Heilsperiode ein. 94 So auch K.-H. MUIIer, Geschichte, Heilsgeschichte und Gesetz, in: Literatur und Religion des FrUhjudentums, 91; siehe ferner J. Köberle, SUnde und Gnade, 570. 9S Umstritten bleibtlediglich die Frage, ob das messianische Reich fUr das Volk Israel oder fUr alle Völker die entscheidende Heilszeit darstellt. Alles hängt in dieser Frage an der Deutung der 12 Ströme in Vers II. Beziehen sich diese auf Israel oder auf alle Völker?
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erweitert. Das messianische Zeitalter wird dort zum bloßen Durchgangsstadium auf dem Weg zum kommenden Äon degradiert96 • Doch dies ist, wie wir noch sehen werden, nicht der einzige Punkt, an dem sich die Wolkenvision von ihrer Deutung unterscheidet. Die Wolkenvision ist eindeutig als älteres Traditonsstück zu identifizieren, das durch Anfügen der Deutung überarbeitet worden ist. Da jedoch auch die Deutung in einigen Partien (z. B. auch in einigen Aussagen, die sich mit der Rolle der Tora beschäftigen) in einer gewissen Spannung zu anderen Gesetzesaussagen innerhalb der syrischen Baruchapokalypse, die zweifellos dem Verfasser selbst zuzuschreiben sind, steht, ist sicherlich auch die Deutung nicht der Feder des Verfassers der Bamchapokalypse entsprungen. Die Wolkenvision und ihre Deutung stellen einen Traditionszusammenhang dar, der dem Verfasser der Baruchapokalypse schon vorlag und von diesem in sein Werk eingebunden wurde97. Bei solch einer kompilatorischen Vorgehensweise kann es nicht ausbleiben, daß auch Textpartien, die der Meinung des Verfassers entgegenlaufen, Eingang in das Gesamtwerk finden.
2.5.5.4.2 Die Deutung der Wolkenvision Die Deutung lehnt sich auf den ersten Blick eng an die Wolkenvision an, wenn sie die Weltgeschichte aus 13 Teilen zusammengesetzt sein läßt. Die zwölf weißen und schwarzen Wasser entsprechen 12 Abschnitten innerhalb der Weltgeschichte, in deren Zentrum jedoch eindeutig die Geschichte Israels steht (56,5--68,8). Das sehr schwarze und mit Feuer gemischte Wasser, das innerhalb der Wolkenvision das Ende der letzten Unheilszeit und den Beginn der messianischen Heilszeit markiert, wird in der Deutung auf den Untergang des gegenwärtigen Äons bezogen (69,1-70,10). Die messianische Heilszeit (71,1-74,4) wird nicht als End- und Höhepunkt des geschichtlichen Ablaufs verstanden, sondern sie markiert lediglich den Übergang vom gegenwärtigen zum zukünftigen Äon. Diesen Sachverhalt bringt 74,2 mit folgenden Worten zum Ausdruck: ,,Denn jene Zeit wird das Ende dessen sein, was vergänglich ist, und der Beginn von dem, was unvergänglich ist"9 B. Gleichgültig wie dieses Übergangsstadium auch näher zu bestimmen sein mag99 , die auf den gegenwärtigen Äon bezogene messianische Eschatologie wird der auf den zukünftigen Äon ausgerichteten Zwei-Äonen-Eschatologie eindeutig untergeordnet. Gehen wir in einem ersten Arbeitsschritt die einzelnen sich abwechselnden Heils- und Unheilsperioden nacheinander durch, dann haben nur die erste 96
Siehe Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie,l03.
97 Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie, 102, schreibt die gesamte Deutung der Wolkenvi-
sion dem Verfasser der syrischen Baruchapokalypse zu; vgl. dagegen U.B. Müller, Messias und Menschensohn, 134-136, der davon ausgeht, daß die Deutung der Wolkenvision einem späteren Redaktor (,,Pseudobaruch") zuzuschreiben ist. 98 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 172. 99 Einige Ausleger sehen in der messianischen Heilszeit bereits einen Teil des zukünftigen Äons, andere interpretieren diese eher als einen zum gegenwärtigen Äon gehörigen ,.Vorhof' der kommenden Welt.
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(56,5-16) und letzte Periode (69,1-70,10) weltgeschichtliche Zusammenhänge zum Thema, während sich die elf dazwischenliegenden Perioden ausschließlich mit der Geschichte Israels beschäftigen (57,1- 68,8). Die Weltgeschichte beginnt mit einer Unheilsperiode, die durch die Gebotsübertretung Adams (56,59) und den Engelsturz (56,10-14) gekennzeichnet ist. Die Sintflut bildet den natürlichen Abschluß dieser Unheilsepoche. Im Gegensatz zu anderen Geschichtsüberblicken innerhalb der apokalyptischen Literatur springen einige Besonderheiten sofort ins Auge. Wird doch Noah, der als Typos des Gerechten an vielen Stellen der apokalyptischen Literatur eine große Rolle spieJt 100, mit keinem Wort erwähnt Die Urgeschichte der Menschheit ist von Anfang an verderbt. Weder die Gebotsübertretung Adams noch der Engelsturz wird jedoch dazu verwendet, den Gedanken einer Sündenverfallenheil der Menschheit zu begründen. Adam und die Engel sind einzig für ihre eigenen Taten verantwortlich. Die Engel waren zu keiner Zeit gezwungen, dem schlechten Beispiel Adams zu folgen. Ihr Entschluß, sich mit den Menschenfrauen zu verbinden, wird als Produkt ihrer Willensfreiheit verstanden. Diesen Zusammenhang bringt 56,10f mit folgenden Worten zum Ausdruck: ,,Denn jener Adam, der zunächst Gefahr war für sich selbst, war auch Gefahr dann für die Engel. 11 Sie hatten ja auch Freiheit in jener Zeit, als er geschaffen wurde" 101• Zwar entfaltet Adams Gebotsübertretung hinsichtlich der Sünde keine verhängnisbildende Wirkung, doch ist dessen Tat für die weitere Geschichte des gegenwärtigen Äons nicht ganz ohne Bedeutung. Adams Gebotsübertretung ist dafür verantwortlich, daß alle Menschen sterben müssen. Menschliches Glück scheint in dieser Weltzeit nicht vorgesehen zu seinl02. Ist der gegenwärtige Äon durch Tod, Leid und Qualen gekennzeichnet, so trifft Adam zumindest für die Heilsfeme der gegenwärtigen Weltzeit die volle Schuld. In völligem Kontrast zu dieser einseitig negativen Charakterisierung der Urgeschichte der Menschheit steht der Beginn der Geschichte Israels. Am Anfang der Geschichte Israels steht die Gestalt Abrahams. Im Gegensatz zu anderen GeschichtsrUckblicken der apokalyptischen Tradition wird Abraham jedoch nicht mit der Erwählung Israels in Verbindung gebracht. Der Verfasser dieser Zeilen ist bedeutend mehr an Abraham als dem "Typos des Gerechten" als an seiner Funktion als "Stammvater Israels" interessiert. Das Gesetz, das Endgericht und der kommende Äon sind die entscheidenden Größen, die die Geschichte Israels von Anfang an bestimmen. Dies geht aus 57,2 klar und deutlich hervor, wenn es 100 Siehe
Zehn-Wochen-Apokalypse, Tiervision,IV Esr 3. Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 162. 102 SyrBar 56,6: ,,Denn als er Ubertrelen haue, isl der voneilige Tod gekommen, und Trauer ward genannl und Trübsal vorbereilel, die Krankheil ward geschaffen und Mühsal ward vollendel, und Prahlerei begann sich einzuslellen. Es forderte das Torenreich Erneuerung durch Blul; es enlSiand das Kinderzeugen, und Leidenschaft der Ellern ward bewirkt, und die Erhabenheil der Menschheil ward erniedrigt, und die GUle schwand" (Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 162). 101
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von der Zeit Abrahams heißt: ,,In jener Zeit galt ihnen doch ein ungeschriebenes Gesetz, die Werke der Gebote wurden damals schon getan, der Glaube an das kommende Gericht ward damals schon erweckt, die Hoffnung auf die Welt, die einst erneuert werden wird, ward damals schon gebaut. Es ward gepflanzt auch die Verheißung eines Lebens, das einmal kommen wird" 103. Die enge Verbindung zwischen Gesetz und Endgericht weist deutlich auf den forensischen Charakter der Tora hin. Das Gesetz ist auch hier nicht als Zeichen der Erwählung Israels verstanden, sondcrr. als G~chtsnorm. Die Tora als fordern· der Gotteswille markiert den Anfang der Geschichte Israels. Gottes Verheißung an Abraham wird zwar erwähnt, jedoch nicht auf den gegenwärtigen Äon bezogen. Gottes Verheißung ist von Anfang an eine rein transzendente Größe. Erst der kommende Äon wird die Erfüllung von Gottes Heilszusage bringen. Der Verfasser dieser Zeilen kann den Beginn der Geschichte Israels wohl gerade deshalb so positiv zeichnen, weil dieser von vomherein auf den zukünftigen Äon bezogen wird. Das Urdatum Israels wird auf diese Weise zum Beginn des neuen Äons erklärt. Die enge Verbindung zwischen der Geschichte Israels und dem zukünftigen Äon darf jedoch nicht in dem Sinne mißverstanden werden, als ob das Volk Israel zum Heil determiniert sei. Der Gehorsam gegenüber den Geboten der Tora ist und bleibt das entscheidende Kriterium dafür, daß diese enge Verbindung Bestand hat. Nur detjenige, der die Gebote der Tora erfüllt und im Endgericht besteht, kann als Gerechter sein Anrecht auf das Heil, das der zukünftige Äon bringt, geltend machen. Folglich kommen nur die Gerechten, nicht das Volk Israel in seiner Gesamtheit als Adressat des eschatologischen Heils in Frage. Steht die Gebotsübertretung Adams fUr die Heillosigkeit des gegenwärtigen Äons, so stellt die Gesetzestreue Abrahams das Kommen der zukünftigen Heilszeit sicher. Der einzige Weg, der aus der heillosen Gegenwart zur heilvollen Zukunft führt, ist der Weg des Gesetzes. Die Gebotsübertretung Adams und die Verheißung an Abraham stellen lediglich den Bestand der zwei Äonen sicher. Weder determiniert erstere zur Sünde noch letztere zum Heil. ,,Israelit" im Sinne des Autors dieser Zeilen und damit Nachkomme Abrahams und Empfänger des zukünftigen Heils ist jeder Mensch, der den Geboten des Gesetzes gerecht wird. Dieses universalisierte Gesetzesverständnis findet nicht zuletzt in der Wendung vom "ungeschriebenen Gesetz" seinen Niederschlag. Die Vorstellung, daß die Tora bereits vor ihrer Verschriftlichung durch Mose von den Gerechten der Vorzeit getan wurde, findet sich auch in Texten des Griechisch sprechenden Judentums104. Im Griechisch sprechenden Judentum ist diese Vorstellung gleichfalls eng mit Tendenzen verbunden, die eine Universalisierung des Gesetzes zum Ziel haben. Während jedoch in apokalyptischen Zusammenhängen diese Universalisierungstendenzen ihren Grund eindeutig in der engen Verbindung zwischen Gesetz und Weisheit haben, geht 103 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 162. 104 Siehe z.B. Philo, Abr S und 276.
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die Universalisierungsvorstellung bei Philo von Alexandrien auf die Aufnahme stoischer Gedanken zutilck, die sich um eine Verhältnisbestimmung der Größen v6~~ und q>ixn~ ranken•os. Hier wie dort wurde aus der jüdischen Tora das universale Weltgesetz, das auch den Heiden über den Weg der Vernunft zugänglich ist106. Die Bedeutung der Volkszugehörigkeit wird vom Tomgehorsam her relativiert 107. Die ausschließliche Bindung des eschatologischen Heils an die Frage gegenwärtiger Gesetzeserfüllung stellt sowohl die Universalität als auch die Individualität dieses Heils sicher. Bevor wir in der Interpretation der Deutung der Wolkenvision fortfahren, wollen wir noch kurz darauf hinweisen, daß uns in 57,2 mit der Wendung "Werke der Gebote" eine Wortverbindung begegnet, die mit Blick auf das Gesetzesverständnis des Paulus von besonderem Interesse ist. Erinnert sie doch an die gerade in neuester Zeit wieder höchst konträr diskutierte Wendung lpya v6~ou, die für die Interpretation des Gesetzesverständnisses des Römer- und Galaterbriefes von großer Bedeutung ist. Eine ausführliche Würdigung der mit dieser Wendung verbundenen Problematik soll jedoch einem späteren Zeitpunkt vorbehalten bleiben. Fahren wir nun in unserer Beschäftigung mit der Deutung der Wolkenvision fort, so sind die Akteure, die die auf die Zeit Abrahams folgende Unheilsperiode bestimmen, wieder die fremden Völker, aus deren Masse vor allem die Ägypter als diejenigen, die Israel knechteten, besonders herausragen (58,1). Im Anschluß daran weiß die Deutung der Wolkenvision von einer Heilsperiode zu berichten, die die Zeit des Mose und dessen Nachfolger umfaßt. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß in diesem Geschiehtsahriß Gestalten wie Jakob und Josef, die in anderen apokalyptischen Zusammenhängen eine gewichtige Rolle spielen, völlig übergangen werden•os. Ganz anders verhält es sich mit der Person des Mose. Mose und mit ihm die Gesetzgebung sind für die 105 Das Verhältnis von v6~oc; und ql'ucnc; in der griechischen Tradition läßt sich in kurzen Zügen folgendermaßen bestimmen. Ursprünglich standen sich vor allem in der Sophistik die beiden Größen ~oc; und cpU
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Konzeption des Geschiehtsahrisses unverzichtbar. Mose wird in Analogie zu Abraham von sämtlichen partikularen, auf das Volk Israel bezogenen Fesseln befreit, indem die Tora in 59,2 wiederum nicht als Zeichen der Erwählung Israels, sondern ausschließlich als Gerichtsnorm zur Sprache kommt, an der sich das Schicksal jedes einzelnen Menschen entscheidet: ,,In jener Zeit erhellte doch des ewigen Gesetzes Leuchte, das bis in Ewigkeit besteht, alle jene, die im Dunkel saßen; den Gläubigen wird sie die Verheißung ihres Lohnes ankündigen und denen,
109 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse. 163. 11 0 Siehe syrBar 61.3--6: ,.Und Ruhe und Frieden herrschten damals, 4 und Weisheit ward gehön in der Versammlung, der Einsicht Reichtum ward in den Zusammenkünften groß gemacht. 5 In Fülle und mit großer Freude beging man die heiligen Feste. 6 Und das Gericht der Herrscher sah man damals ohne Trug, und die Gerechtigkeit nach den Geboten des Allmächtigen ward in Wahrheit ausgeführt" (Übersetzung nach A F.J. Klijn, Die syrische BaruchApokalypse, 164). 111 Der Universalistische Geist der ersten Perioden paßt genau in das Konzept des Verfassers der syrischen Baruchapokalypse.
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als Kollektiv im Mittelpunkt des Interesses 112• Zwar kommt dem Tempel und der Festfreude eine bedeutende Rolle zu, wenn es darum geht, diesen Abschnitt der Geschichte Israels als heilvoll zu charakterisieren, doch letztlich ist es auch in diesem Kontext wieder die mit der Weisheit aufs engste verbundene Tora, der in dieser Frage das letzte Wort zukommt. Nicht der Tempelkult, sondern ausschließlich der Taragehorsam war in diesen Tagen der Garant des Heils. Besteht doch nach 61,6f ein ganz enger Zusammenhang zwischen Taragehorsam und Gottes Barmherzigkeit: "Und das Gericht der Herrscher sah man damals ohne Trug, und die Gerechtigkeit nach den Geboten des Allmächtigen ward in Wahrheit ausgeführt. 7 So ward das Land, das seinerseits Barmherzigkeit empfing, weil seine Einwohner nicht sündigten, gepriesen über alle Länder, und die Stadt Zion herrschte damals über alle Lande und auch über alle Landstriche"IIJ. Der Gesetzesgehorsam der Einwohner Jerusalems, der sich darin zeigt, daß sie nicht sündigen, ist für deren Glück verantwortlich. Die nächsten Perioden des Geschiehtsahrisses befassen sich fast ausschließlich mit dem Volk Israel. Auch innerhalb der Unheilsepochen treten die fremden Völker immer mehr in den Hintergrund und überlassen das Feld dem Volk Israelll4. Sowohl in den auf die dritte Heilsepoche folgenden Unheils- als auch Heilsepochen spielen kultische Fragen die entscheidende Rolle. Dieses starke Interesse am Kult, das uns bereits an anderen Stellen innerhalb der syrischen Baruchapokalypse entgegentrat, braucht nicht von vomherein gegen die Partien der syrischen Baruchapokalypse ausgespielt zu werden, die einzig in unbedingtem Gesetzesgehorsam, der allen Menschen möglich ist, das entscheidende Mittel zum Erwerb eschatologischen Heils sehen. Bereits ein kurzer Blick auf die Frühphase der frühjüdischen Apokalyptik zeigt uns, daß auch dort, in Textpartien des biblischen Daniel- und äthiopischen Henochbuches, gerade der Kultgesetzlichkeit eine große Bedeutung zugemessen wird. Die Tatsache, daß eschatologische Hoffnungen, die sich um eine Restauration des Tempelkultes ranken, mit dem universalen, einzig an der Tora orientierten Heilskonzept des Verfassers der syrischen Baruchapokalypse nicht zu vereinbaren sind, muß noch lange nicht bedeuten, daß der Kultgesetzlichkeit im Konzept des Autors keine Aufmerksamkeit zuteil wird 11 S. Zwar läßt sich innerhalb der syrischen Baruchapokalypse eine Tendenz erkennen, jegliche Heilssicherheit zu zer112 Zwar wird auch in syrBar 59,4 innerhalb der zweiten mit der Person des Mose verbundenen Heilsperiode Zion erwähnt, doch ist Zion hier ausschließlich eine zukünftige Größe. Mose wird nicht nur der gesamte Geschichtsverlauf innerhalb des gegenwärtigen Äons offenbart, sondern er erhält bereits Einblick in den zukünftigen Äon. Der .,wahre Tempel" und das .,wahre Jerusalem" sind somit für den Verfasser dieser Zeilen eine transzendente Größe. II JObersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 164. 114 In syrBar 62,7 heißt es von den fremden Völkern: .,Gar viel wäre von den Heidenvölkern zu erzählen; wie sie fonwährend ungerecht und frevelnd handelten und sich niemals gerecht zeigten" (Übersetzung nach A.F. J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 165). IIS Siehe Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie, 110; gegen F.J. Murphy. JBL 1987,67168 3; ferner ders., The Structure and Meaning of Second Baruch, 71-116.
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schlagen, die sich auf den Besitz von nationalen ,,HeilsgUtern" gründet, so daß weder die Zugehörigkeit zum Volk Israel noch eine eschatologische Restitution des Tempelkultes, sondern nur das "Tun der Tora" in der Lage ist, eschatologisches Heil zu garantieren 116, aber das "Tun der Tora" darf keinesfalls auf die soziale Dimension des Gesetzes reduziert werden. Die kultische Dimension des Gesetzes steht der sozialen Dimension völlig gleichberechtigt zur Seite. Richten wir unser Augenmerk wieder auf die Deutung der Wolkenvision, so wird die Epoche Jerobeams deshalb zw UnheHsperiode erkHtrt, weil dieser sich mit der Absicht trug, zwei goldene Kälber herstellen zu lassen (62,1). Gleiches gilt in gesteigener Form fUr die Zeit Manasses. In 64,2 werden dessen entscheidende Taten folgendermaßen beschrieben: .. Sehr gottlos handelte er und tötete die Gerechten, beugte das Recht und vergoß unschuldig Blut, schändete Ehefrauen mit Gewalt und warf Altäre um und schaffte ihre Opfer ab, vertrieb die Priester, damit sie in dem Heiligtum nicht dienen konnten"11 7 • Auch hier zeichnen neben sozialen vor allem kultische Vergehen fUr die Charakterisierung dieser Zeit als Unheilsperiode verantwortlich. Daneben weiß der Vedasser dieser Zeilen noch von Manasses Götzendienst (64,3) und dem Auszug der Herrlichkeit Gottes aus dem Tempel (64,6) zu berichten. Gott faßte bereits in dieser Unheilsepoche den Entschluß, Zion vollständig zu vernichten, ein Entschluß, der mit der Zerstörung Jerusalems durch die Römer zur Ausführung gelangte118. Die Zeit Josias geht als Heilsepoche in die Geschichte ein, weil Josia den rechten Kult restituierte11 9 und die Feste und Sabbate pflegte (66,4). Seine Gesetzestreue zeigte sich vor allem darin, daß er alle Personen, die innerhalb des Landes nicht beschnitten waren, vernichtete (66,5). Diese enge Verbindung zwischen Gesetzestreue und Beschneidung steht im krassen Gegensatz zu den Ausführungen der Kapitel 41 und 42, in denen die Bedeutung der Beschneidung vom Gesetzesgehorsam her deutlich relativiert wird. Die Vernichtung Jerusalems durch Nebukadnezar (67,1-9) erscheint als sechste Unheils- und die RUckkehr aus dem Exil (68,1-8) als sechste Heilszeit Danach geht die Überlieferung hinsichtlich der Deutung der letzten schwarzen Wolke, die mit Feuer vermischt ist, und des Blitzstrahls ziemlich auseinander. 11 6 Vgl. in diesem Zusammenhang folgendes Diktum von F.J. Murphy, JBL 1987, 683: .Jt attacks or downgrades a wide range of beliefs associated with the Temple. In so doing it alleviates the pain of the people and shifts the focus of their hope away from restoration of the Temple to the possibility of entrance into heaven through obedience to the law". 117 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 166. 11 8 So syrBar 69,4: ,,Dann ging der Zorn von dem Allmächtigen aus, daß Zion ausgerottet werden sollte, wie es geschah in euren Tagen" (Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruchapokalypse, 166). 119 SyrBar 66,2: •.Er reinigte das Land von seinen Götzen und heiligte all die Gefäße. die entweiht waren. und er gab die Opfer dem Altar zurtlck. Er hob das Horn der Heiligen empor, erhöhte die Gerechten und ehrte alle Weisen mit Verstand. Die Priester ft1hrte er in ihren Dienst zurück. und er entfernte und vertrieb die Zauberer und Magier und Weissager aus dem Lande"(Übersetzung nach A. F. J. Klijn. Die syrische Baruch-Apokalypse,l67).
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Nach 69,1-6 und 70,1-10 steht das letzte schwarze Wasser für Gottes Endgericht über die gesamte Erde. Lediglich die Notiz in 70,2, die davon redet, daß .,die Saat der Bösen und der Guten ihre Ernte finden wird"t2o, läßt auf einen forensischen Charakter des Endgerichtes schließen. Nach Vers 10 tritt uns das Endgericht dann in der Gestalt eines Vernichtungsgerichtes Uber die Menschheit entgegen. Dort heißt es: "Verschlingen wird die ganze Erde dann ihre Bewohner''t2t. In völligem Kontrast zu dieser Aussage steht die Hoffnung, die 71,1 zum Ausdruck bringt, daß das ,,heilige Land" seine Bewohner vor diesem Vernichtungsgericht schützen werde. Gerade diese auf den gegenwärtigen Äon und das Volk Israel beschränkte Heilshoffnung wird durch 71,2 als Endpunkt der Deutung der Wolkenvision ausgewiesen. Die Kapitel 72,1-74,4, in deren Zentrum das messianische Zeitalter steht, verstehen sich jedoch weiterhin als Deutung der Wolkenvision, die dann erst durch die Notiz in 76,1 ihren endgültigen Abschluß findet. Das messianische Zeitalter stellt nach 74,2 den Übergang zur kommenden Weltzeit, womöglich sogar bereits einen Teil des kommenden Äons dar 122. In diesem Kontext eignet dem messianischen Zeitalter eine Universalistische Tendenz, da es nach 72,3ff auch für die fremden Völker, die Israel gegenüber nicht feindlich gesinnt waren, Heil bereithält. Die auf den gegenwärtigen Äon und das Volk Israel beschränkte partikulare Heilshoffnung des "ersten Schlusses" (71,10 wird durch eine auf den zukünftigen Äon bezogene und über den Kreis Israels hinausgehende Heilshoffnung ersetzt, die einen etwas universelleren Geist atmet. Während jedoch auch dieser ,,zweite Schluß" hauptsächlich noch in kollektiven, an Israel und den Völkern orientierten Bahnen denkt, bietet erst die Rede Barochs an das Volk, die die Deutung der Wolkenvision und darilber hinaus den ganzen Abschnitt 48,1-77,16 abschließt, das für die Auffassung des Verfassers der syrischen Baruchapokalypse typische Bild. An die Stelle einer mit der Gestalt des Messias verbundenen partikularen, auf das Schicksal Israels beschränkten Heilshoffnung, tritt nun nochmals das Bekenntnis zu einer mit der Tora verbundenen universalen, einzig am Schicksal des einzelnen Gerechten interessierten Heilshoffnung.
2.5.5.5 Die Rede Baruchs an das Volk (Kap. 77,1-26) Der erste Teil der Rede Baruchs bewegt sich deutlich in deuteronomischdeuteronomistischen Bahnen, wobei sich jedoch analog zum 4. Esrabuch eine "apokalyptische Transformation" der alttestamentlichen Deuteronomistik feststellen läßt. Die geschichtliche Katastrophe Israels ist Folge des Ungehorsams gegenüber der Tora. Vergegenwärtigen wir uns hierzu zunächst die Verse 77 ,3f: ,,Denn euch und euren Vätern hat der Herr das Gesetz gegeben vor allen Völkern. 4 Weil aber eure Brüder die Gebote des Höchsten übertraten, brachte
t20
Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 169.
121 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 170. 122 Siehe Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 103.
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er Vergeltung über euch und sie und hat die Früheren nicht verschont. Vielmehr ließ er die Nachkommen in Gefangenschaft führen und ließ von ihnen keinen Rest mehr Ubrig"l23. Gottes Gericht über Israel orientierte sich einzig und allein an der Frage des Gebotsgehorsams. Die Verantwortlichkeit für den Untergang Jerusalems lag ausschließlich in der Sünde der Israeliten verborgen. Heißt es doch in 77,10: "Um euretwillen, die ihr sündigtet, ist es zerstört, obschon es nicht gesündigt hat; um deretwillen, die gesündigt haben, ist das, was nicht gefrevelt hat, den Feinden übcrliefert"124 • Die Sünde ist nicht ale Verhängnis verstanden, sondern als selbstverschuldete Tat, die ihre negativen Folgen in sich trägt. Hat alles Leid der Vergangenheit und Gegenwart seinen Grund einzig im Ungehorsam gegenüber den Geboten der Tora, so kann auch die Hoffnung auf das zukünftige Heil nur im Toragehorsam gründen. Der Tora kommt nicht die Aufgabe zu, die Gegenwart zu verbessern, sondern sie ist die Brücke zum zukünftigen Äoni 2S. Die eschatologische Funktion der Tora steht im Mittelpunkt des Interesses. Ferner nimmt die Tora in dieser Konzeption eine absolute Stellung ein. Gesetzeskundige Autoritäten, Propheten und Weisheitslehrer werden ihr gegenüber zu völliger Bedeutungslosigkeit degradiert. Eine gewisse Demokratisierung des Heilsweges ist nicht zu leugnen. Dies zeigt sich deutlich in der Antwort des Sehers Baruch auf die besorgten Fragen des Volkes über den Mangel an gesetzeskundigen Autoritäten in der Gegenwart. Die Sorgen des Volkes werden in 77,13 folgendermaßen ausgedrUckt: ,,Denn die Hirten Israels sind umgekommen, die Lampen, die uns Licht gaben, sind erloschen, und die Quellen haben ihre Ströme zurückgehalten, von denen wir zu trinken pflegten" 126. Die Antwort Barochs in 77,15f lautet: ,.Hirt und Lampen und Quellen: sie stammten aus dem Gesetz; wenn wir auch fortgehen, so bleibt doch das Gesetz bestehen. 16 Schaut ihr darum auf das Gesetz und behaltet die Weisheit im Auge, so wird es nicht an einer Lampe fehlen, der Hirt wird nicht weichen, und die Quelle wird nimmermehr austrocknen" 127 . Einzig die Tora, die auch hier nochmals ausdrUcklieh mit der Weisheit identifiziert und damit in einen universalen Rahmen gestellt wird, bleibt für die Zukunft als Garant des Heils in Kraft. Der unbedingte Gehorsam gegen die Gebote der Tora, wie er allen Menschen möglich ist, ist fUr jeden einzelnen die einzige Möglichkeit, sich des eschatologischen Heils im zukünftigen Äon zu versichern. Die deuteronomistische Gesetzestheologie wird auch in der syrischen Baruchapokalypse einer ,,Individualisierung" und ,,Eschatologisierung" unterzogen. Endet somit auch der dritte Hauptteil der syrischen Baruchapokalypse mit einem eindrucksvollen Appell zu unbedingtem Gehorsam gegenüber den Geboten der Tora, so wollen wir uns nun in einem letzten Arbeitsschritt dem Brief 123 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse. 173. Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse. 173. Siehe Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie, 111. 126 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse. 174. 127 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 174. 124 125
Die syrische Baruchapokalypse
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Barochs an die neuneinhalb Stämme zuwenden (78,1-87,1), der als eine Art Epilog die syrische Barochapokalypse abschließt. 2.5.6 Epilog: Der Brief Barochs an die neuneinhalb Stämme (Kap. 78,1-87,1) Lassen wir die Forschungsgeschichte der syrischen Barochapokalypse kurz Revue passieren, so ist immer wieder der Versuch unternommen worden, den Brief Barochs an die neuneinhalb Stämme als sekundärer Zusatz aus dem ursprünglichen Bestand dieser Schrift auszuscheideni2B. Diese Auffassung beruht z.B. bei G.B. Sayler, neben formalen Beobachtungen, primär auf der Erkenntnis, daß sich verschiedene inhaltliche WidersprUche zwischen dem Brief Baruchs und dem übrigen Textbestand der syrischen Barochapokalypse feststellen lassenl29. Völlig unabhängig von der Frage, wie groß die inhaltlichen WidersprUche zwischen dem Brief Barochs und den anderen Teilen der Barochapokalypse wirklich sind 13°, verkennt meines Erachtens jeder, der glaubt, daß das Konstatieren inhaltlicher WidersprUche ausreicht, literarkritische Urteile zu begrtinden, völlig den kompilatorischen Charakter apokalyptischer Schriften. Die Tatsache, daß Traditionen unterschiedlichster Coleur in ein und dieselbe apokalyptische Schrift Eingang fanden, sind "inhaltliche WidersprUche" unverzichtbare Wesensmerkmale dieser Schriften. Daneben kommt es jedoch bei jeder Beschäftigung mit dem apokalyptischen Schrifttum darauf an, die theologische Intention des Autors, der dieses unterschiedliche Material zu einer Einheit zusammenzufügen suchte, zu erfassen. Die Auffassung des Verfassers der syrischen Barochapokalypse findet sich, wie wir bereits gesehen haben, primär in den die drei Hauptabschnitte abschließenden Reden Barochs an das Volk, darüber hinaus, wie nun noch zu zeigen sein wird, jedoch auch in dem die ganze Schrift abschließenden Brief Barochsl31. Betrachten wir den Brief Barochs im einzelnen, so wird in 78,3 analog zum Beginn der syrischen Barochapokalypse das geschichtliche Unheil, das Israel So zuletzt G.B. Sayler, Have the Promises Failed?. 98-101. Siehe G.B. Sayler, Have the Promises Failed?, 99, die neben anderem auch auf Unterschiede im Gesetzesverständnis hinweist: ..Certain themes essentialto the unfolding of the story in 2 Baruch are completely Jacking in the Epistle. For example, there is no mention of ongoing leadership under the Torah or of the few righteous Jews who have remained loyal to their covenantal heritage". 130 Nach A.F.J. Klijn. Die syrische Baruch-Apokalypse. 111, bestehen innerhalb der eigentlichen syrischen Baruchapokalypse bedeutend mehr inhaltliche Widersprüche als zwischen dieser und dem Brief Baruchs. Von einer Spannung zwischen diesen beiden Größen mit Blick auf das Gesetzesverständnis vermag A.F.J. Klijn im Gegensatz zu G.B. Sayler nichts auszumachen. Auch F.J. Murphy. The Structure and Meaning of Second Baruch, 28f, plädiert vehement für die ursprüngliche Zugehörigkeit des Briefes zur syrischen Baruchapokalypse. Im Anschluß an P.Bogaert, Apocalypse de Baruch, Volume I. 67-72, vermag er keine inhaltlichen Widersprüche zu erkennen. So auch Ch. MUnchow. Ethik und Eschatologie, 96. 131 Siehe A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse. 111. 128 129
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Epilog: Der Brief Barochs an die neuneinhalb Stämme (Kap. 78,1-87,1)
getroffen hat, als Züchtigung Gottes verstanden. Die historische Fiktion der syrischen Baruchapokalypse wird auch im Brief aufrechterhalten. Waren bisher diejenigen angesprochen, die sich nach der Zerstörung Jerusalems weiterhin im Lande aufgehalten haben, so wendet sich Baruch nun an diejenigen, die von Nebukadnezar nach Babyion verschleppt wurden. Barochs Auseinandersetzung mit dieser Gruppe bewegt sich auch an dieser Stelle ganz in deuteronomistischen Bahnen. Bereits in 78,5 kann er die Exilierten auffordern, ihr Schicksal als Gottes gerechtes Ge1icht über ihre bösen Taten zu verstehen 132• Die Anerkenntnis der eigenen Schuld ist eine Grundvoraussetzung für die Teilhabe am künftigen Heil. Gottes Züchtigung seines Volkes im gegenwärtigen Äon ist die notwendige Voraussetzung fUr den Heilserwerb im zukünftigen Äon. Diesen Zusammenhang bringt 78,6 klar zum Ausdruck: ,,Darum - bedenkt ihr das, was ihr jetzt zu eurem Besten erleidet, so daß ihr am Ende nicht verurteilt und gepeinigt werdet, so werdet ihr ewige Hoffnung erlangen, besonders dann, wenn ihr eitlen Irrtum entfernt aus eurem Herzen, um dessentwillen ihr von hier habt fortziehen müssen"133. Gottes Züchtigung in der Gegenwart allein genügt jedoch noch nicht, um des zukünftigen Heils teilhaftig zu werden. Darüber hinaus ist die Umkehr eines jeden einzelnen, das ,,Entfernen des eitlen Irrtums aus dem Herzen" vonnöten. Worin dieser ,,Irrtum" besteht, wird an dieser Stelle noch nicht ausgesprochen, sondern bleibt dem weiteren Gedankengang des Briefes vorbehalten. Dieser Abschnitt endet in Vers 7 mit einem Ausblick auf eine gnadenvolle Zukunft. Kapitel 80, das ausdrücklich auf den Bericht über die Zerstörung Jerusalems durch Engel und die Rettung der Kultgegenstände des Tempels in Kapitel 6-8 Bezug nimmt, kommt wohl eine Brückenfunktion zwischen Einleitung und Schlußteil der syrischen Baruchapokalypse zu. Auch dieses Kapitel ist wieder ein eindrucksvolles Zeugnis für das große Interesse, das der Verfasser der syrischen Baruchapokalypse gerade kultischen Fragen entgegenbringt. Daneben wurde dieser Teil sicherlich als kohärenzstiftendes Element in die Gesamtkonzeption eingebaut. Von noch größerer Bedeutung für die Intention des Verfassers sind die Verse 81,1-83,23, in denen der Seher Baruch apokalyptisches Geheimwissen über das ,,Ende der Zeiten" preisgibt. Der Seher versucht in diesen Zeilen den Blick der Adressaten seines Briefes weg von der Gegenwart ganz auf die Zukunft hin zu richten. Im Zentrum dieses Ausblicks auf die Zukunft steht jedoch weniger die Heilszeit des zukünftigen Äons selbst, als Gottes endgültiges Gerichtshandeln als Abschluß der gegen132 SyrBar 78,5: ,,Darum bin ich so sehr darauf bedacht, euch die Wone dieses Briefes zu hinterlassen, bevor ich sterbe, damit ihr Trost findet über die Unheile, die euch getroffen haben, und damit ihr euch auch betrübt über die Unheile, die eure Brüder getroffen haben; und ferner: daß ihr das Gericht dessen als gerecht anerkennt, der es über euch verhängt hat: daß ihr nlmlich in die Gefangenschaft verschleppt werden solltet. Denn geringer ist das, was ihr erleidet, als das, was ihr getan habt - so sollt ihr eurer Väter für wen erfunden werden in den letzten Zeiten" (Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 175f). 133 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 176.
Die syrische Baruchapokalypse
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wärtigen und Auftakt der zukünftigen Weltzeit. Einzig Gottes endzeitlicher Gerichtsakt entscheidet über die Frage der Teilnahme am zukünftigen Heil. Maßstab für Gottes Gerichtshandeln sind nach 83,2 die verantwortlichen Taten des Menschen: "Gewißlich wird er richten die, die in seiner Welt sind, und wird in Wahrheit alles untersuchen nach allen ihren Werken, die doch Sünde waren"t34. Die einzige Möglichkeit, den sündigen Werken zu entgehen und somit im Endgericht als gerecht empfunden zu werden, besteht in absolutem Gehorsam gegenüber den Geboten der Tora. Diesen engen Zusammenhang zwischen Toragehorsarn und Endgericht stellt der Seher in 84,1 ganz bewußt an den Anfang einer den Brief abschließenden Mahnrede: ,,Ich tue euch dies kund, weil ich jetzt noch am Leben bin. Ich sagte euch, daß ihr besonders die Gebote des (AII)mächtigen lernen sollt, in denen er euch unterwiesen hat. So will ich euch vor Augen stellen (einiges) von den Geboten seines Gerichts, bevor ich sterbe"13S. Die Verse 84,2-6 atmen wiederum deuteronomistischen Geist. Das Unheil, das das Volk Israel in der Gegenwart trifft, ist Folge des Ungehorsams gegenüber den Geboten des Mose. Nur aus der Bereitschaft zu absolutem Taragehorsam kann Hoffnung auf eschatologisches Heil entspringen. Deswegen wird in 84,7 diese deuteronomistische Passage mit der nochmaligen Mahnung zu unbedingtem Taragehorsam abgeschlossen. In den Versen 84,8-11 kommt dagegen offensichtlich eine andere Heilskonzeption zu Wort, die dann in 85,1-15 zugunsten einer am absoluten Taragehorsam orientierten Position, wie sie uns in 84,1-7 entgegentrat, zurückgewiesen wird. In 84,8-11 begegnet uns im Gegensatz zu der radikalen, einzig am Gesetz als verpflichtender Gerichtsnorm interessierten Heilskonzeption, wie sie nach unseren bisherigen Untersuchungen für den Verfasser der syrischen Baruchapokalypse typisch ist, eine Position, die die Heilssicherheit stärker auf den Besitz der Tora, auf die Zugehörigkeit zum Bund und die Verdienste der Väter grtlndet. Diese Position, die uns auch schon an anderen Stellen der syrischen Baruchapokalypse entgegentrat, verbirgt sich in 84,8 hinter folgenden Worten: "Gedenket Zions, des Gesetzes und des heiligen Landes und eurer Brtlder und des Bundes und eurer Väter! Vergeßt nicht die Feste und Sabbate" 136! Nicht der zu unbedingtem Gebotsgehorsam verpflichtende Charakter der Tora steht nach diesen Versen mit Blick auf das eschatologische Heil im Mittelpunkt des Interesses, sondern alle Hoffnung richtet sich auf die Tatsache, daß das jüdische Volk im Gegensatz zu allen anderen Völkern im Besitz zuverlässiger HeilsgUter ist. Folglich sind diese Verse weniger am Heil einzelner Gerechter als an der Rettung Gesamtisraels interessiert. Der Appell an die Gnade und Barmherzigkeit Gottes und der Hinweis auf die Verdienste der Väter tritt an die Stelle unbedingter Taraobservanz des einzelnen, wenn es darum geht, Gesamtisrael des ewigen Heils zu versichern. Heißt es doch in 84,10f: "Und bittet stets und l34 Übersetzung nach A.F.J. KJijn. Die syrische Baruch-Apokalypse, 179. 135 136
Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 181. Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse. 181.
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Epilog: Der Brief Baruchs an die neuneinhalb Stämme (Kap. 78,1-87,1)
betet ernsthaft und von ganzer Seele, daß der Allmächtige sich euch annehme in Gnade, daß er die Menge eurer Sünder euch nicht anrechne, daß er vielmehr gedenken möge nur der Rechtlichkeit eurer Väter. 11 Denn richtet er uns nicht nach seiner Gnade Fülle, dann wehe uns allen, die wir hier geboren sind" 137 • War in 84,1-7, wie auch in anderen Stellen innerhalb der syrischen Baruchapokalypse, die vermutlich dem Verfasser selbst zuzurechnen sind, das Gesetz Gottes absolute Gerichtsnorm, so streben die Verse 84,8-11 ein .,Gnadengericht" an, das jedoch keineswegs vorschnell mit der paulinischen Rechtfertigungstheologie in Verbindung gebracht werden darf138. Diesen Vorstellungen eines .,Gnadengerichts" erteilt der Verfasser der syrischen Baruchapokalypse jedoch in den folgenden Versen eine entschiedene Absage. Bereits in 85,3 weist er alle Überlegungen zurück, irgendwelche Hoffnungen auf den Besitz des Landes oder Zions zu gründen: .,(Bei ihren Vätern) sind versammelt jetzt aber die Gerechten, und die Propheten sind entschlafen. Auch wir verließen unser Land, und Zion ist uns weggenommen. Nichts haben wir jetzt mehr, nur den (AII)mächtigen noch und sein Gesetz"139 • Weder Israels Väter noch die Propheten, das Land oder der Zion, sondern einzig und allein die Tora ist der Weg, der zum Heil im zukünftigen Äon fUhrt. Nach 85,12 kommt in der Endzeit, die für den Verfasser der syrischen Baruchapokalypse gewiß bereits angebrochen ist, auch den Gebeten der Väter und den Verdiensten der Propheten und Gerechten der Vorzeit keinerlei Bedeutung zu, wenn es um das Heil im zukünftigen Äon geht140. Neben der Tora als absolut verpflichtender Gerichtsnorm ist kein Platz für weitere HeilsgUter. Folglich enden diese Ermahnungen Barochs und damit die gesamte Baruchapokalypse in 85,14f mit folgenden Worten: .,Darum besteht ein Gesetz durch einen und eine Welt dazu, ein Ende auch für alle Dinge, die darin bestehen. 15 Dann macht er lebendig, die er fand; und er wird sie entsündigen. Zugleich wird er die verderben, die dann besudelt sind mit ihren SUnden"141.
137 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 181f. 138 Während .,Gnade" bei Paulus ein universaler Begriff ist. der Juden wie Heiden verbin-
det, wird er hier in exklusivem Sinne verwendet. Die .,Gnade" bezieht sich lediglich auf das Heil Gesamtisraels. An keiner Stelle, an der Paulus auf das .,Tun der Tora" zu sprechen kommt. zeigt sich eine Tendenz, dieses in seiner Bedeutung zu relativieren, sondern ganz im Gegenteil, Paulus betont immer wieder, daß das ganze Gesetz getan werden muß. Die paulinische Kritik an der Tora als Heilsweg hat ihren Grund im Christusgeschehen. 139 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 182. 140 SyrBar 85,12: •.Denn siehe, der Höchste wirdalldieses kommen lassen. Dort wird dann nicht mehr Gelegenheit für Reue sein und keine Grenze für die Zeiten, auch keine Dauer für die Perioden, kein Wechsel auch zur Ruhe und nicht Gelegenheit fUr ein Gebet; ein Aufsteigen der Bitten wird es nicht mehr geben und kein Erlangen von Erkenntnis, auch nicht die Gabe der Liebe und nicht Gelegenheit für Umkehr; es gibt keine Aehen mehr für Übertretungen und keine Gebete der Väter, kein Aehen der Propheten und keinen Beistand der Gerechten" (Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 183). 14 1 Übersetzung nach A.F.J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, 183f.
Die syrische Baruchapokalypse
297
2.5.7 Zusammenfassung Die syrische Baruchapokalypse ist analog zum 4. Esrabuch gleichfalls als Versuch zu verstehen, das durch die nationale Katastrophe Israels im Jahre 70 n. Chr. erschütterte Vertrauen in die alttestamentliche Deuteronomistik zu erneuern. Die theologische Reflexion der syrischen Baruchapokalypse ist jedoch gegenüber derjenigen des 4. Esrabuches deutlich weiter fortgeschritten. Mußte der Verfasser des 4. Esrabuches die ,,Zwei-Äonen-Lehre" unter Zuhilfenahme des SUndenverhängnisgedankens erst entwickeln und diese anschließend mit Hilfe der Gesetzesthematik vor allen ethisch bedenklichen Konsequenzen bewahren, so setzt die syrische Baruchapokalypse diese Verbindung bereits voraus. Von der Gefahr des SUndenverhängnisgedankens fUr die mit der Gesetzesthematik verbundene Überzeugung von der Verantwortlichkeit des einzelnen fUr sein Tun, ist in der syrischen Baruchapokalypse, nur noch am Rande etwas zu spUren. Die syrische Baruchapokalypse richtet sich weniger gegen eine falsche Interpretation des Gedankens einer Sündenverfallenheil des Menschen als gegen ein falsches Verständnis des Bundesgedankens. Der Bundesgedanke wird eindeutig von einem unbedingten Gehorsam fordernden Gesetzesgedanken her bestimmt1 42. Einer falsch verstandenen Heilssicherheit, die sich auf Gottes Erwählungszeichen, wie das Land, der Zion, der Tempel und die Beschneidung, gründet, wird eine eindeutige Absage erteilt. Nicht der ,,Besitz des Gesetzes", sondern einzig das "Tun des Gesetzes" zeichnet für das zukünftige Heil verantwortlich. An die Stelle des Volksganzen tritt der einzelne Gerechte als Adressat der Verheißung. Einer Identifikation von Gesetz und Weisheit, die eine Universalisierung und Individualisierung des Gesetzesgedankens zur Folge hat, wird in der syrischen Baruchapokalypse noch weit stärker das Wort geredet als im 4. Buch Esra. Auch hier fUhrt das apokalyptische Geheimwissen kein Leben unabhängig von dem Gesetz, sondern wird an dieses zurUckgebunden.
1'2 Gegen M. Vogel, Das Heil des
Bundes. 158.
Anhang: Das Jubiläenbuch 1. Einleitende Bemerkungen Indem wir uns nun dem Jubiläenbuch zuwenden, haben wir den festen Boden der Schriften, die mit Sicherheit dem ,,Phänomen der fiilhjUdischen Apokalyptik" zuzuordnen sind, verlassen. Vor allem von formgeschichtlicher Seite erheben sich immer wieder Einwände gegen eine Zuordnung dieser Schriit zur "Apokalyptik"I. So wird darauf hingewiesen, daß das Jubiläenbuch ein Konglomerat recht unterschiedlicher Gattungen darstellt 2 und längst nicht allen formalen und inhaltlichen Kriterien, die eine apokalyptische Schrift als eine solche auszeichnen, entspricht. In diesem Zusammenhang ist von besonderer Bedeutung, daß das Jubiläenbuch keine Reden des Offenbarungsempfängers Mose und keinen geschlossenen GeschichtsUberblick von der Schöpfung bis zur Endzeit enthält. Daneben unterscheidet sich das Jubiläenbuch durch die enge Anlehnung an seine biblische Vorlage von Apokalypsen im engeren Sinn. Zudem stellt sein starkes Interesse an halachischen Fragen im Vergleich mit dem apokalyptischen Schrifttum ein Spezifikum dar. Von unserem zu Beginn dieser Untersuchung unternommenem Definitionsversuch her sperrt sich jedoch vor allem die Tatsache, daß sich das Jubiläenbuch bei der Schilderung eschatologischer Zustände eine ganz besondere Zurückhaltung auferlegt3 gegen eine eindeutige Zuordnung zur Apokalyptik. Zeigt sich doch diese Schrift Uber weite Strecken bedeutend stärker an den "Vätergeschichten" als an apokalyptischen Weissagungen interessiert. Die eschatologische Thematik, die fUr jede apokalyptische Schrift von zentraler Bedeutung ist, tritt im Jubiläenbuch aufs Ganze gesehen stark zurUck. Lediglich die Kapitel 1 und 23 laufen dieser Tendenz zuwider und weisen durchaus eine stark eschatologische Prägung auf. Aus diesem Grunde, verbunden mit der Erkenntnis, daß das Jubiläenbuch auch in seinem Offenbarungs- und Traditionsprinzip eine enge Verwandtschaft zur "apokalyptischen Literatur" aufweist', scheint mir eine Untersuchung dieser Schrift (in erster Linie der "eschatologischen" Kapitel 1 und 23) im Rahmen unseres Themas gerechtfertigt zu sein. Das Jubiläenbuch gehört sicherlich nicht zur Apokalyptik im engeren Sinn, doch als Zeugnis apokalyptischer Schriftauslegung bleibt es untrennbar mit dem "apokalyptischen Milieu" verbunden. Formgeschichtlich betrachtet lehnt sich das Jubiläenbuch eng an die Form eines "narrativen Midraschs" an, ohne jedoch in diesem völlig aufzugehen5 . 1 Siehe D. Rössler, Gesetz und Geschichte, 44 Anm. 1; ferner K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik. 31. 2 So z. B. Abschiedsreden, Belehrungen etc. 3 Siehe Davenport. Eschatology, 19ff. 4 Siehe Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 44; ferner D.S. Russel, Method and Message, 54 . .5 In Übereinstimmung zu einem ,,narrativen Midrasch" und im Unterschied zu den Pesehanm der Qwnranschriften sind im Jubillenbuch Bibeltext und Auslegung nicht voneinander ge-
Anhang: Das Jubiläenbuch
299
2. Aufbau, Entstehungs- und Oberlieferungsverhiiltnisse des Jubiläenbuches6 Den Beginn des Jubiläenbuchs markiert eine Überschrift, deren Inhalt in Kapitel 1 näher ausgeführt wird (1,1-29). Die Überschrift und das einleitende Kapitel weisen das Jubiläenbuch als Rede Gottes an Mose aus. Gott fordert Mose auf, den Berg zu besteigen und die Gesetzestafeln entgegenzunehmen. Der Hauptteil des Jubiläenbuches (2,149,23) enthält eine Erzählung der Geschichte Israels von der Schöpfung bis zur Gesetzesübergabe an Mose, die im großen und ganzen der biblischen Vorlage folgt. Dieser Teil ist weniger nach Ereignissen, als nach den Worten und Taten der großen Gestalten der Frühzeit Israels gegliedert7 • Auf die Zeit der exemplarischen Gestalten der Vorzeit, die von Adam über Henoch bis Noah reicht und die Kapitel 2,1-10,36 umfaßt, folgt die Periode der Erzväter Israels. Die Zeit Abrahams (11,1-23,32) wird breit entfaltet. Die Bedeutung lsaaks hingegen tritt völlig hinter der seines Sohnes Jakob zurück. Von Isaak ist lediglich im Rahmen der Jakobserzählung die Rede. Die Gestalt Jakobs steht zweifellos im Zentrum des Jubiläenbuches (24,145,16). Daneben kommt der Josephserzählung (34,10-19; 39,2tr 46,16), die gleichfalls eng mit der Jakobserzählung verbunden ist, eine tragende Rolle zu. Von den übrigen Söhnen des Jakob ragen neben Joseph noch Juda und Levi hervor, ohne daß diesen ein eigenes Kapitel gewidmet wäre. Am Ende dieses Überblicks über die Frühgeschichte Israels steht die Zeit des Mose (47,149,23). Den Abschluß des Jubiläenbuches bildet ein Schlußkapitel, das ganz im Zeichen der Hochschätzung des Sabbatgebotes als Grundlage von Gesetz und Geschichte steht&. An der Einheitlichkeit des Jubiläenbuches ist meines Erachtens nicht zu rütteln. Sämtliche Versuche, eine Grundschrift von späteren redaktionellen Erweiterungen zu trennen 9 , vermögen nicht zu Uberzeugenlo. Die Entstehungszeit des Jubiläenbuches wird in der Literatur recht unterschiedlich bestimmt. Die Vorschläge reichen von der frühen nachexilischen Zeit über die frühe Makkabäerzeit bis in die Zeit kurz nach der Herrschaft Johannes Hyrkans 11 • In der neueren Forschung hat sich jedoch ein Konsens angebahnt, nach dem das Jubiläenbuch zwischen 167 und 140 v. Chr. entstanden trennt. Die halachischen und haggadischen Erweiterungen des Bibeltextes im Jubiläenbuch sperren sich jedoch gegen eine einfache Identifizierung dieser Schrift als ..narrativer Midrasch"; gegen K. Berger, Das Buch der Jubiläen, 285. 6 Siehe vor allem, G.W.E. Nickelsburg, The Bible Rewritten, in: Jewish Writings of the Second Temple Period, 97-104; ferner J.J. Collins, The Apocalyptic Imagination, 63-67. 7 So K. Berger, Das Buch der Jubiläen, 301. 8 Zum Ganzen siehe K. Berger. Das Buch der Jubiläen. 301; vgl. O.S. Wintermute, Jubilees, in: OTP II, 35. 9 Siehe G.L. Davenport, Eschatology, I Off; 72ff. 10 Auch K. Berger, Das Buch der Jubiläen, 301 Anm.l3. beklagt die vorschnelle Identifizierung von Literarkritik und Quellenscheidung in der Arbeit Davenports. 11 Siehe J.C. VanderKam, Textual and Historical Studies, 207-215; H.H. Rowley, Apokalyptik, SOff; G.W.E. Nickelsburg, The Bible Rewrittcn, in: Jewish Writings of the Second Temple Period, IOlff.
300
Die Überschrift und das Einleitungskapitel als •.Zielangabe ••
ist12. Ohne auf die Datierungsdebatte im einzelnen näher eingehen zu können, sprechen meines Erachtens doch gute Gründe dafür, das Jubiläenbuch in die Zeit zwischen 145 und 140 v. Chr. zu datieren 1l. Als Entstehungsort kommt wohl am ehesten Palästina, wenn nicht gar Jerusalem in Frage 14 . Zu den komplizierten Überlieferungsverhältnissen des Jubiläenbuches kann an dieser Stelle nur wenig gesagt werden. Das Jubiläenbuch wurde ursprünglich in hebräischer Sprache abgefaSt, eine These, die durch den Fund einer Vielzahl hebräischer Fragmente des Jubiläenbuches !n Qumran ausdrUcklieh bestätigt wurde 1S. Vollständig ist das Jubiläenbuch lediglich in einer äthiopischen Übersetzung erhalten, die wiederum auf eine verlorene griechische Übersetzung des hebräischen Originals zurückgeht. Daneben sind Partien einer syrischen und lateinischen Übersetzung bekannt. Zu guter Letzt sind bei einigen Kirchenvätern noch Zitate aus einer griechischen Übersetzung des Jubiläenbuches erhaltenl6. Wenden wir uns noch ganz kurz der Frage nach verwandten Texten und Traditionen zu, so ist in erster Linie auf die Qumranschriften zu verweisen 17 . Daneben gibt es jedoch auch eine Fülle von Berührungspunkten mit dem äthiopischen Henochbuchls. Grundlage der nachfolgenden Untersuchung ist die deutsche Übersetzung Klaus Bergers, die mit derjenigen von E. Littmannl9 und der englischen Übersetzung von O.S. Wintermute20 verglichen wurde.
3. Die Überschrift und das Einleitungskapitel als ., Zielangabe" des Jubiläenbuches 3.1 Die Überschrift zum Jubiläenbuch Zu Beginn unserer Beschäftigung mit dem Jubiläenbuch muß ausdrtlcklich betont werden, daß das Einleitungskapitel alles andere als einen sekundären Zusatz zum ursprünglichen Jubiläenbuch darstellt21. Das Einleitungskapitel ist fest im Kontext verankert und leicht als Explikation der Überschrift zu erkennen22. 12 So K. Berger, Das Buch der Jubiläen, 299f. 13 Vgl. die Vielzahl von Gründen, die K. Berger. Das Buch der Jubiläen, 300, für diesen Datierungszeitraum anführt; siehe zudem O.S. Wintermute, Jubilees, in: OTP n, 43f. 14 So K. Berger, Das Buch der Jubiläen, 299 (vor allem 299 Anm. 3). IS Siehe J.C. VanderKam, Textual and Historical Studies in the Book of Jubilees, 1977. 16 Zu den Üerlieferungsverhältnissen des Jubiläenbuchs siehe K. Berger, Das Buch der Jubiläen, 285-294; zudem J.C. VanderKam, Textual and Historical SlUdies, 1977; O.S. Wintermute, Jubilees, in: OTP II, 41-43. 17 Siehe K. Berger, Das Buch der Jubiläen, 295f. 18 Siehe O.S. Wintermute, Jubilees, in: OTP ll, 49. 19 E. Littmann, Das Buch der Jubiläen, in: APAT I, 31-119. 20 O.S. Wintennute, Jubilles, in: OTP II, 35-142. 21 Gegen G.L. Davenport, The Eschatology ofthe Book of Jubilees, Leiden 1971. 22 Der erste Vers der Überschrift wird in leicht variierter Form sowohl in 1.26 als auch in 1,29 wiederaufgenommen, wobei die Erwähnung des Engels als Offenbarungsmittler in 1.29 bereits zu 2,1 überleitet. Ferner bildet der zweite Vers der Überschrift eine Verbindungslinie zu
Anhang: Das Jubiläenbuch
301
Kommt diesem Kapitel doch die Funktion zu, zu den theologischen Schwerpunkten des Jubiläenbuches hinzuführen. Richten wir unser Augenmerk zunächst auf die Überschrift, so charakterisiert diese in ihrem ersten Vers das gesamte Jubiläenbuch als ,,Rede der Einteilung der Tage des Gesetzes und des Zeugnisses für die Ereignisse der Jahre, für ihre Jahrwochen in ihren Jubiläen und in jedem Jahr der Welt"23. Nach diesen Versen, die sich in leicht variierter Form nochmals gegen Ende der Einleitungsrede ( 1,26.29) finden, wird der Inhalt des Jubiläenbuches als Offenbarungswissen um die astronomische bzw. kosmische Ordnung der Welt ausgewiesen. Dieses "schöpfungstheologische" Offenbarungswissen beinhaltet zugleich jedoch auch ein Wissen um den gesamten Geschichtsverlauf der Welt. Schöpfung und Geschichte sind eng miteinander verbunden. Das Jubiläenbuch versteht sich als Offenbarung Gottes über seine Weltordnung, die die gesamte Menschheitsgeschichte von der Schöpfung bis zum Ende der Welt umfaßt 24 . Diese Offenbarung, die die kosmische Ordnung und den Verlauf der vergangeneo und zukünftigen Geschichte zusammenhält, wird durch den zweiten Vers der Überschrift ausdrücklich mit der Gabe der Sinaitora an Mose verbunden. Dort lesen wir: "Gleichwie er zu Mose gesprochen auf dem Berg Sinai, als er hinaufstieg, zu empfangen die Steintafeln des Gesetzes und Gebotesaufgrund des Wortes Gottes, wie er ihm sagte, daß er hinaufsteige auf die Spitze des Berges"2S. Von daher ist dem Diktum M. Limbecks zuzustimmen, "daß in Jub die Ordnung des Geschaffenen von Anfang an als identisch mit Israels Gesetz verstanden wird"26. Da die "Ordnung des Geschaffenen" den gesamten Geschichtsverlauf beinhaltet, bilden für den Verfasser des Jubiläenbuches Gesetzesoffenbarung und Geschichtsoffenbarung eine unzerstörbare Einheit27• Diese in der Überschrift postulierte Einheit von Gesetz und Geschichte wird im Einleitungskapitel des Jubiläenbuches (1,1-29) breit entfaltet.
1,1-2. Diesen "Wiederholungen" kommt eindeutig eine kohärenzstiftende Funktion zu. Zudem sei in diesem Zusammenhang noch auf die engen thematischen Verbindungen zwischen dem ersten Kapitel und dem Rest des Jubiläenbuches verwiesen, die jedoch erst im Laufe der Untersuchung klarer zutage treten werden (Einheit von Gesetzes- und Geschichtsoffenbarung, Eschatologie, Sabbatthematik etc.). Letztlich spricht auch die Fonn des Einleitungskapitels, die sich als der Beginn einer durch Motive der Mosetypologie abgewandelten Offenbarungsrede zu erkennen gibt (vgl. IV Esr 3-4; syrBar 3,1-9/4,1-7), für die ursprüngliche Zugehörigkeit dieses Kapitels zum Jubiläenbuch. Siehe z.B. O.H. Steck, JSJ 1977, 154-182; ferner K. Berger, Das Buch der Jubiläen, 312 Anm.la. 23 Übersetzung nach K.Berger.Das Buch der Jubiläen, 312. 24 Siehe K. Berger, Das Buch der Jubiläen, 312 Anm. Überschrift c. 25 Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 312. 26 So M.Limbeck, Die Ordnung des Heils, 75. 27 So auch Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie, 44.
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Die Überschrift und das Einleitungskapitel als •.Zielangabe"
3.2 Das Einleitungskapitel des Jubiläenbuches (Kap. 1,1-29) In den Versen 1,1+4a ist von der Übergabe der von Gott geschriebenen Gesetzestafeln an Mose die Rede28. Bereits mit diesem Akt der Gesetzgebung ist eine göttliche Offenbarung an Mose über den Geschichtsverlauf verbunden. Die Gesetzestafeln enthalten nach 1,4b nämlich nicht nur Gebote, sondern darüber hinaus einen visionären Einblick in die vergangene und zukünftige Geschichte. So lesen wir in 1,4b: "Und der Herr zeigte ihm die frühere und kommende Abfolge der Einteilung aller Tage ~s üugnis.;es und de3 Gesetzcs"29. Bevor nun in den Versen 1,7b-25 die Geschichte Israels in der Form eines Ausblicks auf die Zukunft ausführlich thematisiert wird, geben die Verse 1,5f dem Leser Aufschluß über Sinn und Zweck dieser engen Verbindung von Gesetz und Geschichte. Nach 1,5 ergeht an Mose folgender Aufruf: ,,Richte dein Herz auf jede Rede, die ich zu dir reden werde auf diesem Berg, und schreibe sie in ein Buch, damit ihre Nachkommen sehen, daß ich sie nicht verlassen habe wegen alles Bösen, das sie getan haben, indem sie die Ordnung auflösten, die ich heute verordnet habe zwischen mir und dir für ihre Geschlechter auf dem Berg Sinai"30. Der Leser des Jubiläenbuches soll aus der Offenbarung des vergangenen und zukünftigen Geschichtsverlaufs Gottes immerwährende Bundestreue gegenüber seinem Volk erkennen. Zur Zeit der Abfassung des Jubiläenbuches gab es mit ziemlicher Sicherheit erhebliche Zweifel an der Gültigkeit von Gottes Verheißung. Diese Zweifel gilt es für den Verfasser des Jubiläenbuches zu zerstreuen. Zu diesem Zweck ist es notwendig, die permanenten Gesetzesübertretungen auf seiten Israels als eigenverantwortliche, selbstverschuldete Taten zu entlarven. Die Weltgeschichte wird ausdrUcklieh als Weltgericht Uber Israels Gesetzesübertretungen verstanden. Aus der vergangeneo Geschichte Israels kann man klar erkennen, daß nicht Gottes Revision seiner Bundeszusage, sondern der Ungehorsam Israels gegenüber den Geboten der Tora für alles geschichtliche Unheil verantwortlich war. Aus diesem Grunde kann nur eine "Umkehr zu absolutem Toragehorsam" Gottes Bundestreue offenbar machen. Die Umkehr Gesamtisraels zurTorabringt die Gültigkeit von Gottes Bundeszusage ans Licht. Dieser Zusammenhang kommt in 1,6 klar zum Ausdruck: "Und es wird so geschehen: Wenn alle diese Rede über sie kommt, werden sie erkennen, daß ich gerechter bin als sie in allen ihren Urteilen und in allen ihren Taten. Und sie werden erkennen, daß ich stets mit ihnen gewesen bin"31 . Die Umkehr Israels geht Gottes eschatologischem Heilshandeln voraus. Daß sich hinter dieser Rede von der Umkehr, die Vorstellung einer Umkehr zu konse28 In 1,1 ist im Anschluß an die alttestamentliche Mosetradition eindeutig von ,,steinernen Tafeln" die Rede. Im zweiten Vers der Überschrift ist in den äthiopischen Handschriften A und B jedoch lediglich von ..Tafeln" die Rede, während die Handschriften C und D. an deren Lesart sich sowohl K. Berger als auch E. Litunann anschließen, auch die Bezeichnung .,Steintafeln" (sclata 'ebn) enthalten. 29 Übersetzung nach K.Berger. Das Buch der Jubiläen, 314. 30 Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 314. 31 Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 314.
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quentem Gesetzesgehorsam verbirgt, wird erst im Rahmen des Geschichtsüberblicks und dort in den Versen 1,20-25 näher ausgeführt. Wenden wir uns nun dem Geschichtsüberblick in 1,71r25 zu, so ist dieser zweifellos in enger Anlehnung an das deuteronomisch-deuteronomistische Geschichtsbild konzipiert32. In der Forschung wird er meist typologisch interpretiert33. Die Zeit von der Landnahme bis zum Exil (1,71r14), die als Zeit permanenten Ungehorsams gegen die Tora äußerst negativ charakterisiert wird, steht für die Gegenwart des Autors des Jubiläenbuches, während die nachexilische Zeit (1,15-18) zum Typos der zukünftigen Heilszeit avanciert34 • Die vorexilische Geschichte Israels erscheint äußerst gedrängt und einzig auf den Gedanken konzentriert, daß alles geschichtliche Unglück im Ungehorsam Israels gegenüber den Geboten des Gesetzes wurzelt. Das Gesetz wird in diesem Zusammenhang primär als Kultgesetz verstanden, wobei dem Kalenderfrevel eine entscheidende Bedeutung zukommt (1,10). Mit jedem einzelnen Vergehen steht zugleich jedoch immer auch die Tora in ihrer Totalität auf dem SpieJ3S. Zwar weiß Vers 1,12 von einer Gruppe innerhalb Israels zu berichten, die sich durch konsequenten Gesetzesgehorsam auszeichnet36, doch ist deren Gesetzesgehorsam zur völligen Bedeutungslosigkeit verdammt, wenn es um ihr eigenes Schicksal oder das des Gesamtvolkes geht. Ein innergeschichtlich wirksamer Tun-Ergehen-Zusammenhang läßt sich nicht mehr feststellen. Hinter dieser Gruppe von .,Gesetzessuchem" verbergen sich zweifellos die Trägerkreise des Jubiläenbuches. Diese fühlen sich fest in den Unheilszusammenhang, der das ganze Volk Israel umgreift, eingebunden. Der Verfasser dieses Geschichtsüberblicks denkt eindeutig in gesamtisraelitischen Kategorien. Am Beginn zur nachexilischen Epoche, die die zukünftige Heilszeit symbolisiert, steht nach 1, 15a die Erwartung einer Umkehr Israels, die nach 1, 15b als ,.Suche" nach Gott verstanden wird. Zwar ist an dieser Stelle nicht explizit vom Gesetz die Rede, doch geht aus der Tatsache, daß das Verb "suchen" innerltalb des Jubiläenbuchs an vielen Stellen mit dem Gesetz verbunden ist (z.B. 1,12; 23,26), klar hervor, daß hier an eine Wende hin zu absolutem Gesetzesgehor32 Siehe O.H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick, 159ff. 33 So z. 8. Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie. 55f; vgl. G.L. Davenport, Eschatology, 46. 34 Gerade die Vorstellung der nachexilischen Zeit als Typos der Heilszeit, die ja eine Hochschätzung dieser Epoche voraussetzt, steht im Gegensatz zu dem äußerst negativen Bild, das einige apokalyptische Texte von dieser Epoche der Geschichte Israels zeichnen (vgl. z.B. die "Tiervision" des äthiopischen Henochbuches oder den GeschichtsUberblick innerhalb der Himmelfahrt Moses). 3S So wissen die Verse 1,8-14 von Verstößen gegen konkrete Gebote (1. und 2. Gebot; Sabbatgetx>l) oder ganze Teile der Tora (besonders Kalender- und Festfrömmigkeit) zu berichten, die jedoch sofort als Verstöße gegen die ganze Tora betrachtet werden. 36 ln diesem Zusammenhang wird die deuteronomistische Tradition vom gewaltsamen Geschick der Propheten aufgegriffen; siehe O.H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick, 119164.
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Die Überschrift und das Einleitungskapitel als ,,Zielangabe"
sam gedacht ist37. Die Umkehr Gesamtisraels zu konsequentem Gesetzesgehorsam geht Gottes endzeitlichem Heilshandeln voraus. Die "Suche Israels nach der Tora" wird die eschatologische Heilszeit einleiten. Diesen Zusammenhang bringen die Verse 1,15b-16 klar zum Ausdruck: "Und sie werden mich suchen, damit ich von ihnen gefunden werde, wenn sie mich suchen mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele. Und ich werde ihnen offenbaren viel Heil in Gerechtigkeit. 16 Und ich werde sie umpflanzen als Pflanze der Gerechtigkeit mit meinem ganzen Herzen und mit meiner ganzen Seele. Und s;e werden zum Scgen sein und nicht zum Fluch, Kopf und nicht Schwanz"38 . Die Hinwendung ganz Israels zum Gesetz steht zwar am Beginn der Heilszeit, doch ist der Gesetzesgehorsam kein Garant der Heilszeit Letztlich bleibt es Gones endzeitlichem Gnadenhandeln allein vorbehalten, diese Heilszeit herbeizuführen. Der Gesetzesgehorsam kann das Heil nicht ,,herbeizwingen", sondern geht diesem lediglich voraus. Gon selbst ist und bleibt derjenige, der das Volk Israel zur ,,Pflanze der Gerechtigkeit" macht. Das endzeitliche Heil entspringt in letzter Konsequenz einzig dem theokratischen Akt Gottes. Die eschatologische Präsenz Gones in seinem Tempel verbürgt den ewigen Bestand der Heilszeit Gesetzesgehorsam und Gottes endzeitliches Heilshandeln sind eng aufeinander bezogen, ohne daß es möglich wäre, beidein ein logisches Verhältnis zueinander zu bringen. Der Verfasser des Jubiläenbuchs steht vor dem schwierigen Problem, zum einen den Gesetzesgehorsam als notwendigen Meilenstein auf dem Weg Israels zum Heil zu postulieren, gleichzeitig jedoch jeden Anschein zu vermeiden, als ob dieser selbst schon in der Lage wäre. endzeitliches Heil zu schaffen. Die Bedeutung des Gesetzesgehorsams darf keineswegs in der Weise überbetont werden, daß Gottes Souveränität Gefahr läuft, Schaden zu nehmen. Der Gesetzesgehorsam Israels in der Gegenwart bleibt im Vergleich zu Gottes endzeitlichem Heilshandeln nur eine "kleine Hilfe" auf dem Weg zum Heil. Traditionsgeschichtlich ist das in 1,19-21 eingeschobene Gebet des Mose als besondere Einheit anzusehen. Ist mit dem Postulat des Gesetzesgehorsams untrennbar die Überzeugung von der Eigenverantwortlichkeit des Menschen für sein Tun verbunden, so geben die Verse 1,19-21 dieser Vorstellung keinerlei Raum. Nicht Israel selbst, sondern die "Völker'' (1,19) bzw. der "Geist Belchors" sind für Israels SUnden verantwortlich. Folglich ist das Volk Israel aus eigener Kraft nicht in der Lage, sich aus dieser SUndenverfallenheit zu befreien. Im Gegensatz zu 1,15 entspringt nach 1,21 bereits die Umkehr Israels einzig der Aktivität Gottes. Dieser Zusammenhang kommt in 1,21b mit folgenden Worten zum Ausdruck: "Schaffe ihnen ein reines Herz und einen heiligen Geist, und sie mögen nicht verstrickt werden in ihrer SUnde von jetzt an und bis in Ewigkeit"39 . Gon selbst bewirkt Israels Umkehr, indem er seinen heiligen 37 Vergleicht man unsere Stelle z. B. mit der Tempelrolle aus Qumran, Kot 59.9-11. so ist auch dort die Umkehr ausdrücklich mit der Tora verbunden. 38 Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 316f. 39 Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 318.
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Geist in sein Volk hineinlegt. Der deterministische Zug dieser Auffassung ist kaum zu übersehen. Gott und sein Gegenspieler Belchor sind die handelnden Akteure, das Volk Israel ist zum willenlosen Spielball degradiert. Diese Position, die derjenigen des Geschiehtsahrisses in den Versen 1,7b-18 widerspricht, wirdjedoch in den Versen 1,22-25 nochmals ausdrücklich zurechtgerückt. Bereits in 1,22 wird die Verantwortung des Volkes Israel für seine Sünden betont. Die Erkenntnis, daß das Volk Israel seine Sünden selbst verschuldet hat, und diese gerade nicht als ,,Produkt" eines SUndenverhängnisses zu entschuldigen sind, ist die notwendige Voraussetzung zur Umkehr. Die Umkehr wiederum geht nach 1,23 Gottes endzeitlichem Heilshandeln voraus und bewegt sich gleichfalls auf einer rein menschlichen Ebene. Erst nach der Umkehr Israels betritt Gott als handelnder Akteur die BUhne und fUhrt das endzeitliche Heil herbei. Im Gegensatz zu 1,21 ist nicht Gottes Geist für die Umkehr Israels verantwortlich, sondern die Umkehr geht der Schaffung eines ,,heiligen Geistes" eindeutig voraus. Gottes endzeitliches Heilshandeln wird in 1,23b-24 ganz in den Farben prophetischer Heilserwartung, wie wir sie von Jer 31 und Ez 36 her kennen, gezeichnet. Gott legt seine Heiligkeit in sein Volk hinein und garantiert damit den ewigen Bestand der Heilszeit Beginnt die Heilszeit für den Verfasser des Jubiläenbuches mit der Umkehr Israels zum Gesetz, so kann jedoch erst Gottes endzeitliches Handeln selbst, den ewigen Bestand dieses Gesetzesgehorsams garantieren. Immerwährender Gesetzesgehorsam, Reinheit und die Gemeinschaft Israels mit den Engeln40 symbolisieren die eschatologische Heilszeit Den Abschluß dieses GeschichtsUberblicks bildet in 1,26 die nochmalige Aufforderung Gottes an Mose, alle Offenbarungen, die ihm am Sinai zuteil wurden, aufzuschreiben. Analog zur Überschrift und den Versen 1,1-5 der Einleitungsrede wird auch am Ende des GeschichtsUberblicks die notwendige Zusammengehörigkeit von Gesetzes- und Geschichtsoffenbarung betont. Die Verse 1,27-29 sind als Überleitung zu 2,1ff zu verstehen und setzen einige neue Akzente. War bisher Mose als Adressat von Gottes Offenbarung für das "Aufschreiben" der Gesetzes- und Geschichtsoffenbarung verantwortlich, so tritt nach 1,27 nun ein ,,Engel des Angesichts" an dessen Stelle. Die Gesetzgebung am Sinai geht nach dieser Stelle nicht auf Mose, sondern auf einen ,,Engel Gottes" zurück. Folgerichtig werden in 1,29 die Steintafeln des Mose aus 1,1 mit "Tafeln des Himmels", die uns innerhalb des Jubiläenbuches an vielen Stellen begegnen, identifiziert. Der Inhalt dieser Himmelstafeln ist grundsätzlich mit demjenigen der Steintafeln identisch, Gesetzes- und Geschichtsoffenbarung sind eng miteinander verbunden4 '.
40 Zur Vorstellung einer Gemeinschaft mit den Engeln sei auch auf die Qumrantexte verwiesen. 41 Zu den ..Himmelstafeln" siehe Ch. MUnchow, 45ff; ferner J. Becker, Das Heil Gones. 22ff.
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Während das Bild der eschatologischen Heilszeit in 1,23f stark von prophetischen Traditionen geprägt war, sprechen die Verse 1,28f eine eher priesterliche Sprache. Die eschatologische Heilszeit wird nach 1,29 als Erneuerung der Schöpfung verstanden, wobei im Zentrum der Heilszeit eindeutig Jerusalem und der eschatologische Tempel stehen. Doch auch hinsichtlich der Frage nach den Adressaten von Gottes endzeitlichem Heilshandeln deutet sich in 1,29 gegenüber 1,23ff eine Verschiebung an. Hält 1,23ff eindeutig an einer gesamtisrae!itischcn Heilsperspektive fest, sc weiß 1,29 ledigli:h vom endzeitliehen Segen für "alle Auserwählten Israels" zu berichten, eine Bezeichnung, hinter der sich eine Gruppe innerhalb des Volkes verbirgt. Wiederum sind die Trägerkreise des Jubiläenbuches hinter dieser Formulierung zu vermuten. Diese Ungereimtheiten innerhalb des Einleitungskapitels dürfen jedoch keinesfalls im Sinne redaktioneller Überarbeitungen mißverstanden werden, sondern sie zeugen vielmehr von dem Bemühen des Verfassers des J ubiläenbuches, deuteronomistisch-prophetische Traditionen mit priesterlichen zu verbinden. Daß solche "Verbindungen" nicht völlig "bruchlos" vonstatten gehen, liegt in der Schwierigkeit dieser Materie selbst begrUndet
4. Die Uneit (Kap. 2-10) 4.1 Schöpfungsthematik Im Zentrum des Schöpfungsberichts steht das Sabbatgebot42, dem im Rahmen des Jubiläenbuches eine zentrale Stellung zukommt. So beginnt und endet nicht nur dieses Kapitel mit dem Sabbatgebot, sondern auch das Schlußkapitel des Jubiläenbuchs (Kap. 50) steht ganz im Zeichen dieses Gebotes. Der Hauptteil des Jubiläenbuches (Kap. 2-49) wird durch das Sabbatgebot eingerahmt. Das Sabbatgebot ist aufs engste mit Gottes Schöpfungshandeln verbunden (2,1). Es ist ,,Zeichen" der Schöpfung. Darüber hinaus wird der Gedanke der Präexistenz des Sabbatgebotes betont. Nach 2,30 wurde das Sabbatgebot bereits vor der Weltschöpfung von den Engeln im Himmel gehalten. An der Stellung zum Sabbat entscheidet sich für das Jubiläenbuch Sinn und Zweck der gesamten Schöpfung. Der Sabbat ist jedoch nicht nur aufs engste mit Gottes Schöpfungshandeln verbunden, sondern auch Gottes Erwählungshandeln an Israel steht und fällt mit diesem Gebot. Gottes Erwählungshandeln an Israel und Israels Gehorsam gegenüber dem Sabbatgebot sind im Jubiläenbuch derart eng aufeinander bezogen, daß jeder Verstoß gegen das Sabbatgebot eine ernste Gefahr für die Erwählung Israels darstellt (2, 19). Im Beziehungsgeflecht der Größen ,,Erwählung" und "Gebotsgehorsam" dominiert eindeutig letzterer. Folgerichtig findet sich im Jubiläenbuch eine äußerst rigoristische Auslegung des Sabbatgebots. Auch der geringste Verstoß gegen dieses Gebot muß mit dem Tod geahndet werden. In 2, 27 heißt es: ,,Jeder, der ihn entweiht, soll des Todes sterben. Und jeder, der an ihm jegliche Arbeit tut, soll des Todes sterben in Ewigkeit, 4 2 Siehe auch B.Ego, Heilige Zeit, in: Albani, M.IFrey, J.JI..ange, A. (Hg.), Studies in the
Book of Jubilees, 207-219, 209f.
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damit bewahren die Kinder Israels diesen Tag in ihren Generationen und daß sie nicht ausgerottet werden aus dem Land. Denn ein heiliger Tag ist er und ein gesegneter Tag"43. Jeder Verstoß gegen das Sabbatgebot kann die ,,Ausrottung Israels aus dem Land" und damit die Revision der Erwählung nach sich ziehen. Der Bundesgedanke wird vom Gesetzesgedanken her deutlich relativiert. Am Gehorsam des einzelnen Israeliten gegenüber dem Sabbatgebot entscheidet sich der Bestand der Erwählung des Volkes Israel und darüber hinaus der Bestand der gesamten Schöpfung. Unverzichtbare Voraussetzung jedes Versuchs, dem Sabbatgebot gerecht zu werden, ist jedoch die korrekte kalendarische Bestimmung der Sabbattennine. Für den Verfasser des Jubiläenbuches ist demnach die Frage nach dem richtigen Kalender die Grundlage sämtlicher Ausführungen über Gesetz und Geschichte. Analog zum astronomischen Teil des äthiopischen Henochbuches und Teilen der Qumranliteratur postulieren auch die Trägerkreise des Jubiläenbuches einen primär von der Sonne bestimmten Kalender44. 4.2 Adamsthematik
Die Gestalt Adams wird zunächst zur BegrUndung von Reinheitsgesetzen herangezogen, bevor mit der Geschichte vom SUndenfall zum ersten Mal das für das Jubiläenbuch eminent wichtige Problem der ,,Nacktheit" thematisiert wird45 . In 3,16-34 wird der Bericht über den SUndenfall geradezu zu einer Ätiologie menschlicher Kleidung degradiert. Der SUndenfall ist unter dem Gesichtspunkt der Legitimität bzw. Illegitimität der Nacktheit von Interesse. Die antihellenistische Tendenz dieser Verse ist gerade dann unverkennbar, wenn man bedenkt, daß alle sportlichen Wettkämpfe der hellenistischen Zeit ausschließlich nackt ausgetragen wurden. Verstöße gegen das Verbot der ,,Nacktheit" ziehen sich wie ein roter Faden durch das gesamte Jubiläenbuch. Die Nacktheit ist fUr die Trägerkreise des Jubiläenbuches das entscheidende Symbol der von ihnen so heftig bekämpften hellenistischen Lebensweise. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß Adam analog zur Tiervision und der Zehn-Wochen-Apokalypse des äthiopischen Henochbuches primär positiv gezeichnet wird. 4.3 Kainsthematik
Wurde Adam noch überwiegend positiv gezeichnet, so nimmt mit dem Brudermord Kains das Unheil auf Erden seinen Lauf. Die Tatsache, daß am Anfang der SUndengeschichte der Menschheit ein Brudermord steht, muß in en43
Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 331. Siehe U. Glessmer, Explizite Aussagen Uber kalendarische Konflikte im Jubilllenbuch: Jub 6,22-32.33-38, in: Albani, MJFrey, J./Lange, A. (Hg.), Studies in the Book of Jubilces, 127-164; ferner M. Albani, Zur Rekonstruktion eines verdrängten Konzepts, in: Albani, M./Frey, J./Lange, A. (Hg.), Studies in the Book of Jubilces, 79-126. 45 Siehe auch B.Ego, Heilige Zeit, in: Albani. MJFrey, J./Lange, A. (Hg.), Studies in the Book of Jubilces, 207-219, 215f. 44
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gern Zusammenhang mit der Hochschätzung der Bruderliebe gesehen werden, wie sie für weite Partien des Jubiläenbuches bestimmend ist. Während das Jubiläenbuch fUr die Zeit Kains noch mit einem funktionierenden innerweltlichen Tun-Ergehen-Zusammenhang rechnet46, ist dieser in der Gegenwart des Autors des Jubiläenbuches außer Kraft. Erst Gottes endzeitliches Gerichtshandeln wird zu einer Restitution des Tun-Ergehen-Zusammenhangs führen. Sowohl die ethischen Verfehlungen der Menschen als auch die kosmischen Vergehen werden von Engeln festgehalten und Gott im Endgericht vorgelegt (4,6). Mit diesem Vers wird die Kainsthematik bereits aufs engste mit der Henochthematik verbunden.
4.4 Henochlhematik Der Gestalt Henochs kommt innerhalb des Jubiläenbuches gewiß eine besondere Stellung zu. Dies zeigt sich bereits darin, daß Henoch - wie neben ihm nur noch Abraham und Jakob- aufs engste mit Mose verbunden wird. Mose und Henoch erscheinen in gleicher Funktion. Analog zur Darstellung des Mose in Kapitel 1 wird auch Henoch eng mit der Offenbarung von Gesetz und Geschichte verbunden. Auch Henoch erhält den Auftrag, die Gesetzes- und Geschichtsoffenbarung, die ihm zuteil wurde, für die kommenden Geschlechter niederzuschreiben (4,17b). Im Zentrum der Gesetzesoffenbarung steht wiederum die Kalenderthematik. Dies geht eindeutig aus 4,18 hervor: ,,Er schrieb als erster ein Zeugnis auf und bezeugte für die Menschenkinder im Geschlecht der Erde. Und die Jahrwoche der Jubiläen sagte er. Und die Tage der Jahre ließ er erkennen. Und d!e Monate ordnete er. Und die Sabbate der Jahre sagte er, wie wir es ihn wissen ließen"47 • Wenn 4,21 in diesem Zusammenhang auf die "Herrschaft der Sonne" verweist, so ist deutlich, daß auch hier an einen solaren Kalender gedacht ist. Das Wissen um den korrekten Kalender ist die Grundlage der Weltordnung und Voraussetzung dafür, ein Leben in Übereinstimmung mit der kosmischen Ordnung zu führen. Ausdrtlcklich wird in diesem Kontext auch auf die Weisheit Henochs verwiesen. Bereits in 4,17a heißt es von Henoch: •.Dieser nun lernte als erster Schreiben und Wissenschaft und Weisheit von den Menschen, von denen, die geboren werden auf Erden"48. Das Verhältnis zwischen Weisheit und Gesetzesoffenbarung wird jedoch nicht näher bestimmt. An eine Identifikation von Weisheit und Gesetz ist an dieser Stelle sicherlich nicht gedacht. Die Rede von der Weisheit Henochs soll wohl lediglich dessen ,.Schreibertätigkeit" explizieren, so daß dieser hier keine eigenständige theologische Bedeutung zukommt. Die Hochschätzung der Tätigkeit des "Schreibens", die aus dieser wie auch aus anderen Stellen des Jubiläenbuches eindeutig hervorgeht49 , ist als sicherer Hinweis auf die Trägerkreise des Jubiläenbu46 Nach 4,31 wird auch Kain analog zu seinem Bruder Abel durch einen Stein getötet. 4 7 Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 343f.
48 Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 343. 49 Neben Henoch werden auch Mose, Abraham (11,16) und Jakob (19,14) ausdrücklich mit
der Tätigkeit des ,,Schreibens" in Verbindung gebracht.
Anhang: Das Jubiläenbuch
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ches zu werten. Diese sind wohl in schriftgelehrtem Milieu priesterlicher Provinienz zu suchenso. Die Funktion des Henoch geht trotz aller Parallelität noch über die des Mose hinaus. Henoch erhält nicht nur Offenbarungen über Gesetzund Geschichte, sondern gleichzeitig wacht er auch über sämtliche Verstöße gegen diese Ordnung. Henoch kommt damit eine entscheidende Aufgabe im Endgericht zu. Dies bringt 4,23 klar zum Ausdruck: "Und er wurde genommen aus der Mitte der Menschenkinder. Und wir führten ihn in den Garten Eden zu Größe und Ehre. Und siehe, er schreibt dort das Gericht und das Urteil der Welt und alle Bosheit der Menschenk.inder"St. Henoch fungiert nach seiner EntrUkkung als ,,Zeuge der Anklage" im Endgericht, d.h. er registriert sämtliche Übertretungen der Weltordnung. Wiederum werden ethische und kosmische Vergehen eng aufeinander bezogen. Weltordnung und Gericht sind in der Person Henochs miteinander verbunden. 4.5 Noahthematilc
Die Noahthematik ist ganz von der Absicht geprägt, Sintflut und Endgericht typologisch aufeinander zu beziehen. Die Zeit vor der Sintflut symbolisiert die Endzeit, Noah dagegen wird zum Typos der Gerechten, die im Endgericht bestehen. Die Zeit vor der Sintflut ist durch und durch verderbt (5,3). Zunächst sei in diesem Zusammenhang kurz auf die Rolle der Engel innerhalb des Jubiläenbuches verwiesen. Diese begegnen uns zum einen in äußerst positivem Gewand. Als Offenbarungsmittler belehren sie Mose oder Henoch über die Weltordnung und fungieren als Zeugen im Endgericht Darüber hinaus erscheinen sie als Garanten der Weltordnungs2. Zum anderen weiß das Jubiläenbuch in Analogie zum äthiopischen Henochbuch aber auch von den SUnden der Wächterengel zu berichten. Die Ursache für die Bosheit auf Erden wird im Jubiläenbuch jedoch weit konsequenter als in den entsprechenden Partien des äthiopischen Henochbuches von der ,,metaphysischen" auf die menschliche Ebene verschoben. Zwar nimmt auch im Jubiläenbuch, ausgelöst durch die sexuelle Vereinigung zwischen den Wächterengeln und den Menschenfrauen, das Unrecht auf Erden seinen Lauf (5,1), doch wird der Blickwinkel sofort auf die Untaten der aus dieser Verbindung entspringenden Riesen und von dort auf die gesamte Menschheit verlagert. Das Böse auf Erden erscheint als Übertretung der "Schöpfungsordnung" und entspringt in erster Linie dem verantwortlichen Tun der Geschöpfe Gottes. Das Böse wird nicht als das Produkt eines metaphysischen SUndenverhängnisses verstanden. Die Wächterengel und ihre Söhne
so Siehe auch K. Berger, Das Jubiläenbuch, 298, der die Trägerkreise des Jubiläenbuches als ,,antihellenistische priesterliche Reformgruppe, die sowohl mit den Asidäem als auch mit der kun danach entstandenen Qumrangruppe in enger historischer Verbindung steht', beschreibt. SI Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 345. S2 Zur Vorstellung der Engel als Garanten der Weltordnung sei auf Jub 4,15 verwiesen: ..Denn in seinen Tagen stiegen herab die Engel des Herrn, welche Wächter heißen, daß sie lehrten die Menschenkinder und daß sie täten Recht und Ordnung auf Erden" (Übersetzung nach K. Berger, Das Buch der Jubiläen, 342).
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tragen in erster Linie für ihre eigenen Vergehen die Verantwortung. Während die Riesen für ihre Untaten bereits auf Erden durch den Tod bestraft werden (5,9), müssen sich die Wächterengel im Endgericht für ihre Taten verantworten (5,10). War der Gerichtsgedanke für die Zeit vor der Sintflut bestimmend, so steht er auch im Mittelpunkt der Endzeit. Gottes Gericht wird über jeden einzelnen gemäß seiner Taten ergehen (5,15). Es ist universal und völlig unparteiisch. Am Ende des Berichts über das Sintflutgeschehen wird der Versuch unternommen, den Gerichtsgedanken paränetisch anzuwenden. Hierzu wird Gottes universales Gerichtshandeln auf die konkrete Forderung des alljährlichen Versöhnungsfestes bezogen. In 5,17f lesen wir: "Und über die Kinder Israels ist geschrieben und angeordnet: Wenn sie sich bekehren zu ihm in Gerechtigkeit, wird er vergeben alle ihre Übertretungen und wird verzeihen alle ihre Sünde. 18 Es ist geschrieben und angeordnet: Er wird barmherzig sein zu allen, die sich bekehren von aller ihrer Sünde einmal jedes Jahr''SJ. Der Versöhnungstag ist für jeden Israeliten der Weg, Gottes Barmherzigkeit teilhaftig zu werden. Gottes Barmherzigkeit ist jedoch nach diesen Zeilen an die konkrete Forderung der Umkehr gebunden. Die Abkehr jedes einzelnen Israeliten von der Sünde ist die Grundbedingung für Gottes Barmherzigkeit. Die Sünde wird an dieser Stelle nicht von einem "Machtgedanken" her verstanden, sondern sie stellt die Summe der Verstöße gegen Gottes Ordnung dar. Die Umkehr wird als freie menschliche Entscheidung verstanden. Nicht das Wissen um Gottes Barmherzigkeit, sondern der strenge Gerichtsgedanke von 5,16 geht der Umkehr voraus. Der Hinweis auf das Endgericht motiviert zur Umkehr und diese wiederum zieht die Barmherzigkeit Gottes nach sich. Im bisherigen Kontext der Noahthematik dominieren eindeutig der Gerichtsgedanke und damit verbunden die Verpflichtung zu unbedingtem Gesetzesgehorsam. Nach einer ausführlichen Schilderung der Sintflutgeschichte (5,19-32) kommt das Jubiläenbuch auf den Noahbund zu sprechen. Während sich Gott in diesem Bund dazu verpflichtet, von einer erneuten Vernichtung der Erde Abstand zu nehmen (6,4ff), verzichtet Noah für sich und seine Nachkommen auf den Genuß von Blut (6,10). Das Verbot des Blutgenusses wird in 6,14 ausdrücklich als "ewiges Gesetz" ausgewiesen. Bringt das Verbot des Blutgenusses den universalen Charakter des Noahbundes zum Ausdruck, so wird dieser im Gegenzug auch mit der Geschichte Israels verbunden, indem die Verpflichtung zum Begehen des WochenfestesS 4 auf den Noahbund bezogen wird (6,17ff). Dem Wochenfest ist analog zum Sabbatgebot ein präexistenter Charakter zu eigen (6,18). Während Gott seinen Teil der Bundesverpflichtung erfüllte und den Bestand der Schöpfungsordnung garantierte, wurde die Menschheit und hierbei in erster Linie das Volk Israel seinem Teil der Verpflichtung nicht gerecht. Lediglich Noah selbst und die Patriarchen Abraham, Isaak und SJ Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 352. S4
Zur Rolle des Wochenfestes im Jubiläenbuch siehe W. Eiss, Das Wochenfest im Jubiläenbuch und im antiken Judentum, in: Albani, M.JFrey, J./Lange, A. (Hg.), Studies in the Book of Jubilees, 165-178.
Anhang: Das Jubiläenbuch
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Jakob haben die Verpflichtungen des Noahbundes erfüllt, sich des Blutgenusses enthalten und das Wochenfest auf korrekte Art und Weise gefeiert. Die Nachkommen Noahs und der Patriarchen, sprich die Völker der Welt und das Volk Israel machten sich jedoch des Abfalls schuldig. Mose kommt deshalb die Aufgabe zu, das Volk Israel von neuem auf den Inhalt des Noahbundes zu verpflichten (6,20). Die Gesetzgebung am Sinai wird als Erneuerung des Noahbundes verstanden. Doch auch die Gesetzgebung des Mose am Sinai ist nach 6,32-38 zum Scheitern verurteilt. Der Bundesgedanke wird durch seine Verbindung mit der Sinaigesetzgebung und der einseitigen Betonung der verpflichtenden Aspekte auch an dieser Stelle eindeutig von dem Gesetzesgedanken her eingeschränkt. Der Abfall vom Noahbund zeigt sich vor allem im Kalenderfrevel. Das Beobachten eines lunaren Kalenders ist wieder als der grundlegende Verstoß gegen Gottes Ordnung verstanden, der alle anderen Vergehen bedingt (6,36ff). Nur ein primär an der Sonne orientierter Kalender kann korrekte Gesetzeserfüllung garantieren. Diesen Zusammenhang bringt 6,38 mit folgenden Worten zum Ausdruck, wenn es für die Zeit nach dem Tode des Mose heißt: ,.Denn nach deinem Tode werden deine Kinder verderbt handeln, daß sie das Jahr nicht halten zu nur 364 Tagen. Und deswegen werden sie irren in bezug auf Neumond und Zeit und Sabbate und Feste. Und sie werden alle Blut essen mit allem Fleisch"S 5 • Kalender- Festfrömmigkeit und Sabbatgebot, verbunden mit dem Verbot des Blutgenusses, stehen an dieser Stelle stellvertretend für die Totalität von Gottes Gesetz. Zudem werden auch in den einleitenden Partien des Jubiläenbuches an mehreren Stellen Sabbatgebot, Kalenderund Festfrömmigkeit ausdrücklich mit dem "ganzen Gesetz", dem "ganzen Gebot" (2,14) bzw. der "Ordnung" und dem "Bund" Gottes (2,10) identifiziert. Diesen kultischen Geboten eignet jedoch immer auch eine soziale Dimension. Im Zusammenhang der Noahtradition wird sowohl das Verdikt der Nacktheit (7 ,8ff Harn wird verflucht) als auch das Gebot der Nächstenliebe, die primär als Bruderliebe verstanden wird (7,26), erwähnt. Der Verfasser des Jubiläenbuches charakterisiert die Zeitspanne zwischen Noah und Abraham äußerst negativ. Zu den bereits mehrfach erwähnten Vergehen des Blutgenusses und Brudermordes tritt nun neben anderem vor allem der Götzendienst in den Mittelpunkt des Geschehens. Zu einer Wende kommt es erst mit der Person Abrahams.
5. Die Zeit Abrahams (Kap. 11-23) 5.1 Abrahamsthematik Der Person Abrahams wird im Jubiläenbuch eine herausragende Stellung eingeräumt. Der Beginn der mit Abraham verbundenen Periode der Geschichte Israels ist durch dessen Kampf gegen den Götzendienst charakterisiert (11,16). Mit der Abwendung Abrahams von den Götzen ist seine Hinwendung zu Gott
ss Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 361.
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Die Zeit Abrahams (Kap. 11-23)
als dem ,.Schöpfer aller Dinge" verbunden (11,17). Gleichzeitig ist in diesem Kontext davon die Rede, daß Abraham die ,,BUcher seiner Väter" abschreibt (12,27), eine Tätigkeit, die ihn aufs engste mit Henoch und Mose zusammenschließt. Der Hebräischen Sprache als ,.Sprache der Schöpfung" wird eine große Aufmerksamkeit zuteil. Wenden wir uns den Verheißungen Gottes an Abraham zu, so steht neben der Volks-, Land- und Segensverheißung zweifellos der Bundesgedanke im Zentrum des Interesses. Nach 15,6ff kulminieren sämtliche an Abraham ergangenen Verheißungen im Bundesgedanken. Die Beschneidung ist das Erkennungszeichen der Zugehörigkeit zu diesem Bund. Das Beschneidungsgebot ist unbegrenzt gUltig (15,25) und begrUndet den Unterschied zwischen Israel und den Völkern (15,28-32). Das Jubiläenbuch redet einer starken Abgrenzung von den Heiden das WortS6. Die Vorzugsstellung Israels kommt vor allem in dem Gedanken zum Ausdruck, daß nur die Heidenvölker dem Machtbereich der bösen Engel und Dämonen unterstehen, während Israel durch den Bundesschluß dieser Unheilssphäre entnommen ist. Die Tatsache der Zugehörigkeit zum Volk Israel fUr sich genommen, ist jedoch nicht in der Lage, die Teilhabe am eschatologischen Heil zu verbOrgen. Dies geht vor allem aus dem Zukunftsausblick 15,33f deutlich hervor. In 15,34 lesen wir: "Und es wird ein großer Zorn sein Uber die Kinder Israels vom Herrn her, weil sie seinen Bund verlassen haben und von seinem Wort abgewichen sind. Und sie haben gereizt und sie haben gelästert, weil sie nicht die Ordnung dieses Zeichens taten. Denn sie haben ihre Glieder wie die Heiden gemacht, zum Verschwinden und zum Ausgerottetwerden von der Erde. Und sie haben keine Vergebung und Verzeihung mehr, daß er ihnen vergebe und daß ihnen verziehen wUrde von aller SUnde dieser Verirrung, die in Ewigkeit ist"S 7 • Die Teilhabe am eschatologischen Heil entscheidet sich einzig an der Frage nach dem Gebotsgehor samss. Der Erwählungsgedanke erfährt vom Gesetzesgedanken her eine Einschränkung. Er wird zwar nicht aufgehoben, jedoch eng mit dem ethischen Verhalten der Menschen verknüpft. Die Erwählung ist ethisch und nicht ethnisch bedingtS9. Bereits im Rahmen der Abrahamsthematik werden die Gestalten des Isaak und Jakob kurz gestreift, von denen dann ausfUhrlieh in den Kapiteln 24-26 bzw. 26-45 die Rede ist. Während die Erwählung Isaales fUr das Jubiläenbuch jedoch nur von untergeordneter Bedeutung ist, kulminiert die gesamte Vätertradition in der Person Jakobs. Dieser Gedanke wird bereits in 19,27 ausgesprochen. Kapitel 20 steht ganz im Zeichen der Verpflichtung der Nachkommen Abrahams zu unbedingtem Toragehorsam. Folgerichtig geht die Segensverheißung an Jakob (19,27-29) in eine Mahnung zum Gesetzesgehorsam (20,2f) Uber. Um diese Mahnung in ihrer Wirkung zu verstärken, wird im Anschluß auf das Gericht Gottes Uber Sodom als warnendes Exempel verwiesen Siehe E.P. Sanders, Paulus und das Palistinische Judentum, 354. Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 409. SB Siehe J. Becker, Das Heil Gottes, 25. S9 Siehe Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 58. S6
S7
Anhang: Das Jubiläenbuch
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(20,5f0. Immer wieder ist davon die Rede, daß Abraham seine Nachkommen dazu ermahnt, ,,Recht" und "Gerechtigkeit" zu tun (20,2.9). In 21,4f wird erneut der Gerichtsgedanke eingeschärft, bevor Abrahams "Testament" an Isaak mit einer ausführlichen Mahnung an Israel, dem Weg der Gerechtigkeittreu zu bleiben, ausklingt. In 21,21 ist zwar von der Sündenverfallenheil der gesamten Menschheit die Rede, doch hat die Erkenntnis, daß kein Mensch auf Erden gerecht ist, für die Frage nach der Gültigkeit des Gesetzes keine Auswirkungen. Es hat eher den Anschein, als ob dem Blick auf die Sündenverfallenheil der Menschheit die Aufgabe zukommt, zum Gehorsam gegenüber der Tora zu motivieren. Kapitel 22 bringt inhaltlich nichts Neues, tritt doch nun lediglich Jakob als Empfänger des testamentarischen Segens Abrahams in Erscheinung. Wiederum erscheint Jakob als der eigentliche Traditionsträger. Die Erwählung Jakobs wird stark betont, wobei diese in 22,11 und 22,16 mit der Forderung, sich von den Heiden abzugrenzen, verbunden ist. Neben der Abgrenzung von den Heiden steht die Warnung vor Unreinheit im Zentrum dieser Verse. Die "Sünde Harns" und damit die ,.Nacktheit" ist für den Untergang der Heiden verantwortlich. Die antihellenistische Tendenz dieser Verse ist kaum zu übersehen. Mit 23,9-31 schließt ein durch und durch in apokalyptischen Farben gezeichneter Zukunftausblick die Epoche Abrahams ab, dem wir nun unsere besondere Aufmerksamkeit schenken werden.
5.2 Der eschatologische Haupttext des Jubiläenbuches (Kap. 23,9-31) Die Geschichte des Abfalls beginnt mit der Sintflut. Lediglich Abraham, der in den Farben des exemplarischen Gerechten gezeichnet wird, fällt aus diesem Unheilszusammenhang, der sich darin zeigt, daß Krankheit, Krieg, Naturkatastrophen etc. überhandnehmen, heraus. Aufgrund der Bosheit des menschlichen Geschlechtes, wird das Lebensalter der Menschen immer mehr abnehmen. Vers 23,16 rekurriert bereits auf die Gegenwart des Verfassers des Jubiläenbuches. Diese ist von wachsenden Auseinandersetzungen zwischen "Alten" und ,,Jungen" in der Frage der Gesetzesauslegung gekennzeichnet. In 23,16 lesen wir: "Und in diesem Geschlecht werden die Kinder ihre Väter und ihre Alten schelten wegen der SUnde und wegen der Ungerechtigkeit und wegen der Rede ihres Mundes und wegen der großen Bosheiten, die sie tun werden, und wegen des Aufgebens der Ordnung, die der Herr zwischen ihnen und sich festgesetzt hat, daß sie bewahrten und tätenallsein Gebot und seine Ordnung undallseine Satzung und daß sie nicht abwichen nach links und rechts''60. Die Frage nach der korrekten Gesetzeserfüllung steht im Zentrum der die Gegenwart des Verfassers des Jubiläenbuches kennzeichnenden Auseinandersetzungen. Neben den "Jungen" und "Alten" werden noch weitere Gegensatzpaare wie z.B. "Arme" und ,,Reiche", ,.Niedrige" und "Große", ,.Arme" und ,,Herrscher" genannt, die 60 Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 442f.
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Die Zeit Abrahams (Kap. 11-23)
für diese Auseinandersetzungen charakteristisch sind. In 23,19 heißt es: ,.Und sie werden kämpfen, diese mit jenen, JUnglinge mit Greisen und Greise mit Jünglingen, der Arme mit dem Reichen und der Niedrige mit dem Großen und der Arme mit dem Herrscher wegen des Gesetzes und wegen des Bundes, denn sie haben das Gebot und den Bund vergessen und Fest und Monat und Sabbat und Jubiläum und alles Recht''6 1• Die Sympathien der Trägerkreise des Jubiläenbuches gehören eindeutig den jeweils zuerst genannten. Die Richtung des Kampfes verläuft deutlich von "unten" nach "oben". Der Abfall vom Gesetz symbolisiert die Endzeit, die erneute Hinwendung zum Gesetz steht an der Schwelle zur Heilszeit Der Bundesgedanke tritt wiederum hinter dem Gesetzesgedanken zurück. Das Gesetz ist an dieser Stelle nicht als Ausdruck eines unbedingten Heilswillens Gottes zu verstehen62. Gottes Heilshandeln wird durch den "strengen Nomismus", der im Jubiläenbuch zum Ausdruck kommt, geradezu eingeengt6J. Das Bewahren des Gesetzes in der Gegenwart ist die Bedingung für das Hereinbrechen der eschatologischen Heilszeit64 • Folgen wir der Beschreibung der Endzeit etwas weiter, so steht am Ende der innerisraelitischen Auseinandersetzungen um die korrekte Gesetzesauslegung die Überantwortung Israels an die Heiden (23,23). Erst nach einem Strafgericht Gottes durch die Heiden an Israel wird die eschatologische Heilszeit erscheinen. War die letzte böse Zeit von Auseinandersetzungen um die korrekte Gesetzesauslegung geprägt, so beginnt die Heilszeit mit dem Suchen des Gesetzes durch Kinder. Heißt es doch in 23,26: "Und in jenen Tagen werden die Kinder beginnen, die Gesetze zu suchen und das Gebot zu suchen und umzukehren auf den Weg der Gerechtigkeit''6S. Das "Suchen des Gesetzes" durch Kinder, eine Chiffre, hinter der sich ein Teil des israelitischen Volkes verbirgt, geht der Heilszeit unmittelbar voran. Der Gesetzesgehorsam zwingt die eschatologische Neuordnung der Welt zwar nicht herbei, geht dieser jedoch voraus. Das HerbeifUhren der eschatologischen Heilszeit bleibt auch hier Gott selbst vorbehalten. Die Heilszeit selbst ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß es keinen Satan mehr gibt (23,29).
61
Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 443.
62 M. Limbeck greift mit Blick auf Jub 23 viel zu kurz, wenn er in seinem Buch, Die Ordnung des Heils, 84, die Funletion des Gesetzes im Jubiläenbuch folgendermaßen bestimmt: ,.Überzeugt von der Menschenfreundlichkeit Gottes (vgl. IO,IOf; 16,27; 22,6.9), verstand der Verfasser des Jubiläenbuches auch die von Gott gewirkte Ordnung, die sich im Gesetz offenbart, als Teil des göttlichen Heilswirkens. Das Gesetz zu bewahren, bedeutete deshalb für ihn, die Gemeinschaft aufzunehmen und zu realisieren, die Gott dem Menschen angeboten hatte. So widerspiegelt sich für ihn im Gesetz letztlich nur die Tatsache, daß Gott :.uerst für den Menschen gehandelt und ihm damit zugleich das Modell für seine Antwon geschaffen hat". 63 Siehe J. Becker, Das Heil Gottes, 25; gegen E.P. Sanders, Paulus und das Palastinische Judentum, 355ff. 64 So auch Ch. MUnchow, Ethik und Eschatologie, 57. 6S Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 445.
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6. Jakobsthematik (Kap. 26-45) Nach 24,10ff werden sämtliche Verheißungen, die einst an Abraham ergingen, auf Jakob übertragen. Diese Verheißungen, die in der Segensverheißung kulminieren, werden jedoch an die Verpflichtung zu konsequentem Gesetzesgehorsam zurUckgebunden, wenn es in 24,11 heißt: "Und alle Völker der Erde werden gesegnet werden in deinem Samen, weil dein Vater auf mein Wort gehört hat und meine Weisung bewahrt hat und meine Gebote und meine Gesetze und meine Ordnung und meinen Bund''66. Zunächst sei in diesem Zusammenhang erneut darauf hingewiesen, daß die Termini "Weisung", "Gebot", "Gesetz", "Ordnung" und ,,Bund" völlig synonym verwendet werden, ein Sprachgebrauch, wie er über das Jubiläenbuch hinaus gerade auch für apokalyptische Schriften bezeichnend ist. Hatte ursprünglich im alttestamentlichen Sprachgebrauch jeder dieser Termini sein spezifisches Bedeutungsspektrum, so läßt sich schon innerhalb der deuteronomisch-deuteronomistischen Partien des Alten Testaments eine ,,Nivellierung" dieser Bedeutungsvielfalt von einem Gesetzesverständnis her feststellen, das gerade den verpflichtenden Charakter des Gesetzes stark betont. Während innerhalb des Alten Testaments im weisheitlieh-prophetischen Bereich Termini wie "Weisung" und "Ordnung" ihre ursprüngliche Bedeutung noch beibehalten konnten, wurde innerhalb der apokalyptischen Literatur die deuteronomisch-deuteronomistische ,,Nivellierung" der Gesetzestermini beherrschend. Nach 24,11 erscheint die Segensverheißung an Jakob als Folge von Abrahams Gesetzesgehorsam. Zwischen Vers 11a und 11b besteht, wie die Konjunktion "weil" eindeutig beweiBt, ein kausales Beziehungsverhältnis. Abrahams Gesetzesgehorsam ist die Bedingung fUr die Gültigkeit der Segensverheißung an Jakob. Zwar sprechen die Verse 25,20ff auf den ersten Blick demgegenüber eine andere Sprache, indem sie die Gültigkeit der an Jakob ergangenen Verheißung nicht mit der Verpflichtung zu unbedingtem Gesetzesgehorsam, sondern mit dem Besitz des Tempels verbinden, doch auf den zweiten Blick läßt sich dieser Widerspruch leicht auflösen. So beziehen sich diese Zeilen nicht auf den historischen Tempel in Jerusalem, sondern sind Ausdruck einer eschatologischen Zukunftserwartung. Vergegenwärtigen wir uns den Wortlaut von 15,21, so heißt es dort von dem Namen Jakobs: ,.Dein Name soll in alle Ewigkeiten bestehen. Der höchste Gott sei ihnen Gott, und der Gott der Gerechtigkeit möge mit ihnen wohnen. Und unter ihnen soll gebaut werden sein Heiligtum in alle Ewigkeiten''67 • Diese Zeilen dürfen nicht in dem Sinne mißverstanden werden, als ob der gegenwärtige Tempel in Jerusalem zukünftiges Heil für Israel garantiere. Ist doch an dieser Stelle ausdrücklich von Gottes eschatologischem Tempel die Rede, der als Zeichen der Heilszeit verstanden wird. Gottes eschatologischer Tempel ist hier (wie auch an vielen anderen Stellen innerhalb des Jubiläenbuches) lediglich ein ,,Zeichen" unter anderen, das das zukünftige Gottesreich symbolisiert. Daneben könnte man als weitere ,,Zeichen" des Gottesreiches noch die Entmachtung des Satans, 66 67
Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 448. Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 454.
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Jakobsthematik (Kap. 2~5)
die Reinheit bzw. Heiligkeit des Volkes oder die Beschneidung des Herzens nennen. An diesen ,,zeichen" läßt sich die •.Erfüllung der Verheißung" zwar erkennen, doch sind sie nicht für das Hereinbrechen des Gottesreiches verantwonlich. Voraussetzung einer von der Zukunft her erwaneten Erfüllung der Verheißung ist und bleibt die Umkehr Israels zu konsequentem Gesetzesgehorsam. Die Vorordnung der Verpflichtung zu unbedingtem Gesetzesgehorsam gegenüber jeglicher am Gedanken von Gottes Zusage orientiener Bundesvorstellung zeigt sich besonders deutlich an zwei weiteren Stellen des Jubiläenbuches. So finden sich im Anschluß an die Geschichte vom Gericht Sirneons und Levis über Sichern, die zur Herleitung einiger Einzelgesetze über Ehe und Reinheit dient, eine ausfUhrliehe Würdigung der Person des Levi und dessen Söhne. Nach 30,20 wird Levi aufgrund seiner Taten, die darin bestehen, .,Gerechtigkeit zu tun und Gericht und Rache an allen, die sich erheben gegen IsraeJ"68, als .,Gerechter" auf den Tafeln des Himmels aufgeschrieben. Levis Taten dienen als Beispiel für eine Mahnung Gottes an Mose, eine Mahnung, hinter der sich zweifellos der Autor des Jubiläenbuches verbirgt. In den Versen 30, 2lf lesen wir: .,Alle diese Dinge habe ich dir aufgeschrieben, und ich gebiete dir, daß du ausrichtest den Kindem Israels, daß sie keine Sünde tun und die Ordnung nicht übenreten und den Bund nicht brechen, der ihnen angeordnet ist, daß sie ihn tun, und als Freunde aufgeschrieben werden. 22 Wenn sie aber (den Bund) übertreten und handeln aus allen Wegen der Unreinheit, werden sie auf den Tafeln des Himmels als Feinde aufgeschrieben werden. Und sie werden getilgt werden aus dem Buch des Lebens und werden geschrieben in das Buch derer, die vernichtet werden, und mit denen, die von der Erde ausgerottet werden"69 . Der Bundesgedanke wird wiederum ausschließlich vom Gesetzesgedanken her verstanden. Einzig an der Stellung zum Gesetz entscheidet sich Israels zukünftiges Geschick. Von Gottes Zuspruch oder dessen Barmherzigkeit ist nirgends die Rede. Der mit der Tradition von den himmlischen Tafeln verbundene Gerichtsgedanke, der sich am Tun des Gesetzes orientien, steht eindeutig im Mittelpunkt des lnteresses70. Die starke Betonung des primär als richterliche Norm verstandenen Gesetzesgedankens kommt auch im Rahmen der Geschichte von Ruhen und Bilha in Kapitel 33 zum Ausdruck. So weist 33,13 die Tat Rubens, der mit Bilha, der Frau seines Vaters geschlafen hat, eindeutig als Todsünde aus, für die es keine Sühnemöglichkeit gibt. Nach diesem Gesetz hätte Ruhen sterben müssen. Die Tatsache nun, daß Ruhen entgegen diesem Gebot weiterlebte, wird jedoch gerade nicht gegen die unbedingte Gültigkeit dieses Gesetzes ausgespielt. Ruhen stellt keine Ausnahme von der Regel dar, sondern er bleibt nur deshalb vor der Konsequenz dieses Gebotes verschont, weil es zu seiner Zeit noch nicht geoffenban war. An der unerbittlichen Strenge des Gesetzesgedankens wird nicht gerüttelt. Statt dessen fUhn der Verfasser des Jubiläenbuches an dieser Stelle eine Theorie ein, die in 68 Siehe Jub 30, 18b (Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 69 Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 474. 70
Siehe J. Becker, Das Heil Gottes, 25.
474).
Anhang: Das Jubiläenbuch
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einem gewissen Widerspruch zu anderen Partien des Jubiläenbuches steht und davon ausgeht, daß zur Zeit der Väter die Tora noch nicht vollständig geoffenbart war7 •. Kann der Verfasser des Jubiläenbuches an anderen Stellen gerade auf den Gesetzesgehorsam der Erzväter verweisen und wird nicht müde, die Parallelität der Funktionen des Mose mit denen des Henoch, Abraham oder Jakob zu betonen, so vertritt er hier eine Auffassung, die diesen Bemühungen entgegensteht. Im Rahmen dieses Abschnittes sei noch auf die Segnung Judas und Levis durch lsaak verwiesen. Die Bedeutung des Levi wird hierbei stark betont (Kap. 31). Levi ist im Jubiläenbuch Juda deutlich vorgeordnet12. Von der Vielzahl von Funktionen, die das Jubiläenbuch mit der Gestalt Levis und seiner Söhne verbindet, ist für unsere Fragestellung vor allem die Beziehung, die zwischen den Leviten und dem Gesetz besteht, von Interesse. Richten wir unser Augenmerk zunächst auf Vers 31,15: "Und Richter und Anführer und Könige werden sie sein für allen Samen der Söhne Jakobs. Das Wort des Herrn werden sie in Gerechtigkeit sagen, und alle seine Rechtsentscheide werden sie in Gerechtigkeit richten. Und sie werden meine Wege Jakob sagen und meine Pfade Israel. Der Segen des Herrn wird in ihren Mund gegeben werden, damit sie segnen allen Samen des Geliebten"73 • Die Leviten erscheinen nicht nur als Richter, Anführer und Könige, sondern auch als VerkUndiger des Wortes Gottes, des Gerichts und des Gesetzes. Die Lehrfunktion der Leviten geht über das kultische Priesteramt hinaus und erstreckt sich auf das ganze geschriebene Gesetz. In 32,21 wird Jakob nochmals ausdrücklich in eine Reihe mit Henoch, Abraham und Mose gestellt, wenn darauf hingewiesen wird, daß auch Jakob von Gott die zukünftige Geschichte offenbart wurde. Von den verbleibenden Kapiteln des Jubiläenbuches, die sich mit der Person des Jakob beschäftigen, widmet sich der weitaus größte Teil der Josephsgeschichte (34,10-19 + 39.2b-46,16) und der Überlieferung von der Auseinandersetzung zwischen Jakob und Esau (34,20-39.2a). Das beherrschende Thema, das beide Überlieferungskreise zusammenhält, ist die Ermahnung zur Bruderliebe. Die Mahnung zur Bruderliebe, die in der Mehrzahl der Fälle mit der Mahnung zur Gottesliebe verbunden erscheint, wird durch den Gerichtsgedanken motiviert (36,8ff). Die Regentschaft Josephs in Ägypten wird ganz in den Farben einer idealen, wohl gar messianischen Heilszeit gezeichnet. In 40,9 heißt es: "Und befriedet war das Land Ägypten vor dem Pharao wegen Joseph. Denn der Herr war mit ihm. Und er gab ihm Gnade und Erbarmen für sein gan-
71 Siehe Jub 33.16: •.Denn die Ordnung und das Recht und das Gesetz waren nicht vollständig geoffenban bis damals für alle. Denn in deinen Tagen ist es wie ein Gesetz der Zeit durch die Tage und ein Gesetz, das für die Ewigkeit ist, für die Nachkommen, die in Ewigkeit (sind)" (Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 489). 72 Die Vorordnung Levis zeigt sich sowohl darin, daß Levi zuerst gesegnet wird als auch darin, daß Isaale Levi mit seiner rechten Hand ergreift (31.12). 73 Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 478.
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Mosethematik (Kap. ~9
zes Geschlecht vor allen, die ihn kannten und (vor) denen, die Kunde von ihm hörten. Und das Königreich Pharaos war in guter Ordnung. Und es gab keinen Satan, und es gab nichts Böses"74 • Die Abwesenheit des Satans ist an dieser, wie auch an anderen Stellen des Jubiläenbuches ein Hauptmerkmal für die eschatologische Heilszeit Es kann von daher keinerlei Zweifel bestehen, daß die Zeit der Regentschaft Josephs in Ägypten als Typos der zukünftigen Heilszeit verstanden wird. Im Rahmen dieses Themer.komplexee sei nxh kurz 2uf die Episode Z\Uischen Juda und Thamar verwiesen. Juda hat sich durch den Geschlechtsverkehr mit seiner Schwiegertochter einem Vergehen schuldig gemacht, für das es keine SUhne gibt. Trotzdem werden weder Juda noch seine Nachkommen mit dem Tode bestraft. Konnte der Verfasser des Jubiläenbuches mit Blick auf die Tat Rubens eine ähnliche Diskrepanz zwischen dem Wortlaut des Gesetzes und dem tatsächlichen Ergehen des Delinquenten dadurch ausgleichen, daß er von einer unvollständigen Torsoffenbarung in dieser Zeit ausging, so eröffnet er nun Juda entgegen dem Wortlaut des Gesetzes trotzdem die Möglichkeit zur Reue (41,23b-24). Die Tatsache, daß Judas Söhne sich weigerten, mit Thamar die Schwagerehe zu vollziehen, wird als mildemder Umstand für Judas Sünde geltend gemacht (41,27). Juda wird die Möglichkeit zur Buße für eine Tat, die nach dem Wortlaut des Gesetzes unsUhnbar ist, nicht nur zugestanden, sondern darüber hinaus wird auch der Versuch unternommen, dieses Zugeständnis rational zu begründen. Durch diese Konstruktion ist es möglich, das Geschick Judas so mit dem Gesetz zu verbinden, daß es dessen Charakter als unerbittliche Forderung keinen Abbruch tut. Gegen Ende der Josephsgeschichte wird nochmals die Lehrautorität der Leviten hervorgehoben, bevor die Zeit der Regentschaft Josephs abschließend in den Farben der eschatologischen Heilszeit gezeichnet wird. Nach 45,16 ist Levi die entscheidende Schrift- und Gesetzesautorität Neben seinen priesterlichen Funktionen wird im Jubiläenbuch sehr viel Wert auf seine Verbindung mit dem Gesetz gelegt. Kult und Tora gehen in seiner Person eine Symbiose ein.
7. Mosethematik (Kap. 46-49) In den Kapiteln 46-49 dominiert die Gestalt des Mose. Bereits in 47,9 wird herausgestellt, daß Mose von seinem Vater die Schrift erlernte. Mose steht als "Schriftgelehrter'' in einer Linie mit Henoch, Abraham, Jakob, und Levi. Das Kapitel 48, das primär vom Kampf zwischen Mastema und dem Engel Gottes berichtet, wobei die ägyptischen Zauberer auf seiten Mastemas, Mose auf seitendes Gottesengels in den Kampf eingreifen, ist ganz auf die Passahthematik des Kapitels 49 hin zugeschnitten. Irdisches und himmlisches Geschehen sind eng aufeinander bezogen. Die Exodusthematik wird der Passahthematik untergeordnet. Nicht Gottes Befreiungstat an Israel, sondern Israels Verpflichtung
74
Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 520.
Anhang: Das Jubiläenbuch
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zum Gesetzesgehorsam als Folge dieser Befreiungstat steht im Mittelpunkt des Interesses. Eine Ätiologie des Passahfestes sowie dessen Regeln machen den Inhalt von Kapitel49 aus. Das Passahfest wird ausdrilcklich als ewige Ordnung bezeichnet (49,8). Der bis in alle Ewigkeit verpflichtende Charakter dieses Festes steht im Vordergrund. Gottes Zuspruch ist Gottes Anspruch untergeordnet.
8. Der Schluß des Jubiläenbuches (Kap. 50) Das Schlußkapitel des Jubiläenbuches steht analog zu Kapitel 2 ganz im Zeichen der Sabbatgesetzgebung. Die gesamte Sinaigesetzgebung wird durch dieses Kapitel geradezu als Sabbatgesetzgebung ausgewiesen. In 50,1-2 lesen wir: "Und nach diesem Gesetz habe ich dich wissen lassen die Tage der Sabbate in der Wüste Sinai, die zwischen Elom und dem Sinai liegt. 2 Und auch die Sabbate des Landes habe ich dir gesagt auf dem Berg Sinai. Und auch die Jahre der Jubiläen in den Sabbaten der Jahre. Aber sein Jahr haben wir dir nicht gesagt, bis ihr in das Land kommt, das ihr in Besitz nehmen sollt"7S. Mit dem Hinweis auf die Sabbatgesetzgebung beginnt eine Art Geschichtsüberblick, der sich stark an kalendarischen Gegebenheiten orientiert (50,30. In 50,5 endet dieser Geschichtsüberblick mit einem Ausblick auf die eschatologische Heilszeit Die eschatologische Heilszeit wird mit folgenden Worten charakterisiert: "Und die Jubiläen werden vorübergehen, bis Israel gereinigt ist von aller Sünde der Unzucht und Unreinheit und Befleckung und Verfehlung und des Intums und wohnt im ganzen Land, wenn es Vertrauen hat und (wenn) es für es keinen Satan mehr gibt noch irgend etwas Böses. Und das Land wird rein sein von jener Zeit an bis in alle Tage"76 . Die Hoffnung auf die Reinheit des Landes und eine satanslose Zeit markiert die eschatologische Heilszeit Die Hauptbedingung, die dem Anbruch dieser eschatologischen Heilszeit vorausgeht, ist für den Verfasser des Jubiläenbuches der Gehorsam gegenüber den Sabbatgeboten. Nicht umsonst verbindet er seinen Ausblick auf die eschatologische Heilszeit in 50,5 mit dem Hinweis auf die Sabbatgesetzgebungn. Die Verse 50,~13 enthalten eine Aufzählung von Sabbatgeboten, die sich gegenüber der alttestamentlichen oder auch rabbinischen Tradition durch ihre große Schärfe auszeichnen. Jede Art von Kriegsführung, selbst wenn sie nur der Verteidigung dient, ist am Sabbat verboten. Ähnliche Tendenzen einer verschärften Sabbatpraxis begegnen uns auch in Qumran 7B. Am Tun des Gesetzes, sprich an der Erfüllung der Sabbatgebote, entscheidet sich die Frage zukünftigen Ergehens und damit die Frage nach dem Anbruch der eschatologischen Heilszeit
75
Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 55lf. Übersetzung nach K.Berger, Das Buch der Jubiläen, 552. Zur Frage nach der Sabbatgesetzgebung im Jubiläenbuch siehe auch L. Doering, The Concept of the Sabbathin the Book of Jubilees, in: Albani, M./Frey, JJLange, A. (Hg.), Studies in the Book of Jubilees, 179-205. 78 Siehe z.B. CD 11,13-17. 76 77
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Zusammenfassung
9. Zusanunenfassung Der Verfasser des Jubiläenbuches geht von einer pessimistischen Sicht der Gegenwart aus. Die Situation der Gegenwart geht jedoch nicht auf ein Sündenverhängnis zuriick, sondern sie wurzelt im Ungehorsam gegen das Gesetz. Der Sündenverhängnisgedanke tritt im Jubiläenbuch gegenüber der Überzeugung von der Eigenverantwortlichkeit des Menschen für sein Tun stark zurück. Das Heil ist innerhalb der Geschichte nicht mehr zugänglich, der Tun-ErgehenZusamme-nhang ist innergeschichtlich auSer Kraft. Da Ge:;etzcs- und Geschichtsoffenbarung im Jubiläenbuch eine unzerstörbare Einheit bilden, wird durch die Tatsache, daß die Geschichte nicht mehr in der Lage ist, das Heil zu begründen, auch die Heilswirksamkeit des Gesetzes in Frage gestellt. In dieser Situation richtet sich der Blick ausschließlich auf die Zukunft. Einzig Gottes zukünftiges Handeln ist in der Lage, heilsstiftend zu wirken und die Heilswirksamkeit des Gesetzes neu zu begründen. Ist die Zeit vor dem Ende eine Zeit der Gesetzesübertretung und des Frevels, so markiert die Hoffnung auf eine erneute Zuwendung Israels zum Gesetz den Beginn der Heilszeit Das Jubiläenbuch geht zwar von einer innerisraelitischen Spaltung (Jub 23,16ff) aus, doch mißt es diesem Gedanken im Rahmen seiner Heilskonzeption keine besondere Bedeutung zu. Der Unterschied zwischen Israel und den Heiden wird weit stärker betont. Folglich stellt das Jubiläenbuch den Erwählungsgedanken ins Zentrum seiner Argumentation. Der Erwählungsgedanke wird jedoch aufs engste mit der Verpflichtung zu unbedingtem Gesetzesgehorsam verbunden. Über das Endheil entscheidet nicht die Zugehörigkeit zum Bund, sondern einzig das Beachten der Gebote. Der Bundesgedanke wird vom Gesetzesgedanken her bestimmt. Das Gesetz ist gerade nicht Ausdruck des unbedingten Heilswillens Gottes, sondern einzig totaler Toragehorsam ist in der Lage, vor dem Verlust des Heils zu bewahren. Die verschärfende Komponente im Gesetzesverständnis ist unübersehbar. Werfen wir einen kurzen Blick auf den Sprachgebrauch, so werden die Termini "Gesetz", "Gebot", "Ordnung", "Weisheit" und ,,Bund" völlig synonym verwendet. Die ursprüngliche Bedeutungsvielfalt dieser ,,Begriffe" wird von einem Gesetzesverständnis her, das gerade den verpflichtenden Gedanken des Gesetzes stark betont, einer deutlichen Nivellierung unterzogen. Das Gesetz enthält kultische und soziale Bestimmungen. Sabbatgebot, Kalender- und Festfrömmigkeit sind von herausragendem Interesse. Zudem kann auch das Jubiläenbuch irdische und kosmische Gesetzlichkeit eng aufeinander beziehen.
2.6 Ergebnisse Am Ende unserer Untersuchung über das Gesetzesverständnis der frühjüdischen Apokalyptik angelangt, wollen wir die auf den ersten Blick doch recht vielfältigen Ergebnisse bündeln. Der Versuch einer Systematisierung ist kein leichtes Unterfangen, da das Gesetzesverständnis der frühjüdischen Apokalyptik- analog zu der frühjüdischen Apokalyptik selbst- keine einheitliche Größe darstellt. Die Entwicklungen, die die frühjüdische Apokalyptik im Laufe ihrer sich über mehrere Jahrhunderte hinweg erstreckenden Geschichte durchlaufen hat, konnten auch für die Frage nach dem Gesetz nicht ohne Auswirkungen bleiben. Meines Erachtens lassen sich trotz aller Unterschiede im einzelnen jedoch durchaus einige für das Gesetzesverständnis der frühjüdischen Apokalyptik grundlegende Aspekte erkennen. a) Wenn in Texten der frühjüdischen Apokalyptik von dem Gesetz die Rede ist, so steht dessen verpflichtender, unbedingten Gehorsam fordernder Gedanke im Vordergrund. Das Gesetz erscheint in erster Linie als Gottes Gerichtsnorm im Endgericht Der Gesetzesgedanke trägt dafür Sorge, daß der innergeschichtlich gestörte Tun-Ergehen-Zusammenhang am Ende der Zeit wiederhergestellt wird. Die endzeitliche Strafe der Sünder wird deren geschichtlicher Schuld, der endzeitliche Lohn der Gerechten deren irdischem Verdienst entsprechen. Der "Vergeltungsgedanke" wird stark betont. An der prinzipiellen Erfüllbarkeit des Gesetzes besteht keinerlei Zweifel. Die Frage nach Heil und Unheil wird vom Gesetzesgedanken her einer immer stärker werdenden Individualisierung unterzogen. Die absolute und undifferenzierte Rede von "dem Gesetz" zeugt keineswegs von einem Desinteresse der Apokalyptik an dem konkreten Einzelgebot, sondern sie will die Totalität des geforderten Verhaltens einschärfen. In jedem einzelnen Gebot ist das Gesetz als Ganzes präsent. Folglich tritt uns der Gesetzesgedanke innerhalb der frühjüdischen Apokalyptik in geradezu verschärfter Gestalt entgegen. Zudem sei noch darauf hingewiesen, daß die Gesetzesaussagen der frühjüdischen Apokalyptik ein stark kultisches Interesse verraten. Kult und Gesetz bilden eine Einheit. b) Von besonderer Bedeutung für das Gesetzesverständnis der frtlhjUdischen Apokalyptik ist das Verhältnis von Gesetz und Weisheit. Auch dann, wenn man sich vor einer unkritischen Gleichsetzung von Weisheits- und Gesetzestradition hütet, kommt man zu dem Ergebnis, daß in einer Vielzahl apokalyptischer Texte eine enge Beziehung zwischen diesen beiden Größen besteht. Zu einer regelrechten Identifizierung von Weisheit und Gesetz korrunt es jedoch nur im 4. Esrabuch, der syrischen Baruchapokalypse und Teilen des paränetischen Henochbuches. Die Identifizierung von Gesetz und Weisheit hat sowohl eine Entgeschichtlichung als auch eine Universalisierung des Gesetzes-
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Ergebnisse
gedankens zur Folge. Da nach dem 4. Esrabuch und der syrischen Baruchapokalypse die göttlichen Geheimnisse nur an denjenigen, der nach der Weisheit bzw. dem Gesetz lebt, offenbart werden, erscheint die Weisheit als Voraussetzung der Offenbarung. Im biblischen Danielbuch hingegen ist die Weisheit Gegenstand der Offenbarung. c) Ein weiterer zentraler Aspekt des Gesetzesverständnisses der frühjüdischen Apokalyptik ist die enge Verbindung von kosmischer und irdischer Gesetzlichkeit, wie sie uns hauptsächlich in Teilen des biblischen Daniel- und des äthiopischen Henochbuches entgegentritt. Das Gesetz erfahrt in diesem Zusammenhang eine Ausweitung, so daß es bedeutend mehr als die Sinaigesetzgebung umfaßt. Der irdische wie auch der kosmische Bereich unterstehen demselben Gesetz, das sich durch seinen verpflichtenden Charakter auszeichnet. Vergehen im kosmischen Bereich und Gesetzesübertretungen im irdischen Bereich bedingen sich gegenseitig. Das In- und Miteinander von kosmischer und irdischer Gesetzlichkeit nimmt in der Frage nach dem rechten Kalender konkret Gestalt an. Falsches astronomisches Wissen fUhrt zu einem falschen Kalender, der wiederum eine Veränderung der Festzeiten zur Folge hat. Mit dem rechten Kalender steht und fällt die Möglichkeit des Gesetzesgehorsams und der korrekten Gottesverehrung. d) In der frühjüdischen Apokalyptik läßt sich eindeutig eine Tendenz feststellen, den Bundesgedanken vom Gesetzesgedanken her zu relativieren. Während es für das alttestamentliche wie auch für das rabbinische Gesetzesverständnis eine Selbstverständlichkeit ist, daß jeder Israelit zum auserwählten Gottesvolk gehört, entscheidet in der frühjüdischen Apokalyptik der Gesetzesgehorsam des einzelnen über dessen Zugehörigkeit zum wahren Gottesvolk. Der mit der Gabe des Gesetzes verbundene Anspruch Gottes wird dessen gleichfalls durch das Gesetz begründeten Zuspruch vorgeordnet. Das Gesetz wird gerade nicht als das ,,Dokument der Erwählung" gesehen, sondern die Gültigkeit der Erwählung wird vom Gesetz her permanent in Frage gestellt. Eine auf das Volk Israel in seiner Gesamtheit ausgerichtete Heilsperspektive tritt immer stärker zugunsten einer einzig auf das Heil des einzelnen Gerechten konzentrierten Perspektive zurück. Das Interesse an Israel als dem Gottesvolk schwindet. Diese Tendenz läßt sich innerhalb des apokalyptischen Schrifttums vielerorts feststellen. Während in der Vision von den vier Weltreichen in Dan 2 noch der Bundesgedanke dominiert, erfährt der Gedanke der Zugehörigkeit zu Israel in der Tiervision des Danielbuches eine deutliche Einschränkung. Das Heil wird individualisiert und auf die "Gerechten" beschränkt. In der großen Schlußvision des Danielbuches (Kap. 1~12) wird diese Relativierung des Bundesgedankens bestätigt. Andere Schriften zeichnen ein ähnliches Bild. Die Tiervision des äthiopischen Henochbuches und die Himmelfahrt des Mose unternehmen zwar noch den Versuch, an einer gesamtisraelitischen Heilsperspektive festzuhalten, obgleich
Ergebnisse
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auch sie bereits die Vorstellung einer besonderen gesetzestreuen Gruppe innerhalb Israels kennen, doch ist bereits die Zehn- Wochen-Apokalypse an Israel in seiner Gesamtheit nicht mehr interessiert. An die Stelle Israels treten die ,.auserwählten Gerechten", hinter der sich in erster Linie die Anhänger der gesetzestreuen apokalyptischen Kreise verbergen. e) Zudem sei in diesem Zusammenhang nochmals ausd.Iiicklich auf die große Bedeutung der alttestamentlichen Deuteronomistik für zahlreiche Teile der apokalyptischen Gesetzestheologie verwiesen (siehe z.B. Daniel 9, Himmelfahrt des Mose, 4. Esrabuch und syrische Baruchapokalypse). Der deuteronomisch-deuteronomistische Gesetzesbegriff wird apokalyptisch transformiert. Das Gesetz wird aus seiner Verbindung mit der Geschichte Israels gelöst. Der Gesetzesgedanke wird individualisiert und eschatologisiert.
0 Zu guter Letzt sei schließlich an den "paradoxen" Versuch der frühjüdischen Apokalyptik erinnert, den Gedanken der Sündenverfallenheil der gegenwärtigen Welt mit der mit dem Gesetzesgedanken verbundenen Vorstellung von der Eigenverantwortlichkeit des Menschen für sein Tun zu verbinden. Rekapitulieren wir diese Frage im Kontext der geschichtlichen Entwicklung der frühjüdischen Apokalyptik, so ließ der radikal theozentrische Ansatz der frühjüdischen Apokalyptik zunächst nur wenig Raum für den Gedanken der freien Verantwortlichkeit des Menschen für sein Tun. Folglich ist in den Texten aus der Frtlhphase der frühjüdischen Apokalyptik kaum vom Gesetz die Rede (siehe die Vision von den vier Weltreichen in Dan 2 oder die Kapitel 6-36 des äthiopischen Henochbuches). Das Böse in der Welt erscheint als Folge eines "metaphysischen" Verhängnisses. Dem Menschen kommt lediglich eine "Statistenrolle" auf der BUhne des Geschehens zu. Der radikal dualistische Zug der frühjüdischen Apokalyptik verlangte nach einer so starken Ausweitung des SUndengedankens, daß es nicht genügte, die Sünde lediglich als Summe einzelner ToraUbertretungen zu definieren. Nur die Überzeugung von einer allgemeinen SUndenverfallenheil war in der Lage, die gegenwärtige Weltzeit als absolut "böse" zu charakterisieren. Diesem Verhängnisgedanken entsprach dann eine Eschatologie, die alles Heil einzig von dem zukünftigen Handeln Gottes her erwartet. Da diese Konzeption von Anfang an in der großen Gefahr stand, jegliches verantwortliche Tun des Menschen und damit jede Form von Ethik ad absurdum zu führen, kam es für die frtlhjUdische Apokalyptik darauf an, diese Konzeption mit dem Gedanken der menschlichen Entscheidungsfreiheit zu verbinden. Es galt, zu einer "eschatologischen" Neubegrtlndung der Ethik zu gelangen. Stationen auf diesem Weg, der zu einer fruchtbaren, wenn auch aus heutiger Sicht "paradoxen" Verbindung von SUndenverhängnisgedanken und Gesetzesgedanken fUhren sollte, sind der paränetische Teil des äthiopischen Henochbuches, die Himmelfahrt des Mose, das 4. Esrabuch und die syrische Baruchapokalypse.
3 Schlußteil 3.1 Ausblick: Anmerkungen zum Gesetzesverständnis der Qumrangemeinde 3.1.1 Einleitende Bemerkungen Nachdem unsere Untersuchung der Gesetzesaussagen der frühjüdischen Apokalyptik abgeschlossen ist, bietet es sich an, einen kurzen Ausblick auf zentrale Aspekte des Gesetzesverständnisses der Qumrangemeinde folgen zu lassen. Wird doch seit Entdeckung der Qumrantexte in der Forschung um eine Verhältnisbestimmung von Qumrangemeinde und Apokalyptik gerungen. Während die einen die Qumrangemeinde selbst als "apokalyptische Bewegung" charakterisieren•, gehen andere davon aus, daß die Qumrangemeinde "kein sonderliches Interesse an Apokalyptik hatte" 2 • Vor allem die Tatsache, daß sich unter den vermutlich in Qumran selbst verfaßten Schriften kaum ein eindeutig apokalyptischer Text findet, spricht gegen eine allzu enge Verbindung von Qumrangemeinde und Apokalyptik3. Zudem sperrt sich das Geschichts- und Heilsverständnis der Qumrangemeinde gegen eine Zuordnung zur Apokalyptik. Der streng dualistische Zug, der fUr das Geschichts- und Heilsverständnis der Qumrangemeinde bestimmend ist, wird an keiner Stelle so stark ausgeweitet, daß es zu der für das apokalyptische Denken typischen radikalen Trennung von gegenwärtiger und zukünftiger Weltzeit kommt'. Das Heil wird in Qumran im Gegensatz zur Apokalyptik gerade nicht ausschließlich vom Ende her erwartet, sondern wird bereits ,,mit dem Eintritt in die Gemeinde vermittelt"S. In der Siehe z.B. F.M. Cross, The Ancient Library ofQumran. 76--78. So z.B. H. Stegemann, Die Bedeutung der Qumranfunde, in: Apocalypticism, 521. 3 Die Untersuchungen von J. Cannignac und H. Stegemann haben endgültig gezeigt. daß von den vennutlich in Qumran selbst verfaßten Schriften, wenn überhaupt, dann nur ein ganz kleiner Teil der Apokalyptik zuzurechnen ist. Nach J. Carmignac, Qu'est-ce que I' Apocalyptique, RdQ 1979, 32, sind lediglich die Schrift vom ,,Neue Jerusalem", die sogenannte •.Engelliturgie", das ,,Nabonid-Gebet" und die •.Amram-Visionen" als •.Apokalypsen" anzusehen. Daneben trifft diese Charakteristik eventuell auch auf einzelne Passagen aus den ,,Hodajot" und aus dem ,.Genesis-Apokryphon" zu. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch H. Stegemann. der in diesem Zusammenhang das "Gigantenbuch" der Henoch-Literatur, die Schrift vom ,,Neuen Jerusalem", die •.Engelliturgie" und die •.Amram-Visionen" nennt. Stegemann weist jedoch ausdrücklich auf die Möglichkeit hin, daß es sich auch bei diesen Werken um gar keine Apokalypsen handelt, da sich aus den geringen Teilen. die bisher veröffentlicht wurden. noch kein endgültiges Urteil fllllen llßt. Zudem ist nicht auszuschließen, daß auch diese Schriften außerhalb der Qumrangemeinde verfaßt wurden; siebe H. Stegemann, Die Bedeutung der Qumranfunde, in: Apocalypticism, 520f. 4 Siehe z.B. F. Hahn, Christologische Hoheitstitel, 145. S Siehe H.-W. Kuhn. Enderwartung, 179. I
2
Das Problem der Textbasis
325
Qumrangemeinde läßt sich ein Ineinander von Enderwartung und eschatologisch-gegenwärtigem Heil feststellen 6 . Zudem begegnet uns in Qumran allem Anschein nach eine Messianologie, die sich durchaus in traditionellen Bahnen bewegt. Auf der anderen Seite erheben sich jedoch auch erhebliche Bedenken gegen eine zu scharfe Trennung von Qumrangemeinde und Apokalyptik. Lassen sich doch gerade auf der inhaltlichen Ebene trotz aller Unterschiede auch viele Berührungspunkte zwischen den theologischen Vorstellungen der Qumrangemeinde und der frühjüdischen Apokalyptik nachweisen 7 • Wie auch immer das Verhältnis zwischen Qumrangemeinde und Apokalyptik letztendlich zu bestimmen sein mag, eine gewisse Nähe zwischen der Qumrangemeinde und der frühjüdischen Apokalyptik läßt sich wohl schwerlich leugnen. Es liegt nun in der Natur der Sache begründet, daß dieser Ausblick nicht mehr leisten kann, als einige recht grobe Schneisen in das Dickicht des Gesetzesverständnisses der Qumrangemeinde zu schlagen. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dieser Frage würde eine eigene Dissertation erfordern. Ist doch die Frage nach dem Gesetzesverständnis der Qumrangemeinde mit kaum weniger Problemen behaftet, als sie uns in unserer Auseinandersetzung mit den Gesetzesaussagen der frühjüdischen Apokalyptik entgegengetreten sind. Zum einen ist auch hier die Quellenlage weit schwieriger, als dies auf den ersten Blick zu sein scheint. 3.1.2 Das Problem der Textbasis Die Qumranforschung ist auch beinahe 50 Jahre nach der Entdeckung der ersten Fundhöhlen immer noch derart im Fluß, daß längst nicht alle Textfragmente veröffentlicht sind. Doch auch dann, wenn man davon ausgeht, daß sich durch eine Veröffentlichung aller Fragmente an dem Bild, das die großen Handschriften bezüglich des Gesetzesverständnisses zeichnen, kaum etwas ändern wird, ist die Lage kompliziert. Da die Qumrangemeinde neben ihren eigenen Schriften, die innerhalb der Qumrangemeinde selbst entstanden sind, über eine große Bibliothek von Texten, die in der Qumrangemeinde lediglich gesammelt wurden, verfügte, ist es notwendig, Kriterien zu entwickeln, die eine Trennung dieser Textkomplexe ermöglichen&. In erster Linie kommen nämlich
6 Siehe das Ergebnis der Studie von H.-W. Kuhn, Enderwartung und gegenwärtiges Heil, Göttingen 1966. 7 Es sei in diesem Zusammenhang auf das Geheimnismotiv, den Engelglauben und die Schriftauslegung verwiesen; siehe z.B. J.J. Collins, The Apocalyptic Imagination, 140f. 8 Nach H. Stegemann, Die Bedeutung der Qumranfunde, 511, können nur solche Werke für sich den Anspruch erheben, in Qumran selbst verfaßt worden zu sein, ,,die der Gestalt des ,Lehrers der Gerechtigkeit' eine autoritative Funktion beimessen, die die spezifische Ordnung der Qumrangemeinde kennen, auf andere Weise deren Sonderstellung im Rahmen des Judentums reflektieren oder wegen ihres formalen oder terminologischen Konnexes mit solchen Schriften diesen notwendigerweise zuzuordnen sind...
326
Ausblick: Anmerkungen zum Gesetzesverständnis der Qumrangemeinde
nur die Texte, die in Qumran selbst verfaßt wurden, als Hauptzeugen für die Theologie der Qumrangemeinde in Frage. Auf der Suche nach den für die Theologie der Qumrangemeinde spezifischen Texten ist in erster Linie auf folgende Schriften zu verweisen: Die "pescharim''9, die beiden ,,Damaskusschriften" CD 1-VTII/XIX-XX und CD IX-XVI, die ,,Hodajot" 1QH und die "Gemeinderegel" 1QS mit ihren beiden "Anhängen" lQSa und lQsb. Daneben spricht vieles dafür, daß auch einige thematische Midraschim, wie z.B. 4QF1orilegium (=4Ql74) und llQMelchisedeq (=llQ13) zu diesem Schriftenkreis zu rechnen sind 10• Zudem gehört wohl auch der Brief 4QMMT zu den "spezifischen Qumrantexten" 11 • Die "Tempelrolle" wie auch das "Genesis-Apokryphon" (lQGenAp) enthalten sowohl Übereinstimmungen als auch Unterschiede zu den oben genannten Schriften, so daß sie zumindest dem engeren Umfeld der Qumrangemeinde zuzurechnen sind. Einen ganz besonders schweren Fall stellt die •.Kriegsregel" (IQM) dar, die wohl bereits vor Entstehung der Qumrangemeinde literarisch konzipiert, anschließend von der Qumrangemeinde rezipiert und überarbeitet wurde 12 . Jedoch auch die Texte, die mit großer Wahrscheinlichkeit in Qumran selbst entstanden sind, sprechen mit Blick auf die Theologie und damit auch auf das Gesetzesverständnis der Qumrangemeinde keine einheitliche Sprache. Diese Tatsache braucht gerade dann nicht zu verwundern, wenn man bedenkt, daß die Qumrangemeinde über einen Zeitraum von ungefähr 200 Jahren hinweg existierte. Zudem sind auch die einzelnen Schriften selbst in vielen Fällen als Produkte eines längeren Überlieferungsvorgangs zu verstehen, der sich oftmals nur unter großen Schwierigkeiten nachzeichnen läßt. Das Gesetzesverständnis der Qumrangemeinde, so ist bereits an dieser Stelle zu vermuten, ist sicherlich eine recht komplexe Größe.
9 Bei den ..pescharim" handelt es sich um Auslegungen von alttestamentlichen Prophetenund Psalmentexten. Diesen Schriften kommt gerade mit Blick auf Versuche, die Geschichte der Qwnrangemeinde zu erfassen, eine große Bedeutung zu, da diese Auslegungen die Aussagen der Propheten bzw. der Psalmen auf die Gegenwart der Gemeinde deuten. Die wichtigsten Auslegungen in diesem Zusammenhang sind zweifellos lQpHab, 4QpNah und 4QPs1 (=4Ql71). 10 Siehe H. Stegemann, Die Bedeutung der Qumranfunde, in: Apocalypticism, 513; vgl. H. Lichtenberger, Studien, 20-45, der fast zu dem gleichen Ergebnis kommt. II Von diesem Brief aus der Gründungsphase der Qwnrangemeinde, den vermutlich der •.Lehrer der Gerechtigkeit" an den Makkabäer Jonatan gesandt hat, sind in den Qwnranschriften sechs fragmentarische Kopien erhalten (4QM_MTa-f), von denen die älteste aus dem Ende des 2. Jh. v. Chr. stammt; siehe H. Stegemann, Die Essener, 148f. 12 Siehe H. Stegemann, Die Bedeutung der Qwnranfunde, in: Apocalypticism. 511.
Grundlegende Bermerkungen zum Gesetzesverständnis
327
3.1.3 Grundlegende Bermerkungen zum Gesetzesverständnis der Qumrangemeinde Die Frage nach dem richtigen Verständnis der Tora und ihrer Observanz steht zweifellos im Zentrum der Qumrangemeinde 13 . Das Gesetz ist für die Qumrangemeinde die alles bestimmende Größe, wenn es um den Menschen in der Summe seiner Lebensbezüge geht 14. Diese alles überragende Stellung der Tora wird bereits bei der Beschreibung des Eintritts in die Gemeinde deutlich. Der Eintritt in die Gemeinde ist ausdrücklich an die Bedingung totaler Taraobservanz gebunden. Im Eintrittseid verpflichtet sich deljenige, der der Gemeinschaft beitreten will, zum absoluten Gehorsam gegenüber der Tora (lQS 5,7ff; CD 15,5ff). Analog zur deuteronomisch-deuteronomistischen Gesetzespredigt steht die Einhaltung des Gesetzes unter dem Segen Gottes, die Nichteinhaltung unter dessen Fluch. Die Tora, das "Gesetz des Mose", umfaßt jedoch bedeutend mehr als die Sinaigesetzgebung. War in dieser Zeit für die Qumrangemeinde wie auch für andere frühjüdische Strömungen und Gruppen die Sinaioffenbarung zum entscheidenden Grunddatum der Geschichte Israels und Mose zur zentralen Offenbarergestalt avanciert, so ergab sich daraus das schwierige Problem, einen Weg zu finden, "außerbiblische Traditionen" und ,,Lehren", die zur Lebensbewältigung unbedingt erforderlich schienen, mit der schriftlich fixierten Tora zu verbinden. Die Qumrangemeinde leistet diese "Verbindung" dadurch, daß sie in bezug auf die Gebote der Tora die Unterscheidung von ,,i'TC,))" ("offenbart") und "inCY' ("verborgen") einführt. Die wörtliche Bedeutung der Toragebote, die Tora an sich, die allen Juden bekannt und verständlich ist, wird von den "verborgenen Dingen" der Tora unterschieden. Die "verborgenen Dinge" sind nicht jedermann zugänglich, sondern werden nur von Zeit zu Zeit bestimmten Offenbarungsmittlern aus der Qumrangemeinschaft mitgeteilt (lQS 5,8-12; 9,13ff) 15 . Die Erkenntnis der "verborgenen Dinge" der Tora ist ausdrücklich an das ,,Forschen in der Tora" zurückgebunden. Im Zentrum der Gesetzesinterpretation der Qumrangemeinde steht die göttlich inspirierte Schriftauslegung bestimmter Mitglieder der Gemeinde16. Die Qumrangemeinde unterscheidet also nicht wie das rabbinische Judentum zwischen einer "schriftlichen" und "mündlichen" Tora, die beide völlig unabhängig voneinander Mose am Sinai von Gott offenbart wurden, sondern die "Sonderlehren" der Qumrangemeinde werden als Ergebnis der exegetischen Arbeit inspirierter Gemeindeglieder am Text verstanden. Die Qumrangemeinschaft verfügt über bestimmte exegetische Regeln, die sich hinter den Bezeichnungen 13 Siehe H. Stegemann. Die Bedeutung der Qumranfunde, in: ApocaJypticism, 521. 14
Siehe H. Lichtenberger, Studien, 201. Siehe L.H.Schiffman, The Hala.kah, 24. 16 In erster Linie sei in diesem Zusammenhang auf die Rolle des •.Erforschers der Tora" (ni'U'\, lt'i,,) verwiesen (siehe 4Q174 1.11; CD 6,7; CD 7,18); siehe auch die Rolle des ..Lehrers der Gerechtigkeit" in 1QpHab 7,3--5. lS
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Ausblick: Anmerkungen zum Gesetzesverständnis der Qumrangemeiode
"t7i,C", "it7!:)" und "t7,i!:)" verbergen. Einzig und allein die Gesetzesinter-
pretation der Qumrangemeinde ermöglicht nach dem Selbstverständnis der Gemeinde einen vollkommenen Wandel gemäß den Geboten der Tora. Da die .,Sonderlehren"l7 der Qumrangemeinde aus der Tora abgeleitet sind, ist jede Mißachtung dieser Lehren als Verstoß gegen die Tora selbst zu werten. Vollkommener Taragehorsam ist deshalb nur innerhalb der Qumrangemeinde möglich. Ein Leben gemäß der Tora in ihrer Auslegung durch inspirierte Offenbarengsmittler ermöglicht dem Mitglied der Qumrangemein~ einen .,vollkommenen Wandel" und damit die Reinheit und SUndlosigkeit der Gemeinde. Dies wiederum ist Voraussetzung fUr ihre Funktion als Sühneinstitution, d.h. fUr das Selbstverständnis der Gemeinde als TempeJIB. Falls ein Gemeindemitglied insgeheim und vorsätzlich die Bundesverpflichtung verletzt, den Satzungen der Tora zuwiderhandelt, ist der Anspruch, reine Heilsgemeinde zu sein, in Gefahr. Deshalb gibt es in Qumran eine Strafgesetzgebung, die den Übertreter solange ausschließt, bis er sich von neuem den Ordnungen der Qumrangemeinde unterwirft. Die Wiederaufnahme hat dann die Form eines Neueintritts. Jeder, der sich außerhalb der Qumrangemeinde befindet, ist als ,,Frevler" zu bezeichnen und hat von den Gemeindegliedern nur ,,Haß" zu erwarten. Diese dem Gesetzesverständnis entsprungene radikale Trennung der Qumrangemeinde vom übrigen Judentum, die an vielen Stellen innerhalb der Qumranliteratur zum Ausdruck kommt, wird in CD 2,14-3,20, im Rahmen einer Mahnrede geschichtlich entfaltet. Die Mahnrede, die in CD 1,1 beginnt, geht davon aus, daß die SUnde darin besteht, daß die Menschen in ,,Herzenshärtigkeit wandeln" und einen unstillbaren Wunsch nach dem .,Tun des eigenen Willens" hegen. Das Tun des eigenen Willens steht in diametralem Gegensatz zum .,Tun des Gesetzes". Diese Auffassung wird dann in einem GeschichtsUberblick, der von dem Engelfall bis zur Entstehung der Qumrangemeinde reicht, entfaltet. Bereits die Urgeschichte, die sich vom Engelfall bis zu den Nachkommen Noahs erstreckt (CD 2,1(r3,1), ist gänzlich vom Ungehorsam gegenüber den Geboten Gottes gekennzeichnet. Doch auch die Geschichte Israels (3,1-20) ist eine Geschichte des Abfalls vom Gesetz. Lediglich die Erzväter Abraham, Isaak und Jakob bilden eine Ausnahme und zeichnen sich durch ihren Gebotsgehorsam aus (3,2f). Wird die Geschichte Israels vom Exodus bis zum Exil völlig negativ charakterisiert (3,5-12a), so kommt es mit dem Entstehen der Qumrangemeinde zu einem Umschwung (3,12b-20). Die Qumrangemeinde identifiziert sich mit dem heiligen Rest aus Israel. Der vom Volk Israel aufgrund des Ungehorsams ge17 Zu den Sonderlehren gehören z.B. Unterschiede in der Sabbatgesetzgebung, in der Ehe-
gesetzgebung, in der Kalenderfrömmigkeit; siehe z.B. M. Limbeck, Die Ordnung des Heils. 134ff; ferner K.-H. Müller, Gesetz und GesetzeserfUilung. in: Das Gesetz im Neuen Testament, 13ft'. 18 Zur Vorstellung der "Gemeinde als Tempel" siehe G. Klinzing, Die Umdeutung des Kultus, 50-93.
Zentrale Sachzusammenhänge des Gesetzesverständnisses
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genüber der Tora gebrochene Bund, wird von Gott mit der Qumrangemeinde auf exklusive Art und Weise neu aufgerichtet. Einzig die Qumrangemeinde hält arn Gesetz fest und erfüllt somit die Voraussetzung für den Bundesschluß. Die Verpflichtung zum Gesetzesgehorsam geht dem Bundesschluß eindeutig voraus. Zweck des Bundes ist die Offenbarung der "verborgenen Dinge", sprich der Sonderlehren der Qumrangemeinde. Diese Sonderlehren beziehen sich auf den Sabbat und die Kalenderfrömmigkeit (3,14). Mit dem Gehorsam gegenüber diesen "Sonderlehren" steht und fällt der Gehorsam gegenüber der Tora in ihrer Totalität. Nochmals ist zu betonen, daß außerhalb der Qumrangemeinde kein Gesetzesgehorsam möglich ist. Nach diesem kurzen Überblick über grundlegende Aspekte des Gesetzesverständnisses der Qumrangemeinde, sollen nun noch kurz einige zentrale Sachzusammenhänge, noch etwas breiter entfaltet werden. 3.1.4 Zentrale Sachzusammenhänge des Gesetzesverständnisses der Qumrangemeinde
3.1.4.1 Gesetz und Bundl9 Wie wir bereits gesehen haben, sieht sich die Qumrangemeinde zwar in Kontinuität mit Israel und Gottes Handeln an seinem Volk, doch weiß sie auch um eine tiefe Diskontinuität zur Gesamtgeschichte Israels, einer Geschichte, die nach dem Verständnis der Qumrangemeinde vor allem durch den Abfall Israels von Gott und dessen Geboten bestimmt ist. Die Qumrangemeinde sieht in ihrer Existenz den gebrochenen Bundaufgrund ihres Gesetzesgehorsams neu aufgerichtet2o. Die Qumrangemeinde versteht sich nicht als eine Sondergruppe innerhalb Israels, sondern sie verkörpert ihrem Selbstverständnis nach Israel21. Der Bundesgedanke ist in Qumran in einem hohen Maße am Gesetzesgehorsam, an der unbedingten Verpflichtung zum Tun der Tora orientiert. Der Erwählungsgedanke hat sich auf die Qumrangemeinde als die ausgegrenzte Heilsgemeinde hin verengt. Zwar kann sich die Gemeinde auch als "Gnadenbund" bezeichnen (1QS 1,8), jedoch bleibt diese Benennung vereinzelt. Primär wird der ,.Bund" in Qumran als •.Bundesverpflichtung" verstanden, die im Einhalten des Gesetzes besteht. Der •.Bund" als ,,Zusage Gottes" wird von einem ..Bundesverständnis", in dessen Zentrum die Verpflichtung des in die Gemeinde Eintretenden zu absolutem Taragehorsam steht, mehr und mehr verdrängt.
19
Zur Bundestheologie im Frühjudentum sei vor allem auf M. Vogel, Das Heil des Bundes, 1996, verwiesen. 20 Siehe H. Lichtenberger, Studien, 204. 2 1 Siehe H. Stegemann, Essener, 229ff.
330
Ausblick: Anmerkungen zum Gesetzesverständnis der Qumrangemeinde
Der Bundesgedanke erfährt vom Gesetzesgedanken her eine nicht unerhebliche Ei nschränkung22.
3.1.4.2 Gesetz und Sünde Die Einschränkung des Bundesgedankens durch den Gesetzesgedanken konnte auch fUr das SUndenverständnis der Qumrangemeinde nicht ohne Auswirkungen bleiben. Wird der Bund primär als Zusage Gottes verstanden, so behält die Bundeszusage auch angesichts der Sünde ihre Wirkung. Der Bundeszueage kommt in dieser Konzeption geradezu die Aufgabe zu, jedes Bundesmitglied vor den Wirkungen der SUnde zu schützen. Die einseitige Betonung des verpflichtenden Charakters des Bundes, wie sie uns in den Schriften der Qumrangemeinde entgegentritt, hat zur Folge, daß die Sünde gerade im Übertreten der Bundesverpflichtung besteht. Die SUnde hat nach dieser Konzeption notwendigerweise den Ausschluß vom Heil zur Folge23. Doch nicht nur die Gesetzesübertreter außerhalb der Gemeinde machen sich der Sünde schuldig und werden zu Frevlern erklärt, sondern auch innerhalb der Gemeinde kommt es zu Übertretungen der Tora, die im Bewußtsein der Gemeinde als SUnden ausgewiesen werden. Analog zum Gesetzesverständnis der Qumrangemeinde beruht allem Anschein nach auch deren Sündenverständnis auf der Voraussetzung, daß der Mensch in Freiheit über sein Verhalten entscheiden kann24 • Die Sünde ist kein Verhängnis, dem niemand entrinnen kann, sondern sie entspringt der freien Entscheidung des einzelnen, gemäß seinem eigenen Willen zu handeln oder die Gebote der Tora zu tun25. Der Tatcharakter der Sünde ist klar zu erkennen. Die Aufhebung der SUnde innerhalb der Gemeinde geschieht durch SUhne. Die SUhne wird hierbei eng mit dem Wandel verbunden (siehe z.B. lQS 3,6-9; 8,2ff). Die kultischen Kategorien erfahren eine Umdeutung. Dadurch, daß sich die Gemeinde selbst als Tempel versteht, ist sie der Ort, an dem SUhne geschieht26. Gleichfalls werden sämtliche Vorschriften, die fUr den Priesterdienst im Tempel gelten, auf die Gemeinde bezogen27 • Die starke Betonung gerade der Verbindung von SUhne und Wandel bringt es mit sich, daß dem Gebotsgehorsam eine zentrale Rolle zukommt. Das Tun der Tora wird zur Voraussetzung für die Wirksamkeit der SUhne28.
22 Vgl. die ähnlichen Tendenzen, die wir mit Blick auf die apokalyptische Literatur (siehe z.B. die syrische Baruchapokalypse und das 4. Esrabuch) und das Jubliäenbuch festgestellt haben. 23 Siehe H. Lichtenberger, Studien, 207. 24 Siehe H. Lichtenberger, Das Tora-Verständnis, in: Paul and the Mosaic Law, 12. 25 Siehe H. Lichtenberger, Studien, 209. 26 Siehe G. Klinzing. Die Umdeutung des Kultus, 89. 27 Siehe G. Klinzing, Die Umdeutung des Kultus, 106-130. 28 Siehe H. Lichtenberger, Studien, 212.
Zentrale Sachzusammenhänge des Gesetzesverständnisses
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Neben dieser an der freien Verantwortlichkeit des einzelnen fl.ir sein Tun orientierten Konzeption finden sich in Qumran jedoch auch Aussagen, die den Verhängnisgedanken der Sünde stärker betont. Dieser Sachverhalt kommt besonders deutlich in dem Verhältnis von Gesetz und Gnade zum Ausdruck.
3.1.4.3 Gesetz und Gnade Von besonderem Interesse- gerade mit Blick auf die paulinische Theologieist schließlich das Verhältnis von "Gesetz" und "Gnade" innerhalb der Qumrantexte. H. Braun kann davon reden, daß sich Paulus und die Qumrangemeinde "in der Tiefe der Sündenerkenntnis" nahestehen 29 . Das "Ungenügen der GesetzeserfUIIung" wird hier wie dort gesehenJo. In der Tat war sich der Qumranfromme seiner absoluten SUndhaftigkeit, seines radikalen Angewiesenseins auf die "Gnade Gottes" tief bewußt. In diesem Zusammenhang sind die ,,Niedrigkeitsdoxologien"31 (z.B. 1QH 4,29-33; 1QH 11,7-10) und ,.Elendsbetrachtungen" (z.B. 1QH 3,23-25; 11,19-22) von besonderem Interesse32. Der Mensch wird nicht allein durch Vergänglichkeit, sondern durch elementare Unreinheit und Sündhaftigkeit bestimmt. Im Gegensatz zur totalen Schuldverfallenheil des Menschen hat allein Gott "Werke der Gerechtigkeit und wahren Rat" (lQH 1,260. Einzig durch Gottes Vergebung erhält er die neue Existenz mit der Befahigung zu vollkommenem Wandel und zum Lobpreis, als dem eigentlichen und letzten Ziel des göttlichen Handeins am Menschen ( 1QS 11, 15). Für den Menschen selbst besteht offensichtlich keine Möglichkeit, den radikalen Gegensatz seiner Existenz zu Gott hin zu überbrücken. Befahigung zum Lobpreis und zum rechten Wandel sind Gottes unverdientes Gnadengeschenk an den sündigen Menschen. In Qumran findet sich das "sola gratia" noch deutlicher ausgesprochen, als dies bei Paulus der Fall ist (lQH 13, 16). Wenn es nun jedoch darum geht, diesen radikalen ,.Rechtfertigungsgedanken" mit dem ..qumranischen Gesetzesverständnis" zu verbinden, kommt Herbert Braun zu dem Schluß, "die Rechtfertigung hebe in Qumran die Tora als Heilsweg nicht auf, sondern befreie zu der Tora als dem Heilsweg, während bei Paulus die Rechtfertigung von der Tora als dem Heilsweg befreie, da die Tora nicht das Heil schaffe, sondern in die Sünde des Selbstruhms fUhre"33. Wird hier die "Gnade Gottes" nicht eindeutig zum ,.Ennöglichungsgrund" selbständiger, auf Selbstruhm zielender "Werkgerechtigkeit" degradiert? Sind somit nicht die Qumrantexte als "negative Folie" der befreienden Botschaft der paulinischen 29
Siehe H. Braun, Qumran und das NT, Bd. 2, 166.
30 Ebd.
31 Den •.Niedrigkeitsdoxologien" geht es im Gegensatz zur alttestamentlichen Gerichtsdoxologie um die allgemeine kreatürliche SUndhaftigkeit und nicht um konkrete SUnden; siehe H. Lichtenberger, Studien, 74. 32 Zur Gattungsbestimmung der ,,Niedrigkeitsdoxologien" und ..E1endsbetrachtungen" siehe H.-W. Kuhn. Enderwartung, 27ff; siehe auch J. Becker, Das Heil Gones, 137ff. 33 Siehe H. Braun, Qumran und das NT, Bd. 2. 170.
332
Ausblick: Anmerkungen zum Gesetzesverständnis der Qumrangemeinde
Rechtfertigungslehre gerettet? Nimmt man die Texte ernst, so gibt es zwar Aussagen, die einer radikalen SUndenverfallenheil auch des Qumranfrommen das Wort reden, an keiner Stelle wird dieser Gedanke jedoch explizit mit der Frage nach der Möglichkeit vollkommenen Taragehorsams in Verbindung gebracht (lediglich von ,.vollkommenem Wandel" ist die Rede). Von dem Glauben an ein ,.Ungenügen der GesetzeserfUllung" ist in den Qumrantexten nichts zu spUren. Der Qumranfromme weiß sich einerseits der Macht eines SUndenverhängnisses unterworfen, cir.e Macht, die einzig ur.d allein die ,.Gr.ade Gottes" brechen kann. Andererseits wird dieser SUndenverhängnisgedanke gerade nicht so weit ausgeweitet, daß er die Entscheidungsfreiheit des einzelnen und somit die Möglichkeit vollkommenen Taragehorsams tangiert. Was uns heutigen Lesern als ,.paradox" erscheint, muß vor zweitausend Jahren nicht ebenso empfunden worden sein. In Qumran steht eine mit der SUndenverfallenheil verbundene ,.Gnadenkonzeption" und eine mit der Entscheidungsfreiheit des einzelnen verbundene ,.Gesetzeskonzeption" recht unverbunden nebeneinander.
3.1.4.4 Gesetz und Weisheit Bereits ein flUchtiger Blick auf die Qumrantexte zeigt uns, daß diese an vielen Stellen weisheitliehe Terminologie aufgenommen haben34 • Zu einer Identifikation von Weisheit und Gesetz kommt es jedoch nicht. Die Weisheit wird eher auf die qumranische Gesetzesauslegung als auf das Gesetz selbst bezogenJs.
3.1.4.5 Der Gedanke einer Universalisierung der Tora in Qumra11 Wenden wir uns in diesem Zusammenhang zunächst der Gesetzesterminologie einiger Haupttexte der Qumrangemeinde zu, so findet sich neben den Wörtern ni,n, n,:!m und !lrD~ vor allem der Terminus P"" zur Umschreibung von ,.Gesetz"36. Dem Terminus p,n eignet ein recht weites Bedeutungsspektrum, das sich nicht auf die Mosetora einschränken läßt. So kann p,n gerade auch in allgemeinem Sinne, ohne Beziehung zur Mosetora gebraucht werden37 • Ist pV1 neben nim der in Qumran am häufigsten verwendete Gesetzesterminus, so wundert es nicht, daß sich auch in der Qumrangemeinde Ansätze eines ,.universalisierten Toraverständnisses" feststellen lassen. BezUglieh der Frage nach einer Universalisierung der Tora ist in erster Linie lQS 10,1-8 von Interesse. Dort ist von einem ,.eingegrabenen Gebot" die Re34 Siehe z.B. H.-W. Kuhn, Enderwartung, 139ff.
Siehe H. v.Lips, Weisheitliehe Traditionen, 67. Die Termini pT1, i1.,'1n, m:so verteilen sich auf die Schriften lQS, IQSa, IQH, CD, IQM IQpHab folgendermaßen: lQS 1QH CD IQM IQpHab IQSa pY1 19 9 13 3 3 3 13 3 30 1 i1,:l.tD 1 3 14 1 37 Siehe z.B. 1QM 13,12 (..Gesetze der Finsternis") oder 1QS 9,14 (.,Gebot der Zeit"). 3S
36
n.,,n
s
Das Problem einer ..sadduzäischen" Tora in Qumran
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de, das in einem engen Zusammenhang mit dem ,)ahreszyklus" steht. Gott wird als derjenige gelobt, der der Schöpfung ihre festgesetzten Zeiten, die heiligen Tage gegeben hat. Der Qumranfromme versucht in seinem täglichen Leben diesen ,,Zeiten", dieser "Ordnung der Zeiten" zu entsprechen. Die ,,zyklische Wiederkehr von Gott festgesetzter Zeiten" wird als Zeichen für "Gottes Gnade" verstanden. Diesem ,,Zeichen der Zeit" gilt es zu entsprechen. Wir können mit M. Limbeck sagen: "Weil diese Zeiten und Tage von Gott in besonderer Weise zu Zeichen der Gnade gemacht und bestimmt worden waren, wurden sie in der Gemeinschaft, die diesen Gnadenzeichen entsprechen wollten, so genau beachtet"38 . Der Gemeinde geht es dabei primär jedoch nicht um die Sicherung des eigenen geglaubten Heilsstandes, sondern die Gemeinschaft war wohl davon überzeugt, daß nicht der Mensch, sondern die ,,Ehre Gottes" das letzte Ziel des ganzen göttlichen Wirkens darstellt. Deshalb wohl auch die große Bedeutung des Lobpreises Gottes in Qumran. Erscheint das Gesetz an dieser Stelle ausdrücklich als "Schöpfungsordnung", so weist es darüber hinaus eine enge Beziehung zur frühjüdischen Kalenderproblematik auf39. Die Wurzeln dieses universalisierten, auf die "Schöpfungsordnung" und damit die Frage nach dem richtigen Kalender bezogenen Gesetzesverständnisses, reichen sicherlich in die Zeit vor Entstehung der Qumrangemeinde zurück. Die Verbindungslinien zum äthiopischen Henochbuch und zum Jubiläenbuch liegen auf der Hand. 3.1.5 Das Problem einer "sadduzäischen" Tora in Qumran Nachdem die These einer engen Verbindung (bzw. Identität) zwischen der Qumrangemeinde und der jüdischen Gruppe der Essener lange Zeit ziemlich unangefochten das Feld behauptete, werden in neuererZeitvermehrt Versuche unternommen, eine enge Verwandtschaft zwischen .,qumranischem" und "sadduzäischem" Gedankengut zu erweisen. Die Vertreter dieser These stUtzen sich vor allem auf die "Tempelrolle" und den Text 4QMMT. Aus einem Vergleich der Auslegung bestimmter Toragebote in 4QMMT und dem Mischnatraktat "Yadayim" ergeben sich Übereinstimmungen zu der in "Yadayim" den Sadduzäern zugeschriebenen Meinung. Steht der Verfasser von 4QMMT jedoch in einer sadduzäischen Auslegungstradition, so liegt es nahe, auch fUr die "Tempelrolle" einen sadduzäischen Ursprung anzunehmen. Sind doch die Übereinstimmungen zwischen der Tempelrolle und 4QMMT trotz aller Unterschiede in einzelnen Punkten 40 recht auffallend. Da vieles dafür spricht, daß die .,Tempelrolle" im engeren Umkreis der Qumrangemeinde entstanden ist, erscheint die These eines .,sadduzäischen" Ursprungs der Gemeinde als logische Folge. Die Qumrangemeinde wäre dann als Gründung .,sadduzäischer'' Kreise 38M. Limbeck, Die Ordnung des Heils, 166. 39 Siehe H. Lichtenberger, Das Toraverstlndnis, in: Paul and the Mosaic Law, 16 40 Siehe Schiffman, The Temple Scroll, in: Temple Scroll Studies, 245ff.
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Ausblick: Anmerkungen zum Gesetzesverständnis der Qumrangemeinde
anzusehen, die Jerusalem verließen, nachdem die Hasmonäer den rechtmäßigen Hohenpriester ,,zadokidischer" Herkunft entmachtet hatten. Unterziehen wir jedoch die Voraussetzungen dieser These einer kritischen Beurteilung, so steht diese, so einleuchtend sie auf den ersten Blick auch klingen mag, doch auf recht tönernen Füßen. Deren entscheidende Schwachstelle liegt darin begründet, daß es sich nicht zweifelsfrei nachweisen läßt, daß die Auslegungstraditionen, die die rabbinischen Schriften den Sadduzäern zuschreiben, auch wirklich in dieser FoiT!l auf die S3dduzii.er ZIJiilckgel'len. Jedoch auch gegen andere Voraussetzungen der "Sadduzäerhypothese" erheben sich schwere Bedenken. So geht z.B. M.R. Lehmann davon aus, daß die Sadduzäer entgegen der weitverbreiteten Annahme, sie seien "strikte Literalisten" gewesen, die ein "wortwörtliches Toraverständnis" vertraten, auch über ,,mündliche" Auslegungstraditionen verfügten. Im Gegensatz zu den Pharisäern fügten die Sadduzäer ihre Auslegungen jedoch in die geschriebene Tora ein (Interpolationen), um sie als "geschriebenes" Gesetz erscheinen zu lassen 41 • Letztlich kann selbst die Annahme, daß die "Tempelrolle" und der Text 4QMMT zu den "spezifischen Qurnrantexten" gehören, nicht als gesichert gelten42. Von daher bietet es sich an, auch in Zukunft an einem essenischen Ursprung der Qumrangemeinde festzuhalten.
41
Siehe M.R. Lehmann, The Beautiful War Bride, in: Temple Scroll Studies, 265-271.
42 Siehe H.Burgmann, IIQT: The Sadducean Torah, in: Temple Scroll Studies, 257ff.
3.2 Ausblick: Paulus und das Gesetzesverständnis der frühjüdischen Apokalyptik 3.2.1 Einleitende Bemerkungen In dem letzten Kapitel dieser Untersuchung wollen wir uns noch kurz der Frage zuwenden, inwieweit das von uns herausgearbeitete Gesetzesverständnis der frühjüdischen Apokalyptik in der Lage ist, einige erhellende Strahlen auf die paulinischen Gesetzesaussagen zu werfen. Jeder Versuch, die paulinische Gesetzeskonzeption als Ganze einzig von der frühjüdischen Apokalyptik her zu begreifen, ist meines Erachtens von vomherein zum Scheitern verurteilt. Eine solch komplexe Größe, wie sie das paulinische Gesetzesverständnis unzweifelhaft darstellt I, fußt aller Wahrscheinlichkeit nach auf einer Vielzahl traditionsgeschichtlicher Wurzeln 2, so daß sich seine Herkunft wohl nicht auf einen einzigen Traditionsstrom begrenzen läßt. Mit den Gesetzesaussagen des Griechisch sprechenden Judentums der Diaspora sei lediglich auf einen weiteren Traditionskomplex verwiesen, der mit ziemlicher Sicherheit für die Entstehung einiger zentraler paulinischer Gesetzesaussagen von Bedeutung ist. Exkurs 4) Die Gesetzesaussagen des Paulus und das Griechisch sprechende Judentum der Diaspora Die Texte des Griechisch sprechenden Judentums der DiasporaJ weisen bereits im Sprachgebrauch Berührungspunkte zu den paulinischen Gesetzesaussagen auf. Sowohl Paulus als auch die Texte des Griechisch sprechenden Judentums der Diaspora verwenden v6J.1<><; nicht ausschließlich in der Bedeutung des jüdischen Religionsgesetzes. Über diese traditionelle Bedeutung hinaus läßt sich hier wie dort auch ein allgemeiner Sprachgebrauch von v6J.1<><; im Sinne von Prinzip, Regel oder Norm feststellen. Dieser allgemeine Sprachgebrauch von v6J.1<><; findet sich im Griechisch sprechenden Judentum ansatzweise bereits in einigen Schriften, die wir gemeinhin als Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments bezeichnen 4 • In den Schriften des Josephus5 und Philos von 1
Siehe z.B .. J. Lambrecht, Gesetzesverständnis bei Paulus, 88: ... Paulus und das Gesetz' ist
und bleibt bis in unsere Tage ein vieldiskutiertes Thema. Dabei stoßen wir natürlich auf die nicht zu unterschätzende Schwierigkeit, näher zu bestimmen. was Paulus an den verschiedenen Stellen in seinen Briefen präzis mit seinen verschiedenartigen Aussagen über das Gesetz meinte. Diese Arbeit ist noch lange nicht beendet." 2 Siehe z.B. K.-W. Niebuhr, Gesetz und Paränese, Tübingen 1987; E. Reinmuth, Geist und Gesetz, Berlin 1985; E.P. Sanders, Paulus und das palästinische Judentum, Göttingen 1985; 3 Zu diesem Textkomplex rechne ich die frühjüdischen Schriften. die ursprünglich in griechischer Sprache verfaßt wurden. 4 Siehe z.B. Weish 2,11; 10 Makk 7,5; TestSim 9,1. 5 Siehe Ant 2,22; 4,322; 6,69; 10,11; 11,191; 12,273; 16,277.
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Ausblick: Paulus und das Gesetzesverständnis
Alexandrien6 tritt dieser allgemeine Sprachgebrauch dann geradezu gehäuft auf. Meines Erachtens spricht vieles dafür, daß auch Paulus an einigen Stellen seiner Briefe auf diesen allgemeinen Gebrauch von v6J1~ im Sinne von Ordnung, Norm oder Prinzip zurückgreift. Wendungen wie v6JJ.~ 1ti<J'tE~ (Röm 3,27) und 6 v6J1~ 'toß Xpl<J'toß (Gal 6,2) oder Stellen, an denen mit dem Terminus v6JJ.~ geradezu "gespielt" wird, wie in Röm 7,2f und 7,22-8,1 7, werden in der Literatur zwar oft mit dem jüdischen Religionsgesetz in Verbindung gebracht&. doch können sie wohl bedeutend leichter erklärt werden, wenn wir an diesen Stellen von einem allgemeinen Sprachgebrauch ausgehen9. Neben diesen Berührungspunkten im Sprachgebrauch lassen sich jedoch auch verwandtschaftliche Verhältnisse zu inhaltlichen Tarakonzeptionen des Griechisch sprechenden Judentums feststellen. Im Griechisch sprechenden Judentum mUndete die apologetische und missionarische Absicht, der hellenistischen Umwelt den jüdischen Glauben verständlich zu machen, in einen großangelegten Versuch, das jüdische Gesetzesverständnis auf die rationalistische und moralistische hellenistische Geisteswelt hin auszurichten. Dieser Versuch führte einerseits zu einer "Universalisierung" der Tora hin zum ewigen, unveränderbaren Weltgesetz 10, andererseits zu einer ,,Reduzierung" bzw. "Konzentration" der Tora auf einige wenige ethische Grundnormen". Während wir auch aus den Texten der frühjüdischen Apokalyptik die Vorstellung einer "Universalisierung" der Tora kennen, die ihren Grund in einer engen Verbindung von Gesetz und Weisheit hat, gehen die Universalisierungstendenzen im Griechisch sprechenden Judentum allem Anschein nach auf die Aufnahme stoischer Ge6 Siehe Abr 68; 135; Plant 132; Jos 63. 7 Siehe
R. Buhmann, Theologie des Neuen Testaments, 260.
8 Den Versuch, diese Wendungen auf die Tora zu beziehen, unternehmen z.B. G. Friedrich,
ThZ 1954, 401-417; E. Lohse, ·o WJ.l~ wß Kw\lJ.La't~ 'ti1c; ~cofic;, in: Neues Testament und christliche Existenz, 279-287; F. Hahn, 'ZNW 1976, 49; U. Wilckens. NTS 1982, 175. 9 So bereits R. Buhmann, Theologie des Neuen Testaments, 260; ferner H. Räislnen, Paul and the Law, 50-52; siehe auch S. Westerholm,lsrael's Law, 122ff. 10 Siehe z.B. Sib 757f. 11 Eine entscheidende Konsequenz der Identifikation von jüdischer Tora und wahrer Vernunft besteht in dem Versuch, den Inhalt der Tora auf eine allgemein einsichtige, rational nachvollziehbare Moral- und Tugendlehre hin zu verengen. Obwohl Philo betont, daß die Speiseund Reinheitsgesetzte gehalten werden mUssen, kann er .,unversUlndliche" Gesetzespanien (z.B. Speise- und Reinheitsgesetze) auch weglassen oder allegorisch umdeuten (vgl hierzu auch den Aristeasbrief). Die Gebote der Tora mUssen der Vernunft entsprechen, ihnen wird eine nUtzliehe oder erzieherische Wirkung zugeschrieben. Hinzu kommt noch eine ,,Anreicherung" der alttestamentlichen Tora durch die positive Einbeziehung griechischer Tugend- und Lasterbegriffe. Diese Tendenz einer •.Reduzierung" der Tara lll.ßt sich meines Erachtens sehr schön im Aristeasbrief (z.B. Arist 131; 168), in den Testamenten der 12 Patriarchen (TestDan 5; Testlos 11,1; TestRub 3,8; Testiss 4,6) bei Josephus (Ant 3,274; Ap 2,154; Ant 18,117; Ap 2,146) und Philo (SpecLeg I, 260; SpecLeg II, 61-63; Decal 154-174) aufzeigen. (Zusätzlich könnte man noch auf das 3. Buch der Sibyllinen [Sib 10, 234), den Exegeten Aristobul [Euseb 13, 12,8) und die Weisheit Salomos [Weish 2,10-12) verweisen); vgl. K. Berger, Die Gesetzesauslegung Jesu, Bd. I. Neukirchen 1972; ferner A. Nissen, Gott und der Nächste im antiken Judentum, TUbingen 1974.
m.
Einleitende Bemerkungen
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danken zurück. Im Zentrum dieser Gedanken steht eine Verhältnisbestimmung der Größen v6J.1~ und cp\xn~. Es kann nun meiner Meinung nach kaum ein Zweifel bestehen, daß sich einige Gesetzespartien der Paulusbriefe nur auf dem Hintergrund dieser "Universalisierungs-" und ,.Konzentrierungstendenzen" erklären lassen, wie sie uns in den Texten des Griechisch sprechenden Judentums entgegentreten. Dies gilt sicherlich für Texte wie Röm 2,14-16, Röm 13,8-10 und Gal 5,14. Gerade Röm 2,14-16 kann mit hoher Wahrscheinlichkeit nur von der Vorstellung einer Universalisierung der Tora, wie sie sich bei Philo von Alexandrien findet, angemessen verstanden werden 12 . Betrachten wir die Zusammenfassung der Taragebote in Röm 13,8-10, so liegt die Parallelität zu Vorstellungen, wie wir sie z. B. in Arist 168 und TestDan 6,10 finden, offen auf der Hand. Gleichfalls läßt sich eine traditionsgeschichtliche Verwandtschaft zwischen Gal 5,14 und Testlos 11,1 bzw. Testiss 5,2 nur schwerlich leugnen. Diese Stellen, die sich von Fall zu Fall noch um einige weitere vermehren ließen, zeigen uns, daß Paulus Gesetzestraditionen des Griechisch sprechenden Judentums der Diaspora kennt, sie aufgreift und seiner eigenen Argumentation dienstbar macht. Es wäre jedoch auch hier völlig verfehlt, wollte man den Versuch unternehmen, über diese Berilhrungspunkte hinaus, das Gesamtkonzept des paulinischen Gesetzesverständnisses aus hellenistischem Milieu abzuleiten. Die traditionsgeschichtlichen Wurzeln des paulinischen Gesetzesverständnisses entziehen sich jeder monokausalen Bestimmung. Paulus scheint viel eher mit der ganzen Bannbreite frühjüdischer Gesetzeskonzeptionen vertraut zu sein, so daß er von Fall zu Fall, je nach aktuellem Bedarf, aus recht unterschiedlichen Quellen schöpfen kann. Nach diesem kurzen Exkurs zur Frage nach traditionsgeschichtlichen Verbindungslinien zwischen dem paulinischen Gesetzesverständnis und den Gesetzesaussagen des Griechisch sprechenden Judentums der Diaspora wollen wir zu unserem eigentlichen Thema zurückkehren und unsere ganze Aufmerksamkeit wieder der frühjüdischen Apokalyptik zuwenden. War Paulus in der Tat 12 Zum einen ist der Gedanke von Röm 2.14a, daß die Heiden, obwohl sie die Tora nicht besitzen, diese von Natur aus tun, von der im Griechisch sprechenden Judenturn verbreiteten Identifikation von Tora und Naturgesetz her klar verslindlieh (vgl. hierzu Philo, Op 3 und 143). Gerade die Vorstellung von Röm 2,14b, daß Menschen ,,sich selbst Gesetz sind", weist auf das Griechisch sprechende Judentum (siehe Philo, VitMos I, 162; VitMos II, 4). Eine ganz enge Parallelität besteht meines Erachtens zwischen Röm 2,14f und Philo, Abr 27Sf. Diese zeigt, da8 Paulus nicht nur eklektisch Einzelheiten des Vokabulars, sondern ein zusammenhängendes GedankengefUge aus Griechisch-hellenistischer Tradition aufnimmt. Paulus bewegt sich in Röm 2,14-16 ganz in den Bahnen der griechischen Naturrechtslehre .,philonischer Prägung"; siehe hierzu vor allem G.Bomkamm, Gesetz und Natur, in: Studien zu Antike und Christentum, Ges. Aufs. II, 93-118. Im Unterschied zu Philo dient jedoch Paulus die Verbindung von ~oc; und 'P~ nicht der apologetischen Interpretation der jüdischen Gesetzesvorschriften, sondern einzig und allein der Polemik gegen die heilsgeschichtliche Vorrangstellung der Juden. Paulus kann zwar entscheidende Gedanken der hellenistischen Tradition aufnehmen, doch prägt er diese in seinem Sinne um.
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Ausblick: Paulus und das Gesetzesverständnis
mit der ganzen Bandbreite frühjüdischer Gesetzeskonzeptionen vertraut, so gilt es nun diejenigen paulinischen Gesetzesaussagen ausfindig zu machen, deren Wurzeln mit großer Wahrscheinlichkeit in apokalyptischem Milieu angesiedelt sind. Auf der Suche nach diesen Aussagen soll uns zunächst ein kurzer Blick auf die bisherigen Versuche in dieser Frage behilflich sein. 3.2.2 Das Verhältnis von paulinischen und apokalyptischen Gesetzesaussagen aus forschungsgeschichtlicher Sicht
3.2.2.1 Die unterschiedlichen Forschungspositionen Schon früh beobachtete man in der neutestamentlichen Forschung Differenzen zwischen pharisäischen, sprich rabbinischen Gesetzesaussagen und solchen, die dem apokalyptischen Judentum zuzuschreiben sind. Trotz dieser Beobachtungen wehrte sich die Forschung lange Zeit dagegen, das apokalyptische Judentum als eigenständige Größe innerhalb des Frühjudentums zu begreifenB. Als illustres Beispiel fUr diese Haltung können wir z. B. auf einen so berühmten Kenner des Frühjudentums wie den englischen Forscher R.H. Charles verweisen. Im Jahre 1914 vertritt dieser zum einen die Meinung, "daß es im vorchristlichen Judentum zwei Arten des Pharisäismus gegeben hat, die apokalyptische und die gesetzliche Richtung"1 4 . Während Charles die apokalyptische Richtung als die erste Vorläuferio des Christentums versteht, mUndet für ihn die gesetzliche Strömung unmittelbar ins talmudische Judentum ein. Andererseits wendet sich Charles jedoch im gleichen Atemzug gegen jede allzustarke Trennung dieser beiden Richtungen. Gerade in der jüdischen Tora sieht er das entscheidende einheitsstiftende Moment, das diese beiden differierenden Strömungen letztendlich doch zusammenhält1S. Waren in vorchristlicher Zeit Apokalyptik und Gesetzlichkeit noch aufs engste miteinander verflochten, so gab die Apokalyptik ihre positive Sicht des Gesetzes erst in dem Moment auf, als sie ins Christentum einmündete. Neben R.H. Charles sei in diesem Zusammenhang auch auf H. Gunkel verwiesen, der im Rahmen seiner Beschäftigung mit dem 4. Esrabuch bereits im Jahre 1900 dazu kam, von ,,Entwicklungsstufen des Judentums" zu reden 16 . Er stellt in seiner Einleitung zum 4. Esrabuch das "ältere, apokalyptische Judentum" einem "späteren Judentum" gegenüber, wobei er dann gerade die "Stimmungen" des späteren Judentums, wie sie sich in erster Linie im 4. Esrabuch finden, in ganz enge Beziehung zum paulinischen 13 Siehe J.M.Schmidt.
Die jüdische Apokalyptik, 237.
14 R.H. Cbarles, Prophetie und Apokalyptik, in: Apokalyptik, 185. 1S Siehe R.H. Charles, Prophetie und Apokalyptik, in: Apokalyptik,
185: ..Wenn wir vom apokalyptischen und vom gesetzlichen Judentum sprechen, dann darf dies nicht dahingehend mißverstanden werden, als seien diese beiden in der vorchristlichen Zeit völlig entgegengesetzt gewesen. Dies wlre eine ganz falsche Deutung. Im Grunde hatten beide denselben Ursprung; beide hatten ihre an~gliche Grundlage im Gesetz". 16 H.Gunkel, Das 4. Buch Esra, in: APAT ß, 338.
Das Verhältnis von paulinischen und apokalyptischen Gesetzesaussagen
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Gesetzesverständnis stellt. Während Paulus sich jedoch aus der "qualvollen Heilsunsicherheit", die nach Gunkel sowohl die paulinische als auch die Situation des Verfassers des 4. Esrabuches kennzeichnet, dadurch befreite, daß er mit dem ,,Prinzip der Gesetzesgerechtigkeit brach", war nach Gunkel der Verfasser des 4. Esrabuches "für einen solchen prinzipiellen Bruch nicht groß genug"17. Die Rolle der Tora wird in diesem Zusammenhang von H. Gunkel im Vergleich zu R.H. Charles jedoch recht unterschiedlich bestimmt. Während R.H. Charles im Gesetzesverständnis das einheitsstiftende Moment zwischen den unterschiedlichen theologischen Strömungen des Frühjudentums sieht, ist für H. Gunkel gerade die Tora Ausdruck verschiedener theologischer Konzeptionen. Gehen wir in der Forschungsgeschichte noch etwas weiter zurück, so stoßen wir auf den großen Apokalyptikforscher A. Hilgenfeld, der schon im Jahre 1857 auf die Verwandtschaft zwischen dem Gesetzesverständnis des 4.Esrabuches und dem des Paulus aufmerksam machte. A. Hilgenfeld zeichnet die Stimmungslage, die dem 4.Esrabuch zugrunde liegt, in ganz ähnlichen Farben wie nach ihm H. Gunkel. Auch für Hilgenfeld steht das Bewußtsein der "Allgemeinheit der Sündhaftigkeit" im Mittelpunkt, das dazu führt, daß der Verfasser des 4.Esrabuches an der Möglichkeit, Gottes Geboten gerecht zu werden, verzweifelt 18 . A. Hilgenfeld wertet nun jedoch das 4.Esrabuch mit Blick auf Paulus in einem ganz anderen, weit positiveren Sinne als Gunkel. FUr Hilgenfeld ist der Verfasser des 4. Esrabuches eine Art "vorchristlicher Paulus", der "die Unzulänglichkeit der menschlichen Werke schon in gewisser Weise durch die Gnade von göttlicher, und durch den Glauben von menschli17 H.Gunkel, Das 4.Buch Esra, in: APAT li, 338f: .,Wir dürfen in beiden Gedankenreihen Entwicklungsstufen des Judentums sehen: das lltere, apokalyptisrhe Judentum hatte in den Hoffnungen auf ewiges Leben und Vergeltung seinen einzigen Trost gefunden, aber im späteren Judentum erkennen einzelne tiefe Naturen diese furchtbare Kehrseite der Vergeltungslehre, die sich gegen sie selbst richtet; denn diese Hoffnung ist eine entsetzliche Drohung für die Sünder! Es sind dies Stimmungen, wie sie Paulus vor seiner Bekehrung durchkostet haben muß; er hat aus solcher qualvollen Heilsunsicherheit den Ausweg gefunden, indem er mit dem Prinzip, der Gesetzesgerechtigkeit, brach; denn er hatte es in dieser entscheidenden Stunde seiner Bekehrung erlebt, daß die himmlischen GUter überhaupt nicht auf Werke hin, sondern nur durch Gottes Gnade, als Geschenk verliehen werden. Der Verfasser des IV Esra ist von diesem Ausweg weit entfernt; er ist für einen solchen prinzipiellen Bruch nicht groß genug; doch ist die Art, wie er vor Gottes Angesicht um das ewige Heil seiner Seele ringt, ehrwürdig und rührend". 18 A. Hilgenfeld, Jüdische Apokalyptik, 234: •.Aber worin besteht die Gerechtigkeit? Unser Verfasser setzt sie als ächter Jude an sich in die werkthätige ErfUllung des Gesetzes .... Allein wie ist diese Erfüllung des Gesetzes, dieser Schatz an guten Werken, welche Lohn verdienen, nur irgend möglich, wenn man so wie unser Verfasser, die Macht des bösen Herzens in allen Menschen, die Allgemeinheit der SUndhaftigkeit hervorhebt"; vgl. hiermit das Diktum von Gunkel, Das 4. Buch Esra, in: APAT li, 338: ,,Der naive, kräftigere Menschenschlag der llteren Zeit, der sich z. B. in den Psalmen ausspricht, mochte meistens Oberzeugt sein, Gottes Gesetz erfüllen zu können, und gewöhnlich auch, es erftlllt zu haben; aber dies spätere Judentum in seiner inneren Gebrochenheil und zugleich in seiner größeren Tiefe verzweifelt daran, Gottes Geboten gerecht zu werden".
Ausblick: Paulus und das Gesetzesverständnis
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eher Seite ergänzt werden lässt"19. Im 4. Esrabuch kündigt sich somit nach Hitgenfeld nicht nur die "Selbstauflösung der jüdischen Grundansicht von der Gottesgerechtigkeit an", sondern es läßt sich auch schon eine ,,merkwürdige Vorbildung der paulinischen Glaubensgerechtigkeit" finden 20 . Die Argumentation Hitgenfelds wurde dann einige Jahrzehnte später von R. Kabisch und W. Baldensperger aufgenommen und weitergeführt. R. Kabisch kommt in seiner 1889 erschienenen Untersuchung zum 4. Esrabuch faktisch zum gleichen Ergebnis wie Hilger.feld. So wirft auch er die Frage auf, "wie weit es denn eigentlich von diesem schriftgeiehrten Judentum, das auf Gesetzeserfüllung verzichtet und allein von dem Glauben an das Gesetz Heil erwartet, zu der Denkweise des Schriftgelehrten Paulus sei, der gleichfalls die Glaubensgerechtigkeit predigt, nur nicht Glauben an das Gesetz, sondern an den gekreuzigten und auferstandenen Christus"21. Auch W. Baldensperger konstatiert ,Jatente Gegensätze" im Frühjudentum und spricht sich gerade unter Verweis auf das 4. Buch Esra entschieden gegen ein einheitliches jüdisches Gesetzesverständnis aus22. Während Baldensperger in der ersten und zweiten Auflage seines Buches ,,Das Selbstbewußtsein Jesu im Lichte der messianischen Hoffnungen seiner Zeit" im Jahre 1888 bzw. 1892 der Apokalyptik im Vergleich zum Rahbinismus noch eine "tiefere Sündenerkenntniss" bescheinigt2J, so ändert er in der dritten Auflage, die unter dem Titel ,,Die messianisch-apokalyptischen Hoffnungen des Judentums" im Jahre 1903 erschienen ist, diese Behauptung dahingehend ab, daß mit Ausnahme des 4. Esrabuches in der apokalyptischen Literatur "nur schwache Anzeichen" für eine vertiefte SUndenerkenntnis und Erlösungsbedürftigkeit festgestellt werden könne24 . Im 4. Buch Esra jedoch findet auch Baldensperger einen "Verzicht auf eigene Gerechtigkeit und ein Bekenntnis der Nothwendigkeit der göttlichen Gnade", Beobachtungen, die ihn stark an Paulus erinnern25. Wie auch immer die Forschungsergebnisse dieser "Väter'' der Apokalyptikforschung26 heutzutage im einzelnen zu bewerten sind, ihr bleibendes Verdienst besteht jedenfalls darin, daß sie uns zu einer differenzierten Betrachtung des Gesetzesverständnisses des Frühjudentums anhalten. Von den neuerenVersuchen auf diesem Gebiet sei vor allem auf U. Wilckens verwiesen. Als gegen Ende der 50er Jahre unseres Jahrhunderts die Apokalyptikforschung 19 A. Hilgenfeld, Jüdische Apokalyptik, 234. 20 A. Hilgenfeld, Jüdische Apokalyptik, 235. 21 R.Kabisch, Das vierte Buch Esra, Göttingen 1889, 143. 22 W .Baldensperger, Die messianisch-apokalyptischen Hoffnungen, 1903, 210. 23 W. Baldensperger, Das Selbstbewußtsein Jesu, I. Aufl., 95f (=2. Aufl. 114t). 24
W. Baldensperger, Die messianisch-apokalyptischen Hoffnungen, 1903, 218f.
25 A.a.O., 220. 26 Die Liste der genannten Forscher ließe sich noch leicht um einige weitere Namen erweitern. So hat z.B. auch G.H. Box, The Ezra-Apocalypse, xlii, mit folgenden Worten auf eine Verwandtschaft zwischen Paulus und dem 4. Esrabuch aufmerksam gemacht: ,.the author of the Salatbiet Apocalypse is our best representative of the kind of Jewish thought with which St. Paul must have been acquainted in his pre-Christian days".
Das Verhältnis von paulinischen und apokalyptischen Gesetzesaussagen
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in Deutschland von neuem kräftig aufblühte, war es vor allem U. Wilckens, der auf ein speziell apokalyptisches Gesetzesverständnis als "Wurzel" der paulinischen Gesetzesaussagen verwies. U. Wilckens vertritt die These, daß Paulus vor seiner Bekehrung, die Wilckens als heilsgeschichtliche Wende vom Gesetz zu Christus versteht27 , nicht von einem rabbinischen, sondern von einem apokalyptischen Gesetzesverständnis bestimmt war. Das apokalyptische Gesetzesverständnis zeichnet sich nach Wilckens dadurch aus, daß es ganz in seiner heilsgeschichtlichen Funktion aufgeht. Diese heilsgeschichtliche Funktion des Gesetzes besteht darin, diejenigen, die sich im gegenwärtigen Äon zum Gesetz bekennen, für das zukünftige Reich Gottes aufzubewahren. Nicht das "Tun der Einzelgebote", sondern die Mittlerstellung des Gesetzes im Rahmen des apokalyptischen Geschiehtsaufrisses ist das Entscheidende28 . Die Bekehrung des Paulus besteht dann darin, daß Jesus Christus die Stelle des Gesetzes als Mittler einnimmt29. In seinen neueren Arbeiten ist Wilckens jedoch von dieser These wieder abgerückt30 und vermag das Gesetz nun weit positiver zu würdigen. Wenn Christus für die Glaubenden Gerechtigkeit schafft, dann bewirkt er nun darin für Wilckens "nicht nur das, was das Gesetz nicht bewirken konnte, sondern er erfüllt auch das, was die Juden vom Gesetz erwarten"31
3.2.2.2 Zusammenfassung Wie wir gesehen haben, wurde in der Forschung auf der Suche nach den traditionsgeschichtlichen Wurzeln des paulinischen Gesetzesverständnisses immer wieder auf das 4. Buch Esra verwiesen. Meines Erachtens beruht diese Überzeugung jedoch auf einem völligen Mißverständnis der paulinischen Gesetzesaussagen32 wie auch auf einer Fehlinterpretation der Gesetzeskonzeption des 4. Esrabuches. Vergleichen wir die im letzten Abschnitt dargestellten Aussagen über das Gesetzesverständnis des 4. Esrabuches mit unseren eigenen Ergebnissen in dieser Frage, so stehen sich diese diametral entgegen. Der Verfasser des 4. Esrabuches ist trotzder gesetzeskritischen Aussagen des Sehers im Dialog27 U. Wilckens, ZThK 1959,277. 28 U. Wilckens übernimmt den Gedanken von der heilsgeschichtlichen Funktion des Geset-
zes von D. Rössler, auf dessen 1960 erschienene Dissertation ..Gesetz und Geschichte. Untersuchungen zur Theologie der Jüdischen Apokalyptik und der pharisäischen Orthodoxie" wir bereits an anderer Stelle ausführlich eingegangen sind. 29 U. Wilckens, ZThK, 1959, 285: ,.Weil das Christusgeschehen in die apokalyptische Konzeption der göttlichen Erwählungsgeschichte voll und ganz hineingestellt ist, ergibt sich als ursprüngliche Konsequenz des Christusevangeliums der radikale Ausschluß des Gesetzes in seinem apokalyptischen Verständnis" 30 siehe U. Wilckens, Der Brief an die Römer, 3 Bde 1978-1982. 31 U. Wilckens, Der Brief an die Römer, Bd. 2, 223. 32 Die paulinische Erkenntnis, daß das Gesetz nicht in der Lage ist. den Menschen zu rechtfertigen, wird heute in der Forschung kaum noch damit begründet, daß Paulus unter der ,J,..ast des Gesetzes zusammengebrochen", an den Anforderungen des Gesetzes gescheitert sei. In diesem Zusammenhang sei nur auf die Selbstaussage des Paulus in Phil 3,6 verwiesen.
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Ausblick: Paulus und das Gesetzesverständnis
teil kein "vorchristlichen Paulus". Unternimmt man den Versuch, den komplexen Gedankengang dieser Schrift nachzuzeichnen, so ist der Schluß unausweichlich, daß die Intention des Verfassers des 4. Esrabuches darin besteht, unter veränderten geschichtlichen Bedingungen radikalen Gesetzesgehorsam zu ermöglichen. Zudem ist mit Blick auf die frühe Position von Wilckens nochmals zu betonen, daß das Gesetz in der apokalyptischen Tradition gerade nicht als das heilsgeschichtliche ,,Dokument der Erwählung", sondern als Gottes Gerichtsnoml "·erstanden wird. 3.2.3 Die Frage nach Verbindungslinien zwischen den Gesetzesaussagen der frtlhjüdischen Apokalyptik und dem paulinischen Gesetzesverständnis Nach diesem kurzen Überblick über bisherige Versuche, die apokalyptischen Gesetzesaussagen mit dem paulinischen Gesetzesverständnis in Beziehung zu setzen, ist es nun an der Zeit, zumindest ansatzweise einen eigenen Versuch in dieser Frage zu unternehmen. Hat doch bereits R. Kabisch 1889 die Frage nach dem Verhältnis zwischen paulinischen und apokalyptischen Gesetzesaussagen als offene Frage ans Ende seiner Untersuchung über das 4. Esrabuch gestellt33, ohne daß bisher eine überzeugende Antwort auf diese Frage gefunden worden wäre. Da es, wie bereits gesagt, nicht darum gehen kann, das Gesamtkonzept des paulinischen Gesetzesverständnisses von der Apokalyptik her zu bestimmen, wollen wir uns darauf beschränken, auf einige Verbindungslinien zwischen den Gesetzesaussagen dieser beiden Größen hinzuweisen. Eme detaillierte Ausführung dieser Verbindungslinien ist an dieser Stelle nicht intendiert. Eine ausfUhrliehe Diskussion dieser Fragestellung bleibt ganz bewußt Späteren vorbehalten. a) Vergegenwärtigen wir uns an dieser Stelle die Ergebnisse des Hauptteils unserer Untersuchung, so ergibt sich bereits im Sprachgebrauch ein erster Berührungspunkt zwischen den Gesetzesaussagen der frtlhjüdischen Apokalyptik und denen des Paulus. Ist doch für Paulus analog zur apokalyptischen Tradition die absolute Rede von "dem Gesetz" bezeichnend. Diese Art, von dem Gesetz zu reden, zeugt weder bei Paulus noch in den Schriften der frtlhjüdischen Apokalyptik von einem Desinteresse an dem konkreten Einzelgebot (bzw. einer heilsgeschichtlichen Funktion des Gesetzes), sondern sie will hier wie dort die Unbedingtheit und Totalität des geforderten Verhaltens herausstellen. Dies wird mit Blick auf Paulus besonders an den Stellen deutlich, an denen er davon redet, daß die "ganze" Tora getan werden muß (siehe z.B. Gal 3,10; 5,3). Die Betonung des radikal verpflichtenden Charakters des Gesetzes verbindet Paulus 33 Siehe R. Kabisch, Das vierte Buch Esra auf seine Quellen untersucht, Göttingen 1889, 143.
Die Frage nach Verbindungslinien
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mit der frühjüdischen Apokalyptik. Während in der frUhjUdischen Apokalyptik dieser radikale Gesetzesgedanke eng mit der Frage nach dem zukünftigen Heil verbunden ist, ist fUr Paulus nicht mehr das "Tun des Gesetzes", sondern der "Glaube an Jesus Christus" der alles entscheidende Heilsfaktor. Folglich wird auch die Rolle des Gesetzes vom Christusgeschehen her neu bestimmt. b) An zweiter Stelle möchte ich im Zusammenhang der Frage nach Verbindungslinien zwischen den paulinischen und apokalyptischen Gesetzesaussagen auf den Problemkreis Gesetz und Bund verweisen. Zeichnen sich entscheidende Partien der Gesetzesaussagen der frühjüdischen Apokalyptik gerade dadurch aus, daß der Bundesgedanke vom Gesetzesgedanken her eine Einschränkung erfährt, so läßt sich dieses Argumentationsschema meines Erachtens auch im paulinischen Schrifttum nachweisen. Eine Haltung, die davon ausgeht, daß der Besitz des Heils an die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk gebunden ist, wird in Röm 2,17ff vom Gesetzesgedanken her einer radikalen Kritik unterzogen. Nicht der einmalige Akt der Beschneidung, sondern einzig die Verpflichtung zu absolutem Gesetzesgehorsam (Röm 2,25) ist in der Lage, den Besitz des Heils zu verbürgen. Über die Zugehörigkeit zum Gottesvolk entscheidet einzig und allein das Tun des Gesetzes (Röm 2,27ff). Werfen wir einen Blick auf den Galaterbrief, so kann sich dort Paulus eines ähnlichen Argumentationsmusters bedienen, um den RUckfall der Galater zum Heidentum zu illustrieren. In diesem Zusammenhang sei in erster Linie auf die gerade in neuererZeitwieder intensiv diskutierte Wendung "Werke des Gesetzes" verwiesen34. Die Wendung epya V61J.OU bzw. Mi,M(M) .,fD17C ist außerhalb der authentischen Paulusbriefe lediglich in Qumran und an einer Stelle der syrischen Baruchapokalypse (syrBar 57,2) belegt. War man lange Zeit davon überzeugt, in dem Text 4QFior einen frtlhjUdischen Beleg für die Wendung Mi,n .,fD17D gefunden zu haben, so spricht vieles dafür, daß an dieser Stelle nicht von Mi'ln .,fD17C sondern von Mi'ln .,fD17C ("Werke des Lobpreises") die Rede ist. Zwar bereitet die Wendung "Werke des Lobpreises" sachlich bedeutend mehr Schwierigkeiten als "Werke des Gesetzes", doch ist die Lesart Mi'ln paläographisch recht eindeutig3S. Mit dieser Stelle hat sich die vermeintlich beste Parallele aus den Qumrantexten verabschiedet. Ferner findet sich die Wendung Mi,nn .,fD17D (bzw. ohne Artikel) noch in dem Text 4QMMT, doch liegt hier mit ziemlicher Sicherheit eine von den Paulusbriefen abweichende Bedeutung vor. Der Text 4QMMT spricht offensichtlich nicht von "Werken der Tora", 34
Siehe den Forschungsüberblick bei T.R. Schreiner, NT 1991. 217-244; Chr. Burchard, Nicht aus Werken des Gesetzes gerecht, in: FS für M. Hengel (70), 405-415; J.D.G. Dunn, JSNT 1992, 99-117; M. Bachmann, ThZ 1993, 1-33. 3S Siehe H.-W. Kuhn, Die Bedeutung der Qumrantexte, in: New Qumran Textsand Studies, 202ff.
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sondern von "Vorschriften der Tora"36 • Da die Bedeutung dieser Wendung in den Qumranschriften nicht mit deijenigen in den Paulusbriefen übereinstimmt, bleibt allein syrBar 57,2 als die Parallele bestehen, die der paulinischen Wendung wohl am nähesten kommt. So wird dort ausdrücklich von den "Werken der Gebote" gesprochen. Wenden wir uns nun dem Gebrauch dieser Wendung bei Paulus selbst zu, so findet sie sich nur im Galaterbrief (dreimal in 2, 16; ferner in 3,2.5.10) und im Römerbrief (3,20.28)37 • Mit Ausnahme von Röm 3,28 Lrit~ uns die W~ndung immer in der Formt~ lpyoov VOJ.LOU entgegen. Die "Werke der Tora" werden von Paulus durchweg negativ beurteilt. Als positiver Gegenbegriff steht ihnen die xian~ gegenüber3B. Doch welcher Sinn verbirgt sich hinter der Wendung "Werke des Gesetzes"? In dem Versuch, den genauenSinn dieser Wendung zu erfassen, wollen wir uns auf den Galaterbrief, der zweifellos vor dem Römerbrief entstanden ist, beschränken. Hierbei ist es unbedingt notwendig, sich den Argumentationszusammenhang zu vergegenwärtigen, in dem sich diese Wendung findet. Paulus befindet sich im Galaterbrief in einer polemischen Situation. Er steht in einer heftigen Auseinandersetzung mit Gegnern, die sein Missionswerk in Galalien aufs schärfste bedrohen. Die von Paulus zum Christentum bekehrten Galater lassen sich von den in die Gemeinde eingedrungenen gegnerischen Missionaren dazu verführen, sich beschneiden zu lassen (Gal 5,3; 6,12f). In der theologischen Auseinandersetzung des Paulus mit seinen Gegnern kommt der Wendung "Werke der Tora" eine zentrale Stellung zu. Stellt sie doch mit großer Wahrscheinlichkeit ein Theologumenon der Gegner dar, das Paulus aufgreift und in seinem Sinne uminterpretiert. Es spricht vieles dafür, daß sich das Gesetzesverständnis der Gegner des Paulus eng am Bundes-, bzw. Erwählungsgedanken orientiert. Die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, das sich im Besitz von Gottes Verheißung befindet39, ist nach der Theologie der Gegner des Paulus auch für Christen ein, wenn nicht sogar der entscheidende Heilsfaktor. Ist das Heil an die Zugehörigkeit zum erwählten Volk gebunden, so müssen folglich auch Heidenchristen in den Bund eintreten, um des Heils teilhaftig zu werden. Die Beschneidung ist die Einlaßbedingung zum Bund. Erst die Zugehörigkeit zum Bund kann nach der Theologie der Gegner einem Christen die volle Teilhabe am Heil versichern. Der Gesetzesgedanke wird eindeutig vom Bundesgedanken her bestimmt. Der verpflichtende Charakter der Tora tritt in der Konzeption der Gegner stark zurück. Man könnte wohl mit gewissem Recht geradezu von einer Degradierung der Tora zum bio36 Siehe H.-W. Kuhn, Die Bedeutung der Qumrantexte, in: New Qumran Textsand Studies. 209f; ferner M. Bachmann, ThZ 1993, 15. 37 In Röm 2, 15 findet sich die Wendung im Singular to lpyov toß ~ou 3B Siehe H.-W. Kuhn, Die Bedeutung der Qumrantexte, in: New Qumran Textsand Studies. 210. 39 Nicht umsonst dreht sich die Argumentation des Paulus im Galaterbrief (Gal 3,6ff; 3,15ff; 4,21ff) immer wieder um die Verheißung.
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Sen ,,Erwählungszeichen" sprechen. Die Wendung "Werke des Gesetzes" ist im Kontext dieser theologischen Konzeption der Gegner allem Anschein nach deren entscheidendes Schlagwort, mit dem sie ihr einseitig am Bundesgedanken orientiertes Gesetzesverständnis umschreiben. Paulus tritt nun seinen Gegnern auf zwei Ebenen entgegen. Er bewegt sich zum einen auf einer "christlichen Argumentationsebene" und versucht die theologische Konzeption seiner Gegner "christologisch" ad absurdum zu fUhren. Auf der anderen Seite begibt er sich jedoch auch auf eine ,jüdische Argumentationsebene" und versucht aufzuzeigen, daß die theologische Konzeption seiner Gegner bereits dem jüdischen Gesetzesgedanken keineswegs entspricht. Paulus setzt dem einseitig am Bundesgedanken orientierten Gesetzesverständnis seiner Gegner ein Gesetzesverständnis entgegen, das sich durch die scharfe Betonung gerade des verpflichtenden Charakters der Tora auszeichnet. Paulus zeichnet hierbei ein Bild von der jüdischen Tora, das stark an die Rolle des Gesetzes in der apokalyptischen Tradition erinnert. So stellt Paulus in seiner Argumentation gerade die Totalität und Unbedingtheit des Gesetzesgehorsams in den Vordergrund (siehe Gal 3,10-12; 5,3). Paulus versteht die Wendung "Werke des Gesetzes" völlig anders als seine Gegner. Verbirgt sich für diese hinter dieser Wendung in der Tat ein Gesetzesverständnis, das im Gesetz nicht viel mehr als einen "identity factor" für die Zugehörigkeit zu Israel sieht40, so sind die "Werke des Gesetzes" für Paulus die Taten, die der Mensch erbringen muß, um den radikalen Forderungen des Gesetzes gerecht zu werden. Paulus greift eine Wendung seiner Gegner auf, interpretiert diese in seinem Sinne um und fUhrt sie dann gegen seine Gegner ins Feld. Im Römerbrief, der in einer weit weniger polemischen Situation und unter ganz anderen Bedingungen entstanden ist als der Galaterbrief, begegnet uns die Wendung "Werke des Gesetzes" dann nur noch in paulinischem Sinne als die Werke, die die Tora zu tun vorschreibt. c) Zudem sei an den "paradoxen" Versuch der frühjüdischen Apokalyptik erinnert, den Gedanken der SUndenverfallenheit der gegenwärtigen Welt mit der Vorstellung von der Eigenverantwortlichkeit des Menschen für sein Tun zu verbinden. Der Gesetzesgedanke ist in der frühjüdischen Apokalyptik innerhalb dieses Spannungsfeldes fest im Bereich der menschlichen Entscheidungsfreiheit verankert. Mit dem Gesetz läßt sich nur dann sinnvoll argumentieren, wenn es keine Unvermeidbarkeil des Bösen in der Geschichte gibt.
40 Der Versuch Dunns, die Wendung ,,aus den Werken des Gesetzes" lediglich als einen ..identity factor" für die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, wie sie primär durch die Bescheidung, Speisegebote etc. vermittelt wird, zu verstehen, wird zwar dem Gebrauch dieser Wendung durch die Gegner, nicht aber dem paulinischen Verständnis dieser Wendung gerecht; siehe J.D.G. Dunn, NTS 1985, 523-542; ders., JSNT 1992, 99-117; siehe auch H.-W. Kuhn, Die Bedeutung der Qumrantexte, in: New Qumran Textsand Studies, 210ff.
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Analog zur frühjüdischen Apokalyptik kann auch Paulus den •.Machtcharakter" der SUnde so stark betonen41 , daß er an einigen Stellen geradezu Züge eines Verhängnisgedankens annehmen kann. Diese Tendenz findet meines Erachtens in Röm 7,14ff ihren deutlichsten Niederschlag. Der vorchristliche Mensch erscheint nach diesen Versen so stark in den Machtbereich der SUnde eingebunden, daß es ihm nicht mehr möglich ist, sich aus eigener Kraft daraus zu befreien. Der Mensch ist nicht in der Lage, sich frei zu entscheiden (7 ,20), er ist zum bloßen Spielbdl der Sünde degradiert. Die SUr.de muß hier wohl geradezu als ,,metaphysische Potenz" angesehen werden und ist bedeutend mehr als die bloße Summe einzelner GesetzesUbertretungen4 2. Während sich in der frühjüdischen Apokalyptik auf dem Boden des Verhängnisgedankens eine Eschatologie entwickelte, die alles Heil einzig von dem zukünftigen Handeln Gottes her erwartete, ist für Paulus jedoch durch das Christusgeschehen die Macht der SUnde bereits in der Gegenwart gebrochen (Röm 8). Auf der anderen Seite geht jedoch auch Paulus an vielen Stellen von der Eigenverantwortlichkeil des Menschen fUr sein Tun aus43. In diesem Zusammenhang erscheint die SUnde durchaus als die Summe einzelner Verfehlungen. Die Tatsache, daß Paulus unter der Sünde auch konkrete TatsUnden versteht, zeigt sich besonders darin, daß er selbst dann, wenn die Macht der SUnde durch Christus bereits gebrochen ist, noch mit der Möglichkeit zu sündigen rechnet (Röm 6,140. Während in der frühjüdischen Apokalyptik der Gesetzesgedanke jedoch ausschließlich im Bereich der menschlichen Entscheidungsfreiheit angesiedelt ist und dafür Sorge trägt, den SUndenverhängnisgedanken einzuschränken, kann das Gesetz bei Paulus an einigen Stellen so eng mit der SUnde verbunden werden, daß der Gesetzesgedanke dem SUndengedanken geradezu zu erliegen droht (siehe z.B. die Wendung "das Gesetz der SUnde" in Röm 7,23). Kann man in der frühjüdischen Apokalyptik den Gesetzesgedanken als •.Hort der Freiheit" bezeichnen, so geht bei Paulus diese Funktion auf das Christusgeschehen über. d) Abschließend sei mit der Vorstellung einer engen Verbindung von kosmischer und irdischer Gesetzlichkeit noch auf einen letzten zentralen Sachzusammenhang, der sowohl für die paulinischen als auch für die apokalyptischen Gesetzesaussagen bestimmend ist, verwiesen. Im Rahmen unserer Untersu4 1 Siehe G. Röhser, Metaphorik und Personifikation der Sünde, 179: ,,Den Machtbegriff wird man nur noch insoweit verwenden dürfen, als damit wirklich die Eigendynamik menschlicher Tatverfehlungen- oder zumindest deren durch das Gesetz ausgelöste Dynamik gemeint ist und nicht ein übermenschliches Wesen von dämonischem Charakter." 4 2 Nach G. Röhser, Metaphorik und Personifikation der Sünde, 179, muß man die paulinische Hannatia ,,als eine bestimmte Form von Hypostasierung des Sündenbegriffs verstehen". Diese Hypostasierung bezeichnet Röhser als ,,Personifikation" (siehe vor allem die Seiten 131-
ITI).
und Personifikation der Sünde, 179: ,,Der Tatcharakter schlie& bei Paulus den Verhlngnischaralcter der Sünde nicht aus, sondern ein, ebenso wie er auch Wort- und Gedankensünden sowie insbesondere die sündige Begierde mit umfa8t." 43 Siehe G. Röhser, Metaphorilt
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chung der frühjüdischen Gesetzesaussagen ist uns vor allem in Partien des biblischen Daniel- und des äthiopischen Henochbuches ein In- und Miteinander kosmischer und irdischer Sachverhalte begegnet. Wenden wir uns nun dem paulinischen Schrifttum zu, so weiß auch Gal4,111 von einem engen Zusammenhang zwischen irdischer und kosmischer Gesetzmäßigkeit zu berichten. Bereits in 4,3-5 wird die kosmische Größe der "a"totxE'ia "tOÜ KOOJloU" eng mit der Tom verbunden44 • Dergenaue Wortlaut dieser Verse lautet: "o'Ü"tc.oc; Kai itJJ.etc;, Ö"tE ~Ev vi)1ttot, Ü1to "tcX O"totxeta "tOÜ KOOJlOU ilJJ.E8a ~E~OUAroJlEvOt' 4 Ö"tE ~t nA.9ev "tO 1tAtvxoJla "tOÜ Xf>{>vou, t~auo"tEtA.Ev 6 9e0<; "tOV uiov airtoü, yev6JJ.evov EK yuvatK~, yev6JJ.Evov uno v6JJ.ov, 5 iva "to\x; Ü1to v6JJ.ov t~ayopaon. iva "titv uio9eoiav anoA.cXJkoJJ.EV··. Die Stellung des Menschen "U1t0 "tcX O"tOlXEla "tOÜ KOOJlOU" in 4,3 steht in deutlicher Parallele zu dessen Stellung "u1to v6JJ.ov", von der in 4,5 die Rede ist. Stellen wir uns nun die Frage, was sich hinter der Wendung "a"totxeta "toÜ KOOJlOU" genau verbirgr's, so werden wir vom Textzusammenhang her auf Gal4,9f verwiesen: ,.vüv ~t yv6V"tE<; 9e6v, JlcXA.A.ov ~t yvc.oo9EV"tE<; U1t0 9eoü, 1t00<; E1t\<J"tpEet<J9e Kai JJ.ilvac; Kai Katpo\x; Kai evtau"toi><;". Die ,,Rückkehr'• der Galater zu den ,.O"totxeta "tOÜ KOOJJ.ou" wird an dieser Stelle als Gehorsam gegenüber ,.Tagen, Monaten, bestimmten Zeiten und Jahren" ausgewiesen. Wie auch immer diese Aufzählung im einzelnen zu verstehen sein mag, so kann meines Erachtens kein Zweifel bestehen, daß sie sich auf spezielle Kalenderdaten bezieht46. Der Gehorsam der Galater gegenüber der kosmischen Gesetzmäßigkeit zeigt sich primär in Gestalt der Kalenderfrömmigkeit. Diese Kalenderfrömmigkeit wiederum wird ausdrücklich als Tomgehorsam verstanden. Dieser enge Zusammenhang zwischen kosmischer Gesetzmäßigkeit, Kalenderfrömmigkeit und Tomgehorsam gehört zu den spezifischen Merkmalen eines apokalyptischen Gesetzesverständnisses, wie es uns vor allem in den Texten aus der Frühphase der frühjüdischen Apokalyptik entgegengetreten ist. Daneben finden sich Spuren dieses Gesetzesverständnisses im Jubiläenbuch und in Partien der Qumranlitemtur, 44 Zu der Wendung CHOlXEia toß ICÖCJJlou siehe J. Blinzler, Lexikalisches zu dem Terminus atOlXEia toü IC~ou bei Paulus, in: SPCIC 1961, AnBib 17/18 (1963) Bd.ß, 429-443; G. Deifing. Art. atolxem n>..., ThWNT VII (1964), 666--687; D. Rusam, Neue Belege zu den cnolxria toß ~e~ou (Gal 4,3.9; Kol 2,8.20), ZNW 83 (1982). 119-125. Nach diesen Untersuchungen
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Ausblick: Paulus und das Gesetzesverständnis
Schriften, denen gleichfalls eine mehr oder weniger große Nähe zum apokalyptischen Schrifttum schwerlich abgesprochen werden kann. Es spricht vieles dafür, das Paulus in Gal 4 einen apokalyptischen Traditionszusammenhang aufgreift, um den RUckfall der Galater ins Heidentum zu illustrieren.
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Inhalt: Richtergesetz und Zentralgericht (Dtn 16,18-17,13) I Die Aufgaben der Richter in der Rechtspflege I Die Asylstadtbestimmung (Dtn 19, 1-13) I Richter und Älteste (Dtn 21, 1-9) I Die Ältestengerichtsbarkeit im dt Gesetz I Die Gerichtsorganisation Israels im dt Gesetz
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Diese Untersuchung weist nach, daß die Thora Lebensweisung auch für die überwiegend heidenchristliehen Adressaten der paulinischen Briefe ist. Für das paulinische Thoraverständnis ergibt sich folgendes: Da sich der Wille Gottes hinsichtlich der menschlichen Lebensführung in der Thora manifestiert, ist er auch für Heiden(christen) aus der Thora zu entnehmen. Doch gelten die Weisungen der Thora ftlr sie in anderem Umfang als ftlr Juden(christen).
Aufsätze zur biblischen Theologie. 1981. 320 Seiten, kart. ISBN 3-525-53568-6
Diese Studien zur biblischen Theologie untersuchen in der Verklammerung von Altem und Neuern Testament die Themen Versöhnung, Gesetz und Gerechtigkeit.
Hans Hübner
Das Gesetz in der synoptischen Tradition Studien zur These einer progressiven Qumranisierung und Judaisierung innerhalb der synoptischen Tradition. 2., erweiterte Auflage 1986. 277 Seiten, kart. ISBN 3-525-53572-4
Inwiefern wurde in der synoptischen Tradition durch ihre verschiedenen Schichten hindurch der Standpunkt Jesu durchgehalten bzw. nicht durchgehalten? "Mit bewundernswerter Akribie analysiert der Autor von dieser Fragestellung her die wichtigsten neutestamentlichen Textstellen ... Diese gründliche Analyse ist für jeden Theologen äußerst lehrreich, weil der Verfasser mit staunenswerter systematischer Kraft immer wieder den Blick von Einzelheiten auf das Herzstück des Neuen Testaments lenkt."
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