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Vorwort zur 2. Auflage Mit dieser umfassend u È berarbeiteten Neuauflage wird das vorliegende Lehrbuch zum Verfassungsrecht auf den aktuellen Stand gebracht. In den letzten Jahren hat sich die o È sterreichische Verfassungsrechtslage in wichtigen Punkten geaÈndert. Zu È sterreich-Konder u È berfaÈlligen ¹groûen`` Staats- und Verfassungsreform, die dem O vent der Jahre 2003/2004 anvertraut gewesen waÈre, ist es zwar bis heute nicht gekommen. Stattdessen wurde der Weg von Teilreformen beschritten. Mit der Herabsetzung des Wahlalters, der Erleichterung der Briefwahl und der ku È nftigen VerlaÈngerung der Legislaturperioden wurde das demokratische Wahlrecht reformiert. Durch eine groÈûere Verfassungsnovelle wurde Anfang 2008 ein erster Schritt zu einer Verfassungsrechtsbereinigung gesetzt, wobei aus diesem Anlass verschiedene verfassungsrechtliche RegelungszusammenhaÈnge nicht unwesentlich umgestaltet wurden. Ob die Politik die fu È r weiter reichende Verfassungsreformen notwendige Gestaltungskraft aufbringt, ist zum gegenwaÈrtigen Zeitpunkt trotz der weit gediehenen Vorarbeiten einer Expertengruppe offen. An sich haÈtte die groûe Koalition der Jahre 2007/2008 u È ber die dafu È r noÈtige Zweidrittelmehrheit verfu È gt und man hat darin ihren wichtigsten Auftrag gesehen. Umgekehrt ist es in letzter Zeit zu einer bedauerlichen Verschlechterung der legistischen Kultur gekommen, die mitunter auch den noÈtigen Respekt vor der Verfassung vermissen laÈsst. Wenn der BundespraÈsident zum ersten Mal in der Verfassungsgeschichte Anlass fand, die Beurkundung eines jener Gesetze wegen evidenter Verfassungswidrigkeit zu verweigern, die zum Jahreswechsel 2007/2008 u È berhastet durch den Nationalrat durchgewunken wurden, spricht das fu È r sich. Die vorliegende Neuauflage stellt das aktuell geltende o È sterreichische Verfassungsrecht nach dem Stand Sommer 2008 dar. Auch auf der europaÈischen Ebene ist der Reformprozess ins Stocken geraten, nachdem die irische BevoÈlkerung dem Reformvertrag von Lissabon im Juni 2008 die Zustimmung verweigert hat. Daher bezieht sich dieses Buch noch auf das europaÈische Verfassungsrecht in der Fassung des Vertrags von Nizza einschlieûlich der spaÈteren BeitrittsvertraÈge. Auf ku È nftige RechtsaÈnderungen durch den Reformvertrag wird aber hingewiesen, auch wenn der Zeitpunkt seines In-Kraft-Tretens noch ungewiss ist. Bei der Aktualisierung dieses Buches wurde ich von Frau Mag. Sarah Hillisch und Frau Mag. Claudia Wernig tatkraÈftig und sachkundig unterstu È tzt. Ihnen sowie Frau Brigitte Pointner, Frau Ulrike Sautner und Frau Stephanie Hofer danke ich fu È r die Mitarbeit sehr herzlich. Dank schulde ich auch meinem Kollegen Ewald Wiederin fu Èr seine VerbesserungsvorschlaÈge. Danken mo È chte ich schlieûlich auch jenen Leserinnen und Lesern, die mich auf Unklarheiten oder einzelne Unrichtigkeiten der Vorauflage aufmerksam gemacht haben. Auch weiterhin bitte ich um Hinweise und Anregungen zur Verbesserung (Walter.Berka@sbg.ac.at). Salzburg, im Sommer 2008
Walter Berka
Vorwort È sterDas Bundes-Verfassungsgesetz des Jahres 1920 hat dem Weg der Republik O reich in das groÈûere Europa einen im Groûen und Ganzen verlaÈsslichen rechtlichen Rahmen gegeben und der oÈsterreichischen Gesellschaft politischen Frieden, soziale Ausgewogenheit und wirtschaftliche ProsperitaÈt gesichert. Dies ist nicht gering zu schaÈtzen, auch wenn andererseits niemand daran zweifeln kann, dass das geltende Verfassungsrecht im hoÈchsten Maû reformbedu È rftig ist. Zur Sicherung der politischen HandlungsmoÈglichkeiten in den europaÈischen und globalen ZusammenhaÈngen ist eine Staats- und Verwaltungsreform unabdingbar, die auch eine Verfassungsreform sein muss. Zugleich geht es darum, den emanzipatorischen Anspruch des demokratischen Verfassungsstaats und seine sozialstaatliche Verantwortlichkeit auch È sterreichunter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts zu sichern. Nachdem der O Konvent Anfang 2005 seine Bemu È hungen um eine vom Konsens der politischen KraÈfte getragene Verfassungsreform vorerst ohne Ergebnis beendet hat, ist es freilich offen, ob eine solche in der absehbaren Zukunft zu Stande kommen wird. Die Studentinnen und Studenten, die sich im Rahmen ihres Studiums mit dem o È sterreichischen Verfassungsrecht beschaÈftigen, mu È ssen sich also weiterhin mit einem Èauûerlich zersplitterten und unu È bersichtlichen Rechtsstoff auseinander setzen. In dieser Situation muss sich ein Lehrbuch um Konzentration auf das Wesentliche bemu È hen. Dies strebt das vorliegende Buch in zweifacher Hinsicht an: ZunaÈchst will es die wichtigsten verfassungsrechtlichen Regelungen unter dem Aspekt der tragenden Grundprinzipien des demokratischen Verfassungsstaats darstellen, die in ihnen zum Ausdruck kommen. Daher wird den verfassungsrechtlichen Baugesetzen, der Konstituierung der staatlichen Funktionen und der Einbettung des Verfassungsstaats in das internationale und europaÈische Recht mehr Raum gegeben als manchen Details des ausufernden Verfassungsstoffs. Zum anderen werden jene Regelungsbereiche ausfu È hrlicher dargestellt, die fu È r eine an den Bedu È rfnissen der juristischen Praxis orientierte Ausbildung im Vordergrund stehen mu È ssen, das sind die Kapitel u È ber die Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts und u È ber die Grundrechte. Es wu È rde mich freuen, wenn das Buch nicht nur ein VerstaÈndnis fu È r die Werte des demokratischen Verfassungsstaats weckt, sondern es den Studierenden auch erleichtert die Pru È fungshu È rden zu meistern. Mein Dank gilt Mag. Monika Schwarz und Mag. Thomas Haas fu È r die engagierte Hilfe bei der redaktionellen Bearbeitung und meinen Kollegen Rudolf Feik und Roland Winkler fu È r die kritische Lektu È re. Frau Brigitte Pointner und Frau Ulrike Sautner haben mich bei der Arbeit mit den Texten und der Anlage des Stichwortverzeichnisses unterstu È tzt. Meine Leserinnen und Leser bitte ich mir moÈglichst viele Hinweise und Anregungen zur Verbesserung zukommen zu lassen (Walter.Berka@sbg.ac.at). Salzburg und Inis Meain im Sommer 2005
Walter Berka
Inhaltsverzeichnis Abku È rzungsverzeichnis ...................................................................................
XI
Teil I. Grundlagen 1. Kapitel: Verfassung und Verfassungsrecht............................................. 1 1. Der demokratische Verfassungsstaat ...................................................... 1 2. Eine kurze Geschichte des oÈsterreichischen Bundesverfassungsrechts..... 7 3. Das Verfassungsrecht ............................................................................ 15 4. Hinweise zum Studium des Verfassungsrechts........................................ 24 2. Kapitel: Grundprinzipien des Bundesverfassungsrechts ...................... 5. Die GesamtaÈnderung der Bundesverfassung........................................... 6. Das demokratische Prinzip.................................................................... 7. Das republikanische Prinzip .................................................................. 8. Das bundesstaatliche Prinzip................................................................. 9. Das rechtsstaatliche Prinzip .................................................................. 10. Staatsziele und VerfassungsauftraÈge ....................................................... 11. Die politischen Parteien........................................................................
29 29 32 39 40 44 50 56
3. Kapitel: Der Verfassungsstaat im Rahmen des VoÈlker- und Europarechts 64 12. Verfassungsrecht und VoÈlkerrecht ......................................................... 64 13. Die EuropaÈische Union und das oÈsterreichische Verfassungsrecht ........... 73 Teil II. Die Staatsorganisation und die Staatsfunktionen 1. Kapitel: Der Aufbau des Staates .............................................................. 14. Staatsvolk und Staatsgebiet.................................................................... 15. Die Funktionen des Staates: Gewaltenteilung und Gewaltenbalance........ 16. Die bundesstaatliche Kompetenzverteilung............................................ 17. Die bundesstaatliche Finanzverfassung .................................................. 18. Kooperation und Aufsicht im Bund-LaÈnder-VerhaÈltnis .............................
93 93 96 101 112 116
2. Kapitel: Die Gesetzgebung ...................................................................... 19. Die Gesetzgebung ................................................................................ 20. Der Nationalrat..................................................................................... 21. Der Bundesrat ...................................................................................... 22. Die Landtage ........................................................................................ 23. Die Erzeugung von Gesetzen.................................................................
121 121 132 151 153 155
3. Kapitel: Die staatliche Verwaltung.......................................................... 24. Die Verwaltung .................................................................................... 25. Der BundespraÈsident ............................................................................ 26. Die Bundesregierung und die Bundesminister ........................................ 27. Sonstige Verwaltungsorgane des Bundes................................................ 28. Die Landesverwaltung...........................................................................
168 168 179 183 189 198
X
Inhaltsverzeichnis
4. Kapitel: Die Selbstverwaltung................................................................. 203 29. Begriff und Einrichtungen der Selbstverwaltung..................................... 203 30. Die Gemeindeselbstverwaltung ............................................................. 208 5. Kapitel: Die Gerichtsbarkeit des Bundes................................................ 31. Die Rechtsprechung ............................................................................. 32. Die Gerichte......................................................................................... 33. Die Staatshaftung..................................................................................
218 218 221 222
Teil III. Die Kontrolle der Staatsgewalt 34. Die Kontrolle der Staatsgewalt............................................................... 228 1. Kapitel: Wirtschaftliche Kontrolle und Missstandskontrolle .............. 233 35. Der Rechnungshof................................................................................ 233 36. Die Volksanwaltschaft........................................................................... 238 È ffentlichen Rechts und die 2. Kapitel: Die Gerichtsbarkeit des o unabhaÈngigen Verwaltungssenate ............................................ 37. Die unabhaÈngigen Verwaltungssenate.................................................... 38. Der Asylgerichtshof .............................................................................. 39. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ............................................................. 40. Die Verfassungsgerichtsbarkeit ..............................................................
242 242 245 247 266
Teil IV. Die Grundrechte 1. Kapitel: Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat .......... 41. Die Bedeutung der Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat ..... 42. Begriff, Geltung und historische Entwicklung der Grundrechte .............. 43. Die Grundrechte der EU .......................................................................
315 315 317 325
2. Kapitel: Allgemeine Grundrechtslehren ............................................... 44. Zur Interpretation der Grundrechte....................................................... 45. Die Rechtsnatur der Grundrechte.......................................................... 46. Die GrundrechtstraÈger .......................................................................... 47. Die Grundrechtsverpflichteten .............................................................. 48. Grundrechtseingriffe und Grundrechtsschranken................................... 49. Die Durchsetzung der Grundrechte .......................................................
332 332 333 339 343 350 362
3. Kapitel: Die einzelnen Grundrechte....................................................... 50. Die Grundrechte der Person ................................................................. 51. Die Grundrechte des Gemeinschaftslebens ............................................ 52. Die Grundrechte des Wirtschaftslebens ................................................. 53. Grundrechtliche Organisations- und Verfahrensgarantien........................ 54. Gleichheitsrechte ................................................................................. 55. Der Minderheitenschutz........................................................................ 56. Grundrechte in den Landesverfassungen ...............................................
367 367 399 423 434 450 475 478
Sachverzeichnis .............................................................................................. 481
Abku È rzungsverzeichnis AB ABGB ABl Abs aF AG AHG Art ASVG AsylG 2005 AsylGH AsylGHG AVG aW BAO Bd BDG BezVerBeh Bf Beitritts-BVG BG BGBl BGBlG Bgld BH BHG BK Blg BM BMG BMI BPolDion BPraÈs BR BReg BV BVA BVBRG (1.) BVergG BVG B-VG B-VG-Novelle 2008
Ausschussbericht Allgemeines bu È rgerliches Gesetzbuch JGS 1811/946 idF BGBl I 2008/100 Amtsblatt Absatz alte Fassung Aktiengesellschaft Amtshaftungsgesetz BGBl 1949/20 idF BGBl I 1999/194 Artikel Allgemeines Sozialversicherungsgesetz BGBl 1955/189 idF BGBl I 2008/120 BG u È ber die GewaÈhrung von Asyl BGBl I 2005/100 idF BGBl I 2008/2 Asylgerichtshof Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetz BGBl I 2008/4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 BGBl 51 idF BGBl I 2008/5 aufschiebende Wirkung Bundesabgabenordnung BGBl 1961/194 idF BGBl I 2008/85 Band Beamten-Dienstrechtsgesetz 1979 BGBl 333 idF BGBl I 2008/2 BezirksverwaltungsbehoÈrde Beschwerdefu È hrer (-in) È sterreichs zur EuroBundesverfassungsgesetz u È ber den Beitritt O paÈischen Union BGBl 1994/744 Bundesgesetz Bundesgesetzblatt Bundesgesetz u È ber das Bundesgesetzblatt 2004 BGBl I 2003/100 Burgenland, BurgenlaÈndisch (-er, -e, -es) Bundesheer Bundeshaushaltsgesetz BGBl 1986/213 idF BGBl I 2008/20 Bundeskanzler (-in) Beilage (zu den Stenographischen Protokollen) Bundesminister (-in) Bundesministeriengesetz 1986 BGBl 76 idF BGBl I 2008/4 Bundesminister (-in) fu È r Inneres Bundespolizeidirektion BundespraÈsident (-in) Bundesrat Bundesregierung Bundesverwaltung Bundesvergabeamt Erstes Bundesverfassungsrechtsbereinigungsgesetz BGBl I 2008/2 Bundesvergabegesetz 2006 BGBl I 17 idF BGBl I 2008/2 Bundesverfassungsgesetz Bundes-Verfassungsgesetz BGBl 1930/1 idF BGBl I 2008/2 Bundesverfassungsgesetz, mit dem das Bundes-Verfassungsgesetz geaÈndert und ein Erstes Bundesverfassungsrechtsbereinigungsgesetz erlassen wird BGBl I 2008/2
XII
Abku È rzungsverzeichnis
È mter LReg BVG A
Bundesverfassungsgesetz betreffend GrundsaÈtze fu È r die EinrichÈ mter der Landesregierungen tung und GeschaÈftsfu È hrung der A auûer Wien BGBl 1925/289 idF BGBl I 2008/2 BVG-Rassendiskriminierung Bundesverfassungsgesetz zur Durchfu È hrung des Internationalen È bereinkommens u U È ber die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung BGBl 1973/390 BVG-Rundfunk Bundesverfassungsgesetz u È ber die Sicherung der UnabhaÈngigkeit des Rundfunks BGBl 1974/396 BVG-Umweltschutz Bundesverfassungsgesetz u È ber den umfassenden Umweltschutz BGBl 1984/491 bzw beziehungsweise ca
cirka (ungefaÈhr)
ders dh dies DRdA DSG DVBl
derselbe das heiût dieselbe Das Recht der Arbeit Datenschutzgesetz 2000 BGBl I 1999/165 idF BGBl I 2008/2 Deutsches Verwaltungsblatt
EAG ed EG EGC EGKS EGMR EGV
EvBl EWG EWR EZB
EuropaÈische Atomgemeinschaft Editor (Herausgeber) EuropaÈische Gemeinschaft(en) Charta der Grundrechte der EuropaÈischen Union ABl 2007 C 303 EuropaÈische Gemeinschaft fu È r Kohle und Stahl EuropaÈischer Gerichtshof fu È r Menschenrechte Vertrag zur Gru È ndung der EuropaÈischen Gemeinschaft BGBl III 1999/86 idF BGBl III 2006/185 Einfu È hrungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen 1991 BGBl 50 idF BGBl I 2008/87 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten BGBl 1958/210 idF BGBl III 2002/179 Exekutionsordnung RGBl 1896/79 idF BGBl I 2008/82 EuropaÈisches Parlament Einkommensteuergesetz 1988 BGBl 400 idF BGBl I 2008/85 et cetera EuropaÈische Union EuropaÈisches Gericht erster Instanz EuropaÈischer Gerichtshof EuropaÈische Grundrechte-Zeitschrift Bundesgesetz u È ber die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der EuropaÈischen Union BGBl I 2004/36 idF BGBl I 2007/112 Vertrag u È ber die EuropaÈische Union BGBl III 1999/85 idF BGBl III 2006/185 È JZ Evidenzblatt der Rechtsmittelentscheidungen in O EuropaÈische Wirtschaftsgemeinschaft EuropaÈischer Wirtschaftsraum EuropaÈische Zentralbank
f FAG ff FinStrG ForstG FPG È FPO FS F-VG
folgend (-er, -e, -es) Finanzausgleichsgesetz 2008 BGBl I 2008/85 fortfolgende Finanzstrafgesetz BGBl 1958/129 idF BGBl I 2008/85 Forstgesetz 1975 BGBl 440 idF BGBl I 2007/55 Fremdenpolizeigesetz 2005 BGBl I 100 idF BGBl I 2008/4 È sterreichs Freiheitliche Partei O Festschrift Finanz-Verfassungsgesetz 1948 BGBl 45 idF BGBl I 2007/103
EGVG EMRK EO EP EStG etc EU EuGEI EuGH EuGRZ EU-JZG EUV
XIII
Abku È rzungsverzeichnis G/-G GASP GemO Geo GG ggf GlBG GmbH GOBR GOG GONR GP GRat HausrechtsG
Gesetz Gemeinsame Auûen- und Sicherheitspolitik Gemeindeordnung GeschaÈftsordnung (Bonner) Grundgesetz gegebenenfalls Gleichbehandlungsgesetz BGBl I 2004/66 idF BGBl I 2008/98 Gesellschaft mit beschraÈnkter Haftung GeschaÈftsordnung des Bundesrates BGBl 1988/361 idF BGBl I 2000/106 Gerichtsorganisationsgesetz RGBl 1896/217 idF BGBl I 2007/111 GeschaÈftsordnungsgesetz 1975 BGBl 410 idF BGBl I 2005/29 Gesetzgebungsperiode Gemeinderat
hL Hrsg
Gesetz zum Schutze des Hausrechtes RGBl 1862/88 idF BGBl 1974/422 herrschende Lehre Herausgeber (-in)
IA idF idgF idR IKL insb iS iVm
Individualantrag in der Fassung in der geltenden Fassung in der Regel Integrationskonferenz der LaÈnder insbesondere im Sinn in Verbindung mit
JAP JBl JN JoÈR JRP
Juristische Ausbildung und Praxisvorbereitung Juristische BlaÈtter Jurisdiktionsnorm RGBl 1895/111 idF BGBl I 2006/103 Jahrbuch des oÈffentlichen Rechts der Gegenwart Journal fu È r Rechtspolitik
KFG Kfz È KPO Ktn
Kraftfahrgesetz 1967 BGBl 267 idF BGBl I 2008/6 Kraftfahrzeug È sterreichs Kommunistische Partei O KaÈrnten, KaÈrntner
leg cit LG LGBl LH lit Lkw LO LReg LT LTWO LV L-VG
legis citatae (der zitierten Vorschrift) Landesgesetz Landesgesetzblatt Landeshauptmann bzw Landeshauptfrau litera (Buchstabe) Lastkraftwagen Landesordnung Landesregierung Landtag Landtagswahlordnung Landesverfassung Landes-Verfassungsgesetz
MBG ME MedienG MOG MR mwN
MilitaÈrbefugnisgesetz BGBl I 2000/86 idF BGBl I 2008/18 Ministerialentwurf Mediengesetz BGBl 1981/314 idF BGBl I 2007/112 Marktordnungsgesetz 2007 BGBl I 55 idF BGBl I 2008/72 Medien und Recht mit weiteren Nachweisen
XIV NATO NeutralitaÈtsG NJW NL È NO NR NRWO NV È AKR O È BB O OGH È GZ O ÈH O È JK O È JT O È JZ O OLG È OO ORF ORF-G OrgHG È ROK O OSZE È VP O È ZP O È ZW O PartG PersFrG PJZS Pkw PreisG ProvNV PrR-G
Abku È rzungsverzeichnis Nordatlantische Allianz È sterreichs BGBl Bundesverfassungsgesetz u È ber die NeutralitaÈt O 1955/211 Neue Juristische Wochenschrift Newsletter Menschenrechte NiederoÈsterreich, NiederoÈsterreichisch (-er, -e, -es) Nationalrat Nationalrats-Wahlordnung 1992 BGBl 471 idF BGBl II 2008/147 Nationalversammlung È sterreichisches Archiv fu O È r Kirchenrecht È sterreichische Bundesbahnen O Oberster Gerichtshof È sterreichische Gemeinde-Zeitung O È sterreichische Hochschu O È lerschaft È sterreichische Juristenkommission O È sterreichischer(-n) Juristentag(-es) (Verhandlungen des) O È sterreichische Juristen-Zeitung O Oberlandesgericht OberoÈsterreich, OberoÈsterreichisch (-er, -e, -es) È sterreichischer Rundfunk O ORF-Gesetz BGBl 1984/379 idF BGBl I 2008/2 Organhaftpflichtgesetz BGBl 1967/181 idF BGBl 1985/104 È sterreichische Raumordnungskonferenz O Organisation fu È r Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (bis 1992 KSZE) È sterreichische Volkspartei O È sterreichische Zeitschrift fu O È r Politikwissenschaft È sterreichische Zeitschrift fu O È r Wirtschaftsrecht Parteiengesetz BGBl 1975/404 idF BGBl I 2008/2 Bundesverfassungsgesetz u È ber den Schutz der persoÈnlichen Freiheit BGBl 1988/684 idF BGBl I 2008/2 polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen Personenkraftwagen Preisgesetz 1992 BGBl 145 idF BGBl I 2008/2 (Beschluss der) Provisorische(-n) Nationalversammlung Privatradiogesetz BGBl I 2001/20 idF BGBl I 2004/169
RA Rechtsanwalt rd rund RdU Recht der Umwelt È sterreichisches Recht der Wirtschaft RdW O È nderung des Vertrags u Reformvertrag von Lissabon Vertrag von Lissabon zur A È ber die EuropaÈische Union und des Vertrags zur Gru È ndung der EuropaÈischen Gemeinschaft usw ABl 2008 C 115/1 RGBl Reichsgesetzblatt RH Rechnungshof RHG Rechnungshofgesetz 1948 BGBl 144 idF BGBl I 2003/100 RIS Rechtsinformationssystem des Bundes RJD Reports of Judgments and Decisions (Entscheidungssammlung des EGMR seit 1996) Rs Rechtssache Rspr Rechtsprechung RStDG Richter- und Staatsanwaltsdienstgesetz BGBl 1961/305 idF BGBl I 2008/2 ÈG R-U RV Rz
Rechtsu È berleitungsgesetz StGBl 1945/6 idF BGBl I 2003/100 Regierungsvorlage Randzahl
Abku È rzungsverzeichnis Sbg Sen Slg SPG È SPO StbG StGB StGBl StGG Stmk StPO StReg stRspr StV StV St. Germain StV Wien StVG StVO SZ
XV Salzburg (-er) Senat Sammlung (der Rechtsprechung des EuGH und des EuGEI) Sicherheitspolizeigesetz BGBl 1991/566 idF BGBl I 2008/4 È sterreichs Sozialdemokratische Partei O Staatsbu È rgerschaftsgesetz 1985 BGBl 311 idF BGBl I 2008/4 Strafgesetzbuch BGBl 1974/60 idF BGBl I 2007/112 È sterreich Staatsgesetzblatt fu È r die Republik O Staatsgrundgesetz u È ber die allgemeinen Rechte der Staatsbu È rger RGBl 1867/142 idF BGBl 1988/684 Steiermark, SteiermaÈrkisch (-er, -e, -es) Strafprozessordnung 1975 BGBl 631 idF BGBl I 2007/109 Staatsregierung staÈndige Rechtsprechung Staatsvertrag Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye StGBl 1920/303 idF BGBl III 2002/179 Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhaÈngiÈ sterreich BGBl 1955/152 idF BGBl I gen und demokratischen O 2008/2 Strafvollzugsgesetz BGBl 1969/144 idF BGBl I 2007/109 Straûenverkehrsordnung 1960 BGBl 159 idF BGBl I 2008/2 Entscheidungen des oÈsterreichischen Obersten Gerichtshofes in Zivil- (und Justizverwaltungs-)sachen
TierschutzG Tir TKG
Tierschutzgesetz BGBl I 2004/118 idF BGBl I 2008/35 Tirol (-er, -e, -es) Telekommunikationsgesetz 2003 BGBl I 70 idF BGBl I 2005/133
ua UbG UFS È G 1920 U UG 2002 UN UnvG UOG
und andere, -es Unterbringungsgesetz BGBl 1990/155 idF BGBl I 1997/12 unabhaÈngiger Finanzsenat È bergangsgesetz [1920] BGBl 1925/368 idF BGBl I 2008/2 U UniversitaÈtsgesetz 2002 BGBl I 120 idF BGBl I 2007/87 United Nations (Vereinte Nationen) Unvereinbarkeitsgesetz 1983 BGBl 330 idF BGBl I 2008/2 UniversitaÈts-Organisationsgesetz [1993] BGBl 1993/805 idF BGBl I 2008/2 Urheberrechtsgesetz BGBl 1936/111 idF BGBl I 2006/81 United States Umsatzsteuer und so weiter unter UmstaÈnden und viele(s) andere UmweltvertraÈglichkeitspru È fung unabhaÈngige(-r) Verwaltungssenat(-e)
UrhG US USt usw uU uva UVP UVS
VA Volksanwaltschaft verb verbunden, -e VerbotsG Verbotsgesetz 1947 StGBl 1945/13 idF BGBl 1992/148 VerG Vereinsgesetz 2002 BGBl I 66 idF BGBl I 2008/45 VersG Versammlungsgesetz 1953 BGBl 98 idF BGBl I 2002/127 verst verstaÈrkter [Senat] VerwaltungsreformG 2001 Verwaltungsreformgesetz 2001 BGBl I 2002/65 VfGG Verfassungsgerichtshofgesetz 1953 BGBl 85 idF BGBl I 2008/4 VfGH Verfassungsgerichtshof VfSlg Sammlung der Erkenntnisse und wichtigsten Beschlu È sse des Verfassungsgerichtshofes vgl vergleiche
XVI VK Vlbg VO/-VO VolksabstimmungsG
Abku È rzungsverzeichnis
VVG VwGG VwGH VwSlg
Vizekanzler (-in) Vorarlberg (-er) Verordnung Volksabstimmungsgesetz 1972 BGBl 1973/79 idF BGBl II 2008/147 Volksanwaltschaftsgesetz 1982 BGBl 433 idF BGBl I 1998/158 Volksbefragungsgesetz 1989 BGBl 356 idF BGBl II 2008/147 Volksbegehrengesetz 1973 BGBl 344 idF BGBl II 2008/147 Verwaltungsstrafgesetz 1991 BGBl 52 idF BGBl I 2008/5 von Tausend È berleitungsgesetz StGBl 1945/4 Verfassungs-U VeroÈffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsvollstreckungsgesetz 1991 BGBl 53 idF BGBl I 2008/3 Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 BGBl 10 idF BGBl I 2008/4 Verwaltungsgerichtshof Erkenntnisse und Beschlu È sse des Verwaltungsgerichtshofes
WaffengebrauchsG WBl WehrG WettbewerbsG Wr WRG
Waffengebrauchsgesetz 1969 BGBl 149 idF BGBl I 2006/113 Wirtschaftsrechtliche BlaÈtter Wehrgesetz 2001 BGBl I 146 idF BGBl I 2008/17 Wettbewerbsgesetz BGBl I 2002/62 idF BGBl I 2008/2 Wien (-er) Wasserrechtsgesetz 1959 BGBl 215 idF BGBl I 2006/123
Z zB ZDG ZfRV
Zahl, Ziffer zum Beispiel Zivildienstgesetz 1986 BGBl 679 idF BGBl I 2008/2 Zeitschrift fu È r Rechtsvergleichung, Internationales Privatrecht und Europarecht Zeitschrift fu È r Verwaltung Zeitschrift fu È r Gesetzgebung È sterreichische) Zeitschrift fu (O È r oÈffentliches Recht Zivilprozessordnung RGBl 1895/113 idF BGBl I 2006/7 Zusatzprotokoll zur EuropaÈischen Menschenrechtskonvention zum Teil Zeitschrift der UnabhaÈngigen Verwaltungssenate Zeitschrift fu È r Verkehrsrecht
VolksanwG VolksbefragungsG VolksbegehrenG VStG vT ÈG V-U VVDStRL
ZfV ZG ÈR ZO ZPO ZProtEMRK zT ZUV ZVR
Teil I. Grundlagen 1. Kapitel: Verfassung und Verfassungsrecht Dieses erste Kapitel fu È hrt in das Stoffgebiet ein, das in diesem Lehrbuch vermittelt È sterreich, das sind werden soll: Das ist das Verfassungsrecht der Republik O È sterreich als nationaler Staat jene innerstaatlichen Rechtsvorschriften, durch die O und als Mitglied der EuropaÈischen Union verfasst wird. Dabei sind zunaÈchst die Besonderheiten herauszuarbeiten, welche das Verfassungsrecht vom u È sterreichische Verfassungsrecht Èauûerst zersplitÈ brigen Recht unterscheiden. Weil das o tert und unu È bersichtlich ist, mu È ssen die Rechtsquellen des Verfassungsrechts naÈher dargestellt werden. Ferner werden die GrundsaÈtze fu È r die Interpretation des Verfassungsrechts behandelt. Am Schluss dieses Kapitels stehen Hinweise fu È r das Studium. Ein tieferes VerstaÈndnis fu È r das Verfassungsrecht erschlieût sich freilich erst dann, wenn man seine Regelungen in ihren verfassungstheoretischen Zusammenhang stellt und wenn man seine historische Entwicklung kennt. Daher beginnt dieses Kapitel mit einem Abschnitt u È ber das Wesen des deÈ sterreimokratischen Verfassungsstaats und es wird ganz gerafft auf die Geschichte des o chischen Bundesverfassungsrechts seit 1918 eingegangen.
1. Der demokratische Verfassungsstaat È sterreich ist ein demokratischer Verfassungsstaat. Dieser Staat beruht auf der 1 O grundlegenden Idee, dass die staatliche Machtausu È bung durch eine geschriebene Verfassung begru È ndet (konstituiert) wird und dass jedes staatliche Handeln auf den Willen des Volkes zuru È ckgefu È hrt werden kann. In der neuzeitlichen Staatenwelt hat der Verfassungsstaat seine erste PraÈgung in den amerika- 2 nischen Verfassungen des spaÈten 18. Jahrhunderts und in Frankreich erfahren. Im deutschen und o È sterreichischen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts ist der Verfassungsstaat noch mit dem monarchischen Prinzip eine Verbindung eingegangen; hier ist der demokratische Gedanke erst mit der revolutionaÈren Begru È ndung der Republiken Anfang des 20. Jahrhunderts zum Durchbruch gelangt. Der demokratische Verfassungsstaat wurde nach 1990 auch fu È r die fru È her kommunistischen Staaten Ost- und Mittelosteuropas zu einem Vorbild. Seither bekennen sich alle Staaten Europas zum Modell des demokratischen Verfassungsstaats; auch die EU hat sich den Werten verpflichtet, die diesem Staatenmodell entsprechen, das sind die GrundsaÈtze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit (Art 6 EUV).
1.1. Die Begru È ndung des Verfassungsstaats durch das Recht 1. ZunaÈchst ist der Verfassungsstaat ein Staat, der durch das Recht in seine Form ge- 3 bracht wird. Die im Verfassungsstaat verfasste Staatsmacht ist immer eine rechtlich konstituierte Macht; es gibt in diesem Staat keine Macht, die sich nicht aus dem Recht herleitet, der nicht durch das Recht die Richtung gewiesen und die nicht durch das Recht begrenzt wird. In diesem Sinn ist der Verfassungsstaat schon von seiner Idee her auf das rechtsstaatliche Prinzip hin angelegt, das darauf beruht, dass alle Akte der staatlichen Gewalt im Gesetz und der Verfassung begru È ndet sind.
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Teil I. Grundlagen
4 2. Die Einrichtung des Verfassungsstaats kann in der Regel auf einen Akt einer verfassungsgebenden Gewalt zuru È ckgefu È hrt werden, die man (mit einem Begriff aus der franzo È sischen Verfassungstheorie) als ¹pouvoir constituantª bezeichnet. Diese verfassungsgebende Gewalt ist rechtlich nicht gebunden: Sie gibt dem Staat seine rechtliche Verfassung; mit der erfolgten Verfassungsgebung werden Staatsorgane eingerichtet und richtet sich das weitere Schicksal dieses Staates sodann nach den Regeln der einmal erlassenen Verfassung. Aus dem ¹pouvoir constituantª wird damit der ¹pouvoir constitueª, dh die verfasste Staatsgewalt, deren Handeln sich im Rahmen der geltenden Verfassung bewegen muss. 5 a) Die Besonderheit der staatlichen MachtausuÈbung liegt in dem Umstand begruÈndet, dass dem
modernen Staat das Monopol der physischen Gewaltanwendung zukommt. Staatsmacht ist Herrschaft u È ber Menschen, wobei im Konfliktfall die Entscheidungen des Staates auch gegen den Willen einzelner Widerstrebender durchgesetzt werden. Das ist auch der Grund, warum die Staatsmacht der Begrenzung durch das Recht bedarf, denn im Verfassungsstaat steht das Recht immer u È ber der Macht. Auûerhalb der rechtlich verfassten Staatsgewalt stehende wirtschaftliche oder politische Macht (etwa von einflussreichen Wirtschaftsunternehmen, von politischen Parteien oder von Interessenvertretungen) ist damit natu È rlich nicht ausgeschlossen; sie kann aber nicht dem Staat zugerechnet werden, sondern muss ihrerseits durch den Staat kontrolliert und begrenzt werden.
6 b) Die BegruÈndung des Verfassungsstaats durch den ¹pouvoir constituantª laÈsst sich in vielen
FaÈllen auf einen revolutionaÈren Akt zuru È ckfu È hren, dh auf die Etablierung einer Staatsgewalt durch Handlungen, die sich auf der Grundlage einer geltenden Rechtsordnung nicht als rechtÈ sterreichische Republik im Jahr 1918 dadurch maÈûige Akte deuten lassen. So wurde die o begru È ndet, dass die Provisorische Nationalversammlung (ProvNV) einen ¹Beschluss u È ber die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewaltª (StGBl 1) fasste und damit die Staatsgewalt des neuen Staates DeutschoÈsterreich konstituierte. Dabei hat es sich um einen revolutionaÈren Akt gehandelt, weil die als ProvNV zusammengetretenen deutschsprachigen Abgeordneten des seinerzeitigen Reichsrats auf dem Boden der bis dorthin geltenden Verfassung der Monarchie nicht befugt waren einen solchen Beschluss zu fassen und die Republik auszurufen. In diesem Sinn kann man die Abgeordneten der ProvNV als TraÈger der verfassungsgebenden Gewalt (¹pouvoir constituantª) ansehen; durch den erwaÈhnten Beschluss wurde eine erste Verfassungsordnung erlassen, auf deren Grundlage weitere Verfassungsakte durch die eingerichteten Verfassungsorgane (den ¹pouvoir constitueª) gesetzt wurden. Jede geltende Verfassungsordnung laÈsst sich auf einen solchen Akt eines ¹pouvoir constituantª zuru È ckfu È hren, der auch als ¹historisch erste Verfassungª bezeichnet werden kann (dazu noch Rz 37).
7 c) Durch einen Akt der Verfassungsgebung begibt sich die verfassungsgebende Gewalt ihrer
È nderunurspru È nglichen ungebundenen Machtfu È lle und wird zur verfassten Gewalt. Weitere A gen der Verfassung sind dann rechtmaÈûig nur mehr in dem verfassungsrechtlich vorgesehenen Verfahren der VerfassungsaÈnderung moÈglich. Wenn dieses Verfahren nicht eingehalten wird und es zu einem Verfassungsbruch kommt, bedeutet das Ð wenn sich in der Folge eine neue È sterreich Staatsgewalt etabliert Ð eine neuerliche Revolution. In diesem Sinn haben zB in O die Ereignisse der Jahre 1933/34 zur revolutionaÈren Neubegru È ndung einer autoritaÈren Staatsgewalt gefu È hrt, die durch die staÈndisch-autoritaÈre Verfassung von 1934 verfasst wurde. Um einen revolutionaÈren Akt hat es sich dabei gehandelt, weil die staÈndestaatliche Verfassung nicht auf der Grundlage der bis dorthin geltenden Verfassungsordnung des B-VG von 1920, sondern durch einen Verfassungsbruch erzeugt worden war.
8 3. Der Staat ist auch eine politische Gemeinschaft und die Ausu È bung der Staatsmacht auch eine Frage der politischen Macht, um die nach politischen Spielregeln gerungen und die nach politischen ErwaÈgungen ausgeu È bt wird. Daher kann der Staat nicht nur auf die Verfassungsrechtsordnung reduziert werden. Die Verfassung gibt diesem freien politischen Prozess nur einen Rahmen und sie gibt ihm gewisse grundlegende Ziele vor. Innerhalb dieser Grenzen ist die Politik zu eigenstaÈndigem Handeln befugt. So kann die an der Regierung befindliche politische Partei etwa die Wirtschafts- oder Sozialpolitik nach ihren eigenen rechtspolitischen Vorstellungen gestalten (zB eine staÈrker marktwirtschaftlich ausgerichtete Wirtschaftspolitik
1. Kapitel: Verfassung und Verfassungsrecht
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betreiben, das Pensionssystem umgestalten oder die Arbeitnehmermitbestimmung ausbauen oder einschraÈnken usw); sie muss dabei freilich die verfassungsrechtlichen Regeln u È ber den parlamentarischen Weg der Gesetzgebung beachten, sie muss der Opposition im Nationalrat Rede und Antwort stehen, die politische und rechtliche Verantwortung fu È r ihr Handeln u È bernehmen und sie muss die Grundrechte und alle anderen verfassungsrechtlichen Bestimmungen respektieren, die dem freien politischen Handeln gewisse Grenzen setzen. Daher ist das VerhaÈltnis zwischen der auf Machtbegrenzung und Kontrolle angelegten Verfassungsordnung und dem freien politischen Prozess naturgemaÈû spannungsreich. Die politischen Parteien sind in erster Linie am Machterwerb und an der Machterhaltung interessiert, waÈhrend die Verfassung sicherstellen muss, dass diese Macht nur in den Grenzen des Rechts ausgeu È bt wird, dass sie kontrolliert wird und dass auch die politischen Minderheiten die gleiche Chance haben, an die Macht zu gelangen. Andererseits darf das Verfassungsrecht die freie politische Gestaltung nicht u È bermaÈûig beengen, weil das den demokratischen Prozess einschraÈnken wu È rde, der letztlich darauf beruht, dass der politischen Mehrheit jedenfalls fu È r einen gewissen Zeitraum das Mandat zur politischen Gestaltung der Gesellschaft u È bertragen ist. 4. Ob die Politik die ihr gesetzten verfassungsrechtlichen Grenzen respektiert, ist auch eine 9 Frage der gelebten Verfassungskultur. Sie setzt den Willen aller Beteiligten voraus, das Verfassungsrecht nicht nur als eine laÈstige Fessel, sondern als notwendige Grundlage einer demokraÈ sterreich nicht immer erkennbar. tischen Gesellschaft zu akzeptieren. Diese Bereitschaft ist in O Deutlich wird das nicht nur in den FaÈllen, in denen sich die politischen Parteien oder einzelne Politiker mehr oder weniger bewusst u È ber verfassungsrechtliche Schranken hinwegsetzen. Die geringe Akzeptanz der Verfassung zeigt sich auch in dem leichtfertigen Umgang mit dem Verfassungsrecht, das sehr schnell an das politisch Gewu È nschte angepasst wird, wenn sich dafu È r eine entsprechende Mehrheit im Parlament finden laÈsst. Die schwache Verankerung der È sterreicher, also das wenig ausgepraÈgte VerfassungsbeVerfassung im Bewusstsein der O È sterreichs nicht imwusstsein, traÈgt mit dazu bei, dass der Verfassung im politischen System O mer der in einem demokratischen Verfassungsstaat angemessene Stellenwert zukommt.
È chstes Recht 1.2. Die Verfassungsrechtsordnung als rangho 1. Wenn gesagt worden ist, dass der Verfassungsstaat durch das Recht konstituiert 10 wird, bedarf diese Aussage noch einer weiteren PraÈzisierung: Der Verfassungsstaat wird naÈmlich nicht durch beliebige Rechtsnormen begru È ndet, sondern durch Rechtsvorschriften, die im Stufenbau der Rechtsordnung an rangho È chster Stelle stehen. In diesem Sinn kann man sagen, dass der Verfassungsstaat die Existenz von Verfassungsrecht voraussetzt, dh einer Rechtsschicht, die den hoÈchsten Rang gegenu È ber den sonstigen Rechtsnormen beansprucht. Durch das im Stufenbau der Rechtsordnung an hoÈchster Stelle stehende Verfas- 11 sungsrecht wird dem Staat eine verbindliche rechtliche Grundordnung gegeben: Verfassungsrecht kann in allen Verfassungsstaaten nur in einem gegenu È ber dem sonstigen Gesetzesrecht erschwerten Verfahren abgeaÈndert werden (im Fall des o È sterreichischen Verfassungsrechts etwa durch das Erfordernis einer 2/3-Mehrheit im Nationalrat; dazu unten Rz 65); dadurch ist sichergestellt, dass den grundsaÈtzlichen Regeln und Bedingungen des staatlichen Zusammenlebens eine gewisse Bestandskraft zukommt und dass sie nur durch das Votum einer qualifizierten Mehrheit veraÈndert werden koÈnnen. Obwohl der Verfassungsstaat nicht zwingend eine Verfassungsurkunde voraussetzt, ist es heute auûerdem u È blich, dass die verfassungsrechtlichen Normen in einer geschriebenen Verfassung zusammengefasst werden. Im È sterreichs ist das geschriebene Verfassungsrecht freilich auf eine kaum mehr Fall O u È berblickbare Vielzahl von Rechtstexten verteilt (vgl Rz 71 ff).
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Teil I. Grundlagen
12 2. Der Existenz eines dem u È brigen Recht vorgeordneten Verfassungsrechts kommt in verschiedener Hinsicht Bedeutung zu. ZunaÈchst wird dadurch sicher gestellt, dass die Ausu È bung der Staatsmacht berechenbaren und verlaÈsslichen Regeln unterworfen wird und dass diese ¹Spielregelnª nicht von denjenigen politischen Parteien ohne weiteres veraÈndert werden koÈnnen, die gerade an der Macht sind. Insofern schu È tzt das Verfassungsrecht die politischen Minderheiten, in erster Linie die jeweilige Opposition, vor dem Machtanspruch der Mehrheit und sichert ihnen die gleichen Chancen beim Ringen um einen Anteil an der Ausu È bung der Staatsgewalt. Im Verfassungsrecht finden aber auch die grundlegenden Werte und Ziele der staatlich verfassten Gemeinschaft ihren Ausdruck. Das gilt vor allem fu È r die verfassungsrechtlichen Staatszielbestimmungen und die in den Grundrechten verankerten Werte. 13 3. Die Geltung des Verfassungsrechts als ranghoÈchstes Recht wird durch das EuropaÈische Gemeinschaftsrecht relativiert. Diesem Recht, das neben den innerstaatlichen Rechtsvorschriften in den Mitgliedstaaten der EU in Geltung steht, kommt naÈmlich ein Anwendungsvorrang zu, dh dass es entgegenstehende (widersprechende) nationale Rechtsvorschriften verdraÈngt (vgl Rz 336 ff). Dieser Anwendungsvorrang kommt auch gegenu È ber dem Verfassungsrecht zum Tragen. Darin liegt eine einschneidende EinschraÈnkung der nationalen SouveraÈnitaÈt als Folge der È sterreichs bedurfte sie als GesamtaÈnderung der europaÈischen Integration. Im Fall O o È sterreichischen Verfassung einer Legitimierung durch eine Volksabstimmung. Daher kann das nationale Verfassungsrecht nur mehr insoweit als ¹rangho È chstes Rechtª angesehen werden, als es nicht durch das Gemeinschaftsrecht verdraÈngt wird. 14 4. Die Eigenschaft des Verfassungsrechts, die ranghoÈchste Rechtsschicht zu bilden, kann theo-
retisch mit dem Modell des Stufenbaus der Rechtsordnung erklaÈrt werden, das von dem oÈsterreichischen Rechtsgelehrten Adolf Julius Merkl (1890±1980) entwickelt wurde. Danach stehen in einer entwickelten Rechtsordnung die verschiedenen Rechtsnormen in einem Bedingungszusammenhang, wobei das hoÈherrangige Recht dadurch charakterisiert ist, dass es die Erzeugungsbedingungen fu È r das im Stufenbau rangniedrigere Recht enthaÈlt. Dieses enthaÈlt wiederum die Erzeugungsbedingungen fu È r die ihm nachgeordneten Rechtsvorschriften. Die Erlassung eines (einfachen) Bundesgesetzes ist zB durch verschiedene Regelungen des Bundesverfassungsrechts determiniert, weil im Verfassungsrecht geregelt ist, welches Organ Bundesgesetze erlaÈsst, welches Verfahren dabei einzuhalten ist und dass derartige Gesetze nicht gegen die Grundrechte verstoûen du È rfen. Insofern kann man sagen, dass das Bundesverfassungsrecht die Rechtserzeugungsbedingungen fu È r Bundesgesetze enthaÈlt; die Bundesverfassung ist eine bedingende Norm, das Bundesgesetz die bedingte Norm, die daher im Stufenbau der Rechtsordnung der Bundesverfassung nachgeordnet ist. Wenn man die Verfassung auch als die ¹Norm der Normenª bezeichnet, wird derselbe Sachverhalt bildhaft umschrieben.
15 Wegen dieses Bedingungszusammenhangs ist die Erlassung eines Bundesgesetzes daher einer-
seits ein Akt der Rechtsanwendung (es werden die verfassungsrechtlichen Erzeugungsbedingungen angewendet), anderseits auch ein Akt der Rechtsetzung (weil neues Recht erzeugt wird). In Èahnlicher Weise gibt es BedingungsverhaÈltnisse auch zwischen den anderen Rechtsstufen im Stufenbau der Rechtsordnung, also etwa im VerhaÈltnis Gesetz Ð Verordnung, Verordnung Ð Bescheid/Urteil. Mit dem Stufenbau der Rechtsordnung ist eine fortschreitende Konkretisierung des Rechts verbunden, bis hin zu der untersten Schicht, bei der das rechtlich im Einzelfall Gebotene, das in der Regel durch ein Urteil oder einen Bescheid angeordnet wird, durch einen Vollzugsakt in die Wirklichkeit umgesetzt wird (zB durch Exekution einer Geldforderung, Vollzug einer GefaÈngnisstrafe, Abbruch eines Schwarzbaus ...). Der vorstehend geschilderte Zusammenhang wird als Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit bezeichnet. Daneben gibt es noch einen Stufenbau nach der derogatorischen Kraft, der beschreibt, wie Rechtsnormen durch hoÈherrangige Normen vernichtet werden koÈnnen (zur Derogation vgl Rz 482 ff). Die folgende Graphik stellt den Stufenbau der Rechtsordnung schematisch vereinfacht dar; gewisse Schichten Ð wie etwa die Landesverfassungen und die LandesÈ bersichtlichkeit halber nicht gesondert ausgewiesen: gesetze Ð sind der U
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1. Kapitel: Verfassung und Verfassungsrecht
Der (innerstaatliche) Stufenbau der Rechtsordnung Grundprinzipien Bundesverfassungsrecht Gesetze Verordnungen Individuelle Verwaltungsakte
Urteile
Vollzugsakte
1.3. Die demokratische Begru È ndung des Verfassungsstaats 1. Die Konstituierung des Staates als Verfassungsstaat laÈsst zunaÈchst die entschei- 16 dende Frage noch offen, wer TraÈger der staatlichen Herrschaft ist. So ist der Verfassungsstaat theoretisch und historisch auch als Monarchie denkbar, wofu È r etwa die konstitutionellen Monarchien des 19. Jahrhunderts als Beispiel dienen koÈnnen (zB die auf der Grundlage der Staatsgrundgesetze des Jahres 1867 eingerichtete Habsburgermonarchie). Mit dem Durchbruch der Demokratie nimmt der Verfassungsstaat das Prinzip der VolkssouveraÈnitaÈt in sich auf und wird damit zum demokratischen Verfassungsstaat. 2. Im demokratischen Verfassungsstaat muss jede staatliche Machtausu È bung direkt 17 oder indirekt auf den Willen des Volkes zuru È ckgefu È hrt werden koÈnnen und dadurch legitimiert sein, wobei in der Regel der Wille der Mehrheit oder einer qualifizierten Mehrheit des Volkes den Ausschlag gibt. Diese ¹Volksherrschaftª darf freilich nicht ohne weiteres mit dem Willen einer faktischen Mehrheit gleichgesetzt werden, wie sie sich etwa in einer demoskopischen Umfrage als ¹Volkswilleª Èauûert. Denn im Verfassungsstaat ist auch die demokratische Selbstbestimmung des Volkes in die verfassungsrechtlichen Regeln der staatlichen Willensbildung eingebunden. È uûerungen des Volkswillens, Staatsrechtlich bedeutsam sind grundsaÈtzlich nur jene A die in den verfassungsrechtlich vorgesehenen Formen (zB Wahlen oder Volksabstimmungen) in Erscheinung treten; auch der Wille der demokratischen Mehrheit kann durch bestimmte verfassungsrechtliche Regeln (vor allem die Grundrechte) begrenzt sein. Auf das demokratische Prinzip wird weiter unten nochmals genauer eingegangen (vgl Rz 123 ff).
1.4. Freiheit, Gerechtigkeit und SolidaritaÈt Es wurde schon gesagt, dass der demokratische Verfassungsstaat eng mit dem Prin- 18 zip des Rechtsstaats verbunden ist, weil er durch das Recht verfasst wird und weil die Staatsgewalt nur in den Grenzen des Rechts ausgeu È bt werden darf. Die modernen Verfassungsstaaten bekennen sich in der Regel auch noch zu weiteren gemeinsamen Grundwerten, die sehr oft verfassungsrechtlich verankert sind und dem staatlichen Handeln bestimmte Ziele und GrundsaÈtze vorgeben. Welche Werte das sind, kann natu È rlich nur auf der Grundlage einer ganz bestimmten 19 Verfassungsrechtsordnung festgestellt werden. Die Rechtsvergleichung zeigt aber, dass es die Werte der Freiheit, Gerechtigkeit und SolidaritaÈt sind, die als Grundwerte demokratischer Verfassungsstaaten in der einen oder anderen Form und in unterschiedlichen Formulierungen ausgepraÈgt sind. Sie finden sich vor allem in den Grundrechtskatalogen der Verfassungen und in verfassungsrechtlichen Staatszielbe-
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Teil I. Grundlagen
stimmungen. Den gemeinsamen Nenner dieser Grundwerte stellt das Prinzip der Menschenwu È rde dar, in dem sich letztlich der Gedanke ausdru È ckt, dass der Staat um des Menschen willen da ist und nicht umgekehrt. 20 a) Das Prinzip der Freiheit des Einzelnen druÈckt sich vor allem in den Grundfreiheiten und
Menschenrechten aus, die eine SphaÈre der individuellen Selbstbestimmung schu È tzen (zB der Schutz der persoÈnlichen Freiheit, der Meinungsfreiheit oder der Freiheit der beruflichen BetaÈtigung). Der Wert der Gerechtigkeit als letztes Ziel einer staatlichen Rechtsordnung kommt verfassungsrechtlich meist im Grundrecht auf Gleichheit vor dem Gesetz (Gleichheitsgrundsatz) zum Ausdruck. Zu dem Prinzip der SolidaritaÈt bekennen sich jene Verfassungen, die etwa soziale Grundrechte verankert haben oder die den Staat auf die GrundsaÈtze eines Sozialstaats verpflichten. Eine derartige GewaÈhrleistung findet sich freilich im o È sterreichischen Verfassungsrecht nicht.
21 b) Dass die Werte der Gerechtigkeit, Freiheit und SolidaritaÈt auch die Grundwerte der in der
EU zusammengefassten europaÈischen Staatenwelt sind und dass diese Werte im Prinzip der Menschenwu È rde gipfeln, verdeutlicht beispielhaft die EuropaÈische Grundrechtscharta (dazu Rz 1186).
1.5. Staat und Gesellschaft 22 Der demokratische Verfassungsstaat ist die Organisationsform einer auf Freiheit angelegten Gesellschaft. Gesellschaft und Staat sind nicht identisch. Als Gesellschaft bezeichnen wir die Formen menschlichen Zusammenlebens, die durch autonome Regeln und Institutionen zusammengehalten werden. Familien, Vereine, die verschiedenen InteressenverbaÈnde, das auf einer marktwirtschaftlichen Ordnung beruhende Wirtschaftssystem, das Kulturleben, die Wissenschaftsorganisationen usw sind solche gesellschaftlichen Systeme, in denen sich der Einzelne als geselliges, auf Gemeinschaft angewiesenes Wesen entfalten kann. Im Prinzip beruht das Zusammenleben in der Gesellschaft auf dem Grundsatz der Freiheit: Die Menschen verkehren im Rahmen von gesellschaftlichen Konventionen und sie schlieûen auf freier Willensu È bereinstimmung beruhende, privatautonome Vereinbarungen zur Gestaltung ihrer VerhaÈltnisse ab. Der Staat und das staatliche Recht bilden demgegenu È ber eine auf Fremdbestimmung angelegte heteronome Ordnung, die letztlich mit Zwangsgewalt durchgesetzt werden kann. Sie gibt der Gesellschaft die noÈtige Èauûere Ordnung, sichert den Frieden und die Rechtssicherheit und sorgt fu È r die Begrenzung der gesellschaftlichen Macht und den sozialen Ausgleich, damit letztlich die Werte der Freiheit, Gleichheit und SolidaritaÈt, von denen schon die Rede war, gesichert werden koÈnnen. 23 Gesellschaft und Staat beruhen daher auf unterschiedlichen Ordnungsprinzipien: Der gesellschaftlichen Freiheit und Selbstbestimmung steht die staatliche Ordnungsgewalt gegenu È ber, der sich der Einzelne auch ohne seine Zustimmung unterordnen muss. Im Interesse der gesellschaftlichen Freiheit ist die Aufrechterhaltung dieser Unterscheidung von Staat und Gesellschaft wesentlich. Sie zu sichern ist eine der Funktionen der Grundrechte, die, wenn sie etwa ein freiheitliches Geistesleben, politischen Pluralismus oder wirtschaftliche Freiheit grundrechtlich garantieren, wesentliche Elemente einer freiheitlichen Gesellschaft gewaÈhrleisten. Andererseits bedarf es Regeln fu È r die Ausu È bung der staatlichen Macht, wie sie ebenfalls durch die Verfassung bereitgestellt werden und die etwa fu È r demokratische Wahlen oder die Verantwortlichkeit der Regierenden sorgen. 24 Die Unterscheidung von Gesellschaft und Staat ist wichtig, aber sie bedeutet nicht, dass der
Staat der ¹ganz andereª ist und der Gesellschaft fremd gegenu È bertritt. Dies konnte man vielleicht noch in der Monarchie annehmen. In ihr war die Staatsgewalt, verkoÈrpert durch den Monarchen und seine Bu È rokratie, der bu È rgerlichen Gesellschaft der Untertanen herrschaftlich u È bergeordnet und sie bestand auf diese Weise aus sich selbst heraus. Der Staat der Demokratie
1. Kapitel: Verfassung und Verfassungsrecht
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ist dagegen nichts anderes als die verfasste Gesellschaft, die sich rechtlich organisiert, um unerlaÈssliche Aufgaben der politischen Gemeinschaft zu besorgen. In diesem Sinn kann der demokratische Verfassungsstaat als die rechtliche Rahmenordnung der ¹civil societyª angesehen werden.
1.6. Die Zukunft des demokratischen Verfassungsstaats Der demokratische Verfassungsstaat hat sich als rechtlicher Rahmen fu È r die Entwick- 25 lung einer Gesellschaft bewaÈhrt, die auf den Prinzipien der politischen Freiheit, der Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs beruht. Grundlegende politische Alternativen zu einer solchen Verfassungsordnung der Freiheit sind nicht ersichtlich, unbeschadet des Umstands, dass einzelne verfassungsrechtliche Einrichtungen und Regelungen reformbedu È rftig sein koÈnnen. Auch im Fall des oÈsterreichischen Verfassungsrechts gibt es keine Zweifel, dass wesentliche Reformen u È berfaÈllig sind (vgl Rz 52 ff). Trotz seiner BewaÈhrung in der Geschichte steht der demokratische Verfassungsstaat heute vor 26 neuen Herausforderungen. Die groûen sozialen Probleme der Gegenwart ± die grenzu È berschreitenden Umweltbelastungen, die ungleiche Verteilung des Wohlstands in der Welt oder der internationale Terrorismus ± lassen sich im Rahmen der nationalstaatlichen Politik nicht mehr loÈsen. Angesichts der Globalisierung der Wirtschaft und der damit zusammenhaÈngenden Macht der groûen Konzerne werden Grenzen der staatlichen SteuerungsfaÈhigkeit sichtbar. In wichtigen Politikfeldern haben sich die Schwerpunkte der politischen Gestaltung auf die europaÈische Ebene verlagert. Innerstaatlich schlaÈgt sich das in einer EinschraÈnkung der politischen Handlungsspiel- 27 raÈume nieder, zu der auch die budgetaÈren ZwaÈnge kommen, vor denen der Staat heute steht. Der ¹schlanke Staatª muss versuchen, trotz sichtbar gewordener Grenzen staatlicher GestaltungsmoÈglichkeiten seiner Verantwortung fu È r die Sicherung des Gemeinwohls und des sozialen Ausgleichs nachzukommen. Zugleich geht es darum, dass die Werte des demokratischen Verfassungsstaats auch im Rahmen der groÈûeren politischen Handlungsfelder, vor allem auch im Bereich der EU, gesichert werden. Darin liegt die Bedeutung der Konstitutionalisierung Europas, der durch den Reformvertrag von Lissabon eine Richtung gewiesen werden sollte (vgl Rz 295 ff). In diesem Rahmen wird daru È ber entschieden, ob sich eine demokratische Mitbestimmung der Bu È rgerinnen und Bu È rger auch auf der europaÈischen Ebene realisieren laÈsst und ob es gelingt, die Werte der Freiheit, Gerechtigkeit und SolidaritaÈt auch in diesem Bezugsfeld zu garantieren. Ob dieser Weg letztlich zu einer bundesstaatlichen Ordnung Europas fu È hren wird oder ob die Gestaltung der europaÈischen Politik auch in der Zukunft staÈrker nationalstaatlich vermittelt bleibt, ist eine offene Frage.
È sterreichischen 2. Eine kurze Geschichte des o Bundesverfassungsrechts In diesem Lehrbuch kann keine umfassende Darstellung der o È sterreichischen Verfassungsgeschichte gegeben werden. Im Folgenden werden nur die wichtigsten Eckpunkte der modernen Verfassungsgeschichte seit 1918 skizziert, deren Kenntnis fu È r das VerstaÈndnis des geltenden Verfassungsrechts unerlaÈsslich ist. Fu È r die Einzelheiten muss auf die einschlaÈgige Literatur verwiesen werden.
2.1. Die Entstehung des B-VG 1. Keine Verfassung entsteht voraussetzungslos und so sind auch in das im Jahr 1920 28 erlassene Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) viele Institutionen und Regelungen der vorangegangenen Verfassung aufgenommen worden. Dabei hat es sich um die VerÈ sterreichischen ReichshaÈlfte der o È sterreichisch-ungarischen fassung der o Monarchie gehandelt. Diese Verfassung, die im Jahr 1867 als so genannte ¹Dezem-
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Teil I. Grundlagen
berverfassungª geschaffen worden war und die sich aus fu È nf verschiedenen Staatsgrundgesetzen zusammensetzte, stellte die typische Verfassungsordnung einer konstitutionellen Monarchie dar. È sterreich nach der gescheiterten bu 29 Anders als im Absolutismus, der sich in O È rgerlichen Revo-
lution von 1848/49 noch bis 1861 halten konnte, ist in einer konstitutionellen Monarchie die Macht des Monarchen mehrfach beschraÈnkt: Zwar ist der Monarch (wie in einer absoluten È chsten Staatsgewalt, doch kann er diese nur auf der Grundlage eiMonarchie) TraÈger der ho ner Verfassung ausu È ben (daher konstitutionelle Monarchie) und unterliegt dabei bestimmten verfassungsrechtlich festgelegten Schranken: Bei der Erlassung von Gesetzen braucht der Monarch die Zustimmung der im Parlament (Reichsrat) versammelten Volksvertretung, die vom Monarchen ernannte Regierung ist gegenu È ber dem Parlament rechtlich verantwortlich und die Akte der Staatsgewalt werden durch unabhaÈngige Gerichte (Verwaltungsgerichtshof, Reichsgericht) kontrolliert. Auch ein Grundrechtskatalog ist fu È r eine konstitutionelle Verfassung bereits typisch. Die Verfassungsordnung der konstitutionellen Monarchie beruhte daher auf einem SpannungsverhaÈltnis zwischen dem Monarchen und seiner Bu È rokratie auf der einen und der gewaÈhlten Volksvertretung auf der anderen Seite. Nicht wenige Institutionen auch noch des geltenden Verfassungsrechts sind auf dieses SpannungsverhaÈltnis zugeschnitten und nur vor diesem Hintergrund verstaÈndlich, wie zB die ImmunitaÈt der Abgeordneten, die diese vor der Verfolgung durch die Polizei des Monarchen schu È tzen sollte. Unter den gewandelten Gegebenheiten einer parteienstaatlichen Demokratie, in der die Regierung politisch mit der Mehrheit im Parlament verbunden ist, haben solche u È berkommenen Regelungen zum Teil ihren Sinn verloren.
30 2. Die Dezemberverfassung 1867 stand bis zum Ende der Monarchie in Kraft. Nach deren Zerfall und der voru È bergehenden Geltung einer provisorischen Verfassung wurde mit dem Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) vom 1. Oktober 1920 die erste È sterreichs beschlossen, die bis heute in Geltung steht. demokratische Verfassung O Das B-VG wurde von der Konstituierenden (dh verfassungsgebenden) Nationalversammlung erlassen; es war das Ergebnis eines mu È hsam errungenen Kompromisses zwischen den verschiedenen politischen Lagern (Christlichsoziale Partei, Sozialdemokratische Partei, Groûdeutsche Partei), wobei in einigen wesentlichen Fragen keine Einigung erzielt werden konnte und daher vorerst nur provisorische Regelungen geschaffen wurden, die freilich zum Teil sehr lange Zeit wirksam waren. Die entscheidenden legistischen Arbeiten an der neuen Verfassung wurden, basierend auf Entwu È rfen der politischen Parteien und dem Ergebnis von LaÈnderkonferenzen, in einem Unterausschuss des Verfassungsausschusses geleistet. Der beru È sterreiÈ hmte o chische Rechtswissenschaftler Hans Kelsen (1881±1973), der als Beamter der Staatskanzlei beigezogen wurde, hatte wesentlichen Anteil an der Formulierung des B-VG, das in seiner Ursprungsfassung im BGBl 1920/1 kundgemacht wurde. 31 Das Ende der Monarchie wurde durch die Proklamation der Republik herbeigefuÈhrt. Sie ging
von der Provisorischen Nationalversammlung aus, die am 30.10.1918 die oberste Gewalt im Staate ¹Deutscho È sterreichª an sich zog und am 12.11.1918 in dem Gesetz u È ber die Staatsund Regierungsform feierlich die Republik proklamierte (zur ProvNV vgl auch oben Rz 6). Mit der Fu È hrung der RegierungsgeschaÈfte wurden ein Staatsrat und eine Staatsregierung betraut. Aus den in der Folge ausgeschriebenen demokratischen Wahlen, an denen sich zum ersten Mal auch die Frauen beteiligen durften, ging die Konstituierende NV hervor. Die Arbeiten an einer neuen Verfassung wurden zunaÈchst durch die laufenden Friedensverhandlungen mit den SiegermaÈchten des 1. Weltkriegs verzo Ègert, die mit dem Staatsvertrag von St. Germain 1919 abgeschlossen wurden, der unter anderem ein Verbot des urspru È nglich beabsichtigten Anschlusses an Deutschland brachte. Deshalb wurde der neue Staat von ¹Deutscho È sterreichª È sterreichª umbenannt. Politische Streitigkeiten verzo in ¹O Ègerten die Arbeiten an der neuen Verfassung weiterhin. Umstritten waren vor allem die Frage nach der foÈderalistischen oder zenÈ sterreichs, ferner bestimmte politisch sensible Grundrechte und das tralistischen Gliederung O Schulwesen. Auch im Hinblick auf die Kompetenzverteilung und das Gemeindeverfassungsrecht konnte zunaÈchst kein Kompromiss gefunden werden, so dass man es auch nach dem In-Kraft-Treten des B-VG vorlaÈufig bei den bisherigen Regelungen belieû.
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2.2. Die Verfassungsentwicklung in der 1. Republik 1. Die Verfassungsentwicklung bis zum Jahr 1938 stand unter den Vorzeichen wirt- 32 schaftlicher und politischer Krisen und des unversoÈhnlichen Kampfes zwischen dem sozialistischen und dem bu È rgerlichen Lager, der bis zum Bu È rgerkrieg fu È hrte. Zwei wichtige Verfassungsnovellen sind aus dieser Zeit hervorzuheben. Durch die B-VG-Novelle 1925 wurden die Kompetenzverteilungsregeln des B-VG in Kraft gesetzt; daher gilt der 1. Oktober 1925 fu È r die meisten KompetenztatbestaÈnde als ¹Versteinerungszeitpunktª, was fu È r ihre Interpretation wichtig ist (vgl Rz 429 ff). Weitreichender war die B-VG-Novelle 1929, die schon im Schatten der zunehmenden politischen Polarisierung stand und von einer deutlichen Tendenz gegen die ¹Parlamentsherrschaftª gepraÈgt war: Durch diese Novelle wurde das bisher rein parlamentarische Regierungssystem mit einer Vorherrschaft des Parlaments in ein parlamentarisch-praÈsidiales Regierungssystem umgewandelt, das durch eine staÈrkere Stellung der Exekutive gekennzeichnet ist. Dem entsprach auch ein Ausbau der Kompetenzen des BundespraÈsidenten durch die Novelle 1929 (zB Recht zur Ernennung der Regierung und zur Auflo È sung des Parlaments) und die Einfu È hrung der Wahl des BPraÈs durch eine direkte Volkswahl. GestaÈrkt wurden auch die Befugnisse des Bundes im Bereich der Sicherheitspolizei. Den Ausbruch des Bu È rgerkriegs hat auch diese Novelle nicht mehr verhindern koÈnnen, weil die antiparlamentarischen KraÈfte bereits zu stark waren.
2. Politisch wurde die Regierung vom staÈndisch-autoritaÈren Lager dominiert. Im Jahr 33 1933 nutzte die Regierung unter Dollfuû eine SchwaÈche des Parlaments (es war am 4.3.1933 nach Abstimmungspannen zu einem Ru È cktritt aller NR-PraÈsidenten und damit zu einer voru È bergehenden LaÈhmung der parlamentarischen Arbeit gekommen) dazu den NR aufzuloÈsen, was mit einem Hinweis auf dessen ¹Selbstausschaltungª verbraÈmt wurde. Ein neuerliches Zusammentreten des NR wurde durch die Androhung von Gewalt verhindert. Nachdem auch der VfGH ausgeschaltet worden war, konnte die Regierung gestu È tzt auf das Kriegswirtschaftliche ErmaÈchtigungsgesetz aus dem Jahr 1917 ohne Parlament regieren. Formal wurde das B-VG durch die von der Regierung (!) erlassene staÈndisch-autoritaÈre Bundesverfassung 1934 durch Verfassungsbruch auûer Kraft gesetzt, die nur mehr eine scheinbare parlamentarische Legitimation erhalten hatte und auch in ihren wesentlichen Teilen nicht durchgefu È hrt wurde. È sterreichs durch das Deutsche Reich im Jahr 1938 wurde 34 3. Nach der Besetzung O È in Osterreich das deutsche Recht eingefu È hrt. Es stand bis zum Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschland in Geltung.
2.3. Die Wiederbegru È ndung der Republik 1. Am Beginn der kontinuierlichen Entwicklung des o È sterreichischen Verfassungs- 35 rechts bis zur Gegenwart steht die UnabhaÈngigkeitserklaÈrung vom 27.4.1945 StGBl 1. Sie wurde von den Fu È hrern der drei antifaschistischen politischen Parteien È VP, SPO È , KPO È ) nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee in Wien erlassen. (O In der UnabhaÈngigkeitserklaÈrung wurde der Anschluss an Deutschland fu È r ¹null È sterund nichtigª erklaÈrt und vor allem festgelegt, dass die demokratische Republik O reich wiederhergestellt und im Geiste der Verfassung von 1920 einzurichten ist. Die Ausu È bung der Staatsmacht wurde einer Provisorischen Staatsregierung u È bertragen. a) Politisch lag darin die wichtige Entscheidung fu È ckkehr zur Bundesverfassung 36 È r eine Ru von 1920 und fu È r die Betonung der KontinuitaÈt zwischen der 1. und der 2. Republik. Die tatÈ sterreichs besaÈchliche Macht der Provisorischen StReg war freilich zunaÈchst auf den Osten O
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schraÈnkt. Erst nach der endgu È ltigen Kapitulation der deutschen Wehrmacht und der Anerkennung der StReg durch die u È brigen Alliierten und die BundeslaÈnder konnte sie ihre AutoritaÈt È sterreichs ausdehnen. auch auf den Rest O
37 b) Man bezeichnet die UnabhaÈngigkeitserklaÈrung auch als die ¹historisch erste Verfassungª:
Damit ist gemeint, dass es sich bei ihr um jenen Rechtsakt handelt, auf den das derzeit geltende Verfassungsrecht zuru È ckgefu È hrt werden kann und der selbst auf eine ¹revolutionaÈreª Weise erlassen wurde. Dass es sich bei der UnabhaÈngigkeitserklaÈrung um einen ¹revolutionaÈren Aktª in einem rechtstheoretischen Sinn gehandelt hat, haÈngt damit zusammen, dass die Urheber der UnabhaÈngigkeitserklaÈrung durch keine geltende Verfassungsnorm dazu ermaÈchÈ sterreichs) zu schaftigt waren, eine neue Verfassungsordnung (die des wiederhergestellten O fen. Seither hat sich das oÈsterreichische Verfassungsrecht ¹kontinuierlichª weiter entwickelt, È sterreichs zur EU weil die weiteren verfassungsrechtlichen Akte Ð bis etwa hin zum Beitritt O Ð jeweils nach den geltenden verfassungsrechtlichen Regelungen fu È r VerfassungsaÈnderungen gesetzt wurden. VerfassungskontinuitaÈt liegt naÈmlich immer dann und solange vor, als sich eine Verfassungsordnung auf eine fru È here stu È tzen kann, weil sie nach den in der geltenden Verfassung festgelegten Regeln erzeugt bzw geaÈndert wird.
38 2. Die weitere auf die Erlassung der UnabhaÈngigkeitserklaÈrung folgende Verfassungsentwicklung vollzog sich auf eine kontinuierliche Art und Weise. Nachdem zunaÈchst noch die Regelungen einer VorlaÈufigen Verfassung gegolten hatten, trat mit dem erstmaligen Zusammentreten des neu gewaÈhlten NR das B-VG am 19.12.1945 wieder in Kraft. Die Wiederinkraftsetzung des B-VG wurde durch das VerfassungsÈ berleitungsG (V-U È G) StGBl 1945/4 angeordnet, das bestimmt hatte, dass das U B-VG 1920 idF von 1929 sowie alle u È brigen BVG und in einfachen BG enthaltenen Verfassungsbestimmungen nach dem Stande der Gesetzgebung vom 5.3.1933 wieder in Geltung treten sollten. 39 a) Wenn es zu einem Bruch der VerfassungskontinuitaÈt kommt Ð wie zuletzt durch die Erlas-
sung der UnabhaÈngigkeitserklaÈrung Ð muss das Verfassungsrecht neuerlich erlassen werÈ G auch das B-VG wieder neuerlich in Geltung gesetzt. U È bergeleitet den. Daher hat das V-U wurde das Verfassungsrecht freilich nur nach dem Stand vom 5.3.1933, dh dass die nach der Ausschaltung des o È sterreichischen NR von der staÈndisch-autoritaÈren Regierung erlassenen VerÈ G wurde von der Provisorischen StReg fassungsnormen nicht u È bernommen wurden. Das V-U als ein Akt der ¹Regierungsgesetzgebungª erlassen, weil der NR noch nicht handlungsfaÈhig war.
40 b) Nach einem Bruch der VerfassungskontinuitaÈt und der revolutionaÈren NeubegruÈndung einer
Rechtsordnung muss auch das u È brige, unterhalb der Verfassungsstufe stehende Recht (etwa das Bu È rgerliche Recht, das Strafrecht, das Gewerberecht usw) neu in Geltung gesetzt werden. Natu È rlich ist es nicht moÈglich, in einer solchen Situation die benoÈtigte riesige Masse an Rechtsstoff u È ber Nacht wirklich neu zu schaffen; daher wird in der Regel das ¹alteª Recht in die neue Rechtsordnung u È bergeleitet, soweit es nicht aus politischen oder anderen Gru È nden nicht mehr fortgelten soll. Diesen Vorgang nennt man Rechtsu È berleitung. Er ist nach jedem È sterreich Rechtsu Bruch der VerfassungskontinuitaÈt erforderlich, daher hat es in O È berleitungsvorgaÈnge auch in den Jahren 1918, 1933/34 und 1938 gegeben. Formal wird das u È bergeleitete Recht allerdings neu in Geltung gesetzt, weil seine Grundlage die neue Verfassungsrechtsordnung ist. Im Folgenden wird der praktisch wichtigste, zeitlich letzte Rechtsu È berleitungsvorgang des Jahres 1945 dargestellt.
È berleitung des Verfassungsrechts durch das schon erwaÈhnte V-U ÈG 41 3. WaÈhrend die U erfolgte, wurde das gesamte u È brige, unterhalb der Verfassung stehende Recht durch È berleitungsG (R-U È G) StGBl 1945/6 u È G wurdas Rechts-U È bergeleitet. Durch das R-U È sterreich erlassenen Gesetze und den alle nach dem 13.3.1938 fu È r die Republik O Verordnungen wieder in Geltung gesetzt, dh u È bergeleitet wurde jener RechtsbeÈ sterreich gegolten hatte; stand, der waÈhrend der Zeit der deutschen Besetzung in O darin waren auch jene Èalteren oÈsterreichischen Rechtsvorschriften eingeschlossen, die Ð wie etwa das ABGB Ð waÈhrend dieser Zeit in Kraft geblieben waren. AusÈ berleitung ausgenommen hat das R-U È G jene Rechtsvorschriften, dru È cklich von der U
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die politisch nicht mehr tragbar waren, vor allem weil sie typisch nationalsozialistisches Gedankengut enthielten (wie zB die NS-Rassengesetze). È G gelten alle jene Gesetze als aufgehoben, die mit dem Bestand eines freien 42 a) Nach § 1 R-U È sterreich oder mit den GrundsaÈtzen einer echten Demokratie unund unabhaÈngigen Staates O vereinbar sind, die dem Rechtsempfinden des o È sterreichischen Volkes widersprechen oder typisches Gedankengut des Nationalsozialismus enthalten. Welche Rechtsvorschriften im Einzelnen davon betroffen waren, hat die StReg (spaÈter: BReg) seinerzeit durch VO festgestellt. b) Jede Rechtsu È berleitung wirft eine Reihe von Einordnungsproblemen auf, weil nicht von 43 vornherein gesagt werden kann, welcher Rang einer aus einer anderen Rechtsordnung stammenden Norm in der neuen Rechtsordnung zukommt und wie sie in den bundesstaatlichen Aufbau einzuordnen ist. Wenn zB eine als ¹Reichsgaragenordnungª bezeichnete und von eiÈ G in das nem deutschen Reichsminister erlassene Rechtsvorschrift auf der Grundlage des R-U oÈsterreichische Recht u È bergeleitet wurde: Gilt diese Norm nunmehr als Gesetz oder (wie die Bezeichnung vermuten lassen ko È nnte) als eine VO? Und gilt diese seinerzeit im deutschen È sterreich als Bundesrecht oder als LandesReich fu È r den Gesamtstaat erlassene Vorschrift in O recht? Zur LoÈsung dieser Frage bedient man sich einer materiellen Einordnungsmethode: Es ist zu fragen, ob eine solche Rechtsvorschrift auf der Grundlage des B-VG als Gesetz oder VO haÈtte erlassen werden mu È ssen und ob sie auf der Grundlage der Kompetenzbestimmungen des B-VG Bundes- oder Landesrecht waÈre. Legt man diese Methode zu Grunde steht fest, dass È sterreich als Landesgesetz gegolten hat die erwaÈhnte Reichsgaragenordnung nach 1945 in O und nur durch den Landesgesetzgeber abgeaÈndert oder aufgehoben werden konnte. Sie stand È brigen bis 2003 im Bundesland Salzburg als Landesgesetz in Geltung. im U
È sterreichische UnabhaÈngigkeit und der Staatsvertrag 2.4. Die o von Wien È sterreich nach dem Ende des 2. Weltkriegs als ein selbstaÈndiger Staat 44 1. Nachdem O wieder hergestellt war, blieb seine SouveraÈnitaÈt noch durch die Vorbehaltsrechte È sterreichische Verfassungsgesetze der alliierten BesatzungsmaÈchte beschraÈnkt. O bedurften der Zustimmung des alliierten Kontrollrats, der auch gegen einfache Gesetze Einspruch erheben und Verwaltungsmaûnahmen aufheben oder abaÈndern konnte. 2. Nach langen erfolglosen Bemu È sterreichi- 45 È hungen um die Wiederherstellung der o schen UnabhaÈngigkeit kam es im Fru È hjahr 1955 zu einem Durchbruch und am 15.5.1955 konnte der Staatsvertrag von Wien abgeschlossen werden. Er stellte È sterreichs wieder her. Eine Reihe seiner Bestimmungen stedie volle SouveraÈnitaÈt O hen im Verfassungsrang. Der Abschluss des Staatsvertrags war durch die im MosÈ sterreichs erleichkauer Memorandum vom April 1955 abgegebene Zusicherung O tert worden, sich als ein dauernd neutraler Staat zu deklarieren. Diese rechtlich freilich nicht bindende Zusage wurde durch das im Verfassungsrang stehende NeutralitaÈtsG vom 26.10.1955 eingeloÈst (dazu noch Rz 211 ff). Von den im Verfassungsrang stehenden Bestimmungen des StV Wien sind als bedeutsam hervorzuheben: Die Verpflichtung zur Beibehaltung einer demokratischen Staatsform (Art 8), das Verbot des Anschlusses an Deutschland (Art 4) und der Ausbau der Rechte der slowenischen und kroatischen Minderheiten (Art 7). È sterreich im Jahr 46 3. Nach der Wiedererlangung der vollen UnabhaÈngigkeit trat O 1958 der EuropaÈischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bei, wobei der Verfassungsrang der Konvention durch ein BVG des Jahres 1964 ru È ckwirkend klargestellt wurde. Damit wurde der Bestand der Grundrechte, die bis dorthin von wenigen Ausnahmen abgesehen immer noch in dem auf die Monarchie zuru È ckgehenden StGG von 1867 verankert waren, durch einen modernen Grundrechtskatalog ergaÈnzt.
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2.5. Weitere wichtige Verfassungsnovellen seit 1955 47 1. Das o È sterreichische Bundesverfassungsrecht wurde in den Jahren seit 1955 immer È nderungen auf vordergru wieder ergaÈnzt und veraÈndert, wobei viele A È ndige politische AnlaÈsse zuru È ckzufu È hren waren oder der Absicherung von politischen Kompromissen dienten. Dadurch wurde das geltende Verfassungsrecht in einer nicht immer sehr systematischen Weise weiter entwickelt und zunehmend unu È bersichtlicher, waÈhrend wirkliche Strukturdefizite ungeloÈst blieben. 48 2. Im Folgenden werden einzelne Verfassungsnovellen angefu È hrt, mit denen weiter reichende und wichtige VeraÈnderungen des Verfassungsbestandes verbunden waren: . Durch B-VG-Novellen des Jahres 1962 wurden endlich die lange Zeit umstrittenen Schulfragen und das Gemeindeverfassungsrecht geregelt. . Eine B-VG-Novelle des Jahres 1974 brachte in Umsetzung eines Forderungsprogramms der BundeslaÈnder eine StaÈrkung des Bundesstaats, nachdem fu È r lange Zeit die foÈderalistischen Strukturen durch Kompetenzverschiebungen von den LaÈndern zum Bund eher geschwaÈcht worden waren. . Ein Ausbau des Rechtsschutzes war mit einer B-VG-Novelle des Jahres 1975 verbunden, vor allem durch die Einfu È hrung des Individualantrags auf Gesetzesund Verordnungspru È fung, der dem einzelnen Bu È rger die MoÈglichkeit gibt, unter gewissen UmstaÈnden Gesetze und Verordnungen unmittelbar beim VfGH anzufechten. . Eine weitere wesentliche Umgestaltung des Rechtsschutzsystems, die im Hinblick auf die in der EMRK u È bernommenen Verpflichtungen (vor allem Art 5, 6 EMRK) erforderlich war, lag in der Einfu È hrung der unabhaÈngigen Verwaltungssenate in den LaÈndern durch eine B-VG-Novelle aus 1988. Weitere unabhaÈngige VerwaltungsbehoÈrden, denen Kontrollaufgaben u È bertragen sind, wurden durch spaÈtere Verfassungsbestimmungen geschaffen (Bundesvergabeamt, unabhaÈngiger Finanzsenat).
È sterreichische Beitritt zur EU 2.6. Der o È sterreichs zur EuropaÈischen Union kam es zu einer umfassen49 Mit dem Beitritt O den und folgenreichen Umgestaltung des gesamten oÈsterreichischen Verfassungsrechts. Wegen der Auswirkungen auf das demokratische, rechtsstaatliche und bundesstaatliche Grundprinzip lief der Beitritt auf eine GesamtaÈnderung der oÈsterreichischen Bundesverfassung iS von Art 44 Abs 3 B-VG hinaus. Er bedurfte daher einer Volksabstimmung, die in der Form durchgefu È sterreichische BeÈ hrt wurde, dass die o È sterreichs zur EuropaÈischen voÈlkerung u È ber den Beitritt O È ber das BVG u Union (Beitritts-BVG) abstimmte und diesem am 12.6.1994 mit rd 67 % der abgegebenen Stimmen seine Zustimmung gab. Durch dieses BVG wurden die zustaÈndigen o È sterreichischen Staatsorgane (BPraÈs auf Vorschlag der BReg) ermaÈchtigt den Beitrittsvertrag abzuschlieûen; nach Art II dieses BVG bedurfte der Beitritt der Genehmigung von NR und BR, wobei die entsprechenden Beschlu È sse jeweils in Anwesenheit von mindestens der HaÈlfte der Mitglieder und einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen zu fassen waren. 50 a) FuÈr den Abschluss des Beitrittsvertrags wurde damit ein besonderes Verfahren gewaÈhlt,
das vom ¹normalenª Staatsvertragsabschlussverfahren (Art 50 B-VG) abweicht. Das hatte mehrere Gru È nde, vor allem war es bei diesem Verfahren nicht noÈtig, die verfassungsaÈndernden Bestimmungen des Beitrittsvertrags ausdru È cklich als ¹verfassungsaÈnderndª zu kennzeichnen, was schwer moÈglich gewesen waÈre. Auûerdem war umstritten, ob das in Art 50 B-VG geregelte Ver-
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fahren auch auf den Abschluss gesamtaÈndernder StaatsvertraÈge anwendbar ist. Fu È r die weiteÈ nderungen der EU-VertraÈge bis 2007 wurde der gleiche Weg einer ausdru ren A È cklichen bundesverfassungsrechtlichen AbschlussermaÈchtigung gewaÈhlt (vgl zB das BVG u È ber den Abschluss des Vertrages von Nizza BGBl I 2001/120). Seit 2008 sieht das B-VG fu È r derartige VertragsaÈnderungen ein eigenes Verfahren vor (Art 50 Abs 1 Z 2 iVm Abs 4 B-VG), das erstmals beim Reformvertrag von Lissabon angewendet wurde (dazu Rz 267 und Rz 304). b) Das demokratische Grundprinzip wurde durch den EU-Beitritt einschneidend beru È hrt, 51 weil durch den Beitritt die oÈsterreichische Rechtsordnung durch eine weitere Rechtsordnung (das Gemeinschaftsrecht) ergaÈnzt wurde und weil die o È sterreichische Rechtsetzung durch die Akte der EU in wesentlichen Bereichen determiniert wird, ohne dass diese in der im B-VG vorgesehenen Art und Weise demokratisch legitimiert sind. Weil das Gemeinschaftsrecht gegenu È ber dem innerstaatlichen Recht einschlieûlich des Verfassungsrechts einen Anwendungsvorrang beansprucht und weil das Gemeinschaftsrecht der Kontrolle durch die o È sterreichischen Gerichte entzogen ist, wurde auch das rechtsstaatliche Prinzip wesentlich veraÈndert. Schlieûlich wurde auch das bundesstaatliche Prinzip dadurch maûgeblich beru È hrt, dass wichtige staatliche Kompetenzen auch aus dem Bereich der LaÈnder auf die EU u È bergegangen sind, die LaÈnder aber an der Willensbildung in der EU nur in ganz begrenztem Umfang beteiligt sind.
2.7. Zur Reformbedu È rftigkeit des Bundesverfassungsrechts 1. Es besteht heute Einigkeit, dass das o È sterreichische Bundesverfassungsrecht in 52 vielfacher Hinsicht reformbedu È rftig ist. Dieser Reformbedarf betrifft nicht nur seine Èauûere zersplitterte Struktur, weil das geltende Verfassungsrecht durch viele È nderungen und durch die zahllosen Verfassungsbestimmungen auûerhalb des A B-VG in einem kaum mehr ertraÈglichen Maû unu È bersichtlich geworden ist (vgl zum ¹ruinoÈsenª Zustand des Bundesverfassungsrechts Rz 77). Auch in inhaltlicher Hinsicht entspricht das geltende Verfassungsrecht in vielen Bereichen nicht mehr den Erfordernissen einer modernen Verfassung. Im Folgenden wird auf einige wichtige Anliegen einer Verfassungsreform hingewiesen: . Bundesstaatsreform: Die Verteilung der Kompetenzen zwischen dem Bund und 53 den LaÈndern ist nicht nur kompliziert und in vielen Bereichen fu È r die Bedu È rfnisse eines modernen Staates unzweckmaÈûig ausgestaltet. Vor allem nach dem Beitritt zur EU und der damit verbundenen Verlagerung wichtiger ZustaÈndigkeiten auf die europaÈische Ebene mu È sste die Kompetenzverteilung vereinfacht werden, um die staatliche SteuerungsfaÈhigkeit zu erhalten und u È berlange bu È rokratische Verfahren zu vermeiden. Mehrere AnlaÈufe zu einer solchen Reform, die auch auf eine StaÈrkung der LaÈnder abgezielt haben, sind bisher gescheitert. Reformbedarf wird auch im Hinblick auf den Bundesrat gesehen, der in der derzeitigen Form nur bedingt geeignet ist, die LaÈnderinteressen bei der Bundesgesetzgebung wirksam zu wahren. . Einfu È hrung einer Landesverwaltungsgerichtsbarkeit: Durch die Einfu È hrung 54 der UVS (vgl Rz 896 ff) sollte den Erfordernissen des Art 6 EMRK nach einer Entscheidung durch unabhaÈngige (gerichtsaÈhnliche) BehoÈrden in bestimmten Verwaltungsangelegenheiten, die civil rights betreffen, Rechnung getragen werden. Diese LoÈsung ist aus mehreren Gru È nden nicht befriedigend, hinzu kommt noch È berlastung des zur gerichtlichen Kontrolle von Verwaltungsakten die chronische U berufenen (zentralen) VwGH. Als Ausweg sieht man die Einrichtung einer zweistufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit mit Verwaltungsgerichten in den BundeslaÈndern an. . Grundrechtsreform: Unbefriedigend erscheint auch der Zustand der Grund- 55 È sterreich, die in ihrem Kern immer noch im StGG des Jahres 1867 rechte in O und damit in einem Grundrechtskatalog geregelt sind, der auf die Monarchie zu-
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ru È ckgeht. Dieser Katalog wurde durch internationale Menschenrechtsdokumente, È bersichtvor allem die im Verfassungsrang stehende EMRK, u È berlagert, was die U lichkeit nicht erhoÈht hat. 56 . Rechtsbereinigung: Schlieûlich waÈre auch eine Èauûere Bereinigung des Verfassungsrechts dringend erforderlich, vor allem im Hinblick auf die vielen auûerhalb des B-VG stehenden Verfassungsbestimmungen. Zur Bereinigung dieser Lage bedu È rfte es einer umfassenden Neukodifikation des Bundesverfassungsrechts.
È sterreich-Konvent 2003/2004 2.8. Der O 57 In diesen und in einigen anderen Bereichen hat es in der Vergangenheit wiederholt einzelne ReformanlaÈufe gegeben, die aber entweder erfolglos waren oder in bescheidenen AnfaÈngen stecken geblieben sind. Durch den im Jahr 2003 eingesetzten È sterreich-Konvent sollte ein neuer Anlauf zu einer Gesamtreform des BundesverO fassungsrechts unternommen werden, wobei dem Konvent ein anspruchsvoller Auftrag zu einer umfassenden Staats- und Verfassungsreform erteilt wurde. Auch dieser Versuch endete zunaÈchst ohne unmittelbar umsetzbares Ergebnis. È sterreich-Konvent setzte sich aus Vertretern der maûgeblichen politischen KraÈfte 58 1. Der O
È sterreichs, RepraÈsentanten wichtiger gesellschaftlicher Gruppen (Sozialpartner), den PraÈsiO denten der HoÈchstgerichte, der VA und des RH sowie unabhaÈngigen Verfassungsexperten zusammen. Er sollte VorschlaÈge fu È r eine grundlegende Staats- und Verfassungsreform ausarbeiten. Die mit Sachverstand und Engagement vorangetriebenen Arbeiten an einer neuen Verfassung wurden sehr bald von politischen Kontroversen u È berlagert. Nur in wenigen Sachbereichen Ð in erster Linie bei den Grundrechten, bei der Schaffung einer Landesverwaltungsgerichtsbarkeit und bei der Frage einer formalen Strukturbereinigung des geltenden Verfassungsrechts Ð gelangte man zu einvernehmlichen VorschlaÈgen. Als maûgeblicher Konfliktpunkt erwies sich, wie schon o È fters in der o È sterreichischen Verfassungsgeschichte, die Gestaltung des Bund-LaÈnder-VerhaÈltnisses. Ein zuletzt vom PraÈsidenten des Konvents vorgelegter Entwurf einer Bundesverfassung wurde von den politischen Parteien, aber auch von den BundeslaÈndern abgelehnt, so dass auch dieser vorerst letzte Anlauf zu einer umfassenden Reform des Bundesverfassungsrechts im Ergebnis gescheitert ist.
59 2. Trotzdem wurde wertvolle Arbeit geleistet. Die Berichte der AusschuÈsse des Konvents bie-
ten eine umfassende Bestandsaufnahme der wesentlichsten verfassungsrechtlichen Probleme È sterreichs und sie ko O È nnen eine Fundgrube fu È r sachgerechte LoÈsungen sein, und zwar auch dort, wo verschiedene Alternativen eroÈrtert wurden. Ku È nnen È nftige Reformbemu È hungen ko auf diese Vorarbeiten zuru È ckgreifen. Der umfassende Endbericht, der auch den erwaÈhnten Verfassungsentwurf und weitere Unterlagen enthaÈlt, wurde im Jahre 2005 dem Nationalrat vorgelegt. Der Endbericht und die Berichte der Ausschu È sse koÈnnen unter www.konvent.gv.at abgerufen werden.
2.9. Verfassungsreformen in ¹kleinen Schrittenª È sterreich-Konvent unternommenen Bemu 60 Nach dem vorlaÈufigen Scheitern der im O Èhungen um eine umfassende Verfassungsreform hat die BReg Anfang 2007 eine kleine, politisch zusammengesetzte Expertengruppe fu È r eine Staats- und Verwaltungsreform eingerichtet und mit der Aufgabe betraut, auf der Grundlage der Beratungen im Konvent VorschlaÈge fu È r Verfassungsreformmaûnahmen auszuarbeiten. Mit einer Ende 2007 beschlossenen B-VG-Novelle und dem Ersten BundesverfassungsrechtsbereinigungsG BGBl I 2008/2 wurde ein erster Schritt gesetzt. In erster Linie wurden hunderte obsolete Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen aufgehoben bzw als nicht mehr geltend festgestellt oder zu einfachem Bundesrecht herabgestuft. Gleichzeitig wurden mehrere verfassungsrechtliche RegelungszusammenhaÈnge grundlegend reformiert, darunter die Bestimmungen u È ber
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weisungsfreie Verwaltungsorgane, u È ber die parlamentarische Genehmigung von StaatsvertraÈgen oder u È ber die nicht-territoriale Selbstverwaltung. Durch die gleiche Novelle wurde der politisch umstrittene Asylgerichtshof eingerichtet. 1. Die ebenfalls von der Expertengruppe vorgeschlagene Einfu È hrung einer Landesverwal- 61 tungsgerichtsbarkeit ist vorerst wiederum verschoben worden. Weitere ausstehende Bausteine der verfassungsrechtlichen Gesamtreform wurden von der Expertengruppe erarbeitet. Sie betrafen in erster Linie die Grundrechte und eine Bundesstaatsreform mit einer Neuordnung der Kompetenzbestimmungen, ohne die es letztlich auch keine zielfu È hrende Reform der oÈsterreichischen Verwaltung geben kann. Im Fru È hjahr 2008 wurde basierend auf einem Vorschlag der Expertengruppe der Entwurf einer weiteren Verfassungsnovelle vorgelegt, der im Wesentlichen eine Reform der Kompetenzverteilung und des Bundesrats umfasst hat (168/ ME 23. GP; dazu auch noch bei Rz 173). Ob die in diesem Rahmen erarbeiteten VorschlaÈge politisch umgesetzt werden, laÈsst sich gegenwaÈrtig nicht abschaÈtzen. 2. LosgeloÈst von diesem Reformprozess wurden 2007 zwei weitere wichtige Verfassungsnovellen beschlossen, naÈmlich eine Wahlrechtsreform (Herabsetzung des Wahlalters, Erleichterung der Briefwahl), die VerlaÈngerung der Legislaturperiode des Nationalrats auf fu È nf Jahre und eine Reform des Haushaltsrechts des Bundes, die eine mehrjaÈhrige Budgetplanung moÈglich macht (BGBl I 2007/27 und BGBl I 2008/1).
3. Das Verfassungsrecht 3.1. Zu den Begriffen Verfassung und Verfassungsrecht 3.1.1. Verfassung als Verfassungsurkunde Der Begriff der Verfassung hat zwei verwandte Bedeutungen. ZunaÈchst kann man als 62 Verfassung das geschriebene Verfassungsdokument bezeichnen, in dem sich alle (oder zumindest die wichtigsten) verfassungsrechtlichen Bestimmungen eines Staates finden. In diesem Sinn kann man zB das Bonner Grundgesetz als die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ansprechen. Weil nun aber nicht notwendigerweise alle Verfassungsbestimmungen in einem einheitlichen Rechtstext zusammengefasst sind, bezeichnet man als Verfassung eines Staates auch die Summe aller verfassungsrechtlichen Rechtsnormen, dh die Gesamtheit jener Normen, die sich vom u È brigen Recht (dem ¹unterverfassungsrechtlichenª Recht) nach bestimmten Merkmalen unterscheiden lassen. È sterreich im B-VG enthalten Weil die wichtigsten Verfassungsbestimmungen fu È r die Republik O sind, kann man dieses Verfassungsgesetz als ¹dieª o È sterreichische Verfassung (gleichsam als die ¹Stammverfassungª) ansehen. Dabei darf man freilich nicht u È sterreichiÈ bersehen, dass das o sche Verfassungsrecht (vom B-VG abgesehen) noch u È ber eine Vielzahl von weiteren Rechtsquellen verteilt ist, die ebenfalls zur ¹Verfassungª gehoÈren (dazu noch Rz 71 ff).
3.1.2. Verfassungsrecht im materiellen und formellen Sinn Die Besonderheit des Verfassungsrechts kann in unterschiedlicher Weise be- 63 stimmt werden, entweder indem man auf bestimmte Inhalte abstellt oder auf die Form seiner Erzeugung. Dementsprechend kann man zwischen Verfassungsrecht im materiellen Sinn und Verfassungsrecht im formellen Sinn unterscheiden. 1. Verfassungsrecht im materiellen Sinn liegt vor, wenn es sich um Rechtsnor- 64 men handelt, die von grundlegender Bedeutung fu È r das staatliche Gemeinwesen sind. Dazu geho È ren: Bestimmungen u È ber die Staatsform, u È ber die obersten Staatsorgane (zB Regierung, Parlament) und ihr VerhaÈltnis zueinander, u È ber die Erzeugung von Gesetzen (so genannte Rechtserzeugungsnormen), u È ber die grundlegenden Rechte der Menschen gegenu È ber der Staatsgewalt (Grundrechte), u È ber die Kontrolle
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der Staatsorgane. Derartige Bestimmungen findet man typischerweise in den Verfassungen aller Verfassungsstaaten, wobei sich eine ganz exakte Abgrenzung des Verfassungsrechts im materiellen Sinn freilich nicht vornehmen laÈsst. Verfassungsrecht im materiellen Sinn kann auch in ¹einfachenª Gesetzen enthalten sein. Dazu geho È ren vor allem bestimmte Ausfu È hrungsgesetze zu Bestimmungen des B-VG, wie zB die Nationalratswahlordnung, das GeschaÈftsordnungsG des NR, das VerfassungsgerichtshofG oder das BundesgesetzblattG. Sie zaÈhlen zum materiellen Verfassungsrecht, weil sie von ganz wesentlicher Bedeutung etwa fu È r die Konstituierung eines Verfassungsorgans sind (wie zB die Nationalratswahlordnung) oder weil sie wichtige Regelungen fu È r die Erzeugung von Gesetzen enthalten (wie zB das GeschaÈftsordnungsG oder das BundesgesetzblattG).
65 2. Verfassungsrecht im formellen Sinn ist durch eine bestimmte qualifizierte, dh erschwerte Form der Erzeugung gekennzeichnet, wodurch es sich von ¹einfachenª Gesetzen unterscheidet. Rechtsvergleichend betrachtet gibt es dafu È r verschiedene MoÈglichkeiten: So kann die Erzeugung von Verfassungsgesetzen eigenen Organen (zB einem Verfassungskongress) u È bertragen sein, der Annahme durch das Volk oder È sterreichs gehoÈren zum der Zustimmung von Gliedstaaten bedu È rfen usw. Im Fall O Verfassungsrecht im formellen Sinn die im Verfahren nach Art 44 Abs 1 B-VG erzeugten Verfassungsnormen, das sind jene Gesetze und in einfachen Gesetzen enthaltene Bestimmungen, die . vom NR bei Anwesenheit von mindestens der HaÈlfte der Mitglieder (PraÈsenzquorum 1/2) von einer Mehrheit von zwei Drittel der abgegebenen Stimmen (Konsensquorum 2/3) beschlossen und . ausdru È cklich als ¹Verfassungsgesetzeª oder als ¹Verfassungsbestimmungenª bezeichnet wurden. 66 Beide Bedingungen mu È ssen vorliegen: Politisch relevant ist zunaÈchst die 2/3-Mehrheit, die auch als ¹Verfassungsmehrheitª bezeichnet wird; wenn der NR mit dieser Mehrheit taÈtig wird, kann er als ¹Verfassungsgesetzgeberª handeln. Ob sich eine BReg auf eine solche Mehrheit im NR stu È tzen kann oder nicht, ist von groûer politischer Tragweite, weil davon abhaÈngt, ob Reformen, die mit VerfassungsaÈnderungen verbunden sind, umgesetzt werden koÈnnen oder ob es dazu der Zustimmung der Opposition bedarf. Notwendig ist aber auch die ausdru È ckliche Bezeichnung der beschlossenen Bestimmung als Verfassungsgesetz oder Verfassungsbestimmung (so genannte Bezeichnungspflicht). Ein Gesetz, das mit 2/3-Mehrheit (oder sogar einstimmig) beschlossen wurde, das aber nicht als Verfassungsgesetz (-bestimmung) bezeichnet wurde, ist ein einfaches Gesetz! Der Sinn dieser Bezeichnungspflicht erÈ sterreich nicht nur in eischlieût sich aus dem Umstand, dass Verfassungsrecht in O ner ¹Stammverfassungª, sondern in einer Vielzahl von Rechtsquellen enthalten sein und nur auf diese Weise als Verfassungsrecht erkannt werden kann. 67 3. Von den ¹normalenª Verfassungsgesetzen sind gesamtaÈndernde Verfassungsgesetze (Art 44 Abs 3 B-VG) zu unterscheiden, die zu ihrem Zustandekommen noch einer Volksabstimmung unterworfen werden mu È ssen. Darauf wird noch im Zusammenhang mit der EroÈrterung der GesamtaÈnderung der Verfassung zuru È ckzukommen sein (vgl Rz 111 ff). 68 4. Verfassungsrecht im materiellen und im formellen Sinn muss nicht deckungsgleich sein. So
gibt es Bestimmungen, die wie die schon erwaÈhnte Nationalratswahlordnung (NRWO) von grundlegender Bedeutung fu È r einen demokratischen Staat sind (weil hier die Wahl des Parlaments geregelt ist); trotzdem gilt die NRWO im Rang eines einfachen Bundesgesetzes und kann mit einfacher parlamentarischer Mehrheit abgeaÈndert werden. Die NRWO ist daher Verfassungsrecht im materiellen, aber nicht im formellen Sinn. Andererseits kann der Verfassungsgesetzgeber jedwede Regelung im Rang von Verfassungsrecht erlassen, wenn er mit 2/3-Mehrheit taÈtig wird und eine entsprechende Bezeichnung vornimmt, auch wenn es sich vom Inhalt her betrachtet um keine fu È r den Staat ¹grundlegendeª Bestimmung handelt. So ge-
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hoÈrt zB die verfassungsrechtliche Anordnung, dass der Landesamtsdirektor (der leitende Beamte des Landes) ein Jurist sein muss (so Art 106 B-VG), zwar zum Verfassungsrecht im formellen Sinn, sie gehoÈrt aber von der inhaltlichen Bedeutung her betrachtet nicht zum Verfassungsrecht im materiellen Sinn. Idealerweise ist es freilich sinnvoll, wenn moÈglichst alle Bestimmungen, die von grundlegender Bedeutung fu È r den Staat sind, auch als Verfassungsrecht beschlossen werden, damit sie an der Bestandsgarantie teilhaben, die Verfassungsrecht im formellen Sinn zukommt. 5. In mehreren Stellen kommt der Begriff der Verfassung auch als Rechtsbegriff im B-VG 69 vor; in diesem Fall ist durch Auslegung zu klaÈren, in welcher Bedeutung der Begriff vom Verfassungsgesetzgeber verwendet wurde. So weist Art 10 Abs 1 Z 1 B-VG dem Bundesgesetzgeber die Kompetenz fu È r die ¹Bundesverfassungª zu; unter diese Kompetenz faÈllt die Erlassung von (auch) einfachen Gesetzen, die inhaltlich mit dem Verfassungsrecht zusammenhaÈngende Fragen regeln, zB Minderheitenschutzbestimmungen oder Ausfu È hrungsgesetze zum B-VG. In Art 44 Abs 1 B-VG wird der Begriff ¹Verfassungsgesetzª dagegen im Sinn von formellem Verfassungsrecht verwendet. 6. Oben wurden die Begriffe PraÈsenz- und Konsensquorum verwendet, die auch noch an 70 anderer Stelle dieses Buches verwendet werden: Dabei geht es jeweils um die Angabe jener Anzahl von Stimmfu È hrern in einem Kollegialorgan (zB Abgeordnete im NR), die anwesend sein mu È ssen, damit ein gu È ltiger Beschluss zu Stande kommt (das ist das PraÈsenzquorum) bzw um die Angabe jener Mehrheit der abgegebenen Stimmen, die vorliegen muss, damit ein Antrag als angenommen gilt (das ist das Konsensquorum, zB die unbedingte Mehrheit der Stimmen, das ist die einfache Mehrheit, oder zwei Drittel der Stimmen, wie im Fall der Erzeugung von Verfassungsrecht).
È sterreichischen Verfassungsrechts 3.2. Die Quellen des o Wie dargestellt kommt im oÈsterreichischen Recht eine verfassungsrechtliche Bestim- 71 mung immer dann zu Stande, wenn eine Rechtsnorm mit der erforderlichen 2/3Mehrheit beschlossen und sie als Verfassungsgesetz oder Verfassungsbestimmung bezeichnet wird. Nicht erforderlich ist es, dass das so erzeugte Verfassungsrecht in È sterreich das B-VG aufgenommen wird; tatsaÈchlich ist das Verfassungsrecht in O u È ber eine Vielzahl von Rechtsquellen verteilt. 1. Rechtsvorschriften im Rang von Bundesverfassungsrecht finden sich in den folgenden Rechtsquellen: . Im Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) BGBl 1930/1: Dieses zentrale Verfas- 72 È sterreich angesesungsdokument kann als die ¹Stammverfassungª der Republik O hen werden. Sie geht auf das Jahr 1920 zuru È ck und wurde seither vielfach (mehr als 90 mal) novelliert, wobei in den letzten Jahren durchschnittlich 2±3 mal pro Jahr Novellen zum B-VG erlassen wurden. . In einzelnen Bundesverfassungsgesetzen (BVG): Neben dem B-VG gibt es ein- 73 zelne Verfassungsgesetze, dh Gesetze, die zur GaÈnze im Verfassungsrang stehen. Sie regeln wichtige Fragen des staatlichen Gemeinwesens. Beispiele: Im StaatsgrundG u È ber die allgemeinen Rechte der StaatsbuÈrger (StGG) findet sich das Kernstu È sterreichischen Grundrechtskatalogs, das Finanz-VerfassungsG È ck des o (F-VG) regelt die GrundsaÈtze des staatlichen Finanzwesens und die ZustaÈndigkeitsÈ sterverteilung in diesem Bereich, das NeutralitaÈtsG enthaÈlt die Verpflichtung O reichs zur immerwaÈhrenden NeutralitaÈt, ein BVG u È ber den umfassenden Umweltschutz verankert das Staatsziel Umweltschutz. Insgesamt gibt es mehr als 60 solcher verfassungsrechtlicher Nebengesetze. . In einzelnen Verfassungsbestimmungen, die in einfachen Bundesgesetzen 74 enthalten sind: In unzaÈhligen einfachen Gesetzen finden sich Bestimmungen, die im Verfassungsrang stehen. Dabei kann es sich um ganze Paragraphen, um ein-
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zelne AbsaÈtze oder auch nur um einzelne SaÈtze handeln; sie sind durch die vorangestellte Wendung (¹Verfassungsbestimmungª) kenntlich gemacht. In der Summe finden sich im Bundesrecht unzaÈhlige solcher verstreuten Verfassungsbestimmungen, die kaum jemand wirklich u È berschauen kann. Gerade sie tragen zu der auûergewo È hnlichen Zersplittertheit des oÈsterreichischen Verfassungsrechts bei. 75 . In StaatsvertraÈgen, die entweder zur GaÈnze oder teilweise im Verfassungsrang stehen: StaatsvertraÈge oder einzelne darin enthaltene Bestimmungen konnten anÈ bernahme) in das oÈsterreichische Recht durch eilaÈsslich ihrer Transformation (U nen entsprechenden Beschluss des NR in den Verfassungsrang erhoben werden; sie gehoÈren dann ebenfalls zu den Verfassungsrechtsquellen. Seit 2008 koÈnnen StaatsvertraÈge oder einzelne Bestimmungen in StaatsvertraÈgen allerdings keinen Verfassungsrang mehr erhalten, auûer der NR beschlieût ein eigenes BVG (vgl Rz 265). 76 a) Diese Zersplitterung des oÈsterreichischen Verfassungsrechts wird durch den Umstand er-
È sterreich kein Inkorporationsgebot gibt. Darunter versteht man eine moÈglicht, dass es in O Anordnung (wie sie sich etwa im deutschen Grundgesetz findet), wonach verfassungsrechtliÈ nderungen und ErgaÈnzungen zwingend in den Text der einheitlichen Verfassungsurche A kunde aufzunehmen sind. Ein solches Gebot zwingt zu einem bedachtsameren Umgang mit dem Verfassungsrecht und verhindert das Ausweichen in Nebenbestimmungen oder einfache Gesetze.
77 b) Von Seiten der Rechtswissenschaften wurde immer wieder heftige Kritik am aÈuûeren Zu-
stand des Verfassungsrechts geu È bt; nach einem oft zitierten Wort kommt die oÈsterreichische Verfassung einer ¹Ruineª gleich (so Hans R. Klecatsky). TatsaÈchlich ist es so, dass kaum jemand in der Lage ist, diesen unu È bersichtlichen Rechtsstoff vollstaÈndig zu u È berschauen, dass auch dem Verfassungsgesetzgeber zwangslaÈufig immer wieder Pannen bei der Rechtsetzung unterlaufen und die Annahme laÈngst zur Illusion geworden ist, dass die Bu È rger der Republik È sterreich ¹ihreª Verfassung kennen ko O È nnen. Ein Ausweg waÈre eine energische Rechtsbereinigung durch Aufhebung u È berholter oder gegenstandsloser Bestimmungen verbunden mit einer Wiederverlautbarung des geltenden Verfassungsrechts. Dazu hat es immer wieder im Ergebnis È sterreich-Konvent, der ein ¹relatives Inkorfreilich erfolglose AnlaÈufe gegeben, zuletzt im O porationsgebotª in das B-VG aufnehmen wollte, dh ein Verbot der Schaffung von Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen.
78 c) Eine erste tatsaÈchliche Bereinigung der unuÈbersichtlichen und zersplitterten Verfassungs-
È sterreich-Konvent durch das Erste Bunrechtslage wurde aufbauend auf die Beratungen im O desverfassungsrechtsbereinigungsgesetz BGBl 2008/2 (1. BVBRG) unternommen. Durch das 1. BVBRG wurden rund 250 Verfassungsbestimmungen, die in Bundesverfassungsgesetzen, in einfachen Bundesgesetzen oder in StaatsvertraÈgen enthalten waren, als nicht mehr geltend festgestellt oder aufgehoben. In erster Linie waren das Verfassungsbestimmungen, die ohnedies keine normative Wirksamkeit mehr hatten (wie Bestimmungen u È ber das In-Kraft-Treten oder das Auûer-Kraft-Treten bestimmter Gesetze oder Verfassungsbestimmungen, deren Anwendungsbereich weggefallen oder die aus sonstigen Gru È nden obsolet geworden waren). Andere Verfassungsbestimmungen waren entbehrlich geworden, weil man entsprechende Regelungen in das B-VG aufgenommen hatte (wie zB u È ber die Autonomie der UniversitaÈten) oder weil sie durch Zeitablauf bzw durch den Beitritt zur EU u È berholt worden waren. Auûerdem wurden rund 20 Bundesverfassungsgesetze sowie mehr als 200 Verfassungsbestimmungen in Gesetzen oder StaatsvertraÈgen ihres Verfassungsrangs ¹entkleidetª, dh zu einfachem BundesÈ nderunrecht herabgestuft, weil ihr Verfassungsrang u È berflu È ssig war oder durch gleichzeitige A gen im B-VG entbehrlich wurde (zB Verfassungsbestimmungen u È ber GrenzaÈnderungen oder die Weisungsfreistellung bestimmter VerwaltungsbehoÈrden). Diese quantitativ beeindruckende Verfassungsrechtsbereinigung hat das oÈsterreichische Verfassungsrecht von u È berflu È ssigen Verfassungsbestimmungen entlastet. Ob dadurch wirklich die anÈ bersichtlichkeit erreicht wurde, ist angesichts der verbliebenen Menge von ¹fugitigestrebte U vem Verfassungsrechtª (dh auûerhalb des B-VG stehenden Verfassungsrechts) zweifelhaft. Das È st, weil es auch weiterhin kein InkorporationsgeGrundproblem ist ohnedies nicht gelo bot gibt: Wenn die Politik mit der entsprechenden verfassungsaÈndernden Mehrheit Verfas-
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sungsrecht auûerhalb des Textes der Stammverfassung schaffen will, kann sie das weiterhin tun, und auch ku È nftig in einfache Bundesgesetze Verfassungsbestimmungen aufnehmen. Damit ist der weiteren Zersplitterung des Verfassungsrechts kein wirklicher Einhalt geboten (zur Praxis der Verfassungsdurchbrechung vgl Rz 84).
È sterreich noch ein Verfassungs- 79 2. Neben dem Bundesverfassungsrecht gibt es in O recht der BundeslaÈnder (Landesverfassungsrecht). Es ist weitgehend in den einzelnen Landes-Verfassungsgesetzen (L-VG) zusammengefasst; daneben kann es auch in den LaÈndern einzelne Gesetze im Verfassungsrang bzw Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen geben. Fu È r die Erzeugung von Landesverfassungsrecht gelten im Prinzip die gleichen Erzeugungsbedingungen wie fu È r das Verfassungsrecht des Bundes, dh es bedarf der Anwesenheit der HaÈlfte der Mitglieder des Landtags und einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen (Art 99 Abs 2 B-VG). Die Bezeichnungspflicht wird durch die LV angeordnet.
3.3. Bedeutung und Funktion des Verfassungsrechts Es war vorne schon davon die Rede, dass die Verfassung die rechtliche Grundordnung eines Verfassungsstaats bildet. Das ist nun an dieser Stelle bezogen auf die konkrete Situation des oÈsterreichischen Verfassungsrechts noch weiter auszufu È hren. 1. Weil Verfassungsrecht im formellen Sinn durch erschwerte Erzeugungsbedin- 80 È sterreichs durch die 2/3-Mehrheit), kommt gungen gekennzeichnet ist (im Fall O È nderungen der Verfassung sind nur moÈglich, È hte Bestandskraft zu: A ihm eine erho wenn sich eine qualifizierte politische Mehrheit findet, welche sie mittraÈgt; eine Regierung, die sich nicht auf eine solche Mehrheit im NR stu È tzen kann, stoÈût an verfassungsrechtliche Grenzen, die sie nicht oder nur mit Zustimmung der Opposition u È bersteigen kann. Der Idee nach wird die Verfassung damit dem Zugriff einer politischen ¹Augenblicksmehrheitª entzogen. Damit erlangt sie eine gewisse Dauerhaftigkeit und VerlaÈsslichkeit und kann auf diese Weise zur rechtlichen Grundordnung des Staates werden. a) Welche inhaltlichen Regeln und Prinzipien an dieser BestaÈndigkeit teilhaben, haÈngt vom 81 konkreten Inhalt einer Verfassung ab. Was das B-VG betrifft, so hat sich dieses zumindest in der Ursprungsfassung weitgehend darauf beschraÈnkt, Verfahrensregeln und Kompetenzen fu Èr die obersten Staatsorgane festzulegen. Man hat bildhaft davon gesprochen, dass das B-VG damit die (weitgehend formalen) ¹Spielregelnª fu È r die Erlangung und Ausu È bung der politischen Macht verfassungsrechtlich verankert und damit eine dauerhafte und verlaÈssliche Grundlage fu È r den politischen Prozess geschaffen hat (urspru È nglicher Charakter des B-VG als ¹Spielregelverfassungª). Inhaltliche Aussagen u È ber die Ziele der staatlichen TaÈtigkeit oder werthaltige GrundsaÈtze fu È r das Handeln der Staatsorgane konnten nach dieser Auffassung dem B-VG nicht entnommen werden; sie festzulegen und zu verfolgen blieb danach dem freien, verfassungsrechtlich insoweit ungebundenen politischen Prozess u È berlassen. Grundordnung des Staates ist eine solche Verfassung nur, soweit es um diese ¹Spielregelnª geht. Das ist eine wichtige Funktion, vor allem weil sie das Funktionieren der demokratischen Willensbildung sichert und dem fairen und friedlichen Ringen um die Macht verlaÈssliche Regeln gibt. b) Freilich ist die Charakterisierung des B-VG als formale ¹Spielregelverfassungª heute nur 82 mehr teilweise ausreichend und sind an diesem Bild, das auf die Ursprungsfassung des B-VG zuru È ckgeht, im Hinblick auf die aktuelle Verfassungsrechtslage Korrekturen anzubringen. Mehrere UmstaÈnde haben dazu beigetragen, dass das geltende oÈsterreichische Verfassungsrecht nicht mehr nur ¹Spielregelnª fu È r das politische Geschehen enthaÈlt, sondern daru È ber hinausgehend auch verfassungsrechtliche Vorgaben fu È r die vom Staat zu realisierenden Ziele und Werte: ZunaÈchst verpflichten die Grundrechte den Staat nicht nur zur Beachtung gewisser Grenzen, sondern sie enthalten auch einen Auftrag zur Verwirklichung der in ihnen enthaltenen Werte. Die in den letzten Jahrzehnten deutlich angewachsene Bedeutung der Grundrechte im Verfassungsrecht rechtfertigt es von einem ¹Grundrechtsstaatª zu sprechen,
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der die Werte der Freiheit und Gleichheit als Auftrag begreift. Auûerdem sind in den letzten Jahrzehnten in das B-VG und in verfassungsrechtliche Nebengesetze Staatsziele aufgenommen worden, die ebenfalls dem staatlichen Handeln eine gewisse inhaltliche Richtung vorgeben (vgl Rz 203 ff). In diesem Sinn hat sich das B-VG von einer bloûen ¹Spielregelverfassungª zu einer Verfassung gewandelt, in der sich auch ein Konsens der Gesellschaft u È ber gewisse grundlegende Werte und Ziele der staatlich verfassten Gemeinschaft niederschlaÈgt. In ihr dru È ckt sich damit auch eine inhaltliche (materielle) Grundordnung fu È r den Staat und die Gesellschaft aus, die nicht wertneutral ist, sondern die sich den Werten der Freiheit, Gleichheit und SolidaritaÈt verpflichtet weiû.
83 2. Die geschilderte Funktion der Verfassung, eine verlaÈssliche und dauerhafte GrundÈ sterreichischen Verordnung der staatlichen Gemeinschaft zu sein, wird in der o fassungspraxis freilich immer wieder in Frage gestellt. Auf die bedauerliche Èauûere Zersplittertheit wurde schon hingewiesen. Zu ihr kommt noch dazu, dass das o È sterreichische Verfassungsrecht der Idee nach zwar Bestandskraft verbu È rgt, diese aber in der Wirklichkeit des politischen Prozesses alles andere als gesichert ist. Verfu È gt eine Regierung u È ber eine 2/3-Mehrheit im NR, was bei einer groûen Koalition immer wieder der Fall sein kann, bildet die Verfassung kein entscheidendes Hindernis: Durch Verfassungsbestimmungen kann dann im Prinzip jedes politische Ziel realisiert werden, auch wenn es um eine Durchbrechung bisher geltender verfassungsrechtlicher Regelungen und Prinzipien geht. Ru È ckwirkende steuerliche Belastungen, die an sich am Gleichheitsgrundsatz scheitern wu È rden, koÈnnen dann beispielsweise ebenso verfu È gt werden wie die Einrichtung von BehoÈrden, die auûerhalb der verfassungsrechtlich vorgegebenen VerantwortungszusammenhaÈnge stehen. Wie die Erfahrung zeigt, stellt sich die geforderte 2/3-Mehrheit aber auch dann sehr oft nicht als echtes Hindernis dar, wenn eine Regierung sich nur auf eine einfache parlamentarische Mehrheit stu È tzen kann, weil im Wege politischer TauschgeschaÈfte auch unter solchen UmstaÈnden immer wieder die Zustimmung der Opposition zu VerfassungsaÈnderungen erlangt werden kann. Damit zeigt sich, dass die o È sterreichische Verfassung zu den verhaÈltnismaÈûig einfach revidierbaren VerfassunÈ nderung belegt wird. gen gehoÈrt, was auch durch die HaÈufigkeit ihrer A È sterreich relativ leicht abgeaÈndert werden kann, hat mehrere 84 a) Dass das Verfassungsrecht in O
nachteilige Folgen: ZunaÈchst stehen einer Verfassungsdurchbrechung, dh der fallweisen Auûer-Kraft-Setzung von verfassungsrechtlichen Regeln und Werten, nur geringe Hindernisse im Weg. So kann der NR, wenn sich eine entsprechende Mehrheit findet, auch Regelungen, die der VfGH als verfassungswidrig aufgehoben hat, durch ihre ¹Hebungª in den Verfassungsrang sanieren oder verfassungsrechtlich fragwu È rdige Bestimmungen dadurch der verfassungsgerichtlichen Kontrolle entziehen, dass sie als Verfassungsbestimmungen erlassen werden. Eine Èauûerste, freilich nur in GrenzfaÈllen wirksame Schranke fu È r einen solchen Missbrauch der Verfassungsform ziehen die verfassungsrechtlichen Grundprinzipien (dazu Rz 114 ff). Problematisch kann es andererseits auch sein, dass Kompromisse aus politischen Gru È nden haÈufig durch eine Verfassungsbestimmung gegen einseitige AbaÈnderung abgesichert werden, ohne dass dafu È r ein wirkliches verfassungspolitisches Bedu È rfnis besteht; in der Folge schraÈnkt sich durch solche Praktiken der politische Handlungsspielraum ein und bedarf es fu È r ein Abgehen wiederum einer verfassungsaÈndernden Mehrheit.
85 b) FuÈr die zahllosen Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen, die in erster Li-
nie fu È sterreichischen Verfassungsrechts verantwortlich sind, È r die Unu È bersichtlichkeit des o gibt es verschiedene Gru È nde. Nicht immer kann man von einem Missbrauch der Verfassungsform sprechen: So zwingt die Èauûerst unzweckmaÈûig gestaltete Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und LaÈndern mitunter dazu, dass fu È r eine vernu È nftige Regelung etwa durch den Bundesgesetzgeber erst eine eigenstaÈndige Kompetenzgrundlage geschaffen werden muss; dafu È r gibt es viele Beispiele (vgl zB Art 1 PreisG). In anderen FaÈllen muss man freilich von einem Missbrauch der Verfassungsform sprechen: so wenn zB gleichheitswidrige Regelungen fu È r einen u È bermaÈûig langen Zeitraum verfassungsrechtlich abgesichert werden, wie das durch ein Verfassungsgesetz (BGBl 1992/832) bis in das Jahr 2033 (!) verlaÈngerte ungleiche Pensionsantrittsalter von MaÈnnern und Frauen, oder wenn Erkenntnisse des VfGH durch nach-
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folgende Verfassungsbestimmungen geradezu durchkreuzt und um ihre Wirkung gebracht werden (vgl als besonders krasses Beispiel eine Verfassungsbestimmung im ElektrizitaÈtswirtschaftsund -organisationsG BGBl I 1998/143 idgF, durch die vom VfGH als gesetzwidrig aufgehobene Verordnungsbestimmungen, die nach dem Erkenntnis auch auf fru È here Sachverhalte nicht mehr angewendet werden sollten, wieder in Kraft gesetzt wurden; dazu VfSlg 16.042/2000 und VfSlg 17.156/2004).
3. GefaÈhrdet ist die Funktion der Verfassung als dauerhafte Grundordnung auch 86 durch den ausgepraÈgten Formalismus und die Detailliertheit vieler BestimmunÈ sterreichischen Verfassungsrechts. Als Beispiel kann wiederum auf gen des o die Èauûerst komplizierte Kompetenzordnung verwiesen werden; sie zwingt dazu, dass immer wieder verfassungsrechtliche Anpassungen vorgenommen werden mu È ssen, um auf neue rechtspolitische Herausforderungen zu reagieren. Auch das kann zu einer Entwertung der Verfassungsform beitragen und das ohnedies unterentwickelte Verfassungsbewusstsein schwaÈchen.
3.4. Zur Interpretation des Verfassungsrechts 1. Weil das Verfassungsrecht ein Teil der o È sterreichischen Rechtsordnung ist, kom- 87 men im Prinzip die gleichen Interpretationsmethoden (Auslegungsregeln) zur Anwendung, wie sie auch fu È r andere Rechtsvorschriften gelten. Jede Interpretation von Rechtsnormen muss freilich auch den Gegenstand beru È cksichtigen, der geregelt wird; daher gibt es bei der Interpretation von Verfassungsrecht gewisse Besonderheiten: . Verfassungsrechtliche Normen sind zT sehr offen, lapidar und generalklauselartig formuliert, sie verweisen auf Prinzipien und Werte, die nicht ohne weitere Konkretisierung einem juristischen Subsumtionsverfahren unterzogen werden ko Ènnen. Das gilt in besonderer Weise fu È r die Grundrechte oder fu È r jene Verfassungsnormen, die allgemeine VerfassungsÈ sterreich grundsaÈtze verankern, wie zB das demokratische Prinzip (Art 1 B-VG). Der Satz ¹O ist eine demokratische Republikª laÈsst fu È r sich betrachtet nur sehr begrenzte Ru È ckschlu È sse auf seinen normativen Gehalt zu; er bedarf einer Interpretation, welche die politische Ideengeschichte ebenso beru È cksichtigt wie den Gesamtzusammenhang des B-VG. . Viele Bestimmungen des oÈsterreichischen Verfassungsrechts gehen auf die Ursprungsfassung des B-VG, dh auf das Jahr 1920, zuru È ck und weisen damit schon ein betraÈchtliches Alter auf; viele von ihnen u È bernehmen Regelungen und Institutionen aus der konstitutionellen Monarchie. Der oÈsterreichische Grundrechtskatalog des StGG stammt u È berhaupt aus dem Jahr 1867 und ist damit schon mehr als 140 Jahre alt. Es versteht sich von selbst, dass die Auslegung dieser historisch voraussetzungsvollen Bestimmungen nicht immer leicht ist. . Verfassungsrecht ist in gewissem Sinn politisches Recht, weil es den Erwerb und die Ausu È bung der Staatsmacht regelt. Im Hinblick darauf besteht ein besonderes Bedu È rfnis nach verlaÈsslichen, klar vorhersehbaren Interpretationsergebnissen, um die dabei zu beachtenden Regeln moÈglichst auûer Streit zu stellen und den politischen Prozess in geordneten Bahnen zu halten. . Verfassungsrecht hat sehr oft einen so genannten ¹Antwortcharakterª: Geregelt wird das, was in einer gegebenen historischen Situation umstritten oder sonstwie regelungsbedu È rftig erscheint. Unzweifelhaftes oder Unstrittiges laÈsst der Verfassungsgesetzgeber mitunter offen, ohne dass daraus allzu weit reichende Schlu È nnen. Wenn daher Art 18 È sse gezogen werden ko B-VG die Bindung der gesamten staatlichen Verwaltung an das Gesetz anordnet, bedeutet das nicht, dass die Gerichte nicht an das Gesetz gebunden waÈren. Vielmehr war zur Entstehungszeit dieser Bestimmung gerade die strikte Gesetzesbindung der Verwaltungsbeho È rden noch umstritten und deshalb beschraÈnkt sich diese Regelung nur auf diesen Aspekt.
Freilich kommen diese Besonderheiten bei den verschiedenen verfassungsrechtli- 88 chen RegelungszusammenhaÈngen in unterschiedlicher Weise zum Tragen: Fu Èr die Interpretation der sprachlich offenen Grundrechte gelten andere Maximen als
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fu È r die Auslegung der KompetenztatbestaÈnde oder die Interpretation der diffizil ausgestalteten Wahlrechtsvorschriften! Daher wird in diesem Buch auch immer wieder auf bestimmte besondere InterpretationsgrundsaÈtze zuru È ckzukommen sein (zur Auslegung der KompetenztatbestaÈnde vgl Rz 427 ff; der Wahlrechtsbestimmungen Rz 1139; der Grundrechte Rz 1202 ff). Hier werden einige allgemeine GrundsaÈtze zusammengefasst. 89 2. Entsprechend dem allgemeinen juristischen Methodenkanon sind bei der Auslegung einer verfassungsrechtlichen Bestimmung die Methoden der Wortinterpretation, der systematischen Interpretation, der historischen Interpretation und der teleologischen Interpretation heranzuziehen. Das Ziel ist das VerstaÈndnis des È glichst eindeutigen Ergebnis zu gelangen, rechtlich Gesollten; um zu einem mo sind sehr oft mehrere Interpretationsmethoden zu verwenden. LaÈsst sich bei unklaren Vorschriften ein eindeutiges Ergebnis nicht erzielen, gelangt man zu mehreren konkurrierenden Normhypothesen (alternativen Auslegungsergebnissen). Welche den Vorzug verdient, laÈsst sich mit den Mitteln der Rechtserkenntnis dann oft nicht mehr sagen. Zur Rechtsanwendung berufene Organe (Richter, VerwaltungsbehoÈrden) mu È ssen in einer solchen Lage trotzdem eine Entscheidung treffen. Sie haben sich dabei an den allgemeinen Zielen jeder Rechtsordnung Ð der GewaÈhrleistung von Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und RationalitaÈt Ð zu orientieren. 90 a) Ausgangspunkt der Auslegung ist in der Regel die Wortinterpretation (verbale Interpreta-
tion): Verfassungsbestimmungen sind zunaÈchst nach dem allgemeinen Sprachgebrauch auszulegen, wobei freilich zu beru È cksichtigen ist, dass viele ihrer Normen ein betraÈchtliches Alter aufweisen. Das, was gemeint ist, erschlieût sich daher mitunter nur dann, wenn man auch den historischen Sprachgebrauch mit in Rechnung stellt. Unter dem ¹gesetzlichen Richterª iS von Art 83 Abs 2 B-VG ist daher nicht nur ein Richter im heutigen VerstaÈndnis zu verstehen, sondern dem historischen Sinn entsprechend jedes behoÈrdliche Organ, dh auch eine VerwaltungsbehoÈrde. Zu beru È cksichtigen ist auch der abweichende (¹autonomeª) Sinngehalt, den ein Begriff haben kann, der in einer Verfassungsbestimmung mit voÈlkerrechtlicher Provenienz vorkommt: Ein ¹Gerichtª iS von Art 6 EMRK ist nicht nur ein Gericht nach oÈsterreichischem Sprachgebrauch, sondern kann auch eine unabhaÈngige Verwaltungsbeho È rde sein, weshalb die englische oder franzoÈsische Fassung dieser Norm aussagekraÈftiger ist (Tribunal).
91 b) Die systematische Interpretation stellt eine Bestimmung in den Gesamtzusammenhang
zunaÈchst der Verfassung und in der weiteren Folge der u È brigen Rechtsordnung. Manche auf den ersten Blick unklare Bestimmung gewinnt so eine eindeutige Bedeutung. So kann man den Begriff der ¹gesamten staatlichen Verwaltungª, wie er in Art 18 B-VG vorkommt, mit groûer PlausibilitaÈt auf die hoheitliche Verwaltung einschraÈnken (unter Ausklammerung der Privatwirtschaftsverwaltung), wenn man sieht, dass nach Art 129 B-VG zur Sicherung der GesetzmaÈûigkeit der ¹gesamten o È ffentlichen Verwaltungª die UVS, der Asylgerichtshof und der VwGH berufen sind, die nur Hoheitsakte kontrollieren. Ein Anwendungsfall der systematischen Interpretation ist die verfassungskonforme Interpretation (dazu unten Rz 94).
92 c) Die historische Interpretationsmethode fragt nach der Absicht des ¹historischen Gesetz-
gebersª (subjektiv-historische Interpretation) und nach dem historischen Zweck einer Regelung (objektiv-historische Interpretation). Dazu sind die Materialien zu den einschlaÈgigen Verfassungsvorschriften (ErlaÈuterungen zu Regierungsvorlagen, Ausschussberichte) heranzuziehen. Die Absicht eines historischen Gesetzgebers verliert freilich umso mehr an Bedeutung, je Èalter eine Bestimmung ist; das gilt vor allem auch fu È r die Grundrechte, deren Sinn und Zweck es ist vor gegenwaÈrtigen Bedrohungen der menschlichen Freiheit zu schu È tzen. Daher schu È tzt das Grundrecht auf Unverletzlichkeit des Hauses (Art 9 StGG) natu È rlich auch vor der willku Èpfer des StGG im Jahr 1867 È rlichen Durchsuchung eines Wohnmobils, obwohl die Scho daran nicht denken konnten (VfSlg 9525/1982). Das gilt auch in anderen ZusammenhaÈngen, weil das Verfassungsrecht zur LoÈsung der aktuellen Probleme beitragen muss. Der VfGH neigt u È berhaupt dazu dort, wo ein eindeutiger Wortlaut in eine andere Richtung weist, die nachweisbare Absicht eines historischen Gesetzgebers beiseite zu schieben (VfSlg 5153/1965, 7698/ 1975: nur wenn der Wortlaut eines Gesetzes unklar ist, kann zur Auslegung auf die Materialien zuru È ckgegriffen werden). Eine besondere Variante der historischen Interpretation (eigentlich
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der historisch-systematischen Interpretation) ist die ¹Versteinerungstheorieª, die bei der Auslegung der KompetenztatbestaÈnde zur Anwendung kommt (vgl Rz 429 ff). d) Nach der teleologischen Interpretationsmethode sind Verfassungsbestimmungen so 93 auszulegen, dass ihr Sinn und Zweck bestmoÈglich zur Geltung gebracht wird. Ein Beispiel fu Èr Verfassungsbestimmungen, bei denen der teleologischen Auslegung besondere Bedeutung zukommt, sind die Grundrechte, denen unter den Bedingungen der Gegenwart zu einer effektiven Wirksamkeit zu verhelfen ist (vgl dazu nochmals das vorstehende Beispiel des Hausrechts). Auch andere verfassungsrechtliche Prinzipien sind auf eine an ihrem immanenten Sinn orientierte Auslegung angewiesen: So ist es der Sinn des im B-VG verankerten (freilich nicht explizit angesprochenen) Rechtsstaatsprinzips, dass ein System von Rechtsschutzeinrichtungen besteht, die effektiven Rechtsschutz gewaÈhrleisten. Eine am Sinn der Verfassung orientierte Interpretation wird schlieûlich auch bemu È ht sein, den verschiedenen verfassungsrechtlichen Institutionen und Einrichtungen dergestalt zu ihrer Wirksamkeit zu verhelfen, dass die Verfassung insgesamt ihre Funktion erfu È r ein ZuÈ llen kann, eine verbindliche Grundordnung fu sammenleben in der demokratischen Gemeinschaft zu sein. Um auch das an einem Beispiel zu erlaÈutern: Weil die Demokratie darauf beruht, dass jeder staatliche Herrschaftsakt auf den Willen des Volkes zuru È ckgefu È hrt werden kann, muss den Bu È rgern eine freie politische Willensbildung ermoÈglicht werden. Daher sind zB die Grundrechte des politischen Gemeinschaftslebens (Vereins- und Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit) so auszulegen, dass eine freie und ungehinderte Information und Manifestation von Meinungen stattfinden kann, und deshalb muss man auch davon ausgehen, dass es ein Verfassungsgebot gibt, dass der Staat die Chancengleichheit der politischen Parteien bei Wahlen gewaÈhrleistet.
3. Die Verfassung beeinflusst auch die Interpretation aller u È brigen im Stufenbau der 94 Rechtsordnung nachgeordneten Normen. Das fu È hrt zum Gebot der verfassungskonformen Interpretation: Nach diesem Grundsatz ist bei der Auslegung von ¹unterverfassungsrechtlichenª Normen im Rahmen des moÈglichen Wortsinnes jene Bedeutung zu waÈhlen, welche diese Normen im Zweifel als nicht verfassungswidrig erscheinen laÈsst. Voraussetzung fu È r die Anwendung der ¹KonformitaÈtsregelª ist zunaÈchst ein Auslegungsspielraum, der durch den Wortsinn begrenzt wird. Widerspricht ein Gesetz nach seinem eindeutigen Sinn der Verfassung, kann und darf es nicht verfassungskonform interpretiert werden (VfSlg 11.036/1986); es ist vielmehr, wenn es angefochten wird, vom VfGH in einem GesetzespruÈfungsverfahren aufzuheben. Nur dann, wenn mehrere Auslegungen mo È glich sind, ist jene zu waÈhlen, die den Konflikt mit der Verfassung vermeidet. Die praktische Bedeutung dieser Auslegungsmethode ist groû und sie hat ± nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Bedeutungszuwachs der Grundrechte in der neueren Judikatur der HoÈchstgerichte ± dazu gefu È hrt, dass heute die Verfassung in alle Teilbereiche unserer Rechtsordnung ¹ausstrahltª. a) Gesetze sind also so zu interpretieren, dass sie beispielsweise im Zweifel nicht gleich- 95 heitswidrig sind (vgl zB VfSlg 10.387/1985, 13.210/1992); eigentumsbeschraÈnkenden Regelungen ist in verfassungskonformer Auslegung zu unterstellen, dass sie unter einem Vorbehalt des wirtschaftlich Zumutbaren stehen (zB VfSlg 14.489/1996); bei aufenthaltsbeendenden Maûnahmen oder der Versagung von Aufenthaltstiteln im Rahmen des Fremdenpolizeirechts ist auch dann auf das Privat- und Familienleben eines Fremden Ru È cksicht zu nehmen, wenn das im entsprechenden Gesetz nicht ausdru È cklich angeordnet ist (zB VfSlg 14.300/ 1995, 14.571/1996). b) Kann ein Gesetz verfassungskonform interpretiert werden, kann der VfGH eine ansonsten 96 drohende Aufhebung wegen Verfassungswidrigkeit vermeiden. In einem Bescheidpru Èfungsverfahren nach Art 144 B-VG wird in einem solchen Fall dann zwar der Bescheid (wegen Unterstellung eines verfassungswidrigen Inhalts) aufgehoben, aber kein GesetzespruÈfungsverfahren eingeleitet. Ob eine verfassungskonforme Interpretation moÈglich ist, kann selbst eine nicht leicht zu entscheidende Interpretationsfrage sein! Der VfGH neigt gelegentlich dazu, Gesetze durch eine ku È hne, den Wortsinn u È bersteigende Interpretation auch noch dann zu ¹rettenª, wenn man eigentlich die Aufhebung erwarten wu È rde, durch welche die Rechtslage generell bereinigt wu È rde. Beispiele dafu È r finden sich in VfSlg 10.817/1986, 12.469/1990, 12.501/1990.
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97 c) Eine weitere Erscheinungsform der ¹KonformitaÈtsregelª ist das Gebot, dass nationale oÈster-
reichische Rechtsvorschriften so interpretiert werden mu È ssen, dass sie im Zweifel nicht gemeinschaftsrechtlichen oder vo È lkerrechtlichen Bestimmungen widersprechen. Es gibt daher È lkerrechtskonformen Interpretation (VfSlg 11.500/1987, 16.404/2001) ein Gebot der vo und ein Gebot der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation (VfSlg 15.427/1999). Schlieûlich folgt aus dem Gebot der verfassungskonformen Interpretation auch der Grundsatz, dass Bestimmungen des Verfassungsrechts im Einklang mit den leitenden Prinzipien der Bundesverfassung auszulegen sind.
98 4. In der Staatspraxis gibt es gewisse Gewohnheiten und eingefu È hrte GebraÈuche, die von den Staatsorganen und politischen Akteuren regelmaÈûig beachtet werden. So ist es zB u È blich, dass eine BReg nach erfolgter Neuwahl des NR zuru È cktritt; sie wird danach bis zur Bildung der neuen BReg noch mit der provisorischen Fortfu È hrung der RegierungsgeschaÈfte betraut. Verfassungsrechtlich zwingend waÈre ein solcher Ru È cktritt freilich nicht, er entspricht nur einer rechtlich nicht bindenden Konvention. In der Wirklichkeit des politischen Geschehens kommt es zB auch nicht vor, dass der NR gegen einen rechtswidrig handelnden Minister eine Ministeranklage beim VfGH (Art 142 B-VG) einbringt, weil das einen Mehrheitsbeschluss im NR voraussetzt und es ganz und gar unwahrscheinlich ist, dass die Mehrheitspartei gegen einen der eigenen politischen Richtung angehoÈrenden Minister vorgeht. Im Hinblick auf solche RealitaÈten der Staats- und Regierungspraxis spricht man von der Verfassungswirklichkeit. Das bedeutet freilich nicht, dass solche GebraÈuche der StaatsÈ sterreich weitgehend ausgeschlospraxis Verfassungsrecht darstellen; es wird in O sen, dass es verfassungsrechtliches Gewohnheitsrecht gibt. 99 Davon abgesehen, kann sich das VerhaÈltnis von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit unterschiedlich darstellen: . Die Verfassungswirklichkeit kann dem Verfassungsrecht widersprechen; dann liegt eine rechtswidrige Praxis vor: Wenn zB Abgeordneten eine ¹BlankoverzichtserklaÈrungª abgenoÈtigt wird, ist das eindeutig verfassungswidrig (vgl Rz 534). . Die Verfassungswirklichkeit kann dazu fu È hren, dass bestimmte verfassungsrechtliche Regelungen und Institutionen wirkungslos werden oder nur mehr beschraÈnkt ihre Funktion erfu È llen: So liegt den meisten parlamentarischen Kontrollrechten noch immer die (auf die staatsrechtliche Lage der konstitutionellen Monarchie zuru È ckgehende) Vorstellung eines Interessengegensatzes zwischen Regierung und Parlament zu Grunde, der durch die Wirklichkeit der modernen Parteiendemokratie u È berholt ist, in der die Regierung und die parlamentarische Mehrheit politisch verklammert sind; daher sind manche Kontrollrechte auch nicht mehr sehr effektiv. Das Èandert zwar nichts an der Geltung der entsprechenden verfassungsrechtlichen Normen, kann aber freilich die Frage nach ihrer Sinnhaftigkeit oder Reformbedu È rftigkeit aufwerfen. . Schlieûlich kann sich eine Verfassungswirklichkeit neutral zum Verfassungsrecht verhalten, weil das Verfassungsrecht das entsprechende Verhalten offen laÈsst und gar nicht regelt. Hier kann als Beispiel auf den oben geschilderten Fall des Ru È cktritts der BReg nach Neuwahlen verwiesen werden. In der Tat ist es so, dass die Verfassung natu È rlich sehr viele Fragen des politischen Lebens bewusst oder unbewusst nicht regelt und diese dem freien politischen Prozess u È berlaÈsst.
4. Hinweise zum Studium des Verfassungsrechts Zum Abschluss dieses Kapitels soll auf die wichtigste Literatur zum o È sterreichischen Verfassungsrecht und auf sonstige Arbeitsmaterialien hingewiesen werden. Ferner sollen dem Leser Hinweise zu einem erfolgreichen Studium gegeben werden. È ster100 1. UnerlaÈsslich fu È r die Arbeit mit dem Rechtsstoff ist eine Textausgabe des o reichischen Bundesverfassungsrechts, wie sie von fast allen juristischen Verlagen angeboten wird. Mit diesen Verfassungstexten sollte intensiv gearbeitet wer-
1. Kapitel: Verfassung und Verfassungsrecht
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den, dh der Studierende sollte unbedingt parallel zum Lehrbuch auch die entsprechenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen lesen und durcharbeiten. Im ZenÈ berblick trum steht dabei das B-VG, zugleich sollte man sich auch den noÈtigen U u È ber die wichtigsten anderen Verfassungsrechtsquellen (vor allem die verfassungsrechtlichen Nebengesetze) verschaffen. È sterreichi- 101 2. Neben dem vorliegenden Lehrbuch gibt es weitere Lehrbu È cher des o schen Verfassungsrechts, die fu È r das Studium herangezogen werden koÈnnen: È sterreichisches Staatsrecht, Bd 1 Grundlagen (1997), Bd 2 . Adamovich/Funk/Holzinger, O Staatliche Organisation (1998), Bd 3 Grundrechte (2003) Springers Kurzlehrbu È cher der Rechtswissenschaft [dieses umfangreiche, auf Vertiefung angelegte Lehrbuch ist auf vier BaÈnde konzipiert und wird auch die allgemeinen Lehren des Verwaltungsrechts umfassen] . Funk, Einfu È sterreichische Verfassungsrecht13 (2007) Leykam Kurzlehrbu È cher È hrung in das o [als Einfu È hrungslehrbuch konzipiert, vor allem fu È r AnfaÈnger geeignet] È hlinger, Verfassungsrecht7 (2007) WUV Studienbu . O È cher [ein an den UniversitaÈten viel verwendetes kompaktes Lehrbuch] È sterreichisches Bundesstaatsrecht: Lehr- und Handbuch (2004) Verlag O È ster. Pernthaler, O reich [ein umfassendes, betont fo È deralistisch ausgerichtetes System des oÈsterreichischen Verfassungsrechts im Bund und in den LaÈndern] . Stolzlechner, Einfu È hrung in das oÈffentliche Recht4 (2007) Manz Studienbuch [ein weiteres Einfu È hrungslehrbuch, das auch Grundzu È ge des Verwaltungsrechts einschlieût] . Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Grundriss des o È sterreichischen Bundesverfassungsrechts10 (2007) Manzsche Kurzlehrbuchreihe [ein streng systematisch aufgebautes Lehrbuch mit vielen weiterfu È hrenden Literaturnachweisen, das von Autoren verfasst wurde, die der Reinen Rechtslehre nahe stehen] Diese Lehrbu È cher werden im Hinblick auf die umfassende B-VG-Novelle 2008 u È berarbeitet werden und in Neuauflagen erscheinen mu È ssen. Das ist bei der Benutzung der vorstehend zitierten Auflagen zu beru È cksichtigen.
3. Fu È r die praktische Arbeit mit verfassungsrechtlichen Fragen stehen neben den 102 Lehrbu È chern die folgenden Kommentare zum Verfassungsrecht zur Verfu È gung: . Mayer, Das oÈsterreichische Bundes-Verfassungsrecht4 (2007) Verlag Manz [ein Kurzkommentar zum B-VG und zu den wichtigsten verfassungsrechtlichen Nebengesetzen, der vor allem Judikaturnachweise enthaÈlt] È sterreichisches Bundesverfassungsrecht. Textsammlung und . Korinek/Holoubek (Hrsg), O Kommentar, Verlag Springer [ein vielbaÈndiger Groûkommentar in Loseblattform, der umfangreiche Kommentierungen zu den bundesverfassungsrechtlichen Bestimmungen enthaÈlt] È sterreich [ein weiterer, etwas kom. Rill/SchaÈffer (Hrsg), Bundesverfassungsrecht, Verlag O pakterer Groûkommentar zum Bundesverfassungsrecht] È hlinger/Hiesel, Verfahren vor den Gerichtsho . O Èfen des oÈffentlichen Rechts Bd 1: Verfassungsgerichtsbarkeit (2001) Verlag Manz [ein Kommentar zu den Bestimmungen des B-VG und des VfGG zur Verfassungsgerichtsbarkeit]
In diesen Kommentaren findet man Hinweise auf die einschlaÈgige Rechtsprechung, auf die Materialien zu den Verfassungsbestimmungen und auf die weiterfu È hrende Literatur. Sie sind daher heranzuziehen, wenn man ± etwa im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit oder zu praktischen Zwecken ± sich vertieft mit dem oÈsterreichischen Verfassungsrecht beschaÈftigen moÈchte. 4. Fu È sterreichischen Verfassungs- 103 È r die genauere BeschaÈftigung mit den Grundrechten des o rechts gibt es weitere, umfassende Darstellungen. Dabei sind vor allem auch die Kommentare È sterreich im Verfassungsrang steht. Hier wird nur und Lehrbu È cher zur EMRK wichtig, die in O auf zwei Bu È cher hingewiesen, die weitere Literaturangaben enthalten:
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Teil I. Grundlagen
È sterreich (1999) Verlag . Berka, Die Grundrechte. Grundfreiheiten und Menschenrechte in O Springer [ein umfassendes Handbuch zu den oÈsterreichischen Grundrechten, das den Zugang zur weiterfu È hrenden Literatur und Judikatur erschlieûen kann] . Grabenwarter, EuropaÈische Menschenrechtskonvention3 (2008) Verlage Beck und Manz [ein systematisches Lehrbuch zur EMRK]
104 5. Ein weiterer wichtiger Rat fu È r ein erfolgreiches Studium des Verfassungsrechts: Der Studierende sollte sich bemu È hen, zumindest die wichtigsten ¹leading casesª aus der Judikatur des VfGH zu lesen. Sie koÈnnen dazu beitragen, dass das oft nur theoretische Lehrbuchwissen mit praktischen FaÈllen konfrontiert wird. Zugang zu dieser Judikatur kann man sich auf verschiedene Art und Weise verschaffen: . Amtliche Sammlung der Erkenntnisse und Beschlu È sse des Verfassungsgerichtshofes [In dieser gedruckten Ausgabe werden die wichtigsten Entscheidungen des VfGH in HalbjahresbaÈnden vero Èffentlicht, die mit einer fortlaufenden Nummerierung versehen sind. Zitierweise: VfSlg 14.473/1996.] . RIS ± Rechtsinformationssystem des Bundes [In dem im Internet zugaÈnglichen RIS werden alle Entscheidungen des VfGH seit 1980 in LeitsaÈtzen und im Volltext wiedergegeben, wobei nach dem Aktenzeichen, nach Normen oder Stichwo Èrtern oder nach der Nummer in der Amtlichen Sammlung gesucht werden kann; www.ris.bka.gv.at.] . www.vfgh.gv.at [Auf der Homepage des VfGH findet man Hinweise auf aktuelle Entscheidungen, Presseaussendungen, Hinweise zu den Rechtsgrundlagen der Verfassungsgerichtsbarkeit usw.]
105 6. Neben den schon erwaÈhnten Hilfsmitteln zum Studium gibt es noch weitere Materialien und Quellen im Internet, die nu È tzlich sein koÈnnen. Auf eine Auswahl wird im Folgenden hingewiesen: . www.parlament.gv.at [Die Homepage des oÈsterreichischen Parlaments erschlieût den Zugang zu den parlamentarischen Materialien, etwa zu Regierungsvorlagen oder Ausschussberichten.] . www.ris.bka.gv.at [Im Rechtsinformationssystem RIS finden sich ± neben der Judikatur des VfGH ± noch viele andere wichtige juristische Informationen, vor allem das Bundesund Landesrecht, die Entscheidungen der anderen Ho È chstgerichte, Entscheidungen der UVS und anderes mehr.] . www.echr.coe.int [Auf der Homepage des EGMR in Straûburg koÈnnen die wichtigsten menschenrechtlichen Entscheidungen dieses Gerichts gefunden werden.] . http://curia.europa.eu [Die Homepage des EuGH bietet Zugang zur Rechtsprechung des Gerichtshofs und zu umfassenden Informationen u È ber das Gemeinschaftsrecht und die EuropaÈische Union.]
106 7. Durch das Studium des Verfassungsrechts soll der Studierende auch in die Lage È ffentlich-rechtliche FaÈlle sachgerecht zu loÈsen. Dazu geben versetzt werden o die entsprechenden Lehrveranstaltungen eine gute Gelegenheit. Die Bearbeitung von verfassungsrechtlichen FaÈllen kann anhand von Fallsammlungen und FallLoÈsungsbu È chern erlernt und geu È bt werden. Dazu die folgenden Hinweise: . Eberhard/Lachmayer (Hrsg), Casebook Verfassungsrecht (2004) WUV UniversitaÈtsverlag . Poier, Verfassungsrecht und allgemeine Staatslehre. PraxisfaÈlle und Lo È sungen in systematiÈ sterreich scher Bearbeitung2 (2003) Verlag O È bungsfaÈlle aus dem Verfassungsrecht3 (2008) STUDIA Uni. Rath-Kathrein/Kahl (Hrsg), U versitaÈtsverlag . SchaÈffer (Hrsg), FaÈlle und Lo È sungen zum Verfassungsrecht3 (1999) Verlag Manz . Wieser (Hrsg), Verfassungsrecht. FaÈlle und Lo È sungen (2003) Neuer Wissenschaftlicher Verlag
1. Kapitel: Verfassung und Verfassungsrecht
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8. Schlieûlich moÈchte ich die Leserinnen und Leser noch auf eine leicht zugaÈngliche, 107 alltaÈgliche Informationsquelle hinweisen: Verfassungsrecht regelt den politischen Prozess und fast alles, was sich in den innenpolitischen Seiten der Tageszeitungen findet oder woru È ber in den aktuellen Informationssendungen des Rundfunks berichtet wird, hat auch verfassungsrechtliche Bezu È ge (und zwar auch dann, wenn es nicht um wirkliche Verfassungsstreitigkeiten geht). Wer etwa die woÈchentlichen Berichte u È ber den Ministerrat, Sendungen u È ber Wahlen oder Informationen u È ber aktuelle Rechtsreformen aus dieser verfassungsrechtlichen Perspektive reflektiert, kann sein erlerntes Wissen Tag fu È r Tag anwenden und wird viel besser verstehen, worum es bei vielen verfassungsrechtlichen Fragen geht. 9. In dem vorliegenden Lehrbuch finden sich am Ende der einzelnen Kapitel jeweils Hin- 108 weise auf wichtige Entscheidungen, deren exemplarische Lektu È re ich empfehle (ohne dass man sich auf die zitierten FaÈlle beschraÈnken sollte!), und weiterfu È hrende Literaturhinweise. Dabei muss es sich selbstverstaÈndlich um eine Auswahl handeln. Wer sich mit verfassungsrechtlichen Fragen naÈher beschaÈftigen moÈchte, kommt um die beiden Groûkommentare zum o È sterreichischen Verfassungsrecht nicht herum: Beide Kommentare (Korinek/Holoubek, È ffer) enthalten umfassende ErlaÈuterungen zu den Bestimmungen des B-VG und zu Rill/Scha den verfassungsrechtlichen Nebengesetzen und sie erschlieûen die weiterfu È hrende Literatur und Judikatur. Auf sie wird in den Literaturhinweisen dieses Buches nicht gesondert verwiesen, was nichts daran Èandert, dass diese Kommentare die erste Anlaufstelle fu È r jede Vertiefung sein sollten. Literatur und Rechtsprechung sind mit Stand Sommer 2008 erfasst. In einem Buch, in dem die Grundrechte und damit auch der Gleichheitsgrundsatz eine groûe Rolle spielen, versteht es sich von selbst, dass mit geschlechtsbezogenen Bezeichnungen keine diskriminierende Bedeutung verbunden ist, auch wenn sie aus sprachlichen Gru È nden mitunter nur in einer Form verwendet werden.
AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zu den Abschnitten 1±4: VfSlg 3314/1958: Zum Kompetenztatbestand ¹Bundesverfassungª in Art 10 Abs 1 Z 1 B-VG, der auch einfache Ausfu È hrungsgesetze zur Bundesverfassung (zB Minderheitenschutz) umfasst. VfSlg 3767/1960 (bzw 4049 und 4076/1961): Zum Verfassungsrang der EMRK, den der VfGH in diesem Erkenntnis verneint hat, weil die Bezeichnung als ¹verfassungsaÈnderndª unterlassen wurde. Durch das BVG 1964/59 wurde der Verfassungsrang der Konvention ru È ckwirkend klargestellt. VfSlg 10.817/1986: Ein Beispiel fu È r eine verfassungskonforme Interpretation. VfSlg 11.403/1987: Zu einer ¹baugesetzkonformenª Auslegung von Verfassungsrecht ± mittelbare Bundesverwaltung als tragendes Element des bundesstaatlichen Prinzips. VfSlg 11.500/1987: Zum Gebot einer ¹voÈlkerrechtskonformenª Interpretation des Verfassungsrechts, wobei im vorliegenden Fall der VfGH allerdings auch die Grenzen einer solchen Interpretation aufzeigt. VfSlg 13.499/1993: Zur Bezeichnungspflicht nach Art 44 Abs 1 B-VG. VfSlg 14.605/1996: Ein Beispiel fu È r den ¹Antwortcharakterª des Verfassungsrechts. VfSlg 17.156/2004: Verdacht eines Falles der ¹Verfassungsdurchbrechungª, dh der Erlassung einer Verfassungsbestimmung, durch die eine ansonsten verfassungswidrige Regelung gleichsam ¹immunisiertª werden soll; in diesem Fall verneinte der VfGH eine ¹GesamtaÈnderungª. EGMR, Tyrer, EuGRZ 1979, 162: Zum Gebot einer ¹dynamischenª Interpretation der Grundfreiheiten und Menschenrechte, die diesen aktuelle EffektivitaÈt verleiht. È ber das Wesen des modernen Verfassungsstaats und seine Entwicklung Zur Vertiefung: U finden sich weiterfu È hrende Informationen in den Lehrbu È chern zur Allgemeinen Staatslehre. Vgl zB Gamper, Staat und Verfassung (2007); Kriele, Einfu È hrung in die Staatslehre6 (2003);
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Teil I. Grundlagen
Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre2 (1996); Zippelius, Allgemeine Staatslehre15 (2007). Zur Geschichte des oÈsterreichischen Bundesverfassungsrechts vgl zB È sterreichische VerÈ sterreichische Verfassungsgeschichte10 (2005); Lehner, O Brauneder, O fassungs- und Verwaltungsgeschichte4 (2007); Mantl, Historische und aktuelle Aspekte der È sterreich in Geschichte und Literatur oÈsterreichischen Verfassungsentwicklung seit 1918, O È sterreich, in: 1992, 357; Pernthaler, Verfassungsentwicklung und Verfassungsreform in O Wieser/Stolz (Hrsg), Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit an der Schwelle zum 21. Jahrhundert (2000) 67. Mit vielen EinzelbeitraÈgen Schambeck (Hrsg), Das oÈsterreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung (1980). Zur Verfassungsinterpretation vgl zB Grabenwarter, Verfassungsinterpretation, Verfassungswandel und Rechtsfortbildung, in: Mantl-FS (2004) 35; Korinek, Zur Interpretation von Verfassungsrecht, in: WalÈ hlinger, Stil der Verfassungsgesetzgebung ± Stil der Verfassungsinterpreter-FS (1991) 363; O tation, in: Adamovich-FS (1992) 502. Zur verfassungskonformen Interpretation vgl zB ÈR Khakzadeh, Die verfassungskonforme Interpretation in der Judikatur des VfGH, ZO 2006, 201.
2. Kapitel: Grundprinzipien des Bundesverfassungsrechts Jede Verfassung trifft bestimmte grundsaÈtzliche Festlegungen u È ber die Staats- und 109 Regierungsform (zB PraÈsidentschaftsrepublik oder parlamentarische Demokratie), u È ber die Gliederung des Staates (Einheitsstaat oder Bundesstaat) und u È ber die Stellung des Einzelnen im Staat und seine Rechte (Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte). HaÈufig bekennt sich das Verfassungsrecht auch zu bestimmten Zielen des staatlichen Handelns, die dem politischen Prozess verbindlich vorgegeben werden (Staatsziele oder VerfassungsauftraÈge). Auch dem B-VG liegen bestimmte verfassungsrechtliche Grundprinzipien zu Grunde, die auch als BaugeÈ sterreichischen Bundesverfassungsrechts bezeichnet werden. Ihsetze des o nen kommt ein hoÈherer Rang als dem u È brigen Verfassungsrecht zu, weil sie nur in einem bestimmten qualifizierten Verfahren, der so genannten GesamtaÈnderung, abgeaÈndert oder beseitigt werden koÈnnen. In den folgenden Abschnitten wird zunaÈchst der Begriff der GesamtaÈnderung geklaÈrt; daran anschlieûend werden die einzelnen Baugesetze behandelt. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels werden diejenigen Staatsziele dargestellt, die in das oÈsterreichische Verfassungsrecht aufgenommen wurden. Wegen ihrer besonderen Bedeutung fu È r den Staat geben manche Verfassungen derartigen 110 È hte Bestandskraft. So will zB das deutsche Grundgesetz anGrundentscheidungen eine erho gesichts der historischen Erfahrungen, dass eine Diktatur wie die des ¹Dritten Reichsª auch auf einem scheinbar legalen Weg eingefu È hrt werden kann, verhindern, dass die Demokratie, die Bundesstaatlichkeit und die GrundsaÈtze der Rechtsstaatlichkeit abgeschafft werden. Bestimmte Grundprinzipien werden daher fu È r unabaÈnderlich erklaÈrt (Art 79 Abs 3 Bonner GG). Eine solche ¹Ewigkeitsgarantieª schlieût aus, dass der demokratische Verfassungsstaat mit seinen tragenden Prinzipien rechtmaÈûig durch eine VerfassungsaÈnderung beseitigt wird; dies waÈre nur im Wege einer Revolution und damit als Verfassungsbruch moÈglich. Demgegenu È ber gibt es im oÈsterreichischen Recht keine unabaÈnderlichen Verfassungsbestimmungen, sondern ist nur das erschwerte Verfahren der GesamtaÈnderung vorgeschrieben.
5. Die GesamtaÈnderung der Bundesverfassung 5.1. Der Begriff der GesamtaÈnderung 1. Art 44 B-VG regelt die Erlassung und AbaÈnderung des Bundesverfassungsrechts 111 und fu È hrt in Art 44 Abs 3 B-VG den Begriff der GesamtaÈnderung ein. Es ist daher zwischen einer TeilaÈnderung der Verfassung und einer GesamtaÈnderung zu unterscheiden, fu È r die verschiedene Verfahren vorgesehen sind. TeilaÈnderungen kommen unter den bereits oben (vgl Rz 65 f) behandelten Bedingungen zu Stande, dh sie bedu È rfen der entsprechenden parlamentarischen Mehrheit (2/3-Mehrheit) und sie mu È ssen als Verfassungsgesetz (Verfassungsbestimmung) bezeichnet sein. Handelt es sich um eine GesamtaÈnderung, muss das vom NR beschlossene Verfassungsgesetz zwingend einer Volksabstimmung unterzogen werden (obligatorisches Verfassungsreferendum). Damit entscheidet letztlich das Volk als der demokratische SouveraÈn daru È ber, ob es zu einem grundlegenden Umbau der Verfassung kommen soll. 2. Die Verfassung definiert nicht, unter welchen UmstaÈnden eine GesamtaÈnde- 112 È nderung rung vorliegt. Von mehreren mo È glichen Auslegungsvarianten (zB einer A des gesamten Verfassungstextes, eines Groûteils der Verfassungsbestimmungen, wesentlicher Verfassungsbestimmungen) hat sich als herrschende Ansicht durchgesetzt, dass eine GesamtaÈnderung dann vorliegt, wenn tragende Grundprinzipien
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Teil I. Grundlagen
des B-VG beseitigt oder wesentlich modifiziert werden. Der Begriff der GesamtaÈnderung wird daher materiell (inhaltlich) bestimmt. Fu È r die Auslegung des Art 44 Abs 3 B-VG und die KlaÈrung des Begriffs der GesamtaÈnderung war die Entscheidung VfSlg 2455/1952 wichtig. In dieser Entscheidung ging es um die durch ein Verfassungsgesetz verfu È rgerschaft. Der von È gte Beseitigung der seinerzeitigen Landesbu einer LReg angerufene VfGH stellt fest, dass man unter einer ¹GesamtaÈnderungª eine solche VerfassungsaÈnderung verstehen mu È sse, die einen der leitenden GrundsaÈtze der Bundesverfassung beru È hre und dass als solche GrundsaÈtze ¹das demokratische, das rechtsstaatliche und das bundesstaatliche Prinzip in Betrachtª kommen.
113 3. Eine GesamtaÈnderung ist daher die Beseitigung oder wesentliche Modifizierung eines Grundprinzips (Baugesetzes) des B-VG. Welche verfassungsrechtlichen GrundsaÈtze darunter fallen, ist im B-VG nicht naÈher bestimmt (es gibt keine ¹AufzaÈhlungª der Bauprinzipien), sondern ist im Wege der Interpretation aus dem Gesamtzusammenhang des B-VG zu erschlieûen. In erster Linie sind dabei die allgemeinen Bestimmungen des 1. Hauptstu È cks des B-VG zu beachten, in denen unter anderem die È sterreichs beStaats- und Regierungsform festgelegt und die raÈumliche Gliederung O handelt werden; daneben sind auch diejenigen Regelungen zu beachten, die sich der Kontrolle der Staatsgewalt und der ihr gesetzten Grenzen zuwenden und in denen vor allem die GrundsaÈtze der Rechtsstaatlichkeit Gestalt finden. In diesen Verfassungsnormen dru È ckt sich die verfassungsrechtliche Grundordnung aus, die nur im Wege der GesamtaÈnderung abgeaÈndert werden kann.
5.2. Die verfassungsrechtliche Grundordnung 114 1. Zu dieser verfassungsrechtlichen Grundordnung werden die folgenden Grundprinzipien gerechnet: . das demokratische Prinzip, . das republikanische Prinzip, . das bundesstaatliche Prinzip und . das rechtsstaatliche Prinzip. Auf diese einzelnen Prinzipien und ihre Bedeutung wird in den folgenden Abschnitten naÈher eingegangen werden. 115 a) Gelegentlich werden auch noch weitere verfassungsrechtliche Grundprinzipien wie das ge-
waltenteilende Prinzip und ein liberales Grundprinzip angefu È hrt. Richtig ist, dass die Trennung der Staatsgewalten ein wesentliches Merkmal eines demokratischen Verfassungsstaats ist; auch ein effektiver Grundrechtsschutz, auf den das liberale Prinzip Bezug nimmt, gehoÈrt zur verfassungsrechtlichen Grundordnung. Gewaltenteilung und Grundrechtsschutz lassen sich aber auch als integrale Bestandteile der Rechtsstaatlichkeit verstehen, so dass sie im rechtsstaatlichen Prinzip ihren Platz finden. Ihre gesonderte Anfu È hrung ist dann nicht noÈtig, abgesehen davon, dass es auch missverstaÈndlich waÈre, wenn man die Grundrechte, die sehr unterschiedliche Rechtspositionen gewaÈhrleisten, auf ein liberales Prinzip und die damit verbundene Vorstellung einer Trennung von Staat und Gesellschaft reduzieren wu È rde. Wenn man den nur im Wege einer GesamtaÈnderung einschraÈnkbaren Kernbereich des Grundrechtsschutzes zu einem eigenstaÈndigen Grundprinzip zusammenfassen moÈchte, laÈge es naÈher, von einer Geltung des Prinzips der Menschenwu È rde auszugehen. Was den Grundsatz der Gewaltenteilung angeht, ist dieser im oÈsterreichischen Verfassungsrecht ohnedies nur schwach ausgepraÈgt. È sterreichs zur EU hat in mehrfacher Hinsicht eine GesamtaÈnderung des 116 b) Der Beitritt O È sterreich gegenu oÈsterreichischen Verfassungsrechts bewirkt. Dadurch hat sich O È ber der GeÈ sterreich geltenden Rechts geworden meinschaftsrechtsordnung geoÈffnet, die ein Teil des in O ist; zugleich wurden das demokratische, bundesstaatliche und rechtsstaatliche Prinzip modifi-
2. Kapitel: Grundprinzipien des Bundesverfassungsrechts
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ziert. Diese Offenheit gegenu È ber der europaÈischen Integration ist allerdings kein eigenstaÈndiges verfassungsrechtliches Grundprinzip, das mit bestimmten Normen der verfassungsrechtlichen Grundordnung in Verbindung gesetzt werden koÈnnte. c) Auch die oÈsterreichische NeutralitaÈtsverpflichtung gehoÈrt nicht zur verfassungsrechtli- 117 chen Grundordnung. Dies haÈngt damit zusammen, dass neue Grundprinzipien nur im Wege einer GesamtaÈnderung, dh gedeckt durch einen Volksentscheid, eingefu È nnen, was È hrt werden ko bei der Erlassung des NeutralitaÈtsG nicht der Fall war. Das NeutralitaÈtsG ist daher ein ¹einfachesª Verfassungsgesetz, das mit der erforderlichen Mehrheit vom NR geaÈndert oder aufgehoben werden koÈnnte, ohne dass eine Volksabstimmung zwingend erforderlich waÈre.
2. Das dem Art 44 Abs 3 B-VG zu Grunde liegende Konzept der GesamtaÈnderung hat 118 mehrere Konsequenzen: ZunaÈchst steht fest, dass keine Bestimmung des oÈsterreichischen Bundesverfassungsrechts unabaÈnderlich ist. Findet eine VerfassungsaÈnderung die Zustimmung des Volkes, koÈnnte selbst ein radikaler Umbau der Verfassung durchgefu È hrt werden (zB Einfu È hrung einer PraÈsidentschaftsrepublik, Beseitigung der bundesstaatlichen Ordnung). Auûerdem muss man davon ausgehen, dass es innerhalb des Verfassungsrechts zwei im Stufenbau der Rechtsordnung abgestufte Schichten gibt: das ¹einfacheª Verfassungsrecht, das mit einer verfassungsaÈndernden 2/3-Mehrheit abgeaÈndert werden kann, und die Normen der verfassungsrechtlichen Grundordnung, die nur im Wege der GesamtaÈnderung aufgehoben oder abgeaÈndert werden koÈnnen. Deshalb kann es auch ¹verfassungswidriges Verfassungsrechtª geben. Das heiût, dass VerfassungsaÈnderungen, welche die Grundordnung beru È hren, aber nicht im gesamtaÈndernden Verfahren zu Stande kommen, verfassungswidrig sind und vom VfGH aufgehoben werden koÈnnen. Ein neues Baugesetz kann nur im Wege einer GesamtaÈnderung eingefu È hrt werden. 3. Nicht jede VerfassungsaÈnderung, welche zB die bundesstaatliche Ordnung naÈher 119 ausgestaltet oder die demokratischen Mitwirkungsrechte betrifft, ist schon eine GesamtaÈnderung. Eine solche liegt nur vor, wenn es sich um wesentliche Modifikationen der zu einem Grundprinzip zusammengefassten Normen handelt: Es muss sich um einen Regelungsbereich handeln, der fu È r die demokratische, republikanische, bundesstaatliche und rechtsstaatliche Ordnung wichtig ist, und die VerfassungsaÈnderung muss zu einer wesentlichen VeraÈnderung der entsprechenden Ordnungsprinzipien oder ihres VerhaÈltnisses zueinander fu È hren. a) So ist es zB fu È r die demokratische Ordnung in der konkreten Gestalt einer repraÈsentativen Demokratie wesentlich, dass in regelmaÈûigen AbstaÈnden freie Wahlen stattfinden. Eine VeraÈnderung der verfassungsrechtlich festgelegten Legislaturperiode beru È hrt daher das demokratische Prinzip. Wu È rde die Legislaturperiode (und damit die AbstaÈnde zwischen den Wahlen) auf drei Jahre verku È rzt oder wird sie ± wie geschehen ± auf fu È nf Jahre verlaÈngert, ist das noch keine GesamtaÈnderung. Eine solche laÈge aber vor, wenn das Volk nur mehr alle acht oder zehn Jahre waÈhlen ko È nnte, weil damit ein wesentliches Element der Demokratie, naÈmlich die regelmaÈûige Ru È ckbindung an den Willen des Volkes verbunden mit der MoÈglichkeit eines Wechsels der politischen Macht, verloren ginge. Ob man das bereits bei sechs oder sieben Jahren annehmen mu È sste, ist fraglich; das Beispiel zeigt, dass es im Einzelnen nicht immer ganz È nderung eines Grundprinzips vorliegt. leicht sein kann festzustellen, wann eine wesentliche A b) Eine GesamtaÈnderung laÈge auch vor, wenn die Regelung u È ber die GesamtaÈnderung selbst aufgehoben oder abgeaÈndert wu È rde.
4. Ob eine gesamtaÈndernde VerfassungsaÈnderung vorliegt, hat zunaÈchst der NR zu 120 beurteilen. Die Volksabstimmung wird in der Folge vom BPraÈs angeordnet. Ob das Verfahren der GesamtaÈnderung eingehalten wurde, hat letztlich der VfGH zu pru Èfen, der daher auch zu entscheiden hat, ob eine VerfassungsaÈnderung, die ohne Volksabstimmung durchgefu È hrt wurde, deshalb verfassungswidrig ist, weil sie die verfassungsrechtliche Grundordnung veraÈndert hat.
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Teil I. Grundlagen
5.3. GesamtaÈnderungen in der Verfassungspraxis È sterreichischen EU-Beitritt verbundenen VerfassungsaÈnderungen 121 1. Die mit dem o stellen in der bisherigen Verfassungspraxis den einzigen Fall einer durch Volksabstimmung legitimierten GesamtaÈnderung dar. In der politischen Praxis kann sich Art 44 Abs 3 B-VG als wesentliches Hindernis fu È r umfassende Reformmaûnahmen erweisen, weil einschneidende, die Grundordnung beru È hrende VerfassungsaÈnderungen ohne die Zustimmung der BevoÈlkerung nicht realisiert werden koÈnnen. Als eine verfassungswidrige GesamtaÈnderung hat der VfGH in seiner bisherigen Praxis eine EinschraÈnkung seiner Kompetenz zur GesetzespruÈfung durch eine Verfassungsbestimmung qualifiziert, die bestimmte gesetzliche Regelungen im Vergabewesen schlechterdings fu È r verfassungsmaÈûig erklaÈrt hatten (VfSlg 16.327/2001). Schwieriger zu erfassen sind ¹schleichende GesamtaÈnderungenª: So kann eine wiederholte und gehaÈufte Durchbrechung grundrechtlicher GewaÈhrleistungen (etwa durch eine Vielzahl von gleichheitswidrigen VerfasÈ bertrasungsbestimmungen) oder die AushoÈhlung des Bundesstaats durch eine schrittweise U gung der wichtigsten LaÈnderkompetenzen an den Bund im Ergebnis auf eine GesamtaÈnderung hinauslaufen; nicht einfach festzustellen ist aber, wann dann tatsaÈchlich die GesamtaÈnderung vorliegt.
122 2. Praktische Bedeutung kommt den verfassungsrechtlichen Grundprinzipien auch bei der Interpretation von Verfassungsbestimmungen zu, weil diese im Licht der verfassungsrechtlichen Grundordnung auszulegen sind (baugesetzkonforme Interpretation). Daher sind zB die Bestimmungen u È ber die Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts so auszulegen, dass ein dem Rechtsstaatsprinzip entsprechender effektiver Rechtsschutz gewaÈhrleistet ist.
6. Das demokratische Prinzip 6.1. Begriff und Bedeutung des demokratischen Prinzips È sterreich eine ¹demokratische Republikª, in der das Recht 123 1. Nach Art 1 B-VG ist O ¹vom Volk ausgehtª. Demokratie bedeutet woÈrtlich ¹Volksherrschaftª. Ihr Ziel ist die politische Freiheit: Der Staatswille soll von den gleichberechtigten Bu È rgerinnen und Bu È rgern gebildet werden, die sich zur selbstbestimmten politischen Gemeinschaft zusammengeschlossen haben. Daher gilt das Volk als der eigentliche ¹SouveraÈnª (Prinzip der VolkssouveraÈnitaÈt). Die Demokratie ist daher jene Staatsform, in der das Volk TraÈger der Staatsgewalt ist und an ihrer Ausu È bung entscheidend mitwirkt. 124 Als Staatsform ist die Demokratie eine Antwort auf die Frage, wer letztlich der TraÈger der Staatsgewalt ist; andere Staatsformen sind etwa die Monarchie, die Diktatur oder die Aristokratie. Nach der einflussreichen Demokratietheorie von Jean-Jacques Rousseau (Hauptwerk: Du Contrat social, 1762) zielt die Demokratie auf eine IdentitaÈt von Herrschern und Beherrschten: Damit niemand einem fremden Willen unterworfen ist, nimmt jedermann an der Bildung des gemeinsamen Willens (volonte geÂneÂrale) teil, der das wahre Allgemeininteresse verko È rpert. 125 a) Eine wirkliche IdentitaÈt der Regierenden und der Regierten ist freilich ein unerreichba-
res Ideal. Niemals sind alle Menschen in gleicher Weise an der Bildung des Staatswillens beteiligt und auch in der Demokratie mu È ssen Entscheidungen getroffen werden, denen nicht alle Betroffenen zustimmen koÈnnen. Dies fu È hrt notwendigerweise zum Mehrheitsprinzip, dh dass bei divergierenden Interessenlagen letztlich der Wille der Mehrheit den Ausschlag gibt, dem sich die Minderheit beugen muss. In diesem Sinn laÈuft das demokratische Prinzip darauf hinaus, dass den Staatsbu È rgerinnen und Staatsbu È rgern moÈglichst weitgehende politische MitbestimmungsmoÈglichkeiten einzuraÈumen sind. Die Geltung des Mehrheitsprinzips stoÈût freilich
2. Kapitel: Grundprinzipien des Bundesverfassungsrechts
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auf Grenzen, weil es grundlegende Interessen und Werte gibt, u È ber die sich auch eine demokratisch legitimierte Mehrheit nicht ohne weiteres hinwegsetzen darf. Die Grundrechte bezeichnen solche Positionen des Minderheitenschutzes. b) Ein wesentliches Merkmal der Demokratie ist die Gleichheit der Staatsbu È rger. Bei der po- 126 litischen Mitbestimmung ¹zaÈhltª jeder Einzelne gleich viel und sind Vorrechte ausgeschlossen, die sich etwa aus dem Besitz oder der Bildung ergeben. Dieser egalitaÈre Grundzug der Demokratie dru È ckt sich vor allem im gleichen Wahlrecht (¹one man, one voteª) aus. Das Prinzip der Chancengleichheit gilt auch fu È r die politischen Gruppierungen. Wer sich als Oppositionspartei in einer Position der Minderheit befindet, muss eine faire Chance haben, zur Mehrheit zu werden und Regierungsverantwortung u È bernehmen zu koÈnnen, weil die Demokratie auf politische Alternativen angewiesen ist und auf dem moÈglichen Wechsel von Regierung und Opposition beruht. c) Neben der Gleichheit sind die GrundsaÈtze der politischen Freiheit und der Toleranz 127 weitere unerlaÈssliche Bedingungen der Demokratie. Sie setzt voraus, dass sich politische Ideen È berzeugungen in vielfaÈltiger und pluralistischer Weise frei bilden ko und U È nnen und die gleiche politische Freiheit auch dem politisch anders Denkenden gesichert ist. Jeder TotalitaÈtsanspruch einer politischen Partei, Religion oder Ideologie ist mit der Demokratie unvereinbar. Es ist vor allem auch eine Funktion der Grundrechte, die Offenheit des politischen Systems, die freie gesellschaftliche Meinungsbildung und die pluralistische Organisation von Interessen zu gewaÈhrleisten.
2. Die demokratische Mitbestimmung im Staat kann in unterschiedlicher Weise orga- 128 nisiert sein. Dem Ideal der politischen Selbstbestimmung kommen Formen der direkten oder unmittelbaren (plebiszitaÈren) Demokratie am naÈchsten, in denen die Bu È rger selbst u È ber politische Sachfragen entscheiden. Dafu È r stehen verschiedene Instrumente zur Verfu È gung, vor allem Abstimmungen, Volksbefragungen oder Volksbegehren. In modernen Gesellschaften sind die anstehenden politischen Entscheidungen freilich von groûer KomplexitaÈt und gibt es einen Sachzwang zur Einfu È hrung arbeitsteiliger politischer Entscheidungsstrukturen. Das Demokratieprinzip wird dann in der Form realisiert, dass die Bu È rger nicht mehr selbst u È ber Sachfragen entscheiden, sondern Vertreter (RepraÈsentanten) waÈhlen, die mit einem Mandat zur politischen Entscheidung ausgestattet in Parlamenten (Volksvertretungen) taÈtig werden. Dann spricht man von indirekter oder mittelbarer (repraÈsentativer) Demokratie. Alle modernen Demokratien sind nach dem Modell einer repraÈsentativen Demokratie verfasst, wobei ergaÈnzend eine unmittelbare, direkt-demokratische Mitwirkung des Volkes in EinzelfaÈllen und in mehr oder minder groûem Ausmaû vorgesehen sein kann. a) Die Gru È nde fu È r die Notwendigkeit repraÈsentativer demokratischer Entscheidungs- 129 strukturen sind vielfaÈltig. Abgesehen davon, dass nicht alle Menschen bereit oder in der Lage sind sich staÈndig aktiv politisch zu engagieren, setzen die meisten politischen Entscheidungen speziellen Sachverstand voraus, gibt es die Notwendigkeit zu Kompromissen zwischen gegenlaÈufigen Interessen oder engen SachzwaÈnge oder verfassungsrechtliche Grenzen die verfu È gbaren politischen EntscheidungsmoÈglichkeiten ein. Eine unmittelbare plebiszitaÈre Mitwirkung wird von manchen aber auch wegen der Gefahr einer Manipulation des Volkes abgelehnt oder zumindest zuru È ckhaltend beurteilt. Letztlich dru È cken sich hier unterschiedliche politische Traditionen und Kulturen aus, wie zB einerseits das Beispiel der Schweiz mit kraÈftig ausgebauten Volksrechten und andererseits das Bonner Grundgesetz zeigen, das angesichts der historischen Erfahrungen mit ¹verfu È hrbarenª Volksmassen die direkt-demokratische Mitbestimmung fast vollstaÈndig zuru È ckgedraÈngt hat. b) In repraÈsentativen Demokratien kommt dem Parlamentarismus eine zentrale Stellung zu: 130 Durch das Parlament und die frei gewaÈhlten Abgeordneten wird das Volk ¹repraÈsentiertª, wobei es die Aufgabe des Parlaments ist, im Widerstreit der unterschiedlichen politischen Interessen das Gemeinwohl (allgemeines Wohl) zu bestimmen. Auch die GrundsaÈtze der Gewaltenteilung, die Grundrechte und rechtsstaatliche GewaÈhrleistungen begrenzen im Verfassungsstaat È uûerung des Volkswillens. Immer bleibt aber wesentlich, dass jeder Akt die unvermittelte A der Staatsgewalt ± mittelbar oder unmittelbar ± auf den Willen des Volkes zuru È ckgefu È hrt wer-
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den kann. Im Rahmen der verfassungsmaÈûigen Ordnung einer repraÈsentativen, parlamentarischen Demokratie koÈnnen Instrumente der direkten Demokratie und ihr Einsatz in geeigneter Form freilich wichtige Mittel zur Weckung von Bu È rgerverantwortung und ein Korrektiv zu einer allzu elitaÈr abgehobenen Politik sein.
131 3. Das unorganisierte Volk ist politisch nicht oder nur in engen Grenzen handlungsfaÈhig. Daher ist die Demokratie auf politische Parteien angewiesen, die politische Interessen bu È ndeln und artikulieren, politische HandlungstraÈger rekrutieren und È bernahme polisich vor allem in Wahlen um die Zustimmung der BevoÈlkerung zur U tischer Verantwortung bemu È hen. Vor allem in der repraÈsentativen Demokratie bilden die Parteien die politischen Eliten, die die eigentlichen TraÈger der politischen Macht sind. Diese u È berragende Stellung der politischen Parteien ist auch bei der Beurteilung verfassungsrechtlicher ZusammenhaÈnge entsprechend zu beru È cksichtigen. 132 Die moderne Demokratie ist daher eine parteienstaatliche Demokratie. Weil in den Parteien
die politische Macht bei den Fu È hrungsgruppen angesiedelt ist, nimmt sie damit gewisse Zu È ge einer Elitenherrschaft an. Das ist in bestimmten Grenzen unvermeidlich, zeigt aber, dass eine Demokratie auf weitere politische und rechtliche Vorkehrungen angewiesen ist, um die politische Selbstbestimmung des Volkes zu ermoÈglichen, die Verantwortlichkeit der Regierenden zu sichern und einem Missbrauch der Macht entgegenzuwirken. Dazu gehoÈren vor allem die verschiedenen Instanzen der politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Kontrolle (zB unabhaÈngige Gerichte, Rechnungsho È fe), ferner unabhaÈngige und kritische Massenmedien und andere Einrichtungen einer politisch aktiven ¹civil societyª (VerbaÈnde, Vereine, Bu È rgerinitiativen usw).
È sterrei6.2. Die Realisierung des demokratischen Prinzips im o chischen Verfassungsrecht 133 1. Die ausdru È ckliche Bezugnahme auf das demokratische Prinzip in Art 1 B-VG laÈsst fu È r sich betrachtet noch nicht erkennen, welche AuspraÈgung dieses Prinzip im o È sterreichischen Verfassungsrecht gefunden hat und was die wesentlichen Merkmale dieses Baugesetzes sind. Dazu ist Art 1 B-VG vor dem Hintergrund des Gesamtzusammenhangs des B-VG und vor allem jener Bestimmungen zu interpretieren, in denen das demokratische Prinzip einen naÈheren Ausdruck gefunden hat. 134 2. Wie vor allem die Regelungen u È ber die Aufgaben und die Zusammensetzung der allgemeinen VertretungskoÈrper (NR, LT, GRat) zeigen, hat sich das B-VG grundsaÈtzlich fu È r das Leitbild einer repraÈsentativen (mittelbaren, indirekten) Demokratie entschieden: Das Volk u È bt seine politische Selbstbestimmung hauptsaÈchlich durch die periodische Wahl von RepraÈsentanten aus, die politisch handeln (zB Art 26 B-VG). Innerhalb dieses Systems sind die obersten Verwaltungsorgane (Regierungen) den gewaÈhlten Volksvertretungen gegenu È ber verantwortlich (zB Art 74 B-VG) und werden die politischen Parteien verfassungsrechtlich als wichtige TraÈger der politischen Willensbildung anerkannt (§ 1 PartG). Zugleich laÈsst das B-VG erkennen (zB Art 43 B-VG), dass es auch gegenu È ber Formen der direkt-demokratischen Mitwirkung offen ist, durch die das RepraÈsentativsystem ergaÈnzt werden kann. Dass in der demokratischen Republik das Recht ¹vom Volk ausgehtª (Art 1 B-VG), bedeutet damit, dass jeder Rechtsakt letztlich vom Willen des Volkes getragen sein muss. 135 Fu È r das demokratische Prinzip iS des B-VG ist es daher verfassungsrechtlich maûgeblich, . dass die Aktivbu È rgerschaft in regelmaÈûigen freien Wahlen ihren politischen Willen ausdru È cken kann, . dass jede staatliche Entscheidung auf den so gebildeten Willen des Volkes zuru È ckgefu È hrt werden kann,
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. wobei die Willensbildung auf dem Wettbewerb frei gebildeter politischer Parteien beruht, und . dass Instrumente der direkten Demokratie als ErgaÈnzung der repraÈsentativdemokratischen Willensbildung eingefu È hrt werden koÈnnen. a) Im vorstehend umschriebenen Rahmen lassen sich eine Reihe von verfassungsrechtlichen 136 Regelungen und Einrichtungen ausmachen, die unter dem Aspekt des demokratischen Baugesetzes zum Verfassungskern gehoÈren. Dazu wird man jedenfalls rechnen mu È ssen: das Erfordernis regelmaÈûiger Wahlen und entsprechend bemessener Legislaturperioden, ein auf dem Prinzip der Gleichheit beruhendes Wahlrecht, eine der politischen Leitfunktion der Parlamente Rechnung tragende Aufgabenausstattung der Legislative, die politische Verantwortlichkeit der Regierungen, die Parteiengru È ndungsfreiheit, die Freiheit der Wahlwerbung und damit zusammenhaÈngende Freiheitsrechte (zB MeinungsaÈuûerungsfreiheit). b) Eine wesentliche SchwaÈchung der Parlamente, die Beseitigung der parlamentarischen Verant- 137 wortlichkeit der Regierungen oder die Einfu È hrung eines Einparteiensystems waÈren FaÈlle einer GesamtaÈnderung. Umstritten ist, ob die (mitunter diskutierte) direkte Volkswahl der Landeshauptleute ebenfalls nur im Wege des Art 44 Abs 3 B-VG eingefu È nnte. Geht man È hrt werden ko davon aus, dass auch das bestehende parlamentarische Regierungssystem im Bund und in den LaÈndern in seinen Grundzu È gen durch das demokratische Grundprinzip garantiert wird, muss das Vorliegen einer GesamtaÈnderung wohl bejaht werden (zum parlamentarischen Regierungssystem vgl noch unten Rz 141 f). Im Hinblick auf das verfassungsrechtliche VerhaÈltnis zwischen den Instrumenten der repraÈsentativen und direkten Demokratie ist davon auszugehen, dass der Schwerpunkt der Staatswillensbildung bei den Parlamenten (und damit bei der repraÈsentativen Demokratie) zu liegen hat. Das demokratische Bauprinzip ist grundsaÈtzlich als repraÈsentativ-demokratisches Prinzip zu verstehen (VfSlg 13.500/1993). Instrumente der direkten Demokratie du È rfen als ErgaÈnzung eingefu È hrt werden; ab welchem Punkt durch eine VerstaÈrkung plebiszitaÈrer Elemente die Schwelle zur GesamtaÈnderung erreicht wu È rde, ist nicht eindeutig festzustellen. Nach verbreiteter Ansicht darf das Rechtsetzungsmonopol der gewaÈhlten VertretungskoÈrper nicht in Frage gestellt werden, dh dass die Einfu È hrung einer echten ¹Volksgesetzgebungª unter Ausschaltung der Parlamente den Verfassungskern beru È hren wu È rde (VfSlg 16.241/2001). Mehr Spielraum fu È r die Entfaltung der direkten Demokratie gibt es auf Gemeindeebene, wie die Bestimmung des Art 117 Abs 8 B-VG verdeutlicht. c) Nach der o È sterreichischen Verfassungsordnung scheint auch eine Abschaffung der Demo- 138 kratie im Verfahren nach Art 44 Abs 3 B-VG moÈglich zu sein. Ob das wirklich richtig ist, mag zweifelhaft sein. Andere Verfassungen bekennen sich dagegen zum Konzept einer ¹streitbaren Demokratieª, das durch eine Reihe von Vorkehrungen (zB UnabaÈnderbarkeit der demokratischen Staatsform, Verbot extremistischer Parteien) verhindern moÈchte, dass die Feinde der Demokratie diese auf scheinbar legalem Weg beseitigen. d) Das demokratische Prinzip zielt wie dargelegt auf eine Selbstbestimmung des Volkes in der 139 verfassungsrechtlich organisierten Staatlichkeit. Die Realisierung dieses Prinzips kann vielfaÈltige Formen annehmen und etwa auch eine verstaÈrkte Mitwirkung der Bu È rger an Verwaltungsentscheidungen rechtfertigen. Eine andere Frage ist, ob das Demokratieprinzip auf eine umfasÈ bertragung desende ¹Demokratisierung aller Lebensbereicheª angelegt ist, dh auf eine U mokratischer Entscheidungsverfahren auch auf Wirtschaftsunternehmen, Bildungseinrichtungen oder andere gesellschaftliche VerbaÈnde bis hin zur Familie. So sehr hinter solchen Forderungen berechtigte Anliegen nach einer Selbstbestimmung des Einzelnen in wichtigen Sozialbereichen stehen ko È nnen, bleibt festzuhalten, dass das verfassungsrechtliche Demokratieprinzip auf den staatsorganisatorischen Bereich beschraÈnkt ist.
3. Der EU-Beitritt hat das demokratische Prinzip wesentlich modifiziert. Umfang- 140 reiche und wichtige Politikbereiche werden nicht mehr durch die oÈsterreichischen Gesetzgeber, sondern durch die EU-Organe entscheidend gestaltet. Damit wird das nationale o È sterreichische Recht maûgeblich durch Rechtsakte der EU ergaÈnzt, die nicht auf der Willensbildung eines oÈsterreichischen Parlaments oder des o È sterreichischen Volkes beruhen. Die demokratische Legitimation der EU, die im Wesentlichen durch das EuropaÈische Parlament und mittelbar durch die Mitwirkung o È sterreichischer Bundesminister im Rat der EU vermittelt wird, kann diese Einbuûe nicht ausgleichen.
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6.3. Das parlamentarische Regierungssystem 141 1. Die Staatsform der Demokratie kann im Rahmen unterschiedlicher Regierungssysteme verwirklicht werden, wobei der Begriff des Regierungssystems auf die naÈhere Ausgestaltung des VerhaÈltnisses zwischen der Regierung und dem Parlament zielt. In einer parlamentarischen Demokratie liegt das politische Schwergewicht beim Parlament. Die (meist) vom Parlament gewaÈhlte Regierung ist der Volksvertretung politisch und rechtlich verantwortlich und muss vom Vertrauen des Parlaments getragen sein. Gegen den Willen des Parlaments kann sich keine Regierung im Amt halten. Ein Staatsoberhaupt (PraÈsident) hat in diesem System nur eine relativ schwache Stellung mit u È berwiegend repraÈsentativen Aufgaben. In einer PraÈsidentschaftsrepublik wie in den USA oder Frankreich hat der PraÈsident eine starke politische Position. Er ernennt und entlaÈsst in der Regel die Minister, die ihm gegenu È ber verantwortlich sind, oder er ist u È berhaupt Regierungschef. Gegenu È ber dem Parlament ist die Regierung einer PraÈsidentschaftsrepublik verhaÈltnismaÈûig unabhaÈngig, dh sie kann sich auch gegen eine abweichende politische Mehrheit im Amt halten. Vor allem gibt es in einer PraÈsidentschaftsrepublik keine politische Verantwortlichkeit der Regierung gegenu È ber dem Parlament (kein parlamentarisches Misstrauensvotum), sondern nur eine rechtliche, durch Ministeranklage auszuu È bende Verantwortlichkeit. 142 2. Das B-VG verwirklicht ein parlamentarisches Regierungssystem, das auf Bundesebene einen gewissen praÈsidentiellen Einschlag aufweist: Maûgeblich dafu È r ist in erster Linie der Umstand, dass die BReg und die LReg vom Vertrauen des jeweiligen Parlaments getragen sein mu È ssen und diesem gegenu È ber politisch verantwortlich sind. Wird der gesamten Regierung oder einem Minister das Misstrauensvotum ausgesprochen, bedeutet das den Amtsverlust. Regierung und parlamentarische Mehrheit sind daher in der politischen Praxis auch politisch verklammert. Der BPraÈs steht auûerhalb der Regierung und er hat ± von der Regierungsbildung und allfaÈlligen Krisensituationen abgesehen ± nur wenige politisch gewichtige Handlungsbefugnisse. Auf Bundesebene wurde das rein parlamentarische System, zu dem sich noch die Ursprungsfassung des B-VG bekannt hatte, im Zuge der Verfassungsnovelle von 1929 durch eine Aufwertung des PraÈsidentenamtes modifiziert. Der vom Volk gewaÈhlte (und damit in seiner Legitimation gestaÈrkte) BPraÈs ernennt und entlaÈsst seither die BReg und er kann den NR aufloÈsen. Wegen der fortbestehenden ParlamentsabhaÈngigkeit der Regierung ist das parlamentarische Regierungssystem dadurch aber nicht grundlegend veraÈndert worden, weshalb die B-VG-Novelle von 1929 auch keine GesamtaÈnderung war. Im Landesbereich ist das parlamentarische System uneingeschraÈnkt beibehalten worden, wie sich am deutlichsten in der Wahl der LReg durch den LT zeigt (zur Regierungsbildung im Bund und in den LaÈndern vgl Rz 696 ff, 748 ff).
6.4. Die parteienstaatliche Demokratie und die VerbaÈnde 143 1. Auf die groûe Bedeutung der politischen Parteien fu È r die demokratische Ordnung wurde bereits hingewiesen. Sie ist auch verfassungsrechtlich anerkannt. Nach der Verfassungsbestimmung des § 1 Abs 1 PartG sind die Existenz und Vielfalt politischer Parteien wesentliche Bestandteile der demokratischen Ordnung der Republik È sterreich. Deshalb garantiert die Verfassung auch eine weit reichende ParteienO freiheit (Gru È ndungs- und BetaÈtigungsfreiheit) als verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistetes Recht (vgl dazu und zur Rechtsstellung der politischen Parteien auch noch Rz 223 ff).
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2. Nach § 1 Abs 2 PartG gehoÈrt die Mitwirkung an der politischen Willensbil- 144 dung zu den Aufgaben der politischen Parteien. Diese Formulierung ist in gewisser Weise irrefu È hrend, weil die Parteien in Wirklichkeit nicht nur an der politischen Willensbildung ¹mitwirkenª, sondern die wesentlichen TraÈger der politischen Macht sind. Ihr Einfluss geht daher weit u È ber die ihnen verfassungsrechtlich zugeschriebene Funktion hinaus und das kann auch dazu fu È hren, dass gewisse verfassungsrechtliche Instrumente und Institutionen u È berformt werden. È ber die politischen Parteien ist die Regierung mit der Mehrheit im Parlament zu einer po. U litischen Handlungseinheit verbunden. Das ist eine zwangslaÈufige Konsequenz eines parlamentarischen Regierungssystems, in dem die Regierung auf das Vertrauen der parlamentarischen Mehrheitspartei bzw einer Parteienkoalition angewiesen ist. In der Folge kann es zu einer BeeintraÈchtigung der Kontrollfunktion des Parlaments kommen, weil nicht zu erwarten ist, dass die parlamentarische Mehrheit der von ihr getragenen Regierung Schwierigkeiten bereitet. Daher ist eine effektive Kontrolle in erster Linie von der parlamentarischen Opposition zu erwarten, was freilich voraussetzt, dass die parlamentarischen Kontrollrechte als Minderheitenrechte ausgestaltet sind, was nur teilweise der Fall ist (vgl dazu noch unten Rz 578). . Die politischen Parteien rekrutieren die politischen Eliten und bringen WahlvorschlaÈge ein. Damit entscheiden sie letztlich daru È ber, wer im Parlament als Abgeordneter taÈtig sein kann und ggf auch wieder als Kandidat aufgestellt wird. Die einzelnen Abgeordneten sind daher von der Parteifu È hrung in mehr oder minder groûem Umfang abhaÈngig. Weil sich die MandatstraÈger der Fraktionsdisziplin unterwerfen mu È ssen, besteht die Gefahr einer BeeintraÈchtigung der freien Willensbildung der Abgeordneten und ihres freien Mandats (Art 56 B-VG) (vgl dazu noch unten Rz 531 ff). . Weil die politischen Parteien um den Erwerb und die Erhaltung politischer Macht beÈ mter mit Parteimu È ffentliche A È ht sind, sind sie der Versuchung ausgesetzt, einflussreiche o gaÈngern zu besetzen und ihren AnhaÈngern Vorteile zuzuschanzen. Das kann zu einer politiÈ mterpatronage fu schen A È hren, die zT ein verfassungswidriges Ausmaû annimmt und eine fragwu È rdige parteipolitische Durchdringung weiter Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens (¹Parteibuchwirtschaftª) zur Folge haben kann.
Diese einflussreiche Rolle der politischen Parteien ist eine RealitaÈt, die zur Kenntnis 145 zu nehmen ist. Sie Èandert nichts an den verfassungsrechtlichen Verantwortlichkeiten, welche die Parteien ebenso respektieren mu È ssen wie die rechtlichen Grenzen des politischen Handelns (zB ZustaÈndigkeitsgrenzen, Grundrechte, verfahrensmaÈûige Bindungen). Die Dominanz der Parteien im gesellschaftlichen Leben kann auch zur Politikverdrossenheit und zu einem Ru È ckzug der Bu È rger aus dem politischen Engagement fu È hren. Neben der Notwendigkeit einer ¹innerparteilichen Demokratieª, die den Parteimitgliedern entsprechende MitwirkungsmoÈglichkeiten innerhalb ihrer Parteien gibt, ist es daher wichtig, dass sich die Menschen auch auûerhalb von Parteien politisch betaÈtigen koÈnnen. 3. Die politische Situation eines Landes wird auch von der Struktur des Parteien- 146 systems und dem VerhaÈltnis der politischen Parteien zueinander bestimmt. In È sterreichs waren die Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg der politischen Kultur O durch das Bemu È hen der groûen politischen Lager um Konsens und Konfliktvermeidung gekennzeichnet, was die Zusammenarbeit in den Formen einer so genannten ¹Konkordanzdemokratieª erleichtert hat. Ausdruck dafu È r waren vor allem die groûen Koalitionen zwischen der Volkspartei und der Sozialdemokratie, die nur gelegentlich durch eine Alleinregierung einer Partei unterbrochen waren. Einen gewissen Gegensatz dazu stellt das Modell der Konkurrenzdemokratie dar, das auf einem deutlichen Gegensatz zwischen einer von der Mehrheitspartei getragenen Regierung und einer starken Opposition beruht. Verfassungsrechtliche Institutionen koÈnnen das eine oder das andere Modell begu È nstigen: So entspricht etwa der in den meisten LV vorgesehene Proporz in der LReg, dh die zwingende Regierungsbe-
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teiligung aller oder zumindest aller gro È ûeren Parteien, dem Konzept einer auf Zusammenarbeit beruhenden Konkordanzdemokratie. Umgekehrt hat die in einzelnen BundeslaÈndern vorgenommene Beseitigung des Proporzes, die zu Mehrheitsregierungen fu È hrt, eine Hinwendung zu staÈrker konkurrenzdemokratischen politischen Strukturen signalisiert. 147 4. Neben den politischen Parteien sind auch die VerbaÈnde und die Einrichtungen der Sozialpartnerschaft wichtige politische GestaltungskraÈfte, welche die verfassungsrechtlich vorgezeichneten demokratischen Willensbildungsprozesse ergaÈnzen. In den VerbaÈnden sind die wirtschaftlichen Interessengruppen organisiert; dazu geÈ ffentlich-rechtlichen Kammern als Einrichtungen der wirtschaftlihoÈren die o chen Selbstverwaltung (zB Wirtschaftskammer, Arbeiterkammer, LandwirtschaftsÈ sterreichischer Gewerkschaftsbund, Industrielkammer) und maÈchtige Vereine (O lenvereinigung). Diese Institutionen wirken auf die Politik in vielfacher und oft entscheidender Weise ein: Vor allem in wirtschaftspolitischen Bereichen beeinflussen sie die einschlaÈgige Gesetzgebung durch ihre Experten und ihr politisches Gewicht, sie entsenden Vertreter in zahlreiche BeiraÈte und kollegiale VerwaltungsbehoÈrden È mtern taÈtig. und ihre FunktionaÈre sind oft auch in politischen A 148 Als ¹Sozialpartnerschaftª bezeichnet man die auf Freiwilligkeit beruhende Zusammenarbeit der VerbaÈnde zur Abstimmung und zum Ausgleich der durch sie vertretenen wirtschaftlichen Interessen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Vor allem im Arbeitsrecht und in anderen wirtschaftspolitischen Bereichen werden die entscheidenden Verhandlungen im Vorfeld des Gesetzgebungsprozesses haÈufig von den Sozialpartnern gefu È hrt. Kommt es zu einem Konsens, beschraÈnkt sich der eigentliche Gesetzgeber (das Parlament) darauf, den erzielten Interessenausgleich in die Form des Gesetzes zu bringen. In dieser Form hat die Sozialpartnerschaft wesentlich zum soÈ sterreich beigetragen. Der Preis dafu zialen Frieden in O È r ist freilich eine Zuru È ckdraÈngung der Rolle des demokratisch legitimierten Parlaments. Seit der B-VG-Novelle 2008 ist die Sozialpartnerschaft in der Verfassung verankert (Art 120a Abs 2 B-VG). 149 Die Zusammenarbeit der Sozialpartner spielt sich in institutionalisierter Form in einem infor-
mellen Gremium ab, der ParitaÈtischen Kommission fu È r Preis- und Lohnfragen. Dieses Gremium mit seinen Untergruppen hat keine foÈrmlichen Entscheidungskompetenzen, sondern wird beratend und durch die Abgabe unverbindlicher Empfehlungen taÈtig. Konnte man È sterreichs lange Zeit nicht ohne Grund von einem ¹Kammer- und VerbaÈndestaatª spreim Fall O chen, hat der Einfluss der InteressenverbaÈnde und der Sozialpartnerschaft in der Gegenwart eher abgenommen.
6.5. Demokratiereform 150 Das Ziel der groÈûtmoÈglichen politischen Freiheit der Menschen im Staat gibt der Forderung
nach einem Ausbau der demokratischen Mitbestimmung immer wieder neue Impulse. Reformbestrebungen ko È nnten auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen: Gefordert wird ein Ausbau der unmittelbaren Mitwirkung (¹Partizipationª) an Verwaltungsentscheidungen, etwa bei der Genehmigung von Groûprojekten oder bei RaumordnungsplaÈnen. WaÈhrend nach dem ¹klassischenª Vollzugsmodell die demokratische Legitimation der Verwaltung durch die strikte Bindung an das Gesetz und die parlamentarische Verantwortlichkeit der politischen Fu È hrungsspitze hergestellt wird, soll hier im Wege von Bu È rgerbeteiligungsverfahren ein unmittelbarer Einfluss der Betroffenen gesichert werden. Im Bereich der Gesetzgebung gibt es Bestrebungen nach einer VerstaÈrkung der plebiszitaÈren Instrumente (zB Referendum auf Volksinitiative, Vetoreferendum) oder eine Verbreiterung des Kreises der Wahlberechtigten, was zuletzt durch die Herabsetzung des Wahlalters und durch die Zulassung der Briefwahl tatsaÈchlich geschehen ist (vgl Rz 517). Forderungen nach einem Systemwechsel vom VerhaÈltniswahlrecht zu einem Mehrheitswahlrecht, der erhebliche Auswirkungen auf die Parteienlandschaft und die politische Kultur haÈtte, konnten sich bisher nicht durchsetzen.
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7. Das republikanische Prinzip 7.1. Begriff und Bedeutung des republikanischen Prinzips 1. Eine Republik ist ein Staat mit einem gewaÈhlten Staatsoberhaupt mit einer 151 zeitlich begrenzten Funktionsperiode, das fu È r seine Amtsfu È hrung politisch und rechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Dadurch unterscheidet sich die Republik von einer Monarchie, der ein KoÈnig oder Kaiser vorsteht, der (in der Regel) kraft Erbfolge in sein Amt gelangt, eine unbegrenzte Amtsperiode hat und fu È r seine Amtsfu È hrung nicht zur Verantwortung gezogen werden kann. Der wesentliche Kerngehalt des republikanischen Prinzips liegt daher in der Absage an die Monarchie. 2. Neben dieser negativen Abgrenzung zur Monarchie traÈgt das Konzept der Repu- 152 blik noch eine weitere Bedeutung in sich. Die Republik ist als ¹res publicaª ein Staat, der Sache aller Bu È rger und dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Dies macht deutlich, dass es letztlich die Bu È rgergesellschaft (¹civil societyª) ist, welche die Grundlage einer demokratischen Republik bildet. Dieser republikanische Staat tritt seinen Bu È rgern nicht fremd gegenu È ber, sondern wird aus ihrer Mitte aufgebaut und ist die auf Freiheit angelegte Organisationsform der sich selbst bestimmenden Gesellschaft. In der Konsequenz muss man davon ausgehen, dass jeder TraÈger eines È ffentlichen Amtes dieses nur treuhaÈndig u o È bertragen bekommen hat und seine Amtsfu È hrung dem Volk gegenu È ber verantworten muss.
7.2. Die Realisierung des republikanischen Prinzips im È sterreichischen Verfassungsrecht o 1. Die republikanische Regierungsform wird gemeinsam mit der Demokratie in 153 Art 1 B-VG angesprochen. Historisch ist diese systempraÈgende Verfassungsentscheidung eng mit der deutlichen Zuru È ckweisung der Habsburgerdynastie und der damit verknu È pften Abgrenzung zur Monarchie verbunden. Damit im Zusammenhang stehen das HabsburgerG 1919 und AdelsaufhebungsG 1919, die als Verfassungsgesetze gelten (Art 149 B-VG). Durch das HabsburgerG wurde die Landesverweisung der Mitglieder des Hauses Habsburg verfu È gt, soweit sie nicht eine VerzichtserklaÈrung abgegeben und sich als loyale StaatsbuÈrger zur Republik bekannt hatten. Auf ¹nachgeboreneª (nach 1919 geborene) Habsburger ist dieses Gesetz nicht anwendbar, das auch durch die Freizu È gigkeitsbestimmungen des EGV und die Rechte der Unionsbu È rger u È berlagert wird. Das AdelsaufhebungsG hat den Adel und damit verbundene Titel usw aufgehoben und stellt die Fu È hrung von Adelsbezeichnungen unter Verwaltungsstrafe.
2. NaÈher ausgestaltet wird das republikanische Prinzip im B-VG durch die Bestim- 154 mungen u È ber die Wahl des BPraÈs (seit 1929 in Form einer Volkswahl vorgesehen), durch den Ausschluss von Mitgliedern regierender HaÈuser und ehemals regierender HaÈuser vom Amt des BPraÈs, die auf 6 Jahre begrenzte Funktionsperiode mit der einmaligen ZulaÈssigkeit einer Wiederwahl und durch die Bestimmungen u È ber seine rechtliche und politische Verantwortlichkeit (vgl dazu unten Rz 683). Abgesehen von der nicht sehr wahrscheinlichen Wiedererrichtung einer Monarchie gehoÈren vor allem die Bestimmungen u È ber die begrenzte Amtsperiode und die Verantwortlichkeit des BPraÈs zum Verfassungskern. Die Beseitigung der direkten Volkswahl des BPraÈs waÈre demgegenu È ber keine GesamtaÈnderung.
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8. Das bundesstaatliche Prinzip 8.1. Begriff und Bedeutung des bundesstaatlichen Prinzips 155 1. Das bundesstaatliche Prinzip bezieht sich auf die territoriale Gliederung des Staates und die Frage, ob dieser als ein zentralistischer Einheitsstaat oder als ein È deralistischer Bundesstaat aufgebaut ist. Zwar sind auch Einheitsstaaten (wie fo zB Frankreich) haÈufig raÈumlich gegliedert und haben Provinzen oder Èahnliche regionale Einheiten mit einer gewissen Autonomie. Im Bundesstaat kommt aber den Teileinheiten StaatsqualitaÈt zu und sie haben Anteil an der Gesetzgebungsgewalt. Ein solcher Staat besteht aus einem Oberstaat (Bund) und Gliedstaaten (zB LaÈndern oder Kantonen), die gemeinsam die Staatsgewalt ausu È ben. Anders als bei einem Staatenbund, der eine Verbindung selbstaÈndiger Staaten ist, wird der Bundesstaat (¹Staatenstaatª) durch eine gemeinsame verfassungsrechtliche Ordnung zusammengehalten. 156 2. Durch die bundesstaatliche Ordnung soll die politische Selbstbestimmung der Bu È rgerinnen und Bu È rger auch auf der regionalen Ebene gesichert werden. Insofern dient der Bundesstaat der politischen Freiheit. Zugleich kann dem regionalen ZuÈ rigkeitsgefu sammengeho È hl und gewissen regionalen Besonderheiten (ethnische Herkunft, kulturelle Eigenarten, unterschiedliche Sprachen) im Rahmen einer solchen Ordnung mehr Raum gegeben werden. Schlieûlich traÈgt der Bundesstaat auch zur Machtbegrenzung bei, weil mehrere politische Entscheidungszentren bestehen und die politischen MehrheitsverhaÈltnisse in den Gliedstaaten nicht notwendigerweise die gleichen wie im Bund sein mu È ssen. 157 a) Im Bundesstaat verwirklicht sich das Prinzip der SubsidiaritaÈt. Nach diesem politischen
Gestaltungsprinzip sollen alle jene Aufgaben, die auch von einer kleineren Gemeinschaft besorgt werden koÈnnen, von dieser wahrgenommen werden und nur diejenigen Aufgaben, die deren KraÈfte u È bersteigen, von einer politischen Gemeinschaft hoÈherer Ordnung: Was zB die Familien im Bereich der Erziehung leisten ko È nnen, soll der Staat diesen u È berlassen. In gleicher Weise sollen die lokalen oder regionalen politischen Gemeinschaften (Gemeinden, LaÈnder) alle jene Gemeinwohlaufgaben besorgen, die nicht wegen ihrer KomplexitaÈt oder ihrer u È beroÈrtlichen Bezu È ge vom Bund (oder auf der europaÈischen Ebene) aufgegriffen werden mu È ssen.
158 b) Die Erledigung von Staatsaufgaben auf der uÈberschaubaren regionalen Ebene von Bundes-
laÈndern oder Kantonen kann auch bu È rgernaÈher, zweckmaÈûiger und wirtschaftlicher sein und einem zentralistischen Bu È rokratismus entgegenwirken. Das setzt freilich eine vernu È nftige Aufgabenverteilung zwischen dem Zentralstaat und den Gliedstaaten ebenso voraus wie eine sinnvolle Kooperation zwischen den LaÈndern und zwischen dem Bund und den LaÈndern. Man spricht in diesem Zusammenhang vom ¹kooperativen Bundesstaatª. Der Bundesstaat eroÈffnet auch Chancen fu È r einen foÈderalistischen Ideenwettbewerb. Andererseits darf man natu È rlich nicht u È bersehen, dass ein unzweckmaÈûig aufgebauter Bundesstaat bu È rokratische und kostspielige Verwaltungsstrukturen nach sich zieht und dass kleinraÈumige staatliche Gebilde der Gefahr des politischen Provinzialismus erliegen koÈnnen. Viele staatliche Aufgaben lassen sich unter den Bedingungen einer modernen Gesellschaft sinnvoll nur in gesamtstaatlichen ZusammenhaÈngen wahrnehmen. Die zweckmaÈûige Ausgestaltung einer zeitgemaÈûen bundesstaatlichen Ordnung ist daher eine ungemein schwierige verfassungspolitische Herausforderung.
159 c) Der Bundesstaat wird oft auch mit dem foÈderalistischen Prinzip in Zusammenhang ge-
bracht. Unter FoÈderalismus versteht man eine politische Ordnung, die auf einem Zusammenschluss selbstaÈndiger Einheiten beruht; historisch sind auf diese Weise manche Bundesstaaten (zB USA, Deutsches Reich) entstanden. Im Prinzip ist der Bundesstaat die wichtigste Erscheinungsform des FoÈderalismus.
160 3. Die theoretische Erfassung des Bundesstaats hat der Staatsrechtslehre immer wieder Schwierigkeiten bereitet, vor allem wenn man vom Prinzip der SouveraÈnitaÈt als Attribut einer obersten, nach innen und auûen unabhaÈngigen Staatsgewalt aus-
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geht. Ob es im Bundesstaat eine zwischen dem Bund und den LaÈndern geteilte SouveraÈnitaÈt geben kann oder ob nicht doch dem Bund die ungeteilte SouveraÈnitaÈt zugeschrieben werden muss, ist umstritten. Damit haÈngt es auch zusammen, ob man davon ausgeht, dass die Staatsgewalt der LaÈnder (Gliedstaaten) eine eigenstaÈndige Staatsgewalt ist oder ob sie nicht doch nur eine vom Bund (Oberstaat) abgeleitete Staatsgewalt besitzen. Letztlich lassen sich diese Fragen nur vor dem Hintergrund einer konkreten verfassungsrechtlichen Ordnung diskutieren, da der Bundesstaat in seiner konkreten Gestalt ganz unterschiedlich ausgeformt sein kann. a) Ein wichtiges Kriterium fu È r die Ausgestaltung eines Bundesstaats kann die Zuordnung der 161 Kompetenzhoheit sein: Kompetenzhoheit bedeutet die ZustaÈndigkeit zur verbindlichen Regelung der Verteilung der Aufgaben zwischen dem Oberstaat und den Gliedstaaten. Ist der Bund der alleinige TraÈger der Kompetenzhoheit, dh kann er allein u È ber die Zuweisung von Staatsaufgaben entscheiden, kommt den LaÈndern kein eigenstaÈndiger Anteil an der Staatsgewalt zu. Ein solcher Staat steht einem Zentralstaat naÈher als einem Bundesstaat. Die bundesstaatlichen Strukturen sind staÈrker ausgepraÈgt, wenn die Kompetenzhoheit zwischen dem Bund und den LaÈndern geteilt ist, was dann der Fall ist, wenn der Bund und die LaÈnder einvernehmlich u È ber die Ausgestaltung der Kompetenzverteilung entscheiden oder diese Entscheidung einem gemeinsamen Organ u È bertragen ist. b) Nach Hans Kelsen kann man den Bundesstaat als eine dreigliedrige Rechtsordnung deu- 162 ten: Danach gibt es eine gesamtstaatliche Rechtsordnung, von der sich die Rechtsordnung des Bundes und die der LaÈnder ableiten laÈsst. Nach diesem Modell ist auch die Staatsgewalt des Bundes eine von der Gesamtrechtsordnung abgeleitete Staatsgewalt, wobei zur Gesamtrechtsordnung vor allem die Regelungen u È ber die Kompetenzverteilung gehoÈren. Im konkreten Verfassungsrecht spiegelt sich freilich eine solche dreigliedrige Struktur in der Regel entweder nicht oder nur in AnsaÈtzen (zur Einordnung des B-VG vgl noch unten Rz 168).
È ster8.2. Die Realisierung des bundesstaatlichen Prinzips im o reichischen Verfassungsrecht È sterreich als ein Bundesstaat eingerichtet. Art 2 163 1. Nach Art 2 Abs 1 B-VG ist O Abs 2 B-VG zaÈhlt die einzelnen BundeslaÈnder auf, die den Bundesstaat bilden. Der È sterreich bezeichnet wird, besteht daÈ sterreich, der als Republik O Gesamtstaat O her aus einem Bund und aus neun selbstaÈndigen LaÈndern, die seine Glied- oder Teilstaaten sind. Historisch geht der o È sterreichische Bundesstaat auf die Gliederung der Monarchie in KronlaÈnder zuru È ck. Der Gegensatz zwischen foÈderalistischen und zentralistischen Tendenzen spielt seit der Gru È ndung der Republik eine groûe Rolle fu È sterreichische Verfassungspolitik. È r die o È sterreichs ist zunaÈchst die Auftei- 164 2. Wesentlich fu È r die bundesstaatliche Ordnung O lung der Staatsaufgaben (Kompetenzen) zwischen dem Bund und den BundeslaÈndern: Bund und BundeslaÈnder haben jeweils eigenstaÈndige Aufgaben im Bereich der Gesetzgebung und der Vollziehung, die sie selbstaÈndig und in weitgehender UnabhaÈngigkeit voneinander wahrnehmen. Diese Kompetenzverteilung ist verfassungsrechtlich im B-VG festgelegt (vor allem: Art 10±15 B-VG, F-VG). Sie kann nur durch den Verfassungsgesetzgeber unter qualifizierter Beteiligung des Bundesrats abgeaÈndert werden (Art 44 Abs 2 B-VG). Vor allem weil die BundeslaÈnder selbstaÈndige Gesetzgebungsbefugnisse haben, koÈnnen sie ± anders als etwa die Provinzen eines Einheitsstaats oder als die Gemeinden ± als ¹Staatenª angesehen werden. Ein weiteres wesentliches Merkmal des bundesstaatlichen Prinzips ist die Mitwirkung der LaÈnder an der Gesetzgebung des Bundes, durch die sichergestellt wird, dass dabei die Interessen der Gliedstaaten beru È cksichtigt werden. Die Beseitigung einer eigenstaÈndigen Landesgesetzgebung oder eine ins Gewicht fal- 165 lende SchwaÈchung der selbstaÈndigen Landeskompetenzen in Gesetzgebung oder Vollziehung waÈre daher eine GesamtaÈnderung. Gleiches wu È rde fu È r eine Beseitigung der LaÈnderkammer
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(BR) gelten, wobei es aber denkbar waÈre, dass der BR durch eine andere Institution ersetzt wird, die ebenfalls eine Beteiligung der LaÈnder an der Bundesgesetzgebung ermoÈglicht. Zur Problematik der ¹schleichenden GesamtaÈnderungª, die vor allem im Hinblick auf eine schrittweise AushoÈhlung von Landeskompetenzen eine Rolle spielen kann, vgl oben Rz 121. Der VfGH hat auch die Einrichtung der mittelbaren Bundesverwaltung (dazu Rz 721 ff) als wesentliches Element der bundesstaatlichen Ordnung angesehen (VfSlg 11.403/1987). Ob ihre Abschaffung den Verfassungskern beru È hren wu È rde, ist umstritten. Wenn den LaÈndern im Ausgleich dafu È r vermehrte eigenstaÈndige Verbandskompetenzen etwa nach Art 11 B-VG eingeraÈumt wu È rden, mu È sste das nicht zwangslaÈufig der Fall sein. Die Existenz einer eigenstaÈndigen Landesbu È rgerschaft ist nach VfSlg 2455/1952 kein wesentliches Merkmal des bundesstaatlichen Prinzips.
È sterreichs zur EU ist es zu einer Verlagerung von Staatsauf166 3. Durch den Beitritt O gaben auf die europaÈische Ebene gekommen. Dies geht letztlich auch auf Kosten der LaÈnder, weil in den Organen der EU (vor allem im Rat) in der Regel nur Bundesorgane entscheidend mitwirken koÈnnen. Die verfassungsrechtlich vorgesehenen Einflussrechte der LaÈnder koÈnnen diesen Kompetenzverlust nicht ausgleichen (vgl Art 23d B-VG; vgl dazu Rz 326 f). 167 4. Weil die BundeslaÈnder im Rahmen der bundesstaatlichen Ordnung Staaten sind, haben sie auch eine eigenstaÈndige Landesverfassung (LV). Nach der Konzeption des B-VG kommt den BundeslaÈndern allerdings nur eine eingeschraÈnkte Verfassungsautonomie zu: Nach Art 99 B-VG darf die LV die Bundesverfassung nicht ¹beru È hrenª, dh sie darf dem Verfassungsrecht des Bundes und den in ihm verankerten Grundprinzipien nicht widersprechen. Die LaÈnder haben daher einen eigenstaÈndigen verfassungsrechtlichen Gestaltungsspielraum nur insoweit, als das Bundesverfassungsrecht keine abschlieûende Regelung getroffen hat. Daher du È rfen die LV zB im Hinblick auf die Erzeugung von Landesgesetzen nur eine ZustaÈndigkeit der Landtage vorsehen (vgl Art 95 B-VG) und sind die Grundzu È ge des Wahlrechts fu È r die LT weitgehend bundesverfassungsrechtlich vorgegeben. Soweit das B-VG aber bestimmte Fragen offen gelassen hat, du È rfen die LaÈnder eigenstaÈndige verfassungsrechtliche Regelungen treffen, etwa im Zusammenhang mit der Dauer der Legislaturperiode der LT oder bei der Einrichtung eigener, zur finanziellen Kontrolle im Landesbereich berufener Kontrollorgane (zB Landes-RechnungshoÈfe). Man spricht daher von einer ¹relativen Verfassungsautonomieª der oÈsterreichischen BundeslaÈnder. 168 Vor allem wegen Art 99 B-VG geht die herrschende oÈsterreichische Lehre davon aus, dass die
Staatsgewalt der LaÈnder nur eine vom Bund abgeleitete Staatsgewalt ist; in der Folge hat man den o È sterreichischen Bundesstaat als eine Erscheinungsform eines ¹dezentralisierten Einheitsstaatsª angesehen. Dem hat eine staÈrker fo È deralistisch ausgerichtete Lehrmeinung widersprochen, nach der den BundeslaÈndern eine eigenstaÈndige (originaÈre) Staatlichkeit zukommen soll (vor allem: Peter Pernthaler); dabei beruft man sich auch auf die Entstehungsgeschichte des oÈsterreichischen Bundesstaats und auf den ¹Beitrittª einzelner LaÈnder, der in seiner Bedeutung freilich sehr umstritten ist. Steht man auf dem Boden der dreigliedrigen Bundesstaatstheorie Hans Kelsens (vgl Rz 162), mu È sste man einzelne Regelungen des B-VG, in erster Linie die Kompetenzbestimmungen, als Teile einer Gesamtrechtsordnung deuten. Das Èandert freilich nichts daran, dass es ein Bundesorgan ist, naÈmlich der NR, der als Verfassungsgesetzgeber auch u È ber diese Gesamtrechtsordnung entscheidet. Ihm kommt auch die Kompetenzhoheit zu, die er freilich nur gemeinsam mit dem BR ausu È ben kann, wenn es um Kompetenzverschiebungen zu Lasten der LaÈnder geht (Art 44 Abs 2 B-VG). In dieser EinschraÈnkung der Bundesgewalt durch ein Mitbestimmungsrecht der LaÈnder in Fragen der Kompetenzverteilung liegt ein Ansatz dafu È r, dass die LaÈnder tatsaÈchlich StaatsqualitaÈt besitzen.
169 5. Obwohl die staatsrechtliche Ordnung im Bund und in den LaÈndern auf Trennung und selbstaÈndige Wahrnehmung der jeweiligen Kompetenzen angelegt ist, sieht das B-VG auch gewisse Formen der wechselseitigen institutionellen Verflechtung È deralismusª). Dazu gezwischen Bund und LaÈndern vor (so genannter ¹Verbundfo hoÈrt die Mitwirkung am Gesetzgebungsverfahren der jeweils anderen GebietskoÈrper-
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schaft (vgl Rz 617 ff, 622 ff), die bundesstaatliche Pflicht zur Beru È cksichtigung der gegenbeteiligten Interessen (Beru È cksichtigungspflicht; vgl Rz 467 ff), die Einrichtung der mittelbaren Bundesverwaltung (vgl Rz 723 ff) und zahlreiche andere Einflussrechte auf die Vollziehung der jeweils anderen GebietskoÈrperschaft. In der Regel kommt dabei freilich dem Bund die dominierende Stellung zu.
È sterreichischen Fo È deralismus 8.3. Die RealitaÈten des o 1. Vergleicht man den durch das B-VG eingerichteten Bundesstaat mit anderen bun- 170 desstaatlichen Ordnungen (zB der Bundesrepublik Deutschland oder der Schweiz) È deralistische Ausgestaltung unu ist seine schwache fo È bersehbar. Dazu tragen verschiedene Gesichtspunkte bei. Sie zeigen, dass die konkrete Gestalt des o È sterreichischen Bundesstaats von Anfang an ein Kompromiss zwischen bundesstaatlichen und zentralistischen Vorstellungen war, wobei letztlich ein Bundesstaat mit zentralistischen Grundzu È gen verwirklicht wurde: . Die wichtigsten Gesetzgebungskompetenzen hat sich der Bund von Anfang an vorbehalten und die lange Zeit vorherrschende zentralistische Grundhaltung hat dazu gefu È hrt, dass es auch spaÈter zu weiteren Kompetenzverschiebungen zu Lasten der LaÈnder gekommen ist (¹Bundeslastigkeit der Kompetenzverteilungª). Dazu kommt, dass den LaÈndern auch keine eigenstaÈndige Landesgerichtsbarkeit zugestanden worden ist. Politisch gewichtige Gestaltungsbefugnisse stehen den LaÈndern daher nur begrenzt zur Verfu È gung, in erster Linie im Bereich der Verwaltung. Daher spricht man auch von einem ¹VollzugsfoÈderalismusª. . Die zur Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung eingesetzte LaÈnderkammer (BR) hat mit ihrem suspensiven Vetorecht eine nur schwach ausgepraÈgte Stellung, die auch nur sehr zuru È ckhaltend wahrgenommen wird. In der Praxis bedienen sich die LaÈnder anderer als der verfassungsrechtlich vorgesehenen Instrumente der Einflussnahme (vgl auch Rz 465 f). . Trotz der Anerkennung einer relativen Verfassungsautonomie der LaÈnder werden ± fu Èr einen Bundesstaat untypisch ± wesentliche Fragen der staatlichen Ordnung in den LaÈndern (zB im Bereich des Wahlrechts) von der Bundesverfassung praÈjudiziert. . Zu alledem kommt die SchwaÈche der LaÈnder bei der Finanzverfassung: Letztlich ist es naÈmlich der Bundesgesetzgeber, der u È ber die Steuerhoheit und die Verteilung der SteuerertraÈge bestimmt. Die meisten finanziell ins Gewicht fallenden Steuern sind Bundesabgaben, an deren Ertrag die LaÈnder nur beteiligt werden (vgl auch Rz 441).
È sterreichi- 171 2. Neben diesen verfassungsrechtlichen Gegebenheiten traÈgt auch das o sche politische System zur StrukturschwaÈche des Bundesstaats bei. Zwar fu È hrt die bundesstaatliche Verfassung zu einer gewissen Dezentralisierung der politischen Macht, vor allem weil einzelne LaÈnder ein Gegengewicht zu den politischen MehrheitsverhaÈltnissen im Bund bilden koÈnnen. Trotzdem wirken die auf Bundesebene einheitlich organisierten politischen Parteien (bei allen Unterschieden in È VP staÈrker ist als bei der Betonung der foÈderalistischen Ausrichtung, die bei der O È ) als zentralistische Faktoren und u der SPO È berformen Gesichtspunkte der Parteipolitik in der Praxis sehr oft foÈderalistische ErwaÈgungen. Dies zeigt sich vielleicht am deutlichsten im BR, wo die Abgeordneten nahezu ausschlieûlich parteipolitisch agieren (vgl Rz 582). Eine zentralistische Tendenz geht auch von den VerbaÈnden und Interessenvertretungen aus. 3. Dass die gegebene bundesstaatliche Ordnung in hoÈchstem Maû reformbedu È rftig 172 ist, steht auûer Zweifel. Die bisherigen AnlaÈufe zu einer Bundesstaatsreform sind È sterreich-Konvents stand freilich durchwegs gescheitert. Bei den Arbeiten des O die Neuordnung der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung im Zentrum. Dass diese Bemu È hungen um eine neue Verfassung vorerst zu keinem Erfolg gefu È hrt haben, haÈngt letztlich mit dem Umstand zusammen, dass es gerade in den umstrittenen Fragen der Bundesstaatsreform keine politische Einigung gegeben hat, obwohl der
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Konvent von radikaleren ReformvorschlaÈgen ohnedies Abstand genommen hat. Die zeitgemaÈûe Weiterentwicklung des foÈderalistisch organisierten Gemeinwesens im Rahmen des groÈûeren Europas und angesichts der komplexen Aufgaben, vor denen der moderne Staat steht, bleibt daher eine noch zu loÈsende Herausforderung. È sterreich-Konvent hat im Bereich der Kompetenzverteilung ein ¹Drei-SaÈulenmodellª 173 Der O
vorgeschlagen, durch das die Kompetenzen von Bund und LaÈndern vereinfacht, zu abgerundeten ZustaÈndigkeitsbuÈndeln zusammengefasst und zugleich flexibler gestaltet werden sollten. Danach sollte eine erste SaÈule ausschlieûliche Bundeskompetenzen, die zweite ausschlieûliche Landeskompetenzen enthalten; eine dritte SaÈule sollte Mischkompetenzen von Bund und LaÈnÈ ber die naÈhere Ausgestaltung dieser ¹dritten SaÈuleª gab es unterschiedliche dern umfassen. U Auffassungen. Nach dem Entwurf der Expertengruppe Staats- und Verwaltungsreform (Rz 60 f) sollen die Angelegenheiten der dritten SaÈule gemeinsame ZustaÈndigkeiten von Bund und LaÈndern sein, wobei der Bund auf der Grundlage einer politischen Einigung mit Zustimmung der LaÈnder eine bundesgesetzliche Regelung bzw eine Grundsatzregelung treffen oder die Angelegenheit den LaÈndern u È berlassen kann. Fu È r die Mitwirkung des Bundesrats in diesen Angelegenheiten wurden alternative Modelle vorgeschlagen (Vetorecht des BR oder nur ein mit Beharrungsbeschluss u È berwindbares Einspruchsrecht).
9. Das rechtsstaatliche Prinzip 9.1. Begriff und Bedeutung des rechtsstaatlichen Prinzips 174 1. Der Rechtsstaat ist eine Antwort auf die Frage nach dem VerhaÈltnis des einzelnen Menschen in der Gemeinschaft zur Macht des Staates. Im Rechtsstaat soll an die Stelle der Herrschaft der Macht die verbindliche Kraft des Rechts treten: Die ¹rule of lawª bedeutet, dass der Mensch nur dem Recht, nicht aber der Willku È r der Macht unterworfen ist. Ein Rechtsstaat ist daher ein Staat, in dem die gesamte Staatsmacht auf dem Recht beruht und die Einhaltung dieser rechtlichen Bindung durch entsprechende Verfahren kontrolliert werden kann. Wenn man diese Bindung des Staates an das Gesetz im Auge hat, spricht man gelegentlich auch von einem formalen Rechtsstaat. 175 Zugleich ist im Rechtsstaat die Staatsmacht immer auch eine begrenzte Macht. Dem Einzelnen stehen bestimmte grundlegende Rechte zu, die der Staat achten muss und in die er nicht eingreifen darf. In der Regel werden diese unveraÈuûerlichen Rechte in einem Katalog von Grundfreiheiten und Menschenrechten zusammengefasst. Sie zeigen, dass der Rechtsstaat die Freiheit, Gleichheit und Wu È rde des einzelnen Menschen als seinen hoÈchsten Wert respektieren muss. Das ist die inhaltliche (materielle) Seite der Rechtsstaatlichkeit. È berwindung des absoluten Polizei176 2. Historisch ist der Rechtsstaat aus der U staats hervorgegangen. Die einzelnen rechtsstaatlichen Institutionen, wie sie sich in den kontinentaleuropaÈischen Verfassungen des 19. Jahrhunderts ausgepraÈgt haben, stehen in engem Zusammenhang mit der konstitutionellen Bewegung und der È sterreich hat die Dezemberverfassung politischen Ideenwelt des Liberalismus. In O von 1867 die erste rechtsstaatliche Verfassung dargestellt. È sterreich etwa die Zeit des VormaÈrz steht) 177 Im absoluten Polizeistaat (wofu È r in O gab es keine Begrenzung der Staatszwecke. Zumindest der Idee nach hatte sich der Staat umfassend um das geistige, sittliche und soziale Wohl der Untertanen zu ku È mmern und Wirtschaft und Gesellschaft umfassend zu reglementieren (¹absoluter Wohlfahrtsstaatª). Das Staatshandeln war gesetzlich weitgehend ungebunden, unvorhersehbar und keiner rechtlichen Kontrolle unterworfen. Die Menschen waren Untertanen, aber mit keinen gegenu È ber dem Staat durchsetzbaren Rechten ausge-
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stattete Bu È rger. In Reaktion darauf entwickelte der Rechtsstaat eine Reihe von verfassungsrechtlichen Institutionen, die miteinander nach der Art einer rechtsstaatlichen Systemkonstruktion verbunden sind. a) Der Rechtsstaat ist zunaÈchst ein Gesetzesstaat: Der Staatswille soll in der Form des allge- 178 mein geltenden Gesetzes in Erscheinung treten, das ordnungsgemaÈû kundgemacht ist und Gerechtigkeit, Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Staatshandelns verbu È rgt. Die gesamte Vollziehung (Verwaltung, Gerichtsbarkeit) ist an das Gesetz gebunden: Das bedeutet in erster Linie, dass kein staatliches Handeln dem Gesetz widersprechen darf, was man als ¹Vorrang des Gesetzesª bezeichnet. Im entwickelten Rechtsstaat darf es aber auch kein staatliches Handeln geben, das nicht eine Grundlage im Gesetz findet. Dies wird als ¹Vorbehalt des Gesetzesª bezeichnet. WaÈhrend der Vorrang des Gesetzes sich gegen gesetzwidriges Staatshandeln richtet, verbietet ein Vorbehalt des Gesetzes sehr viel weitergehend jeden Eingriff des Staates, der nicht auf eine gesetzliche ErmaÈchtigung zuru È ckgefu È hrt werden kann. b) Um die Einhaltung der Bindung an das Gesetz sicherzustellen, ist der Rechtsstaat ein 179 Rechtsschutzstaat: Die GesetzmaÈûigkeit des Staatshandelns muss durch entsprechende Kontrolleinrichtungen gewaÈhrleistet werden, wobei diese Aufgabe an unabhaÈngige Gerichte u È bertragen wird. Dem Bu È rger mu È ssen zur Sicherung seiner gesetzlichen Rechte zielfu È hrende Rechtsbehelfe (Rechtsmittel) an die Hand gegeben werden. Daher war die Einrichtung einer unabhaÈngigen Verwaltungsgerichtsbarkeit eine der wichtigsten Errungenschaften des liberalen Rechtsstaats des 19. Jahrhunderts. c) Der Rechtsstaat muss auch ein gewaltenteilender Staat sein, wenn die Herrschaft des Ge- 180 setzes gesichert und ein Machtmissbrauch ausgeschlossen sein soll: Wer die Gesetze erlaÈsst, darf sie nicht auch selbst anwenden, weil sonst die Gefahr bestu È nde, dass er sich von der bindenden Wirkung des Gesetzes ausnimmt. Daher mu È ssen Gesetzgebung und Vollziehung getrennt sein. Wenn auûerdem die Einhaltung der Gesetzesbindung durch Gerichte gesichert werden soll, muss die Justiz von der Verwaltung, die durch die Gerichte kontrolliert werden soll, unabhaÈngig sein. Dies erfordert eine Trennung von Justiz und Verwaltung. Die einzelnen Staatsgewalten sollen sich aber auch wechselseitig kontrollieren. Daher ist nicht nur ihre Trennung, sondern auch ein System von ¹checks and balancesª erforderlich, innerhalb dessen die einzelnen TraÈger der Staatsgewalt zusammenwirken, sich gegenseitig beeinflussen und kontrollieren. d) Damit die Freiheit, Gleichheit und Wu È rde des Menschen im Staat wirksam geschu È tzt wer- 181 den, ist der Rechtsstaat ein Grundrechtsstaat. Er besitzt daher einen Grundrechtskatalog und entsprechende gerichtsfoÈrmige Instanzen zum Schutz dieser Rechte des Einzelnen. e) Schlieûlich ist der Rechtsstaat ein Verfassungsstaat: Damit die Staatsmacht begrenzt und 182 an feste Regeln gebunden werden kann, muss es ein geschriebenes Grundgesetz geben, an das der SouveraÈn (Monarch, Volk bzw seine RepraÈsentanten) und daru È ber hinaus alle anderen Staatsorgane gebunden sind. Der Vorrang des Verfassungsrechts ist durch ein Gericht sicherzustellen. Eine mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattete Verfassungsgerichtsbarkeit ist daher der Schlussstein im rechtsstaatlichen GebaÈude. Ihre Aufgabe ist es sicherzustellen, dass auf Dauer kein Rechtsakt existiert, welcher der Verfassung widerspricht.
3. Der Rechtsstaat hat sich im Kontext des Verfassungsrechts der konstitutionellen 183 Monarchie entwickelt (man spricht in diesem Zusammenhang vom ¹bu È rgerlichen Rechtsstaatª des 19. Jahrhunderts). In der Demokratie verbinden sich die rechtsstaatlichen Systemelemente mit der Forderung nach demokratischer Mitbestimmung. Der demokratische Rechtsstaat beruht somit auf zwei Prinzipien, die sich wechselseitig stu È tzen und notwendig ergaÈnzen: Rechtsstaat und Demokratie dienen beide der Sicherung der menschlichen Freiheit in der staatlichen Ordnung. WaÈhrend das demokratische Prinzip auf die Beteiligung des Volkes an der Rechtserzeugung zielt, soll das rechtsstaatliche Prinzip sicherstellen, dass sich die demokratische Herrschaft in den Grenzen des Rechts haÈlt. Das demokratisch erzeugte Gesetz ist die ¹Drehscheibe des demokratischen Rechtsstaatsª (Hans R. Klecatsky). Dies bringt die Formulierung des Art 1 B-VG exemplarisch zum Ausdruck, wonach in der Demo-
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kratie das ¹Rechtª vom Volk ausgeht, und nicht ± wie die traditionelle Formulierung lautete ± alle ¹Machtª! 184 Dass Demokratie und Rechtsstaat sich ergaÈnzende Prinzipien sind, darf nicht uÈbersehen lassen,
dass es auch Spannungen und Widerspru È che geben kann, wenn eines dieser Prinzipien absolut gesetzt wird. Sie werden zB sichtbar, wenn sich die politische Macht unter Berufung auf einen scheinbaren ¹Volkswillenª u È ber das Gesetz hinwegsetzt und missliebige Entscheidungen der unabhaÈngigen Justiz konterkariert oder die an das Gesetz gebundenen VerwaltungsbehoÈrden unter Druck gesetzt werden, um politisch erwu È nschte Ergebnisse zu erzielen. Daher ist auch die demokratische Mehrheitsentscheidung in der rechtsstaatlichen Ordnung des demokratischen Verfassungsstaats nicht schrankenlos, sondern kann sich nur im Rahmen der verfassungsmaÈûigen Grenzen entfalten.
È sterrei9.2. Die Realisierung des rechtsstaatlichen Prinzips im o chischen Verfassungsrecht 9.2.1. Das Rechtsstaatsprinzip 185 1. Anders als die bisher behandelten Grundprinzipien wird das rechtsstaatliche Prinzip im B-VG nicht ausdru È cklich angesprochen. Es ergibt sich aber aus einer Reihe von Regelungen und Einrichtungen des Bundesverfassungsrechts und liegt damit implizit dem B-VG als Baugesetz zu Grunde. Art 6 EUV weist auf den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit als einen auch die Mitgliedstaaten der EU bindenden Grundsatz hin. Die einzelnen tragenden Bestandteile des rechtsstaatlichen Prinzips werden im Folgenden behandelt, wobei zT auf spaÈtere Kapitel dieses Buches verwiesen werden kann. 186 Das rechtsstaatliche Prinzip ist ein Grundprinzip des B-VG, das mit seinen wesentlichen Inhalten zu dem nur im Wege einer GesamtaÈnderung revidierbaren Verfassungskern (Art 44 Abs 3 B-VG) gehoÈrt. Daru È ber hinaus zieht der VfGH den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit als ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz in vielen ZusammenhaÈngen heran und hat daraus weit reichende Rechtsfolgen abgeleitet. Auf die wichtigsten Inhalte dieses umfassenden Rechtsstaatsgebots wird im Folgenden ebenfalls naÈher eingegangen. Dabei ist es nicht immer ganz klar, welche Rechtsstaatsgebote zum Verfassungskern iS von Art 44 Abs 3 B-VG gehoÈren (also zur ho È chsten, nur erschwert abaÈnderbaren Verfassungsschicht) und welche rechtsstaatlichen Gebote nur ¹normalesª Verfassungsrecht sind, also ggf vom verfassungsaÈndernden Gesetzgeber abgeaÈndert oder durchbrochen werden du È rfen, ohne dass es einer Volksabstimmung bedarf. Der VfGH spricht idR vom Rechtsstaatsgebot oder vom rechtsstaatlichen Prinzip ohne im Einzelfall deutlich zu machen, ob es sich bei den daraus abgeleiteten Normen um Inhalte der besonders hervorgehobenen verfassungsrechtlichen Grundordnung handelt.
187 2. Der VfGH hat die Grundidee der Rechtsstaatlichkeit wiederholt in einer einpraÈgsamen Formulierung zum Ausdruck gebracht: Danach gipfelt das Rechtsstaatsprinzip darin, dass ¹alle Akte staatlicher Organe im Gesetz und mittelbar letzten Endes in der Verfassung begru È ndet sein mu È ssen und ein System von Rechtsschutzeinrichtungen die GewaÈhr dafu È r bietet, dass nur solche Akte in ihrer rechtlichen ExiÈ bereinstimmung mit den sie bedinstenz als dauernd gesichert erscheinen, die in U genden Akten hoÈherer Stufe erlassen wurdenª (VfSlg 2929/1955, 8279/1978, 11.196/1986 ua). Es ist die Bindung der Staatsgewalt an das Gesetz und die Verfassung, die hier angesprochen wird; zugleich wird der Zusammenhang mit dem Stufenbau der Rechtsordnung hergestellt, weil die umfassende Kontrolle der Wahrung der Rechtserzeugungsbedingungen der jeweils hoÈheren Stufe sicherstellt, dass letztlich jeder Staatsakt dem Recht der hoÈchsten Rangstufe entspricht.
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Im Einzelnen wird der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit im B-VG durch die umfas- 188 sende Geltung des Grundsatzes der GesetzmaÈûigkeit, das verfassungsrechtliche Rechtsschutzsystem mit entsprechenden Verfahrensgarantien, den Grundsatz der Gewaltenteilung, die Grundrechte und die Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit ausgestaltet. Diese Prinzipien werden im Folgenden naÈher behandelt. È sterreichischen EU-Beitritt wurde das Rechtsstaatsprinzip in mehr- 189 3. Durch den o facher Hinsicht wesentlich modifiziert: Weil dem Gemeinschaftsrecht ein Anwendungsvorrang zukommt und die Gerichte und VerwaltungsbehoÈrden widersprechendes nationales Recht nicht anzuwenden haben, wurde das Normpru È fungsmonopol des VfGH beeintraÈchtigt. Das Gemeinschaftsrecht entspricht auch nicht durchgaÈngig den strengen Anforderungen des o È sterreichischen LegalitaÈtsprinzips, vor allem was die gesetzliche Determinierung des Verwaltungshandelns und die strikte Bindung des Richters an das Gesetz angeht, mit der eine offene richterrechtliche Rechtsfortbildung unvereinbar ist. 9.2.2. Der Grundsatz der GesetzmaÈûigkeit 1. Das in Art 18 B-VG verankerte LegalitaÈtsprinzip (¹Die gesamte staatliche Verwal- 190 tung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeu È bt werdenª) verwirklicht die umfassende Bindung der gesamten Vollziehung an das foÈrmliche Gesetz und damit den Gesetzesstaat. Dabei hat sich das B-VG fu È r einen umfassenden Vorbehalt des Gesetzes entschieden, dem zufolge jedes Handeln der Vollziehung seine Grundlage im Gesetz haben muss und nach seinem Inhalt durch das Gesetz vorherbestimmt wird. Auf die genauere Tragweite des LegalitaÈtsprinzips, seine Reichweite und die in ihm angelegte Determinierungspflicht wird unten Rz 492 ff naÈher eingegangen. Eine Beseitigung der Bindung an das Gesetz oder eine weitgehende Preisgabe (nicht bloû AbschwaÈchung) der Determinierungspflicht waÈre eine GesamtaÈnderung des B-VG.
2. Eine mit der gesetzesstaatlichen Komponente des Rechtsstaats zusammenhaÈn- 191 gende Forderung ist die Notwendigkeit einer gehoÈrigen Kundmachung von Rechtsvorschriften. In einem Rechtsstaat mu È ssen die Rechtsunterworfenen Kenntnis von den Rechtsvorschriften haben, um ihr Verhalten darauf einstellen zu koÈnnen. Nur Rechtsvorschriften, die zumindest ein Mindestmaû an PublizitaÈt aufweisen, koÈnnen u È berhaupt als geltende Normen angesehen werden. ¹Geheimerlasseª oder andere Regelungen, die den Adressaten gar nicht zur Kenntnis gelangen, sind absolut nichtig und brauchen (koÈnnen) auch nicht aufgehoben werden. Von diesem Mindestmaû an PublizitaÈt als Voraussetzung der Rechtsgeltung muss man die Frage der rechtmaÈûigen Kundmachung unterscheiden. Eine VO eines BM u È ber bestimmte Zulagen fu È r Beamte, die als Rundschreiben an die Betroffenen versandt oder an der Amtstafel ausgehaÈngt wurde, ist zumindest kundgemacht worden, wenngleich es sich um eine gesetzwidrige, weil nicht im BGBl erfolgte Kundmachung handelt. Zu den Kundmachungserfordernissen fu È r Gesetze und VO vgl Rz 627 ff, 667. 3. Im Rechtsstaat mu È ssen die Normen nicht nur kundgemacht werden, sie mu È ssen 192 auch verstaÈndlich sein. Gesetze und andere Rechtsvorschriften, die ganz und gar unverstaÈndlich sind oder u È ber deren Inhalt sich die Normunterworfenen nur mit unzumutbarem Aufwand entsprechende Kenntnis verschaffen koÈnnen, verstoûen gegen das Rechtsstaatsprinzip und sind verfassungswidrig. Vom Bu È rger kann nach der Judikatur des VfGH weder ein ¹archivarischer Fleiûª noch ¹Lust zum LoÈsen von Denksport-Aufgabenª verlangt werden, wenn es darum geht festzustellen, was geltendes Recht ist (VfSlg 3130/1956, 12.420/1990). 4. Auch fu È r Verweisungen von einer Rechtsvorschrift auf eine andere gibt es verfas- 193 sungsrechtliche Schranken, die im Rechtsstaatsprinzip und im Gewaltenteilungs-
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grundsatz angelegt sind. Bei einer Verweisung bezieht sich ein Normsetzer auf eine andere (verwiesene) Rechtsvorschrift, die zum Inhalt der entsprechenden (verweisenden) Norm gemacht wird. Unter rechtsstaatlichen Aspekten sind solche Verweisungen nur zulaÈssig, wenn das ¹Verweisungsobjektª (die verwiesene Norm) ausreichend bestimmt ist und die verwiesene Norm in einem (den oÈsterreichischen GesetzblaÈttern vergleichbaren) Publikationsorgan kundgemacht und auf die Fundstelle hingewiesen wurde. Pauschale Verweisungen sind verfassungswidrig (vgl zB VfSlg 12.947/1991, 14.606/1996). Unter Aspekten der Gewaltenteilung ist zwischen statischen und dynamischen Verweisungen zu unterscheiden. Statische Verweisungen (auf eine bestimmte Fassung einer Norm, zB: ¹Kesselpru È fer gemaÈû § 21 des Kesselgesetzes BGBl 211/1992ª) sind auch dann zulaÈssig, wenn der Normsetzer auf eine fremde NormsetzungsautoritaÈt verweist, weil hier der Inhalt bereits feststeht (zB wenn der Landesgesetzgeber auf eine bundesrechtliche Bestimmung in einer bestimmten Fassung verweist oder umgekehrt). Dynamische Verweisungen (zB ¹Einkommen gemaÈû § 2 EStG in der jeweils geltenden Fassungª) sind verfassungswidrig, wenn auf eine fremde NormsetzungsautoritaÈt verwiesen wird, weil damit ein zustaÈndiger Normsetzer seine Kompetenz aufgibt und die Festlegung des Inhalts der Norm einem anderen Gesetzgeber u È berlaÈsst (VfSlg 7085/1973, 7241/1973). Verfassungsrechtlich zulaÈssig sind dynamische Verweisungen nur, wenn auf eigene Normen verwiesen wird (Landesgesetz auf Landesgesetz, Bundesgesetz auf Bundesgesetz). ZulaÈssig sind ferner ausreichend bestimmte dynamische Verweisungen auf EuropaÈisches Gemeinschaftsrecht (VfSlg 16.999/2003). 9.2.3. Das verfassungsrechtliche Rechtsschutzsystem 194 1. Die Bestimmungen u È ber die ordentliche Gerichtsbarkeit (Art 82 ff B-VG) und ihre UnabhaÈngigkeit (Art 87 B-VG) sowie u È ber die zur Kontrolle der Verwaltung berufenen UVS, den Asylgerichtshof und den Verwaltungsgerichtshof (Art 129 ff B-VG) gestalten den Rechtsschutzstaat aus. Sie bilden zusammen mit der Verfassungsgerichtsbarkeit jenes umfassende System von Rechtsschutzeinrichtungen, durch das sichergestellt werden soll, dass die RechtmaÈûigkeit jedes Staatsaktes von einem unabhaÈngigen Gericht u È berpru È ft werden kann. In einem Rechtsstaat darf es keine ¹gerichtsfreienª (dh gerichtlich unu È berpru È fbaren) Staatsakte geben. Das auf Geschlossenheit angelegte System des gerichtlichen Rechtsschutzes geho È rt daher zum Verfassungskern, der nur im Wege einer GesamtaÈnderung abgeaÈndert werden koÈnnte. Auch die UnabhaÈngigkeit der Richter ist ein wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips (VfSlg 16.408/2002). VeraÈnderungen in der Gerichtsorganisation, im Aufgabenbereich einzelner Gerichte oder beim Instanzenzug stellen dagegen keine GesamtaÈnderung dar.
195 2. Damit der einzelne Bu È rger seine Rechte durchsetzen kann, mu È ssen die entsprechenden Verfahren bereitgestellt werden, wobei die rechtsstaatlich geforderten Rechtsschutzeinrichtungen ihrer Zweckbestimmung nach ein Mindestmaû an faktischer Effizienz fu È r den Rechtsschutzwerber aufweisen mu È ssen. Zu dieser unter dem Gesichtspunkt des Rechtsstaatsprinzips verfassungsrechtlich geforderten Effizienz des Rechtsschutzes geho È rt, dass der Einzelne nicht einseitig mit allen Folgen einer potentiell rechtswidrigen behoÈrdlichen Entscheidung belastet wird. Daher ist der generelle Ausschluss der aufschiebenden Wirkung einer Berufung verfassungswidrig (VfSlg 11.196/1986 ua), ebenso allzu kurz bemessene Berufungsfristen (zweitaÈgige Berufungsfrist fu È r Asylwerber; VfSlg 15.529/1999), ein Neuerungsverbot im laufenden Asylverfahren (VfSlg 17.340/2004) oder der Ausschluss von Rechtsmitteln bei drohender Grundrechtsverletzung (VfSlg 16.245/2001). Das Rechtsstaatsprinzip gebietet auch effektive È berwachungsmaûnahmen in sensiKontrollmaûnahmen, wenn durch geheime staatliche U ble grundrechtlich geschu È tzte Bereiche eingegriffen wird (VfSlg 17.102/2004). Das Gebot ef-
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fektiven Rechtsschutzes ist allerdings kein absoluter Wert, sondern kann im Einzelfall durch gewichtige o È ffentliche Interessen und im Interesse Dritter zuru È ckgedraÈngt werden (daher kann zB auch ein genereller Ausschluss der aufschiebenden Wirkung einer Berufung in bestimmten FaÈllen ± etwa bei einer beho È rdlichen Verfu È gung gegen ¹Schwarzbautenª ± gerechtfertigt sein; VfSlg 17.346/2004).
3. Das verfassungsrechtliche Rechtsschutzsystem ist im oÈffentlichen Recht auf den 196 Bescheid zugeschnitten, der im Fall einer behaupteten Rechtswidrigkeit durch Beschwerde an den VwGH oder an den VfGH bekaÈmpft werden kann. Dieser rechtsstaatlich gebotene Rechtsschutz wu È rde abgeschnitten, wenn Verwaltungsentscheidungen, die erhebliche Rechtswirkungen haben, als rechtlich nicht bekaÈmpfbare Akte konstruiert wu È rden. Daher muss der Gesetzgeber die Bescheidform vorsehen, wenn durch eine Entscheidung in Rechte eines Betroffenen eingegriffen wird. Es ist daher zB verfassungswidrig, wenn der Gesetzgeber an ein nicht bekaÈmpfbares ¹Gutachtenª einer BehoÈrde nachteilige Rechtswirkungen knu È pft oder wenn eine Bestimmung vorsieht, dass u È ber die Zuru È ckweisung eines Antrags kein Bescheid zu erlassen ist (VfSlg 13.223/1992, 13.699/1994). Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur EinraÈumung einer Parteistellung kann dagegen nach einer problematischen Judikatur auch aus dem Rechtsstaatsprinzip nicht ohne weiteres abgeleitet werden (vgl aber noch unten Rz 1669 zur Ableitung von Parteirechten aus dem Gleichheitsgrundsatz).
9.2.4. Die Verfassungsgerichtsbarkeit Durch die Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit (Art 137 ff B-VG), die mit 197 È berpru umfassenden Kompetenzen ausgestattet ist, wozu vor allem auch die U È fung der VerfassungsmaÈûigkeit von Gesetzen gehoÈrt, wird der Rechtsstaat als Verfassungsstaat verwirklicht. Die dadurch gewaÈhrleistete Maûgeblichkeit der Verfassung ist ein zentrales Element des rechtsstaatlichen Prinzips (naÈher zur Verfassungsgerichtsbarkeit Rz 987 ff). Eine Beseitigung des VfGH oder seiner zentralen Kompetenz zur Normenkontrolle waÈre daher ebenso eine GesamtaÈnderung wie eine ins Gewicht fallende BeeintraÈchtigung dieser Aufgabe. Der Gesetzgeber darf auch nicht im Einzelfall Entscheidungen des VfGH konterkarieren und sie (auch nicht durch Verfassungsgesetz) ihrer Wirkung berauben (VfSlg 16.327/2001, 17.156/2004).
9.2.5. Der Grundrechtsschutz Die vor allem im StGG und in der EMRK verankerten Grundfreiheiten und Men- 198 schenrechte gestalten den Grundrechtsstaat aus. Durch sie wird der Rechtsstaat auf die inhaltlichen Werte der Freiheit, Gleichheit und SolidaritaÈt ausgerichtet, die im u È bergreifenden Wert der Menschenwu È rde ihre gemeinsame Mitte haben; zugleich verdeutlichen die Grundrechte, dass der Staat um des Menschen willen besteht und nicht umgekehrt. a) Eine Beseitigung oder wesentliche AbschwaÈchung des Grundrechtsschutzes waÈre daher eine GesamtaÈnderung. Punktuelle EinschraÈnkungen oder die Durchbrechung von Grundrechten im Einzelfall sind durch einfaches Verfassungsgesetz moÈglich, sofern nicht der Menschenwu È nnen È rdekern der Grundrechte beseitigt wird. Nach zutreffender Ansicht des VfGH ko auch ¹bloû partiell wirkende Maûnahmen ± gehaÈuft vorgenommen ± im Effekt zu einer GesamtaÈnderung der Bundesverfassung fu È hrenª, so dass einer schleichenden AushoÈhlung der Grundrechtsordnung an sich ein Riegel vorgeschoben ist (VfSlg 11.756/1988, 11.972/1989 ua). Ob der VfGH freilich einen praktikablen Maûstab aufgestellt hat, ist fraglich. b) Der Grundrechtskatalog wird gelegentlich auch mit einem eigenstaÈndigen liberalen Baugesetz des B-VG in Verbindung gebracht; dem wird hier nicht gefolgt (vgl oben Rz 115). Weil es im
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oÈsterreichischen Verfassungsrecht nur in AnsaÈtzen soziale Grundrechte gibt und der Grundsatz der Sozialstaatlichkeit auch nicht als Staatsziel verfassungsrechtlich ausgewiesen ist, kann man auch nicht (wie etwa im Fall des Bonner Grundgesetzes) von einem ¹sozialen Rechtsstaatª sprechen. Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit bilden allerdings auch keinen Widerspruch, vielmehr ist der durch das B-VG eingerichtete Rechtsstaat offen fu È r eine im Wege der demokratischen Gesetzgebung verfolgte sozialstaatliche Politik. Deshalb waÈre auch die Einfu È hrung einer ¹Sozialstaatsklauselª oder von sozialen Grundrechten kein Fall der GesamtaÈnderung.
9.2.6. Das Prinzip der Gewaltenteilung 199 Das Prinzip der Gewaltenteilung wird im B-VG in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der Trennung der Justiz von der Verwaltung (Art 94 B-VG) angesprochen. Davon abgesehen ist dieser Grundsatz im oÈsterreichischen Verfassungsrecht nur zuru È ckhaltend verwirklicht. Zu den Einzelheiten vgl Rz 379 ff.
9.3. Probleme und Entwicklungstendenzen 200 1. Der Rechtsstaat ist im oÈsterreichischen Recht nicht lu È ckenlos verwirklicht. Im o È ffentlichen Recht knu È pft der Rechtsschutz an den Bescheid an. Soweit die Verwaltung in anderer Art und Weise in Rechte eingreift (zB durch informelles Verwaltungshandeln oder bei der Privatwirtschaftsverwaltung) oder bei bestimmten Formen des behoÈrdlichen UntaÈtigseins, kann es Rechtsschutzprobleme geben. Auch entziehen È berwachung mit È rdlichen U sich gewisse moderne Formen der geheimen beho modernen Technologien (Lauschangriffe, Rasterfahndung, verdeckte Ermittlungen) einem effektiven gerichtlichen Rechtsschutz. Zum Teil versucht der Gesetzgeber diese Defizite durch die Bestellung von Rechtsschutzbeauftragten zu schlieûen, die im Interesse der betroffenen Bu È rger die BehoÈrden u È berwachen und Rechtsmittel ergreifen koÈnnen (vgl dazu Rz 1327). 201 2. Im Parteienstaat wird die Wirksamkeit mancher rechtsstaatlicher Institutionen durch die AllgegenwaÈrtigkeit und den Machtanspruch der politischen Parteien beeintraÈchtigt. Das gilt vor allem fu È r die Gewaltenteilung zwischen der Legislative und der Exekutive, die durch die parteipolitische Verklammerung zwischen der Regierung und der parlamentarischen Mehrheit u È berlagert wird. Die Folge ist eine SchwaÈchung der parlamentarischen Kontrollinstrumente. Gegenu È ber diesem Machtanspruch, der mitunter auch vor versuchten Einflussnahmen auf die unabhaÈngige Justiz oder die gesetzesgebundene Verwaltung nicht zuru È ckscheut, muss sich der Rechtsstaat immer wieder aufs Neue bewaÈhren. 202 3. Dringender Reformbedarf besteht vor allem im Hinblick auf die notorisch uÈberlastete und
nur begrenzt den Erfordernissen des Art 6 EMRK entsprechende Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl dazu Rz 913 ff). Die Expertengruppe Staats- und Verwaltungsreform hat zuletzt, aufÈ sterreich-Konvent, die Einfu bauend auf Vorarbeiten im O È hrung einer zweistufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgeschlagen. Sie sollte aus je einem Verwaltungsgericht erster Instanz in den LaÈndern und einem erstinstanzlichen Verwaltungsgericht des Bundes bestehen, gegen deren Entscheidungen der Verwaltungsgerichtshof angerufen werden kann.
10. Staatsziele und VerfassungsauftraÈge 10.1. Zur Bedeutung von Staatszielen und VerfassungsauftraÈgen 203 1. Jeder Staat muss im Interesse seiner Bu È rgerinnen und Bu È rger bestimmte Aufgaben besorgen, wie etwa die Sorge fu È r die innere Sicherheit, fu È r die Wahrung des wirtschaftlichen Wohlergehens, fu È r den Umweltschutz oder die soziale Vorsorge. Welche
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Staatsaufgaben wahrgenommen und welche Ziele dabei verfolgt werden, ist grundsaÈtzlich Sache der politischen Entscheidung; daru È ber haben daher der demokratisch legitimierte Gesetzgeber und im Rahmen der Gesetze die politisch und rechtlich verantwortlichen obersten Verwaltungsorgane (Regierungen) zu entscheiden. Die Verfassung kann die Staatsorgane freilich auch dazu verpflichten bestimmte Gemeinwohlaufgaben jedenfalls zu besorgen und allenfalls auch festlegen, nach welchen GrundsaÈtzen und mit welcher Zielrichtung diese Aufgaben zu erfu È llen sind. Dann spricht man von (verfassungsrechtlich festgelegten) Staatszielen oder von VerfassungsauftraÈgen. Derartige Bestimmungen finden sich auch im o È sterreichischen Bundesverfassungsrecht. Daru È ber hinaus stellt sich die Frage, ob der Staat ganz allgemein bestimmte Pflichtaufgaben von Verfassungs wegen zu besorgen hat, derer er sich auch nicht ± etwa durch eine Privatisierung ± entledigen darf; das fu È hrt zur Diskussion um die staatlichen ¹Kernaufgabenª. 2. Fragt man nach der rechtlichen Bedeutung verfassungsrechtlich festgelegter 204 Staatsziele oder VerfassungsauftraÈge, ist zunaÈchst festzuhalten, dass sie jedenfalls normativ verbindlich sind. Wie immer sie im Einzelnen formuliert sind, verpflichten sie die Staatsorgane zu einem bestimmten Handeln und engen damit den Spielraum fu È r eine rechtlich ungebundene politische Gestaltung ein. Ob sich Bund und LaÈnder etwa im Bereich des Umweltschutzes betaÈtigen, ob sie Maûnahmen zum Schutz des Wasserhaushalts oder vor LaÈrmbelaÈstigungen treffen, ist an sich von den zustaÈndigen politischen Organen (NR, LT, Regierungen) zu entscheiden und gegenu È ber den WaÈhlern zu verantworten. Weil es aber einen Verfassungsauftrag zum umfassenden Umweltschutz gibt, ist das ¹Obª bereits verfassungsrechtlich vorgegeben: Es waÈre daher ein verfassungswidriges Unterlassen, wenn die Gesetzgeber keine entsprechenden Umweltschutzgesetze erlassen wu È rden, die ein bestimmtes Schutzniveau realisieren. a) Welche Umweltschutzmaûnahmen im Einzelnen zu treffen sind, ist damit noch nicht ent- 205 schieden. Die meisten Staatsziele und VerfassungsauftraÈge sind verhaÈltnismaÈûig allgemein formuliert und lassen damit einen erheblichen politischen Spielraum, wie sie realisiert werden. Daher laÈsst sich etwa auch dem Auftrag zur umfassenden Landesverteidigung kein bestimmtes militaÈrisches Ausru È stungs- oder Ausbildungsniveau entnehmen. Ein verfassungswidriges Unterlassen wird daher nur in jenen FaÈllen eindeutig festzustellen sein, in denen entweder das Staatsziel u È berhaupt nicht angestrebt wird oder das Ziel oder ein vorgegebener Standard grob verfehlt wird, etwa wenn notwendige Schutzmaûnahmen im Bereich des Umweltrechts so weit zuru È ckgenommen wu È rden, dass erhebliche SchaÈden fu È r die Umwelt drohen. b) Staatsziele und VerfassungsauftraÈge verpflichten die zum Handeln berufenen Staatsorgane. 206 Sie sind objektiv-rechtliche Verfassungspflichten, denen aber in der Regel keine subjektiven Rechte der Bu È rgerinnen und Bu È rger entsprechen. Das unterscheidet sie auch von den Grundrechten; dem Staatsziel ¹umfassender Umweltschutzª entspricht daher nicht notwendigerweise ein individuelles ¹Grundrecht auf Umweltschutzª. Weil ein verfassungswidriges Unterlassen im gegebenen Rechtsschutzsystem nur begrenzt gerichtlich geltend gemacht werden kann, ist auch nicht sichergestellt, dass jede Verletzung eines Verfassungsauftrages vor einem Gericht eingeklagt werden kann. Das Èandert aber nichts daran, dass sie rechtlich verbindlich sind. Die im Folgenden behandelten Verfassungsbestimmungen sind auch keine Baugesetze im Sinn der verfassungsrechtlichen Grundordnung, so dass ihre AbaÈnderung auch keine GesamtaÈnderung der Bundesverfassung darstellen wu È rde. c) In der verfassungsgerichtlichen Praxis sind Staatsziele oder VerfassungsauftraÈge vor allem 207 bei der Interpretation von Grundrechtsschranken maûgeblich geworden. So hat der VfGH etwa die in der BeschraÈnkung des Motorbootverkehrs auf Seen liegenden Eingriffe in die Erwerbsfreiheit fu È r gerechtfertigt angesehen, weil sie einem verfassungsrechtlich anerkannten Staatsziel ± naÈmlich dem umfassenden Umweltschutz ± dienen (VfSlg 12.009/1989). Sie ko È nnen auch die verfassungskonforme Auslegung stu È tzen, etwa im Zusammenhang mit der Auslegung von Bestimmungen u È ber die Parteistellung von Nachbarn unter dem Gesichtspunkt des umfassenden Umweltschutzes (VfSlg 13.210/1992). Daru È ber hinaus sind Staatsziele
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ein Maûstab fu È r die Beurteilung der rechtlichen Verantwortlichkeit oberster Staatsorgane, der auch dann maûgeblich ist, wenn eine Verpflichtung ± zB ein Akt der Gesetzgebung ± nicht unmittelbar durchgesetzt werden kann.
208 3. Der Katalog der im geltenden o È sterreichischen Bundesverfassungsrecht enthaltenen Staatsziele und VerfassungsauftraÈge ist ziemlich unsystematisch und willku È rlich. Das haÈngt damit zusammen, dass das B-VG urspru È nglich kaum Staatsziele enthalten hat und ihre Aufnahme im Lauf der Zeit haÈufig die Folge vordergru È ndiger politischer Entscheidungen war. So wurde das BVG-Umweltschutz etwa erlassen, um der Mitte der 1980er Jahre in Erscheinung tretenden auûerparlamentarischen Umweltschutzbewegung ein markantes Zeichen entgegensetzen zu koÈnnen. AuffaÈllig ist auch, dass wichtige staatliche Gestaltungsaufgaben, wie etwa die soziale Sicherheit oder die Gesundheitsvorsorge, nicht als verfassungsrechtliche Staatsaufgabe angesprochen sind, obwohl man sich schwer vorstellen kann, dass sie der dem Gemeinwohl verpflichtete Staat gaÈnzlich vernachlaÈssigen du È rfte. Das gilt auch fu È r den u È bergreifenden Grundsatz der Sozialstaatlichkeit, der im oÈsterreichischen VerfasÈ sterreich nach sungsrecht keinen Ausdruck gefunden hat, obwohl natu È rlich auch O dem Stand seiner einfachen Gesetzgebung ein Sozialstaat ist.
10.2. Die Sicherstellung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts 209 Art 13 Abs 2 B-VG verpflichtet die GebietskoÈrperschaften auf ein zentrales wirtschaftspolitisches Ziel: Bund, LaÈnder und Gemeinden haben bei der Fu È hrung ihres Finanzhaushalts die Sicherstellung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und nachhaltig geordnete Haushalte anzustreben. Sie haben ihre Haushalte im Hinblick auf diese Ziele zu koordinieren. Oberste verfassungsrechtliche Maxime fu Èr die oÈffentlichen Haushalte ist daher die ausgewogene Verfolgung der folgenden haushaltspolitischen Ziele, die insgesamt das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ausmachen: Sicherung des Wirtschaftswachstums, Wahrung eines hohen BeschaÈftigungsstands, GeldwertstabilitaÈt und auûenwirtschaftliches Gleichgewicht. Mit der Verpflichtung zur nachhaltigen Ordnung der o È ffentlichen Haushalte waÈre eine u È bermaÈûige Staatsverschuldung u È ber laÈngere ZeitraÈume unvereinbar. Auûerdem sind die GebietskoÈrperschaften verpflichtet, bei der HaushaltsfuÈhrung die tatsaÈchliche Gleichstellung von Frauen und MaÈnnern anzustreben (so genannter Grundsatz des Gender Budgeting; Art 13 Abs 3 B-VG). Die unter dem Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts angesprochenen konjunkturpolitischen Zielsetzungen (¹magisches Vieleckª) sind vor allem bei der Budgetgestaltung zu beachten. Weil es zwischen den einzelnen Maximen (zB PreisstabilitaÈt und Wirtschaftswachstum) Zielkonflikte geben kann, die nur durch AbwaÈgung aufgeloÈst werden ko È nnen, geben sie der Wirtschaftspolitik nur begrenzt justiziable Ziele vor. Zu beachten sind auch Èahnliche, aber weiter reichende Zielsetzungen fu È r die EU-Mitgliedstaaten, die sich aus den fu È r die Wirtschafts- und WaÈhrungsunion maûgeblichen ¹Konvergenzkriterienª des Art 121 EGV ergeben (hoher Grad an PreisstabilitaÈt, keine u È ffentlichen Haushalte, È bermaÈûigen Defizite der o WaÈhrungsstabilitaÈt, niedrige ZinssaÈtze). Der verpflichtend vorgeschriebenen Koordination der oÈffentlichen Haushalte dient in erster Linie der zwischen Bund, LaÈndern und Gemeinden abgeschlossene StabilitaÈtspakt (vgl Rz 457).
10.3. Die Verpflichtung zur umfassenden Landesverteidigung 210 Die Wahrung der aÈuûeren Sicherheit des Staates wird in Art 9a B-VG als Staatsziel È sterreich zu einer umfassenden Landesverteiverankert. Danach ¹bekenntª sich O digung, zu der die militaÈrische, die geistige, die zivile und die wirtschaftliche Landesverteidigung geho È ren. Die Aufgabe der umfassenden Landesverteidigung liegt in
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erster Linie in der Wahrung der UnabhaÈngigkeit nach auûen und der Unverletzlichkeit und Einheit des Bundesgebietes, insbesondere auch in der Aufrechterhaltung und Verteidigung der immerwaÈhrenden NeutralitaÈt. Aus Art 9a B-VG folgt die Verpflichtung zur Aufstellung einer bewaffneten Streitmacht und zur Verfolgung weiterer Maûnahmen der umfassenden Landesverteidigung (etwa wirtschaftliche Vorratshaltung). Mit der BeschraÈnkung auf eine nationale Verteidigungspolitik entspricht dieses Staatsziel nur mehr bedingt der geaÈnderten sicherheitspolitischen Lage in Europa. Zur Wehrpflicht und zur Verfu È gung u È ber das Bundesheer vgl Rz 739 f.
10.4. Die immerwaÈhrende NeutralitaÈt 1. Das im Zusammenhang mit der Wiedererlangung der o È sterreichischen UnabhaÈn- 211 gigkeit im Jahr 1955 erlassene und im Verfassungsrang stehende NeutralitaÈtsG verÈ sterreich zur Wahrung seiner immerwaÈhrenden NeutralitaÈt. Die pflichtet O NeutralitaÈtsverpflichtung ist auch voÈlkerrechtlich gegenu È ber der Staatenwelt durch È ber die rechtliche Bedeutung die Notifikation dieses BVG verbindlich geworden. U hinausgehend war die NeutralitaÈt fu È r viele Jahrzehnte eine wichtige auûenpolitische È sterreich. Maxime und ein Bestandteil des SelbstverstaÈndnisses der Republik O 2. Der Inhalt der NeutralitaÈtsverpflichtung ist durch Bezugnahme auf das vo È lkerrechtliche NeutralitaÈtsrecht zu bestimmen. Die entsprechenden Verpflichtungen wurden in der o È sterreichischen Staatspraxis in den letzten Jahren zunehmend enger È sterreich die Teilnahme an militaÈrischen AktivitaÈten der UN und der gezogen, um O EU zu ermo È glichen. Durch Art 23f B-VG wurden die NeutralitaÈtspflichten zur Umsetzung der Gemeinsamen Auûen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) ausdru È cklich weiter eingeschraÈnkt. a) Nach dem urspru È nglichen VerstaÈndnis umschlieût der Status der immerwaÈhrenden Neu- 212 tralitaÈt die Verpflichtung eines Staates, keine kriegerischen Handlungen gegen dritte Staaten zu setzen oder sich an solchen in irgendeiner Form zu beteiligen sowie das Verbot der Begu È nstigung von Kriegsparteien (zB keine Duldung des Durchmarsches fremder Truppen, keine Belieferung mit Waffen). Gleichzeitig darf ein dauernd neutraler Staat auch in Friedenszeiten keine Handlungen setzen oder Verpflichtungen eingehen, die ihm die Wahrung seiner NeutralitaÈt unmoÈglich machen (sekundaÈre Pflichten, zB Verbot von Verpflichtungen zur Setzung von Wirtschaftssanktionen, der Beteiligung an politischen, wirtschaftlichen oder militaÈrischen Bu È ndnissen). Die Beteiligung an einem kollektiven Sicherheitssystem, vor allem an Sanktionsmaûnahmen der UN auf Grund entsprechender Sicherheitsratsbeschlu È sse und ihre Unterstu È tzung, etwa durch die EinraÈumung von Durchfahrtsrechten, wurde als Folge des oÈsterreichischen È hnliches gilt fu UN-Beitritts fu È r zulaÈssig angesehen. A È r Aktionen im Rahmen der OSZE. b) Nachdem der Wandel der weltpolitischen Lage seit den 1990er Jahren (Ende des ¹Kalten 213 Kriegesª, Zerfall des Warschauer Paktes, verteidigungspolitische Zusammenarbeit in Europa) die seinerzeitigen Voraussetzungen fu È sterreichische NeutralitaÈt wesentlich veraÈndert È r die o hat, ist nicht nur die weitere Sinnhaftigkeit der NeutralitaÈt strittig geworden; zugleich setzte sich eine Neuinterpretation der damit einhergehenden Verpflichtungen durch. Heute wird die NeutralitaÈtspflicht als so genannte ¹differentielle NeutralitaÈtª auf den Kern der im NeutraliÈ sterreich darf sich danach an keinen nicht durch taÈtsG angesprochenen Pflichten reduziert: O UN-Beschlu È sse gedeckten MilitaÈraktionen beteiligen, muss seine NeutralitaÈt mit militaÈrischen Mitteln verteidigen, darf keinen militaÈrischen Bu È ndnissen (zB NATO) beitreten und die Errichtung militaÈrischer Stu È tzpunkte fremder Staaten auf seinem Staatsgebiet nicht zulassen. In dieÈ sterreichs zur EU als mit der dauernden Neusem Sinn wurde auch der vorbehaltlose Beitritt O tralitaÈt vereinbar angesehen. c) Die Beteiligung an der gemeinsamen Verteidigungspolitik der EU, die VerhaÈngung von 214 Wirtschaftssanktionen und die Mitwirkung an den so genannten ¹Petersberger Aufgabenª der EU, das sind friedenserhaltende und friedensschaffende Maûnahmen zur KrisenbewaÈltigung und die damit verbundenen KampfeinsaÈtze, sind nach Maûgabe der in Art 23f B-VG enthaltenen verfahrensrechtlichen Regelungen zulaÈssig. Die Entsendung von Truppen erfolgt nach
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den Bestimmungen des BVG u È ber Kooperation und SolidaritaÈt bei der Entsendung von Einheiten und Einzelpersonen in das Ausland BGBl I 1997/38. Durch den Reformvertrag von Lissabon soll eine SolidaritaÈtsverpflichtung der EU-Mitgliedstaaten geschaffen werden, welche diese im Fall eines bewaffneten Angriffs auf einen Mitgliedstaat zur Hilfe und Unterstu È tzung verpflichtet. Weil diese Hilfeleistungspflicht allerdings ausdru È cklich den ¹besonderen Charakter der SicherÈ sterreich heits- und Verteidigungspflicht bestimmter Mitgliedstaatenª unberu È nnte O È hrt laÈsst, ko seine Verpflichtungen nach dem NeutralitaÈtsG auch in diesem Rahmen wahren.
215 3. Da das NeutralitaÈtsG nicht zu den verfassungsrechtlichen Baugesetzen gehoÈrt, kann es durch einfaches Bundesverfassungsgesetz abgeaÈndert oder aufgehoben werden, ohne dass es zwingend einer Volksabstimmung bedu È rfte.
10.5. Der umfassende Umweltschutz 216 Nach dem im Jahr 1984 geschaffenen BVG-Umweltschutz ¹bekenntª sich die RepuÈ sterreich (Bund, LaÈnder und Gemeinden) zum umfassenden Umweltschutz, blik O dh zu einer Bewahrung der natu È rlichen Umwelt als Lebensgrundlage des Menschen vor schaÈdlichen Einwirkungen. Damit ist der Umweltschutz als verpflichtende Staatsaufgabe verankert worden, dem durch den Erlass entsprechender Gesetze und bei ihrer Vollziehung Rechnung zu tragen ist. Der VfGH hat sich auf diesen Verfassungsauftrag mehrfach vor allem bei der Interpretation einfachgesetzlicher Vorschriften bezogen (vgl oben Rz 207; ferner zB die Rechtfertigung von Nachtfahrverboten in VfSlg 12.485/1990). Ein weiteres BVG verbietet die Errichtung und den Betrieb von Atomkraftwerken und verpflichtet den Gesetzgeber zur Regelung der Schadenersatzpflicht bei nuklearen UnfaÈllen (BVG È sterreich BGBl I 1999/149). fu È r ein atomfreies O
10.6. Sicherung eines differenzierten, qualitativ hochwertigen Bildungswesens 217 Durch eine 2005 beschlossene Verfassungsnovelle wurde der Gesetzgeber verpflichtet, ein differenziertes Schulwesen zu schaffen und zu erhalten (Art 14 Abs 6a B-VG). Gleichzeitig wurde die oÈsterreichische Schule auf einen anspruchsvollen Katalog von Werten verpflichtet, der bestimmte Erziehungsziele (Demokratie, HumanitaÈt, SolidaritaÈt usw), QualitaÈtsanspru È che (¹hoÈchstmoÈgliches Bildungsniveauª) und das Prinzip der Schulpartnerschaft verfassungsrechtlich festschreibt (Art 14 Abs 5a B-VG). Auch die neunjaÈhrige Schulpflicht und die Berufsschulpflicht sind nunmehr verfassungsrechtlich verankert. Hintergrund dieser Regelungen ist die Zuru È ckdraÈngung des Erfordernisses einer 2/3-Mehrheit fu È r die meisten Schulgesetze, das mit fu È r die Reformresistenz des oÈsterreichischen Schulwesens verantwortlich gemacht wurde. Nunmehr bedu È rfen nur mehr die in Art 14 Abs 10 B-VG angefu È hrten Regelungen (Schulgeldfreiheit, VerhaÈltnis Schule-Kirche, Abgehen von einem differenzierten Schulwesen) einer 2/3-Mehrheit im NR. Ob es eine angemessene Reaktion auf den ¹Pisa-Schockª war, einen Èauûerst wortreichen und u È berschwaÈnglichen Katalog von Erziehungszielen in den Verfassungsrang zu erheben, ist fraglich. Die politisch umstrittene Frage nach der organisatorischen Gestaltung der Sekundarstufe (Gesamtschul-Problematik) ist durch die Festlegung einer ¹angemessenen Differenzierungª nicht wirklich entschieden worden; im Ergebnis belaÈsst diese Formulierung dem einfachen Gesetzgeber einen groûen Gestaltungsspielraum.
10.7. Sonstige bundesverfassungsrechtliche VerfassungsauftraÈge 218 Als VerfassungsauftraÈge lassen sich auch die folgenden Bestimmungen deuten, auf die in die-
sem Buch im jeweils entsprechenden Zusammenhang naÈher eingegangen wird: Nach Art I
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È ffentliche Aufgabe, wobei der einBVG-Rundfunk ist die Veranstaltung von Rundfunk eine o fache Rundfunkgesetzgeber verpflichtet ist, fu È r einen leitbildgerechten, unabhaÈngigen, der ObjektivitaÈt und PluralitaÈt verpflichteten Rundfunk zu sorgen (vgl unten Rz 1477 ff). Im Zusammenhang mit dem Gleichheitsgrundsatz (Art 7 Abs 1, 2 B-VG) werden die GebietskoÈrperschaften dazu verpflichtet, fu È r eine tatsaÈchliche Gleichstellung von MaÈnnern und Frauen und fu È r die Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen zu sorgen È sterreich zur ge(vgl unten Rz 1671 ff). Art 8 Abs 2 B-VG sieht ein Bekenntnis der Republik O wachsenen sprachlichen und kulturellen Vielfalt und zu einer aktiven Volksgruppenpolitik vor (vgl Rz 1720). Dem im Verfassungsrang stehenden Verbot der nationalsozialistischen WiederbetaÈtigung laÈsst sich schlieûlich ein entsprechender Verfassungsauftrag zur kompromisslosen BekaÈmpfung des Nationalsozialismus entnehmen.
10.8. Staatsziele und VerfassungsauftraÈge im Landesverfassungsrecht Zahlreiche Staatszielbestimmungen und VerfassungsauftraÈge finden sich im 219 È sterreichischen BundeslaÈnder. So bekennen sich mehVerfassungsrecht der o rere LV zur Achtung der menschlichen Wu È rde oder enthalten Sozialstaatsklauseln; auch die freie Entfaltung der Menschen, die FoÈrderung der Familien oder des Umweltschutzes bzw die Wahrung der VollbeschaÈftigung werden von LV als VerfassungsauftraÈge angesprochen. Angesichts des eingeschraÈnkten Kompetenzbereichs der BundeslaÈnder ist die praktische Bedeutung dieser VerfassungsauftraÈge allerdings gering.
10.9. Staatliche ¹Kernaufgabenª 1. Sieht man von den vorne angefu È hrten Staatszielen und VerfassungsauftraÈgen ab, 220 gibt es keine Verfassungsbestimmungen, die den Staat ausdru È cklich zur Erfu È llung bestimmter Aufgaben verpflichten. Auch die Kompetenzbestimmungen ermaÈchtigen die GebietskoÈrperschaften nur zur Besorgung der dort genannten Aufgaben, ohne dass sie Pflichten begru È nden. Die historische Erfahrung zeigt, dass der Umfang der vom Staat wahrgenommenen Aufgaben und das, was als zwingende È ffentliche Aufgabe angesehen wird, sehr unterschiedlich Staatsaufgabe oder o sein koÈnnen. Selbst die Aufstellung einer bewaffneten Streitmacht oder die Einhebung von Steuern wurde zu bestimmten Zeiten nicht vom Staat, sondern von Privaten besorgt. Heute erzwingt die Sanierung der Staatsfinanzen einen gewissen Ru È ckzug des Staates (¹schlanker Staatª). Zahlreiche bisher vom Bund, den LaÈndern und Gemeinden wahrgenommene oÈffentliche Aufgaben werden ¹privatisiertª, dh ganz oder teilweise auf private Rechtssubjekte u È bertragen (zB die Sicherheitskontrollen auf FlughaÈfen oder in oÈffentlichen GebaÈuden, Parkraumu È berwachung, technische Sicherheitskontrollen, Verkehrskontrollen). 2. Das Èandert freilich nichts an der grundsaÈtzlichen Verantwortung des demokra- 221 tischen Verfassungsstaats fu È r das gesellschaftliche Gemeinwohl. Die Wahrung des Rechtsfriedens und der Gerechtigkeit, die Sicherung des sozialen Ausgleichs und die Abwehr von Gefahren fu È r die innere und Èauûere Sicherheit sind zentrale Staatsaufgaben. Sie muss der Staat gewaÈhrleisten, wenn er sich nicht selbst aufgeben moÈchte, und sie sind daher auch verfassungsrechtlich vorausgesetzt. Im Rahmen dieser grundsaÈtzlichen Verantwortlichkeit des Staates gibt es freilich einen groûen Spielraum fu È ffentliche AufÈ r die politische Entscheidung, ob der Staat bestimmte o gaben entweder selbst erfu È llt oder sie an Dritte u È bertraÈgt und allenfalls nur dafu Èr Sorge traÈgt, dass diese bei ihrer Wahrnehmung bestimmte o È ffentliche Interessen beachten. So wurden zB bestimmte Aufgaben der hoheitlichen Luftverkehrspolizei und die Abwicklung der Flugsicherung auf eine im Eigentum des Bundes stehende
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GmbH (Austro Control GmbH) u È ffentlichen UniÈ bertragen und gibt es neben den o versitaÈten und Schulen auch PrivatuniversitaÈten oder Privatschulen. 222 3. Es ist umstritten, ob man bestimmte einzelne Aufgaben identifizieren kann, die als staatliche ¹Kernaufgabenª jedenfalls unmittelbar vom Staat selbst erfu È llt werden mu È ssen und die nicht ¹privatisiertª oder ¹ausgegliedertª werden du È rfen. Der VfGH ist in mehreren Entscheidungen davon ausgegangen, dass die Vorsorge fu È r die innere und Èauûere Sicherheit und die Ausu È bung der staatlichen Strafgewalt solche staatlichen Kernaufgaben sind und daher vom Staat selbst besorgt werden mu È ssen (VfSlg 14.473/1996). In den Grenzbereichen ist die Abgrenzung solcher Kernaufgaben aber nicht leicht. Im Einzelnen muss man zwischen einer Privatisierung und anderen FaÈllen der Ausgliederung von Staatsaufgaben unterscheiden: ¹Privatisierungª bedeutet einen gaÈnzlichen (oder weitgehenden) Ru È ckzug des Staates von der staatlichen Aufgabenerfu È llung, etwa wenn die Telekommunikation nicht mehr von einem staatlichen Monopolunternehmen, sondern von privaten Unternehmen besorgt wird. Von ¹Ausgliederungª spricht man dann, wenn Gebietsko È rperschaften eine bisher in unmittelbarer Staatsverwaltung besorgte Aufgabe auf ein selbstaÈndiges Rechtssubjekt (etwa eine oÈffentlich-rechtliche Anstalt oder eine Kapitalgesellschaft) u È bertragen, das aber noch vom Staat beherrscht wird. Die vom VfGH angefu È hrten staatlichen Kernaufgaben sind in diesem Sinn Hoheitsaufgaben, die auch nicht ausgegliedert werden du È rfen (¹ausgliederungsfesteª Aufgaben), wobei in FaÈllen von Ausgliederungen noch weitere Schranken zu beachten sind, die sich aus dem verfassungsrechtlich vorgezeichneten Verwaltungsaufbau und dem Rechtsschutzgebot ergeben (vgl dazu noch unten Rz 652).
11. Die politischen Parteien 223 Die u È berragende Bedeutung der politischen Parteien in der Demokratie ist ebenso bereits dargestellt worden wie der Umstand, dass nicht wenige verfassungsrechtliche Institutionen (zB das freie Mandat) durch die RealitaÈten des Parteienstaats gepraÈgt und u È berformt werden (vgl Rz 144). Umso bemerkenswerter ist es, dass das Verfassungsrecht von den politischen Parteien lange Zeit fast keine Notiz genommen hat. Erst das 1975 beschlossene ParteienG (PartG), dessen Art 1 im Verfassungsrang steht, hat den verfassungsrechtlichen Status der politischen Partei ansatzweise geklaÈrt. Im Folgenden werden die wichtigsten Rechtsfragen behandelt, welche die Gru È ndung und BetaÈtigung der politischen Parteien, ihre Stellung im Verfassungszusammenhang und ihre Finanzierung aufwerfen. Viele dieser Regelungen werden besser verstaÈndlich, wenn man sie im Zusammenhang mit der Entwicklung des oÈsterreichischen Parteiensystems sieht, auf das einleitend kurz eingegangen wird. Hinsichtlich der Einzelheiten, die hier nicht vertieft werden koÈnnen, ist auf die politikwissenschaftliche Literatur zu verweisen.
È sterreichischen Parteiensystems 11.1. Die Entwicklung des o 224 1. Sieht man von der Partei der GruÈnen ab, gehen die bestehenden politischen Parteien in
È sterreich auf VorlaÈufer zuru O È ck, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden, als es im Zuge der allmaÈhlichen Demokratisierung des Wahlrechts notwendig wurde Parteiorganisationen aufzubauen. Die drei politischen ¹Lagerª fanden sich zu weltanschaulich ausgerichteten Parteien zusammen, die sich an den Wahlen beteiligten: die Christlichsoziale Partei, die sich von einer losen WaÈhlerpartei zur Massenpartei entwickelte, die als klassische Mitgliederpartei organisierte Sozialdemokratische Arbeiterpartei und die in mehrere Gruppierungen zersplitterten Deutschnationalen. Bei der Gru È ndung der Republik und dem zum B-VG fu È hrenden Verfassungsprozess waren die politischen Parteien sodann schon fu È hrend beteiligt. Die 1. Republik war vom Gegensatz der beiden groûen politischen Lager der Christlichsozialen und Sozialisten gekennzeichnet, die sich nur widerwillig in die Rahmenbedingungen des demokratischen Verfassungsstaats fu È gten, der auf Gewaltverzicht, Verfassungstreue und auf die Bereit-
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schaft zu politischen Kompromissen angewiesen ist. Die unu È berbru È ckbaren Spannungen fu È hrten schlieûlich zum Bu È rgerkrieg und zum Verfassungsbruch durch die staÈndisch-autoritaÈre Regierung. 2. Auch am Beginn der 2. Republik waren es wieder die politischen Parteien, die sich als ver- 225 fassungsgestaltende KraÈfte betaÈtigten. Die UnabhaÈngigkeitserklaÈrung vom 27.4.1945 traÈgt È VP, SPO È und KPO È . Die leidvollen Erfahrungen der Zwidie Unterschrift der Parteifu È hrer von O schenkriegszeit und des Verlusts der o È sterreichischen SelbstaÈndigkeit hatten nun freilich den Willen zur Zusammenarbeit u È ber die Parteigrenzen hinweg gestaÈrkt. Die Wiederbegru È ndung der oÈsterreichischen Staatlichkeit und der Wiederaufbau der Wirtschaft wurden von den beiÈ VP, SPO È ) gemeinsam in Angriff genommen, die in der langen den fu È hrenden Groûparteien (O È ra der ¹Groûen Koalitionª (1945±1966) auch gemeinsam die Regierung stellten. Die u A È berkommene Lagerbildung hat sich in dieser Zeit freilich fortgesetzt und verstaÈrkt und zu einer umÈ sterreichischen Gesellschaft gefassenden parteipolitischen Durchdringung der o fu È hrt. Viele gesellschaftlichen Interessen bis hin zum Sport, den SeniorenverbaÈnden oder den Kraftfahrervereinen wurden durch Vorfeldorganisationen der Parteien oder zumindest durch parteinahe Einrichtungen organisiert, die jeweils einem der beiden groûen politischen Lager È ber Karrieren in der Verwaltung oder in der verstaatlichten Inzugeordnet werden konnten. U dustrie und selbst u È ber die Vergabe von Wohnungen konnte das richtige ¹Parteibuchª entscheiden. Die politischen MehrheitsverhaÈltnisse im Bund, in den einzelnen BundeslaÈndern und in den wichtigen Interessenvertretungen waren relativ stabil und die Parteibindung der WaÈhlerinnen und WaÈhler ausgepraÈgt. Vor allem in Verbindung mit den Institutionen der SozialpartÈ sterreich bei, nerschaft trug dies alles zu einer bemerkenswerten politischen StabilitaÈt in O deren Kehrseite freilich eine beharrliche Resistenz gegen Reformen und VeraÈnderungen war. Der mitunter Èauûerst leichtfertige Umgang mit der Verfassung ist ein bis heute fortwirkendes Erbe dieser Zeit, weil die Groûe Koalition durchgaÈngig u È ber eine Verfassungsmehrheit verfu È gte und daher die verfassungsrechtliche Ordnung jederzeit umgestalten konnte, wenn sich die beiden Koalitionspartner einig waren. Im Lauf der Zeit erstarrte das politische System der Groûen Koalition in wechselseitigen Blockaden, die bis zur RegierungsunfaÈhigkeit fu È hrten. Nach den Jahren des Wiederaufbaus verlor diese Form des Regierens zunehmend ihre Legitimation. È ra der Groûen Koalition sahen wechselnde Alleinpar- 226 3. Die Jahre nach dem Ende der A È VP, spaÈter der SPO È ). Sie zeigten, dass auch in O È sterreich teienregierungen (zunaÈchst der O entgegen manchen Befu È rchtungen ein geordneter Wechsel der politischen Macht zwischen einer Regierungspartei und einer Opposition moÈglich ist; die bisherige Kultur der politischen Konkordanz machte einem staÈrker am Konkurrenzprinzip orientierten politischen System Platz (vgl zu den Begriffen Konkordanz- und Konkurrenzdemokratie Rz 146). Zugleich kam in den folgenden Jahrzehnten Bewegung in das Parteiensystem. Das Entstehen alternativer politischer Bewegungen (Bu È rgerinitiativen, Umweltparteien usw) deutete auf eine Krise der etablierten Groûparteien hin; daraus ist schlieûlich die Partei der Gru È nen hervorgegangen, die sich erfolgreich als neue politische Partei etablieren konnte. Die aus den ehemaligen È , die lange Zeit nur als Kleinpartei die Rolle der OpDeutschnationalen hervorgegangene FPO position wahrnahm, erstarkte zu einer Partei, die in einzelnen Wahlen mit den etablierten Parteien gleichziehen und als Koalitionspartner in die Regierung einziehen konnte. Alle diese Entwicklungen spiegeln auch eine deutliche VeraÈnderung der gesamten politischen Kultur: Die Bereitschaft der WaÈhlerinnen und WaÈhler zu einem wechselnden Stimmverhalten (¹WechselwaÈhlerª) ist heute so groû wie nie zuvor und die Lagerbindung entsprechend abgeschwaÈcht. Die politischen Parteien mussten darauf durch eine Anpassung ihres Profils reagieren und sind heute viel weniger weltanschaulich gepraÈgte Gesinnungsgemeinschaften als ¹Volksparteienª, die mit ihrem Programm moÈglichst jede soziale Gruppe ansprechen wollen. Die gesteigerte politische MobilitaÈt der Menschen, der Ru È ckzug des Staates aus wichtigen Bereichen der Wirtschaft und wohl auch eine gewisse Emanzipation der ¹civil societyª tragen dazu bei, dass die umfassende parteipolitische Durchdringung der Gesellschaft kritisch hinterfragt wird.
4. Vor dem Hintergrund dieser hier nur in ihren groben Umrissen geschilderten Ent- 227 wicklung des oÈsterreichischen Parteiensystems muss man auch die Rechtslage der politischen Parteien sehen: Sie haben sich als die maûgeblichen GestaltungsÈ sterreich etabliert und sich dabei als gesellkraÈfte des politischen Systems in O schaftliche Institutionen verstanden, die auf einen rechtlichen Rahmen nicht zwin-
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gend angewiesen sind, der ihre Freiheit moÈglicherweise nur beschraÈnken haÈtte koÈnnen. Symptomatisch dafu È r war, dass es lange Zeit unklar blieb, ob den politischen Parteien RechtsÈ nlichkeit zukam und auf welcher Rechtsgrundlage diese beruhte. Von den bestehenden perso È als Verein nach dem VerG organisiert, waÈhrend die anderen poParteien hatte sich nur die FPO litischen Parteien ihre RechtspersoÈnlichkeit in nicht ganz u È berzeugender Weise aus der UnabhaÈngigkeitserklaÈrung ableiteten, also gleichsam aus dem Umstand, dass sie die Urheber der historisch ersten Verfassung waren. Eine endgu È ltige KlaÈrung dieser Frage nahm erst das PartG vor; aber auch auf der Grundlage dieses Gesetzes kommt den politischen Parteien ein sehr weit gehender Status der rechtlichen Ungebundenheit zu. Politische Parteien unterliegen damit einem verfassungsrechtlichen Sonderstatus, der vor allem verglichen mit den Vereinen È berwachungsbefugnisse gekennzeichnet ist. durch eine Zuru È cknahme behoÈrdlicher U
11.2. Die Gru È ndung politischer Parteien 228 1. Die fu È r eine Demokratie wesentlichen GrundsaÈtze der Parteienvielfalt und der freien Parteienkonkurrenz finden in erster Linie in der Gru È ndungsfreiheit politischer Parteien ihren konkreten Niederschlag. Nach der Verfassungsbestimmung in § 1 Abs 3 PartG ist die Gru È ndung politischer Parteien frei, sofern bundesverfassungsgesetzlich nichts anderes bestimmt ist; als Voraussetzung fu È r die Erlangung der RechtspersoÈnlichkeit sieht § 1 Abs 4 PartG lediglich die Hinterlegung einer bestimmten Mindesterfordernissen entsprechenden Satzung beim Innenminister vor. Damit hat der Verfassungsgesetzgeber eine eigenstaÈndige Rechtsform der politiÈ nlichkeit ausgestattet ist; sie entschen Partei geschaffen, die mit Rechtsperso steht mit der Hinterlegung der Satzung. Politische Parteien, welche in dem im PartG vorgesehenen Verfahren die RechtspersoÈnlichkeit erlangt haben, sind keine KoÈrperschaften oÈffentlichen Rechts, sondern juristische Personen des Privatrechts; ihre Beziehungen zu den Mitgliedern sind privatrechtlicher Natur (OGH SZ 51/154). Wurde eine politische Gruppierung schon als Verein nach dem VerG begru È ndet, kann sie sich unter Aufrechterhaltung dieses Rechtsbestandes auch als politische Partei konstituieren (OGH EvBl 2002/117). 229 2. Schranken fu È r die Gru È ndung von Parteien koÈnnen nur durch bundesverfassungsrechtliche Bestimmungen geschaffen werden; solche ergeben sich aus dem Verbot der nationalsozialistischen WiederbetaÈtigung iS des VerbotsG (sowie der gleichgerichteten Verfassungsbestimmungen der Art 4, 9 und 10 StV Wien). Gegen ein verfassungsrechtliches Verbot wu È rde auch die Gru È ndung von politischen Parteien mit dem Ziel der rassischen Diskriminierung verstoûen (Art I BVG-Rassendiskriminierung). 230 a) Das Verfahren zur GruÈndung politischer Parteien ist denkbar einfach ausgestaltet:
Der Mindestinhalt einer Satzung ergibt sich aus § 1 Abs 4 PartG, wobei der Verfassungsgesetzgeber darauf verzichtet hat den Parteien irgendwelche inhaltlichen Vorgaben zu machen; auch eine binnendemokratische Organisation (¹innerparteiliche Demokratieª) ist nicht vorgeschrieben. Mit der Hinterlegung der Satzung erlangt die politische Partei ihre RechtspersoÈnlichkeit. Das u È beraus erleichterte Gru È ndungsverfahren hat in der Praxis dazu gefu È hrt, dass es eine Vielzahl von politischen Parteien gibt (es wurden mehr als 800 Satzungen hinterlegt), von denen viele ganz andere Zwecke als die einer ¹Mitwirkung an der politischen Willensbildungª verfolgen.
231 b) Abgesehen vom Verbot der nationalsozialistischen WiederbetaÈtigung (und dem Verbot der
Rassendiskriminierung) gibt es keine ¹Parteienverboteª. Das PartG hat auch davon Abstand genommen ein bestimmtes Verfahren einzurichten, in dem daru È ber entschieden wird, ob eine Partei unter den Verbotstatbestand der nationalsozialistischen WiederbetaÈtigung faÈllt. Bestehen Zweifel an der VerfassungsmaÈûigkeit der sich konstituierenden politischen Gruppe, ist der Innenminister nicht zu einer bescheidmaÈûigen Entscheidung befugt; wenn die Satzung
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die gesetzlichen Anforderungen nicht erfu È llt oder es sich um eine iS des VerbotsG verfassungswidrige Organisation handelt, erlangt die Gruppierung nach der Judikatur des VfGH nicht die RechtspersoÈnlichkeit als politische Partei, was jedes Gericht oder jede VerwaltungsbeÈ rde selbstaÈndig (¹incidenterª) im Rahmen anhaÈngiger Verfahren (zB bei der Anmeldung eiho ner Versammlung, der Einbringung eines Wahlvorschlags oder im Rahmen eines Zivilprozesses) zu beurteilen hat (VfSlg 9648/1983, 11.258/1987). Ob diese LoÈsung rechtspolitisch sinnvoll ist und den demokratiepolitischen Erfordernissen angemessen Rechnung traÈgt, erscheint mehr als zweifelhaft. c) Politische Parteien nach dem PartG mu È ssen von den Wahlparteien (wahlwerbenden Par- 232 teien) unterschieden werden, die sich unter einem bestimmten Namen und mit einer Liste an einer Wahl beteiligen. Wahlwerbende Parteien haben eine im Wesentlichen auf die Wahl und eine allfaÈllige Wahlanfechtung beschraÈnkte RechtsfaÈhigkeit. In der Regel sind es freilich die politischen Parteien, die als wahlwerbende Parteien in Erscheinung treten, so dass es einen engen verfassungsrechtlichen Zusammenhang zwischen der Existenz einer politischen Partei und ihrer TaÈtigkeit als Wahlpartei gibt.
11.3. Die Stellung der politischen Parteien im Verfassungszusammenhang 1. Das PartG erklaÈrt die Existenz und Vielfalt der politischen Parteien zu einem 233 È sterreich und wesentlichen Bestandteil der demokratischen Ordnung der Republik O weist ihnen die Aufgabe der Mitwirkung an der politischen Willensbildung zu (§ 1 Abs 1 und 2 PartG). Damit unterstreicht die Verfassung die zentrale Rolle der politischen Parteien im repraÈsentativen Verfassungsstaat, fu È r dessen Funktionieren sie unverzichtbar sind, weil sie die gesellschaftlichen Interessen und Bedu È rfnisse zu waÈhlbaren Alternativen verdichten, Politiker rekrutieren und praÈsentieren und sich È bernahme der Staatsmacht bewerben. um die zeitlich begrenzte, treuhaÈndige U Weil die politischen Parteien ein Bestandteil der demokratischen Ordnung sind, ha- 234 ben sie auch einen verfassungsrechtlichen Status, durch den sie sich von anderen privatrechtlichen Organisationen (zB Vereinen) unterscheiden. Ihre mit MitwirÈ fkung an der politischen Willensbildung umschriebenen Aufgaben stellen daher o fentliche Aufgaben dar; auf sie hat der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Rechte und Pflichten der politischen Parteien entsprechend Ru È cksicht zu nehmen. Das hat etwa Konsequenzen fu È r die Gestaltung der Parteienfinanzierung (vgl Rz È berlagerung 240 ff). Der Gesetzgeber du È rfte auch Vorkehrungen treffen, um der U der verfassungsrechtlichen Einrichtungen durch eine unkontrollierte Parteimacht entgegenzuwirken; derartige Mechanismen sind im geltenden Recht allerdings kaum ausgepraÈgt. So bieten die bestehenden Rechtsschutzeinrichtungen beispielsweise nur bedingt Abhilfe geÈ ffentligen eine parteipolitisch motivierte, unsachliche Begu È nstigung bei der Vergabe o cher Posten. Ausschreibungsverfahren ko È nnen eine gewisse Transparenz bieten, lassen sich in der Praxis aber oft unterlaufen. Zum fehlenden Rechtsanspruch von Bewerbern um ein oÈffentliches Amt vgl Rz 1710. Zum Leerlaufen der parlamentarischen Kontrolle, die in den HaÈnden der Mehrheitspartei liegend wenig wirksam ist, vgl Rz 578. Hier ko È nnte nur ein Ausbau der Rechte der Opposition Abhilfe bringen.
2. Wenn die Vielfalt der politischen Parteien ausdru È cklich zu einem Wesensmerk- 235 mal des demokratischen Prinzips erklaÈrt wird, macht das deutlich, dass der verfassungsrechtlichen Ordnung des B-VG ein Mehrparteiensystem zu Grunde liegt. EinschraÈnkungen dieses Prinzips (zB durch ein staatliches Zulassungssystem, durch die Privilegierung einer ¹Staatsparteiª usw) wu È rden daher auf eine verfassungsrechtliche GesamtaÈnderung iS von Art 44 Abs 3 B-VG hinauslaufen. 3. Festzuhalten bleibt, dass die Verfassung die Aufgabe der Parteien auf die ¹Mitwir- 236 kungª an der Willensbildung des Volkes beschraÈnkt; darin liegt die Anerkennung
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und BekraÈftigung der urspru È nglichen Verantwortung des einzelnen Bu È rgers fu È r das staatliche Gemeinwesen, in deren Licht den Parteien eine instrumentelle Funktion zukommt. Wenn sich die Parteien um die Ausu È bung der Staatsmacht bewerben, tun sie das nach dem verfassungsrechtlichen Leitbild nicht im eigenen Interesse, sondern im Interesse des Volkes.
11.4. Die BetaÈtigung der politischen Parteien 237 1. Verfassungsrechtlich geschu È tzt ist auch die freie BetaÈtigung der politischen Parteien (BetaÈtigungsfreiheit), die keiner BeschraÈnkung durch besondere Rechtsvorschriften unterworfen werden darf (§ 1 Abs 3 PartG). Damit will die Verfassung die Erlassung von Rechtsvorschriften ausschlieûen, welche ausschlieûlich politische Parteien diskriminieren. Gegen eine Privilegierung politischer Parteien, etwa im SteuerÈ brigen ist die genauere recht, bestehen nach VfSlg 9731/1983 keine Bedenken. Im U Tragweite dieser Regelung unklar. Es ist nicht anzunehmen, dass § 1 Abs 3 PartG jede sondergesetzliche Regelung der Rechtsstellung politischer Parteien ausschlieûen moÈchte. Dagegen spricht bereits der Umstand, dass das PartG in seinen einfachgesetzlichen Bestimmungen umfangreiche Regelungen u È ber die Parteienfinanzierung enthaÈlt, wobei der Erhalt dieser Zuwendungen auch mit bestimmten Verpflichtungen (Aufzeichnungs-, Offenlegungspflichten) verbunden ist. TatsaÈchlich sind dem Gesetzgeber Regelungen nicht verwehrt, welche den verfassungsrechtlichen Status der politischen Parteien funktionsgerecht ausgestalten; auch wenn solche Regelungen nur auf politische Parteien bezogen waÈren, handelte es sich um keine BeschraÈnkung durch besondere Rechtsvorschriften im Sinn von diskriminierenden BeschraÈnkungen, sondern um eine Ausgestaltung der vorgegebenen verfassungsrechtlichen Stellung.
238 2. Die durch die Gru È ndungsfreiheit abgesicherte Offenheit des Parteiensystems ist die wichtigste Vorbedingung fu È r eine wirksame Parteienkonkurrenz. Dazu mu È ssen freilich noch weitere Regelungen kommen, welche die politische Chancengleichheit sichern und auch neuen politischen Gruppen die realen MoÈglichkeiten geben, zu den etablierten Parteien in Konkurrenz zu treten. Diesem Verfassungsgebot der politischen Chancengleichheit ist vor allem im Wahlrecht, dem Recht der parlamenÈ ffenttarischen Fraktionen, bei der Parteienfinanzierung oder bei der staatlichen O lichkeitsarbeit Rechnung zu tragen. Daher darf der Staat eine oder einzelne Parteien gegenu È rderung der Wahlwerbung nicht wirtÈ ber den anderen bei der staatlichen Fo schaftlich begu È nstigen oder benachteiligen (VfSlg 14.803/1997) oder einseitig in einen Wahlkampf eingreifen (VfSlg 17.418/2004). 239 3. Sieht man von den Regelungen zur Parteienfinanzierung ab, gibt es nur wenige einfachgesetzliche Regelungen, welche die Rechtsstellung der politischen Parteien naÈher ausformen. Daher sind die meisten Rechtsfragen auf der Grundlage des allgemein geltenden Rechts zu beurteilen; auch die Beziehungen zwischen der Partei und ihren Mitgliedern richtet sich im Rahmen des Statuts der Partei nach bu È rgerlichem Recht (OGH SZ 51/154).
11.5. Die Parteienfinanzierung È sterreich breit ausgebaut und bei wei240 Die staatliche Parteienfinanzierung ist in O tem die wichtigste Einnahmequelle der politischen Parteien. Das ist im Hinblick auf È ffentliche Aufgabe zulaÈssig, auch wenn der Umfang und die damit gegebene ihre o AbhaÈngigkeit der Parteien von staatlichen Geldern demokratiepolitisch nicht ganz unbedenklich sind. Nach verbreiteter Ansicht waÈre eine Vollfinanzierung der Parteien aus staatlichen Mitteln verfassungsrechtlich unzulaÈssig. Bei der Ausgestaltung des o È ffentlichen Finanzierungssystems muss der Gesetzgeber dem Grundsatz der
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Gleichheit der politischen Parteien strikt Rechnung tragen, der in Form der Chancengleichheit auch garantiert, dass neue politische Gruppen entstehen koÈnnen. Das setzt einen angemessenen Ausgleich der Einstiegsbarrieren voraus. Das PartG sieht zwei verschiedene Formen der Parteienfinanzierung vor: 241 È . FoÈrderungsmittel fu È r die Zwecke der Offentlichkeitsarbeit (§ 2 PartG): Diese Mittel werden auf die im NR vertretenen politischen Parteien verteilt; nicht im NR vertretene Parteien erhalten in einem Wahljahr Mittel, wenn sie mindestens 1 % der Stimmen erhalten haben. . Wahlwerbungskosten-Beitrag (§ 2a PartG): Jede im NR vertretene Partei erhaÈlt nach dem VerhaÈltnis der auf sie entfallenen Stimmen einen Beitrag zu den Kosten von NR-Wahlen; ein entsprechender Beitrag ist auch fu È r die Wahlen zum EuropaÈischen Parlament vorgesehen. Die Parteien haben u È ber die widmungsgemaÈûe Verwendung dieser Mittel Aufzeichnungen zu fu È hren, die von Wirtschaftspru È fern jaÈhrlich zu pru È fen sind. Um auch die sonstigen Einku È nfte der Parteien transparent zu machen hat jede Partei, die o È ffentliche Mittel nach dem PartG erhaÈlt, einen Rechenschaftsbericht u È ber ihre Einnahmen und Ausgaben zu erstellen, in dem ua die MitgliedsbeitraÈge und Spenden auszuweisen sind. GroÈûere Spenden mu È ssen ziffernmaÈûig gesondert ausgewiesen werden, die Namen der Spender werden allerdings nicht vero È ffentlicht, sondern scheinen nur in einer so genannten ¹Spenderlisteª auf, die dem RH-PraÈsidenten u È bermittelt wird; der PraÈsident hat auf Ersuchen der betreffenden politischen Partei oÈffentlich festzustellen, ob eine Spende ordnungsgemaÈû deklariert wurde.
Die Zuwendungen nach dem PartG sind allerdings nicht die einzige Form der o È ffent- 242 È sterreich. Den Parteien flieûen noch aus verschielichen Parteienfinanzierung in O denen anderen Quellen und unter unterschiedlichen Titeln Geldmittel zu: Nach dem PublizistikfoÈrderungsG 1984 BGBl 369 idgF wird die Bildungsarbeit der politischen Parteien gefoÈrdert, das KlubfinanzierungsG 1985 BGBl 156 idgF sieht Zuwendungen an die parlamentarischen Klubs vor und auch die BundeslaÈnder foÈrdern die Parteien in vielfaÈltiger Weise. Eine wichtige Einnahmequelle stellen auûerdem die BeitraÈge dar, welche Mandatare und FunktionaÈre aus den ihnen zuflieûenden Bezu È ffentlichen È gen an ihre Partei abgeben mu È ssen. Ein Gesamtu È berblick u È ber die o Mittel, die fu È r die politischen Parteien aufgewendet werden, ist daher nicht leicht zu gewinnen. Manche FoÈrderungssysteme laufen auûerdem auf eine erhebliche Begu È nstigung der bereits etablierten Parteien hinaus, deren verfassungsrechtliche Rechtfertigung problematisch ist. AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zu den Abschnitten 5±11: VfSlg 2455/1952: Immer noch der ¹leading caseª zum Begriff der GesamtaÈnderung ± zum ersten Mal stellt der VfGH fest, unter welchen UmstaÈnden eine GesamtaÈnderung vorliegt, und er zaÈhlt die Bauprinzipien in einem obiter dictum auf. VfSlg 10.306/1984: Eine gesetzliche ErmaÈchtigung zu einer zeitlich unbegrenzten Fortsetzung der GeschaÈfte durch einen gewaÈhlten KammerfunktionaÈr nach Ablauf der Funktionsperiode verletzt das demokratische Bauprinzip der Bundesverfassung, weil staatliche Organe der Gesetzgebung und Vollziehung in periodisch wiederkehrenden Wahlen bestellt werden mu È ssen. Man beachte, wie hier ein ¹Bauprinzipª als Instrument zur verfassungskonformen Interpretation herangezogen wird. VfSlg 13.500/1993: In diesem Erkenntnis zur ¹Bu È rgermeister-Direktwahlª wird deutlich gemacht, dass das demokratische Baugesetz des B-VG als ¹repraÈsentativ-demokratisches Grundprinzipª mit ausnahmehaften direkt-demokratischen Elementen zu verstehen ist. Vgl ferner die Ablehnung einer echten Volksgesetzgebung in VfSlg 16.241/2001. VwSlg 6035 A/1963: Das beru È hmte und zeitgeschichtlich bemerkenswerte ¹Habsburger-Erkenntnisª des VwGH. Nachdem die VerzichtserklaÈrung des Kaisersohnes Otto von Habs-
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burg von der zerstrittenen Koalitionsregierung nicht anerkannt worden war, fu È hrte die Aufhebung der Landesverweisung durch die zitierte Entscheidung des VwGH zu einer Staatskrise, in der sich das Ende der langen Jahre der ¹Groûen Koalitionª anku È ndigte. Die EntÈ wegen der befu scheidung des VwGH wurde von der SPO È rchteten Ausschaltung des Parlaments als ¹Justizputsch im Richtertalarª bewertet. Der VfGH selbst hatte sich in der Sache fu È r unzustaÈndig erklaÈrt; vgl VfSlg 4126/1961. VfSlg 11.403/1987: In diesem Erkenntnis hat der VfGH die Einrichtung der mittelbaren Bundesverwaltung zu den ¹wesentlichen Elementen der Realisierung des bundesstaatlichen Baugesetzesª gezaÈhlt. Trotzdem war in mehreren AnlaÈufen zu einer Bundesstaatsreform vorgesehen, die mittelbare Bundesverwaltung zu beseitigen und die entsprechenden Aufgaben in die autonome Landesverwaltung zu u È bertragen, was auf eine StaÈrkung des FoÈderalismus hinauslaufen wu È rde. VfSlg 14.605/1996: Prinzipielle Anerkennung der Verfassungsautonomie der BundeslaÈnder. WaÈhrend der VfGH in fru È heren Entscheidungen die LV als bloûe ¹Ausfu È hrungsgesetzeª zur Bundesverfassung angesehen hat, wird hier und in anderen Erkenntnissen die (beschraÈnkte) Verfassungshoheit der LaÈnder sehr viel deutlicher anerkannt. VfSlg 11.829/1988: LaÈuft die neuerliche Erlassung einer gesetzlichen Bestimmung im Verfassungsrang, nachdem der VfGH das entsprechende Gesetz als grundrechtswidrig aufgehoben hat (hier: Verpflichtung zur Lenkerauskunft), auf eine GesamtaÈnderung unter Aspekten des Rechtsstaatsprinzips hinaus? VfSlg 16.049/2000: Das Rechtsstaatsprinzip setzt der Deregulierung gewisse Grenzen; die È bertragung von behoÈrdlichen Aufgaben an private SachverstaÈndige kann dazu fu U È hren, dass ± wie dieses Erkenntnis zeigt ± auch der Rechtsschutz in verfassungswidriger Weise ausgeschlossen wird. VfSlg 16.327/2001: Das erste Erkenntnis des VfGH, in dem der Gerichtshof eine gesamtaÈndernde Verfassungsbestimmung wegen der Nicht-Einhaltung des Verfahrens nach Art 44 Abs 3 B-VG als verfassungswidrig aufgehoben hat. Der Grund: Verlust der ¹Maûstabsfunktionª der Verfassung, weil eine bestimmte gesetzliche Regelung durch Verfassungsbestimmung ausdru È cklich als ¹nicht bundesverfassungswidrigª bezeichnet und so von der Pru È fung durch den VfGH ausgeschlossen wurde. VfSlg 16.999/2003: Zur Problematik von Verweisungen, wobei es in dem vorliegenden Fall um eine gegen das rechtsstaatliche Determinierungsgebot verstoûende Verweisung auf Gemeinschaftsrecht geht. Vgl in diesem Zusammenhang auch das so genannte ¹Denksporterkenntnisª VfSlg 12.420/1990. È berpru VfSlg 17.340/2004: Eine U È fung des AsylG 1997 unter verschiedenen rechtsstaatlichen Aspekten. Beachte, dass einzelne fragwu È rdige Bestimmungen nach Ansicht des VfGH verfassungskonform interpretiert werden konnten, waÈhrend andere Regelungen (zB das Neuerungsverbot) den durch das Rechtsstaatsprinzip gebotenen, effektiven Rechtsschutz verfehlten und daher als verfassungswidrig aufzuheben waren. VfSlg 11.990/1989: Die unzureichende Beru È cksichtigung von Belangen des Umweltschutzes kann einen FlaÈchenwidmungsplan rechtswidrig machen ± ein Beispiel fu È r die normative Relevanz eines Staatszieles (hier: umfassender Umweltschutz). È bertragung von Aufgaben der Zivildienstverwaltung an ein privaVfSlg 17.341/2004: Die U tes Rechtssubjekt (Rotes Kreuz) ist verfassungswidrig, weil eine staatliche Kernaufgabe betroffen ist. Vgl auch die ¹staatliche Kernaufgabenª betreffenden Rechtsprechungsnachweise in dieser Entscheidung. VfSlg 11.258/1987: Wie hat der VfGH zu entscheiden, wenn eine iS des VerbotsG verfassungswidrige Organisation, die eine Satzung als politische Partei beim Innenministerium hinterlegt hat, eine Beschwerde nach Art 144 B-VG einbringt, die sich zB gegen die bescheidmaÈûige Untersagung einer Versammlung richtet? VfSlg 11.944/1989: In dieser Entscheidung bejaht der VfGH die VerfassungsmaÈûigkeit der BeschraÈnkung der staatlichen Parteienfinanzierung auf die im NR vertretenen politischen Parteien; beachte auch VfSlg 15.534/1999.
2. Kapitel: Grundprinzipien des Bundesverfassungsrechts
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Zur Vertiefung: Allgemein zur Bedeutung der verfassungsrechtlichen Grundprinzipien: Gamper, Die Rolle der Bauprinzipien in der Judikatur des o È sterreichischen VerfassungsgeÈ sterreich unabaÈnderliches Verfassungsrichtshofes, Jo È R 55 (2007) 537; Hiesel, Gibt es in O È JZ 2002, 121; Jabloner, Verfassungsrechtliche Grundordnung und historisch erste recht? O Verfassung, JRP 2001, 34; Janko, GesamtaÈnderung der Bundesverfassung (2004); Mayer, Gibt es unabaÈnderliches Verfassungsrecht? in: SchaÈffer-FS (2006) 473; Pernthaler, Der VerÈ sterreichs, in: G. Winkler-FS fassungskern (1998); ders, Die neue Doppelverfassung O (1997) 773; Wiederin, GesamtaÈnderung, Totalrevision und Verfassungsgebung, in: SchaÈffer-FS (2006) 241. Zum demokratischen und republikanischen Prinzip: Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie2 (1929; 2. Neudruck 1981); R. Novak, Demokratisches Prinzip und Verfassungswandel, in: Mantl-FS (2004) 117; Rill, Demokratie und ¹Demokratisierung aller LebensbereiÈ rek ua (Hrsg), Verfassung in Zeiten des Wandels (2002) 17; Thienel, Wehrcheª, in: Akyu lose oder streitbare Demokratie? JRP 2005, 163. Zum bundesstaatlichen Prinzip: Koja, Das Verfassungsrecht der o È sterreichischen BundesÈ sterreichischen BundeslaÈnder laÈnder2 (1988); Pernthaler, Die Staatsgru È ndungsakte der o È hlinger, Anmerkungen zu den Gru È ZP 1981, (1979); O È ndungstheorien des Bundesstaates, O 253; Thienel, Der Bundesstaatsbegriff der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 123; Weber, Kriterien des Bundesstaates (1980); Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht (1995). Zum rechtsstaatlichen Prinzip: Berka, Das liberale Grundprinzip des o È sterreichischen Verfassungsrechts, in: Mantl-FS (2004) 13; Hiesel, Die Rechtsstaatsjudikatur des VerfassungsgeÈ JZ 1999, 522; Holzinger, Rechtsstaat und Verwaltungsverfahren, in: Walter-FS richtshofes, O (1991) 271; Jabloner, Das ¹Denksporterkenntnisª des Verfassungsgerichtshofes im Spannungsfeld von Verfassungsrecht und Rechtstechnik, in: Adamovich-FS (1992) 189; Korinek, Von der AktualitaÈt der Gewaltenteilungslehre, JRP 1995, 151; Merli, Rechtsstaatlichkeit in È sterreich, in: Hofmann ua (Hrsg), Rechtsstaatlichkeit in Europa (1996) 83; Pernthaler, O Sind Demokratie und Rechtsstaat wirklich ¹an der Wurzel einsª? in: Adamovich-FS (2002) 631. È sterreichs NeutralitaÈt und Sicherheitspolitik nach dem Beitritt Zu den Staatszielen: Cede, O zur EU, ZfRV 1995, 142; Griller, Vom Wandel der immerwaÈhrenden NeutralitaÈt, in: FS 75 Jahre Bundesverfassung (1995) 727; Gutknecht/Holoubek/Schwarzer, Umweltverfassungsrecht als Grundlage und Schranke der Umweltpolitik, ZfV 1990, 553; Heller, Zum Begriff der Kernaufgaben des Staates, in: SchaÈffer-FS (2006) 961; Kerschner (Hrsg), Staatsziel Umweltschutz. Der Einfluss des oÈsterreichischen BVG u È ber den umfassenden Umweltschutz auf Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit (1996); Neuhold, Auûenpolitik und DeÈ hlinger-FS (2004) mokratie: ¹ImmerwaÈhrendeª NeutralitaÈt durch juristische Mutation? in: O È ffer, Euro68; Pabel, Verfassungsrechtliche Grenzen der Ausgliederung, JRP 2005, 221; Scha paÈische und nationale Wirtschaftsverfassung, in: G. Winkler-FS (1997) 933; Rill und RaschÈ JK (Hrsg), Entstaatliauer, Staatliche ¹Kernaufgabenª ± Notwendigkeit oder Fiktion? in: O chung. Gefahr fu È r den Rechtsstaat? (2002) 99 und 107; Weber, Die Konkretisierung verfassungsrechtlicher Staatszielbestimmungen am Beispiel jener u È ber den umfassenden UmweltÈ ndert sich das voÈlkerschutz, in: FS 75 Jahre Bundesverfassung (1995) 709; Zemanek, A È JZ 1992, 177. rechtliche NeutralitaÈtsrecht und mit ihm die o È sterreichische NeutralitaÈt? O Zu den politischen Parteien: Dachs/Gerlich ua (Hrsg), Handbuch des politischen Systems È sterreichs3 (1997) 213±368; Raschauer, Die Rechtsstellung politischer Parteien, in: PeO È ffer, Parteienlinka/Plasser (Hrsg), Das oÈsterreichische Parteiensystem (1988) 557; Scha staatlichkeit ± Krisensymptome des demokratischen Verfassungsstaats? VVDStRL 44 (1986) 46; Schambeck, Politische Parteien und oÈsterreichische Staatsrechtsordnung, in: Walter-FS È sterreich (1997). (1991) 603; Sickinger, Politikfinanzierung in O
3. Kapitel: Der Verfassungsstaat im Rahmen des È lker- und Europarechts Vo È sterreich ist in die internationale Staatengemeinschaft eingebunden, 243 Die Republik O È lkerrecht geregelt werden. Zugleich ist deren Rechtsbeziehungen durch das Vo È sterreich ein Mitglied der EuropaÈischen Union (EU) und nimmt in diesem RahO men an der europaÈischen Integration auf wirtschaftlichem, sozialem und politischem Gebiet teil, die sich in den rechtlichen Bahnen des EU-Rechts entfaltet. Beide Rechtsgebiete ± das VoÈlkerrecht und das EU-Recht ± sind fu È r sich stehende rechtliche Ordnungen mit Rechtsquellen und Institutionen, die Gegenstand eigenstaÈndiger Darstellungen sind. Das Verfassungsrecht bezieht sich aber auf diese Rechtsgebiete und regelt das VerhaÈltnis zwischen dem nationalen und dem internationalen bzw supranationalen Recht, so wie das VoÈlkerrecht und das Europarecht in verschiedenen ZusammenhaÈngen auf Regelungen des innerstaatlichen Rechts verweisen. Diese wechselseitigen Verbindungen werden in den beiden folgenden Abschnitten behandelt, wobei der besseren VerstaÈndlichkeit wegen auch gewisse Grundzu È ge des VoÈlkerrechts und des EU-Rechts mit darzustellen sind. Hinsichtlich der Einzelheiten muss auf die einschlaÈgigen voÈlker- und europarechtlichen Lehrbu È cher verwiesen werden.
È lkerrecht 12. Verfassungsrecht und Vo 12.1. Internationales Recht und nationales Recht 244 1. Das VoÈlkerrecht regelt die rechtlichen Beziehungen zwischen den einzelnen naÈ lkerrechtstionalen Staaten, welche die wichtigsten (aber nicht die einzigen) Vo subjekte sind. Durch das VoÈlkerrecht werden die Staaten selbst berechtigt und verpflichtet. VoÈlkerrechtliche Sanktionen (zB Schadenersatzpflichten, Repressalien) richten sich daher gegen den Gesamtstaat, nicht gegen die AngehoÈrigen des jeweiligen Staates, die grundsaÈtzlich nicht TraÈger der voÈlkerrechtlichen Rechte und Pflichten sind (wenn man von gewissen Ausnahmen wie den MenschenrechtsvertraÈgen absieht). VoÈlkerrecht kann und wird allerdings in das nationale Recht u È bergeleitet und eingegliedert (¹transformiertª) und kann auf diese Weise zu einer auch innerstaatlich verbindlichen Rechtsquelle werden, welche die einzelnen Staatsorgane und die Bu È rgerinnen und Bu È rger berechtigt und verpflichtet. Wie das VoÈlkerrecht in das innerstaatliche Recht transformiert wird, regelt die Verfassung unter Beru È cksichtigung der verschiedenen voÈlkerrechtlichen Rechtsquellen. È lkerrechtlichen Rechtsquellen sind das VoÈlkergewohnheits245 Die wichtigsten vo recht, die allgemein anerkannten RechtsgrundsaÈtze, das VoÈlkervertragsrecht und die Beschlu È sse internationaler Organisationen. Die Erzeugungsbedingungen fu È r diese voÈlkerrechtlichen Rechtsquellen finden sich im VoÈlkerrecht selbst, wobei diese Regeln nur zu einem Teil kodifiziert sind. Eine wichtige vo È lkerrechtliche RechtserzeugungsÈ bereinkommen u norm ist etwa das Wiener U È ber das Recht der VertraÈge, das das Zustandekommen voÈlkerrechtlicher VertraÈge und gewisse andere damit zusammenhaÈngende Fragen (zB Interpretation, Ku È ndigung) regelt (vgl dazu noch unten Rz 260). In diesem Zusammenhang verweist das VoÈlkerrecht vielfach auf das nationale Verfassungsrecht, etwa wenn es darum geht festzulegen, welche Staatsorgane fu Èr den Gesamtstaat verbindliche rechtliche ErklaÈrungen abgeben koÈnnen. 246 2. Wie das VerhaÈltnis zwischen VoÈlkerrecht und nationalem Recht rechtstheoretisch gedeutet werden kann, ist Gegenstand unterschiedlicher Theorien. a) Nach den so genannten monistischen Theorien stehen VoÈlkerrecht und staatliches Recht in einem BedingungsverhaÈltnis, wobei dieses VerhaÈltnis von einem Vorrang (Primat) des È lkerrechts oder einem Vorrang (Primat) des nationalen Rechts ausgehen kann. Bei eiVo
3. Kapitel: Der Verfassungsstaat im Rahmen des VoÈlker- und Europarechts
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nem angenommenen Primat des VoÈlkerrechts waÈren im Fall eines Konflikts die voÈlkerrechtlichen Pflichten vorrangig und widersprechendes nationales Recht ungu È ltig, bei einem angenommenen Primat des staatlichen Rechts waÈre das nationale Recht vorrangig maûgeblich und laÈge der Geltungsgrund des VoÈlkerrechts im staatlichen Recht. Nach den dualistischen Theorien sind VoÈlkerrecht und nationales Recht zwei voneinander getrennte Rechtsordnungen, die nicht nur unterschiedliche Adressaten haben, sondern die auch auf einem jeweils unterschiedlichen Geltungsgrund beruhen. b) Diese Theorien sind ErklaÈrungsmuster, welche die durch das VoÈlkerrecht geordneten Be- 247 ziehungen souveraÈner Nationalstaaten zueinander erklaÈren wollen und die dabei ganz unterschiedliche Blickwinkel einnehmen. Es ist fraglich, ob sie noch geeignet sind die heutige Wirklichkeit vielfach verflochtener internationaler Beziehungen zutreffend zu erklaÈren. In der radikalen Form wird ohnedies keine dieser Theorien mehr vertreten, wie sich das an dem ¹gemaÈûigten Monismus auf der Grundlage des Primats des VoÈlkerrechtsª zeigt, der heute zT als herrschende Lehre angesehen wird. Danach haben sich die staatlichen Organe bei einem Widerspruch mit vo È lkerrechtlichen Verpflichtungen zunaÈchst nach staatlichem Recht zu verhalten; der Konflikt mit dem VoÈlkerrecht ist in dem vorgesehenen vo È lkerrechtlichen Verfahren È brigen geht man davon aus, aufzuloÈsen (zB durch die Ku È ndigung eines Staatsvertrags). Im U dass die unterschiedlichen Theorien u È ber das VerhaÈltnis von VoÈlkerrecht und staatlichem È sterreichischen Verfassungsrechts ¹keine oder nur geRecht fu È r die Interpretation des o È hlinger). Allenfalls in der verwendeten Begrifflichkeit schlagen ringe Relevanzª haben (Theo O sich die unterschiedlichen Theorien noch nieder, so wenn etwa von einer ¹Adoptionª eines Staatsvertrags gesprochen wird, waÈhrend andere dafu È r den Ausdruck ¹generelle Transformationª verwenden (dazu sogleich).
3. UnabhaÈngig von den erwaÈhnten Theorien gibt es zwei verschiedene Methoden, 248 È lkerrechtliche Verpflichtungen in das staatliche Recht u wie vo È bernommen werden koÈnnen, wobei es den Staaten durch das VoÈlkerrecht grundsaÈtzlich freigestellt wird, welche Transformationsmethode sie im Einzelfall waÈhlen. . Spezielle Transformation: Von spezieller Transformation spricht man dann, 249 wenn eine voÈlkerrechtliche Verpflichtung (etwa aus einem Staatsvertrag) dadurch innerstaatliche Verbindlichkeit erlangt, dass eine dieser Verpflichtung entsprechende innerstaatliche Rechtsnorm (Gesetz, VO) erlassen wird. Die VoÈlkerrechtsnorm wird also gleichsam in eine gesondert erlassene nationale Rechtsnorm ¹umgegossenª. Fu È r die innerstaatliche Verbindlichkeit ist dann nur diese Norm maûgeblich, die auch die Grundlage fu È r Rechte und Pflichten der Rechtsunterworfenen sein kann. . Generelle Transformation: Eine generelle Transformation liegt dann vor, wenn 250 die vo È lkerrechtliche Norm (also zB wiederum ein Staatsvertrag) als solche innerstaatlich in Geltung gesetzt wird, ohne dass sie in eine Rechtsquelle des nationalen Rechts umgewandelt werden muss. Dann kommt der VoÈlkerrechtsnorm wie sie ist innerstaatliche Verbindlichkeit zu und die Staatsorgane werden durch sie verpflichtet. Ob eine generell transformierte Norm im innerstaatlichen Bereich unmittelbar angewendet werden kann, dh ob sie die Rechtsunterworfenen unmittelbar berechtigt und verpflichtet, haÈngt hauptsaÈchlich davon ab, ob sie ausreichend bestimmt ist. Ist sie das, dann bezeichnet man die VoÈlkerrechtsnorm als ¹self-executingª. Denkbar ist aber auch, dass ein generell transformierter Staatsvertrag mangels ausreichender Bestimmtheit noch nicht unmittelbar angewendet werden kann. Er wird dann als ¹non-self-executingª bezeichnet. Die generelle Transformation wird von manchen auch als ¹Adoptionª bezeichnet.
È sterreich als Vo È lkerrechtssubjekt 12.2. O 1. In den vo È lkerrechtlichen Beziehungen tritt der Gesamtstaat als Rechtssubjekt in 251 È sterreich. Fu Erscheinung, das heiût die Republik O È r den Gesamtstaat als VoÈlkerrechtssubjekt handeln grundsaÈtzlich die Organe des Bundes, wobei sich diese
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Teil I. Grundlagen
Kompetenz aus Art 10 Abs 1 Z 2 B-VG ergibt (¹aÈuûere Angelegenheitenª, ¹Abschluss von StaatsvertraÈgenª). Die Kompetenz des Bundes fu È r auswaÈrtige Angelegenheiten erstreckt sich sachlich auf alle staatlichen Angelegenheiten und umfasst auch jene Sachbereiche, fu È r die an sich die LaÈnder nach der innerstaatlichen Kompetenzverteilung zustaÈndig sind. Daher kann der Bund etwa auch StaatsvertraÈge u È ber Angelegenheiten abschlieûen, fu È r welche die LaÈnder in Gesetzgebung oder Vollziehung zustaÈndig sind (zB einen Staatsvertrag u È ber eine naturschutzrechtliche Frage). Die Umsetzung dieses Staatsvertrags richtet sich dann nach innerstaatlichem Recht, wofu È r das B-VG naÈhere Regelungen enthaÈlt, auf die im Zusammenhang mit den StaatsvertraÈgen noch zuru È ckzukommen sein wird (vgl Rz 272, 278). 252 Die Vertretung der Republik nach auûen weist die Verfassung grundsaÈtzlich dem BPraÈs zu (Art 65 B-VG), der dabei allerdings nur auf der Grundlage der ihm von der BReg erstatteten VorschlaÈge handeln kann. In diesem Rahmen ist die Fu È hrung der Auûenpolitik auf ein zwischen dem BPraÈs und der BReg bzw dem Auûenminister einvernehmlich abgestimmtes Vorgehen angewiesen. Auf Grund einer entsprechenden ErmaÈchtigung durch den BPraÈs koÈnnen auch andere Staatsorgane die Republik vertreten. Vertragsverhandlungen fu È hrt der jeweils zustaÈndige BM. 253 2. Durch Art 16 B-VG wird auch den BundeslaÈndern eine mehrfach begrenzte Kompetenz zum Abschluss von StaatsvertraÈgen eingeraÈumt. Ob damit die LaÈnder tatsaÈchlich zu partiellen VoÈlkerrechtssubjekten wurden, wie dies die hL annimmt, ist fraglich (zu den LaÈnderstaatsvertraÈgen vgl Rz 279 ff). 254 3. Im Folgenden wird auf die wichtigsten voÈlkerrechtlichen Rechtsquellen eingegangen (Vo È lkergewohnheitsrecht, StaatsvertraÈge, Beschlu È sse Internationaler Organisationen) und werden die darauf bezogenen Bestimmungen des Verfassungsrechts dargestellt. Keine besonderen verfassungsrechtlichen Regelungen gibt es fu È r einseitige È lkerrechtliche RechtsgeschaÈfte. Solche Rechtsakte umfassen etwa die Ku vo È ndigung von StaatsvertraÈgen, die ErklaÈrung von Protesten, einseitige Versprechen oder die Abgabe eines Verzichts. Auf Grund der allgemeinen Befugnis des BPraÈs zur Vertretung der Republik nach auûen geht man davon aus, dass verbindliche Rechtsakte dieser Art vom BPraÈs auf Vorschlag der BReg zu erlassen sind. Damit zusammenhaÈngende Kompetenzen sind aber auch dem Auûenminister eingeraÈumt (vgl Teil 2 lit B der Anlage zu § 2 BMG).
È lkerrechts 12.3. Die allgemein anerkannten Regeln des Vo 255 1. Obwohl heute VoÈlkerrecht in immer groÈûerem Umfang in der Form von VoÈlkerÈ lkergewohnheitsrecht fu vertragsrecht geschaffen wird, spielt das Vo È r die internationalen Beziehungen immer noch eine nicht unbedeutende Rolle. Auf das VoÈlkergewohnheitsrecht ist die Regelung des Art 9 Abs 1 B-VG bezogen, nach der die allgeÈ lkerrechts als Bestandteile des Bundesmein anerkannten Regeln des Vo rechts gelten. 256 2. Art 9 Abs 1 B-VG transformiert durch diese Anordnung die allgemein anerkannten Regeln des VoÈlkerrechts unmittelbar und gleichsam ¹automatischª in das innerstaatliche Recht, wobei es sich um eine generelle Transformation handelt. Das VoÈlkergewohnheitsrecht ist daher ein Teil des innerstaatlich geltenden Rechts und es verpflichtet die innerstaatlichen Organe wie staatliches Recht, ohne dass es eines besonderen Umsetzungsaktes bedarf. Die Transformationsanordnung gilt auch fu Èr neu entstehende Regeln des VoÈlkergewohnheitsrechts. 257 a) Ein Beispiel fuÈr eine voÈlkerrechtliche Rechtsnorm, die durch Art 9 Abs 1 B-VG transformiert
wurde, ist der Grundsatz der Vertragstreue; innerstaatliche Vorschriften sind daher so ausÈ sterreichs nicht in Widerspruch zulegen, dass sie mit zwischenstaatlichen Verpflichtungen O
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geraten (VwSlg 6943 F/1994). Kraft Art 9 B-VG geltendes VoÈlkergewohnheitsrecht schlieût es auch aus, dass die BehoÈrden eine Lenkerauskunft in einem fremden Staat ohne dessen Zustimmung einholen (VwGH 27.10.1997, 97/17/0336). Nach der Judikatur sollen aus Art 9 Abs 1 B-VG keine unmittelbar anwendbaren subjektiven Rechte des Einzelnen abgeleitet werden ko È nnen (VfSlg 7448/1974); es ist fraglich, ob das in dieser Allgemeinheit richtig ist. Davon abgesehen ist Art 9 Abs 1 B-VG vor allem die Rechtsgrundlage fu È r Akte der auswaÈrtigen Verwaltung (zB fu È r den diplomatischen Verkehr). Zu den durch Art 9 Abs 1 B-VG transformierten Bestimmungen gehoÈren auch die allgemeinen RechtsgrundsaÈtze, die eine weitere Quelle des VoÈlkerrechts sind (zB das Verbot des Rechtsmissbrauchs). b) Durch die Transformationsanordnung des Art 9 Abs 1 B-VG werden die allgemein anerkann- 258 ten Regeln des VoÈlkerrechts zu einem Bestandteil des Bundesrechts. Wie sie im Stufenbau der Rechtsordnung einzuordnen sind, laÈsst Art 9 Abs 1 B-VG offen; dazu werden verschiedene Ansichten vertreten. Nach richtiger Ansicht stehen die rezipierten Regeln des VoÈlkerrechts jedenfalls im Rang u È ber einfachen Bundesgesetzen, die verfassungswidrig sind, wenn sie solchen Regeln widersprechen. Ob Bundesverfassungsrecht den allgemein anerkannten Regeln vorgehen wu È rde oder nicht, ist fraglich.
12.4. Der Abschluss und die Transformation von StaatsvertraÈgen 12.4.1. Zu den StaatsvertraÈgen 1. StaatsvertraÈge (StV) sind zweiseitige RechtsgeschaÈfte, die zwischen zwei Staaten 259 (bzw mit anderen VoÈlkerrechtssubjekten) oder zwischen mehreren Staaten abgeschlossen werden; dem entsprechend gibt es bilaterale und multilaterale StV. Auch der Beitritt zu Internationalen Organisationen (zB zum Europarat) erfolgt durch den Abschluss eines StV. Fu È r StV werden unterschiedliche Bezeichnungen verwendet: È bereinkommen, Regierungsabkommen, Protokoll, StazB Konvention, Pakt, Charta, U tut, Note usw. Die fu È sterreichischen Grundrechtsschutz besonders wichtige EuÈ r den o ropaÈische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist beispielsweise ein multilateraler StV. Die mit dem Heiligen Stuhl abgeschlossenen StV werden als Konkordate bezeichnet. 2. In der Staatenpraxis werden StV in zwei unterschiedlichen Verfahren abge- 260 schlossen: . Im einfachen Verfahren unterzeichnen die zum Abschluss befugten Staatsorgane den StV, der mit der Abgabe dieser WillenserklaÈrung zu Stande kommt. . Im zusammengesetzten Verfahren wird der StV nach Abschluss der diplomatischen Verhandlungen zunaÈchst unterzeichnet. Diese Unterzeichnung erfolgt idR durch die Verhandlungsfu È hrer und hat die Bedeutung einer vorlaÈufigen Einigung u È ber den Vertragstext. Der eigentliche Abschluss des StV, der zur Bindung der Vertragspartner fu È hrt, erfolgt durch eine nachfolgende Ratifikation, bei der die Ratifikationsurkunden ausgetauscht oder hinterlegt werden. Die Trennung von Unterzeichnung und Ratifikation soll es ermo È glichen, vor der Abgabe der endgu È ltigen WillenserklaÈrung (Ratifikation) noch eine nach innerstaatlichem Recht notwendige Zustimmung des Parlaments einzuholen. È bereinkommen u Auf schriftliche StV ist das schon erwaÈhnte Wiener U È ber das Recht der VertraÈge BGBl 1980/40 anzuwenden, das im Rang eines einfachen BG in die o È sterreichische È bereinkommen enthaÈlt Regelungen u Rechtsordnung transformiert wurde. Dieses U È ber den Abschluss von StV, u È ber ihre Auslegung und AbaÈnderung, u È ber die Vertragsbeendigung, u È ber Vorbehalte zu VertraÈgen usw.
12.4.2. Der Abschluss von StaatsvertraÈgen 1. Nach Art 65 Abs 1 B-VG ist der BPraÈs ermaÈchtigt StV abzuschlieûen. Das be- 261 deutet, dass der Abschluss eines StV (beim einfachen Verfahren) bzw die Ratifikation
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Teil I. Grundlagen
(beim zusammengesetzten Verfahren) durch den BPraÈs erfolgt, der allerdings immer nur auf der Grundlage eines entsprechenden Vorschlags der BReg oder des von ihr ermaÈchtigten BM handeln kann. Weil der BPraÈs ± also ein Verwaltungsorgan ± die voÈlkerrechtlich bindende WillenserklaÈrung abgibt, ist der Abschluss eines StV ein Akt der Vollziehung. 262 2. Der BPraÈs kann nach Art 66 Abs 2 B-VG die BReg oder die zustaÈndigen Mitglieder der BReg ermaÈchtigen bestimmte Kategorien von StV abzuschlieûen, die nicht unter Art 50 B-VG fallen (also nicht der Zustimmung des NR bedu È rfen). Von dieser ErmaÈchtigung zur Delegation der Abschlussbefugnis hat der BPraÈs in einer Entschlieûung aus dem Jahr 1920 BGBl 1921/49 Gebrauch gemacht. Nach dieser Entschlieûung koÈnnen bestimmte StV, die nicht unter Art 50 B-VG fallen und die im einfachen Verfahren zu Stande kommen, von den folgenden Organen abgeschlossen werden: Regierungsu È bereinkommen werden von der BReg, Ressortu È bereinkommen vom ressortmaÈûig zustaÈndigen BM im Einvernehmen mit dem Auûenminister und Verwaltungsu È bereinkommen vom ressortmaÈûig zustaÈndigen BM abgeschlossen. Der Bund ist auch befugt StV abzuschlieûen, die Angelegenheiten des selbstaÈndigen Wirkungsbereichs der BundeslaÈnder betreffen. In diesen FaÈllen, insbesondere, wenn ein solcher StV Durchfu È hrungsmaûnahmen der LaÈnder erforderlich macht (zB die Erlassung von Landesgesetzen), ist den LaÈndern vor dem Abschluss Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Liegt dabei dem Bund eine einheitliche Stellungnahme aller LaÈnder vor, ist der Bund daran beim Abschluss des StV gebunden; er darf von ihr nur aus zwingenden auûenpolitischen Gru È nden abweichen (Art 10 Abs 3 B-VG).
263 3. StV koÈnnen die innerstaatliche Gesetzeslage veraÈndern, sei es, dass bestehende Gesetze abgeaÈndert werden oder dass sie gesetzesgleiche Wirkung entfalten. Weil der Abschluss durch ein Verwaltungsorgan erfolgt, muss sichergestellt sein, dass der eigentliche Gesetzgeber ± das Parlament ± nicht u È bergangen wird. Daher schreibt Art 50 B-VG vor, dass bestimmte StV nur mit Zustimmung des NR (sowie in gewissen FaÈllen auch des BR) abgeschlossen werden du È rfen. Diese parlamentarische Genehmigung ist fu È r die folgenden StV erforderlich: . fu È r politische StV . fu È r gesetzaÈndernde StV oder gesetzesergaÈnzende StV . fu È r StV, durch die die vertraglichen Grundlagen der EU geaÈndert werden 264 a) Die Genehmigung durch den NR muss in diesen FaÈllen vor dem Abschluss des StV eingeholt werden. Daher koÈnnen StV nach Art 50 B-VG nur im zusammengesetzten Verfahren abgeschlossen werden; die parlamentarische Genehmigung ist Voraussetzung dafu È r, dass der BPraÈs die Ratifikation vornehmen darf. 265 b) GesetzaÈndernd sind StV, welche die bestehende gesetzliche Rechtslage veraÈndern, also einem bestehenden Gesetz widersprechen. GesetzesergaÈnzend sind StV, die innerstaatlich die Wirkung von Gesetzen haben sollen. Seit der B-VG-Novelle 2008 kann die Verfassungsrechtslage durch StV nicht mehr geaÈndert oder ergaÈnzt werden, es kann daher seitdem keine verfassungsaÈndernden oder verfassungsergaÈnzenden StV mehr geben. Vor 2008 abgeschlossene StV, die vom NR als verfassungsaÈndernd oder verfassungsergaÈnzend genehmigt wurden, haben allerdings ihren Verfassungsrang behalten. Sollte ein neu abgeschlossener StV Verfassungsrang erhalten, mu È sste das der NR in der Form eines BVG beschlieûen. Politische StV unterliegen ebenfalls der parlamentarischen Genehmigung. Das sind StV, welÈ sterreichs betreffen (zB Friedensche die Existenz, territoriale IntegritaÈt oder UnabhaÈngigkeit O vertraÈge).
266 c) Auf den Genehmigungsbeschluss des NR sind die Bestimmungen der Art 42 Abs 1±4 B-VG sinngemaÈû anzuwenden: Alle Genehmigungsbeschlu È sse sind daher
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dem BR vorzulegen, der einen Einspruch erheben kann; betrifft ein solcher StV den selbstaÈndigen Wirkungsbereich der LaÈnder, bedarf der Genehmigungsbeschluss der Zustimmung des BR (Art 50 Abs 2 Z 2 B-VG). d) StV, durch die die vertraglichen Grundlagen der EU geaÈndert werden, sind alle 267 È nderungen des EUV jene VertraÈge, welche das EU-PrimaÈrrecht betreffen (vor allem A oder des EGV). Fu È r diese StV sieht Art 50 Abs 4 B-VG ein eigenes Verfahren vor: Sie du È rfen nur mit Genehmigung des NR und mit Zustimmungen des BR abgeschlossen werden, wobei die entsprechenden Beschlu È sse jeweils die Anwesenheit der HaÈlfte der Mitglieder und eine 2/3-Mehrheit erfordern. Seit dieser Neufassung des Art 50 È nB-VG durch die B-VG-Novelle 2008 ist es daher nicht mehr erforderlich, fu È r eine A derung der EU-VertraÈge eine eigene bundesverfassungsrechtliche ErmaÈchtigung zu schaffen (vgl zur fru È heren Rechtslage Rz 50). È nderungsverfahren vor (etwa durch einen e) Bestimmte StV sehen ein vereinfachtes A Mehrheitsbeschluss der Vertragsparteien). In solchen FaÈllen bedarf die VertragsaÈnderung keiner Genehmigung durch den NR, auûer dieser haÈtte sich die Genehmigung ausdru È cklich vorbehalten (Art 50 Abs 2 Z 1 B-VG).
4. StaatsvertraÈge sind wie alle generellen Rechtsnormen kundzumachen. Fu È r die un- 268 ter Art 50 B-VG fallenden StaatsvertraÈge, denen der Rang eines Gesetzes zukommt, schreibt Art 49 Abs 2 B-VG die Kundmachung im BGBl vor, wo sie in das BGBl III aufgenommen werden. Weil StV mitunter sehr umfangreich sind (wegen ihrer mehrsprachigen Fassung oder laÈngerer AnhaÈnge), kann der NR allerdings aus Anlass der Genehmigung des StV eine vereinfachte Kundmachungsform beschlieûen (Art 49 Abs 2 B-VG); sie erfolgt in der Regel durch Auflage des StV (oder bestimmter Teile, zB der AnhaÈnge) zur oÈffentlichen Einsichtnahme, auf die durch eine Kundmachung im BGBl hinzuweisen ist (so wurde der EU-Erweiterungsvertrag 2003 im BGBl III 2004/20 verlautbart, die 20 verschiedenen Sprachfassungen des Vertrags aber nur durch Auflage im Auûenministerium kundgemacht). Fu È r andere nicht unter Art 50 B-VG fallende StV schreibt § 5 BGBlG ebenfalls die Kundmachung im BGBl III vor; auch in diesen FaÈllen kann eine vereinfachte Kundmachung durch oÈffentliche Auflage angeordnet werden.
12.4.3. Die Transformation von StaatsvertraÈgen Durch den Abschluss des StV, der in den FaÈllen des Art 50 B-VG nur nach parla- 269 mentarischer Genehmigung erfolgen darf, wird die voÈlkerrechtliche Bindung der ReÈ sterreich herbeigefu publik O È hrt. Davon ist die Transformation zu unterscheiden, fu È r die es die beiden erwaÈhnten Verfahren gibt. 1. Wenn der NR aus Anlass der Genehmigung einen so genannten Erfu È llungsvor- 270 behalt beschlieût, kommt es zu einer speziellen Transformation: Art 50 Abs 2 Z 3 B-VG spricht davon, dass der NR anlaÈsslich der Genehmigung eines unter Abs 1 fallenden StV beschlieûen kann, in welchem Umfang dieser StV ¹durch Erlassung von Gesetzen zu erfu È llen istª. Der Beschluss u È ber einen Erfu È llungsvorbehalt enthaÈlt daher die Anordnung, den Inhalt des StV (entweder zur GaÈnze oder auch nur einzelne seiner Bestimmungen) in spezielle Gesetze umzuformen, die als Durchfu È hrungsgesetze bezeichnet werden. Zugleich schlieût der Erfu È llungsvorbehalt die unmittelbare Anwendung des StV aus; auf ihn koÈnnen keine Vollzugsmaûnahmen (zB Bescheide) gestu È tzt werden (VfSlg 12.558/1990). a) Der Erfu È llungsvorbehalt ist ein selbstaÈndiger Beschluss des NR, der zusaÈtzlich zur Ge- 271 nehmigung des StV gefasst wird und auf den dieselben Bestimmungen wie fu È r die Genehmigungsbeschlu È sse anzuwenden sind. Ein Erfu È llungsvorbehalt ist vor allem dann erforderlich, wenn ein StV zu unbestimmt ist, um als solcher innerstaatlich angewendet zu werden, oder wenn er sich nur an die Gesetzgebungsorgane richtet. Auf diese Weise wird sichergestellt, È bereinstimmung mit den Erfordernissen des nationalen dass die Bestimmungen des StV in U
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Verfassungsrechts (vor allem den Bestimmtheitserfordernissen des Art 18 B-VG) in das oÈsterreichische Recht eingegliedert werden. Ob u È berhaupt ein Erfu È llungsvorbehalt beschlossen wird oder nicht, liegt im Ermessen des NR. Bei StV, welche die vertraglichen Grundlagen der EU Èandern, ist kein Erfu È llungsvorbehalt moÈglich.
272 b) Die Erlassung der DurchfuÈhrungsgesetze richtet sich nach der innerstaatlichen ZustaÈndig-
keitsordnung. Wenn ein StV daher u È ber Angelegenheiten des selbstaÈndigen Wirkungsbereichs der LaÈnder abgeschlossen wird, hat der Landesgesetzgeber die Durchfu È hrungsgesetze zu erlassen. Fu È r den Fall, dass die LaÈnder mit Durchfu È hrungsmaûnahmen saÈumig sind, gibt es eigene Vorkehrungen (dazu Rz 278).
273 c) Ein ErfuÈllungsvorbehalt kann auch angebracht werden, wenn ein StV keiner parlamenta-
rischen Genehmigung bedarf und vom BPraÈs oder als Regierungs-, Ressort- oder Verwaltungsu È bereinkommen von der BReg oder einem BM abgeschlossen wird. In diesem Fall kann das den StV abschlieûende Organ (BPraÈs, BReg, BM) anlaÈsslich des Abschlusses anordnen, dass der StV durch die Erlassung von VO zu erfu È llen ist (Art 65 Abs 1, 66 Abs 2 B-VG).
d) Als Beispiel fu È r einen verfassungsaÈndernden StV, der unter Erfu È llungsvorbehalt abgeschlosÈ bereinkommen zur Beseitigung aller Formen rassischer sen wurde, soll auf das Internationale U È bereinkommen auf Grund Diskriminierung BGBl 1972/377 hingewiesen werden. Weil das U des vom NR angebrachten Erfu È llungsvorbehalts speziell transformiert wurde, konnte sich kein Rechtsunterworfener auf die Bestimmungen des nicht direkt anwendbaren Abkommens berufen. Erst das als Durchfu È hrungsgesetz beschlossene BVG-Rassendiskriminierung hat in ErÈ bereinkommens durchsetzbare Rechte geschaffen, vor allem das Grundrecht auf fu È llung des U Gleichbehandlung von Fremden untereinander (vgl dazu Rz 1711).
274 2. Wenn der NR aus Anlass der Genehmigung keinen Erfu È llungsvorbehalt beschlieût oder wenn bei den nicht unter Art 50 B-VG fallenden StV das zum Abschluss befugte Organ keine ErklaÈrung u È ber einen Erfu È llungsvorbehalt abgibt, wird der StV generell transformiert. Dabei wird die generelle Transformation durch die Kundmachung des StV im BGBl bewirkt (Art 49 Abs 2 B-VG); mit Ablauf des Tages dieser Kundmachung tritt der StV innerstaatlich in Kraft und bindet seine Adressaten. Ein weiterer Transformationsakt ist nicht erforderlich. Ob ein solcher generell transformierter Staatsvertrag auch unmittelbar anwendbar (self-executing) ist, haÈngt in erster Linie von seinem Inhalt ab: Sind seine Regelungen ausreichend bestimmt, ist er unmittelbar anwendbar (VfSlg 12.558/1990). Ansonsten, dh wenn er nicht ausreichend bestimmt ist oder sich nur an den Gesetzgeber richtet, muss er allenfalls durch weitere Rechtsetzungsakte umgesetzt werden. 275 a) Der Rang eines generell transformierten StV richtet sich nach seiner parlamentarischen
Behandlung: StV, die dem NR als gesetzaÈndernd oder gesetzesergaÈnzend zur Genehmigung vorgelegt wurden, gelten innerstaatlich wie Bundesgesetze. Alle anderen StV, die nicht gesetzaÈndernd oder gesetzesergaÈnzend sind, stehen im Rang von VO in Kraft. Wurde ein StV aus Anlass seiner Genehmigung durch den NR als verfassungsaÈndernd oder verfassungsergaÈnzend bezeichnet, steht er im Rang von Bundesverfassungsrecht, wobei das freilich nur fu È r StV moÈglich ist, die vor 2008 abgeschlossen wurden. b) Als Beispiel fu È r einen generell transformierten StV soll die EMRK genannt werden. Sie ist innerstaatlich durch ihre Kundmachung im BGBl 1958/210 in Kraft getreten. Auf die in ihr garantierten Grundrechte kann sich jedermann unmittelbar als verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Rechte iS von Art 144 B-VG berufen; sie ist daher unmittelbar anwendbar.
12.4.4. Das Auûer-Kraft-Treten von StaatsvertraÈgen 276 Bei der Beendigung der zeitlichen Geltung eines StV muss man die voÈlkerrechtliche È lkerrechtlivon der innerstaatlichen Seite unterscheiden. Die Beendigung seiner vo chen Geltung richtet sich nach dem VoÈlkerrecht und kann beispielsweise durch Ku È ndigung, einvernehmliche Aufhebung oder in anderer Weise (zB indem der StV seinen Anwendungsbereich verliert und ¹obsoletª wird) erfolgen. Verliert der StV
3. Kapitel: Der Verfassungsstaat im Rahmen des VoÈlker- und Europarechts
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seine vo È lkerrechtliche Geltung, tritt er auch innerstaatlich auûer Kraft, ohne dass es dazu einer besonderen Anordnung bedarf (VfSlg 10.372/1985). Wird einem StV durch eine gleichrangige innerstaatliche lex posterior derogiert, tritt er innerstaatlich auûer Kraft; seine vo È lkerrechtliche Geltung bleibt unberu È hrt. Wenn daher zB dem NeutralitaÈtsG durch spaÈtere VerfassungsaÈnderungen (Art 23f B-VG) teilweise derogiert wurde, Èandert dies nichts an der vo È lkerrechtlichen Geltung der o È sterreichischen NeutralitaÈtserklaÈrung, deren aktueller Gehalt nach dem VoÈlkerrecht zu beurteilen ist.
Das gilt freilich nur fu È llungsvor- 277 È r generell transformierte StV. Ist ein StV unter Erfu behalt beschlossen und durch die Erlassung von Durchfu È hrungsgesetzen (Durchfu È hrungsVO) umgesetzt worden, beru È hrt der Verlust der voÈlkerrechtlichen Geltung die innerstaatlich gesetzten Durchfu È hrungsmaûnahmen nicht. Sie mu È ssten durch einen eigenen Akt des Gesetzgebers (oder VO-Gebers) auûer Kraft gesetzt werden. 12.4.5. Durchfu È hrungsmaûnahmen der LaÈnder Wenn ein vom Bund abgeschlossener StV speziell transformiert wird, der Angelegen- 278 heiten des selbstaÈndigen Wirkungsbereichs der LaÈnder nach Art 15 B-VG betrifft, haben die LaÈnder die entsprechenden Durchfu È hrungsmaûnahmen in ihrem Kompetenzbereich zu setzen, dh die erforderlichen Gesetze und Durchfu È hrungsVO zu erlassen. Fu È lkerrechtlich allerÈ r die ordnungsgemaÈûe Umsetzung des StV haftet vo dings der Gesamtstaat. Daher sieht die Verfassung besondere Maûnahmen fu È r den Fall vor, dass ein Land mit der Umsetzung saÈumig ist. Nach Art 16 Abs 4 B-VG geht in einem solchen Fall die ZustaÈndigkeit fu È r die notwendigen Maûnahmen, vor allem auch fu È r den Erlass der noÈtigen Gesetze, im Wege der Devolution auf den Bund u È ber. Kommt das Land in der Folge seiner Verpflichtung nach und erlaÈsst die erforderlichen Regelungen, treten die vom Bund getroffenen Maûnahmen auûer Kraft. Auûerdem hat der Bund gegenu È ber den LaÈndern im Hinblick auf die von diesen zu setzenden Durchfu È hrungsmaûnahmen ein besonderes Aufsichtsrecht (Art 16 Abs 5 B-VG). 12.4.6. StaatsvertraÈge der BundeslaÈnder Auch die BundeslaÈnder unterhalten verschiedentlich Beziehungen zu auslaÈndischen 279 Staaten in kulturellen, wirtschaftlichen oder sonstigen Belangen. Der Abschluss von StaatsvertraÈgen war ihnen lange Zeit verwehrt; erst im Jahr 1988 wurde in Erfu È llung eines Forderungsprogramms der LaÈnder diesen eine entsprechende Befugnis eingeraÈumt. Freilich ist die Staatsvertragskompetenz der LaÈnder durch Vorbehaltsund Aufsichtsrechte des Bundes vielfach eingeschraÈnkt, die dieser zur Wahrung seiner auûenpolitischen Gesamtverantwortung fu È r erforderlich angesehen hat. Praktische Bedeutung haben StaatsvertraÈge der LaÈnder bislang nicht erlangt. È sterreich an- 280 1. Nach Art 16 Abs 1 B-VG koÈnnen die LaÈnder StaatsvertraÈge mit an O grenzenden Staaten oder mit Teilstaaten angrenzender Staaten abschlieûen, die den selbstaÈndigen Wirkungsbereich der LaÈnder betreffen. Daher ko È nnte zB das Bundesland Tirol StV mit Italien, Ungarn oder mit Nordrhein-Westfalen È sterreich angrenzende Staaten bzw deren Teilstaaten). abschlieûen (das sind alles an O Sachlich ist die Staatsvertragskompetenz der LaÈnder auf die Angelegenheiten ihres selbstaÈndigen Wirkungsbereichs eingeschraÈnkt, dh auf jene Materien, fu È r die sie in Gesetzgebung und/oder Vollziehung zustaÈndig sind. Daher koÈnnen zB die BundeslaÈnder StV u È ber grenzu È berschreitende Nationalparks abschlieûen, weil das in ihre naturschutzrechtliche ZustaÈndigkeit faÈllt. Unberu È hrt bleibt die ZustaÈndigkeit des Bundes auch in LaÈnderangelegenheiten StV abzuschlieûen.
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Teil I. Grundlagen
281 2. StaatsvertraÈge der LaÈnder schlieût der BPraÈs ab. Fu È r den Abschluss sind ein Vorschlag der LReg und die Gegenzeichnung durch den LH vorgeschrieben (Art 16 Abs 2 B-VG). Praktisch laÈuft das darauf hinaus, dass die LReg die entsprechenden Verhandlungen fu È hrt und dem BPraÈs den Abschluss vorschlaÈgt. Nach den naÈheren Bestimmungen der LV ist bei gesetzaÈndernden und gesetzesergaÈnzenden StV der LaÈnder die Zustimmung des LT einzuholen; die spezielle Transformation kann durch einen vom LT zu beschlieûenden Erfu È llungsvorbehalt angeordnet werden. È hnlich wie bei den StV des Bundes kann der BPraÈs die LReg zum Abschluss von StV A ermaÈchtigen, die nicht gesetzesergaÈnzend oder gesetzaÈndernd sind (Art 66 Abs 3 B-VG). 282 3. Der Bund hat sich im Hinblick auf die LaÈnder-StV weit reichende Aufsichtsbefugnisse gesichert: Bereits die Aufnahme von Vertragsverhandlungen ist der BReg anzuzeigen und ihr Abschluss bedarf der Zustimmung der BReg (Art 16 Abs 2 B-VG). Ein bereits abgeschlossener StV ist u È ndigen, wenn dies die È berdies vom Land zu ku BReg verlangt (Art 16 Abs 3 B-VG). Kommt das Land dieser Verpflichtung nicht rechtzeitig nach, geht die ZustaÈndigkeit dazu auf den Bund u È ber.
12.5. Beschlu È sse Internationaler Organisationen 283 1. VoÈlkerrechtlich verbindliche Regelungen koÈnnen auch durch Beschlu È sse Internationaler Organisationen, wie zB der UN oder der WTO, geschaffen werden. Zum Teil kommt solchen Beschlu È ssen auch eine ¹Durchgriffswirkungª zu, dh sie zielen auf innerstaatliche Verbindlichkeit auch fu È r die einzelnen Bu È rgerinnen und Bu È rger. Man spricht dann nicht mehr von internationalem, sondern von supranationaÈ bertragung lem Recht, wie es fu È r die EG typisch ist (dazu genauer Rz 293). Weil die U solcher Befugnisse auf Internationale Organisationen die nationalen SouveraÈnitaÈtsrechte beru È sterreichischen Staatspraxis davon aus, dass dafu È hrt, ging man in der o Èr besondere verfassungsrechtliche ErmaÈchtigungen erforderlich sind bzw dass entsprechende StV als verfassungsaÈndernd zu genehmigen sind. 284 Um nicht fu È r jeden Einzelfall eine verfassungsrechtliche Regelung schaffen zu mu È ssen, wurde in Art 9 Abs 2 B-VG eine generelle ErmaÈchtigung aufgenommen. Danach koÈnnen durch einfaches Gesetz oder durch einen im Rang eines einfachen Gesetzes stehenden StV einzelne Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen und ihre Organe u È bertragen werden. Diese ErmaÈchtigung bezieht sich nur auf ¹einzelne Hoheitsrechteª des Bundes oder der LaÈnÈ bertragung weiter reichender Befugnisse bedarf daher weiterhin eines Verfassungsder. Die U gesetzes. Nicht zuletzt deshalb hat sich die Regelung des Art 9 Abs 2 B-VG als unpraktisch erwiesen. Zum weiteren Regelungsgehalt des Art 9 Abs 2 B-VG (die Erstreckung des territorialen Geltungsbereichs der oÈsterreichischen Rechtsordnung bzw die EinraÈumung entsprechender Befugnisse an Organe fremder Staaten) vgl Rz 491.
285 2. Fu È r die Transformation der von Internationalen Organisationen getroffenen Beschlu È sse sieht das B-VG keine entsprechenden Regelungen vor. Die Staatspraxis geht davon aus, dass derartige Beschlu È sse in analoger Anwendung des Art 49 Abs 2 B-VG durch Kundmachung im BGBl generell in die oÈsterreichische Rechtsordnung transformiert werden koÈnnen (VfSlg 12.281/1990). § 5 Abs 1 Z 5 BGBlG sieht vor, È sterreich oder in O È sterreich verbindlich sind, im dass solche Beschlu È sse, die fu Èr O BGBl III verlautbart werden koÈnnen. Wie derartige Beschlu È sse in den innerstaatlichen Stufenbau der Rechtsordnung einzuordnen sind, ist weitgehend unklar. Als Beispiele kann auf die Verlautbarung von Resolutionen des Sicherheitsrats der UN hingewiesen werden, die Sanktionen gegen bestimmte Staaten zum Gegenstand haben (vgl zB die Kundmachung der gegen den Irak gerichteten Resolution 661 (1990) in BGBl 1990/524a). Das
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BG u È ber die Durchfu È hrung internationaler Sanktionsmaûnahmen BGBl 1993/406 bildet nunmehr die Rechtsgrundlage fu È r die spezielle Transformation solcher Beschlu È sse durch VO der BReg.
È sterreichische 13. Die EuropaÈische Union und das o Verfassungsrecht Die EuropaÈische Union (EU) zielt auf eine politische, wirtschaftliche und soziale 286 Integration der europaÈischen Nationalstaaten in einem gemeinsamen Europa. Sie geht auf die ersten AnsaÈtze zu einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit zuru È ck, die nach dem 2. Weltkrieg zwischen Deutschland, Frankreich, Italien und den Benelux-Staaten im Rahmen der urspru È nglichen EuropaÈischen Gemeinschaften (EGKS, EAG, EWG) unternommen wurde. Das urspru È ngliche Ziel war die FoÈrderung der wirtschaftlichen ProsperitaÈt in einem friedvoll geeinigten Europa, in dem sich die Schrecken des Krieges nicht mehr wiederholen sollen. Seit der Gru È ndung der EWG durch den Vertrag von Rom (1957) haben sich die Gemeinschaften um zahlreiche weitere Mitgliedstaaten verbreitert und zusaÈtzliche Aufgaben u È bernommen, vor allem die Etablierung eines Binnenmarktes und einer Wirtschafts- und WaÈhrungsunion. Einige Merkmale der heutigen EU, vor allem die supranationale Natur der Rechtsetzung im Rahmen des Gemeinschaftsrechts, gehen bereits auf diese urspru È nglichen Gemeinschaften zuru È ck. Durch den Vertrag von Maastricht (1992) wurde die EU gegru È ndet, welche die EuropaÈischen Gemeinschaften und weitere Formen der politischen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten unter einem geÈ sterreich im Jahr 1995 beigetreten. meinsamen Dach vereinigt. Dieser Union ist O Mit dem Reformvertrag von Lissabon sollte die Union ab dem Jahr 2009 auf eine neue rechtliche Grundlage gestellt werden, doch ist das In-Kraft-Treten dieses Vertrages fragwu È rdig geworden, nachdem ihn die irische BevoÈlkerung in einer Volksabstimmung im Juni 2008 abgelehnt hat. Im folgenden Abschnitt wird zunaÈchst die EU mit ihren wichtigsten Merkmalen und Institutionen charakterisiert, um darauf aufbauend die verfassungsrechtlichen Fragen rund um den È sterreichs in den Organen der EU nachvollziehoÈsterreichischen Beitritt und die Mitwirkung O bar darstellen zu ko Ènnen. Der naÈchste Abschnitt wendet sich der Rechtsetzung der EU und È sterreich zu. Schlieûlich wird auf den Rechtsder Frage der Geltung des Rechts der EU in O schutz im Rahmen des Europarechts und seine Auswirkungen auf das o È sterreichische Rechtsschutzsystem eingegangen. Eine umfassende Darstellung des Europarechts ist in diesem Rahmen selbstverstaÈndlich nicht moÈglich, dazu muss auf die einschlaÈgige Lehrbuchliteratur und die Kommentare zum Europarecht verwiesen werden.
È sterreich 13.1. Die EuropaÈische Union und O 13.1.1. Die EuropaÈische Union 1. Die EU ist ein Staatenbund, der gegenwaÈrtig 27 Mitgliedstaaten umfasst. Von ei- 287 nem Staat unterscheidet sich die EU in mehrfacher Hinsicht: Staaten haben eine umfassende sachliche AllzustaÈndigkeit, waÈhrend die EU nur u È ber jene Kompetenzen verfu È gt, die ihr ausdruÈcklich u È bertragen sind (Grundsatz der begrenzten EinzelermaÈchtigung). Der Sache nach sind der EU auûerdem wichtige Attribute der staatlichen SouveraÈnitaÈt ± vor allem die Steuerhoheit und die Verfu È gung u È ber die bewaffnete Macht ± ganz oder weitgehend entzogen. Sie ist daher auch kein Bundesstaat, obwohl sie sich in diese Richtung entwickeln koÈnnte. Auch die Bezeichnung der EU als Staatenbund ist umstritten, sie trifft aber noch am ehesten 288 die Sache. Nach Art 1 EUV ist die EU eine Staatenverbindung, die auf die Schaffung einer immer engeren politischen Union der VoÈlker Europas (¹ever closer unionª) zielt. WaÈhrend die
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Teil I. Grundlagen
Gemeinschaften (EG, EAG) eigenstaÈndige Rechtssubjekte sind, mangelt es der EU an einer selbstaÈndigen und umfassenden RechtspersoÈnlichkeit.
289 Neben dem Grundsatz der begrenzten EinzelermaÈchtigung gilt fu È r das Handeln der Gemeinschaften das SubsidiaritaÈtsprinzip: Danach wird die EU in den Bereichen, fu È r die sie nicht ausschlieûlich zustaÈndig ist (wie zB bei der Zollunion), nur so weit taÈtig, wie ihre Ziele auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden koÈnnen (Art 2 Abs 2 EUV, Art 5 Abs 2 EGV). 290 2. Die Rechtsgrundlagen der EU sind die Gru È ndungsvertraÈge, die gemeinsam mit einigen weiteren Rechtsquellen als das PrimaÈrrecht der EU bezeichnet werden. Die wichtigsten Rechtsquellen dieses PrimaÈrrechts sind: . Der Vertrag u È ber die EuropaÈische Union (EUV): Dieser Vertrag geht auf den Vertrag von Maastricht (1992) zuru È ck und er wurde in der Zwischenzeit durch die VertraÈge von Amsterdam (1997), Nizza (2000) und die ErweiterungsvertraÈge (2003, 2005) geaÈndert. . Der Vertrag zur Gru È ndung der EuropaÈischen Gemeinschaft (EGV): Dieser Vertrag geht auf die seinerzeitige Gru È ndung der EWG durch den Vertrag von Rom (1957) zuru È ck; er wurde mittlerweile wiederholt geaÈndert. . Zum PrimaÈrrecht gehoÈren auûerdem noch der Vertrag u È ber die Gru È ndung der EuropaÈischen Atomgemeinschaft BGBl 1995/47 idgF, die BeitrittsvertraÈge sowie die allgemeinen RechtsgrundsaÈtze. 291 Das PrimaÈrrecht bildet das materielle Verfassungsrecht der EU. In gewisser Hinsicht kann das PrimaÈrrecht mit nationalem Verfassungsrecht verglichen werden: Es richtet die Organe der EU ein und verwirklicht ein institutionelles Gleichgewicht zwischen ihnen, seine Bestimmungen gelten auch im Recht der Mitgliedstaaten und koÈnnen dort unmittelbar angewendet werden, es enthaÈlt (ungeschriebene) Grundrechte und es regelt den Prozess der Rechtserzeugung in der EU, so dass es auch der Maûstab fu È r die RechtmaÈûigkeit des nachgeordneten, von den Organen der EU erzeugten Rechts (des so genannten SekundaÈrrechts) ist. 292 Freilich stellen die GruÈndungsvertraÈge keine Staatsverfassung dar, weshalb gelegentlich
auch die Charakterisierung als ¹Verfassungsrechtª zuru È ckgewiesen wird; manche lehnen den Verfassungsbegriff auch deshalb ab, weil es kein einheitliches europaÈisches Volk gibt, sondern zahlreiche ihren Nationalstaaten verbundene europaÈische VoÈlker. Wenn man erkennt, dass eine Verfassung auch eine politische Einheit rechtlich verfassen kann, die nicht notwendigerweise mit einem souveraÈnen Staat gleichgesetzt werden muss, ist die Bezeichnung als Verfassung nicht unpassend. In diesem Sinn verknu È pft und koordiniert das europaÈische Verfassungsrecht die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und die Rechtsordnung der EU, was mit dem bildhaften Ausdruck ¹Verfassungsverbundª bezeichnet wird.
293 3. Die EU ist in ihrer gegenwaÈrtigen Gestalt eine komplexe Organisation, die verschiedene Formen der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten umfasst, fu È r die unterschiedliche Regelungen und Prinzipien gelten. Es hat sich eingebu È rgert, die EU mit einem ¹Drei-SaÈulen-Modellª zu charakterisieren: . Die ¹Erste SaÈuleª umfasst die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in den beiden EuropaÈischen Gemeinschaften, dh der EG und der EAG. Diese beiden Gemeinschaften sind supranationale Gemeinschaften, die die intensivste Form der Integration der Mitgliedstaaten darstellen. Das im Rahmen der ¹Ersten SaÈuleª erzeugte Recht wird als EuropaÈisches Gemeinschaftsrecht bezeichnet, das in den Mitgliedstaaten autonom gilt, unmittelbar anwendbar sein kann und dem ein Vorrang gegenu È ber nationalem Recht zukommt. Supranationale Organisationen sind dadurch gekennzeichnet, dass das von ihnen erzeugte Recht unmittelbar in den Mitgliedstaaten gilt, ohne dass es eines besonderen Trans-
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formationsaktes bedarf. Insoweit gehen supranationale Organisationen u È ber die u È blichen Formen der internationalen Zusammenarbeit von Staaten hinaus. HaÈufig sind im Rahmen supranationaler Organisationen auch Mehrheitsbeschlu È sse moÈglich, so dass der einzelne Mitgliedstaat auch gegen seinen Willen gebunden werden kann, waÈhrend bei der klassischen internationalen Zusammenarbeit grundsaÈtzlich das Einstimmigkeitsprinzip gilt. Zur supranationalen Natur des Gemeinschaftsrechts vgl Rz 336 ff. Die beiden Gemeinschaften (EG, EAG) besitzen gemeinsame Organe und sind daher weitgehend (wenngleich nicht vollstaÈndig) verschmolzen.
. In der ¹Zweiten SaÈuleª und in der ¹Dritten SaÈuleª wirken die Mitgliedstaaten in den herko È mmlichen Formen der internationalen Kooperation zusammen (man spricht von ¹intergouvernementaler Zusammenarbeitª). Die Willensbildung erfolgt idR nach dem Einstimmigkeitsprinzip und die Rechtsakte bedu È rfen der Umsetzung in das nationale Recht, um dort Wirkungen zu entfalten. Das im Rahmen dieser ¹SaÈulenª erzeugte Recht wird zur Unterscheidung vom Gemeinschaftsrecht oft als EU-Recht bezeichnet. Beachte aber, dass der Begriff des ¹EU-Rechtsª auch als Oberbegriff fu È r das Gemeinschaftsrecht und die Rechtsetzung im Bereich der Zweiten und Dritten SaÈule verwendet wird. . Die ¹Zweite SaÈuleª umfasst die gemeinsame Auûen- und Sicherheitspolitik der Mitgliedstaaten (GASP). . Die ¹Dritte SaÈuleª betrifft die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS). Die verschiedenen SaÈulen der EU sind durch gemeinsame Organe verklammert. 294 Die Organe der EG handeln auch fu È r die EU im Bereich der Zweiten und Dritten SaÈule und sie sind insofern auch Organe der EU. Als Fu È hrungsorgan der EU ist auûerdem noch der EuropaÈische Rat eingerichtet. 4. Die Rechtsgrundlagen der EU sind nicht einfach zu u È berblicken und die insti- 295 tutionellen Strukturen der EU weisen in mehrfacher Hinsicht Defizite und MaÈngel auf. Sie erschweren eine effiziente Willensbildung, fu È hren zu unklaren Verantwortlichkeiten und stellen die demokratische Legitimation der EU in Frage. Eine institutionelle Reform der EU wird daher schon seit laÈngerer Zeit fu È r notwendig angesehen, vor allem um trotz der Erweiterung der EU auf 27 Mitgliedstaaten die HandlungsfaÈhigkeit der Union zu sichern. Auch der letzte Anlauf zu einer solchen Reform in der Gestalt des Reformvertrags von Lissabon ist freilich vorerst gescheitert. Zwar haben fast alle Mitgliedstaaten diesen Vertrag ratifiziert, er konnte aber wegen der Ablehnung durch die Volksabstimmung in Irland nicht wie vorgesehen Anfang 2009 in Kraft treten. Welchen Ausweg die Union aus dieser Krise finden wird, war im Sommer 2008 noch nicht verlaÈsslich abzuschaÈtzen. a) Der Reformvertrag von Lissabon haÈtte einen langwierigen und mu È hsamen Reformpro- 296 zess abschlieûen sollen. Mit dem Ziel einer StaÈrkung der Leistungs- und EntscheidungsfaÈhigkeit der Union und der Absicht, sie bu È rgernaÈher und demokratischer zu gestalten, ist zunaÈchst ein EuropaÈischer Verfassungskonvent eingesetzt worden, der 2003 den Entwurf eines Vertrags u È ber eine Verfassung fu È r Europa vorgelegt hatte. Dieser Verfassungsvertrag wurde zwar von vielen Mitgliedstaaten angenommen, er scheiterte aber an Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden. In schwierigen Verhandlungen gelang es schlieûlich, wesentliche Inhalte des Verfassungsvertrages in den Reformvertrag von Lissabon zu u È bernehmen, freilich um den Preis eines Verzichts auf eine einheitliche Verfassungsurkunde und auf bestimmte Symbole und Bezeichnungen (wie das Reizwort ¹Verfassungª oder den Begriff eines ¹EuropaÈischen Auûenministersª), welche den Gegnern des Verfassungsvertrages suspekt waren. b) Durch den Reformvertrag von Lissabon sollen der EUV und der EGV umfassend abgeaÈn- 297 dert und die EU auf eine neue primaÈrrechtliche Grundlage gestellt werden. Die Union wu È rde als Rechtsnachfolgerin der EG als ein einheitliches Gebilde mit eigenstaÈndiger RechtsperÈ nlichkeit verfasst werden. Die komplizierte Struktur der EU soll unter Beseitigung der bisso
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Teil I. Grundlagen
herigen ¹SaÈulenarchitekturª vereinfacht und die verschiedenen Politiken (einschlieûlich der PJSZ) zu einem einheitlichen rechtlichen und institutionellen Rahmen zusammengefu È hrt und den gleichen GrundsaÈtzen supranationaler Zusammenarbeit unterworfen werden. Nur fu È r die GASP sollen weiterhin besondere Verfahren und GrundsaÈtze (zB prinzipiell Einstimmigkeitsprinzip) gelten. Durch die StaÈrkung des EuropaÈischen Parlaments, die Einfu È hrung einer europaÈischen Bu È rgerinitiative und durch die Einbeziehung der nationalen Parlamente in eine Art von ¹SubsidiaritaÈtskontrolleª wu È rde die demokratische Legitimation der EU gestaÈrkt werden. Die EuropaÈische Grundrechtscharta soll zu einem verbindlichen Bestandteil des Unionsrechts werden (dazu Rz 1185 ff). Besonders wichtig waÈre schlieûlich die Verbesserung der Entscheidungsstrukturen durch die grundsaÈtzliche Geltung des Mehrheitsprinzips fu È r die meisten Entscheidungen und die Einfu È hrung eines hauptamtlichen PraÈsidenten des EuropaÈischen Rats. Auf einzelne der im Reformvertrag von Lissabon vorgesehenen RechtsaÈnderungen wird im Folgenden noch kurz hingewiesen.
298 c) Selbst wenn sich ein Ausweg aus der durch die irische Ablehnung des Reformvertrags von Lissabon entstandenen europaÈischen Verfassungskrise finden laÈsst, ist die weitere konstitutionelle Entwicklung der Union unklar und ko È nnte die Zukunft der EuropaÈischen Integration in unterschiedlichen Modellen liegen. Europa koÈnnte den Weg in die Richtung einer bundesstaatlichen Ordnung fortsetzen, mit einer starken, demokratisch organisierten Union. Dann mu È sste auf der Unionsebene ein parlamentarisches System etabliert werden, das vom politischen Willen der europaÈischen VoÈlker getragen wird. Dies ist freilich in der gegenwaÈrtigen Lage eher unwahrscheinlich. Die verfassungspolitische Alternative liegt in einer dezentralen politischen Ordnung mit dem Schwergewicht bei den Mitgliedstaaten, wobei die demokratische Legitimation dann durch eine staÈrkere Position der nationalen Parlamente gesichert werden mu È sste. Nicht auszuschlieûen ist aber auch eine Verlangsamung der weiteren Integration Europas oder die Entwicklung zu einem ¹Europa der zwei Geschwindigkeitenª, in dem einige Mitgliedstaaten eine engere Zusammenarbeit betreiben, waÈhrend andere abseits stehen.
È sterreichs 13.1.2. Der Beitritt O È sterreich ist der EU und den EuropaÈischen Gemeinschaften mit dem Beitritts299 1. O vertrag vom 24.6.1994 BGBl 1995/45 beigetreten, wobei der Vertrag mit 1.1.1995 in Kraft getreten ist. Die verfassungsmaÈûigen Voraussetzungen fu È r den Beitritt wurden durch ein eigenes BVG geschaffen, naÈmlich durch das so genannte BeitrittsBVG. Durch dieses BVG wurden die zustaÈndigen o È sterreichischen Organe ± dh der BPraÈs auf Vorschlag der BReg ± ermaÈchtigt den Beitrittsvertrag abzuschlieûen. Gleichzeitig hat dieses BVG ein besonderes Verfahren fu È r den Abschluss des Beitrittsvertrags vorgesehen, und zwar bedurfte er nach Art II Beitritts-BVG der Zustimmung von NR und BR, die jeweils mit 2/3-Mehrheit zu erteilen war. Weil das Beitritts-BVG zum Abschluss eines StV ermaÈchtigte, mit dem eine GesamtaÈnderung der Bundesverfassung verbunden war, bedurfte dieses BVG der Zustimmung des Bundesvolkes. 300 Zu den GruÈnden, die dafuÈr ausschlaggebend waren, dass fuÈr den Abschluss des Beitrittsver-
trags nicht das normale Staatsvertragsverfahren angewendet wurde, vgl oben Rz 50. Eine GesamtaÈnderung stellte das Beitritts-BVG im Hinblick auf das demokratische, das bundesstaatliche und das rechtsstaatliche Prinzip dar; vgl zu diesen Gesichtspunkten Rz 140, 166, 189.
301 2. Durch den Beitrittsvertrag wurde das zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses È sterreich in geltende EU-Recht (der so genannte ¹acquis communautaireª) in O Kraft gesetzt. Es gilt neben dem nationalen o È sterreichischen Recht als weitere autonome Rechtsquelle und berechtigt und verpflichtet je nach seinem Inhalt die oÈsterreichischen Organe und die Rechtsunterworfenen. Seit dem EU-Beitritt laÈsst sich È sterreich geltende Recht daher auf eine Art von ¹Doppelverfassungª das in O oder einen ¹Verfassungsverbundª zuru È ckfu È hren: Die nationale Verfassungsrechtsordnung mit ihren Rechtsquellen wird durch die europaÈische Verfassungsordnung ergaÈnzt, die im PrimaÈrrecht der EU ihren eigenstaÈndigen Geltungsgrund hat. Der
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È sterreich u von O È bernommene acquis communautaire umfasst auch die in der Rspr des EuGH verankerten allgemeinen RechtsgrundsaÈtze und das durch seine Judikatur gepraÈgte VerstaÈndnis des EU-Rechts (etwa zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts), È sterreich mit dem Abschluss des Beitrittsvertrags akzeptiert hat. Im Ergebnis das O hat sich mit dem Beitritt die o È sterreichische Verfassungsrechtslage ganz einschneidend veraÈndert. È ffnung O È sterreichs gegenu 3. Die O È ber dem EU-Recht hat das demokratische, bun- 302 desstaatliche und rechtsstaatliche Prinzip wesentlich modifiziert und damit eine GesamtaÈnderung des B-VG bewirkt. Ein eigenstaÈndiges neues Grundprinzip iS von Art 44 Abs 3 B-VG stellt die Beteiligung am Prozess der europaÈischen Integration aber nicht dar (vgl Rz 116). Das Bundesverfassungsrecht legt auch einer weiteren Vertiefung der Integration keine Hindernisse in den Weg; insofern gibt es keine ¹InÈ nderung des PrimaÈrrechts zu einer neutegrationsschrankeª. Wenn allerdings eine A erlichen GesamtaÈnderung fu È hren wu È rde, mu È sste dafu È r wiederum das Verfahren der GesamtaÈnderung gewaÈhlt werden. Abgesehen vom Fall einer GesamtaÈnderung gebietet die Verfassung keine Volksabstimmung u È ber ku È nftige VertragsaÈnderungen. È nderungen der Gru È sterreich jeweils in 303 a) Den weiteren A È ndungsvertraÈge nach 1995 hat O einem dem Beitritts-BVG nachgebildeten Verfahren zugestimmt und die VertragsaÈnderungen gestu È tzt auf besondere verfassungsrechtliche AbschlussermaÈchtigungen ratifiziert (vgl oben Rz 50). È nderung des EU-PrimaÈrrechts eine eigene verfassungsrechtli- 304 b) Die Notwendigkeit, fu È r jede A che ErmaÈchtigung zu schaffen, verstaÈrkte zwangslaÈufig die nachteilige Zersplitterung des Bundesverfassungsrechts. Deshalb wurde durch die B-VG-Novelle 2008 ein generelles Verfahren zum Abschluss und zur parlamentarischen Genehmigung von StaatsvertraÈgen eingefu È hrt, durch welche die vertraglichen Grundlagen der EU geaÈndert werden (vgl Art 50 Abs 4 B-VG; dazu Rz 267). Auf dieser Grundlage wurde der Reformvertrag von Lissabon nach Fassung È sterreich 2008 ratifiziert. Der Abschluss der entsprechenden Beschlu È sse in NR und BR von O des Reformvertrags stellte keine GesamtaÈnderung dar, weil sich die geplante Erweiterung der Kompetenzen der EU und die institutionellen Reformen noch im bisherigen, beim Beitritt akzeptierten Rahmen halten. Ein Ausbau der EU zu einem Bundesstaat waÈre freilich nur im Wege einer Volksabstimmung nach Art 44 Abs 3 B-VG moÈglich.
È sterreichs an der Willensbildung in der EU 13.2. Die Beteiligung O Gleichzeitig mit dem EU-Beitritt wurde auch das B-VG durch einen eigenen Ab- 305 È berschrift ¹EuropaÈische Unionª ergaÈnzt (Art 23a±23f B-VG). Hier schnitt mit der U finden sich hauptsaÈchlich Regelungen u È sterreichischen VerÈ ber die Bestellung der o treter in den Organen der EU und u È ber ihre Willensbildung, wobei vor allem bestimmte Mitwirkungsrechte des Parlaments und der LaÈnder begru È ndet wurden. Zum besseren VerstaÈndnis dieser Bestimmungen wird im Folgenden zunaÈchst ein geÈ berblick u raffter U È ber die wichtigsten Organe der EU gegeben. È berblick 13.2.1. Die wichtigsten Organe der EU im U Das EU-Recht kennt keine dem nationalen Verfassungsrecht vergleichbare Gewalten- 306 teilung zwischen den obersten Organen und es weist den Mitgliedstaaten eine besonders starke Position in der Willensbildung zu. Dies zeigt sich an den obersten Organen der EU und den ihnen u È bertragenen ZustaÈndigkeiten. 1. Der EuropaÈische Rat ist das politische Leitungsorgan der EU, das die allgemei- 307 nen politischen Zielvorstellungen der Union festzulegen hat. Ihm gehoÈren die Staatsoder Regierungschefs der Mitgliedstaaten und der PraÈsident der Kommission an. Der EuropaÈische Rat trifft seine Entscheidungen grundsaÈtzlich einstimmig. Durch den
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Reformvertrag von Lissabon soll das Amt eines fu È r zweieinhalb Jahre gewaÈhlten PraÈsidenten des EuropaÈischen Rates geschaffen werden. 308 2. Der Rat der EU ist das politisch und nach Maûgabe seiner rechtlichen Kompetenzen gewichtigste Organ, in dem die einzelnen Mitgliedstaaten vertreten sind. Ihm sind vor allem Rechtsetzungsbefugnisse u È bertragen, die er zT gemeinsam mit dem Parlament ausu È bt; insofern ist der Rat der eigentliche Gesetzgeber auf der europaÈischen Ebene. Ferner bestellt der Rat die Mitglieder der Kommission und ihm sind eine Reihe weiterer wichtiger Aufgaben u È bertragen (zB Genehmigung des EU-Haushalts gemeinsam mit dem EP). 309 a) Im Rat sind Vertreter der Mitgliedstaaten, in der Regel Minister, vertreten. Er tritt je nach den behandelten Sachbereichen in verschiedenen Konfigurationen zusammen, in denen jeweils die entsprechenden Fachminister taÈtig sind (dh es gibt zB einen Agrarrat, der sich aus den Landwirtschaftsministern, oder einen Verkehrsministerrat, der sich aus den Verkehrsministern der Mitgliedstaaten zusammensetzt). Neben diesen durch die Fachminister beschickten RaÈten gibt es noch einen ¹Rat Allgemeine Angelegenheitenª, der aus den Auûenministern besteht.
310 b) Der Rat entscheidet nach den komplizierten Regelungen des EGV entweder einstimmig,
mit einfacher Mehrheit oder mit qualifizierter Mehrheit, wobei bei den praktisch wichtigen qualifizierten Mehrheitsentscheidungen das Verfahren der Stimmengewichtung gilt (vgl dazu Art 205 EGV). Die Zuteilung der Stimmgewichte an die einzelnen Staaten ist eine der politisch sensibelsten Fragen der ganzen EU und die Kompliziertheit der Entscheidungsfindung È sterreich kommen 10 von insgeeines der gro È ûten Hemmnisse im Willensbildungsprozess. O samt 345 Stimmen zu, wobei die qualifizierte Mehrheit 255 Stimmen betraÈgt; auf Antrag eines Mitgliedstaats ist u È berdies zu pru È fen, ob die Mehrheit 62 % der GesamtbevoÈlkerung repraÈsentiert. Der Reformvertrag von Lissabon will zur Erleichterung der Entscheidungsfindung mit Wirksamkeit ab 2014 das neue Modell der ¹doppelten Mehrheitª einfu È hren (danach soll eine qualifizierte Mehrheit dann vorliegen, wenn mindestens 55 % der Mitglieder des Rates, die gleichzeitig 65 % der UnionsbevoÈlkerung ausmachen, einen Antrag unterstu È tzen).
311 c) Wenn das PrimaÈrrecht ausdruÈcklich ein Handeln der Regierungen der Mitgliedstaaten
vorsieht oder wenn dem Rat fu È rmliche KompetenzgrundÈ r bestimmte Entscheidungen eine fo lage fehlt, ko È nnen die Ratsmitglieder gleichsam ¹am Rande einer Ratssitzungª als Regierungsvertreter entscheiden; solche Beschlu È sse der ¹im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaatenª werden als ¹uneigentliche Ratsbeschlu È sseª bezeichnet; sie sind keine Rechtsquelle des Gemeinschaftsrechts.
312 3. Das EuropaÈische Parlament (EP) ist die Vertretung der europaÈischen VoÈlker, die in direkter Volkswahl Abgeordnete in das EP entsenden. Die Zahl der Abgeordneten betraÈgt nach der letzten Erweiterung 785 (ab 2009: 736). Die Kompetenzen des EP waren lange Zeit Èauûerst bescheiden und mit den Aufgaben eines nationalen Parlaments nicht zu vergleichen. Durch die VertragsaÈnderungen der letzten Jahrzehnte konnte das EP aber allmaÈhlich eine staÈrkere Position erlangen. Nach der gegenwaÈrtigen Rechtslage werden viele (nicht alle!) Rechtsetzungsakte der EU im Mitentscheidungsverfahren gemeinsam von Rat und EP oder im Verfahren der Zusammenarbeit unter Mitwirkung des EP erlassen (vgl Art 251, 252 EGV). Die Bestellung der Kommission durch den Rat bedarf der Zustimmung durch das EP, das der Kommission auûerdem das Misstrauen aussprechen kann (Art 201 EGV). Freilich kann das EP keine gesetzgeberischen Initiativen ergreifen; insofern bleibt seine Stellung immer noch betraÈchtlich hinter der Position zuru È ck, die Parlamente im nationalen Verfassungsrecht einnehmen. Das wird als eine der wichtigsten Ursachen fu È r das oft konstatierte ¹Demokratiedefizitª der EU angesehen. Von den geÈ sterreich. genwaÈrtig 785 (ku È nftig: 736) Abgeordneten entfallen 18 (17) Abgeordnete auf O Nach dem Reformvertrag von Lissabon soll die Stellung des EP weiter gestaÈrkt werden, das im grundsaÈtzlich anzuwendenden, so genannten ¹ordentlichen Gesetzgebungsverfahrenª gemeinsam mit dem Rat gesetzgeberisch taÈtig werden soll. Ein Recht zur Gesetzesinitiative kaÈme dem EP aber auch auf dieser Grundlage nicht zu.
313 4. Die Kommission der EG ist eine Art von ¹Regierungª oder ¹Exekutiveª der EG, die aus einem PraÈsidenten und Kommissionsmitgliedern (¹Kommissarenª) besteht.
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Sie ist ein von den Mitgliedstaaten unabhaÈngiges Organ, dem die Wahrung des Prozesses der europaÈischen Integration anvertraut ist. Bei der gemeinschaftlichen Rechtsetzung kommt der Kommission das Initiativrecht zu, dh dass der Rat und das Parlament Rechtsakte nur auf Vorschlag der Kommission erlassen koÈnnen. Die Kommission wird vom Rat (dh von den Vertretern der Mitgliedstaaten) bestellt. Nach geltendem Recht hat jeder Mitgliedstaat Anspruch darauf, ein Mitglied der Kommission vorzuschlagen, so dass die Kommission aus 27 Mitgliedern besteht. Fu È r eine sinnvolle Aufteilung der Ressorts und eine effiziente Willensbildung ist das viel zu groû. Ab dem Jahr 2009 soll die Kommission verkleinert werden, so dass nicht mehr jeder Mitgliedstaat jederzeit in der Kommission vertreten ist und es zu einer Rotation der Sitze kommt. Obwohl die Bestellung der Kommission der Zustimmung des EP bedarf, das ihr gegenu È ber auch ein Misstrauensvotum aussprechen kann, ist die Verantwortlichkeit gegenu È ber dem EP nur schwach ausgepraÈgt; dazu traÈgt auch bei, dass das EP nur der Kommission als Ganzes, nicht aber einzelnen Kommissionsmitgliedern das Vertrauen entziehen kann. Auûerdem ist die Willensbildung innerhalb der EU in weiten Bereichen Komitees u È bertragen, die mit Vertretern der Mitgliedstaaten besetzt sind; das fu È hrt zu wenig transparenten Prozessen der Willensbildung und zu Legitimationsdefiziten.
5. Der Gerichtshof der EuropaÈischen Gemeinschaften (EuGH) und das Gericht 314 erster Instanz (EuGEI) sind die Rechtsprechungsorgane der EU, denen die Wahrung des EU-Rechts anvertraut ist. Beiden Gerichten geho È ren jeweils 27 Richter an, die von den Regierungen der Mitgliedstaaten einvernehmlich ernannt werden. Die wichtigste Aufgabe des EuGH ist es, fu È r eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu sorgen. In dieser Funktion hat der EuGH eine Èauûerst dynamische Rechtsprechung entfaltet, die auch Elemente der Rechtsfortbildung in sich traÈgt und damit ganz wesentlich zur Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts beigetragen hat. a) Der EuGH hat mehrere ZustaÈndigkeiten, auf die hier nur gerafft hingewiesen wird: So entscheidet der EuGH ua u È ber die Einhaltung der VertraÈge durch die Mitgliedstaaten (Vertragsverletzungsverfahren), wobei er von der Kommission oder einem Mitgliedstaat angerufen werden kann; er entscheidet ferner u È ber die Gu È ltigkeit von Rechtsakten der Gemeinschaft (Nichtigkeitsklage) oder u È ber die rechtswidrige SaÈumnis von EU-Organen (UntaÈtigkeitsklage) auf Antrag eines Mitgliedstaats, eines EU-Organs oder unmittelbar betroffener Einzelpersonen. Zu dem fu È r die Praxis wichtigen Vorabentscheidungsverfahren vgl unten Rz 355. b) Dem EuGEI sind einzelne beschraÈnkte ZustaÈndigkeiten vor allem im Zusammenhang mit Klagen von Einzelpersonen u È bertragen; gegen seine Entscheidungen kann der EuGH angerufen werden. Daneben wurde als Fachgericht noch ein Gericht fu È ffentlichen Dienst der È r den o Union eingerichtet. c) Im Rahmen der GASP (¹Zweiten SaÈuleª) hat der EuGH keine ZustaÈndigkeiten. Im Bereich der ¹Dritten SaÈuleª (PJZS) ist der EuGH nur dann begrenzt zustaÈndig, etwa zu VorabentscheiÈ sterdungen, wenn der Mitgliedstaat eine entsprechende ErklaÈrung abgegeben hat, was fu Èr O reich zutrifft. Der Reformvertrag von Lissabon moÈchte die ZustaÈndigkeiten des EuGH erweitern.
6. Weitere Einrichtungen der EU sind der EuropaÈische Rechnungshof (Art 246 ff 315 EGV), der Wirtschafts- und Sozialausschuss (Art 257 ff EGV), ein Ausschuss der Regionen (Art 263 ff EGV) und die EuropaÈische Investitionsbank (Art 266 f EGV). 7. Obwohl es keine dem innerstaatlichen Recht vergleichbare Gewaltenteilung in- 316 nerhalb der EU gibt, kann man den einzelnen Organen gewisse Funktionen zuschreiben, die sich in Anlehnung an die klassische Gewaltenteilungslehre umschreiben lassen: Danach fungiert der Rat unter Mitwirkung des EP als der ¹Gesetzgeberª der EG, wobei das EP die unmittelbare demokratische Legitimation einbringt und der Rat die Interessen der Mitgliedstaaten repraÈsentiert. Die exekutiven Aufgaben liegen bei der Kommission, die aber durch ihr Initiativrecht auch an der Rechtset-
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zung beteiligt ist; auûerdem ist zu beru È cksichtigen, dass der Vollzug des Gemeinschaftsrechts weitgehend den Mitgliedstaaten u È bertragen ist. Am eindeutigsten laÈsst sich die Rechtsprechung zuordnen, die beim EuGH (sowie beim EuGEI) liegt, soweit nicht die Gerichte der Mitgliedstaaten zustaÈndig sind. Der EuGH bezieht sich in seiner Judikatur auf den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts, wenn er das VerhaÈltnis der Organe der EU zueinander umschreibt. Im Rahmen der Aufteilung der ZustaÈndigkeiten hat danach jedes Organ eigenstaÈndige Verantwortlichkeiten, die von den u È brigen Organen zu respektieren sind. Dies kommt einer Art von Gewaltenteilung nahe (vgl zB EuGH, Parlament/Rat, Rs C-70/88, Slg 1990, I-2041).
È sterreichischen Vertreter 13.2.2. Die Bestellung der o È sterreich durch den BK vertreten. Die PraÈsident317 1. Im EuropaÈischen Rat wird O schaft (dh der Vorsitz) wechselt gegenwaÈrtig noch zwischen den Mitgliedstaaten in einem halbjaÈhrigen Turnus. È sterreich durch den BK oder Auûenminister bzw in den FachraÈ318 2. Im Rat wird O ten durch den nach der innerstaatlichen ZustaÈndigkeitsverteilung zustaÈndigen Ressortminister vertreten. Nach Art 73 Abs 2 B-VG kann der jeweilige BM mit seiner Vertretung im Rat entweder einen anderen BM oder einen StaatssekretaÈr betrauen. a) Nach EU-Recht ist es zulaÈssig, mit der Vertretung im Rat auch ein Mitglied einer LReg zu betrauen. Dem entsprechend sieht Art 23d Abs 3 B-VG vor, dass die BReg einem von den LaÈndern namhaft gemachten Vertreter die Mitwirkung an der Willensbildung im Rat u È bertragen kann, wenn Angelegenheiten betroffen sind, in denen die Gesetzgebung Landessache ist. Die Ausu È bung dieser Vertretungsbefugnis erfolgt unter Beteiligung des zustaÈndigen BM und in Abstimmung mit diesem. b) Die o È sterreichischen Vertreter im Rat sind fu È r ihre TaÈtigkeit dem NR (bei Angelegenheiten der Landesgesetzgebung dem LT) gegenu È ber auch rechtlich verantwortlich, wobei diese Verantwortlichkeit durch Ministeranklage nach Art 142 Abs 2 lit c B-VG geltend gemacht werden kann.
È sterreichischen Abgeordneten im EP werden in direkter Wahl durch 319 3. Die o das oÈsterreichische Volk bestellt, wobei fu È r diese Wahlen die gleichen WahlrechtsgrundsaÈtze und das gleiche Wahlalter wie bei den Wahlen zu den innerstaatlichen allgemeinen Vertretungsko È rpern gelten (Art 23a B-VG). Aktiv und passiv wahlberechtigt sind alle o È sterreichischen Staatsbu È rger sowie die Staatsbu È rger der u È brigen EU-Mitgliedstaaten mit Hauptwohnsitz in einer o È sterreichischen Gemeinde. 320 FuÈr die Wahlen zum EP bildet das Bundesgebiet einen einheitlichen WahlkoÈrper, dh es gibt nur
einen Wahlkreis. Die Wahlperiode ist einheitlich mit 5 Jahren festgelegt. Die naÈheren Einzelheiten regeln die Europawahlordnung BGBl 1996/117 idgF und das Europa-WaÈhlerevidenzgesetz BGBl 1996/118 idgF. Eine geplante Vereinheitlichung des Wahlverfahrens fu È r alle Mitgliedstaaten ist noch ausstaÈndig.
321 4. Die o È sterreichische Mitwirkung an der Ernennung der u È brigen obersten Organe der EU ist nach Art 23c B-VG der BReg u È bertragen; dies gilt fu È r die Mitglieder der Kommission, des EuGH und des EuGEI, des EuropaÈischen Rechnungshofs und der weiteren in Art 23c B-VG angefu È hrten Organe. Praktisch laÈuft das darauf hinaus, dass die BReg einen entsprechenden Vorschlag an das zur Ernennung zustaÈndige Organ (Regierungen der Mitgliedstaaten, Rat) erstattet. Die Ingerenz des BPraÈs wurde in diesem Zusammenhang auf Informationsrechte beschraÈnkt. Bei der Erstattung dieser VorschlaÈge ist die BReg nicht gaÈnzlich frei, sondern sie hat das Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des NR zu suchen (soweit es um die Mitglieder der Kommission, des EuGH (EuGEI), des RH und des Verwaltungsrats der Investitionsbank geht); bei den Mitgliedern des Wirtschafts- und Sozialausschusses sind VorschlaÈge der Kammern und Interessenvertretungen einzuholen, bei den Mitgliedern des Ausschusses der Regionen
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ist die BReg an VorschlaÈge der LaÈnder sowie des StaÈdte- und Gemeindebundes gebunden. Vorgesehen ist, dass die BReg den NR, den BR und den BPraÈs u È ber die beabsichtigten Entscheidungen bzw gemachten VorschlaÈge unterrichtet.
13.2.3. Die Mitwirkung von NR und BR sowie der BundeslaÈnder bei Vorhaben der EU 1. Der fu È r eine Demokratie zentrale Grundsatz, dass jeder Akt der Staatsgewalt auf 322 den im Parlament repraÈsentierten Volkswillen zuru È ckgefu È hrt werden kann, ist im Rahmen der EU nur abgeschwaÈcht ausgepraÈgt: Die maûgebliche Willensbildung erfolgt im Rat, in dem die Mitgliedstaaten durch Regierungsmitglieder vertreten sind, die nicht direkt durch das Volk gewaÈhlt werden. Zwar sind sie den nationalen Parlamenten gegenu È ber verantwortlich, aber diese demokratische Legitimation ist nur eine mittelbare. Das EP andererseits, in dem die europaÈischen VoÈlker direkt vertreten sind, hat nur begrenzte Befugnisse. Um dieses Demokratiedefizit auszugleichen, sieht das B-VG eine Mitwirkung der nationalen Parlamente (NR, BR) an den so genannten ¹Vorhaben im Rahmen der EUª vor (Art 23e B-VG). 2. Der Begriff ¹Vorhaben im Rahmen der EUª ist umfassend zu verstehen und er 323 umfasst alle Dokumente, Berichte und Mitteilungen von Organen der EU, Informationen u È sterreichischen Stellen, È ber Verfahren bei diesen Organen und Berichte der o die mit EU-Angelegenheiten befasst sind. Vorhaben im Rahmen der EU sind vor allem auch alle Rechtsetzungsakte der EU und Beschlu È sse im Rahmen der GASP und È ber solche der PJZS (also Beschlu È sse im Rahmen der ¹Zweiten und Dritten SaÈuleª). U Vorhaben hat das zustaÈndige Mitglied der BReg den NR und den BR rechtzeitig zu informieren und diesen VertretungskoÈrpern Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Wird eine Stellungnahme abgegeben, so ist zu unterscheiden: a) Bei Vorhaben, die durch ein Bundesgesetz umzusetzen sind (vor allem: geplante Richtli- 324 È sterreich unmittelbar anwendbaren Rechtsaktes nien) oder die auf die Erlassung eines in O gerichtet sind (vor allem: VO der EG), ist die Stellungnahme des NR bindend, der oÈsterreichische Vertreter im Rat darf jedoch aus zwingenden auûen- und integrationspolitischen Gru È nden abweichen. Im praktischen Effekt ist der o È sterreichische Vertreter bei seiner Abstimmung im Rat an die parlamentarische Stellungnahme gebunden, auûer es liegt eine Rechtfertigung fu È r das Abweichen vor; in diesem Fall muss aber zuvor der NR nochmals befasst werÈ nderung des geltenden Bunden (Art 23e Abs 2 B-VG). Wenn ein Rechtsakt der EU eine A È nderung der Gru desverfassungsrechts bedeuteten wu È rde (zB eine A È ndungsvertraÈge), ist die Stellungnahme des NR bindend und eine Abweichung unzulaÈssig, wenn der NR auf seiner Stellungnahme besteht (Art 23e Abs 3 B-VG). Wenn es sich um ein Vorhaben der EU handelt, das innerstaatlich durch ein BVG umgesetzt werden muss, durch das die ZustaÈndigkeit der LaÈnder in Gesetzgebung und Vollziehung eingeschraÈnkt wird, ist auch eine Stellungnahme des BR bindend; aus zwingenden auûen- und integrationspolitischen Gru È nden darf der oÈsterreichische Vertreter im Rat aber abweichen (Art 23e Abs 6 B-VG). b) Die Mitwirkung des NR erfolgt im Rahmen des Hauptausschusses des NR, der dazu einen 325 StaÈndigen Unterausschuss in Angelegenheiten der EU eingerichtet hat. Hat der NR eine Stellungnahme abgegeben, muss der BM nach der Abstimmung im Rat einen Bericht erstatten, in dem vor allem auch die Gru È nde fu È r ein allfaÈlliges Abweichen von einer Stellungnahme darzulegen sind. Der Begriff der zwingenden auûen- und integrationspolitischen Gru È nde, die ein Abweichen von einer bindenden Stellungnahme rechtfertigen, ist freilich nur begrenzt justiziabel. c) Die dem NR und dem BR eingeraÈumten Mitwirkungsrechte sind auch im europaÈischen Rechtsvergleich betrachtet weit reichend. Ob sie sich bewaÈhrt haben, wird unterschiedlich È berinformationª der Parlamente durch wenig aufbereitete Unterbeurteilt. Beklagt wird die ¹U lagen; davon abgesehen ist das Verfahren jedenfalls kompliziert und wenig flexibel.
3. Weil die entscheidende Willensbildung im Rat durch Mitglieder der BReg erfolgt, 326 und zwar auch dann, wenn Interessen oder Kompetenzen der BundeslaÈnder
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betroffen und diese zur Durchfu È hrung entsprechender Beschlu È sse verpflichtet sind, raÈumt das B-VG auch den LaÈndern eine Gelegenheit ein, ihre Position zur Geltung zu bringen. Nach Art 23d B-VG hat die BReg die LaÈnder und die Gemeinden u È ber alle Vorhaben im Rahmen der EU zu informieren, die den selbstaÈndigen Wirkungsbereich der LaÈnder oder den eigenen Wirkungsbereich der Gemeinden beru È hren oder die sonst fu È r die LaÈnder (Gemeinden) von Interesse sind. 327 Jedes Bundesland kann zu diesen Angelegenheiten eine Stellungnahme u È bermitteln. Geben die LaÈnder eine einheitliche Stellungnahme zu einem Vorhaben ab, das Angelegenheiten betrifft, die in Gesetzgebung Landessache sind, ist der Bund daran gebunden; er darf von der einheitlichen Stellungnahme nur aus zwingenden auûen- und integrationspolitischen Gru È nden abweichen (Art 23d Abs 2 B-VG). Divergierende LaÈnderstellungnahmen sind fu È r den Bund nicht verbindlich. Wie eine einheitliche Stellungnahme der LaÈnder zu Stande kommt, haben die LaÈnder in einer Art 15a-Vereinbarung geregelt (Vereinbarung u È ber die gemeinsame Willensbildung der LaÈnder in Angelegenheiten der europaÈischen Integration; zB Wr LGBl 1992/29): Danach soll u È ber LaÈnderstellungnahmen in einer Integrationskonferenz der LaÈnder beraten werden; eine einheitliche Stellungnahme kommt zu Stande, wenn fu È nf LaÈnder zustimmen und es keine Gegenstimme gibt. In der Praxis kommt dieser Integrationskonferenz allerdings keine Bedeutung zu und die einheitlichen Stellungnahmen werden durch beamtete Experten der LaÈnder in einem anderen Gremium (staÈndiger Integrationsausschuss) erarbeitet. In einer weiteren Bund-LaÈnder-Vereinbarung u È ber die Mitwirkungsrechte der LaÈnder und Gemeinden in Angelegenheiten der europaÈischen Integration (BGBl 1992/775) hat sich der Bund verpflichtet, auf Verlangen der LaÈnder unter gewissen naÈher beschriebenen UmstaÈnden zur Wahrung der LaÈnderinteressen eine Klage beim EuGH einzubringen (Art 10 der Bund-LaÈnder-Vereinbarung).
È sterreich 13.3. Das EU-Recht und seine Geltung in O 328 Es wurde bereits hervorgehoben, dass der Begriff des EU-Rechts als Oberbegriff verwendet wird, der einerseits das EU-Recht im engeren Sinn und andererseits das EuropaÈische Gemeinschaftsrecht umfasst: . EU-Recht im engeren Sinn (auch: Unionsrecht) ist das im Rahmen der ¹Zweiten und Dritten SaÈuleª (GASP, PJZS) erzeugte Recht. Es entspricht dem herko È mmlichen VoÈlkerrecht und muss daher, damit es innerstaatliche Geltung erlangt, in das nationale Recht transformiert werden. . Das Gemeinschaftsrecht ist dagegen das im Rahmen der ¹Ersten SaÈuleª erzeugte Recht der beiden Gemeinschaften (EG, EAG). Beim Gemeinschaftsrecht handelt es sich um eine autonome, supranationale Rechtsordnung, die unmittelbar in den Mitgliedstaaten gilt, ohne dass es eines Transformationsaktes bedarf. Die folgenden Ausfu È hrungen beziehen sich, soweit nichts anderes gesagt wird, auf das EuroÈ sterreich und paÈische Gemeinschaftsrecht, seine Besonderheiten und seine Geltung in O die mit seiner Umsetzung zusammenhaÈngenden Fragen. Durch den Reformvertrag von Lissabon wu È rden die rechtlichen Handlungsformen der EU vereinfacht und vereinheitlicht; die bisherige Bezeichnung ¹Gemeinschaftsrechtª wu È rde mit der Verschmelzung der EuropaÈischen Gemeinschaft (EG) mit der Union obsolet werden und an seine Stelle ein einheitliches Unionsrecht treten.
13.3.1. Die Rechtsquellen des EU-Rechts 329 1. Die Rechtsordnung der EU setzt sich aus dem schon behandelten PrimaÈrrecht und dem SekundaÈrrecht zusammen (vgl zu den Rechtsquellen des PrimaÈrrechts Rz 290). Das SekundaÈrrecht oder abgeleitete Recht wird von den Organen der EU in den primaÈrrechtlich geregelten Rechtsetzungsformen erzeugt. Es muss dem Pri-
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maÈrrecht entsprechen, das insoweit einen Pru È fungsmaûstab fu È r das abgeleitete Recht darstellt. 2. Die wichtigsten Rechtsquellen des Gemeinschaftsrechts sind nach Art 249 EGV 330 die Verordnungen, die Richtlinien und die Entscheidungen. Daneben erwaÈhnt diese Bestimmung auch noch die rechtlich unverbindlichen Empfehlungen und Stellungnahmen. Zum Recht der EU gehoÈren auch die VertraÈge, welche die Gemeinschaft mit dritten Staaten oder internationalen Organisationen abschlieût; bei den so genannten gemischten Abkommen schlieût die Gemeinschaft den Vertrag gemeinsam mit den Mitgliedstaaten ab.
. Verordnungen (VO) sind verbindliche generelle Rechtsnormen, die in den Mit- 331 gliedstaaten unmittelbar gelten. Man kann sie mit nationalen Gesetzen vergleichen; wie diese wenden sie sich idR unmittelbar an Einzelpersonen, die sie berechtigen oder verpflichten. Sie bedu È rfen keiner innerstaatlichen Durchfu È hrung, die auch unzulaÈssig ist, auûer wenn das eine VO ausdru È cklich vorsieht. Als Beispiel soll die VO (EWG) 1612/68 u È ber die Freizu È gigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft angefu È hrt werden, welche den Wanderarbeitnehmern im Rahmen der Personenverkehrsfreiheit bestimmte wichtige Rechte in den Mitgliedstaaten verbu È rgt (zB ein Aufenthaltsrecht, ein Recht auf Zugang zu einer BeschaÈftigung, auf Gleichbehandlung bei den Arbeitsbedingungen usw).
. Richtlinien (RL) sind generelle Rechtsnormen, die fu È r die Mitgliedstaaten ver- 332 bindlich sind. RL geben bestimmte Ziele und GrundsaÈtze vor, die von den Mitgliedstaaten durch naÈhere Ausfu È hrungsregelungen umgesetzt werden mu È ssen. Richtlinien kann man in gewisser Weise mit staatlichen Grundsatzgesetzen vergleichen. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, sie innerhalb der vorgegebenen Umsetzungsfrist mit den Mitteln des innerstaatlichen Rechts umzusetzen; bei unterlassener oder fehlerhafter Umsetzung koÈnnen RL unter gewissen UmstaÈnden unmittelbar anwendbar sein (vgl dazu noch naÈher Rz 347). Als Beispiel fu È r eine Richtlinie soll auf die UVP-RL 85/337/EWG idgF verwiesen werden, welche die Mitgliedstaaten verpflichtet hat, fu È r bestimmte umweltbelastende Vorhaben eine UmweltvertraÈglichkeitspru È fung vorzusehen. In Durchfu È hrung dieser RL ist das UVP-G 2000 BGBl 1993/697 idgF ergangen.
. Die Entscheidungen sind Normen, die idR fu È r einen bestimmten oder mehrere 333 bestimmte Adressaten (Mitgliedstaaten, Bu È rger in den Mitgliedstaaten) unmittelbar verbindlich sind. Man koÈnnte sie mit Bescheiden vergleichen. Auf die Einzelheiten des gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzungsverfahrens wird hier 334 nicht naÈher eingegangen. Wie bereits oben ausgefu È hrt werden VO und RL in vielen FaÈllen auf Initiative der Kommission gemeinsam von Rat und EP in dem Verfahren der Mitentscheidung (Art 251 EGV) oder dem Verfahren der Zusammenarbeit (Art 252 EGV) erlassen. In anderen FaÈllen ist der Rat alleine oder die Kommission nach Maûgabe besonderer Bestimmungen des EGV rechtsetzungsbefugt (zB erlaÈsst die Kommission Durchfu È hrungsVO zu den von Rat und EP erlassenen VO). Die gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakte werden im Amtsblatt der EU (ABl) vero È ffentlicht (abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu). 3. Im Bereich der ¹Zweiten und Dritten SaÈuleª erfolgt die Rechtsetzung durch Beschlu È sse 335 des EuropaÈischen Rats und des Rats, die als Organe der GASP und der PJZS taÈtig werden. Die entsprechenden Akte haben unterschiedliche Bezeichnungen und Wirkungen: Die Ziele der GASP werden durch allgemeine Leitlinien, Beschlu È sse u È ber gemeinsame Strategien und durch die Annahme gemeinsamer Aktionen und Standpunkte verfolgt (Art 12 EUV). In den politisch sensiblen auûenpolitischen Angelegenheiten ist grundsaÈtzlich Einstimmigkeit erforderlich, wobei allerdings auf der Grundlage einer einstimmig beschlossenen gemeinsamen Strategie auch Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit moÈglich sind. Bei der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit im Rahmen der PJZS werden gemeinsame Standpunkte, Rahmenbeschlu È sse, È bereinkommen (Art 34 EUV) verabschiedet, fu Beschlu È sse und U È r die idR Einstimmigkeit im
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Rat erforderlich ist. Zu betonen ist nochmals, dass diese dem Unionsrecht zugeordneten Rechtsakte zwar fu È nnen, aber keine Rechtswirkungen È r die Mitgliedstaaten verbindlich sein ko gegenu È ber den Rechtsunterworfenen in diesen Staaten entfalten, solange sie nicht umgesetzt sind.
13.3.2. Die Geltung des Gemeinschaftsrechts im nationalen Recht 336 1. Das Gemeinschaftsrecht ist eine autonome Rechtsordnung, die in den Mitgliedstaaten unmittelbar gilt, der ein Vorrang gegenu È ber dem innerstaatlichen Recht zukommt und deren Vorschriften zT unmittelbar anwendbar sind. Diese Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts, die seinen supranationalen Charakter ausmachen, sind im Folgenden naÈher zu erlaÈutern. 337 a) Das Gemeinschaftsrecht ist eine autonome Rechtsordnung, weil es unabhaÈngig vom nationalen Recht gilt und auf einem eigenstaÈndigen Geltungsgrund ± den Gru È ndungsvertraÈgen ± beruht. Es stellt eine eigene Rechtsordnung dar, die zu den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hinzutritt. Daher richten sich auch die Wirkungen des Gemeinschaftsrechts ausschlieûlich nach ihm selbst. 338 b) Das Gemeinschaftsrecht richtet sich nicht nur wie das klassische VoÈlkerrecht an die einzelnen Mitgliedstaaten, sondern es kann unmittelbar die einzelnen Bu È rgerinnen und Bu È rger in den Mitgliedstaaten berechtigen und verpflichten (stRspr seit EuGH, Van Gend und Loos, Rs 26/62, Slg 1963, 3). Insoweit haben die innerstaatlichen Gerichte und VerwaltungsbehoÈrden das unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsrecht auch ihren Entscheidungen zu Grunde zu legen. Ob Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts unmittelbar anwendbar sind, haÈngt von ihrer hinreichenden Bestimmtheit und davon ab, dass sie keiner weiteren Konkretisierung durch generelle Normen bedu È rfen. Nach der Judikatur des EuGH sind Normen des Gemeinschaftsrechts unmittelbar anwendbar, wenn sie ¹unbedingt und hinreichend genauª sind (EuGH, Cooperativa Agricola Zootecnica, verb Rs C 246-249/94, Slg 1996, I-4373). Das koÈnnen auch Normen des PrimaÈrrechts sein, wie etwa das Diskriminierungsverbot des Art 12 EGV oder das Verbot von BinnenzoÈllen oder Abgaben gleicher Wirkung (Art 25 EGV). VO sind voraussetzungsgemaÈû auf eine unmittelbare Anwendbarkeit angelegt. Zur unmittelbaren Anwendbarkeit von RL vgl Rz 347.
339 c) Schlieûlich kommt dem Gemeinschaftsrecht ein Anwendungsvorrang gegenu È ber nationalem Recht zu. Das bedeutet, dass die nationalen BehoÈrden (Verwaltungsbeho È rden und Gerichte) Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts dann nicht anwenden du È rfen, wenn sie einer gemeinschaftsrechtlichen Norm widersprechen. Dieser Anwendungsvorrang kommt auch gegenu È ber dem nationalen Verfassungsrecht zum Tragen, so dass das Gemeinschaftsrecht auch die ihm widersprechenden verfassungsrechtlichen Normen verdraÈngt. Der EuGH hat den Anwendungsvorrang mit der Notwendigkeit einer einheitlichen und effektiven Anwendung des Gemeinschaftsrechts begru È ndet, die gefaÈhrdet waÈre, wenn ein Mitgliedstaat durch seine innerstaatliche Gesetzgebung einseitig die Verbindlichkeit des Gemeinschaftsrechts beeintraÈchtigen koÈnnte (EuGH, Costa/ENEL, Rs 6/64, Slg 1964, 1253). Man spricht von Anwendungsvorrang, weil dem widersprechenden nationalen Recht durch das Gemeinschaftsrecht nicht derogiert wird, sondern dieses nur fu È r den konkreten Einzelfall unanwendbar ist. In einem anderen Fall ohne Gemeinschaftsrechtsbezug kann die entsprechende innerstaatliche Bestimmung ohne weiteres wieder angewendet werden; die Mitgliedstaaten sind aber verpflichtet, die mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbaren Bestimmungen des nationalen Rechts zu beseitigen (EuGH, Kommission/Griechenland, Rs C-290/94, Slg 1996, I-3285).
340 2. Die behandelten Wirkungen des Gemeinschaftsrechts hat der EuGH in seiner JudiÈ sterreich hat diese Judikatur mit seinem Beitritt zur EU akzepkatur entwickelt. O tiert. Auch der VfGH geht daher vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts aus
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(VfSlg 14.886/1997), und zwar auch im Hinblick auf das o È sterreichische Verfassungsrecht (VfSlg 15.427/1999). Wegen der autonomen Geltung des mit Anwendungsvorrang ausgestatteten Gemeinschaftsrechts spricht man auch von einer ¹DoppelverfasÈ sterreichs in die europaÈische sungª (Peter Pernthaler), um die Eingliederung O Rechtsordnung zu charakterisieren. È sterreich, es wird aber nicht in den innerstaatliDas EuropaÈische Gemeinschaftsrecht gilt in O chen Stufenbau der Rechtsordnung eingeordnet; insofern gilt es gleichsam ¹nebenª dem nationalen Recht. Das hat vor allem zur Konsequenz, dass die Normen des Gemeinschaftsrechts keine ¹Gesetzeª oder ¹Verordnungenª im Sinn des B-VG sind (vgl Rz 362, 1081).
13.3.3. Die Vollziehung und Umsetzung des Gemeinschaftsrechts 1. Regelungen des Gemeinschaftsrechts, die unmittelbar anwendbar sind, werden 341 idR von den o È sterreichischen BehoÈrden (VerwaltungsbehoÈrden, Gerichten) vollzogen. Das nennt man den indirekten oder mitgliedschaftlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht. Dabei wenden die innerstaatlichen BehoÈrden die nationalen Verfahrensbestimmungen an (zB das AVG), ihre ZustaÈndigkeit richtet sich grundsaÈtzlich nach der innerstaatlichen ZustaÈndigkeitsverteilung und Rechtsschutz ist nach Maûgabe der nationalen Rechtsschutzeinrichtungen zu gewaÈhren (Prinzip der verfahrensmaÈûigen und institutionellen Autonomie der Mitgliedstaaten). Die BehoÈrden sind verpflichtet dem Gemeinschaftsrecht zur Wirksamkeit zu verhelfen; das bedeutet vor allem, dass die Verfolgung von Anspru È chen, die im Gemeinschaftsrecht verankert sind, nicht ungu È nstiger ausgestaltet sein darf als bei vergleichbaren innerstaatlich begru È ndeten Rechten (Diskriminierungsverbot) und dass das nationale Recht die Rechtsverfolgung nicht praktisch unmoÈglich machen darf (Effizienzgebot) (vgl zB EuGH, Peterbroeck, Rs C-312/93, Slg 1995, I-4599). Nur in begrenztem Umfang kommt es zu einem direkten oder gemeinschaftsunmittelbaren Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch Organe der Gemeinschaft. So hat etwa die Kommission im Bereich des Wettbewerbsrechts direkte Vollziehungsbefugnisse.
2. Nicht unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht muss von den Mitglied- 342 staaten umgesetzt werden, damit es vollzogen werden kann (so genannter mittelbarer Vollzug). Das gilt vor allem fu È r das Richtlinienrecht. Auch fu È r die Umsetzung sind die ZustaÈndigkeits- und Verfahrensbestimmungen des innerstaatlichen Rechts maûgeblich. Das hat die folgenden Konsequenzen: a) Die ZustaÈndigkeit fu È r die Umsetzung von Gemeinschaftsrecht richtet sich nach 343 der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung. Sind Angelegenheiten der LaÈnder betroffen, haben diese die entsprechenden Umsetzungsmaûnahmen zu setzen, etwa durch die Erlassung von landesgesetzlichen Regelungen. Im ZustaÈndigkeitsbereich des Bundes trifft diesen die Umsetzungsverantwortung. aa) Daher musste die VogelschutzRL 79/409/EWG durch entsprechende landesrechtliche Regelungen umgesetzt werden, weil Naturschutz Landessache ist; die UVP-RL 85/337/EWG musste der Bundesgesetzgeber gestu È tzt auf seine Kompetenz nach Art 11 Abs 1 Z 7 B-VG umsetzen. Bei komplexen Materien, fu È r die Bund und LaÈnder entsprechende ZustaÈndigkeiten beanspruchen, kann die Umsetzung schwierig sein (so musste die RL 90/313/EWG u È ber den freien Zugang zu Umweltinformationen durch entsprechende Gesetze sowohl des Bundes wie aller BundeslaÈnder umgesetzt werden, was nur mit erheblicher VerzoÈgerung geschah). È sterreich die Verantwortung fu bb) Gegenu È ber der EU traÈgt die Republik O È r die ordnungsgemaÈûe Umsetzung, auch wenn dafu È r innerstaatlich die BundeslaÈnder zustaÈndig sind. Daher verpflichtet Art 23d Abs 5 B-VG die LaÈnder zur rechtzeitigen Durchfu È hrung (Umsetzung) von Rechtsakten im Rahmen der europaÈischen Integration. Kommt ein Land dieser Verpflichtung nicht rechtzeitig nach und stellt das der EuGH fest, geht die ZustaÈndigkeit auf den Bund u È ber. Ein nach einem solchen ZustaÈndigkeitsu È bergang erlassenes Gesetz (VO) des Bundes tritt wie-
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Teil I. Grundlagen
der auûer Kraft, sobald das Land die erforderlichen Maûnahmen getroffen hat (vgl zu einer vergleichbaren Regelung fu È r die Durchfu È hrung staatsvertraglicher Verpflichtungen Rz 278).
344 b) Bei der Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Normen ist Art 18 B-VG zu beachten: Daher kommt eine Umsetzung durch VO nur dann in Betracht, wenn es fu Èr die VO eine ausreichend bestimmte gesetzliche Grundlage iS von Art 18 Abs 2 B-VG gibt; eine RL kann nach Auffassung des VfGH diese gesetzliche Grundlage nicht ersetzen (VfSlg 15.189, 15.354/1998). Die Umsetzung von RL wird daher in vielen FaÈllen ein TaÈtigwerden des Gesetzgebers erforderlich machen, auch wenn dieser angesichts der haÈufig sehr detaillierten RL oft nichts anderes tun kann, als diesen Text in Gesetzesform zu wiederholen. 345 c) Bei der Umsetzung ist der innerstaatliche Gesetzgeber oder die eine VO erlassende BehoÈrde inhaltlich an das umzusetzende Gemeinschaftsrecht gebunden. Soweit das Gemeinschaftsrecht einen Spielraum belaÈsst, sind aber auch die inhaltlichen Anforderungen des oÈsterreichischen Verfassungsrechts zu beachten. Insoweit gibt es eine ¹doppelte Bindungª, einerseits an das Gemeinschaftsrecht und andererseits an das nationale Verfassungsrecht. Die Einhaltung dieser Bindung durch das Verfassungsrecht unterliegt der Kontrolle durch den VfGH. In diesem Umfang sind bei der Umsetzung auch die Grundrechte des oÈsterreichischen Verfassungsrechts und die rechtsstaatlichen Prinzipien zu beachten. Daher war es unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitsgrundsatzes verfassungswidrig, wenn der Gesetzgeber bei der Umsetzung des gemeinschaftsrechtlichen Vergaberechts bestimmte Branchen ohne sachlichen Grund von den spezifischen Rechtsschutzgarantien des Vergaberechts ausgenommen hatte (VfSlg 15.106/1998); verfassungswidrig war es auch, wenn der unzustaÈndige Bundesgesetzgeber eine Regelung u È ber Maûnahmen der Energieeinsparung bei Gewerbebetrieben erlassen hatte, auch wenn diese Regelung der Umsetzung der IPPC-RL u È ber die integrierte Vermeidung von Umweltverschmutzungen dienen sollte, denn im Sinn der ¹doppelten Bindungª ist auch die bundesstaatliche Kompetenzverteilung bei der Umsetzung zu beachten (VfSlg 17.022/2003).
346 d) Wenn der Inhalt einer umzusetzenden Regelung (zB einer RL) gegen innerstaatÈ ût (zB gegen ein Grundrecht, gegen rechtsstaatliliches Verfassungsrecht versto che Garantien, Bestimmungen u È ber den Instanzenzug), stellt sich die Frage, ob der Umsetzungsakt als einfaches Gesetz verabschiedet werden kann oder als Verfassungsgesetz erlassen werden muss. Wenn ein Regelungsspielraum besteht, ist die Frage im Sinn der doppelten Bindung zu loÈsen. Verlangt das Gemeinschaftsrecht aber eine ganz bestimmte ± gegen das Verfassungsrecht verstoûende ± Regelung, ko È nnte man annehmen, dass das Verfassungsrecht ohnedies wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts verdraÈngt wird. Nach Ansicht des VfGH gilt dagegen auch in einer solchen Situation das Prinzip der doppelten Bindung: Der Verfassungsgesetzgeber muss dann taÈtig werden, wenn ¹das bloûe Unangewendet-sein-Lassen einer Verfassungsnorm keine gemeinschaftsrechtskonforme Lo È sungª ermoÈglicht; daher konnte die gemeinschaftsrechtliche Notwendigkeit der Einrichtung eines Nachpru È fungsverfahrens bei Vergabeentscheidungen nicht die Einfu È hrung eines verfassungswidrigen Instanzenzuges rechtfertigen, so dass es einer Regelung durch den Bundesverfassungsgesetzgeber bedurfte (VfSlg 17.001/2003). HaÈufig kann allerdings das verfassungskonforme Ergebnis dadurch erreicht werden, dass eine bestimmte dem Gemeinschaftsrecht widersprechende Verfassungsnorm nicht angewendet wird (vgl VfSlg 15.427/1999).
347 3. RL sind auf eine fristgerechte Umsetzung durch die zustaÈndigen Organe (Gesetzgeber, VO-Geber) angelegt und daher nicht unmittelbar anwendbar. Wird eine RL aber nicht fristgerecht umgesetzt, kann sie nach der Judikatur des EuGH unter bestimmten weiteren UmstaÈnden doch unmittelbar anwendbar werden, damit der einheitliche und umfassende Vollzug durch saÈmtliche Mitgliedstaaten gesichert ist. Voraussetzung dafu È r ist, dass die RL (1) inhaltlich unbedingt und (2) ausreichend bestimmt ist sowie (3) den Einzelnen begu È nstigt (EuGH, Francovich, Rs C-6/90,
3. Kapitel: Der Verfassungsstaat im Rahmen des VoÈlker- und Europarechts
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Slg 1991, I-5357; VfSlg 14.607/1996); eine unmittelbare Verpflichtung eines EinzelÈ brigen nen kann dagegen keine Folge einer unmittelbaren Anwendbarkeit sein. Im U kann eine nicht rechtzeitige Umsetzung den Staat zum Ersatz des den Bu È rgern zugefu È gten Schadens nach den GrundsaÈtzen des Staatshaftungsrechts verpflichten (vgl Rz 841 ff). 4. Die innerstaatlichen Vorschriften, die zur Umsetzung einer RL erlassen wurden, 348 È bereinstimmung mit der RL auszulegen (so genannte richtlisind im Zweifel in U nienkonforme Interpretation). Der Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation gilt aber auch fu È r sonstiges nationales Recht, dem kein Inhalt unterstellt werden darf, der es in Widerspruch zu Gemeinschaftsrecht setzt (VfSlg 14.391/1995, 15.354/1998).
13.4. Der Rechtsschutz im Zusammenhang mit dem EuropaÈischen Gemeinschaftsrecht Durch den EU-Beitritt wurde das oÈsterreichische Rechtsschutzsystem nicht unbe- 349 traÈchtlich veraÈndert. Diese VeraÈnderungen betreffen zunaÈchst die rechtsschutzfoÈrmliche Durchsetzung des EuropaÈischen Gemeinschaftsrechts; aber auch der Rechtsschutz im Bereich des nationalen oÈsterreichischen Rechts und die entsprechenden ZustaÈndigkeiten der o È sterreichischen Gerichte stellen sich seither anders dar, wobei vor allem der Vorrang des Gemeinschaftsrechts zu beru È cksichtigen ist. 13.4.1. Der gemeinschaftsrechtliche Rechtsschutz 1. Die Wahrung des EuropaÈischen Gemeinschaftsrechts ist zunaÈchst den Orga- 350 nen der Mitgliedstaaten u È bertragen, die in erster Linie fu È r den Vollzug verantwortlich sind (mitgliedschaftlicher Vollzug). Sie haben dabei den Vorrang des Gemeinschaftsrechts zu wahren und daher innerstaatliches Recht unangewendet zu lassen, wenn es unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht widerspricht; diese È rden. Fu Verpflichtung trifft alle Gerichte und Verwaltungsbeho È r den Rechtsschutz setzt Art 234 EGV eine gerichtliche Kontrolle voraus, welche GewaÈhr fu È r die entsprechenden Verfahrensgarantien bietet. 2. Verwaltungsakte (Bescheide, Maûnahmen) koÈnnen wegen Gemeinschaftsrechts- 351 widrigkeit im administrativen Instanzenzug sowie durch Beschwerde oder Berufung an die UVS bekaÈmpft werden. Gegen letztinstanzliche Bescheide der VerwaltungsbehoÈrden einschlieûlich der UVS kann grundsaÈtzlich Beschwerde an den VwGH erhoben werden; zu der dem VwGH u È bertragenen RechtmaÈûigkeitskontrolle gehoÈrt auch die Pru È fung der Wahrung des Gemeinschaftsrechts (zur VwGH-Beschwerde vgl im Einzelnen Rz 937 ff). Damit ist der VwGH das wichtigste innerstaatliche Organ zur Sicherung der RechtmaÈûigkeit des Verwaltungshandelns im Bereich des Gemeinschaftsrechts. a) Dagegen kommen dem VfGH nur eingeschraÈnkte Kompetenzen im Bereich des Gemein- 352 schaftsrechts zu. Gemeinschaftsrechtlich eingeraÈumte subjektive Rechte sind keine verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechte iS von Art 144 B-VG; daher kann eine Bescheidbeschwerde an den VfGH gestu È tzt auf die behauptete Verletzung eines durch das Gemeinschaftsrecht eingeraÈumten Rechts nicht erhoben werden, und zwar auch nicht mit Berufung auf die Grundrechte des EU-Rechts. Der VfGH lehnt in solchen FaÈllen idR die Behandlung der Beschwerde mit der Formulierung ab, dass ¹zur Beurteilung der Frage, ob von der belangten BehoÈrde innerstaatliche einfachgesetzliche Normen oder gemeinschaftsrechtliche Normen anzuwenden waren, spezifische verfassungsrechtliche ErwaÈgungen nicht anzustellenª sind. Auch in diesen FaÈllen ist daher Beschwerde an den VwGH zu erheben.
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353 b) Allerdings kann die grob fehlerhafte Anwendung oder Nicht-Anwendung von Gemein-
È gliche oder willku schaftsrecht uU auf eine denkunmo È rliche Gesetzesanwendung und damit auf einen Eingriff in das Eigentumsgrundrecht, den Gleichheitsgrundsatz oder ein sonstiges Grundrecht hinauslaufen; in diesem Umfang ist eine auf die Verletzung des Gemeinschaftsrechts gestu È tzte VfGH-Beschwerde zulaÈssig und der VfGH auch zur mittelbaren Wahrung des È gliche RechtsanwenGemeinschaftsrechts berufen (VfSlg 16.143/2001). Eine denkunmo dung liegt in diesem Zusammenhang vor, wenn eine Verwaltungsbeho È rde eine innerstaatliche Vorschrift angewendet hat, die offenbar gemeinschaftsrechtswidrig ist und daher nicht haÈtte angewendet werden du È rfen. Daher war es verfassungswidrig (willku È rlich), wenn eine VerwaltungsbehoÈrde eine Steuerru È ckerstattung gestu È tzt auf eine gesetzliche Regelung verweigert hat, die wegen eines Widerspruchs zum gemeinschaftsrechtlichen Beihilfenrecht gar nicht haÈtte angewendet werden du È rfen (VfSlg 16.401/2001). Auch eine qualifiziert rechtswidrige Anwendung von Gemeinschaftsrecht kann willku È rlich sein, ebenso wie die Anwendung einer offensichtlich unanwendbaren gemeinschaftsrechtlichen Norm.
354 3. Im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist es Sache der instanzenmaÈûig u È bergeordneten Gerichte fu È r die Wahrung des Gemeinschaftsrechts zu sorgen. Entscheidungen von Straf- oder Zivilgerichten koÈnnen daher nach Maûgabe der entsprechenden Verfahrensbestimmungen mit der Behauptung bekaÈmpft werden, dass sie gegen unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht verstoûen. 355 4. Wenn ein zur Wahrung des Gemeinschaftsrechts berufenes innerstaatliches Gericht Zweifel an der Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen hat, kann bzw muss dieses Gericht den EuGH mit der Auslegungsfrage im Wege des Vorlageverfahrens (Art 234 EGV) befassen (so genannter Vorabentscheidungsantrag). In diesen FaÈllen kommt es daher zu einer Art von Zusammenarbeit zwischen dem nationalen Gericht und dem EuGH, der mit seiner Vorabentscheidung dem nationalen Gericht die entsprechenden Anhaltspunkte fu È r die Interpretation des Gemeinschaftsrechts gibt. Weil letztlich nur der EuGH verbindlich u È ber die einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts entscheidet, kommt ihm insoweit das Auslegungsmonopol zu. a) Nach Art 234 EGV kann jedes nationale Gericht dem EuGH eine Vorlage unterbreiten, letztinstanzliche Gerichte sind zur Vorlage verpflichtet, wenn die Frage entscheidungserheblich ist, noch nicht Gegenstand einer Auslegung durch den EuGH war und wenn die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht ohnedies offenkundig ist (so genannte ¹acte clairDoktrinª; vgl EuGH, CILFIT, Rs 283/81, Slg 1982, 3415; ferner zB VfSlg 16.988/2003). Der EuGH entscheidet nicht in der Sache, sondern gibt dem vorlegenden Gericht nur die entsprechenden Anhaltspunkte fu È r die Interpretation des Gemeinschaftsrechts verbindlich vor. b) Dabei liegt Art 234 EGV ein autonomer und weiter Gerichtsbegriff zu Grunde: Neben den ordentlichen Gerichten, dem VwGH, dem AsylGH und dem VfGH sind daher auch die UVS, die VergabekontrollbehoÈrden (zB Bundesvergabeamt) und Art 133 Z 4-BehoÈrden zur Vorlage berechtigte Gerichte. Vorlagepflichtig sind der VfGH, der VwGH sowie letztinstanzlich entscheidende ordentliche Gerichte; die KollegialbehoÈrden mit richterlichem Einschlag sind vorlagepflichtig, wenn eine Anrufung des VwGH nicht moÈglich ist (vgl dazu zB VfSlg 16.988/2003; nicht vorlagepflichtig sind dagegen die UVS; VfSlg 15.766/2000). UnterlaÈsst eine vorlagepflichtige BehoÈrde die Einholung einer Vorabentscheidung, obwohl es Zweifel an der Auslegung des Gemeinschaftsrechts gibt, verstoÈût das gegen das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter, weil der Partei durch die unterlassene Vorlage ein zustaÈndiges Gericht, naÈmlich der EuGH, entzogen wird (VfSlg 14.390/1995; vgl ferner Rz 1579). c) Stellt ein Gericht einen Vorabentscheidungsantrag, wird sein Verfahren unterbrochen (vgl zB zum VwGH-Verfahren Rz 963). Die Entscheidung des EuGH ist fu È r das vorlegende Gericht und alle weiteren in derselben Rechtssache entscheidenden Gerichte bindend, wenn diese die Sachentscheidung treffen.
È berpru 356 5. Eine U È ltigkeit gemeinschaftsrechtlicher RechtsvorschrifÈ fung der Gu ten steht den nationalen BehoÈrden und Gerichten nicht zu. Dies gilt auch fu È r den VfGH, und zwar auch dann, wenn ein Rechtsakt gegen oÈsterreichisches Verfassungs-
3. Kapitel: Der Verfassungsstaat im Rahmen des VoÈlker- und Europarechts
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recht verstoÈût. Bestehen Zweifel, ob eine EG-VO oder RL oder ein sonstiger Akt des sekundaÈren Gemeinschaftsrechts rechtmaÈûig ist, wobei als Maûstab fu È r seine RechtmaÈûigkeit das EU-PrimaÈrrecht in Betracht kommt, sind diese Zweifel im Wege eines Vorabentscheidungsantrags an den EuGH heranzutragen. Stellt der EuGH fest, dass die fragliche Norm ungu È ltig ist, kommt diesem Ausspruch allgemeine Bindungswirkung zu. Eine Entscheidung u È ber die Gu È ltigkeit eines Rechtsaktes der Gemeinschaft kann auch im Wege einer Nichtigkeitsklage durch einen Mitgliedstaat, uU auch durch einen unmittelbar betroffenen Einzelnen, herbeigefu È hrt werden. 13.4.2. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gemeinschaftsrecht Die autonome Geltung und der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts ha- 357 ben auch weit reichende Auswirkungen auf die Handhabung der dem VfGH eingeraÈumten ZustaÈndigkeiten, vor allem im Bereich der Normenkontrolle (Pru È fung von Gesetzen und VO, Art 139 und 140 B-VG). 1. ZunaÈchst gilt auch fu È fung des Gemeinschafts- 358 È r den VfGH, dass ihm die Pru rechts nach Maûgabe des innerstaatlichen Verfassungsrechts verwehrt ist. Dies gilt nicht nur fu È r das PrimaÈrrecht (vor allem die Gru È ndungsvertraÈge), sondern auch fu Èr das abgeleitete, sekundaÈre Recht. RL oder VO der EG koÈnnen daher nicht mit der Behauptung ihrer Verfassungswidrigkeit beim VfGH angefochten werden. LaÈuft eine È nderung des PrimaÈrrechts auf eine GesamtaÈnderung der Bundesverfassung hinaus, A kann der VfGH pru È fen, ob das Verfahren der GesamtaÈnderung (Art 44 Abs 3 B-VG) eingehalten wurde. 2. Im Hinblick auf die Kontrolle innerstaatlicher Normen durch den VfGH ist es 359 ebenfalls als Folge des Vorrangs zu einer Zuru È ckdraÈngung seiner ZustaÈndigkeiten gekommen; vor allem wurde sein urspru È ngliches Verwerfungsmonopol im Hinblick auf generelle Normen eingeschraÈnkt. a) Ob eine innerstaatliche Rechtsvorschrift (Gesetz, VO) dem Gemeinschaftsrecht 360 È rde und jedes Gericht, welche entspricht oder nicht, hat jede Verwaltungsbeho die Vorschrift anzuwenden haben, selbst zu beurteilen (so genannte Inzidentkontrolle). Widerspricht sie einer unmittelbar anwendbaren gemeinschaftsrechtlichen Norm, ist sie unangewendet zu lassen. Die Einhaltung dieser Verpflichtung kann im Instanzenzug durchgesetzt werden; im Bereich der Verwaltung entscheidet daru È ber letztlich der VwGH bzw eine KollegialbehoÈrde nach Art 133 Z 4 B-VG. Widerspricht innerstaatliches Recht einer nicht unmittelbar anwendbaren Bestimmung 361 des Gemeinschaftsrechts, kommt der Anwendungsvorrang nicht zum Tragen. In einem solchen Fall ist das Gesetz (VO) zwar gemeinschaftsrechtswidrig, aber von den Gerichten und Verwaltungsbeho È rden weiter anzuwenden. Auch eine Aufhebung dieser Bestimmungen durch È sterden EuGH kommt nicht in Betracht, weil dieser dafu È r keine ZustaÈndigkeit hat; gegen O reich ko È nnte aber ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werden und es ko Ènnen StaatshaftungsanspruÈche entstehen.
b) Das Gemeinschaftsrecht ist auch kein Maûstab fu È r die Normenkontrolle 362 durch den VfGH, weil es nicht in den Stufenbau der Rechtsordnung eingegliedert ist und daher weder ein Verfassungsgesetz iS von Art 140 B-VG noch Gesetzesrecht iS von Art 139 B-VG ist (VfSlg 15.189/1998, 15.810/2000). Daher kommen Gesetzespru È fungsantraÈge oder AntraÈge auf VO-Kontrolle nicht in Betracht, mit denen die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit eines innerstaatlichen Gesetzes oder einer VO geltend gemacht wird. Eine Ausnahme wird fu È r VO angenommen, die unmittelbar in die Rechte eines Einzelnen eingreifen und daher durch einen Individualantrag angefochten werden koÈnnen. Wegen des gemeinschaftsrechtlichen Gebots, bei der Anwendung von Gemeinschaftsrecht einen effektiven
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und gleichwertigen (bezogen auf innerstaatliche Verfahren) Rechtsschutz zu gewaÈhren, haÈtte der VfGH solche VO am Maûstab des Gemeinschaftsrechts zu pru È fen und ggf wegen RechtsÈ hlinger). widrigkeit aufzuheben (Theo O
363 c) Werden Gesetze oder VO beim VfGH angefochten (durch Gerichte, UVS, BVA) oder leitet der VfGH von Amts wegen ein Normenkontrollverfahren ein, stellt sich auch die Frage, ob die entsprechende Norm u È berhaupt anzuwenden (praÈjudiziell) war (was Voraussetzung der Anfechtung bzw amtswegigen Einleitung ist) oder ob die gesetzliche Bestimmung (VO) wegen des Anwendungsvorrangs von gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften verdraÈngt wurde. In solchen FaÈllen geht der VfGH davon aus, dass das Normenkontrollverfahren dann zulaÈssig ist, wenn die BehoÈrde die innerstaatliche Norm tatsaÈchlich angewendet hat und die Anwendung zuÈ glich war (vgl dazu auch unten Rz 1096). Ist die aufgeworfene mindest denkmo gemeinschaftsrechtliche Frage zweifelhaft, hat der VfGH mit ihr den EuGH im Wege eines Vorlageantrags zu befassen. Anderes gilt in den FaÈllen der abstrakten Normenkontrolle, weil hier die PraÈjudizialitaÈt nicht Prozessvoraussetzung ist. UnzulaÈssig sind in diesem Zusammenhang auf Normenkontrolle gerichtete IndividualantraÈge, weil wegen des Vorrangs von Gemeinschaftsrecht auszuschlieûen ist, dass der Antragsteller durch die gemeinschaftsrechtswidrige Norm in seinen Rechten verletzt sein koÈnnte.
364 d) Pru È ft der VfGH eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die in Umsetzung von Gemeinschaftsrecht ergangen ist, kann es zu einer verfassungsmaÈûigen Kontrolle nach Maûgabe der doppelten Bindung kommen (vgl dazu oben Rz 345 f). AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zu den Abschnitten 12±13: VfSlg 12.558/1990: Unter welchen Voraussetzungen ist ein StV ¹self-executingª? VfSlg 13.235/1992: Zu den Rechtswirkungen eines mit Erfu È llungsvorbehalt beschlossenen StV. VfSlg 13.952/1994: Ein Beispiel fu È r eine generelle Transformation (Transitvertrag). VfSlg 14.390/1995: Ein ¹leading caseª zur Vorlagepflicht. VfSlg 14.891/1997: Zur unmittelbaren Anwendung von Richtlinien. VfSlg 15.354/1998: Zur richtlinienkonformen Interpretation. VfSlg 15.448/1999: Zu einer willku È rlichen Nicht-Anwendung von Gemeinschaftsrecht. VfSlg 15.683/1999: Kann eine Diskriminierung bei der gewerberechtlichen Nachsicht durch Gemeinschaftsrecht gerechtfertigt sein? Ein Beispiel fu È r die ¹doppelte Bindungª bei der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht. VfSlg 16.401/2001: Der erste Vorlagebeschluss des VfGH und u È berhaupt die erste Vorabentscheidung des EuGH, die auf Grund einer Vorlage durch ein nationales Verfassungsgericht ergangen ist. EuGH, Van Gend und Loos, Rs 26/62, Slg 1963, 3: Kann sich ein niederlaÈndisches Unternehmen vor einem niederlaÈndischen Gericht auf eine Bestimmung aus dem EGV berufen? Der ¹leading caseª zur unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts. EuGH, Internationale Handelsgesellschaft, Rs 11/70, Slg 1970, 1125: Auch nationales Verfassungsrecht kann vom Gemeinschaftsrecht verdraÈngt werden. Ein weiterer ¹leading caseª zum Anwendungsvorrang. Zur Vertiefung: Zum VerhaÈltnis VoÈlkerrecht/Verfassungsrecht: Balthasar, ¹pacta sunt servandaª. Zur innerstaatlichen Relevanz von durch Staatsvertrag eingegangenen VerpflichtunÈ sterreichs, ZO È R 1996, 161; Brandl, Die Umsetzung der Sanktionsresolutionen des Sigen O È R 1999, 161; Ermacora/Hummer, VoÈlkerrecht, cherheitsrats im oÈsterreichischen Recht, ZO Recht der EuropaÈischen Union und Landesrecht, in: Neuhold/Hummer/Schreuer (Hrsg), È sterreichisches Handbuch des VoÈlkerrechts4 Bd 1 (2004) 111; Grabenwarter, Die VerteiO
3. Kapitel: Der Verfassungsstaat im Rahmen des VoÈlker- und Europarechts
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lung voÈlkerrechtsbezogener ZustaÈndigkeiten nach der oÈsterreichischen Bundesverfassung, È R 1995, 79; Hammer, LaÈnderstaatsvertraÈge (1992); Thaler, Die VertragsschlusskompeZO tenz der oÈsterreichischen BundeslaÈnder (1990). Zum EU-Recht und zum Integrationsverfassungsrecht: Griller, Verfassungsfragen der o È sterreichischen EU-Mitgliedschaft, ZfRV 1995, 89; Holzinger, Der Verfassungsgerichtshof und È hlinger-FS (2004) 142; Jabloner, Die Verwaltungsgerichtsbardas Gemeinschaftsrecht, in: O keit im Licht des Europarechts, RZ 1997, 258; Korinek, Zur Relevanz von europaÈischem Gemeinschaftsrecht in der verfassungsgerichtlichen Judikatur, in: Tomandl-FS (1998) 465; ders, Die doppelte Bedingtheit von gemeinschaftsrechtsausfu È hrenden innerstaatlichen È hlinger-FS (2004) 131; Mayer, Kommentar zu EU- und EG-Vertrag Rechtsvorschriften, in: O È hlinger, Die Mitwirkung des Bundesparlamentes sowie der LaÈnder in (Loseblattausgabe); O È hlinger/Potacs, GeÈ sterreich an der Entstehung von EuropaÈischem Recht, ZG 1996, 57; O O È sterreichs Beteiligung an der È ffer, O meinschaftsrecht und staatliches Recht3 (2006); Scha Willensbildung in der EuropaÈischen Union, insbesondere an der europaÈischen RechtsetÈ R 1996, 3; Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der zung, ZO EU2 (2008); Thun-Hohenstein/Cede/Hafner, Europarecht5 (2005); R. Winkler, Integrationsverfassungsrecht (2003); ders, Zur Wahrung des Gemeinschaftsrechts bei KollegialbehoÈrden nach Art 133 Z 4 B-VG durch den VfGH, JBl 1998, 551.
Teil II. Die Staatsorganisation und die Staatsfunktionen 1. Kapitel: Der Aufbau des Staates Der Staat als rechtlich verfasste Gesellschaft setzt eine Gemeinschaft von Menschen voraus, die auf einem bestimmten territorialen Herrschaftsraum die organisierte Staatsmacht ausu È ben. Daher wendet sich das B-VG in seinem 1. Hauptstu È ck (Allgemeine Bestimmungen) dem Staatsvolk und dem Staatsgebiet zu. Diese Bestimmungen werden im Folgenden zunaÈchst behandelt. Im Hinblick auf die Staatsmacht ist zu beru È cksichtigen, dass sie im demokratischen Verfassungsstaat nicht in einer Hand vereinigt, sondern auf verschiedene TraÈger bzw Funktionen aufgeteilt ist (Gewaltenteilung und Gewaltenbalance). In einem Bundesstaat sind die staatlichen Aufgaben auûerdem zwischen dem Bund und den LaÈndern (Gliedstaaten) verteilt, was zur bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, zur Finanzverfassung und zu den verschiedenen Formen des Zusammenwirkens zwischen Bund und LaÈndern fu È hrt.
14. Staatsvolk und Staatsgebiet 14.1. Gebietsvolk und Staatsbu È rgerschaft È sterreichischen Staatsgebiet lebenden Menschen sind der o 1. Die auf dem o È ster- 365 È sterreichische reichischen Rechtsordnung unterworfen, dh sie werden durch das o Recht berechtigt und verpflichtet. Sie bilden daher in diesem Sinn das Gebietsvolk (und zwar unabhaÈngig davon, dass die o È sterreichische Rechtsordnung einen daru È ber hinausgehenden Geltungsbereich hat; vgl zum raÈumlichen Geltungsbereich der Rechtsordnung noch unten Rz 491). Zum ¹Gebietsvolkª in diesem (weiten) Sinn geÈ sterreich hoÈren auch Fremde, die nur voru È bergehend oder auch fu È r laÈngere Zeit in O Aufenthalt nehmen, die aber ebenfalls Adressaten der o È sterreichischen Rechtsordnung sind. 2. Die Verfassung hebt jene Menschen besonders hervor, die innerhalb des oÈsterrei- 366 chischen Staatsgebiets in einem VerhaÈltnis der existentiellen Verbundenheit leben. Sie bilden die Gruppe der Staatsbu È rger (Art 6 B-VG), die den Staat tragen, an der Bildung des Staatswillens wesentlich beteiligt sind und die auch Anspruch auf besonderen staatlichen Schutz und Fu È rsorge haben. Die StaatsbuÈrgerschaft ist ein rechtlicher Status, dh ein Inbegriff von besonderen Rechten und Pflichten, die den Staatsbu È rgern zukommen und durch die sie sich von den Fremden oder von Staatenlosen unterscheiden. Die Ausbildung eines einheitlichen Status der Staatsbu È rgerschaft, der auf dem Prinzip der rechtlichen Gleichheit beruht (Art 7 B-VG), war eine der wesentlichen Entstehungsbedingungen des modernen demokratischen Staates, durch den dieser die auf Standesunterschieden gegru È ndete feudale Gesellschaft u È berwunden hat. Die einheitliche (oÈsterreichische) Staatsbu È rgerschaft wird durch die LandesbuÈrgerschaft (unten Rz 373) und die Unionsbu È rgerschaft (unten Rz 375) ergaÈnzt. 3. Durch die Ausu È bung der ihnen zukommenden politischen Rechte (vor allem: 367 Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen) bringen die StaatsbuÈrger den Staat hervor
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Teil II. Die Staatsorganisation und die Staatsfunktionen
und tragen zur Bildung des Staatswillens bei. Das Wahlrecht zu den allgemeinen VertretungskoÈrpern (NR, LT, GRat) steht grundsaÈtzlich nur den o È sterreichischen StaatsbuÈrgern zu mit der einen Ausnahme, dass die Staatsbu È rger der anderen Mitgliedstaaten der EU zum Gemeinderat wahlberechtigt und waÈhlbar sind. Daher bilden diese Rechte der politischen Mitwirkung den Kern des staatsbu È rgerlichen Status. Ein weiteres wichtiges Vorrecht der Staatsbu È rger ist das grundsaÈtzlich unbeschraÈnkte È sterreich. Eine und von keiner Bewilligung abhaÈngige Recht zum Aufenthalt in O mit der Staatsbu È rgerschaft verbundene besondere Pflicht ist etwa die Wehrpflicht È bernahme des Geschworenen- oder Scho oder die Pflicht zur U È ffenamtes. 368 a) Nach Ansicht des VfGH verstoÈût ein Wahlrecht von AuslaÈndern zu allgemeinen VertretungskoÈrpern (von den EU-Bu È rgern abgesehen) gegen das demokratische Prinzip, weil zum Volk iS von Art 1 B-VG nur die oÈsterreichischen Staatsbu È ren. Dieser Staatsbu È rger geho È rgervorbehalt gilt entsprechend dem verfassungsrechtlichen HomogenitaÈtsprinzip fu È r alle Wahlen zu allgemeinen Vertretungsko Èrpern, daher auch fu È r die Wahlen zu den Wiener Bezirksvertretungen, obwohl diese im B-VG nicht ausdru È cklich geregelt sind (VfSlg 17.264/2004).
369 b) Der Staat ist gegenuÈber seinen StaatsbuÈrgern in besonderer Weise zur FuÈrsorge und zum
Schutz verpflichtet. Daher darf der Staat auch bestimmte Anspru È che und Leistungen (zB StudienfoÈrderung) den Staatsbu È rgern vorbehalten; dies ist auch mit dem verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz vereinbar, der nach Art 7 B-VG ein (weiteres) Vorrecht der Staatsbu È rger (Staatsbu È rgerrecht) ist. Auch Fremde und Staatenlose du È rfen freilich nicht unsachlich benachteiligt, willku È rlich behandelt oder im VerhaÈltnis untereinander diskriminiert werden, so dass nicht jedes Vorrecht der Staatsbu È rger gerechtfertigt werden kann (vgl zum Gleichheitsanspruch von AuslaÈndern Rz 1631 ff).
370 c) Die gegenwaÈrtigen MigrationsstroÈme (Gastarbeiter, Einwanderer, FluÈchtlinge usw) haben
È sterreich leben, die den Status der Staatsbu dazu gefu È hrt, dass immer mehr Menschen in O È rgerschaft nicht oder noch nicht erlangt haben. Auch sie sind in die gegebene Gesellschaft (mehr oder weniger) integriert und teilen in vielem mit den StaatsbuÈrgern ein gemeinsames Schicksal. Die fru È her fraglos hingenommene Ungleichbehandlung zwischen Staatsbu È rgern und Fremden laÈsst sich daher in vielen ZusammenhaÈngen nicht mehr oder nur mehr begrenzt rechtfertigen. Auch die scharfe Abgrenzung zwischen den zur politischen Mitwirkung berechtigten Aktivbu È rgern und den davon ausgeschlossenen Fremden, von der etwa auch der VfGH in der oben zitierten Entscheidung ausgegangen ist, wird dadurch fragwu È rdig. Wie zB die Wahlen zu den Interessenvertretungen oder zum Betriebsrat zeigen, bei denen AuslaÈndern zumindest das aktive Wahlrecht zusteht, kann die aktive Mitwirkung am Gemeinwesen auch als ein Mittel zur Integration angesehen werden. Solange freilich die Verfassung vom staatsbu È rgerlichen Status ausgeht, darf man diesem nicht jede Bedeutung nehmen. Die politische Integration der im Inland niedergelassenen Fremden muss daher in der Verleihung der Staatsbu È rgerschaft mu È nden.
371 d) Von den Rechtsbegriffen des Gebiets- und Staatsvolkes kann man das Volk oder die Nation
in einem soziologischen Sinn unterscheiden: Das ist jene Gemeinschaft von Menschen, die durch die Sprache, die ethnische Abstammung oder die gemeinsame Geschichte zusammengehalten werden und sich als einheitliche Gemeinschaft empfinden. Durch den Status als Staatsbu È rger wird ein solches Volk oder eine Gruppe von VoÈlkern zu einer politischen Schicksalsgemeinschaft und zu einer Wirkungseinheit zusammengefu È hrt, aus der die organisierte Staatlichkeit hervorgeht.
372 4. Die o È sterreichische StaatsbuÈrgerschaft wird nach den naÈheren Bestimmungen des Staatsbu È rgerschaftsG (StbG) erworben. Die wichtigsten ErwerbstatbestaÈnde sind die Geburt (wenn zumindest ein Elternteil die Staatsbu È rgerschaft besitzt) und die Verleihung (durch behoÈrdlichen Bescheid, etwa nach Eheschlieûung oder laÈnÈ sterreich). Fu gerem Aufenthalt in O È r Immigranten stellt die Verleihung der Staatsbu È rgerschaft (Einbu È rgerung) den Abschluss der erfolgten Integration und die Aufnahme in den Kreis der vollberechtigten Aktivbu È rger dar. 373 5. Die in Art 6 Abs 2 B-VG angesprochene Landesbu È rgerschaft kommt allen jenen StaatsbuÈrgern zu, die in einem Bundesland den Hauptwohnsitz oder ± wenn es das
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È sterreichische StaatsbuÈrger mit eiLandesrecht vorsieht ± einen Wohnsitz haben. O nem Hauptwohnsitz in OberoÈsterreich sind daher zB auch oberoÈsterreichische Landesbu È pfungspunkt fu È r lanÈ rger. Rechtlich dient die Landesbu È rgerschaft als Anknu desrechtliche Regelungen; vor allem kann das Landesrecht bei der Ausgestaltung der politischen Mitwirkungsrechte (zB Landtagswahlrecht) an den Status der Landesbu È rgerschaft anknu È pfen. Damit verdeutlicht die Landesbu È rgerschaft vor allem die ZugehoÈrigkeit zu der Aktivbu È rgerschaft des jeweiligen Bundeslandes. Im Zusammenhang mit der Staats- und Landesbu È rgerschaft definiert das B-VG auch den verfas- 374 sungsrechtlichen Begriff des Hauptwohnsitzes: Dabei handelt es sich um jenen Ort, an dem sich eine Person mit der Absicht niedergelassen hat hier den Mittelpunkt der Lebensbeziehungen zu schaffen. Trifft das auf mehrere Orte zu, hat die Person jenen Wohnsitz als Hauptwohnsitz zu bezeichnen, zu dem sie das u È berwiegende NaheverhaÈltnis hat. Der Hauptwohnsitz ist als Anknu È pfungspunkt in verschiedenen Verwaltungsvorschriften (zB im Meldewesen, Wahlrecht) bedeutsam.
È sterreichische StaatsbuÈrger sind auch Bu 6. O È rger der EuropaÈischen Union (Unions- 375 bu È rger) im Sinn von Art 17 EGV. Die mit der Unionsbu È rgerschaft verbundenen Rechte ergeben sich aus dem EuropaÈischen Gemeinschaftsrecht (zB Freizu È gigkeit im Rahmen des Gemeinschaftsrechts, InlaÈndergleichbehandlung). Der Tendenz nach zielt die Unionsbu È rgerschaft auf eine Einebnung der rechtlichen Unterschiede zwischen den Staatsbu È rgern der Mitgliedstaaten der EU.
14.2. Das Staatsgebiet Das oÈsterreichische Staatsgebiet umfasst das Gebiet der neun BundeslaÈnder (Art 3 376 B-VG). Seine Abgrenzung ergibt sich aus Festlegungen in StaatsvertraÈgen (Vertrag von St. Germain von 1919, Venediger Protokoll von 1921). Durch dieses Staatsgebiet È sterreich raÈumlich konstituiert; als Schauplatz der staatlichen wird die Republik O Herrschaft begrenzt das Staatsgebiet jenes Territorium, in dem o È sterreichische Staatsmacht ausgeu È bt werden darf. VeraÈnderungen im Bestand der LaÈnder (ZusamÈ nderung des B-VG menlegung oder Aufteilung von LaÈndern) bedu È rfen neben einer A auch verfassungsgesetzlicher Regelungen aller BundeslaÈnder (Art 2 Abs 3 B-VG). a) Rechtlich begrenzt das Staatsgebiet daher den raÈumlichen Geltungsbereich der oÈsterrei- 377 chischen Rechtsordnung, wobei genauer freilich zwischen dem raÈumlichen Tatbestandsbereich und dem raÈumlichen Sanktionsbereich von Rechtsnormen unterschieden werden muss (vgl Rz 476 ff). Im Sinn eines exklusiven Sanktionsbereichs wird durch das Staatsgebiet festgelegt, wo o È sterreichische Staatsmacht ausgeu È bt werden darf (zB eine Strafe verhaÈngt oder Polizeigewalt eingesetzt werden darf). Dementsprechend ist es auslaÈndischen Staaten auch grundsaÈtzlich verwehrt im oÈsterreichischen Staatsgebiet hoheitlich taÈtig zu sein. Als Durchbrechung È sterreichischer Staatsgewalt im Ausland daher ebenso dieser Regel bedarf die Ausu È bung o einer (ausdru È cklichen bzw stillschweigenden) verfassungsrechtlichen ErmaÈchtigung wie die EinraÈumung entsprechender Befugnisse an eine auswaÈrtige Staatsmacht im Inland. b) Eine entsprechende ErmaÈchtigung enthaÈlt Art 9 Abs 2 B-VG: Durch Bundesgesetz oder in Gesetzesrang stehenden Staatsvertrag kann die TaÈtigkeit von Organen fremder Staaten (zwischenstaatlicher Einrichtungen) im Inland sowie die TaÈtigkeit oÈsterreichischer Organe im Ausland im Rahmen des VoÈlkerrechts geregelt werden. Daher kann zB ein Gesetz (Staatsvertrag) oÈsterreichische Exekutivorgane zu Amtshandlungen im Ausland ermaÈchtigen bzw vorsehen, dass auslaÈndische Organe auf oÈsterreichischem Territorium taÈtig werden. Auch koÈnnen Hoheitsrechte fremder Staaten auf o È sterreichische Organe u È bertragen werden (zB eine VisaerteiÈ bertralung fu Èrden im Ausland). Die U È r fremde Staaten durch oÈsterreichische Vertretungsbeho gung von Hoheitsbefugnissen schlieût auch die MoÈglichkeit einer weisungsmaÈûigen Unterstellung ein. c) Eine VeraÈnderung des o È sterreichischen Staatsgebiets (GrenzaÈnderung) erfolgt in dem in È nderung der Bundesgrenze setzt einen Art 3 Abs 2±4 B-VG umschriebenen Verfahren: Eine A
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Staatsvertrag voraus, wobei dieser StV nur mit Zustimmung der betroffenen LaÈnder abgeschlossen werden darf. GrenzaÈnderungen innerhalb des Bundesgebietes werden durch paktierte (gleichlautende) Gesetze des Bundes und der betroffenen LaÈnder verfu È gt. In beiden FaÈllen bedu È rfen die entsprechenden Beschlu È sse des NR (Genehmigung des StV bzw Gesetzesbeschluss) einer 2/3-Mehrheit, ohne dass es sich dabei um Verfassungsrecht handelt. Fu È r bloûe Grenzbereinigungen zwischen den BundeslaÈndern genu È gen u È bereinstimmende Gesetze der LaÈnder.
14.3. Der Grundsatz der Einheit des Wirtschaftsgebiets 378 In einem Bundesstaat muss sichergestellt sein, dass es durch eine laÈnderweise unterschiedliche Gesetzgebung zu keinen BeschraÈnkungen des freien Waren- und Wirtschaftsverkehrs kommt. Daher ordnet Art 4 B-VG an, dass das Bundesgebiet ein einheitliches Wirtschaftsgebiet bildet und dass Zwischenzolllinien oder sonstige VerkehrsbeschraÈnkungen nicht errichtet werden du È rfen. Gezielte Behinderungen des freien Warenverkehrs sind daher unzulaÈssig, das oÈsterreichische Bundesgebiet muss einen einheitlichen Binnenmarkt bilden. Unterschiedliche landesgesetzliche Regelungen sind dadurch nicht gaÈnzlich ausgeschlossen, auch wenn sie faktisch den Handel erschweren, wie zB die uneinheitlichen Bestimmungen u È ber die Zulassung von Baustoffen auf Grund der Baurechtskompetenz der BundeslaÈnder. Auch regionale VerkehrsbeschraÈnkungen (zB Nachtfahrverbote) aus Gru È nden des Umweltund Nachbarschutzes verstoûen nicht gegen Art 4 B-VG. Die in Art 4 B-VG angesprochene EinÈ sterreichs hinfaÈllig geheit des WaÈhrungs- und Zollgebietes ist durch die EU-Mitgliedschaft O worden.
15. Die Funktionen des Staates: Gewaltenteilung und Gewaltenbalance 15.1. Die Unterscheidung der Staatsfunktionen 379 Die im Verfassungsstaat rechtlich organisierte Staatsmacht muss bestimmten Organen zugeteilt werden, damit der Staat handlungsfaÈhig wird. Dabei nehmen die einzelnen Staatsorgane unterschiedliche Funktionen wahr, die in der traditionellen staatsrechtlichen Terminologie als ¹Staatsgewaltenª bezeichnet werden. Die einheitliche Staatsgewalt geht erst aus dem Zusammenwirken dieser verschiedenen TraÈger der Staatsgewalt hervor. 380 Weil die Staatsgewalt eine rechtlich verfasste Macht ist, braucht es allgemeine verbindliche Anordnungen in der Form des Gesetzes; das ist die Aufgabe der Gesetzgebung (Legislative). Die gesetzgebenden KoÈrperschaften (NR, LT) sind die durch Wahl unmittelbar demokratisch legitimierten Organe; daher u È bertraÈgt ihnen die Verfassung neben der Gesetzgebung auch noch weitere Aufgaben der demokratischen Gesamtleitung, vor allem die Kontrolle der Regierungen. Die Umsetzung der staatlichen Gesetzgebung bzw ihre Anwendung im konkreten Einzelfall erfolgt durch die Organe der Vollziehung. Durch sie erfu È llt der Staat seine Aufgaben in der unmittelbaren Wirklichkeit der Gesellschaft: Etwa indem die Polizei fu È r Sicherheit und Ordnung sorgt, die zustaÈndigen BehoÈrden das Wirtschaftsleben beaufsichtigen oder Bewilligungen fu È r Betriebsanlagen erteilen, indem Schulen betrieben, Steuern eingehoben oder Streitigkeiten zwischen Privaten von den Gerichten entschieden werden. Die Vollziehung wird durch unterschiedliche Organe besorgt: Einerseits durch Organe der Verwaltung (Exekutive), die grundsaÈtzlich weisungsgebunden und den obersten Verwaltungsorganen (Regierungen) untergeordnet sind, andererseits durch die unabhaÈngigen Organe der Rechtsprechung (Justiz).
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15.2. Gewaltenteilung und Gewaltenbalance 1. Um die staatliche Macht zu begrenzen und ihrem Missbrauch entgegenzuwirken 381 werden den verschiedenen Staatsgewalten nicht nur bestimmte Aufgaben zugewiesen, sondern diese Gewalten sollen auch voneinander getrennt sein. Das ist der Grundsatz der Gewaltenteilung (Gewaltentrennung). Dieser Grundsatz wurde in seiner klassischen Form durch den franzoÈsischen Staatsphilosophen Charles de Montesquieu formuliert (Hauptwerk: De l'esprit des lois, 1748): Angesichts der Konzentration der gesamten Staatsmacht in der Hand des absoluten Monarchen forderte er, dass die gesetzgebende, die vollziehende und die richterliche Gewalt in die HaÈnde verschiedener Organe gelegt werde. Denn wenn die gesetzgebende Gewalt mit der vollziehenden vereinigt ist, gibt es keine Freiheit. Es gibt ferner keine Freiheit, wenn die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und der vollziehenden getrennt ist. Dabei sollten nach dem urspru È nglichen VerstaÈndnis der Gewaltenteilungslehre hinter den drei Staatsgewalten auch jeweils unterschiedliche soziale KraÈfte stehen (vor allem: Monarch, Adel und Bu È rgertum), die sich wechselseitig maÈûigen und kontrollieren. In dieser Form entspricht die Gewaltenteilungslehre nicht mehr der Wirklichkeit des modernen demokratischen Verfassungsstaats, der auf dem Prinzip der VolkssouveraÈnitaÈt beruht und in dem die politischen Parteien die wesentlichen TraÈger der politischen Macht sind. Das bedeutet nicht, dass die Gewaltenteilung u È berholt waÈre. Sie muss aber an die gewandelten Gegebenheiten angepasst und durch weitere Mechanismen der Machtbegrenzung und -kontrolle ergaÈnzt werden. Dazu gehoÈren: Die Aufteilung der politischen Macht im Bundesstaat auf mehrere Machtzentren, die Begrenzung der Staatsgewalt durch die Grundrechte und die Einrichtung unabhaÈngiger Kontrollinstanzen (zB GerichtshoÈfe des o È ffentlichen Rechts, VA, RH).
2. Auch das B-VG sieht Formen der Gewaltenteilung vor. Dabei wird dieser Grund- 382 satz allerdings in einer abgeschwaÈchten Form verwirklicht und zT auch durchbrochen. Neben ihrer Trennung ordnet die Verfassung die einzelnen staatlichen Funktionen einander zu und schafft wechselseitige AbhaÈngigkeiten und Kontrollmechanismen (¹checks and balancesª). Damit traÈgt sie auch den GrundsaÈtzen der Gewaltenbalance und Gewaltenverflechtung Rechnung. Im Ergebnis entsteht damit eine differenzierte, auf einheitliches Zusammenwirken angelegte staatliche Organisation, durch die die Staatsgewalt handlungsfaÈhig wird. 3. Bevor auf die naÈheren Einzelheiten eingegangen wird, ist vorweg noch auf den Unterschied 383 zwischen einer materiellen (inhaltlichen) und einer organisatorischen Gewaltenteilung hinzuweisen: Von materieller Gewaltenteilung spricht man, wenn bestimmte Aufgaben ganz bestimmten Organen u È bertragen sind und andere Organe diese Aufgaben nicht wahrnehmen du È rfen: Wenn also zB die Gesetzgebung nur von den gesetzgebenden KoÈrperschaften besorgt wird, wenn die Rechtsprechung nur den Gerichten u È bertragen ist und Verwaltungsaufgaben nur von Verwaltungsbeho È rden erledigt werden du È rfen. Organisatorische (oder: formell-organisatorische) Gewaltenteilung liegt vor, wenn die gesetzgebenden Organe von den Verwaltungsorganen und diese wiederum strikt von den Organen der Rechtsprechung getrennt sind, wenn es also keine organisatorischen Verbindungen zwischen den verschiedenen Organen (etwa gemischte BehoÈrden oder wechselseitige Anordnungsbefugnisse) gibt.
15.3. Gesetzgebung/Vollziehung 1. Im VerhaÈltnis von Gesetzgebung und Vollziehung (Verwaltung und Justiz) verwirk- 384 licht das B-VG eine begrenzte organisatorische Gewaltentrennung, zu denen aber auch gewisse Formen der Verflechtung und wechselseitigen Kontrolle treten. Das B-VG sieht eigenstaÈndige Gesetzgebungsorgane (NR, BR, LT) vor, die ihre Aufgaben grundsaÈtzlich getrennt von der Regierung, der u È brigen Verwaltung und der Justiz wahrnehmen. Dass das B-VG den Grundsatz der Gewaltentrennung aber nicht absolut gesetzt hat, zeigt sich schon daran, dass Abgeordnete des NR oder eines LT als Mitglieder der Regierung (BReg, LReg) auch der Exekutive angehoÈren du È rfen,
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was mit einer strikt verstandenen Gewaltenteilung unvereinbar waÈre. Es gibt auch keine InkompatibilitaÈt (Unvereinbarkeit) zwischen einer TaÈtigkeit als Verwaltungsbeamter oder Richter und dem Abgeordnetenamt. 385 Deutlich ausgepraÈgt sind die wechselseitigen Einflussrechte: So sind die Parlamente dazu berufen die Verwaltung rechtlich und politisch zu kontrollieren und muss die Regierung vom Vertrauen des Parlaments getragen sein. Auf die entsprechenden Instrumente (Ministeranklage, Misstrauensvotum, Kontrollrechte) wird noch an der gegebenen Stelle naÈher eingegangen (vgl Rz 572 ff). Die Verfassung gibt aber auch umgekehrt der Exekutive gewisse MoÈglichkeiten, auf die gesetzgebenden KoÈrperschaften einzuwirken, wobei die entsprechenden Kompetenzen weitgehend in die HaÈnde des BPraÈs gelegt sind; er hat vor allem das Recht, den NR È sen, was in der Folge zu Neuwahlen fu oder einen LT aufzulo È hrt. Ein Element der Gewaltenbalance stellt schlieûlich die Kompetenz des VfGH zur Gesetzeskontrolle (Art 140 B-VG) dar, durch die Entscheidungen des Gesetzgebers von einem Gericht auf ihre VerfassungsmaÈûigkeit u È berpru È ft werden. 386 2. Inhaltlich ist den gesetzgebenden KoÈrperschaften (NR, BR, LT) die Erzeugung foÈrmlicher Gesetze u È bertragen. Verwaltungsaufgaben du È rfen sie nur ausnahmsweise und in dem Umfang wahrnehmen, als sie ihnen durch ausdru È ckliche Verfassungsbestimmungen u È bertragen sind (so genannte Mitwirkung an der Vollziehung, wie etwa die Zustimmung eines gesetzgebenden Organs zur Erlassung einer VO). Die Erzeugung genereller Rechtsnormen ist allerdings nicht ausschlieûlich bei der Legislative konzentriert, weil die VerwaltungsbehoÈrden VO erlassen du È rfen, dh generelle Verwaltungsakte, die inhaltlich den Gesetzen entsprechen (Art 18 Abs 2 B-VG). Freilich darf die Verwaltung VO grundsaÈtzlich nur auf Grund der Gesetze erlassen, so dass der Vorrang der Legislative gewahrt bleibt. 387 An dieser Stelle ist nochmals auf die Bedeutung der politischen Parteien hinzuweisen, welche
die Trennung von Legislative und Exekutive u È berspielen und dadurch die Wirksamkeit der parlamentarischen Kontrolle der Verwaltung beeintraÈchtigen. Unter den Bedingungen des Parteienstaats ist daher der Gegensatz zwischen einer Mehrheitspartei und der Opposition ein weiteres Element der Gewaltenteilung, das zur klassischen Teilung der Staatsgewalten hinzutritt und diese ergaÈnzt.
15.4. Verwaltung/Rechtsprechung 388 1. Die Trennung der Verwaltung von der Rechtsprechung ist im B-VG ausdru È cklich angesprochen. Nach Art 94 B-VG ist die Justiz von der Verwaltung in allen Instanzen getrennt. Diese Bestimmung soll vor allem die UnabhaÈngigkeit der Rechtsprechung gewaÈhrleisten und verankert ein Gebot der strikten organisatorischen Gewaltenteilung zwischen Verwaltungsorganen und Gerichten. Zum VerstaÈndnis dieser Bestimmung kann die geschichtliche Entwicklung beitragen. In der Monarchie gab es noch so genannte ¹gemischte BezirksaÈmterª, das waren BehoÈrden, die Aufgaben der Verwaltung und der Rechtsprechung gemeinsam erledigten. Es leuchtet ein, dass die UnabhaÈngigkeit (Weisungsfreiheit) eines richterlichen Organs nicht gewaÈhrleistet ist, wenn es einer BehoÈrde angehoÈrt, die als Verwaltungsbeho Èrde an Weisungen gebunden ist.
389 Art 94 B-VG verbietet daher jede organisatorische Verbindung zwischen Verwaltungsbeho È rden und Gerichten. UnzulaÈssig ist es daher: . eine BehoÈrde gleichzeitig als Gericht und als VerwaltungsbehoÈrde einzurichten; eine BehoÈrde muss entweder Gericht oder VerwaltungsbehoÈrde sein (Verbot È rden); von Mischbeho . einen Instanzenzug von einem Gericht zu einer VerwaltungsbehoÈrde oder, umgekehrt, von einer VerwaltungsbehoÈrde zu einem Gericht vorzusehen (Verbot wechselseitiger Instanzenzu È ge);
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. Weisungsbeziehungen von einem Gericht zu einer VerwaltungsbehoÈrde oder umgekehrt vorzusehen (Verbot wechselseitiger Weisungen). Eine ausdru È cklich vorgesehene Durchbrechung der Trennung von Justiz und Verwal- 390 È fe tung stellt die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung durch die Gerichtsho È ffentlichen Rechts (VwGH, VfGH, AsylGH) dar. Das ist zwar eine Relativiedes o rung des Gewaltenteilungsprinzips, aber eine rechtsstaatliche Notwendigkeit. Dagegen du È rfen ± vom Fall der sukzessiven InstanzenzuÈge abgesehen ± die ordentlichen Gerichte nicht mit Aufgaben der Verwaltungskontrolle betraut werden. a) Es war daher im Licht des Art 94 B-VG verfassungswidrig, wenn Richter an Standesbeamte Weisungen erteilen konnten (VfSlg 7882/1976), wenn Entscheidungen von Jagd-Schiedsgerichten, die als Verwaltungsbeho Èrden eingerichtet sind, durch ordentliche Gerichte u È berpru È ft werden konnten (VfSlg 4836/1964) oder wenn Gerichte an bestimmte ErklaÈrungen von VerwaltungsbehoÈrden gebunden waren (VfSlg 10.300/1984). b) Ein Ausnahme vom Verbot wechselseitiger Instanzenzu È ge stellen die so genannten ¹sukzessiven ZustaÈndigkeitenª (auch: Quasi-InstanzenzuÈge) dar. Wenn ein Gesetz ausdru È cklich vorsieht, dass ein Bescheid einer Verwaltungsbeho Èrde ex lege auûer Kraft tritt, wenn er bei einem ordentlichen Gericht angefochten wird, geht man davon aus, dass das Gericht neu entscheidet und daher kein gegen Art 94 B-VG verstoûender Instanzenzug beschritten wird. Solche sukzessiven ZustaÈndigkeiten sind im Verwaltungsrecht haÈufig vorgesehen, vor allem bei der Entscheidung u È ber EntschaÈdigungen bei eigentumsbeschraÈnkenden Maûnahmen und im Sozialversicherungsrecht. Zum Teil muss die Anrufung eines Gerichts wegen Art 6 EMRK sogar verfassungsrechtlich zwingend ermoÈglicht werden; vgl dazu Rz 1580 ff. c) Art 94 B-VG schlieût es auch aus, dass einem unabhaÈngigen Richter Aufgaben u È bertragen werden, bei denen er weisungsgebunden waÈre. Davon gibt es eine ausdru È cklich vorgesehene Ausnahme, naÈmlich die Fu È hrung von Aufgaben der Justizverwaltung durch Einzelrichter (Art 87 Abs 2 B-VG). Zu diesen Justizverwaltungsaufgaben vgl Rz 827 f.
2. Art 94 B-VG trifft keine Aussage zur materiellen Gewaltentrennung zwischen 391 È berschneidungen, weil innerJustiz und Verwaltung. TatsaÈchlich gibt es zahlreiche U halb noch zu behandelnder Grenzen prinzipiell der einfache Gesetzgeber entscheiden kann, welche staatlichen Aufgaben VerwaltungsbehoÈrden und welche Aufgaben den Gerichten zugewiesen werden. So verhaÈngen die Verwaltungsbeho Èrden im Bereich des Verwaltungsstrafrechts Geld- und 392 Freiheitsstrafen, obwohl inhaltlich betrachtet die Handhabung der staatlichen Strafgewalt als Angelegenheit der Rechtsprechung angesehen werden mu È rden entÈ sste. Verwaltungsbeho scheiden vereinzelt auch u È ber privatrechtliche RechtsverhaÈltnisse (etwa wenn kollegiale Schiedsbeho È rden nach dem Jagdrecht der BundeslaÈnder durch Bescheid u È ber den Schadenersatz bei WildschaÈden befinden), obwohl an sich Schadenersatzanspru È che so wie andere zivilrechtliche Angelegenheiten in die ZustaÈndigkeit der Zivilgerichte fallen. Diese Beispiele zeigen, dass der Gesetzgeber Angelegenheiten, die inhaltlich Justizangelegenheiten sind, auch den VerwaltungsbehoÈrden zuweisen kann, so wie er auch umgekehrt die Gerichte mit gewissen Verwaltungssachen betrauen kann (etwa bei der Jugendwohlfahrt).
Allerdings gibt die Verfassung dem einfachen Gesetzgeber gewisse GrundsaÈtze ei- 393 ner materiellen Gewaltenteilung vor, weil manche Entscheidungen zwingend den Gerichten zu u È bertragen sind: . Freiheitsstrafen, die eine gewisse Dauer (3 Monate) u È bersteigen, du È rfen wegen des Grundrechts auf persoÈnliche Freiheit nicht von VerwaltungsbehoÈrden, sondern nur von Gerichten verhaÈngt werden (Art 3 PersFrG). È gensstrafen du . Auch schwere Vermo È rfen nicht im Verwaltungsstrafverfahren, sondern nur im gerichtlichen Strafverfahren als Sanktionen vorgesehen werden. Das leitet der VfGH aus den verfassungsrechtlichen Bestimmungen u È ber die ordentliche Gerichtsbarkeit (Art 91 Abs 2 und 3 B-VG) ab, die nach seiner Ansicht einen Kernbereich strafgerichtlicher ZustaÈndigkeiten voraussetzen (VfSlg
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12.151/1989). Nach dieser Judikatur wurden schon Geldstrafen u È ber ¨ 35.000,± als schwer qualifiziert. . Schlieûlich sieht Art 6 EMRK vor, dass u È ber strafrechtliche Anklagen und zivilrechtliche Anspru È che und Verpflichtungen unabhaÈngige Tribunale entscheiden mu È ssen. ¹Tribunaleª iS dieser Bestimmung sind entweder die ordentlichen Gerichte oder bestimmte unabhaÈngige VerwaltungsbehoÈrden mit ¹TribunalqualitaÈtª. Art 6 EMRK verpflichtet den Gesetzgeber daher zwar nicht zwingend zur Begru È ndung einer gerichtlichen ZustaÈndigkeit in den genannten Angelegenheiten; wenn er aber keine GerichtszustaÈndigkeit begru È ndet, muss er eine unabhaÈngige VerwaltungsbehoÈrde mit der Entscheidung betrauen (zu den Einzelheiten vgl noch unten Rz 1580 ff). Auch das laÈuft auf eine materielle Gewaltentrennung hinaus. AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zu den Abschnitten 14±15: VfSlg 2455/1952: Durch eine Verfassungsbestimmung im StaatsbuÈrgerschaftsG wurde 1945 die fru È here Landesbu È rgerschaft suspendiert, die seinerzeit eine eigenstaÈndige staatsbu È rgerschaftsrechtliche Bedeutung als Voraussetzung der Bundesbu È rgerschaft hatte. Der VfGH hatte zu pru È fen, ob die Beseitigung einer eigenstaÈndigen Landesbu È rgerschaft eine GesamtÈanderung des B-VG dargestellt hatte. Beachte die Unterschiede zu der heute in Art 6 Abs 2 B-VG geregelten Landesbu È rgerschaft! VfSlg 11.493/1987: Zur Bedeutung des Art 4 B-VG im Zusammenhang mit einem LkwNachtfahrverbot fu È r bestimmte Straûen. VfSlg 17.777/2006: Verstoûen BeschraÈnkungen bei der Abfallverbringung u È ber Landesgrenzen hinweg gegen Art 4 B-VG? VfSlg 10.452/1985: Ein Beispiel fu È r einen Instanzenzug, der gegen Art 94 B-VG verstoÈût. VfSlg 11.760/1988: Wie diese Entscheidung deutlich macht, besteht mitunter eine verfassungsrechtliche Verpflichtung eine sukzessive ZustaÈndigkeit einzurichten; vgl die Ersatzregelung in § 117 WRG idF BGBl 1988/693. VfSlg 14.361/1995: Ein Beispiel fu È r eine als schwer qualifizierte Geldstrafe (Strafdrohung von bis zu 2 Mio Schilling (ca ¨ 145.000,±) bei VerstoÈûen gegen Baumschutzbestimmungen), die den Gesetzgeber dazu zwingt, eine strafgerichtliche ZustaÈndigkeit vorzusehen. Zur Vertiefung: Zum Staatsvolk und Staatsgebiet: Azizi, Zum Verfassungsgebot der WirtÈ JZ 1985, 97, 134; schaftsgebietseinheit und zu seiner wirtschaftspolitischen Tragweite, O È sterreich (1999); Pernthaler, Land, Volk und Heimat als KaKolonovits, Sprachenrecht in O tegorien des o È sterreichischen Verfassungsrechts (1982); Schick/Wiederin, Landesbu È rgerÈ berlegungen zum Wohnsitzbeschaft, Gemeindemitgliedschaft und Bundesverfassung ± U È JZ 1998, 6; Thienel, O È sterreichische Staatsbu griff des B-VG, O È rgerschaft Bd 1 (1989), Bd 2 (1990). Zur Gewaltenteilung: Grabenwarter, Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit (1997); Korinek, Von der AktualitaÈt der Gewaltenteilungslehre, JRP 1995, 151; Mayer, È hlinger, Die È ZW 1991, 97; O Kontrolle der Verwaltung durch die ordentlichen Gerichte? O È JZ 1991, 217. Geldstrafe im Verwaltungsstrafrecht, O
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16. Die bundesstaatliche Kompetenzverteilung 16.1. Der Gegenstand der Kompetenzordnung 1. Die Kompetenzverteilung ist das Herzstu È ck einer bundesstaatlichen Verfas- 394 sungsordnung. Sie legt fest, welche Aufgaben vom Bund und welche Aufgaben von den BundeslaÈndern besorgt werden koÈnnen. Die Zuweisung von Aufgaben an die Gemeinden ist nicht Gegenstand dieser Kompetenzverteilung; auch die Gemeindeaufgaben leiten sich entweder aus Bundes- oder aus Landeskompetenzen ab. Die ZustaÈndigkeiten der jeweiligen GebietskoÈrperschaften werden als Verbandskompetenzen bezeichnet. Demgegenu È ber wird im Rahmen von Organkompetenzen festgelegt, welche Organe eines RechtstraÈgers eine bestimmte, diesem zugewiesene Aufgabe besorgen. Dass die BundeslaÈnder fu È r die Vollziehung des Staatsbu È rgerschaftsrechts zustaÈndig sind (Art 11 B-VG), begru È ndet zB eine Verbandskompetenz der LaÈnder. Dass die oÈrtlich zustaÈndige LReg im Rahmen dieser Kompetenz zur bescheidmaÈûigen Verleihung der Staatsbu È rgerschaft zustaÈndig ist, stellt eine Organkompetenz der LReg dar.
2. Gegenstand der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung sind die ZustaÈndigkeiten 395 zur Gesetzgebung und zur Verwaltung. Wenn in den Art 10±15 B-VG von der ZustaÈndigkeit zur ¹Gesetzgebung und Vollziehungª die Rede ist, mag das in gewisser Weise irrefu È hrend erscheinen, weil die Gerichtsbarkeit (die ebenfalls ein Teil der Vollziehung ist) immer in die ZustaÈndigkeit des Bundes faÈllt und daher auch nicht von der Aufteilung der Kompetenzen erfasst ist. Weil die Gerichtsbarkeit immer vom Bund ausgeht (Art 82 Abs 1 B-VG), gibt es auch ± unabhaÈngig von ihrer Bezeichnung ± nur Bundesgerichte. 3. Von der Kompetenzverteilung ausgenommen ist die Privatwirtschaftsverwal- 396 tung von Bund und LaÈndern (vgl zum Begriff der Privatwirtschaftsverwaltung Rz 657). Dies ergibt sich aus Art 17 B-VG, wo angeordnet wird, dass die Stellung des Bundes und der LaÈnder als TraÈger von Privatrechten durch die Bestimmungen der Art 10±15 B-VG u È ber die ZustaÈndigkeit in Gesetzgebung und Vollziehung nicht beru È hrt wird. Privatrechtliches Handeln der GebietskoÈrperschaften ist daher kompetenzrechtlich neutral. Das bedeutet, dass der Bund und die LaÈnder auch in Angelegenheiten, fu È r die an sich die andere GebietskoÈrperschaft zustaÈndig ist, taÈtig werden du È rfen, wenn sie keine hoheitlichen Akte setzen, sondern sich auf Maûnahmen der Privatwirtschaftsverwaltung beschraÈnken. a) Ungeachtet der hoheitlichen ZustaÈndigkeit des Bundes fu È r das Gewerberecht (Art 10 Abs 1 Z 8 B-VG) du È rfen daher die LaÈnder eine Gewerbestrukturpolitik betreiben, wenn sie keine hoheitlichen Mittel einsetzen. Umgekehrt darf zB der Bund den Sport durch privatrechtliche Subventionen fo È rdern, obwohl er fu È r den Sport nach der allgemeinen Kompetenzverteilung keine ZustaÈndigkeit besitzt. b) Wenn fu È r bestimmte Bereiche der Privatwirtschaftsverwaltung (zB KulturfoÈrderung) gesetzliche Grundlagen geschaffen werden sollen (zB ein KulturfoÈrderungsG), um die fo È rdernde Verwaltung an bestimmte Ziele und Richtlinien zu binden, stellt sich die Frage, auf welche Kompetenzgrundlage derartige Gesetze gestu È nnen. Weil die Art 10±15 B-VG auf È tzt werden ko die Privatwirtschaftsverwaltung nicht anwendbar sind, haben solche ¹Selbstbindungsgesetzeª ihre Grundlage unmittelbar in Art 17 B-VG. Sie werden als Selbstbindungsgesetze (auch: Statutargesetze) bezeichnet, weil sie nur eine interne Bindung der jeweiligen Gebietsko È rperschaft und ihrer Verwaltung begru È nden, aber keine Rechte und Pflichten fu È r die Rechtsunterworfenen. Wu È rden sie naÈmlich auûenwirksame Rechte oder Pflichten statuieren, du È rften sie als hoheitliche Regelungen nur im Rahmen der Kompetenzverteilung erlassen werden. c) Verfassungspolitisch ist es nicht immer unproblematisch, dass Bund und LaÈnder mit Maûnahmen der Privatwirtschaftsverwaltung gleichsam in den ZustaÈndigkeitsbereich der anderen Gebietsko È rperschaft eindringen und im Èauûersten Fall sogar die Wirksamkeit hoheitlicher Regelungen konterkarieren koÈnnen, die von der zustaÈndigen GebietskoÈrperschaft getroffen wurden. Andererseits ermoÈglicht die KompetenzneutralitaÈt der Privatwirtschaftsverwaltung
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ein flexibles Agieren der oÈffentlichen Hand und eine Koordination der Verwaltungen von Bund und LaÈndern mit Mitteln des Privatrechts jenseits der strikten Grenzen der Kompetenzordnung (zB gemeinsame Einrichtungen zur Erfu È llung u È bergreifender Verwaltungsaufgaben auf privatrechtlicher Grundlage).
397 4. Die geltende Kompetenzverteilung ist unu È bersichtlich, wenig flexibel und in vielen Punkten nicht mehr zeitgemaÈû. Auf bestimmte Aufgaben des modernen Staates (zB Wirtschaftslenkung) nimmt die auf das Jahr 1920 und weitgehend sogar noch auf die Monarchie zuru È ckgehende Kompetenzordnung keine Ru È cksicht. Bei vielen Lebensbereichen, fu È r die eine einheitliche RegelungszustaÈndigkeit zweckmaÈûig waÈre (zB Umweltschutz), gibt es zwischen dem Bund und den LaÈndern aufgeteilte, zersplitterte ZustaÈndigkeiten. Das erschwert sinnvolle LoÈsungen. Mehrfache ReformanlaÈufe zu einer Bereinigung und Strukturreform haben bisher zu keinen greifbaren Ergebnissen gefu È hrt (zu den ReformerwaÈgungen vgl Rz 173). Um die Problematik an einem verhaÈltnismaÈûig einfachen Beispiel zu erlaÈutern: Das in einer industrialisierten Gesellschaft nicht unwichtige Anliegen des Schutzes vor LaÈrm kann bei der gegebenen Kompetenzverteilung nicht von einem Gesetzgeber geregelt werden, weil die entsprechenden Verantwortlichkeiten zwischen dem Bund und den LaÈndern nach einem problematischen Kriterium aufgeteilt sind: Die ZustaÈndigkeit fu È r die LaÈrmbekaÈmpfung richtet sich naÈmlich nach der Quelle des LaÈrms, so dass es gleichsam einen ¹BundeslaÈrmª gibt (zB LaÈrm von Kfz oder von Gewerbebetrieben), fu È r den der Bundesgesetzgeber, und einen ¹LandeslaÈrmª (zB von Baustellen ausgehender LaÈrm), fu È r den der Landesgesetzgeber zustaÈndig ist (vgl VfSlg 6262/1970). Abgestimmte Lo È sungen sind auf dieser Grundlage schwer realisierbar.
16.2. Die Kompetenzhoheit 398 1. Die bundesstaatliche Kompetenzverteilung wird durch die Bundesverfassung festgelegt. Daher liegt auch die Kompetenzhoheit oder Kompetenz-Kompetenz beim Bundesverfassungsgesetzgeber: Er ist befugt durch verfassungsaÈnderndes Gesetz die Kompetenzen festzulegen und zu veraÈndern. Damit kann der NR, also ein Bundesorgan, mit verfassungsaÈndernder Mehrheit u È ber Kompetenzverschiebungen È bergewicht des Bundes beitraÈgt. Komentscheiden, was mit zu dem konstatierten U petenzverschiebungen zu Lasten der BundeslaÈnder bedu È rfen allerdings der qualifizierten Zustimmung des BR (Art 44 Abs 2 B-VG), der in diesem Fall somit ein u È ber seine sonstigen Befugnisse hinausgehendes Mitwirkungsrecht hat (vgl dazu Rz 620). In der politischen Praxis stellt das allerdings kein wesentliches Hindernis dar, wenn eine entsprechend gewichtige politische Mehrheit die Kompetenzverschiebung tatsaÈchlich anstrebt. 399 In EinzelfaÈllen kann die Kompetenzhoheit auch dem einfachen Bundesgesetzgeber zufal-
len. Das gilt fu È r den Bereich der Finanzverfassung (vgl Rz 447), fu È r die FaÈlle der Bedarfsgesetzgebung (dazu Rz 421) oder die Bundesstraûenkompetenz des Bundes (Art 10 Abs 1 Z 9 B-VG: Bundeskompetenz fu È r die durch BG zu Bundesstraûen erklaÈrten Straûenzu È ge; dh die Kompetenz wird durch den einfachen Bundesgesetzgeber begru È ndet).
400 2. Weil dem Bundesverfassungsgesetzgeber die Kompetenzhoheit zukommt, kann er auch im Einzelfall die gegebene Kompetenzordnung durchbrechen und fu È r ein bestimmtes Gesetz dem Bund die an sich fehlende ZustaÈndigkeit verschaffen. Das geschieht idR durch eigene Verfassungsbestimmungen am Beginn des jeweiligen Gesetzes, durch die angeordnet wird, dass ¹die Erlassung und Aufhebung von Vorschriften, wie sie in diesem Bundesgesetz enthalten sind, Bundessache in Gesetzgebung und Vollziehung sindª. Solche Verfassungsbestimmungen werden ¹Kompetenzdeckungsklauselnª genannt. Vgl als Beispiele fu È r Kompetenzdeckungsklauseln etwa Art I PreisG, § 1 MOG 2007, § 2 DSG. Es sind vor allem die MaÈngel der gegebenen Kompetenzverteilung, die zu dieser Praxis gefu È hrt haben. Sie ist mit verantwortlich fu È r die bedauerliche Zersplitterung und Unu È bersicht-
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lichkeit des geltenden Bundesverfassungsrechts. HaÈufig sind solche Verfassungsbestimmungen befristet, so dass ihre VerlaÈngerung und damit die Fortgeltung der betreffenden Regelung jeweils zum Gegenstand politischer Verhandlungen gemacht werden muss.
16.3. Die allgemeine Kompetenzverteilung der Art 10, 11, 12 und 15 B-VG Die wichtigsten Kompetenzfestlegungen trifft das B-VG im Rahmen der allgemei- 401 nen Kompetenzverteilung in den Art 10, 11, 12 und 15 B-VG, wo vier Haupttypen der Kompetenzzuordnung vorgesehen sind. Im juristischen Jargon wird oft nur von ¹Artikel-10-Materienª oder ¹Artikel-12-Materienª gesprochen, wenn man sich auf die hier geregelten KompetenztatbestaÈnde bezieht. Daneben gibt es noch weitere, u È ber das gesamte Bundesverfassungsrecht verstreute Kompetenzregelungen. 16.3.1. Die Systematik der allgemeinen Kompetenzverteilung Die allgemeine Kompetenzverteilung beruht auf einer Generalklausel zu Gunsten 402 der LaÈnder mit einer enumerativen (abschlieûenden) AufzaÈhlung der BundeszustaÈndigkeiten. Dieses System ergibt sich aus der bundesstaatlichen Generalklausel des Art 15 B-VG, wonach Angelegenheiten im selbstaÈndigen Wirkungsbereich der LaÈnder verbleiben, soweit sie nicht ausdru È cklich durch die Bundesverfassung der Gesetzgebung oder Vollziehung des Bundes u È bertragen wurden. Das bedeutet: Wenn die Bundesverfassung durch eine ausdru È ckliche Kompetenzzuweisung eine ZustaÈndigkeit des Bundes zur Gesetzgebung und/oder Vollziehung begru È ndet, ist der Bund zustaÈndig. Ansonsten, dh beim Fehlen einer ausdru È cklichen Zuweisung an den Bund, sind die LaÈnder nach Art 15 B-VG zur Gesetzgebung und Vollziehung zustaÈndig. Nicht in der Bundesverfassung namentlich angefu È hrte und dem Bund zugewiesene Angelegenheiten fallen daher auf Grund der Generalklausel in die LaÈnderzustaÈndigkeit, ohne dass es einer ausdru È cklichen Kompetenzzuweisung bedu È rfte. a) Wenn daher zu klaÈren ist, welcher Gesetzgeber zur Erlassung einer Regelung auf dem Ge- 403 biet des Jagdrechts (zB Schutz des BraunbaÈren) zustaÈndig ist, muss zunaÈchst gepru È ft werden, ob die GesetzgebungszustaÈndigkeit fu È r jagdrechtliche Angelegenheiten durch eine Verfassungsbestimmung dem Bund zugewiesen ist. Man wird daher in erster Linie die KompetenztatbestaÈnde der Art 10, 11 und 12 B-VG durchmustern. Wenn weder hier noch in einer anderen Verfassungsbestimmung dem Bund die ZustaÈndigkeit zur Gesetzgebung auf dem Gebiet des Jagdrechts zugewiesen wird, sind dafu È r die LaÈnder nach Art 15 B-VG zustaÈndig. Die LaÈnder haben damit eine Art ¹Auffangkompetenzª. È - 404 b) Die Generalklausel zu Gunsten der LaÈnder vermittelt den Eindruck einer ausgesprochen fo È sung der Kompetenzfrage. Weil sich aber der Bund durch ausdru deralistischen Lo È ckliche Kompetenzzuweisung zahlreiche und politisch gewichtige Kompetenzen vorbehalten hat, bleiben tatsaÈchlich fu È r die LaÈnder nicht allzu viele wichtige Kompetenzen u È brig. Die Generalklausel Èandert daher nichts an der ¹Bundeslastigkeitª der Kompetenzverteilung.
16.3.2. Art 10 B-VG: Gesetzgebung und Vollziehung Bundessache 1. Art 10 B-VG zaÈhlt jene Angelegenheiten auf, die in Gesetzgebung und Vollzie- 405 hung Bundessache sind. Wenn daher in Art 10 Abs 1 Z 10 B-VG der Kompetenztatbestand ¹Wasserrechtª aufscheint, bedeutet das, dass der Bundesgesetzgeber fu È r die Erlassung eines Wasserrechtsgesetzes zustaÈndig ist und auch die Vollziehung dieses Gesetzes Sache des Bundes ist. Die Vollziehung der Artikel-10-Materien kann dabei durch Gerichte (zB im Straf- und Zivilrechtswesen), durch eigene BundesbehoÈrden
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(zB im Fall der Sicherheitspolizei) oder im Wege der mittelbaren Bundesverwaltung durch LandesbehoÈrden (zB im Gewerberecht) erfolgen, wobei es sich auch im letzten Fall um Bundesvollziehung handelt (vgl zur mittelbaren Bundesverwaltung Rz 721 ff). 406 Art 10 B-VG ist ein sehr umfangreicher Kompetenzkatalog, der zahlreiche und wichtige Materien ± gegliedert in sachlich zusammengehoÈrige Gruppen ± dem Bund in Gesetzgebung und Vollziehung zuweist. Wer Art 10 B-VG durchliest, wird unschwer erkennen ko Ènnen, dass die wichtigsten Staatsaufgaben dem Bund zugewiesen sind. Hier wird nur auf einige wenige Angelegenheiten exemplarisch hingewiesen; um die Kompetenzordnung genauer zu erfassen, sollte der Art 10 B-VG durchgearbeitet werden, der rd 100 KompetenztatbestaÈnde enthaÈlt: . Bundesfinanzen, Geld-, Kredit- und Bankwesen . Zivilrechtswesen und Strafrechtswesen, dh das gesamte Justizrecht . Aufrechterhaltung der oÈffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit (allgemeine Sicherheitspolizei) und andere Materien der Sicherheitsverwaltung (zB Fremdenpolizei, Vereins- und Versammlungsrecht) . Gewerberecht und Verkehrswesen . Bergwesen, Forstwesen, Wasserrecht . Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrecht . Gesundheitswesen und wichtige Materien des Umweltschutzes (freilich nicht ausschlieûlich!)
407 2. In bestimmten Angelegenheiten (vor allem in den in Art 10 Abs 1 Z 10 B-VG angefu È hrten) kann der Bundesgesetzgeber den Landesgesetzgeber zur Erlassung von Ausfu È hrungsbestimmungen zu einzelnen genau bezeichneten Bestimmungen des Bundesgesetzes ermaÈchtigen (Art 10 Abs 2 B-VG). Das ermo È glicht laÈnderspezifische Regelungen im Rahmen einer Bundeskompetenz. So sieht zB das ForstG (§ 42) vor, dass durch LG naÈhere Regelungen u È ber die WaldbrandbekaÈmpfung erlassen werden koÈnnen. Die Vollziehung bleibt aber auch in solchen Angelegenheiten Bundessache. 16.3.3. Art 11 B-VG: Gesetzgebung Bundessache, Vollziehung Landessache 408 1. Art 11 B-VG zaÈhlt jene Angelegenheiten auf, in denen die Gesetzgebung Bundessache und die Vollziehung Landessache ist. Wenn daher in Art 11 Abs 1 Z 1 die Verwaltungsmaterie ¹Staatsbu È rgerschaftª angefu È hrt ist, bedeutet das, dass das StbG vom Bundesgesetzgeber zu erlassen (abzuaÈndern) ist, dass aber die Vollziehung dieses Gesetzes im autonomen (selbstaÈndigen) Wirkungsbereich der LaÈnder erfolgt. Weil die Vollziehung in den selbstaÈndigen Wirkungsbereich der LaÈnder faÈllt, sind diese dabei an keine Weisungen des Bundes gebunden. Die Erlassung von Durchfu È hrungsVO in diesen Angelegenheiten (das waÈre an sich eine Angelegenheit der Vollziehung!) faÈllt nach Art 11 Abs 3 B-VG ebenfalls in die BundeszustaÈndigkeit. Daher wurde auch die Staatsbu È rgerschaftsVO, die naÈhere Regelungen zum StbG enthaÈlt, vom zustaÈndigen BM erlassen. 409 Die wichtigsten ¹Artikel-11-Materienª sind: . Staatsbu È rgerschaft . Straûenpolizei . Binnenschifffahrt und Schifffahrtspolizei (aber nur fu È r gewisse GewaÈsser) . UmweltvertraÈglichkeitspru È fung fu È r bestimmte Vorhaben und ihre Genehmigung . Tierschutz (mit Ausnahme der Ausu È bung der Jagd und Fischerei)
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2. Eine sehr wichtige ZustaÈndigkeit nach Art 11 B-VG stellt der Kompetenztatbe- 410 stand fu È r die Verwaltungsverfahrensgesetze dar (Art 11 Abs 2 B-VG). GrundsaÈtzlich ist die Regelung des Verwaltungsverfahrens und des Verwaltungsstrafrechts eine so genannte Annexmaterie, dh dass der zur Regelung einer Verwaltungsmaterie (zB Baurecht) zustaÈndige Gesetzgeber auch das entsprechende Verfahrensrecht und Verwaltungsstrafrecht regeln darf. Daher du È rfte zB der Landesgesetzgeber, der nach Art 15 B-VG fu È r das Baurecht zustaÈndig ist, auch das Bauverfahren regeln. Weil eine allzu groûe Zersplitterung des Verwaltungsverfahrensrechts aber sehr nachteilig waÈre (zB ganz unterschiedliche Fristen fu È r Berufungen), sieht Art 11 Abs 2 B-VG eine BundeszustaÈndigkeit vor, soweit der Bundesgesetzgeber ein Bedu È rfnis fu Èr die Erlassung einheitlicher Vorschriften als vorhanden erachtet. Dabei handelt es sich um die folgenden Angelegenheiten: . . . .
Verwaltungsverfahren allgemeine Bestimmungen des Verwaltungsstrafrechts Verwaltungsstrafverfahren Verwaltungsvollstreckung
a) Die Kompetenz nach Art 11 Abs 2 B-VG stellt einen Fall einer Bedarfsgesetzgebung dar. 411 Der Bundesgesetzgeber darf einheitliche Vorschriften erlassen, wenn er einen Bedarf fu È r eine einheitliche Regelung bejaht. Ob ein Bedarf besteht, beurteilt der Bundesgesetzgeber. Soweit ein solcher Bedarf nicht besteht und einheitliche bundesgesetzliche Regelungen nicht erlassen werden, bleibt es bei der allgemeinen ZustaÈndigkeitsverteilung; Bund und LaÈnder du È rfen im nicht einheitlich geregelten Bereich selbstaÈndige Regelungen zum Verwaltungsverfahren erlassen. Auf der Grundlage dieses Kompetenztatbestands wurden die Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetze (EGVG, AVG, VStG, VVG) erlassen, die einen ganz wesentlichen Beitrag È sterreich geleistet haben. zur Verwaltungsvereinfachung in O b) Sind einheitliche Regelungen vom Bundesgesetzgeber erlassen worden, du È rfen der Bundes- 412 gesetzgeber und die Landesgesetzgeber davon abweichende Regelungen nur dann erlassen, wenn sie ¹zur Regelung des Gegenstandes erforderlich sindª. Abweichende Regelungen (zB verku È rzte oder verlaÈngerte Berufungsfristen, andere Fristen fu È r die VollstreckungsverjaÈhrung usw) sind daher zwar moÈglich, aber nur unter der Bedingung ihrer Erforderlichkeit. Nach der Judikatur des VfGH muss die abweichende Regelung durch besondere UmstaÈnde gerechtfertigt und unerlaÈsslich sein (VfSlg 8583/1979, 13.723/1994).
16.3.4. Art 12 B-VG: Grundsatzgesetzgebung Bundessache, Ausfu È hrungsgesetzgebung und Vollziehung Landessache Bei den von Art 12 B-VG erfassten Materien erlaÈsst der Bund Grundsatzgesetze, 413 durch die Grundzu È ge der jeweiligen Regelung festgelegt werden sollen; die LaÈnder erlassen darauf gestu È hrungsgesetze und sind fu È tzte Ausfu È r die Vollziehung in diesen Bereichen zustaÈndig. Dementsprechend gibt es zB ein KrankenanstaltenG des Bundes, das bestimmte GrundsaÈtze festlegt (zB Bewilligungspflicht fu È r die Errichtung und den Betrieb von Krankenanstalten), die durch die neun KrankenanstaltenG der BundeslaÈnder naÈher ausgefu È hrt werden (zB naÈhere Regelungen u È ber die Bewilligungsvoraussetzungen). Die wichtigsten Materien des Art 12 B-VG sind: . . . .
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Armenwesen, dh Sozialhilfe Heil- und Pflegeanstalten, Jugendfu È rsorge Bodenreform ElektrizitaÈtswesen
a) Bundes-Grundsatzgesetze koÈnnen eine Frist festlegen, innerhalb derer die Ausfu È hrungsge- 415 setze zu erlassen bzw zu Èandern sind. Zu den Rechtsfolgen einer nicht fristgerechten Erlassung
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(Devolution an den Bund) und zu den Fristen vgl die naÈheren Regelungen in Art 15 Abs 6 B-VG. Solange der Bundesgesetzgeber keine GrundsaÈtze erlassen hat, du È rfen die LaÈnder diese Angelegenheiten frei regeln. Dies ist zB bei der Sozialhilfe der Fall, wo die LaÈnder in Ermangelung eines Bundes-Grundsatzgesetzes diese Materie nach ihren eigenen rechtspolitischen Vorstellungen frei gestaltet haben. Nach der Erlassung eines Grundsatzgesetzes sind die LG an dieses anzupassen; geschieht das nicht, werden sie nach Ablauf einer gesetzten Frist verfassungswidrig (Invalidation).
416 b) Die Grundsatzbestimmungen sind als solche ausdruÈcklich zu bezeichnen (Art 12 Abs 4
B-VG). Grundsatzgesetze des Bundes du È rfen bei sonstiger Verfassungswidrigkeit nicht so weit ins Einzelne gehen, dass den LaÈndern kein Spielraum zur Ausfu È hrung bleibt; die praÈzise Abgrenzung zwischen Grundsatz- und Detailregelungen ist nicht einfach. In der Praxis sind die bundesgesetzlich festgelegten GrundsaÈtze mitunter sehr detailliert; haÈufig nutzen aber auch die LaÈnder den ihnen zukommenden Spielraum nur sehr begrenzt. Bloûe Grundsatzgesetze sind jedenfalls nicht unmittelbar anwendbar, dh ohne die Erlassung eines Ausfu È hrungsgesetzes ko È nnen keine Verwaltungsakte gesetzt werden.
16.3.5. Art 15 B-VG: Gesetzgebung und Vollziehung Landessache 417 Nach der Generalklausel des Art 15 B-VG sind alle Angelegenheiten, die nicht ausdru È cklich dem Bund zugewiesen wurden, in Gesetzgebung und Vollziehung Landessache. Der Systematik dieser Regelung entsprechend sind die einzelnen Landeskompetenzen im B-VG nicht aufgezaÈhlt; abgesehen von einzelnen demonstrativen Hinweisen auf bestimmte ZustaÈndigkeiten der LaÈnder (zB Art 15 Abs 3 B-VG) lassen sich die wichtigsten Landeskompetenzen daher nur beispielhaft anfu È hren: 418 . Bauwesen, oÈrtliche Raumplanung und Grundverkehrsrecht . Theater- und Kinowesen, Veranstaltungswesen . oÈrtliche Sicherheitspolizei, Jugendschutz . Jagd- und Fischereiwesen, Naturschutz . Fremdenverkehr, Sport
419 Neu auftauchende Verwaltungsmaterien muÈssten, der Generalklausel entsprechend,
grundsaÈtzlich in die LandeszustaÈndigkeit fallen. HaÈufig sind sie aber von einer ZustaÈndigkeit des Bundes mit umfasst oder stellen eine systematische Weiterentwicklung einer gegebenen BundeszustaÈndigkeit dar (zum Prinzip der intrasystematischen Fortentwicklung vgl Rz 433).
16.3.6. SonderfaÈlle Im Rahmen der allgemeinen Kompetenzverteilung gibt es einige besondere Konstellationen. Auf die wichtigsten SonderfaÈlle wird hier hingewiesen: 420 a) LandeszustaÈndigkeit in Straf- und Zivilrechtssachen: Fu È r zivilrechtliche Regelungen und das Justizstrafrecht (dh das von den Gerichten zu vollziehende Strafrecht) ist nach Art 10 Abs 1 Z 6 B-VG der Bund in Gesetzgebung und Vollziehung zustaÈndig. Wenn es allerdings fu È r die Regelung einer landesrechtlichen Materie erforderlich ist, du È rfen die LaÈnder auch einzelne gesetzliche Bestimmungen auf dem Gebiet des Straf- und Zivilrechts erlassen (Art 15 Abs 9 B-VG; diese ErmaÈchtigung wird ± zuru È ckgehend auf einen Reichsratsabgeordneten, der ihr ¹Erfinderª war ± als ¹Lex Starzynskiª bezeichnet). Deshalb darf zB der Landesgesetzgeber grundbuchsrechtliche Bestimmungen im Zusammenhang mit dem Jagdrecht treffen oder du È rfte er fu È r schwere Delikte einen gerichtlichen Straftatbestand vorsehen. Nach der Judikatur muss die fragliche zivil- oder strafrechtliche Bestimmung in einem rechtstechnischen Zusammenhang mit der verwaltungsrechtlichen Regelung stehen, damit die Notwendigkeit iS von Art 15 Abs 9 B-VG bejaht werden kann (VfSlg 9906/1983, 13.322/1992).
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b) Bedarfsgesetzgebung: Von einer Bedarfsgesetzgebung spricht man, wenn eine 421 einheitliche bundesrechtliche Regelung dann erlassen werden darf, wenn der Bundesgesetzgeber ein Bedu È rfnis nach dem Erlass einer solchen einheitlichen Regelung fu È r gegeben ansieht. Auf das Beispiel der Bedarfskompetenz fu È r die Verwaltungsverfahrensgesetze (Art 11 Abs 2 B-VG) wurde schon hingewiesen (Rz 410). Weitere FaÈlle einer Bedarfskompetenz zu Gunsten des Bundes sind: Regelungen, die aus Anlass eines Krieges oder als Folge eines Krieges fu È r notwendig angesehen werden (Art 10 Abs 1 Z 15 B-VG: so genannter Kriegsfolgentatbestand), die Genehmigung von Vorhaben mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt, die einer UmweltvertraÈglichkeitspru È fung unterzogen werden (Art 11 Abs 1 Z 7 B-VG), die Erlassung einheitlicher Emissionsgrenzwerte fu È r Luftschadstoffe (Art 11 Abs 5 B-VG). c) Annexmaterien: In gewissen FaÈllen zieht eine Sachmaterie nach der Art eines 422 Annexes gewisse ergaÈnzende ZustaÈndigkeiten nach sich. Der fu È r die Sachmaterie (zB Forstwesen, Baurecht) zustaÈndige Gesetzgeber ist auch zustaÈndig, das entsprechende Verwaltungsverfahren (zB Verfahren der Rodungsbewilligung, Baubewilligungsverfahren) in den Grenzen des Art 11 Abs 2 B-VG zu regeln, VerwaltungsstraftatbestaÈnde aufzustellen (zB Bestrafung von illegalen Baufu È hrungen) und die mit der Materie zusammenhaÈngenden EnteignungstatbestaÈnde (zB Enteignung zur Schaffung von Bauland) zu erlassen. d) Querschnittsmaterien: Mitunter wird ein bestimmter Lebenssachverhalt (zB 423 LaÈrmbekaÈmpfung oder Umweltschutz) von mehreren KompetenztatbestaÈnden abgedeckt, die sich dem Gegenstand unter verschiedenen Gesichtspunkten zuwenden. In einem solchen Fall gibt es daher keine einheitliche RegelungszustaÈndigkeit, vielmehr sind zwangslaÈufig mehrere Gesetzgeber unter jeweils unterschiedlichem Aspekt fu È r die Angelegenheit zustaÈndig. Weil fu È r eine einheitliche Regelung weder der Bund noch die LaÈnder zustaÈndig sind, hat man diese Materien auch ¹komplexe Materienª genannt. Auf das Beispiel der BekaÈmpfung von LaÈrm als einer typischen Querschnittsmaterie wurde schon oben Rz 397 hingewiesen. Ein anderes auch praktisch wichtiges Beispiel stellt die Raumordnung (planende Gestaltung des Lebensraums) dar. WaÈre Raumordnung ein eigenstaÈndiger Kompetenztatbestand, mu È sste diese Angelegenheit ± weil eine ausdru È ckliche BundeszustaÈndigkeit nicht besteht ± an sich unter die Generalklausel des Art 15 B-VG und damit in die Kompetenz der LaÈnder fallen. Weil Raumordnung nach Ansicht des VfGH aber eine Querschnittsmaterie (¹komplexe Materieª) ist, ergibt sich die ZustaÈndigkeit zur Raumordnung aus der ZustaÈndigkeit zur Regelung der jeweiligen Verwaltungsmaterie (VfSlg 2674/1954). Die Bundesstraûenkompetenz des Bundes zieht daher die ZustaÈndigkeit zur Planung von Bundesstraûen, die Forstrechtskompetenz des Bundes die ZustaÈndigkeit zur forstlichen Raumplanung nach sich, so wie die LaÈnder unter dem Gesichtspunkt des Baurechts fu È r die bauliche Bodennutzungsplanung zustaÈndig sind. Weitere typische Querschnittsmaterien sind: Umweltschutz, Katastrophenschutz, umfassende Landesverteidigung. Die Problematik der Querschnittsmaterien liegt im Fehlen einer einheitlichen Verantwortlichkeit. Da kein Gesetzgeber fu È r das Sachproblem umfassend zustaÈndig ist, kann es zu widerspru È chlichen Regelungen kommen oder zu Regelungsdefiziten, wenn sich letztlich niemand zustaÈndig fu È hlt. e) Weitere SonderfaÈlle im Rahmen der allgemeinen Kompetenzordnung sind: ZustaÈndigkeiten 424 zur paktierten Gesetzgebung, dh dass eine bestimmte Regelung auf u È bereinstimmende Gesetzgebungsakte des Bundes und der LaÈnder angewiesen ist. Das wichtigste Beispiel dafu Èr È bertragung von straûenpolizeilichen sind GrenzaÈnderungen nach Art 3 Abs 3 B-VG und die U Aufgaben an BPolDion nach Art 15 Abs 4 B-VG. Nach Art 15 Abs 5 B-VG ist bei bundeseigeÈ ffentlichen Zwecken dienen (zB Kasernen), der Bund zur Vollzienen GebaÈuden, die o hung der vom Land als Gesetzgeber erlassenen baurechtlichen Regelungen zustaÈndig.
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16.4. Besondere Kompetenzordnungen 425 Die allgemeine Kompetenzverteilung der Art 10, 11, 12 und 15 B-VG umfasst die meisten staatlichen Aufgaben. Sie wird durch einzelne besondere KompetenztatbestaÈnde ergaÈnzt: So regelt Art 14 B-VG ausfu È hrlich die ZustaÈndigkeiten zur Gesetzgebung und Vollziehung auf dem Gebiet des Schulwesens. In diesem Zusammenhang gibt es eine Generalklausel zu Gunsten des Bundes, fallen die enumerativ aufgezaÈhlten Angelegenheiten in die ZustaÈndigkeit der LaÈnder und gibt es ebenfalls FaÈlle der Grundsatz- und Ausfu È hrungsgesetzgebung nach dem Vorbild des Art 12 B-VG. Fu Èr das land- und forstwirtschaftliche Schulwesen regelt Art 14a B-VG die Kompetenzen unter staÈrkerer Betonung der LaÈnderzustaÈndigkeiten. Die ZustaÈndigkeitsverÈ ffentlicher AuftraÈge enthaÈlt Art 14b B-VG, teilung fu È r das Recht der Vergabe o wo ebenfalls eine Generalklausel zu Gunsten der Gesetzgebung des Bundes vorgesehen ist; die LaÈnder sind vor allem fu È r die gesetzliche Regelung des Nachpru È fungsverfahrens bei LaÈnderauftraÈgen zustaÈndig. Die ZustaÈndigkeit zur Vollziehung richtet sich nach dem Auftraggeber (Bund bei AuftraÈgen des Bundes und von dem Bund nahe stehenden Einrichtungen oder Unternehmen, Land bei AuftraÈgen des Landes und der Gemeinden bzw diesen nahe stehenden Einrichtungen und Unternehmen). Die ZustaÈndigkeitsverteilung fu È r das Gemeinderecht findet sich in Art 115 Abs 2 B-VG: Danach regeln die LaÈnder das Gemeindeorganisationsrecht, die ZustaÈndigkeit zur Regelung der Gemeindeaufgaben richtet sich nach der allgemeinen Kompetenzverteilung (vgl dazu noch Rz 781). 426 Die ZustaÈndigkeitsverteilung fu È r den Bereich des Abgabenwesens (Steuern und Gebu È hren) findet sich in einem eigenen BVG, dem Finanz-Verfassungsgesetz (F-VG), auf das Art 13 B-VG verweist. Darauf wird im Kapitel u È ber die Finanzverfassung eingegangen (Rz 440 ff).
16.5. Interpretation der Kompetenzbestimmungen 427 1. Die einzelnen KompetenztatbestaÈnde beschraÈnken sich auf knappe Begriffe, die nicht naÈher definiert werden (zB ¹Bergwesenª). Wenn nun eine bestimmte ZustaÈndigkeit fraglich ist, muss geklaÈrt werden, ob sie unter einen bzw unter welchen Kompetenztatbestand sie faÈllt: Ist zB der Bundesgesetzgeber im Rahmen seiner Gewerberechtskompetenz dafu È r zustaÈndig, verbindliche Vorschriften u È ber die Energieeinsparung bei gewerblich vertriebenen Produkten (zB Waschmaschinen) zu erlassen? Das haÈngt offensichtlich davon ab, ob eine solche Regelung unter den Kompetenztatbestand ¹Angelegenheiten des Gewerbes und der Industrieª (Art 10 Abs 1 Z 8 B-VG) faÈllt. Dazu muss dieser Kompetenztatbestand ausgelegt werden. 428 Fu È r diese Interpretationsaufgabe hat der VfGH ganz bestimmte Interpretationsmethoden entwickelt, die auch als ¹Kompetenztheorienª bezeichnet werden. Ihre Kenntnis und sachgerechte Anwendung ist unerlaÈsslich, um die Kompetenzfragen oder Kompetenzstreitigkeiten juristisch einwandfrei zu klaÈren. 429 2. Die wichtigste Methode zur Auslegung der Kompetenzbestimmungen ist die ¹Versteinerungstheorieª. Sie ist in erster Linie heranzuziehen, wenn es darum geht, die Reichweite eines bestimmten Kompetenztatbestands abzugrenzen. Nach der Versteinerungstheorie kommt den in der Kompetenzverteilung enthaltenen Begriffen jene Bedeutung zu, die sie nach dem Stand und der Systematik der einfachgesetzlichen Rechtsordnung zum Zeitpunkt ihres In-Kraft-Tretens hatten. Wenn es also darum geht festzustellen, was unter den Begriff des ¹Forstwesensª in Art 10 Abs 1 Z 10 B-VG faÈllt, ist das anhand des einfachgesetzlichen Forstrechts festzustellen, das zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens dieses Kompetenztatbestands in Geltung
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stand; nachdem dieser Kompetenztatbestand am 1.10.1925 in Kraft getreten ist, muss daher sein Begriffsinhalt nach Maûgabe der Regelungen des 1925 geltenden Forstgesetzes bestimmt werden, das war das Forstgesetz aus dem Jahr 1852. a) Um dies am Beispiel der ¹Heurigenbuffetsª und ihrer kompetenzrechtlichen Einordnung zu 430 erklaÈren: Die Regelung des Buschenschankwesens (also von Heurigenlokalen) faÈllt grundsaÈtzlich in die ZustaÈndigkeit der LaÈnder nach Art 15 B-VG, weil diese Materie nicht in den Art 10 bis 12 B-VG aufgezaÈhlt ist. Zu klaÈren ist freilich, wie sich ein Buschenschankbetrieb von einem normalen Gasthaus abgrenzen laÈsst, was deshalb notwendig ist, weil Gastgewerbebetriebe unter die ¹Angelegenheiten des Gewerbesª nach Art 10 Abs 1 Z 8 B-VG und daher in die Bundeskompetenz fallen. KlaÈrungsbedu È rftig ist also der genaue Inhalt der Gewerberechtskompetenz, etwa im Hinblick auf die Problematik, ob die Verabreichung von warmen Speisen an einem Heurigenbuffet eher als Angelegenheit des Buschenschankwesens (dann Landeskompetenz) oder nicht doch als Angelegenheit des (Gast-)Gewerbes (dann Bundeskompetenz) È ber diese Frage koÈnnte man unter verschiedenen Gesichtspunkten spekulieanzusehen ist. U ren und sachlich koÈnnte es Argumente fu È r beide LoÈsungen geben. Auf der Grundlage der Versteinerungstheorie kommt es auf solche ErwaÈgungen nicht an. Vielmehr ist die Gewerbeordnung 1859 (die zum 1.10.1925 in Kraft stand) heranzuziehen und zu pru È fen, von welchem BegriffsverstaÈndnis die in ihr enthaltenen Regelungen ausgehen. Es zeigt sich, dass das Buschenschankwesen von den gewerberechtlichen Regelungen ausgenommen war und dass damals den BuschenschaÈnkern neben dem Ausschank selbsterzeugter GetraÈnke (Wein, Most, Traubenund Obstsaft) auch die Verabreichung kalter Speisen erlaubt war. Andererseits ergibt sich aus diesen zum Versteinerungszeitpunkt geltenden Regelungen, dass die Verabreichung warmer Speisen nur auf der Grundlage einer entsprechenden Gewerbeberechtigung erlaubt war. Verabreicht also ein Heurigenwirt warme Speisen, faÈllt diese AktivitaÈt unter den Kompetenztatbestand des (Gast-)Gewerbes. Entsprechende Regelungen zu erlassen ist daher eine Sache der Gewerberechtskompetenz des Bundes (VfSlg 17.000/2003). b) Der ¹Versteinerungszeitpunktª ist in vielen FaÈllen der 1.10.1925, an dem die allgemeine 431 Kompetenzverteilung des B-VG in Kraft gesetzt wurde. Daher ist die einfachgesetzliche Rechtslage, die zu diesem Zeitpunkt in Geltung stand, als ¹Versteinerungsmaterialª zur Bestimmung der meisten KompetenztatbestaÈnde heranzuziehen. Ist ein Kompetenztatbestand spaÈter in Kraft getreten (zB ¹UmweltvertraÈglichkeitspru È fungª in Art 11 Abs 1 Z 7 B-VG, in Kraft getreten durch BGBl 1993/508 mit Wirkung vom 1.7.1994), kann es auch einen spaÈteren Versteinerungszeitpunkt geben. c) Die Versteinerungstheorie ist eine Spielart einer historisch-systematischen Interpreta- 432 tion. Anders als bei einer nur historischen Interpretation kommt es freilich nicht auf irgendwelche Materialien oder die Absichten des historischen Gesetzgebers an. Strikt angewandt ist einzig und allein die zum Versteinerungszeitpunkt in Geltung stehende einfachgesetzliche Rechtslage dafu È r maûgeblich, den typischen Begriffsinhalt der KompetenztatbestaÈnde festzustellen.
Nachdem der Versteinerungszeitpunkt fu È r die meisten KompetenztatbestaÈnde der 433 1.10.1925 ist, bestu È nde die Problematik, dass bei neuen Materien oder neuen Regelungsbedu È rfnissen (zB Gentechnologie), fu È r die es seinerzeit gar keine Rechtsvorschriften gegeben hat, immer die Generalklausel des Art 15 B-VG und damit die LandeszustaÈndigkeit zum Tragen kaÈme. Bei der Handhabung der Versteinerungstheorie kommt es allerdings nicht auf alle Einzelheiten der historischen Rechtslage an, vielmehr werden die typischen Rechtsgehalte ¹versteinertª. Nach diesem ¹Prinzip der intrasystematischen Fortentwicklungª koÈnnen auch neue Regelungen unter einen ¹versteinertenª Kompetenztatbestand fallen, wenn es sich um eine systematische Fortentwicklung eines vorgegebenen Regelungsansatzes handelt. Daher faÈllt die Regelung des Ersatzes von SchaÈden aus atomaren UnfaÈllen unter den Begriff des ¹Zivilrechtswesensª (Art 10 Abs 1 Z 6 B-VG), obwohl es 1925 noch gar keine entsprechende Regelung gab, weil es sich um eine systematische Fortentwicklung des Schadenersatzrechts handelt. Trotz dieser MoÈglichkeiten einer systematischen Fortentwicklung behindert die ¹Versteinerungª der historisch vorgegebenen Kompetenzen die Entwicklung einer sachgerechten Aufga-
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benverteilung zwischen Bund und LaÈndern. Das ist der Preis, der dafu È r zu zahlen ist, dass diese ¹Theorieª die Auslegung der KompetenztatbestaÈnde auf ein einigermaûen sicheres Fundament stellt, das den seinerzeit verfassungsrechtlich normierten BesitzstaÈnden von Bund und LaÈndern entspricht.
434 2. Neben der Versteinerungstheorie wendet der VfGH die ¹Gesichtspunktetheorieª an. Nach ihr kann ein bestimmter Lebenssachverhalt unter verschiedenen ¹Gesichtspunktenª von verschiedenen Gesetzgebern geregelt werden. Eine gewerbliche Betriebsanlage (zB Fabrik) kann daher unter baurechtlichen Gesichtspunkten in die ZustaÈndigkeit des Landes als Baurechtsgesetzgeber (Art 15 B-VG) fallen, unter gewerberechtlichen Gesichtspunkten kann dieselbe Anlage ein Gegenstand der Gewerberechtskompetenz des Bundes (Art 10 Abs 1 Z 8 B-VG) sein. Daher kann zB das Land unter dem Titel des Naturschutzes (Art 15 B-VG) auch Regelungen fu È r Eisenbahnanlagen erlassen, obwohl fu È r das Eisenbahnwesen an sich der Bund nach Art 10 B-VG zustaÈndig ist. Die Gesichtspunktetheorie haÈngt mit den oben bereits erwaÈhnten Querschnittsmaterien zusammen (vgl Rz 423). Sie kann zu einer Kumulation von ZustaÈndigkeiten fu È hren und im Verwaltungsrecht zu der Notwendigkeit, fu È r die Verwirklichung eines Vorhabens (zB gewerbliche Betriebsanlage) eine Mehrzahl von Bewilligungen einzuholen, die jeweils unter unterschiedlichen ¹Gesichtspunktenª von verschiedenen Gesetzgebern behandelt werden. 435 a) An sich geht man davon aus, dass es im oÈsterreichischen Verfassungsrecht keine so genann-
ten ¹konkurrierenden ZustaÈndigkeitenª gibt; von solchen spricht man, wenn zur Regelung ein und derselben Materie verschiedene Gesetzgeber berufen sind. Dass es solche konkurrieÈ sterreich nicht gibt, ist formal betrachtet auch richtig. Wegen der renden ZustaÈndigkeiten in O Gesichtspunktetheorie kommt es freilich trotzdem dazu, dass fu È r eine bestimmte Sache (Betriebsanlage, Verkehrsanlage, Baulichkeit, gewerbliche TaÈtigkeit usw) sowohl der Bundes- als auch der Landesgesetzgeber unter verschiedenen Aspekten Regelungskompetenzen beanspruchen. Im Ergebnis verstaÈrkt die Gesichtspunktetheorie die Zersplitterung der Kompetenzverteilung; andererseits gibt sie vor allem den LaÈndern einen Einfluss auf Materien, fu È r welche ansonsten der Bund zustaÈndig ist, und staÈrkt damit den FoÈderalismus.
436 b) Die Anwendung der Gesichtspunktetheorie wirft viele Zweifelsfragen auf, die sich auch in
einer ausgesprochen kasuistischen Judikatur spiegeln. Vor allem ist es im Einzelfall umstritten, wieweit ein bestimmter Kompetenztatbestand (zB ¹Eisenbahnwesenª) bereits alle in Betracht kommenden Regelungsgesichtspunkte umfasst (mit der Konsequenz, dass der Bund fu È r alle diese Aspekte zustaÈndig ist) oder ob unter bestimmten ¹Gesichtspunktenª auch eine LaÈnderzustaÈndigkeit bestehen kann. Der VfGH versucht diese Zweifelsfragen durch Anwendung der Versteinerungstheorie zu lo È sen, wenn er pru È ft, ob bestimmte Regelungsgesichtspunkte nach Maûgabe der ¹versteinertenª Rechtslage bereits vom Haupttatbestand erfasst waren oder ob noch ¹Raumª fu È r Gesichtspunkte verbleibt, fu È r welche die LaÈnder zustaÈndig sind. Nach der Judikatur umfasst zB der Tatbestand ¹Eisenbahnwesenª auch alle in Betracht kommenden baurechtlichen Fragen, so dass es bei Eisenbahnbauten keine ZustaÈndigkeit des Landes unter Gesichtspunkten des Baurechts gibt (VfSlg 2685/1954; naturschutzrechtliche Regelungen sind dem Landesgesetzgeber nach VfSlg 15.552/1999 allerdings gestattet). Andererseits hindert die ZustaÈndigkeit des Bundes fu È r die ¹Luftfahrtª den Landesgesetzgeber nicht daran, das Aufsteigen von Fesselballons (die Luftfahrzeuge sind) unter naturschutzrechtlichen Gesichtspunkten einer Bewilligungspflicht zu unterwerfen (VfSlg 7516/1975).
437 3. Unter Hinweis auf das bundesstaatliche Bauprinzip des oÈsterreichischen VerfasÈ deralistischen Kompesungsrechts hat sich der VfGH gelegentlich zu einer fo tenzinterpretation bekannt (¹foÈderalistische Kompetenztheorieª). Danach waÈren die KompetenztatbestaÈnde der Art 10±12 B-VG gegenu È ber Art 15 B-VG einschraÈnkend auszulegen (VfSlg 2977/1956, 14.266/1995). Dem Verfassungsrecht laÈsst sich freilich keine Zweifelsregel entnehmen, weder zu Gunsten der Kompetenzen des Bundes noch zu Gunsten der Kompetenzen der LaÈnder. In der Praxis des VfGH spielt ein solcher Grundsatz trotz dieser vereinzelten Bekenntnisse auch keine wirklich maûgebliche Bedeutung.
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16.6. Kompetenzkonflikte Kompetenzstreitigkeiten gehoÈren zum Alltag des o È sterreichischen Verfassungs- 438 rechts. Die MaÈngel der gegebenen Kompetenzverteilung tragen dazu ebenso bei wie der Umstand, dass Kompetenzfragen immer auch Machtfragen sind. Aus rechtlicher Sicht sollen diese Auseinandersetzungen moÈglichst rational gefu È hrt und mit groÈûtmoÈglicher Gewissheit festgestellt werden, wer fu È r eine bestimmte Angelegenheit zustaÈndig ist oder nicht. Das ist auch der Sinn und Zweck der vom VfGH angewendeten ¹Kompetenztheorienª, welche die Auslegung der KompetenztatbestaÈnde vorhersehbar machen und den politischen Streit entlasten sollen. Wegen des Alters der meisten KompetenztatbestaÈnde und ihrer KomplexitaÈt ist das allerdings nur in Grenzen moÈglich. Die Handhabung der Kompetenzbestimmungen gehoÈrt zu den kompliziertesten Fragen des o È sterreichischen Verfassungsrechts. Um strittige Kompetenzfragen vorbeugend (praÈventiv) klaÈren zu koÈnnen, gibt das 439 B-VG dem VfGH eine ZustaÈndigkeit zur Kompetenzfeststellung (Art 138 Abs 2 B-VG). Damit soll bereits vor der Erlassung eines Gesetzes (Vollzugsaktes) die MoÈglichkeit eroÈffnet werden die Kompetenz verbindlich zu klaÈren. Kompetenzwidrig erlassene Gesetze koÈnnen auûerdem im Verfahren nach Art 140 B-VG aufgehoben werden; man kann insoweit von repressiver Kompetenzkontrolle sprechen (vgl zu diesen Verfahren unten Rz 1129 und 1071 ff). Mit dieser gerichtsfo È rmlichen Austragung von Kompetenzstreitigkeiten sollen Machtfragen so weit wie moÈglich in justiziable Rechtsfragen umgeformt werden. AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zum Abschnitt 16: VfSlg 4348/1963: Wer ist zustaÈndig, Regelungen u È ber den Schutz des Waldes vor WildschaÈden zu treffen? Der Bund unter dem Titel des Forstwesens (Art 10 Abs 1 Z 10 B-VG) oder die LaÈnder als Jagdrechtsgesetzgeber (Art 15 B-VG)? Wie ist der VfGH unter Anwendung der Versteinerungstheorie vorgegangen? VfSlg 8989/1980: Darf der Landesgesetzgeber zivilrechtliche Bestimmungen im Zusammenhang mit der Regelung jagdrechtlicher Fragen erlassen? Beachte die strenge Pru È fung der Erforderlichkeit durch den VfGH. VfSlg 12.996/1992: Ein Beispiel fu È r die MoÈglichkeit der intrasystematischen Fortentwicklung ± auch Diskotheken, an die man zum Versteinerungszeitpunkt (1925) sicherlich noch nicht gedacht hat, fallen unter die Gewerberechtskompetenz. VfSlg 13.299/1992: Ist eine Regelung u È ber die Lagerung von AbfaÈllen in aufgelassenen Bergwerken eine Sache des ¹Bergwesensª (Bundeskompetenz) oder der ¹Abfallwirtschaftª (Landeskompetenz)? Auch hier kann man die Anwendung der Versteinerungstheorie studieren. VfSlg 15.351/1998: Darf der Gesetzgeber abweichend von § 77 AVG anordnen, dass die È berwachungsmaûnahmen, die von Amts wegen eingeKosten fu È r besondere behoÈrdliche U leitet werden, den Betroffenen auferlegt werden? Ein Beispiel fu È r eine zulaÈssige abweichende Regelung nach Art 11 Abs 2 B-VG. VfSlg 15.552/1999: Eisenbahnanlagen ko È nnen unter naturschutzrechtlichen Gesichtspunkten vom Landesgesetzgeber geregelt werden ± ein Beispiel fu È r die Anwendung der ¹Gesichtspunktetheorieª in einem politisch brisanten Fall. VfSlg 16.058/2000: Ein Beispiel fu È r eine grundsatzgesetzwidrige Ausfu È hrungsgesetzgebung eines Landes ± unzulaÈssige Bedarfspru È fung bei Krankenanstalten. Zur Vertiefung: Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst (Hrsg), Neuordnung der KompetenzÈ sterreich (1991); Funk, Das System der bundesstaatlichen Kompetenzverteiverteilung in O lung im Lichte der Verfassungsrechtsprechung (1980); Holzinger, Aktuelle Fragen des BunÈ ffer/Stolzlechner/Wiederin (Hrsg), Verfassungsreform. desstaatsprinzips, in: Berka/Scha È sterreich-Konvents (2004) 71; Pernthaler (Hrsg), BundesÈ berlegungen zur Arbeit des O U
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staatsreform als Instrument der Verwaltungsreform und des europaÈischen FoÈderalismus (1997); Wiederin, Anmerkungen zur Versteinerungstheorie, in: G. Winkler-FS (1997) 1231; È JK (Hrsg), Der ders, Bundesrecht und Landesrecht (1995); ders, Bundesstaat neu, in: O È sterreich-Konvent. Zwischenbilanz und Perspektiven (2004) 49. O
17. Die bundesstaatliche Finanzverfassung In einem Bundesstaat mu È ssen nicht nur die Staatsaufgaben zwischen dem Bund und den LaÈndern aufgeteilt werden. Genauso wichtig sind Regelungen u È ber die Finanzierung dieser Aufgaben. Vor allem muss festgelegt werden, wer die Kosten zu tragen hat, wer fu È r die Einhebung von Abgaben verantwortlich ist und wie das Steueraufkommen zwischen den GebietskoÈrperschaften verteilt wird. Die entsprechenden Regelungen bilden in ihrer Gesamtheit die bundesstaatliche Finanzverfassung. Sie ist ein wesentliches Element der Machtverteilung im Bundesstaat.
17.1. Die Rechtsquellen 440 Die grundlegenden Bestimmungen zur Finanzverfassung finden sich in einem eigenen BVG, dem Finanz-VerfassungsG (F-VG 1948). Dieses BVG ist das in Art 13 B-VG angesprochene eigene Verfassungsgesetz. Es regelt die GrundsaÈtze der Kostentragung, die Verteilung der Kompetenzen fu È r das Abgabenwesen und weitere Fragen der finanziellen Beziehungen zwischen den GebietskoÈrperschaften (zB Finanzzuschu È sse). In Durchfu È hrung des F-VG wird das FinanzausgleichsG (FAG) erlassen. In diesem einfachen BG werden die einzelnen Abgabentypen festlegt und wird die Verteilung der SteuerertraÈge zwischen dem Bund, den LaÈndern und den Gemeinden geregelt. Insofern ist das FAG das zentrale finanzpolitische Regelungsinstrument im o È sterreichischen Bundesstaat, das fu È r einen mehrjaÈhrigen (vier- bis fu È nfjaÈhrigen) Zeitraum nach jeweils politisch spannungsreichen Finanzausgleichsverhandlungen zwischen den GebietskoÈrperschaften erlassen wird. Fu È r den Zeitraum 2008± 2013 steht das FAG 2008 in Geltung. 441 Das FAG ist ein einfaches BG, das vom Bundesgesetzgeber erlassen wird. Dass letztlich der
Bundesgesetzgeber mit einfacher Mehrheit u È ber die Ausgestaltung der bundesstaatlichen FiÈ bernanzverfassung und die Verteilung der SteuerertraÈge entscheidet, zeigt sehr deutlich das U gewicht, das dem Bund in Fragen der Finanzverfassung zukommt. Freilich ist das FAG das Ergebnis von Verhandlungen zwischen dem Bund, den LaÈndern und den Gemeinden; man spricht daher davon, dass es sich um ein ¹politisch paktiertesª Gesetz handelt. Nach der Judikatur des VfGH haben diese Verhandlungen auch den verfassungsrechtlich gebotenen Interessenausgleich zum Ziel: Fu È hren daher diese Beratungen zumindest in den wesentlichen, grundsaÈtzlichen Belangen zu einem Einvernehmen zwischen den GebietskoÈrperschaften, kann davon ausgegangen werden, dass die Regelungen des FAG sachlich gerechtfertigt sind. Werden dem FAG umgekehrt vo È llig verfehlte PraÈmissen zu Grunde gelegt oder wird die Interessenlage eines Beteiligten willku È rlich ignoriert, kann dies zur Verfassungswidrigkeit der entsprechenden Bestimmung des FAG fu È hren (VfSlg 9280/1981, 12.505/1990, 12.784, 12.832/ 1991).
17.2. Die Kostentragung 442 1. § 2 F-VG trifft eine grundsaÈtzliche Regelung u È ber die Tragung der Kosten im Bundesstaat: Danach tragen der Bund und die u È brigen GebietskoÈrperschaften (dh LaÈnder und Gemeinden) den Aufwand, der sich aus der Besorgung ihrer Aufgaben ergibt (so genanntes KonnexitaÈtsprinzip). Nach dieser Anordnung hat daher jede GebietskoÈrperschaft grundsaÈtzlich selbst alle jene Kosten zu tragen, die ihr bei der Be-
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sorgung der Aufgaben entstehen, fu È r die sie nach der Kompetenzverteilung zustaÈndig ist; fu È r die Kostentragung ist die ZustaÈndigkeit zur Vollziehung der jeweiligen Angelegenheit maûgeblich. Wenn daher zB die Vollziehung der allgemeinen Sicherheitspolizei nach Art 10 Abs 1 Z 7 B-VG in die ZustaÈndigkeit des Bundes faÈllt, muss der Bund die Kosten fu È r PolizeieinsaÈtze tragen. Wenn nach Art 11 B-VG beim Tierschutz der Bund fu È r die Gesetzgebung, die LaÈnder fu È r die Vollziehung zustaÈndig sind, mu È ssen die LaÈnder die Kosten des Tierschutzes tragen. Die hier angesprochenen Kosten umfassen den Personalaufwand, den Amtssachaufwand und den Zweckaufwand. Um dies am Beispiel der Vollziehung des Studienbeihilfenrechts zu erlaÈutern, fu È r das der Bund nach § 2 F-VG die Kosten zu tragen hat: Personalaufwand sind die Kosten fu Èr das Personal (Beamte, Vertragsbedienstete) in der StudienbeihilfenbehoÈrde, Amtssachaufwand zB die Kosten fu È r die Computer dieser BehoÈrde oder fu È r den Bu È robedarf, Zweckaufwand sind die Kosten fu È r die zugeteilten Stipendien.
2. Nach § 2 F-VG kann die zustaÈndige Gesetzgebung allerdings ¹anderesª bestimmen, 443 dh Regelungen erlassen, die vom KonnexitaÈtsprinzip abweichend eine GebietskoÈrÈ bernahme von Kosten einer anderen GebietskoÈrperschaft perschaft auch zur U verpflichten. Eine solche KostenuÈberwaÈlzung kann der Bundesgesetzgeber (auf die LaÈnder) oder der Landesgesetzgeber (auf die Gemeinden) vornehmen. Eine vertragliÈ bernahme fremder Kosten einer anderen GebietskoÈrperschaft ist ± weil § 2 che U F-VG auf den Gesetzgeber verweist ± gesetzwidrig und kann zur Nichtigkeit des entsprechenden Vertrags fu È hren (OGH SZ 65/40). Als ein Beispiel fu È r eine gesetzliche Kostenregelung kann auf § 1 FAG verwiesen werden, der die Kostentragung bei der mittelbaren Bundesverwaltung regelt. Danach tragen die LaÈnder den Personal- und Sachaufwand fu È r diese Aufgaben, die funktionell Bundesaufgaben sind. Dem Bund bleiben die Kosten fu È r den Zweckaufwand.
È berwaÈlzung von Kosten auf eine andere GebietskoÈrperschaft durch die zu- 444 3. Die U staÈndige Gesetzgebung kann politisch problematisch sein, so wie ganz allgemein jede Regelung, die bei einer anderen GebietskoÈrperschaft finanzielle Belastungen ausloÈst. Daher haben der Bund, die LaÈnder und die Gemeinden gestu È tzt auf ein eigenes BVG (BGBl I 1998/61) eine Vereinbarung u È ber einen Konsultationsmechanismus abgeschlossen (BGBl I 1999/35). Nach dieser Vereinbarung sind Gesetzes- und Verordnungsentwu È rfe den jeweils gegenbeteiligten GebietskoÈrperschaften unter Darstellung der finanziellen Auswirkungen zu u È bermitteln. Der Bund, ein Land, der Gemeindebund oder der StaÈdtebund koÈnnen daraufhin Verhandlungen u È ber die Finanzierung verlangen. Kommt in dem zustaÈndigen Konsultationsgremium keine Einigung u È ber die Kostentragung zu Stande, so hat grundsaÈtzlich jene GebietskoÈrperschaft, welche das Gesetz oder die VO beschlieût, die Kosten der Vollziehung zu ersetzen.
17.3. Die Abgabenhoheit 1. Abgaben sind die finanziellen Leistungen der Bu È rger an die GebietskoÈrperschaf- 445 ten, die der Finanzierung von Staatsaufgaben dienen und die hoheitlich vorgeschrieben werden. Der moderne Staat ist ein ¹Steuerstaatª, der weitgehend auf diese Finanzierungsquelle angewiesen ist. Privatrechtliche Entgelte oder Zahlungen an RechtstraÈger, die keine GebietskoÈrperschaften sind, gelten nicht als Abgaben (VfSlg 16.454/2002). Abgaben koÈnnen Steuern, BeitraÈge oder Gebu È hren sein. Steuern sind Geldleistun- 446 gen, die ohne Zusammenhang mit bestimmen staatlichen Leistungen den Bu È rgern auferlegt sind (zB Einkommensteuer). Gebu È hren sind finanzielle Gegenleistungen fu È r bestimmte Leistungen der Verwaltung (zB Abfallgebu È hren), BeitraÈge sind Leistungen bestimmter Personengruppen fu È r die Benutzung staatlicher Einrichtungen (zB StudienbeitraÈge).
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Diese Unterscheidung ist fu È r die verfassungsrechtliche Beurteilung von Abgaben maûgeblich. Bei Steuern hat der zustaÈndige Gesetzgeber einen groûen Spielraum bei ihrer Bemessung, wenn er nur die Grenzen der Sachlichkeit wahrt (unzulaÈssig waÈre zB eine gleichheitswidrige Belastung bestimmter BevoÈlkerungsgruppen). Ob es absolute Grenzen der steuerlichen Belastung gibt, ist fraglich. Bei Gebu È hren und BeitraÈgen ist ± anders als bei Steuern ± das KoÈ quivalenzprinzip) maûgeblich. Weil sie einen finanziellen Beistendeckungsprinzip (auch: A trag der Bu È rger fu È r bestimmte staatliche Leistungen darstellen, mu È ssen Leistung und Gegenleistung in einem vernu È her festgesetzt È nftigen VerhaÈltnis stehen; Gebu È hren du È rfen daher nicht ho werden, als sie zur Deckung der Kosten notwendig sind, die der GebietskoÈrperschaft erwachsen (VfSlg 8943/1980, 11.559/1987, 13.310/1992). Ho È here Gebu È hren sind nur zulaÈssig, wenn es dafu È r besondere Gru È nde gibt, die mit einer benutzten Anlage zusammenhaÈngen (zB oÈkologische Lenkungsziele, VfSlg 16.319/2001).
447 2. Unter Abgabenhoheit versteht man die ZustaÈndigkeit zur Auferlegung von Abgaben. Unter diesem Gesichtspunkt ist zu klaÈren, welcher Gesetzgeber (Bundes- oder Landesgesetzgeber) zB eine Umsatzsteuer regeln und einheben darf und wem der Ertrag dieser Steuer zuflieût. Das F-VG legt insoweit nur abstrakte Abgabentypen fest und bestimmt, wer fu È r diese Abgabentypen in Gesetzgebung und Vollziehung zustaÈndig ist; dabei knu È pft das F-VG an die so genannte ¹Ertragshoheitª an, dh an die Frage, welcher GebietskoÈrperschaft der Ertrag dieser Abgaben zuflieût. Das F-VG regelt aber noch nicht, welche konkreten Steuern von welcher GebietskoÈrperschaft eingehoben werden du È rfen, dies wird vielmehr im FAG entschieden! Dieses System laÈuft darauf hinaus, dass der einfache Bundesgesetzgeber, der im FAG daru È ber entscheidet, wem die ErtraÈge dieser Abgabe zuflieûen, auch festlegt, wer fu Èr welche Abgaben zustaÈndig ist. Insoweit kommt dem einfachen Bundesgesetzgeber die Kompetenz-Kompetenz in Abgabensachen zu (zum Begriff Kompetenz-Kompetenz vgl Rz 398). 448 Das ist sehr kompliziert und wird eher verstaÈndlich, wenn es an einem Beispiel erlaÈutert wird. Nach § 6 F-VG gibt es zB ausschlieûliche Bundesabgaben (deren Ertrag ganz dem Bund zuflieût) und gemeinschaftliche Bundesabgaben (die durch den Bund erhoben werden und aus denen dem Bund und den LaÈndern oder Gemeinden Ertragsanteile zuflieûen). Diese beiden Formen von Bundesabgaben sind zwei Abgabentypen, wobei dem F-VG noch nicht entnommen werden kann, welche Abgaben darunter fallen. Diese Entscheidung trifft das FAG, das festlegt, dass zB die ZoÈlle ausschlieûliche Bundesabgaben sind und die Einkommensteuer eine gemeinschaftliche Bundesabgabe ist. Weil nun nach dem F-VG dem Bund die GesetzgebungszustaÈndigkeit fu È r ausschlieûliche und fu È r gemeinschaftliche Bundesabgaben zukommt (siehe unten), steht im Ergebnis fest, dass fu È r die ZoÈlle und fu È r die Einkommensteuer jeweils der Bundesgesetzgeber zustaÈndig ist.
449 3. Nach § 6 F-VG gibt es die folgenden Abgabentypen (Hauptformen und Unterformen): . ausschlieûliche Bundesabgaben (zB Stempel- und Rechtsgebu È hren); . zwischen Bund und LaÈndern (und/oder Gemeinden) geteilte Abgaben, die entweder gemeinschaftliche Abgaben (zB Einkommensteuer, Umsatzsteuer), Zuschlagsabgaben (zB Gebu È hren fu È r Wetten) oder Abgaben von demselben Steuergegenstand sind; . ausschlieûliche Landesabgaben (zB Landesverwaltungsabgaben); . ausschlieûliche Gemeindeabgaben (zB Grundsteuer). Bei ausschlieûlichen Abgaben flieût der Ertrag der jeweiligen GebietskoÈrperschaft vollstaÈndig zu (zB die eingehobenen Rechtsgebu È hren flieûen an den Bund). Bei geteilten Abgaben kommt es zu einer Aufteilung des Ertrags zwischen dem Bund, den LaÈndern und den Gemeinden; die Aufteilung wird im FAG naÈher geregelt. 450 4. Die GesetzgebungszustaÈndigkeit ist nach den §§ 7 und 8 F-VG im Wesentlichen so festgelegt, dass
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. ausschlieûliche und gemeinschaftliche Bundesabgaben vom Bundesgesetzgeber, . ausschlieûliche Landes- und Gemeindeabgaben vom Landesgesetzgeber geregelt werden. Die Vollziehung erfolgt bei den Bundesabgaben durch die Organe der Bundesfinanzverwaltung, bei den Abgaben der LaÈnder und Gemeinden durch die Organe jener GebietskoÈrperschaft, fu È r deren Zwecke sie ausgeschrieben werden. Vgl zu den Einzelheiten und zu den vorstehend nicht angefu È hrten SonderfaÈllen die §§ 7, 8 und 11 F-VG. Im Hinblick auf die VollzugszustaÈndigkeit sind abweichende gesetzliche Regelungen moÈglich.
5. Durch BG oder durch LG koÈnnen die Gemeinden ermaÈchtigt werden, bestimmte 451 Abgaben durch gesetzesergaÈnzende VO auszuschreiben (§§ 7 Abs 5, 8 Abs 5 F-VG). Man spricht in diesem Zusammenhang vom freien Beschlussrecht der Gemeinde (zB Vergnu È gungssteuer).
17.4. Der Finanzausgleich 1. Durch das schon erwaÈhnte FAG weist der einfache Bundesgesetzgeber eine be- 452 stimmte Abgabe einem der erwaÈhnten Abgabentypen zu (etwa indem die Einkommensteuer zur gemeinschaftlichen Bundesabgabe erklaÈrt wird). Zugleich regelt das FAG die Aufteilung der ErtraÈge der gemeinschaftlichen Abgaben auf die GebietskoÈrperschaften. Nach § 4 F-VG hat diese Aufteilung auf die Lasten der o È ffentlichen Verwaltung und die LeistungsfaÈhigkeit der GebietskoÈrperschaften Bedacht zu nehmen (so genannter ParitaÈtsgrundsatz). Auûerdem mu È ssen diese Regelungen dem auch zwischen den GebietskoÈrperschaften geltenden Gleichheitsgrundsatz entsprechen und sachlich sein. a) Bei der Aufteilung des Abgabenertrags kommen verschiedene Schlu È ssel und Kriterien 453 zur Anwendung. Die meisten Steuern werden zunaÈchst nach einem Prozentschlu È ssel zwischen dem Bund, den LaÈndern und Gemeinden aufgeteilt, bei der Zuweisung an die einzelnen LaÈnder und Gemeinden kommt es auf das Aufkommen der Steuern und vor allem auf die Volkszahl an, È lkerungsschlu wobei zT der abgestufte Bevo È ssel zur Anwendung kommt (vgl § 9 Abs 10 FAG). Der abgestufte BevoÈlkerungsschlu È ssel begu È nstigt groÈûere Gemeinden mit einer relativ hoÈheren Zuweisung, weil man davon ausgeht, dass sie ho È here Aufwendungen fu È ffentliche Èr o Aufgaben haben. Die Frage der Sachgerechtigkeit der herangezogenen Verteilungskriterien fu È hrt immer wieder zu Auseinandersetzungen auch vor dem VfGH. Anspru È che aus dem Finanzausgleich koÈnnen nach Art 137 B-VG vor dem VfGH geltend gemacht werden (vgl Rz 1121). b) Weil die Landesabgaben durch das FAG nicht abschlieûend festgelegt werden, kommt den 454 BundeslaÈndern ein so genanntes ¹Abgabenfindungsrechtª zu, dh sie ko È nnen Steuern fu Èr noch nicht von Abgaben erfasste SteuergegenstaÈnde einfu È hren; sie darf aber einer bestehenden Bundesabgabe nicht gleichartig sein (§ 8 Abs 3 F-VG) (zB die Wiener Parkometerabgabe). Praktisch ist der Spielraum der LaÈnder gering; tatsaÈchlich werden sie sehr weitgehend aus ihren Anteilen an den ertragreichen gemeinschaftlichen Bundesabgaben (Einkommensteuer, Umsatzsteuer) finanziert. Daher wird politisch auch immer wieder gefordert den LaÈndern eine gro Èûere Abgabenhoheit zu geben, um die Verantwortlichkeit fu È r die Finanzierung von Staatsausgaben mit der Steuerverantwortung staÈrker zu verknu È pfen.
2. Durch das FAG werden auch Finanzzuweisungen und verschiedene Zuschu È sse 455 geregelt, etwa die Zuschu È sse des Bundes fu È r Zwecke des oÈffentlichen Nahverkehrs oder fu È fÈ r die Landeslehrer. Diese FinanzstroÈme sollen besondere Belastungen mit o fentlichen Aufgaben ausgleichen; sie tragen mit dazu bei, dass die Finanzwirtschaft der GebietskoÈrperschaften stark verflochten ist. Daneben gibt es in der Praxis noch den ¹grauen Finanzausgleichª: Davon spricht man, 456 wenn eine GebietskoÈrperschaft auf privatwirtschaftlicher Basis eine Aufgabe der anderen GebietskoÈrperschaft mitfinanziert oder vorfinanziert, ohne dass es dafu È r eine gesetzliche Grundlage gibt (zB leistet ein Bundesland finanzielle BeitraÈge fu È r die Errichtung eines Autobahnab-
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schnittes). Auch diese Praktiken tragen zu einer Verwischung finanzieller Verantwortlichkeiten bei.
457 3. Um den im Zuge der Einfu È hrung der europaÈischen WaÈhrungsunion u È bernommenen Verpflichtungen zur Senkung des Haushaltsdefizits und der o È ffentlichen Verschuldung (¹Maastricht-Kriterienª) zu entsprechen, haben die GebietskoÈrperschaften zusammen mit dem oben bereits erwaÈhnten Konsultationsmechanismus auch eine Vereinbarung u È ber einen StabilitaÈtspakt abgeschlossen. In dieser Vereinbarung werden die jaÈhrlichen Haushaltsdefizite des Bundes begrenzt, verpflichten sich die LaÈnder zur Erbringung von Haushaltsu È berschu È ssen und die Gemeinden zu einem ausgeglichenen Haushaltsergebnis; damit soll gesamtoÈsterreichisch betrachtet È sterreichischer Stabilieine insgesamt stabile HaushaltsfuÈhrung erreicht werden (O taÈtspakt 2005 BGBl I 2006/19).
18. Kooperation und Aufsicht im Bund-LaÈnder-VerhaÈltnis 458 Bund und LaÈnder nehmen die ihnen durch die Kompetenzverteilung zugewiesenen Aufgaben grundsaÈtzlich getrennt und unabhaÈngig voneinander wahr (Grundsatz der Trennung der Kompetenzbereiche). Im Prinzip sind sie auch gleichberechtigte Partner im Bundesstaat (Grundsatz der ParitaÈt von Bund und LaÈndern). Trotz dieser GrundsaÈtze sieht die Bundesverfassung dem Modell eines kooperativen Bundesstaats entsprechend verschiedene Formen des Zusammenwirkens zwischen den beiden GebietskoÈrperschaften vor.
18.1. Die GliedstaatsvertraÈge È ffentlich-rechtliche 459 1. Die in Art 15a B-VG geregelten GliedstaatsvertraÈge sind o VertraÈge, die zwischen dem Bund und einem oder mehreren LaÈndern oder zwischen LaÈndern untereinander abgeschlossen werden. Sie koÈnnen u È ber die Angelegenheiten des jeweiligen Wirkungsbereichs abgeschlossen werden, dh u È ber GegenstaÈnde, fu È r welche der Bund (die LaÈnder) in Gesetzgebung oder Vollziehung zustaÈndig sind. Durch einen solchen Vertrag verpflichten sich die Vertragspartner ihre Kompetenzen in einer bestimmten Art und Weise wahrzunehmen. Dadurch koÈnnen die grundsaÈtzlich getrennt auszuu È benden Kompetenzen koordiniert werden. In der staatspolitischen Praxis haben die Art 15a-Vereinbarungen eine gewisse Bedeutung erlangt, wobei vor allem die zwischen dem Bund und den LaÈndern abgestimmte Wahrnehmung von Kompetenzen im Bereich von Querschnittsmaterien (zB Umweltschutz) und die Koordination von LandeszustaÈndigkeiten eine Rolle spielen (zB Errichtung eines grenzu È berschreitenden Nationalparks). 460 a) GliedstaatsvertraÈge gehoÈren dem oÈffentlichen Recht an und muÈssen von privatrechtlichen
VertraÈgen unterschieden werden, die von den GebietskoÈrperschaften im Rahmen ihrer PrivatrechtsfaÈhigkeit abgeschlossen werden. Weil die GliedstaatsvertraÈge Vereinbarungen zwischen grundsaÈtzlich gleichrangigen Vertragspartnern betreffen, werden diese o È ffentlich-rechtlichen VertraÈge auch als koordinationsrechtliche VertraÈge bezeichnet und von subordinationsrechtlichen VertraÈgen zwischen GebietskoÈrperschaften und Privaten unterschieden, die es vereinzelt im Verwaltungsrecht gibt und die ebenfalls eine Form der o È ffentlich-rechtlichen VertraÈge sind.
461 b) GliedstaatsvertraÈge koÈnnen uÈber GegenstaÈnde der Gesetzgebung oder Vollziehung ab-
geschlossen werden. So gibt es zB eine zwischen dem Bund und allen LaÈndern abgeschlossene È chstzulaÈssigen Schwefelgehalt im Heizo È l, durch die einheitliVereinbarung u È ber den ho che Grenzwerte festgelegt wurden. Jeder Vertragspartner hat in seinem ZustaÈndigkeitsbereich durch entsprechende gesetzliche Maûnahmen bzw durch den Erlass von VO dafu È r zu sorgen,
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dass die Vereinbarung umgesetzt wird, wobei der Bund fu È r die gewerblichen und industriellen Heizanlagen, die LaÈnder fu È r die Wohnraumbeheizung zustaÈndig sind. Hier dient die Vereinbarung der Abstimmung von Bundes- und Landeskompetenzen. Mit einer Vereinbarung u È ber die Anerkennung von Nachweisen der jagdlichen Eignung und u È ber die jagdliche VerlaÈsslichkeit haben die LaÈnder zB im Rahmen ihrer ZustaÈndigkeit fu È r das Jagdrecht eine Abstimmung getroffen, die im jeweiligen Landesrecht umzusetzen ist. GliedstaatsvertraÈge koÈnnen auch Angelegenheiten der Privatwirtschaftsverwaltung betreffen. So gibt es LaÈnder-Vereinbarungen u È ber die Raumordnung in Grenzgebieten oder u È ber die RegionalfoÈrderung, die zwischen dem Bund und einem Bundesland getroffen werden. c) Die bereits konstatierten SchwaÈchen der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung 462 ko È nnen durch den Abschluss von GliedstaatsvertraÈgen teilweise kompensiert werden. Der Abschluss von Vereinbarungen setzt freilich Einstimmigkeit voraus, die nicht immer oder nur um den Preis von Kompromissen zu erzielen ist; auch ist die SchwerfaÈlligkeit des Vereinbarungsverfahrens in Rechnung zu stellen.
2. Auf Seiten des Bundes werden GliedstaatsvertraÈge je nach ihrem Gegenstand von 463 der BReg oder vom ressortmaÈûig zustaÈndigen BM abgeschlossen. Wenn durch die È ndeVereinbarung die Gesetzgebung des Bundes gebunden werden soll (weil die A rung oder Erlassung von Gesetzen erforderlich ist), bedarf der Abschluss der Vereinbarung der Zustimmung des NR, wobei auf die Genehmigung Art 50 Abs 3 B-VG sinngemaÈû anzuwenden ist. Auf Seiten der LaÈnder gibt der LH ± idR nach vorhergehender Entscheidung der LReg ± die AbschlusserklaÈrung ab, wobei bei gesetzaÈndernden oder gesetzesergaÈnzenden GliedstaatsvertraÈgen die Zustimmung des LT erforderlich ist. GliedstaatsvertraÈge sind nicht unmittelbar anwendbar. Das bedeutet, dass sie nur die Vertragspartner binden und dass sie speziell transformiert, dh in entsprechende Bundes- oder Landesgesetze oder VO umgesetzt werden mu È ssen, damit durch sie Rechte und Pflichten der Rechtsunterworfenen begru È ndet werden (vgl zu diesen Begriffen Rz 248 ff). a) Vereinbarungen der LaÈnder untereinander sind dem Bund unverzu È glich zur Kenntnis zu bringen (Art 15a Abs 2 B-VG). Diese Verpflichtung stellt ein Element der Bundesaufsicht dar. È lkerrechtlichen Verb) Zur Auslegung der GliedstaatsvertraÈge sind die GrundsaÈtze des vo tragsrechts (zB die Wiener Vertragsrechtskonvention) heranzuziehen, weil diese Vereinbarungen voÈlkerrechtlichen VertraÈgen Èahnlich sind (Art 15a Abs 3 B-VG). Zur Entscheidung u È ber Streitigkeiten aus Art 15a-Vereinbarungen ist der VfGH zustaÈndig (vgl Rz 1132).
18.2. Gemeinsame Organe 1. Durch Vereinbarungen zwischen den GebietskoÈrperschaften wurden auch einige 464 gemeinsame Organe geschaffen, in deren Rahmen der Bund mit den LaÈndern bzw die LaÈnder untereinander kooperieren. Auf das im Bereich des bundesstaatlichen Konsultationsmechanismus taÈtige Konsultationsgremium wurde bei der Besprechung der Finanzverfassung hingewiesen (vgl Rz 444). Ein gemeinsames Entscheidungsorgan der LaÈnder ist die Integrationskonferenz der LaÈnder (IKL), der an sich die Erarbeitung gemeinsamer Stellungnahmen der LaÈnder in Angelegenheiten der europaÈischen Integration u È bertragen waÈre (vgl dazu Rz 327). Ihre praktische Bedeutung ist allerdings gering. 2. Abgesehen von solchen foÈrmlich eingerichteten Organen gibt es zahlreiche ge- 465 meinsame Gremien, die im so genannten ¹rechtsfreienª (dh rechtlich nicht geregelten) Raum bestehen oder durch eine privatrechtliche Vereinbarung ins Leben gerufen wurden. Das wichtigste Gremium zur Abstimmung der Interessen der LaÈnder ist die Landeshauptleutekonferenz. In ihr sind die Landeshauptleute vertreten, die nach dem Einstimmigkeitsprinzip entscheiden. Die hier erarbeiteten gemeinsamen Standpunkte der LaÈnder koÈnnen erhebliches politisches Gewicht erlangen.
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Teil II. Die Staatsorganisation und die Staatsfunktionen
Der Landeshauptleutekonferenz angelagert sind weitere Gremien der LaÈnder (Landesamtsdirektorenkonferenz, Expertenkonferenzen), die ebenfalls der Koordination der LaÈnderinteressen dienen. Zur Unterstu È tzung der BundeslaÈnder bei der Vertretung ihrer Interessen besteht in Wien eine gemeinsame Verbindungsstelle der o È sterreichischen BundeslaÈnder. 466 3. Als Beispiel fu È r eine institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen dem Bund und È sterden LaÈndern in Fragen der gesamtoÈsterreichischen Raumordnung kann auf die O È ROK) hingewiesen werden. In ihr sind reichische Raumordnungskonferenz (O Mitglieder der BReg, die LH, Vertreter des Gemeinde- und StaÈdtebundes und der InteressenverbaÈnde vertreten; in diesem Rahmen koÈnnen die raumbedeutsamen Planungen der GebietskoÈrperschaften und sonstiger PlanungstraÈger abgestimmt werden.
18.3. Die bundesstaatliche Beru È cksichtigungspflicht 467 1. Bei der Ausu È bung ihrer Kompetenzen koÈnnen der Bund und die LaÈnder prinzipiell ihre eigenen rechtspolitischen Anliegen verfolgen, auch wenn sich ein Gesetzgebungs- oder Vollzugsakt der einen GebietskoÈrperschaft stoÈrend oder nachteilig auf die Interessen der anderen GebietskoÈrperschaft auswirken kann. Wenn zB ein Bundesland ein Naturschutzgebiet ausweist, kann das unter UmstaÈnden zur Folge haben, dass ein wichtiges Bundesstraûenprojekt nicht wie geplant verwirklicht werden kann; wenn durch den Bund ein schutzwu È rdiges Baudenkmal unter Denkmalschutz gestellt wird, kann das im Einzelfall eine staÈdtebauliche Planung behindern. Solche Konflikte sind eine zwangslaÈufige Folge der geteilten Verantwortlichkeit im Bundesstaat, wobei die extrem zersplitterte Kompetenzordnung mit vielen ¹Querschnittsmaterienª die Zahl moÈglicher Interessenkonflikte erhoÈht. 468 2. Um Interessenkonflikte vorausschauend zu vermeiden und zu sachlich abgestimmten Entscheidungen zu kommen, kann ein Gesetzgeber (zB der Landesgesetzgeber) die Verwaltung dazu verpflichten, bei der Vollziehung auf bestimmte InterÈ rperschaft (zB der essen Ru È cksicht zu nehmen, fu È r die die andere Gebietsko Bund) zustaÈndig ist. So verpflichtet zB § 17 Abs 3 ForstG die ForstbehoÈrde dazu, bei der Erteilung einer Rodungsbewilligung (eine Angelegenheit der Bundesverwaltung) unter anderem auch auf die Interessen des Naturschutzes (also einer Landessache) Bedacht zu nehmen. Umgekehrt kann der Landesgesetzgeber anordnen, dass bei der Erteilung von Baubewilligungen auf DenkmaÈler Ru È cksicht zu nehmen ist, obwohl Denkmalschutz Bundessache ist. Eine solche Bedachtnahme auf kompetenzfremde Zwecke darf der Gesetzgeber verfassungsrechtlich zulaÈssigerweise anordnen (so genanntes Beru È cksichtigungsprinzip; VfSlg 7658/1975, 13.326/1993). Die angeordnete Beru È cksichtigung von Interessen und Zwecken aus dem kompetenzfremden Bereich darf allerdings nicht so weit gehen, dass die fremde Materie vom unzustaÈndigen Gesetzgeber geregelt wird, dh die Beru È cksichtigung darf nicht in eine Regelung ¹umkippenª (VfSlg 9543/1982, 13.369/1993). 469 3. Unter gewissen UmstaÈnden ist ein Gesetzgeber nicht nur berechtigt auf die Interessen der anderen GebietskoÈrperschaft Bedacht zu nehmen, sondern zu einer solchen Ru È cksichtnahme verpflichtet. Man spricht von einer bundesstaatlichen Beru È cksichtigungspflicht, die der VfGH aus dem Wesen des Bundesstaats abgeleitet hat, mit dem es unvereinbar waÈre, wenn die Interessen des jeweils anderen Partners geradezu durchkreuzt oder unterlaufen wu È rden; daher wird die Beru È cksichtigungspflicht bildhaft auch als ¹Torpedierungsverbotª bezeichnet (VfSlg 10.292/1984, 15.552/1999, 17.497/2005). a) Der Bundesgesetzgeber ist fu È r das Forstwesen zustaÈndig, die LaÈnder fu È r das Jagdwesen, und es liegt auf der Hand, dass gewisse jagdrechtliche Regelungen (etwa u È ber die Schonzeit
1. Kapitel: Der Aufbau des Staates
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von jagdbaren Tieren) forstliche Interessen beru È hren koÈnnen. Interessenkonflikte sind daher unvermeidlich und hinzunehmen, doch darf keine Seite der Regelung des gegenbeteiligten Gesetzgebers praktisch die Wirksamkeit nehmen. Wenn daher der Forstgesetzgeber jedermann das Recht gibt den Wald zu Erholungszwecken frei zu betreten (§ 33 ForstG), darf der Jagdrechtsgesetzgeber nicht zur groûraÈumigen Sperre von Jagdgebieten ermaÈchtigen, weil damit das freie Betretungsrecht durchkreuzt wu È rde (VfSlg 10.292/1984). Im Ergebnis ist daher jeder Gesetzgeber zu einer InteressenabwaÈgung verpflichtet, wenn seine Regelung kompetenzfremde Interessen beeintraÈchtigt; er muss einen schonenden Ausgleich anstreben, soweit ein solcher moÈglich ist. b) Die Beru È cksichtigungspflicht bindet den Gesetzgeber und die Vollziehung. Fu È r die Vollziehung laÈuft das darauf hinaus, dass bei ErmessenstatbestaÈnden oder bei unbestimmten Gesetzesbegriffen auch auf o È ffentliche Interessen Ru È cksicht zu nehmen ist, fu È r deren Wahrung an sich eine andere GebietskoÈrperschaft zustaÈndig ist (VfSlg 14.534/1996).
18.4. Die Bundesaufsicht In verschiedenen ZusammenhaÈngen sieht das B-VG Aufsichtsbefugnisse des Bun- 470 des gegenu È ber den LaÈndern in Bereichen vor, die an sich von den LaÈndern im Rahmen ihrer eigenen Kompetenzen eigenverantwortlich und selbstaÈndig wahrzunehmen sind. Sie bilden ein Element der Bundesaufsicht, die den Grundsatz der ParitaÈt von Bund und LaÈndern durchbricht: . In jenen Angelegenheiten, die durch Bundesgesetz geregelt und von den LaÈndern autonom vollzogen werden (dh bei den Materien nach Art 11, 12, 14, 14a B-VG), steht dem Bund das Recht zu die Einhaltung der von ihm erlassenen Vorschriften wahrzunehmen (Art 15 Abs 8 B-VG). Der Bund kann sich also u È ber die Fu È hrung dieser Angelegenheiten informieren; weitere Aufsichtsbefugnisse ko Ènnen gesetzlich vorgesehen sein, im B-VG selbst ist bereits die MoÈglichkeit der Einbringung von Amtsbeschwerden an den VwGH in diesen AngeÈ hnliche Aufsichtsbefugnisse hat der Bund auch im legenheiten vorgesehen (vgl Rz 929). A Hinblick auf die Vollziehung des UVP-Rechts und des Bundes-Tierschutzrechts (Art 11 Abs 9 B-VG). . Bei bestimmten Verwaltungsmaterien, vor allem bei sicherheitspolitisch relevanten MateÈ rtlichen Sicherheitsporien, gibt es weitere Aufsichtsbefugnisse des Bundes: Im Fall der o È berwalizei sieht Art 15 Abs 2 B-VG die Erteilung von Weisungen an den LH vor; bei der U chung von Veranstaltungen im Rahmen des Veranstaltungsrechts der LaÈnder ist nach Art 15 Abs 3 B-VG eine verpflichtende Mitwirkungsbefugnis der Polizeibeho È rden des Bundes angeordnet; bei der Ausu È ber die Landeslehrer sieht Art 14 È bung der Diensthoheit u Abs 4 B-VG eine Mitwirkung der SchulbehoÈrden des Bundes vor. . Zu den Aufsichtsrechten bei StaatsvertraÈgen, welche die LaÈnder abschlieûen, sowie zu È berwachungsrechten bei der Durchfu den U È hrung der vom Bund abgeschlossenen StaatsvertraÈge vgl Rz 278. È sung eines . Als ein Instrument der Bundesaufsicht kann auch die ErmaÈchtigung zur Auflo LT durch den BPraÈs (Art 100 B-VG) angesehen werden (vgl Rz 596). AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zu den Abschnitten 17±18: VfSlg 10.403/1985: Abgaben haben einen fiskalischen Zweck (sie dienen der Deckung des Finanzbedarfs der Gebietsko È rperschaften); wie dieses Erkenntnis zeigt, du È rfen sie nicht zu hauptsaÈchlich nicht-fiskalischen Zwecken (zB Wohnraumbewirtschaftung) herangezogen werden. Vergleiche damit VfSlg 11.143/1986 mit einer noch zulaÈssigen wirtschaftssteuernden Funktion einer Steuerbegu È nstigung. VfSlg 11.559/1987: Ein Beispiel fu È r das fu È r die Bemessung von Gebu È hren maûgebliche È quivalenzprinzip ± du A È rfen laÈnger zuru È ckliegende Verluste bei den Kanalgebu È hren den Bu È rgern auferlegt werden?
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Teil II. Die Staatsorganisation und die Staatsfunktionen
VfSlg 12.505/1990: Ein Erkenntnis zum Finanzausgleich, zum groûen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, aber auch zur Verpflichtung, die getroffene Aufteilung der AbgabenerÈ nderungen der tatsaÈchlichen VerhaÈltnisse schrittweise anzupassen. traÈge an wesentliche A VfSlg 15.938/2000: Vgl die erneute verfassungsrechtliche Beurteilung des abgestuften BevoÈlkerungsschlu È ssels, wobei der Gesetzgeber des FAG auf bestimmte, in der zuvor zitierten Entscheidung aufgeworfene Bedenken des VfGH schon eingegangen ist. VfSlg 12.284/1990 und VfSlg 12.918/1991: Zwei Erkenntnisse zu den Grenzen des Beru È cksichtigungsprinzips ± der Landesgesetzgeber darf bei der Standortplanung fu È r Einkaufszentren unter dem Titel des Raumordnungsrechts keine gewerberechtliche Bedarfsplanung betreiben, obwohl er eine Bedachtnahme auf die Interessen an einer funktionierenden Nahversorgung anordnen darf. VfSlg 13.780/1994: Hier stellt der VfGH (erneut) fest, dass Art 15a-Vereinbarungen non-selfexecuting sind. Wieso ist der VfGH zu dieser Ansicht gekommen? VfSlg 15.552/1999: Ein politisch spektakulaÈres Beispiel fu È r die bundesstaatliche Ru È cksichtnahmepflicht (Semmering-Basistunnel). VfGH 8.3.2007, V 17/06: Gesetzwidrigkeit der Tierschutz-VeranstaltungsVO des Bundes im Lichte der bundesstaatlichen Beru È cksichtigungspflicht (Verbot des Ausstellens von gefangenen SingvoÈgeln). È ger/Janko, Der Finanzausgleich im Zur Vertiefung: Zur Finanzverfassung: Hengstschla È sterreich (1997) 181; Bundesstaat, in: Schambeck (Hrsg), Bundesstaat und Bundesrat in O È ffer, Konsultationsmechanismus und Ruppe, Finanzverfassung im Bundesstaat (1977); Scha È R 2001, 145. innerstaatlicher StabilitaÈtspakt, ZO Zum Bund-LaÈnder-VerhaÈltnis: Jabloner, GliedstaatsvertraÈge in der o È sterreichischen RechtsÈ R 1989, 225; R. Novak, Bundesstaatliche Ru ordnung, ZO È cksichtnahme, in: Koja-FS (1998) È sterreich (1979); 357; Pernthaler/Weber, Theorie und Praxis der Bundesaufsicht in O Rosner, Koordinationsinstrumente der o È sterreichischen LaÈnder (2000).
2. Kapitel: Die Gesetzgebung 19. Die Gesetzgebung Im demokratischen Verfassungsstaat ist das Gesetz das zentrale rechtliche Steue- 471 rungsmittel. Dass jede Erscheinungsform der Staatsgewalt auf das foÈrmliche Gesetz zuru È ckgefu È hrt werden kann, ist eine Bedingung der Rechtsstaatlichkeit. Zugleich ist das von der Volksvertretung beschlossene Gesetz der Ausdruck der VolkssouverÈ ber die Gesetzesbindung der geÈanitaÈt und damit des demokratischen Prinzips. U samten Vollziehung wird die demokratische und rechtsstaatliche QualitaÈt des Gesetzes auch an die Organe der Verwaltung und Gerichtsbarkeit weiter gegeben. Auf dieses GesetzmaÈûigkeitsprinzip ist im Folgenden genauer einzugehen. ZunaÈchst sind aber der Begriff des Gesetzes, seine Funktionen und seine unterschiedlichen Geltungsbereiche zu behandeln.
19.1. Der Begriff des Gesetzes und seine Funktionen im demokratischen Verfassungsstaat 1. Die demokratischen und rechtsstaatlichen QualitaÈten des Gesetzes erge- 472 ben sich aus einer Verbindung formeller und materieller (inhaltlicher) Kriterien: Das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren ist auf oÈffentliche Diskussion und auf einen Ausgleich der Interessen angelegt, so dass das Gesetz eine Vermutung der Vernu È nftigkeit beanspruchen kann. Die Beschlussfassung durch die gewaÈhlte Volksvertretung vermittelt dem Gesetz die demokratische Legitimation. Das foÈrmliche Verfahren gibt dem Gesetz auch eine gewisse (heute freilich mitunter sehr kurzlebige) BestaÈndigkeit; durch die Kundmachung soll sein Inhalt fu È r jeden Rechtsunterworfenen erkennbar und vorhersehbar werden. Weil das Gesetz inhaltlich als generell-abstrakte Norm auf eine verbindliche Allgemeinregelung angelegt ist, die fu È r jedermann gilt, kann es der Idee nach Gleichheit und Gerechtigkeit verbu È rgen. Die formellen und die materiellen QualitaÈten des Gesetzes werden auch im Geset- 473 zesbegriff angesprochen und zugleich unterschieden: Gesetz im materiellen Sinn ist jede generell-abstrakte Norm; dieser Gesetzesbegriff fragt nach dem Inhalt einer Norm. Gesetz im formellen Sinn ist jede Norm, die von einem Gesetzgebungsorgan (NR, LT) beschlossen und als Gesetz kundgemacht wird; hier sind das Verfahren und das gesetzgeberische Organ wesentlich. Die beiden Gesetzesbegriffe mu È ssen nicht unbedingt zusammenfallen: Generell-abstrakt sind alle Normen, die sich an einen nach Gattungsmerkmalen bestimmten Adressatenkreis richten und die eine Vielzahl ku È nftiger FaÈlle regeln. Auch generelle Verwaltungsakte, also VO, sind generell-abstrakte Normen, werden aber von VerwaltungsbehoÈrden erlassen. Inhaltlich unterscheiden sie sich nicht von Gesetzen; sie sind daher Gesetze im materiellen, aber nicht im formellen Sinn. Andererseits kann ein Gesetzgeber (Parlament) ein foÈrmliches Gesetz erlassen (also ein Gesetz im formellen Sinn), das sich nur an einen einzigen Adressaten wendet (so genanntes ¹Individualgesetzª ± zB die gesetzliche Enteignung eines ganz bestimmten Unternehmens) oder das nur einen einzigen Anwendungsfall hat (so genanntes ¹Maûnahmegesetzª ± zB die Legalisierung bestehender Schwarzbauten). Individual- und Maûnahmegesetze sind Gesetze im nur formellen Sinn, ihnen fehlen die Merkmale der GeneralitaÈt und Abstraktheit.
2. Der liberale Rechtsstaat ist davon ausgegangen, dass sich Gesetz im formellen 474 und Gesetz im materiellen Sinn decken. Individualgesetze und Maûnahmegesetze erscheinen in diesem Sinn als problematische Abweichungen vom klassischen Gesetzesbegriff. TatsaÈchlich koÈnnen solche Gesetze auch fragwu È rdige Ein-
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Teil II. Die Staatsorganisation und die Staatsfunktionen
zelfallregelungen enthalten, die bestimmte Personen oder einzelne Gruppen entweder diskriminieren oder ungerechtfertigte Sondervorteile begru È nden. Der moderne, regelungsintensive Staat muss freilich mitunter auch den Einzelfall in der Form eines Gesetzes regeln und tut es auch. Beispiele dafu È r sind die nach dem 2. Weltkrieg erlassenen Verstaatlichungsgesetze oder in der Gegenwart Gesetze, die bestimmte MaÈrkte (zB Telekommunikation) liberalisieren und notwendigerweise Sonderbestimmungen fu È r bisherige Monopolunternehmen enthalten. Nach der Judikatur des VfGH sind Individual- und Maûnahmegesetze verfassungsrechtlich grundsaÈtzlich zulaÈssig (VfSlg 3118/1956, 13.738/1994); Schutz vor Willku È r oder unsachlicher Privilegierung bietet der Gleichheitsgrundsatz, weil auch solche Gesetze sachlich gerechtfertigt sein mu È ssen. 475 3. Weil das Gesetz seiner Idee nach eine verbindliche, auf Gleichheit und Gerechtigkeit angelegte Norm ist, stellt es das zentrale Steuerungsmittel des demokratischen Verfassungsstaats dar. Als solches kann es verschiedene Funktionen erfu È llen, die man idealtypisch wie folgt unterscheiden kann:
. die Ordnungsfunktion des Gesetzes: Durch gesetzliche Vorschriften, die notfalls auch zwangsweise durchgesetzt werden, gewaÈhrleistet der Staat eine verlaÈssliche Èauûere Ordnung, in der sich der Einzelne und die Gesellschaft frei und geschu È tzt vor Zwang und Gewalt entfalten ko È nnen. . die Freiheitsfunktion des Gesetzes: Selbstbestimmung setzt nicht nur die Abwesenheit von Èauûerem Zwang voraus, sondern erfordert auch freiheitssichernde staatliche GewaÈhrleistungen. Sie schafft der Gesetzgeber, wenn er zB eine auf den GrundsaÈtzen der Privatautonomie beruhende Privatrechtsordnung oder Organisationsformen fu È r Vereine bereitstellt. . die Integrationsfunktion des Gesetzes: Gesetzliche Entscheidungen sind auch eine VerstaÈndigung u È ber gemeinsame Werte, auf die man sich in einem demokratischen Verfahren einigt und durch die eine pluralistische Gesellschaft zusammengehalten werden kann. . die Ausgleichsfunktion des Gesetzes: Durch das Gesetz kommt der Staat seiner Aufgabe nach, eine sozialvertraÈgliche gesellschaftliche Ordnung zu gewaÈhrleisten, die auf den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit und SolidaritaÈt beruht. . die Versorgungsfunktion des Gesetzes: Schlieûlich ist das Gesetz auch das wichtigste Instrument, mit dem der Staat seine sozialstaatlichen Aufgaben in den Bereichen der Daseinsvorsorge, der sozialen Sicherheit und der GewaÈhrleistung kulturstaatlicher Belange (Bildung, Forschung, Kunst) in eine rechtliche Form bringt.
È rtliche Geltungsbereich von Gesetzen 19.2. Der zeitliche und o 476 Wie bei jeder Rechtsnorm koÈnnen auch beim Gesetz verschiedene Geltungsbereiche unterschieden werden, dh gesetzliche Normen gelten fu È r einen bestimmten abgegrenzten Zeitraum (zeitlicher Geltungsbereich), innerhalb eines bestimmten È rtlicher bzw raÈumlicher Geltungsbereich) und fu Gebiets (o È r einen bestimmten È nlicher und sachlicher GelKreis von Personen und von Sachverhalten (perso tungsbereich). Weil das Gesetz die wichtigste Rechtsquelle des demokratischen Verfassungsstaats ist, regelt die Verfassung selbst den zeitlichen und oÈrtlichen Geltungsbereich von Gesetzen. Darauf ist im Folgenden einzugehen; was hier zu den Bundesgesetzen ausgefu È hrt wird, gilt sinngemaÈû auch fu È r Landesgesetze, wobei sich hier die entsprechenden Regelungen in den L-VG finden. 19.2.1. Der zeitliche Geltungsbereich 477 1. Der zeitliche Geltungsbereich betrifft den Zeitraum, innerhalb dessen ein Gesetz Verbindlichkeit beansprucht: Ein Gesetz tritt zu einem bestimmten Zeitpunkt in Kraft und es wird irgendwann wieder auûer Kraft treten und waÈhrend dieser Zeit-
2. Kapitel: Die Gesetzgebung
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spanne steht das Gesetz in Geltung. Genauer betrachtet ist zwischen einem zeitlichen Tatbestandsbereich und einem zeitlichen Sanktionsbereich zu unterscheiden: Dass ein Gesetz auf bestimmte Sachverhalte anzuwenden ist, die sich innerhalb eines gewissen Zeitraumes ereignen, betrifft seinen zeitlichen Tatbestandsbereich (auch: zeitlicher Bedingungsbereich). Der zeitliche Sanktionsbereich (auch: zeitlicher Rechtsfolgenbereich) umschreibt den Zeitraum, innerhalb dessen die vom Gesetz vorgesehene Rechtsfolge fu È r ein tatbestandliches Verhalten von den Vollzugsorganen gesetzt werden kann (wie etwa die VerhaÈngung einer Strafe oder die Zuerkennung einer Leistung). Wenn ein Gesetz bestimmt, dass fu È r Studien, die im Studienjahr 2005/2006 betrieben werden, das monatliche Ho È chststipendium ¨ 480,± betraÈgt, so erstreckt sich der zeitliche Tatbestandsbereich dieser Norm vom 1. Oktober 2005 bis zum 30. September 2006. Die bescheidmaÈûige Zuerkennung der Stipendien kann waÈhrend dieses Zeitraums erfolgen, aber auch noch nach dem 30. September 2006, wenn etwa ein Antrag zB noch nicht erledigt ist. Der zeitliche Sanktionsbereich erstreckt sich also u È ber den Tatbestandsbereich hinaus und er dauert an, solange das Gesetz nicht aufgehoben ist; wenn ein Sachverhalt (Studium) verwirklicht ist, der innerhalb des zeitlichen Tatbestandsbereichs (Studienjahr 2005/2006) liegt, ist auch weiterhin die Rechtsfolge (Zuerkennung des Stipendiums) zu realisieren. Wenn durch eine am 1. September 2006 kundgemachte Novelle die Regelung verlaÈngert und etwa die Bedingungen fu È r den Bezug des Stipendiums ru È ckwirkend ab 1. JaÈnner 2005 erleichtert werden, hat diese Novelle einen zeitlichen Tatbestandsbereich, der am 1. JaÈnner 2005 beginnt und ± nachdem kein Endzeitpunkt angegeben ist ± bis auf weiteres fortlaÈuft. Der zeitliche Sanktionsbereich ± dh die bescheidmaÈûige Zuerkennung eines Stipendiums ± beginnt mit dem Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der erwaÈhnten Novelle zu laufen, dh mit Ablauf des 1. Septembers.
2. Der zeitliche Geltungsbereich von Bundesgesetzen wird in Art 49 Abs 1 B-VG 478 dahingehend festgelegt, dass sie mit Ablauf des Tages ihrer Kundmachung in Kraft treten, soweit nicht ausdruÈcklich anderes bestimmt ist. Wenn ein Gesetz daher an einem bestimmten Tag (zB 15. Mai) im BGBl kundgemacht wurde, wofu È r die Freigabe im RIS maûgeblich ist und worauf das in dem veroÈffentlichten Dokument angefu È hrte Datum hinweist, tritt es grundsaÈtzlich um 0:00 Uhr des Folgetages (16. Mai) in Kraft. Soweit nichts anderes bestimmt ist, ist es daher ab diesem Zeitpunkt auf alle von ihm erfassten ku È nftigen FaÈlle anzuwenden (zeitlicher Tatbestandsbereich) und es sind die vorgesehenen Rechtsfolgen zu verfu È gen (zeitlicher Sanktionsbereich). Der Gesetzgeber kann nach Art 49 B-VG anderes verfu È gen. Er kann daher im Ge- 479 setz bestimmen, dass dieses erst zu einem spaÈteren Zeitpunkt in Kraft tritt, dh es koÈnnen der zeitliche Tatbestandsbereich und der zeitliche Sanktionsbereich hinausgeschoben werden; das nennt man eine Legisvakanz. Eine Legisvakanz soll dazu dienen, den Normunterworfenen Gelegenheit zu geben sich auf das Gesetz einzustellen; auch die Vollziehung braucht haÈufig Zeit, um entsprechende Durchfu È hrungsmaûnahmen (zB die Erlassung von Durchfu È hrungsVO) vorzubereiten. Die Anordnung des In-Kraft-Tretens findet sich idR in den Schlussbestimmungen eines Gesetzes (zB § 129 Abs 1 NRWO: ¹Dieses Bundesgesetz tritt mit 1. Mai 1993 in Kraftª). Manche Gesetze enthalten sehr komplizierte Anordnungen, die fu È r verschiedene Bestimmungen eines Gesetzes unterschiedliche Zeitpunkte des In-Kraft-Tretens verfu È gen. Fehlt eine solche Anordnung, tritt das Gesetz nach der allgemeinen Regelung des Art 49 B-VG mit Ablauf des Tages der Kundmachung in Kraft.
3. GestuÈtzt auf die ErmaÈchtigung des Art 49 B-VG kann der Gesetzgeber auch ein 480 ru È ckwirkendes In-Kraft-Treten eines Gesetzes verfu È gen. Eine solche Ru È ckwirkung laÈuft idR darauf hinaus, dass der zeitliche Tatbestandsbereich einer gesetzlichen Bestimmung bereits waÈhrend eines in der Vergangenheit liegenden Zeitraums zu laufen beginnt; denkbar ist aber auch, dass eine bestimmte Rechtsfolge ru È ckwirkend eintritt.
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Vgl als Beispiel fu È r eine Ru È ckwirkung den oben Rz 477 angefu È hrten Fall der ru È ckwirkenden Erleichterung der Bedingungen fu È r ein Stipendium. Ein weiteres Beispiel ist etwa die auf das Jahr 1999 zuru È ckwirkende Steuerbefreiung fu È r Trinkgelder durch die EStG-Novelle BGBl I 2005/35.
481 Tritt ein Gesetz ru È ckwirkend in Kraft, bedeutet dies, dass ein bestimmter Sachverhalt, etwa das Verhalten eines Menschen oder ein bestimmter steuerrechtlich relevanter Tatbestand, nachtraÈglich rechtlich anders bewertet wird als zu dem Zeitpunkt, als das Verhalten gesetzt oder der Steuertatbestand verwirklicht wurde. Das kann in rechtsstaatlicher Hinsicht problematisch sein. Es gibt daher bestimmte verfassungsrechtliche Grenzen einer Ru È ckwirkung, auf die im Folgenden unter Rz 487 ff naÈher eingegangen wird. 482 4. Solange ein Gesetz nicht aufgehoben wurde, gilt es grundsaÈtzlich ohne zeitliche Begrenzung. Der zeitliche Geltungsbereich endet mit dem Auûer-Kraft-Setzen des Gesetzes, wobei das als Derogation bezeichnet wird. Mit der Aufhebung einer Norm endet der zeitliche Tatbestandsbereich; FaÈlle, die sich nach diesem Datum ereignen, sind nicht mehr nach dieser Norm zu beurteilen. Der zeitliche Sanktionsbereich wird in der Regel noch weiter fortdauern, so sind auf ¹aÈltereª (vor der Aufhebung liegende) FaÈlle immer noch die entsprechenden Bestimmungen anzuwenden. 483 Eine Derogation kann es in zwei verschiedenen Formen geben: . Formelle Derogation: Eine solche liegt vor, wenn der Gesetzgeber durch eine ausdru È ckliche Anordnung das Auûer-Kraft-Treten des Gesetzes oder einzelner seiner Bestimmungen verfu È gt. . Materielle Derogation: Wenn der Gesetzgeber bei der Erlassung einer neuen gesetzlichen Regelung keine bestimmte Anordnung u È ber das Auûer-Kraft-Treten trifft, verlieren trotzdem nach der Regel ¹lex posterior derogat legi prioriª alle jene gesetzlichen Bestimmungen ihre Geltung, die der neu erlassenen widersprechen. Voraussetzung der Derogation ist, dass die ju È ngere Norm denselben Anwendungsbereich wie die Èaltere hat, dh denselben Sachverhalt anders regelt. 484 a) Eine formelle Derogation hat den Vorteil der Normklarheit, weil es meistens keine Zweifel geben kann, welche Normen auûer Kraft gesetzt wurden und welche weiter gelten. Vgl als Beispiel fu È r die formelle Derogation eines ganzen Gesetzes die Auûer-Kraft-Setzung des UOG 1993 durch § 143 Abs 4 UG 2002: ¹Die Bestimmungen des UOG 1993 mit Ausnahme der Verfassungsbestimmungen treten mit Ablauf des 31. Dezember 2003 auûer Kraftª. Eine formelle Derogation kann auch nur einzelne Bestimmungen betreffen; vgl zB als Beispiel fu È r eine kombinierte Geltungsanordnung § 17b Abs 12 BMG: ¹§ 9 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 10/1999 tritt mit 1. JaÈnner 1999 in Kraft. Zugleich tritt Abs. 4 in der bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung auûer Kraftª.
485 b) Bei der materiellen Derogation muss der Normanwender (VerwaltungsbehoÈrde, Richter)
entscheiden, ob eine bestimmte Norm noch in Geltung steht und anzuwenden ist oder nicht. Das kann in EinzelfaÈllen schwierig sein. Obwohl im Allgemeinen der heutige Gesetzgeber der formellen Derogation den Vorzug gibt, sind FaÈlle der materiellen Derogation nicht selten, vor allem wenn nur einzelne Bestimmungen eines Gesetzes geaÈndert werden oder der Gesetzgeber es bewusst der Vollziehung u È berlassen moÈchte die Geltungsfrage zu entscheiden.
486 c) Von der Geltungsbeendung durch Derogation muss man den Fall unterscheiden, dass ein
Gesetz durch eine spaÈter erlassene Verfassungsbestimmung verfassungswidrig wird, was man als ¹Invalidationª bezeichnet (eine Norm ¹invalidiertª): Wird einer Norm durch eine ju È ngere, widersprechende Norm derogiert, verliert diese ihre Geltung. Sie ist nicht mehr anzuwenden und kann auch vom VfGH nicht mehr aufgehoben werden. Eine invalidierte Norm gilt dagegen und sie ist anzuwenden, solange sie nicht als verfassungswidrig aufgehoben wird. Durch das In-Kraft-Treten des Art 4 Abs 5 PersFrG, der die zulaÈssige Dauer einer administrativen Anhaltung auf 24 Stunden beschraÈnkt, wurde § 41 Abs 5 HeeresdisziplinarG invalidiert, der eine 48-Stunden-Frist vorsah; durch VfSlg 12.845/1991 wurde die verfassungswidrige Anhaltefrist aufgehoben. Dagegen wurde der Genehmigungspflicht fu È r Versammlungen unter freiem Him-
2. Kapitel: Die Gesetzgebung
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mel (§ 3 VersG) durch die Erlassung der Verfassungsbestimmung in Z 3 des Beschlusses der ProvNV, der die ¹volle Versammlungsfreiheitª verbu È rgte, nach Ansicht des VfGH materiell derogiert; eine Aufhebung des § 3 VersG war daher nicht no È tig und auch nicht moÈglich (VfSlg 254/ 1923, 4885/1964). Im Einzelfall muss es nicht immer eindeutig sein, ob man von einer Derogation oder Invalidation auszugehen hat; ausschlaggebend fu È r eine Derogation ist, dass beide Normen denselben Anwendungsbereich haben und einander widersprechen.
19.2.2. Verfassungsrechtliche Ru È ckwirkungsverbote Es wurde schon dargelegt, dass Art 49 B-VG den Gesetzgeber grundsaÈtzlich dazu er- 487 maÈchtigt auch eine Ru È ckwirkung von Gesetzen zu verfu È gen. Ru È ckwirkende Gesetze sind nicht in allen FaÈllen fu È r die davon Betroffenen ein Nachteil (zB wird sich kaum jemand u È ber eine ru È ckwirkende ErhoÈhung der Familienbeihilfe beschweren); belastende ru È ckwirkende Gesetze koÈnnen aber in rechtsstaatlicher Hinsicht fragwu È rdig sein und stoûen an gewisse verfassungsrechtliche Grenzen. 1. Jedenfalls unzulaÈssig ist die Erlassung ru È ckwirkender Strafgesetze, weil nie- 488 mand fu È r ein Verhalten bestraft werden darf, der zum Zeitpunkt der Handlung oder Unterlassung nicht ganz klar erkennen konnte, dass er eine strafbare Tat begeht. Dieses Ru È ckwirkungsverbot ist in Art 7 EMRK verankert; es gilt fu È r alle strafrechtlichen Anklagen, daher auch fu È r das Verwaltungsstrafrecht und fu È r Disziplinarverfahren. UnzulaÈssig ist die Bestrafung wegen einer Tat, die zum Tatzeitpunkt nicht strafbar war, oder die Auferlegung einer hoÈheren als der zum Tatzeitpunkt angedrohten Strafe. 2. Ru È ckwirkende Gesetze koÈnnen ferner dann verfassungswidrig sein, wenn sie ge- 489 gen das aus dem Gleichheitsgrundsatz abgeleitete Prinzip des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes verstoûen. Dieses Prinzip hat einen u È ber die Ru È ckwirkungsproblematik hinausgehenden Anwendungsbereich, weil es auch vor Eingriffen in bestimmte Rechtspositionen und vor schwerwiegenden, u È berraschenden RechtsÈanderungen schu È tzt (vgl Rz 1686 ff). Weil die Anwendung ru È ckwirkender Gesetze (zB die ru È ckwirkende ErhoÈhung einer Steuer oder die ru È ckwirkende Beseitigung von Begu È nstigungen) in eine Vertrauensposition eingreift, ist in diesem Prinzip auch ein begrenztes Ru È ckwirkungsverbot angelegt. È nderung einer 490 Danach ist eine ru È ckwirkende und fu È r die Bu È rger nachteilige A gesetzlichen Bestimmung unter den Aspekten des Vertrauensschutzprinzips dann verfassungswidrig, wenn ¹die Normunterworfenen durch einen Eingriff von erheblichem Gewicht in einem berechtigten Vertrauen auf die Rechtslage enttaÈuscht wurden und nicht etwa besondere UmstaÈnde eine solche Ru È ckwirkung verlangenª (stRspr seit VfSlg 12.186/1989). a) Von einer Ru È ckwirkung kann man nur dann sprechen, wenn der zeitliche Geltungsbereich einer Rechtsvorschrift durch eine entsprechende gesetzliche Anordnung (auch) auf Sachverhalte erstreckt wird, die sich vor der Erlassung des Gesetzes verwirklicht haben. Das war etwa der Fall bei der nachtraÈglichen EinschraÈnkung der steuerlichen Absetzbarkeit bestimmter Aufwendungen (VfSlg 12.416/1990), bei einer auf vergangene UrlaubszeitraÈume bezogenen È nderung des Urlaubsausmaûes (VfSlg 15.231/1998) oder bei der zuru A È ckwirkenden Beseitigung des Anspruchs auf vorzeitige Alterspension (VfSlg 16.689/2002). Keinen Fall der Ru È ckÈ nderung der Rechtslage dar, durch die erwartete steuerliche wirkung stellte dagegen eine A Vorteile nicht mehr eintreten konnten (VfSlg 13.657/1993). b) Ob ein ru È ckwirkendes Gesetz verfassungswidrig ist oder nicht, haÈngt von mehreren UmstaÈnden ab, in erster Linie von der Schwere des Eingriffs in die Vertrauensposition und vom Gewicht der fu È r eine Ru È ckwirkung sprechenden Gru È nde. Fu È r die Frage, ob ein Gesetz vertrauensverletzend wirkt, ist vor allem die Klarheit der gesetzlichen Regelung maûgebend, die durch die ru È ckwirkende Bestimmung geaÈndert wird, wobei in diesem Zusammenhang der Rspr ± vor allem jener oberster Gerichte ± besondere Bedeutung zukommt. Daher
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Teil II. Die Staatsorganisation und die Staatsfunktionen
darf der Gesetzgeber etwa eine Vorschrift, die unterschiedlich deutbar ist und die auch durch die Anwendungspraxis und die Rspr noch keine KlaÈrung gefunden hat, durch eine ru È ckwirÈ nderung in einem bestimmten Sinn klarstellen (vgl VfSlg 13.197/1992). Geschu kende A È tzt ist das Vertrauen des Bu È rgers auf der Grundlage der geltenden Rechtslage, er muss sich nicht an Planungen, politischen Vorhaben oder literarischen Diskussionen orientieren (VfSlg 12.186/ 1989). Besteht ein Vertrauenstatbestand, ist ein ru È ckwirkendes belastendes Gesetz in der Regel verfassungswidrig, auûer es gibt besondere rechtfertigende Gru È nde fu È r eine Ru È ckwirkung. Eine Ru È ckwirkung kann ausnahmsweise zulaÈssig sein, wenn sie noÈtig ist um andere Gleichheitswidrigkeiten zu vermeiden. Der VfGH hat Ru È ckwirkungen aber auch akzeptiert, wenn sie nach Ansicht des Gesetzgebers notwendig waren, um ein drohendes Unterlaufen einer Reform zu verhindern (so zB VfSlg 12.416/1990 zur Gefahr von VorziehkaÈufen, welche ein unbedenkliches fiskalisches Ziel durchkreuzt haÈtten). Um den rechtspolitisch unerwu È nschten Folgen einer bestimmten Rspr entgegenzutreten, kann eine ru È ckwirkende RechtsaÈnderung zulaÈssig sein, der Gesetzgeber muss aber rasch reagieren (VfSlg 17.311/2004).
È rtliche Geltungsbereich 19.2.3. Der o 491 Ebenfalls aus der Anordnung des Art 49 Abs 1 B-VG ergibt sich die Festlegung des È rtlichen Geltungsbereichs von Bundesgesetzen. Sie gelten, soweit nicht auso dru È cklich anderes bestimmt ist, im ganzen Bundesgebiet. Bundesgesetze haben daÈ sterreich umfassenden her grundsaÈtzlich einen das gesamte Gebiet der Republik O o È rtlichen Geltungsbereich. a) Dass ¹anderes bestimmtª werden kann, bedeutet zum einen, dass der Bundesgesetzgeber È sterreichs gelten (so genanntes partikulaÈres BunGesetze erlassen kann, die nur in Teilen O desrecht). Dafu È r gibt es nur vereinzelte Beispiele (zB im baÈuerlichen Anerbenrecht, fu È r das es Sonderregelungen fu È r einzelne BundeslaÈnder gibt, um den unterschiedlichen Traditionen Rechnung zu tragen). b) Auch in raÈumlicher Hinsicht ist zwischen einem Tatbestands- und einem Sanktionsbereich zu unterscheiden. Der Bundesgesetzgeber kann den raÈumlichen Tatbestandsbereich einer gesetzlichen Regelung auch u È ber das Bundesgebiet hinausgehend erstrecken und an im Ausland gesetzte Sachverhalte rechtliche Folgen knu È pfen (zB steuerliche Folgen fu È r im Ausland erÈ sterreicher im Ausland begangen zielte Einku È nfte oder die Bestrafung von Straftaten, die ein O hat). Die Erstreckung des raÈumlichen Sanktionsbereichs der oÈsterreichischen Rechtsordnung u È ber das Bundesgebiet hinaus ist nur in engen Grenzen und im Rahmen des VoÈlkerrechts zulaÈssig (vgl Art 9 Abs 2 B-VG).
19.3. Das GesetzmaÈûigkeitsprinzip (LegalitaÈtsprinzip) 19.3.1. Die Gesetzesbindung von Verwaltung und Gerichtsbarkeit 492 1. Dass die Vollziehung an das Gesetz gebunden ist, folgt an sich bereits aus dem Gesetzesbegriff und ist eine elementare Bedingung des Rechtsstaats. In der Verfassungsordnung des B-VG hat das GesetzmaÈûigkeitsprinzip freilich noch eine spezifischere AuspraÈgung erhalten, weil es darauf hinauslaÈuft, dass die Verwaltung und die Rechtsprechung nicht nur an das Gesetz gebunden sind (Vorrang des Gesetzes), sondern grundsaÈtzlich auch nur auf Grund des Gesetzes handeln du È rfen (Vorbehalt des Gesetzes), das Gesetz also eine notwendige Grundlage des Handelns der Vollziehung ist (zu den Begriffen Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes vgl Rz 178). Daher muss auch jedes Handeln des Staates auf ein Gesetz zuru È ckgefu È hrt werden koÈnnen, womit gewaÈhrleistet ist, dass jede AuspraÈgung der Staatsgewalt demokratisch legitimiert ist. Zugleich haben die Rechtsunterworfenen die MoÈglichkeit, sich u È ber die sie treffenden Rechte und Pflichten zu informieren, das staatliche Handeln vorherzusehen und ihr Verhalten darauf einzustellen.
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2. Fu È r die Verwaltung wird das GesetzmaÈûigkeitsprinzip (LegalitaÈtsprinzip) in aller 493 Deutlichkeit in Art 18 Abs 1 B-VG statuiert: ¹Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeu È bt werdenª. Dabei macht die Formulierung ¹auf Grund der Gesetzeª klar, dass es sich bei dieser Anordnung um einen umfassenden Vorbehalt des Gesetzes handelt. VerwaltungsbehoÈrden du È rfen daher nur auf der Grundlage eines ausreichend bestimmten Gesetzes hoheitlich handeln; ein Agieren im gesetzesfreien Raum ist ihnen insoweit verwehrt. ErklaÈrbar ist diese eindeutige Anordnung vor dem verfassungsgeschichtlichen Hintergrund, weil es in der Monarchie noch keine umfassende Gesetzesbindung der Verwaltung gab. 3. Dass auch die Gerichtsbarkeit an das LegalitaÈtsprinzip gebunden ist, wird im 494 B-VG weniger deutlich zum Ausdruck gebracht. Wenn Art 89 Abs 1 B-VG den Gerichten die Pru È fung der Gu È ltigkeit gehoÈrig kundgemachter Gesetze untersagt, laÈsst dies allerdings ebenfalls keinen Zweifel, dass auch die Rechtsprechung an das geho Èrig kundgemachte Gesetz gebunden ist. Daher kann davon ausgegangen werden, dass das GesetzmaÈûigkeitsprinzip fu È r die Verwaltung und fu È r die Gerichtsbarkeit gilt, was nicht ausschlieût, dass nach der Art der Bindung zu differenzieren ist. Darauf wird noch zuru È ckzukommen sein. 19.3.2. Die normative Tragweite und Reichweite des GesetzmaÈûigkeitsprinzips 1. Das GesetzmaÈûigkeitsprinzip hat zwei miteinander verknu È pfte Stoûrichtungen, 495 und zwar bindet dieses Prinzip die Vollziehung und die Gesetzgebung. Der Vollziehung (Verwaltung, Rechtsprechung) wird es untersagt ohne gesetzliche ErmaÈchtigung hoheitlich zu handeln. Zugleich liegt dem LegalitaÈtsprinzip die an den Gesetzgeber gerichtete Anordnung zu Grunde, die Handlungsgrundlagen der Vollziehung durch ausreichend bestimmte Gesetze zu regeln. Gesetze, welche das Vollzugshandeln ungenu È gend determinieren, sind verfassungswidrig; man spricht in diesem Zusammenhang von einer ¹formalgesetzlichen Delegationª, weil unbestimmte Gesetze die Vollziehung nur scheinbar binden und in Wahrheit darauf hinauslaufen, dass die Entscheidungsgewalt an die Verwaltung (oder Rechtsprechung) u È bertragen wird. Daher koÈnnen auch Gesetze gegen Art 18 B-VG verstoûen, wenn der Gesetzgeber den im LegalitaÈtsprinzip angelegten Bestimmtheitserfordernissen nicht Rechnung traÈgt. 2. Lange Zeit war es umstritten, ob Art 18 Abs 1 B-VG nur fu È r die hoheitliche Verwal- 496 tung oder auch fu È r die Privatwirtschaftsverwaltung gilt. Dabei muss man diese Problematik richtig verstehen: SelbstverstaÈndlich ist auch die privatwirtschaftlich taÈtige Verwaltung an die Gesetze gebunden, vor allem an die privatrechtlichen Bestimmungen, auf deren Grundlage die Verwaltungsbeho È rden VertraÈge abschlieûen oder oÈffentliche Unternehmen betreiben. Wenn Art 18 B-VG auch fu È r die Privatwirtschaftsverwaltung gilt, wu È rde das aber daru È ber hinausgehend bedeuten, dass auch das privatwirtschaftliche Handeln durch spezielle gesetzliche Normen determiniert sein mu È sste, dh dass es etwa fu È r die Vergabe von Subventionen oder fu È r den Betrieb eines oÈffentlichen Unternehmens eine ausdru È ckliche gesetzliche Regelung geben mu È sste, die ausreichend bestimmt den Inhalt des jeweiligen privatwirtschaftlichen Verwaltungshandelns regelt.
Heute gehen die hL und die Rspr im Wesentlichen u È bereinstimmend davon aus, dass 497 Art 18 Abs 1 B-VG auf die Privatwirtschaftsverwaltung nicht anzuwenden ist (VfSlg 7717/1975, 11.873/1988, 15.059/1997; OGH 24.11.1988, 6 Ob 694/88, JBl 1990, 169). Dafu È r lassen sich vor allem historische ErwaÈgungen ins Treffen fu È hren, die zeigen, dass der Verfassungsgesetzgeber bei der Erlassung des B-VG nicht daran gedacht hat, die Privatwirtschaftsverwaltung an das strikt verstandene LegalitaÈtsprinzip zu binden. Dem steht auch der Wortlaut des Art 18 Abs 1 B-VG (¹gesamte staatli-
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che Verwaltungª) nicht entgegen, da sich diese Wendung ± wie das nicht zuletzt Art 129 B-VG deutlich macht ± nur auf die Hoheitsverwaltung bezieht. Wenn Art 129 B-VG davon spricht, dass die UVS, der Asylgerichtshof und der VwGH dazu berufen sind, die GesetzmaÈûigkeit der ¹gesamten oÈffentlichen Verwaltungª zu sichern, und wenn man gleichzeitig beru È cksichtigt, dass nur hoheitliche Verwaltungsakte bei den UVS, dem Asylgerichtshof und beim VwGH angefochten werden koÈnnen, wird die eingeschraÈnkte Tragweite dieser Formulierung deutlich. 498 Dass Art 18 B-VG auf das privatwirtschaftliche Handeln der Verwaltung nicht anzuwenden ist, bedeutet nicht, dass die Verwaltung in diesem Bereich von den Anforderungen des GesetzmaÈûigkeitsprinzips gaÈnzlich dispensiert ist. Abgesehen von der Privatrechtsordnung, welche voraussetzungsgemaÈû die Rechtsgrundlage der Privatwirtschaftsverwaltung ist, muss die Verwaltung auch in diesem Bereich die Grundrechte beachten und darf daher beispielsweise nicht willku È rlich handeln (vgl zur so genannten Fiskalgeltung der Grundrechte Rz 1258 ff). Daru È ber hinaus ist anzunehmen, dass dort, wo die Verwaltung o È ffentliche Aufgaben in Formen des Privatrechts wahrnimmt (zB Subventionen vergibt), der Gesetzgeber die wesentlichen GrundsaÈtze zu regeln hat; dies kann aus dem rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzip abgeleitet werden, die unabhaÈngig von Art 18 B-VG Geltung beanspruchen. Im Einzelnen ist hier freilich noch vieles offen. 499 3. Eine abweichende Umschreibung fu È r das GesetzmaÈûigkeitsprinzip verwendet die Verfassung im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung, weil nach Art 118 Abs 4 B-VG die Gemeinde die Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereichs ¹im Rahmen der Gesetze und Verordnungenª fu È hrt. Auch wenn diese Formulierung auf eine abgeschwaÈchte Gesetzesbindung hindeutet, gehen Rspr und hL davon aus, dass das LegalitaÈtsprinzip des Art 18 B-VG fu È r die Gemeinde uneingeschraÈnkt und in der gleichen Strenge gilt (VfSlg 17.476/2005). Eine verfassungsrechtliche EinschraÈnkung des LegalitaÈtsprinzips gibt es allerdings fu È r die autonomen UniversitaÈten (vgl Rz 771 f). Die Satzungsgewalt der Einrichtungen der sonstigen (nicht-territorialen) Selbstverwaltung besteht ¹im Rahmen der Gesetzeª (Art 120b Abs 1 B-VG), was ebenfalls auf eine eingeschraÈnkte Gesetzesbindung hindeutet und auf ein gesetzesergaÈnzendes Verordnungsrecht hinauslaÈuft (vgl Rz 766). 19.3.3. Die ausreichende Bestimmtheit von Gesetzen 500 1. Ein zentraler Inhalt des LegalitaÈtsprinzips ist der Grundsatz der ausreichenden Bestimmtheit von Gesetzen. Danach muss der Gesetzgeber das Verwaltungshandeln in einem solchen Maû determinieren, dass die wesentlichen VoraussetzunÈ rdlichen Handelns aus dem Gesetz ersichtlich sind; gen und Inhalte des beho zu regeln sind das zustaÈndige Organ, das einzuhaltende Verfahren und vor allem der Inhalt der von der BehoÈrde zu treffenden Entscheidungen. Wie bestimmt Gesetze tatsaÈchlich sein mu È ssen und wo die Grenzen zwischen einer ausreichenden Bestimmtheit und einer formalgesetzlichen Delegation verlaufen, laÈsst sich freilich auf dieser Grundlage noch nicht eindeutig klaÈren. Letztlich ist es der VfGH, der dies im Gesetzespru È fungsverfahren zu entscheiden hat, wobei dazu eine u È beraus reichhaltige und nicht immer eindeutige Judikatur existiert. WaÈhrend der VfGH dabei u È ber viele Jahrzehnte hinweg eine eher strenge Linie verfolgt hat, nimmt er heute eine differenziertere Haltung ein. 501 a) Die Judikatur zur Determinierungspflicht wurde urspruÈnglich im Rahmen des Art 18
Abs 2 B-VG entwickelt, wonach der Inhalt von VO durch das Gesetz ausreichend vorbestimmt sein muss. In der Folge hat der Gerichtshof dieses Bestimmtheitserfordernis auch auf individuelle Verwaltungsakte und Art 18 Abs 1 B-VG u È bertragen (VfSlg 4037/1961). Die Umschreibung der Bestimmtheitserfordernisse durch die Judikatur wird oft als nichts sagend kritisiert: So
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È bereinstimmung wenn es heiût, dass Gesetze so bestimmt sein mu È ssen, dass der VwGH die U behoÈrdlicher Verwaltungsakte mit dem Gesetz u È berpru È fen kann (zB VfSlg 4139/1962, 11.499/ 1987, 12.133/1989, 13.785/1994), oder wenn gefordert wird, dass der Rechtsunterworfene sein Verhalten nach der gesetzlichen Regelung einrichten kann (VfSlg 13.460/1993). TatsaÈchlich handelt es sich bei solchen Formulierungen weitgehend um Leerformeln, die aber immerhin andeuten, worum es bei den Bestimmtheitserfordernissen geht. b) Obwohl der VfGH in seiner Judikatur lange Zeit von eher strengen Anforderungen an 502 die ausreichende Determinierung ausgegangen ist und zahllose Gesetze wegen einer Verletzung von Art 18 B-VG aufgehoben wurden, hat er erkennen lassen, dass das LegalitaÈtsprinzip letztlich differenziert anzuwenden ist und die Frage nach der ausreichenden Bestimmtheit von verschiedenen variablen UmstaÈnden abhaÈngt. Man hat daher auch von einem differenzierten LegalitaÈtsprinzip gesprochen (VfSlg 15.177/1998). TatsaÈchlich wird man nur auf einer solchen Grundlage den richtigen Mittelweg finden koÈnnen zwischen einerseits u È berzogenen Anforderungen, welche nur die ¹Gesetzesflutª erhoÈhen, und andererseits einer VernachlaÈssigung der rechtsstaatlichen und demokratiepolitischen Grundgedanken, die hinter dem LegalitaÈtsprinzip stehen.
2. Es ist davon auszugehen, dass die im GesetzmaÈûigkeitsprinzip angelegten Anfor- 503 derungen an die Bestimmtheit von Gesetzen nicht uniform sind, sondern von unterschiedlichen Gesichtspunkten abhaÈngen koÈnnen. Dies verdeutlicht auch die Verfassung selbst, die ausdru È cklich zulaÈsst, dass der Gesetzgeber den VerwaltungsbehoÈrden freies Ermessen einraÈumt und dabei ± wie es in Art 130 Abs 2 B-VG heiût ± ¹von einer bindenden Regelung des Verhaltens der VerwaltungsbehoÈrde absiehtª. TatsaÈchlich raÈumen zahlreiche Verwaltungsvorschriften Ermessen ein; ein solches liegt dann vor, wenn eine BehoÈrde innerhalb eines gewissen gesetzlichen Rahmens die Wahlfreiheit hat, welche Entscheidung sie treffen wird (etwa ob sie eine Staatsbu È rgerschaft verleiht oder nicht oder in welcher HoÈhe eine Verwaltungsstrafe verhaÈngt wird). Dass die BehoÈrde dieses Ermessen nicht missbrauchen darf (etwa durch willku È rliche Entscheidungskriterien) und dass sie von ihrem Ermessen nur ¹im Sinne des Gesetzesª Gebrauch machen kann (so Art 130 Abs 2 B-VG), Èandert nichts daran, dass hier die BehoÈrden EntscheidungsspielraÈume haben und dass das mit der Verfassung vereinbar ist. 3. Der Gesetzgeber hat auch einen gewissen legistischen Spielraum, wie er seiner 504 Determinierungspflicht nachkommt: Er darf unbestimmte Gesetzesbegriffe verwenden und InterpretationsspielraÈume offen lassen, wenn sich nur unter Ausscho È pfung aller Interpretationsmethoden noch ein ausreichend bestimmter Regelungsgehalt ableiten laÈsst (VfSlg 11.499/1987, 13.785/1994, 15.447/1999). Bei unbestimmten Gesetzesbegriffen koÈnnen auch Beispiele diese naÈher determinieren (VfSlg 14.380/1995), AbwaÈgungsklauseln sind zulaÈssig, wenn die AbwaÈgungskriterien festgelegt sind (VfSlg 15.177/1998). Verfassungswidrig sind Regelungen, deren Sinn u È berhaupt nicht erkennbar ist, oder Ermessensbestimmungen, wenn nicht klar ist, in welchem Sinn das Ermessen auszuu È ben ist (VfSlg 13.740/1994, 14.715/ 1996). Zur Problematik von Verweisungen und zum Gebot, dass Gesetze verstaÈndlich sein mu È ssen, vgl Rz 192 f. 4. Dort, wo sich die Verfassung mit herabgesetzten Bestimmtheitserfordernis- 505 sen begnu È gt, kann der Gesetzgeber der Vollziehung HandlungsspielraÈume einraÈumen, die diese nach eigenem Ermessen ausfu È llen darf (zB in Form des so genannten Planungsermessens im Planungsrecht oder bei der Wirtschaftslenkung). Daher laÈsst sich auch nicht schlechterdings sagen, dass die Verwaltung nur das Gesetz konkretisiert (so aber zB VfSlg 15.811/2000); ihr kann auf der Grundlage von gesetzlichen Vorgaben ein Bereich eigenverantwortlicher Gestaltung eroÈffnet werden. In diesem Sinn ist auch die Verwaltung eine eigenstaÈndige Staatsgewalt mit selbstaÈndiger Verantwortlichkeit.
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506 5. Wenn man erkennt, dass die Verfassung die EinraÈumung von EntscheidungsspielraÈumen zulaÈsst und dass die Anforderungen an die Vorherbestimmtheit von Gesetzen nicht uniform bestimmt werden koÈnnen, ist es noÈtig die maûgeblichen Gesichtspunkte aufzuzeigen, die daru È ber entscheiden, ob der Gesetzgeber bestimmte Handlungen der Vollziehung mehr oder weniger genau determinieren muss. Dabei koÈnnen der Judikatur zahlreiche Anhaltspunkte entnommen werden, die hier systematisch zusammengefasst werden. Die Anforderungen an die ausreichende Bestimmtheit von Gesetzen sind dabei vor allem vor dem Hintergrund des demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzips zu entwickeln, die im LegalitaÈtsprinzip ihren Ausdruck finden. 507 Gesteigerte Bestimmtheitserfordernisse sind in den folgenden ZusammenhaÈngen anzunehmen: . Bei gesetzlichen Bestimmungen, welche zu Eingriffen in Grundrechte ermaÈchtigen: Wenn der Gesetzgeber die FreiheitssphaÈre der Bu È rger beschraÈnkt, mu È ssen diese Eingriffe praÈzise abgegrenzt und fu È r den Einzelnen vorhersehbar sein. Der VfGH hat in diesem Zusammenhang eine Judikatur entwickelt, die bei ¹eingriffsnahen Gesetzenª von der Notwendigkeit einer gesteigerten Determinierung ausgeht, wobei der Gesetzgeber selbst den Ausgleich zwischen den grundrechtlich geschu È ffentÈ tzten Werten und entgegenstehenden o lichen Interessen zu treffen hat. Gesetze sind dabei dann ¹eingriffsnahª, wenn sie zu regelmaÈûigen, intensiven Eingriffen in grundrechtlich geschu È tzte Bereiche ermaÈchtigen (VfSlg 10.737/1985, 11.455/1987, 13.336/1993). . Weil StraftatbestaÈnde auf intensive Eingriffe in Grundrechte hinauslaufen, gelten besondere Determinierungserfordernisse fu È r alle TatbestaÈnde des Justiz- und Verwaltungsstrafrechts (VfSlg 14.153/1995). Vergleichbares gilt fu È r die Festlegung von Abgaben (VfSlg 9227/1981, 13.785/1994). È rdlicher ZustaÈndigkeiten ist im Hinblick auf rechtsstaatliche Er. Die Begru È ndung beho fordernisse und das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter auf praÈzise gesetzliche Bestimmungen angewiesen (VfSlg 13.021/1992, 13.816/1994). . Im Hinblick auf das demokratische Prinzip hat der Gesetzgeber jedenfalls die wesentlichen Gesichtspunkte seiner Regelungen eindeutig zu determinieren (Wesentlichkeitstheorie). ¹Wesentlichª ist dabei vor allem das, was vom Regelungsziel her betrachtet oder unter Gerechtigkeitsaspekten wichtig ist, dh etwa die rechtspolitischen Eckpunkte einer Reform oder das, was politisch strittig ist. Daher durfte zB der Gesetzgeber die Regelung der rundfunkpolitisch brisanten Frage der Frequenzverteilung nicht an den VO-Geber delegieren (VfSlg 14.256/1995) und musste er selbst die GrundsaÈtze fu È r die Berechnung bestimmter Tarife im Energiesektor determinieren (VfSlg 15.888/2000).
508 AbgeschwaÈchte Bestimmtheitserfordernisse koÈnnen unter den folgenden UmstaÈnden angenommen werden: . Bei der Regelung ku È nftiger, sich dynamisch entwickelnder Sachverhalte, mit denen vor allem im Planungsrecht zu rechnen ist (Raumordnungsrecht, Wirtschaftsplanung). Hier darf sich der Gesetzgeber mit einer abgeschwaÈchten inhaltlichen Determinierung in der Form von Zielvorgaben (so genannte finale Determinierung) begnu È gen. Als Ausgleich dafu Èr fordert die Judikatur eine besonders strenge Verfahrensbindung (Legitimation durch Verfahren), was auch gesteigerte behoÈrdliche Ermittlungs- und AbwaÈgungspflichten nach sich ziehen kann (VfSlg 8280/1978, 14.041/1995, 17.348/2004). . Bei der Vorgabe von im Wesentlichen technischen Standards und anderen Normierungen, fu È r die es verlaÈssliche fachliche BeurteilungsmaûstaÈbe gibt (zB im Bautechnikrecht), wenn der Gesetzgeber die entscheidenden Wertungen vorgibt. . Nach der Judikatur des VfGH soll ganz generell im Bereich des Wirtschaftsrechts eine nicht so weit gehende gesetzliche Vorherbestimmtheit erforderlich sein (VfSlg 15.468/ 1999). Dies gilt jedenfalls in den Bereichen, wo es um eine dynamische Gestaltung zuku È nftiger Entwicklungen geht (VfSlg 10.275/1984). . Schlichthoheitliches Verwaltungshandeln bedarf idR keiner ins Detail gehenden gesetzlichen Determinierung, sondern kann seine Grundlage in den ausdru È cklich durch Ge-
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setz eingeraÈumten hoheitlichen Befugnissen haben. Anderes kann fu È r Grundrechtseingriffe gelten, auch wenn sie zwangsfrei erfolgen (zum Begriff des schlichthoheitlichen Verwaltungshandelns vgl Rz 660). . Auch die innere Organisation von Verwaltungsbeho Èrden (Gliederung in Abteilungen, Anordnungsbefugnisse usw) bedarf in der Regel keiner gesetzlichen Determinierung, wenn sie nicht ausdru È cklich, wie in Art 77 Abs 2 B-VG (BMG), vorgeschrieben ist (VfSlg 4733/1964).
6. Das verfassungsrechtliche Gebot der ausreichenden Bestimmtheit von Gesetzen 509 wurde vor allem im Hinblick auf die Verwaltung und die Determinierung von Verwaltungshandeln entwickelt. Das bedeutet nicht, dass er nicht auch fu È r Justizgesetze gilt, welche sich an die Rechtsprechung richten. Es kann auch nicht generell gesagt werden, dass die Rechtsprechung in einem geringeren Maû gesetzlich determiniert werden mu È sste als die Verwaltung; wie zB der Fall des Justizstrafrechts zeigt, gibt es auch hier gesteigerte Bestimmtheitserfordernisse. Bei der Gestaltung des Zivilrechts ist der Gesetzgeber freilich nicht in der gleichen Weise an den Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit gebunden, weil die Privatrechtsordnung weithin eine Freiwilligkeitsordnung ist, die durch privatautonome Vereinbarungen der Bu È rger gestaltet wird. Daher darf es im Privatrecht etwa auch Generalklauseln und andere offene Normen geben, die dem Richter einen erheblichen Entscheidungsspielraum geben. 19.3.4. LegalitaÈtsprinzip und EuropaÈisches Gemeinschaftsrecht 1. Unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht ist auf Grund seines Anwen- 510 dungsvorrangs auch dann anzuwenden, wenn es das Verhalten der VollzugsbehoÈrden nicht in einer dem Art 18 B-VG entsprechenden Weise determiniert. Durch das Gemeinschaftsrecht wurde daher das LegalitaÈtsprinzip, das einen der tragenden GrundsaÈtze des o È sterreichischen Verfassungsrechts darstellt, in nicht unerheblichem Ausmaû abgeschwaÈcht. 2. Soweit das Gemeinschaftsrecht auf eine Umsetzung angewiesen ist und dafu È r im 511 Sinn der ¹doppelten Bindungª ein entsprechender Spielraum besteht (vgl Rz 345 f), sind die Anforderungen des LegalitaÈtsprinzips zu beachten. Wenn daher Sanktionen fu È r VerstoÈûe gegen das Gemeinschaftsrecht vom oÈsterreichischen Gesetzgeber geschaffen werden, hat er die StraftatbestaÈnde ausreichend bestimmt festzulegen und die BehoÈrdenzustaÈndigkeit durch eindeutige gesetzliche Regelungen zu bestimmen. Erfolgt die Umsetzung durch VO, mu È ssen diese die iS von Art 18 Abs 2 B-VG erforderliche Deckung in einem ausreichend bestimmten, innerstaatlichen Gesetz finden; eine Richtlinie reicht dafu È r nicht aus, weil es sich dabei um kein Gesetz handelt (VfSlg 15.189/1998). AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zum Abschnitt 19: VfSlg 10.737/1985: Das Leiterkenntnis zu den ¹eingriffsnahen Gesetzenª. VfSlg 12.688/1991: Ein besonders problematischer Fall einer Ru È ckwirkung! VfSlg 13.301/1992: Unbestimmte Gesetzesbegriffe sind im Licht des Art 18 B-VG zulaÈssig; vgl aber die Konsequenzen, wenn unbestimmte Begriffe ¹gehaÈuftª auftreten. VfSlg 14.466/1996: Wie bestimmt ist der Begriff ¹laÈngere Zeitª? Beachte, dass der Inhalt des Gesetzes auch dann noch bestimmt sein kann, wenn ein erheblicher Interpretationsaufwand zu betreiben ist. VfSlg 14.715/1996: Dieses Gesetz war sicherlich nicht ausreichend bestimmt ± stand es aber u È berhaupt noch in Geltung oder wurde ihm durch Art 18 B-VG derogiert?
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VfSlg 14.717/1996: Kann eine Norm unterschiedlich ausgelegt werden, darf ihr im Zweifel nicht unterstellt werden, dass sie eine Ru È ckwirkung anordnet. VfSlg 14.936/1997: Ein ¹klassischerª Fall ungenu È gender gesetzlicher Determinierung. VfSlg 15.203/1998: Wird eine gesetzliche Bestimmung neu erlassen, wenn ihr Wortlaut unveraÈndert bleibt? Zur Vertiefung: Holoubek, Verfassungsrechtlicher Vertrauensschutz gegenu È ber dem Gesetzgeber, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 50 Jahre Allgemeine ErklaÈrung der MenÈ sterreich Bd 3 (1997) 795; Korinek/Holoschenrechte. Grund- und Menschenrechte in O ubek, Grundlagen staatlicher Privatwirtschaftsverwaltung (1993); R. Novak, Das ¹differenzierte LegalitaÈtsprinzipª in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, in: Adamovich-FS È hlinger, LegalitaÈtsprinzip und EuropaÈische Integration, in: FS 75 Jahre Bun(1992) 491; O desverfassung (1995) 633; Raschauer, GesetzmaÈûigkeitsgrundsatz und Wirtschaftsrecht, in: Rill-FS (1995) 515; G. Winkler, Gesetzgebung und Verwaltung im Wirtschaftsrecht (1970).
20. Der Nationalrat 512 Wichtigstes Organ der Gesetzgebung ist der Nationalrat (NR). Er ist die in demokratischer Wahl gewaÈhlte Volksvertretung auf Bundesebene und damit jenes Organ, von dem sich die Legitimation anderer oberster Staatsorgane ableitet und dem die demokratische Gesamtleitung zukommt. Der NR erlaÈsst gemeinsam mit dem Bundesrat die Bundesgesetze (einfache Bundesgesetze und Bundesverfassungsgesetze). Dem parlamentarischen Charakter des o È sterreichischen Regierungssystems entsprechend ist die Bundesregierung vom Vertrauen des NR abhaÈngig. Der NR kontrolliert auch die gesamte Verwaltung des Bundes. Die Rechtsstellung des NR ist in den Art 24±33 B-VG in den Grundzu È gen geregelt. Fu È r seine Organisation und GeschaÈftsfu È hrung ist das (mit 2/3-Mehrheit zu beschlieûende ± vgl Art 30 Abs 2 B-VG) GeschaÈftsordnungsG (GONR) maûgeblich. Die Einzelheiten der Wahl der Nationalratsabgeordneten sind in der (einfachgesetzlichen) Nationalrats-Wahlordnung 1992 (NRWO) geregelt.
20.1. Die Nationalratswahl 20.1.1. Die verfassungsrechtlichen WahlrechtsgrundsaÈtze 513 Ein demokratisches System setzt die periodische Legitimation der Staatsgewalt durch eine Volkswahl voraus. Dem entspricht die regelmaÈûige Wahl der Abgeordneten zum NR. Wegen der groûen politischen Bedeutung der Nationalratswahl ± durch die letztlich u È ber die politischen MachtverhaÈltnisse auf Bundesebene entschieden wird ± regelt das B-VG die Grundzu È ge dieser Wahl in den verfassungsrechtlichen WahlrechtsgrundsaÈtzen, welche gleichsam die ¹Magna Charta des o È sterreichischen Wahlrechtsª (Heinrich Neisser) darstellen (Art 26 Abs 1 B-VG, Art 3 1. ZProtEMRK, Art 8 StV Wien). Im Prinzip geht es darum, eine demokratische und freie Wahl sicherzustellen, durch die der Wille aller stimmberechtigten Bu È rger moÈglichst unverfaÈlscht zur Geltung gebracht wird und die jeder politischen Partei die gleiche Chance auf Vertretung im Parlament entsprechend ihrer Bedeutung gibt. Die naÈhere Ausfu È hrung der verfassungsrechtlichen WahlgrundsaÈtze und die Regelung des Wahlverfahrens erfolgen in Bindung an die verfassungsrechtlichen WahlrechtsgrundsaÈtze durch die NRWO. Die in Art 26 Abs 1 B-VG angefu È hrten WahlrechtsgrundsaÈtze gelten kraft ausdru È cklicher Anordnung auch fu È r die anderen Wahlen zu allgemeinen
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VertretungskoÈrpern, also fu È r die Wahlen zum Landtag und zum Gemeinderat (Art 95, 117 B-VG ± Grundsatz der HomogenitaÈt der WahlrechtsgrundsaÈtze). Die verfassungsrechtlichen WahlrechtsgrundsaÈtze legen die folgenden Prinzipien fu È r die Wahl zum NR fest: 1. Grundsatz des allgemeinen Wahlrechts: Die Verfassung geht davon aus, dass 514 grundsaÈtzlich jeder o È sterreichische Staatsbu È rger zur Wahl zugelassen ist, der das verfassungsrechtlich festgelegte Wahlalter erreicht hat. Andere UmstaÈnde, wie etwa das VermoÈgen, der Beruf oder das Geschlecht einer Person du È rfen keine Rolle spielen. Danach ist wahlberechtigt (aktives Wahlrecht), wer spaÈtestens am Wahltag das 16. Lebensjahr vollendet hat; waÈhlbar (passives Wahlrecht) sind jene Bu È rger, welche am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet haben (Art 26 Abs 1, 4 B-VG). Ein Ausschluss vom Wahlrecht oder von der WaÈhlbarkeit darf nur als Folge einer gerichtlichen Verurteilung angeordnet sein (Art 26 Abs 5 B-VG). Der Ausschluss vom Wahlrecht als Folge einer gerichtlichen Verurteilung kann vom einfachen Bundesgesetzgeber angeordnet werden. Nach § 22 NRWO ist ausgeschlossen, wer rechtskraÈftig wegen einer mit Vorsatz begangenen strafbaren Handlung zu einer mehr als einjaÈhrigen È sterreichernª, dh o Freiheitsstrafe verurteilt wurde. ¹Auslandso È sterreichischen StaatsbuÈrgern mit Wohnsitz im Ausland, kommt ebenfalls das Wahlrecht zu, das sie durch Briefwahl nach § 60 NRWO ausu È ben koÈnnen.
2. Grundsatz der gleichen Wahl: Nach diesem Grundsatz zaÈhlt die Stimme jedes 515 Bu È rgers gleich, dh dass keiner Stimme ein groÈûeres oder geringeres Gewicht zugemessen werden darf. Dieses Prinzip der Wahlgleichheit bezieht sich nach der Rspr auf den gleichen ZaÈhlwert abgegebener Stimmen entsprechend dem Grundsatz ¹one man one voteª; gewisse durch die Wahlarithmetik bedingte Ungleichheiten sind damit zwangslaÈufig verbunden und hinzunehmen. Dass zB in einem Bundesland mit einer relativ ¹jungenª BevoÈlkerung ein Mandat wegen des ¹Bu È rgerzahlprinzipsª (dazu unten Rz 524) verhaÈltnismaÈûig leichter zu erlangen ist und damit eine abgegebene Stimme ¹mehr wiegtª als in einem anderen Bundesland, ist verfassungsrechtlich vorgegeben; der Grundsatz der gleichen Wahl erzwingt daher im Ergebnis nicht den vollstaÈndig gleichen Erfolgswert abgegebener Stimmen, wohl aber einen gleichen ¹potentiellenª Erfolgswert.
3. Grundsatz der unmittelbaren Wahl: Dieser Grundsatz verlangt, dass das Bun- 516 desvolk die Abgeordneten zum NR selbst auswaÈhlt; damit unvereinbar waÈre ein System, in dem das Volk zunaÈchst ¹WahlmaÈnnerª waÈhlt und diese erst die Abgeordneten bestimmen. 4. Grundsatz der geheimen Wahl: Nach diesem Grundsatz muss die Stimmabgabe 517 durch die WaÈhler in einer Art und Weise erfolgen, die Auûenstehenden oder den staatlichen BehoÈrden (WahlbehoÈrden) keine MoÈglichkeit gibt sich Kenntnis u È ber die individuelle Wahlentscheidung zu verschaffen. Dieser Grundsatz fordert ein TaÈtigwerden des Gesetzgebers und er wird durch verschiedene Bestimmungen der NRWO ausgestaltet: So wird die Vertraulichkeit der Stimmabgabe durch die Regelungen u È ber die Einrichtung von Wahlzellen, u È ber die Verwendung blickdichter Stimmkuverts, u È ber die Stimmabgabe, u È ber die AuszaÈhlung der Wahlergebnisse usw gesichert. Derartige Regelungen sind erforderlich, weil die historischen Erfahrungen zeigen, dass in Diktaturen die Freiheit der Wahl nicht zuletzt dadurch beeintraÈchtigt wird, dass durch eine mehr oder weniger erzwungene Offenlegung des Abstimmungsverhaltens Druck auf die WaÈhler ausgeu È bt wird. Unter dem Aspekt der geheimen Wahl hat der VfGH Bedenken gegen die Einfu È hrung der Briefwahl geaÈuûert, weil bei einer Stimmabgabe, die nicht vor einer WahlbehoÈrde, sondern brieflich erfolgt, nicht gewaÈhrleistet erscheint, dass die Vertraulichkeit des Wahlaktes nicht durchbrochen wird (VfSlg 10.412/1985). Seit der Verfassungsnovelle BGBl I 2007/27 sieht Art 26 Abs 6 B-VG die ZulaÈssigkeit und das Recht einer Stimmabgabe in der Form einer Briefwahl fu È r alle Wahlberechtigten vor, die am Wahltag ihre Stimme wegen einer Verhinderung (Ortsabwesenheit, Krankheit, Auslandsaufenthalt) nicht vor der WahlbehoÈrde abgeben ko È nnen.
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È nlichen Wahl: Danach muss die Stimmabgabe das Ergeb518 5. Grundsatz der perso nis der mo È glichst unverfaÈlschten persoÈnlichen Entscheidung des WaÈhlers sein. Eine Wahl durch einen ¹Stellvertreterª waÈre damit unvereinbar; durch die Gestaltung des Wahlverfahrens ist auch dafu È r zu sorgen, dass Einflu È sse dritter Personen auf die Stimmabgabe nach MoÈglichkeit ausgeschlossen werden. 519 6. Grundsatz der freien Wahl: Eine demokratische Willensbildung setzt voraus, È berzeugung moÈglichst unbeeinflusst von Èauûedass die WaÈhler ihrer politischen U rem Zwang und unzulaÈssiger Beeinflussung Ausdruck verleihen koÈnnen, dass eine Wahl zwischen verschiedenen politischen Gruppierungen moÈglich ist und dass diese auch frei und unbehindert um die Zustimmung der BevoÈlkerung werben koÈnnen. Der Grundsatz der Freiheit der Wahl ist seit 2007 im B-VG ausdru È cklich verankert, war aber auch schon zuvor im Art 3 des 1. ZProtEMRK sowie in Art 8 StV Wien verfassungsrechtlich anerkannt. Dieser Grundsatz setzt ein Mehrparteiensystem voraus, er fordert ferner die Freiheit der Wahlwerbung und verbietet den staatlichen Organen eine Manipulation des WaÈhlerwillens durch staatliche Propaganda oder andere Formen der gezielten Beeinflussung des WaÈhlerwillens (VfSlg 14.371/1995). Wenn es eine staatliche Parteienfinanzierung oder eine Erstattung von Wahlkampfkosten gibt, darf die Chancengleichheit aller politischen Gruppierungen dadurch nicht beeintraÈchtigt werden.
520 7. Grundsatz der VerhaÈltniswahl: Mit der Festlegung auf den Grundsatz der VerhaÈltniswahl hat sich die Verfassung fu È r ein ganz bestimmtes Wahlrechtssystem entschieden. Dieser Wahlrechtsgrundsatz setzt voraus, dass die Ermittlung des Wahlergebnisses (dh die Verteilung der Mandate auf die wahlwerbenden Parteien) grundsaÈtzlich nach dem VerhaÈltnis der abgegebenen Stimmen erfolgt. Eine Partei, die daher zB 10 % der WaÈhlerstimmen auf sich vereinigen konnte, mu È sste ± den GrundsaÈtzen einer VerhaÈltniswahl entsprechend ± etwa 10 % der Mandate (Sitze im Nationalrat) erhalten, eine Partei, die 40 % der Stimmen erhaÈlt, dementsprechend 40 % der Mandate, usw. Hinter der Entscheidung der Verfassung fu È r das VerhaÈltniswahlrecht È berzeugung, dass dieses Wahl(auch Proportionalwahlrecht genannt) steht die U rechtssystem ein gerechteres und ¹demokratischeresª System ist als ein Mehrheitswahlrecht. 521 a) Die Entscheidung fuÈr ein bestimmtes Wahlrechtssystem ist eine verfassungspolitische
Schlu È sselfrage fu È r jede Demokratie. Dabei geht es im Prinzip um die Entscheidung zwischen zwei verschiedenen Systemen, naÈmlich um die Entscheidung zwischen einem Mehrheitswahlrecht und einem VerhaÈltniswahlrecht. Bei einem Mehrheitswahlrecht fallen jener Partei, die in einem Wahlkreis die Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen kann, alle Mandate fu È r diesen Wahlkreis zu; die fu È r die Minderheit abgegebenen Stimmen schlagen sich in Mandaten nicht nieder. Ein solches Wahlrecht fu È hrt in der Tendenz zur Herausbildung einer relativ stabilen politischen Mehrheit im Parlament und zur Bildung von Regierungen, die von einer deutlichen parlamentarischen Mehrheit getragen sind. Das VerhaÈltniswahlrecht gibt demgegenu È ber allen politischen Parteien eine Chance auf Vertretung im Parlament, weil jede Partei entsprechend ihrer zahlenmaÈûigen Bedeutung Anspruch auf eine verhaÈltnismaÈûige Anzahl von Sitzen im Parlament hat. Das begu È ûeÈ nstigt auch kleinere Parteien, fu È hrt zu einer gro ren Vielzahl an Parteien in den Volksvertretungen und bedingt die Notwendigkeit der Bildung von Koalitionen, um eine regierungsfaÈhige Mehrheit zu Stande zu bringen. Im Ergebnis fu È hrt ein Mehrheitswahlrecht zu einem politischen System, in dem einer von der Mehrheit getragenen Regierung eine starke Opposition gegenu È ber steht, waÈhrend ein VerhaÈltniswahlrecht einerseits als das ¹demokratischereª System erscheint, weil es auch kleineren Parteien die Chance der Vertretung im Parlament gibt, waÈhrend es andererseits wegen des Zwangs zur Bildung von Koalitionsregierungen ein Element der InstabilitaÈt in das politische System einfu È hrt. In den letzten Jahren wurde vermehrt der Ruf nach einem ¹minderheitenfreundlichenª Mehrheitswahlrecht laut; das waÈre ein Wahlrecht, das zwar auch kleineren Parteien eine verhaÈltnismaÈûige Vertretung im Parlament sichern, aber zugleich der zahlenmaÈûig staÈrksten Partei eine absolute Mehrheit der Mandate geben wu È rde, und zwar auch dann, wenn auf sie weniger als 50 % der Stimmen entfallen sind.
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b) Die verfassungsrechtliche Entscheidung fu È r ein Wahlrecht, das den GrundsaÈtzen eines Ver- 522 haÈltniswahlrechts verpflichtet ist, ist fu È r den Wahlrechtsgesetzgeber bindend. Daher muss das Wahlrecht so ausgestaltet werden, dass allen wahlwerbenden Parteien von zahlenmaÈûig erheblicher Bedeutung nach Maûgabe ihrer StaÈrke eine Vertretung im Parlament gesichert ist. Zur naÈheren Ausgestaltung des Grundsatzes der VerhaÈltniswahl gibt es eine differenzierte Judikatur: So ist es zB verfassungswidrig, wenn eine Wahlzahl (dh die fu È r die Erreichung eines Mandats notwendige Stimmenzahl) so hoch waÈre, dass zahlenmaÈûig nicht geradezu unbedeutende Gruppen keine Chance haben ein Mandat zu erringen, oder wenn die Zahl der Unterstu È tzungserklaÈrungen, die bei der Einbringung von WahlvorschlaÈgen nachzuweisen ist, zu hoch angesetzt wird (vgl VfSlg 10.178/1984). c) Das B-VG fordert freilich nur ein Wahlrecht, das den ¹GrundsaÈtzen der VerhaÈltniswahlª ent- 523 spricht. Daher hat der einfache Gesetzgeber, der das Wahlrecht ausgestaltet, einen gewissen Spielraum. Er kann zB auch mehrheitsfoÈrdernde Kriterien einbauen, wie zB eine Mindestprozentklausel, um einer allzu groûen Zersplitterung im Parlament entgegenzuwirken. Das Erfordernis eines ¹Grundmandatsª oder die Einfu È hrung einer Mindestprozentklausel (¹4%-Klauselª) ist daher zulaÈssig; die Grenze zu einem unzulaÈssigen Mehrheitswahlrecht waÈre dann u È berschritten, wenn sich ein Wahlsystem in seinen Auswirkungen einem Mehrheitswahlsystem annaÈherte; das waÈre zB dann der Fall, wenn fu È r die Erreichung eines Mandats in einem Wahlkreis mehr als 50 % der Stimmen erforderlich waÈren (vgl VfSlg 14.035/1995).
20.1.2. Das Wahlverfahren Die verfassungsrechtlichen WahlrechtsgrundsaÈtze und die u È brigen Regelungen des Art 26 B-VG legen nur einen Rahmen fest, der durch die NRWO naÈher ausgefu È llt wird. Die NRWO regelt die Zahl der zu vergebenden Nationalratsmandate (Zahl der Abgeordneten), legt die genauere raÈumliche Gliederung des Bundesgebiets fu È r die Zwecke der Wahl, die Organisation der WahlbehoÈrden und die Einzelheiten u È ber die Durchfu È hrung der Wahl und das Ermittlungsverfahren fest. Diese Regelungen werden im Folgenden in den Grundzu È gen dargestellt. 1. RaÈumliche Gliederung des Bundesgebiets und Zuteilung der Mandate: Die 524 NRWO legt die Zahl der Abgeordnetensitze im NR (Zahl der Mandate) mit 183 fest. Diese Mandate werden der Bu È rgerzahl entsprechend auf die 43 Regionalwahlkreise aufgeteilt; die Regionalwahlkreise werden fu È r den Zweck der Durchfu È hrung der Wahl in 9 Landeswahlkreise zusammengefasst, die den BundeslaÈndern entsprechen. Die Zuweisung der Mandate zu den einzelnen Wahlkreisen erfolgt nach der Bu È rgerzahl, das ist die Zahl der Staatsbu È rger, die nach dem Ergebnis der letzten VolkszaÈhlung ihren Hauptwohnsitz im jeweiligen Wahlkreis hatten, vermehrt um die Zahl der Staatsbu È rger, die zwar nicht ihren Hauptwohnsitz im Bundesgebiet hatten, aber in eine WaÈhlerevidenz eingetragen waren (AuslandsoÈsterreicher). Die Mandatszuweisung nach diesem so genannten Bu È rgerzahlprinzip, bei dem auch noch nicht wahlberechtigte Staatsbu È rger mitgezaÈhlt werden, begu È nstigt Wahlkreise mit einer ¹jungenª bzw kinderreichen BevoÈlkerung, die relativ mehr Mandate erhalten. Die auf die einzelnen Wahlkreise entfallenden Mandate werden vom BMI nach jeder VolkszaÈhlung ermittelt und im BGBl kundgemacht: Nach der letzten maûgeblichen Kundmachung BGBl II 2002/337a stellt sich das auszugsweise (am Beispiel des Landeswahlkreises 2 ± KaÈrnten) wie folgt dar: Landeswahlkreis 2 Regionalwahlkreis 2A Regionalwahlkreis 2B Regionalwahlkreis 2C Regionalwahlkreis 2D
KaÈrnten Klagenfurt Villach KaÈrnten West KaÈrnten Ost
13 Mandate 3 Mandate 3 Mandate 3 Mandate 4 Mandate
È rden und die WaÈhlerevidenz: Fu 2. Die Wahlbeho È r die Durchfu È hrung der NR- 525 Wahlen (und auch der u È brigen in Art 26a B-VG genannten Wahlen und AbstimmunÈ rden gebildet. Sie sind BundesbehoÈrden, denen Vertregen) werden die Wahlbeho
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ter der wahlwerbenden Parteien angehoÈren; sie werden auf den verschiedenen territorialen Ebenen gebildet (Sprengel-, Gemeinde-, Bezirks-, Landes- und BundeswahlbehoÈrde). Diesen BehoÈrden obliegt die Durchfu È hrung der Wahl, die AuszaÈhlung der Stimmen und die Ermittlung der Wahlergebnisse auf der jeweiligen territorialen Ebene. 526 3. Die Ausschreibung der Wahl und die WahlvorschlaÈge: Die Wahl wird von der BReg durch eine VO ausgeschrieben, die den Wahltag und den Stichtag festlegt, von dem bestimmte fu È r die Wahl wesentliche Fristen abhaÈngen. Die wahlwerbenden Parteien koÈnnen sodann WahlvorschlaÈge einbringen, welche Listen von Kandidaten (Parteilisten) enthalten, wie sie fu È r jedes VerhaÈltniswahlrecht wesentlich sind, bei dem sich die WaÈhler nicht fu È r einzelne bestimmte Kandidaten, sondern fu Èr eine Parteiliste entscheiden. Die wahlwerbenden Parteien (Wahlparteien) sind Personengruppen, die an einer bestimmten Wahl teilnehmen; sie sind in der Regel, aber nicht notwendigerweise als politische Parteien iS des ParteienG konstituiert. 527 4. Abstimmungsverfahren: Die naÈhere Durchfu È hrung der Wahl am festgesetzten Wahltag ist in der NRWO geregelt, welche etwa die Feststellung der IdentitaÈt der WaÈhler, die Gestaltung der Stimmzettel, die Ausstattung der Wahlzellen, die Einrichtung von ¹fliegenden Wahlkommissionenª fu È r Heime oder Krankenanstalten, die Stimmabgabe mittels Briefwahl und vieles andere detailliert festlegt. Diese Regelungen dienen letztlich alle einer korrekten und fairen Wahl, wie sie fu È r eine Demokratie wesentlich ist; ihre genaue Beachtung ist eine RechtmaÈûigkeitsvoraussetzung, die in dem Wahlpru È fungsverfahren vor dem VfGH (Art 141 B-VG; dazu Rz 1136 f) geltend gemacht werden kann. Der WaÈhler hat auf dem amtlichen Stimmzettel die von ihm gewaÈhlte Partei zu bezeichnen; er kann ferner durch Benennung eines auf dem Wahlvorschlag (jeweils Landes- und Regionalparteiliste) angefu È hrten Kandidaten Vorzugsstimmen abgeben. 528 5. Ermittlungsverfahren: Die Ermittlung des Wahlergebnisses erfolgt in drei Ermittlungsverfahren. Sie umfasst die Zuweisung von Mandaten an die einzelnen wahlwerbenden Parteien und die Bestimmung der gewaÈhlten Abgeordneten. Das erste Ermittlungsverfahren findet auf der Ebene der Regionalwahlkreise statt. Es erfolgt ebenso wie das zweite Ermittlungsverfahren nach dem so genannten Hare'schen Verfahren (das ist ein bestimmtes wahlarithmetisches Modell): ZunaÈchst wird aus dem VerhaÈltnis zwischen den gesamten im Landeswahlkreis abgegebenen gu È ltigen Stimmen und den im Landeswahlkreis zu vergebenden Mandaten die Wahlzahl ermittelt (die gleichsam den ¹Preisª fu Èr ein Mandat darstellt). Jede wahlwerbende Partei erhaÈlt so viele Mandate (Grundmandate), wie diese Wahlzahl in den auf sie im Regionalwahlkreis entfallenen Stimmen (Parteisumme) enthalten ist. In diesem ersten Ermittlungsverfahren bleiben ¹Reststimmenª (dh nicht verwertete Parteistimmen) und ¹Restmandateª u È brig, die im zweiten Ermittlungsverfahren auf der Ebene des Landeswahlkreises vergeben werden; hier erhaÈlt jede Partei so viele Mandate, wie die Wahlzahl in der Parteisumme im Landeswahlkreis enthalten ist, jedoch abzu È glich der im ersten Ermittlungsverfahren erzielten Mandate. An diesem zweiten Ermittlungsverfahren nehmen allerdings nur jene wahlwerbenden Parteien teil, die zumindest ein Grundmandat in einem Regionalwahlkreis oder zumindest 4 % der gu È ltigen Stimmen im ganzen Bundesgebiet (¹4%-Klauselª) erlangt haben. Diese Regelung stellt sicher, dass nur Parteien von einer gewissen Bedeutung einen Sitz im NR erlangen, waÈhrend ganz kleine politische Gruppierungen (Splittergruppen) ausgeschlossen bleiben; diese EinschraÈnkung eines reinen VerhaÈltniswahlrechts soll der FunktionsfaÈhigkeit des Parlaments dienen und ist nach der Rspr des VfGH mit dem verfassungsrechtlich festgelegten Grundsatz der VerhaÈltniswahl (Art 26 Abs 1 B-VG) vereinbar. Im dritten Ermittlungsverfahren erfolgt ein auf das ganze Bundesgebiet bezogener Stimmenausgleich (¹Proportionalausgleichª): Hier werden saÈmtliche 183 Mandate nach dem so genannten d'Hondt'schen Verfahren (einem weiteren wahlarithmetischen Modell) nach dem VerhaÈltnis der auf die Parteien abgegebenen Stimmen verteilt, wobei die in den beiden ersten Ermittlungsverfahren bereits zugewiesenen Mandate angerechnet werden (vgl zur Ermittlung der Mandatsverteilung das folgende, schematisch vereinfachte und fiktive Beispiel).
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Ein (schematisches) Beispiel: Landeswahlkreis 4: 13 Mandate Abgegebene gu È ltige Stimmen: 325.000 Wahlzahl daher: 325.000 / 13 = 25.000 1. Ermittlungsverfahren: Regionalwahlkreis 4A ± 4 Mandate Partei A 55.000 Stimmen ± 2 (Grund-)Mandate Partei B 26.000 Stimmen ± 1 (Grund-)Mandat Partei C 7000 Stimmen ± kein (Grund-)Mandat 2. Ermittlungsverfahren: Hier sind aus dem Regionalwahlkreis 4A ein Restmandat zu ¹verwertenª sowie die Reststimmen der Partei A (5000), Partei B (1000), Partei C (7000). Landeswahlergebnis: Partei A 150.000, Partei B 100.000, Partei C 75.000 Stimmen Partei A erhaÈlt im Landeswahlkreis daher 6 Mandate, Partei B 4 Mandate, Partei C 3 Mandate unter Anrechnung der Mandate aus den einzelnen Regionalwahlkreisen, darunter auch aus dem oben dargestellten Regionalwahlkreis 4A; Partei C nimmt an diesem Ermittlungsverfahren aber nur dann teil, wenn sie im ganzen Bundesgebiet zumindest ein ¹Grundmandatª oder 4 % der Stimmen erlangt hat. 3. Ermittlungsverfahren: auf das ganze Bundesgebiet bezogener Stimmenausgleich.
Von der Mandatszuweisung ist die Bestimmung der gewaÈhlten Abgeordneten zu 529 unterscheiden. ZunaÈchst gelten jene auf der Liste einer Partei enthaltenen Kandidaten als gewaÈhlt, die eine bestimmte Zahl von Vorzugsstimmen (und zwar entweder mindestens die HaÈlfte der Wahlzahl oder ein Sechstel der auf die Partei entfallenen Stimmen) erhalten haben. Die nicht so vergebenen Mandate werden nach der Reihenfolge auf der jeweiligen Liste (Regional-, Landes- oder Bundeswahlliste) vergeben; in der Praxis werden nur sehr selten Kandidaten unmittelbar auf Grund der Zahl der Vorzugsstimmen gewaÈhlt. 6. Bekanntgabe des Wahlergebnisses, Wahlanfechtung: Das Ergebnis der Wahl 530 wird von den WahlbehoÈrden verlautbart. Jeder gewaÈhlte Abgeordnete erhaÈlt einen Wahlschein, der ihn zum Eintritt in den NR berechtigt. Gegen die ziffernmaÈûigen Ermittlungen der WahlbehoÈrden kann jede wahlwerbende Partei bei der HauptwahlbehoÈrde Einspruch erheben, der zu einer Berichtigung des Wahlergebnisses fu È hren È ber Wahlanfechtungen wegen rechtswidriger VorgaÈnge bei kann (§ 110 NRWO). U der Durchfu È hrung der Wahl oder bei der Ermittlung des Wahlergebnisses entscheidet der VfGH nach Art 141 B-VG (vgl Rz 1136 ff). 20.1.3. Die Rechtsstellung der Abgeordneten Den Abgeordneten zum NR kommen einige besondere Rechte und Pflichten zu, durch welche eine unabhaÈngige, am Gemeinwohl orientierte Erfu È llung ihrer Aufgaben gesichert werden soll. 1. Das Recht zur Ausu È bung des Mandats: Die Mitgliedschaft im neu gewaÈhlten NR beginnt 531 mit seinem ersten Zusammentreten (Konstituierung). Jeder Abgeordnete hat ein verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistetes Recht auf Ausu È bung seines Mandats. Seine Funktion endet: . durch freiwilligen Verzicht; . durch ErklaÈrung des Mandatsverlusts durch den VfGH auf Grund eines Antrags des NR (Art 141 Abs 1 lit c B-VG); Gru È nde fu È r die Aberkennung eines Mandats sind der Verlust der WaÈhlbarkeit nach erfolgter Wahl, Verweigerung der Angelobung, mehrmaliges Fehlen bei Sitzungen ohne triftigen Grund; einen Antrag auf Mandatsverlust kann auch der Unvereinbarkeitsausschuss stellen;
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. bei einer erfolgreichen Wahlanfechtung; . bei einer Neuwahl des NR sowie bei einer vorzeitigen AufloÈsung des NR verlieren die nicht mehr gewaÈhlten Abgeordneten ihr Mandat erst mit der Konstituierung des neuen NR, bei einer AufloÈsung durch den BPraÈs sofort (zur AufloÈsung im Folgenden Rz 549). Beim Ausscheiden eines Abgeordneten waÈhrend der Legislaturperiode wird das im Wahlvorschlag naÈchstgereihte Ersatzmitglied von der WahlbehoÈrde in den NR berufen.
532 Um Mitgliedern der BReg, welche bei Eintritt in die Regierung u È blicherweise auf ihr Mandat als Abgeordnete verzichten, den Wiedereintritt in den NR zu sichern, sieht Art 56 Abs 2±4 B-VG die Verleihung eines ¹Mandats auf Zeitª vor. Abgeordnete, die ein solches Mandat innehaben, verlieren ihren Sitz im NR, wenn das Regierungsmitglied aus der Regierung ausscheidet und diesen Sitz wieder beansprucht. 533 2. Das freie Mandat: Es entspricht der geschichtlichen Entwicklung des modernen Parlamentarismus und des damit verbundenen RepraÈsentativprinzips, dass der in eine Volksvertretung gewaÈhlte Abgeordnete der Idee nach nicht seine WaÈhler, seinen Wahlkreis oder die Partei vertritt, der er angehoÈrt, sondern das gesamte Volk. Daher soll er, wiederum der Idee nach, auch nicht bestimmten Interessen verbunden sein, sondern sich bei seinem politischen Handeln am allgemeinen Besten (Gemeinwohl) orientieren. Mit diesen regulativen Ideen waÈre es unvereinbar, wenn der einzelne Abgeordnete an Weisungen oder AuftraÈge von dritter Seite gebunden waÈre, gleichgu È ltig, ob es sich um AuftraÈge seiner WaÈhler oder der Parteifu È hrung handelte; er ist und soll nur ¹seinem Gewissen verantwortlichª sein. 534 Die verfassungsrechtliche AuspraÈgung dieses Grundsatzes findet sich im Prinzip des freien Mandats in Art 56 Abs 1 B-VG, wo angeordnet wird, dass die Mitglieder des NR ¹bei der Ausu È bung dieses Berufesª, dh bei der parlamentarischen TaÈtigkeit, an keinen Auftrag gebunden sind. Mit dieser Verfassungsbestimmung waÈre jede rechtlich wirksame Bindung eines Abgeordneten unvereinbar, von wem auch immer (zB WaÈhlergruppen, Interessenvertretungen, maÈchtige Unternehmen, politische Parteien, Staatsorgane etc) sie ausgeht. Vereinbarungen, die eine unzulaÈssige Verpflichtung, etwa eine Weisungsbindung, zum Gegenstand haÈtten, waÈren nichtig, was insbesondere auch fu È r die Praxis der ¹BlankoverzichtserklaÈrungª gelten muss; dabei handelt es sich um die von einem Abgeordneten ¹blankoª, dh ohne Datumsangabe, unterfertigte ErklaÈrung des Mandatsverzichts, welche bei einem Abweichen von der ¹Parteilinieª von der Parteifu È hrung mit dem Datum versehen der HauptwahlbehoÈrde vorgelegt wu È rde, um ein Ausscheiden des ¹abtru È nnigenª Mandatars aus dem NR zu bewirken. Verfassungswidrig sind auch Regelungen, die an ein Ausscheiden aus der politischen Partei oder an einen Parteiausschluss einen Mandatsverlust knu È pfen wu È rden (VfSlg 3426/1958, 3560/1959). 535 a) Der historische Gegensatz zu einem freien Mandat ist das ¹imperative Mandatª, wie es fuÈr
die staÈndischen Versammlungen u È blich war (zu denen die Vertreter der StaÈnde mit bindenden AuftraÈgen geschickt wurden); auf einem imperativen Mandat beruhte auch das RaÈtesystem (Sowjetsystem) in kommunistischen Regimen.
536 b) Das freie Mandat steht in augenfaÈlligem Widerspruch zu den RealitaÈten der modernen par-
teienstaatlichen Demokratie, in welcher der Abgeordnete in der Regel sein Mandat der Partei ¹verdanktª, denn seine Aufnahme in einen Wahlvorschlag und vor allem seine Wiederwahl setzen voraus, dass er das Vertrauen der Parteifu È hrung genieût. Darin liegt auch die wirksamste Sanktion fu È r den so genannten ¹Fraktionszwangª bzw die ¹Fraktionsdisziplinª, dh fu È r die von den Abgeordneten erwartete Bereitschaft, sich bei Abstimmungen im Parlament und anderen politischen AktivitaÈten grundsaÈtzlich der Parteilinie unterzuordnen und Direktiven der Parteibzw Fraktionsfu È hrung nachzukommen. Diesem faktisch wirksamen Fraktionszwang bzw einer Fraktionsdisziplin, die den an einer Wiederkandidatur interessierten Abgeordneten in AbhaÈngigkeiten bringen kann, vermag der verfassungsrechtliche Grundsatz des freien Mandats nicht wirksam entgegenzuwirken. Eine Abstimmung der politischen Entscheidungen innerhalb
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einer Fraktion und eine gewisse Unterordnung unter die Parteiorganisation sind auch unvermeidliche Bedingungen der politischen Arbeit; eine auf Freiwilligkeit beruhende Fraktionsdisziplin ist daher auch legitim, wenn die ¹Parteilinieª Ergebnis eines offenen Diskussionsprozesses ist, an dem jeder Abgeordnete teilhaben kann, und wenn in FaÈllen eines beachtlichen Gewissenskonflikts dem einzelnen Mandatar die MoÈglichkeit eingeraÈumt wird, seiner Gewissensentscheidung zu folgen. In solchen FaÈllen kann es in der parlamentarischen Praxis auch dazu kommen, dass die Abstimmung von der Fraktionsfu È hrung ¹frei gegebenª wird, dh dass jeder Abgeordnete ohne Bindung an eine Parteilinie seiner persoÈnlichen Auffassung folgen darf. Trotz dieser UmstaÈnde ist das Prinzip des freien Mandats nicht obsolet. Wie das oben angefu È hrte Beispiel der ¹BlankoverzichtserklaÈrungenª zeigt, kann es rechtlich wirksame Bindungen verhindern. Es kann auûerdem das politische Selbstbewusstsein und die Zivilcourage des einzelnen Abgeordneten staÈrken, der zumindest darauf vertrauen kann, dass er ± selbst im Fall eines tief greifenden Konflikts mit seiner Partei ± sein Mandat nicht verlieren wird. Ein solcher Abgeordneter kann als so genannter ¹wilder Abgeordneterª jedenfalls fu È r die Dauer der laufenden Legislaturperiode ohne ZugehoÈrigkeit zu einem Klub sein Mandat weiter ausu È ben.
3. Die berufliche ImmunitaÈt: Die den Abgeordneten zuerkannte ImmunitaÈt soll 537 die UnabhaÈngigkeit und Freiheit der parlamentarischen Arbeit schu È tzen und dazu beitragen, dass Abgeordnete nicht durch Druck oder Zwang eingeschu È chtert werden. Zumindest fu È r die so genannte berufliche ImmunitaÈt ist diese auf die Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts zuru È ckgehende Begru È ndung noch gu È ltig. Die berufliche ImmunitaÈt (Art 57 Abs 1 B-VG) garantiert Abstimmungs- und Rede- 538 freiheit. Sie schu È tzt die Abgeordneten zum NR: . bei Abstimmungen im NR, fu È r die sie u È berhaupt nicht straf- oder zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen werden koÈnnen; È u. bei den in Ausu È bung ihres Berufes gemachten mu È ndlichen oder schriftlichen A ûerungen, fu È r die sie ¹nur vom NR verantwortlich gemacht werdenª koÈnnen; È uûerungen im Parlament, etwa fu eine straf- oder zivilrechtliche Haftung fu Èr A È r beleidigende oder kreditschaÈdigende Behauptungen waÈhrend einer Plenardiskussion, darf es nicht geben. Kein Abgeordneter muss daher fu È rchten, dass er fu È r seine Zustimmung zu einem Gesetz oder fu È r seine Mitwirkung an einem sonstigen Beschluss rechtlich zur Verantwortung gezogen werÈ uûerungen angeht, bezieht sich diese auf die ¹in Ausden kann. Was die ImmunitaÈt von A È uûerungen. Das ist eng zu verstehen und umfasst nur Wortu È bung ihres Berufesª gemachten A meldungen oder schriftliche Stellungnahmen (AntraÈge) bei der unmittelbaren parlamentariÈ uûerungen auûerhalb schen Arbeit, sei es im Plenum oder in Ausschu È ssen des NR; sonstige A des NR ko È nnen daher, auch wenn sie im Zusammenhang mit der politischen Arbeit eines AbgeÈ uûerungen auf einer Pressekonferenz), jedenfalls eine zivilrechtliche ordneten stehen (zB A Haftung, nach Maûgabe der Bestimmungen u È ber die auûerberufliche ImmunitaÈt auch eine strafrechtliche Haftung, nach sich ziehen (vgl zB OGH SZ 60/271, 73/60). Wenn Art 57 Abs 1 È uûerungen ¹vom NRª verantB-VG davon spricht, dass der Abgeordnete fu È r die beruflichen A wortlich gemacht werden kann, bezieht sich das auf die im GONR vorgesehenen Ordnungsmittel, die der PraÈsident des NR handhabt (¹Ruf zur Sacheª, ¹Ruf zur Ordnungª, Entzug des Worts).
4. Die auûerberufliche ImmunitaÈt (Art 57 Abs 2±5 B-VG): Die auûerberufliche Im- 539 munitaÈt schu È tzt den Abgeordneten vor strafrechtlichen Verfolgungsmaûnahmen und Verurteilungen im Zusammenhang mit einem Verhalten auûerhalb seiner parlamentarischen TaÈtigkeit, dh auûerhalb von den bereits durch die berufliche ImÈ uûerungen im Parlament. Freilich ist dieser munitaÈt erfassten Abstimmungen und A Schutz nicht absolut, sondern mehrfach eingeschraÈnkt; die Letztentscheidung daru È ber, ob ein Abgeordneter strafrechtlich verfolgt werden darf oder nicht, liegt in den meisten FaÈllen beim ImmunitaÈtsausschuss des NR, der daru È ber entscheiden kann, ob ein Abgeordneter ¹ausgeliefertª wird oder nicht. Historisch betrachtet sollte die auûerberufliche ImmunitaÈt die Parlamentsabgeordneten in der 540 konstitutionellen Monarchie vor willku È rlichen Verfolgungsmaûnahmen durch die Regie-
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rung bzw die Polizei des Monarchen schu È tzen, weil dieser etwa durch die Verhaftung missliebiger Abgeordneter die Arbeit des Parlaments behindern oder lahm legen haÈtte koÈnnen. In einem ausgebauten Rechtsstaat mit einer unabhaÈngigen Justiz ist dieser Befu È rchtung weitgehend die Grundlage entzogen; auûerdem kann die auûerberufliche ImmunitaÈt den Abgeordneten zumindest dann nur wenig Schutz geben, wenn die parlamentarische Mehrheit und damit die der Regierung nahestehenden Abgeordneten die Auslieferung eines Abgeordneten einer Oppositionspartei beschlieûen. Daher ist es fraglich, ob es fu È r die Privilegierung von Abgeordneten in Form der auûerberuflichen ImmunitaÈt unter den heutigen Gegebenheiten noch einen u È berzeugenden sachlichen Grund gibt. Vielfach ist auch die Beseitigung dieses Vorrechts gefordert worden.
541 Als Grundsatz laÈuft die auûerberufliche ImmunitaÈt zunaÈchst darauf hinaus, dass Abgeordnete ohne Zustimmung des NR nicht wegen einer strafbaren Handlung verfolgt werden du È rfen; die ImmunitaÈt bezieht sich dabei sowohl auf Maûnahmen der gerichtlichen Strafverfolgung (zB wegen Betrugsverdachts) wie auf das Verwaltungsstrafrecht (zB wegen Verkehrsu È bertretungen). Eine zivilrechtliche Haftung etwa wegen einer kreditschaÈdigenden Behauptung (§ 1330 Abs 2 ABGB) wird durch die auûerberufliche ImmunitaÈt nicht ausgeschlossen. Im Einzelnen ist zu unterscheiden: . Steht die strafbare Handlung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der politischen TaÈtigkeit des betreffenden Abgeordneten (zB Ermittlungen wegen eines privaten VermoÈgensdelikts oder einer Verkehrsu È bertretung), du È rfen die StrafverfolgungsbehoÈrden ohne Zustimmung des NR gegen den Abgeordneten ermitteln und ihn strafrechtlich zur Verantwortung ziehen. Der NR kann aber in einem solchen Fall verlangen, dass Verfolgungsmaûnahmen unterbleiben oder abgebrochen werden; der NR ist mit solchen Maûnahmen dann zu befassen, wenn das der betreffende Abgeordnete oder 1/3 der Mitglieder des ImmunitaÈtsausschusses verlangt. Bei einer dem privaten Umfeld zuzuordnenden strafbaren Handlung ist die Verfolgung daher prinzipiell zulaÈssig, auûer der NR verlangt im Einzelfall anderes. . Steht die strafbare Handlung dagegen in einem Zusammenhang mit der politischen TaÈtigkeit (zB Verfolgung wegen einer u È blen Nachrede waÈhrend einer zu politischen Fragen abgegebenen Pressekonferenz oder wegen einer BestechungsaffaÈre), muss die Verfolgung zunaÈchst unterbleiben. Der NR kann einer Verfolgung auf Grund eines entsprechenden Auslieferungsbegehrens zustimmen (¹Auslieferungª), wobei Art 57 Abs 4 B-VG davon ausgeht, dass die Zustimmung als erteilt gilt, wenn der ImmunitaÈtsausschuss nicht innerhalb von 8 Wochen ab Einlangen des Auslieferungsbegehrens eine Entscheidung getroffen hat. In der parlamentarischen Praxis wird in der Regel bei FaÈllen mit politischem Einschlag nicht ausgeliefert. . Fu È r Hausdurchsuchungen und Verhaftungen gilt als Regel, dass diese eingriffsintensiven Verfolgungsmaûnahmen grundsaÈtzlich nur mit Zustimmung des NR gesetzt werden du È rfen; lediglich in dem Fall, in dem ein Abgeordneter auf frischer Tat bei der Begehung eines Verbrechens betreten wird, darf ohne Zustimmung des Parlaments eine Verhaftung vorgenommen werden. 542 5. Die InkompatibilitaÈt: Unter Unvereinbarkeit oder InkompatibilitaÈt versteht man im Staatsrecht den Umstand, dass ein Organwalter (Abgeordneter, Minister) nicht È mter oder wirtschaftliche Berufe gleichzur gleichen Zeit verschiedene politische A zeitig bekleiden darf, weil ihn das in einen politischen oder wirtschaftlichen Interessenkonflikt bringen koÈnnte. Daher kann man zwischen einer politischen (staatsrechtlichen) InkompatibilitaÈt, bei der es um die Unvereinbarkeit von bestimmten politischen Funktionen geht, und Formen der wirtschaftlichen InkompatibilitaÈt unterscheiden, durch die unerwu È nschten wirtschaftlichen Verflechtungen vorgebeugt werden soll. Fu È r die Abgeordneten zum NR gelten die folgenden Regelungen:
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. Sie du È rfen wegen der Gefahr von Interessenkonflikten nicht gleichzeitig einem 543 È rper angehoÈren. Mit dem NR-Mananderen parlamentarischen Vertretungsko dat ist daher die gleichzeitige Mitgliedschaft im BR oder im EP unvereinbar (Art 59 B-VG). . Abgeordnete zum NR koÈnnen gewisse Spitzenfunktionen in Kontrollorganen nicht bekleiden (PraÈsident des RH, Mitglied der VA, PraÈsident/VizepraÈsident/Mitglied eines der drei HoÈchstgerichte); auch das Amt des BPraÈs ist mit einer Mitgliedschaft in einem allgemeinen VertretungskoÈrper unvereinbar (Art 61 Abs 1 B-VG). . Die naÈheren Bestimmungen u È ber wirtschaftliche Unvereinbarkeiten enthaÈlt 544 das (zahlreiche Verfassungsbestimmungen enthaltende) UnvereinbarkeitsG (UnvG). Dieses Gesetz gilt fu È ffentlichen FunktionaÈre, fu È r die meisten o È r die es unterschiedlich strenge und detaillierte Regelungen enthaÈlt. WaÈhrend Regierungsmitglieder (BReg, LReg) grundsaÈtzlich u È berhaupt keinen anderen Beruf mit ErÈ ffentliche AuftraÈge entgegennehmen du werbsabsicht ausu È ben und o È rfen, gilt fu Èr die Abgeordneten, dass sie bestimmte wirtschaftliche Funktionen zwar bekleiden du È rfen, dafu È r aber die Zustimmung des Unvereinbarkeitsausschusses benoÈtigen. Die naÈheren Einzelheiten werden hier nicht dargestellt. Bemerkenswert ist, dass das B-VG keine Unvereinbarkeit von Abgeordnetenamt 545 und Mitgliedschaft in der Regierung anordnet, obwohl die Abgeordneten die ReÈ mter daher gierung kontrollieren sollen und die gleichzeitige Ausu È bung der beiden A nicht sehr sinnvoll erscheint. Die ZulaÈssigkeit einer gleichzeitigen Ausu È bung von Mandat und Regierungsamt stellt somit eine ± verfassungsrechtlich gedeckte ± Durchbrechung des Gewaltenteilungsgrundsatzes dar. In der politischen Praxis legen Abgeordnete, die in ein Regierungsamt berufen werden, haÈufig ihr Mandat zuru È ck; die allfaÈllige Ru È ckkehr in das Parlament wird ihnen durch die Einrichtung des ¹Mandats auf Zeitª erleichtert (vgl Rz 532). È ffentlich 546 Keine Unvereinbarkeit liegt ferner in der Ausu È bung eines Mandats durch o Bedienstete, denen die Verfassung die ungeschmaÈlerte Ausu È bung ihrer politischen Rechte garantiert (Art 7 Abs 4 B-VG). Politisch war die lange Zeit u È bliche Praxis umstritten, ¹Beamtenabgeordneteª bei gleichzeitiger Belassung ihrer Bezu È ge zur Wahrnehmung ihrer politischen Funktionen auûer Dienst zu stellen, was zu schwer verstaÈndlichen ¹Doppelbezu È genª fu È hrte. Die Art 59a und 59b B-VG sehen nunmehr Bezugsku È rzungen sowie eine Kontrolle der Bezu È ge oÈffentlich Bediensteter, die in den NR oder BR gewaÈhlt werden, durch eine eigene parlamentarische Kommission (Bezu È gekontrollkommission) vor. 6. Bezu È ge: Die Bezu È ge der Abgeordneten zum NR werden, wie die Bezu È ge anderer 547 o È ffentlicher FunktionaÈre, durch das Bundesbezu È geG BGBl I 1997/64 idgF geregelt. Darauf aufbauend legt das Bezu È gebegrenzungsBVG BGBl I 1997/64 idgF bestimmte Obergrenzen fu È r die Bezu È ge der Organe der LaÈnder und Gemeinden fest. Bezugspunkt ist dabei eine so genannte ¹Einkommenspyramideª, die auf den Bezug der NR-Abgeordneten abstellt und davon die u È brigen Bezu È ge ableitet. Auf die komplizierten Einzelheiten dieser Regelungen wird nicht naÈher eingegangen.
20.2. Die Organisation des Nationalrats und sein Verfahren 20.2.1. Sitz, Gesetzgebungsperiode, Tagungen und Sitzungen Der NR hat seinen Sitz in Wien (Art 25 B-VG). Seine Gesetzgebungsperiode betrug 548 bisher grundsaÈtzlich vier Jahre. Ab der laufenden Legislaturperiode wird sie auf fu È nf Jahre erstreckt (BGBl I 2007/27). Diese Frist wird vom Tag des ersten Zusammen-
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tretens des NR an gerechnet; sie dauert nach Art 27 Abs 1 B-VG aber jedenfalls so lange, bis ein neu gewaÈhlter NR zusammentritt. Damit trifft die Verfassung Vorsorge, dass moÈglichst immer ein NR besteht. Die BReg hat daher die Neuwahl eines NR so anzuordnen, dass der neu gewaÈhlte NR am Tag nach dem Ablauf des vierten (ku È nftig: fu È nften) Jahres der Gesetzgebungsperiode zusammentreten kann. 549 Zu einer Verku È rzung der Gesetzgebungsperiode kann es kommen: . wenn der NR seine vorzeitige Auflo È sung in der Form eines Gesetzes beschlieût; davon wird in der Praxis relativ haÈufig Gebrauch gemacht, wobei es in das politische Ermessen des NR bzw der parlamentarischen Mehrheit gestellt ist, aus welchen Gru È nden eine Verku È rzung der Legislaturperiode und somit die Durchfu È hÈ sung). rung von Neuwahlen beschlossen wird (Art 29 Abs 2 B-VG ± Selbstauflo Dass die Verfassung fu È r die SelbstaufloÈsung die Gesetzesform vorschreibt, soll eiÈ berrumpelung durch eine Augenblicksmehrheit vorbeugen; ner U È sung durch . wenn der BPraÈs den NR nach Art 29 Abs 1 B-VG aufloÈst; die Auflo den BPraÈs erfolgt auf Vorschlag der BReg und darf nur einmal aus dem gleichen Anlass erfolgen. In diesem Fall ist die Neuwahl so anzuordnen, dass der NR spaÈtestens am 100. Tag nach seiner AufloÈsung zusammentreten kann (zur staatspolitischen Bedeutung der AufloÈsung durch den BPraÈs vgl Rz 689); . ex lege als Ergebnis einer auf die Absetzung des BPraÈs gerichteten Volksabstimmung, die den BPraÈs in seinem Amt bestaÈtigt hat (so dass der NR offensichtlich nicht mehr vom Vertrauen des Volkes getragen ist; vgl Art 60 Abs 6 B-VG). 550 Der NR wird vom BPraÈs zu seinen ordentlichen Tagungen einberufen (Art 28 Abs 1 B-VG). WaÈhrend einer Tagungsperiode (die in der Regel vom 15. September bis 15. Juli dauert) wird der NR von seinem PraÈsidenten zu den Sitzungen einberufen. Fu È r die parlamentarischen Arbeiten waÈhrend einer laufenden Gesetzgebungsperiode gilt das Prinzip der KontinuitaÈt, dh die Arbeiten (zB an einer Regierungsvorlage) werden durch die Sommerpause zwischen den Tagungen nicht unterbrochen und koÈnnen nach dem Stand der letzten Tagung fortgesetzt werden (Art 28 Abs 4 B-VG). Fu È r die Einberufung zu auûerordentlichen Tagungen und auûerordentlichen Sitzungen auf Antrag der BReg oder einer bestimmten Anzahl von Abgeordneten trifft Art 28 Abs 2, 5 und 6 B-VG Sonderregelungen. 20.2.2. Die Organe des Nationalrats 551 1. Der NR tritt als Plenum mit allen seinen 183 Abgeordneten zusammen. Weitere Organe des NR sind seine PraÈsidenten, die PraÈsidialkonferenz, die Ausschu È sse und die parlamentarischen Klubs. Zur Unterstu È tzung der parlamentarischen Aufgaben und zur Fu È hrung von Verwaltungsaufgaben im Bereich der Gesetzgebung (etwa bei der Vollziehung des Bundesbezu È geG) ist die Parlamentsdirektion eingerichtet. 552 2. Der NR waÈhlt aus seiner Mitte einen PraÈsidenten sowie einen zweiten und dritten PraÈsidenten (Art 30 Abs 1 B-VG). Sie leiten die Sitzungen des NR und handhaben dabei die GeschaÈftsordnung; sie stehen auûerdem der Parlamentsdirektion vor und haben in dieser Funktion, etwa bei der Ernennung der Bediensteten der Direktion und der Wahrnehmung der u È brigen Befugnisse in Personalangelegenheiten, diesen gegenu È ber die Stellung eines obersten Verwaltungsorgans. Nicht zuletzt wegen der historischen Ereignisse, die 1933 zur Ausschaltung des Parlaments gefu È hrt haben, sieht § 6 GONR eine Vorsitzfu È hrung durch einen ¹Altersvorsitzendenª im Fall der Verhinderung aller drei PraÈsidenten vor. 3. Die PraÈsidialkonferenz besteht aus den drei PraÈsidenten und den Klubobleuten der parlamentarischen Klubs. Ihr sind wichtige Aufgaben bei der Organisation und
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Abwicklung der parlamentarischen Arbeit (Vorbereitung der Tagesordnung, Festlegung der Sitzungstermine usw) u È bertragen. 4. Ein Groûteil der laufenden parlamentarischen Arbeit wird in den Ausschu È ssen 553 erledigt, die gleichsam das ¹Arbeitsparlamentª bilden, in dem die oÈffentlichen Debatten im Plenum vorbereitet werden. Welche Ausschu È sse eingerichtet werden, ist ± von einigen noch zu besprechenden Ausnahmen abgesehen ± grundsaÈtzlich dem È blicherweise werden Ausschu NR u È berlassen. U È sse eingerichtet, die fu È r bestimmte den einzelnen Regierungsressorts zugeordnete Staatsaufgaben zustaÈndig sind (Verfassungsausschuss, Innenausschuss, Justizausschuss, Landesverteidigungsausschuss usw). Die Mitglieder dieser Ausschu È sse werden von den Klubs nach dem VerhaÈltnis der Zahl der ihnen angehoÈrigen Abgeordneten nominiert (§ 32 GONR). Von Verfassungs wegen sind die folgenden Ausschu È sse einzurichten: Hauptausschuss (Art 55 Abs 1 B-VG): Der Hauptausschuss wird vom NR aus seiner 554 Mitte nach dem Grundsatz der VerhaÈltniswahl gewaÈhlt; die Zahl der Mitglieder setzt der NR durch Beschluss fest. Er hat eine Reihe wichtiger Aufgaben, vor allem im Zusammenhang mit der Mitwirkung des NR an bestimmten Akten der Vollziehung: . Stellungnahmen zu Vorhaben im Rahmen der EU und Mitwirkung an der Bestellung von Organen der EU (vgl dazu Rz 321 ff); . Mitwirkung an der Erlassung ¹allgemeiner Akteª der BReg oder einzelner BM, zB Zustimmung zur Erlassung von wichtigen VO, soweit dies durch Bundesgesetz festgesetzt ist (Art 55 Abs 4 B-VG); . Entgegennahme gesetzlich vorgeschriebener Berichte der BReg oder einzelner BM; . Zustimmung zu VO u È ber wirtschaftliche Lenkungsmaûnahmen nach Art 55 Abs 5 B-VG; . Erstattung von VorschlaÈgen fu È r die Wahl des PraÈsidenten des RH sowie der Mitglieder der VA.
StaÈndiger Unterausschuss des Hauptausschusses (Art 55 Abs 3 B-VG): Die Mit- 555 glieder des staÈndigen Unterausschusses werden vom Hauptausschuss nach den GrundsaÈtzen der VerhaÈltniswahl gewaÈhlt, wobei aber jede dort vertretene Partei mit mindestens einem Mitglied auch im Unterausschuss vertreten sein muss. Er ist ein ¹staÈndigerª Ausschuss, weil er auch in den Zeiten, in denen es keinen NR gibt (etwa nach einer AufloÈsung des NR durch den BPraÈs) einberufen werden kann. Er hat zwei Aufgaben: . Mitwirkung bei der Erlassung von NotVO durch den BPraÈs nach Art 18 Abs 3 B-VG (vgl Rz 692); . Mitwirkung an der Vollziehung an Stelle des Hauptausschusses, wenn der NR durch den BPraÈs aufgeloÈst wurde (Art 55 Abs 3 B-VG).
Weitere verfassungsgesetzlich vorgesehene und zwingend einzurichtende staÈndige 556 Ausschu È sse sind: der Rechnungshofausschuss (Art 126d Abs 2 B-VG) und dessen È berpru Unterausschuss (Art 52b B-VG), die staÈndigen Unterausschu È sse zur U È fung von Staatspolizei und der militaÈrischen Nachrichtendienste (Art 52a B-VG), der Unvereinbarkeitsausschuss (§ 6 UnvG), der ImmunitaÈtsausschuss (Art 57 B-VG), der Budgetausschuss und dessen Unterausschuss (Art 51c B-VG), der staÈndige gemeinsame Ausschuss des NR und des BR gemaÈû § 9 F-VG. 5. Die Klubs (§ 7 GONR) sind Zusammenschlu È sse der Abgeordneten, die derselben 557 È ). Fu im Parlament vertretenen wahlwerbenden Partei angehoÈren (zB Klub der SPO Èr die Anerkennung eines solchen Zusammenschlusses sind mindestens 5 Abgeordnete erforderlich. Die Zuerkennung des ¹Klubstatusª ist mit einer Reihe von finanziellen und administrativen Begu È nstigungen (KlubfoÈrderung, Zuweisung von Bediensteten) verbunden. In den Klubs wird die parlamentarische Arbeit der einzelnen politischen Parteien organisiert und es werden die inhaltlichen Positionen zu den anstehenden Entscheidungen erarbeitet.
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20.2.3. Das Verfahren im Nationalrat Die naÈheren Vorschriften u È ber die GeschaÈftstaÈtigkeit des NR und das dabei einzuhaltende Verfahren finden sich im GeschaÈftsordnungsG (GONR). Soweit es um das Gesetzgebungsverfahren geht, werden die entsprechenden Regelungen noch in einem eigenen Abschnitt behandelt (vgl Rz 598 ff). Hier ist ergaÈnzend auf die nachfolgenden Bestimmungen hinzuweisen: È ffentlichkeit: Die Verhandlungen des Plenums des NR sind o 558 1. O È ffentlich (Art 32 È ffentlichkeit). Damit haben die Staatsbu Abs 1 B-VG; Prinzip der Volkso È rger die MoÈglichkeit die TaÈtigkeit der Volksvertretung unmittelbar, heute vor allem durch È ffentdie Berichterstattung der Massenmedien, zu verfolgen. Ein Ausschluss der O lichkeit ist mo È glich, wenn das vom NR auf Antrag des Vorsitzenden oder eines Fu È nftels der Mitglieder beschlossen wird (Art 32 Abs 2 B-VG). Anders als die o È ffentlichen Plenarverhandlungen des NR finden die Ausschussberatungen grundsaÈtzlich unter È ffentlichkeit statt; nur die Mitglieder der Bundesregierung und Ausschluss der O StaatssekretaÈre, ferner andere Staatsorgane (zB der PraÈsident des RH), SachverstaÈndige oder Auskunftspersonen koÈnnen im Einzelfall ihren Beratungen beigezogen werden bzw haben das Recht an den Ausschusssitzungen teilzunehmen. È ffentlichkeit BesonderFu È r bestimmte Ausschu È sse gelten im Hinblick auf die Beteiligung der O heiten, in erster Linie in Form einer Zulassung von Journalisten: So sind parlamentarische Enqueten sowie gewisse AnhoÈrungen in Untersuchungsausschu È ssen fu È r Medienvertreter zugaÈnglich; auch bei der Diskussion u È ber Berichte der BReg in Ausschu È ssen sowie bei AusschussÈ ffentlichkeit zugelassen werden (zu den Einzelheiten beratungen u È ber EU-Vorhaben kann die O vgl §§ 28b, 31c Abs 5, 31e Abs 2, 98a GONR sowie § 4 der Verfahrensordnung fu È r parlamentarische Untersuchungsausschu È sse).
559 2. Beschlusserfordernisse: FoÈrmliche Erledigungen des NR ergehen in der Form von Beschlu È ssen (einfache Beschlu È sse oder Gesetzesbeschlu È sse). Fu È r ihr Zustandekommen ordnet Art 31 B-VG an, dass ± soweit im B-VG oder im GONR nichts anderes bestimmt ist ± die Anwesenheit von mindestens einem Drittel der Mitglieder (PraÈsenzquorum 1/3) und die unbedingte (einfache) Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Konsensquorum 1/2) erforderlich ist. Damit wurde das fu È r demokratische Entscheidungen geltende Mehrheitsprinzip verankert. Auf die zahlreichen abweichenden Regelungen, die qualifizierte Mehrheitserfordernisse festschreiben, wird im jeweiligen Zusammenhang hingewiesen. 560 3. Freiheit der Parlamentsberichterstattung: Art 33 B-VG verankert das Prinzip der sachlichen ImmunitaÈt der Parlamentsberichterstattung. Wahrheitsgetreue Berichte u È ber die Verhandlungen in den oÈffentlichen Sitzungen des NR und seiner Ausschu È sse bleiben danach ¹von jeder Verantwortung freiª; Journalisten oder Medienunternehmen koÈnnen daher weder straf- noch zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen oder zu Entgegnungen verpflichtet werden, wenn sie ¹wahrheitsgetreuª, dh objektiv und ohne entstellende Verku È rzungen u È ber das berichten, was sich im NR zugetragen hat. Daher koÈnnen zB auch unwahre beleidigende oder kreditschaÈdigende È uûerungen eines Abgeordneten sanktionslos zitiert werden; sie sind gleichsam ¹imA munisiertª.
20.3. Die Aufgaben des Nationalrats 561 Die dem NR u È bertragenen Aufgaben lassen sich in vier Gruppen zusammenfassen: . Gesetzgebung: Der NR ist zusammen mit dem BR das Gesetzgebungsorgan des Bundes; die Gesetzgebung ist seine Hauptaufgabe, die seine hervorgehobene Stellung im Verfassungsgefu È ge des demokratischen Rechtsstaats und seine politische Hauptverantwortung begru È ndet.
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. Budgetbewilligungsrecht: Durch die in der Form eines Gesetzes ergehende Bewilligung des Budgets nimmt der NR entscheidenden Einfluss auf die Staatsfu È hrung. . Mitwirkung an der Vollziehung: Obwohl der NR in erster Linie ein Gesetzgebungsorgan ist, u È bertraÈgt die Verfassung dem NR bestimmte Kompetenzen, die È berer im Zusammenwirken mit Verwaltungsorganen erledigt (vgl auch die U schrift des Abschnittes E im 2. Hauptstu È ck des B-VG: Mitwirkung des NR und des BR an der Vollziehung des Bundes). . Kontrolle der Verwaltung: Schlieûlich u È bertraÈgt die Verfassung dem NR wesentliche Kontrollaufgaben, die er zT allein und zT unterstu È tzt durch andere Organe (RH, VA, VfGH) ausu È bt. Auf die Erzeugung von Bundesgesetzen wird in einem eigenen Abschnitt (vgl Rz 598 ff) eingegangen. Die u È brigen drei Aufgabenbereiche werden im Nachfolgenden dargestellt. 20.3.1. Die Budgethoheit des Nationalrats In der Entwicklungsgeschichte des Parlamentarismus ist der Budgethoheit der 562 Volksvertretung von Anfang an eine besonders wichtige Bedeutung zugekommen. Durch diese (aus dem Steuerbewilligungsrecht) hervorgegangene Kompetenz kann der NR den Staatshaushalt entscheidend mitgestalten und Einfluss auf das wichtigste politische Steuerungsinstrument im modernen Staat nehmen. Die jaÈhrlichen Budgetdebatten im Plenum des NR geben der Regierung daru È ber hinaus auch die MoÈglichkeit zur umfassenden Darstellung ihrer Leistungen, waÈhrend die Opposition die Gelegenheit zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Regierungspolitik erhaÈlt. Das Budgetbewilligungsrecht des NR ist Teil des Haushaltsrechts des Bundes, das verfassungsrechtlich in den Art 51±51c B-VG geregelt ist; naÈhere Bestimmungen enthaÈlt das einfachgesetzliche BundeshaushaltsG (BHG). Durch die B-VG-Novelle BGBl I 2008/1 wurden die haushaltsrechtlichen Verfassungsbestimmungen neu gefasst, wobei die wesentlichsten Neuerungen die Einfu È hrung eines verbindlichen mittelfristigen Finanzrahmens in der Form eines Bundesfinanzrahmengesetzes sowie die ErmaÈchtigung zur ausnahmsweisen Beschlussfassung u È ber ein Doppelbudget waren. Diese Bestimmungen sind erstmals bei der Erstellung des Finanzrahmens fu Èr die Jahre 2009 bis 2012 anzuwenden. Eine weiter reichende Reform des Haushaltsrechts wird ab 2013 wirksam werden, wobei in erster Linie eine staÈrker wirkungsorientierte Finanzplanung angestrebt wird. 1. Das Bundesfinanzrahmengesetz: Dieses Gesetz legt in der Form von Obergren- 563 zen einen verbindlichen Ausgabenrahmen fu È r vier Jahre fest; es wird in der Form einer ¹rollierenden Planungª jaÈhrlich fortgeschrieben. Beschlossen wird dieses Gesetz vom NR auf der Grundlage eines von der BReg vorgelegten Entwurfs; eine Mitwirkung des BR ist nicht vorgesehen (Art 42 Abs 5 B-VG). Das Bundesfinanzrahmengesetz und seine jaÈhrlichen Fortschreibungen sollen in der ersten HaÈlfte des jeweiligen Jahres vorgelegt und im NR behandelt werden. 2. Das Bundesfinanzgesetz: Das jaÈhrliche Budget des Bundes wird vom NR ebenfalls in der Form eines einfachen Gesetzes auf der Grundlage einer Vorlage der BReg genehmigt. Dieses Gesetz traÈgt die Bezeichnung ¹Bundesfinanzgesetzª, auch hier gibt es kein Mitwirkungsrecht des BR. Ausnahmsweise kann ein so genanntes ¹Doppelbudgetª fu È r das folgende und das nachfolgende Finanzjahr beschlossen werden. Das BundesfinanzG besteht im Wesentlichen aus dem ¹Bundesvoranschlagª, das ist die nach finanzgesetzlichen AnsaÈtzen gegliederte Aufstellung der Einnahmen und
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Ausgaben des Bundes fu È r das kommende Finanzjahr; es enthaÈlt ferner den Personalplan sowie weitere fu È r die HaushaltsfuÈhrung ¹wesentliche Grundlagenª (Art 51 Abs 5 B-VG). In seinem allgemeinen Teil finden sich im BundesfinanzG ferner bestimmte an den Finanzminister gerichtete ErmaÈchtigungen zu budgetwirksamen Handlungen (zB zur Aufnahme von Krediten, zur Anwendung eines Konjunkturausgleichsvoranschlags, zur Bildung von Ru È cklagen, zur TaÈtigung von u È berplanmaÈûigen Ausgaben usw). a) Das BundesfinanzG ermaÈchtigt die Organe des Bundes, die im Voranschlag angefu È hrten Ausgaben im Rahmen der vorgesehenen Einnahmen zu taÈtigen. Budgetu È berschreitungen (u È berplanmaÈûige Ausgaben) oder die TaÈtigung von Ausgaben, die im BundesfinanzrahmenG oder im BundesfinanzG nicht vorgesehen sind (auûerplanmaÈûige Ausgaben), du È rfen nur in begrenztem Umfang vorgesehen oder getaÈtigt werden. Im Einzelnen gilt dabei: Die Obergrenzen der Rubriken (das ist die oberste Gliederungsebene) des BundesfinanzrahmenG binden die jaÈhrlichen BundesfinanzG und sie du È rfen nur im Verteidigungsfall oder ± soweit eine Bedeckung gegeben ist ± bei Gefahr im Verzug u È berschritten werden (Art 51 Abs 6 B-VG). Die im jaÈhrlichen BundesfinanzG festgelegten AnsaÈtze du È rfen in begrenztem Umfang mit Zustimmung des Finanzministers u È berschritten werden (vgl die naÈheren Regelungen in Art 51b Abs 3 B-VG). Ansonsten bedarf es eines eigenen Budgetu È berschreitungsgesetzes. Fu È r die Erstellung des Budgets gelten die BudgetgrundsaÈtze der EinjaÈhrigkeit bzw ausnahmsweise ZweijaÈhrigkeit (Beschlussfassung fu È r jeweils ein Jahr bzw bei Doppelbudgets fu È r zwei Jahre) sowie der Einheit (ein einheitlicher Voranschlag), VollstaÈndigkeit (aufzunehmen sind alle Ausgaben und Einnahmen) und der Budgetwahrheit. Auûerdem gilt der Grundsatz des Bruttobudgets (Veranschlagung mit BruttobetraÈgen ohne Aufrechnung von Einnahmen und Ausgaben). Zum Grundsatz des Gender Budgeting vgl Rz 209. b) Weil sich das BundesfinanzG nur an die Staatsorgane richtet und nur konkrete Ausgaben und Einnahmen ausweist, wird es oft als ein ¹Gesetz im nur formellen Sinnª bezeichnet; ihm fehlt der fu È r Gesetze im materiellen Sinn typische generell-abstrakte Regelungsgehalt mit Auûenwirkung fu È r die Rechtsunterworfenen. Es waÈre auch (nicht zuletzt wegen der fehlenden Mitwirkung des BR bei seiner Verabschiedung) unzulaÈssig in das BundesfinanzG Regelungen aufzunehmen, welche die Bu È rger berechtigen oder verpflichten. Dies wird als ¹Bepackungsverbotª bezeichnet. Daher du È rfen zB auch Steuern unabhaÈngig von ihrer Aufnahme in das BundesfinanzG nur dann vorgeschrieben werden, wenn sie durch auûenwirksame Steuergesetze auferlegt sind, und bleiben gesetzliche Anspru È che Einzelner, wie etwa ein Anspruch auf eine StudienfoÈrderung, auch dann aufrecht, wenn sie im Budget keine Deckung finden wu È rden.
564 2. Die Erstellung des Budgets und das Budgetprovisorium: Nach Art 51 Abs 1±4 B-VG ist es Aufgabe der BReg dem NR rechtzeitig den Entwurf des BundesfinanzrahmenG bzw zehn Wochen vor Ablauf des Finanzjahres den Entwurf des BundesfinanzG fu È r das Folgejahr vorzulegen. Wenn die BReg diesen Verpflichtungen nicht fristgerecht nachkommt, koÈnnen von Seiten des NR entsprechende InitiativantraÈge eingebracht werden (Art 51a B-VG). Der Einbringung des Voranschlagentwurfs durch die Regierung gehen die Budgetverhandlungen zwischen den einzelnen Ministerien voraus, bei denen der Finanzminister federfu È hrend ist, der auch den Budgetentwurf ausarbeitet. In der politischen Praxis ist der Voranschlag daher ein Produkt der Regierung, eine ¹in Zahlen gegossene RegierungserklaÈrungª, auf das der NR kaum mehr Einfluss nehmen kann, obwohl das Budget formal als Bundesgesetz beschlossen wird.
È bergang des Initiativrechts an den NR moÈchte das 565 Durch die Fristsetzung und den U B-VG darauf hinwirken, dass moÈglichst rechtzeitig vor Beginn eines neuen Finanzjahres ein Budget verabschiedet wird. Um einen ¹budgetlosen Zustandª zu verhindern sieht die Verfassung auûerdem ¹Budgetprovisorienª vor. Ein solches Budgetprovisorium kann es in zwei Formen geben: . Der Nationalrat kann, wenn vor Ablauf des Jahres kein BundesfinanzG beschlossen wurde, eine vorlaÈufige Vorsorge treffen, indem er ein entsprechendes BG beschlieût (bundesgesetzliches Budgetprovisorium - Art 51a Abs 4 B-VG 1. Fall).
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. Kommt weder ein endgu È ltiges noch ein provisorisches BundesfinanzG zu Stande, tritt ein ¹automatisches Budgetprovisoriumª in Kraft (Art 51a Abs 4 B-VG 2. Fall): Danach ist der Bundeshaushalt nach den Bestimmungen des zuletzt beschlossenen BundesfinanzG zu fu È hren; Finanzschulden koÈnnen nur bis zur HaÈlfe der jeweils vorgesehenen HoÈchstbetraÈge und kurzfristige Verpflichtungen zur voru È bergehenden KassenstaÈrkung bis zur HoÈhe der jeweils vorgesehenen HoÈchstbetraÈge eingegangen werden. . Hat der Nationalrat in einem Finanzjahr kein BundesfinanzrahmenG beschlossen, so gelten die Obergrenzen des letzten Finanzjahres (Art 51a Abs 3 B-VG). 3. Budgetvollzug: Bei der Fu È hrung des Staatshaushalts kommt dem Finanzminister 566 eine Schlu È sselrolle zu. Er hat die BReg und die u È brigen haushaltsleitenden Organe regelmaÈûig u È ber den Budgetvollzug zu informieren; Budgetu È berschreitungen bedu È rfen seiner Zustimmung. Der NR kann Einfluss nehmen, weil bei wichtigen Entscheidungen (vor allem bei gewissen Budgetu È berschreitungen) die BReg das Einvernehmen mit dem Budgetausschuss herzustellen hat, dem auch vom Finanzminister regelmaÈûig Bericht zu erstatten ist (Art 51c B-VG). 4. Der Rechnungsabschluss: Nach Abschluss eines Finanzjahres verfasst der RH 567 auf Grund der ihm von den einzelnen Ressorts vorgelegten Teilrechnungsabschlu È sse den Bundesrechnungsabschluss. Dieser bedarf der Genehmigung durch den NR, die ebenfalls in der Form eines ± ohne Mitwirkung des BR zu erlassenden ± Bundesgesetzes ergeht (Art 121 Abs 2 B-VG und § 9 Abs 1 RHG). 20.3.2. Mitwirkung an der Vollziehung Von einer Mitwirkung an der Vollziehung kann man dann sprechen, wenn be- 568 stimmte Entscheidungen der BReg, eines BM oder eines sonstigen Verwaltungsorgans an die Mitwirkung (Zustimmung) des NR gebunden sind. Derartige Mitwirkungsbefugnisse haben letztlich den Sinn, dass vor allem in wichtigen politischen Fragen das Parlament und die in ihm vertretenen politischen Parteien mit diesen Angelegenheiten befasst werden. Als Ausnahme vom Grundsatz der Gewaltentrennung sind solche Mitwirkungsbefugnisse auf eine ausdru È ckliche verfassungsrechtliche Begru È ndung angewiesen. Zu diesen Mitwirkungsbefugnissen gehoÈren die folgenden Aufgaben: . Zustimmung zu bundesgesetzlich festgelegten allgemeinen Akten der BReg oder eines BM: Durch Bundesgesetz kann angeordnet werden, dass gewisse ¹allgemeine Akteª der Regierung oder einzelner Minister des Einvernehmens mit dem Hauptausschuss des NR bedu È rfen. Solche Einvernehmensregelungen gibt es vor allem fu È r den Erlass wichtiger VO (zB im Volksgruppenrecht, bei den quotenpflichtigen Niederlassungsbewilligungen oder bei der Festlegung des Wahltages fu È r die NR-Wahl). . Zustimmung des Hauptausschusses des NR zu bestimmten Lenkungsmaûnahmen zur GewaÈhrleistung der Versorgungssicherheit in KrisenfaÈllen (vgl Art 55 Abs 5 B-VG). . Zustimmung des Hauptausschusses des NR zu bestimmten (militaÈrischen oder humanitaÈren) AuslandseinsaÈtzen nach dem KSE-BVG BGBl I 1997/38 (§ 2). . Auf weitere FaÈlle der Mitwirkung des NR an der Vollziehung trifft man noch bei der Bestellung von Verfassungsrichtern (durch BPraÈs auf Vorschlag ua des NR) sowie bei der Mitwirkung des NR an Entscheidungen im Rahmen der EU (Nominierung von Organen, Vorhaben im Rahmen der EU; dazu Rz 321 ff).
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570 Auch die beiden folgenden FaÈlle sind formal Angelegenheiten der Mitwirkung an der Vollziehung; der Sache nach handelt es sich freilich um Befugnisse, die mit der Rechtsetzung eng verbunden sind: . Genehmigung des Abschlusses von (bestimmten) StaatsvertraÈgen des Bundes (Art 50 B-VG): Weil der Abschluss von StaatsvertraÈgen durch Verwaltungsorgane erfolgt (BPraÈs, BReg, BM), gehoÈrt die entsprechende Kompetenz des NR zu den Aufgaben der Mitwirkung an der Vollziehung. Darauf wurde bereits im Zusammenhang mit dem Abschluss von StaatsvertraÈgen naÈher eingegangen (vgl Rz 263 ff). . Genehmigung bestimmter GliedstaatsvertraÈge (vgl Rz 463). 20.3.3. Die Kontrolle der Verwaltung 571 Unter dem Begriff der ¹Kontrolle der Verwaltungª werden Befugnisse des NR zusammengefasst, durch die dieser ± neben der Erlassung von Gesetzen ± politischen Einfluss auf das staatliche Handeln ausu È ben und rechtliche Verantwortlichkeiten geltend machen kann. Am wichtigsten ist dabei der Umstand, dass die BReg auf das fortdauernde Vertrauen des NR angewiesen ist, so dass sich auf Dauer keine Regierung im Amt halten kann, die nicht von der Mehrheit im NR getragen ist; dieses VertrauensverhaÈltnis wird institutionell durch das Recht des Misstrauensvotums abgesichert. Um die Aufgabe der politischen Gesamtleitung wirksam wahrnehmen zu koÈnnen gibt das B-VG dem NR daneben noch weitere politische Kontrollrechte, durch die sich das Parlament Informationen u È ber die Arbeit der Regierung und der dieser unterstellten Verwaltung beschaffen, dieser AuftraÈge geben und ihre Verantwortlichkeit einmahnen kann. Alle diese Rechte stellen politische Kontrollrechte dar. Neben diesen politischen Kontrollrechten, die der Aufgabe der Staatsleitung dienen, hat die Verfassung aber auch rechtliche Kontrollbefugnisse gegenu È ber der BReg begru È ndet und dem NR die finanzielle Kontrolle des Staatshaushalts sowie die Wahrnehmung von MissstaÈnden in der Verwaltung u È bertragen. 572 1. Politische Kontrollrechte: Das B-VG gibt dem NR eine Reihe von Kompetenzen, durch die die politische Verantwortlichkeit der obersten Verwaltungsorgane geltend gemacht werden kann; weil die u È brigen Verwaltungsorgane den obersten Verwaltungsorganen weisungsmaÈûig unterstellt sind und diese daher fu È r deren Handeln politisch einstehen mu È ssen, kann der NR auf diesem Wege das Handeln der gesamten Bundesverwaltung einschlieûlich der Privatwirtschaftsverwaltung kontrollieren. Durch Art 52 Abs 2 B-VG ist klargestellt, dass sich die Kontrollrechte des NR auch auf bestimmte o È ffentliche Unternehmen erstrecken (solche, an denen durch eine 50%ige staatliche Beteiligung oder gleichartige Beherrschung die Voraussetzungen der RH-Kontrolle gegeben sind). Auch die Leiter von weisungsfreien Organen nach Art 20 Abs 2 B-VG (zB ausgegliederte Kontroll- oder Regulierungseinrichtungen) koÈnnen von den Ausschu È ssen des NR zu allen Angelegenheiten der GeschaÈftsfu È hrung befragt werden (Art 52 Abs 1a B-VG). Nicht der Kontrolle des NR unterliegt die Gerichtsbarkeit. Die verschiedenen Kontrollrechte sind im GrundsaÈtzlichen im B-VG geregelt und werden durch das GONR naÈher ausgestaltet. Im Einzelnen stehen dem NR die folgenden Rechte der politischen Kontrolle zur Verfu È gung: 573 . Das Recht des Misstrauensvotums (Art 74 B-VG): Der NR kann durch eine ausdru È ckliche Entschlieûung der gesamten BReg oder einzelnen BM das Vertrauen versagen; in der Folge ist in einem solchen Fall die gesamte Regierung oder der betreffende BM vom BPraÈs seines Amtes zu entheben. Diese Kompetenz des NR sichert die politische Verantwortlichkeit der BReg, die auf die fortdauernde
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Unterstu È tzung durch die parlamentarische Mehrheit angewiesen ist; in der Regel wird der BPraÈs auch wegen der MoÈglichkeit eines Misstrauensvotums nur eine solche Regierung bestellen, von der er ausgehen kann, dass sie die Mehrheit hinter sich hat. Auf diese Weise stellt das Recht des Misstrauensvotums eine Grundlage fu È r das Funktionieren des parlamentarischen Regierungssystems sicher (dazu Rz 141), und zwar auch dann, wenn es in der politischen Praxis ± in der die amtierende Regierung in aller Regel die Mehrheit im Parlament hinter sich hat ± kaum zur Amtsenthebung einer Regierung auf Grund eines Misstrauensvotums kommen wird. Fu È r das Zustandekommen eines Misstrauensvotums ist eine einfache Mehrheit erforderlich, so dass die Opposition in der Regel keinem Minister das Misstrauen erfolgreich aussprechen wird ko È nnen. Als einzige Erschwernis gegenu È ber den sonstigen Beschlussfassungserfordernissen und zur Verhinderung von Zufallsmehrheiten sieht Art 74 Abs 2 B-VG ein erhoÈhtes PraÈsenzquorum vor (HaÈlfte der NR-Mitglieder); auûerdem ist die Abstimmung auf den zweitnaÈchsten Werktag zu vertagen, wenn es ein Fu È nftel der Mitglieder des NR (§ 67 Abs 1 GONR) verlangt.
. Das Interpellationsrecht (Art 52 B-VG): Weil die Ausu È bung von Kontrolle Infor- 574 mationen voraussetzt, gibt die Verfassung dem NR ein Fragerecht. Die Abgeordneten sind befugt, die GeschaÈftsfu È hrung der BReg zu u È berpru È fen und deren Mitglieder zu befragen sowie Ausku È nfte zu verlangen; die Mitglieder der BReg sind zur Beantwortung der an sie gerichteten Anfragen verpflichtet. Im Einzelnen wird das Interpellationsrecht durch das GONR naÈher ausgestaltet, wobei die GeschaÈftsordnung verschiedene Arten von parlamentarischen Anfragen unterscheidet: . Schriftliche Anfragen mu È ssen von mindestens fu È nf Abgeordneten gestellt werden; die Antwort ist von der Regierung innerhalb von zwei Monaten mu È ndlich oder ± wie in der Praxis regelmaÈûig der Fall ± schriftlich zu geben. . Dringliche Anfragen ko È nnen von fu È nf Abgeordneten eingebracht werden; sie mu È ssen noch in derselben Sitzung beantwortet werden und es findet daru È ber eine Debatte statt. . In der Fragestunde kann jeder Abgeordnete kurze mu È ndliche Anfragen an Regierungsmitglieder stellen, die sogleich beantwortet werden. Dem ist die ¹aktuelle Stundeª verwandt, die der Aussprache u È ber Themen von allgemeiner Bedeutung aus der Vollziehung des Bundes dient.
. Das Resolutionsrecht (Art 52 Abs 1 B-VG): Als ein weiteres Mittel der staatlichen 575 Gesamtleitung gibt die Verfassung dem NR die Befugnis durch Entschlieûungen bestimmte ¹Wu È nsche u È ber die Ausu È bung der Vollziehungª zu Èauûern, dh der BReg und den einzelnen BM bestimmte AuftraÈge zu geben. Rechtlich sind solche Entschlieûungen zwar nicht verbindlich, sie stellen allerdings politisch maûgebliche Willensbekundungen der Volksvertretung dar, die eine politische Verantwortlichkeit der Regierung begru È nden. . Das Enqueterecht (Art 53 B-VG): Wenn bestimmte VorgaÈnge im Bereich der 576 staatlichen Verwaltung einer AufklaÈrung bedu È rfen, kann der NR durch Beschluss einen Untersuchungsausschuss einsetzen. In der politischen Praxis ist die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ± dem freilich die Nationalratsmehrheit zustimmen muss ± ein wirksames Instrument der politischen Kontrolle, wie sich das in der Vergangenheit (zB Lucona- oder Noricum-Untersuchungsausschuss) mehrfach erwiesen hat. Nach Art 53 Abs 3 B-VG sind alle Gerichte und Verwaltungsbeho Èrden verpflichtet, einem Ausschussersuchen um Beweiserhebung Folge zu leisten und die entsprechenden Akten vorzulegen. Die Untersuchungsausschu È nnen aber auch selbst Beweiserhebungen unÈ sse ko ter sinngemaÈûer Anwendung der StPO durchfu È hren, SachverstaÈndige und Auskunftspersonen vorladen und deren Vorfu È hrung veranlassen. Die naÈheren Einzelheiten des Verfahrens
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der Untersuchungsausschu È sse werden durch eine als Anlage zum GONR beschlossene Verfahrensordnung fu È r parlamentarische Untersuchungsausschu È sse geregelt. Die TaÈtigkeit eines Untersuchungsausschusses mu È ndet in einen dem Plenum des NR zuzuleitenden Bericht, der auch Empfehlungen enthalten kann.
577 . Die Kontrolle des Verfassungsschutzes und der militaÈrischen Nachrichtendienste (Art 52a B-VG): Weil sich die nachrichtendienstliche TaÈtigkeit zum Teil den u È ffentlichen Kontrolle entÈ blichen Formen einer gerichtlichen oder o zieht, sieht das B-VG eine Kontrolle dieser Dienste durch eigene staÈndige Unterausschu È sse vor. Sie koÈnnen Ausku È nfte und die Einsichtnahme in einschlaÈgige Unterlagen verlangen, die in AusnahmefaÈllen von den BehoÈrden auch eingeschraÈnkt werden koÈnnen. 578 Durch die Instrumente der politischen Kontrolle soll der NR die politische Verantwortlichkeit der Regierung geltend machen koÈnnen. Weil die BReg sich auf das Vertrauen der sie tragenden politischen Parteien stu È tzt, die in der Regel u È ber die Mehrheit im NR verfu È gen, ist freilich nicht zu erwarten, dass diese Mehrheit die Kontrollmittel in einer Weise ausu È bt, die der Regierung zum Nachteil gereicht. Daher stellt es einen Systemfehler der Verfassung dar, wenn wichtige Mittel der politischen Kontrolle ± dies gilt vor allem fu È r das Enqueterecht und das Resolutionsrecht ± in die HaÈnde der politischen Mehrheit gestellt sind. Lediglich das Interpellationsrecht ist als ein Minderheitenrecht ausgestaltet, das auch der Opposition eine effektive MoÈglichkeit gibt das Handeln der Regierung zu kontrollieren. 579 2. Rechtliche Kontrolle: Die BReg ist dem NR gegenu È ber nicht nur politisch, sondern auch rechtlich fu È r ihre GeschaÈftsfu È hrung verantwortlich (rechtliche Verantwortlichkeit im Vergleich zu der durch Misstrauensvotum geltend zu machenden politischen Verantwortlichkeit). Diese rechtliche Kontrolle wird durch die staatsrechtliche Anklage beim VfGH nach Art 142 B-VG geltend gemacht, wobei die BM fu È r die GesetzmaÈûigkeit ihrer Amtsfu È hrung einzustehen haben. Weil es zur Einleitung eines solchen Verfahrens eines Mehrheitsbeschlusses bedarf, liegt auch die Geltendmachung dieser rechtlichen Verantwortlichkeit in den HaÈnden der parlamentarischen Mehrheit. Zur Anklage eines BM nach Art 142 B-VG ist es daher auch noch nie gekommen. Zu den Einzelheiten der staatsrechtlichen Anklage vgl Rz 1144 ff. 580 3. Finanzielle Kontrolle und Missstandskontrolle: Durch das Budgetbewilligungsrecht und die Befugnis zur Genehmigung der Rechnungsabschlu È sse (vgl Rz 562 ff) kann der NR wesentlichen Einfluss auf die Fu È hrung des Staatshaushalts nehmen. Die Verfassung u È bertraÈgt dem NR daru È ber hinaus auch die Aufgabe der Kontrolle der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und ZweckmaÈûigkeit der gesamten staatlichen Verwaltung einschlieûlich bestimmter ausgegliederter Verwaltungseinheiten und o È ffentlicher Unternehmen. Dazu bedient sich das Parlament eines besonderen sachkundigen Hilfsorgans, naÈmlich des Rechnungshofs (RH), dessen Einrichtung und Aufgaben in einem eigenen Kapitel behandelt werden (vgl Rz 859 ff). Weil bereits 20 Abgeordnete das Recht haben eine SonderpruÈfung durch den RH zu verlangen (Art 126b Abs 4 B-VG iVm § 99 Abs 2 GONR), kann auch die Opposition Einfluss auf die Wahrnehmung der finanziellen Kontrolle nehmen. 581 Auch die Kontrollfunktionen, welche der Volksanwaltschaft (VA) u È bertragen und die im Wesentlichen auf die Wahrnehmung von MissstaÈnden in der Verwaltung gerichtet sind, u È bt die VA als Hilfsorgan des NR aus. Ihm sind daher auch die Berichte der VA zu u È bermitteln. Zur Einrichtung und zu den Aufgaben der VA vgl Rz 881 ff. Eine der VA vergleichbare Einrichtung ist die Bundesheer-Beschwerdekommission, die durch eine Verfassungsbestimmung beim BM fu È r Landesverteidigung eingerichtet wurde (§ 4 Abs 1 WehrG). Sie hat Beschwerden von Stellungspflichtigen und Soldaten zu pru È fen, geeignete Empfehlungen zu beschlieûen und Berichte zu erstellen, die auch dem NR vorzulegen sind.
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21. Der Bundesrat Der Bundesrat (BR) bildet im o È sterreichischen Zweikammersystem die ¹LaÈnderkam- 582 merª. Als solche ist der BR dasjenige Bundesorgan, das in erster Linie zur Vertretung der LaÈnderinteressen bei der Gesetzgebung des Bundes berufen ist. Zu diesem Zweck gibt die Verfassung dem BR ein suspensives Vetorecht gegen Gesetzesbeschlu È sse des NR; in gewissen FaÈllen bedu È rfen Gesetzesbeschlu È sse des NR der Zustimmung des BR. Daneben u È bertraÈgt das B-VG dem BR noch einzelne parlamentarische Kontrollrechte. Die politische Bedeutung des BR ist gering. Dies haÈngt nicht nur mit der SchwaÈche der ihm u È bertragenen Kompetenzen zusammen, die dem BR letztlich und von wenigen Ausnahmen abgesehen nur die MoÈglichkeit geben das Zustandekommen von Bundesgesetzen zu verzoÈgern. Praktisch bedeutsamer ist, dass die Mitglieder des BR nicht so sehr und in erster Linie als Vertreter der sie entsendenden BundeslaÈnder agieren, sondern die Interessen der politischen Parteien artikulieren, denen sie angehoÈren. Wenn daher ± wie das immer wieder vorkommt ± die politischen MehrheitsverhaÈltnisse im BR im Wesentlichen den MehrheitsverhaÈltnissen im NR entsprechen, ist nicht zu erwarten, dass die ¹LaÈnderkammerª ein politisches Gegengewicht zum NR bildet. Charakteristisch ist auch, dass der BR Kompetenzverschiebungen zu Lasten der LaÈnder dann, wenn daru È ber ein politischer Konsens unter den Parteien erzielt wurde, kaum WiderstaÈnde in den Weg legt. È ber die Reformbedu U È rftigkeit des BR besteht daher ein weit reichender Konsens unter den 583 Verfassungsexperten. Eine solche Reform ko È nnte einmal bei seinen Kompetenzen ansetzen und ihm ein verstaÈrktes Mitspracherecht bei der Bundesgesetzgebung geben. Genauso wichtig waÈren aber Maûnahmen, durch welche den LaÈnderinteressen mehr Gewicht bei der Meinungsbildung im BR gegeben werden koÈnnte; insoweit wurde erwogen, die Vertreter im BR an Weisungen der sie entsendenden LaÈnder zu binden oder u È berhaupt die Zusammensetzung des BR zu Èandern. Die Expertengruppe Staats- und Verwaltungsreform hat zwei alternative Modelle vorgeschlagen (vgl 168/ME 23. GP).
21.1. Die Zusammensetzung und Organisation des Bundesrats 1. Es ist eine fu È r jeden Bundesstaat ganz wesentliche Frage, auf welche Weise die 584 Gliedstaaten in der LaÈnderkammer vertreten sind. Dafu È r gaÈbe es das Modell einer gleichgewichteten RepraÈsentanz (arithmetische Gleichheit) unabhaÈngig von der GroÈûe und Einwohnerzahl des jeweiligen Landes (wie dies etwa beim US-amerikanischen Senat der Fall ist); andererseits kann man jedem Land eine nach seiner Bu È rgerzahl gewichtete Vertretung (geometrische Gleichheit) einraÈumen. Das B-VG hat sich in Art 34 B-VG fu È r einen Kompromiss zwischen diesen beiden Modellen entschieden. Danach entsendet das Land mit der groÈûten Bu È rgerzahl (das ist gegenwaÈrtig Niedero È sterreich) 12 Mitglieder in den BR, jedes andere Land so viele Mitglieder, als dem VerhaÈltnis seiner Bu È rgerzahl zu diesem Land entspricht, wobei aber jedes Bundesland einen Anspruch darauf hat, unabhaÈngig von seiner Bu È rgerzahl wenigstens drei Mitglieder zu bestellen. Der BR hat daher auch keine feststehende Mitgliederzahl; die Zahl der auf jedes Bundesland entfallenden Mitglieder wird vielmehr vom BPraÈs jeweils nach einer erfolgten VolkszaÈhlung (also alle 10 Jahre) festgelegt. Nach dem Ergebnis der letzten maûgeblichen VolkszaÈhlung hat der BR insgesamt 62 Mitglieder; sie verteilen sich auf die einzelnen LaÈnder wie folgt: È 12 LaÈnderweise Zusammensetzung des BR nach der Entschlieûung BGBl II 2002/444: NO È je 11, Stmk 9, Tir 5, Ktn und Sbg je 4, Vlbg und Bgld je 3 Mitglieder. Mitglieder, Wien und OO
2. Die Mitglieder des BR werden nicht direkt vom Volk, sondern von dem Landtag 585 des Landes gewaÈhlt, dessen Interessen sie vertreten sollen. Die Wahl erfolgt nach
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den GrundsaÈtzen der VerhaÈltniswahl, so dass jede im LT mit einer gewissen GroÈûe vertretene politische Partei das Recht hat, ihrer relativen StaÈrke entsprechend Vertreter in den BR zu waÈhlen. Art 35 Abs 1 B-VG trifft auûerdem Vorsorge, dass die jeweils zweitstaÈrkste LT-Fraktion jedenfalls im BR vertreten ist. GegenwaÈrtig stehen È VP, 3 der SPO È etwa von den 12 BR-Mandaten des Landes NiederoÈsterreich 7 der O È zu. und jeweils eines den Gru È nen und der FPO Die Wahl erfolgt fu È r die Dauer der Legislaturperiode des jeweiligen LT. Weil die LT unterschiedlich lange und sich u È berschneidende Funktionsperioden haben, erfolgt die Neubestellung von BR-Mitgliedern zeitversetzt. Der BR hat daher auch keine feste Legislaturperiode, sondern erneuert sich fortlaufend (Prinzip der Partialerneuerung im Gegensatz zu einer Totalerneuerung wie beim NR). 586 3. Den BR-Mitgliedern steht der Schutz des freien Mandats zu (Art 56 Abs 1 B-VG). Hinsichtlich der ImmunitaÈt sind sie den Abgeordneten des LT gleichgestellt, der sie waÈhlt. Diesem LT mu È ssen sie nicht angehoÈren (du È rfen es aber); sie mu È ssen aber zum LT waÈhlbar sein (Art 35 Abs 2 B-VG). Zur Unvereinbarkeit einer gleichzeitigen Mitgliedschaft in NR und BR sowie im EP vgl Art 59 B-VG. 587 4. Der Gang des Verfahrens im BR wird durch eine GeschaÈftsordnung geregelt, die sich der BR selbst durch einen mit qualifizierter Mehrheit zu faÈllenden Beschluss gibt (Art 37 Abs 2 B-VG). Dass es fu È r die Geo keines Bundesgesetzes bedarf (obwohl diese die Wirkung eines solchen Gesetzes hat), soll die SelbstaÈndigkeit des BR gegenu È ber dem NR unterstreichen. Den Vorsitz im BR fu È hrt der PraÈsident des BR, dem zwei VizepraÈsidenten beigegeben sind. Der Vorsitz wechselt zwischen den LaÈndern halbjaÈhrlich in alphabetischer Reihenfolge (vgl Art 36 B-VG). Die Beratungen im BR È ffentlich. Weil der BR die LaÈnderkammer ist, sind die Landessind grundsaÈtzlich o hauptleute zur Teilnahme an seinen Sitzungen berechtigt, wobei sie das Recht haben zu den Angelegenheiten ihres Landes gehoÈrt zu werden.
21.2. Die Aufgaben des Bundesrats 588 Die wichtigste Aufgabe des BR ist seine Mitwirkung bei der Gesetzgebung des Bundes. Die naÈheren Einzelheiten seiner Mitwirkungsbefugnisse (suspensives Veto, in bestimmten FaÈllen ein Zustimmungsrecht) werden im Zusammenhang mit dem Gesetzgebungsverfahren behandelt (vgl Rz 617 ff). 589 Daneben u È bertraÈgt das B-VG dem BR noch einige weitere Kompetenzen, deren praktische Bedeutung aber durchwegs gering ist: . Recht der Gesetzesinitiative nach Art 41 Abs 1 B-VG (der BR sowie ein Drittel der Mitglieder des BR koÈnnen einen Gesetzesantrag einbringen); . Veranlassung einer Volksabstimmung u È ber eine TeilaÈnderung der Bundesverfassung nach Art 44 Abs 3 B-VG (vgl Rz 638); . Einleitung eines Verfahrens zur Pru È fung der VerfassungsmaÈûigkeit von Bundesgesetzen beim VfGH nach Art 140 Abs 1 B-VG durch ein Drittel seiner Mitglieder (vgl Rz 1083); . parlamentarische Kontrollrechte; der BR hat Èahnliche Rechte zur Kontrolle der Verwaltung, wie sie dem NR eingeraÈumt sind (Fragerecht, Resolutionsrecht); . verschiedene Befugnisse zur Mitwirkung an der Vollziehung, vor allem im Zusammenhang mit StaatsvertraÈgen (vgl Rz 266) und der Wahrnehmung von Vorschlagsrechten betreffend Mitglieder des VfGH; . Mitwirkung an der innerstaatlichen Willensbildung in EU-Angelegenheiten (vgl Rz 322 ff).
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22. Die Landtage Die Volksvertretungen und zugleich die Gesetzgebungsorgane auf der Ebene der 590 BundeslaÈnder sind die Landtage (LT). Ihre verfassungsrechtliche Stellung und ihre Aufgaben sind in den wesentlichen Punkten bereits durch die Bundesverfassung (Art 95 ff B-VG) vorgegeben; das gilt etwa fu È r die Entscheidung fu È r ein Einkammersystem, fu È r das Landtagswahlrecht oder die Stellung der LT-Abgeordneten; andere Regelungen, wie zB die GroÈûe des LT, die Dauer der Legislaturperiode oder die parlamentarischen Kontrollrechte, kann die LV im Rahmen der relativen Verfassungsautonomie regeln (vgl dazu Rz 167). Verfassungsrechtlich vorgegeben ist vor allem die ZustaÈndigkeit des LT zur Gesetzgebung (Art 95 Abs 1 B-VG). Daher kann ± ohne bundesverfassungsrechtliche ErmaÈchtigung ± kein anderes Organ als der LT fu È r die Landesgesetzgebung zustaÈndig gemacht werden; dies schraÈnkt auch die MoÈglichkeiten ein, durch die LV Verfahren der Volksgesetzgebung vorzusehen, welche das Gesetzgebungsmonopol des LT beseitigen. Nach Ansicht des VfGH waÈre eine echte Volksgesetzgebung (etwa in der Art, dass ein LT einen zuvor vom Volk angenommenen Gesetzesvorschlag zwingend als Gesetz verabschieden mu È sste) im Hinblick auf das ¹repraÈsentativ-demokratische Grundprinzipª der Bundesverfassung als GesamtaÈnderung iS von Art 44 Abs 3 B-VG anzusehen (VfSlg 16.241/2001).
22.1. Die Landtagswahl und die Stellung der Landtagsabgeordneten 1. Fu È r die Wahl zu den Landtagen ordnet Art 95 Abs 1 B-VG die Geltung der glei- 591 chen WahlrechtsgrundsaÈtze wie fu È r die NR-Wahl an (Grundsatz der HomogenitaÈt der WahlrechtsgrundsaÈtze; zu diesen GrundsaÈtzen im Einzelnen vgl Rz 514 ff). Ihre Mitglieder werden auf Grund des gleichen, unmittelbaren, persoÈnlichen, freien und geheimen VerhaÈltniswahlrechts gewaÈhlt. Wahlberechtigt sind alle LandesbuÈrger (dh die StaatsbuÈrger mit (Haupt-)Wohnsitz im Landesgebiet), die das Wahlalter erreicht haben. Das Wahlalter wird wie alle u È brigen Einzelheiten der LT-Wahl von den Landtags- 592 wahlordnungen (LTWO) festgelegt; sie du È rfen die Bedingungen des Wahlrechtes und der WaÈhlbarkeit nicht enger ziehen als sie das B-VG fu È r die NR-Wahl festgelegt hat; daher waÈre zwar eine Herabsetzung des Wahlalters gegenu È ber den in Art 26 B-VG festgelegten Altersgrenzen zulaÈssig, aber keine ErhoÈhung. Seit der Herabsetzung des Wahlalters fu È r die NR-Wahl entsteht das Wahlrecht zu den 593 LT mit der Vollendung des 16. Lebensjahres spaÈtestens mit Ablauf des Wahltages. WaÈhlbar ist, wer am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet hat. Wahlberechtigt und waÈhlbar sind immer nur Landesbu È rger; im Hinblick auf die Regelung des Art 6 Abs 2 B-VG (wonach der Landesgesetzgeber beim Begriff des LandesbuÈrgers entweder auf den Hauptwohnsitz oder auf den Wohnsitz abstellen kann) sind die Wohnsitzerfordernisse uneinheitlich. Bei einer Verlegung des Wohnsitzes in das Ausland kann das Wahlrecht zum LT nach Maûgabe der LV noch fu È r einen Zeitraum bis zu zehn Jahren erhalten bleiben. 2. Die Zahl der Landtagssitze kann von der LV autonom geregelt werden; sie be- 594 È , OO È und Stmk 56 und traÈgt in der Mehrzahl der kleineren BundeslaÈnder 36, in NO in Wien 100. Fu È r das Wahlverfahren ordnet die Bundesverfassung eine raÈumliche Gliederung des Landesgebietes in (zwingend!) mehrere Wahlkreise an. Fu È r die Durchfu È hrung der Wahl und die Ermittlung des Wahlergebnisses nach den GrundsaÈtzen der VerhaÈltniswahl sehen die einzelnen LTWO Èahnliche Verfahren wie bei der Wahl des NR vor; es gibt zwei Ermittlungsverfahren, wobei fu È r die Teilnahme am zweiten (oder einem dritten) Ermittlungsverfahren laÈnderweise unterschiedliche
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Regelungen u È ber Grundmandate oder Prozentklauseln (meist 5 %) vorgesehen sind. Die MoÈglichkeit zur Abgabe von Vorzugsstimmen ist u È berall gegeben. 595 3. Die Stellung der LT-Abgeordneten ist nach den gleichen GrundsaÈtzen ausgestaltet, wie sie fu È r die Abgeordneten zum NR gelten: Sie genieûen die gleiche ImmunitaÈt wie diese (Art 96 B-VG); der Grundsatz des freien Mandats ist in den meisten LV verankert und ergibt sich auûerdem aus dem Prinzip der repraÈsentativen Demokratie; auch hinsichtlich der Unvereinbarkeitsregelungen gelten Èahnliche Bestimmungen wie die fu È r die NR-Abgeordneten dargestellten (vgl Rz 531 ff). È sechs Jahre). Das 596 4. Die Legislaturperioden der LT betragen fu È nf Jahre (in OO È sung durch B-VG kennt nur einen einzigen AufloÈsungsgrund, naÈmlich die Auflo È sung entweder durch den BPraÈs; die LV sehen daneben auch eine Selbstauflo foÈrmliches Landesgesetz oder durch einen schlichten Landtagsbeschluss vor. È sung eines LT durch den BPraÈs soll der Wahrung von Interessen des Gesamtstaates Die Auflo dienen. Nach Art 100 B-VG setzt eine derartige AufloÈsung einen an den BPraÈs gerichteten Antrag der BReg und die Zustimmung des BR voraus, die mit erhoÈhten Quoren (PraÈsenzquorum 1/2, Konsensquorum 2/3) zu Stande kommen muss; die Vertreter des Landes, dessen LT aufgeloÈst werden soll, du È sung darf nur È rfen an der Abstimmung nicht teilnehmen. Eine solche Auflo einmal aus dem gleichen Anlass verfu È gt werden.
22.2. Die Aufgaben des Landtags 597 Auch bei den LT als den ¹Landesparlamentenª steht die Gesetzgebung im Zentrum ihrer Aufgaben. Zu beru È cksichtigen ist freilich das relativ geringe politische Gewicht der Landeskompetenzen im Bereich der Gesetzgebung. Es sind daher vor allem die dem LT u È bertragenen Kontrollrechte und das Budgetbewilligungsrecht, durch die er Einfluss auf die Gestaltung der Landespolitik ausu È ben kann. Wie der NR nehmen die LT daneben auch noch Aufgaben wahr, die als Formen der Mitwirkung an der Vollziehung beschrieben werden koÈnnen. 1. Auf die naÈhere Gestaltung des Verfahrens zur Erzeugung von Landesgesetzen wird im naÈchsten Abschnitt eingegangen. 2. Der LT beschlieût auf Grund einer Vorlage der LReg das Budget des Landes. Der Haushalt des Landes wird in den meisten BundeslaÈndern nicht als ein foÈrmliches Landesgesetz verabschiedet, sondern als ein schlichter LT-Beschluss; daher gibt es auch keine Einspruchsrechte der BReg nach Art 98 B-VG. 3. Auch die LT wirken an bestimmten Akten der Vollziehung mit (zB Genehmigung von bestimmten GliedstaatsvertraÈgen nach Art 15a B-VG). 4. Von den den LT u È bertragenen Kontrollrechten sind die Wahl der LReg (Art 101 Abs 1 B-VG) und das Recht des Misstrauensvotums (in den meisten LV vorgesehen) die politisch wichtigsten. Darin dru È ckt sich der parlamentarische Charakter des auf Landesebene bestehenden Regierungssystems aus, dem entsprechend die LReg auf das fortdauernde Vertrauen der Mehrheit im LT angewiesen ist. Als weitere Mittel der politischen Kontrolle sehen die LV verschiedene Formen des Fragerechts sowie ein Resolutions- und Enqueterecht vor. Zur Geltendmachung der rechtlichen Verantwortlichkeit gibt Art 142 Abs 2 lit d B-VG den LT die Befugnis zur Erhebung einer staatsrechtlichen Anklage gegen Mitglieder der LReg beim VfGH. Bei der Ausu È bung der wirtschaftlichen Kontrollrechte bedienen sich die LT des RH oder eigener LandesrechnungshoÈfe bzw LandeskontrollaÈmter (dazu Rz 880).
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AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zu den Abschnitten 20±22: VfSlg 3426/1958, 3560/1959: Geltung des freien Mandats fu È r alle allgemeinen Vertretungsko È rper ± kein Mandatsverlust bei Ausscheiden aus der politischen Partei. VfSlg 8852/1980: Zum Zusammenhang zwischen der (in Art 95 B-VG offen gelassenen) Zahl und GroÈûe der Wahlkreise bei der LT-Wahl und dem Grundsatz der VerhaÈltniswahl. VfSlg 10.178/1984: Zu den GrundsaÈtzen der VerhaÈltniswahl. VfSlg 10.306/1984: PeriodizitaÈt von Wahlen ist Bestandteil des demokratischen Prinzips. VfSlg 11.489/1987: Verfassungswidrigkeit des Ausschlusses von unter Sachwalterschaft gestellten Personen vom Wahlrecht. VfSlg 12.023/1989: Zum Wahlrecht der AuslandsoÈsterreicher ± Inlandswohnsitz kein Erfordernis fu È r Ausu È bung des Wahlrechts. VfSlg 13.577/1993: Zur Problematik einer Privilegierung von Medienvertretern beim Zugang zu Ausschussberatungen. VfSlg 14.035/1995: Verstoû gegen den Grundsatz der VerhaÈltniswahl, wenn in einem Wahlkreis mehr als 50 % der Stimmen erforderlich sind (zur Salzburger Landtagswahlordnung); ebenfalls illustrativ zum Grundsatz der VerhaÈltniswahl unter Darstellung der Vorjudikatur VfSlg 15.616/1999. VfSlg 16.241/2001: Zum Gesetzgebungsmonopol des LT und zum ¹repraÈsentativ-demokratischenª Grundprinzip der Bundesverfassung, mit dem eine Volksgesetzgebung nicht vereinbar ist. VfSlg 17.418/2004: Darf ein Bu È rgermeister auf dem offiziellen Briefpapier der Gemeinde Aussagen zum Wahlkampf machen? Welcher verfassungsrechtliche Wahlgrundsatz wird dadurch beru È hrt? È gernitz, Nationalrat-GeschaÈftsordnung3 (1999); BraunZur Vertiefung: Atzwanger/Zo eder/BoÈck, Landes-Verfassungsgesetze und Landtags-Wahlordnungen (Loseblattausgabe); Fischer/Berger/Stein, Nationalrats-Wahlordnung 19922 (1999); Koja, Das Verfassungsrecht der oÈsterreichischen BundeslaÈnder2 (1988); Neisser/Handstanger/Schick, Das BundeswahlÈ sterreichs Parlamentarismus. Werden und System recht2 (1994); Schambeck (Hrsg), O È sterreich (1997); Scha È ffer (Hrsg), Un(1986); ders (Hrsg), Bundesstaat und Bundesrat in O tersuchungsausschu È sse (1995); Strejcek, Bundesverfassung und Wahlrecht (2003); Thanner, Nationalrats-Wahlordnung 1992 (2006).
23. Die Erzeugung von Gesetzen Das B-VG regelt den so genannten ¹Weg der Gesetzgebungª im Hinblick auf Bun- 598 desgesetze in den Art 41 ff B-VG und hinsichtlich der Landesgesetze in den Art 97 f B-VG. NaÈhere Regelungen u È ber das bei der Erzeugung von Gesetzen einzuhaltende Verfahren finden sich in den GeschaÈftsordnungen der gesetzgebenden KoÈrperschaften, dh in der GONR, der GOBR und in den GeschaÈftsordnungsbeschlu È ssen der LT. Die Einhaltung dieser Erzeugungsbestimmungen ist eine RechtmaÈûigkeitsvoraus- 599 setzung fu È r Bundes- und Landesgesetze. VerstoÈûe dagegen fu È hren zu einer im Verfahren nach Art 140 B-VG aufzugreifenden Verfassungswidrigkeit; anderes gilt, wenn es sich lediglich um VerstoÈûe gegen so genannte Ordnungsvorschriften (wie zB gegen eine Verpflichtung zur Begutachtung oder gegen die gemeinschaftsrechtliche Notifikationspflicht) handelt, welche die RechtmaÈûigkeit eines Gesetzes unberu È hrt lassen (VfSlg 16.151/2001). Im Folgenden werden die verschiedenen Stadien des Gesetzgebungsverfahrens des Bundes dargestellt. Auf Besonderheiten bei der Erzeugung von Landesgesetzen wird exemplarisch
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hingewiesen, ohne dass auf alle Einzelheiten des zT divergierenden Landesrechts eingegangen wird. Die Wiederverlautbarung von Gesetzen und die plebiszitaÈren Volksrechte stehen mit der Erzeugung von Gesetzen in engem Zusammenhang und werden ebenfalls in diesem Abschnitt behandelt.
23.1. Die vorparlamentarische Willensbildung È nderung (Novellierung) eines 600 1. Der Anstoû zur Erlassung eines Gesetzes oder zur A bestehenden Gesetzes kann ganz verschiedene Ursachen haben und kann von unterschiedlichen Akteuren ausgehen. Abgesehen von dem praktisch haÈufigsten Fall, in dem die Regierung in Verfolgung ihrer politischen Zielsetzungen legistisch taÈtig wird, gehen entsprechende Anregungen vor allem in wirtschaftsrechtlichen ZusammenhaÈngen haÈufig von den Sozialpartnern (zB Wirtschaftskammer oder Arbeiterkammer) aus; auch die Umsetzung des EuropaÈischen Gemeinschaftsrechts kann ein TaÈtigwerden des Gesetzgebers erfordern. Unter UmstaÈnden kann aber auch die Opposition die Initiative ergreifen oder gelingt es einer gesellschaftlichen Gruppe (zB einem Verein, einer Kirche) o È ffentliche Aufmerksamkeit fu È r ein bestimmtes Anliegen zu mobilisieren, das letztlich in die Erlassung eines Gesetzes mu È nden kann. 601 2. Diese Initiativen, die damit verbundenen AbklaÈrungen u È ber die Erforderlichkeit einer Rechtsetzung sowie erste inhaltliche Diskussionen bleiben dem freien politischen Prozess u È berlassen. Das Verfassungsrecht regelt diese VorgaÈnge nicht, sondern wendet sich dem Gesetzgebungsverfahren erst ab dem Zeitpunkt zu, in dem eine foÈrmliche Gesetzesinitiative in das Parlament eingebracht wird. Daher findet auch die sehr oft u È rfe È bliche Vorbegutachtung der so genannten Ministerialentwu in diesem vorparlamentarischen Bereich statt; Ministerialentwu È rfe sind erste im Bereich eines Ministeriums erstellte Gesetzesentwu È rfe, die den an der Sache interessierten gesellschaftlichen und politischen Gruppen u È bermittelt werden, die dazu Stellung beziehen koÈnnen. Die aktuellen Ministerialentwu È rfe im Bereich der Bundesgesetzgebung koÈnnen mit den dazu abgegebenen Stellungnahmen auf der Homepage des NR abgerufen werden (www.parlaÈ ffentlichkeit zugaÈngliche Informament.gv.at). Sie stellen in der Regel die erste auch fu È r die O tion u È ber laufende legistische Vorhaben dar.
23.2. Das gemeinschaftsrechtliche Notifikationsverfahren 602 1. In bestimmten die ZustaÈndigkeit der EU beru È hrenden Angelegenheiten verlangt das Gemeinschaftsrecht, dass die beabsichtigte Erlassung von Rechtsvorschriften der Kommission mitzuteilen (zu ¹notifizierenª) ist; dadurch werden die Kommission und die von ihr verstaÈndigten Stellen in anderen Mitgliedstaaten in die Begutachtung eingeschaltet. Diese Notifikationspflicht bezieht sich auf Verwaltungsvorschriften (Verordnungen), aber auch auf die Erlassung von Bundes- und Landesgesetzen. 603 2. Eine Notifikationspflicht ergibt sich vor allem aus der Informationsrichtlinie 98/34/EG idgF, nach welcher die beabsichtigte Erlassung von ¹technischen Vorschriftenª zu notifizieren ist. Darunter fallen alle Vorschriften, welche technische Spezifikationen fu È r Produkte (zB Normen, QualitaÈtsmerkmale) oder bestimmte Dienstleistungen enthalten, auûerdem auch alle Vorschriften, welche fu È r die Herstellung, die Einfuhr, das Inverkehrbringen oder die Verwendung eines Erzeugnisses verbindlich sind. Der Entwurf einer solchen Vorschrift ist der Kommission mitzuteilen; das weitere innerstaatliche Verfahren darf erst nach einer ¹Stillhaltefristª von drei Monaten fortgesetzt werden, wobei sich diese Frist bei Vorliegen einer ausfu È hrlichen Stellungnahme der Kommission oder eines Mitgliedstaats um weitere drei Monate
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(im Fall der beabsichtigten Erlassung eines gemeinschaftlichen Rechtsaktes bis zu weiteren 15 Monaten) verlaÈngert. a) Zur innerstaatlichen Durchfu È hrung dieser Notifikationspflicht ist fu È r den Bundesbereich das 604 NotifikationsG BGBl I 1999/183 erlassen worden, das fu È r die Entwu È rfe von Verwaltungsvorschriften und (im Hinblick auf die Erlassung von Bundesgesetzen) fu È r die vorparlamentarische Behandlung von Regierungsvorlagen gilt. Fu È r den landesgesetzlichen Bereich finden sich entsprechende Bestimmungen im Landesrecht. b) In den Text einer technischen Vorschrift im Anwendungsbereich des NotifikationsG ist ein 605 Hinweis auf die Einhaltung des Notifikationsverfahrens der Richtlinie 98/34/EG aufzunehmen. Die Nichteinhaltung dieses Verfahrens macht das Bundesgesetz nicht verfassungswidrig; ein von einer solchen Rechtsvorschrift Betroffener koÈnnte aber uU aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht ihre Unanwendbarkeit geltend machen, wenn sie im konkreten Fall geeignet waÈre, die Freiheit des Warenverkehrs zu beeintraÈchtigen (EuGH, Unilever Italia SpA, Rs C-443/98, Slg 2000, I-7535). Dagegen fu È hrt die unterlassene Notifikation einer VO wegen des darin liegenden Verstoûes gegen das NotifikationsG zu deren Gesetzwidrigkeit (VfSlg 17.560/2005). c) Eine weitere Notifikationspflicht, die ebenfalls bei der beabsichtigten Erlassung von Geset- 606 zen zu beachten ist, ergibt sich aus Art 88 Abs 3 EGV, nach dem der Kommission die geplante Einfu È hrung von Beihilfen mitzuteilen ist. Ein Verstoû gegen diese Notifikationspflicht macht die entsprechende innerstaatliche Bestimmung unanwendbar (VfSlg 15.450/2001; EuGH, Industrie Aeronautiche e Meccaniche Rinaldo Piaggio SpA, Rs C-295/97, Slg 1999, I-3735).
23.3. Das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren 23.3.1. Das Initiativrecht Das B-VG regelt abschlieûend den Kreis jener Organe, die das ¹Recht der Gesetzes- 607 initiativeª haben, dh die befugt sind, dem NR einen auf die Erlassung eines BG gerichteten Vorschlag vorzulegen und damit das foÈrmliche Gesetzgebungsverfahren einzuleiten. Dieses so genannte Initiativrecht kommt zu: . der BReg, die dem NR eine Regierungsvorlage (RV) u È bermitteln kann (Art 41 Abs 1 B-VG); das Zustandekommen einer solchen RV ist auf einen (einstimmigen) Ministerratsbeschluss angewiesen, so dass ± was vor allem bei Koalitionsregierungen ins Gewicht faÈllt ± gegen den Willen eines oder mehrerer BM kein Gesetzesvorschlag eingebracht werden kann; . den Mitgliedern des NR (Art 41 Abs 1 B-VG); solche AntraÈge koÈnnen nach dem GONR entweder als so genannter Initiativantrag von mindestens 5 Abgeordneten oder als SelbstaÈndiger Antrag eines Ausschusses eingebracht werden (§§ 26, 27 GONR); . den Mitgliedern des BR (Art 41 Abs 1 B-VG); der BR kann entweder mit einfacher Mehrheit einen entsprechenden Beschluss fassen; der Gesetzesantrag kann aber auch dadurch zu Stande kommen, dass er von einem Drittel seiner Mitglieder beantragt wird; . den Bu È rgern, wenn ein Volksbegehren erfolgreich war (vgl dazu Rz 637). a) Die weitaus u È berwiegende Anzahl von Gesetzesinitiativen gelangt im Wege von Vorlagen 608 der BReg an den NR. Darin dru È cken sich das politische Gewicht der Regierung und die fachliche Sachkunde der ihr unterstellten Ministerialbu È rokratie aus, die den Entwurf ausarbeitet sowie politisch mit den Interessenvertretungen und anderen interessierten Stellen verhandelt und damit sehr maûgeblich den Inhalt der letztlich vom Parlament beschlossenen Gesetze bestimmt. In Angelegenheiten, die als ¹Sozialpartnermaterienª angesehen werden und zu denen sehr viele sozial- und wirtschaftsrechtliche Materien geho Èren (zB Sozialversicherungsrecht, Gewerberecht, Wirtschaftslenkung, Arbeitsrecht), werden die Entwu È rfe entweder von den Sozialpartnern selbst oder unter ihrer maûgeblichen Einbeziehung ausgearbeitet.
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609 b) In verschiedenen Gesetzen ist vorgesehen, dass GesetzesentwuÈrfe vor ihrer Einbringung in
das Parlament den einschlaÈgigen Interessenvertretungen (vor allem: den Kammern) vorzulegen sind. Dieses Begutachtungsrecht kommt in erster Linie bei Regierungsvorlagen zum Tragen; wenn ein Gesetz daher eilbedu È rftig ist und ohne ein solches zeitlich aufwaÈndiges Verfahren beschlossen werden soll, gehen die politischen Parteien haÈufig den Weg eines parlamentarischen Initiativantrags und lassen den Antrag durch ihre Abgeordneten einbringen.
610 c) Die RV und die ihnen beigefuÈgten ¹ErlaÈuterungenª sind wichtige Materialien, die Aufschluss u È ber die fu È r ein legistisches Vorhaben maûgeblichen Motive geben und die Anhaltspunkte fu È r eine am Willen des Gesetzgebers orientierte Interpretation liefern. Sie werden als Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des NR vero Èffentlicht und ko Ènnen u È ber die Homepage des Parlaments (www.parlament.gv.at) abgerufen werden.
611 d) Bei der Landesgesetzgebung sind die Initiativrechte vergleichbar ausgestaltet (vor allem: LReg, eine gewisse Anzahl von LT-Abgeordneten, Volksbegehren).
23.3.2. Die ¹Lesungenª im Nationalrat, die Ausschussarbeit und die Beschlussfassung Die im Parlament eingebrachten AntraÈge werden vom NR der ¹geschaÈftsordnungsgemaÈûen Behandlungª zugefu È hrt. Dieses parlamentarische Verfahren ist in mehrere Abschnitte gegliedert, die in der traditionellen Terminologie als ¹Lesungenª bezeichnet werden. 612 1. Nach dem Einlangen des Antrags kann es zu einer ersten Debatte im Plenum des È blicherweise wird auf eine solche ¹erste Lesungª verzichtet und NR kommen. U wird der Entwurf vom PraÈsidenten des NR sofort dem dafu È r zustaÈndigen Ausschuss zugewiesen. 613 2. Im Ausschuss wird die eigentliche legistische Arbeit geleistet. Der Entwurf wird von den Ausschussmitgliedern diskutiert, es koÈnnen Experten beigezogen werden, er kann mehr oder weniger geringfu È gig veraÈndert oder ergaÈnzt oder auch grundlegend umgestaltet werden. Hier werden sehr oft die wesentlichen politischen Weichenstellungen vorgenommen und hier entscheidet es sich auch, ob ein Entwurf eine breite politische Zustimmung findet oder nur von den (der) Mehrheitsfraktion(en) angenommen werden wird. Die Ergebnisse der Ausschussarbeit werden in einem Ausschussbericht zusammengefasst, der auch den Text des Gesetzesentwurfs, oft in einer gegenu È ber der urspru È nglichen Vorlage veraÈnderten Fassung, enthaÈlt. Der schriftliche Ausschussbericht gibt das von der Ausschussmehrheit getragene Ergebnis der Ausschussarbeit wieder. Die politische Minderheit kann verlangen, dass ihre abweichende Position in einem Minderheitenbericht angeschlossen wird. Die Ausschussberichte (AB), die ebenfalls als Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des NR vero Èffentlicht werden, sind auch eine wichtige Erkenntnisquelle fu È r die Interpretation von Gesetzen. Dies gilt vor allem dann, wenn ein Ausschuss weit reichende VeraÈnderungen an einer RV vorgenommen hat.
614 3. Mit der Vorlage des Ausschussberichts wird der Entwurf sodann wiederum dem Plenum des NR zugefu È hrt. Hier finden die ¹zweite und dritte Lesungª statt: Die zweite Lesung schlieût sich an den Vortrag des Ausschussberichterstatters an und dient der allgemeinen politischen EroÈrterung des Gesetzesvorhabens, zu dem sich die Vertreter der Mehrheitsfraktion(en) und der Opposition Èauûern. Sie gliedert sich in eine Generaldebatte, in der u È ber die allgemeinen Grundzu È ge, und in eine Spezialdebatte, in der u È ber die einzelnen Bestimmungen diskutiert wird. Abgeordnete koÈnnen im Verlauf der Debatten AbaÈnderungen beantragen und ZusatzantraÈge stellen, u È ber die ebenfalls abzustimmen ist, wenn sie von mindestens fu È nf Abgeordneten unterstu È tzt werden.
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Der NR kann als Ergebnis der zweiten Lesung den Gegenstand nochmals an den Ausschuss zuru È ckverweisen, die Verhandlung vertagen oder auch beschlieûen, ¹zur Tagesordnung u È berzugehenª, womit der Gesetzesantrag verworfen ist. Ansonsten kommt es zur dritten Lesung, das ist die abschlieûende Behandlung der Vorlage im Plenum, in der u È ber den Antrag abgestimmt wird. 4. Die dritte Lesung ist die Abstimmung u È ber den Gesetzesantrag. Dafu È r gelten 615 die entsprechenden Beschlussfassungserfordernisse, wie sie in Art 31 B-VG bzw in anderen Bestimmungen des B-VG (bei LG der LV) oder der anzuwendenden GeschaÈftsordnung (GONR bzw Geo des jeweiligen LT) aufgestellt werden. Hier sollen nochmals die wichtigsten FaÈlle zusammengefasst werden: . Bundes- (Landes-)verfassungsgesetze: PraÈsenzquorum 1/2, Konsensquorum 2/3 (Art 44 B-VG) . Einfache Bundes- (Landes-)gesetze: PraÈsenzquorum 1/3, Konsensquorum 1/2 (Art 31 B-VG) . Einfache Bundesgesetze mit qualifizierten Zustimmungserfordernissen: Gewisse einfache Bundesgesetze bedu È rfen zu ihrem Zustandekommen einer 2/3-Mehrheit, obwohl es sich dabei nicht um Bundesverfassungsrecht handelt. Dazu gehoÈren: Das GONR (Art 30 Abs 2 B-VG), bestimmte Gesetze auf dem Gebiet des Schulwesens, welche die in Art 14 Abs 10 B-VG genannten Angelegenheiten regeln (Schulgeldfreiheit, VerhaÈltnis Schule-Kirche, Aufgabe eines differenzierten Schulwesens), Beschlu È sse des NR u È ber GrenzaÈnderungen (Art 3 Abs 4 B-VG).
Wird ein Gesetzesantrag mit der erforderlichen Mehrheit in dritter Lesung angenom- 616 men, liegt ein Gesetzesbeschluss des NR (des LT) vor; weil noch weitere Verfahrensschritte noÈtig sind handelt es sich dabei noch nicht um ein ¹Gesetzª! 23.3.3. Die Mitwirkung des BR oder der LaÈnder bei Bundesgesetzen 1. Gesetzesbeschlu È sse des NR sind vom PraÈsidenten unverzu È glich dem BR zu u È ber- 617 mitteln, auûer es handelt sich um einen Gesetzesbeschluss, bei dem der BR kein Mitwirkungsrecht hat. Diese Gesetze sind in Art 42 Abs 5 B-VG angefu È hrt: Es handelt sich um das GONR, Gesetze mit denen der NR seine SelbstaufloÈsung beschlieût, das Bundesfinanzrahmengesetz und das Bundesfinanzgesetz, das BundeshaushaltsG und einige weitere mit der HaushaltsfuÈhrung des Bundes zusammenhaÈngende BG. In diesen FaÈllen geht die Verfassung davon aus, dass LaÈnderinteressen nicht beru È hrt sind, so dass die Befassung des BR unnoÈtig ist; solche Gesetzesbeschlu È sse koÈnnen sofort dem weiteren Gesetzgebungsverfahren zugefu È hrt werden. 2. Bei allen anderen Gesetzesbeschlu È ssen kann sich der BR mit der Vorlage inhalt- 618 lich auseinander setzen. Auch im BR erfolgt die Beratung in Ausschu È ssen und wird auf Grund eines Ausschussberichts im Plenum abgestimmt. Dabei kann der BR im Regelfall und abgesehen von den zustimmungsbedu È rftigen Gesetzesbeschlu È ssen (dazu Rz 620) wie folgt reagieren (vgl Art 42 Abs 2 B-VG): . Der BR kann beschlieûen keinen Einspruch zu erheben; dann kann das Gesetzgebungsverfahren sofort fortgesetzt werden. . Der BR kann die ihm gesetzte Frist von acht Wochen ohne Einspruch verstreichen lassen; auch dann kann das Gesetzgebungsverfahren fortgesetzt werden. . Der BR kann innerhalb dieser Frist einen mit Gru È nden versehenen Einspruch erheben, der dem NR zuzuleiten ist.
Der BR kann daher, wenn er mit dem Gesetzesbeschluss nicht einverstanden ist, nur 619 einen Einspruch erheben; eine inhaltliche AbaÈnderung oder ein nur teilweiser Einspruch sind ihm verwehrt. Mit dem Einspruch macht der BR ein suspensives Veto
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geltend. Der NR muss sich in der Folge nochmals mit dem Gesetzesbeschluss beschaÈftigen. Dabei kann er entweder einen neuen Gesetzesbeschluss fassen und den Einwendungen des BR Rechnung tragen (dieser Beschluss muss wieder dem BR vorgelegt werden) oder der NR fasst einen Beharrungsbeschluss. Ein solcher Beharrungsbeschluss erfordert ± abgesehen von den urspru È nglichen Beschlussfassungserfordernissen (einfache oder qualifizierte Mehrheit) ± immer die Anwesenheit von mindestens der HaÈlfte der Abgeordneten. Mit dem Beharrungsbeschluss ¹u È berwindetª der NR den Einspruch des BR, der daher im praktischen Ergebnis das Zustandekommen des Gesetzes nur zeitlich verzo È gern, aber nicht aufhalten kann. Ist ein Beharrungsbeschluss gefasst worden, kann das Gesetz beurkundet und kundgemacht werden. In der politischen Praxis kommt es nur Èauûerst selten zu Einspru È chen des BR, jedenfalls dann, wenn die politischen MehrheitsverhaÈltnisse in den beiden Kammern die gleichen sind. Daher hat es etwa zwischen 1995 und 2005 keinen einzigen Einspruch gegeben! Einspru È che sind haÈufiger, wenn die Opposition u È ber die Mehrheit im BR verfu È gt; auch dann kann sie freilich nur verzo È gernd wirken.
620 3. In einzelnen FaÈllen hat der BR gesteigerte Mitwirkungsbefugnisse, weil gewisse Gesetzesbeschlu È sse der Zustimmung des BR bedu È rfen; durch die Verweigerung der Zustimmung kann der BR daher in diesen FaÈllen das Zustandekommen des Gesetzes verhindern (hier kommt ihm also ein absolutes Vetorecht zu). Zustimmungsbedu È rftig sind: . Verfassungsgesetze (Verfassungsbestimmungen), durch welche die ZustaÈndigkeit der LaÈnder in Gesetzgebung oder Vollziehung eingeschraÈnkt werden. Sie bedu È rfen einer 2/3-Mehrheit (Art 44 Abs 2 B-VG). In der bisherigen Praxis wurde die Zustimmung noch nie verweigert. È nderungen der in Art 34 und 35 B-VG enthaltenen Bestimmungen u . A È ber den BR, wobei in diesen FaÈllen auch noch die Zustimmung der Mehrheit der Vertreter von wenigstens vier LaÈndern erforderlich ist (Art 35 Abs 4 B-VG). Ein weiterer Fall der Zustimmungsbedu È rftigkeit ergibt sich aus der Regelung des Art 15 Abs 6 B-VG u È ber die Fristsetzung bei BundesGrundsatzgesetzen.
621 4. In einigen FaÈllen sieht die Bundesverfassung u È berdies vor, dass Gesetzesbeschlu È sse des Bundes der Zustimmung der LaÈnder bzw der beteiligten LaÈnder bedu È rfen. In diesen FaÈllen wirken die LaÈnder unmittelbar und nicht nur durch den BR an der Gesetzgebung des Bundes mit; die Zustimmung ist Voraussetzung der Gu È ltigkeit des betreffenden Gesetzes. Dabei handelt es sich um die folgenden FaÈlle, in denen Landesinteressen besonders beru È hrt sind: . Wenn in Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung (vgl Rz 723) BundesbehoÈrden in Unterordnung unter den LH mit der Vollziehung betraut werden (Art 102 Abs 1 B-VG) oder wenn eigene BundesbehoÈrden eingerichtet werden sollen (Art 102 Abs 4 B-VG). . Wenn UVS in Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung oder in den in Art 11 und 12 B-VG genannten Materien als zweite Instanz vorgesehen sind (Art 129a Abs 2 B-VG); hier ist die Zustimmung vorgesehen, weil durch die zweitinstanzliche ZustaÈndigkeit der UVS die ansonsten bestehende ZustaÈndigkeit des LH verdraÈngt wird. . BG in Vergabeangelegenheiten, die Angelegenheiten regeln, die in Vollziehung Landessache sind, bedu È rfen der Zustimmung; den LaÈndern ist u È berdies Gelegenheit zu geben, an der Vorbereitung solcher Gesetze mitzuwirken (Art 14b Abs 4 B-VG).
23.3.4. Die Mitwirkung der BReg bei Landesgesetzen 622 1. Eine der ZustaÈndigkeit des BR in gewisser Weise entsprechende Mitwirkung eines Bundesorgans an der Landesgesetzgebung stellt das Einspruchsrecht der BReg nach Art 98 B-VG dar. Danach mu È ssen Gesetzesbeschlu È sse des LT ± die in einer
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dem Verfahren der Bundesgesetzgebung vergleichbaren Weise zu Stande kommen ± nach der Beschlussfassung im LT vor ihrer Kundmachung vom LH dem Bundeskanzleramt bekannt gegeben werden. Der BReg kommt ein suspensives Vetorecht zu, dh sie kann innerhalb von acht Wochen einen mit Gru È nden versehenen Einspruch erheben; tut sie das, kann der LT, wenn er sich nicht dem Einspruch beugt, einen Beharrungsbeschluss fassen, indem er den urspru È nglichen Beschluss bei Anwesenheit von mindestens der HaÈlfte der Abgeordneten wiederholt. Dann kann das LG kundgemacht werden. Die BReg muss ihren Einspruch begru È nden und auf die behauptete GefaÈhrdung von Bun- 623 desinteressen stu È tzen; dabei kann es sich um rechtliche, politische oder wirtschaftliche Einwendungen handeln. Wenn allerdings dem Bund vor der Fassung des Gesetzesbeschlusses des Landes Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde, darf sich der Einspruch nur auf einen behaupteten Eingriff in die ZustaÈndigkeiten des Bundes stu È tzen, also im Wesentlichen È brigen ist auch das Verfahren beim EinspruchsKompetenzwidrigkeit geltend machen. Im U recht der BReg Èahnlich wie beim BR-Verfahren; auch die BReg kann vor Ablauf der Frist ausdru È cklich dem Gesetzesbeschluss zustimmen oder die Frist ungenutzt verstreichen lassen; in beiden FaÈllen kann das LG kundgemacht werden.
2. Gewisse Gesetzesbeschlu È sse eines LT bedu È rfen der Zustimmung der BReg, dh 624 dass in diesen FaÈllen die BReg die Verabschiedung eines entsprechenden LG verhindern kann. Dabei handelt es sich um die folgenden FaÈlle: . Wenn ein LG eine Mitwirkung von Bundesorganen vorsieht; das ist der Fall, wenn zB PolizeibehoÈrden des Bundes oder Gerichte mit der Vollziehung von Landesrecht betraut werden sollen (Art 97 Abs 2 B-VG). È rden der allgemeinen Verwal. LG, mit denen die bestehende Organisation der Beho tung in den LaÈndern geaÈndert oder neu geregelt wird (zB ein LG u È ber die Bezirkshauptmannschaft); der Zustimmungsvorbehalt ist hier vorgesehen, weil diese BehoÈrden auch im Bereich der mittelbaren Bundesverwaltung taÈtig werden (Art 15 Abs 10 B-VG). . Wenn durch ein LG an eine Gemeinde das Stadtrecht verliehen werden soll (Art 116 Abs 3 B-VG), weil damit die Gemeinde auch als Bezirksverwaltungsbeho Èrde mit Aufgaben der mittelbaren Bundesverwaltung betraut wird. 3. Ein besonderes Verfahren ist vorgesehen, wenn die BReg einen Einspruch gegen Abga- 625 bengesetze der LaÈnder (bzw Gesetze u È ber die Aufnahme von Anleihen durch LaÈnder und Gemeinden) erhebt und der LT einen Beharrungsbeschluss fasst. In einem solchen Fall ist ein staÈndiger gemeinsamer Ausschuss nach § 9 F-VG zu befassen, der entscheidet, ob der Einspruch aufrecht bleiben soll. Dieser Ausschuss hat 26 Mitglieder, die je zur HaÈlfte von NR und BR bestellt werden.
23.4. Beurkundung und Kundmachung Nach der Befassung des BR (bzw im Fall von LG der BReg) kann der Gesetzesbeschluss beurkundet und kundgemacht werden. Im Fall einer Volksabstimmung mu È sste diese noch zuvor durchgefu È hrt werden (vgl Rz 638). 1. Die Beurkundung von Bundesgesetzen erfolgt durch den BPraÈs, der das ¹verfas- 626 sungsmaÈûige Zustandekommenª des Gesetzes bestaÈtigt (Art 47 B-VG). Die Vorlage zur Beurkundung erfolgt durch den BK, der die Beurkundung auch gegenzuzeichnen hat. Nach der Staatspraxis und hL kommt dem BPraÈs dabei nur ein formelles Pru È fungsrecht zu, dh er hat zu pru È fen, ob das Gesetz in dem vorgeschriebenen Verfahren zu Stande gekommen ist. a) Daher muss der BPraÈs sich etwa die Gewissheit verschaffen, dass der BR (soweit erforderlich) mit dem Gesetzesbeschluss befasst wurde oder dass der ihm vorgelegte Text mit dem im NR gefassten Beschluss u È bereinstimmt. Demgegenu È ber mu È sste der BPraÈs bei einem materiellen Pru È fungsrecht auch die inhaltliche VerfassungsmaÈûigkeit eines Gesetzes beurteilen und
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etwa dann, wenn es kompetenzwidrig waÈre oder gegen ein Grundrecht verstieûe, die Beurkundung ablehnen. Der freilich nicht eindeutige Wortlaut des Art 47 B-VG und die systematische Stellung des BPraÈs im Gefu È ge der obersten Staatsorgane legen die BeschraÈnkung auf ein formelles Pru È fungsrecht nahe. Nach einer vermittelnden Ansicht hat der BPraÈs die Beurkundung bei offenkundigen und schwerwiegenden Verfassungsverletzungen zu verweigern. Anfang 2008 hat der BPraÈs erstmals die Beurkundung eines Gesetzesbeschlusses abgelehnt, der mit einer seiner Ansicht nach offenkundigen und schwerwiegenden materiellen Verfassungswidrigkeit (Verstoû gegen das Verbot ru È ckwirkender Strafgesetze) belastet war. b) Bei Landesgesetzen ist ebenfalls eine Beurkundung und Gegenzeichnung vorgesehen (Art 97 Abs 1 B-VG). Nach den LV nimmt die Beurkundung in den meisten LaÈndern der LandtagspraÈsident (zT LH) vor, die Gegenzeichnung der LH (zT der zustaÈndige Landesrat).
627 2. Nach der Beurkundung und Gegenzeichnung kann das Gesetz kundgemacht werden. Die Verpflichtung zur ordnungsgemaÈûen und unverzu È glichen Kundmachung obliegt bei Bundesgesetzen dem BK (Art 49 Abs 1 B-VG), bei Landesgesetzen dem LH (Art 97 Abs 1 B-VG). Fu È r diese Kundmachung schreibt die Verfassung zwingend vor, dass sie in einem Bundesgesetzblatt bzw (bei Landesgesetzen) in einem Landesgesetzblatt erfolgen muss. 628 Die Kundmachung ist eine notwendige Voraussetzung fu È r die Geltung eines Gesetzes. Art 49 Abs 3 B-VG fordert, dass die Verlautbarungen im BGBl allgemein zugaÈnglich sind und dass sie in der kundgemachten Form vollstaÈndig und auf Dauer ermittelt werden koÈnnen. Die naÈheren Einzelheiten u È ber die Kundmachung im BGBl werden durch ein eigenes BG, das BG u È ber das Bundesgesetzblatt 2004 (BGBlG), getroffen. a) Sind die verfassungsrechtlichen Anforderungen erfu È llt (allgemeine ZugaÈnglichkeit, VollstaÈndigkeit und Dauerhaftigkeit), muss das BGBl nicht in gedruckter Form erstellt werden. TatsaÈchlich wird das BGBl in seiner authentischen Fassung seit 1.1.2004 ausschlieûlich elektronisch u È ber das Internet im Rahmen des Rechtsinformationssystems des Bundes (RIS) verbreitet; es kann unter www.ris.bka.gv.at abgerufen werden und muss unentgeltlich zugaÈnglich sein. Auch der unentgeltliche Ausdruck der elektronischen Verlautbarungen muss moÈglich sein. b) Das BGBl besteht aus drei Teilen, in die unterschiedliche Rechtsakte aufgenommen werden. BGBl I dient der Verlautbarung von Bundesgesetzen und von Beschlu È ssen des VfGH u È ber die Aufhebung von Bundesgesetzen sowie der Wiederverlautbarung von Bundesgesetzen und einigen weiteren vergleichbaren Rechtsakten. In Teil II werden vor allem die VO der BReg und von BM verlautbart, ferner allgemeine Entschlieûungen des BPraÈs und Beschlu È sse des VfGH u È ber die Aufhebung von VO. Im BGBl III werden StaatsvertraÈge und Rechtsvorschriften internationaler Organe kundgemacht. c) Die Bundesgesetze sind unter Berufung auf den Beschluss des NR (¹Der Nationalrat hat beschlossenª), mit dem vom Gesetzgeber beschlossenen Inhalt sowie unter Wiedergabe der Beurkundung und Gegenzeichnung durch BPraÈs und BK kundzumachen. d) Fu È r die Kundmachung von Landesgesetzen gibt es Regelungen in den LV und in Gesetzen u È nnen im RIS abÈ ber das LGBl, auf die hier nur hingewiesen wird. Auch Landesgesetze ko gerufen werden, das hier freilich ± anders als bei Bundesgesetzen ± nicht als authentische Kundmachungsquelle fungiert.
629 3. Die Titelseite eines jeden kundgemachten BGBl enthaÈlt eine Kopfzeile, die Hinweise auf den Gang der parlamentarischen Beratungen und auf die dem Gesetzesbeschluss zu Grunde liegenden AntraÈge (RV, AB) enthaÈlt. Diese Informationen sind fu Èr den Juristen nu È tzlich, weil sie den Zugang zu den Materialien erschlieûen:
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Im vorliegenden Beispiel geht es um eine Novelle zum UmweltinformationsG. Diese Novelle 630 wurde als Regierungsvorlage in den NR eingebracht, wobei der Text der RV in der Nummer 641 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des NR (Blg) zur 22. Gesetzgebungsperiode (GP) vero Èffentlicht wurde; in den Beilagen findet sich ferner unter der Nummer 660 der entsprechende Ausschussbericht. Behandelt wurde die Vorlage sodann in der 82. Sitzung des NR der 22. GP in zweiter und dritter Lesung. Der BR hat den Gesetzesbeschluss in einem Ausschuss und in der 715. Sitzung behandelt. Die Celex-Nummer weist darauf hin, dass dieses Gesetz einen Rechtsakt der EU umsetzt. Ausgegeben wurde die entsprechende Nummer des BGBl am 8.2.2005, die Novelle waÈre daher ± sofern sie selbst nichts anderes bestimmt ± am 9.2.2005 in Kraft getreten (vgl aber § 18 Abs 6 des Gesetzes).
4. ¹Gesetzeª, die u È berhaupt nicht kundgemacht wurden, sind nichtige Akte und 631 von keinem Gericht und von keiner VerwaltungsbehoÈrde anzuwenden. ¹Nicht geÈ rig kundgemachteª Gesetze (Verordnungen, StaatsvertraÈge) sind von den Geho richten und den UVS nicht anzuwenden (Art 89 Abs 1, 129a Abs 3 B-VG); nicht geho Èrig kundgemacht sind Rechtsvorschriften, die einen Kundmachungsmangel aufweisen. VerwaltungsbehoÈrden haben fehlerhaft kundgemachte Rechtsvorschriften dagegen anzuwenden; liegt eine verfassungswidrige (bei Gesetzen) bzw gesetzwidrige (bei VO) Kundmachung vor, hat der VfGH das Gesetz (die VO) aufzuheben, wenn ein entsprechender Antrag gestellt wird oder der VfGH den Rechtsakt von Amts wegen anzuwenden haÈtte. Fehlerhaft und daher verfassungswidrig kundgemachte Gesetze koÈnnen nur durch einen entsprechenden neuerlichen Beschluss des entsprechenden Gesetzgebungsorgans saniert werden. Bloûe ¹Kundmachungsfehlerª koÈnnen durch den BK im BGBl berichtigt werden: § 10 BGBlG sieht eine solche Berichtigung vor, wenn die Verlautbarung vom Original der zu verlautbarenden Rechtsvorschrift abweicht; eine Berichtigung von Kundmachungsfehlern ist aber unzulaÈssig, wenn dadurch der materielle Inhalt der verlautbarten Rechtsvorschrift geaÈndert werden wu È rde.
23.5. Das In-Kraft-Treten der Gesetze Mit der Kundmachung im BGBl oder LGBl liegt ein geltendes (verbindliches) Gesetz 632 vor. Es tritt nach der Anordnung des Art 49 Abs 1 B-VG mit Ablauf des Tages seiner Kundmachung in Kraft, soweit nicht ausdru È cklich anderes bestimmt ist.
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Teil II. Die Staatsorganisation und die Staatsfunktionen
Wenn daher ein Gesetz waÈhrend eines bestimmten Tages im BGBl (dh im RIS) elektronisch verlautbart wird, tritt es um 0:00 Uhr des Folgetages in Kraft. Der Gesetzgeber kann allerdings anderes anordnen, dh eine Legisvakanz verfu È gen oder dem Gesetz ru È ckwirkende Kraft beimessen. Fu È r Landesgesetze bestehen gleichartige Regelungen in den LV bzw den Gesetzen u È rtlichen È ber das LGBl. Zum zeitlichen und o È brigen Geltungsbereich von Gesetzen sowie zu den Ru È ckwirkungsverboten vgl im U ausfu È hrlicher Rz 476 ff.
23.6. Die Wiederverlautbarung von Rechtsvorschriften 633 1. Gesetze koÈnnen durch den Zeitablauf unu È bersichtlich werden: wenn sie durch Novellierungen abgeaÈndert werden, wenn einzelne Normen durch spaÈtere Vorschriften aufgehoben werden, wenn gewisse sprachliche oder grammatikalische Wendungen nicht mehr zeitgemaÈû sind, wenn Verweisungen auf andere Normen nicht mehr richtig sind und anderes mehr. Um einen Rechtstext von solchen Unstimmigkeiten zu bereinigen sieht Art 49a B-VG die Wiederverlautbarung von Bundesgesetzen (ausgenommen das B-VG selbst) und im BGBl kundgemachter StaatsvertraÈge vor. Eine solche Wiederverlautbarung nimmt der BK gemeinsam mit dem ressortmaÈûig zustaÈndigen BM vor. Die Kundmachung der Wiederverlautbarung ist daher ein Verwaltungsakt, genauer eine VO. Daher darf durch eine Wiederverlautbarung auch der normative Gehalt eines Gesetzes nicht abgeaÈndert werden, weil dies ein Eingriff in die Kompetenz des Gesetzgebers waÈre. Welche Bereinigungen vorgenommen werden du È rfen, ist in Art 49a Abs 2 B-VG genau bestimmt; aus Anlass einer Wiederverlautbarung koÈnnen . u È berholte terminologische Wendungen richtiggestellt und veraltete Schreibweisen angepasst werden (zB Umstellung auf die neue Rechtschreibung); . Bezugnahmen auf andere Rechtsvorschriften (also Verweise) richtiggestellt werden; . aufgehobene (gegenstandslose) Rechtsvorschriften als nicht mehr geltend festgestellt werden; . andere redaktionelle Berichtigungen vorgenommen werden (Kurztitel, Bezeichnung der È bergangsbestimmungen). §§, Zusammenfassung von U So wurde zB das AVG nach seiner umfassenden Novellierung durch BGBl 1990/357 unter BGBl 1991/51 wiederverlautbart: Der wiederverlautbarte Text findet sich in der Anlage 1 zu diesem BGBl. Dabei wurde ein neuer Kurztitel eingefu È hrt (¹Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 ± AVGª), weiters wurden die Schreibweise, Zahlen und Abku È rzungen modernisiert und sonstige Berichtigungen vorgenommen. (Mit einer Jahreszahl versehene Kurztitel sind oft ein Indiz dafu È r, dass es sich um ein wiederverlautbartes Gesetz handelt.)
634 2. Mit Ablauf des Kundmachungstages gilt das wiederverlautbarte Gesetz in der Fassung der Kundmachung (Art 49 Abs 3 B-VG). Wird aus Anlass einer Wiederverlautbarung die in Art 49a B-VG erhaltene ErmaÈchtigung u È berschritten, ist die entsprechende Kundmachung gesetzwidrig, bis zur Aufhebung allerdings anzuwenden. È ber die RechtmaÈûigkeit von Wiederverlautbarungen entscheidet der VfGH im VerU fahren nach Art 139a B-VG (vgl Rz 1133). Gesetzwidrig ist eine Wiederverlautbarung, wenn zB eine nicht mehr geltende Norm in die Kundmachung aufgenommen È ndewird, wenn eine geltende Norm nicht aufgenommen wu È rde oder wenn eine A rung des materiellen Inhalts eines Gesetzes erfolgte. a) Auch Landesgesetze ko Ènnen wiederverlautbart werden. Die entsprechenden ErmaÈchtigungen finden sich in den LV. b) Neben der Bereinigung einzelner Gesetze durch ihre Wiederverlautbarung gibt es noch eine andere Form der Rechtsbereinigung, die dazu dient, sachlich u È berholte Èaltere Rechtsvorschriften auûer Kraft zu setzen und der Gesetzesflut entgegenzuwirken. In der Regel geschieht
2. Kapitel: Die Gesetzgebung
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das in der Form, dass durch ein RechtsbereinigungsG verfu È gt wird, dass nur mehr die ab einem bestimmten Stichtag erlassenen Gesetze gelten und alle vor diesem Stichtag erlassenen Gesetze, von explizit genannten Ausnahmen abgesehen, auûer Kraft treten. So wurden durch das 1. BundesrechtsbereinigungsG BGBl I 1999/191 alle vor dem 1.1.1946 kundgemachten Rechtsvorschriften des Bundes (Gesetze, VO) auûer Kraft gesetzt, mit Ausnahme jener Rechtsvorschriften, die in einem Anhang zu diesem Gesetz angefu È hrt waren. Dieser Anhang umfasst ca 300 Rechtsvorschriften (darunter zB das ABGB, das Ehegesetz, die StPO oder die Verwaltungsverfahrensgesetze); die Zahl der auûer Kraft gesetzten Vorschriften kann man nur grob abschaÈtzen und sie du È rfte bei etwa 500 liegen (darunter waren auch Vorschriften aus dem 18. Jahrhundert!). Zum 1. BundesverfassungsrechtsbereinigungsG vgl Rz 60.
23.7. Die Instrumente der direkten Demokratie (Volksrechte) 1. Instrumente der direkten Demokratie (plebiszitaÈre Volksrechte) ergaÈnzen 635 nach dem demokratischen Konzept des B-VG die repraÈsentative, parlamentarische Demokratie und geben den Bu È rgerinnen und Bu È rgern eine MoÈglichkeit zur unmittelbaren Mitwirkung an der Bildung des Staatswillens. Sie koÈnnen ein Korrektiv fu Èr eine allzu elitaÈre Politik sein, bergen freilich auch die Gefahr des Missbrauchs, wenn sie in einer demagogischen Weise eingesetzt oder von den politischen Parteien instrumentalisiert werden um bestimmte politische Ziele zu erreichen. Auf der Ebene des Bundesverfassungsrechts gibt es drei Instrumente der direkten Demokra- 636 tie (Volksbegehren, Volksabstimmung, Volksbefragung). Daru È ber hinausgehende Volksrechte haben die Landesverfassungsgesetzgeber fu È r den Landes- und Gemeindebereich verwirklicht. Wegen des grundsaÈtzlich repraÈsentativen Charakters der im B-VG verfassten Demokratie sind einem Ausbau der Volksrechte Grenzen gesetzt. Vor allem darf das Gesetzgebungsmonopol der Parlamente nicht beseitigt werden (vgl Rz 137). In der gegenwaÈrtigen Ausgestaltung ist sichergestellt, dass es letztlich immer in der Hand des Parlaments liegt, ob der unmittelbar geaÈuûerte Wille der Stimmbu È rger in ein Gesetz mu È ndet oder ob die BevoÈlkerung mit einem Gesetzesbeschluss befasst wird. Stimmberechtigt sind bei Volksbegehren, Volksabstimmungen und Volksbefragungen die zum NR wahlberechtigten Bu È rger. Die entsprechenden Verfahren sind in eigenen Gesetzen geregelt (VolksbegehrenG 1973 BGBl 344 idgF, VolksabstimmungsG 1972 BGBl 1973/79 idgF, VolksbeÈ ber die RechtmaÈûigkeit von Abstimmungen usw entscheifragungsG 1989 BGBl 356 idgF). U det der VfGH im Verfahren nach Art 141 B-VG. Seiner Judikatur lassen sich gewisse wichtige GrundsaÈtze entnehmen: So waÈre es angesichts des verfassungsrechtlichen Gebots der Freiheit der politischen Willensbildung etwa verfassungswidrig, wenn bei einer Volksabstimmung die Regierung zu Mitteln einer gezielten, massiven Desinformation greifen wu È rde um ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen (VfSlg 13.839/1994 zur EU-Volksabstimmung). Volksbefragungen mit manipulativen bzw nicht ausreichend klaren Fragestellungen sind verfassungswidrig (VfSlg 15.816/2000).
2. Das Volksbegehren (Volksinitiative, Plebiszit) ist auf die Erlassung eines Gesetzes 637 gerichtet (Art 41 Abs 2 B-VG). Wenn eine bestimmte Anzahl von Stimmbu È rgern (100.000 Stimmberechtigte oder je ein Sechstel der Stimmberechtigten dreier LaÈnder) einen Antrag unterstu È tzt, kommt ein Volksbegehren zu Stande. In einem solchen Fall ist der Antrag dem NR ¹zur Behandlung vorzulegenª. Ein erfolgreiches Volksbegehren entspricht daher einer Gesetzesinitiative, mit der sich der NR auseinander zu setzen hat, in der Regel, indem die Initiative einem Ausschuss zugewiesen wird. Eine Verpflichtung des NR zu einer bestimmten inhaltlichen Erledigung besteht nicht, vor allem ist der NR nicht verpflichtet dem Volksbegehren durch Erlassung eines Gesetzes Rechnung zu tragen. Das Volksbegehren muss sich auf eine Angelegenheit beziehen, fu È r die der Bundesgesetzgeber zustaÈndig ist. Es ¹kannª in Form eines Gesetzesantrags gestellt werden (Art 41 Abs 2 B-VG); das bedeutet, dass das Volksbegehren entweder in der Form eines ausgearbeiteten Gesetzestextes eingebracht werden kann, dass es aber auch zulaÈssig ist, die Erlassung eines be-
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Teil II. Die Staatsorganisation und die Staatsfunktionen
stimmten Gesetzes in einer anderen sprachlichen Form zu begehren. Dem eigentlichen Eintragungsverfahren ist ein Einleitungsverfahren vorgeschaltet; bereits fu È r die Einleitung ist eine bestimmte Anzahl von Unterschriften (ein Promille der WohnbevoÈlkerung, derzeit 8032) noÈtig. Bisher eingebrachte Volksbegehren bezogen sich etwa auf einen bundesweiten Tierschutz, richteten sich gegen die Gentechnik (mit rd 1,2 Mio Unterschriften ein verhaÈltnismaÈûig erfolgreiches Volksbegehren), forderten ein ¹Atomfreies Europaª oder die Verankerung einer Sozialstaatsklausel. Sieht man von einem Rundfunkvolksbegehren in den 1960er Jahren ab, das zu einer ORF-Reform fu È hrte, war der praktische Erfolg der bisherigen Initiativen eher gering.
638 3. Eine Volksabstimmung (Referendum) ist eine Abstimmung u È ber einen Gesetzesbeschluss des NR (Art 43, 44 Abs 3 B-VG). Dabei wird der Gesetzesbeschluss vor seiner Beurkundung durch den BPraÈs dem Volk zur Abstimmung vorgelegt. Spricht sich eine Mehrheit fu È r den Beschluss aus, erlangt er nach Abschluss des weiteren Verfahrens (Beurkundung, Kundmachung) Gesetzeskraft; wird der Beschluss in der Volksabstimmung mehrheitlich verworfen, ist das Gesetzgebungsverfahren beendet. Volksabstimmungen gibt es in drei Erscheinungsformen: . fakultatives Gesetzesreferendum: Bei einfachen Gesetzen ist eine Volksabstimmung durchzufu È hren, wenn es der NR mit einfacher Mehrheit beschlieût (Art 43 B-VG); . fakultatives Verfassungsreferendum: Bei Verfassungsgesetzen ist eine Volksabstimmung durchzufu È hren, wenn dies von 1/3 der Mitglieder des NR oder des BR verlangt wird (Art 44 Abs 3 B-VG); . obligatorisches Verfassungsreferendum: Bei gesamtaÈndernden Verfassungsgesetzen ist zwingend eine Volksabstimmung durchzufu È hren (Art 44 Abs 3 B-VG; vgl zur GesamtaÈnderung Rz 111 ff). Volksabstimmungen sind in der politischen Praxis Èauûerst selten. Neben der obligatorischen EU-Beitrittsvolksabstimmung von 1994 ist vor allem auf das politisch folgenreiche Referendum u È ber die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Zwentendorf (1978) hinzuweisen, das ein Beispiel fu È r ein fakultatives Gesetzesreferendum ist.
639 4. Eine Volksbefragung kann zu allen Angelegenheiten von ¹grundsaÈtzlicher und gesamtoÈsterreichischer Bedeutungª durchgefu È hrt werden, fu È r deren Regelung der Bundesgesetzgeber zustaÈndig ist (Art 49b B-VG). Ihre Anordnung erfolgt durch Beschluss des NR, der auf Antrag seiner Mitglieder oder der BReg entscheidet. Die Verfassung schreibt vor, dass die der BevoÈlkerung vorzulegende Fragestellung entweder aus einer mit ¹Jaª oder ¹Neinª zu beantwortenden Frage oder aus zwei alternativen LoÈsungsvorschlaÈgen zu bestehen hat. Das Ergebnis der Befragung ist dem NR sowie der BReg vorzulegen. Eine bindende Wirkung kommt Volksbefragungen nicht zu. 640 5. Im Verfassungsrecht der LaÈnder sind ebenfalls Volksbegehren, Volksabstimmungen und Volksbefragungen vorgesehen, die sich auf die GegenstaÈnde beziehen koÈnnen, fu È r welche den LaÈndern eine ZustaÈndigkeit zukommt. Ihre Ausgestaltung ist Èahnlich wie bei den zuvor dargestellten Instrumenten auf Bundesebene, wenngleich haÈufig die Anforderungen herabgesetzt sind, so dass sie leichter und haÈufiger eingesetzt werden koÈnnten. Im Rahmen ihrer Verfassungsautonomie haben die LaÈnder auch weitere Instrumente der direkten Demokratie eingefu È hrt. So sehen einzelne LV vor, dass Volksbegehren, die eine qualifizierte Unterstu È tzung aufweisen, einer Volksabstimmung zu unterziehen sind, wenn der LT der Initiative nicht Rechnung traÈgt (zB § 39 Abs 1 Stmk LV), dass Volksabstimmungen auch von einer bestimmten Anzahl von Bu È rgern (und nicht nur vom Landtag) veranlasst werden koÈnnen oder dass Gesetze vor ihrer Erlassung einer Bu È rgerbegutachtung zuzufu È hren sind. Zu den Grenzen des Ausbaus der direkten Demokratie durch die Landesgesetzgebung vgl aber Rz 590.
2. Kapitel: Die Gesetzgebung
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AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zum Abschnitt 23: VfSlg 4885/1964: Ein interessanter Fall einer gesetzwidrigen Wiederverlautbarung (Aufnahme einer materiell derogierten Bestimmung). VfSlg 15.164/1998: Wenn die BReg die Zustimmung zu einzelnen Bestimmungen eines LG versagt hatte, wurde mitunter das Gesetz unter Weglassung dieser Bestimmungen kundgemacht; dies ist nach diesem Erkenntnis eine verfassungswidrige Vorgangsweise. Was muss der LT in einem solchen Fall tun? VfSlg 15.579/1999: Zum Unterschied zwischen Druckfehlern bei der Verlautbarung eines Gesetzes, die durch eine Druckfehlerberichtigung richtig gestellt werden koÈnnen, und einem Publikationsmangel, der die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes zur Folge hat. VfSlg 15.686/1999: Zu den Folgen der Kundmachung eines ¹Gesetzesª, das auf keinem (bzw einem fehlerhaften) Gesetzesbeschluss beruht. VfSlg 15.816/2000: Zum Schutz vor politischer Manipulation tragen die Anforderungen bei, die der VfGH hier im Zusammenhang mit Volksbefragungen und den dabei gestellten Fragen entwickelt hat. VfSlg 16.852/2003: Aufhebung des § 2a Abs 2 BGBlG aF, der auch zur Berichtigung materieller Fehler bei der Kundmachung eines Gesetzes ermaÈchtigte, wegen Verletzung des Rechtsstaatsprinzips; vgl nunmehr die Neuregelung in § 10 BGBlG 2004. VfSlg 17.173/2004: Sind Gesetze verfassungswidrig, die unter Zeitdruck und unter Missachtung einzelner GeschaÈftsordnungsregeln erlassen werden? Beachte auch die in dieser Entscheidung behandelte Problematik des ¹Sammelgesetzesª. Zur Vertiefung: Jabloner, Die Mitwirkung der Bundesregierung an der LandesgesetzgeÈ JK (Hrsg), Rechtsbereinigung in O È sterreich (1995); Mayer, PlebiszitaÈre Inbung (1989); O strumente in der staatlichen Willensbildung, in: FS 75 Jahre Bundesverfassung (1995) 341; Stelzer, Direkt-demokratische Elemente in der oÈsterreichischen Verfassung ± eine rechtsvergleichende Betrachtung, in: Maurer-FS (2001) 1019; Thanner, Das Recht der direkten Demokratie (2007); Thienel, Verfassungsfragen der Volksbefragung nach Art 49b B-VG. Dargestellt am Beispiel der geplanten EU-Volksbefragung, JRP 2000, 327.
3. Kapitel: Die staatliche Verwaltung 24. Die Verwaltung È ffentlichen Aufgaben ist im modernen Staat 641 Die Wahrnehmung der vielfaÈltigen o in erster Linie eine Aufgabe der VerwaltungsbehoÈrden. Im System der Staatsgewalten bildet die Verwaltung (Exekutive) zusammen mit der Gerichtsbarkeit (Justiz) einen Teil der Vollziehung. Freilich sind die Aufgaben der VerwaltungsbehoÈrden sehr viel umfassender und vielfaÈltiger als die der Justiz und man kann die von der Verwaltung besorgten Aufgaben auf keinen einfachen Nenner bringen: Die Sorge fu È r die innere und Èauûere Sicherheit, die Einhebung von Steuern, die Unterrichtsverwaltung, die soziale Vorsorge, die Beaufsichtigung der Wirtschaft, die Planung der raÈumlichen Entwicklung und vieles mehr sind Aufgaben der Verwaltung, die von einem komplexen BehoÈrdenapparat besorgt werden. 642 Im demokratischen Verfassungsstaat nimmt die Verwaltung diese Aufgaben nicht nach eigenem Gutdu È nken wahr, sondern im Rahmen und auf Grund der Gesetze (Art 18 B-VG). Diese Bindung an das Gesetz darf freilich nicht u È bersehen lassen, dass die Exekutive nicht auf einen bloûen Gesetzesvollzug beschraÈnkt ist, sondern in gewissem Umfang auch frei gestaltet. Das gilt vor allem fu È r die obersten Verwaltungsbeho È rden im Bund und in den LaÈndern, also fu È r die Regierungen. Aber auch die nachgeordneten VerwaltungsbehoÈrden haben GestaltungsspielraÈume, vor allem dort, wo ihnen die Gesetze Ermessen einraÈumen oder sie nichthoheitlich taÈtig werden. In diesem Sinn ist die Verwirklichung der dem Staat aufgegebenen Zwecke zu einem guten Teil in die Verantwortung der Verwaltung gestellt. Im Folgenden werden zunaÈchst die GrundsaÈtze dargestellt, welche die Verfassung fu È r das Handeln der Verwaltung und fu È r ihre Organisation aufgestellt hat. In den folgenden Abschnitten werden die wichtigsten verfassungsrechtlichen Bestimmungen fu È r die obersten Verwaltungsorgane im Bund und in den LaÈndern behandelt. Ihnen sind zahlreiche VerwalÈ rden nachgeordnet, die in ihrer Gesamtheit die Verwaltungen von Bund und LaÈntungsbeho dern bilden.
24.1. Der hierarchische Aufbau der Verwaltung 643 1. Die einzelnen VerwaltungsbehoÈrden sind Teil eines komplexen und hierarchisch aufgebauten Verwaltungsapparats. An der Spitze stehen die obersten Organe È rden nachder Vollziehung, denen die weisungsgebundenen Verwaltungsbeho geordnet sind. In diesem Sinn bestimmt Art 20 B-VG, dass die Verwaltung unter der Leitung der obersten Organe des Bundes und der LaÈnder nach den Bestimmungen der Gesetze von auf Zeit gewaÈhlten Organen, ernannten berufsmaÈûigen Organen oder vertraglich bestellten Organen gefu È hrt wird. Diese sind an die Weisungen der ihnen vorgesetzten Organe gebunden, soweit nicht in Gesetzen gemaÈû Art 20 Abs 2 B-VG anderes bestimmt wird. 644 Das verfassungsrechtlich vorgegebene Organisationskonzept der Verwaltung beruht daher auf zwei zentralen GrundsaÈtzen: Der Leitungsgewalt der obersten Organe der Verwaltung und der Weisungsbindung der Verwaltungsorgane, die diesen obersten Organen nachgeordnet sind, soweit sie nicht gesetzlich weisungsfrei gestellt sind. Weil die obersten Organe (Regierungen) den Parlamenten im Bund und in den LaÈndern verantwortlich sind, wird damit sichergestellt, dass das gesamte Handeln der Verwaltung von den Volksvertretungen kontrolliert werden kann. Dabei erstreckt sich die Verantwortlichkeit der obersten Organe auf alle ihnen nachgeordneten VerwaltungsbehoÈrden, dh dass sie auch fu È r das Agieren der Unter-
3. Kapitel: Die staatliche Verwaltung
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behoÈrden einstehen mu È ssen: Der Finanzminister ist daher beispielsweise nicht nur fu È r die geordnete Fu È hrung des Staatshaushalts oder MaÈngel im Bereich des Finanzministeriums verantwortlich, er muss auch die Verantwortung fu È r MissstaÈnde u È bernehmen, die bei irgendeinem Finanzamt vorgekommen sind. Um diese Verantwortung tragen zu koÈnnen, muss den obersten Organen das Instrument der Weisung zur Verfu È gung stehen und muss es die strikte Bindung aller nachgeordneten Verwaltungsorgane an Weisungen der jeweils vorgesetzten Organe geben; nur auf diese Weise kann das politisch verantwortliche oberste Organ (zB Bundesminister oder Landesregierung) seinen Willen durchsetzen und nur deshalb kann es fu È r das Handeln auch der nachgeordneten BehoÈrden zur Verantwortung gezogen werden. Bei weisungsfreien Organen muss zumindest ein angemessenes Aufsichtsrecht der obersten Organe vorgesehen sein (Art 20 Abs 2 B-VG). Zugleich ermoÈglicht der hierarchische Aufbau der Verwaltung eine einheitliche Fu È hrung der Verwaltung nach u È bergeordneten politischen und rechtlichen Prinzipien. a) Das Konzept einer Verwaltung, die hierarchisch aufgebaut ist und einer durchgaÈngigen Wei- 645 sungsbindung unterliegt, gilt als ein demokratisches und rechtsstaatliches Verwaltungskonzept: Damit der sich im Gesetz ausdru È ckende Volkswille moÈglichst korrekt zur Geltung gebracht wird, sind die einzelnen Verwaltungsbeho È rden auf den Gesetzesvollzug beschraÈnkt, wobei fu È r die Einhaltung der Gesetzesbindung und fu È r die Ausgestaltung allfaÈlliger SpielraÈume des Ermessens das jeweils vorgesetzte Organ verantwortlich ist, das seinen Willen durch Weisungen durchsetzen kann. Weil eine durchgaÈngige Weisungsbindung im Rahmen eines hierarchischen Verwaltungsaufbaus besteht, mu È ndet die Verantwortlichkeit beim obersten Verwaltungsorgan, das von der Volksvertretung kontrolliert wird. Im Rahmen eines solchen Verwaltungsmodells ist es auch konsequent, wenn die Verwaltungsaufgaben in Unterordnung unter eine politische Verwaltungsspitze (Regierung) hauptsaÈchlich von Berufsbeamten besorgt werden, deren ObjektivitaÈt und Unparteilichkeit entsprechend abgesichert ist. b) Ob das verfassungsrechtliche Konzept einer hierarchisch organisierten und auf einen strik- 646 ten Gesetzesvollzug beschraÈnkten Verwaltung heute noch generell geeignet ist die demokratische Verantwortlichkeit der Verwaltung sicherzustellen ist fraglich: Vor allem dort, wo die Verwaltung des modernen Staates gestalterisch taÈtig ist und eine strenge Bindung an das Gesetz nicht oder nur eingeschraÈnkt besteht (zB bei der Wahrnehmung von Planungsaufgaben oder der Genehmigung von Groûanlagen), wird heute die Forderung aufgestellt, die demokratische Legitimation auch durch eine direkte Einbeziehung der Bu È rger und durch ihre Mitwirkung (Partizipation) an Verwaltungsentscheidungen zu verstaÈrken. Eine unmittelbare Bu È rgermitbestimmung kann freilich im Einzelfall zu einem SpannungsverhaÈltnis mit der Bindung an das Gesetz und der Wahrung u È bergeordneter Gemeinwohlbelange fu È hren und ist daher auf eine sachgerechte Ausgestaltung angewiesen. Der moderne Verwaltungsstaat braucht auch noch in anderen ZusammenhaÈngen Typen von BehoÈrden, die aus dem Weisungszusammenhang ausgegliedert und mit UnabhaÈngigkeit ausgestattet sind. Am deutlichsten zeigt sich È rden, die fu das bei den Regulierungsbeho È r den Wettbewerb auf bestimmten regulierten MaÈrkten (zB Rundfunk, Telekommunikation, Energieversorgung) verantwortlich sind; sie mu È ssen gegenu È ber dem Staat (dem fru È heren TraÈger der Monopole in diesen Sektoren) und den betreffenden Wirtschaftsunternehmen unabhaÈngig sein, sie sollen einen entsprechenen Sachverstand besitzen, aber auch gegenu È ber politischen Einflu È ssen abgeschirmt sein. Um solche Agency-Konzepte im Rahmen der verfassungsrechtlich vorgegebenen Organisationsstrukturen zu realisieren, bediente man sich bisher haÈufig der Organisationsform einer KollegialbehoÈrde mit richterlichem Einschlag (Art 133 Z 4 B-VG), was freilich ein Notbehelf ist. (Zu der durch die B-VG-Novelle 2008 versuchten verfassungsrechtlichen Absicherung unabhaÈngiger RegulierungsbehoÈrden vgl Rz 742 ff).
2. Weisungen sind verbindliche, hoheitliche Anordnungen (Befehle), die im inter- 647 nen Bereich einer VerwaltungsbehoÈrde erlassen werden und sich an ein nachgeordnetes Organ richten. Sie koÈnnen im Einzelfall ergehen (zB Anordnung an einen Beamten eine bestimmte Genehmigung zu erteilen) oder als generelle Weisungen, die auch als Verwaltungsverordnungen bezeichnet werden (zB Anordnung, wie vom behoÈrdlichen Ermessen bei der Bemessung von Strafen fu È r Verkehrsdelikte Gebrauch
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Teil II. Die Staatsorganisation und die Staatsfunktionen
gemacht werden soll). Verwaltungsorgane sind verpflichtet die ihnen erteilten Weisungen zu befolgen, und zwar auch dann, wenn sie die Weisung fu È r gesetzwidrig halten. Von dieser unbedingten Gehorsamspflicht sieht Art 20 Abs 1 B-VG nur zwei Ausnahmen vor: Weisungen mu È ssen nicht befolgt werden, . wenn sie von einem unzustaÈndigen Organ erteilt wurden oder . wenn ihre Befolgung gegen strafgesetzliche Bestimmungen verstoûen wu È rde. 648 a) Die ZustaÈndigkeit zur Erteilung von Weisungen ergibt sich aus den Organisationsvor-
È ber- und UnterordnungsverhaÈltnisse festlegen. Von einem unzustaÈndischriften, welche die U gen Organ stammt eine Weisung, wenn der Anweisende nicht vorgesetzt ist und daher auch abstrakt betrachtet keine ZustaÈndigkeit zur Erteilung von Weisungen an den Betreffenden hat. Gegen strafgesetzliche Bestimmungen verstoûen Weisungen insbesondere auch dann, wenn ein Verhalten verlangt wu È rde, das auf einen Amtsmissbrauch (§ 302 StGB) hinauslaÈuft. In solchen FaÈllen muss der Beamte oder der Vertragsbedienstete die Befolgung der Weisung ablehnen, das heiût, dass er sie auch nicht befolgen darf. In allen anderen FaÈllen hat er sie zu befolgen; in einzelnen dienstrechtlichen Bestimmungen (zB § 44 BDG) ist aber vorgesehen, dass der Beamte die schriftliche Erteilung der Weisung verlangen darf, wenn er sie fu È r rechtswidrig haÈlt (so genanntes Remonstrationsrecht). Der Umstand, dass auch gesetzwidrige Weisungen befolgt werden mu È ssen, Èandert nichts daran, dass auch Weisungen unter dem Gebot der GesetzmaÈûigkeit (Art 18 B-VG) stehen und daher gesetzwidrige Weisungen unzulaÈssig sind.
649 b) Ausnahmen von der Weisungsbindung duÈrfen nur fuÈr bestimmte, in Art 20 Abs 2 B-VG
aufgezaÈhlte Aufgaben durch den zustaÈndigen einfachen Gesetzgeber geschaffen werden. Von dieser ErmaÈchtigung haben der Bundes- und die Landesgesetzgeber in umfangreicher Weise È rden geschaffen (vgl Gebrauch gemacht und zahlreiche weisungsfreie Verwaltungsbeho zu den weisungsfreien Verwaltungsbeho È rden Rz 741 ff). Von diesen FaÈllen abgesehen, bedu È rfen Weisungsfreistellungen einer ausdru È cklichen bundes- oder landesverfassungsrechtlichen Grundlage. Eine verfassungsrechtlich vorgesehene ErmaÈchtigung zur Durchbrechung der Weisungsbindung gibt es auch fu È r die verschiedenen Bereiche der Selbstverwaltung (vgl Rz 760 ff).
650 3. Im Rahmen des Organisationskonzepts einer hierarchisch aufgebauten Verwaltung ist jedes Verwaltungsorgan einerseits weisungsgebunden (gegenu È ber dem vorgesetzten Organ) und andererseits weisungsbefugt (zumindest wenn es noch ein nachgeordnetes Organ gibt). Kennzeichen der obersten Organe ist, dass sie nur berechtigt sind Weisungen zu erteilen, selbst aber keiner Weisungsbindung unterliegen. In diesem Sinn zaÈhlt Art 19 B-VG die obersten Organe der Vollziehung auf. Diese AufzaÈhlung ist freilich fehlerhaft, weil einerseits die BReg und die LReg fehlen, die auch als solche (dh als Kollegien) oberste Organe sind, und weil die hier genannten StaatssekretaÈre deshalb keine obersten Organe sind, weil sie an Weisungen des jeweiligen BM gebunden sind. Weil es im Bereich des Bundes und im Bereich der LaÈnder mehrere oberste Organe gibt (zB die einzelnen BM als Ressortminister sowie die BReg als kollegiales oberstes Organ), bestehen mehrere Verwaltungshierarchien, die durch eine Weisungskette zusammengehalten werden, an deren Spitze jeweils ein oberstes Verwaltungsorgan steht. 651 4. Die verfassungsrechtlich vorgegebene Leitungsbefugnis der obersten Verwaltungsorgane (Art 20 B-VG), welche die Kehrseite ihrer Verantwortlichkeit ist, hat eine Reihe von rechtlichen Konsequenzen. Dass oberste Verwaltungsorgane an keine Weisungen gebunden werden du È rfen, wurde als Kennzeichen dieser Stellung bereits hervorgehoben. Daru È ber hinaus darf ihre Stellung als oberstes Organ auch nicht in anderer Weise beeintraÈchtigt werden: . UnzulaÈssig ist ein Instanzenzug, der u È ber ein oberstes Organ hinausfu È hrt (VfSlg 8917/1990), oder die Unterwerfung eines obersten Organs unter eine verfassungsrechtlich nicht vorgesehene Kontrolle durch ein anderes Organ (VfSlg 13.626/1993, 15.578/1999).
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. Auch darf die Willensbildung eines obersten Organs nicht dadurch beeintraÈchtigt werden, dass seine Entscheidungen an AntraÈge anderer Stellen oder an das Einvernehmen mit anderen Organen gebunden werden (VfSlg 12.183/1989, 12.843/1991). ZulaÈssig ist die Bindung an AntraÈge nach der Judikatur aber dann, wenn eine Antragsbefugnis der Durchsetzung von Interessen dient, die wahrzunehmen der Antragsteller berufen ist. Daher stellt es zB keine verfassungswidrige EinschraÈnkung der Stellung eines obersten Organs dar, wenn die LReg eine AssanierungsVO nur auf Antrag einer Gemeinde erlassen darf, die ein Interesse an der Beseitigung staÈdtebaulicher MissstaÈnde im Gemeindegebiet hat (VfSlg 14.977/1997). . Die Leitungsbefugnis muss sich auch in entsprechenden Aufsichtsbefugnissen ausdru È cken, die dem obersten Organ eine effektive Wahrnehmung seiner Verantwortlichkeit erlauben (VfSlg 16.400/2001). 5. Das verfassungsrechtlich vorgezeichnete Organisationskonzept der Verwal- 652 tung mit den Leitungs- und Aufsichtsbefugnissen der obersten Verwaltungsorgane zieht auch Bestrebungen zu einer Reform der Verwaltung deutliche Grenzen, die vor allem bei ¹Ausgliederungenª zu beachten sind: Werden Verwaltungsaufgaben aus der klassischen Hoheitsverwaltung ausgegliedert und auf einen selbstaÈndigen RechtstraÈger privaten Rechts (zB eine GmbH) oder eine eigenstaÈndige juristische Person oÈffentlichen Rechts (zB eine Anstalt) u È bertragen, muss dem sachlich zustaÈndigen obersten Organ ein entsprechender Einfluss gesichert werden. Das setzt die ausdru È ckliche EinraÈumung einer Weisungsbefugnis voraus und kann auch noch weitere Vorkehrungen (zB entsprechende Berichtspflichten) erforderlich machen (VfSlg 14.473/1996, 16.400/2001). Dass es davon abgesehen bestimmte ¹ausgliederungsfesteª staatliche Kernaufgaben gibt, wurde bereits an anderer Stelle hervorgehoben (vgl Rz 222). Durch diese Judikatur wollte der VfGH sicherstellen, dass es in der Folge von Ausgliederungen nicht zu einer Verdu È nnung oder Ausschaltung der parlamentarischen Kontrolle der Verwaltung kommt; sie ist zu befu È rchten, wenn BM (oder andere oberste Organe) nicht mehr fu Èr die Fu È nnten, weil È hrung bestimmter Verwaltungsaufgaben verantwortlich gemacht werden ko diese an selbstaÈndige RechtstraÈger u È bertragen werden. Dies ist auch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass es vor allem im Bereich der Verwaltung des Bundes in den letzten Jahren zu sehr weit reichenden Ausgliederungen gekommen ist (zB Bundesbahnen, Telekommunikation, Museen, Wertpapieraufsicht, Flugsicherung usw). Ein Verzicht auf die Bindung an Weisungen durch ausdru È ckliche EinraÈumung einer weisungsfreien GeschaÈftsfu È hrung ist nur bei ausgegliederten Einheiten zulaÈssig, die Aufgaben iS des Art 20 Abs 2 B-VG wahrnehmen (zB Aufgaben der Kontrolle, der Sicherung des Wettbewerbs usw). In diesen FaÈllen ist aber zur Sicherung der Verantwortlichkeit der obersten Organe ein angemessenes Aufsichtsrecht der obersten Organe vorzusehen, das jedenfalls entsprechende Informationsrechte sowie (von bestimmten Ausnahmen abgesehen) auch das Recht umfassen muss, weisungsfreie Organe aus wichtigem Grund abzuberufen (vgl dazu Rz 743). Art 52 Abs 1a B-VG gibt ferner dem NR das Recht, auch solche weisungsfreien Organe zu allen GegenstaÈnden der GeschaÈftsfu È hrung zu befragen (vgl Rz 572).
È ffentliche 24.2. Die Fu È hrung der Verwaltung durch o Organwalter 1. Nach Art 20 Abs 1 B-VG koÈnnen die VerwaltungsgeschaÈfte von Organwaltern ge- 653 fu È hrt werden, die in unterschiedlicher Art und Weise in das Amt berufen werden. Die ¹ernannten berufsmaÈûigen Organeª sind die Beamten, welche die Verwaltung fu È ffentliche È hren, waÈhrend es sich bei den vertraglich bestellten Organen idR um o Bedienstete handelt, die als Vertragsbedienstete in einem DienstverhaÈltnis zu der jeweiligen GebietskoÈrperschaft stehen. Neben ihnen sieht die Verfassung auch ge-
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Teil II. Die Staatsorganisation und die Staatsfunktionen
waÈhlte Organe vor, welche die Verwaltung als ¹Wahlbeamteª fu È hren, was heute vor allem im Bereich der Selbstverwaltung eine Rolle spielt (vgl Rz 763, 783). Umstritten war, ob es neben den ausdru È cklich angefu È hrten Arten der Bestellung von Organwaltern (Ernennung, vertragliche Bestellung und Wahl) noch andere Formen der Betrauung mit Aufgaben der Verwaltungsfu È hrung geben darf; praktisch bedeutsam ist das vor allem im Hinblick auf die Entsendung von Organwaltern in Verwaltungsfunktionen, wie das in einzelnen Bereichen vorgesehen ist (zB Entsendung von Vertretern von Kammern in kollegiale VerwaltungsbehoÈrden). Dies wurde in der Lehre zT als verfassungswidrig angesehen, vom VfGH aber akzeptiert (VfSlg 15.496/1999). Nunmehr soll der durch die B-VG-Novelle 2008 neu geschaffene Art 120b Abs 3 B-VG die ZulaÈssigkeit solcher Entsendungen klarstellen.
654 2. Dagegen gibt es im oÈsterreichischen Verfassungsrecht keinen ¹Beamtenvorbehaltª, dh dass die VerwaltungsgeschaÈfte nicht notwendigerweise nur durch hoheitlich ernannte Beamte gefu È hrt werden mu È ssen; zulaÈssig und in zunehmend groÈûerem Umfang u È blich ist es, dass auch privatrechtlich bestellte Vertragsbedienstete oder Privatangestellte in der hoheitlichen Verwaltung taÈtig sind. Abweichend vom herkoÈmmlichen Bild des auf Lebenszeit bestellten Beamten laÈsst Art 21 Abs 5 und 6 B-VG die befristete Bestellung von Beamten (vor allem fu È r Spitzenfunktionen) zu. Wieweit der einfache Gesetzgeber auf ein bestimmtes Bild des Berufsbeamten (Unku È ndbarkeit, lebenslaÈngliches DienstverhaÈltnis, gesteigerte Treuepflicht) festgelegt ist, ist fraglich. È ffentlichen Dienst ausgegangen, wonach der Der VfGH ist von einem Typenzwang im o Dienstrechtsgesetzgeber an den verfassungsrechtlich vorgegebenen Typus des Vertragsbediensteten einerseits und des Beamten andererseits gebunden ist (VfSlg 11.151/1986). In den Grenzen der Sachlichkeit kann der Gesetzgeber das o È ffentliche Dienstrecht freilich frei gestalten, wenn er auf die Besonderheiten des oÈffentlichen Dienstes Bedacht nimmt.
3. Die Regelung des Dienstrechts der oÈffentlich Bediensteten (Beamte, Vertragsbedienstete) ist hinsichtlich der Bundesbediensteten Sache des Bundesgesetzgebers (Art 10 Abs 1 Z 16 B-VG), hinsichtlich der Bediensteten der LaÈnder, Gemeinden und GemeindeverbaÈnde Landessache (Art 21 Abs 1 B-VG). Abweichende Kompetenzen gibt es fu È r den Bereich des Arbeitnehmerschutzes und der Personalvertretung (vgl Art 21 Abs 2 B-VG). Die so genannte Diensthoheit, das ist die Ausu È bung aller dienstrechtlichen Befugnisse, wie Ernennung, Versetzung, Dienstzuteilung usw, liegt grundsaÈtzlich bei den obersten Organen des Bundes und der LaÈnder (Art 21 Abs 3 B-VG). Gegenu È ber den Bediensteten der verfassungsrechtlich eingerichteten Kontrollorgane (RH, VA, Gerichtsho È fe des o È ffentlichen Rechts) und gegenu È ber den Bediensteten der Parlamentsdirektion sowie der PraÈsidentschaftskanzlei wird die Diensthoheit vom jeweiligen PraÈsidenten (Vorsitzenden) bzw vom BPraÈs wahrgenommen; das unterstreicht die UnabhaÈngigkeit dieser Einrichtungen gegenu È ber der Exekutive bzw die SelbstaÈndigkeit der Fu È hrung der GeschaÈfte des BPraÈs.
24.3. Hoheitliche und nichthoheitliche Verwaltung 655 1. Die VerwaltungsbehoÈrden nehmen ganz unterschiedliche Aufgaben wahr, die materiell (inhaltlich) betrachtet nach verschiedenen Gesichtspunkten eingeteilt werden koÈnnen: So gibt es eine Eingriffsverwaltung, eine leistende Verwaltung, eine foÈrdernde Verwaltung, eine Planungsverwaltung, eine erwerbswirtschaftlich taÈtige Verwaltung usw. In verfassungsrechtlicher Hinsicht kommt es in vielen ZusammenhaÈngen aber nicht auf den Inhalt der jeweiligen VerwaltungstaÈtigkeit, sondern auf die Handlungsformen an. 656 Hoheitliche Verwaltung liegt vor, wenn eine BehoÈrde Rechtsakte setzt, die Ausdruck der spezifischen staatlichen Hoheitsgewalt sind und die in der Regel einseitig
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erlassen werden. In diesem Sinn sind Bescheide, Maûnahmen der verwaltungsbehoÈrdlichen Befehls- und Zwangsgewalt, Weisungen und Verordnungen typische Handlungsformen der hoheitlichen Verwaltung. Bei der nichthoheitlichen Verwaltung, die oft auch als Privatwirtschaftsver- 657 waltung oder privatrechtliche Verwaltung bezeichnet wird, handeln die Verwaltungsbeho È rden im Rahmen jener Rechtsformen, die auch Privaten zur Verfu È gung stehen. In erster Linie sind das privatrechtliche Handlungen, also der Abschluss von privatrechtlichen VertraÈgen oder die Abgabe einseitiger privatrechtlicher WillenserklaÈrungen; zur nichthoheitlichen Verwaltung geho È rt es aber auch, wenn GebietskoÈrperschaften als Parteien in einem Verwaltungsverfahren oÈffentlich-rechtliche Handlungen setzen, also wenn zB ein Land um eine Baubewilligung fu È r ein LandesgebaÈude ansucht. Dass die GebietskoÈrperschaften als TraÈger von Privatrechten handeln koÈnnen, ergibt sich aus einer Reihe von Verfassungsvorschriften, in erster Linie aus Art 17 und Art 116 Abs 2 B-VG. a) Dass es in rechtlicher Hinsicht in erster Linie auf die Form des Verwaltungshandelns an- 658 kommt, haÈngt mit dem an Handlungsformen orientierten oÈffentlich-rechtlichen Rechtsschutzsystem des o È sterreichischen Verfassungsrechts zusammen. Die ZustaÈndigkeit der Gerichtsho Èfe des oÈffentlichen Rechts (VwGH, AsylGH, VfGH) und der UVS knu È pft an die Rechtssatzformen an, die als Anfechtungsobjekte vorgesehen sind (Bescheide in den Verfahren nach Art 131, Art 129c und Art 144 B-VG, VO im Verfahren nach Art 139 B-VG, Maûnahmen im Rahmen der Beschwerde an die UVS). b) Inhalt und Form des Verwaltungshandelns mu È ssen nicht zwangslaÈufig zusammenfallen. Ge- 659 nuin oÈffentliche Aufgaben koÈnnen auch mit privatrechtlichen Mitteln erfu È llt werden und in vieÈ glichkeit: So ko len FaÈllen hat der Gesetzgeber eine Wahlmo È nnen zB Stipendien fu È r Studierende hoheitlich durch Bescheid oder durch einen Akt der Privatwirtschaftsverwaltung zuerkannt werden. Das Rechtsstaatsprinzip setzt dieser Wahlfreiheit allerdings gewisse Grenzen (vgl dazu sogleich Rz 670). c) Verwaltungsbeho È rden erlassen nicht nur Hoheitsakte (Bescheide usw). Sie setzen vielfaÈltige 660 tatsaÈchliche Handlungen, wenn zB BehoÈrden die Bu È rger informieren oder Ausku È nfte erteilen, wenn die Polizei observiert oder wenn im Vorfeld eines behoÈrdlichen Eingreifens eine Warnung oder Ermahnung ausgesprochen wird. Solchen Handlungen fehlt die fu È r das hoheitliche Eingreifen charakteristische Befehls- und Zwangsgewalt, wegen ihrer NaÈhe zur hoheitlichen Aufgabenerfu È llung kann man sie aber auch nicht der Privatwirtschaftsverwaltung zurechnen; man bezeichnet ein Verwaltungshandeln dieser Art daher als schlichthoheitliches Verwaltungshandeln. Das hat vor allem Konsequenzen im Amtshaftungsrecht, dem das schlichthoheitliche Verwaltungshandeln ebenfalls unterworfen ist (vgl Rz 836).
2. Auch im Bereich der privatrechtlichen Verwaltung liegt staatliches Handeln vor. 661 Die Vorstellung, dass der Staat in diesem Bereich ¹wie ein Privaterª handeln koÈnnte und von den verfassungsrechtlichen Bindungen und Grenzen freigestellt waÈre, ist verfehlt. Allerdings knu È pft sich an die Unterscheidung von hoheitlicher und nichthoheitlicher Verwaltung in verfassungsrechtlicher Hinsicht doch eine Reihe von Konsequenzen: . Der Rechtsschutz gegenu È ber Akten der nichthoheitlichen Verwaltung wird nicht durch das Administrativverfahren, die UVS und die Gerichtsho È fe des oÈffentlichen Rechts gesichert, sondern durch die ordentlichen Gerichte. Fu È r schuldhaft zugefu È gten Schaden haftet der Staat nicht nach den Regeln des Amtshaftungsrechts, sondern nach den Bestimmungen des allgemeinen privatrechtlichen Schadenersatzrechts (vgl Rz 835). . Die bundesstaatliche Kompetenzverteilung ist auf die nichthoheitliche Verwaltung nicht anzuwenden (Art 17 B-VG; vgl Rz 396). . Auch die nichthoheitliche Verwaltung ist im Prinzip an die Grundrechte gebunden (so genannte Fiskalgeltung), doch kann es im Einzelfall an den Voraussetzun-
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gen fu È r einen Grundrechtseingriff fehlen, wenn der Bu È rger mit dem Staat vertragliche Bindungen eingeht. Groûe Bedeutung kommt dem Willku È rverbot zu, dem auch die Privatwirtschaftsverwaltung unterworfen ist (vgl Rz 1258 ff). . Modifiziert ist schlieûlich auch die Gesetzesbindung der nichthoheitlichen Verwaltung (vgl Rz 498).
24.4. Die Bindung an das Gesetz 662 Dass die VerwaltungsbehoÈrden jedenfalls dann, wenn sie hoheitlich taÈtig werden, nur auf Grund der Gesetze taÈtig werden du È rfen, wurde bereits behandelt (vgl Rz 492 ff). Das LegalitaÈtsprinzip ist der wichtigste verfassungsrechtliche Grundsatz fu Èr die Verwaltung im demokratischen Verfassungsstaat. Es soll gewaÈhrleisten, dass letztlich jedes Handeln des Staates u È ber das demokratisch erzeugte Gesetz auf den Willen des Volkes zuru È ckgefu È hrt werden kann. Dass die VerwaltungsbehoÈrden diese Bindung an das Gesetz nicht u È berschreiten, wird durch die Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts und die politische sowie rechtliche Verantwortlichkeit der obersten Verwaltungsorgane gesichert. 663 Auch dort, wo die VerwaltungsbehoÈrden nicht der strikten Bindung an das LegalitaÈtsprinzip unterliegen, weil sie im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung taÈtig werden oder keine hoheitlichen Handlungsformen einsetzen, sind sie an das Gesetz gebunden. Ihre Gestaltungsmo È glichkeiten sind freilich weiter gehend, weil hier das Gesetz nicht die notwendige Grundlage, sondern nur die Grenze des Verwaltungshandelns darstellt. WaÈhrend die hoheitliche Verwaltung nichts ohne das Gesetz tun darf, beschraÈnkt sich die Gesetzesbindung der nichthoheitlichen Verwaltung darauf, dass sie nichts gegen das Gesetz tun darf. Wo die nichthoheitliche Verwaltung o È ffentliche Aufgaben wahrnimmt, bleibt der Gesetzgeber aber trotzdem dazu aufgerufen ihr gewisse GrundsaÈtze des Handelns gesetzlich vorzugeben (vgl zum LegalitaÈtsprinzip Rz 496 ff).
24.5. Hoheitliche Handlungsformen der Verwaltung 664 Die Bundesverfassung formt vor allem im Zusammenhang mit dem Rechtsschutzsystem die wichtigsten Rechtsformtypen aus, der sich die hoheitlich handelnde Verwaltung bedienen kann (VO, Bescheid, Maûnahmen der Befehls- und Zwangsgewalt). Ob es sich dabei um einen abschlieûenden (taxativen) Kreis von Rechtsformen handelt oder ob der einfache Gesetzgeber weitere Typen schaffen darf, ist umstritten. Auszugehen ist davon, dass das B-VG die generellen Rechtsquellen (vor allem: Gesetz, VO) abschlieûend geregelt hat, wobei gewisse Rechtsformen verfassungsrechtlich vorausgesetzt sind (relative Geschlossenheit des Rechtsquellensystems). Dagegen du È rfen durch einfaches Gesetz weitere individuelle Rechtssatzformen eingefu È hrt werden, wenn den rechtsstaatlichen Rechtsschutzerfordernissen Genu È ge getan werden kann. È ffentlich-rechtliche VertraÈge zwischen dem Staat und Rechtsa) So war es umstritten, ob o unterworfenen (so genannte subordinationsrechtliche oÈffentlich-rechtliche VertraÈge) zulaÈssig sind, wie es sie vereinzelt, etwa im Steuerrecht, gibt. Das Hauptproblem liegt darin, dass sich die ZustaÈndigkeit des VwGH nur auf Bescheide, aber nicht auf derartige VertraÈge erstreckt, die das B-VG gar nicht kennt. Der VfGH hat ihre ZulaÈssigkeit daher nur unter der Voraussetzung bejaht, dass sie gesetzlich vorgesehen sind und dass im Fall von Rechtsstreitigkeiten die Erlassung eines Bescheids vorgesehen ist, der den Zugang zum oÈffentlich-rechtlichen Rechtsschutzsystem eroÈffnet (VfSlg 9226/1981). b) Nach dem Konzept von der ¹relativen Geschlossenheit des Rechtsquellensystemsª darf der einfache Gesetzgeber grundsaÈtzlich keine generellen Rechtsquellentypen schaffen,
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die bundesverfassungsgesetzlich nicht vorgesehen sind (VfSlg 17.394/2004). Ausnahmen werden nur akzeptiert, soweit anzunehmen ist, dass der Verfassungsgesetzgeber eine gewisse Rechtssatzform schon ¹vorgefundenª hat, sie also schon bei der Erlassung des B-VG bekannt war. Auf diese Weise hat der VfGH die ZulaÈssigkeit des Kollektivvertrags begru È ndet, durch den auch die ArbeitsverhaÈltnisse von Personen gestaltet werden, die keiner Kollektivvertragspartei angehoÈren (VfSlg 13.880/1994).
24.5.1. Verordnungen 1. Als generelle Handlungsform der Verwaltung stellt die Verfassung die Rechtsform 665 der Verordnung bereit. Damit koÈnnen auch die VerwaltungsbehoÈrden allgemein verbindliche Regelungen (Gesetze im materiellen Sinn) erlassen. Das kann den foÈrmlichen, parlamentarischen Gesetzgeber entlasten und ist vor allem dort wichtig, wo auf wechselnde VerhaÈltnisse reagiert werden soll (zB Verfu È gung von VerkehrsbeschraÈnkungen) oder wenn sehr detaillierte Vorschriften erlassen werden mu È ssen (zB bautechnisches Sicherheitsrecht). Weil die Verwaltung grundsaÈtzlich nur Durchfu È hrungsVO erlassen darf, die bestehende gesetzliche Regelungen naÈher ausfu È hren, sind ihre selbstaÈndigen rechtspolitischen GestaltungsmoÈglichkeiten zwar beschraÈnkt; trotzdem darf nicht u È bersehen werden, dass auch auf der Grundlage von Art 18 Abs 2 B-VG den VerwaltungsbehoÈrden nicht unerhebliche EntscheidungsspielraÈume eroÈffnet sein koÈnnen. 2. Nach Art 18 Abs 2 B-VG kann jede VerwaltungsbehoÈrde auf Grund der Gesetze in- 666 nerhalb ihres Wirkungsbereichs VO erlassen. VO sind generelle und abstrakte hoÈ rden erlassen werden und sich heitliche Rechtsnormen, die von Verwaltungsbeho an die Rechtsunterworfenen richten. Art 18 Abs 2 B-VG ermaÈchtigt alle Verwaltungsbeho È rden unmittelbar und generell zur Erlassung von VO, eine spezielle gesetzliche ErmaÈchtigung ist nicht erforderlich, findet sich aber in sehr vielen FaÈllen in den Gesetzen. Weil VO nur ¹auf Grund der Gesetzeª erlassen werden du È rfen, koÈnnen auf Art 18 Abs 2 B-VG gestu È tzte VO nur die Regelung eines Gesetzes naÈher ausfu È hren; sie werden daher auch als Durchfu È hrungsVO bezeichnet. Zugleich muss der Gesetzgeber den Inhalt der zu erlassenden VO ausreichend determinieren, so dass alle wesentlichen Merkmale der beabsichtigten Regelung durch das Gesetz vorherbestimmt sind. Die SpielraÈume des VO-Gebers werden daher durch den vorgegebenen gesetzlichen Rahmen gestaltet, der wiederum von den aus dem LegalitaÈtsprinzip abgeleiteten Anforderungen abhaÈngt. Wenn unter den Vorzeichen eines ¹differenzierten LegalitaÈtsprinzipsª die gesetzliche Regelungsdichte zuru È ckgenommen werden kann, eroÈffnet das dem VO-Geber gewisse ErmessensspielraÈume zur freien rechtspolitischen Gestaltung (vgl zu den aus Art 18 B-VG abzuleitenden Bestimmtheitserfordernissen Rz 500 ff). a) So ist etwa der Inhalt der als VO erlassenen oÈrtlichen RaumordnungsplaÈne (FlaÈchenwidmungsplaÈne), durch die das Gemeindegebiet in Bauland, Gru È nland und VerkehrsflaÈchen gegliedert wird, nur durch allgemeine Planungsziele determiniert, so dass der Gemeinde ein erhebliches Planungsermessen zukommt. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer verfassungsrechtlich zulaÈssigen finalen Determinierung. b) Die gesetzliche Rechtsgrundlage, auf die sich eine VO stu È tzt, muss nicht explizit angegeben sein. Die ru È ckwirkende In-Kraft-Setzung einer VO ist nur zulaÈssig, wenn das ein Gesetz ausdru È cklich vorsieht. Das EuropaÈische Gemeinschaftsrecht bildet keine unmittelbare Rechtsgrundlage fu È r die Erlassung von Durchfu È hrungsVO (VfSlg 15.189/1998). Ausgegliederte RechtstraÈger du È rfen nach der Judikatur VO nur dann erlassen, wenn dafu È r eine ausdru È ckliche und spezielle gesetzliche ErmaÈchtigung geschaffen wird; auûerdem darf sich die VO-ErmaÈchtigung nicht auf ¹staatliche Kernaufgabenª beziehen (VfSlg 16.995/2003). KolleÈ rden mit richterlichem Einschlag (Art 133 Z 4-BehoÈrden) du gialbeho È rfen generell keine VO erlassen, weil ihr Wirkungsbereich auf (individuelle) Entscheidungen in oberster Instanz beschraÈnkt ist und die Leitungsbefugnis der demokratisch verantwortlichen obersten Organe
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bei der Erlassung genereller Rechtsakte ansonsten eingeschraÈnkt werden ko È nnte (VfSlg 17.961/2006). c) Die Einhaltung des gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrens (zB AnhoÈrung der Betroffenen, Auflegung eines FlaÈchenwidmungsplans) ist Voraussetzung der RechtmaÈûigkeit einer VO und wird vom VfGH u È berpru È ft. VerstoÈûe gegen Verfahrensvorschriften koÈnnen zur Aufhebung der VO fu È hren.
667 3. Als generelle Rechtsnormen mu È ssen VO ordnungsgemaÈû kundgemacht werden. Nicht gehoÈrig kundgemachte VO sind fu È r die Gerichte und UVS nicht verbindlich (Art 89 B-VG) bzw sind vom VfGH wegen Gesetzwidrigkeit aufzuheben (Art 139 B-VG). Das B-VG enthaÈlt keine speziellen Kundmachungsvorschriften fu È r VO, sie ergeben sich daher aus den einfachen Gesetzen, die dafu È r verschiedene Verfahren vorsehen. Eine wichtige Kundmachungsvorschrift fu È r VO findet sich in § 4 BGBlG fu È r VO der BReg È hnliche Vorschriften gibt es fu und der BM, die zwingend im BGBl II kundzumachen sind. A Èr VO der Landesregierungen; fu È r VO von Gemeindeorganen schreiben die GemO den Anschlag an der Amtstafel vor. Es gibt auch spezielle Kundmachungsformen: So koÈnnen nach der StVO VerkehrsbeschraÈnkungen durch entsprechende Straûenverkehrszeichen kundgemacht werden oder werden bestimmte VO der SicherheitsbehoÈrden (zB Platzverbote) durch Lautsprecherdurchsage oder Verlautbarung in den Medien kundgemacht. Bestehen keine besonderen Rechtsvorschriften, sind VO ¹ortsu È blichª kundzumachen (VfSlg 15.300/1998).
668 4. Abgesehen von der allgemeinen ErmaÈchtigung zur Erlassung von Durchfu È hrungsVO (Art 18 Abs 2 B-VG) sieht das B-VG in einzelnen Bestimmungen die Erlassung von so genannten selbstaÈndigen VO vor, die ohne Dazwischentreten eines Gesetzes unmittelbar auf die Verfassung gestu È tzt werden koÈnnen. Sie werden daher auch verfassungsunmittelbare VO genannt. Solche selbstaÈndigen (verfassungsunmittelbaren) VO koÈnnen gesetzesvertretend bzw gesetzesergaÈnzend sein, dh an Stelle einer gesetzlichen Regelung oder zu ihrer ErgaÈnzung (praeter legem) erlassen werden, oder gesetzaÈndernd (contra legem) sein, dh die Kraft haben bestehende gesetzliche Regelungen abzuaÈndern. Wichtige Beispiele fu È r selbstaÈndige gesetzesvertretende (gesetzesergaÈnzende) VO finden sich in Art 118 Abs 6 B-VG (Erlassung ortspolizeilicher VO durch die Gemeinde), §§ 7 Abs 5, 8 Abs 5 F-VG (freies Beschlussrecht der Gemeinden betreffend Abgaben), Art 66 B-VG (Delegation von Entscheidungsbefugnissen durch den BPraÈs), Art 78c Abs 2 B-VG (Errichtung von BPolDion), Art 120b B-VG (Satzungen von sonstigen SelbstverwaltungskoÈrpern). NotVO nach Art 18 Abs 3±5 oder Art 97 Abs 3±4 B-VG sind selbstaÈndige gesetzaÈndernde VO.
669 5. Allgemeine Anordnungen von VerwaltungsbehoÈrden, die sich nicht an die Rechtsunterworfenen richten, sondern nur an nachgeordnete VerwaltungsbehoÈrden, sind generelle Weisungen, die auch als ErlaÈsse oder VerwaltungsVO bezeichnet werden (um sie von den auch als RechtsVO bezeichneten VO nach Art 18 B-VG abzugrenzen). Enthalten solche ErlaÈsse allerdings Regelungen, die nach ihrem Inhalt Rechte oder Pflichten der Bu È rgerinnen und Bu È rger gestalten, handelt es sich um auûenwirksame VO, die den dafu È r geltenden Regelungen, insbesondere den Kundmachungsvorschriften, unterliegen. Ob eine generelle Regelung nur als interne Weisung (zB Mitteilung einer Rechtsansicht an die UnterbehoÈrde) angesehen werden kann oder eine auûenwirksame verbindliche Regelung ist, richtet sich nicht nach ihrer Bezeichnung, den ausdru È cklich genannten Adressaten oder nach der Èauûeren Form, sondern nach ihrem Inhalt. Der VfGH neigt dazu, Regelungen, die nach ihrem Wortlaut und Erscheinungsbild imperativen Anordnungscharakter haben, als RechtsVO zu deuten; sind sie nicht ordnungsgemaÈû kundgemacht worden (zB Verlautbarung einer ministeriellen VO nur in einem Amtsblatt statt im BGBl II), sind sie daher schon deshalb als gesetzwidrig aufzuheben. Vgl als Beispiel VfSlg 15.061/1997 zum so genannten ¹Fesselungserlassª des BMI: Ein Teil dieses Erlasses richtete sich an die Rechtsunterworfenen und stellte daher eine RechtsVO dar; mangels einer ordnungsgemaÈûen Kundmachung im BGBl II hob der VfGH diesen Teil auf.
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24.5.2. Individuelle Verwaltungsakte Fu È r das individuelle hoheitliche Verwaltungshandeln bezieht sich das B-VG auf die 670 Rechtsform des Bescheids (Art 131, 144 B-VG) und auf die Maûnahmen verwalÈ rdlicher Befehls- und Zwangsgewalt (Art 129a B-VG). Die naÈhere tungsbeho Ausgestaltung und Abgrenzung dieser Rechts- und Handlungsformen ist Sache des einfachen Gesetzgebers, der im Rahmen der Verwaltungsverfahrensgesetze oder der besonderen Verwaltungsvorschriften entsprechende Regelungen erlassen kann. So enthaÈlt das AVG naÈhere Bestimmungen u È ber den Bescheid und werden die sicherheitspolizeilichen Zwangsakte im SPG naÈher geregelt. Weil das verfassungsrechtliche Rechtsschutzsystem im Bereich der Hoheitsverwaltung auf diese Verwaltungsakte konzentriert ist, kommt ihnen freilich eine selbstaÈndige verfassungsrechtliche Bedeutung zu. Es gibt daher einen verfassungsrechtlichen Begriff des Bescheids bzw der Maûnahme der Befehls- und Zwangsgewalt, der nicht notwendigerweise mit der naÈheren Ausgestaltung des Bescheids oder der Zwangsmaûnahmen in den Verwaltungsvorschriften deckungsgleich sein muss. Bescheid in diesem Sinn ist jede fo È rmliche, auûenwirksame Entscheidung einer Verwaltungsbeho È rde, mit der RechtsverhaÈltnisse von Rechtsunterworfenen verbindlich gestaltet oder RechtsverhaÈltnisse oder Tatsachen rechtsverbindlich festgestellt werden. Maûnahmen der unmittelbaren verwaltungsbehoÈrdlichen Befehls- und Zwangsgewalt sind formfreie Akte von Verwaltungsbeho È rden, die einseitig durch Befehl oder Zwang die RechtsverhaÈltnisse von Rechtsunterworfenen gestalten. Ob auch zwangsfreie Akte, die in Rechte von Betroffenen eingreifen, als Maûnahmen deutbar sind, ist umstritten. Bei Eingriffen in die RechtssphaÈre der Bu È rger darf sich der Staat nur dieser dafu È r bestimmten hoheitlichen Rechtsformen bedienen, weil ansonsten das vorgegebene Rechtsschutzsystem leer laufen wu È rde (vgl zu diesen rechtsstaatlichen Systemerfordernissen Rz 196). Bei anderen Formen des eingreifenden Verwaltungshandelns (zB o È ffentlich-rechtlichen VertraÈgen, Beurkundungen, als Gutachten qualifizierten Pru È fungsentscheidungen) muss sichergestellt sein, dass im Streitfall die Erlassung eines Bescheids moÈglich ist, damit der Rechtsschutz mobilisiert werden kann.
24.6. Auskunftspflicht und Amtsverschwiegenheit 1. Nach Art 20 Abs 3 und 4 B-VG sind die VerwaltungsbehoÈrden verfassungsrechtlich 671 zur Erteilung von Ausku È nften verpflichtet und mu È ssen sie umgekehrt die ihnen anvertrauten Amtsgeheimnisse in gewissem Umfang wahren. WaÈhrend in der traditionellen Sichtweise die Amtsverschwiegenheit als die vorrangige Pflicht angesehen wurde, betont das geltende Verfassungsrecht mit der Auskunftspflicht die TatsaÈ ffentlichkeit angelegt ist, weil che, dass in der Demokratie auch die Verwaltung auf O eine sachgerechte Information der Bu È rger und ein transparentes Verwaltungsgeschehen unerlaÈssliche Voraussetzungen fu È r eine lebendige Demokratie sind. 2. Nach Art 20 Abs 4 B-VG sind die Verwaltungsorgane zur Erteilung von Ausku È nf- 672 ten u È ber die Angelegenheiten ihres Wirkungsbereichs verpflichtet. NaÈhere Regelungen u È ber die Auskunftspflicht finden sich in Auskunftspflichtgesetzen, wobei es ein Bundes-AuskunftspflichtG und ± auf der Grundlage eines Bundes-Grundsatzgesetzes ± entsprechende AuskunftspflichtG der BundeslaÈnder gibt (AuskunftspflichtG BGBl 1987/287 idgF; Auskunftspflicht-GrundsatzG BGBl 1987/286 idgF). Diese Gesetze raÈumen den Bu È rgerinnen und Bu È rgern einen Rechtsanspruch auf die Erteilung von Ausku È nften ein, u È ber den durch Bescheid abzusprechen ist, wenn eine BehoÈrde eine von ihr begehrte Auskunft nicht erteilen mo È chte. Der Anspruch auf Auskunftserteilung besteht unabhaÈngig von einem konkreten rechtlichen Interesse dessen, der eine Auskunft begehrt; er wird aber durch gesetzliche Geheimhaltungspflichten beschraÈnkt, die sich unter anderem aus der Amtsverschwiegenheit oder der Verpflichtung zur Wahrung des Datenschutzes ergeben.
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673 Die BehoÈrden muÈssen AuskuÈnfte uÈber die Angelegenheiten ihres jeweiligen Kompetenzbe-
reichs geben, soweit dem gesetzliche Verschwiegenheitspflichten nicht entgegenstehen. Sie mu È ssen daher zB auf Anfrage Informationen u È ber ein laufendes Genehmigungsverfahren erteilen, soweit dies ohne die BeeintraÈchtigung der schutzwu È rdigen Geheimhaltungsinteressen einer Verfahrenspartei moÈglich ist, oder u È ber geplante Verwaltungsmaûnahmen informieren. Die AuskunftspflichtG sehen weitere EinschraÈnkungen der Auskunftspflicht vor (Auskunftserteilung nur, soweit dies ohne BeeintraÈchtigung der u È brigen Aufgaben der BehoÈrde moÈglich ist, keine Auskunftserteilung bei mutwilligen Anfragen usw) und sie regeln das Verfahren der Auskunftserteilung. Die Auskunftspflicht gibt keinen Anspruch auf Akteneinsicht oder u È ber die Auskunftserteilung hinausgehende Informationsanspru È che. Daher werden rechtspolitisch immer wieder weiter gehende Informationszugangsrechte gefordert, wie es sie in anderen Staaten im Rahmen von ¹Freedom of Information-Actsª (USA) gibt oder wie sie im Rahmen der EU in der Form des Dokumenteneinsichtsrechts bestehen (Art 255 EGV).
674 3. Die Amtsverschwiegenheit bezieht sich auf Geheimnisse, die einem Organwalter im Rahmen seiner amtlichen TaÈtigkeit bekannt wurden, wenn und soweit an ihrer Geheimhaltung ein u È berwiegendes Geheimhaltungsinteresse besteht. WaÈhrend in der Verwaltungspraxis oft u È bertriebene Vorstellungen u È ber den Umfang der rechtlichen Verschwiegenheitspflicht bestehen, erstreckt sie sich nach der verfassungsrechtlichen Regelung nur auf Amtsgeheimnisse, dh auf UmstaÈnde, die geheim sind; allgemein bekannte Tatsachen unterliegen nicht der Amtsverschwiegenheit. Auûerdem muss ein bestimmtes von der Verfassung in Art 20 Abs 3 B-VG angefu È hrtes qualifiziertes Geheimhaltungsinteresse vorliegen; der bloûe Umstand, dass das Bekanntwerden einer Tatsache fu È r eine BehoÈrde unangenehm oder peinlich ist, begru È ndet noch keine Verschwiegenheitspflicht. Die verfassungsrechtliche Bestimmung u È ber die Amtsverschwiegenheit wird in verschiedenen dienstrechtlichen Gesetzen wiederholt und zT naÈher ausgefu È hrt. VerstoÈûe gegen die Verschwiegenheitspflicht begru È nden eine disziplinarrechtliche und uU strafrechtliche Verantwortlichkeit (§ 310 StGB) des Organwalters. 675 a) Im Rahmen der Amtsverschwiegenheit kann eine Geheimhaltung im oÈffentlichen Inter-
È ffentliche Geheimhalesse oder im u È berwiegenden Interesse einer Partei geboten sein. O tungsinteressen liegen nach Art 20 Abs 3 B-VG vor, wenn die Geheimhaltung im Interesse der Aufrechterhaltung der o È ffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit, der umfassenden Landesverteidigung, der auswaÈrtigen Beziehungen, im wirtschaftlichen Interesse einer KoÈrperschaft des oÈffentlichen Rechts oder zur Vorbereitung einer Entscheidung geboten ist. Unter den ¹u È berwiegenden Interessen einer Parteiª sind die Geheimhaltungsinteressen der Bu È rgerinnen und Bu È rger zu verstehen, die zu wahren die Verwaltung verpflichtet ist. Ein subjektives Recht auf Wahrung der Amtsverschwiegenheit besteht nach der Judikatur nicht, wird sich aber in vielen FaÈllen aus dem Grundrecht auf Datenschutz (§ 1 DSG) ergeben (vgl Rz 1407 ff). Die Amtsverschwiegenheit besteht nach der verfassungsrechtlichen Regelung, soweit gesetzlich ¹nicht anderes bestimmt istª. Der einfache Gesetzgeber kann daher die Verschwiegenheitspflicht naÈher ausgestalten, darf sie aber nach Ansicht des VfGH nicht u È ber das verfassungsrechtlich vorgegebene Maû hinaus ausdehnen, sondern nur einschraÈnken (VfSlg 6288/1970).
676 b) Nach dem letzten Satz des Art 20 Abs 3 B-VG sind die von einem allgemeinen Vertre-
È rper bestellten FunktionaÈre diesem gegenu tungsko È ber nicht zur Amtsverschwiegenheit verpflichtet. Mitglieder einer LReg oder eines Gemeindevorstands ko È nnen sich daher der Pflicht zur Beantwortung von Interpellationen nicht unter Berufung auf die Amtsverschwiegenheit entziehen. Nach dem Wortlaut wu È rde das nicht fu È r Mitglieder der BReg gelten (die nicht vom NR gewaÈhlt werden!); dabei handelt es sich allerdings um ein Redaktionsversehen, weil man im Jahr 1929 (als die Bestellung der BReg durch den BPraÈs eingefu È hrt wurde) u È bersehen hat diese Bestimmung entsprechend anzupassen. Es ist daher davon auszugehen, dass auch die BReg die Beantwortung parlamentarischer Anfragen nicht unter Hinweis auf die Amtsverschwiegenheit verweigern darf.
3. Kapitel: Die staatliche Verwaltung
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24.7. Die Amtshilfe Im Rahmen der staatlichen Kompetenzordnung nehmen die verschiedenen Gebiets- 677 koÈrperschaften sowie die VerwaltungsbehoÈrden und die Gerichte ihre jeweiligen Aufgaben grundsaÈtzlich getrennt und unabhaÈngig voneinander wahr. Trotzdem waÈre es unsinnig, wenn es nicht zu einer Zusammenarbeit kommen wu È rde, obwohl eine VerwaltungsbehoÈrde oder ein Gericht die Arbeit einer anderen BehoÈrde unterstu È tzen koÈnnte (etwa indem Informationen bereitgestellt oder Zeugeneinvernahmen fu È r eine andere BehoÈrde durchgefu È hrt werden). Daher verpflichtet Art 22 B-VG alle Organe des Bundes, der LaÈnder und Gemeinden im Rahmen ihres gesetzmaÈûigen Wirkungsbereichs zur wechselseitigen Hilfeleistung. Diese Verpflichtung zur Amtshilfe besteht schon auf Grund der Verfassung: In ihrem Rahmen hat eine ersuchte BehoÈrde dem Ersuchen einer ersuchenden BehoÈrde Rechnung zu tragen, wobei freilich jede BehoÈrde nur im Rahmen ihres jeweiligen Wirkungsbereichs taÈtig werden darf. Im Wege der Amtshilfe koÈnnen daher bestimmte bestehende faktische Hindernisse u È berwunden werden (ein Zeuge haÈlt sich nicht im Sprengel der ersuchenden BehoÈrde auf, ein Gericht hat Informationen, die eine VerwaltungsbehoÈrde benoÈtigt usw); die ersuchte BehoÈrde muss aber abstrakt zustaÈndig sein die erbetenen Amtshandlungen durchzufu È hren (zB eine Zeugeneinvernahme vorzunehmen), ebenso wie die ersuchende BehoÈrde nur im Rahmen ihrer ZustaÈndigkeiten handeln darf. Amtshilfe ist auch zwischen Gerichten und Verwaltungsbeho Èrden sowie im Bereich der Pri- 678 vatwirtschaftsverwaltung zu leisten. Im VerhaÈltnis von Amtshilfe und Amtsverschwiegenheit ist davon auszugehen, dass bestehende Geheimhaltungspflichten und Datenschutzregelungen nicht unter Berufung auf die Hilfeleistungspflicht umgangen werden du È rfen. Fu È r die Weitergabe schutzwu È rdiger personenbezogener Daten bedarf es daher auch im zwischenbehoÈrdlichen Bereich idR einer gesetzlichen Grundlage.
25. Der BundespraÈsident Der BundespraÈsident (BPraÈs) ist nach dem B-VG ein oberstes Verwaltungsorgan 679 des Bundes, dem eine Reihe von Funktionen eines Staatsoberhaupts u È bertragen sind. In der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung dieses Amtes dru È ckt sich zunaÈchst das republikanische Grundprinzip aus: Gewisse seinerzeit vom Monarchen wahrgenommene Aufgaben wurden in der Republik einem politisch und rechtlich verantwortlichen, auf Zeit gewaÈhlten PraÈsidenten u È bertragen. Durch die Verfassungsnovelle von 1929 wurde die Position des BPraÈs gestaÈrkt, vor allem durch die Einfu È hrung der Volkswahl, welche die Legitimation des Amtes erhoÈht, und durch einen Ausbau seiner Kompetenzen. Weiter reichende PlaÈne zur Verwirklichung einer ¹PraÈsidentschaftsrepublikª konnten dagegen nicht umgesetzt werden, so dass der BPraÈs auch nach der Novelle von 1929 nur u È ber wenige politisch maûgebliche Kompetenzen verfu È gt; zugleich sind seine HandlungsmoÈglichkeiten durch das fast ausnahmslos gegebene Vorschlagsrecht der BReg weiter eingeschraÈnkt. In der Staatspraxis haben die meisten BPraÈs die ihnen zustehenden Kompetenzen nur zuru È ckhaltend ausgeu È bt. Politischen Einfluss kann der BPraÈs vor allem bei der Regierungsbildung aus- 680 u È ben, wenngleich auch hier seine SpielraÈume in der Regel praktisch eng begrenzt sind. Davon und von den FaÈllen eines Staatsnotstands abgesehen haÈngt es vom SelbstverstaÈndnis des jeweiligen Amtsinhabers und seinem o È ffentlichen Ansehen È ffentlich nutab, wieweit er die dem PraÈsidentenamt zugeschriebene AutoritaÈt o zen kann. In erster Linie kann sich dabei der BPraÈs als eine u È ber den Parteien stehende, politisch neutrale Instanz profilieren, die sich in wichtigen Fragen des po-
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Teil II. Die Staatsorganisation und die Staatsfunktionen
litischen Gemeinwesens mit Appellen, Erinnerungen oder Mahnungen zu Wort meldet. Mit den rechtlichen Kompetenzen des PraÈsidentenamtes hat das aber wenig zu tun. Im Folgenden werden zunaÈchst die verfassungsrechtlichen Bestimmungen u È ber die Bestellung des BPraÈs und seine Verantwortlichkeit behandelt, bevor auf seine Amtsfu È hrung und die Aufgaben eingegangen wird, die ihm die Verfassung zuweist.
25.1. Die Wahl und die Verantwortlichkeit des BPraÈs 681 1. Der BPraÈs wird vom Bundesvolk in direkter Volkswahl gewaÈhlt (Art 60 Abs 1 B-VG). GewaÈhlt ist, wer mehr als die HaÈlfte aller gu È ltigen Stimmen auf sich vereinigt; ergibt sich bei mehreren Wahlwerbern keine solche Mehrheit, ist in einem zweiten Wahlgang eine Stichwahl durchzufu È hren, zu der nur mehr jene beiden Kandidaten antreten koÈnnen, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten haben. Wenn sich nur ein Wahlwerber der PraÈsidentschaftswahl stellt ± was haÈufig dann der Fall ist, wenn sich ein amtierender BPraÈs um eine weitere Funktionsperiode bewirbt ±, kann keine ¹Wahlª stattfinden; in einem solchen Fall wird dem Volk die Frage zur Abstimmung vorgelegt, ob der Bewerber das PraÈsidentenamt bekleiden soll (bzw fu È r eine weitere Funktionsperiode bekleiden soll). a) Um das Amt des BPraÈs kann sich bewerben, wer das Wahlrecht zum NR besitzt und das 35. Lebensjahr vollendet hat. Ausgeschlossen von der WaÈhlbarkeit sind Mitglieder regierender HaÈuser und solcher Familien, die ehemals regiert haben. b) Wahlberechtigt sind alle Bu È rgerinnen und Bu È rger, die das Wahlrecht zum NR besitzen. Die naÈheren Bestimmungen u È ber die BPraÈs-Wahl finden sich im BundespraÈsidentenwahlG 1971 BGBl 57 idgF. Fu È r die Wahl gelten die gleichen WahlrechtsgrundsaÈtze wie fu È r die Wahlen zu den allgemeinen VertretungskoÈrpern (vgl Rz 514 ff).
682 2. Die Funktionsperiode des BPraÈs betraÈgt 6 Jahre. Da (nur) eine einmalige Wiederwahl zulaÈssig ist, kann ein BPraÈs maximal zwei Funktionsperioden im Amt bleiben (Art 60 Abs 5 B-VG). 683 3. Der BPraÈs ist fu È r seine Amtsfu È hrung rechtlich und politisch verantwortlich. Rechtlich ist er fu È r die Einhaltung der Bundesverfassung verantwortlich und er kann wegen der Verletzung verfassungsrechtlicher Bestimmungen durch Beschluss der Bundesversammlung vor dem VfGH angeklagt werden (Art 68, 142 Abs 2 lit a B-VG). Seine politische Verantwortlichkeit wird durch die MoÈglichkeit einer vorzeitigen Absetzung durch eine Volksabstimmung begru È ndet, wobei eine solche Volksabstimmung freilich nur durchzufu È hren ist, wenn es die Bundesversammlung verlangt; die Einberufung der Bundesversammlung setzt einen mit 2/3-Mehrheit gefassten Beschluss des NR voraus (Art 60 Abs 6 B-VG). Dem BPraÈs kommt eine umfassende ImmunitaÈt zu, seine behoÈrdliche Verfolgung ist nur mit Zustimmung der Bundesversammlung zulaÈssig (Art 63 B-VG). a) Die in diesen Bestimmungen erwaÈhnte Bundesversammlung ist ein allgemeiner VertretungskoÈrper, der aus den Mitgliedern von NR und BR besteht, die zur gemeinsamen oÈffentlichen Sitzung zusammentreten. Abgesehen von den oben erwaÈhnten Aufgaben (Anklage des BPraÈs, Anberaumung einer Volksabstimmung u È ber die Absetzung des BPraÈs), der Angelobung des BPraÈs und der Zustimmung zu seiner beho È rdlichen Verfolgung, liegt die einzige weitere Kompetenz der Bundesversammlung in der Beschlussfassung u È ber eine KriegserklaÈrung (Art 38±40 B-VG). b) Anders als die Mitglieder der BReg, die fu È r jede Gesetzwidrigkeit haften, ist der BPraÈs nur fu Èr die Verletzung von verfassungsgesetzlichen Bestimmungen verantwortlich; da seine Aufgaben durchwegs durch das B-VG umschrieben werden, faÈllt dieser Unterschied nicht ins Gewicht. Die Anklageerhebung durch die Bundesversammlung setzt eine 2/3-Mehrheit voraus. Die Geltendmachung der politischen Verantwortlichkeit liegt nach der in Art 60 Abs 6
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B-VG getroffenen Regelung in erster Linie bei der qualifizierten Mehrheit des NR, weil das Volk im Wege einer Volksabstimmung nur dann zu befassen ist, wenn der NR einen entsprechenden Antrag an die Bundesversammlung stellt und diese sie verlangt. Wenn in einer solchen Abstimmung das Volk die Absetzung ablehnt, sich also fu È r den amtierenden BPraÈs ausspricht, kommt das einem ¹Misstrauensvotumª gegenu È ber dem NR gleich; daher ordnet Art 60 Abs 6 B-VG an, dass in einem solchen Fall der NR aufgeloÈst ist und Neuwahlen auszuschreiben sind. Der BPraÈs gilt bei einem solchen Ausgang der Volksabstimmung als neu gewaÈhlt. In der bisherigen Staatspraxis ist es weder zu einer Anklage noch zu einer Volksabstimmung u È ber die Absetzung des BPraÈs gekommen. c) Ein freiwilliger Ru È cktritt des BPraÈs ist nicht vorgesehen, aber zulaÈssig, da ohne entsprechende rechtliche Verpflichtung niemand gezwungen werden kann ein Amt gegen seinen Willen weiter auszuu È ben.
25.2. Die Amtsfu È hrung des BPraÈs 1. Bei der Wahrnehmung seiner Kompetenzen handelt der BPraÈs ± von wenigen 684 Ausnahmen abgesehen ± nicht auf Grund eigener Initiative, sondern ist auf VorschlaÈge der Regierung angewiesen: Nach Art 67 B-VG erfolgen alle Akte des BPraÈs, sofern nicht verfassungsgesetzlich anderes bestimmt ist, auf Vorschlag der BReg oder des von ihr ermaÈchtigten BM. Auûerdem bedu È rfen alle Akte des BPraÈs der Gegenzeichnung des BK oder des zustaÈndigen BM, wiederum sofern nicht verfassungsgesetzlich eine Ausnahme vorgesehen ist. Durch Vorschlag und Gegenzeichnung wird sichergestellt, dass der BPraÈs im Einvernehmen mit der BReg handelt; weil er im Prinzip keine eigenstaÈndigen politischen Entscheidungen treffen, sondern lediglich antragsgemaÈû handeln darf, hat man den BPraÈs auch als ¹Gefangenen der BRegª bezeichnet. a) Liegt ein Vorschlag der BReg vor, muss ihm der BPraÈs allerdings nicht unbedingt Folge leisten und kann auch den vorgeschlagenen Akt (zB die Ernennung eines Verfassungsrichters oder den Abschluss eines Staatsvertrags) unterlassen, wenn er dagegen begru È ndete Bedenken hat. Erstattet die BReg keinen anderen Vorschlag, kommt der Akt nicht zu Stande. Auf diese Weise kann der BPraÈs doch einen gewissen Einfluss auf Entscheidungen nehmen, die er auf Vorschlag der BReg zu treffen hat. b) Bei der Ausu È bung ihres Vorschlagsrechts koÈnnen BReg oder BM auch an VorschlaÈge anderer Stellen gebunden sein (Art 67 Abs 1 B-VG).
In gewissen FaÈllen ist ein Vorschlag der BReg nicht erforderlich, so dass der 685 BPraÈs auf Grund eigener Initiative handeln kann. Der wichtigste Fall, in dem keine Bindung an einen Vorschlag der BReg besteht, betrifft die Ernennung des BK sowie die Entlassung des BK oder der gesamten BReg (Art 70 Abs 1 B-VG). In anderen FaÈllen sieht die Verfassung VorschlaÈge anderer Stellen vor: Gesetzesbeschlu È sse des NR werden dem BPraÈs vom BK zur Beurkundung vorgelegt, der NR ist zu einer auûerordentlichen Tagung auf Verlangen eines Drittels seiner Mitglieder einzuberufen, eine gewisse Anzahl von Mitgliedern des VfGH werden auf Vorschlag von NR und BR ernannt usw. Durch die Gegenzeichnung u È bernimmt die BReg bzw ein BM die Mitverantwor- 686 tung fu È r den vom BPraÈs gesetzten Akt, was etwa bei der Geltendmachung der rechtlichen und politischen Ministerverantwortlichkeit eine Rolle spielen kann. In einzelnen FaÈllen sieht die Verfassung vor, dass eine Gegenzeichnung nicht erforderlich ist (zB Entlassung der BReg oder einzelner ihrer Mitglieder) oder dass die Gegenzeichnung durch eine andere Stelle erfolgt (zB Abschluss von StaatsvertraÈgen der LaÈnder unter Gegenzeichnung durch den LH). 2. Als oberstes Verwaltungsorgan ist der BPraÈs weisungsfrei. Fu È r die Fu È hrung sei- 687 ner AmtsgeschaÈfte ist ihm die PraÈsidentschaftskanzlei unterstellt. Soweit der BPraÈs
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Teil II. Die Staatsorganisation und die Staatsfunktionen
als VerwaltungsbehoÈrde des Bundes individuelle hoheitliche Entscheidungen trifft, handelt es sich bei diesen Erledigungen um Bescheide; Verordnungen des BPraÈs werden als ¹Entschlieûungenª bezeichnet. In der Praxis werden die Verwaltungsakte des BPraÈs haÈufig in der Form so genannter ¹Intimationsbescheideª erlassen: Wenn zB der BPraÈs im Rahmen seiner Kompetenzen einen Beamten ernennt, wird der Bescheid ¹intimiertª, dh dem Adressaten durch einen Bescheid des ressortmaÈûig zustaÈndigen BM mitgeteilt.
688 3. Art 64 B-VG trifft Regelungen fu È r den Fall, dass der BPraÈs an der Ausu È bung seines Amtes verhindert ist. Bei einer kurzfristigen Verhinderung (bis zur Dauer von 20 Tagen) ist der BK zu seiner Vertretung befugt. Dauert die Verhinderung laÈnger (zB laÈngere Krankheit) oder ist das Amt des BPraÈs dauerhaft erledigt (zB Tod oder Ru È cktritt des Amtsinhabers), geht die Vertretungsbefugnis auf die drei PraÈsidenten des NR als Kollegium u È ber. Ob ein Fall der Verhinderung bzw dauerhaften Amtserledigung vorliegt, haben die jeweils zur Vertretung befugten Organe (BK bzw PraÈsidenten des NR) selbst festzustellen. Ein Aufenthalt in einem anderen EU-Mitgliedstaat gilt nicht als Verhinderung.
25.3. Die Aufgaben des BPraÈs Die Aufgaben des BPraÈs werden durch das B-VG abschlieûend geregelt. Man kann sie nach ihrer inhaltlichen Bedeutung in mehrere Gruppen einteilen. 689 1. Mitwirkung an der Staatsfu È hrung: Die Verfassung weist dem BPraÈs einige politisch bedeutsame Aufgaben zu, die fu È r das Funktionieren des parlamentarischen Regierungssystems und das Zusammenspiel der obersten Staatsorgane im Sinn des verfassungsrechtlichen Systems von ¹checks and balancesª wichtig sind. Dazu gehoÈren: . Die Aufgaben des BPraÈs bei der so genannten Kabinettsbildung, dh bei der Bildung und Entlassung der BReg. Auf die Einzelheiten dieses Vorgangs wird im naÈchsten Abschnitt eingegangen (vgl Rz 697 ff). È sung von NR oder LT: Mit dieser Kompetenz u . Die Auflo È bertraÈgt die Verfassung dem BPraÈs die Verantwortung fu È r politische Krisensituationen, weil er durch die AufloÈsung der Parlamente im Bund bzw in den LaÈndern den Weg zu Neuwahlen ebnen kann. Die AufloÈsung ist freilich nur auf Antrag der BReg moÈglich, aber da es der BPraÈs in der Hand hat, eine ihm verbundene BReg ins Amt zu berufen, gibt ihm diese Kompetenz eine betraÈchtliche Machtfu È lle (von der freilich bisherige BPraÈs, von einem einzigen Fall in der 1. Republik abgesehen, noch nicht Gebrauch gemacht haben). . Die Beurkundung von BG: Durch die Beurkundung wirkt der BPraÈs an der Bundesgesetzgebung mit und u È bernimmt eine Mitverantwortung fu È r das ordnungsgemaÈûe Zustandekommen von Gesetzen (vgl zu den Einzelheiten Rz 626). . Ernennung der Mitglieder von VfGH und VwGH: Auf Grund von VorschlaÈgen unterschiedlicher Stellen (BReg, NR, BR) ernennt der BPraÈs die Mitglieder der GerichtshoÈfe des oÈffentlichen Rechts. 690 2. Funktionen als Staatsoberhaupt: Der BPraÈs nimmt eine Reihe von Aufgaben wahr, die staatsrechtlich betrachtet typische Funktionen eines Staatsoberhaupts sind: È sterreich nach auûen: Dazu gehoÈrt etwa der Emp. Vertretung der Republik O fang und die Beglaubigung von Botschaftern, die RepraÈsentation bei Staatsbesuchen, usw. . Abschluss von StaatsvertraÈgen: Gewisse (bedeutsamere) StaatsvertraÈge werden vom BPraÈs abgeschlossen (ratifiziert), den Abschluss weiterer StaatsvertraÈge
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(Regierungsabkommen, Ressortabkommen, Verwaltungsabkommen) hat der BPraÈs durch eine Entschlieûung nach Art 66 Abs 2 B-VG an die BReg bzw die zustaÈndigen Ressortminister u È bertragen (vgl zum Abschluss von StaatsvertraÈgen Rz 261). . Begnadigungen sowie die Legitimation unehelicher Kinder: Begnadigungen im Einzelfall und weitere individuelle Gnadenakte sowie die ErklaÈrung unehelicher Kinder zu ehelichen sind gewisse traditionelle Vorrechte des BPraÈs, die historisch ebenfalls mit seiner Stellung als Staatsoberhaupt zusammenhaÈngen und auf die Monarchie zuru È ckgehen. . GewaÈhrung von Ehrenrechten: Nach verschiedenen besonderen Gesetzen verleiht der BPraÈs Ehrenrechte, Orden und Berufstitel. . Ernennungen: Soweit diese Befugnis nicht an den zustaÈndigen BM bzw an nachgeordnete Organe u È bertragen wurde, ernennt der BPraÈs die Bundesbeamten (Art 66 Abs 1 B-VG), was praktisch nur bei hoÈheren Beamten der Fall ist. 3. Oberbefehl u È ber das Bundesheer: Der BPraÈs ist Vorgesetzter aller Bundes- 691 heerangehoÈrigen einschlieûlich des BM fu È r Landesverteidigung (vgl zum Bundesheer Rz 737 ff). 4. Funktionen im Notstandsfall: In Kriegs- und in anderen KrisenfaÈllen kommen 692 dem BPraÈs eine Reihe von Notstandsfunktionen zu. So kann er den Sitz des NR an einen Ort auûerhalb Wiens verlegen, wenn das auûerordentliche VerhaÈltnisse erforderlich machen (Art 25 Abs 2 B-VG). Vor allem u È bertraÈgt ihm das B-VG ein Notverordnungsrecht, auf dessen Grundlage vorlaÈufige gesetzaÈndernde VO erlassen werden koÈnnen, wenn der rechtzeitige Erlass notwendiger Gesetze wegen einer Behinderung des Parlaments durch Akte hoÈherer Gewalt (zB kriegerische Handlungen, schwere Katastrophen) nicht mo È glich ist. Solche NotVO, welche die Kraft von Gesetzen haben, stellen einen Fall einer ¹Regierungsgesetzgebungª dar. Das Notverordnungsrecht nach Art 18 Abs 3±5 B-VG ist mehrfach begrenzt, um einem Missbrauch dieser Befugnis entgegenzuwirken: NotVO ko Ènnen erlassen werden, wenn der NR nicht zusammentreten kann und die sofortige Erlassung von Maûnahmen zur Abwehr von SchaÈden erforderlich ist. Die Erlassung der NotVO durch den BPraÈs setzt einen Vorschlag der BReg voraus, der von der Regierung im Einvernehmen mit dem staÈndigen Unterausschuss des Hauptausschusses des NR zu erstatten ist. NotVO koÈnnen gesetzaÈndernd wirken, sie du È rfen aber keine bundesverfassungsgesetzlichen Bestimmungen abaÈndern und keine dauernde finanzielle Belastung der GebietskoÈrperschaften oder der Staatsbu È rger bewirken (zu weiteren Schranken vgl Art 18 Abs 5 B-VG). Nach ihrer Erlassung sind sie unverzu È glich dem NR vorzulegen; wenn dieser kein entsprechendes Gesetz beschlieût, kann er verlangen, dass die NotVO von der BReg unverzu È glich auûer Kraft gesetzt wird.
26. Die Bundesregierung und die Bundesminister 1. An der Spitze der Verwaltung des Bundes stehen mehrere Organe, die einander 693 grundsaÈtzlich gleichgeordnet sind und die jeweils die Stellung eines ¹obersten Organsª innehaben, dh sie sind weisungsfrei und TraÈger der entsprechenden Leitungsgewalt. Das sind: die Bundesregierung (BReg) als Kollegialorgan, sodann die einzelnen Bundesminister (BM) als monokratische Organe jeweils fu È r sich gesehen und schlieûlich der BundespraÈsident (BPraÈs), der, wie dargestellt, ebenfalls gewisse Verwaltungsfunktionen als oberstes Organ ausu È bt (Art 69 B-VG). Keine obersten Organe sind die den BM beigegebenen und an deren Weisungen gebundenen StaatssekretaÈre. 2. Im Rahmen des parlamentarischen Regierungssystems sind die Regierung 694 und die einzelnen Minister vom fortwaÈhrenden Vertrauen des Parlaments abhaÈngig,
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diesem gegenu È ber politisch und rechtlich verantwortlich und seiner Kontrolle unterworfen. Darin dru È ckt sich der Vorrang der unmittelbar vom Volk durch die Wahl legitimierten Volksvertretung aus, waÈhrend die BReg nur mittelbar ± durch das Vertrauen des Parlaments ± demokratisch legitimiert ist. In der politischen RealitaÈt haben sich freilich die Gewichte vom Parlament zur Regierung verschoben. Sie stellt die politisch handlungsfaÈhige Fu È hrungsspitze des Bundes dar, von der unter der Leitung des BK die entscheidenden politischen Initiativen ausgehen und die sich auch mit ihren Leistungen und VersaÈumnissen dem periodischen Urteil der WaÈhler stellt. 695 3. Die Regierung ist nach dem VerstaÈndnis des B-VG zwar ein oberstes Verwaltungsorgan und wie die u È brigen VerwaltungsbehoÈrden Teil der Staatsfunktion Verwaltung. Trotzdem unterscheidet sich die Regierung von anderen ¹normalenª Verwaltungsbeho È rden, weil ihr die oberste Leitungsgewalt u È bertragen ist und weil es ihre Sache ist, politische Initiativen zu entwickeln und gemeinsam mit dem Parlament zu verwirklichen. Insofern stellt die Regierung das dynamische Element im Aufbau des Staates dar: Obwohl sie dem Parlament gegenu È ber verantwortlich und an das Gesetz gebunden ist, handelt sie in vielen Bereichen relativ frei und ist zur eigenverantwortlichen politischen Gestaltung berufen. Man spricht in diesem Zusammenhang von ¹Regierungsaktenª, wenn man sich auf Handlungen der Regierung bezieht, die ihre Grundlage in der Verfassung haben und fu È r die eine spezielle gesetzliche Grundlage nicht erforderlich ist. Typische Regierungsakte sind etwa: die auf die Erlassung eines Gesetzes gerichtete Einbringung einer Regierungsvorlage, die Fu È hrung von Verhandlungen im Rahmen der EU oder die Unterzeichnung eines Staatsvertrags. Indem die Verfassung der BReg die entsprechenden Kompetenzen zuweist, akzeptiert sie auch, dass die Regierung diese GeschaÈfte eigenverantwortlich fu È hrt. Auûenwirksames hoheitliches Handeln bedarf aber einer entsprechenden gesetzlichen ErmaÈchtigung.
26.1. Die Bestellung und Abberufung der BReg È rde, die sich aus dem BK, dem Vizekanzler und 696 1. Die BReg ist eine Kollegialbeho den einzelnen BM zusammensetzt. Seit der Verfassungsnovelle von 1929 werden die Mitglieder der BReg nicht mehr ± wie es einem typischen parlamentarischen Regierungssystem entsprechen wu È rde ± vom NR gewaÈhlt, sondern vom BPraÈs ernannt. Die in der Ursprungsfassung des B-VG vorgesehene Wahl brachte die AbhaÈngigkeit der RegieÈ bertragung der Kompetenz zur rung vom Parlament noch deutlicher zum Ausdruck. Die U Ernennung auf den BPraÈs sollte demgegenu È sterreiÈ ber die Exekutive staÈrken; sie naÈhert das o chische Regierungssystem auf Bundesebene an die VerhaÈltnisse in einer PraÈsidentschaftsrepublik an, ohne dass es sich freilich um eine solche handelt, weil die Regierung ± anders als in einer PraÈsidentschaftsrepublik ± politisch auf das fortwaÈhrende Vertrauen des Parlaments angewiesen ist, das durch ein Misstrauensvotum die Absetzung der Regierung herbeifu È hren kann. Beachte dagegen die VerhaÈltnisse auf Landesebene, wo die Wahl der LReg durch den LT beibehalten wurde.
697 2. Die Berufung einer neuen BReg erfolgt in der Regel nach der Neuwahl eines NR, als deren Folge die bisherige BReg zuru È cktritt bzw nur mehr als provisorische Regierung mit der Fortfu È hrung der AmtsgeschaÈfte betraut wird. Verfassungsrechtlich zwingend waÈre ein solcher Ru È cktritt freilich nicht, vielmehr handelt es sich dabei nur um eine regelmaÈûig beachtete politische Konvention. Ausgangspunkt fu È r die Regierungs- oder Kabinettsbildung ist die parteipolitische Konstellation nach der erfolgten Neuwahl. Der BPraÈs hat zunaÈchst auf der Grundlage der politischen MehrheitsverhaÈltnisse einen ¹designierten Bundeskanzlerª mit der Aufgabe der Bil-
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dung einer neuen BReg zu betrauen. Wenn sich auf der Grundlage der von diesem gefu È hrten Verhandlungen eine bestimmte Regierungskonstellation abzeichnet, ernennt der BPraÈs den BK und auf dessen Vorschlag die u È brigen Mitglieder der BReg (Art 70 B-VG). Bei der Bestellung des BK bedarf der BPraÈs keines Vorschlags und er ist verfas- 698 sungsrechtlich auch sonst nicht gebunden, dh er koÈnnte theoretisch jede Person seines Vertrauens ernennen. Den politischen Konventionen und der pflichtgemaÈûen Verantwortlichkeit seines Amtes entspricht es aber, dass der BPraÈs einen Politiker zum BK ernennt, von dem er annehmen kann, dass er eine mehrheitsfaÈhige BReg zu Stande bringen wird, die voraussichtlich das Vertrauen des NR findet. In der Regel wird das daher der Fu È hrer jener politischen Partei sein, welche in der erfolgten Wahl die Mandatsmehrheit errungen hat, oder jener Politiker, auf den sich mehrere politische Parteien in erfolgreichen Koalitionsverhandlungen verstaÈndigt haben. a) Fu È r die Ernennung des BK ist, wie bereits gesagt, kein Vorschlag erforderlich. Die u È brigen Mitglieder der BReg werden dem BPraÈs vom neu ernannten BK zur Ernennung vorgeschlagen, der auch die Ernennungsdekrete gegenzeichnet. Einzige formelle Voraussetzung fu È r die Ernennung zum Mitglied der BReg ist das passive Wahlrecht zum NR (Art 70 Abs 2 B-VG). b) Die Zahl der Mitglieder der BReg ist verfassungsrechtlich nicht geregelt. Durch das BundesministerienG (BMG) wird die Zahl der Bundesministerien einfachgesetzlich festgelegt und im Allgemeinen wird fu È r die Leitung eines jeden Bundesministeriums ein BM ernannt. Es ist aber auch moÈglich, einen BM mit der Leitung eines weiteren Ressorts (dh zweier Bundesministerien) zu betrauen (Art 77 Abs 4 B-VG) oder einen BM ¹ohne Portefeuilleª zu bestellen, dh einen BM zu ernennen, der nicht gleichzeitig mit der Leitung eines Bundesministeriums betraut wird (Art 78 Abs 1 B-VG). Schlieûlich sieht Art 77 Abs 3 B-VG auch die Ernennung so genannter ¹Kanzleramtsministerª vor, dh die Bestellung eines BM fu È r die sachliche Leitung bestimmter zum Wirkungsbereich des Bundeskanzleramts gehoÈrender Angelegenheiten (die an sich dem BK zugewiesen sind). c) Die politische Zusammensetzung der BReg ist verfassungsrechtlich offen. Es haÈngt vom Ausgang der NR-Wahl bzw von allfaÈlligen Koalitionsverhandlungen ab, ob die BReg eine ¹Alleinregierungª einer Partei ist, welche u È ber eine absolute Mandatsmehrheit im NR verfu È gt, ob es sich um eine ¹Groûe Koalitionª oder um eine ¹Kleine Koalitionª handelt oder ob eine ¹Minderheitsregierungª bestellt wird, dh eine Regierung, die sich auf keine verlaÈssliche Mehrheit im NR stu È tzen kann, aber von ihm gleichsam ¹geduldetª wird, was so lange moÈglich ist, als sich keine Mehrheit fu È r ein Misstrauensvotum findet. Denkbar waÈre auch die Bestellung einer ¹Beamtenregierungª, der keine Berufspolitiker angehoÈren, wie das unter auûergewo È hnlichen VerhaÈltnissen mitunter erwogen wird.
3. Die Mitglieder der neu bestellten BReg werden vor Antritt ihres Amtes vom BPraÈs 699 angelobt. In der Folge muss sich die BReg dem NR ¹vorstellenª; wenn die Ernennung zu einer Zeit erfolgt, in welcher der NR nicht tagt, hat der BPraÈs den NR zu einer auûerordentlichen Tagung einzuberufen (Art 70 Abs 3 B-VG). Zweck der vorgeschriebenen ¹Vorstellungª vor dem NR ist es diesem Gelegenheit zu geben, gegenu È ber der neu bestellten BReg Position zu beziehen. Wu È rde sie nicht von der politischen Mehrheit im NR (Mehrheitspartei oder Parteienkoalition) getragen werden, koÈnnte der NR der BReg das Misstrauen aussprechen (Art 74 Abs 1 B-VG) und der BPraÈs mu È sste die Regierungsmitglieder wieder ihres Amtes entheben. Auf diese Weise sichert die Vorstellung das Funktionieren des parlamentarischen Regierungssystems und stellt sicher, dass sich auf Dauer keine Regierung im Amt halten kann, die nicht die Unterstu È tzung der Nationalratsmehrheit hinter sich hat. 4. Die BReg hat keine bestimmte festgelegte Funktionsperiode. Ihre Mitglieder blei- 700 ben im Amt, solange sie nicht vom BPraÈs entlassen werden. Eine solche Entlassung kann im Rahmen einer Regierungsumbildung erfolgen, wenn der BK dem BPraÈs die Entlassung einzelner Minister und die Ernennung neuer Personen vorschlaÈgt. In einem solchen Fall ist fu È r die Entlassung ein Vorschlag des BK erforderlich, der es da-
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mit in der Hand hat, auf die Zusammensetzung ¹seinerª Regierung einen entsprechenden Einfluss zu nehmen. 701 Fu È r die Entlassung des BK oder der gesamten BReg ist dagegen kein Vorschlag erforderlich. Das laÈuft darauf hinaus, dass der BPraÈs u È ber die MoÈglichkeit verfu È gt, die TaÈtigkeit einer bestimmten Regierung zu beenden und eine neue Regierung seines Vertrauens zu bestellen. Damit ist dem BPraÈs ein auûerordentliches Machtmittel in die HaÈnde gegeben, vor allem wenn man diese Kompetenz im Zusammenhang mit der MoÈglichkeit sieht gleichzeitig den NR aufzuloÈsen, was zwangslaÈufig zu Neuwahlen fu È hrt (Art 29 Abs 1 B-VG). Im Ergebnis laÈuft dies auf einen ¹Appell an das Volkª hinaus, den der BPraÈs als ein Faktor im verfassungsrechtlichen System von ¹checks and balancesª erzwingen kann, wenn es Gru È nde dafu È r gibt anzunehmen, dass eine BReg und die sie tragende politische Mehrheit nicht mehr u È tige LegiÈ ber die no timation verfu È gen.
702 Schlieûlich muss der BPraÈs die gesamte BReg oder einen einzelnen BM vom Amt entheben, wenn der NR der BReg oder einem BM durch eine ausdru È ckliche Entschlieûung das Misstrauen ausspricht. Ein Misstrauensvotum kommt nur zu Stande, wenn sich eine Mehrheit des NR bei Anwesenheit der HaÈlfte seiner MitglieÈ berrumpelung durch eine Augenblicksmehrheit zu der dafu È r ausspricht; um eine U verhindern ist vorgesehen, dass die Abstimmung u È ber das Misstrauensvotum auf den zweitnaÈchsten Tag vertagt wird, wenn es ein Fu È nftel der Abgeordneten verlangt. Kommt ein Misstrauensvotum mit der erforderlichen Mehrheit zu Stande, muss der BPraÈs die Amtsenthebung vornehmen. Unter normalen VerhaÈltnissen wird die Mehrheitsfraktion oder eine Koalition von Parteien freilich keinen Grund haben ¹ihrerª Regierung das Misstrauen auszusprechen; die Opposition haÈtte zwar ein Interesse, sie wird aber in der Regel keine Mehrheit fu È r die von ihr eingebrachten MisstrauensantraÈge finden. Trotzdem ist das Misstrauensvotum ein notwendiges Instrument im Rahmen eines parlamentarischen Regierungssystems, weil nur so sichergestellt ist, dass nur solche Regierungen ernannt werden und im Amt bleiben ko È nnen, die sich auf eine Mehrheit im NR stu È tzen.
703 5. Abgesehen von der Entlassung im Zuge einer Regierungsumbildung oder eines Misstrauensvotums ist es u È blich, dass eine BReg nach einer erfolgten NR-Wahl zuru È cktritt. Bis zur Bildung einer neuen BReg hat der BPraÈs die Mitglieder der scheidenden BReg als ¹einstweilige BRegª mit der weiteren Fortfu È hrung der GeschaÈfte zu betrauen (Art 71 B-VG). Bei komplizierten Regierungsbildungen kann eine solche provisorische BReg uU auch laÈngere Zeit im Amt bleiben; sie hat die gleiche rechtliche Stellung wie eine definitive Regierung. 704 Neben der Entlassung oder durch Ru È cktritt endet das Amt eines BM bei einer entsprechenden Verurteilung durch den VfGH (Art 142 Abs 2 lit b oder lit c B-VG) oder bei einer strafgerichtlichen Verurteilung nach § 27 Abs 1 iVm § 74 Abs 1 Z 4 StGB.
26.2. Die Rechtsstellung und Verantwortlichkeit der Mitglieder der BReg 705 1. Wie die einzelnen Mitglieder der BReg in ihr Amt berufen werden, wurde bereits dargestellt. Fu È r die Regierungsmitglieder gibt es InkompatibilitaÈtsregelungen: Politisch unvereinbar ist die gleichzeitige Bekleidung des Amtes des BPraÈs, des PraÈsidenten des RH oder die Mitgliedschaft in einem HoÈchstgericht (OGH, VwGH, VfGH). Weitere wirtschaftliche Unvereinbarkeiten ergeben sich aus dem UnvereinbarkeitsG, vor allem du È rfen Regierungsmitglieder bestimmte leitende Funktionen in der Wirtschaft nicht weiter ausu È ben und ist ihnen auch die Fortfu È hrung eines anderen Berufes im Prinzip untersagt (vgl §§ 2 ff UnvG).
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2. Als oberste Organe sind die einzelnen Mitglieder der BReg einander gleichge- 706 stellt und an keine Weisungen gebunden. Auch der BK hat, sieht man vom Vorsitz in der BReg ab, keine den anderen Regierungsmitgliedern u È bergeordnete Stellung (er ist ¹primus inter paresª). Nach dem BMG sind dem Bundeskanzleramt mit dem BK an der Spitze zwar die Vorbereitung der allgemeinen Regierungspolitik sowie das Hinwirken auf die Einheitlichkeit der allgemeinen Regierungspolitik und auf ein einheitliches Zusammenarbeiten der BM anvertraut; diese Koordinierungsbefugnis zieht aber keine Weisungsrechte gegenu È ber den u È brigen Regierungsmitgliedern und auch keine ¹Richtlinienkompetenzª nach sich. In der politischen RealitaÈt kommt dem BK in aller Regel freilich eine erhebliche Machtfu È lle zu, vor allem weil er meist auch Fu È hrer der Mehrheitspartei ist. Die Verfassung staÈrkt seine Position insofern, als er jederzeit die Abberufung eines Regierungsmitglieds durch den BPraÈs veranlassen kann.
3. Die Mitglieder der BReg sind dem NR und dem BR rechtlich und politisch ver- 707 antwortlich und sie unterliegen der parlamentarischen Kontrolle. Die politische Verantwortlichkeit (politische Ministerverantwortlichkeit) ist umfassend und sie erstreckt sich auf alle Aspekte der Amtsfu È hrung, auch auf Fragen der politischen ZweckmaÈûigkeit und Klugheit, auf VersaÈumnisse und MissstaÈnde im jeweiligen Ressortbereich und die persoÈnliche IntegritaÈt eines BM. Sie kann mit den Instrumenten der politischen Kontrolle geltend gemacht werden, dh durch Interpellationen, durch die Einsetzung von Untersuchungsausschu È ssen oder durch Resolutionen. Die schaÈrfste Sanktion fu È r ein politisches Fehlverhalten ist das Misstrauensvotum, das, wenn es die parlamentarische Mehrheit findet, den BPraÈs dazu zwingt den BM des Amtes zu entheben (Art 74 B-VG). Die rechtliche Verantwortlichkeit (rechtliche Ministerverantwortlichkeit) er- 708 streckt sich auf die RechtmaÈûigkeit der Amtsfu È hrung. Nach Art 76 iVm 142 Abs 2 lit b B-VG kann ein Mitglied der BReg wegen schuldhafter Gesetzesverletzung durch einen Beschluss des NR beim VfGH angeklagt werden. Eine solche Ministeranklage fu È hrt im Fall einer Verurteilung zum Amtsverlust (vgl zum Verfahren nach Art 142 B-VG Rz 1144 f). È sterreichischen Vertreters im Der Ministeranklage nachgebildet ist die Anklage eines o Rat, der idR ein BM sein wird, wegen Gesetzesverletzung, wobei hier der Anklagebeschluss entweder vom NR oder durch gleichlautende Beschlu È sse der LT gefaÈllt werden mu È sste (Art 142 Abs 2 lit c B-VG).
4. Die Mitglieder der BReg haben das Recht an den Verhandlungen von NR und 709 BR teilzunehmen und dort das Wort zu ergreifen. Umgekehrt koÈnnen NR und BR die Anwesenheit eines Regierungsmitglieds verlangen (so genanntes Zitationsrecht).
26.3. Die GeschaÈftsfu È hrung der BReg und ihre Aufgaben È rde ist, werden ihre GeschaÈfte 710 1. Weil die BReg eine kollegiale Verwaltungsbeho im Wege der kollegialen Willensbildung gefu È hrt. Dazu tritt die BReg als so genannter Ministerrat zusammen, die von ihr gefassten Beschlu È sse (zB u È ber eine Regierungsvorlage) werden als Ministerratsbeschlu È sse bezeichnet. Den Vorsitz in der BReg fu È hrt der BK. Die BReg ist beschlussfaÈhig, wenn mehr als 711 die HaÈlfte ihrer Mitglieder anwesend ist (Art 69 Abs 3 B-VG). Ob es wegen dieser Bestimmung zulaÈssig ist, dass die BReg schriftliche Beschlu È sse im Umlaufweg fasst, wie es in der Praxis vorkommt, ist umstritten. WaÈhrend es u È ber das notwendige PraÈsenzquorum die eben angefu È hrte ausdru È ckliche Regelung gibt, fehlt im B-VG eine Bestimmung u È ber die Mehrheitserfordernisse fu È r einen gu È ltigen Beschluss der BReg. Die staÈndige Praxis geht davon aus, dass Beschlu È sse der BReg nur einstimmig ge-
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fasst werden koÈnnen, dh dass ein Ministerratsbeschluss nicht zu Stande kommt, wenn ein anwesender Minister seine Zustimmung verweigert. a) Wie das Einstimmigkeitserfordernis fu È r Beschlu È sse der BReg begru È ndet werden kann, ist umstritten. Man wird davon ausgehen mu È ssen, dass es sich um einen der seltenen FaÈlle handelt, in dem Verfassungsgewohnheitsrecht existiert. Die praktische politische Bedeutung dieser Regel ist groû, vor allem wenn es sich um eine Koalitionsregierung handelt: In solchen FaÈllen mu È ssen sich die Regierungsparteien jedenfalls einigen, wenn sie etwa Gesetzesvorlagen einbringen oder andere wichtige Entscheidungen (zB Personalentscheidungen) treffen sollen, die eines Ministerratsbeschlusses bedu È rfen; in einem solchen Fall hat jeder Koalitionspartner bzw jeder Minister die MoÈglichkeit, durch seine Gegenstimme eine Beschlussfassung in der BReg zu blockieren. b) Abwesende BM ko È nnen ihre Stimme einem anderen BM u È bertragen, jedoch darf einem BM nur eine weitere Stimme u È bertragen werden (Art 73 Abs 3 B-VG).
712 2. Das B-VG enthaÈlt ausdru È ckliche Regelungen u È ber die Vertretung des BK und der u È brigen Mitglieder der BReg im Fall von Verhinderungen: Danach wird der BK ex lege vom VK vertreten; bei gleichzeitiger Verhinderung von BK und VK vertritt das dienstaÈlteste Mitglied der BReg den BK (Art 69 Abs 2 B-VG). Die u È brigen BM koÈnnen von einem anderen BM oder dem beigegebenen StaatssekretaÈr oder von einem leitenden Beamten des Ministeriums vertreten werden, wobei die Beauftragung mit der Vertretung dem BPraÈs und dem BK zur Kenntnis zu bringen sind; ist ein BM nicht in der Lage einen Vertretungsauftrag zu erteilen, ernennt der BK im Einvernehmen mit dem VK den Vertreter. Ein Aufenthalt in einem anderen EU-Mitgliedstaat gilt nicht als Verhinderung und bedarf daher keiner Beauftragung eines Vertreters (Art 73 Abs 1 B-VG). 713 3. Die Kompetenzen, welche der BReg zur kollegialen Besorgung u È bertragen worÈ brigen aus einfachen den sind, ergeben sich zT aus der Bundesverfassung und im U Gesetzen. Die wichtigsten verfassungsrechtlich vorgesehenen Aufgaben sind: . Einbringung von Regierungsvorlagen (Art 41 Abs 1 B-VG); . Einbringung von Einspru È chen gegen Gesetzesbeschlu È sse von LT (Art 98 Abs 2 B-VG); . Zustimmung zur Mitwirkung von Bundesorganen an der Vollziehung eines Landesgesetzes (Art 97 Abs 2 B-VG); . Erstattung von VorschlaÈgen fu È r die Besetzung wichtiger StaatsaÈmter (PraÈsidenten und Mitglieder von VfGH und VwGH). 714 Weitere Aufgaben werden der BReg durch einfache Gesetze u È bertragen, vor allem die Erlassung wichtiger VO (zB im Bereich des Volksgruppenrechts) oder andere politisch sensible Entscheidungen (zB die Ernennung von Mitgliedern des ORF-Stiftungsrats). Im Hinblick auf das Ministerialsystem, das grundsaÈtzlich eine GeschaÈftsfu È hrung durch einzelne ressortzustaÈndige BM vorsieht, ist die BReg auch ein wichtiges Organ zur Abstimmung der ressortu È bergreifenden Regierungspolitik.
26.4. Die GeschaÈftsfu È hrung der BM und die Bundesministerien 715 1. Soweit nicht einzelne Aufgaben durch die Verfassung oder einfaches Gesetz auf die BReg zur kollegialen Erledigung u È bertragen sind, fu È hren die einzelnen BM als Ressortminister eigenverantwortlich die obersten VerwaltungsgeschaÈfte des Bundes. Es gilt daher ± soweit nicht die BReg als Kollegium zustaÈndig ist ± im Regelfall das Ministerialsystem (Ressortsystem), dh die Verwaltungsfu È hrung durch die einzelnen ressortzustaÈndigen BM, die monokratisch entscheiden (dh als Einzelorgane). Im Rahmen seiner monokratischen ZustaÈndigkeiten ist jeder BM oberstes Ver-
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waltungsorgan und steht fu È r sich an der Spitze eines hierarchisch aufgebauten Verwaltungsapparats. 2. In der Regel ist jeder BM mit der Leitung eines Bundesministeriums betraut 716 (zu den Ausnahmen vgl Rz 698). Die Zahl und Bezeichnung der einzelnen Ministerien und ihre allgemeinen Aufgabenbereiche werden durch das BMG festgelegt. Durch den sachlichen Wirkungsbereich der Bundesministerien werden auch die Kompetenzen des jeweiligen BM bestimmt. Der BK steht einem eigenen Bundesministerium, dem Bundeskanzleramt, vor. Auch der zur Vertretung des BK berufene VK ist in der Regel mit der Leitung eines eigenen Ressorts betraut. GegenwaÈrtig sieht das BMG 13 Bundesministerien vor. Die Zahl, Bezeichnung und der Aufgabenbereich der einzelnen Ministerien werden haÈufig nach der Neubildung einer Regierung abgeaÈndert, wobei diese Ressortverteilung eine hochpolitische Angelegenheit ist. Der Wirkungsbereich der einzelnen Ministerien wird durch die Anlage Teil 2 zum BMG allgemein umschrieben, wobei sich die ZustaÈndigkeit zur Setzung von Verwaltungsakten aber nicht aus dieser allgemeinen Umschreibung, sondern in erster Linie aus den einschlaÈgigen Verwaltungsvorschriften ergibt.
3. Die Bundesministerien sind der GeschaÈftsapparat des jeweils ressortzustaÈndi- 717 gen BM. Die BehoÈrdenqualitaÈt kommt aber dem Minister zu: Das bedeutet, dass etwa Bescheide in gewerberechtlichen Angelegenheiten im Namen des zustaÈndigen BM fu È r Wirtschaft und Arbeit erlassen werden und dass das Wirtschaftsministerium, das sie vorbereitet, nur als Hilfsorgan des Ministers taÈtig wird. Das BMG regelt auch in den Grundzu È gen die allgemeine Organisation der Bundesmi- 718 nisterien und ihre GeschaÈftsfu È hrung. Vorgesehen ist etwa: . die Gliederung der Ministerien in Sektionen, Gruppen und Abteilungen, auf welche die GeschaÈfte durch eine vom BM erlassene GeschaÈftseinteilung aufgeteilt werden; . die ErmaÈchtigung der Leiter der vorgesehenen Organisationseinheiten zur selbstaÈndigen Erledigung von Angelegenheiten, dh etwa zur Erlassung von Bescheiden im Namen des BM (so genanntes innerbehoÈrdliches Mandat); . die Art und Weise, wie ressortu È bergreifende Entscheidungen abgestimmt werden.
4. Zur Unterstu È tzung der BM sieht das B-VG die Ernennung von StaatssekretaÈren 719 vor. Sie werden in gleicher Weise wie BM bestellt und scheiden aus den gleichen Gru È nden wie diese aus dem Amt aus. Sie haben die BM, denen sie beigegeben sind, bei ihrer GeschaÈftsfu È hrung zu unterstu È tzen und koÈnnen sie parlamentarisch vertreten, dh fu È r die BM im Parlament auftreten. Auûerdem koÈnnen sie vom BM mit der selbstaÈndigen Besorgung von bestimmten Aufgaben des Ressorts betraut werden. StaatssekretaÈre sind an die Weisungen des BM gebunden, dem sie zugeordnet sind; sie sind daher keine obersten Organe. StaatssekretaÈre geho È ren auch nicht der BReg an, obwohl sie in der Praxis an den Ministerratssitzungen teilnehmen. Vor allem in Koalitionsregierungen haben StaatssekretaÈre auch eine politische Funktion, weil sie haÈufig dazu eingesetzt werden, einer Koalitionspartei einen gewissen Einfluss auf ein Ressort zu geben, das von einem Minister der anderen Koalitionspartei geleitet wird. Ebenfalls auf die VerhaÈltnisse in Koalitionsregierungen zugeschnitten ist die Regelung des Art 78 Abs 2 B-VG u È ber die ¹kreuzweiseª parlamentarische Vertretung von BK und VK durch jene StaatssekretaÈre, die dem jeweils anderen Organ beigegeben sind (der BK kann sich daher in NR und BR durch den ihm idR politisch nahe stehenden StaatsekretaÈr vertreten lassen, der dem VK beigegeben ist und umgekehrt).
27. Sonstige Verwaltungsorgane des Bundes Den obersten Verwaltungsorganen des Bundes sind zahlreiche und vielfaÈltig geglie- 720 derte VerwaltungsbehoÈrden nachgeordnet, welche die Bundesverwaltung besorgen. Auf die Einzelheiten dieses komplexen BehoÈrdenapparats wird hier nicht einge-
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gangen; das ist Sache des Verwaltungsorganisationsrechts, das in den Lehrbu È chern des Verwaltungsrechts dargestellt wird. Das B-VG regelt nur gewisse Grundzu È ge dieser Organisation, vor allem die Unterscheidung zwischen der unmittelbaren È rden ± die und mittelbaren Bundesverwaltung; fu È r bestimmte Verwaltungsbeho Sicherheitsverwaltung, die SchulbehoÈrden, das Bundesheer und die UniversitaÈten ± enthaÈlt das B-VG daru È ber hinausgehend besondere Organisationsvorschriften. È rden einzugehen, Schlieûlich ist noch auf die weisungsfreien Verwaltungsbeho die im Rahmen des hierarchischen Verwaltungsaufbaus eine Sonderstellung einnehmen.
27.1. Die unmittelbare und mittelbare Bundesverwaltung 721 Die Angelegenheiten der Bundesverwaltung (das sind vor allem die in Art 10 B-VG angefu È hrten Vollzugsaufgaben) koÈnnen unterhalb der Ministerialebene von BehoÈrden besorgt werden, die organisatorisch als BundesbehoÈrden eingerichtet sind. Dann spricht man von unmittelbarer Bundesverwaltung. Andererseits kann sich der Bund zur Besorgung seiner VerwaltungsgeschaÈfte auch der BehoÈrden bedienen, die im Bereich der BundeslaÈnder bestehen und die organisatorisch als LandesbehoÈrden eingerichtet sind. Der Bund ¹leihtª sich in diesem Fall gleichsam einen bereits existierenden BehoÈrdenapparat aus, wobei dies als mittelbare Bundesverwaltung bezeichnet wird. Zu beachten ist, dass es sich in beiden FaÈllen um Bundesverwaltung handelt, fu È r die als oberstes Organ der ressortmaÈûig zustaÈndige BM die Verantwortung traÈgt, der OberbehoÈrde ist und zu dem auch der Instanzenzug fu È hren kann (nicht notwendigerweise muss). Abgesehen vom Abgabenwesen, der Sicherheitsverwaltung und einzelnen weiteren Verwaltungsbereichen werden die meisten Aufgaben der Bundesverwaltung in mittelbarer Bundesverwaltung gefu È hrt. 722 Die Einrichtung der mittelbaren Bundesverwaltung (mittelbare BV) vermeidet eine unwirtschaftliche Doppelgleisigkeit der Verwaltung in den LaÈndern, weil nicht zwei BehoÈrdenapparate (die der LaÈnder und die des Bundes) nebeneinander bestehen mu È ssen. Zugleich gibt die mittelbare BV den LaÈndern einen Einfluss auf die Fu È hrung der GeschaÈfte der Bundesverwaltung, vor allem u È ber die Person des LH, der das wichtigste Organ der mittelbaren BV ist. Die mittelbare BV ist somit ein gewisser Ausgleich fu È r die ansonsten schwache Stellung der LaÈnder in der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung. Nicht zuletzt deshalb sieht man in der mittelbaren BV auch einen Ausdruck des bundesstaatlichen Prinzips (VfSlg 11.403/1987). 27.1.1. Die mittelbare Bundesverwaltung 723 1. Das B-VG hat sich dafu È r entschieden, die mittelbare BV als Regelfall fu È r die Bundesverwaltung vorzusehen. Nach Art 102 Abs 1 B-VG ist die Verwaltung des Bundes im Bereich der LaÈnder in mittelbarer BV zu fu È hren, sofern nicht eigene BundesbehoÈrden eingerichtet sind, was grundsaÈtzlich nur in den in Art 102 Abs 2 B-VG aufgezaÈhlten Angelegenheiten zulaÈssig ist. Mittelbare BV liegt dabei nach der Definition des Art 102 Abs 1 B-VG dann vor, wenn die Vollziehung des Bundes im Bereich der È rden besorgt LaÈnder durch den LH und die ihm unterstellten Landesbeho wird. Deutlich wird hier die Schlu È sselstellung, die dem LH als Organ der mittelbaren BV zugewiesen wird: Er ist mit den ihm unterstellten BehoÈrden das maûgebliche Organ der mittelbaren BV und ausschlieûlich er ist dem zustaÈndigen BM gegenu È ber verantwortlich. Um die Konstruktion der mittelbaren BV zu verdeutlichen: Der LH ist organisatorisch betrachtet ein Landesorgan, ebenso wie die BezirksverwaltungsbehoÈrden, die vom Landesgesetzgeber eingerichtet werden und wo Landesbedienstete taÈtig sind. Wird der LH im Bereich der
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mittelbaren BV taÈtig, nimmt er aber Aufgaben der Bundesverwaltung wahr, dh er ist funktionell als Bundesorgan taÈtig, das den Weisungen des zustaÈndigen BM untersteht. Gleiches gilt fu È r die dem LH unterstellten BehoÈrdenapparate, wenn sie im Bereich der mittelbaren BV taÈtig werden: Auch eine BezirksverwaltungsbehoÈrde wird dann funktionell als BundesbehoÈrde taÈtig.
2. Dass die GeschaÈfte der mittelbaren BV vom LH und den ihm unterstellten Lan- 724 È rden gefu desbeho È hrt werden, bedeutet praktisch, dass neben dem LH die BezirksÈ rden (Bezirkshauptmannschaften und StaÈdte mit eigenem Statut) verwaltungsbeho als BehoÈrden der mittelbaren BV taÈtig werden. Auch Gemeindeorgane koÈnnen im u È bertragenen Wirkungsbereich mit Aufgaben der mittelbaren BV betraut werden. Dabei sind alle diese Organe immer dem LH unterstellt; mittelbare BV liegt nur vor, wenn auf Landesebene (in der Mittelinstanz) der LH zustaÈndig ist. Der LH ist als Organ der mittelbaren BV an die Weisungen des zustaÈndigen BM 725 gebunden und er traÈgt die Verantwortung fu È r die Fu È hrung dieser GeschaÈfte, die er notfalls durch Weisungen an die ihm unterstellten BehoÈrden oder mit anderen disziplinarrechtlichen Mitteln wahrnehmen muss (Art 103 Abs 1 B-VG). Fu È r den Fall der Nichtbefolgung von Weisungen kann der LH auf Grund eines Beschlusses der BReg vor dem VfGH nach Art 142 Abs 2 lit e B-VG angeklagt werden (vgl zum Verfahren nach Art 142 B-VG Rz 1144 f). Dass in der Verwaltungspraxis derartige Weisungen an einen LH kaum vorkommen, traÈgt mit dazu bei, dass dem LH ein betraÈchtlicher Einfluss auf die tatsaÈchliche Fu È hrung der Angelegenheiten der mittelbaren BV zukommt. Durch die GeschaÈftsordnung der LReg kann vorgesehen werden, dass Angelegenheiten der mittelbaren BV von einem Mitglied der LReg (Landesrat) im Namen des LH gefu È hrt werden. In einem solchen Fall ist das entsprechende Mitglied der LReg an die Weisungen des LH gebunden, dh allfaÈllige Weisungen eines BM an den LH hat dieser an den Landesrat weiterzugeben (Art 103 Abs 2 B-VG).
3. In Art 103 Abs 4 B-VG enthaÈlt die Verfassung eine explizite Regelung u È ber den In- 726 stanzenzug in der mittelbaren BV, der regelmaÈûig beim LH als Berufungsinstanz endet, soweit nicht das entsprechende Bundesgesetz ausnahmsweise einen dreigliedrigen Instanzenzug bis zum zustaÈndigen BM vorsieht. Seit dem VerwaltungsreformG 2001 haben die UVS in vielen FaÈllen (vor allem im Bereich des Anlagenrechts des Bundes) den LH als BerufungsbehoÈrde abgeloÈst (vgl Rz 907). Ist der LH erste Instanz, geht der Instanzenzug zum zustaÈndigen BM, kann aber bundesgesetzlich abgeku È rzt werden. 4. Ausnahmsweise koÈnnen auch BehoÈrden, die organisatorisch BundesbehoÈrden 727 sind, im Bereich der mittelbaren BV taÈtig werden: Das trifft fu È r die Bundespolizeidirektionen (BPolDion) zu, die nach Art 102 Abs 1 B-VG mit Angelegenheiten der mittelbaren BV betraut werden koÈnnen. Dass es sich dabei um mittelbare BV handelt, zeigt sich daran, dass in diesen Angelegenheiten die BPolDion dem LH unterstehen und an dessen Weisungen gebunden sind. Soweit Bundesgesetze die BPolDion mit Vollzugsaufgaben im Bereich der mittelbaren BV betrauen, bedu È rfen diese Gesetze der Zustimmung der LaÈnder, soweit es sich nicht um Angelegenheiten des Art 102 Abs 2 B-VG handelt (wo ohnedies BundesbehoÈrden mit der Vollziehung betraut werden du È rften).
5. Die Einrichtung der mittelbaren BV betrifft nur die Fu È hrung der Bundesverwal- 728 tung ¹in den LaÈndernª. Es waÈre daher zwar verfassungswidrig, wenn der Bund in diesen Angelegenheiten BundesbehoÈrden auf der Ebene der LaÈnder oder Bezirke einrichten wu È rde. Es bleibt ihm aber unbenommen, auch im Bereich der mittelbaren BV den BM selbst mit einer erstinstanzlichen ZustaÈndigkeit zu betrauen, weil das dann nicht die Verwaltungsfu È hrung in den LaÈndern betrifft. Durch eigene Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen wird gelegentlich die ZustaÈndigkeit von anderen BundesbehoÈrden verfassungsrechtlich abgesichert, was auf eine VerdraÈn-
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gung der ZustaÈndigkeit des LH hinauslaÈuft (vgl zB Art I EnergielenkungsG 1982 BGBl 545 idgF). a) Andererseits darf der Bund die ZustaÈndigkeit des LH im Bereich der mittelbaren BV nicht dadurch ausschalten, dass er beho È rdliche Hilfsorgane einrichtet, die zwar unmittelbar einem BM unterstellt sind, aber trotzdem auf Landesebene taÈtig werden (VfSlg 11.403/1987). b) Mit Zustimmung der beteiligten LaÈnder darf der Bund auch in den Angelegenheiten der mitÈ rden in den LaÈndern einrichten (Art 102 Abs 4 B-VG). telbaren BV eigene Bundesbeho
729 6. Angelegenheiten der Privatwirtschaftsverwaltung des Bundes sind grundsaÈtzlich von dem ressortmaÈûig zustaÈndigen BM wahrzunehmen, der fu È r den Bund als Privatrechtssubjekt handelt. Die Regelungen u È ber die mittelbare BV sind auf diese VermoÈgensverwaltung nicht anzuwenden (Art 104 Abs 1 B-VG). Der zustaÈndige BM kann jedoch durch VO diese Angelegenheiten ebenfalls an den LH und die diesem È bertragung der Bundeswasserbauverunterstellten LandesbehoÈrden u È bertragen (zB U waltung, der Verwaltung gewisser Subventionen). Man spricht in diesem Fall von der Auftragsverwaltung des Landes. Hinsichtlich der Weisungsbindung gelten die gleichen GrundsaÈtze wie bei der mittelbaren BV (Art 104 Abs 2 B-VG). 27.1.2. Die unmittelbare Bundesverwaltung 730 In den in Art 102 Abs 2 B-VG angefu È hrten Angelegenheiten darf der Bund BundesbehoÈrden in den LaÈndern einrichten und sie im Wege der unmittelbaren BV mit der Verwaltungsfu È hrung betrauen. Nicht in allen hier angefu È hrten Verwaltungsbereichen gibt es eigene BundesbehoÈrden, weil der Bund die ErmaÈchtigung des Art 102 Abs 2 B-VG nicht vollstaÈndig ausgeschoÈpft hat. In diesen FaÈllen sind die BehoÈrden der mittelbaren BV zustaÈndig. Wichtige Beispiele fu È r die Vollziehung in unmittelbarer BV sind: die TaÈtigkeit der Zoll- und FinanzbehoÈrden, der Bereich der Sicherheitsverwaltung, die Organisation und Fu È hrung der Bundespolizei, die Schulverwaltung des Bundes. Fu È r einige dieser BehoÈrden enthaÈlt das B-VG verfassungsrechtliche Sondervorschriften.
È rden des Bundes 27.2. Die Sicherheitsbeho 731 1. Fu È r die Angelegenheiten der Sicherheitsverwaltung ist ein eigener BehoÈrdenapparat eingerichtet, dessen Grundstrukturen verfassungsrechtlich in den Art 78a ff B-VG vorgezeichnet sind. Zur Sicherheitsverwaltung gehoÈren die allgemeine Sicherheitspolizei, die Angelegenheiten des Vereins- und Versammlungswesens, des Passwesens, der Fremdenpolizei und einige weitere polizeilich relevante Materien (vgl die AufzaÈhlung in § 2 Abs 2 SPG). Diese Aufgaben werden durch eigene BehoÈrden, È rden, in einer der unmittelbaren BV Èahnlichen Form vollzodie Sicherheitsbeho gen. Als Ausgleich fu È r die starke Stellung des Bundes im politisch sensiblen Sicherheitsbereich werden den LaÈndern verfassungsrechtlich einige MitwirkungsmoÈglichkeiten eingeraÈumt. 732 Zentrale SicherheitsbehoÈrde in jedem Bundesland ist die Sicherheitsdirektion, die als BundesbehoÈrde eingerichtet ist und dem BM fu È r Inneres als oberste SicherheitsbehoÈrde unterstellt ist. An der Spitze der Sicherheitsdirektion steht ein Sicherheitsdirektor, der vom BM fu È r Inneres im Einvernehmen mit dem LH bestellt wird. Abgesehen von diesem Einfluss des Landes auf die Person des Sicherheitsdirektors sieht Art 78b Abs 3 B-VG ferner vor, dass staatspolitisch wichtige oder fu È r die Aufrechterhaltung der Ruhe, Ordnung und Sicherheit im gesamten Land maûgebliche Weisungen des BM an den Sicherheitsdirektor auch dem LH mitzuteilen sind. In Wien
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ist die Bundespolizeidirektion zugleich Sicherheitsdirektion und der PolizeipraÈsident auch Sicherheitsdirektor.
2. In der ersten Instanz werden die Angelegenheiten der Sicherheitsverwaltung in 733 Unterordnung unter die Sicherheitsdirektionen von den BezirksverwaltungsbeÈ rden (also von LandesbehoÈrden!) bzw an den Orten, wo solche eingerichtet ho sind, von den Bundespolizeidirektionen (BPolDion) besorgt. BPolDion sind nicht in allen Bezirken eingerichtet, sondern nur in den meisten groÈûeren StaÈdÈ sterreich 14 BPolDion. Ihre Einrichtung und die Festlegung ihres o ten; insgesamt gibt es in O È rtlichen Wirkungsbereichs erfolgt durch eine VO der BReg (Art 78c Abs 2 B-VG; vgl die BPolDion-VO BGBl II 1999/56). Ihre Aufgaben werden durch Bundes- und Landesgesetze festgelegt. Dort, wo es keine BPolDion gibt, werden die Aufgaben der Sicherheitsverwaltung von den Bezirksverwaltungsbeho È rden (Bezirkshauptmannschaften, StaÈdte mit eigenem Statut) wahrgenommen.
È rper zugeordnet, dh bewaffnete oder uni- 734 3. Den SicherheitsbehoÈrden sind Wachko formierte oder sonst nach militaÈrischem Muster eingerichtete Polizeieinheiten (Art 78d B-VG). Seit der Zusammenlegung der Bundesgendarmerie mit der Bundessicherheitswache gibt es nur mehr den einheitlichen Wachko Èrper Bundespolizei. Daneben bestehen noch die Justizwache als Wachorgan des Bundes sowie die GemeindewachkoÈrper. È rden, sondern Hilfsorgane der BehoÈrden, denen sie zugeorda) Wachko Èrper sind keine Beho net sind und denen ihr Handeln auch zugerechnet wird. Schreitet ein Organ eines Wachko Èrpers ein (zB Verhaftung), ist zu pru È fen, in wessen Auftrag und Vollzugsbereich es taÈtig wurde; die entsprechende BehoÈrde hat das Einschreiten zu verantworten (etwa als belangte BehoÈrde vor dem UVS). È rper (Gemeindepolizei) einrichten; sie hab) Gemeinden ko È nnen einen Gemeindewachko ben das der BReg anzuzeigen (Art 118 Abs 8 B-VG). Im oÈrtlichen Wirkungsbereich einer BPolDion darf jedoch kein anderer Wachko È rper, auch kein GemeindewachkoÈrper, bestehen (Art 78d Abs 2 B-VG), so dass der Bundespolizei in diesem Bereich ein verfassungsrechtlich abgesichertes Polizeimonopol zukommt.
È rden des Bundes 27.3. Die Schulbeho 1. Auch fu È r die Schulverwaltung des Bundes sieht die Verfassung besondere Regelun- 735 gen fu È r die BehoÈrdenorganisation (Art 81a ff B-VG) vor, die den politischen Parteien einen nicht unerheblichen Einfluss eroÈffnen. Dabei geht es um die in den LaÈnÈ rden des Bundes, die dem zustaÈndigen BM unterdern eingerichteten Schulbeho È rden organisiert, wobei es auf Landesebene eistehen. Sie sind als Kollegialbeho nen Landesschulrat und auf der Ebene der Bezirke die BezirksschulraÈte gibt. In Wien besorgt die als Stadtschulrat bezeichnete BehoÈrde die Aufgaben von Landesund Bezirksschulrat. Die stimmberechtigten Mitglieder dieser Kollegien werden nach dem Parteienproporz bestellt, dh nach dem StaÈrkeverhaÈltnis der politischen Parteien im jeweiligen Landtag (Art 81a Abs 3 lit a B-VG). PraÈsident des Landesschulrats ist der LH, der sich in dieser Funktion durch einen Amtsfu È hrenden PraÈsidenten des Landesschulrats vertreten lassen kann; Vorsitzender des Bezirksschulrats ist der Leiter der BezirksverwaltungsbehoÈrde. 2. Die PraÈsidenten (Vorsitzenden) von Landes- und Bezirksschulrat erledigen be- 736 stimmte Aufgaben der Schulverwaltung monokratisch; wichtige Angelegenheiten, vor allem die in Art 81a Abs 3 lit c B-VG genannten GeschaÈfte (Erlassung von VO und allgemeinen Weisungen, Bestellung von FunktionaÈren und Erstattung von ErnennungsvorschlaÈgen), werden von den Kollegien besorgt. Dabei sind die Kollegien durch ausdru È ckliche Verfassungsbestimmung (Art 81a Abs 4 B-VG) weisungsfrei gestellt; Weisungen koÈnnen nur erteilt werden, soweit die Durchfu È hrung von Be-
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schlu È ssen der Kollegien wegen Gesetzwidrigkeit untersagt wird; in einem solchen Fall kann das Kollegium gegen die Weisung Beschwerde an den VwGH fu È hren (vgl Rz 932). Die Zusammensetzung der Kollegien nach dem Parteienproporz und die ausdru È ckliche Weisungsfreiheit sind auffaÈllige Besonderheiten im Rahmen einer staatlichen VerwaltungsÈ rde. Der damit angestrebte Einfluss der politischen Parteien auf die Schulverwaltung beho geht auf einen im Jahr 1962 erzielten ¹Schulkompromissª der beiden damaligen Groûparteien zuru È ck. Vor allem bei Personalentscheidungen (zB Bestellung von Direktoren), fu È r die nach Art 81b B-VG DreiervorschlaÈge der LandesschulraÈte einzuholen sind, hat sich dieser Einfluss als problematisch erwiesen; dies dru È ckt sich nicht zuletzt in zahlreichen Entscheidungen des VfGH aus, durch die auf solche VorschlaÈge gegru È ndete Ernennungsakte wegen Willku È r aufgehoben werden mussten (vgl zB VfSlg 16.906/2003).
27.4. Das Bundesheer 737 Das B-VG hat das Bundesheer (BH) als einen Teil der Bundesverwaltung in die zivile Verwaltungsorganisation eingegliedert (Art 79±81 B-VG). Es hat damit in der demokratiepolitisch wichtigen Frage, wie selbstaÈndig bzw unselbstaÈndig die bewaffnete Streitmacht des Staates sein soll, eine wesentliche Vorentscheidung getroffen. Die fu È r die staatliche Verwaltung maûgeblichen GrundsaÈtze (GesetzmaÈûigkeitsprinzip, Weisungsbindung, Verantwortlichkeit der zustaÈndigen obersten Organe usw) gelten daher auch fu È r das Bundesheer. ZulaÈssig waÈre aber die Einfu È hrung einer besonderen MilitaÈrgerichtsbarkeit in Kriegszeiten (Art 84 B-VG). 738 1. Die Aufgaben des BH sind in Art 79 B-VG abschlieûend umschrieben: Ihm obliegt als Hauptaufgabe die militaÈrische Landesverteidigung. Daru È ber hinausgehend kann das BH von den zustaÈndigen zivilen BehoÈrden zu so genannten AssistenzeinsaÈtzen herangezogen werden, und zwar (a) zum Schutz der verfassungsmaÈûigen Einrichtungen und der demokratischen Freiheiten, (b) zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit und (c) zur Hilfeleistung bei Katastrophen. AuslandseinsaÈtze des BH haben ihre Grundlage in einem eigenen Verfassungsgesetz, das auch die naÈheren Bedingungen fu È r solche EinsaÈtze festlegt (BVG u È ber Kooperation und SolidaritaÈt bei der Entsendung von Einheiten und Einzelpersonen in das Ausland (KSE-BVG) BGBl I 1997/38 idgF). Zu anderen EinsaÈtzen als den genannten darf das BH nicht herangezogen werden. 739 2. Die Ausu È bung der Leitungsgewalt u È ber das BH ist auf mehrere Staatsorgane aufgeteilt: Der Oberbefehl liegt beim BPraÈs, der damit Vorgesetzter aller BundesheerangehoÈrigen einschlieûlich des BM fu È r Landesverteidigung ist. Die damit umfassten Befugnisse sind jedenfalls in Friedenszeiten weitgehend repraÈsentativer Natur (zB Erlassung von Tagesbefehlen zu feierlichen AnlaÈssen). Die Verfu È gungsgewalt u È ber das BH betrifft die Entscheidungen u È ber den Einsatz des Heeres, sie ist zwischen dem BPraÈs und dem BM fu È r Landesverteidigung nach den naÈheren Regelungen des WehrG aufgeteilt, wobei der BM fu È r Landesverteidigung im Rahmen einer ihm von der BReg erteilten ErmaÈchtigung handelt (Art 80 Abs 2 B-VG). So ist der BPraÈs etwa zustaÈndig Einberufungen zum auûerordentlichen PraÈsenzdienst vorzunehmen. Weil der BPraÈs auch dabei auf VorschlaÈge der BReg angewiesen ist, liegt die entscheidende Verfu È gungsmacht u È ber das BH bei der Regierung. Die Befehlsgewalt u È bt der BM fu È r Landesverteidigung aus; sie umfasst die Erteilung von Weisungen an die AngehoÈrigen des BH. Bei AssistenzeinsaÈtzen sind die zustaÈndigen BehoÈrden des Bundes, der LaÈnder und Gemeinden innerhalb ihres Wirkungskreises befugt die Hilfe des BH anzufordern. GroÈûere AssistenzeinsaÈtze wie beim Grenzschutz bedu È rfen einer Anordnung der BReg (vgl § 2 Abs 5 WehrG). Die vom BH im Rahmen von AssistenzeinsaÈtzen gesetzten Akte werden den zi-
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vilen BehoÈrden zugerechnet, welche die Bundesheerhilfe angefordert haben (VfSlg 13.708/ 1994). Zum selbstaÈndigen militaÈrischen Einschreiten des BH in NotfaÈllen vgl Art 79 Abs 5 B-VG.
3. In der Frage des Wehrsystems hat sich das B-VG fu È r die allgemeine Wehrpflicht 740 entschieden, zu der alle maÈnnlichen Staatsbu È rger verpflichtet sind (Art 9a Abs 3 B-VG). Das BH ist nach den GrundsaÈtzen eines Milizsystems eingerichtet (Art 79 Abs 1 B-VG), das auf einer Verbindung eines PraÈsenzdienstes mit wiederkehrenden È bungen beruht. Wer die Wehrpflicht aus Gewissensgru U È nden verweigert, hat einen Ersatzdienst zu leisten, die naÈhere Ausgestaltung dieses Grundrechts auf Zivildienst erfolgt im ZDG, das weitere Verfassungsbestimmungen etwa auch u È ber die È sterreichische Staatsbu Dauer des Zivildienstes enthaÈlt (vgl Rz 1441 f). O È rgerinnen haben ein verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistetes Recht freiwillig Dienst im BH zu leisten und diesen Dienst auch wieder zu beenden (Art 9a Abs 3 B-VG).
È rden 27.5. Weisungsfreie Verwaltungsbeho Der Grundsatz, dass jede VerwaltungsbehoÈrde weisungsgebunden ist, kann fu È r be- 741 stimmte Kategorien von Organen durch Bundes- oder Landesgesetze durchbrochen werden. Art 20 Abs 2 B-VG zaÈhlt die entsprechenden Aufgaben auf, die nach Maûgabe entsprechender einfachgesetzlicher Regelungen weisungsfrei besorgt werden du È rfen. Durch Landesverfassungsgesetz koÈnnen weitere Kategorien von weisungsfreien Organen geschaffen werden. TatsaÈchlich gibt es zahlreiche weisungsfreie VerwaltungsbehoÈrden im Bund und in den LaÈndern. HaÈufig werden solche BehoÈrden eingerichtet, um einen politischen Einfluss auf bestimmte Entscheidungen einzuschraÈnken oder auszuschlieûen, um besondere Garantien fu È r eine unparteiliche, objektive Entscheidungsfindung zu schaffen oder um unabhaÈngige Kontrollinstanzen zu installieren. Weisungsfreie VerwaltungsbehoÈrden sind auch die unabhaÈngigen Verwaltungssenate in den LaÈndern (UVS), auf die wegen ihrer Bedeutung in einem eigenen Abschnitt eingegangen wird (vgl Rz 896 ff). È rden geschaffen, die nach In den letzten Jahrzehnten wurden gehaÈuft weisungsfreie Beho der Art eines ¹Wildwuchsesª den verfassungsrechtlich vorgegebenen hierarchischen Verwaltungsaufbau durchbrechen. Freilich kann es im Einzelfall gute Gru È nde dafu È r geben, wie sich das etwa bei der Einrichtung unabhaÈngiger Regulatoren fu È r liberalisierte Wirtschaftsbereiche (Telekommunikation, Energiewirtschaft, Verkehr) zeigt, wo unabhaÈngige BehoÈrden fu È r die GewaÈhrleistung eines funktionierenden Wettbewerbs sorgen mu È ssen. Bis zur B-VG-Novelle 2008 bedurfte es fu Èrden jeweils einer ausdru È ckliÈ r die Einrichtung weisungsfreier Verwaltungsbeho chen bundes- oder landesverfassungsrechtlichen Regelung, soweit es sich nicht um so genannte ¹KollegialbehoÈrden mit richterlichem Einschlagª gehandelt hat, fu È r die es eine allgemeine verfassungsrechtliche ErmaÈchtigung gegeben hatte (Art 20 Abs 2 B-VG idF vor der zitierten Verfassungsnovelle). In den letzten Jahren entwickelte der VfGH allerdings auch im Hinblick auf diese KollegialbehoÈrden eine restriktive Judikatur, nach der ihre Einrichtung ± weil sie das Organisationskonzept der Verfassung durchbrachen ± einer besonderen Rechtfertigung bedurfte (VfSlg 15.427/1999, 16.048/2000). Indem die B-VG-Novelle 2008 nunmehr eine allgemeine, sachlich freilich begrenzte Regelung fu Èrden È r weisungsfreie Verwaltungsbeho geschaffen hat, werden die zahlreichen ¹fugitivenª (dh auûerhalb des B-VG stehenden) Verfassungsbestimmungen entbehrlich, waÈhrend zugleich dem erwaÈhnten ¹Wildwuchsª entgegen gewirkt werden soll. Ob das angesichts der weitreichenden ErmaÈchtigung tatsaÈchlich gelingen wird, ist zweifelhaft.
È rden auf Grund von Art 20 Abs 2 B-VG 27.5.1. Weisungsfreie Verwaltungsbeho 1. Nach Art 20 Abs 2 B-VG darf der einfache Bundes- oder Landesgesetzgeber wei- 742 sungsfreie Organe nur zur Besorgung bestimmter verfassungsrechtlich bezeichneter Aufgaben schaffen. Dabei handelt es sich um Angelegenheiten, die ihrer Natur nach auf eine gewisse UnabhaÈngigkeit angewiesen sind, vor allem gegen-
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u È ber einer Einflussnahme durch die politisch zusammengesetzten obersten Verwaltungsorgane (BReg, LReg). Im Einzelnen handelt es sich um die folgenden Aufgaben, wobei nochmals darauf hingewiesen werden muss, dass durch Landesverfassungsgesetz weitere Kategorien von weisungsfreien Organen geschaffen werden koÈnnen: . Organe zur sachverstaÈndigen Pru È fung (Z 1) ± darunter fallen verschiedene fachkundig zusammengesetzte BehoÈrden etwa im Hochschulbereich, wie der Akkreditierungsrat, der u È ber die Zulassung von PrivatuniversitaÈten, oder der Fachhochschulrat, der u È ber die Zulassung von FachhochschulstudiengaÈngen entscheidet, sowie zB die Unfalluntersuchungsstelle des Bundes; . Organe zur Kontrolle der Wahrung der GesetzmaÈûigkeit der Verwaltung È ffentlichen Auftragswesens sowie zur Kontrolle in Angelegenheiten des o (Z 2) ± dazu gehoÈren etwa die Rechtsschutzbeauftragten nach dem SPG oder dem MBG (vgl Rz 1327), der unabhaÈngige Finanzsenat und das Bundesvergabeamt sowie VergabekontrollbehoÈrden im Landesbereich; . Organe mit Schieds-, Vermittlungs- und Interessenvertretungsaufgaben (Z 4) ± zB die Gleichbehandlungskommission nach dem Bundes-GleichbehandlungsG BGBl 1993/100 idgF, die TierschutzombudsmaÈnner nach dem (Bundes-) TierschutzG BGBl I 2004/118 oder Kinder- und JugendanwaÈlte nach landesrechtlichen Vorschriften; . Organe zur Sicherung des Wettbewerbs und zur Durchfu È hrung der Wirtschaftsaufsicht (Z 5) ± hier kann beispielsweise auf die Einrichtung der unabhaÈngigen BundeswettbewerbsbehoÈrde nach dem WettbewerbsG BGBl I 2002/62 idgF hingewiesen werden; . Organe zur Durchfu È hrung einzelner Angelegenheiten des Dienst- und Disziplinarrechts (Z 6) ± dazu geho È ren die in den verschiedenen Dienstrechtsgesetzen vorgesehenen Disziplinar-, Pru È fungs-, Auswahl- und Leistungsfeststellungskommissionen; . Organe zur Durchfu È hrung und Leitung von Wahlen (Z 7) ± einzelne WahlbehoÈrden sind als unhaÈngige BehoÈrden eingerichtet, zu den WahlbehoÈrden vgl Rz 525; . weisungsfreie Organe, soweit die Weisungsfreiheit nach Maûgabe des EURechts geboten ist (Z 8) ± in verschiedenen ZusammenhaÈngen sieht das EURecht unabhaÈngige BehoÈrden vor, etwa zur Sicherstellung des Datenschutzes oder zur Regulierung des ElektrizitaÈts-, Erdgas-, Eisenbahn- und Telekommunikationsmarktes. 743 2. Um sicher zu stellen, dass durch die Einrichtung solcher weisungsfreien Organe die Letztverantwortung der politisch verantwortlichen obersten Verwaltungsorgane nicht ausgehoÈhlt wird, schreibt die Verfassung vor, dass der Gesetzgeber fu È r ein der Aufgabe des Organs ¹angemessenes Aufsichtsrechtª vorzusorgen hat. Dieses Aufsichtsrecht muss jedenfalls das Recht umfassen, sich u È ber alle GegenstaÈnde der GeschaÈftsfu È hrung des weisungsfreien Organs zu unterrichten; auûerdem muss die MoÈglichkeit der Abberufung des Organs aus wichtigem Grund vorgesehen sein, soweit es sich nicht um Organe gemaÈû Z 2 und 8 bzw um eine KollegialbehoÈrde mit richterlichem Einschlag (dazu sogleich) handelt. Zu den gegenu È ber diesen Organen bestehenden parlamentarischen Kontrollrechten vgl Rz 572. È rden mit richterlichem Einschlag 27.5.2. Kollegialbeho 744 1. Nach § 20 Abs 2 Z 3 B-VG kann eine weisungsfreie BehoÈrde unabhaÈngig von den von ihr ausgeu È bten Aufgaben auch dann eingerichtet werden, wenn sie eine be-
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È sterreich eine stimmte Organisationsstruktur aufweist. Diese BehoÈrden, die in O È rden mit richterlichem Einlange Tradition haben, werden als Kollegialbeho schlag bezeichnet (oft auch als Art 133 Z 4-Beho È rden). Danach darf ein Organ durch einfaches Bundes- oder Landesgesetz weisungsfrei gestellt werden, wenn es . als KollegialbehoÈrde eingerichtet ist, dh wenn es aus mehreren Mitgliedern besteht, . wenn ihm zumindest ein aktiver Richter angehoÈrt, . wenn es keinen weiteren Instanzenzug mehr gibt und . wenn gesetzlich angeordnet ist, dass die Entscheidungen dieser BehoÈrde im Verwaltungsweg nicht aufgehoben oder abgeaÈndert werden koÈnnen. Abgesehen von der ZulaÈssigkeit einer Freistellung von Weisungen hat die Einrichtung einer solchen KollegialbehoÈrde mit richterlichem Einschlag die weitere Konsequenz, dass die von einer solchen BehoÈrde erlassenen Bescheide im Regelfall nicht beim VwGH angefochten werden koÈnnen. Der einfache Gesetzgeber kann aber die Anrufung des VwGH ausdruÈcklich vorsehen, was gelegentlich, aber nicht immer der Fall ist (Art 133 Z 4 B-VG). Eine Beschwerde an den VfGH nach Art 144 B-VG ist immer zulaÈssig. Der Ausschluss der VwGH-Beschwerde verdeutlicht den verfassungspolitischen Hintergrund dieses besonderen BehoÈrdentyps, der schon eine lange Tradition hat: Man ging davon aus, dass wegen der Mitwirkung eines oder mehrerer Richter und wegen des zuru È ckgedraÈngten Einflusses der OberbehoÈrden diese BehoÈrden einen der Verwaltungsgerichtsbarkeit vergleichbaren Rechtsschutz eroÈffnen koÈnnen. Wegen ihrer gerichtsaÈhnlichen Stellung werden sie auch als KollegialbehoÈrden mit richterlichem Einschlag bezeichnet. Die Konstruktion als KollegialbehoÈrde erlaubt auûerdem die Einbindung von Personen, die ansonsten auûerhalb der Verwaltung stehen, wobei das entweder Fachleute sind, die an bestimmten Entscheidungen beteiligt sein sollen, oder Interessenvertreter. In der Praxis haben sich die in die Unparteilichkeit dieser BehoÈrden gesetzten Erwartungen nicht immer erfu È llt.
Auf die folgenden im Bundesbereich bestehenden Art 133 Z 4-BehoÈrden soll beispielhaft hingewiesen werden: Die Datenschutzkommission, der Bundeskommunikationssenat, die unabhaÈngigen RegulierungsbehoÈrden (zB Telekom-Control-Kommission, Energie-Control Kommission). Insgesamt gibt es im Bundesbereich rd 30 derartiger BehoÈrden. Zahlreiche weitere KollegialbehoÈrden mit richterlichem Einschlag gibt es in den LaÈndern (zB Grundverkehrskommissionen, Kommissionen fu È r Jagdund WildschaÈden, Schiedskommissionen nach dem Krankenanstaltenrecht). 2. Wenn diese KollegialbehoÈrden auch den u È brigen Anforderungen des Art 6 EMRK entspre- 745 chen, dh tatsaÈchlich unabhaÈngig und unparteiisch sind, koÈnnen sie auch als ¹Tribunaleª iS des Art 6 EMRK angesehen werden. Sie ko È nnen dann dazu eingesetzt werden, um den in dieser Bestimmung garantierten Anspruch auf eine gerichtliche Entscheidung u È ber zivilrechtliche Anspru È che und Verpflichtungen bzw u È ber strafrechtliche Anklagen zu garantieren (vgl zu diesem Anspruch Rz 1580 ff). Damit die ¹Tribunalª-QualitaÈt gegeben ist, mu È ssen ihre Mitglieder ±u È ber die in Art 20 Abs 2 Z 3, 133 Z 4 B-VG enthaltenen Anforderungen hinausgehend ± vor allem auch eine feste, laÈngere Amtsperiode haben (nach der Judikatur mindestens 3 Jahre), waÈhrend derer die Mitglieder nur aus gesetzlich vorgesehenen Gru È nden absetzbar oder versetzbar sein du È rfen; ferner muss es bestimmte die Unparteilichkeit sichernde Verfahrensbestimmungen geben und es du È rfen an ihren Entscheidungen auch im Einzelfall keine Mitglieder mitwirken, deren Unparteilichkeit zweifelhaft erscheint (vgl dazu Rz 1591 ff).
È rden 27.5.3. Sonstige weisungsfreie Verwaltungsbeho Abgesehen von den besprochenen FaÈllen der Weisungsfreistellung gibt es noch 746 weitere unabhaÈngige und weisungsfrei gestellte VerwaltungsbehoÈrden, die sich weiterhin auf besondere Verfassungsbestimmungen stu È tzen. Dabei handelt es sich vor allem um
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. den unabhaÈngigen Umweltsenat, der als BerufungsbehoÈrde im UVP-Verfahren entscheidet und insoweit OberbehoÈrde der LReg ist, die diese Verfahren durchfu È hrt (Art 11 Abs 7 und 8 B-VG, § 4 UmweltsenatG 2000 BGBl I 114 idgF); È rde, . die als Anstalt oÈffentlichen Rechts organisierte Finanzmarktaufsichtsbeho die zur Beaufsichtigung des Banken-, Versicherungs- und Wertpapiersektors eingerichtet ist (§ 1 FinanzmarktaufsichtsbehoÈrdenG BGBl I 2001/97 idgF).
28. Die Landesverwaltung 747 Auch die Verwaltung der BundeslaÈnder ist hierarchisch gegliedert. An ihrer Spitze steht die Landesregierung (LReg) als oberstes Verwaltungsorgan der LaÈnder; soweit auf Landesebene das Ressortsystem eingefu È hrt ist, sind auch einzelne MitglieÈ rder der LReg oberste Verwaltungsorgane. Diesen obersten Organen sind die Beho den der allgemeinen staatlichen Verwaltung in den LaÈndern und sonstige È rden nachgeordnet. Die Aufgaben der selbstaÈndigen (autonomen) LanLandesbeho desverwaltung ergeben sich im Wesentlichen aus den Vollzugsaufgaben nach den Art 11, 12 und 15 B-VG. Dass die LandesbehoÈrden daneben auch im Bereich der mittelbaren BV funktionell als BundesbehoÈrden taÈtig werden, ist nochmals in Erinnerung zu rufen. Die Organisation der Landesverwaltung ist in den Grundzu È gen im B-VG vorgezeichnet; ihre naÈhere Ausgestaltung erfolgt in der Landesverfassung (LV) bzw in den einschlaÈgigen Organisationsgesetzen der LaÈnder.
28.1. Die Landesregierung 748 1. Die LReg ist ein Kollegialorgan, das aus dem Landeshauptmann oder der Landeshauptfrau (LH), den Stellvertretern und den sonstigen Mitgliedern der LReg besteht, die als LandesraÈte bezeichnet werden (Art 101 Abs 3 B-VG). Die Zahl der Mitglieder der LReg wird durch die LV festgesetzt. Die LReg wird kraft zwingender bundesverfassungsrechtlicher Anordnung vom Landtag (LT) gewaÈhlt (Art 101 Abs 1 B-VG). Die naÈhere Ausgestaltung dieser Wahl erfolgt durch die LV. Dabei sind die LaÈnder unterschiedliche Wege gegangen, wobei im Wesentlichen zwei Systeme unterschieden werden koÈnnen: È , NO È , Ktn, . Wahl der LReg nach dem VerhaÈltnis- oder Proporzsystem (in OO Stmk, Bgld): Nach diesem Wahlmodus haben die im LT vertretenen politischen Parteien nach Maûgabe ihrer StaÈrke Anspruch auf einen Sitz in der LReg. Dies fu È hrt in der politischen Praxis dazu, dass entweder alle oder jedenfalls die groÈûeren Parteien in der LReg vertreten sind. Das Proporzsystem laÈuft damit zwangslaÈufig auf eine Mehrparteienregierung hinaus. Der LH wird aber immer nach dem Mehrheitswahlrecht gewaÈhlt. . Wahl der LReg nach dem Mehrheitssystem (in Vlbg, Tir und Sbg): Hier wird die LReg mit der absoluten Mehrheit der Stimmen im LT gewaÈhlt. Dieses System kann zu einer Alleinregierung einer Partei fu È hren, wenn sie u È ber eine entsprechende Mehrheit im LT verfu È gt, oder zu einer im Verhandlungsweg gebildeten Koalition, wobei je nach den MehrheitsverhaÈltnissen unterschiedliche Koalitionen denkbar sind. Zur Situation in Wien vgl Rz 805. 749 Der Proporz in der LReg entspricht dem traditionellen politischen System in den BundeslaÈndern, das auf ein Zusammenwirken aller politischen KraÈfte im Land nach dem Muster einer Konkordanzdemokratie angelegt war. Der damit einhergehende Zwang zur Kooperation in der Regierung kann freilich auch disfunktionell sein, vor allem wenn einer der Partner aus der Regierung heraus eine Oppositionspolitik betreibt. Aus diesem Grund haben sich in ju È ngerer Zeit einige BundeslaÈnder fu È r die ¹Abschaffung des Proporzª entschieden und ein Mehr-
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heitswahlrecht eingefu È hrt, das auf einer klareren Unterscheidung von Regierung und Opposition und damit auf dem Modell einer Konkurrenzdemokratie beruht. Weiter gehende ReformvorschlaÈge stellen die ¹Direktwahl des LHª, dh seine Volkswahl, zur Diskussion. Ohne È nderung der Bundesverfassung waÈre ein solcher Vorschlag wegen Art 101 Abs 1 B-VG nicht A realisierbar, abgesehen davon, dass damit die im parlamentarischen Regierungssystem angelegte Verantwortlichkeit der LReg gegenu È ber dem LT in systemwidriger Weise abgeschwaÈcht wu È rde.
2. Die LReg ist das oberste Verwaltungsorgan auf Landesebene. Ihr kommt die 750 Leitungsbefugnis zu, sie ist sachlich in Betracht kommende OberbehoÈrde und bei ihr endet jeder Instanzenzug im Landesvollzugsbereich, soweit nicht eine ZustaÈndigkeit der UVS (oder einer Art 133 Z 4-Beho È rde) gegeben ist (Art 101 Abs 1 B-VG). Auch die u È brigen die Stellung eines obersten Verwaltungsorgans praÈgenden Merkmale treffen auf die LReg zu (vgl Rz 643 ff). Ihre GeschaÈfte fu È hrt die LReg im Wege kollegialer Beschlussfassung, wobei nach den landesrechtlichen Regelungen fu Èr die Abstimmungen in der LReg entweder das Mehrheits- oder das Einstimmigkeitsprinzip gilt. Die Bundesverfassung sieht vor, dass die LaÈnder ein Ressort- oder Ministerialsy- 751 stem einfu È hren koÈnnen, so dass einzelne Angelegenheiten der Landesverwaltung auch monokratisch durch ein Mitglied der LReg (LH oder Landesrat) erledigt werden koÈnnen. Soweit eine monokratische ZustaÈndigkeit besteht, ist das jeweilige Mitglied der LReg oberstes Verwaltungsorgan. In dieser Funktion entspricht die Stellung eines Landesrats der eines BM. Die Verteilung der ZustaÈndigkeiten zwischen dem Kollegium LReg und den ein- 752 zelnen Mitgliedern der LReg erfolgt in der GeschaÈftsordnung der LReg, die von dieser in VO-Form beschlossen wird (Art 103 Abs 2 B-VG). Gewisse Aufgaben der LReg sind ihr durch die Bundes- oder Landesverfassung zugewiesen, sie mu È ssen kollegial erledigt werden (zB Erlassung von NotVO fu È r das Bundesland nach Art 97 Abs 3 B-VG, die Anfechtung von BG beim VfGH nach Art 140 B-VG oder die Einbringung von Regierungsvorlagen). Andere Aufgaben koÈnnen auf die Mitglieder der LReg zur monokratischen Besorgung u È bertragen werden. a) Die ZulaÈssigkeit des Ressortsystems ergibt sich aus der Regelung des § 3 Abs 1 des BVG È mterLReg, wo selbstaÈndige Entscheidungsbefugnisse des LH oder einzelner Mitglieder der A LReg vorausgesetzt werden (vgl ferner Art 103 Abs 2 B-VG). TatsaÈchlich haben alle LaÈnder ein Ressortsystem eingefu È hrt. b) Soweit das Ressortsystem eingefu È hrt ist und einzelne LReg-Mitglieder mit der monokratischen Besorgung von Aufgaben des selbstaÈndigen Vollzugsbereichs des Landes betraut sind, ko È nnen diesen Regierungsmitgliedern auch Angelegenheiten der mittelbaren BV mit u È bertragen werden (Art 103 Abs 2 B-VG). Dies erlaubt die Bildung sinnvoll abgerundeter Aufgabenbereiche. WaÈhrend das entsprechende Regierungsmitglied im Vollzugsbereich des Landes weisungsfrei ist (weil oberstes Organ), untersteht es im Bereich der mit u È bertragenen Angelegenheiten der mittelbaren BV den Weisungen des LH, der gegenu È ber dem BM die Verantwortung fu È r die mittelbare BV zu tragen hat (vgl Rz 725).
3. Der LH ist Vorsitzender der LReg. Daneben kann er im Rahmen des Ressortsy- 753 stems mit der monokratischen Erledigung von Aufgaben der Landesverwaltung betraut werden. Schlieûlich vertritt er kraft bundesverfassungsrechtlicher Anordnung das Bundesland, dh er gibt namens des Landes rechtsverbindliche ErklaÈrungen ab (Art 105 Abs 1 B-VG). Auf seine wichtige Rolle im Rahmen der mittelbaren BV ist bereits hingewiesen worden (vgl Rz 722). Zu seiner starken politischen Stellung im Land traÈgt auch bei, dass er Vorstand des Amtes der LReg und Vorgesetzter der Bezirkshauptleute ist. Die in Art 105 Abs 1 B-VG enthaltene Regelung u È ber die Vertretung des LH bezieht sich auf seine Vertretung im Rahmen der mittelbaren BV. Das bedeutet, dass der oder die Stellvertreter
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des LH an sich vom LT gewaÈhlt werden (Art 101 B-VG), die LReg aber beschlieût, welcher Stellvertreter den LH bei der mittelbaren BV vertritt. Dessen Bestellung ist dem BK zur Kenntnis zu bringen.
754 4. Den GrundsaÈtzen eines parlamentarischen Regierungssystems entsprechend ist die LReg dem LT gegenu È ber politisch und rechtlich verantwortlich. Den LT stehen nach naÈherer Regelung in den LV die verschiedenen Instrumente der politischen Kontrolle (Interpellations-, Resolutions-, Enqueterecht) zur Verfu È gung. Sie koÈnnen einer LReg das Misstrauen aussprechen, was dazu fu È hrt, dass die LReg oder das entsprechende Mitglied sein Amt verliert oder des Amtes enthoben wird. Wegen Gesetzesverletzung koÈnnen Mitglieder der LReg durch Beschluss des LT beim VfGH angeklagt werden (Art 142 Abs 2 lit d B-VG; rechtliche Ministerverantwortlichkeit).
È rden 28.2. Weitere Landesbeho È rdliche Dienststelle auf Landesebene, 755 1. Das Amt der LReg ist die zentrale beho dessen Einrichtung durch ein eigenes BVG ± das BVG betreffend GrundsaÈtze fu È r die È mter der LReg auûer Wien BGBl 1925/289 Einrichtung und GeschaÈftsfu È hrung der A ± geregelt ist. In seiner Funktion entspricht das Amt der LReg einem einheitlichen ¹Ministeriumª des Bundeslandes. Es ist grundsaÈtzlich keine BehoÈrde, sondern ein behoÈrdlicher Hilfsapparat, der den verschiedenen obersten Organen des Landes (LReg als Kollegium, Mitglieder der LReg im Bereich der monokratisch besorgten Aufgaben) zur Verfu È gung steht, der aber auch gleichzeitig die Aufgaben der mittelbaren BV in Unterordnung unter den LH oder einen damit betrauten Landesrat besorgt. Vorstand des Amtes der LReg und Dienstvorgesetzter aller Bediensteten ist der LH. In fachlichen Fragen sind die jeweils zustaÈndigen obersten Organe (LReg, LH, Landesrat) weisungsbefugt. Den inneren Dienst des Amtes leitet ein Landesamtsdirektor, der oberster Beamter des Landes ist. Weil das Amt der LReg grundsaÈtzlich keine BehoÈrde, sondern nur ein beho È rdlicher Hilfsapparat ist, werden zB Bescheide entweder als Bescheide der LReg (im Bereich der Landesverwaltung) oder des LH (im Bereich der mittelbaren BV) erlassen. Vereinzelt ist es È rde taÈtig wird, von der aber auch vorgesehen, dass das Amt der LReg als selbstaÈndige Beho ein Instanzenzug zur LReg fu È hrt.
756 2. Auf der Ebene der politischen Bezirke werden die GeschaÈfte der LandesverwalÈ rden (BezVerBeh) gefu tung von den Bezirksverwaltungsbeho È hrt. Als BezVerBeh fungieren entweder die Bezirkshauptmannschaften oder die StaÈdte mit eigenem Statut (StatutarstaÈdte). Auf die StatutarstaÈdte wird im Rahmen des Gemeindeverfassungsrechts naÈher eingegangen (vgl Rz 780). Die Bezirkshauptmannschaften sind organisatorisch LandesbehoÈrden, die monokratisch gefu È hrt werden; an ihrer Spitze steht ein Bezirkshauptmann (Bezirkshauptfrau). Ihnen sind auf Bezirksebene alle Verwaltungsaufgaben u È bertragen, fu È r die es keine SonderbehoÈrden gibt (subsidiaÈre AllzustaÈndigkeit der Bezirkshauptmannschaft). Die Organisation der Bezirkshauptmannschaften wird durch entsprechende Landesgesetze geregelt. Beachte, dass den Bezirkshauptmannschaften auch die Fu È hrung der Aufgaben der mittelbaren BV mit u È bertragen ist, sie daher auch funktionell als BundesbehoÈrden taÈtig werden. Praktisch sind die Bezirkshauptmannschaften die zentrale verwaltungsbehoÈrdliche Anlaufstelle im Bezirk. Die Sprengel (Amtsgebiete) der politischen Bezirke werden durch eine VO der LReg festgelegt, wobei allerdings SprengelaÈnderungen der Zustimmung der BReg bedu È rfen È G 1920). Die Zustimmung der BReg ist auch fu (§ 8 Abs 5 lit d U È r Landesgesetze erforderlich, durch welche die bestehende Organisation der BehoÈrden der allgemeinen staatlichen Verwaltung in den LaÈndern (dh auch der Bezirkshauptmannschaften) abgeaÈndert oder neu geregelt wird (Art 15 Abs 10 B-VG).
757 3. Mit der Fu È hrung der Landesverwaltung koÈnnen auch die Gemeinden im Rahmen ihres u È bertragenen Wirkungsbereichs betraut sein. Darauf wird noch bei der Besprechung der Gemeinden eingegangen (vgl Rz 796).
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4. Neben den BehoÈrden der allgemeinen staatlichen Verwaltung in den LaÈndern 758 È mter der LReg, BezVerBeh) koÈnnen die LaÈnder noch gewisse Sonderbeho È rden (A einrichten und mit Aufgaben der Landesverwaltung betrauen. Das koÈnnen auch weisungsfreie VerwaltungsbehoÈrden sein, deren Weisungsfreiheit im Rahmen des Art 20 Abs 2 B-VG entweder durch Landesverfassungsgesetz oder Landesgesetz angeordnet ist bzw die als KollegialbehoÈrden mit richterlichem Einschlag (Art 20 Abs 2 Z 3, È rden der LaÈnder sind beispielsweise 133 Z 4 B-VG) eingerichtet sind. Sonderbeho die Grundverkehrsbeho È rden oder besondere DienstbehoÈrden. È rden mit der Vollziehung von Landes- 759 5. Die LaÈnder koÈnnen auch Bundesbeho recht betrauen. In gewisser Weise handelt es sich bei dieser Form der mittelbaren Verwaltung um ein (freilich eng begrenztes) GegenstuÈck zur mittelbaren BV. Die Einschaltung von BundesbehoÈrden ist vor allem dann notwendig, wenn die LaÈnder eine ZustaÈndigkeit eines Gerichts vorsehen wollen (bei straf- und zivilrechtlichen Regelungen nach Art 15 Abs 9 B-VG) oder wenn sie eine Mitwirkung von Exekutivorganen des Bundes (vor allem zur Erledigung polizeilicher Aufgaben) fu È r erforderlich ansehen. Landesgesetze, welche die Mitwirkung von Bundesorganen vorsehen, bedu È rfen der Zustimmung der BReg (Art 97 Abs 2 B-VG). In der Praxis spielen bei der Entscheidung u È ber die Zustimmung des Bundes die Kosten eine nicht unbedeutende Rolle. In einigen FaÈllen ordnet die Verfassung eine zwingende Mitwirkung von Bundesorganen an der Landesvollziehung an (Art 15 Abs 3 B-VG: Theater-, Kino- und Veranstaltungswesen; Art 15 Abs 4 B-VG: bestimmte Aufgaben vor allem der Straûenpolizei). In diesen FaÈllen entfaÈllt das Zustimmungserfordernis. AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zu den Abschnitten 24±28: VwSlg 9151 A/1976: Eine wichtige Entscheidung, die am Beginn der Entwicklung zu einem eigenstaÈndigen Auskunftspflichtrecht steht und grundsaÈtzliche Aussagen zum Begriff des subjektiven Rechts enthaÈlt. VfSlg 3262/1957 und 10.357/1985: Ob im Einzelfall ein Akt der Hoheitsverwaltung oder nichthoheitliches Verwaltungshandeln vorliegt, kann mitunter schwierig zu beurteilen sein. In diesen Entscheidungen hat der VfGH eine Art von ¹Zweifelsregelª aufgestellt. VfSlg 17.774/2006: BehoÈrdlich veranlasste bzw autorisierte TV-Aufnahmen aus Anlass einer gewerbe- und sicherheitsbehoÈrdlichen Kontrolle sind Maûnahmen der Befehls- und Zwangsgewalt. VfSlg 12.838/1991: GewaÈhrt Art 20 Abs 4 B-VG ein verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistetes Recht auf Auskunftserteilung? Der VfGH verneint das in dieser Entscheidung, weil diese Bestimmung nach seiner Auffassung nur eine objektive verfassungsrechtliche Verpflichtung des zustaÈndigen Gesetzgebers schafft. Einfachgesetzliche subjektive Rechte auf Auskunft ergeben sich aber aus den AuskunftspflichtG. Welche Bedeutung hat diese Frage fu È r die Abgrenzung der ZustaÈndigkeiten von VfGH und VwGH? VfSlg 12.744/1991: Ein Beispiel fu È r einen ¹Erlassª (generelle Weisung), der nach Ansicht des VfGH in Wahrheit eine auûenwirksame VO war, die wegen Kundmachungsmangels aufzuheben war. VfSlg 13.626/1993: Oberste Organe du È rfen nicht einer verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen Kontrolle durch andere Instanzen unterworfen werden. Vgl als Reaktion auf diese Entscheidung die Verfassungsbestimmung in § 35 Abs 2 DSG. VfSlg 16.400/2001: Ein wichtiges Erkenntnis zur verfassungsrechtlich vorgegebenen ¹Ingerenzpflichtª bei Ausgliederungen. Vgl auûerdem das grundlegende Erkenntnis zum Fall Austro Control VfSlg 14.473/1996. VfSlg 8317/1978: Unter welchen Voraussetzungen ist eine KollegialbehoÈrde mit richterlichem Einschlag ein ¹Tribunalª iS von Art 6 EMRK? Beachte, wie hier der VfGH die so genannte ¹Anscheinsjudikaturª des EGMR u È bernimmt ± schon der Èauûere Anschein einer AbhaÈngigkeit eines Mitglieds kann die Unparteilichkeit der BehoÈrde in Frage stellen.
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Teil II. Die Staatsorganisation und die Staatsfunktionen
VfSlg 11.403/1987: Eine wichtige Entscheidung zur mittelbaren BV. Beachte, dass der VfGH hier die mittelbare BV als wesentliches Element des bundesstaatlichen Prinzips bezeichnet hat. VfSlg 11.170/1986: Ein Beispiel dafu È r, wie Amtshandlungen von Exekutivorganen (Wachko È rpern) der BehoÈrde zugerechnet werden, in deren Auftrag sie taÈtig wurden. VfSlg 13.966/1994: Darf jemand zur Annahme seiner Wahl in die LReg gezwungen werden? Beachte den hier vom VfGH entwickelten Grundsatz, dass niemand zur Annahme einer Wahl gezwungen werden darf, wenn nicht eine gesetzliche Verpflichtung besteht. Zur Vertiefung: Zu Grundsatzfragen der Verwaltung, zu Auskunftspflicht, Amtsverschwiegenheit und Amtshilfe: Berka, Whistleblower and Leaks: Von den Schwierigkeiten das È JK (Hrsg), Recht und O È ffentlichkeit (2004) 66; Feik, O È fAmtsgeheimnis zu wahren, in: O fentliche Verwaltungskommunikation (2007); Kucsko-Stadlmayer, LegalitaÈtsprinzip und Weisungsgebundenheit des Beamten, in: Ringhofer-GS (1995) 77; Perthold-Stoitzner, Die Auskunftspflicht der Verwaltungsorgane2 (1998); Stolzlechner, MoÈglichkeiten und Grenzen der Bindung oberster Verwaltungsorgane bei der Verordnungserlassung, in: G. Winkler-FS (1997) 1161; Weichselbaum, Berufsbeamtentum und Verfassung (2003). Zum BundespraÈsidenten: Grabenwarter, Die Verteilung voÈlkerrechtsbezogener ZustaÈndigÈ R 1995, 79; Koja, Die rechtlichen keiten nach der oÈsterreichischen Bundesverfassung, ZO und politischen MoÈglichkeiten des BundespraÈsidenten bei der Ernennung der Bundesregierung, JRP 1994, 175; Welan, Der BundespraÈsident im System der o È sterreichischen Bundesverfassung, in: FS 75 Jahre Bundesverfassung (1995) 483. Zur Bundesregierung: Welan/Neisser, Der Bundeskanzler im oÈsterreichischen Verfassungsgefu È ge (1971); Wieser, Die einstweilige Bundesregierung (1994). Zur Bundesverwaltung: Ermacora/Neisser/Rauter, Wehrrecht2 (1990); Hauer/Keplinger, È ger, Das Bildungswesen, in: Sicherheitspolizeigesetz. Kommentar3 (2005); Hengstschla Schambeck (Hrsg), Das oÈsterreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung (1980) 597; Koja, Der BundespraÈsident und das Heer, JRP 1997, 15; Weber, Die mittelbare Bundesverwaltung (1987); Wiederin, Einfu È hrung in das Sicherheitspolizeirecht (1998). Zur Landesverwaltung: Holzinger, Der Bundesstaat in der Verfassungswirklichkeit, in: È sterreich (1997) 235; Koja, Das VerfasSchambeck (Hrsg), Bundesstaat und Bundesrat in O È hlinger, VerhaÈltniswahl oder sungsrecht der oÈsterreichischen BundeslaÈnder2 (1988); O Mehrheitswahl der Landesregierung, JRP 1997, 162; Pernthaler, Mehrheitsregierung: Eine neue Chance fu È r Demokratie und Parlamentarismus in den LaÈndern? JRP 1999, 202. È ber die Grenzen der Errichtung von KolleÈ ger, U Zu den weisungsfreien BehoÈrden: Buûja gialbehoÈrden mit richterlichem Einschlag, ZfV 2001, 15; Grabenwarter/Holoubek, Demokratie, Rechtsstaat und KollegialbehoÈrden mit richterlichem Einschlag, ZfV 2000, 194; Wiederin, Woran erkennt man eine Art 133 Z 4-BehoÈrde? WBl 2001, 460.
4. Kapitel: Die Selbstverwaltung 29. Begriff und Einrichtungen der Selbstverwaltung 1. Die bisher besprochenen BehoÈrden der Bundes- und Landesverwaltung sind 760 È rden: Sie sind den obersten Organen der staatlichen GebietskoÈrstaatliche Beho perschaften (Bund und LaÈndern) untergeordnet und bilden mit ihnen einen Teil der Staatsverwaltung. Ihre demokratische Legitimation ergibt sich aus der Bindung an das Gesetz und aus der parlamentarischen Verantwortlichkeit der obersten Organe. Die Bu È rgerinnen und Bu È rger sind an der bu È rokratischen Fu È hrung der Verwaltung durch diese BehoÈrden idR nicht beteiligt. In der Tradition des o È sterreichischen Verfassungsstaats gibt es auch noch eine andere Form der Verwaltung, die dieser Staatsverwaltung gegenu È bergestellt werden kann, und zwar die Einrichtungen der Selbstverwaltung. Ihnen liegt der Gedanke zu Grunde, dass gewisse o È ffentliche Angelegenheiten, welche die zu einer Gruppe zusammengeschlossenen Menschen besonders beru È hren, auch von diesen unmittelbar selbst besorgt werden sollen. Die demokratische Legitimation der Selbstverwaltung ergibt sich hier aus dem Umstand, dass die Betroffenen ihre eigenen Angelegenheiten selbst verwalten. In der historischen Verfassungsentwicklung hat sich das Prinzip der Selbstverwaltung vor allem im Bereich der Gemeinden erfolgreich durchsetzen koÈnnen. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts galt die ¹freie Gemeindeª als der Ort der demokratischen Selbstbestimmung, die der von der Bu È rokratie des Monarchen beherrschten Staatsverwaltung entgegengesetzt werden konnte. Nach diesem Modell der territorialen (Gemeinde-) Selbstverwaltung konnten in der Folge auch andere gesellschaftliche Interessen organisiert werden, vor allem die beruflichen Vertretungen (Kammern) und andere InteressenverbaÈnde. 2. Ob die Einrichtungen der Selbstverwaltung den ihnen angehoÈrigen Menschen tat- 761 saÈchlich eine aktive, bu È rgerschaftliche Mitgestaltung ihrer eigenen Angelegenheiten ermoÈglichen, haÈngt von verschiedenen UmstaÈnden ab. Die groûen StaÈdte oder die Kammern sind bu È rokratische Groûorganisationen, die sich von der staatlichen Verwaltung in vielem nicht mehr unterscheiden. Nicht zuletzt deshalb sind die groûen VerbaÈnde, vor allem die Einrichtungen der wirtschaftlichen Selbstverwaltung, in eine Legitimationskrise geraten, wobei vor allem die Pflichtmitgliedschaft in Frage gestellt wurde. Das zeigt, dass auch in Organisationen, die nach dem Muster der Selbstverwaltung eingerichtet sind, die demokratische Partizipation keine SelbstverstaÈndlichkeit ist, sondern nur funktioniert, wenn dem Engagement der VerbandsangehoÈrigen auch entsprechende BetaÈtigungsfelder eroÈffnet werden. 3. In der Verfassungsordnung des B-VG durchbrechen die Einrichtungen der Selbst- 762 verwaltung das Prinzip des hierarchischen Verwaltungsaufbaus, weil fu È r sie die Freistellung von der staatlichen Weisungsgewalt wesentlich ist. Abgesehen von den Gemeinden, deren Selbstverwaltung verfassungsrechtlich explizit geregelt ist, war es daher lange Zeit umstritten, wieweit der einfache Gesetzgeber Selbstverwaltungseinrichtungen schaffen durfte. In der weiteren Folge hatte sich allerdings die Ansicht durchgesetzt, dass das B-VG gewisse Einrichtungen der Selbstverwaltung vorausÈ brigen zulaÈsst, fu setzt und es im U È r die Organisation eigener Interessen weitere SelbstverwaltungskoÈrperschaften zu schaffen (VfSlg 8215/1977). Durch die B-VG-Novelle 2008 wurde in das B-VG ein eigener Abschnitt eingefu È gt, der die Einrichtungen der ¹sonstigen Selbstverwaltungª regelt (Art 120a±120c B-VG). In diesem Abschnitt werden zunaÈchst der Begriff und die wesentlichen Merkmale der SelbstÈ berblick u verwaltung eroÈrtert und wird ein U È ber die wichtigsten Selbstverwaltungseinrichtun-
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gen gegeben. Das Gemeindeverfassungsrecht wird im naÈchsten Abschnitt ausfu È hrlicher dargestellt.
È rper 29.1. Die verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsko (¹sonstige Selbstverwaltungª) 763 1. Wenn die Verfassung in dem der Selbstverwaltung gewidmeten 5. Hauptstu È ck des B-VG in einem eigenen Abschnitt ¹Bª die Einrichtung und gewisse Grundstrukturen der ¹sonstigen Selbstverwaltungª regelt, bestaÈtigt sie die grundsaÈtzliche verfassungsrechtliche ZulaÈssigkeit einer Wahrnehmung von Staatsaufgaben durch Erscheinungsformen der demokratischen Selbstverwaltung. Von Einrichtungen der ¹sonstigenª Selbstverwaltung ist deshalb die Rede, um diese von der Gemeindeselbstverwaltung (also der territorialen Selbstverwaltung) abzugrenzen. In der naÈheren Ausgestaltung dieser sonstigen SelbstverwaltungskoÈrper hat sich der Verfassungsgeber freilich an dem Modell der Gemeinde orientiert. È rperschaft bedarf einer gesetzli764 2. Die Begru È ndung einer Selbstverwaltungsko chen Grundlage, wobei sich die ZustaÈndigkeit nach der allgemeinen Kompetenzverteilung (Art 10±15 B-VG) richtet. Daher ist zB der Bundesgesetzgeber befugt, eine Rechtsanwaltskammer einzurichten, weil ihm die GesetzgebungszustaÈndigkeit fu È r die Angelegenheiten der RechtsanwaÈlte (Art 10 Abs 1 Z 6 B-VG) zukommt, und kann der fu È r das Jagdwesen zustaÈndige Landesgesetzgeber die JaÈger des Bundeslandes in einer sich selbst verwaltenden LandesjaÈgerschaft zusammenfassen. Dabei darf der Gesetzgeber allerdings nicht beliebige Selbstverwaltungseinrichtungen schaffen. Vielmehr fordert die Verfassung (Art 120a Abs 1 B-VG), dass es sich È ffentlicher Aufgaben handelt, . um die Wahrnehmung o . die im ausschlieûlichen oder u È berwiegenden gemeinsamen Interesse einer bestimmten Personengruppe liegen, und die auch . geeignet sind, durch diese in einem SelbstverwaltungskoÈrper zusammengefassten Personen gemeinsam besorgt zu werden. Damit wird deutlich, dass der Selbstverwaltung das demokratische Prinzip der eigenverantwortlichen Besorgung der eigenen Angelegenheiten durch die VerbandsangehoÈrigen zu Grunde liegt. Man kann auch von der Autonomie der SelbstverwalÈ rper sprechen, wobei mit Autonomie die Eigenschaft einer juristischen Pertungsko son bezeichnet wird, ihre eigenen Angelegenheiten selbstaÈndig zu gestalten. Die Einrichtung eines SelbstverwaltungskoÈrpers setzt daher auch die Existenz eines eigenen RechtstraÈgers voraus, dh eines selbstaÈndigen Rechtssubjekts, das von den staatlichen GebietskoÈrperschaften Bund und Land verschieden ist. Weil Art 120a B-VG von einer Zusammenfassung von Personen spricht, wird es sich dabei um KoÈrperschaften oÈffentlichen Rechts handeln. Fu È r sie ist eine Pflichtmitgliedschaft charakteristisch; dadurch unterscheiden sie sich von freiwilligen Vereinigungen (wie den Vereinen nach dem VerG). È ffentlichen Aufgaben durch 765 3. Die Verfassung legt nicht naÈher fest, welche o SelbstverwaltungskoÈrper besorgt werden koÈnnen und ist insoweit offen fu È r die vielfaÈltigen Interessen beruflicher, sozialer oder sonstiger Art, welche eine Gruppe von È sterreich auch eine VielMenschen verbinden kann. Dementsprechend gibt es in O zahl von ganz unterschiedlichen Selbstverwaltungseinrichtungen (vgl Rz 769). Bestimmte Selbstverwaltungseinrichtungen werden allerdings in Art 120a Abs 2 B-VG hervorgehoben und in ihrem Bestand verfassungsrechtlich garantiert, das sind jene SelbstverwaltungskoÈrper, die zu den Einrichtungen der Sozialpartnerschaft gehoÈren (vgl zur Sozialpartnerschaft Rz 147 ff). Die Verfassung ¹anerkennt
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die Rolle der Sozialpartnerª und ¹achtet ihre Autonomieª; als konkrete Rechtsfolge ist von einer Verpflichtung des Gesetzgebers auszugehen, die in den ¹sozialpartnerÈ rperschaften der Arschaftlichen Dialogª eingebundenen Selbstverwaltungsko beitnehmer und der Wirtschaftstreibenden (das sind gegenwaÈrtig die Arbeiterkammern und die Wirtschaftskammern) als solche zu erhalten.
È rper 29.2. Die wesentlichen Merkmale der Selbstverwaltungsko 1. Wenn sich der Gesetzgeber zur Einrichtung eines SelbstverwaltungskoÈrpers ent- 766 schlieût, hat er bei der Regelung der dieser Einrichtung u È bertragenen Aufgaben und bei der Ausgestaltung ihrer Organisation gewisse verfassungsrechtlich vorgegebene GrundsaÈtze zu beachten (Art 120b, 120c). Sie ergeben sich aus dem Wesen einer demokratisch legitimierten Selbstverwaltung: . Dem SelbstverwaltungskoÈrper ist die Besorgung gewisser gemeinsamer Aufgaben zu u È bertragen, die eigenverantwortlich wahrgenommen werden; dabei kann es sich um hoheitliche und/oder privatwirtschaftliche Aufgaben handeln. . Bei der Besorgung dieser Aufgaben unterliegt die Selbstverwaltungseinrichtung keiner Bindung an Weisungen staatlicher Instanzen (Weisungsfreiheit); dies schlieût nicht aus, dass es innerhalb einer Selbstverwaltungseinrichtung WeisungsverhaÈltnisse geben kann, doch ist der Weisungszusammenhang zu den staatlichen BehoÈrden unterbrochen. . Dem SelbstverwaltungskoÈrper kommt kraft Verfassung das Recht zur Erlassung von Satzungen im Rahmen der Gesetze zu. Satzungen sind generelle Rechtsakte (Verordnungen) einer Selbstverwaltungseinrichtung. Weil diese Satzungsgewalt ¹im Rahmen der Gesetzeª besteht, koÈnnen auch gesetzesvertretende Satzungen erlassen werden (vgl dazu Rz 668). . Zur Sicherung der GesetzmaÈûigkeit der Aufgabenerfu È llung (die Selbstverwaltungseinrichtung ist zwar weisungsfrei, aber selbstverstaÈndlich an das Gesetz gebunden), muss der Gesetzgeber ein staatliches Aufsichtsrecht vorsehen. Diese Staatsaufsicht ist regelmaÈûig eine Rechtsaufsicht; sie kann aber auch eine ZweckmaÈûigkeitsaufsicht sein, die etwa die Wirtschaftlichkeit oder ZweckmaÈûigkeit des Handelns der Selbstverwaltungseinrichtung u È berwacht, wenn dies auf Grund der Aufgaben des SelbstverwaltungskoÈrpers erforderlich ist. . Die Organe des SelbstverwaltungskoÈrpers mu È ssen nach demokratischen GrundsaÈtzen aus dem Kreis ihrer Mitglieder gebildet werden. Diese Verpflichtung zu einer binnendemokratischen Organisation von Selbstverwaltungseinrichtungen ergab sich schon aus der bisherigen Judikatur des VfGH (VfSlg 8644/1979, 10.306/ 1984), der allerdings auch deutlich gemacht hat, dass der Gesetzgeber bei der naÈheren Ausgestaltung dieses Gebots einen relativ weiten rechtspolitischen Spielraum hat, der auch Formen einer indirekten Wahl umfasst (VfSlg 17.023/2003). . Die SelbstverwaltungskoÈrper sind zu einer sparsamen und wirtschaftlichen Aufgabenbesorgung verpflichtet, wobei die Einhaltung dieser Verpflichtung auch durch die RH-Kontrolle gesichert wird (vgl Rz 872 f). Wenn in diesem Zusammenhang die Finanzierung durch BeitraÈge der Mitglieder erwaÈhnt wird (Art 120c Abs 2 B-VG), wird zugleich die (politisch zT umstrittene) Befugnis der Selbstverwaltungseinrichtungen klargestellt, von ihren Pflichtmitgliedern BeitraÈge einzuheben. Eine Ausfallhaftung des Staates ist damit nicht verbunden. 2. Wenn der einfache Gesetzgeber Selbstverwaltungseinrichtungen begru È ndet, hat 767 er einen groûen Spielraum zur naÈheren Ausgestaltung ihrer Organisation und Aufgaben. Er ist aber an die angefu È hrten Wesensmerkmale gebunden, was ei-
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ner Art von Typenzwang nahe kommt: Werden daher zB Verwaltungsaufgaben aus der unmittelbaren Staatsverwaltung ausgegliedert und an einen selbstaÈndigen RechtstraÈger u È bertragen, muss der Gesetzgeber diesen (abgesehen von den FaÈllen des Art 20 Abs 2 B-VG) entweder der staatlichen Weisungsgewalt unterstellen oder er muss ihn nach dem Typus einer Selbstverwaltungseinrichtung organisieren, wenn er ihn weisungsfrei stellen mo È chte. Das hat dann auch entsprechende Konsequenzen fu È r die Ausgestaltung der Willensbildung, die demokratischen GrundsaÈtzen entsprechen muss (VfSlg 17.023/2003). 768 3. Was die Aufgaben von Selbstverwaltungseinrichtungen betrifft, so sind das in erster Linie die Aufgaben, die im eigenen Interesse der VerbandsangehoÈrigen liegen und die daher von diesen eigenverantwortlich erledigt werden sollen. Der Gesetzgeber kann einer Selbstverwaltungseinrichtung neben solchen eigenen Aufgaben auch noch Aufgaben der staatlichen Verwaltung zur Mitbesorgung u È bertragen (Art 120b Abs 2 B-VG). Das ist haÈufig der Fall: Man unterscheidet dann einen eigenen Wirkungsbereich (das sind die eigenen, weisungsfrei zu besorgenden Aufgaben) von einem u È bertragenen Wirkungsbereich, in dem die Selbstverwaltungseinrichtung staatliche Aufgaben in Bindung an die Weisungen u È bergeordneter BehoÈrden besorgt. Die Aufgaben des u È bertragenen Wirkungsbereiches mu È ssen ausdru È cklich als solche bezeichnet werden.
29.3. Erscheinungsformen der Selbstverwaltung 769 Fu È r alle Selbstverwaltungseinrichtungen ist es charakteristisch, dass ihre AngehoÈrigen durch gewisse gemeinsame Merkmale und Interessen zusammengehalten werden. Auf dieser Grundlage kann man auch verschiedene Typen von Selbstverwaltung unterscheiden: . Territoriale Selbstverwaltung, das ist die Gemeindeselbstverwaltung durch die AngehoÈrigen der jeweiligen Gemeinde (dazu Rz 774 ff). . Personelle Selbstverwaltung, das sind die in Art 120a ff B-VG geregelten Einrichtungen der sonstigen Selbstverwaltung, denen bestimmte, durch gemeinsame Interessen zusammengehaltene Mitglieder angehoÈren. Es gibt sie in den folgenden Erscheinungsformen: . Berufliche bzw wirtschaftliche Selbstverwaltung, das ist die gemeinsame Wahrnehmung wirtschaftlicher und beruflicher Interessen durch die VerbandsangehoÈrigen. Dazu gehoÈren die gesetzlichen Berufsvertretungen, dh die Kammern (Wirtschaftskammer, Arbeiterkammer, die Kammern der freien Berufe, zB Rechtsanwaltskammer). . Soziale Selbstverwaltung, das ist die Selbstverwaltung der Versicherten und Unternehmen in der gesetzlichen Sozialversicherung, wobei die demokratischen Strukturen hier nur mittelbar ausgepraÈgt sind (keine Wahl der Organe durch die Versicherten). . Sonstige Interessenvertretungen und ZweckverbaÈnde, wie etwa die È sterreichische Hochschu O È lerschaft als Interessenvertretung der Studierenden, Organisationen der JaÈgerschaft auf Landesebene, TourismusverbaÈnde usw.
29.4. Verwandte Einrichtungen (UniversitaÈtsautonomie, Beleihung) 770 1. Durch eine eigenstaÈndige Verfassungsbestimmung ist die UniversitaÈtsautonomie verfassungsrechtlich verankert (Art 81c Abs 1 B-VG). Danach sind sind die o È f-
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fentlichen UniversitaÈten zu einer autonomen Besorgung ihrer Aufgaben im Bereich der wissenschaftlichen Forschung und Lehre befugt. Weil diese Autonomie ¹im Rahmen der Gesetze und Verordnungenª (und nicht: ¹auf Grundª) gewaÈhrleistet ist, gilt das LegalitaÈtsprinzip fu È r die UniversitaÈten nur in abgeschwaÈchter Form; fu Èr sie ist das Gesetz nur die Grenze und nicht die Grundlage des Verwaltungshandelns. Das gilt auch fu È r die Erlassung von Satzungen (Verordnungen), in welcher Form etwa die Curricula oder die OrganisationsplaÈne der einzelnen UniversitaÈten verabschiedet werden. Die gewaÈhrleistete Autonomie umschlieût zunaÈchst die Weisungsfreiheit der UniversitaÈten gegenu È rden, wobei die È ber den staatlichen Aufsichtsbeho Mitglieder universitaÈrer Kollegialorgane (zB Mitglieder des Senats) auch intern weisungsfrei sind. Ein autonomes Handeln bei der Wahrnehmung der UniversitaÈtsaufgaben setzt auûerdem eigenstaÈndige inhaltliche Entscheidungskompetenzen in allen Angelegenheiten voraus, die fu È r die Erfu È llung dieser Aufgaben unter den heutigen Bedingungen moderner UniversitaÈten wesentlich sind; sie mu È ssen sich auf die Ausgestaltung der eigenen Organisation, auf die Verwaltung der vom Staat zur Verfu Ègung gestellten oder selbst erworbenen Finanzmittel, auf die Personalverwaltung und vor allem auch auf die Gestaltung der Lehre und die Entscheidung fu È r Forschungsschwerpunkte beziehen. a) Durch das UG 2002 wurde die UniversitaÈtsautonomie auch einfachgesetzlich umfassend 771 È ffentlichen Rechts einausgebaut: Die UniversitaÈten wurden als selbstaÈndige Anstalten o gerichtet, die u È ber ein eigenes Budget verfu È gen, das auf der Grundlage von mehrjaÈhrigen Leistungsvereinbarungen mit dem Bund aus dem Bundesbudget dotiert wird; sie erlassen autonome Curricula und stellen ihr eigenes Personal auf privatrechtlicher Grundlage ein. Ob die UniversitaÈten nach dem Muster einer SelbstverwaltungskoÈrperschaft eingerichtet sind, war umstritten; dies hat vor allem eine Rolle bei der Beurteilung der inneruniversitaÈren Entscheidungsstrukturen gespielt. Wie nicht zuletzt die gesonderte verfassungsrechtliche Regelung der Einrichtungen der sonstigen Selbstverwaltung (Art 120a ff B-VG) zeigt, ist das Modell der demokratischen Selbstverwaltung fu È r die UniversitaÈten nicht maûgeblich. Man kann daher allenfalls von selbstverwaltungsaÈhnlichen Einrichtungen sprechen, nicht zuletzt deshalb, weil die UniversitaÈten einen o È ffentlichen Auftrag haben, der u È ber die Verwaltung der eigenen Interessen der UniversitaÈtsangeho È rigen hinausgeht. Die Autonomie der UniversitaÈten ist daher letztlich durch den Umstand bedingt, dass eine leistungsfaÈhige universitaÈre Forschung und eine qualitativ hoch stehende akademische Lehre auf Selbststeuerung angewiesen sind, auch wenn diese bei oÈffentlichen UniversitaÈten in staatliche Verantwortlichkeiten eingebettet ist. Die VerfassungsmaÈûigkeit der durch das UG 2002 geschaffenen UniversitaÈtsorganisation wurde durch VfSlg 17.101/2004 in den wesentlichen Punkten bestaÈtigt. b) Die Verfassungsbestimmung des Art 81c Abs 1 B-VG gewaÈhrleistet den oÈffentlichen Universi- 772 taÈten auûerdem, dass sie ¹StaÈtten freier wissenschaftlicher Forschung, Lehre und Erschlieûung der Ku È nsteª sind. Man kann darin eine bloûe BekraÈftigung der Grundrechte der Wissenschafts- und Kunstfreiheit (Art 17, 17a StGG) sehen. Will man dem Verfassungsgesetzgeber aber nicht die Schaffung u È berflu È ssiger Verfassungsbestimmungen unterstellen, hat die FreiheitsgewaÈhrleistung auch Konsequenzen fu È r die Organisation der UniversitaÈten (vgl Rz 1491).
2. Eine weitere Form der Erfu È llung von oÈffentlichen Aufgaben durch selbstaÈndige 773 RechtstraÈger stellen die FaÈlle der Beleihung dar. Hier werden Hoheitsaufgaben von der Staatsverwaltung auf private Rechtssubjekte u È bertragen, und zwar entweder auf natu È rliche Personen oder juristische Personen privaten Rechts (beliehene Unternehmen). Innerhalb gewisser Grenzen sind Beleihungen verfassungsrechtlich zulaÈssig, wobei nach der Judikatur immer nur einzelne Aufgaben und nicht ganze Verwaltungsbereiche und vor allem keine staatlichen Kernaufgaben auf Beliehene u È bertragen werden du È rfen (vgl zu den Grenzen einer Ausgliederung von Hoheitsaufgaben Rz 222). Den staatlichen BehoÈrden mu È ssen die entsprechenden EinflussmoÈglichkeiten zur Verfu È gung stehen, was neben der Unterstellung des Beliehenen unter die staatliche Aufsicht grundsaÈtzlich auch die EinraÈumung eines Weisungsrechts voraussetzt.
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È ffentlichen AufDie Beleihung von Privatpersonen spielt vor allem bei den Organen der o sicht eine Rolle. Solche privaten Wachorgane sind etwa die Jagd- und Fischereiaufsichtsorgane, Naturwacheorgane, Forstaufsichtsorgane usw. Ihnen werden durch den zustaÈndigen Gesetzgeber bestimmte beho È rdliche Befugnisse, vor allem zur Setzung von Befehls- und Zwangsmaûnahmen, u È bertragen (zB IdentitaÈtsfeststellung, Durchsuchung, Festnahme). Beliehene È sterreichische Nationalbank, der hoheitliche Befugnisse im DeUnternehmen sind etwa die O visenverkehr eingeraÈumt sind, ferner die Austro Control GmbH (Flugaufsicht) oder die Rundfunk und Telekom Regulierungs-GmbH.
30. Die Gemeindeselbstverwaltung 774 1. Die rd 2300 Gemeinden bilden die unterste territoriale Einheit des oÈsterreichischen Staatsgebiets. Ihre Organisation nach dem Muster der Selbstverwaltung gibt GemeindeangehoÈrigen die MoÈglichkeit zur demokratischen Mitwirkung im RahÈ rtlichen Gemeinschaft und bei der Gestaltung der lokalen Interessen. men der o Die Verfassung u È bertraÈgt den Gemeinden einige wichtige Verwaltungsaufgaben zur autonomen Besorgung im eigenen Wirkungsbereich, etwa in den Bereichen der o È rtlichen Raumplanung oder der o È rtlichen Baupolizei. Daneben erbringen die Gemeinden zentrale Funktionen im Bereich der Daseinsvorsorge, vor allem bei der Versorgung und Entsorgung, im Rahmen kultureller Dienstleistungen oder durch die Angebote der sozialen Fu È rsorge. Weil die Gemeinden ein verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistetes Recht auf Selbstverwaltung haben, kommt ihnen im oÈsterreichischen Staatsaufbau eine vergleichsweise starke Stellung zu. Anders als die staatlichen GebietskoÈrperschaften Bund und Land haben die Gemeinden allerdings keinen Anteil an der gesetzgebenden Gewalt, sie sind ausschlieûlich TraÈger der Verwaltung. 775 2. Im Folgenden werden die GrundzuÈge des Gemeindeverfassungsrechts dargestellt, wie
es in den Art 115±120 B-VG ausgeformt ist. Es stellt den Rahmen fu È r das einfachgesetzliche Gemeinderecht dar, das sich vor allem in den Gemeindeordnungen (GemO) der LaÈnder findet. Nach Ausfu È hrungen zur Rechtsstellung der Gemeinde und zu ihren Organen werden die Aufgaben der Gemeinde behandelt, wie sie sich aus dem eigenen und dem u È bertragenen Wirkungsbereich ergeben. In weiteren Abschnitten wird auf die Gemeindeaufsicht, die GemeindeverbaÈnde und schlieûlich die Sonderstellung von Wien als Land und Gemeinde eingegangen. Wenn im Folgenden von der Gemeinde die Rede ist, bezieht sich das genauer gesagt auf die so genannten Ortsgemeinden. Neben den Ortsgemeinden kennt das B-VG naÈmlich noch die Gebietsgemeinden; das waÈren Gemeinden hoÈherer Ordnung, die auf Bezirksebene eingerichtet und ebenfalls nach dem Muster der Selbstverwaltung organisiert werden ko È nnten. Sie sind in Art 120 B-VG erwaÈhnt, wobei ihre Einfu È hrung einem Akt des Bundesverfassungsgesetzgebers vorbehalten ist. Dazu ist es nie gekommen, und es ist auch gegenwaÈrtig wenig wahrscheinlich, dass diese verfassungsrechtliche Anku È ndigung realisiert wird. Das Konzept der Gebietsgemeinden haÈngt verfassungspolitisch mit dem Vorhaben zusammen, auch auf der Ebene der Bezirke eine staÈrkere Partizipation der Bu È rgerinnen und Bu È rger zu verwirklichen (¹Demokratisierung der Bezirksverwaltungª).
30.1. Die Rechtsstellung der Gemeinden È rperschaften mit dem Recht zur Selbstver776 1. Die Gemeinden sind Gebietsko È rperschaften wie der Bund waltung (Art 116 Abs 1 B-VG). Sie sind Gebietsko und die LaÈnder, dh VerbaÈnde, denen alle Menschen angehoÈren, die sich in dem jeweiligen Gebiet (im Fall der Gemeinde im Gemeindegebiet) aufhalten. Anders als die staatlichen GebietskoÈrperschaften Bund und LaÈnder sind die Gemeinden aber È rperschaften, die insoweit vom Staat verschieden sind und Selbstverwaltungsko eigene RechtspersoÈnlichkeit haben. Das Recht auf Selbstverwaltung ist ein verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistetes Recht, das die Gemeinden auch entsprechend verteidigen koÈnnen, zB durch die Anfechtung von Bescheiden beim VfGH, wenn
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diese in das Selbstverwaltungsrecht eingreifen, oder durch einen Individualantrag gegen Gesetze, die den eigenen Wirkungsbereich in verfassungswidriger Weise verku È rzen (VfSlg 11.633, 11.873/1988, 13.985/1994). Die Unterscheidung zwischen dem Staat (Bund und LaÈnder) und der SelbstverwaltungskoÈrperschaft Gemeinde ist freilich relativ. Sie bezieht sich auf die Art und Weise, wie die Willensbildung in den jeweiligen Gemeinwesen organisiert ist, wobei die staatlichen GebietskoÈrperschaften durch eine gewaltenteilende Organisation mit parlamentarischer Gesetzgebung und eine hierarchische Verwaltung gekennzeichnet sind, waÈhrend die Gemeinden nur Verwaltungsaufgaben wahrnehmen, an denen aber die Gemeindebu È rger im Wege der Selbstverwaltung mitwirken. Auch die Gemeinden erfu È llen staatliche Aufgaben, weil es funktionell betrachtet nur Bundes- und Landesaufgaben gibt; die Aufgaben des eigenen Wirkungsbereichs sind Aufgaben, die den Gemeinden entweder vom Bund oder vom Land zur eigenverantwortlichen Besorgung u È berlassen werden. Die Gemeinden sind auch den verfassungsrechtlichen GrundsaÈtzen unterworfen, die fu È r die staatliche Verwaltung maûgeblich sind (zB Gesetzesbindung, Amtsverschwiegenheit, Grundrechtsbindung usw).
È rper, dh rechtsfaÈhige 777 2. Die Gemeinden sind auch selbstaÈndige Wirtschaftsko Wirtschaftssubjekte, die privatwirtschaftlich taÈtig werden koÈnnen. Sie koÈnnen VermoÈgen erwerben und daru È ber verfu È gen, wirtschaftliche Unternehmen betreiben und im Rahmen der Finanzverfassung ihren Haushalt selbstaÈndig fu È hren und Abgaben ausschreiben (Art 116 Abs 2 B-VG). Diese Kommunalwirtschaft ist ein wichtiger Wirtschaftszweig und viele Leistungen der Gemeinde werden im Wege der Privatwirtschaftsverwaltung erbracht (kommunaler Wohnungsbau, Museen oder Theater, Sportanlagen, Krankenanstalten usw). Wenn die Verfassung in diesem Zusammenhang bestimmt, dass die Gemeinde ihre wirtschaftlichen Angelegenheiten innerhalb der Schranken der ¹allgemeinen Gesetzeª (Art 116 Abs 2 B-VG) fu È hrt, laÈuft das darauf hinaus, dass die Bundes- und Landesgesetzgeber keine besonderen, die Gemeinden diskriminierenden Gesetze fu È r die kommunale WirtschaftstaÈtigkeit erlassen du È rfen. Manche GemO beschraÈnken die ZulaÈssigkeit einer privatwirtschaftlichen TaÈtigkeit der Gemeinden durch Bindung an ein Wirtschaftlichkeits- und EffektivitaÈtsgebot oder im Sinn des SubsidiaritaÈtsprinzips; die VerfassungsmaÈûigkeit dieser EinschraÈnkungen ist im Einzelnen umstritten.
3. Neben ihren autonomen Aufgaben sind den Gemeinden auch weitere Aufgaben 778 der Staatsverwaltung u È bertragen, die sie in einem u È bertragenen Wirkungsbereich erfu È llen. Insoweit ist die Gemeinde auch ein Verwaltungssprengel, dh eine territoriale Untergliederung innerhalb der staatlichen Verwaltung (Art 116 Abs 1 B-VG). Das eigentliche Wesen der Gemeinde ist aber dessen ungeachtet ihre Stellung als SelbstverwaltungskoÈrperschaft. 4. Die Verfassung garantiert die Existenz von Gemeinden im Sinn einer institutio- 779 nellen Garantie und ihr Recht auf Selbstverwaltung. Eine Bestandsgarantie fu È r die einzelne, individuelle Gemeinde gibt es dagegen nicht. Der einfache Gesetzgeber (Landesgesetzgeber) kann daher Gemeindestrukturreformen vornehmen, auch wenn sie zur AufloÈsung einzelner Gemeinden fu È hren. Er muss dabei aber das im Gleichheitsgrundsatz (Art 7 B-VG) angelegte Sachlichkeitsgebot beachten; sachlich nicht gerechtfertigte AufloÈsungen einzelner Gemeinden sind verfassungswidrig (VfSlg 8108/1977). 5. Eine Sonderstellung unter den Gemeinden nehmen die StaÈdte mit eigenem Sta- 780 tut (auch: StatutarstaÈdte) ein. Eine solche Stadt hat neben den Aufgaben der Gemeindeverwaltung auch die Aufgaben der Bezirksverwaltung zu besorgen (Art 116 Abs 3 È rde ist B-VG). Das bedeutet, dass eine Statutarstadt auch Bezirksverwaltungsbeho und alle jene staatlichen Aufgaben wahrnimmt, die ansonsten (dh auûerhalb der StaÈdte mit eigenem Statut) von den Bezirkshauptmannschaften besorgt werden. Die Sonderstellung dieser StaÈdte wird durch Landesgesetz begru È ndet; vorausgesetzt ist,
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Teil II. Die Staatsorganisation und die Staatsfunktionen
dass die betreffende Gemeinde mehr als 20.000 Einwohner hat. Das entsprechende Landesgesetz bedarf der Zustimmung der BReg (Art 116 Abs 3 B-VG). a) StatutarstaÈdte haben wegen ihrer GroÈûe und dem umfangreicheren Aufgabenkreis eine differenziertere Organisation als die u È brigen Gemeinden, die in eigenen Organisationsgesetzen (den Stadtrechten) naÈher geregelt wird. Weil der Landesgesetzgeber der Stadt ein eigenes Stadtrecht gibt, dh ein ¹Statutª, werden sie auch als StatutarstaÈdte bezeichnet (vgl zB das Salzburger Stadtrecht 1966 LGBl 47 idgF, welches das Gemeindeorganisationsrecht fu È r die Stadt Salzburg enthaÈlt, waÈhrend das Gemeinderecht der u È brigen Gemeinden des Bundeslandes Salzburg in der Salzburger Gemeindeordnung 1994 LGBl 107 idgF geregelt ist). GegenwaÈrtig gibt È sterreich 14 StatutarstaÈdte, das sind die LandeshauptstaÈdte (auûer Bregenz) und einige es in O weitere gro È ûere Gemeinden der einzelnen BundeslaÈnder (zB Villach, Krems). Wien ist ebenfalls eine Statutarstadt. b) Von den StatutarstaÈdten mit den dargestellten Besonderheiten sind jene Gemeinden zu unterscheiden, denen das Recht zur Fu È hrung der Bezeichnung ¹Stadtª (bzw ¹Marktª) verliehen wurde. Dadurch werden groÈûere und bedeutendere Gemeinden ausgezeichnet, ohne dass sich damit eine rechtliche Sonderstellung verbindet.
781 6. Was die ZustaÈndigkeit fu È r die Regelung des Gemeinderechts (Kommunalrechts) angeht, muss man nach der in Art 115 Abs 2 B-VG getroffenen ZustaÈndigkeitsregelung unterscheiden: Die Generalkompetenz fu È r die Gesetzgebung und Vollziehung kommt den LaÈndern zu, sie umfasst vor allem die Regelung des Gemeindeorganisationsrechts (wie es in den GemO und Stadtrechten enthalten ist). Der Bund ist nur zustaÈndig, soweit ihm eine ausdru È ckliche Kompetenz zugewiesen ist, wie etwa fu È r das Gemeindeaufsichtsrecht in den vom Bund u È bertragenen Angelegenheiten (Art 119a Abs 3 B-VG). Was die Regelung der Gemeindeaufgaben angeht, gilt demgegenu È ber die allgemeine Kompetenzverteilung, dh dass fu È r die vom Bund u È bertragenen Aufgaben der Bundesgesetzgeber und fu È r die vom Land u È bertragenen Aufgaben der Landesgesetzgeber zustaÈndig ist.
30.2. Die Organisation der Gemeinden 782 1. Wenn der Landesgesetzgeber in den GemO bzw Stadtrechten die Organisation der Gemeinden regelt, ist er an die in Art 117 B-VG enthaltenen bundesverfassungsrechtlichen GrundsaÈtze gebunden. Vorgeschrieben ist insbesondere eine bestimmte Mindestorganisation, welche die folgenden Gemeindeorgane umfassen muss: . Gemeinderat: Der Gemeinderat (GRat) ist ein von den Wahlberechtigten der Gemeinde zu waÈhlender allgemeiner VertretungskoÈrper. Er stellt gleichsam das ¹Gemeindeparlamentª dar, wobei er allerdings die Stellung einer VerwaltungsbehoÈrde hat, weil den Gemeinden keine Gesetzgebungsbefugnisse zukommen. . Gemeindevorstand: Der Gemeindevorstand, der in StaÈdten als Stadtrat und in StatutarstaÈdten als Stadtsenat bezeichnet wird, ist eine Art von ¹Gemeinderegierungª. . Bu È rgermeister: Der Bu È rgermeister ist Vorsitzender des Gemeindevorstands; ihm sind zahlreiche Aufgaben zur selbstaÈndigen Erledigung u È bertragen, etwa die Erlassung von Bescheiden im eigenen Wirkungsbereich. . Gemeindeamt: Jede Gemeinde muss u È ber ein Gemeindeamt zur Besorgung der GeschaÈfte der Gemeinde verfu È gen. Sein Vorstand ist der Bu È rgermeister. In StaÈdten wird das Gemeindeamt als Stadtamt, in StatutarstaÈdten als Magistrat bezeichnet. 783 2. Das B-VG enthaÈlt auch gewisse GrundsaÈtze fu È r die Bestellung der Gemeindeorgane. Der GRat wird von den Staatsbu È rgern gewaÈhlt, die im Gemeindegebiet ihren Hauptwohnsitz oder Wohnsitz haben; dabei gelten die gleichen WahlrechtsgrundsaÈtze wie fu È r die Wahl von NR und LT (Art 117 Abs 2 B-VG; Grundsatz der HomogenitaÈt der WahlrechtsgrundsaÈtze). Bei den GRats-Wahlen sind in Umsetzung einer ein-
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schlaÈgigen EU-Richtlinie (Kommunalwahl-RL) auch die Staatsbu È rger anderer EUMitgliedstaaten wahlberechtigt und waÈhlbar; das ist neben den Wahlen zum EuropaÈischen Parlament der einzige Fall eines AuslaÈnderwahlrechts, das die Verfassung kennt. Die naÈheren Einzelheiten werden durch die als Landesgesetz erlassenen Gemeindewahlordnungen geregelt; das B-VG laÈsst dabei ausdru È cklich zu, dass auch eine PersoÈnlichkeitswahl (an Stelle einer Listenwahl) durchgefu È hrt wird, wenn keine WahlvorschlaÈge eingebracht werden (Art 117 Abs 2 letzter Satz B-VG). Die Mitglieder des Gemeindevorstands werden vom GRat gewaÈhlt, wobei das VerhaÈltnismaÈûigkeits- oder Proporzprinzip gilt; danach haben die im GRat vertretenen Parteien nach Maûgabe ihrer StaÈrke Anspruch auf Vertretung im Gemeindevorstand (Art 117 Abs 5 B-VG). Fu È rgermeisters laÈsst das B-VG zwei MoÈglichkeiten È r die Wahl des Bu zu: (1) Die Wahl durch den GRat oder (2) nach Maûgabe der LV die Wahl des Bu È rgermeisters durch die Gemeindebu È rger. Die Einfu È hrung der so genannten ¹Direktwahlª des Bu È rgermeisters war eine der ju È ngeren, 784 wichtigen Reformen im Bereich des Kommunalrechts. Durch sie wird die Stellung des Bu È rgermeisters gestaÈrkt, weil er sich auf eine unmittelbare demokratische Legitimation berufen kann; es kann auch dazu kommen, dass ein Bu È rgermeister gewaÈhlt wird, der sich auf keine Mehrheit einer ihm nahe stehenden politischen Partei im GRat stu È tzen kann (was bei einer Wahl durch den GRat eher unwahrscheinlich ist). ZwangslaÈufig wird damit auch die Verantwortlichkeit gegenu È ber dem GRat abgeschwaÈcht. Das war auch der Grund, dass der VfGH zunaÈchst ± dh bevor das B-VG entsprechend novelliert worden war ± diesen Wahlmodus als verfassungswidrig beurteilt hatte (VfSlg 13.500/1993). Die meisten LV haben nunmehr die Bu È rgerÈ , Stmk und Wien; in Wien ist die Direktwahl bunmeister-Direktwahl eingefu È hrt (nicht in NO desverfassungsrechtlich ausgeschlossen, weil der Bu È rgermeister gleichzeitig LH ist).
3. Die naÈhere Aufteilung der Kompetenzen zwischen den Gemeindeorganen 785 wird in den GemO (Stadtrechten) geregelt. Der GRat ist idR zustaÈndig fu È r die Erlassung von GemeindeVO, fu È r den Beschluss u È ber das Gemeindebudget und weitere wichtige ihm vorbehaltene Entscheidungen; er ist oberstes weisungsbefugtes Gemeindeorgan im eigenen Wirkungsbereich. Der Gemeindevorstand entscheidet in wichtigen Angelegenheiten der kommunalen Wirtschaftsverwaltung. Der Bu È rgermeister ist idR bescheiderlassende BehoÈrde 1. Instanz. StatutarstaÈdte haben meist noch weitere Organe (zB Berufungskommissionen). 4. Art 117 Abs 8 B-VG erlaubt die Einfu È hrung von Instrumenten der direkten De- 786 mokratie, durch die in Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereichs die unmittelbare Teilnahme und Mitwirkung der Gemeindebu È rger ermoÈglicht werden kann. Davon haben die GemO Gebrauch gemacht, wenn sie Volksbegehren, Volksbefragungen und Volksabstimmungen auf Gemeindeebene vorsehen.
30.3. Die Aufgaben der Gemeinden 30.3.1. Der eigene Wirkungsbereich 1. Im Zentrum der Gemeindeaufgaben stehen die Angelegenheiten des eigenen 787 Wirkungsbereichs, die von der Gemeinde eigenverantwortlich und autonom wahrgenommen werden. Diese Eigenverantwortlichkeit dru È ckt sich in zwei Merkmalen aus: Die Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereichs werden (1) frei von Weisungen und (2) unter Ausschluss eines ordentlichen Rechtsmittels an Verwaltungsorgane auûerhalb der Gemeinde besorgt (Art 118 Abs 4 B-VG). Zum Aufsichtsmittel der Vorstellung vgl Rz 799. Beide die kommunale Selbstverwaltung praÈgenden Merkmale ± die Weisungsfreiheit und der Ausschluss eines Instanzenzuges ± beziehen sich auf das VerhaÈltnis zwischen den staatliÈ rden und der Gemeinde. Innerhalb der Gemeindeorganisation gibt es dagegen chen Beho
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Teil II. Die Staatsorganisation und die Staatsfunktionen
Weisungsbeziehungen (der GRat kann zB dem Bu È rgermeister, der Bu È rgermeister den Bediensteten des Gemeindeamtes Weisungen erteilen); innerhalb der Gemeinde gibt es auch einen innergemeindlichen Instanzenzug (zB die Berufung gegen Bescheide des Bu È rgermeisters, u È ber die der GRat oder der Stadtsenat entscheidet).
788 Die GeschaÈfte des eigenen Wirkungsbereichs werden zwar eigenverantwortlich, aber im Rahmen der Gesetze und Verordnungen des Bundes und des Landes gefu È hrt (Art 118 Abs 4 B-VG). Die Gemeinde ist daher wie jede andere VerwaltungsbehoÈrde dem GesetzmaÈûigkeitsprinzip unterworfen. Zur Sicherung der RechtmaÈûigkeit der Gemeindeverwaltung gibt es die staatliche Aufsicht (vgl Rz 797 ff). 789 2. Welche Aufgaben die Gemeinde im Rahmen des eigenen Wirkungsbereichs eigenverantwortlich erfu È llen kann, bestimmt Art 118 B-VG in der Form einer Generalklausel mit demonstrativer AufzaÈhlung: Nach Art 118 Abs 2 B-VG umfasst der eigene Wirkungsbereich alle Angelegenheiten, die (1) im ausschlieûlichen oder u È berwiegenden Interesse der in der Gemeinde verko È rperten oÈrtlichen Gemeinschaft lieÈ rtliches Interesse) und die (2) geeignet sind durch die Gemeinschaft innergen (o È rtliche Eignung). Diese Generalhalb ihrer o È rtlichen Grenzen besorgt zu werden (o klausel wird durch eine demonstrative (¹insbesondereª) AufzaÈhlung von Angelegenheiten ergaÈnzt, die jedenfalls in den eigenen Wirkungsbereich fallen (Art 118 Abs 3 B-VG), wie zB die Aufgaben der o È rtlichen Sicherheitspolizei (Z 3), der o È rtlichen Straûenpolizei (Z 4), der oÈrtlichen Baupolizei und o È rtlichen Raumplanung (Z 9). Die der Gemeinde u È bertragenen Selbstverwaltungsaufgaben koÈnnen solche des Bundes oder solche der LaÈnder sein. 790 Die Zuweisung der Aufgaben des eigenen Wirkungsbereichs ist dynamisch, weil sie sich auch auf neu auftauchende Verwaltungsaufgaben erstreckt, die in der Form der Selbstverwaltung zu besorgen sind, wenn sie unter die Kriterien der Generalklausel fallen, dh im o È rtlichen Interesse liegen und geeignet sind von der Gemeinde besorgt zu werden. Bei der Beurteilung, ob eine Aufgabe eine Selbstverwaltungsaufgabe ist, hat man auûerdem auf das Konzept der abstrakten Einheitsgemeinde abzustellen: Das bedeutet, dass das o È rtliche Interesse und vor allem auch die Eignung eine Aufgabe eigenverantwortlich zu besorgen nicht anhand der VerhaÈltnisse einer ganz bestimmten, konkreten Gemeinde zu beurteilen sind (die wegen der ganz unterschiedlichen GroÈûe und Leistungskraft der o È sterreichischen Gemeinden sehr verschieden sind); vielmehr sind diese Kriterien losgeloÈst von den individuellen Gegebenheiten auf einen abstrakten Typus der Gemeinde (gleichsam auf eine Durchschnittsgemeinde) zu beziehen. In der Konsequenz laÈuft das darauf hinaus, dass die Gesetzgeber alle Gemeinden gleich zu behandeln und ihnen die gleichen Aufgaben zu u È bertragen haben. Eine verfassungsrechtlich vorausgesetzte Sonderstellung mit zusaÈtzlichen Aufgaben der Bezirksverwaltung haben nur die StatutarstaÈdte. 791 a) Bei der PruÈfung, ob eine Angelegenheit zu den Selbstverwaltungsaufgaben gehoÈrt, wird man
zunaÈchst die AufzaÈhlung in Art 118 Abs 3 B-VG heranziehen. Die Erlassung des FlaÈchenwidmungsplans gehoÈrt zB zum eigenen Wirkungsbereich, weil sie der wesentliche Inhalt der ausdru È cklich der Gemeinde zugewiesenen ¹oÈrtlichen Raumplanungª (Z 9) ist. Aufgaben, die nicht im Katalog des Art 118 Abs 3 B-VG enthalten sind, ko Ènnen immer noch auf Grund der Generalklausel zum eigenen Wirkungsbereich gehoÈren.
792 b) Das in der Generalklausel angesprochene oÈrtliche Interesse zielt darauf ab, ob eine be-
stimmte Verwaltungsmaterie primaÈr lokale Interessen beru È hrt und keine u È bergreifenden, gesamtstaatlichen Bezu È ge hat. Die Verwaltung des untergeordneten Wegenetzes (Gemeindestraûen) liegt im o È rtlichen Interesse, waÈhrend Durchzugsstraûen klarerweise u È rtliche Belange È bero beru È nnen. Die BewahÈ hren und keine Aufgabe der gemeindlichen Selbstverwaltung sein ko rung schutzwu È nheiten kann im primaÈren o È rtlichen Interesse liegen, wenn es È rdiger Naturscho sich um kleinraÈumige Landschaftsteile handelt, waÈhrend die Ausweisung von NaturschutzgeÈ rtlichen bieten regelmaÈûig u È beroÈrtliche Interessen beru È hrt. Unter dem Gesichtspunkt der o Eignung ist zu pru È fen, ob Gemeinden ± abstrakt betrachtet ± in der Lage sind die in Frage ste-
4. Kapitel: Die Selbstverwaltung
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hende Angelegenheit mit ihren Verwaltungsmitteln sachgerecht zu erledigen. Nach der Judikatur ist die oÈrtliche Eignung etwa zu verneinen, wenn es um die Durchfu È hrung von Verwaltungsstrafverfahren oder um Enteignungen geht. c) Das der Verfassung zu Grunde liegende Konzept der abstrakten Einheitsgemeinde hat zur 793 Konsequenz, dass auch kleine und kleinste Gemeinden mit anspruchsvollen und schwierigen Verwaltungsaufgaben betraut sind, wenn man zB an die Erteilung von Baubewilligungen fu È r komplexe Groûprojekte denkt. Weil die Gemeinden ein verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistetes Recht auf Selbstverwaltung haben, darf der Gesetzgeber solche Aufgaben auch dann der Gemeinde nicht entziehen, wenn sie im Einzelfall u È berfordert ist. Eine gewisse Abhilfe bietet die MoÈglichkeit Selbstverwaltungsaufgaben auf Antrag der Gemeinde auf staatliche BehoÈrden zu u È bertragen (vgl dazu Art 118 Abs 7 B-VG). Eine solche Delegation erfolgt durch VO der LReg (bei Landesaufgaben) bzw des LH (bei Bundesaufgaben). Auch die Zusammenarbeit der Gemeinden kann dazu beitragen administrative LeistungsschwaÈchen auszugleichen (vgl Rz 801 f).
3. Damit eine in Art 118 Abs 2 und 3 B-VG angefu È hrte Aufgabe tatsaÈchlich im eige- 794 nen Wirkungsbereich zu vollziehen ist, muss sie der einfache Gesetzgeber ausdru È cklich als Aufgabe des eigenen Wirkungsbereichs bezeichnet haben (Art 118 Abs 2 letzter Satz B-VG). Solange der Gesetzgeber dieser Bezeichnungspflicht nicht nachkommt, ist die Aufgabe nicht im eigenen Wirkungsbereich zu vollziehen. Weil die Gemeinden einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Wahrnehmung ihrer Selbstverwaltungsaufgaben haben, ist ein solches Gesetz allerdings verfassungswidrig (VfSlg 11.653/1988). Die Bezeichnungspflicht trifft den zustaÈndigen Gesetzgeber, dh jenen Gesetzgeber, aus dessen Kompetenzbereich eine Aufgabe in den eigenen Wirkungsbereich u È bertragen wird. In den Angelegenheiten der oÈrtlichen Straûenpolizei ist das etwa der Bundesgesetzgeber, in baurechtlichen ZusammenhaÈngen der Landesgesetzgeber. Die vorgeschriebene Bezeichnung von Angelegenheiten als solche des eigenen Wirkungsbereichs findet sich haÈufig in den Schlussbestimmungen der entsprechenden Gesetze (zB: ¹Die in den §§ 4, 5 und 7 geregelten Aufgaben der Gemeinde sind im eigenen Wirkungsbereich zu vollziehenª). Verfassungswidrig sind Gesetze, die eine Selbstverwaltungsaufgabe nicht als zum eigenen Wirkungsbereich gehoÈrig bezeichnen; verfassungswidrig sind aber auch Gesetze, die eine Aufgabe, die keine Selbstverwaltungsaufgabe ist, dem eigenen Wirkungsbereich zuordnen.
4. Die Gemeinden sind VerwaltungsbehoÈrden, denen keine Gesetzgebungsgewalt 795 zukommt. Einen gewissen Ausgleich dafu È r bildet das ortspolizeiliche Verordnungsrecht. Gestu È tzt auf Art 118 Abs 6 B-VG koÈnnen die Gemeinden selbstaÈndige, gesetzesvertretende VO erlassen, also generelle Anordnungen praeter legem. Vorausgesetzt ist, dass eine solche VO in einer Angelegenheit des eigenen Wirkungsbereichs erlassen wird und sie zur Abwehr unmittelbar zu erwartender oder zur BeseiÈ rtlicher MissstaÈnde dient. Solche VO du tigung bestehender o È rfen nicht gegen bestehende Gesetze und VO des Bundes und des Landes verstoûen. Das ortspolizeiliche Verordnungsrecht spielt in der Verwaltungspraxis eine wichtige Rolle. Das Zuwiderhandeln gegen die Anordnungen einer ortspolizeilichen VO kann zur Verwaltungsu È bertretung erklaÈrt und nach § 10 Abs 2 VStG bestraft werden. Ortspolizeiliche VO werden zB erlassen, um das RasenmaÈhen zeitlich zu reglementieren, um einen Leinenzwang fu Èr Hunde einzufu È hren, um Maûnahmen gegen den Alkoholmissbrauch Jugendlicher vorzusehen, eine Haustorsperre zu verfu È gen, ¹Verkehrsvorschriftenª fu È r Skipisten zu erlassen usw. Hat der Gesetzgeber eine abschlieûende Regelung erlassen, bleibt kein Raum fu È r eine ortspolizeiliche VO, weil diese dann idR gegen ein bestehendes Gesetz verstoÈût (wenn der Landesgesetzgeber daher zB (nur) ¹agressives Bettelnª verboten hat, darf die Gemeinde kein vollstaÈndiges Bettelverbot verfu È gen, das auch nicht-aggressives Betteln erfasst; VfGH 6.12.2007, V 41/07).
30.3.2. Der u È bertragene Wirkungsbereich Durch den Bundes- oder Landesgesetzgeber koÈnnen den Gemeinden weitere Aufga- 796 ben u È bertragen werden, die sie im Auftrag und nach den Weisungen der staatlichen
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BehoÈrden im u È bertragenen Wirkungsbereich besorgen (Art 119 Abs 1 B-VG). In diesem Aufgabenbereich agiert die Gemeinde wie eine unterste staatliche Verwaltungsbeho È rde; abgesehen von der Bindung an Weisungen kann es auch einen Instanzenzug geben, der zu den staatlichen BehoÈrden (Bezirkshauptmannschaften) fu È hrt. Die Angelegenheiten des u È rgermeiÈ bertragenen Wirkungsbereichs werden vom Bu ster besorgt, der auch der Adressat der Weisungen der zustaÈndigen staatlichen BehoÈrden ist, denen gegenu È ber er verantwortlich ist. Der Bu È rgermeister kann einzelne Angelegenheiten des u È bertragenen Wirkungsbereichs auf Mitglieder des Gemeindevorstands (Stadtrats, Stadtsenats) oder an andere Gemeindeorgane u È bertragen. Sie sind dann in diesen Angelegenheiten an die Weisungen des Bu È rgermeisters gebunden. Die Verantwortlichkeit des Bu È rgermeisters fu È r die Fu È hrung der Aufgaben des u È bertragenen Wirkungsbereichs kann nach Art 119 Abs 4 B-VG geltend gemacht werden, dh es kann ihm wegen schuldhafter Gesetzesverletzung oder der Nichtbefolgung von Weisungen vom LH (im Bereich der Bundesverwaltung) oder von der LReg (im Bereich der Landesverwaltung) das Amt aberkannt werden.
30.4. Die Gemeindeaufsicht 797 1. Zweck der staatlichen Aufsicht u È ber die Gemeinden (Gemeinde- oder Kommunalaufsicht) ist es sicherzustellen, dass die Gemeinde bei der Besorgung ihres eigenen Wirkungsbereichs die Gesetze und VO nicht verletzt und die ihr gesetzlich obliegenden Aufgaben erfu È llt (Art 119a Abs 1 B-VG). Neben dieser Rechtsaufsicht ermaÈchtigt Art 119a Abs 2 B-VG das Land auch zu einer Wirtschaftlichkeitsaufsicht, die auf die Sicherung der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und ZweckmaÈûigkeit der Gebarung der Gemeinde zielt. In diesem Rahmen hat die Aufsichtsbeho È rde nicht nur die RechtmaÈûigkeit des Handelns der Gemeinde zu pru È fen, sondern sie hat weiter reichende EinflussmoÈglichkeiten, die auch die Beurteilung der politischen ZweckmaÈûigkeit gewisser Entscheidungen der Gemeinde (zB Kreditaufnahmen zur Realisierung von Groûprojekten) umschlieût. Die Aufsicht erstreckt sich ausschlieûlich auf den eigenen Wirkungsbereich. 798 2. Das Gemeindeaufsichtsrecht wird vom Bund geregelt, soweit es um die Aufsicht u È ber Aufgaben geht, die zum Bereich der Bundesverwaltung gehoÈren. Die entsprechenden Regelungen finden sich im Bundes-GemeindeaufsichtsG BGBl 1967/ 123; Aufsichtsbeho È rde ist der LH als Organ der mittelbaren BV, der sich dazu auch der Bezirkshauptmannschaften bedienen kann. Das Aufsichtsrecht im Hinblick auf die zur Landesverwaltung gehoÈrenden Aufgaben findet sich in den GemO; AufsichtsbehoÈrde ist die LReg mit den ihr unterstellten BehoÈrden (Bezirkshauptmannschaften). 799 3. Die Ausu È bung des Aufsichtsrechts wird von den zustaÈndigen Gesetzgebern im Rahmen der grundsaÈtzlichen Bestimmungen des Art 119a B-VG geregelt, wo bereits einzelne Aufsichtsmittel und GrundsaÈtze fu È r ihre Handhabung angefu È hrt sind. a) Verfassungsrechtlich vorgesehene Aufsichtsmittel sind: Das Recht der Aufsichtsbeho È rde sich u È ber alle Angelegenheiten der Gemeinde zu informieren; die Aufhebung gesetzwidriger GemeindeVO durch eine VO der Aufsichtsbeho È rde; die Bindung einzelner Maûnahmen der Gemeinde an eine aufsichtsbehoÈrdliche Genehmigung, wenn u È beroÈrtliche Interessen in besonderem Maû beru È hrt sind (Genehmigungsvorbehalt); die Ersatzvornahme bei SaÈumnis der Gemeinde; die AufloÈsung des GRats als ultima ratio. In den GemO sind noch weitere Aufsichtsmittel vorgesehen, etwa auch die Aufhebung von Bescheiden der Gemeinde, die mit bestimmten (schwereren) Fehlern behaftet sind. b) Ein besonderes Aufsichts- und zugleich Rechtsschutzmittel ist die Vorstellung (Art 119a Abs 5 B-VG): Sie ersetzt in gewisser Weise den fehlenden Instanzenzug und soll den Einzelnen
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in die Lage versetzen rechtswidrige Bescheide der Gemeinde zu bekaÈmpfen. Vorstellung kann gegen letztinstanzliche Gemeindebescheide mit der Behauptung erhoben werden, dass diese den Betreffenden in seinen Rechten verletzen. Trifft die Behauptung zu, hat die AufsichtsbehoÈrde den rechtswidrigen Bescheid aufzuheben und die Sache zur neuerlichen Entscheidung an die Gemeinde zuru È ckzuverweisen (so genannte kassatorische Entscheidung). NaÈheres regeln auch hier die GemO.
È rdlichen Verfahren hat die Gemeinde selbst die Stellung ei- 800 4. Im aufsichtsbeho ner Partei mit den entsprechenden Verfahrensrechten (zB Recht auf Berufung). Gegen letztinstanzliche Bescheide der AufsichtsbehoÈrde kann sie Beschwerde an den VwGH und an den VfGH erheben und dabei eine Verletzung ihrer Rechte, vor dem VfGH vor allem auch ihres Rechts auf Selbstverwaltung, geltend machen (Art 119a Abs 9 B-VG). Wird eine GemeindeVO durch eine VO der AufsichtsbehoÈrde wegen Gesetzwidrigkeit aufgehoben, kann die Gemeinde die aufhebende VO beim VfGH nach Art 139 Abs 1 B-VG anfechten.
30.5. Die GemeindeverbaÈnde 1. Gemeinden koÈnnen GemeindeverbaÈnde bilden, um einzelne Gemeindeaufga- 801 ben gemeinsam zu erledigen. Damit stellt die Verfassung ein wichtiges Instrument zur interkommunalen Zusammenarbeit bereit, das eine rationelle und sparsame Erledigung einzelner Aufgaben erlaubt. GemeindeverbaÈnde sind juristische Personen des o È ffentlichen Rechts mit sachlich begrenzten Kompetenzen; ihnen du È rfen immer nur einzelne Aufgaben u È bertragen werden. Sie koÈnnen auf unterschiedliche Art und Weise gebildet werden: . als freiwilliger Gemeindeverband durch eine Vereinbarung der verbandsangehoÈrigen Gemeinden, die der Genehmigung durch die Aufsichtsbeho È rde bedarf (Art 116a Abs 1 B-VG; sie kann verweigert werden, wenn durch die Verbandsbildung die Funktion der Gemeinde als SelbstverwaltungskoÈrperschaft gefaÈhrdet waÈre oder wegen Unwirtschaftlichkeit); . als Pflichtverband, wenn der zustaÈndige Materiengesetzgeber die Bildung eines Gemeindeverbands vorsieht und dies zweckmaÈûig ist; wird der Verband im Wege der Vollziehung gegru È ndet (etwa durch Bescheid), sind die Gemeinden vorher zu hoÈren. Die naÈheren Einzelheiten u È ber die Organisation von GemeindeverbaÈnden regelt 802 der Landesgesetzgeber (Art 116a Abs 4 B-VG). Damit durch die Bildung eines Verbands nicht das Prinzip der Gemeindeselbstverwaltung beeintraÈchtigt wird, schreibt die Verfassung vor, dass den Gemeinden ein maûgeblicher Einfluss auf die Besorgung der Angelegenheiten des Verbands einzuraÈumen ist, wenn Aufgaben des eigenen Wirkungsbereichs auf einen Gemeindeverband u È bertragen werden (Art 116a Abs 3 B-VG). GemeindeverbaÈnde werden fu È r unterschiedliche Aufgaben gegru È ndet. Beispiele sind etwa die Staatsbu È rgerschafts- und PersonenstandsverbaÈnde zur gemeinsamen Fu È hrung der Staatsbu È rgerschaftsevidenz und zur gemeinsamen Erledigung von Aufgaben des Personenstandswesens (zB Eheschlieûungen durch einen gemeinsamen Standesbeamten). GemeindeverbaÈnde koÈnnen auch zur effizienten Besorgung von privatwirtschaftlichen Aufgaben wie der Organisation des oÈffentlichen Nahverkehrs eingerichtet werden.
È sterreichische Gemeindebund und der O È sterreichische StaÈdtebund 803 2. Der O sind keine GemeindeverbaÈnde, sondern die vereinsmaÈûig organisierten Interessenvertretungen der Gemeinden und StaÈdte. Ihnen kommt in politischen ZusammenhaÈngen eine wichtige Rolle zu und sie repraÈsentieren die Gemeinden und StaÈdte etwa in den Finanzausgleichsverhandlungen oder beim Abschluss von anderen Vereinbarungen mit den u È brigen GebietskoÈrperschaften (zB Konsultationsmechanismus, StabilitaÈtspakt). Deshalb erwaÈhnt sie die Verfassung in Art 115 Abs 3 B-VG.
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Teil II. Die Staatsorganisation und die Staatsfunktionen
30.6. Die Sonderstellung der Gemeinde Wien 804 Der Bundeshauptstadt Wien raÈumt die Verfassung in den Art 108±112 B-VG eine Sonderstellung ein, weil sie gleichzeitig Gemeinde und Bundesland ist. Wien besorgt daher die Aufgaben einer Gemeinde (im eigenen und u È bertragenen Wirkungsbereich) und die Aufgaben eines Landes einschlieûlich der Angelegenheiten der mittelbaren BV. Da Wien auch Statutarstadt ist, nimmt die Gemeinde auûerdem die Aufgaben einer BezirksverwaltungsbehoÈrde wahr. 805 1. Wegen dieser Doppelstellung sind den Gemeindeorganen der Stadt Wien auch die Aufgaben des Landes Wien u È bertragen: Der GRat hat auch die Funktion des LT, der Stadtsenat auch die Funktion der LReg, der Bu È rgermeister auch die Funktion des LH und der Magistrat auch die Funktion eines Amtes der LReg. Organisatorisch ist Wien aber in erster Linie eine Gemeinde; deshalb gelten die Bestimmungen der Art 115 ff B-VG u È ber die Gemeinden grundsaÈtzlich auch fu È r Wien mit den in Art 112 B-VG angefu È hrten Ausnahmen. Die naÈhere Ausgestaltung der Organisation der Gemeinde und des Landes Wien erfolgt durch die Wiener Stadtverfassung, die zugleich GemO (Stadtstatut) und Landesverfassung ist. a) Der Wiener Magistrat hat daher im Ergebnis die folgenden GeschaÈfte zu fu È hren: Er ist Gemeindeamt der Stadt Wien, Bezirksverwaltungsbeho Èrde und Amt der LReg. Gemeinsam mit dem GRat wird in Wien fu È r jeden der 23 Gemeindebezirke auch eine Bezirksvertretung gewaÈhlt, an deren Spitze ein Bezirksvorsteher steht; die Bezirksvertretungen nehmen die vom GRat zugewiesenen Aufgaben wahr (nicht mit Bezirksverwaltungsbeho Èrden zu verwechseln!). È rden sind zur Entscheidung in oberster Bundesverfassungsrechtlich vorgesehene Sonderbeho Instanz berufene KollegialbehoÈrden in Bausachen (BauoberbehoÈrde fu È r Wien) und Abgabensachen (Abgabenberufungskommission) (Art 111 B-VG). b) Im Einzelnen kann die Doppelfunktion der Organe zu unterschiedlichen Konsequenzen fu È hren: So kommt zB den Mitgliedern des Wiener GRats ImmunitaÈt zu, wenn sie als Landtag zusammentreten, dagegen nicht, wenn es sich um eine Sitzung des GRats handelt (VfSlg 6110/ 1969). Eine weitere Besonderheit des Wiener Stadtrechts ist die Unterscheidung zwischen amtsfu È hrenden StadtÈ hrenden und nur kontrollierenden StadtraÈten, wobei nur die amtsfu raÈte Leiter von GeschaÈftsgruppen des Magistrats sind, soweit dieser Aufgaben des eigenen Wirkungsbereichs der Gemeinde besorgt; sie werden nach dem Mehrheitsprinzip gewaÈhlt, so dass die Opposition idR von diesen Funktionen ausgeschlossen ist (VfSlg 13.335/1993).
806 2. Verfassungsrechtliche Besonderheiten gelten fu È r den Instanzenzug im Bereich der mittelbaren BV. Er geht vom Magistrat der Stadt Wien (bzw von der BPolDion) zum Bu È rgermeister als LH, und endet auch dort, soweit nicht durch Bundesgesetz ausnahmsweise der zustaÈndige BM als dritte Instanz vorgesehen ist (Art 109 B-VG; È brigen gilt Art 103 Abs 4 B-VG). U È ber die Instanzenzu im U È ge in den Bereichen der Landes- und Gemeindeverwaltung enthaÈlt die Wiener Stadtverfassung besondere Bestimmungen. AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zu den Abschnitten 29±30: VfSlg 8215/1977: Der ¹leading caseª (¹Salzburger LandesjaÈgerschaftª) zur lange Zeit umstrittenen Frage nach der ZulaÈssigkeit der Einfu È hrung von SelbstverwaltungskoÈrperschaften. VfSlg 17.951/2006: War die 2005 getroffene Neuregelung der Hochschu È lerschaftswahl im Hinblick auf das Gebot einer binnendemokratischen Organisation von Selbstverwaltungseinrichtungen verfassungswidrig? VfSlg 9653/1983: Kann eine Gemeinde eine ortspolizeiliche VO erlassen, um gegen Hausbesetzer vorzugehen? Beachte die Abgrenzung der Angelegenheiten der oÈrtlichen Sicherheitspolizei und vgl auch § 37 SPG. VfSlg 9668/1983: Kann sich eine Gemeinde erfolgreich gegen ihre AufloÈsung durch Landesgesetz wehren? Wieweit gibt es eine ¹Bestandsgarantieª fu È r die einzelne Gemeinde?
4. Kapitel: Die Selbstverwaltung
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VfSlg 7965/1976: Zum Kriterium der Eignung, die Voraussetzung fu È r die Begru È ndung einer Selbstverwaltungsaufgabe ist (hier: Durchfu È hrung von Verwaltungsstrafverfahren). VfSlg 14.940/1997: Die Gemeinde hat ein verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistetes Recht auf Selbstverwaltung, das verletzt wird, wenn eine staatliche BehoÈrde u È ber eine Frage entscheidet, die in den Bereich einer Selbstverwaltungsaufgabe faÈllt. VfSlg 15.302/1998: Wie kann ein vom Volk gewaÈhlter Bu È rgermeister wieder aus dem Amt abberufen werden? Kann ihm ein GRat das Misstrauen aussprechen? VfSlg 17.559/2005: Festlegung abweichender Betriebszeiten fu È rt zum eiÈ r GastgaÈrten geho genen Wirkungsbereich der Gemeinden, daher Verfassungswidrigkeit einer Bestimmung der GewO. Beachte die Konkretisierung der Kriterien der Eignung und des oÈrtlichen Interesses. Zur Vertiefung: Zur Selbstverwaltung allgemein: Korinek, Staatsrechtliche Bedingungen È ZW 2000, 46; Stolzlechner, Der Gedanke und Grenzen der Ausgliederung und Beleihung, O der Selbstverwaltung in der Bundesverfassung, in: FS 75 Jahre Bundesverfassung (1995) 361; G. Winkler, Studien zum Verfassungsrecht (1991). Zum Gemeindeverfassungsrecht: FroÈhler/Oberndorfer (Hrsg), Das o È sterreichische Gemeinderecht (Loseblattausgabe in zwei Bd); Klug/Oberndorfer/Wolny (Hrsg), Das oÈsterreichische Gemeinderecht (2008); Muzak, Verfassungsrechtliche Probleme der Direktwahl des È GZ 1996/5, 2; Neuhofer, Gemeinderecht2 (1998). Bu È rgermeisters, O Zu den UniversitaÈten: Berka, Autonomie und Freiheit der UniversitaÈt: Ein neuer Verfassungsartikel (Art 81c B-VG) fu È r die oÈffentlichen UniversitaÈten, ZoÈR 2008, 293.
5. Kapitel: Die Gerichtsbarkeit des Bundes 807 Die Rechtsprechung (Justiz) ist jene Staatsgewalt, der die Realisierung der Rechtszwecke des Staates aufgetragen ist. Die GewaÈhrleistung einer auf den Prinzipien der Rechtssicherheit, Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs beruhenden Privatrechtsordnung, innerhalb derer sich die gesellschaftliche Selbstbestimmung entfalten kann, gehoÈrt ebenso zu ihren Aufgaben wie die Handhabung der staatlichen Strafgewalt. Die Gerichtsbarkeit ist jener Teil der Vollziehung, der nur dem Gesetz verpflichtet ist; die Sicherung der UnabhaÈngigkeit der Justiz ist daher das zentrale verfassungsrechtliche Anliegen. Fu È r die Unterscheidung zwischen Gerichtsbarkeit und Verwaltung ist die organisatorische Stellung ausschlaggebend. Gerichtsbarkeit ist die Vollziehung der Gesetze durch weisungsfreie Richter und ihre Hilfsorgane sowie die Mitwirkenden aus dem Volk. Im Folgenden werden zunaÈchst die verfassungsrechtlichen GrundsaÈtze fu È r die RechtspreÈ berblick u chung behandelt. Daran schlieût sich ein U È ber die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit an, die nach dem oÈsterreichischen Verfassungsrecht ausschlieûlich eine Gerichtsbarkeit des Bundes ist. Schlieûlich wird in diesem Kapitel wegen des sachlichen Zusammenhangs noch auf die Grundlagen des Amtshaftungsrechts eingegangen. Die meisten der hier behandelten GrundsaÈtze gelten nicht nur fu È r die ordentlichen Gerichte, sondern auch fu È r die Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts (VwGH, AsylGH, VfGH). Wegen der unterschiedlichen Aufgaben, die diesen Gerichtsho È fen zukommen, werden sie aber in einem eigenen Kapitel behandelt.
31. Die Rechtsprechung 31.1. Die UnabhaÈngigkeit und Unparteilichkeit 808 1. Nach Art 87 Abs 1 B-VG sind die Richter in Ausu È bung ihres richterlichen Amtes unabhaÈngig. Damit wird das Prinzip der richterlichen UnabhaÈngigkeit verankert, das zugleich den wesentlichen Unterschied zwischen den weisungsfreien Organen der Rechtsprechung und den weisungsgebundenen Verwaltungsorganen darstellt. Die UnabhaÈngigkeit wird den Richtern bei der Ausu È bung ihres richterlichen Amtes zugesichert. Damit ist die Besorgung der gerichtlichen GeschaÈfte gemeint, die ein Richter nach dem Gesetz und der GeschaÈftsverteilung zu besorgen hat, dh seine rechtsprechende TaÈtigkeit. Nicht zur Ausu È bung des richterlichen Amtes gehoÈrt die Besorgung von Aufgaben der Justizverwaltung durch einen Einzelrichter, in diesem Umfang ist der Richter weisungsgebundenes Verwaltungsorgan (vgl zur Justizverwaltung Rz 827 f). 809 Die UnabhaÈngigkeit des Richters liegt im Ausschluss jeglicher Weisungsbindung, wodurch jede politische Einflussnahme verhindert werden soll. Die einzige Bindung, die mit dem richterlichen Amt vereinbar erscheint, ist die Bindung an das Gesetz. Zur GewaÈhrleistung der unabhaÈngigen Stellung des Richters gibt ihm die Verfassung noch weitere Sicherungen, die insgesamt die richterlichen Garantien ausmachen: Das ist neben der UnabhaÈngigkeit (Weisungsfreiheit) die Unabsetzbarkeit und die Unversetzbarkeit (Art 88 B-VG). Mit Unabsetzbarkeit ist gemeint, dass Richter auf Lebenszeit ernannt werden und vor der Erreichung des Ruhestandsalters nicht aus dem Amt entfernt werden koÈnnen; eine Amtsenthebung ist nur in den gesetzlich geregelten FaÈllen und auf Grund einer foÈrmlichen richterlichen Entscheidung zulaÈssig (Art 88 Abs 2 B-VG). Die Garantie der Unversetzbarkeit schlieût es aus, dass ein Richter gegen seinen Willen versetzt wird. Zur effektiven Sicherung der richterlichen UnabhaÈngigkeit ist auch eine entsprechende wirtschaftliche Absicherung der Richter geboten (VfSlg 14.867/1997).
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Das RStDG sieht vor, dass Richter spaÈtestens mit Ablauf des Jahres, in dem sie das 65. Lebens- 810 jahr vollenden, in den dauernden Ruhestand treten (§ 99 RStDG). Eine vorzeitige Ruhestandsversetzung wegen DienstunfaÈhigkeit oder die als Disziplinarstrafe vorgesehene Entlassung eines Richters darf nur durch eine Entscheidung eines Dienstgerichts (Disziplinargerichts) verÈ nderung in der Gerichtsorganisation, ist eine Versetzung fu È gt werden. Kommt es zu einer A (Ruhestandsversetzung) unter erleichterten Bedingungen moÈglich. Um den anfallenden Arbeitsaufwand in besonderen FaÈllen (zB bei einer Karenzierung oder im Krankheitsfall) flexibel bewaÈltigen zu koÈnnen, sieht Art 88a B-VG den Einsatz von ¹Sprengelrichternª vor, die eine Art von Personalreserve bei den u È bergeordneten Gerichten bilden. Sie werden durch eine Verfu È gung eines Personalsenats im Verhinderungsfall zugewiesen. Von diesem Sonderfall abgesehen mu È ssen Richter auf eine feste Stelle bei einem bestimmten Gericht ernannt werden.
2. Eine ergaÈnzende Absicherung der richterlichen UnabhaÈngigkeit stellt der verfas- 811 sungsrechtlich verankerte Grundsatz der festen GeschaÈftsverteilung dar (Art 87 Abs 3 B-VG): Danach sind die GeschaÈfte unter die Richter eines Gerichts nach bestimmten abstrakten GrundsaÈtzen (zB Zuteilung der Akten nach Anfangsbuchstaben der Parteien) im Voraus zu verteilen. Eine nach der GeschaÈftsverteilung einem Richter zufallende Sache darf ihm nur abgenommen werden, wenn er verhindert oder u È berlastet ist; eine solche Verfu È gung darf nur durch einen richterlichen Senat erfolgen. Damit soll verhindert werden, dass auf eine Entscheidung dadurch Einfluss genommen wird, dass sie im Einzelfall einem bestimmten Richter zugespielt oder abgenommen wird. 3. Die richterliche UnabhaÈngigkeit ist ergaÈnzend auch durch das Grundrecht des 812 Art 6 EMRK abgesichert, das dem Einzelnen einen Rechtsanspruch auf eine Entscheidung durch ein unabhaÈngiges und unparteiisches Gericht gibt, das u È ber zivilrechtliche Anspru È che und Verpflichtungen oder u È ber strafrechtliche Anklagen entscheidet (vgl Rz 1580 ff). Die hier besonders hervorgehobene Unparteilichkeit des Gerichts ist ein weiterer Aspekt der richterlichen UnabhaÈngigkeit, durch den unterstrichen wird, dass der Richter gegenu È ber allen Parteien eines Verfahrens die gleiche ObjektivitaÈt zu wahren hat.
31.2. Die Bindung an das Gesetz Die Bindung des Richters an die Gesetze und an VO wird insbesondere in Art 89 813 È rig Abs 1 B-VG zum Ausdruck gebracht, wonach die Pru È fung der Gu È ltigkeit geho kundgemachter Gesetze, VO und StaatsvertraÈge den Gerichten nicht zusteht. Ist eine generelle Norm daher gehoÈrig kundgemacht, hat sie das Gericht anzuwenden. Bestehende Bedenken gegen die VerfassungsmaÈûigkeit des Gesetzes oder die GesetzmaÈûigkeit einer VO koÈnnen nur im Wege eines Antrags an den VfGH geltend gemacht werden (im Fall eines Gesetzes ist die Antragsbefugnis auf Gerichte der zweiten Instanz beschraÈnkt; vgl Rz 1083). Die eigentliche Pru È fung der Verfassungs- oder GesetzmaÈûigkeit ist beim VfGH konzentriert. Ist eine Rechtsvorschrift nicht ¹gehoÈrigª kundgemacht, dh liegt eine gesetzwidrige Kundmachung vor oder ist eine Kundmachung u È berhaupt nicht erfolgt, darf das Gericht die Rechtsvorschrift nicht anwenden; auch eine Anfechtung beim VfGH kommt in diesem Fall nicht in Betracht.
È ffentlichkeit und Mu 31.3. Die O È ndlichkeit der Verhandlungen È ffentlichkeit (Art 90 814 Fu È r die Verhandlungen der Gerichte gilt der Grundsatz der O Abs 1 B-VG). Durch ihn soll sichergestellt werden, dass die Rechtsprechung fu È r die BevoÈlkerung sichtbar ausgeu È fÈ bt wird; zugleich wird dadurch auch eine gewisse o È ffentlichkeit meint unmittelbare Beteilifentliche Kontrolle der Justiz ermoÈglicht. O gung der BevoÈlkerung durch Anwesenheit im Gerichtssaal (Volkso È ffentlichkeit). Da-
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durch wird auch die Medienberichterstattung mo È glich, die unter den heutigen Bedingungen die wichtigste Informationsquelle fu È r die Allgemeinheit ist. Rundfunku È bertragungen, Filmaufnahmen oder das Fotografieren koÈnnen eingeschraÈnkt werden, wenn das zum Schutz der Prozessbeteiligten oder fu È r einen ordnungsgemaÈûen Ablauf der Verhandlungen noÈtig ist. Entsprechende Verbote finden sich im MedienG (Verbot von Fernseh-, Film- und HoÈrfunkaufnahmen bei Gerichtsverhandlungen; § 22 MedienG). È ffentlich815 Nach Art 90 Abs 1 B-VG kann der Gesetzgeber EinschraÈnkungen der O È ffentlichkeit vorsehen. Durch Art 6 Abs 1 keit verfu È gen, somit den Ausschluss der O EMRK ist diese ErmaÈchtigung begrenzt worden, weil nach dieser Bestimmung die È ffentlichkeit nur von der Verhandlung (nicht von der Urteilsverku O È ndung) ausgeschlossen werden darf, und das nur dann, wenn das bestimmte o È ffentliche oder private Interessen erforderlich machen. È sterreich aus Anlass der Ratifikation zu Art 6 EMRK abgegebener Vorbehalt, wonach Ein von O È ffentlichkeit in keiner Weise beeintraÈchdie in Art 90 B-VG festgelegten GrundsaÈtze u È ber die O tigt werden, ist nach heutiger Auffassung nicht gu È ltig, weil er zu unbestimmt ist (vgl Rz 1601).
È ffentlichkeit ist auch die Mu In gleicher Weise wie die O È ndlichkeit der Verhandlungen vor Gericht verfassungsrechtlich normiert.
31.4. Das Anklageprinzip 816 Nach Art 90 Abs 2 B-VG gilt im Strafverfahren das Anklageprinzip. Nach diesem Grundsatz, der historisch auf eine Absage an den Inquisitionsprozess zuru È ckgeht (in dem der erkennende Richter auch die Anklage vertrat), muss im gerichtlichen Strafverfahren die Funktion des AnklaÈgers von der des Richters getrennt sein. Die Aufgaben der AnklagebehoÈrde sind den Staatsanwaltschaften u È bertragen, die weisungsgebundene Verwaltungsorgane besonderer Art sind. Politisch ist die Weisungsbindung der StaatsanwaÈlte wegen des dadurch eroÈffneten Einflusses der Politik auf die Fu È hrung von Strafprozessen, vor allem auf die Anklageerhebung, nicht unumstritten. Ein 2008 neu in das B-VG aufgenommener Art 90a verankert die StaatsanwaÈlte als ¹Organe der Gerichtsbarkeitª in der Verfassung und ermaÈchtigt den einfachen Gesetzgeber, naÈhere Regelungen u È ber die Bindung der StaatsanwaÈlte an die Weisungen der ihnen vorgesetzten Organe zu treffen. Damit wurde eine einfachgesetzliche AbschwaÈchung oder sogar Aufhebung der Weisungsbindung moÈglich gemacht, zu der es aber bisher nicht gekommen ist.
817 Der VfGH hat aus dem Anklageprinzip auûerdem das Grundrecht abgeleitet, dass niemand unter Zwang zu einer Selbstbeschuldigung verhalten werden darf (Verbot des Zwanges zur Selbstbezichtigung; vgl Rz 1611 ff).
31.5. Weitere verfassungsrechtliche GrundsaÈtze fu È r die Gerichtsbarkeit 818 Auf weitere Verfahrens- und OrganisationsgrundsaÈtze, welche auf Grund der Verfassung fu È r die Gerichte gelten, wird bei den Grundrechten naÈher eingegangen: Das gilt fu È r die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte eines Angeklagten (Art 6 Abs 2 und 3 EMRK) und das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter (Art 83 Abs 2 B-VG) (vgl Rz 1603 ff und Rz 1573 ff). Das Verbot der Todesstrafe (Art 85 B-VG) wird im Zusammenhang mit dem Recht auf Leben und das Verbot unmenschlicher Strafen im Rahmen des Art 3 EMRK behandelt (vgl Rz 1336 und Rz 1351). Die Amtsverschwiegenheit, die verfassungsrechtlich nur fu È r Verwaltungsorgane vorgesehen ist, gilt kraft dienstrechtlicher (einfachgesetzlicher) Anordnung auch fu È r Richter. Zur Amtshilfe, die auch von Gerichten zu leisten ist, vgl Rz 677 f.
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32. Die Gerichte 32.1. Die Gerichtsorganisation 1. Weil nach Art 82 Abs 1 B-VG alle Gerichtsbarkeit vom Bund ausgeht, gibt es nur 819 Bundesgerichte. Dem entsprechend werden die Gerichtsverfassung (dh die Gerichtsorganisation) und die ZustaÈndigkeiten der Gerichte durch einfaches Bundesgesetz geregelt, wobei aber jedenfalls eine gesetzliche Regelung erforderlich ist und eine bloûe VO nicht ausreicht (Art 83 Abs 1 B-VG). Die Einhaltung der gerichtlichen ZustaÈndigkeitsordnung wird durch das verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Grundrecht auf den gesetzlichen Richter abgesichert. Daraus ist auch der Grundsatz abzuleiten, dass die ZustaÈndigkeiten der Gerichte (und der VerwaltungsbehoÈrden) durch ausreichend bestimmte gesetzliche Vorschriften festgelegt werden mu È ssen. Verfassungsrechtlich vorgegeben ist die Existenz eines Obersten Gerichtshofs als 820 oberste Instanz in Zivil- und Strafrechtssachen (Art 92 Abs 1 B-VG). Dies entspricht einer Bestandsgarantie fu È r den OGH und der Garantie eines Kernbestands an ZustaÈndigkeiten, ohne dass daraus abgeleitet werden koÈnnte, dass der Instanzenzug in allen Verfahren bis zu diesem HoÈchstgericht gehen mu È sste. Die Organisation und ZustaÈndigkeit der ordentlichen Gerichte werden vor allem durch die JN, die StPO und das GOG geregelt. Bei der Festsetzung der Sprengel der Bezirksgerichte raÈumt È G 1920 den LReg ein Zustimmungsrecht ein, was sich bei Reformmaûnahmen (Auflasdas U ÈG sung von Kleinstgerichten) mitunter als wesentliches Hindernis erweist (§ 8 Abs 5 lit d U 1920).
2. Auf den Grundsatz der Trennung der Justiz von der Verwaltung (Art 94 B-VG) 821 wurde bereits eingegangen. Er schlieût organisatorische Verflechtungen zwischen Gerichten und VerwaltungsbehoÈrden ebenso aus wie wechselseitige InstanzenzuÈge oder Weisungsbindungen (vgl Rz 388 ff). Aus den AnsaÈtzen zu einer materiellen Gewaltenteilung ergeben sich gewisse verfassungsrechtlich den Gerichten vorbehaltene Kompetenzen, vor allem soweit es um die VerhaÈngung laÈngerer Freiheitsstrafen oder hoÈherer Geldstrafen geht (vgl Rz 393).
32.2. Die Organe der Gerichtsbarkeit Die richterlichen GeschaÈfte koÈnnen verschiedenen Organen der Gerichtsbarkeit 822 u È bertragen sein. Zu unterscheiden sind: . die ernannten Richter, . die Mitwirkenden aus dem Volk, . die Rechtspfleger, . weitere richterliche Hilfsorgane. 1. Die ernannten Richter sind berufsmaÈûig mit der Rechtsprechung betraut. Sie 823 genieûen die schon behandelten richterlichen Garantien der UnabhaÈngigkeit, Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit; sie sind Beamte, deren Rechtsstellung im RStDG geregelt ist. Ihre Ernennung erfolgt durch den BPraÈs auf Antrag der BReg; der BPraÈs kann den Justizminister zur Ernennung ermaÈchtigen. Richter werden auf Grund von nicht bindenden VorschlaÈgen ernannt, die von richterlichen Personalsenaten erstattet werden (Art 86 B-VG). 2. Die Verfassung schreibt die Beteiligung des Volkes an der Rechtsprechung vor, 824 um die Perspektive von juristischen Laien einflieûen zu lassen, Sach- und LebensnaÈhe zu vermitteln und ein demokratisches Korrektiv zu den Berufsrichtern zu
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È ffen oder Geschwoschaffen (Art 91 B-VG). Diese Laienrichter sind entweder Scho rene. Scho Èffen entscheiden in Strafverfahren in FaÈllen schwerer KriminalitaÈt (zB Raub) gemeinsam mit den Berufsrichtern u È ber die Schuld eines Angeklagten und u È ber das Strafausmaû. Geschworene werden bei bestimmten mit schwerer Strafe bedrohten Verbrechen (zB Mord) und bei allen politischen Verbrechen und Vergehen (zB Hochverrat) taÈtig; sie entscheiden im Geschworenenprozess u È ber die Schuld des Angeklagten, waÈhrend die Strafe gemeinsam mit den Berufsrichtern festgelegt wird. Fu È ffen und Geschworenen sieht das Geschworenen- und SchoÈffenG È r die Auswahl der Scho 1990 BGBl 256 idgF ein Zufallverfahren (Auslosung) vor. Die Sinnhaftigkeit der Laienbeteiligung ist umstritten, vor allem in der Form der Geschworenengerichtsbarkeit. Neben der Laienbeteiligung in Strafverfahren kommen fachkundige Laienrichter noch in der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit sowie bei den Handels- und Kartellgerichten zum Einsatz, wobei diese Laienrichter von den Interessenvertretungen entsendet werden. Die UnabhaÈngigkeitsgarantie gilt auch fu È r die Mitwirkenden aus dem Volk.
825 3. Die Rechtspfleger sind besonders ausgebildete nichtrichterliche Bundesbedienstete, die in Unterordnung unter einen Richter in erster Instanz Zivilrechtssachen besorgen (etwa Grundbuchsangelegenheiten). Sie sind an die Weisungen des Richters gebunden, dem sie zugeteilt sind, ansonsten aber so wie Richter weisungsfrei (Art 87a B-VG). 826 4. An der Rechtsprechung wirken noch weitere Hilfsorgane mit (zB Schriftfu È hrer, SchreibkraÈfte), die dabei an Weisungen der Richter gebunden sind. Auch Exekutivorgane (Bundespolizeiorgane) werden auf Grund von richterlichen Verfu È gungen taÈtig, wenn sie etwa in Vollziehung eines Haft- oder Durchsuchungsbefehls eine Verhaftung oder Hausdurchsuchung vornehmen. Im Rahmen der richterlichen Genehmigung wird ihr Handeln der Rechtsprechung zugerechnet.
32.3. Die Justizverwaltung 827 Justizverwaltung ist die Vorsorge fu È r die sachlichen und persoÈnlichen Bedu È rfnisse der Rechtsprechung. Dazu gehoÈren etwa die Personalverwaltung, die Bedarfsdeckung (zB Anschaffung von PC), die Einhebung der Gerichtsgebu È hren, die GebaÈudeverwaltung usw. Werden Aufgaben der Justizverwaltung durch einen Einzelrichter besorgt (zB Vorstand eines Bezirksgerichts), handelt es sich um Verwaltung und der betreffende Richter ist an Weisungen vorgesetzter Justizverwaltungsorgane (und in letzter Instanz des Justizministers) gebunden (Art 87 Abs 2 B-VG). 828 Wird die Justizverwaltung dagegen durch Senate von Richtern erledigt, befinden sich diese nach der Anordnung des Art 87 Abs 2 B-VG in Ausu È bung ihres richterlichen Amtes. Bei der kollegialen Vollziehung von Justizverwaltungssachen (zB Erstattung von ErnennungsvorschlaÈgen) werden die Richter daher weisungsfrei taÈtig und es handelt sich um eine Angelegenheit der Gerichtsbarkeit.
33. Die Staatshaftung 829 Fu È gt ein Staatsorgan einem Rechtsunterworfenen rechtswidrig einen Schaden zu (weil zB eine Bewilligung in rechtswidriger Weise nicht erteilt wurde oder eine BehoÈrde ihre Aufsichtspflichten vernachlaÈssigt hat), haftet dafu È r nicht das Organ selbst (also der Beamte oder der Richter), sondern der oÈffentliche RechtstraÈger, fu È r den dieses Organ gehandelt hat. Diese Art der Haftung des Staates wird als Amtshaftung bezeichnet. Fu È r den geschaÈdigten Bu È rger hat sie den Vorteil, dass er sich mit seinen Anspru È chen an die GebietskoÈrperschaft selbst halten kann, die u È ber einen grund-
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saÈtzlich unbegrenzten Deckungsfonds verfu È gt. Bei gesetzgeberischem Unrecht kommt nach geltendem innerstaatlichen Recht eine Schadenshaftung des Staates dagegen nicht in Betracht. VerstoÈût der Staat allerdings gegen Bestimmungen des EuropaÈischen Gemeinschaftsrechts, gibt es einen gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch, der durch Besonderheiten gekennzeichnet ist. Ob ganz allgemein ein umfassendes Staatshaftungsrecht geschaffen werden sollte, das ua auch bei verfassungswidriger UntaÈtigkeit des Gesetzgebers zum Tragen kommt, ist Gegenstand einer offenen Diskussion. Ein solcher Anspruch waÈre etwa sinnvoll, wenn soziale Grundrechte eingefu È hrt wu È rden. Im Zusammenhang mit der Amtshaftung sind auch die Regelungen u È ber die Organhaftung zu 830 besprechen, welche die Haftung von Organwaltern betreffen, die im Rahmen der hoheitlichen Vollziehung einem RechtstraÈger einen Schaden zugefu È gt haben (zB wenn ein Dienst-Kfz waÈhrend einer Einsatzfahrt schuldhaft beschaÈdigt wurde).
33.1. Die Amtshaftung Die Haftung des Staates im Wege der Amtshaftung ist verfassungsrechtlich an- 831 geordnet: Art 23 B-VG trifft die grundsaÈtzliche Regelung, dass die staatlichen GebietskoÈrperschaften und andere oÈffentliche RechtstraÈger fu È r den Schaden haften, den die als ihre Organe handelnden Personen in Vollziehung der Gesetze durch ein rechtswidriges Verhalten schuldhaft zugefu È gt haben. Die naÈhere Ausfu È hrung dieses Grundsatzes erfolgt im AmtshaftungsG (AHG). 33.1.1. Der Amtshaftungsanspruch Die Amtshaftung trifft den Bund, die LaÈnder, die Gemeinden und sonstige KoÈrper- 832 schaften des o È ffentlichen Rechts (zB Kammern) sowie die SozialversicherungstraÈger. Diese RechtstraÈger haften nach den Bestimmungen des bu È rgerlichen Rechts, wenn die als ihre Organe handelnden Personen in Vollziehung der Gesetze rechtswidrig und schuldhaft jemandem einen Schaden zugefu È gt haben. ErsatzfaÈhig sind SchaÈden am VermoÈgen und an der Person (§ 1 AHG). 1. Die Schadenshaftung richtet sich grundsaÈtzlich nach den Bestimmungen des 833 bu È rgerlichen Rechts: Voraussetzungen sind daher, dass (1) ein Schaden eingetreten ist, dieser (2) durch eine Handlung oder Unterlassung des Organs verursacht wurde, dass das schaÈdigende Verhalten (3) rechtswidrig ist, wobei die Rechtsverletzung mit dem Schadenseintritt in einem Zusammenhang stehen muss (Rechtswidrigkeitszusammenhang) und dass schlieûlich (4) Verschulden (Vorsatz oder FahrlaÈssigkeit) vorliegt. 2. Die Haftung trifft jenen RechtstraÈger, dessen Aufgaben von dem Organ besorgt 834 werden und dem daher das Organhandeln funktionell zuzurechnen ist. Im Bereich der mittelbaren Bundesverwaltung haftet daher der Bund auch fu È r das schuldhafte Handeln von LandesbehoÈrden, im u È bertragenen Wirkungsbereich der Gemeinde wird das Organhandeln entweder dem Bund oder den LaÈndern zugerechnet. Werden hoheitliche Aufgaben von privaten Rechtssubjekten besorgt (Beleihung), haftet Bund oder Land entsprechend der kompetenzrechtlichen Zuordnung der Aufgabe. 3. Gehaftet wird fu È r das Organhandeln ¹in Vollziehung der Gesetzeª. Durch diese 835 Wendung wird einerseits eine Haftung fu È r Akte des Gesetzgebers ausgeschlossen (bei gesetzgeberischem Unrecht kann allerdings die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung zum Tragen kommen; dazu Rz 841 ff). Durch die EinschraÈnkung auf die ¹Vollziehung der Gesetzeª soll andererseits zum Ausdruck gebracht werden, dass es im Bereich der Privatwirtschaftsverwaltung keine Amtshaftung gibt. Fu È r eine
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Schadenszufu È gung durch privatrechtliches Verwaltungshandeln haftet also grundsaÈtzlich das Organ selbst nach Maûgabe des allgemeinen bu È rgerlichen Schadenersatzrechts; eine Haftung des Staates (RechtstraÈgers) kann sich nur ausnahmsweise aus einer Haftung fu È r das schuldhafte Verhalten Dritter ergeben (etwa in Anwendung der GrundsaÈtze der Gehilfenhaftung oder der Haftung einer juristischen Person fu È r das Handeln ihrer leitenden Organe). Der Amtshaftungsanspruch besteht daher nur bei hoheitlichem Staatshandeln und erfasst sowohl das Verhalten von Organen der Rechtsprechung wie der hoheitlichen Verwaltung. 836 a) HaftungsbegruÈndend koÈnnen daher zB Gerichtsentscheidungen sein, die auf einer unver-
tretbaren Rechtsansicht beruhen; bei einer vertretbaren, wenngleich falschen Rechtsansicht fehlt es am Verschulden, das aber anzunehmen ist, wenn von einer klaren Gesetzeslage abgewichen wird. Verwaltungsbeho È rden haften fu È r SchaÈden, die durch rechtswidrige Bescheide oder Zwangsakte verursacht wurden, auch beho È rdliches Unterlassen (zB eine VernachlaÈssigung einer gebotenen Aufsicht u È ber die Einhaltung von Auflagen) kann zur Amtshaftung fu È hren. Die Judikatur des OGH legt die Wendung ¹in Vollziehung der Gesetzeª weit aus; auch schlichthoheitliches Handeln, das im Zusammenhang mit Hoheitsbefugnissen steht, wird dem Amtshaftungsrecht unterworfen. So konnte etwa die Teilnahme an einem repraÈsentativen gesellschaftlichen Ereignis (¹Diplomatenjagdª) ebenso ein Handeln in Vollziehung der Gesetze darstellen wie der Betrieb einer Kantine in einer Kaserne, die Presseaussendung einer BehoÈrde, staatliche Warnungen vor Sekten oder das Halten von Diensthunden (OGH SZ 55/17; OGH 19.5.1998, 1 Ob 140/98i; OGH SZ 72/5; 41/2 usw). Auch die Erteilung von Unterricht an o È ffentlichen Schulen oder UniversitaÈten ist ein Handeln in Vollziehung der Gesetze (OGH SZ 51/2; 57/17). Selbst der bloûe Anschein beho È rdlichen Handelns kann die Anwendbarkeit des AHG begru È nden. Nicht mehr in Vollziehung der Gesetze erfolgen aber erwerbswirtschaftliche AktivitaÈten der o È ffentlichen Hand oder ein Verwaltungshandeln ohne Bezug zu o È ffentlichen Aufgaben, wie etwa das BefoÈrdern von Privatpersonen mit einem heereseigenen Fahrzeug.
837 b) Aus einer rechtswidrigen Entscheidung eines HoÈchstgerichts (OGH, VwGH, VfGH)
kann nach § 2 Abs 3 AHG kein Ersatzanspruch abgeleitet werden. Hier ist zu beru È cksichtigen, dass diese EinschraÈnkung bei gemeinschaftsrechtlich begru È ndeten StaatshaftungsanspruÈchen nicht zum Tragen kommt (vgl Rz 841). Der Ersatzanspruch ist ferner ausgeschlossen, wenn der GeschaÈdigte den Schaden durch ein Rechtsmittel oder eine Beschwerde an den VwGH haÈtte abwenden ko Ènnen (§ 2 Abs 2 AHG).
È gensschaÈden und SchaÈden an der Person 838 4. Nach § 1 Abs 1 AHG werden Vermo (zB bei KoÈrperverletzung) ersetzt. Nicht ersatzfaÈhig waÈren daher immaterielle SchaÈden (zB durch einen Geheimnisverrat oder eine Beleidigung) oder der durch einen Freiheitsentzug entstandene nicht vermoÈgenswerte Schaden. Die VerfassungsmaÈûigkeit dieser EinschraÈnkung ist im Hinblick auf Art 23 B-VG, der den Ersatz jedes Schadens vorsieht, fraglich; bei verfassungskonformer Interpretation sind daher auch immaterielle SchaÈden ersatzfaÈhig. Bei grundrechtswidrigen FreiheitsbeschraÈnkungen kann auûerdem ein Schadenersatzanspruch unmittelbar auf Art 7 PersFrG gestu È tzt werden, wobei hier auch ein Ausgleich immaterieller SchaÈden umfasst ist (zB OGH SZ 62/176). 33.1.2. Geltendmachung des Amtshaftungsanspruchs 839 Der Amtshaftungsanspruch ist durch Klage gegen den RechtstraÈger geltend zu machen; vor Einbringung der Klage ist dieser schriftlich zur Anerkennung des Ersatzanspruchs aufzufordern (§ 8 AHG). Die ZustaÈndigkeit in Amtshaftungssachen ist bei den Landesgerichten konzentriert, wobei o È rtlich jenes Landesgericht zustaÈndig ist, in dessen Sprengel die Rechtsverletzung begangen wurde (§ 9 AHG). Besonderes gilt, wenn der geltend gemachte Amtshaftungsanspruch von der Frage der Rechtswidrigkeit eines Bescheids abhaÈngt, u È ber den es noch kein Erkenntnis des VfGH oder VwGH gibt. In einem solchen Fall hat das Amtshaftungsgericht, wenn es den
5. Kapitel: Die Gerichtsbarkeit des Bundes
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Bescheid fu È r rechtswidrig haÈlt, das Verfahren zu unterbrechen und beim VwGH die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Bescheids zu beantragen (§ 11 AHG; Art 131 Abs 2 B-VG). Die Erledigung ergeht dann in Bindung an die Rechtsanschauung des VwGH; auf diese Weise wird das Monopol der Gerichtsho È fe des o È ffentlichen Rechts zur Beurteilung der RechtmaÈûigkeit von Bescheiden gewahrt. 33.1.3. Der Regressanspruch des RechtstraÈgers Es entspricht dem Wesen des Amtshaftungsanspruchs, dass das Organ, das durch sein schuld- 840 haft rechtswidriges Handeln den Schadenersatzanspruch ausgeloÈst hat, vom GeschaÈdigten nicht in Anspruch genommen werden kann (§ 9 Abs 5 AHG). Darin liegt nicht nur ein Vorteil fu È r den GeschaÈdigten, der auf den Staat zugreifen kann; in gewisser Weise wird dadurch auch der oÈffentlich Bedienstete vor Anspru È chen aus seiner AmtstaÈtigkeit abgeschirmt. Allerdings kann der RechtstraÈger, der Schadenersatz leisten musste, vom Organwalter Ru È ckersatz (Regress) begehren. Der Regressanspruch ist auf die FaÈlle des Vorsatzes und der groben FahrlaÈssigkeit beschraÈnkt; hat der Bedienstete den Schaden nur durch ein leicht fahrlaÈssiges Verhalten verursacht, ist er vor dem Regress geschu È tzt (Art 23 Abs 2 B-VG; § 3 Abs 1 AHG). Bei grober FahrlaÈssigkeit kann das Gericht aus Gru È nden der Billigkeit den Ru È ckersatz maÈûigen (§ 3 Abs 2 AHG). Kein Ru È ckersatz kann begehrt werden, wenn das Organ auf Weisung eines Vorgesetzten gehandelt hat, auûer wenn es sich um eine Weisung gehandelt hat, die ohnedies nicht befolgt haÈtte werden du È rfen, weil sie von einem unzustaÈndigen Organ erteilt wurde oder ihre Befolgung gegen strafgesetzliche Vorschriften verstoûen hat (§ 4 AHG).
33.2. Der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch 1. VerstoÈût ein Mitgliedstaat der EU gegen Gemeinschaftsrecht und fu È gt dadurch ei- 841 ner Person einen Schaden zu, besteht ein Schadenersatzanspruch, der sich aus allgemeinen RechtsgrundsaÈtzen des Gemeinschaftsrechts ableiten laÈsst. Er darf durch das nationale Recht nur ausgestaltet, nicht aber eingeschraÈnkt werden. Nach der Judikatur des EuGH haftet der Staat unter den folgenden Voraussetzungen: . Die verletzte Norm des Gemeinschaftsrechts muss dem Einzelnen Rechte gewaÈhren, . die Rechtsverletzung muss offenkundig sein und . die Rechtsverletzung muss fu È r den eingetretenen Schaden kausal sein (EuGH, verb Rs C-46/93, Brasserie, und C-48/93, Factortame, Slg 1996, I-1029). Dieser Staatshaftungsanspruch geht insoweit u È ber die Amtshaftung nach nationalem oÈsterreichischen Recht hinaus, als er auch durch rechtswidriges Handeln des Gesetzgebers (¹legislatives Unrechtª) begru È ndet und auch aus rechtswidrigen EntÈ chstgerichten abgeleitet werden kann. Eine Haftung des Gescheidungen von Ho setzgebers kann sich vor allem aus der nicht rechtzeitigen oder fehlerhaften Umsetzung einer Richtlinie ergeben. Auch ein Verstoû gegen die Vorlagepflicht (Rz 355) kann einen Haftungsanspruch ausloÈsen. 2. Die Durchsetzung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs 842 richtet sich nach den ZustaÈndigkeits- und Verfahrensvorschriften des nationalen Rechts. Daher kann auf diesen Anspruch grundsaÈtzlich das AHG angewendet werden; er ist vor den Landesgerichten als Amtshaftungsgerichten geltend zu machen. Kontrovers diskutiert wurde die Frage, welche Gerichte (ordentliche Gerichte, Amts- 843 haftungsgerichte, VfGH nach Art 137 B-VG?) fu È r die Geltendmachung von gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspru È chen zustaÈndig sind, die sich aus legislaÈ chstgerichtlichen Entscheidungen ableiten (weil in beitivem Unrecht oder ho den FaÈllen die Anwendung des AHG durch explizite Regelungen dieses Gesetzes an
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Teil II. Die Staatsorganisation und die Staatsfunktionen
sich ausgeschlossen ist). Durch Entscheidungen des VfGH ist nunmehr geklaÈrt, dass sich der VfGH fu È r zustaÈndig erachtet, u È ber Staatshaftungsanspru È che im Verfahren nach Art 137 B-VG zu entscheiden, wenn . die anspruchsbegru È ndende Handlung oder Unterlassung unmittelbar dem Gesetzgeber zuzurechnen ist È chstgerichts (OGH, . oder der Anspruch sich aus einer Entscheidung eines Ho VwGH, VfGH) ableitet. In allen anderen FaÈllen sind entweder die Amtshaftungsgerichte (wenn die SchaÈdigung ¹in Vollziehung der Gesetzeª erfolgt ist) oder die ordentlichen Gerichte (im Bereich der Privatwirtschaftsverwaltung) zustaÈndig (vgl dazu mwN Rz 1124).
33.3. Die Organhaftung 844 Die Haftung eines Organwalters, der durch ein schuldhaftes, rechtswidriges Verhalten dem
RechtstraÈger einen Schaden zugefu È gt hat, fu È r den er in Vollziehung der Gesetze handelt, wird auf verfassungsrechtlicher Ebene in Art 23 Abs 3 B-VG angesprochen; die einfachgesetzliche Regelung dieser so genannten Organhaftung erfolgt im OrganhaftpflichtG BGBl 1967/181 idgF. Hervorzuheben ist, dass auch in dieser Hinsicht die Schadenersatzpflicht des Organs beschraÈnkt ist, weil sie bei FahrlaÈssigkeit gemildert und bei leichter FahrlaÈssigkeit auch ganz erlassen werden kann; handelt es sich um eine entschuldbare Fehlleistung, ist Haftung gaÈnzlich ausgeschlossen. Auf weitere Einzelheiten soll hier nicht eingegangen werden; in weiten Bereichen entspricht die Organhaftung den Regelungen des AHG. AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zu den Abschnitten 31±33: VfSlg 12.151/1989: Obwohl alle Gerichte BehoÈrden des Bundes sind, kann auch der Landesgesetzgeber Gerichte mit der Vollziehung bestimmter Regelungen betrauen und in bestimmten FaÈllen kann das ± wie hier ± sogar verfassungsrechtlich erforderlich sein. VfSlg 13.232/1992: Kann ein Verwaltungsbeamter gleichzeitig Berufsrichter sein? Beachte È berlegungen des VfGH zur Bestellung von Laienrichtern. auch die U VfSlg 14.189/1995: Ist eine GeschaÈftsverteilung eines Gerichts eine VO? Was spielt es fu Èr eine Rolle, dass die GeschaÈftsverteilung von einem Personalsenat beschlossen wird? VfSlg 14.368/1995: BesetzungsvorschlaÈge nach Art 86 B-VG sind nicht bindend. Was hat das fu È r Konsequenzen im Hinblick auf die Rechtsstellung der in den Vorschlag aufgenommenen Personen? VfSlg 17.019/2003: Bei der Entscheidung der Frage, welches Gericht beurteilen soll, ob ein Ho È chstgericht gegen Gemeinschaftsrecht verstoûen hat, war der VfGH auf allgemeine ErwaÈgungen angewiesen. Zu welchem Ergebnis ist er gelangt? OGH SZ 52/56: Eine amtshaftungsrechtliche Entscheidung zum so genannten ¹Auslegungsverschuldenª. OGH 4.4.1990, 1 Ob 3/90, JBl 1991, 180: Gibt es eine Amtshaftung und welcher RechtstraÈÈ AMTC) die technische Begutachtung von ger haftet, wenn ein beliehener Unternehmer (O Kfz vornimmt? OGH SZ 65/112: Erfolgt der Einsatz eines Gendarmerieboots zur Bergung Schiffbru È chiger ¹in Vollziehung der Gesetzeª? OGH 11.11.1992, 1 Ob 5/92, JBl 1993, 532: Welche Anspru È che hat ein Bu È rger, wenn eine BehoÈrde nichts gegen den konsenslosen Betrieb einer Anlage unternimmt? Zur Vertiefung: Zur Gerichtsbarkeit: Fasching, VerfassungsmaÈûige Gerichtsorganisation, È JT (1988); Jabloner, Die Gerichtsbarkeit im Bundesstaat, in: Koja-FS (1998) 245; 10. O È JT I/1 (1991); Mayer, Funktion und Grenzen der Gerichtsbarkeit im Rechtsstaat, 11. O Piska, Das Prinzip der festen GeschaÈftsverteilung in der ordentlichen Gerichtsbarkeit
5. Kapitel: Die Gerichtsbarkeit des Bundes
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(1995); Walter, Die Gerichtsbarkeit, in: Schambeck (Hrsg), Das oÈsterreichische Bundes-VerÈ ffentlichkeitsprinzip fassungsgesetz und seine Entwicklung (1980) 443; Zacharias, Das O È JZ 1996, 681. im Strafprozess, O Zur Staatshaftung: Aicher (Hrsg), Die Haftung fu È r staatliche Fehlleistungen im WirtschaftsleÈ JZ ben (1988); Balthasar, Das subjektive (o È ffentliche) Recht im Amtshaftungsverfahren, O 1998, 321; Budischowsky, Schadenersatz wegen Nichtumsetzung von Richtlinien der EG È ZW 1998, 1; Eilmansberger, Rechtsfolgen und subjektives Recht im und Amtshaftung, O Gemeinschaftsrecht (1997); Hummer/Obwexer, Die unmittelbare Wirkung von EG-Richtlinien und die Haftung des Staates fu È r UmsetzungsmaÈngel, in: Griller/Rill (Hrsg), Verfassungsrechtliche Grundfragen der EU-Mitgliedschaft (1997) 21; Rebhahn, Staatshaftung wegen mangelnder Gefahrenabwehr (1997); Schragel, Kommentar zum Amtshaftungsgesetz3 (2003); Vrba/Zechner, Kommentar zum Amtshaftungsrecht (1983).
Teil III. Die Kontrolle der Staatsgewalt Die beiden folgenden Kapitel wenden sich der Kontrolle zu. Im ersten Kapitel werden die beiden wichtigsten Verfassungsinstitutionen behandelt, die im Auftrag der Parlamente im Bund und in den LaÈndern kontrollierend taÈtig sind, das sind der Rechnungshof und die Volksanwaltschaft. Das zweite Kapitel stellt die GeÈ fe des o È ffentlichen Rechts und die UVS dar und geht ausfu richtsho È hrlich auf ihre Organisation, ihre Aufgaben und ihre Verfahren ein. Vorangestellt ist ein einleitender Abschnitt u È ber Grundsatzfragen der Kontrolle im demokratischen Verfassungsstaat.
34. Die Kontrolle der Staatsgewalt 34.1. Die Bedeutung der Kontrolle im demokratischen Verfassungsstaat 845 Die staatlichen Organe u È ben die ihnen u È bertragene Staatsmacht treuhaÈndig im Namen des Volkes aus. Sie sind ihm fu È r ihre korrekte Amtsfu È hrung verantwortlich. Auch wenn diese Verantwortlichkeit mehrere Seiten hat und verschiedenen Organen geschuldet wird, geht es letztlich um das eine Ziel: einen Missbrauch der u È bertragenen Macht zu verhindern und sicherzustellen, dass der Staat dem allgemeinen Interesse der Menschen dient, die ihm angehoÈren. Die verfassungsrechtlichen Institutionen und Verfahren der Kontrolle sind daher genauso wichtig wie die Organisation der Staatsgewalten und die Regelung ihres VerhaÈltnisses zueinander. 846 Das B-VG bringt die Bedeutung der zur Kontrolle der Staatsmacht berufenen Einrichtungen bereits in seiner Gliederung zum Ausdruck: Nachdem die ersten Hauptstu È cke die verschiedenen Funktionen des Staates orientiert an der klassischen Gewaltenteilungslehre verfassen und die Organe und Verfahren der Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit (sowie die Selbstverwaltung) regeln, wenden sich das 6., 7. und 8. Hauptstu È ck der Kontrolle zu. Es waÈre daher durchaus gerechtfertigt, die Kontrollinstanzen als die ¹Vierte Staatsgewaltª anzusprechen. Das B-VG konzipiert sie freilich als Einrichtungen, die den u È brigen Staatsgewalten zugeordnet sind: Rechnungshof und Volksanwaltschaft werden der Gesetzgebung als Hilfsorgane der parlamentarischen Kontrolle zugerechnet, und die Gerichtsho È fe des o È ffentlichen Rechts gehoÈren zur Gerichtsbarkeit. 847 Auch wenn man daher die Kontrolleinrichtungen nicht als ¹Vierte Gewaltª bezeichnen kann,
sind sie eigenstaÈndige Verfassungsorgane mit verfassungsrechtlich festgelegten Kompetenzen. Das B-VG betont ihre SelbstaÈndigkeit und UnabhaÈngigkeit in mehrfacher Hinsicht: etwa durch InkompatibilitaÈtsregelungen, welche die ObjektivitaÈt und Unparteilichkeit der KontrollÈ bertragung der Personalhoheit an ihre PraÈsidenten, durch Regeinstanzen sichern, durch die U lungen u È ber die Amtsperiode ihrer leitenden FunktionaÈre. In der Praxis koÈnnen sich die Kontrollorgane daru È ber hinaus durch fachlich kompetente Arbeit und durch unter Beweis gestellte È ffentlichkeit das UnabhaÈngigkeit das Ansehen erwerben, das ihnen auch in den Augen der O entsprechende Gewicht verleiht. Das zeigt sich etwa beim Rechnungshof, der formal zwar ein Hilfsorgan der Parlamente im Bund und in den LaÈndern ist und diesen zuarbeitet, der
Teil III. Die Kontrolle der Staatsgewalt
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aber in der oÈffentlichen Meinung durchaus als ein eigenstaÈndiges Kontrollorgan wahrgenommen wird, dessen Feststellungen hohe fachliche AutoritaÈt zukommt.
34.2. Erscheinungsformen der Kontrolle im Verfassungsstaat Die Staatsgewalt wird unter verschiedenen Aspekten und in verschiedenen Ver- 848 fahren kontrolliert. Dabei kann nach den Zielen und MaûstaÈben der Kontrolle, den Erscheinungsformen der Staatsgewalt, die kontrolliert wird, und nach den Organen unterschieden werden, die entweder selbst kontrollieren oder in deren Namen die È bersicht. Kontrolle ausgeu È bt wird. Das fu È hrt zu der folgenden U 34.2.1. Rechtliche Kontrolle Im Rechtsstaat sind prinzipiell alle Erscheinungsformen der Staatsgewalt einer 849 Kontrolle nach RechtsmaûstaÈben unterworfen. Ihr Ziel ist die Sicherung der RechtmaÈûigkeit des Staatshandelns, dh vor allem der Einhaltung der Gesetze und der Verfassung. Die Verwaltung unterliegt der umfassenden Kontrolle durch die GerichtshoÈfe des o È ffentlichen Rechts (VwGH, VfGH, AsylGH). Oberste Verwaltungsorgane und weitere, ihnen gleichgestellte Organe sind daru È ber hinaus einer besonderen rechtlichen (Minister-)Verantwortlichkeit unterworfen, die durch Anklage beim VfGH als Staatsgerichtshof geltend gemacht werden kann. Die Wahrung der GesetzmaÈûigkeit im Bereich der Gerichtsbarkeit ist den im Instanzenzug u È bergeordneten Gerichten anvertraut. Die Gesetzgebung unterliegt im Hinblick auf die ihr durch die Verfassung gesetzten Schranken der Kontrolle durch den VfGH. Neben den GerichtshoÈfen des oÈffentlichen Rechts sind zur Sicherung der RechtmaÈûigkeit im Verwaltungsbereich weitere unabhaÈngige Kontrolleinrichtungen geschaffen worden, in erster Linie die unabhaÈngigen Verwaltungssenate (UVS) und ihnen Èahnliche weisungsfreie BehoÈrden (Art 133 Z 4-BehoÈrden, unabhaÈngiger Finanzsenat, Bundesvergabeamt). a) Maûstab der Rechtskontrolle ist die RechtmaÈûigkeit. Politische Gesichtspunkte der Zweck- 850 maÈûigkeit oder Fragen der Wirtschaftlichkeit des Staatshandelns du È rfen fu È r sie grundsaÈtzlich keine Rolle spielen. Die rechtliche Kontrolle unterliegt einer strikten Verfahrensbindung und sie ist idR an bestimmten Rechtsformen (zB Bescheid, Maûnahme, VO usw) ausgerichtet. Das kann zu Kontrolldefiziten fu È hren, weil sich formloses oder atypisches Staatshandeln der ZustaÈndigkeit der Gerichte entziehen kann. Die Rechtskontrolle mu È ndet bei ¹GrenzorgaÈ berpru nenª, deren Entscheidungen keiner weiteren U È fung mehr unterliegen; das sind in È sterreich der OGH, der VwGH und der VfGH. Internationale Instanzen wie der EGMR oder O der EuGH koÈnnen freilich auch gegenu È ber diesen nationalen HoÈchstgerichten noch ZustaÈndigkeiten beanspruchen. b) Eine neuartige Form der RechtmaÈûigkeitskontrolle u È ben die Rechtsschutzbeauftragten È berwachungsmaûnahmen verbu aus, die Rechtsschutz bei geheimen staatlichen U È rgen sollen. Derartige Rechtsschutzbeauftragte gibt es nach der StPO, dem SPG und dem MBG; sie mu È ssen zu bestimmten Maûnahmen (Lauschangriffe, Rasterfahndung, verdeckte Observierung usw) ihre Zustimmung geben und im Interesse der u È berwachten Personen Rechtsmittel ergreifen, solange diese u È ber die geheimen Aktionen noch nicht informiert sind (vgl dazu Rz 1327).
34.2.2. Wirtschaftliche Kontrolle Staatsorgane sind verfassungsrechtlich zur Beachtung des Wirtschaftlichkeitsge- 851 bots verpflichtet. Das wird aus den GrundsaÈtzen der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und ZweckmaÈûigkeit abgeleitet, die als KontrollmaûstaÈbe fu È r den Rechnungshof verankert sind (zB Art 126b Abs 5 B-VG). Diese MaûstaÈbe sind aber daru È ber hinausgehend fu È r das gesamte Staatshandeln verbindlich und sie sind daher auch Kriterien
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Teil III. Die Kontrolle der Staatsgewalt
fu È r eine umfassende Wirtschaftlichkeitskontrolle. Eine solche finanzielle Kontrolle ist besonders wichtig, wenn oÈffentliche Gelder verwaltet werden. In diesem Sinn zielt die wirtschaftliche Kontrolle darauf, eine Verschwendung o È ffentlicher Gelder, unwirtschaftliche Aufwendungen, eine Misswirtschaft bei der Vergabe oÈffentlicher AuftraÈge, ineffektive Ressourcenbewirtschaftung usw aufzudecken und wenn moÈglich abzustellen. Der Wirtschaftlichkeitskontrolle unterliegen die gesamte staatliche Verwaltung und gewisse andere o È ffentliche RechtstraÈger; sie wird von den Parlamenten geltend gemacht, die sich dazu in erster Linie der fachkundigen Hilfe der Rechnungsho È fe im Bund und in den LaÈndern bedienen. Die Gerichte unterliegen ebenfalls einer Wirtschaftlichkeitskontrolle, soweit es sich um Angelegenheiten der Justizverwaltung handelt. Wenn der Gesetzgeber selbst unwirtschaftliche Aufwendungen verursacht, entzieht sich das dagegen weitgehend der Kontrolle und kann nur zum Gegenstand politischer Beurteilung gemacht werden. Auf die RechnungshoÈfe wird im folgenden Abschnitt 35 eingegangen. 34.2.3. Politische Kontrolle 852 Im parlamentarischen Regierungssystem mit der Verantwortlichkeit der Regierungen gegenu È ber den Parlamenten u È ben Letztere auch eine politische Kontrolle aus. Eine politische Kontrolle ist die sachlich umfassendste Form der Kontrolle. Sie kann praktisch alles zum Gegenstand ihrer Wahrnehmungen machen, was irgendwie mit der Amtsfu È hrung zusammenhaÈngt: Sie kann rechtswidriges oder unwirtschaftliches Verhalten aufgreifen, aber daru È ber hinausgehend auch Fragen der politischen ZweckmaÈûigkeit, des politischen Anstands oder der persoÈnlichen IntegritaÈt eines AmtstraÈgers. Die MaûstaÈbe der politischen Kontrolle sind die kaum naÈher eingrenzbaren Kriterien des politisch richtigen Handelns. Die Instrumente der politischen Kontrolle (Interpellation, Enqueterecht, Resolutionsrecht, Misstrauensvotum) wurden bereits dargestellt (vgl Rz 571 ff). Keiner politischen Kontrolle unterliegt der Gesetzgeber. Sein Verhalten kann ¹nurª von den WaÈhlerinnen und WaÈhlern bewertet und bei der naÈchsten Wahl in der Wahlzelle sanktioniert werden. Die Gerichtsbarkeit darf nicht nach politischen MaûstaÈben kontrolliert werden, das waÈre mit ihrer UnabhaÈngigkeit und ihrer Verantwortung gegenu È ber dem Recht unvereinbar. Keine Form der Kontrolle stellt die kritische Auseinandersetzung mit Entscheidungen der Gerichte dar, eine solche ¹Justizkritikª ist zulaÈssig und in den Grenzen der allgemeinen Rechtsordnung durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Staatliche Organe haben bei der Beurteilung von Gerichtsentscheidungen aber eine besondere Zuru È ckhaltung zu wahren, um nicht den Eindruck einer unzulaÈssigen Justizbeeinflussung zu erwecken.
34.2.4. Missstandskontrolle 853 Die bisher behandelten Formen der Kontrolle koÈnnen manchmal zu kurz greifen: Die UnhoÈflichkeit eines Verwaltungsbeamten oder ein fu È r die Menschen unverstaÈndliches Formular mu È ssen weder rechtswidrig noch unwirtschaftlich sein; sie koÈnnten zwar zum Gegenstand der politischen Kontrolle gemacht werden, aber deren Handhabung liegt bei den Parlamenten und sie wird idR nach politischen Gesichtspunkten ausgeu È bt. Im Ergebnis kann es daher staatliche MissstaÈnde geben, die von den traditionellen Kontrollinstanzen nicht erfasst werden koÈnnen. In den meisten Demokratien hat man daher eine neue Form von Kontrollorganen eingefu È hrt, die in Anlehnung an skandinavische Vorbilder ¹OmbudsmaÈnnerª oder ¹Volksanwaltschaftenª genannt werden; sie sind unbu È rokratisch organisierte Kontrollinstanzen, die im unmittelbaren Interesse der Bu È rgerinnen und Bu È rger taÈtig werden sollen, um deren Beschwerden nach MoÈglichkeit rasch, kostengu È nstig und wirksam abzuhelfen. Auch die o È sterreichische Volksanwaltschaft hat den Auftrag zu einer umfassenden
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Missstandskontrolle, die gegenu È ber der Verwaltung ausgeu È bt wird. Eine Eigenart dieser Art von Kontrolle ist, dass sie zugleich auch einen Rechtsschutz verbu È rgen soll, der relativ formfrei und ohne finanzielle Barrieren ausgeu È bt wird und den der Einzelne durch eine Beschwerde in Bewegung setzen kann. Auf die Volksanwaltschaft wird im folgenden Abschnitt 36 eingegangen. UnabhaÈngige Instanzen zur Kontrolle der Verwaltung und zur BekaÈmpfung von MissstaÈnden sind auch die Anwaltschaften, die es in verschiedenen Verwaltungsbereichen gibt. Ihnen ist auch die Wahrung bestimmter o È ffentlicher Interessen anvertraut. So haben die LaÈnder Umweltanwaltschaften eingerichtet, gibt es PatientenanwaÈlte und wurden durch das TierschutzG des Bundes TierschutzombudsmaÈnner installiert. Diese Anwaltschaften ko È nnen nach Art 20 Abs 2 Z 2 und 4 B-VG durch einfaches Gesetz weisungsfrei gestellt werden und ko È nnen nach den naÈheren gesetzlichen Regelungen als Organparteien Rechtsmittel ergreifen und Beschwerden an den VwGH einbringen. Zur Anwaltschaft fu È r Gleichbehandlung vgl Rz 1328.
34.2.5. Grenzen der verfassungsmaÈûigen Kontrolle In einem Rechtsstaat du È rfen auch die verfassungsmaÈûig eingerichteten Kontrollor- 854 gane ihre Aufgaben nur im Rahmen des Rechts ausu È ben. Daher stoÈût selbst die KontrolltaÈtigkeit an Grenzen, die sie auch dort akzeptieren muss, wo diese zu Lasten ihrer EffektivitaÈt gehen koÈnnen. So unterliegt grundsaÈtzlich nur staatliches Handeln der oÈffentlichen Kontrolle, die lediglich in den ausdru È cklich genannten FaÈllen (etwa bei mehrheitlich von der o È ffentlichen Hand beherrschten Unternehmen oder bei KoÈrperschaften, die mit o È ffentlichen Mitteln wirtschaften) auch in den gesellschaftlichen Bereich ausgreifen und das Handeln privater Rechtssubjekte u È berpru È fen darf. Auch die politische Kontrolle ist in ihrem Zugriff begrenzt. Parlamentarische Untersuchungsausschu È sse mu È ssen daher zB die Rechte der Zeugen wahren, die vor ihnen auszusagen verpflichtet sind. Nichtstaatliche Institutionen unterliegen, auch wenn sie o È ffentliche Aufgaben wahrnehmen, 855 nur dann dem Zugriff staatlicher Kontrollinstitutionen, wenn dies ausdru È cklich angeordnet ist. Dies gilt etwa fu È r die politischen Parteien, die sich ungeachtet ihrer oÈffentlichen Bedeutsamkeit und der von ihnen ausgeu È bten Macht nur einer begrenzten oÈffentlichen Kontrolle oÈffnen mu È ffentlichen Aufgaben auf selbstaÈndige È ssen (vgl Rz 241). Mit der Ausgliederung von o RechtstraÈger kann daher auch eine Verdu È nnung der oÈffentlichen Kontrolle verbunden sein (¹Flucht aus der Kontrolleª). Die damit verbundenen verfassungspolitischen Probleme sind noch weitgehend ungeloÈst. Fu È r die Leiter weisungsfrei gestellter Organe und Einrichtungen sieht nunmehr Art 52 Abs 1a B-VG eine gewisse Kontrolle durch das Parlament vor (vgl Rz 572).
34.3. Gesellschaftliche Kontrolle Die Staatsgewalt und ihre Organe werden nicht nur durch die verfassungsmaÈûig ein- 856 gerichteten Instanzen in rechtlicher, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht kontrolliert. Auch die Gesellschaft und ihre Institutionen koÈnnen und mu È ssen sich aus eigenem Recht kritisch kontrollierend mit den staatlichen Einrichtungen und den fu È r sie handelnden Personen auseinander setzen. Dabei darf nicht u È bersehen werden, dass die wichtigste Instanz der gesellschaftlichen Kontrolle die demokratisch verfasste Bu È rgerschaft ist, dh die WaÈhlerinnen und WaÈhler, die periodisch bei den Wahlen zu den allgemeinen VertretungskoÈrpern ihr Urteil u È ber die politischen Leistungen jener politischen Gruppen abgeben, aus denen sich die Staatsorgane rekrutieren. Dass der Wahltag der ¹Zahltagª ist, sichert die fu È r die Demokratie unverzichtbare Ru È ckbindung der politischen Eliten an den Willen des Volkes.
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Teil III. Die Kontrolle der Staatsgewalt
857 Notwendig ist aber auch eine kontinuierliche kritische Information u È ber die oÈffentlichen Angelegenheiten durch freie, unabhaÈngige und vielfaÈltige Massenmedien. In der modernen Gesellschaft koÈnnen nur Presse und Rundfunk sowie die Online-Medien jenes oÈffentliche Forum konstituieren, auf das eine Demokratie angewiesen ist und auf dem sich o È ffentliche Meinungen formieren koÈnnen. Zugleich u È ben die Medien die unverzichtbare Funktion eines ¹public watchdogª aus, wenn sie die Ausu È bung der Macht kontrollieren und das oÈffentlich machen, was in einer Demokratie nicht geheim gehalten werden darf. Anders als die Institutionen der staatlichen Kontrolle ko È nnen sich die Medien mit ihrem InforÈ ffentlicher Bedeutsamkeit ist, mationsauftrag grundsaÈtzlich allem zuwenden, was von o und sie sind auch nicht den strikten verfahrensmaÈûigen Bindungen unterworfen, wie sie fu Èr Staatsorgane maûgeblich sind. SelbstverstaÈndlich mu È ssen sich auch die Medien in den Grenzen des Rechts halten und sie du È rfen ± auch wenn das in der Praxis immer wieder geschieht ± ihren Informationsauftrag nicht zur leichtfertigen Verleumdung von Menschen oder zu indiskreten Enthu È llungen aus geschu È tzten PrivatsphaÈren missbrauchen. Auch die Medien sind eine Macht, die ihrerseits der Kontrolle bedarf! Trotzdem ist es wichtig zu erkennen, dass die Massenmedien im Schutz des Grundrechts der Meinungs- und Medienfreiheit freier agieren ko È nnen und du È rfen als die Organe der staatlichen Kontrolle, die sie auf diese Weise ergaÈnzen und unterstu È tzen. Wenn die Medien gelegentlich als ¹Vierte Gewaltª bezeichnet werden, um diesen o È ffentlichen Auftrag zu charakterisieren, ist das freilich irrefu È hrend, weil die Medien nicht Teil der verfassten Staatsgewalt sind. Zur o È ffentlichen Aufgabe der Medien und zum Schutz der Medienfreiheit vgl Rz 1460.
È f858 Neben den Massenmedien kann es noch weitere Instanzen einer kritischen O fentlichkeit geben, und eine Demokratie ist umso lebensfaÈhiger, je vielfaÈltiger die Institutionen der Bu È ffentlichen AngelegenheiÈ rgergesellschaft sind, die sich um die o ten ku È mmern. Vereine, Bu È rgerinitiativen, Nachbarschaftsgruppen, Schu È ler- oder Studentenvereinigungen, die Kirchen, Ku È nstler, aber auch einzelne Menschen, die sich engagieren, koÈnnen wichtige Elemente einer solchen ¹civil societyª sein, die auch ein Gegengewicht zu den etablierten Institutionen des politischen Systems bildet. Auch darin liegt ein wesentliches Stu È ck gesellschaftlicher Kontrolle. Das VerfassungsÈ ffentlichkeit durch die Grundrecht unterstu È tzt die Formierung einer solchen O rechte der Meinungs-, Vereins- und Versammlungsfreiheit. Erst im Zusammenwirken È ffentlichzwischen den Instanzen einer o È ffentlichen Kontrolle und einer kritischen O keit und ihren Medien kann die Verantwortlichkeit der Staatsorgane eingelo È st werden.
1. Kapitel: Wirtschaftliche Kontrolle und Missstandskontrolle 35. Der Rechnungshof Dem Rechnungshof (RH) sind Aufgaben der wirtschaftlichen Kontrolle u È berant- 859 wortet. Diese Art der Kontrolle wird auch als Gebarungskontrolle bezeichnet, wobei unter Gebarung die Einnahmen- und Ausgabenwirtschaft der o È ffentlichen Hand zu verstehen ist. In diesem Sinn kontrolliert der RH die Verwendung o È ffentlicher Finanzmittel durch die GebietskoÈrperschaften, aber auch durch selbstaÈndige RechtstraÈger und durch Wirtschaftsunternehmen, die von der o È ffentlichen Hand beherrscht werden oder mit ihr verflochten sind. Die Adressaten seiner Wahrnehmungen sind in erster Linie die Parlamente im Bund und in den LaÈndern, weshalb man den RH im Schema der Gewaltenteilung der Gesetzgebung zuordnet. Die praktische Wirksamkeit der RH-Kontrolle haÈngt freilich in erster Linie davon ab, dass seine Berichte vero È ffentlicht und damit zum Gegenstand oÈffentlicher Diskussionen gemacht werden. Die Organisation, Aufgaben und Verfahrensweisen des RH werden in diesem Abschnitt behandelt. Im bundesstaatlichen System wird der RH fu È r den Bund und fu È r die LaÈnder taÈtig; da- 860 neben haben die BundeslaÈnder eigenstaÈndige Kontrolleinrichtungen (LandesrechnungshoÈfe, LandeskontrollaÈmter) geschaffen, auf die am Ende dieses Abschnittes ebenfalls kurz eingegangen wird.
35.1. Die Organisation des Rechnungshofs 1. Das B-VG wendet sich der Einrichtung und den Aufgaben des RH im 6. Haupt- 861 È berschrift ¹Rechnungs- und Gebarungskontrolleª zu. NaÈhere Regestu È ck unter der U lungen enthaÈlt das Rechnungshofgesetz 1948 (RHG). Organisatorisch ist der RH eine Bundeseinrichtung mit Sitz in Wien (Dampfschiffstraûe 2; www.rechnungshof.at). Er untersteht unmittelbar dem NR und wird als dessen Organ taÈtig, wenn er die Bundesgebarung u È berpru È ft. Wenn er die LaÈnder und Gemeinden kontrolliert, ist er ein Organ des jeweiligen LT (Art 122 B-VG). Verfassungsrechtlich ist ihm seine UnabhaÈngigkeit garantiert. Er ist nur den Bestimmungen des Gesetzes unterworfen; die Mitglieder des RH koÈnnen daher an keine Weisungen Auûenstehender gebunden werden (Art 122 Abs 2 B-VG). 2. Dem RH steht ein PraÈsident vor, der vom NR fu È r eine Funktionsperiode von 862 12 Jahren gewaÈhlt wird. Eine Wiederbestellung ist unzulaÈssig. Er kann durch einen Beschluss des NR abberufen werden (Art 122 Abs 4, 123 Abs 2 B-VG). Im Rechnungshof sind Beamte taÈtig, die vom BPraÈs auf Vorschlag des RH-PraÈsidenten ernannt werden; der BPraÈs hat das Ernennungsrecht fu È r bestimmte Beamtenkategorien an den RH-PraÈsidenten u È bertragen. Die Diensthoheit gegenu È ber den RH-Beamten u È bt der RH-PraÈsident aus, der insoweit die Stellung eines obersten Verwaltungsorgans hat. Im Hinblick auf seine rechtliche Verantwortlichkeit ist der RH-PraÈsident einem BM (bzw einem Mitglied einer LReg) gleichgestellt und er kann wie diese wegen Gesetzesverletzung beim VfGH angeklagt werden (Art 123 Abs 1, 142 Abs 2 lit b, d B-VG). a) Fu È r den RH-PraÈsidenten gibt es strenge Unvereinbarkeitsregelungen (Art 122 Abs 5, 126 863 B-VG). Der RH-PraÈsident ist berechtigt an einschlaÈgigen Sitzungen des NR und seiner Ausschu È sse (u È ber den Rechnungsabschluss, RH-Berichte und Sonderpru È fungen) teilzunehmen und geho È rt zu werden. Das alles unterstreicht die Stellung des RH-PraÈsidenten als Verfas-
234
Teil III. Die Kontrolle der Staatsgewalt
sungsorgan. Seine UnabhaÈngigkeit soll an sich durch die 12-jaÈhrige Amtsperiode gesichert sein; sie wird allerdings dadurch geschwaÈcht, dass ihn der NR jederzeit und auch aus politischen Gru È nden abberufen kann. Fu È r den Leiter eines verfassungsmaÈûigen Kontrollorgans ist diese Form der politischen Verantwortlichkeit nicht sachgerecht. Die Vertretung des RH-PraÈsidenten u È bernimmt im Fall der Verhinderung der rangaÈlteste Beamte des RH (Art 124 B-VG).
864 b) Die Stellung des RH als Organ der gesetzgebenden KoÈrperschaften hat auch Konsequenzen fu È r seine Haftung, weil er nach der hL daher nicht in Vollziehung der Gesetze taÈtig wird und die Anwendung des Amtshaftungsrechts somit ausgeschlossen waÈre. Das kann zu Rechtsschutzlu È cken fu È hren, wenn im Zuge seiner KontrolltaÈtigkeit jemandem ein Schaden zugefu È gt wird (etwa durch eine rechtswidrige Preisgabe von schutzwu È rdigen Geheimnissen); auch die Datenschutzkommission hat gegenu È ber dem RH keine ZustaÈndigkeiten (VfSlg 15.130/1998). Ob diese Lu È cke durch eine analoge Anwendung des Amtshaftungsrechts geschlossen werden kann, ist umstritten, im Ergebnis aber zu bejahen.
35.2. Die Aufgaben des Rechnungshofs 865 Die Aufgaben des RH sind durch die Verfassung abschlieûend festgelegt. Weitere Aufgaben koÈnnen ihm nur durch Verfassungsgesetz u È bertragen werden. Bei seinen Aufgaben kann man drei Gruppen unterscheiden: (1) Seine Mitwirkung an der HaushaltsfuÈhrung, (2) die Kontrolle der Gebarung jener RechtstraÈger, die seiner Einschau unterliegen, und (3) bestimmte Sonderaufgaben. 35.2.1. Die Mitwirkung an der Haushaltsfu È hrung 866 Der RH hat den jaÈhrlichen Bundesrechnungsabschluss zu verfassen. Dieser Rechnungsabschluss ist eine Gegenu È berstellung der waÈhrend eines Finanzjahres tatsaÈchlich getaÈtigten Einnahmen und Ausgaben. Er wird dem NR vorgelegt, der ihn durch Gesetzesbeschluss genehmigt; das stellt eine Art von Entlastung der BReg dar. Daneben sind Urkunden u È ber Finanzschulden des Bundes vom PraÈsidenten des RH gegenzuzeichnen. Durch die Gegenzeichnung werden die GesetzmaÈûigkeit der Schuldaufnahme und die ordnungsgemaÈûe Eintragung in das Hauptbuch der Staatsschuld bestaÈtigt. 35.2.2. Die Gebarungskontrolle 867 1. Im Rahmen der Gebarungskontrolle u È berpru È ft der RH die Verwaltungs- und Wirtschaftsfu È hrung der oÈffentlichen Verwaltung und bestimmter anderer RechtstraÈger. Der Kontrollauftrag des RH erstreckt sich auf die Pru È fung der ziffernmaÈûigen È bereinstimmung mit den bestehenden Vorschriften und die Richtigkeit, die U Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und ZweckmaÈûigkeit des Handelns der gepru È ften Institutionen (Art 126b Abs 5, 127 Abs 1, 127a Abs 1 B-VG). Nach diesem weit gespannten Auftrag hat der RH daher nicht nur die buchhalterische Richtigkeit der Gebarung und die RechtmaÈûigkeit der Haushaltsfu È hrung zu pru È fen. Die Beurteilung der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und ZweckmaÈûigkeit zielt vielmehr auf eine umfassende Pru È fung der EffektivitaÈt und Effizienz beim Einsatz oÈffentlicher Gelder und schlieût auch verwaltungspolitische ErwaÈgungen mit ein. Der RH kann sich in Wahrnehmung dieses Pru È fungsauftrags jedem Aspekt der VerwaltungstaÈtigkeit zuwenden, der irgendwelche finanzielle Implikationen hat. Er kann MissstaÈnde aufzeigen, VergleichsmaûstaÈbe und Standards entwickeln und AnstoÈûe fu È r Maûnahmen der Verwaltungsreform geben. Er ist ausdru È cklich dazu verpflichtet, EinsparmoÈglichkeiten wahrzunehmen (§ 2 Abs 2 RHG). Die dem RH attestierte hohe fachliche Kompetenz traÈgt dazu bei, dass seine Empfehlungen und kritischen Wahrnehmungen ernst genommen werden. Andererseits muss der RH auch die Eigenverantwortlichkeit der Verwaltung respektieren; die sachlichen Grenzen der Pru È fungstaÈtigkeit des RH sind daher nicht immer leicht abzugrenzen.
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2. Die regelmaÈûige Gebarungskontrolle nimmt der RH aus eigenem Antrieb 868 wahr, wobei die Auswahl der Verwaltungsstellen und Unternehmen, die gepru È ft werden, nach einem bestimmten, vom RH erstellten Pru È fungsplan erfolgt. Zur Wahrnehmung dieser Kompetenz ist der RH verpflichtet. Zumindest in mehrjaÈhrigen AbstaÈnden sollen auf diese Weise alle der RH-Kontrolle unterliegenden Einrichtungen gepru È ft werden. Die Kontrolle findet durch Einschau vor Ort und Stelle statt, dh dass die Pru È fungsbeamten des RH in den gepru È ften Institutionen Einsicht in alle Unterlagen nehmen und Ausku È nfte und Stellungnahmen einholen, wobei die gepru È ften Stellen verpflichtet sind alle Unterlagen offen zu legen. Die Wahrnehmungen des RH werden in den jaÈhrlichen Rechnungshofberichten 869 zusammengefasst und dem NR vorgelegt, der sich mit den Berichten in einem eigenen Ausschuss (RH-Ausschuss) auseinander setzt. Wird der RH als Organ eines LT taÈtig, werden die entsprechenden Berichte dem LT vorgelegt. Die Berichte werden auch den jeweiligen Regierungen bzw Ministerien zugeleitet, die dem RH u È ber die getroffenen Maûnahmen zu berichten haben. Nachdem die Berichte dem NR (LT) È ffentlicht. Die Berichte u vorgelegt sind, werden sie vero È ber die Einschau bei Gemeinden werden dem GRat sowie der LReg und BReg vorgelegt. In der Regel werden die vorlaÈufigen Wahrnehmungen des RH nach erfolgter Einschau in einem ¹Rohberichtª zusammengefasst. Dieser wird der gepru È ften Stelle zugeleitet, die dazu Stellung nehmen kann. Diese Stellungnahme geht zusammen mit den entsprechenden Repliken des RH in den endgu Èffentlicht wird. Bis zur Vorlage an den NR (LT) sind È ltigen RH-Bericht ein, der vero die Wahrnehmungen des RH noch vertraulich; das gilt an sich auch fu È r den Rohbericht, der in der Praxis allerdings haÈufig den Medien bereits vorweg zugespielt und von diesen vero È ffentlicht wird. Die Jahresberichte des RH koÈnnen auch auf der Homepage des RH abgerufen werden (www.rechnungshof.at).
3. Neben der kontinuierlichen Pru È fungstaÈtigkeit kann der RH mit ¹besonderen Akten 870 der Gebarungspru È fungª beauftragt werden. Ein solcher Auftrag zu einer Sonderpru È fung, der haÈufig im Zusammenhang mit politisch spektakulaÈren oder wirtschaftlich weit reichenden Maûnahmen erfolgt (zB Anschaffung der Eurofighter), kann ausgehen von: (1) einem Beschluss des NR oder einem Verlangen von mindestens 20 NR-Abgeordneten, (2) der BReg oder einem BM, (3) einem Beschluss eines LT oder einer landesverfassungsgesetzlich bestimmten Anzahl von LT-Abgeordneten, (4) einer LReg. È bermaû beantragt werden, den RH lahm legen. DaSonderpru È fungen ko È nnten, wenn sie im U her sieht die GONR ua vor, dass kein weiteres Verlangen dieser Art gestellt werden kann, wenn bereits drei Sonderpru È fungen von Abgeordneten anhaÈngig sind. Eine Èahnliche BeschraÈnkung fu È r Sonderpru È fungen im Landesbereich findet sich in Art 127 Abs 7 B-VG.
4. Die Feststellungen des RH, die sich in den Jahresberichten oder Berichten u È ber 871 SonderpruÈfungen finden, haben keine unmittelbaren rechtlichen Folgen. Der RH kann auch selbst keine Sanktionen setzen; er kann aber etwa durch die Erstattung einer Anzeige bei Verdacht strafbarer Handlungen auf die Einleitung von Sanktionsverfahren hinwirken. Ansonsten liegt es in den HaÈnden der EmpfaÈnger dieser Berichte, dh bei den Parlamenten (NR, LT), den Regierungen (BReg, LReg) und bei den sonstigen Adressaten (zB GRat), welche Konsequenzen sie daraus ziehen (zB Reformmaûnahmen einleiten, eine politische Verantwortlichkeit geltend machen, rechtliche Konsequenzen ziehen usw). Die wichtigste Wirkung geht von der oÈffentlichen Diskussion der vom RH festgestellten MissstaÈnde aus, durch die ein entsprechender politischer Reformdruck entstehen kann. È berblick u 5. Im Folgenden wird ein U È ber die der RH-Kontrolle unterstehenden 872 Einrichtungen gegeben: Sie ergeben sich aus den nicht unkomplizierten Regelungen in Art 126b±127b B-VG, wo die Verfassung gegliedert nach den Einflussberei-
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chen des Bundes, der LaÈnder und der Gemeinden die entsprechenden RechtstraÈger anfu È hrt. Dabei handelt es sich um: . die Gebarung des Bundes, der LaÈnder und der Gemeinden mit u È ber 20.000 EinÈ rperschaften der obligatorischen wohnern: Damit unterliegen alle Gebietsko RH-Kontrolle, mit Ausnahme der Gemeinden mit unter 20.000 Einwohnern. Die Gebarung von Gemeinden mit weniger als 20.000 Einwohnern hat der RH aber dann zu pru È fen, wenn es die zustaÈndige LReg begehrt. Auch GemeindeverbaÈnde koÈnnen vom RH kontrolliert werden. . die Gebarung von Stiftungen, Fonds und Anstalten, die von Organen des Bundes (der LaÈnder, der Gemeinden) verwaltet werden oder die von Personen verwaltet werden, die dazu von Organen des Bundes (der LaÈnder, der Gemeinden) bestellt werden: Darunter fallen selbstaÈndige RechtstraÈger, die organisatorisch mit einer GebietskoÈrperschaft verknu È pft sind, beispielsweise der Familienlastenausgleichsfonds. È ffentlich-rechtlicher Ko È rperschaften, soweit sie Mittel des . die Gebarung o Bundes (der LaÈnder, der Gemeinden) verwenden: Darunter faÈllt beispielsweise die Vergabe von Subventionen aus Bundesmitteln durch die Kammern. È ffentlichen Unternehmen, an denen GebietskoÈrperschaf. die Gebarung von o ten bzw der RH-Kontrolle unterstehende Einrichtungen mehrheitlich (mit mehr als 50 % des Stamm-, Grund- oder Eigenkapitals) beteiligt sind oder welche von den genannten Einrichtungen betrieben werden. Der finanziellen Beteiligung sind andere Formen der Beherrschung gleichzuhalten. Die ZustaÈndigkeit des RH erstreckt sich auch auf die To È chter (Unternehmen jeder weiteren Stufe), bei denen diese Voraussetzungen vorliegen. Damit unterliegen alle Unternehmen der RH-Kontrolle, die unter einem beherrschenden Einfluss der oÈffentlichen Hand stehen. Von einer Beherrschung ist auszugehen, wenn der Bund (Land, Gemeinde) die MoÈglichkeit hat, eine Majorisierung durch andere Gesellschafter abzublocken und die wesentlichen Unternehmensentscheidungen zu bestimmen (VfSlg 14.096/1995). Der RH-Kontrolle unterliegen daher zB: die StraûenbaugesellschafÈ BB-Gesellschaften, die Bundesforste AG usw. ten des Bundes, die verschiedenen O . die Gebarung der TraÈger der Sozialversicherung. . die Gebarung der gesetzlichen beruflichen Vertretungen, dh der Kammern. 873 a) Die RH-Kontrolle im Bereich der Kammern ist insofern beschraÈnkt, als die ZweckmaÈûig-
È berpru keit ihrer Maûnahmen nicht zu beurteilen ist und die U È fung sich auch nicht auf die Beschlu È sse der Kammerorgane im Bereich der Wahrnehmung ihrer Aufgaben als Interessenvertretung bezieht (Art 127b Abs 3 B-VG). Damit soll verhindert werden, dass sich der RH in jene Bereiche einmengt, in denen die Kammern gesellschaftliche Interessen nach Maximen der von ihnen selbst formulierten Politik repraÈsentieren. Eine Èahnliche BeschraÈnkung sieht Art 127 Abs 1 B-VG vor, wo die Beschlu È sse der verfassungsmaÈûig zustaÈndigen VertretungskoÈrper im Bereich der LaÈnder (LT) von der RH-Kontrolle freigestellt werden.
874 b) Weil nach Art 121 Abs 1 B-VG auch sonstige RechtstraÈger der RH-Kontrolle unterworfen werden du È nnen durch einfaches Gesetz weitere ZustaÈndigkeiten des RH zur GebaÈ rfen, ko rungskontrolle begru È ndet werden (zB § 15 Abs 6 UG 2002 hinsichtlich der UniversitaÈten). Vorausgesetzt ist allerdings ein Zusammenhang mit o È ffentlichen Mitteln (vgl zur Subventionskontrolle VfSlg 10.371/1985). Durch eine eigene Verfassungsbestimmung wurde eine Pru È fungsbefugnis gegenu È ber dem ORF begru È ndet (§ 31a ORF-G).
35.2.3. Sonderaufgaben des RH Der Verfassungsgesetzgeber hat dem RH noch weitere Aufgaben u È bertragen, die an sich mit der Gebarungskontrolle nichts zu tun haben, wo man aber seine sachliche
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È ffentliche Kompetenz und UnabhaÈngigkeit nutzen mo È chte, um Transparenz und o Kontrolle zu realisieren. 1. Nach Art 121 Abs 4 B-VG sowie nach § 8 des im Verfassungsrang stehenden Bezu È - 875 gebegrenzungsBVG BGBl I 1997/64 idgF hat der RH Einkommensberichte zu erstellen und diese in ZweijahresabstaÈnden an den NR, den BR und die LT zu u È bermitteln. Zu erfassen sind (1) die durchschnittlichen Einkommen der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder bei den o È ffentlichen Unternehmen, die seiner Kontrolle unterliegen und fu È r die eine Berichterstattungspflicht an den NR besteht, weiters die durchschnittlichen Einkommen aller dort BeschaÈftigten sowie (2) die Einkommen aller Personen, die in RechtstraÈgern taÈtig sind, die der RH-Kontrolle unterliegen, wenn diese Bezu È ge eine bestimmte HoÈhe u È bersteigen oder wenn es sich um Doppelbezu È fÈ ge handelt. Ziel dieser Erhebungen ist es, Transparenz u È ber die Bezu È ge der in o fentlichen Unternehmen oder in anderen o È ffentlichen Einrichtungen taÈtigen FunktionaÈre und BeschaÈftigten zu schaffen und hohe Bezu È ge bzw Doppel- oder Mehrfachbezu È ge aufzuzeigen. Die Unternehmen und Einrichtungen sind verpflichtet die entsprechenden Angaben bekannt zu geben; tun sie dies nicht, nimmt der RH eine Einschau vor Ort vor. Die aufwaÈndige Verpflichtung zur Erstellung von Einkommensberichten wurde dem RH im 876 Zuge von Bemu È ffentlichen È hungen um einen ¹Privilegienabbauª u È bertragen. Den erfassten o Einrichtungen und Unternehmen sind umfangreiche Mitteilungspflichten auferlegt worden, die betroffenen Personen mu È ssen eine verhaÈltnismaÈûig weitgehende Offenlegung von Daten aus ihrer privaten WirtschaftssphaÈre dulden. Weil eine mit einer Namensnennung verbundene VeroÈffentlichung der Bezu È ffentlichen Kontrolle nicht zwingend erforderÈ ge zu Zwecken der o lich ist, steht der durch die Verfassungsbestimmung des § 8 Bezu È gebegrenzungsBVG geforderten namentlichen Einkommensberichterstattung der Vorrang der unmittelbar anwendbaren DatenschutzRL entgegen (VfSlg 17.065/2003; EuGH, Rechnungshof gegen ORF ua, verb Rs C-465/00, Slg 2003, I-4989).
2. Gestu È tzt auf eine Verfassungsbestimmung im ParteienG (§ 1 Abs 5 PartG) wurden 877 dem PraÈsidenten des RH gewisse Aufgaben im Zusammenhang mit der Deklaration von Parteispenden u È bertragen (vgl Rz 241). È gensverhaÈltnisse von Regierungsmit- 878 3. Der RH hat bei der Kontrolle der Vermo gliedern nach den naÈheren Bestimmungen des UnvG (§ 3a) mitzuwirken.
35.3. Kompetenzfeststellung In der Praxis kann es zu Auseinandersetzungen daru È ber kommen, ob eine be- 879 stimmte Institution der RH-Kontrolle unterliegt bzw welche Kompetenzen der RH bei seiner Pru È fungstaÈtigkeit in Anspruch nehmen kann. Nach Art 126a B-VG hat der VfGH u È ber derartige Meinungsverschiedenheiten bei der Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen u È ber die ZustaÈndigkeit des RH zu entscheiden. Die Anrufung des VfGH erfolgt durch den RH oder durch die BReg bzw LReg (§ 36a VfGG). Der Gerichtshof kann angerufen werden, wenn sich eine Einrichtung ausdru È cklich oder faktisch weigert die Pru È fung zuzulassen oder wenn sich der RH weigert einen besonderen Akt der Gebarungspru È fung durchzufu È hren. Das Erkenntnis des VfGH ist verbindlich und verpflichÈ berpru tet den RechtstraÈger, die U È fung entsprechend der Rechtsansicht des VfGH zu ermoÈglichen. In der Praxis wurde der VfGH bisher ausschlieûlich vom RH angerufen.
35.4. Wirtschaftliche Kontrolleinrichtungen der LaÈnder Der RH wird auch im Landes- und Gemeindebereich als Hilfsorgan des LT taÈtig. Da- 880 neben haben die LaÈnder im Rahmen ihrer relativen Verfassungsautonomie auch eigenstaÈndige Organe zur finanziellen Kontrolle geschaffen, die als Landes-Kontroll-
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È fe bezeichnet werden. Ihre bundesverfassungsaÈmter oder Landes-Rechnungsho rechtliche ZulaÈssigkeit wurde durch Art 127c B-VG bestaÈtigt. Sie haben beschraÈnkt auf die Gebarung der LaÈnder und Gemeinden und selbstaÈndige RechtstraÈger (Unternehmen) in deren Einflussbereich Èahnliche Aufgaben wie der RH des Bundes. Unterschiedlich stark ausgepraÈgt sind ihre EigenstaÈndigkeit und UnabhaÈngigkeit.
36. Die Volksanwaltschaft È sterreich 1977 eingefu 881 Die Institution der Volksanwaltschaft (VA) wurde in O È hrt und in der Folge in einem eigenen Hauptstu È ck (8. Hauptstu È ck) des B-VG in den Art 148a±148j B-VG verankert. Die einfachgesetzliche Rechtsgrundlage der VA findet sich im VolksanwG. Aufgabe der VA ist die Behandlung von individuellen Beschwerden gegen behauptete MissstaÈnde in der Verwaltung, sie ist aber auch berechtigt von sich aus vermutete MissstaÈnde aufzugreifen. Wie der RH berichtet auch die VA den Parlamenten im Bund und in denjenigen LaÈndern, fu È r welche sie zustaÈndig ist. Anders als der RH ist die VA eine kollegiale Einrichtung und sie hat einen wesentlich kleineren Hilfsapparat als dieser. Weil die Beschwerde an die VA umfassend gegen jeden behaupteten Missstand in der Verwaltung erhoben werden kann und die Anrufung der VA auch ohne finanzielle Barrieren formlos und relativ einfach moÈglich ist, wird die VA von den Bu È rgerinnen und Bu È rgern haÈufig in Anspruch genommen; dies zeigt die Zahl von rd 15.000 jaÈhrlichen Anbringen, die sich allein auf den Bundesbereich beziehen. Die VA traÈgt damit dazu bei, den Menschen das Gefu È hl der Ohnmacht gegenu È ber der Verwaltung zu nehmen, und sie hat sich nach u È bereinstimmender Auffassung als eine ErgaÈnzung bestehender Kontroll- und Rechtsschutzeinrichtungen bewaÈhrt. 882 Die LaÈnder koÈnnen fu È r ihren Bereich eigene Volksanwaltschaften schaffen. Von dieser ErmaÈchtigung haben nur zwei BundeslaÈnder (Tirol, Vorarlberg) Gebrauch gemacht. Fu È r die u È brigen LaÈnder ist die VA zustaÈndig. Auch im Rahmen der EU gibt es mit dem Bu È rgerbeauftragten eine der VA vergleichbare Institution (Art 195 EGV).
36.1. Die Organisation der Volksanwaltschaft È rde mit Sitz in Wien (Singerstraûe 883 1. Die VA ist organisatorisch eine Bundesbeho 17; www.volksanwaltschaft.at). Sie besteht aus drei Mitgliedern (die haÈufig, aber nicht ganz korrekt als ¹VolksanwaÈlteª bezeichnet werden). Diese drei Mitglieder der VA werden vom NR gewaÈhlt, wobei diese Wahl nach den naÈheren Bestimmungen des Art 148g Abs 2 B-VG erfolgt und praktisch auf eine Bestellung durch die drei mandatsstaÈrksten Parteien des NR hinauslaÈuft. Die Mitglieder der VA werden fu È r 6 Jahre bestellt; eine mehr als einmalige Wiederbestellung ist unzulaÈssig (Art 148g B-VG). Eine Abberufung ist nicht vorgesehen und daher unzulaÈssig. Die Beamten der VA werden vom BPraÈs auf Vorschlag der VA ernannt; der BPraÈs hat das Ernennungsrecht fu È r bestimmte Beamtenkategorien an den Vorsitzenden der VA u È bertragen. Die Diensthoheit gegenu È ber den Bediensteten u È bt der Vorsitzende der VA aus, der insoweit die Stellung eines obersten Verwaltungsorgans hat. Die Verfassung garantiert der VA ausdru È cklich UnabhaÈngigkeit bei der Ausu È bung ihres Amtes (Art 148a Abs 5 B-VG). Damit ist jede Bindung an Weisungen unvereinbar. Wie der RH wird auch die VA als Hilfsorgan der Parlamente angesehen. 884 FuÈr die Mitglieder der VA gibt es Unvereinbarkeitsbestimmungen (Art 148g Abs 5 sowie
UnvG: keine Mitgliedschaft in der BReg oder einer LReg oder in einem allgemeinen VertretungskoÈrper; UnzulaÈssigkeit einer anderen Berufsausu È bung). Eine besondere fachliche Qualifikation setzt die Verfassung nicht voraus. Der Bestellmodus sichert einen starken Einfluss der politischen Parteien auf die VA, so dass in der bisherigen Praxis regelmaÈûig Berufspolitiker
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in dieses Amt berufen wurden. Bemerkenswert ist, dass die Verfassung auf die Statuierung einer spezifischen rechtlichen Verantwortlichkeit fu È r die AmtsfuÈhrung verzichtet hat.
2. Den Vorsitz der VA fu È hrt jeweils eines der drei Mitglieder, wobei der Vorsitz jaÈhr- 885 lich wechselt. Der oder die Vorsitzende ist in Personal- und Organisationsangelegenheiten zustaÈndig. Gewisse GeschaÈfte, vor allem die Berichterstattung an den NR (LT) oder die Anfechtung von VO, werden kollegial erledigt. Ansonsten werden die Aufgaben durch eine GeschaÈftsverteilung auf die einzelnen Mitglieder zur selbstaÈndigen Erledigung verteilt, wobei jedes Mitglied fu È r bestimmte Verwaltungsressorts (die Aufgabenbereiche bestimmter Bundesministerien, bestimmte Landesangelegenheiten) zustaÈndig gemacht wird. Vgl dazu die gegenwaÈrtig geltende GeschaÈftsverteilung der VA BGBl II 2008/266. Die kollegial zu erledigenden Aufgaben und die Art der GeschaÈftsbehandlung werden in einer GeschaÈftsordnung der VA geregelt (BGBl II 2008/265).
36.2. Die Aufgaben der Volksanwaltschaft 1. Nach Art 148a B-VG kann sich jedermann bei der VA wegen behaupteter Miss- 886 staÈnde in der Verwaltung des Bundes beschweren, sofern er von diesen MissstaÈnden betroffen ist und soweit ihm ein Rechtsmittel nicht oder nicht mehr zur Verfu È gung steht. Damit wird ein umfassendes individuelles Beschwerderecht an die VA installiert, durch das grundsaÈtzlich jeder behauptete Missstand in der Verwaltung aufgegriffen und an die VA herangetragen werden kann. Seit der B-VG-Novelle 2008 kann sich ein Betroffener auch wegen einer behaupteten SaÈumnis eines Gerichts beschweren (Art 148a Abs 3 B-VG). Damit wurden auch Akte der Gerichtsbarkeit einer begrenzten Kontrolle durch die VA unterworfen, was wegen der UnabhaÈngigkeit der Justiz rechtspolitisch Èauûerst umstritten war. a) Missstand ist jedes Verhalten eines Verwaltungsorgans oder jeder Zustand in der Verwal- 887 tung, der von den GrundsaÈtzen einer guten, geordneten Verwaltung abweicht. Das ko È nnen rechtswidrige VorgaÈnge sein (eine rechtswidrige Verwaltungspraxis oder gesetzwidrige Einzelentscheidungen), die VerzoÈgerung von Entscheidungen, schikano Èses oder unkorrektes Handeln einer BehoÈrde oder schlicht unzweckmaÈûiges oder unvernu È nftiges Agieren der Bu È rokratie, und zwar auch dann, wenn die BehoÈrde dazu durch schlechte Gesetze veranlasst wird. b) Der geltend gemachte Missstand muss ein Missstand in der Verwaltung sein. Beschwer- 888 den ko È nnen nach der ausdru È cklichen Regelung in Art 148a B-VG auch gegen privatwirtschaftliches Verwaltungshandeln gerichtet werden. Ausgeschlossen sind Beschwerden gegen Entscheidungen der Gerichte oder gegen Entscheidungen des Gesetzgebers; ein unzweckmaÈûiges Gesetz kann allerdings einen Verwaltungsmissstand zur Folge haben und dann als solcher angegriffen werden. Zur Verwaltung des Bundes gehoÈren auch die Justizverwaltung sowie die Selbstverwaltungseinrichtungen, die funktionell im Vollzugsbereich des Bundes taÈtig sind (Gemeinden, Kammern im u È bertragenen Wirkungsbereich). Vergleichbares gilt fu È r die LaÈnder, welche die VA zustaÈndig gemacht haben. Daher unterliegt auch die Gemeindeverwaltung der ZustaÈndigkeit der VA. Die Ausgliederung von Verwaltungsaufgaben auf selbstaÈndige RechtstraÈger kann dazu fu È hren, dass diese Aufgabe nicht mehr der Missstandskontrolle durch die VA unterliegt (VfSlg 13.323/1992). c) Beschwerde kann nur fu È hren, wer durch den behaupteten Missstand betroffen ist; es muss 889 daher zumindest ein individueller Nachteil dargetan werden (VfSlg 15.127/1998). Auûerdem È gist die Beschwerde an die VA nur subsidiaÈr eingeraÈumt; solange ein Rechtsmittel noch mo lich ist, kann sie nicht erhoben werden. Wenn gegen einen Missstand aber von vornherein kein Rechtsmittel in Betracht kommt (zB gegen unzweckmaÈûige Amtsstunden) oder wenn ein Rechtsmittel erfolglos geblieben ist oder wegen FristversaÈumnis nicht mehr ergriffen werden kann, steht der Anrufung der VA nichts im Weg. Die Beschwerde selbst kann formlos erhoben werden und hat auch keine besonderen Kostenfolgen. Eine Frist fu È r die Beschwerdefu È hrung ist nicht vorgesehen. HaÈufig kann die VA den Menschen auch schon im Vorfeld von Beschwerden durch Beratung und Intervention bei BehoÈrden weiterhelfen.
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890 2. Die VA kann auch von Amts wegen vermutete MissstaÈnde in der Verwaltung aufgreifen und pru È fen (Art 148a Abs 2 B-VG). Damit wird die VA als Organ einer umfassenden Missstandskontrolle installiert. Gestu È tzt auf diese ErmaÈchtigung kann die VA daher zB auch dann taÈtig werden, wenn eine Beschwerde im Einzelfall (etwa wegen mangelnder Betroffenheit) unzulaÈssig ist. 891 3. Die an die VA herangetragenen oder von ihr aufgegriffenen MissstaÈnde in der Verwaltung werden von der VA gepru È ft. Dabei sind alle Verwaltungsorgane verpflichtet, die VA zu unterstu È tzen, ihr Akteneinsicht zu gewaÈhren und die erforderlichen Ausku È nfte zu erteilen. Gegenu È ber der VA kann die Amtsverschwiegenheit nicht geltend gemacht werden (Art 148b Abs 1 B-VG). Auf Grundlage dieser Pru È fung kann die VA dem jeweils obersten Verwaltungsorgan (bei Organen der Selbstverwaltung bzw weisungsfreien BehoÈrden diesen gegenu È ber) Empfehlungen erteilen. Derartige Empfehlungen sind der Sache nach darauf gerichtet den Missstand abzustellen. Das Organ ist verpflichtet, entweder der Empfehlung zu entsprechen oder der VA gegenu È nden, warum der Empfehlung nicht entsprochen È ber schriftlich zu begru wurde. Es besteht daher jedenfalls eine Pflicht der BehoÈrde auf die Empfehlung in der einen oder anderen Weise zu reagieren. Dem Beschwerdefu È hrer sind das Ergebnis der Pru È fung sowie die allenfalls getroffenen Veranlassungen (ausgesprochenen Empfehlungen) von der VA mitzuteilen. Der VA stehen keine Sanktionsmittel zur Verfu È rde È gung; weigert sich eine Verwaltungsbeho den Empfehlungen der VA Rechnung zu tragen, muss das die VA zunaÈchst hinnehmen; sie kann den bestehenden Missstand und die Weigerung der BehoÈrde ihn abzustellen aber in ihren Bericht an die gesetzgebenden KoÈrperschaften aufnehmen; es ist dann Sache des Parlaments, daraus die entsprechenden Schlu È sse zu ziehen und allenfalls eine politische Verantwortlichkeit eines obersten Verwaltungsorgans geltend zu machen. Die Empfehlungen der VA sind keine anfechtbaren Verwaltungsakte, sondern werden als Rechtsakte sui generis qualifiziert (VwSlg 10.235 A/1980). Im Zusammenhang mit der SaÈumnis eines Gerichts kann die VA einen Fristsetzungsantrag (§ 91 GOG) stellen oder Maûnahmen der Dienstaufsicht anregen (Art 148c B-VG).
892 4. Die VA hat jaÈhrlich einen Bericht an den NR und BR zu erstatten, der ihre Wahrnehmungen gegliedert nach Ressorts enthaÈlt. Die Jahresberichte der VA koÈnnen unter www.volksanwaltschaft.at abgerufen werden. Bei den daru È ber im NR durchgefu È hrten Beratungen haben die Mitglieder der VA das Recht anwesend zu sein und gehoÈrt zu werden (Art 148d B-VG). Durch diese Berichte soll der Gesetzgeber u È ber MissstaÈnde in der Verwaltung informiert werden, was ihn in die Lage versetzt entsprechende Reformmaûnahmen einzuleiten. Die VA hat ferner das Recht, VO von VerwaltungsbehoÈrden wegen Gesetzwidrigkeit beim VfGH anzufechten (Art 148e B-VG). 893 5. Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen der VA und der BReg (oder einem BM) u È ber die Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen, welche die ZustaÈndigkeit der VA regeln, kann der VfGH angerufen werden. Auf diese Weise koÈnnen Kompetenzstreitigkeiten u È ber die ZustaÈndigkeit der VA gerichtlich geklaÈrt werden; die Anrufung des VfGH erfolgt durch die BReg oder durch die VA, wenn die VA eine Amtshandlung gegen den Willen der BReg vornimmt oder an der Vornahme einer Amtshandlung mit Kenntnis der BReg gehindert wird (§ 89 VfGG).
36.3. Die Volksanwaltschaft im Landesbereich 894 Die Volksanwaltschaft ist nach dem B-VG zunaÈchst dazu berufen MissstaÈnde im Bereich der Verwaltung des Bundes zu behandeln. Sie kann aber auch fu È r die Verwaltung der LaÈnder zustaÈndig gemacht werden, wenn das die Landesverfassungsgesetze vorsehen. TatsaÈchlich haben alle LV (mit den unten angefu È hrten Ausnahmen)
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eine ZustaÈndigkeit der Volksanwaltschaft begru È ndet. Daher koÈnnen auch Beschwerden gegen behauptete MissstaÈnde in den Landesverwaltungen an die VA herangetragen werden und diese kann von sich aus vermutete MissstaÈnde in der Verwaltung dieser LaÈnder aufgreifen sowie VO von LandesbehoÈrden anfechten (Art 148i Abs 1 B-VG). Wenn sich ein Bundesland nicht dafu È r entscheidet, die VA in Wien fu È r seinen Bereich fu È r zustaÈndig zu erklaÈren, kann es eine vergleichbare Einrichtung fu È r den Bereich der Landesverwaltung schaffen. Gestu È tzt auf diese ErmaÈchtigung haben Tirol und Vorarlberg eine LandesVolksanwaltschaft eingerichtet. AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zu den Abschnitten 34±36: VfSlg 13.346/1993: Bei der Berechnung der 50%igen Beteiligung, welche die RH-Kontrolle ausloÈst, gibt es ein ¹Durchrechnungsverbotª. VfSlg 13.705/1994: Wie ist vorzugehen, wenn sich ein RechtstraÈger fortgesetzt weigert eine Gebarungspru È fung durch den RH zuzulassen? VfSlg 13.798/1994: Zur Beherrschung eines Unternehmens am Beispiel des Falles Creditanstalt-Bankverein. VfSlg 15.130/1998: Zur Zuordnung des RH im System der Gewaltenteilung. VfSlg 17.423/2004: Unterliegen die AUA weiterhin der RH-Kontrolle, nachdem der Bundesanteil auf rd 40 % gesunken ist? Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang ein Syndikatsvertrag mit den u È brigen AktionaÈren? VfSlg 13.323/1992: Zur (Un-)ZustaÈndigkeit der VA bei ausgegliederten Unternehmen. VfSlg 15.127/1998: Zur Stellung der VA im System der Gewaltenteilung. Zur Vertiefung: Budischowsky, Die Pru È fung der Kammern durch den Rechnungshof, ZfV È ger, Rechnungshofkontrolle (2000); Holoubek, Probleme des verfas1995, 774; Hengstschla È JZ 1992, sungsgerichtlichen Verfahrens zur Feststellung von Rechnungshofkompetenzen, O 353; Klecatsky/Pickl, Die Volksanwaltschaft (1989); Korinek, Die Stellung der Rechnungshofkontrolle im System der Kontrolle und Aufsicht u È ber wirtschaftliche Unternehmungen, in: Korinek (Hrsg), Die Kontrolle wirtschaftlicher Unternehmungen durch den Rechnungshof (1986) 121; Kucsko-Stadlmayer, Die Volksanwaltschaft als Rechtsschutzeinrichtung, in: È ffer, Kontrolle der Verwaltung durch RechFS 75 Jahre Bundesverfassung (1995) 557; Scha nungshoÈfe, VVDStRL 55 (1996) 278.
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È ffentlichen Rechts 2. Kapitel: Die Gerichtsbarkeit des o und die unabhaÈngigen Verwaltungssenate 895 Im Rechtsstaat unterliegt die Ausu È bung der Staatsmacht der Kontrolle durch unÈ berabhaÈngige Gerichte. Das B-VG regelt in seinem 7. Hauptstu È ck unter der U schrift ¹Garantien der Verfassung und Verwaltungª die Organisation und ZustaÈndigkeiten jener Organe, denen die ¹Sicherung der GesetzmaÈûigkeit der gesamten o È ffentlichen Verwaltungª (so Art 129 B-VG) u È bertragen ist. Das sind . die unabhaÈngigen Verwaltungssenate in den LaÈndern und È fe des o È ffentlichen Rechts, das sind der Asylgerichtshof . die Gerichtsho (AsylGH), der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) und der Verfassungsgerichtshof (VfGH). Auf diese Organe wird in den folgenden Abschnitten eingegangen. Mit der traditionellen Bezeichnung ¹GerichtshoÈfe des oÈffentlichen Rechtsª wurden bisher der VwGH und VfGH bezeichnet und auf diese Weise von den ordentlichen Gerichten unterschieden. Zu ihnen ist ab 2008 der AsylGH hinzugekommen. Zu beachten ist, dass sich das 7. Hauptstu È ck nicht nur der Kontrolle der Verwaltung zuwendet, wie dies die Formulierung des Art 129 B-VG nahe legen ko È nnte, sondern ± weil hier auch die weiter reichenden Kompetenzen des VfGH geregelt sind ± der umfassenden Sicherung der VerfassungsmaÈûigkeit des Staatshandelns. Diese Gerichtsho Èfe sind wichtige Elemente im System der verfassungsrechtlichen Trennung und wechselseitigen Kontrolle der Staatsgewalten. Dem VwGH und dem VfGH vorgeschaltet sind die unabhaÈngigen Verwaltungssenate, die zwar keine Gerichte, sondern VerwaltungsbehoÈrden sind, denen aber eine verfassungsrechtlich abgesicherte UnabhaÈngigkeit eingeraÈumt ist, die sie in die Lage versetzt einen gerichtsaÈhnlichen Rechtsschutz zu verbu È rgen.
37. Die unabhaÈngigen Verwaltungssenate 896 Seit den 1980er Jahren hatte sich immer deutlicher abgezeichnet, dass das o È sterreichische System der Verwaltungsrechtspflege den Anforderungen der EMRK nicht durchwegs entsprach. Ein Konfliktpunkt war die VerhaÈngung von Freiheitsstrafen durch abhaÈngige VerwaltungsbehoÈrden im Hinblick auf das Grundrecht auf persoÈnliche Freiheit (Art 5 EMRK); aber auch der in Art 6 EMRK gewaÈhrleistete Anspruch auf eine Entscheidung durch ein Gericht (Tribunal) bei strafrechtlichen Anklagen und zivilrechtlichen Anspru È chen und Verpflichtungen war problematisch geworden, vor allem im Licht der Judikatur des EGMR, der den Kreis der civil rights sehr extensiv interpretierte, so dass zahlreiche Verwaltungsentscheidungen unter Art 6 EMRK fielen (vgl zu Art 6 EMRK Rz 1580 ff). Weil den Anforderungen der Art 5 und 6 EMRK nicht nur durch Gerichte iS des oÈsterreichischen Rechts, sondern auch durch unabhaÈngige VerwaltungsbehoÈrden (Tribunale) entsprochen werden kann, wenn diese tatsaÈchlich unabhaÈngig und unparteilich sind, schlug der Gesetzgeber den Weg eines Kompromisses ein: Es wurden durch eine Verfassungsnovelle des Jahres 1988 in Anlehnung an die schon bestehenden KollegialbehoÈrden mit richterlichem Einschlag gerichtsaÈhnliche, unabhaÈngige VerwaltungsbehoÈrden auf Landesebene eingerichtet, die als unabhaÈngige Verwaltungssenate in den LaÈndern (UVS in den LaÈndern) bezeichnet wurden. 897 Die Einrichtung der UVS war ein Kompromiss, weil man sich zur Einrichtung echter Verwaltungsgerichte mit umfassenden ZustaÈndigkeiten nicht entschlieûen konnte. Zwar kann man davon ausgehen, dass den Anforderungen der EMRK durch die UVS bei entsprechender Ausgestaltung ihrer ZustaÈndigkeiten und Organisation entsprochen werden kann. Der Gesetzgeber hat auch die praktische Bedeutung der UVS durch einen schrittweisen Ausbau ihrer Kompetenzen wesentlich erhoÈht. Wirklich befriedigend ist ihre Stellung als ¹Quasi-Gerichteª aber nicht, so dass man heute u È bereinstimmend davon ausgeht, dass eine echte LoÈsung nur
2. Kapitel: Die Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts und die unabhaÈngigen Verwaltungssenate 243 durch die Einfu È hrung einer zweistufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit erreicht werden kann, dh dass die UVS in den LaÈndern zu echten Landesverwaltungsgerichten mit meritorischer Entscheidungskompetenz und umfassender Pru È fungsbefugnis ausgebaut werden sollten. Bisherige AnlaÈufe zu einer solchen LoÈsung sind allerdings immer gescheitert. Zuletzt hat sich die Expertengruppe Staats- und Verwaltungsreform fu È r die Einfu È hrung von Verwaltungsgerichten in den LaÈndern ausgesprochen, denen nur mehr eine Administrativinstanz vorgeschaltet sein und von denen ein Rechtszug zum VwGH fu È hren soll. Sie wu È rden an die Stelle der bisherigen UVS treten (vgl Rz 61 und 916).
37.1. Die Stellung der UVS im Rechtsschutzsystem Nach Art 129 B-VG sind die unabhaÈngigen Verwaltungssenate in den LaÈndern neben 898 dem VwGH (AsylGH) zur Sicherung der GesetzmaÈûigkeit der Verwaltung berufen. Diese Anordnung und ihre Einreihung unter das 7. Hauptstu È ck des B-VG (¹GaÈ frantien der Verfassung und Verwaltungª) betont die Stellung der UVS als Teil des o fentlich-rechtlichen Rechtsschutzsystems. Ihre Aufgabe liegt in der Kontrolle von Bescheiden und von Maûnahmen der verwaltungsbehoÈrdlichen Befehls- und Zwangsgewalt, wobei durch den einfachen Gesetzgeber auch gegen andere Formen des verwaltungsbehoÈrdlichen Handelns ein Rechtsweg an die UVS eroÈffnet werden kann (vgl zB § 88 Abs 2 SPG, wonach auch schlichthoheitliches sicherheitsbehoÈrdliches Handeln durch Beschwerde an die UVS bekaÈmpft werden kann). Die UVS haben nicht zuletzt im Hinblick auf Art 6 EMRK volle Kognitionsbefugnisse in Tatund Rechtsfragen und entscheiden in der Sache selbst (dh meritorisch). Abgesehen von den Kompetenzen, die bereits durch die Verfassung vorgegeben sind 899 (vor allem: Berufungsinstanz im Verwaltungsstrafrecht, Maûnahmebeschwerde), koÈnnen die einfachen Gesetzgeber im Bund und in den LaÈndern weitere ZustaÈndigkeiten der UVS begru È nden. Davon haben die Gesetzgeber in der ju È ngeren Zeit intensiven Gebrauch gemacht. Die UVS entscheiden in Bescheidform, wobei ihre Bescheide durch Beschwerde an 900 VwGH und VfGH angefochten werden koÈnnen. In diesem Sinn stellen die UVS der È ffentlichen Rechts vorgeschaltete RechtsschutzinstanGerichtsbarkeit des o zen dar, die auch zu einer gewissen Entlastung der beiden Gerichtsho È fe beitragen. Wie die ordentlichen Gerichte koÈnnen die UVS Normpru È fungsverfahren beim VfGH einleiten (Art 139, 140 B-VG). Die UVS sind auch Gerichte iS von Art 234 EGV und damit berechtigt AntraÈge im Vorabentscheidungsverfahren an den EuGH zu stellen; wenn die Bescheide der UVS allerdings noch einer Kontrolle durch den VwGH unterliegen, sind sie zur Vorlage nicht verpflichtet.
37.2. Die Organisation der unabhaÈngigen Verwaltungssenate in den LaÈndern È rden, keine Ge- 901 1. Die UVS in den LaÈndern sind (unabhaÈngige) Verwaltungsbeho richte, auch wenn ihre Mitglieder eine richteraÈhnliche Stellung haben (VfSlg È rden eingerichtet; 16.194/2001). Organisatorisch sind diese UVS als Landesbeho in jedem Bundesland besteht ein UVS. Es ist davon auszugehen, dass die UVS den Anforderungen an Tribunale iS von Art 6 EMRK gerecht werden, wobei allerdings nach der Judikatur auch im Einzelfall jeder Anschein der Parteilichkeit zu Gunsten einer der Parteien des Verfahrens (BehoÈrde oder Bu È rger) ausgeschlossen sein muss È JZ 2002, 394). (VfSlg 10.634/1985, 14.939/1997, 15.821/2000; EGMR, Baischer, O 2. Die Grundzu È ge der Organisation der UVS gibt die Verfassung in Art 129b B-VG 902 vor; die naÈhere Ausgestaltung sowie das Dienstrecht ihrer Mitglieder regelt der Landesgesetzgeber in entsprechenden Organisationsgesetzen (Art 129b Abs 6 B-VG).
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903 Die UVS bestehen aus einem Vorsitzenden und Mitgliedern. Sie werden von der LReg fu È r eine feststehende Amtsperiode ernannt, wobei nach Art 129b Abs 1 B-VG eine Bestellungsdauer von mindestens 6 Jahren vorgeschrieben ist. Die UVS-Gesetze der LaÈnder sehen entweder eine erstmalige Bestellung auf 6 Jahre mit einer unbefristeten Wiederernennung oder eine sofortige unbefristete Bestellung vor. Vor Ablauf der Bestellungsdauer du È rfen die Mitglieder nur in den gesetzlich bestimmten FaÈllen (zB wegen DienstunfaÈhigkeit) und nur auf Beschluss des UVS ihres Amtes enthoben werden. Durch die unbefristete Bestellung wird die UnabhaÈngigkeit der UVS-Mitglieder verstaÈrkt und werden moÈgliche Zweifel an ihrer Unbefangenheit ausgeraÈumt. Bei nur befristet bestellten Mitgliedern kann es sein, dass im Einzelfall der Anschein der AbhaÈngigkeit besteht, vor allem wenn davon auszugehen ist, dass ein Mitglied die Verwaltungsakte einer BehoÈrde zu kontrollieren hat, in die es nach Ablauf seiner Bestellungszeit wieder zuru È ckkehren muss (VfSlg 15.439/ 1999). UVS-Mitglieder mu È ssen rechtskundig sein und sie du È rfen fu È r die Dauer ihres Amtes keine TaÈtigkeit ausu È ben, die Zweifel an der unabhaÈngigen Ausu È bung ihres Amtes hervorrufen ko È nnte (Art 129b Abs 4 B-VG). Unvereinbar ist damit jedenfalls jede weitere TaÈtigkeit in einer Verwaltungsbeho È rde.
904 Die Mitglieder der UVS in den LaÈndern sind kraft ausdru È cklicher verfassungsrechtlicher Anordnung bei der Besorgung der ihnen nach Art 129a, 129b B-VG zukommenden Aufgaben an keine Weisungen gebunden (Art 129b Abs 2 B-VG). Die zustaÈndige DienstbehoÈrde (LReg) kann daher nur in Fragen der Èauûeren Organisation des Dienstbetriebes und im dienstrechtlichen Bereich Weisungen erteilen, nicht aber im Hinblick auf die SpruchtaÈtigkeit der UVS oder bei der Erstellung der GeschaÈftsverteilung. Der Grundsatz der festen GeschaÈftsverteilung stellt eine weitere Sicherung der UnabhaÈngigkeit der UVS dar; danach sind die anfallenden GeschaÈfte auf die Mitglieder im Voraus zu verteilen und sie du È rfen ihnen nur im Fall der Behinderung durch eine Verfu È gung des Vorsitzenden abgenommen werden (Art 129b Abs 2 B-VG). Die UVS entscheiden entweder durch ein Einzelmitglied (bei Maûnahmebeschwerden, bei geringeren Strafen im Berufungsverfahren nach dem VStG) oder in Form einer aus drei Mitgliedern bestehenden Kammer (in Berufungsverfahren nach dem AVG, in Berufungsverfahren nach dem VStG bei Freiheitsstrafen oder hoÈheren Geldstrafen). Die Vollversammlung der UVS ist zB fu È r die Dienstenthebung eines Mitglieds zustaÈndig.
37.3. Die Aufgaben und das Verfahren der unabhaÈngigen Verwaltungssenate in den LaÈndern 1. Art 129a Abs 1 B-VG weist den UVS in den LaÈndern die folgenden Entscheidungen zu, die sie nach der ErschoÈpfung des administrativen Instanzenzuges, wenn ein solcher in Betracht kommt, zu treffen haben: 905 . In Verfahren wegen Verwaltungsu È bertretungen, ausgenommen Finanzstrafsachen È rde in Verwaltungsdes Bundes (Z 1): Hier werden die UVS als Berufungsbeho strafsachen des Bundes und der LaÈnder taÈtig. Die Ausnahme im Hinblick auf die Finanzstrafsachen des Bundes erklaÈrt sich aus dem Umstand, dass in diesen Angelegenheiten der unabhaÈngige Finanzsenat zustaÈndig ist. È ber Beschwerden von Personen, die behaupten, durch die Ausu 906 . U È bung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt in ihren Rechten verletzt zu sein, ausgenommen in Finanzstrafsachen des Bundes (Z 2): Dies begru È ndet die Kompetenz der UVS zur Entscheidung u È ber Maûnahmebeschwerden (zB gegen Festnahmen, Beschlagnahmen, Abschleppen eines Kfz). Die vor dem UVS geltend gemachten Rechte koÈnnen auch verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Rechte (Grundrechte) sein.
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. In sonstigen Angelegenheiten, die ihnen durch Bundes- oder Landesgesetze 907 zugewiesen werden (Z 3): Diese Generalklausel ermaÈchtigt die einfachen Gesetzgeber in Bund und LaÈndern weitere ZustaÈndigkeiten der UVS zu begru È nden. In erster Linie sollte damit die MoÈglichkeit geschaffen werden, die UVS zu Entscheidungen u È ber civil rights iS von Art 6 EMRK zu berufen. In der Zwischenzeit gibt es zahlreiche UVS-ZustaÈndigkeiten in den unterschiedlichsten ZusammenhaÈngen: So hat der Bundesgesetzgeber etwa UVS zustaÈndig gemacht zur Entscheidung u È ber Schubhaftbeschwerden, Beschwerden gegen schlichthoheitliches sicherheitsbehoÈrdliches Handeln, u È ber Berufungen im Kraftfahrrecht und im sonstigen Verkehrsrecht sowie u È ber Berufungen im Anlagenrecht des Bundes (Gewerberecht, Forstrecht usw). Im Landesbereich sind UVS zB zustaÈndig als Vergabekontrollbeho È rden oder als BerufungsbehoÈrden im Grundverkehrsrecht. Der Gesetzgeber kann auch anordnen, dass erstinstanzliche Bescheide unmittelbar beim UVS angefochten werden ko È nnen. Wenn das der Bundesgesetzgeber in den Angelegenheiten der mittelbaren BV sowie der Art 11 und 12 B-VG vorsieht, bedu È rfen solche Gesetze der Zustimmung der LaÈnder, weil dadurch die ansonsten gegebene ZustaÈndigkeit von LH oder LReg verdraÈngt wird. Die UVS ko È nnen auch mit der Kontrolle von Akten der Privatwirtschaftsverwaltung betraut werden (VfSlg 14.891/1997); unzulaÈssig ist es allerdings, einen UVS als BerufungsbehoÈrde gegen Gemeindebescheide vorzusehen (VfSlg 16.320/2001).
È ber Beschwerden gegen die Verletzung der Entscheidungspflicht in be- 908 . U stimmten FaÈllen (Z 4): Danach kann ein Devolutionsantrag beim UVS eingebracht werden, wenn dieser in einer der ¹sonstigen Angelegenheitenª BerufungsbehoÈrde ist und die BehoÈrde saÈumig geworden ist; Vergleichbares gilt bei SaÈumnis in Privatanklagesachen und im landesgesetzlichen Abgabenstrafrecht. 2. Das Verfahren der UVS in den LaÈndern wird durch Bundesgesetz geregelt 909 (Art 129b Abs 6 B-VG). Entsprechende Verfahrensvorschriften finden sich im AVG (§§ 67a ff) und VStG (§§ 51 ff). Die Einzelheiten dieser Verfahren werden in den Lehrbu È chern des Verwaltungsverfahrensrechts behandelt. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist hervorzuheben, dass diese Verfahren so ausgestaltet sind, dass den AnÈ fforderungen des Art 6 EMRK entsprochen werden kann. Das betrifft etwa die O fentlichkeit der Verfahren oder die Wahrung der Verteidigungsrechte des Beschuldigten im Verwaltungsstrafverfahren. Beachte ferner die Regelung des § 67h AVG u È ber die beschraÈnkte meritorische Entscheidungskompetenz der UVS als BerufungsbehoÈrde 2. Instanz im Bereich der mittelbaren BV: Die UVS haben nur dann in der Sache zu entscheiden, wenn dem die belangte BehoÈrde nicht widerspricht; in diesem Fall muss sich der UVS auf eine kassatorische Entscheidung beschraÈnken und darf auch nicht das Ermessen der BehoÈrde u È berpru È fen.
38. Der Asylgerichtshof Um die Verfahren in Asylsachen zu beschleunigen, wurde durch die B-VG-Novelle 910 2008 ein eigenstaÈndiger Asylgerichtshof (AsylGH) eingerichtet. Er trat an die Stelle des fru È heren unabhaÈngigen Bundesasylsenats, der bis 2008 als ein unabhaÈngiger Verwaltungssenat des Bundes eingerichtet und BerufungsbehoÈrde in Asylangelegenheiten war. Gleichzeitig wurde der bisher mo È gliche Zugang zum VwGH in Asylsachen weitgehend ausgeschlossen. Diese rechtspolitisch aÈuûerst umstrittene Neuregelung hat im Ergebnis den rechtsstaatlich gebotenen Rechtsschutz fu È r PerÈ sterreich um internationalen Schutz (Asyl oder subsidiaÈren Schutz) sonen, die in O ansuchen, abgeschwaÈcht.
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38.1. Die Organisation des Asylgerichtshofes 911 Der AsylGH hat seinen Sitz in Wien mit einer Auûenstelle in Linz. Er besteht aus einem PraÈsidenten, einem VizepraÈsidenten und der erforderlichen Anzahl von sonstigen Mitgliedern. Sie werden vom BPraÈs auf Vorschlag der BReg ernannt und mu È ssen rechtskundig sein (Art 129d B-VG). Der AsylGH entscheidet durch Einzelrichter oder durch 2-er-Senate; bei Uneinigkeit der beiden Senatsmitglieder oder bei so genannten ¹Grundsatzentscheidungenª (dazu Rz 913) ist ein verstaÈrkter (5-er-)Senat zur Entscheidung berufen (Art 129e B-VG). Die naÈheren Regelungen u È ber die Organisation und das Verfahren des AsylGH finden sich im AsylGHG. Den Richtern am AsylGH kommen die vollen richterlichen Garantien zu; es besteht eine feste GeschaÈftsverteilung (Art 129d Abs 4, 129e Abs 2 B-VG). Bei der Schaffung des Gerichtshofes wurde den bisherigen Mitgliedern des Bundesasylsenats ein Rechtsanspruch auf È bernahme in die Richterstellung gegeben, wobei der BReg eine im Hinblick auf die erforderU liche UnabhaÈngigkeit nicht unproblematische Beurteilung des bisherigen Verwendungserfolges zugestanden wurde (§ 29 AsylGHG). Wichtige Aufgaben sind der Vollversammlung des AsylGH sowie einem GeschaÈftsverteilungsausschuss zugewiesen.
38.2. Die Aufgaben des Asylgerichtshofes und seine Stellung im Rechtsschutzsystem 912 1. In Asylangelegenheiten entscheidet seit der Errichtung des AsylGH das Bundesasylamt in erster und letzter Verwaltungsinstanz. Gegen die in Bescheidform ergehenden Entscheidungen dieser VerwaltungsbehoÈrde kann Beschwerde an den AsylGH erhoben werden, der auch im Falle einer SaÈumnis der AsylbehoÈrde angerufen werden kann (Art 129c B-VG). Die Entscheidung des AsylGH ist grundsaÈtzlich endgu È ltig, sieht man von der MoÈglichkeit einer Anrufung des VfGH wegen der behaupteten Verletzung in verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechten oder wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm ab (Art 144a B-VG; dazu Rz 1070). Das bedeutet, dass der bis 2008 mo È gliche Rechtszug an den VwGH in Asylsachen nicht mehr besteht. Der AsylGH entscheidet u È ber Beschwerden wie eine BerufungsbehoÈrde nach den naÈheren Verfahrensbestimmungen des AsylG (subsidiaÈr des AVG) sowie in der durch dieses Gesetz festgelegten Besetzung (Einzelrichter oder Senat; vgl §§ 41 f, 61 AsylG). Seine Entscheidungen in der Sache werden als Erkenntnisse, sonstige Entscheidungen in Beschlussform erlassen.
913 2. In bestimmten FaÈllen trifft der AsylGH eine so genannte ¹Grundsatzentscheidungª durch einen verstaÈrkten Senat. Dabei handelt es sich entweder um Rechtsfragen, denen grundsaÈtzliche Bedeutung zukommt, weil von der Rspr des VwGH abgewichen werden soll, eine Rspr des VwGH fehlt oder die zu lo È sende Rechtsfrage in der bisherigen Rspr des VwGH nicht einheitlich behandelt wird; auûerdem koÈnnen Rechtsfragen, die sich in einer erheblichen Anzahl von (anhaÈngigen oder zu erwartenden) Verfahren stellen, durch eine Grundsatzentscheidung geklaÈrt werden. Zu einer Grundsatzentscheidung kann es kommen, wenn der zustaÈndige Einzelrichter oder Senat eine solche Entscheidung beantragt, der AsylGH muss eine Grundsatzentscheidung treffen, wenn der Innenminister einen darauf gerichteten Antrag stellt (Art 129e Abs 1 B-VG; § 42 AsylG). Grundsatzentscheidungen sind dem VwGH zur Entscheidung vorzulegen; ergeht die Entscheidung des VwGH nicht innerhalb von sechs Monaten, gilt die Grundsatzentscheidung des AsylGH als bestaÈtigt (Art 132a B-VG). Ansonsten entscheidet der VwGH in der Sache selbst (§ 76 VwGG). Grundsatzentscheidungen beschraÈnken sich auf die LoÈsung der abstrakten Rechtsfrage; sie sind fu È r ku È nftig zu entscheidende FaÈlle verbindlich, ihnen kommt daher eine generelle Wirkung zu.
2. Kapitel: Die Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts und die unabhaÈngigen Verwaltungssenate 247 Die Entscheidung u È ber Grundsatzentscheidungen ist die einzige ZustaÈndigkeit, die dem VwGH nach der Errichtung des AsylGH verblieben ist. Dabei ist zu beachten, dass die Befassung des VwGH auf diesem Weg nur durch den AsylGH selbst sowie durch das Innenministerium herbeigefu È hrt werden kann, nicht aber etwa durch einen zuru È ckgewiesenen oder abgewiesenen Asylwerber. Auch darin hat man einen Verstoû gegen rechtsstaatliche GrundsaÈtze gesehen. AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zu den Abschnitten 37±38: VfSlg 15.439/1999: Ein Beispiel fu È r die mitunter prekaÈre UnabhaÈngigkeit der UVS: Kann man eine unabhaÈngige Entscheidung erwarten, wenn ein Mitglied eines UVS u È ber die RechtmaÈûigkeit von Verwaltungsakten einer BehoÈrde zu entscheiden hat, in die er moÈglicherweise nach Ablauf seiner Amtszeit wieder zuru È ckkehren wird? VfSlg 16.320/2001: Du È rfen UVS als BerufungsbehoÈrden in Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereichs der Gemeinden vorgesehen werden? In der Literatur wurde behauptet, dies sei zulaÈssig, wenn nur so dem Art 6 EMRK Rechnung getragen werden kann. Zur Vertiefung: Jabloner, Die UnabhaÈngigen Verwaltungssenate auf dem Weg zur Verwaltungsgerichtsbarkeit, ZUV 1999/3, 11; Piska, Die unabhaÈngige Stellung der UVS und ihre Absicherung ± aktuelle Probleme, ZUV 1998/3, 17.
39. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit 39.1. GrundsaÈtze der Verwaltungsgerichtsbarkeit 39.1.1. Verwaltungsgerichtsbarkeit und Rechtsstaat 1. Der Verwaltungsgerichtshof ist das zur ¹Sicherung der GesetzmaÈûigkeit der ge- 914 samten staatlichen Verwaltungª eingerichtete HoÈchstgericht. Sein Sitz ist in Wien (Judenplatz 11; www.vwgh.gv.at). Bei diesem Gerichtshof ist die Kontrolle der RechtmaÈûigkeit von Bescheiden konzentriert; daneben unterliegen seiner Kontrolle auch noch bestimmte Weisungen und er kann auch gegen rechtswidrige UntaÈtigkeit von VerwaltungsbehoÈrden angerufen werden. 2. In der Verwaltungsgerichtsbarkeit verwirklicht sich die Idee des Rechtsstaats in 915 augenfaÈlliger Weise: Weil die hoheitliche Verwaltung nur ¹auf Grund der Gesetzeª handeln darf (Art 18 B-VG), braucht es eine Kontrollinstanz, welche diese Bindung an das Gesetz (Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes) sichert. Das ist die Aufgabe des VwGH, vor dem sich der Bu È rger und die VerwaltungsbehoÈrde gleichberechtigt gegenu È fÈ berstehen und vor dem der Bu È rger ¹seine Rechteª, dh seine subjektiven o fentlichen Rechte, durchsetzen kann. Insofern ist der VwGH als ein Instrument des Individualrechtsschutzes eingerichtet. Maûstab seiner Kontrolle ist das Gesetz, also die RechtmaÈûigkeit des Staatshandelns. Dagegen hat der VwGH die ZweckmaÈûigkeit einer Verwaltungsentscheidung nicht zu beurteilen; soweit einer BehoÈrde daher Ermessen eingeraÈumt ist, kann der VwGH die Ausu È bung dieses Ermessens nicht u È berpru È fen bzw ± wie noch zu zeigen sein wird ± nur im Hinblick auf ¹Ermessensfehlerª. Der den VerwaltungsbehoÈrden im Bereich von Ermessensentscheidungen u È bertragene eigenstaÈndige Entscheidungsspielraum stellt daher in gewisser Weise eine ¹Einbruchsstelleª in die umfassende gerichtliche Verwaltungskontrolle dar. a) Mit der Einrichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Jahr 1875 ist der liberale RechtsÈ sterreich zum Durchbruch gekommen. Als sein ¹geistiger Vaterª gilt der aus MaÈhren staat in O stammende Dr. Karl Freiherr von Lemayer. Der Umfang der dem VwGH u È bertragenen Kontrollaufgaben und die Reichweite seiner Entscheidungsbefugnis waren bei seiner Einrichtung
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durchaus umstritten. Die politische Dimension lag im Wesentlichen darin, dass durch den VwGH erstmals die bisher weitgehend ungebundene Verwaltung des Monarchen einer Kontrolle durch ein Gericht unterworfen werden sollte. So wie die Verwaltungsgerichtsbarkeit in È sterreich realisiert wurde, war sie letztlich ein Kompromiss zwischen verschiedenen moÈgliO chen Modellen einer Verwaltungskontrolle. Dies zeigen auch die im Folgenden zu eroÈrternden GrundsaÈtze, die den VwGH als einen bloûen Kassationshof (ohne Entscheidungsbefugnis in der Sache) und ohne Kompetenz zur Sachverhaltsermittlung einrichten. Insofern ergaÈnzt die Verwaltungsgerichtsbarkeit den verwaltungsinternen (administrativen) Rechtsschutz. Der VwGH soll die Verwaltung kontrollieren, aber nicht selbst ¹verwaltenª. b) Im Lauf seiner Geschichte hat der VwGH eine bedeutsame Rolle bei der Entwicklung und Fortbildung jener RechtsgrundsaÈtze gespielt, die eine rechtsstaatliche Verwaltung ausmachen. Das wichtigste Beispiel dafu È r war seine Judikatur zu den GrundsaÈtzen eines geordneten Verwaltungsverfahrens, die 1925 in den (bis heute geltenden) Verwaltungsverfahrensgesetzen kodifiziert wurde. Seit dem oÈsterreichischen Beitritt zur EU ist dem VwGH auch die Sicherung der KonformitaÈt der o È sterreichischen Verwaltung mit dem Gemeinschaftsrecht u È bertragen. È c) Dass sich Osterreich fu È r eine spezielle Verwaltungsgerichtsbarkeit entschieden hat, von der man erwartet, dass sie eher auf die Eigenarten der Verwaltung eingehen kann, hat in der Gegenwart zu Problemen vor allem im Hinblick auf Art 6 EMRK gefu È hrt. Die in der EMRK verankerte Garantie einer Entscheidung durch ein ¹Gerichtª (Tribunal) ist durch die ¹justizstaatlichenª Traditionen des angloamerikanischen Rechtskreises gepraÈgt, so dass es in vielfacher Hinsicht zu Konflikten mit den oÈsterreichischen ¹verwaltungsstaatlichenª Traditionen der Verwaltungskontrolle kommen musste. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die eingeschraÈnkten Befugnisse des VwGH (bloûe Kassation, keine Tatsachenkognition). Daher ist es auch fraglich, ob die Verwaltungsgerichtsbarkeit in ihrer gegenwaÈrtigen Ausformung den Anforderungen des EuropaÈischen Gemeinschaftsrechts entspricht. Dabei spielt wiederum der in Art 6 EMRK aufgestellte Standard eine Rolle, weil der EuGH davon ausgeht, dass das Erfordernis der geÈ berpru richtlichen U È fbarkeit aller Entscheidungen einer nationalen BehoÈrde einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts darstellt, der sich aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und den Art 6 und 13 der EMRK ergibt (zB EuGH, Johnston, Rs CÈ berlastung des 222/84, Slg 1986, 1651). Damit und auch im Hinblick auf die notorische U È sterreich unter einen erVwGH ist das bisherige System der Verwaltungsgerichtsbarkeit in O heblichen Reformdruck gekommen, der wohl zwangslaÈufig zur Einfu È hrung einer zweistufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit fu È hren wird mu È ssen.
916 3. Die Einrichtung einer zweistufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde zuletzt 2007 von der Expertengruppe Staats- und Verwaltungsreform (Rz 60) vorgeschlaÈ sterreich-Konvent zuru gen, die dabei auf die Beratungen des O È ckgreifen konnte: Danach soll eine Verwaltungsgerichtsbarkeit 1. Instanz eingefu È hrt werden, die aus neun Verwaltungsgerichten der LaÈnder und einem Verwaltungsgericht des Bundes besteht. Auf der administrativen BehoÈrdenebene soll es grundsaÈtzlich nur mehr eine Verwaltungsinstanz geben, von der der Instanzenzug zu diesen Verwaltungsgerichten fu È hrt. Gegen Entscheidungen der Verwaltungsgerichtsbarkeit 1. Instanz soll eine begrenzte Revision an den Verwaltungsgerichtshof moÈglich sein, der nur mehr mit Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung befasst und dadurch entlastet werden wu È rde. Weil die Verwaltungsgerichte volle Kognition in Rechts- und Tatsachenfragen haÈtten und auûerdem in der Sache selbst entscheiden wu È rden, waÈre damit den Anforderungen des Art 6 EMRK entsprochen. Die UVS in den LaÈndern und die bestehenden Art 133 Z 4-BehoÈrden sowie sonstige weisungsfreie BehoÈrden (zB unabhaÈngiger Finanzsenat) wu È rden in die neuen Verwaltungsgerichte 1. Instanz integriert werden. Dieser Vorschlag wurde bei der B-VG-Novelle 2008 freilich wiederum nicht umgesetzt. È sterreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit 39.1.2. Wesensmerkmale der o È sterreich ist der Um917 1. Die wichtigste Eigenart der Verwaltungsgerichtsbarkeit in O stand, dass man sich fu È r eine Verwaltungskontrolle durch ein besonderes speziali-
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siertes Gericht entschieden hat. Die darin liegende Besonderheit wird deutlich, wenn man sich vor Augen fu È hrt, dass es auch moÈglich waÈre ± wie etwa in England ± Verwaltungsentscheidungen durch die ordentlichen Gerichte nachpru È fen zu lassen. Der VwGH ist organisatorisch ein Bundesorgan, auch wenn er Bescheide der LaÈnder und Gemeinden u È berpru È ft. 2. Die dem VwGH u È bertragenen Kontrollaufgaben sind nach der Art einer General- 918 klausel umfassend umschrieben. Ihm obliegt ± von wenigen Ausnahmen abgesehen ± die Kontrolle aller letztinstanzlichen Bescheide von BehoÈrden des Bundes, der LaÈnder und Gemeinden unter Einschluss der Bescheide der UVS (Art 130 Abs 1 B-VG). Freilich koÈnnen nur Bescheide vor dem VwGH angefochten werden; nicht in Bescheidform in Erscheinung tretendes Verwaltungshandeln (Privatwirtschaftsverwaltung, schlichthoheitliches Handeln, Akte der Befehls- und Zwangsgewalt, Realakte der Verwaltung) unterliegt nicht seiner Kontrolle. In Asylsachen kann der VwGH nicht angerufen werden, wenn man von der Beurteilung von Grundsatzentscheidungen des AsylGH absieht. 3. Die oÈsterreichische Verwaltungsgerichtsbarkeit ist einstufig eingerichtet, dh es 919 gibt keinen Instanzenzug innerhalb der Verwaltungsgerichtsbarkeit, sondern nur den einen VwGH in Wien. ReformerwaÈgungen im Hinblick auf eine ¹zweistufige Verwaltungsgerichtsbarkeitª mit einem Instanzenzug von Verwaltungsgerichten 1. Instanz zum (Bundes-)Verwaltungsgerichtshof in Wien harren der Umsetzung. 4. Den schon erwaÈhnten verwaltungsstaatlichen Traditionen entspricht es auch, dass 920 der VwGH nur eine nachtraÈgliche Kontrolle (nach Erscho È pfung des Instanzenzuges ± Kontrolle a posteriori) ausu È bt und dass seine Entscheidungsbefugnis auf kassatorische Entscheidungen beschraÈnkt ist (vom Fall der SaÈumnisbeschwerde abgesehen), er also rechtswidrige Bescheide nur aufheben, nicht aber selbst Bescheide erlassen oder sie abaÈndern kann (Ausschluss einer reformatorischen Sachentscheidung). 5. Dass sich die Verwaltungskontrolle durch den VwGH auf eine Rechtskontrolle 921 È bung beschraÈnkt, wurde schon hervorgehoben. Art 130 Abs 2 B-VG schlieût die U È berpru des verwaltungsbehoÈrdlichen Ermessens ausdru È cklich von einer U È fung durch den Gerichtshof aus. Eine weitere EinschraÈnkung seiner Kontrollbefugnis (Kognitionsbefugnis) ergibt sich auch aus der gesetzlich angeordneten Bindung an den von der BehoÈrde angenommenen Sachverhalt (dazu Rz 970). 6. Letztinstanzliche Bescheide koÈnnen nicht nur beim VwGH angefochten werden. 922 Es besteht auch die MoÈglichkeit einer Beschwerde an den VfGH nach Art 144 B-VG, wenn der Beschwerdefu È hrer behauptet, in einem verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Recht oder in einem sonstigen Recht durch die Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt worden zu sein. Diese ZustaÈndigkeit des VfGH, die auch so genannte ¹Parallelbeschwerdenª ermo È glicht, wird als ¹Sonderverwaltungsgerichtsbarkeitª bezeichnet. Als historisch bedingte Doppelgleisigkeit wirft sie eine Reihe von Problemen auf (dazu unten Rz 1028 ff). 7. Der VwGH ist ein oberstes Gericht im Sinn von Art 234 EGV und daher berechtigt 923 und verpflichtet beim EuGH einen Antrag auf Vorabentscheidung zu stellen, wenn die Auslegung von Gemeinschaftsrecht zweifelhaft ist. 39.1.3. Rechtsgrundlagen der Verwaltungsgerichtsbarkeit Die grundlegenden Bestimmungen u È ber die Organisation und Aufgaben des VwGH 924 enthalten die Art 130±136 B-VG. Die naÈheren Bestimmungen einschlieûlich der Regelung des Verfahrens vor dem VwGH finden sich im Verwaltungsgerichtshofge-
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setz 1985 (VwGG) sowie in einer vom VwGH erlassenen GeschaÈftsordnung (Geo). Kostenfragen sind in einer VO u È ber die Pauschalierung der AufwandersaÈtze im Verfahren vor dem VwGH geregelt (VwGH-AufwandersatzVO 2003 BGBl II 2003/333).
39.2. Die Organisation des VwGH 39.2.1. Zusammensetzung des VwGH 925 Der VwGH besteht aus dem PraÈsidenten, einem VizepraÈsidenten und sonstigen Mitgliedern (SenatspraÈsidenten und HofraÈte des VwGH). GegenwaÈrtig geho È ren dem Gerichtshof etwas mehr als 60 Richter an. Der PraÈsident und VizepraÈsident werden vom BPraÈs auf Vorschlag der BReg ernannt. Die sonstigen Mitglieder ernennt ebenfalls der BPraÈs auf Vorschlag der BReg, die dabei an einen von der Vollversammlung des VwGH erstatteten Dreiervorschlag gebunden ist; dies kommt dem Prinzip der SelbstergaÈnzung nahe und soll die UnabhaÈngigkeit der Richter des VwGH sichern. Die Richter des VwGH sind Berufsrichter; sie genieûen die vollen richterlichen Garantien. Zu den fachlichen Voraussetzungen fu È r die Ernennung und zu den bestehenden Unvereinbarkeitsregelungen vgl Art 134 B-VG. Die Angelegenheiten des nichtrichterlichen Personals und der sachlichen Erfordernisse des VwGH zaÈhlen zu den Justizverwaltungssachen, welche vom PraÈsidenten autonom (weisungsfrei) gefu È hrt werden. 39.2.2. Die Senate des VwGH 926 Der VwGH entscheidet in Senaten, wobei es unterschiedlich zusammengesetzte Senate gibt, auf welche die GeschaÈfte durch die Vollversammlung nach dem Grundsatz der festen GeschaÈftsverteilung aufgeteilt werden. . 5-er-Senate: GrundsaÈtzlich entscheidet der VwGH in Senaten, denen jeweils fu È nf Richter angehoÈren. . 3-er-Senate: In Verwaltungsstrafsachen (¹Strafsenateª) sowie bei Entscheidungen u È ber die Prozessvoraussetzungen (zB Einstellungen, Zuru È ckweisungen) und in einfachen FaÈllen wird der Senat aus drei Mitgliedern gebildet. . VerstaÈrkte Senate: Bedeutet eine Entscheidung ein Abgehen von der bisherigen Rechtsprechung oder wurde die zu loÈsende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des VwGH nicht einheitlich beantwortet, ist der Fu È nfersenat durch vier weitere Mitglieder zu verstaÈrken (¹verstaÈrkter Senatª 9-er-Senat).
Im Vorverfahren, ferner in Angelegenheiten der Verfahrenshilfe sowie u È ber die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung entscheidet das im jeweiligen Senat als Berichterstatter (¹Berichterª) taÈtige Mitglied. Senatsbeschlu È sse werden mit einfacher Mehrheit gefasst (§ 15 Abs 3 VwGG). Derzeit bestehen 21 Senate. JaÈhrlich werden im Schnitt etwa 8500 Bescheidbeschwerden an den VwGH herangetragen.
È berblick 39.3. Die Kompetenzen des VwGH im U Im folgenden Abschnitt werden die verschiedenen Aufgaben des VwGH u È berblicksweise dargestellt. Auf das Verfahren bei Bescheidbeschwerden (Parteibeschwerde) und bei SaÈumnisbeschwerden wird in den Abschnitten 39.4. und 39.5. ausfu È hrlicher eingegangen.
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39.3.1. Die Bescheidbeschwerde (Art 131 B-VG) Die Entscheidung u È ber Beschwerden gegen letztinstanzliche Bescheide von 927 VerwaltungsbehoÈrden einschlieûlich von Bescheiden der UVS ist die praktisch wichtigste und auch vom Arbeitsanfall her im Vordergrund stehende Aufgabe des VwGH. Es gibt verschiedene Arten von Bescheidbeschwerden, die sich durch die Stellung des Beschwerdefu È hrers unterscheiden. È ffentlicher Rechte (Art 928 . Parteibeschwerde wegen Verletzung subjektiver o 131 Abs 1 Z 1 B-VG): Gegen den Bescheid einer VerwaltungsbehoÈrde (einschlieûlich der UVS) kann wegen Rechtswidrigkeit Beschwerde erheben, wer durch den Bescheid in seinen Rechten verletzt zu sein behauptet. . Amtsbeschwerde: In bestimmten FaÈllen kann ein Bundesminister oder ein son- 929 stiges Verwaltungsorgan bzw Gericht den (letztinstanzlichen) Bescheid einer VerwaltungsbehoÈrde bekaÈmpfen; diese Beschwerde dient nicht der Durchsetzung subjektiver Rechte, sondern der Wahrung der objektiven RechtmaÈûigkeit. Dabei gibt es wiederum verschiedene FaÈlle von Amtsbeschwerden: . Die Amtsbeschwerde eines Bundesministers gegen einen letztinstanzlichen Bescheid einer LandesbehoÈrde, wenn diese Bundesrecht vollzieht (vgl Art 131 Abs 1 Z 2 B-VG). Hier dient die Amtsbeschwerde der Aufsicht des Bundes u È ber das Land bei der Vollziehung von Bundesgesetzen. . Die Amtsbeschwerde einer Landesregierung gegen den Bescheid des zustaÈndigen Bundesministers in den Angelegenheiten des Art 15 Abs 5 B-VG (Art 131 Abs 1 Z 3 B-VG ± Vollziehung des Baurechts bei bundeseigenen GebaÈuden; ohne praktische Bedeutung). . Sonstige FaÈlle der Amtsbeschwerde: Nach Art 131 Abs 2 B-VG kann der zustaÈndige Materiengesetzgeber (Bundes- oder Landesgesetzgeber) auch in ¹anderen als den in Abs 1 angefu Èrden È hrten FaÈllenª eine Beschwerde gegen Bescheide von Verwaltungsbeho wegen Rechtswidrigkeit vorsehen. Derartige Amtsbeschwerden sind in zahlreichen BunÈ berpru desgesetzen vorgesehen. Ihr Sinn liegt in der Regel darin, die U È fung der RechtmaÈûigkeit von Bescheiden von UnterbehoÈrden zu ermoÈglichen. So kann zB der Innenminister gegen gewisse in Bescheidform ergehende Entscheidungen der UVS in Angelegenheiten der Sicherheitspolizei (§ 91 SPG) oder die zustaÈndige AbgabenbehoÈrde gegen Entscheidungen eines Berufungssenats in Abgabenangelegenheiten bzw Abgabenstrafsachen Amtsbeschwerde einlegen (§ 292 BAO, § 169 FinStrG); auch das gerichtliche AnÈ berpru tragsrecht nach § 11 AHG, § 9 OrgHG und § 341 BVergG (U È fung der RechtmaÈûigkeit von Bescheiden im Amtshaftungs- bzw Organhaftpflichtverfahren sowie im Vergabeverfahren) stu È tzt sich auf Art 131 Abs 2 B-VG.
39.3.2. Die SaÈumnisbeschwerde (Art 132 B-VG) WaÈhrend mit der Bescheidbeschwerde Bescheide mit der Behauptung ihrer Rechts- 930 widrigkeit bekaÈmpft werden koÈnnen, ermoÈglicht die SaÈumnisbeschwerde die Geltendmachung von Rechtsverletzungen durch UntaÈtigkeit der BehoÈrde (Rechtsverweigerung). Diese Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht durch VerwaltungsbehoÈrden einschlieûlich der UVS kann erheben, wer im Verwaltungsverfahren als Partei zur Geltendmachung der Entscheidungspflicht berechtigt war. In Verwaltungsstrafsachen sind SaÈumnisbeschwerden nicht zulaÈssig; wird eine BerufungsbehoÈrde in einem Strafverfahren saÈumig, tritt das Straferkenntnis 15 Monate nach Einlangen der Berufung ohnedies von Gesetzes wegen auûer Kraft (§ 51 Abs 7 VStG). SaÈumnisbeschwerden sind aber zulaÈssig in Privatanklage- und Finanzstrafsachen. Bei SaÈumnisbeschwerden kommt das ansonsten geltende Kassationsprinzip (vgl 931 oben Rz 920) nicht zum Tragen, vielmehr hat der VwGH hier an Stelle der saÈumigen BehoÈrde selbst eine Entscheidung in der Verwaltungssache zu treffen.
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39.3.3. Die Weisungsbeschwerde (Art 130 Abs 1 Satz 2 B-VG) 932 Mit der Weisungsbeschwerde koÈnnen bestimmte Weisungen vor dem VwGH beÈ rden kaÈmpft werden, und zwar Weisungen, mit denen den kollegialen Schulbeho des Bundes (Landes- und Bezirksschulrat) vom zustaÈndigen Bundesminister (Bildungsminister) die Durchfu È hrung eines Beschlusses untersagt oder die Aufhebung einer vom Kollegium erlassenen VO angeordnet wird. Diese Kompetenz des VwGH, die eine Besonderheit im System der Verwaltungsgerichtsbarkeit darstellt, hat ihren Grund in der besonderen Stellung der kollegialen SchulbehoÈrden (vgl zu den SchulbehoÈrden Rz 735 f). 39.3.4. Die Entscheidung u È ber ¹Grundsatzentscheidungenª des AsylGH (Art 132a B-VG) 933 Seit der Einrichtung eines eigenstaÈndigen AsylGH entscheidet der VwGH in einem eigenstaÈndigen Verfahren u È ber die Grundsatzentscheidungen dieses Gerichtshofs. Solche Entscheidungen sind ihm von Amts wegen vorzulegen (vgl dazu oben Rz 913). 39.3.5. Der Ausschluss der ZustaÈndigkeit des VwGH (Art 133 B-VG) GrundsaÈtzlich koÈnnen dem Prinzip der generalklauselartigen ZustaÈndigkeit entsprechend alle Bescheide vor dem VwGH bekaÈmpft werden. Art 133 B-VG zaÈhlt allerdings drei FaÈlle auf, in denen die ZustaÈndigkeit des VwGH ausgeschlossen ist. Liegt ein solcher Fall vor, ist die Beschwerde wegen UnzustaÈndigkeit zuru È ckzuweisen. Dabei handelt es sich um die folgenden FaÈlle: 934 . Angelegenheiten, die zur ZustaÈndigkeit des VfGH geho È ren (Art 133 Z 1 B-VG). Soweit eine ZustaÈndigkeit des VfGH zur Kontrolle von Bescheiden besteht, das sind die FaÈlle der Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit nach Art 144 B-VG und seine ZustaÈndigkeiten bei der Wahlgerichtsbarkeit (Art 141 Abs 1 lit a, b und e B-VG), ist der VwGH unzustaÈndig. Das Èandert freilich nichts daran, dass Bescheide entweder beim VwGH oder beim VfGH oder auch gleichzeitig bei beiden Gerichtsho Èfen angefochten werden koÈnnen, wenn in dem einen Fall eine einfache Gesetzwidrigkeit und in dem anderen die Verfassungswidrigkeit des Bescheids geltend gemacht wird; ausgeschlossen waÈre es nur einen Bescheid beim VwGH mit der Behauptung anzufechten, er haÈtte den Beschwerdefu È hrer in einem verfassungsgesetzlichen Recht verletzt. Somit koÈnnen die beiden Gerichtsho È fe u È ber den gleichen Beschwerdegegenstand (Bescheid), aber nach unterschiedlichen MaûstaÈben (einfache Gesetzwidrigkeit/Verfassungswidrigkeit) entscheiden. Die Abgrenzung der ZustaÈndigkeiten des VfGH und des VwGH bei Bescheidbeschwerden ist kompliziert und durch eine kasuistische Judikatur gepraÈgt. Letztlich dienen die vom VfGH in seiner Rspr zu den Grundrechten gepraÈgten ¹Grundrechtsformelnª dazu, die FaÈlle einer einfachen Gesetzwidrigkeit von den in die VerfassungssphaÈre reichenden Rechtswidrigkeiten, welche eine ZustaÈndigkeit des VfGH begru È nden, abzugrenzen. Wie die Beispiele der denkunmoÈglichen Gesetzesanwendung, der Willku È r oder der Eingriffe in das Recht auf den gesetzlichen Richter zeigen, haÈngt es aber sehr oft nur von der Formulierung einer Beschwerdebehauptung ab, ob eine einfache Gesetzwidrigkeit oder eine qualifizierte Verfassungswidrigkeit geltend gemacht werden kann (vgl dazu naÈher unten Rz 1057 ff). Ausgeschlossen ist eine ZustaÈndigkeit des VwGH bei jenen Grundrechten, fu È r die der VfGH eine ¹Feinpru È fungª beansprucht (Vereins- und Versammlungsrecht; vgl Rz 1060). ZulaÈssig ist aber auch in diesen Angelegenheiten die Einbringung einer SaÈumnisbeschwerde, weil fu È r eine solche der VfGH jedenfalls unzustaÈndig waÈre (VfSlg 14.555/1996).
935 . Angelegenheiten des Patentwesens (Art 133 Z 3 B-VG). In Patentsachen ist in oberster Instanz entweder der Oberste Patent- und Markensenat taÈtig, der zu-
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gleich auch eine KollegialbehoÈrde nach Art 133 Z 4 B-VG ist, oder die Beschwerdeabteilung des Patentamtes. In beiden FaÈllen ist eine Anrufung des VwGH ausgeschlossen. È rde mit rich- 936 . Angelegenheiten, u È ber die in oberster Instanz eine ¹Kollegialbeho terlichem Einschlagª entscheidet (Art 133 Z 4 B-VG). In diesen FaÈllen ist die Anrufung des VwGH ausgeschlossen, auûer es hat der zustaÈndige Gesetzgeber die Beschwerde an den VwGH ausdru È cklich zugelassen. Wegen dieses ZustaÈndigkeitsausschlusses und weil die Organisation dieser BehoÈrden (neben der Regelung in Art 20 Abs 2 B-VG) in dieser Bestimmung angesprochen ist, werden solche BehoÈrden auch als ¹Art 133 Z 4-BehoÈrdenª bezeichnet (vgl Rz 744 ff). Die Bedeutung dieses ZustaÈndigkeitsausschlusses ist wegen der Vielzahl der Art 133 Z 4BehoÈrden groû und hat etwa im Bereich des Grundverkehrsrechts oder beim Disziplinarrecht freier Berufe praktische Konsequenzen. Soweit der Gesetzgeber nicht eine ausdru È ckliche ZustaÈndigkeit des VwGH begru È ndet hat, bleibt Beschwerdefu È hrern in solchen FaÈllen nur die MoÈglichkeit Bescheide gestu È tzt auf eine behauptete Verfassungswidrigkeit beim VfGH zu bekaÈmpfen. Nach VfSlg 15.427/1999 kann sich allerdings trotz Art 133 Z 4 B-VG eine ZustaÈndigkeit des VwGH aus Regelungen des unmittelbar anwendbaren EuropaÈischen Gemeinschaftsrechts ergeben, wenn dieses einen Rechtszug zu ¹einer von den betroffenen Parteien unabhaÈngigen Stelleª vorschreibt.
Ist die ZustaÈndigkeit des VwGH aus einem der genannten FaÈlle ausgeschlossen, kommt auch eine Abtretung einer Beschwerde nach Art 144 Abs 3 B-VG nicht in Betracht (vgl Rz 1068).
39.4. Die Parteibeschwerde Im Folgenden wird die praktisch wichtigste Form der Bescheidbeschwerde, die Parteibeschwerde an den VwGH, genauer behandelt. 39.4.1. Das anzuwendende Verfahrensrecht Das bei der Entscheidung u È ber Parteibeschwerden zu beachtende Verfahren ist (wie 937 È brigen auch das Verfahren bei der Wahrnehmung der sonstigen Kompetenzen im U des Gerichtshofs) im 2. Abschnitt des VwGG geregelt (§§ 21 ff). Detailregelungen finden sich in der von der Vollversammlung des Gerichtshofs erlassenen Geo. SubsidiaÈr sind die Verfahrensbestimmungen des AVG anzuwenden, etwa im Hinblick auf die Berechnung von Fristen oder die VerhaÈngung von Ordnungsstrafen (§ 62 Abs 1 VwGG). 39.4.2. Die Einleitung des Verfahrens 1. Das Bescheidpru È fungsverfahren wird durch Beschwerde eingeleitet. Die fu È r den 938 Beschwerdeschriftsatz zu beachtenden Formerfordernisse finden sich in § 24 VwGG. Gefordert ist eine (schriftliche) Beschwerdeschrift, die in so vielen Ausfertigungen einzubringen ist, dass neben dem Gerichtshof selbst jede Partei des Verfahrens und jede BehoÈrde eine Ausfertigung erhalten kann. Die Beschwerde muss von einem Rechtsanwalt (oder in Abgabensachen: Steuerberater oder Wirtschaftspru Èfer) eingebracht werden; dies gilt unabhaÈngig davon, dass ansonsten keine absolute Anwaltspflicht besteht und Beschwerdefu È hrer ihre Sache auch selbst vor dem Gerichtshof fu È hren koÈnnen. Die Eingabegebu È hr (¨ 220,±) ist mit Erlagschein einzuzahlen (§ 24 Abs 3 VwGG). 2. Parteien im Verfahren vor dem VwGH sind der Beschwerdefu È hrer (Bf), die be- 939 È rde und die so genannten Mitbeteiligten bzw mitbeteiligten Parteien langte Beho
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(§ 21 VwGG). Letztere sind jene Personen, die durch den Erfolg der Anfechtung des Bescheids in ihren rechtlichen Interessen beru È hrt wu È rden, also etwa der Bauherr, dessen Baubewilligungsbescheid durch einen Nachbarn mit Parteistellung bekaÈmpft wird oder der Mitbewerber um eine Apothekenkonzession. Mitbeteiligt kann nur sein, wessen rechtliche Interessen durch die Aufhebung des Bescheids beru È hrt sein koÈnnen; bloûe wirtschaftliche Nachteile verschaffen nicht die Stellung als Mitbeteiligter. Belangte BehoÈrde ist jene VerwaltungsbehoÈrde, die den Bescheid erlassen hat, und zwar auch dann, wenn sie dazu nicht zustaÈndig war. Richtet sich die Beschwerde gegen den Bescheid einer weisungsfreien VerwaltungsbehoÈrde oder eines Organs eines SelbstverwaltungskoÈrpers, hat auch die oberste in Betracht kommende VerwaltungsbehoÈrde (BM bzw LReg) Parteistellung. 940 3. Den notwendigen Inhalt einer Beschwerde regelt § 28 VwGG. Inhaltliche MaÈngel fu È hren zur Zuru È ckweisung der Beschwerde, wenn einem MaÈngelbehebungsauftrag nicht rechtzeitig entsprochen wird. Eine Beschwerde hat zu enthalten: È rde, die . die Bezeichnung des angefochtenen Bescheids und die Bezeichnung der Beho diesen erlassen hat (belangte BehoÈrde); È berblick u . den Sachverhalt, aus dem sich ein ausreichender U È ber das Verwaltungsverfahren ergibt; . den Beschwerdepunkt, das ist die ¹bestimmte Bezeichnung des Rechts, in dem der Bf verletzt zu sein behauptetª; . die Beschwerdegru È nde, das sind jene UmstaÈnde, auf die sich die Behauptung der Rechtswidrigkeit stu È tzt; . ein bestimmtes Begehren (gaÈnzliche oder teilweise Aufhebung des Bescheids aus den in § 42 Abs 2 VwGG genannten Gru È nden); . diejenigen Angaben, die erforderlich sind um zu beurteilen, ob die Beschwerde rechtzeitig eingebracht wurde.
941 Von ganz wesentlicher Bedeutung ist die ausreichende Konkretisierung des Beschwerde-
punkts: Denn der VwGH ist nicht zur Pru È fung befugt, ob irgendein subjektives Recht des Bf durch den Bescheid verletzt wurde, sondern nur zur Pru È fung desjenigen Rechts, das als Beschwerdepunkt geltend gemacht wurde. Dieses Recht ist konkret zu bezeichnen bzw muss es sich zumindest aus dem Inhalt der Beschwerde eindeutig ergeben (zB dass der Bf durch den bekaÈmpften Bescheid in seinem Recht auf Erteilung einer Baubewilligung verletzt wurde, dass der beschwerdefu È hrende Nachbar in seinem Recht auf Nichterteilung einer Baubewilligung wegen Verletzung der Abstandsvorschriften verletzt wurde, dass der Bf durch ein Straferkenntnis in seinem Recht verletzt wurde, nicht entgegen § 99 Abs 1 lit a StVO bestraft zu werden, usw). Nach der Judikatur ist eine Bezeichnung der Gesetzesstelle selbst nicht erforderlich, wenn ansonsten aus dem gesamten Beschwerdevorbringen eindeutig hervorgeht, in welchen konkreten Rechten sich der Bf verletzt erachtet. Als Beschwerdepunkt kommt auch ein aus dem Gemeinschaftsrecht erflieûendes subjektives Recht in Betracht. Nach Ablauf der Beschwerdefrist koÈnnen die geltend gemachten Beschwerdepunkte nicht mehr geaÈndert werden.
942 4. Die Beschwerdefrist betraÈgt sechs Wochen gerechnet ab Zustellung (bzw mu È ndlicher Verku È ndung) des Bescheids (§ 26 VwGG). Die Beschwerde kann aber auch schon erhoben werden, bevor der Bescheid dem Bf selbst zugestellt wurde, wenn er ansonsten schon erlassen ist, was in einem Mehrparteienverfahren durch Zustellung gegenu È ber einer anderen Partei erfolgt sein kann (§ 26 Abs 2 VwGG). Das ist fu È r eine so genannte ¹u È bergangene Parteiª wichtig, welche die Wahl hat, den ihr gegenu È ber noch nicht erlassenen Bescheid entweder gestu È tzt auf diese Bestimmung sofort anzufechten oder zunaÈchst bei der BehoÈrde die Zustellung des Bescheids zu verlangen und erst dann Beschwerde zu erheben. 943 5. VwGH-Beschwerden kommt ex lege keine aufschiebende Wirkung zu, dh dass die mit dem bekaÈmpften Bescheid verbundenen Rechtswirkungen zunaÈchst in Kraft treten (dh dass trotz der gegen den Bescheid eingebrachten Beschwerde eine Bewil-
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ligung als erteilt gilt oder eine Strafe vollstreckt werden kann). Auf Antrag hat der VwGH der Beschwerde aber die aufschiebende Wirkung (aW) zuzuerkennen (§ 30 VwGG), wenn È ffentlichen Interessen entgegenste. ihrer Zuerkennung keine zwingenden o hen und . nach AbwaÈgung aller beru È hrten Interessen mit dem Vollzug oder mit der Ausu È bung der mit Bescheid eingeraÈumten Berechtigung durch einen Dritten fu È r den Bf ein unverhaÈltnismaÈûiger Nachteil verbunden waÈre. Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen besteht ein Rechtsanspruch auf Zuerken- 944 nung der aW. Die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids, u È ber die erst waÈhrend des Verfahrens entschieden wird, ist keine Voraussetzung fu È r die Zuerkennung. Der entsprechende Antrag kann zugleich mit der Beschwerde, aber auch noch waÈhrend des laufenden Verfahrens (spaÈtestens bis zur Entscheidung u È ber die Beschwerde) eingebracht werden. a) Eine aW kann nur Beschwerden gegen Bescheide zuerkannt werden, die vollzogen werden 945 ko È nnen bzw durch die eine Berechtigung eingeraÈumt wird und durch welche die Rechtsposition des Bf nachteilig veraÈndert wird. Der VwGH betont in stRspr, dass durch die Zuerkennung der aW dem Bf keine Rechtsstellung eingeraÈumt werden darf, die er weder vor der Erlassung des Bescheids noch nach seiner Aufhebung besitzen wu È rde. Daher kann der Beschwerde gegen einen Bescheid, mit dem eine Leistung abgelehnt oder durch den eine Bewilligung (zB Baubewilligung) verwehrt wurde, keine aW zuerkannt werden. Die ¹VollzugsfaÈhigkeitª des Bescheids als Voraussetzung fu È r die MoÈglichkeit einer aW ist im Hinblick auf die Rechtsschutzfunktion der VwGH-Beschwerde zu beurteilen; diese darf durch die Umsetzung des Bescheids in die Wirklichkeit nicht ausgehoÈhlt werden, so dass ± wenn eine solche AushoÈhlung droht ± von der VollzugsfaÈhigkeit auszugehen ist (¹Wirksamkeitstheorieª ± VwSlg 10.381 A/1981 ± verst Senat). b) Die beiden oben angefu È hrten Voraussetzungen fu È r die Zuerkennung der aW mu È ssen kumu- 946 È ffentliche Inlativ vorliegen. Sie darf daher nicht zuerkannt werden, wenn dem zwingende o teressen entgegenstehen; das ist etwa anzunehmen, wenn die Einbringung von Abgaben gefaÈhrdet waÈre oder wenn der Bescheid konkret der Abwehr von Gefahren fu È r das Leben oder die Gesundheit von Menschen dient. Bloûe Erschwernisse beim Vollzug, etwa eine VerzoÈgerung bei der Abgabeneinbringung, fallen dagegen nicht darunter. Im Fall der Anwendung von EuropaÈischem Gemeinschaftsrecht ist die mit der Zuerkennung einer aW verbundene Aussetzung des Vollzugs nur zulaÈssig, wenn erhebliche Zweifel an der Gu È ltigkeit des gemeinschaftsrechtlichen Rechtsaktes bestehen und die Frage dieser Gu È ltigkeit dem EuGH gleichzeitig zur Vorabentscheidung vorgelegt wird; u È berdies muss die Sistierung des Vollzugs wegen drohender schwerer und nicht wieder gutzumachender Nachteile fu È r den Antragsteller erforderlich sein, wobei die durch die voru È bergehende Nichtanwendung des Gemeinschaftsrechts beeintraÈchtigten Interessen der Gemeinschaft angemessen zu beru È cksichtigen sind (vgl EuGH, Su È derdithmarschen, verb Rs C-143/88 und C-92/89, Slg 1991, I-415). È berschussprodukte verpflichSo koÈnnte es zB von Schaden fu È r die Gemeinschaft sein, wenn U tend vom Markt genommen werden sollen (zB Zwangsdestillation von Weinu È berschu È ssen), È berschu die U È sse aber wegen der Zuerkennung einer aW noch alle vor der endgu È ltigen Wirksamkeit der Anordnung verkauft werden. c) Nur wenn dem Vollzug keine zwingenden oÈffentlichen Interessen entgegenstehen, ist in ei- 947 nem zweiten Schritt die vom Gesetz vorgesehene InteressenabwaÈgung vorzunehmen. Zu fragen ist, ob dem Bf durch den Vollzug ein unverhaÈltnismaÈûiger Nachteil entsteht und dieser Nachteil schon waÈhrend des Verfahrens vor dem VwGH droht. In einem Mehrparteienverfahren stehen einander die Interessen des Bf an dem Aufschub des Vollzugs und die Interessen der Mitbeteiligten am Vollzug gegenu È ber. Ein unverhaÈltnismaÈûiger Nachteil ist beispielsweise zu bejahen: wenn eine Zwangsversteigerung einer Liegenschaft zur Hereinbringung aushaftender Zahlungsforderungen droht, beim Vollzug einer Freiheitsstrafe oder besonders hohen Geldstrafe oder beim Verlust eines Kundenkreises durch eine auch nur voru È bergehende Stilllegung eines laufend ausgeu È bten Gewerbes. Nicht jeder finanzielle Verlust ± zB der Ent-
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gang von Habenzinsen oder ein Inflationsverlust ± stellt schon einen unverhaÈltnismaÈûigen Nachteil dar. È ber die Zuerkennung der aW entscheidet der Berichter durch Beschluss (§ 14 VwGG). Im 948 d) U
Fall der Zuerkennung der aW hat die BehoÈrde den Vollzug des angefochtenen Verwaltungsaktes aufzuschieben bzw darf der durch den angefochtenen Bescheid Berechtigte die Berechtigung nicht ausu È ben (§ 30 Abs 3 VwGG).
949 6. Abgesehen von der MoÈglichkeit der Zuerkennung einer aW gibt das VwGG dem VwGH keine ZustaÈndigkeit zur Erlassung einstweiliger Anordnungen. Aus gemeinschaftsrechtlichen Gru È nden kann die GewaÈhrleistung eines einstweiligen Rechtsschutzes aber erforderlich sein, um die volle Wirksamkeit der spaÈteren Entscheidung u È ber das Bestehen der aus dem Gemeinschaftsrecht hergeleiteten Rechte sicherzustellen (vgl EuGH, Factortame I, Rs C-213/89, Slg 1990, I-2433). Unter solchen UmstaÈnden wird man den VwGH fu È r befugt und verpflichtet ansehen mu È ssen, neben der Zuerkennung der aW durch Anordnungen an die BehoÈrde sicherzustellen, dass nicht einzelne fu È r den Bf nachteilige Handlungen gesetzt oder VeraÈnderungen in der Sach- und RechtssphaÈre der beschwerdefu È hrenden Partei vorgenommen werden, die nicht mehr ru È ckgaÈngig zu machen sind. Solche Anordnungen wu È rden sich unmittelbar auf Gemeinschaftsrecht stu È tzen; im Einzelnen ist hier freilich vieles offen und unklar, weil die GewaÈhrleistung eines umfassenden einstweiligen Rechtsschutzes durch positive Anordnungen letztlich nicht in das System der bestehenden, kassatorischen Verwaltungsgerichtsbarkeit passt (vgl zu dem Versuch, die Ausstellung einer behoÈrdlichen BestaÈtigung im Wege einer einstweiligen Anordnung durchzusetzen VwGH 7.2.2002, 2001/09/088). 950 7. Fu È r das Verfahren vor dem VwGH kann Verfahrenshilfe bewilligt werden (§ 61 VwGG). Die entsprechenden Vorschriften u È ber das zivilgerichtliche Verfahren gelten sinngemaÈû (vgl dazu die §§ 63 ff ZPO). Verfahrenshilfe, die in erster Linie die Kosten der anwaltschaftlichen Vertretung umfasst, ist zu gewaÈhren, wenn die Partei auûer Stande ist die Kosten ohne BeeintraÈchtigung der notwendigen Lebensfu È hrung zu È ber ihre Bewilligung entscheidet der Berichter ohne Senatsbeschluss. bestreiten. U 39.4.3. Die Pru È fung der Prozessvoraussetzungen 951 Prozessvoraussetzungen sind jene UmstaÈnde, die vorliegen mu È ssen (bzw nicht vorliegen du È rfen), damit der VwGH in eine sachliche Pru È fung der Beschwerde eintreten und u È ber den geltend gemachten Anspruch entscheiden kann. Fehlt eine Prozessvoraussetzung, ist die Beschwerde unzulaÈssig und zuru È ckzuweisen. Die wichtigsten Prozessvoraussetzungen lassen sich dem § 34 VwGG entnehmen, wo die Zuru È ckweisung geregelt ist. Die Prozessvoraussetzungen einer Parteibeschwerde sind: 952 . ZustaÈndigkeit des VwGH (§ 34 Abs 1 VwGG): Die ZustaÈndigkeit ergibt sich (positiv) aus dem Vorliegen eines tauglichen Beschwerdegegenstands (letztinstanzlicher Bescheid) und (negativ) daraus, dass kein ZustaÈndigkeitsausschluss nach Art 133 B-VG vorliegt (vgl oben Rz 934 ff). Ist daher zB der Instanzenzug nicht erschoÈpft worden oder handelt es sich um eine Form des Verwaltungshandelns, auf welche die Merkmale eines hoheitlichen Bescheids nicht zutreffen (zB bloûe Belehrungen einer BehoÈrde, Verordnungen, privatwirtschaftliches Handeln, Maûnahmen der Befehls- und Zwangsgewalt), ist die Beschwerde wegen UnzustaÈndigkeit zuru È ckzuweisen. Sie ist auch zuru È ckzuweisen, wenn der Bf einen untauglichen Antrag stellt und etwa die AbaÈnderung eines Bescheids durch den VwGH begehrt. Der Instanzenzug ist erscho È pft, wenn der Bf alle ihm offen stehenden administrativen Rechtsmittel ergriffen hat; dazu geho È rt auch die Einbringung einer Vorstellung gegen Bescheide von GemeindebehoÈrden.
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. Einhaltung der Beschwerdefrist (§ 26 VwGG): Zuru È ckzuweisen sind Be- 953 schwerden, die nach Ablauf der sechswoÈchigen Beschwerdefrist ab Zustellung (Verku È ndung) des Bescheids eingebracht wurden. . Beschwerdelegitimation (§ 34 Abs 1 VwGG): Der Bf muss zur Erhebung der Be- 954 schwerde berechtigt (legitimiert) sein, dh er muss TraÈger des Rechts sein, das er vor dem VwGH geltend macht. Dabei muss der Bf nur die Verletzung dieses Rechts behaupten; er ist legitimiert, wenn die Richtigkeit dieser Behauptung È glich ist. In der Regel ist die Parteistellung im vorangegangenen Verwaltungsmo verfahren ein Indiz dafu È r, dass der Bf TraÈger des entsprechenden Rechts ist. Die Beschwerdelegitimation fehlt zB: wenn ein Nachbar gegen einen Bewilligungsbescheid Beschwerde erhebt, ohne dass irgendwelche ihm eingeraÈumten subjektiven Nachbarrechte betroffen sind, wenn nur wirtschaftliche Interessen geltend gemacht werden, wenn nur eine dritte Person durch den Bescheid verletzt sein kann. Wird einer Amtspartei (Formalpartei) im Verwaltungsverfahren eine Parteistellung eingeraÈumt (zB einem Umweltanwalt nach Landesrecht), ohne dass dieser Stellung ein subjektives Recht entspricht, begru È ndet das noch keine Legitimation fu È r eine Beschwerde an den VwGH, die u È ber die stets moÈgliche Geltendmachung von VerfahrensmaÈngeln hinausgeht. Ein auf die Verletzung des materiellen Rechts gerichtetes Beschwerderecht mu È sste ausdru È cklich durch Gesetz eingeraÈumt werden; in diesen FaÈllen leitet sich die Beschwerdelegitimation unmittelbar aus der gesetzlich eingeraÈumten Beschwerdeberechtigung ab. . Partei- und ProzessfaÈhigkeit: Die Partei- und ProzessfaÈhigkeit des Bf richtet 955 sich nach den Bestimmungen des bu È rgerlichen Rechts (§ 62 Abs 1 VwGG iVm § 9 AVG). . Nichtvorliegen von res iudicata und von GerichtsanhaÈngigkeit (§ 34 Abs 1 956 VwGG): Die Einwendung der entschiedenen Sache liegt vor, wenn der VwGH in derselben Sache bereits einmal entschieden hat, also eine Beschwerde abgewiesen hat. Eine Zuru È ckweisung begru È ndet res iudicata nur im Rahmen dessen, woru È ber abgesprochen wurde; ein Prozesshindernis liegt daher nur dann vor, wenn einer neuerlich eingebrachten Beschwerde immer noch derselbe Mangel einer Prozessvoraussetzung entgegensteht. GerichtsanhaÈngigkeit bedeutet, dass dann, wenn in derselben Sache schon eine Beschwerde an den VwGH eingebracht wurde, eine weitere Beschwerde durch denselben Bf nicht mehr zulaÈssig ist. . Beschwer (Rechtsschutzbedu È rfnis): Nach der Judikatur koÈnnen Beschwerden 957 wegen eines fehlenden Rechtsschutzbedu È rfnisses unzulaÈssig sein. Das ist etwa dann der Fall, wenn sich die Rechtsstellung des Bf auch im Fall einer stattgebenden Entscheidung nicht Èandern wu È rde, weil das Recht, um das es geht, mittlerweile schon erloschen ist oder wenn eine befristet entzogene Berechtigung mittlerweile wegen Zeitablaufs ohnedies wieder zusteht. Auch die Anfechtung eines Berufungsbescheids, mit dem einer Berufung ohnedies vollinhaltlich stattgegeben wurde, oder eine Beschwerde, der nur ¹theoretische Bedeutungª zukommt, kann mangels Beschwer unzulaÈssig sein. . Einhaltung der (allgemeinen) Form- und Inhaltserfordernisse (vgl oben Rz 938 ff). Die Zuru È ckweisung wegen fehlender Prozessvoraussetzungen erfolgt durch einen 958 Beschluss des 3-er-Senats. Bei fehlender ZustaÈndigkeit, bei entschiedener Sache oder wegen Mangels der Beschwerdelegitimation ist sofort zuru È ckzuweisen. Andere MaÈngel (zB mangelnde Unterfertigung durch einen Rechtsanwalt oder Bezeichnung des Beschwerdepunkts, fehlende Sachverhaltsangaben) sind verbesserungsfaÈhig. TraÈgt der Bf dem Verbesserungsauftrag nicht fristgerecht und vollstaÈndig Rechnung, gilt die Beschwerde als zuru È ckgezogen und wird das Verfahren eingestellt.
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39.4.4. Die Ablehnung der Behandlung einer Beschwerde 959 Als ein Mittel zur Entlastung des VwGH sieht Art 131 Abs 3 B-VG vor, dass der VwGH die Behandlung von Beschwerden gegen Bescheide von UVS und des Bundesvergabeamts unter gewissen Voraussetzungen ablehnen kann. Eine derartige Ablehnung ist nur zulaÈssig, wenn . die Entscheidung nicht von der LoÈsung einer Rechtsfrage abhaÈngt, der grundsaÈtzliche Bedeutung zukommt (was insbesondere dann der Fall ist, wenn der UVS von der Rspr des VwGH abweicht, wenn eine einschlaÈgige Rspr des VwGH fehlt oder die Rechtsfrage in der bisherigen Rspr nicht einheitlich beantwortet wurde), . in Verwaltungsstrafsachen daru È ber hinaus nur dann, wenn eine geringe Geldstrafe (nach § 33a VwGG hoÈchstens ¨ 750,±) verhaÈngt wurde. Die Ablehnungsbefugnis fu È hrt zu einer nicht unerheblichen EinschraÈnkung des gerichtlichen Rechtsschutzes. Ihre VerfassungsmaÈûigkeit wurde zT bestritten, nicht zuletzt im Hinblick auf Art 2 des 7. ZProtEMRK, der fu È r Strafverfahren zwei gerichtliche Instanzen vorsieht, sofern es sich nicht um strafbare Handlungen geringfu È giger Art handelt. Auch wenn diese Bedenken nicht zutreffen, darf der VwGH von der in sein Ermessen gestellten Ablehnungsbefugnis nur dann Gebrauch machen, wenn es dafu È r konkrete Gru È nde gibt (zB weil die Aussichtslosigkeit der Beschwerde auf der Hand liegt). 39.4.5. Die Massenverfahren nach § 38a VwGG 960 Mitunter gibt es Rechtsfragen, welche eine Vielzahl von potentiellen Beschwerdefu È hrern betreffen. Man kann zB an den Fall denken, dass die Anwendung einer bestimmten steuerrechtlichen Vorschrift wegen eines Widerspruchs zu Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts fraglich ist und viele Parteien ihren Fall an den VwGH herantragen wollen. Das belastet den Gerichtshof unnoÈtig, da im Prinzip nur eine ganz bestimmte Rechtsfrage hoÈchstgerichtlich zu klaÈren ist. In solchen so genannten ¹Massenverfahrenª raÈumt eine 2002 neu geschaffene Bestimmung dem VwGH die MoÈglichkeit ein, die Zahl der an den Gerichtshof herangetragenen Beschwerden zu begrenzen: Nach § 38a VwGG kann der VwGH dann, wenn bei ihm eine erhebliche Anzahl von Parteibeschwerden anhaÈngig ist, welche gleichartige Rechtsfragen betreffen oder solche Beschwerden zu erwarten sind, mittels Beschluss feststellen, dass ein ¹Massenverfahrenª (Verfahren nach § 38a VwGG) vorliegt. Ein solcher Beschluss, der von der zustaÈndigen BehoÈrde kundzumachen ist, loÈst die folgenden Rechtswirkungen aus: . In allen FaÈllen, die noch nicht an den VwGH herangetragen sind, beginnt die Frist zur Erhebung einer Beschwerde nicht zu laufen bzw wird eine laufende Beschwerdefrist unterbrochen; damit koÈnnen derartige Beschwerden beim VwGH nicht eingebracht werden; . die BehoÈrden du È rfen in den entsprechenden FaÈllen keine abschlieûenden Regelungen treffen, also zB noch nicht die anstehende Sachentscheidung treffen; . der VwGH fasst in seinem Erkenntnis seine Rechtsanschauung in einem oder mehreren RechtssaÈtzen zusammen, die kundzumachen sind und die die zur Entscheidung zustaÈndigen BehoÈrden binden (§ 38a Abs 4 VwGG). 961 Im Ergebnis bedeutet diese Regelung, dass der VwGH ermaÈchtigt wird, in den FaÈllen von zu er-
wartenden ¹Massenverfahrenª das Recht der individuellen Beschwerde auszuschlieûen und das Verfahren auf die Fu È hrung einiger weniger ¹Musterprozesseª zu beschraÈnken. Die Entschei-
2. Kapitel: Die Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts und die unabhaÈngigen Verwaltungssenate 259 dung in Form von ¹RechtssaÈtzenª erzeugt generelle Rechtsnormen, welche die BehoÈrden und in der weiteren Folge auch die Gerichtsho Èfe des o È ffentlichen Rechts binden. Damit wird sicherlich eine BeschraÈnkung der Zahl der an den VwGH herangetragenen Beschwerden erreicht. Trotzdem ist die Neuregelung verfassungswidrig, weil sie den individuellen Rechtsschutz einschraÈnkt und dem VwGH eine Aufgabe ± die Statuierung von ¹RechtssaÈtzenª, dh von generellen Normen ± u È bertraÈgt, die verfassungsrechtlich nicht vorgesehen ist.
39.4.6. Die Einstellung des Verfahrens und das Ruhen des Verfahrens Bestimmte UmstaÈnde fu È hren zur Einstellung des Verfahrens, u È ber die in nichtoÈf- 962 fentlicher Sitzung durch Beschluss des 3-er-Senats entschieden wird. Eingestellt wird wegen: . Zuru È ckziehung einer Beschwerde (§ 33 Abs 1 VwGG), . Klaglosstellung des Bf (sie liegt dann vor, wenn der bekaÈmpfte Bescheid durch die belangte BehoÈrde oder auf andere Weise beseitigt wird oder wenn das RechtsÈ berpru schutzinteresse an seiner U È fung weggefallen ist) (§ 33 Abs 1 VwGG), . Nichtbefolgung eines Verbesserungsauftrages (§ 34 Abs 2 VwGG), . Nichtbeantwortung eines Vorhalts (so genanntes Vorhalteverfahren: Beruht die Beschwerde auf einer Rechtsansicht, die der bisherigen Rspr des VwGH widerspricht, kann der Bf zu einer ergaÈnzenden Begru È ndung aufgefordert werden; wird der Auftrag nicht erfu È llt, gilt die Beschwerde als zuru È ckgezogen) (§ 33 Abs 2 VwGG). Der VwGH ist als letztinstanzlich entscheidendes Gericht befugt und verpflichtet, 963 bei Zweifeln u È ber die Auslegung einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts einen Antrag auf Vorabentscheidung an den EuGH zu stellen. Hat der VwGH einen solchen Antrag gestellt, so ruht das verwaltungsgerichtliche Verfahren ex lege; der Gerichtshof darf vorlaÈufig nur solche Handlungen vornehmen bzw Entscheidungen treffen, die durch die Vorabentscheidung nicht beeinflusst werden koÈnnen oder die bloû vorlaÈufig und unaufschiebbar sind (§ 38b VwGG). 39.4.7. Das Vorverfahren Soweit eine Beschwerde weder zuru È ckgewiesen noch deren Behandlung abgelehnt 964 wird bzw eine Einstellung erfolgt, wird das Verfahren fortgesetzt, das sich in die folgenden Verfahrensschritte gliedert: . das Vorverfahren . das Hauptverfahren mit der allfaÈlligen Verhandlung vor dem VwGH . das Erkenntnis Im Vorverfahren wird die Beschwerdeschrift der belangten BehoÈrde und allfaÈlligen Mitbeteiligten mit der Aufforderung zugestellt binnen einer bestimmten Frist eine Gegenschrift vorzulegen (§ 36 VwGG). Die BehoÈrde kann darin Gru È nde darlegen, die fu È r die RechtmaÈûigkeit des angefochtenen Bescheids sprechen. Die BehoÈrde wird zugleich aufgefordert die Akten des Verwaltungsverfahrens vorzulegen. Alle È uûerungen und GegenaÈuûeParteien koÈnnen im Vorverfahren weitere schriftliche A rungen erstatten, wozu sie auch vom VwGH aufgefordert werden koÈnnen. Das Vorverfahren kann in bestimmten FaÈllen entfallen (§ 35 VwGG): Einerseits wenn der In- 965 halt einer Beschwerde klar erkennen laÈsst, dass die vom Bf behauptete Rechtsverletzung nicht vorliegt; dann wird die Beschwerde ohne weiteres Verfahren in nichto È ffentlicher Sitzung als unbegru È ndet abgewiesen. Ergibt sich andererseits schon aus dem angefochtenen Bescheid,
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dass die behauptete Rechtsverletzung vorliegt, ist der Bescheid (soweit nicht Mitbeteiligte beizuziehen waÈren und die BehoÈrde auch nichts dartut, was fu È r die RechtmaÈûigkeit spricht) ohne weiteres Verfahren in nichto È ffentlicher Sitzung aufzuheben.
39.4.8. Das Hauptverfahren 966 Im Hauptverfahren (meritorisches Verfahren) wird u È ber die sachliche Berechtigung der Beschwerde verhandelt und entschieden. Eine oÈffentliche, mu È ndliche Verhandlung vor dem zustaÈndigen Senat findet in der Praxis nur selten statt (dazu unten Rz 972). In der Regel verhandelt der erkennende Senat in nichto È ffentlicher Sitzung, in der auch die Entscheidung getroffen wird. 967 1. Gegenstand der Verhandlung ist der angefochtene Bescheid im Umfang der geltend gemachten Beschwerdepunkte. Der VwGH darf den Bescheid auf Grund einer Parteibeschwerde nur daraufhin u È berpru È fen, ob die vom Bf geltend gemachte Verletzung seiner subjektiven Rechte vorliegt. 968 2. In diesem Umfang pru È ft der VwGH die RechtmaÈûigkeit des angefochtenen Bescheids. Eine Rechtswidrigkeit kann sich . aus der Verletzung der ZustaÈndigkeitsordnung, . aus VerstoÈûen gegen Verfahrensvorschriften oder . aus der Verletzung von materiellen Verwaltungsvorschriften (inhaltliche Rechtswidrigkeit) ergeben. Dabei ist der Gerichtshof an die in der Beschwerde vorgetragenen Beschwerdegru È nde nicht gebunden, er kann daher zB einen Bescheid auch wegen Verfahrensfehlern aufheben, die in der Beschwerde nicht geru È gt wurden. Von der Kompetenz È berpru È bereinstimmung eines Bescheids mit Vordes VwGH ist auch die U È fung der U schriften des EuropaÈischen Gemeinschaftsrechts umfasst. 969 3. Die Pru È fungsbefugnis des VwGH ist dann eingeschraÈnkt, wenn die gesetzlichen Vorschriften der BehoÈrde Ermessen einraÈumen. Nach Art 130 Abs 2 B-VG liegt naÈmlich Rechtswidrigkeit ¹nicht vor, soweit die Gesetzgebung von einer bindenden Regelung des Verhaltens der VerwaltungsbehoÈrden absieht und die Bestimmung dieses Verhaltens der BehoÈrde selbst u È berlaÈsst, die BehoÈrde aber von diesem freien Ermessen im Sinne des Gesetzes Gebrauch gemacht hatª. Damit anerkennt die Verfassung einen Spielraum des gerichtlich nicht kontrollierbaren Verwaltungsermessens. Soweit einer VerwaltungsbehoÈrde Ermessen eingeraÈumt ist, kann der VwGH daher nur pru È fen, ob sich die BehoÈrde in den Grenzen des Ermessens gehalten hat (daher zB nicht dort Ermessen angenommen hat, wo Bindung an das Gesetz bestand); der Gerichtshof kann ferner pru È fen, ob die BehoÈrde von dem ihr eingeraÈumten Ermessen ¹im Sinne des Gesetzesª Gebrauch gemacht hat, dh keine unsachlichen ErwaÈgungen angestellt hat. 970 4. Der VwGH hat die bei ihm anhaÈngige Rechtssache auf der Grundlage des von der VerwaltungsbehoÈrde angenommenen Sachverhalts zu entscheiden (§ 41 Abs 1 VwGG). EigenstaÈndige Sachverhaltsermittlungen sind dem Gerichtshof daher grundsaÈtzlich verwehrt; wenn die BehoÈrde daher zB in einem Betriebsanlagenverfahren einen bestimmten LaÈrmpegel als nicht gesundheitsschaÈdlich einstuft, ist der VwGH an diese Feststellung gebunden, auch wenn er begru È ndet anderer Meinung waÈre oder Zweifel an den entsprechenden Feststellungen der BehoÈrde hat. Diese sehr wesentlich eingeschraÈnkte ¹Kognitionsbefugnisª des VwGH, die ihm die umfassende Pru Èfung der an ihn herangetragenen FaÈlle erschwert, ist auch der hauptsaÈchliche Grund, dass der VwGH nicht als ein ¹Tribunalª im Sinn von Art 6 EMRK angesehen werden kann. Nur dann, wenn die VerwaltungsbehoÈrde den maûgeblichen Sachver-
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halt nicht ordnungsgemaÈû erhoben hat ± was einen erheblichen Verfahrensfehler darstellt ± u È berpru È ft der VwGH in gewissem Umfang die Beweiswu È rdigung der belangten BehoÈrde auf ihre ¹Schlu È ssigkeitª (ob etwa die Wu È rdigung der Beweise nicht den allgemeinen Denkgesetzen widerspricht oder ob nicht wesentliche UmstaÈnde auûer Betracht gelassen wurden). 5. Im Bescheidpru È fungsverfahren besteht ein Neuerungsverbot. Das heiût, dass 971 Tatsachen, die nicht schon im Verwaltungsverfahren geltend gemacht wurden, vor dem VwGH nicht mehr vorgebracht werden koÈnnen. Auûerdem ist fu È r die Entscheidung des VwGH die Sach- und Rechtslage desjenigen Zeitpunkts maûgeblich, zu dem der Bescheid erlassen wurde. Zwischenzeitlich eingetretene RechtsaÈnderungen und nachtraÈgliche SachverhaltsaÈnderungen sind nicht zu beru È cksichtigen. 6. Eine mu È ndliche Verhandlung vor dem VwGH findet in der Praxis nur in selte- 972 nen AusnahmefaÈllen statt. Gesetzlich vorgesehen ist, dass eine o È ffentliche und mu È ndliche Verhandlung durchzufu È hren ist, wenn der Bf oder die belangte BehoÈrde oder eine mitbeteiligte Partei dies beantragen oder der VwGH es fu È r zweckmaÈûig haÈlt (§ 39 VwGG). Trotz eines entsprechenden Parteienantrags kann der VwGH aber aus einer Reihe von Gru È nden von der Durchfu È hrung einer mu È ndlichen Verhandlung absehen (vgl dazu die §§ 35 und 39 Abs 2 VwGG). Das Unterbleiben einer mu È ndlichen Verhandlung kann im Hinblick auf Art 6 EMRK problematisch sein, weil in Verfahren u È ber strafrechtliche Anklagen und u È ber civil rights im Sinn von Art 6 EMRK ein Anspruch auf eine oÈffentliche Verhandlung besteht. Nach § 39 Abs 2 Z 6 VwGG muss der VwGH selbst entscheiden, ob eine mu È ndliche Verhandlung zur Sicherung des in Art 6 EMRK gewaÈhrleisteten Rechts erforderlich ist, wenn die Beschwerde nicht ohnedies zuru È ckzuweisen oder der Bescheid aufzuheben ist. Im Ergebnis ist daher eine mu È ndliche Verhandlung dann zwingend abzuhalten, wenn
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. ein Antrag des Bf vorliegt, . es sich um civil rights handelt, . im Verwaltungsverfahren nicht schon eine oÈffentliche Verhandlung vor einem ¹Tribunalª (zB UVS) stattgefunden hat und . die Beschwerde nicht ohnedies zuru È ckzuweisen oder der Bescheid aufzuheben ist. Bei strafrechtlichen Anklagen wird Art 6 EMRK idR durch die MoÈglichkeit einer o È ffentlichen Verhandlung vor dem als Berufungsinstanz einschreitenden UVS entsprochen. In der Praxis ist der VwGH freilich im Hinblick auf die Anberaumung mu È ndlicher Verhandlungen weiterhin Èauûerst zuru È ckhaltend.
39.4.9. Die Entscheidung im Verfahren u È ber Parteibeschwerden Der VwGH entscheidet in der Sache, indem er entweder den angefochtenen Be- 974 scheid aufhebt oder die Beschwerde abweist, weil sie unbegru È ndet ist. Aufzuheben ist ein Bescheid, wenn er rechtswidrig ist; die Rechtswidrigkeit kann sich dabei nach § 42 Abs 2 VwGG aus den folgenden Gru È nden ergeben: . wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts, dh wenn der Bescheid inhaltlich rechtswidrig ist; . wegen Rechtswidrigkeit infolge UnzustaÈndigkeit der belangten BehoÈrde, dh wenn È rde erlassen wurde (zB o der Bescheid von einer unzustaÈndigen Beho È rtliche oder sachliche UnzustaÈndigkeit, falsch zusammengesetzte KollegialbehoÈrde); . wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, dh wenn ein wesentlicher Verfahrensmangel vorliegt; das ist dann der Fall, wenn
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. der Sachverhalt von der belangten BehoÈrde in einem wesentlichen Punkt aktenwidrig angenommen wurde; . der Sachverhalt in einem wesentlichen Punkt der ErgaÈnzung bedarf; . Verfahrensvorschriften auûer Acht gelassen wurden, bei deren Einhaltung die BehoÈrde zu einem anderen Bescheid gekommen waÈre. Ist ein Bescheid sowohl inhaltlich rechtswidrig als auch unter Verletzung von Verfahrensvorschriften zu Stande gekommen, ist er wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben. Nicht jede Verletzung von Verfahrensvorschriften fu È hrt zur Aufhebung eines Bescheids, sondern nur solche, die fu È r den Ausgang des Verfahrens von Relevanz sind. Die Partei muss in ihrer Beschwerde aufzeigen, zu welchem anderen Ergebnis die BehoÈrde haÈtte kommen ko È nnen. Eine Verletzung des ParteiengehoÈrs fu È hrt zur Aufhebung, wenn die BehoÈrde bei entsprechender AnhoÈrung einer Partei des Verfahrens zu einer anderen Entscheidung haÈtte kommen koÈnnen, eine fehlende oder widerspru È chliche Begru È ndung dann, wenn der Begru È ndungsmangel einen entscheidenden Punkt betrifft und der Partei daraus Schwierigkeiten bei der Durchsetzung ihres Rechtsanspruchs erwachsen.
39.4.10. Die Wirkung des Erkenntnisses 975 Wird ein Bescheid durch das Erkenntnis des VwGH aufgehoben, tritt die Rechtssache in die Lage zuru È ck, in der sie sich vor der Erlassung des Bescheids befunden hat (§ 42 Abs 3 VwGG). Das bedeutet, dass die BehoÈrde, deren Bescheid angefochten und nunmehr aufgehoben wurde, in der Regel einen so genannten Ersatzbescheid zu erlassen hat. Wenn daher zB der Bescheid einer BerufungsbehoÈrde aufgehoben wird, ist so vorzugehen, als ob die Berufungsentscheidung noch nicht ergangen waÈre; daher hat die BerufungsbehoÈrde neuerlich u È ber die bei ihr anhaÈngige Berufung zu entscheiden. Bei der Erlassung des Ersatzbescheids ist die BehoÈrde an die im Erkenntnis des VwGH zum Ausdruck kommende Rechtsansicht gebunden. Daru È ber hinaus ist die BehoÈrde verpflichtet mit den ihr zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzu È glich den der Rechtsanschauung des VwGH entsprechenden Rechtszustand herzustellen; dazu gehoÈrt etwa, dass bereits eingeleitete Vollstreckungsmaûnahmen ru È ckgaÈngig gemacht werden (§ 63 Abs 1 VwGG). 1. Die Entscheidungsfrist des § 73 Abs 1 AVG bzw die Frist bis zur Erhebung einer zulaÈssigen SaÈumnisbeschwerde nach § 27 VwGG beginnt mit der Zustellung des aufhebenden Erkenntnisses an die BehoÈrde neu zu laufen. 2. Die Bindung an die Rechtsansicht des VwGH hindert die BehoÈrde nicht auf spaÈter eingeÈ nderungen im Sachverhalt Ru tretene RechtsaÈnderungen oder A È cksicht zu nehmen. Der Ersatzbescheid ist auf der Grundlage der zum Zeitpunkt der neuerlichen Entscheidung geltenden Rechtslage zu erlassen, so dass mittlerweile eingetretene GesetzesaÈnderungen auf die neuerliche Entscheidung anzuwenden sind.
39.5. Die SaÈumnisbeschwerde Im Folgenden werden die Besonderheiten der SaÈumnisbeschwerde behandelt; was die u È brigen oben Rz 927 ff angefu È hrten ZustaÈndigkeiten des VwGH (Amtsbeschwerde, Weisungsbeschwerde) betrifft, wird hinsichtlich der Einzelheiten auf das VwGG bzw die weiterfu È hrende Literatur verwiesen. 39.5.1. Zu den Prozessvoraussetzungen bei der SaÈumnisbeschwerde È rde, und 976 1. Die SaÈumnisbeschwerde richtet sich gegen die UntaÈtigkeit einer Beho zwar gegen die UntaÈtigkeit einer obersten BehoÈrde, die zunaÈchst im Wege von DevolutionsantraÈgen oder durch Berufung angerufen wurde. Ist eine UnterbehoÈrde saÈu-
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mig, ist daher zunaÈchst ein Devolutionsantrag nach § 73 AVG einzubringen; erst wenn die oberste BehoÈrde entscheidungszustaÈndig ist und die Sache nicht fristgerecht entscheidet, kommt die SaÈumnisbeschwerde an den VwGH in Betracht. SaÈumnisbeschwerde kann auch gegen einen saÈumigen UVS erhoben werden. Freilich richtet sich die SaÈumnisbeschwerde nicht gegen jede Form der behoÈrdlichen UntaÈtigkeit, sondern nur gegen SaÈumnis bei der Erlassung eines Bescheids. Andere behoÈrdliche Maûnahmen (zB Setzung eines Zwangsaktes, Ausstellung einer Urkunde) koÈnnen durch eine SaÈumnisbeschwerde nicht erzwungen werden. 2. SaÈumnis der obersten BehoÈrde (bzw des UVS) liegt vor, wenn diese nicht inner- 977 halb von sechs Monaten in der Sache entschieden hat (§ 27 VwGG). Ein Verschulden der obersten BehoÈrde an der SaÈumnis wird nicht vorausgesetzt. Wenn das Materiengesetz eine ku È rzere oder laÈngere Entscheidungsfrist fu È r die BehoÈrde normiert, gilt diese abweichende Frist. 3. Ist die Entscheidungsfrist verstrichen, weil eine BehoÈrde (vor allem UVS) beim 978 EuGH einen Antrag auf Vorabentscheidung eingebracht hat, ist eine SaÈumnisbeschwerde bis zur Beendigung dieses Verfahrens unzulaÈssig. Vergleichbares gilt, wenn ein UVS einen Normpru È fungsantrag beim VfGH gestellt hat (§ 27 Abs 2 VwGG). 4. Zur Einbringung einer SaÈumnisbeschwerde legitimiert ist derjenige, der im Ver- 979 waltungsverfahren als Partei zur Geltendmachung der Entscheidungspflicht berechtigt war. In Verwaltungsstrafsachen ist keine SaÈumnisbeschwerde zulaÈssig (mit Ausnahme von Privatanklagesachen und Finanzstrafsachen); das hat seinen Grund darin, dass bei SaÈumnis der BerufungsbehoÈrde der Strafbescheid nach Ablauf der 15-monatigen Frist des § 51 Abs 7 VStG auûer Kraft tritt und das Verfahren eingestellt wird. In Angelegenheiten des Vereins- und Versammlungsrechts sind SaÈumnisbeschwerden zulaÈssig (vgl oben Rz 934). 5. Fu È r SaÈumnisbeschwerden gelten daher zusammengefasst die nachfolgenden Pro- 980 zessvoraussetzungen (zum Begriff der Prozessvoraussetzungen vgl oben Rz 951): . ZustaÈndigkeit des VwGH: SaÈumnis eines obersten Organs oder UVS bei der gebotenen Erlassung eines Bescheids und kein Ausschluss der ZustaÈndigkeit des VwGH nach Art 133 B-VG; . Einhaltung der Beschwerdefrist: Einbringung nach Ablauf der 6-monatigen Frist (sofern nicht durch ein Materiengesetz eine andere Frist festgelegt ist); . Beschwerdelegitimation: der Bf muss als Partei zur Geltendmachung der Entscheidungspflicht der BehoÈrde berechtigt sein, dh es muss ihm ein Anspruch auf Erlassung eines Bescheids zustehen; . Partei- und ProzessfaÈhigkeit (vgl oben Rz 955); . Nichtvorliegen von res iudicata (vgl oben Rz 956); . Einhaltung der (allgemeinen) Form- und Inhaltserfordernisse (vgl oben Rz 938 ff). 39.5.2. Der Gang des Verfahrens bei SaÈumnisbeschwerden und die Entscheidung Auch die SaÈumnisbeschwerde wird durch eine schriftliche Beschwerde eingelei- 981 tet, fu È r welche die Bestimmungen u È ber den Inhalt einer Eingabe nach § 28 VwGG mit einigen Abweichungen gelten; so kann bei der SaÈumnisbeschwerde selbstverstaÈndlich weder ein Bescheid noch eine bescheiderlassende BehoÈrde bezeichnet werden. Ist die SaÈumnisbeschwerde zulaÈssig (und kommt es auch zu keiner Einstel-
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lung des Verfahrens), leitet der VwGH zunaÈchst ein Vorverfahren ein. In diesem Vorverfahren wird die saÈumige BehoÈrde aufgefordert, den Bescheid innerhalb von drei Monaten zu erlassen oder anzugeben, warum eine Verletzung der Entscheidungspflicht nicht vorliegt. Die BehoÈrde kann somit den Bescheid ¹nachholenª; tut sie das, wird das Verfahren eingestellt (wobei dem Bf die halben Kosten zugesprochen werden). 982 Wird der Bescheid nicht erlassen, wird der VwGH nach Ablauf der 3-monatigen (einmal verlaÈngerbaren) Frist endgu È ltig zur Sachentscheidung zustaÈndig. In diesem Fall entscheidet der VwGH an Stelle der saÈumig gewordenen obersten BehoÈrde, dh er entscheidet so, wie die BehoÈrde zu entscheiden gehabt haÈtte: Es sind vom VwGH dieselben verfahrensrechtlichen und materiellrechtlichen Rechtsvorschriften anzuwenden und die notwendigen Ermittlungen durchzufu È hren, wobei der VwGH entweder selbst das Ermittlungsverfahren durchfu È hrt oder dieses von Gerichts- oder VerwaltungsbehoÈrden durchfu È hren laÈsst (§ 36 Abs 9 VwGG); schlieûlich entscheidet der VwGH in der entsprechenden Verwaltungssache (erteilt daher zB eine beantragte Baubewilligung oder weist den entsprechenden Antrag ab, entscheidet wie eine BerufungsbehoÈrde u È ber die Berufung, u È bt das Ermessen aus, welches das Gesetz der BehoÈrde zuerkennt usw). 983 Der VwGH kann sich aber vorerst auch auf die Entscheidung einzelner maûgeblicher Rechts-
fragen beschraÈnken und der BehoÈrde auftragen, den versaÈumten Bescheid unter Zugrundelegung dieser Rechtsansicht innerhalb einer bestimmten Frist zu erlassen. Kommt die BehoÈrde einem solchen Zwischenerkenntnis nicht fristgerecht nach, entscheidet der VwGH wiederum in der Sache selbst (§ 42 Abs 4 VwGG).
39.6. Die Kosten des Verfahrens 984 Die vor dem VwGH obsiegende Partei hat Anspruch auf Ersatz ihrer Kosten durch die unterliegende Partei. Dabei werden dem obsiegenden Bf (der obsiegt, wenn es zu einer gaÈnzlichen oder teilweisen Aufhebung des Bescheids gekommen ist) die Kosten der Beschwerde durch die BehoÈrde (bzw den RechtstraÈger) ersetzt. Wird die Beschwerde zuru È ckgewiesen oder abgewiesen, muss der Bf der BehoÈrde Kostenersatz leisten. Ersetzt werden: die Ausgaben fu È r die Eingabegebu È hr, der so genannte Schriftsatzaufwand (Kosten fu È r die Erstellung der Beschwerdeschrift oder der Gegenschrift), die Kosten fu È r die Vorlage der Verwaltungsakten (Vorlageaufwand), allfaÈllige Reisekosten und Kosten fu È r die Teilnahme an einer mu È ndlichen Verhandlung sowie die Kosten der Vertretung durch einen Rechtsanwalt in Verhandlungen des VwGH (Verhandlungsaufwand). Der Kostenersatz gebu È hrt in der Ho È he der durch VO festgelegten PauschalsaÈtze (VwGH-AufwandersatzVO 2003 BGBl II 2003/ 333). Danach werden zB dem obsiegenden Bf fu È r seinen Schriftsatzaufwand pauschal und ungeachtet der tatsaÈchlichen Kosten (etwa der Einschaltung eines RA) ¨ 991,± zugesprochen und betraÈgt der Schriftsatzaufwand der belangten BehoÈrde, wenn diese obsiegt, pauschal ¨ 330,±.
39.7. Wiedereinsetzung und Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem VwGH 985 Als besondere Rechtsbehelfe sehen die §§ 45 und 46 VwGG die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Wiederaufnahme des Verfahrens vor. Die Wiedereinsetzung ist gegen die VersaÈumung einer Frist zulaÈssig, etwa gegen die VersaÈumung der 6-woÈchigen Beschwerdefrist. Voraussetzung einer Wiedereinsetzung ist, dass die FristversaÈumung durch ein unvorhersehbares und unabwendbares Ereignis eingetreten ist. Verschuldet der Bf oder sein Anwalt die VersaÈumnis, ist eine Wiedereinsetzung nur im Fall einer leichten FahrlaÈssigkeit moÈglich. Zur Einbringung und zu den Folgen einer Wiedereinsetzung vgl § 46 VwGG.
2. Kapitel: Die Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts und die unabhaÈngigen Verwaltungssenate 265 Im Hinblick auf die Wiederaufnahme eines schon durch rechtskraÈftige Entscheidung des 986 VwGH abgeschlossenen Verfahrens sieht das VwGG besondere, in § 45 Z 1±5 geregelte Wiederaufnahmegru È nde vor. So ist es ein Wiederaufnahmegrund, wenn der Bf zunaÈchst (zB bei einer SaÈumnisbeschwerde durch Erlassung des Bescheids) klaglos gestellt und daraufhin das Verfahren eingestellt wurde, die beho È rdliche Maûnahme, welche die Klaglosstellung bewirkt hat, nachtraÈglich aber wieder behoben wurde (zB durch Aufhebung des Bescheids). Zu den weiteren Wiederaufnahmegru È nden und zum Wiederaufnahmeverfahren vgl § 45 VwGG. AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zum Abschnitt 39: VwSlg 6035 A/1964: Ein politisch folgenreiches Erkenntnis in der beru È hmten ¹Causa Habsburgª, in dem sich das rechtsstaatliche Bekenntnis findet: ¹Es steht im Rechtsstaat kein Mensch u È ber dem Recht und keiner auûerhalb des Rechtsª. VwGH 28.2.1996, 92/12/0267: Die fehlende BescheidqualitaÈt einer angefochtenen beho È rdlichen Erledigung fu È hrt zur Zuru È ckweisung der VwGH-Beschwerde; hier: Erledigung durch einen Organwalter (Parlamentsdirektor), dem die BescheidfaÈhigkeit fehlt. VwGH 24.4.2003, 99/20/0182: Dieses Erkenntnis ist deshalb lehrreich, weil sich hier umfassende Ausfu È hrungen zum Bescheidbegriff, insbesondere zur Abgrenzung zwischen bloûen beho È rdlichen Mitteilungen und einem ¹materiellen Bescheidª, finden (dh einer beho È rdlichen Erledigung, die zwar nicht als Bescheid bezeichnet ist, aber trotzdem eine verbindliche Entscheidung trifft). VwGH 25.10.2000, 2000/06/0109: Zur Beschwerdelegitimation gegen einen Bescheid, durch den die Parteistellung im Verwaltungsverfahren wegen der fehlenden MoÈglichkeit der Verletzung in einem subjektiven Recht verneint wurde; die VwGH-Beschwerde ist trotz der Zuru È ckweisung zulaÈssig. VwGH 26.6.2002, 2001/12/0064: Ein Beispiel fu È r eine SaÈumnisbeschwerde. Einem Gemeindebeamten wurde eine von ihm begehrte Leistungszulage verweigert, die DienstbehoÈrde erlieû aber auch keinen negativen Bescheid. Der im Wege der SaÈumnisbeschwerde angerufene VwGH hatte zu entscheiden, ob dem Beamten die Zulage gebu È hrt oder nicht (er hat dem Antrag in seinem Erkenntnis nicht stattgegeben). VwGH 5.9.2002, 2000/02/0063: Diese Entscheidung zeigt die Bedeutung des ¹Beschwerdepunktesª, durch den der Prozessgegenstand im verwaltungsgerichtlichen Verfahren festgelegt wird. Keine RechtsverletzungsmoÈglichkeit und daher Zuru È ckweisung der Beschwerde, in der als Beschwerdepunkt nur die Verletzung eines Verfahrensrechts losgeloÈst von einem materiellen Recht geltend gemacht wurde. VwGH 14.1.2004, 2002/08/0202: Dieses Erkenntnis erging im ersten Fall eines ¹Massenverfahrensª nach § 38a VwGG. Die Arbeiterkammer hatte angeku È ndigt, zahlreiche Beschwerden von Frauen zu unterstu È tzen, die in der Einrechnung des Ehegatten-(LebensgefaÈhrten-) Einkommens bei der GewaÈhrung der Notstandshilfe eine gemeinschaftsrechtswidrige Diskriminierung erkannten. Die vom VwGH zu loÈsende Rechtsfrage wurde in BGBl II 2003/ 15, die Entscheidung selbst in BGBl II 2004/103 kundgemacht. VfSlg 17.220/2004: Zur Unterscheidung zwischen einer Amtsbeschwerde und einer Beschwerde zur Wahrung subjektiver Rechte. Aus diesem Erkenntnis geht weiters hervor, dass eine ¹Amtsbeschwerdeª an den VfGH auch vom Gesetzgeber nicht vorgesehen werden darf. Zur Vertiefung: Grabenwarter, Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit È sterreich, O È JZ (1997); Jabloner, Die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in O 1999, 329; Machacek (Hrsg), Verfahren vor dem VfGH und vor dem VwGH5 (2004) 177± 283; Oberndorfer, Die o È sterreichische Verwaltungsgerichtsbarkeit (1983); Olechowski, È sterreich (1999); Thienel (Hrsg), VerDie Einfu È hrung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in O waltungsgerichtsbarkeit im Wandel (1999).
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40. Die Verfassungsgerichtsbarkeit 40.1. Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Verfassungsstaat 40.1.1. Der Verfassungsgerichtshof als Garant der Verfassung 987 1. Weil der demokratische Verfassungsstaat auf dem Vorrang der Verfassung beruht, ist er auf Institutionen angewiesen, welche diesem Vorrang zum Durchbruch verhelfen koÈnnen. Die wichtigste Einrichtung zur Garantie der Verfassung ist die unÈ sterreich durch den VfGH ausgeabhaÈngige Verfassungsgerichtsbarkeit, die in O u È bt wird. Sie stellt den Schlussstein im GebaÈude des Rechtsstaats dar, weil sie die VerfassungsmaÈûigkeit allen Staatshandelns gewaÈhrleisten und garantieren soll, dass das Recht u È ber der Macht steht. In diesem Sinn spricht man auch davon, dass der VfGH der ¹Hu È ter der Verfassungª ist. 988 2. Den Vorrang der Verfassung sichert der VfGH in erster Linie im Rahmen der È berpru U È fung von Gesetzen auf ihre VerfassungsmaÈûigkeit (Art 140 B-VG). Diese Kompetenz traÈgt zusammen mit der ZustaÈndigkeit des VfGH zur Kontrolle von VO (Art 139 B-VG) dazu bei, dass auf Dauer keine generelle Rechtsnorm bestehen bleiben kann, die mit den im Stufenbau der Rechtsordnung jeweils u È bergeordneten Normen in Widerspruch steht. Diese Normenkontrolle, dh die Kontrolle der VerfassungsmaÈûigkeit von Gesetzen und die Pru È fung von VO auf ihre GesetzmaÈûigkeit, stellt die wichtigste Aufgabe des VfGH dar. Zugleich sind das seine politisch gewichtigsten Kompetenzen, weil der Gerichtshof in diesem Bereich die Akte des demokratisch legitimierten Parlaments und der politischen Mehrheit einer Kontrolle nach rechtlichen MaûstaÈben unterwirft. 989 Der VfGH ist auûerdem der wichtigste Garant der verfassungsrechtlich gewaÈhrleisteten Grundfreiheiten und Menschenrechte. Er ist dies zunaÈchst wiederum im Rahmen seiner Befugnis zur Kontrolle der Verfassungs- und GesetzmaÈûigkeit genereller Rechtsnormen, da Gesetze oder Verordnungen, durch welche Grundrechte eingeschraÈnkt werden, seiner verfassungsmaÈûigen Kontrolle unterliegen. Daru È ber hinaus kann der Bu È rger individuelle Bescheide von VerwaltungsbehoÈrden beim VfGH mit der Behauptung bekaÈmpfen, dass sie in seine verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechte eingreifen. Im Rahmen dieser Bescheidbeschwerde (Art 144 B-VG) wird der Gerichtshof als ein ¹Sonderverwaltungsgerichtª taÈtig. 990 Schlieûlich spielt der VfGH eine wichtige Rolle bei der rechtlichen KlaÈrung von Streitfragen zwischen obersten Verfassungsorganen und bei der Entscheidung anderer, vor allem kompetenzrechtlicher Konflikte. Als Staatsgerichtshof (Art 142 B-VG) entscheidet er u È ber Anklagen gegen oberste Staatsorgane, wenn diesen ein rechtswidriges Verhalten vorgeworfen wird. Als Kompetenzgerichtshof ist er die oberste Instanz bei der Entscheidung von positiven oder negativen Kompetenzkonflikten zwischen Gerichten untereinander oder zwischen Gerichten und VerwaltungsbehoÈrden oder zwischen den BehoÈrden von Bund und LaÈndern (Art 138 B-VG). 991 3. Im Systemzusammenhang der Verfassung dient der VfGH der Umsetzung des rechtsstaatlichen Prinzips durch die GewaÈhrleistung von Rechtsschutz und durch die Sicherung des Stufenbaus der Rechtsordnung. Weil der VfGH Gesetze auf ihre VerfassungsmaÈûigkeit zu pru È fen hat, schu È tzt er aber zugleich auch vor einem Missbrauch der parlamentarischen Mehrheit und setzt der ¹ParlamentssouveraÈnitaÈtª jene Schranken, die sich aus der Verfassung ergeben. Damit traÈgt er zur Sicherung der Rechte der jeweiligen parlamentarischen Opposition und ± auch im Hinblick auf seine ZustaÈndigkeiten im Grundrechtsbereich ± ganz allgemein zum Schutz der Rechte von politischen oder gesellschaftlichen Minderheiten bei. Dies zeigt, dass
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die Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit auch ganz wesentlich zum Funktionieren eines demokratischen Systems beitraÈgt, das auf der MoÈglichkeit des Wechsels von Regierungsmehrheit und Opposition und dem Schutz von Minderheitenrechten beruht. Mit seinen ZustaÈndigkeiten zur Entscheidung von Kompetenzstreitigkeiten und zur Aufhebung von kompetenzwidrigen Gesetzen sichert der VfGH schlieûlich auch die bundesstaatliche Ordnung. 4. Der historische VorlaÈufer des VfGH war das durch ein Staatsgrundgesetz von 1867 eingerich- 992 tete Reichsgericht, das zum gerichtlichen Schutz der gleichzeitig geschaffenen Grundrechte berufen wurde, was damals eine bahnbrechende Neuerung war. Freilich waren die Kompetenzen des Reichsgerichts sehr viel bescheidener konzipiert: Es hatte keine Kompetenz zur Pru Èfung der VerfassungsmaÈûigkeit von Gesetzen und auch bei Beschwerden wegen Verletzung der Grundrechte konnte das Reichsgericht den fraglichen Verwaltungsakt nicht aufheben, sondern nur die eingetretene Rechtsverletzung feststellen. È berpru Mit der Einrichtung eines eigenstaÈndigen VfGH, dem die Befugnis zur U È fung von Gesetzen u È bertragen wurde, hat das B-VG zum Zeitpunkt seiner Schaffung (1920) Neuland betreten; in der Folge wurde dieses Modell zum Vorbild fu È r viele andere Staaten (¹oÈsterreichischer Weg der Verfassungsgerichtsbarkeitª). Als sein Scho Èpfer kann Hans Kelsen angesehen werden, der den VfGH als wichtigsten Garanten der neuen demokratischen Verfassungsordnung und als sein ¹liebstes Kindª bezeichnet hat.
È sterreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit 40.1.2. Wesensmerkmale der o 1. Maûstab fu È r die vom VfGH ausgeu È bte Rechtskontrolle ist vor allem die Verfas- 993 sung. Verfassungsrechtsprechung ist Anwendung der verfassungsrechtlichen Normen, die fu È r das unterverfassungsrechtliche Recht die Erzeugungsbedingungen und bestimmte Grenzen darstellen. Daher sind es immer Rechtsfragen, u È ber die der VfGH entscheidet, auch wenn diese Rechtsfragen sehr oft im politischen Bereich des Verfassungslebens angesiedelt sind. Diese politische Dimension der Verfassungsgerichtsbarkeit liegt zunaÈchst darin, dass der VfGH die politischen Prozesse kontrolliert und diszipliniert. Aber auch von den Wirkungen seiner Judikatur her betrachtet hat die TaÈtigkeit des VfGH eine politische Dimension, die oft weit u È ber die Entscheidung des Einzelfalls hinaus geht. Das gilt wiederum zunaÈchst fu Èr die Pru È fung von Gesetzen, weil hier der Gerichtshof als ¹negativer Gesetzgeberª taÈtig wird und als solcher Einfluss auf die Gestaltung wesentlicher gesellschaftlicher Fragen nimmt (wenn man zB an seine Rspr zur Familienbesteuerung oder zu den Pensionsreformen denkt). Die Gestaltung der Politik beeinflusst der VfGH aber auch als Wahlgerichtshof oder bei der Entscheidung von Kompetenzkonflikten. Insofern hat jede Verfassungsgerichtsbarkeit politische Implikationen. 2. Dass der dem VfGH vorgegebene Kontrollmaûstab das Verfassungsrecht ist, be- 994 deutet zugleich, dass dieser Maûstab mit der Mehrheit von 2/3 der Mitglieder des NR abgeaÈndert werden kann. Das gibt dem demokratisch legitimierten Parlament die MoÈglichkeit, politische, von einer groûen Mehrheit gewu È nschte Entscheidungen auch gegen die Judikatur des Verfassungsgerichts durchzusetzen, indem die vom Gerichtshof als verfassungswidrig eingestufte einfachgesetzliche Regelung durch ihre ¹Hebungª in den Verfassungsrang ¹abgesichertª wird (so genannte ¹Verfassungsdurchbrechungª; vgl dazu Rz 83 f). Soweit die verfassungsrechtliche Grundordnung beru È hrt ist, die nach Art 44 Abs 3 995 B-VG nur im Wege einer Volksabstimmung abgeaÈndert werden kann, steht dem VfGH auch die Kontrolle von Verfassungsgesetzen zu (vgl Rz 118). Zu der verfassungsrechtlichen Grundordnung gehoÈrt auch die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit, so dass die Abschaffung des VfGH oder eine AushoÈhlung der ihm u È bertragenen Kompetenzen als GesamtaÈnderung der Verfassung zu qualifizieren waÈre. Mit ei-
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ner im Jahr 2001 ergangenen Entscheidung hat der Gerichtshof von dieser Kompetenz zum ersten Mal auch praktischen Gebrauch gemacht und eine Verfassungsbestimmung als verfassungswidrig aufgehoben, welche die Maûstabsfunktion der Verfassung und die ZustaÈndigkeit des VfGH zur Normenkontrolle punktuell suspendiert haÈtte (VfSlg 16.327/2001). 996 3. Vor allem im Hinblick auf die ihm u È bertragene Kontrolle der VerfassungsmaÈûigkeit der Gesetze steht der VfGH in einem SpannungsverhaÈltnis zum Parlament. Denn in der Demokratie ist die Entscheidung politischer Fragen zunaÈchst Sache des durch Volkswahl legitimierten Gesetzgebers, der mit einfacher Mehrheit auch zentrale Fragen der Gestaltung des Gemeinwesens zu entscheiden hat. Ihm u È bertraÈgt die Verfassung die Verantwortung dafu È r, welche Aufgaben vom Staat aufgegriffen, nach welchen politischen Prinzipien sie gestaltet und wie die Konflikte zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Interessen geloÈst werden. Ob zB eine Studiengebu È hr eingefu È hrt wird und daher die Studierenden bzw deren Eltern einen Teil der Kosten eines UniversitaÈtsstudiums tragen mu È ssen oder ob diese der Allgemeinheit (dh dem Steuerzahler) aufgelastet werden, muss prinzipiell der Gesetzgeber entscheiden. Wenn es in einer solchen Frage keinen breiten Konsens der politischen KraÈfte gibt, kann es auch sein, dass daru È ber nur eine knappe parlamentarische Mehrheit entscheidet. Wird ein solches Gesetz beim VfGH angefochten, muss dieser zunaÈchst die politische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers respektieren: Es ist nicht Sache eines Verfassungsgerichts, eine moÈglicherweise zweckmaÈûigere oder sinnvollere LoÈsung in Fragen durchzusetzen, die politische Wertungsfragen sind. 997 Andererseits muss der VfGH den Vorrang der Verfassung sichern. Wenn daher eine vom Gesetzgeber so oder so entschiedene politische Frage mit verfassungsrechtlichen Normen kollidiert, ist die entsprechende gesetzliche Regelung als verfassungswidrig aufzuheben. Vor allem dort, wo der Gerichtshof Verfassungsbestimmungen anzuwenden hat, die ± wie etwa der Gleichheitsgrundsatz oder bestimmte andere Grundrechte ± in erheblichem Umfang konkretisierungsbedu È rftig sind, muss sich der VfGH selbst auf Wertungsfragen einlassen. Ob die als Beispiel angefu È hrte Regelung u È ber die Studiengebu È hr sachlich gerechtfertigt ist oder nicht (und dann dem Gleichheitsgrundsatz widersprechen wu È rde) oder ob eine bestimmte EigentumsbeschraÈnkung gerade noch verhaÈltnismaÈûig ist, kann umstritten sein. Trotzdem muss der VfGH diese Verfassungsfragen entscheiden und darf den damit verbundenen Wertungen nicht ausweichen, selbst wenn es sich dabei in gewisser Weise auch um ¹politische Fragenª handelt. Gleichzeitig bleibt die TaÈtigkeit eines Verfassungsgerichts aber Rechtsprechung, was besondere Anforderungen an die RationalitaÈt der juristischen Argumentation, Bemu È gliche ObjektivitaÈt und È hen um hoÈchstmo Respekt vor den Kompetenzen der anderen Verfassungsorgane erfordert. 998 Im Konflikt mit der parlamentarischen Mehrheit sichert der VfGH den Vorrang der Verfassung,
die selbst ein Ausdruck der VolkssouveraÈnitaÈt ist. Daher waÈre es auch falsch in der Existenz einer zur Normenkontrolle berufenen Verfassungsgerichtsbarkeit einen Widerspruch zum demokratischen Prinzip zu sehen. Zwar darf der VfGH sich nicht die Kompetenzen des Gesetzgebers anmaûen, soweit die Verfassung aber rechtliche Bindungen enthaÈlt, dient seine Kontrolle letztlich auch der Verwirklichung des demokratischen Prinzips, weil die Verfassung sogar von einem breiteren demokratischen Konsens getragen ist, als das bei einfachen Gesetzen der Fall sein muss.
4. Welche Position ein Verfassungsgericht in diesem SpannungsverhaÈltnis zum Gesetzgeber und den dahinter stehenden politischen KraÈften bezieht, wird in Anlehnung an die entsprechenden Begriffe des amerikanischen Rechts mit den gegensaÈtzlichen Polen ¹judicial self-restraintª und ¹judicial activismª gekennzeichnet. 999 a) ¹Judicial self-restraintª bezeichnet ein richterliches Entscheidungsverhalten, das durch
eine bewusste Zuru È ckhaltung gegenu È ber Akten des Gesetzgebers gekennzeichnet ist. Das Ge-
2. Kapitel: Die Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts und die unabhaÈngigen Verwaltungssenate 269 richt beansprucht keine Kompetenz zu einer eigenstaÈndigen Bewertung rechtspolitischer Fragen. ¹Judicial activismª steht fu È r die idealtypische Gegenposition: Fu È r ein solches Gericht gibt es keinen Ausnahmebereich fu È r ¹political questionsª, auf den sich seine Entscheidungsbefugnis nicht beziehen wu È rde. Die Wertungen des Gesetzgebers werden umfassend nachgepru È gert, seine eigenen Wertentscheidungen an die Stelle È ft, wobei der Richter auch nicht zo des Gesetzgebers zu setzen, wenn ihn die Verfassung dazu ermaÈchtigt, etwa indem sie ihm eine AbwaÈgung konkurrierender Interessen auftraÈgt. Auch Entscheidungen des Parlaments, die einen qualifizierten politischen Ru È ckhalt haben, werden ggf als verfassungswidrig aufgehoben. Fu È r die Grundrechtsjudikatur des oÈsterreichischen Verfassungsgerichtshofs konnte man eine weit in die 1. Republik zuru È ck reichende Tradition eines ausgepraÈgten ¹judicial selfrestraintª konstatieren. Etwa mit dem Beginn der 1980er Jahre setzte allerdings ein Wandel ein, der eng mit der Entwicklung einer ¹neueren Grundrechtsjudikaturª verbunden war und der den VfGH sehr deutlich in Richtung eines staÈrkeren ¹judicial activismª gefu È hrt hat. Gestu Èpft der Gerichtshof seither seine È tzt auf eine materielle Interpretation der Grundrechte scho Kompetenzen selbstbewusst aus, korrigiert Wertungen des Gesetzgebers, wo ihm dies verfassungsrechtlich geboten erscheint, und gibt dem Gesetzgeber gelegentlich auch sehr deutlich den Weg vor, auf dem eine verfassungskonforme Lo È sung erreicht werden kann. Man hat diesen Wandel mit den zutreffenden Worten charakterisiert: ¹Das im Gesetz manifestierte politische Wollen ist nicht mehr das Maû aller Dinge. Der Verfassungsgerichtshof misst nach; und die Elle ist feiner gewordenª (Richard Novak). Ausdrucksformen des verstaÈrkten ¹judicial activismª auf der dogmatischen Ebene finden sich vor allem in der Judikatur zum Gleichheitsgrundsatz und zu gewissen Freiheitsrechten. b) Dieser Wandel kann etwa an der Judikatur zum Eigentumsgrundrecht verdeutlicht wer- 1000 den. WaÈhrend der VfGH es in der 1. Republik noch ganz dezidiert zuru È ckgewiesen hatte, bei gesetzlich vorgesehenen EnteignungsermaÈchtigungen zu pru È fen, ob diese dem ¹allgemeinen Bestenª dienen (¹Der VfGH muss es ... entschieden ablehnen, in einer solchen Frage seine Meinung zu Èauûernª), sah er nach 1949 den Begriff des allgemeinen Besten als einen justiziablen (dh gerichtlich nachpru È fbaren) Verfassungsbegriff an. Bei EigentumsbeschraÈnkungen dauerte es bis in die 1980er Jahre, bis auch diese einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle unterworfen wurden. Schlieûlich hat der VfGH auch noch den (dem Wortlaut nach) formellen Gesetzesvorbehalt in Art 5 StGG wie einen materiellen Gesetzesvorbehalt ausgelegt und pru È ft nunmehr, ob EigentumsbeschraÈnkungen nicht unverhaÈltnismaÈûig sind (vgl VfSlg 1123/1928, 1809/1949, 9911/1983, 14.679/1969). c) Diese ju È ngere Judikatur hat dem VfGH gelegentlich eine heftige Kritik von Seiten der Po- 1001 litik eingetragen, die nicht immer die Grenzen der Sachlichkeit wahrt. So wurden dem Gerichtshof polemisch parteipolitische Motive unterstellt, ihm wurde rechtspolitisches Agieren vorgeworfen und es wurden ihm als Reaktion auf missliebige Entscheidungen ¹Reformenª angedroht, die der VfGH als Bedrohung seiner UnabhaÈngigkeit empfinden musste (zB zeitlich begrenzte Funktionsperioden).
40.1.3. GegenwaÈrtige Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit È hnlich wie bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit gibt es auch beim VfGH heute ei- 1002 1. A nen erheblichen Reformbedarf. Auch der VfGH ist seit vielen Jahren kapazitaÈtsmaÈûig stark u È berlastet und sieht sich mit der Problematik von Massenverfahren konfrontiert. So wurden zB vor einigen Jahren rund 11.000 Beschwerden gegen gleichartige Steuerbescheide eingebracht, wobei es letztlich nur um eine Rechtsfrage ± die VerfassungsmaÈûigkeit der MindestkoÈrperschaftssteuer ± ging. In der Vergangenheit hat der Verfassungsgesetzgeber vor allem mit der dem VfGH eingeraÈumten MoÈglichkeit zur Ablehnung von Beschwerden (vgl Rz 1040 ff) versucht, die BewaÈltigung der zahlenmaÈûig besonders stark angewachsenen Beschwerden nach Art 144 B-VG zu erleichtern; dabei ist es gelungen den Ru È ckstau an anhaÈngigen Verfahren abzubauen und die Verfahrensdauer wieder auf ein ertraÈgliches Maû zuru È ckzufu È hren. Seit 2008 gibt es auch fu È r den VfGH eine Regelung fu È r Massenverfahren (vgl Rz 1069).
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Das Grundproblem liegt freilich darin, dass der VfGH bei Verwaltungsakten die erste gerichtliche Kontrollinstanz ist, die vor dem oder parallel zum VwGH angerufen werden kann, so dass der VfGH daher eine Art ¹Gericht erster Instanzª ist. In diesem Zusammenhang wird von manchen vorgeschlagen, dass der VfGH erst nach vorheriger Anrufung des VwGH (mit der MoÈglichkeit einer Urteilsbeschwerde gegen die VwGH-Entscheidung) befasst werden sollte.
1003 2. Einschneidend veraÈndert hat sich die Stellung des VfGH auch durch den Beitritt È sterreichs zur EU und die damit verbundene Vorrangwirkung des GemeinschaftsO rechts auch gegenu È ber nationalem Verfassungsrecht. Dadurch wurde das bis dorthin bestehende Normenkontrollmonopol des VfGH beseitigt, weil nunmehr im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts jedes Gericht und jede VerwaltungsbehoÈrde zu pru È fen hat, ob eine oÈsterreichische Rechtsvorschrift mit dem Gemeinschaftsrecht u È bereinstimmt oder nicht und die Norm im letzteren Fall nicht anzuwenden hat. Auch seine hervorragende Stellung als Grundrechtsgericht wurde tangiert, weil die Grundrechte der EU ebenfalls von jedem innerstaatlichen Vollzugsorgan zu beachten sind, wobei die Einhaltung dieser gemeinschaftsrechtlichen Bindung auch durch den VwGH kontrolliert wird (vgl Rz 351 ff und Rz 1196). 1004 3. Der VfGH hat den Auftrag die VerfassungsmaÈûigkeit des gesamten Staatshandelns zu garantieren. In dieser Hinsicht ist es ein Problem, dass letztinstanzliche Entscheidungen der Straf- und Zivilgerichte nicht beim VfGH angefochten werden koÈnnen, und zwar auch dann nicht, wenn sie moÈglicherweise Grundrechte verletzen oder wenn verfassungswidrige Gesetze angewendet werden. Zwar hat auch die ordentliche Gerichtsbarkeit fu È r die Wahrung der Grundrechte zu sorgen und haben die Gerichte die Pflicht, Gesetze (VO), die sie fu È r verfassungswidrig (gesetzwidrig) halten, beim VfGH anzufechten. In der Praxis kann es aber Rechtsschutzdefizite geben, so dass immer wieder gefordert wird, eine Urteilsbeschwerde gegen letztinstanzliche Entscheidungen der ordentlichen Gerichte an den VfGH zuzulassen. È sterreich-Konvent hat in Die Realisierung dieses Vorschlags ist umstritten und auch der O diesem Punkt keine Einigung erzielen ko È nnen, wobei zwei verschiedene Modelle diskutiert wurden: Die Zulassung einer Urteilsverfassungsbeschwerde im vorstehend behandelten Sinn oder ± als Gegenmodell ± die Einfu È hrung einer ¹Gesetzesbeschwerdeª; danach sollten die Parteien eines letztinstanzlichen Verfahrens vor einem Straf- oder Zivilgericht Gesetze oder VO, die in diesem Verfahren angewendet wurden, mit der Behauptung ihrer Verfassungsbzw Gesetzwidrigkeit beim VfGH anfechten koÈnnen. Beachte den Unterschied: WaÈhrend mit einer Urteilsverfassungsbeschwerde die Entscheidung des ordentlichen Gerichts bekaÈmpft werden koÈnnte, wu È rde mit der Gesetzesbeschwerde nur die angewendete generelle Norm angefochten. Die Expertengruppe Staats- und Verwaltungsreform (Rz 60) hat die Einfu È hrung einer solchen Gesetzesbeschwerde vorgeschlagen.
40.1.4. Rechtsgrundlagen der Verfassungsgerichtsbarkeit 1005 Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Verfassungsgerichtsbarkeit sind in den Art 137±148 B-VG geregelt; weitere verfassungsrechtliche Regelungen mit Bezug auf den VfGH finden sich in Art 126a B-VG (RH) und Art 148f B-VG (VA). Die einfachgesetzliche Ausfu È hrung dieser GrundsaÈtze erfolgt durch das Verfassungsgerichtshofgesetz 1953 (VfGG) sowie in einer vom VfGH erlassenen autonomen GeschaÈftsordnung.
40.2. Die Organisation des VfGH 40.2.1. Zusammensetzung des VfGH 1006 1. Der VfGH hat seinen Sitz in Wien (Judenplatz 11; www.vfgh.gv.at). Er besteht aus einem PraÈsidenten, einer VizepraÈsidentin sowie 12 Richterinnen bzw Richtern. Zu ihnen kommen noch 6 Ersatzmitglieder, die im Fall der Verhinderung eines
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Mitglieds fallweise herangezogen werden. Alle Mitglieder (einschlieûlich PraÈsident und VizepraÈsident) werden vom BPraÈs ernannt, der dabei an VorschlaÈge gebunden ist, die nach Art 147 B-VG von verschiedenen Staatsorganen erstattet werden. Das Vorschlagsrecht kommt zu: . der BReg hinsichtlich des PraÈsidenten, des VizepraÈsidenten, von 6 Mitgliedern und 3 Ersatzmitgliedern; . dem NR hinsichtlich von 3 Mitgliedern und 2 Ersatzmitgliedern, . dem BR hinsichtlich von weiteren 3 Mitgliedern und 1 Ersatzmitglied.
2. Die Richter und Richterinnen des VfGH sind (anders als die des VwGH) keine Be- 1007 rufsrichter, sondern sie kommen aus verschiedenen juristischen Berufen (Anwalt, Zivil- oder Strafrichter, Rechtsprofessor, Verwaltungsbeamter), die sie zumindest theoretisch neben ihrer TaÈtigkeit im Gerichtshof weiter ausu È ben koÈnnten. Nur jene Mitglieder, die vor ihrer Ernennung Verwaltungsbeamte waren, werden zur Vermeidung von InkompatibilitaÈten auûer Dienst gestellt. Art 147 B-VG schreibt eine bestimmte juristische Qualifikation vor (juristisches Studium und mindestens 10-jaÈhrige juristische Berufserfahrung); mit der Mitgliedschaft im VfGH sind bestimmte andere staatliche Funktionen unvereinbar (Mitgliedschaft in einer Regierung oder einem allgemeinen Vertretungsko È rper bzw im EP), wobei es nach Art 147 Abs 4 und 5 B-VG auch Unvereinbarkeiten mit Funktionen in politischen Parteien gibt. 3. Den Verfassungsrichtern sind die richterlichen Garantien (UnabhaÈngigkeit, Un- 1008 absetzbarkeit, Unversetzbarkeit) verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistet (Art 147 Abs 6 B-VG). Sie bekleiden ihr Amt bis zum Ablauf des Jahres, in dem sie ihr 70. Lebensjahr vollenden. Eine Amtsenthebung kann nur durch den Gerichtshof selbst verfu È gt werden (vgl § 10 VfGG). a) Der Umstand, dass die meisten Verfassungsrichter zumindest der Idee nach keine Berufs- 1009 richter sind, wird u È berwiegend als Vorteil der oÈsterreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit angesehen. Dadurch soll die Sachkompetenz des Gerichts vermehrt werden, weil Erfahrungen aus unterschiedlichen Bereichen des Rechtslebens einflieûen ko È nnen. Der Preis dafu È r ist der Umstand, dass der VfGH nicht in Permanenz tagen kann und die Hauptlast der Arbeit von staÈndigen Referenten zu tragen ist. b) Die Art und Weise, wie die Mitglieder des VfGH bestellt werden, gibt dem Einfluss der po- 1010 litischen KraÈfte einen erheblichen Raum. Praktisch kommt den politischen Parteien das Vorschlagsrecht fu È r die ihnen zugeschriebenen Positionen im VfGH zu. Eine ¹Entpolitisierungª des Bestellungsvorgangs in der einen oder anderen Art und Weise wurde zwar immer wieder gefordert, hat aber wenig Chance auf Realisierung. Weil ein Verfassungsgericht in gewisser Weise immer auch ein ¹politisches Organª ist, zumindest in dem oben (Rz 993) dargelegten Sinn, sind andere Lo È sungen auch nur beschraÈnkt denkbar. Solange integere PersoÈnlichkeiten mit hoher fachlicher AutoritaÈt bestellt werden, ist es freilich wenig wahrscheinlich, dass es zu einer parteipolitischen Instrumentalisierung kommt oder dass der Gerichtshof zu einem bloûen Spiegelbild der politischen Mehrheit wu È rde. Die UnabhaÈngigkeit der Richter wird auch dadurch gestaÈrkt, dass sie bis zur Erreichung ihrer Altersgrenze im Amt bleiben und sich keiner Wiederwahl stellen mu È ssen. Einen gewissen Schutz vor parteipolitischer Patronage und der voÈlligen VernachlaÈssigung der fachlichen Qualifikation kann schlieûlich auch der BPraÈs bieten, weil er dem ihm erstatteten Vorschlag nicht folgen muss, wenn er ernsthafte Bedenken gegen die Person eines vorgeschlagenen Verfassungsrichters haÈtte.
40.2.2. Die Arbeitsweise des VfGH 1. Die Leitung des VfGH liegt beim PraÈsidenten, der in dieser Funktion vom Vize- 1011 praÈsidenten (VizepraÈsidentin) vertreten wird. Der VfGH tagt in Sessionen, die in der Dauer von jeweils 3 Wochen viermal im Jahr stattfinden. Die Entscheidungen werden in der Zeit zwischen den Sessionen von den staÈndigen Referenten vorbe-
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reitet; das sind Verfassungsrichter (9-10 Richter), die vom Gerichtshof aus dem Kreis der Mitglieder gewaÈhlt werden. 1012 Die Entscheidungen des VfGH werden grundsaÈtzlich im Plenum getroffen. Entscheidend ist die einfache Mehrheit der Stimmen; der PraÈsident stimmt nicht mit, ihm kommt aber bei Stimmengleichheit das Dirimierungsrecht zu, dh dass seine Stimme den Ausschlag gibt. Einstimmigkeit ist gefordert bei der Ablehnung einer Beschwerde oder ihrer Abweisung, weil offenkundig kein verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistetes Recht verletzt wurde. Gewisse Entscheidungen koÈnnen im so genannten ¹kleinen Senatª, dh in der kleinen Besetzung, getroffen werden, die aus dem PraÈsidenten (VizepraÈsidentin) und 4 Mitgliedern als Stimmfu È hrer besteht; das sind (§ 7 Abs 2 VfGG): . Formalentscheidungen (Ablehnung, Zuru È ckweisung, Einstellung), . Klagen nach Art 137 B-VG, . Kompetenzkonflikte zwischen Gerichten und Verwaltungsbeho È rden, . die Abweisung von Beschwerden, wenn ein verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistetes Recht offenkundig nicht verletzt ist, . die Stattgebung einer Beschwerde im Anlassfall, . Beschwerden, in denen die Rechtsfrage durch die bisherige Rspr bereits genu È gend klargestellt ist. Vor allem die letzten FaÈlle geben dem VfGH die MoÈglichkeit, verhaÈltnismaÈûig viele Beschwerden arbeitssparend in kleiner Besetzung zu erledigen. Die Erledigungsentwu È rfe und die Einladungen zur Verhandlung gehen aber auch in diesen FaÈllen allen Richtern zu, die verlangen ko È nnen, dass damit das Plenum befasst wird. An sich ist dieser kleine Senat als Entscheidungsorgan gesetzlich nicht ausdru È cklich vorgesehen, die (umstrittene) ZulaÈssigkeit dieser Entscheidungsform ergibt sich aber aus der in § 7 Abs 2 VfGG getroffenen Regelung u È ber das herabgesetzte PraÈsenzquorum in den oben angefu È hrten Angelegenheiten.
1013 2. Zur Unterstu È tzung der richterlichen TaÈtigkeit ist ein Evidenzbu È ro eingerichtet; der VfGH beschaÈftigt auûerdem eine Reihe von wissenschaftlichen Mitarbeitern mit juristischer Qualifikation. Die den VfGH betreffenden Angelegenheiten der Justizverwaltung werden vom PraÈsidenten des Gerichtshofs autonom wahrgenommen (§ 13 VfGG). Dazu gehoÈrt etwa die Diensthoheit u È ber das Personal des VfGH und die Vorsorge fu È r die sachlichen Erfordernisse seiner Rechtsprechung. Die Neufassung des § 13 VfGG durch BGBl I 2002/123, mit der dem PraÈsidenten die Justizverwaltungsangelegenheiten u È bertragen wurden, war die Folge einer Entscheidung des VfGH, mit der die vergleichbare Regelung des § 18 VwGG als verfassungswidrig aufgehoben wurde, welche eine Verantwortung des Bundeskanzlers fu È r die Fu È hrung der Justizverwaltung vorgesehen hatte; die Unterstellung des PraÈsidenten eines der Gerichtsho Èfe des o È ffentlichen Rechts unter die Weisungsgewalt eines von ihm zu kontrollierenden obersten Verwaltungsorgans konnte nach Ansicht des VfGH die UnabhaÈngigkeit des HoÈchstgerichts gefaÈhrden (VfSlg 15.762/2000).
1014 3. An den VfGH werden pro Jahr rund 2000 bis 3000 FaÈlle herangetragen, wobei rund 80 % des gesamten Anfalls auf Beschwerden nach Art 144 B-VG entfallen. Die durchschnittliche Verfahrensdauer liegt bei etwa 8 Monaten.
40.3. Das Verfahren vor dem VfGH 1015 Das VfGG enthaÈlt in seinen §§ 15±36 eine Reihe von allgemeinen Verfahrensbestimmungen. ErgaÈnzend sind auûerdem jene besonderen Verfahrensvorschriften heranzuziehen, die im Zusammenhang mit den einzelnen Kompetenzen des VfGH geregelt sind. SubsidiaÈr, dh beim Fehlen ausdru È cklicher verfahrensrechtlicher Regelungen, sind vom VfGH die Bestimmungen der ZPO anzuwenden (§ 35 VfGG; be-
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achte den Unterschied zum VwGH!). Das ist etwa fu È r die Berechnung der Fristen ± der Postlauf wird nicht eingerechnet ± maûgeblich. Hier werden zunaÈchst die wichtigsten allgemeinen Verfahrensbestimmungen dargestellt. 40.3.1. Inhalt und Form der Eingaben 1. Die an den VfGH gerichteten AntraÈge (zB Beschwerden, Klagen nach Art 137 1016 B-VG usw) sind schriftlich zu stellen. Sie mu È ssen eine Bezugnahme auf den Artikel des B-VG, auf Grund dessen der VfGH angerufen wird, eine Sachverhaltsdarstellung und ein bestimmtes Begehren, dh einen oder mehrere AntraÈge, enthalten (§ 15 VfGG). Die Art des Antrags richtet sich nach der jeweiligen Verfahrensart (zB Aufhebung eines Bescheids oder Aufhebung einer bestimmten Gesetzesbestimmung). ZulaÈssig koÈnnen auch EventualantraÈge sein (zB Antrag auf Aufhebung eines ganzen Satzes in einem Gesetz, in eventu einzelner bestimmter Worte). a) Den Eingaben sind so viele Ausfertigungen anzuschlieûen, dass jeder Partei ein Exemplar zugestellt werden kann; neben dem fu È r den Gerichtshof bestimmten Exemplar ist daher zB bei Beschwerden nach Art 144 B-VG je eine weitere Ausfertigung fu È r die belangte BehoÈrde sowie fu È r allfaÈllige mitbeteiligte Parteien anzuschlieûen. b) Fu È r die meisten Verfahren ist vorgeschrieben, dass die entsprechenden SchriftsaÈtze von einem bevollmaÈchtigten Anwalt einzubringen sind (§ 17 Abs 2 VfGG). Dies gilt nicht fu È r die GebietskoÈrperschaften und ihre BehoÈrden, die sich durch ihre Organe vertreten lassen koÈnnen (§ 24 Abs 2 VfGG). Die Eingabengebu È hr betraÈgt ¨ 220,±. c) Die in § 15 VfGG angefu È hrten Erfordernisse (Bezugnahme auf Artikel des B-VG, Sachverhaltsdarstellung, Begehren) sind nicht verbesserungsfaÈhige inhaltliche Mindesterfordernisse, deren Fehlen zur sofortigen Zuru È ckweisung fu È hrt (VfSlg 12.442/1990). Leidet eine Eingabe an einem sonstigen Formgebrechen, das behoben werden kann (zB fehlende Ausfertigungen, fehlende Unterschrift eines Anwalts), ist sie zur Verbesserung zuru È ckzustellen. Wird dem Verbesserungsauftrag nicht fristgerecht entsprochen, wird die Eingabe zuru È ckgewiesen.
2. Fu È r jede Eingabe wird eine GeschaÈftszahl vergeben, die sich aus einem Groû- 1017 buchstaben, einer laufenden Zahl und der Jahreszahl zusammensetzt (zB: G 37/97 oder B 892/99). Durch den vorangestellten Buchstaben kann man bereits erkennen, um welches Verfahren es sich handelt. ¹A-Verfahrenª sind Klagen nach Art 137 B-VG, ¹K-Verfahrenª Kompetenzstreitigkeiten, ¹V- bzw G-Verfahrenª Verordnungs- oder Gesetzespru È fungen, ¹W-Verfahrenª Wahlverfahren und ¹B-Verfahrenª Beschwerden nach Art 144 B-VG. È ber 1018 3. Die Zuerkennung von Verfahrenshilfe fu È glich. U È r mittellose Parteien ist mo sie wird in sinngemaÈûer Anwendung der §§ 63 ff ZPO entschieden. 40.3.2. Der Gang des Verfahrens 1. Das Verfahren vor dem VfGH gliedert sich in ein Vorverfahren, dem sich das 1019 Hauptverfahren anschlieût, das mit dem Erkenntnis abgeschlossen wird. Im Vorverfahren trifft der Referent die prozessleitenden Verfu È gungen, dh er leitet den Antrag (Beschwerde, Klage) der belangten BehoÈrde oder den anderen Parteien zu und fordert die BehoÈrde zur Vorlage der Akten sowie zur Einbringung einer Gegenschrift auf. UnzulaÈssige AntraÈge werden durch Beschluss (durch den kleinen Senat) zuru È ckgewiesen. Gewisse allgemeine ZulaÈssigkeitsvoraussetzungen sind in § 19 Abs 3 VfGG aufgelistet; auf sie wird bei der Behandlung der einzelnen ZustaÈndigkeiten eingegangen. Ebenfalls in dieser ¹kleinen Besetzungª wird u È ber eine allfaÈllige Einstellung des Verfahrens (bei Zuru È ckziehung des Antrags oder wegen Klaglosstellung) entschieden.
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Im Hauptverfahren wird die Sachentscheidung getroffen. Dabei kann es zur Anordnung einer mu È ndlichen Verhandlung kommen. Nach § 19 Abs 4 VfGG kann der Gerichtshof immer dann von einer mu È ndlichen Verhandlung absehen, wenn die SchriftsaÈtze der Parteien des verfassungsgerichtlichen Verfahrens und die dem VfGH vorgelegten Akten erkennen lassen, dass die mu È ndliche EroÈrterung eine weitere KlaÈrung der Rechtssache nicht erwarten laÈsst. Geboten ist eine mu È ndliche Verhandlung jedenfalls dann, wenn u È ber zivilrechtliche Anspru È che iS von Art 6 EMRK entschieden wird und nicht schon zuvor ein Tribunal mit der Sache befasst war. 1020 2. Die Erkenntnisse des VfGH werden regelmaÈûig durch Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung erlassen. AusgewaÈhlte Erkenntnisse werden in der jaÈhrlich bzw halbjaÈhrlich erscheinenden ¹Amtlichen Sammlung der Erkenntnisse und Beschlu È sse des VfGHª gedruckt veroÈffentlicht und mit einer fortlaufenden Nummer zitiert (zB VfSlg 11.413/1987). Dem Erkenntnis kann man nicht entnehmen, welche Mitglieder des VfGH fu È r und welche gegen die Entscheidung gestimmt haben. Bei anderen Verfassungsgerichten (zB beim deutschen Bundesverfassungsgericht oder beim US-Supreme Court) ist es zulaÈssig, dass ein u È berstimmter Richter eine ¹dissenting opinionª abgibt, dh in einem Anhang zur Entscheidung seine Auffassung darlegt. Die Einfu È hrung dieser MoÈglichkeit ist auch fu È r den VfGH immer wieder gefordert worden. Die Befu È rworter eines solchen Separatvotums weisen darauf hin, dass dadurch die argumentative Auseinandersetzung mit kontroversen Rechtsfragen gefoÈrdert und die QualitaÈt der richterlichen Entscheidungsfindung verbessert wu È rde. Die Gegner einer dissenting opinion befu È rchten, dass ihre Einfu È hrung den politischen Druck auf Richter des VfGH moÈglicherweise erhoÈhen und dass darunter auch die Akzeptanz seiner Entscheidungen leiden koÈnnte.
40.3.3. Die Verfahrenskosten 1021 Bei einzelnen Verfahren (Klagen nach Art 137 B-VG, Kompetenzstreitigkeiten, IndividualantraÈge nach Art 139, 140 B-VG und Beschwerden nach Art 144 B-VG) ist ein Ersatz der Kosten des Verfahrens vorgesehen. Wo ein Kostenersatz an die obsiegende Partei vorgesehen ist, wird dieser durch den Gerichtshof in sinngemaÈûer Anwendung der ZPO zugesprochen. In der Eingabe braucht nur der Zuspruch der Kosten beantragt zu werden, die nicht ziffernmaÈûig verzeichnet werden mu È ssen. Derzeit werden vom VfGH zB fu È r eine erfolgreiche Beschwerde Kosten in der HoÈhe von ¨ 2.620,± (= Pauschalsatz und Eingabegebu È hr) zugesprochen. 40.3.4. Wiederaufnahme des Verfahrens und Wiedereinsetzung 1022 Eine Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Verfahrens kommt nur bei Klagen nach Art 137 B-VG, bei Anklagen wegen strafgerichtlich zu verfolgender Taten (Art 143 B-VG) und bei Beschwerden nach Art 144 B-VG in Betracht (§ 34 VfGG). Dabei sind die Wiederaufnahmegru È nde der ZPO bzw (im Fall des Art 143 B-VG) die Wiederaufnahmeregelungen der StPO sinngemaÈû heranzuziehen. Eine Wiedereinsetzung wegen unverschuldeter VersaÈumung einer Frist ist nur bei Beschwerden nach Art 144 B-VG moÈglich (§ 33 VfGG). Auch auf diesen Rechtsbehelf sind die Regelungen der ZPO sinngemaÈû anzuwenden. 40.3.5. Die Exekution der Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofs (Art 146 B-VG) 1023 Soweit Erkenntnisse des VfGH einer Exekution zugaÈnglich sind, obliegt diese . bei Erkenntnissen nach Art 126a, 127c und 137 B-VG den ordentlichen Gerichten nach den Bestimmungen der EO,
2. Kapitel: Die Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts und die unabhaÈngigen Verwaltungssenate 275
. bei sonstigen Erkenntnissen dem BundespraÈsidenten. In Betracht kommt eine Exekution etwa bei Beschlu È ssen des VfGH u È ber einen Kostenersatz oder u È ber die Zuerkennung einer aufschiebenden Wirkung. In anderen FaÈllen treten die Rechtswirkungen unmittelbar auf Grund des Erkenntnisses ein (zB Aufhebung eines Bescheids oder eines Gesetzes) oder hat die Entscheidung nur feststellenden Charakter (Kompetenzkonflikte), so dass eine Exekution ausscheidet. Der BPraÈs kann mit der Exekution Organe des Bundes und der LaÈnder (einschlieûlich des Bundesheeres) beauftragen. In der Praxis kommt der Exekution von Erkenntnissen des VfGH keine groûe Bedeutung zu. Ob die Regelung des Art 146 B-VG in wirklichen Staatskrisen dazu beitragen koÈnnte, den Entscheidungen des Gerichtshofs zum Durchbruch zu verhelfen, ist zweifelhaft.
È berblick 40.4. Die einzelnen ZustaÈndigkeiten des VfGH im U Die ZustaÈndigkeiten des VfGH werden in den Art 137±145 B-VG abschlieûend an- 1024 È berblick und in der Reihenfolge gefu È hrt. Sie werden im Folgenden zunaÈchst im U dem B-VG folgend aufgezaÈhlt. Daran anschlieûend werden die wichtigsten Kompetenzen ausfu È hrlicher erlaÈutert. Das B-VG u È bertraÈgt dem VfGH die folgenden ZustaÈndigkeiten: . Die Kausalgerichtsbarkeit (Art 137 B-VG ± ¹A-Verfahrenª): Der VfGH erkennt u È ber gewisse vermoÈgensrechtliche Anspru È che gegen den Bund, die LaÈnder, Gemeinden und GemeindeverbaÈnde. Diese Anspru È che werden durch Klage geltend gemacht. . Die Kompetenzgerichtsbarkeit (Art 138 B-VG ± ¹K I- und K II-Verfahrenª): Der VfGH entscheidet Kompetenzkonflikte zwischen Gerichten und VerwaltungsbehoÈrden, zwischen verschiedenen Gerichten und zwischen verschiedenen LaÈndern oder einem Land und dem Bund. Nach Art 138 Abs 2 B-VG stellt der VfGH auûerdem fest, ob ein Akt der Gesetzgebung oder Vollziehung in die ZustaÈndigkeit des Bundes oder der LaÈnder faÈllt. SonderfaÈlle der Kompetenzgerichtsbarkeit sind die Entscheidung von Streitigkeiten u È ber die ZustaÈndigkeit des Rechnungshofs (Art 126a B-VG) oder u È ber die ZustaÈndigkeit der Volksanwaltschaft (Art 148f B-VG). . Die Entscheidung u È ber Vertragsstreitigkeiten im Bundesstaat (Art 138a B-VG): Der VfGH pru È ft auf Antrag, ob eine Vereinbarung nach Art 15a B-VG vorliegt und ob vom Bund oder von einem Land die aus einer solchen Vereinbarung folgenden Verpflichtungen erfu È llt wurden. . Die Normenkontrolle (Art 139, 139a, 140 und 140a B-VG ± ¹V- bzw G-Verfahrenª): Der VfGH erkennt u È ber die GesetzmaÈûigkeit von Verordnungen, u È ber die VerfassungsmaÈûigkeit von Gesetzen sowie u È ber die RechtmaÈûigkeit von StaatsverÈ berpru traÈgen; ein Sonderfall der Verordnungskontrolle ist die U È fung von Wiederverlautbarungen. . Die Wahlgerichtsbarkeit (Art 141 B-VG ± ¹W-Verfahrenª): Der VfGH erkennt u È ber die Anfechtung von bestimmten Wahlen (zB Nationalratswahlen) und u È ber den Mandatsverlust eines Abgeordneten in einem Parlament. . Die Staatsgerichtsbarkeit (Art 142, 143 B-VG ± ¹E-Verfahrenª): Der VfGH erkennt u È ber staatsrechtliche Anklagen gegen oberste Verwaltungsorgane und gegen Landeshauptleute. . Die Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit (Art 144 B-VG ± ¹B-Verfahrenª): Gegen Bescheide von VerwaltungsbehoÈrden einschlieûlich der UVS kann Beschwerde an den VfGH erhoben werden, wobei die Verletzung von verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechten (¹Grundrechtenª) oder die Anwendung eines verfassungs-
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widrigen Gesetzes oder einer gesetzwidrigen Verordnung geltend gemacht werden kann. Seit 2008 koÈnnen mit den gleichen Beschwerdebehauptungen auch die Entscheidungen des AsylGH mit Beschwerde bekaÈmpft werden (Art 144a B-VG). È lkerrechts (Art 145 B-VG): An sich . Die Entscheidung u È ber Verletzungen des Vo erkennt der VfGH u È ber Verletzungen des VoÈlkerrechts; da das in Art 145 B-VG vorgesehene ¹besondere Bundesgesetzª aber nicht erlassen wurde, ist diese ZustaÈndigkeit des VfGH nicht aktualisiert worden.
40.5. Das Beschwerdeverfahren nach Art 144 B-VG 1025 Nach Art 144 Abs 1 B-VG erkennt der VfGH u È ber Beschwerden gegen letztinstanzliche Bescheide der VerwaltungsbehoÈrden einschlieûlich der UVS, soweit der Beschwerdefu È hrer (Bf) durch den Bescheid in einem verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Recht oder wegen Anwendung einer gesetzwidrigen VO oder eines verfassungswidrigen Gesetzes oder eines rechtswidrigen Staatsvertrags in seinen Rechten verletzt zu sein behauptet (¹B-Verfahrenª). 40.5.1. Zur Bedeutung der Bescheidbeschwerde 1026 1. Bei der in Art 144 B-VG geregelten Bescheidbeschwerde gegen Bescheide von VerwaltungsbehoÈrden einschlieûlich der UVS wird der VfGH als ¹Sonderverwaltungsgerichtshofª taÈtig. Diese Bezeichnung bezieht sich darauf, dass zur gerichtlichen Kontrolle von Verwaltungsakten an sich der VwGH zustaÈndig ist; sofern allerdings die Verletzung eines verfassungsgesetzlichen Rechts oder die Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm (VO, Gesetz oder Staatsvertrag) geltend gemacht wird, kann sich der Einzelne mit einer Beschwerde auch an den VfGH wenden. Man koÈnnte diese Beschwerde auch als ¹Grundrechtsbeschwerdeª bezeichnen, weil sie der Durchsetzung der verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Grundfreiheiten und Menschenrechte dient. Insofern ist der VfGH auch der ¹Grundrechtsgerichtshofª, wobei man freilich nicht u È bersehen darf, dass auch VwGH und OGH sich mit den Grundrechten im Rahmen ihrer Kompetenzen auseinander setzen mu È ssen, etwa im Zusammenhang mit ihrer Verpflichtung zur verfassungskonformen Interpretation oder mit der so genannten Grundrechtsbeschwerde in Strafsachen an den OGH nach dem GrundrechtsbeschwerdeG (BGBl 1992/864). 1027 2. Die Beschwerde nach Art 144 B-VG stellt jene Kompetenz dar, die am haÈufigsten in Anspruch genommen wird. Ihr kommt eine u È ber die Entscheidung des konkreten Falles hinausgehende Bedeutung zu, weil die im Zusammenhang mit Beschwerden vorgebrachten Rechtsfragen fu È r den Gerichtshof immer wieder ein Anlass sind von Amts wegen ein Normenkontrollverfahren einzuleiten (so genannte inzidente Normenkontrolle). Insofern traÈgt die Bescheidbeschwerde auch zur Sicherung der objektiven VerfassungsmaÈûigkeit der Rechtsordnung bei. 1028 3. Der VfGH kann im Verfahren nach Art 144 B-VG vor einer entsprechenden Beschwerde an den VwGH angerufen werden, wobei in dem Fall, dass eine Verletzung eines verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechts nicht vorliegt, die Beschwerde auf Antrag an den VwGH abgetreten werden kann. Der fragliche Bescheid kann aber auch gleichzeitig beim VwGH und VfGH bekaÈmpft werden, wenn beim VwGH die Verletzung eines einfachgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechts und beim VfGH die Verletzung in einem verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Recht geltend gemacht wird (so genannte Parallelbeschwerde). 1029 a) Dass der VfGH neben dem VwGH bzw vor dem VwGH als ¹Sonderverwaltungsgerichtª taÈtig wird, hat im Wesentlichen historische Gru È nde, weil bereits dem Reichsgericht ± also
2. Kapitel: Die Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts und die unabhaÈngigen Verwaltungssenate 277 dem VorlaÈufer des VfGH, der zeitlich vor der Installierung des VwGH eingerichtet wurde ± eine entsprechende ZustaÈndigkeit u È bertragen war. Die ZweckmaÈûigkeit dieser Ausgestaltung des Rechtsschutzes ist sehr zweifelhaft, wobei verschiedene Gesichtspunkte eine Rolle spielen: An sich ist es nicht sinnvoll, dass der Beschwerde an den VwGH die Verfassungsgerichtshofsbeschwerde gleichsam ¹vorgeschaltetª ist. Daher wird auch zT fu È r eine Abschaffung dieser ZustaÈndigkeit plaÈdiert, weil man ± so wird gesagt ± die Kontrolle eines Bescheids auf seine RechtmaÈûigkeit ohne weiteres auch ausschlieûlich dem VwGH u È nnte; fu È bertragen ko È r den Fall, dass der Bescheid auf einem verfassungswidrigen Gesetz beruht, kann der VwGH ohnedies beim VfGH den Antrag auf Gesetzespru È fung stellen. Andererseits muss man bedenken, dass u È ber die Beschwerde nach Art 144 B-VG immer wieder auch FaÈlle an den VfGH herangetragen werden, die zur Einleitung von Normenkontrollverfahren und damit verbunden zur KlaÈrung von verfassungsrechtlichen Fragen fu È hren, die ansonsten vielleicht nicht zum Verfassungsgericht gelangt waÈren. Dies wu È rde dafu È r sprechen, dass Beschwerden gegen einen Bescheid zwar zunaÈchst beim VwGH eingebracht werden, wobei aber gegen dessen Entscheidung ± zur KlaÈrung der allenfalls damit verbundenen verfassungsrechtlichen Fragen ± eine Urteilsbeschwerde an den VfGH zugelassen werden sollte. Obwohl der Reformbedarf durchwegs eingeraÈumt wird, ist ein Konsens in dieser Frage gegenwaÈrtig nicht ersichtlich. b) Da gegen Bescheide von Verwaltungsbeho È rden beide GerichtshoÈfe des oÈffentlichen Rechts 1030 angerufen werden koÈnnen, bereitet die Abgrenzung ihrer Kompetenzen erhebliche Schwierigkeiten. Die Regelung des Art 133 Z 1 B-VG, nach der von der ZustaÈndigkeit des VwGH jene Angelegenheiten ausgenommen sind, fu È r welche der VfGH zustaÈndig ist, stellt in Wahrheit keine echte Lo È sung dar. Grund dafu È r ist der Umstand, dass sich die FaÈlle einer ¹einfachenª Gesetzwidrigkeit von denen einer Verfassungswidrigkeit nicht trennscharf auseinander halten lassen. Das soll am Beispiel von VerfahrensmaÈngeln erlaÈutert werden: VerstoÈûe gegen irgendwelche verfahrensrechtlichen Anordnungen etwa des AVG (zB eine mangelhafte Begru È ndung oder ein Fehler im Ermittlungsverfahren) stellen (weil das AVG ein einfaches BG ist) ¹einfacheª Gesetzwidrigkeiten dar. Nach der Judikatur des VfGH zum verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz ko È nnen gravierende VerfahrensverstoÈûe aber auch ¹in die VerfassungssphaÈre hinein reichenª und unter dem Aspekt der Willku È r auf eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes hinauslaufen (vgl Rz 1699 ff). Damit haÈngt die ZustaÈndigkeitsfrage zunaÈchst davon ab, was als ¹schwererª Verfahrensverstoû qualifiziert wird, was nur eine unscharfe Abgrenzung zwischen den Kompetenzen der beiden GerichtshoÈfe erlaubt; auûerdem ist jeder unter dem Aspekt der Willku È r (etwa wegen des voÈlligen Fehlens einer Begru È ndung) verfassungswidrige Bescheid natu È rlich immer auch mit einer ¹einfachenª Gesetzwidrigkeit belastet, so dass in einem solchen Fall tatsaÈchlich beide GerichtshoÈfe zustaÈndig sind. Diese Problematik muss im Folgenden im Auge behalten werden, weil viele mit der Bescheidbeschwerde nach Art 144 B-VG verbundene Fragen und Probleme nur vor dem Hintergrund dieser Konstellation richtig verstanden werden ko È nnen.
40.5.2. Gegenstand, Pru È fungsmaûstab und Beschwerdelegitimation bei der Bescheidbeschwerde 1. Die Beschwerde nach Art 144 B-VG kann gegen letztinstanzliche Bescheide von 1031 VerwaltungsbehoÈrden einschlieûlich der UVS eingebracht werden. Anfechtungsgegenstand sind daher nur individuelle, im AuûenverhaÈltnis ergangene und formgebundene hoheitliche Verwaltungsakte. a) Nicht mit Beschwerde nach Art 144 B-VG angefochten werden ko È nnen daher: Akte der Gerichtsbarkeit (VfSlg 14.186/1995) oder der Gesetzgebung zuzurechnende Handlungen (zB Anordnungen des PraÈsidenten des NR; VfSlg 11.882/1988), alle Erscheinungsformen der Privatwirtschaftsverwaltung (zB Verweigerung einer privatrechtlichen Subvention), schlichthoheitliches Handeln wie die Erteilung einer Auskunft, bloûe Verfahrensanordnungen, Gutachten und als Gutachten gewertete Pru È fungsentscheidungen, die Aufforderung zum Antritt einer Freiheitsstrafe oder Ersatzfreiheitsstrafe, Weisungen usw. b) Bei der Abgrenzung des Anfechtungsgegenstandes bezieht sich der VfGH auf einen materiellen Bescheidbegriff. Das Fehlen bestimmter foÈrmlicher Merkmale (Bezeichnung als Bescheid, Begru È ndung oder Rechtsmittelbelehrung usw) schadet nicht. Wenn sich eine verwal-
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tungsbehoÈrdliche Entscheidung in eindeutiger Weise als normative Regelung einer Verwaltungsangelegenheit gegenu È ber individuell bestimmten Personen deuten laÈsst, liegt ein tauglicher Beschwerdegegenstand vor. Daher kann zB eine Beschwerde gegen ein Schreiben eingebracht werden, in dem die BehoÈrde ¹mitteiltª, dass sie keine MoÈglichkeit sieht eine Berufungsentscheidung zu treffen (VfSlg 8258/1978). Im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geht der VfGH davon aus, dass eine behoÈrdliche Erledigung ¹im Zweifelª ein Bescheid ist und daher È uûerung im Verfahren nach Art 144 B-VG bekaÈmpft werden kann. Fehlt einer behoÈrdlichen A jeder normative Gehalt, kann freilich auch die Èauûere Bescheidform nicht dazu fu È hren, dass ein solcher Akt bekaÈmpft werden kann. UnselbstaÈndige Bestandteile eines Bescheids (zB Auflagen) sind nicht selbstaÈndig anfechtbar. c) Gegen behoÈrdliches UntaÈtigsein ist keine Beschwerde nach Art 144 B-VG moÈglich (VfSlg 14.162/1995). Dies gilt auch fu È r FaÈlle, in denen ein Einschreiten der BehoÈrde aus grundrechtlichen Gru È rung; È nden geboten waÈre (zB zum Schutz einer angemeldeten Versammlung vor Sto vgl zB VfSlg 12.501/1990, 16.054/2000). Fu È r SaÈumnisbeschwerden ist ausschlieûlich der VwGH zustaÈndig, und zwar auch dann, wenn eine Verletzung der behoÈrdlichen Entscheidungspflicht in vereins- oder versammlungsrechtlichen ZusammenhaÈngen geltend gemacht wird (vgl Rz 934). d) Akte der unmittelbaren Befehls- und Zwangsgewalt ko È nnen durch Beschwerde an den UVS bekaÈmpft werden (Art 129a Abs 1 Z 2 B-VG). Wenn der UVS einer solchen Beschwerde nicht stattgibt, kann der zuru È ck- oder abweisende Bescheid des UVS durch Beschwerde nach Art 144 B-VG angefochten werden. In einem solchen Fall ist der Bescheid des UVS dann aufzuheben, wenn der UVS eine geltend gemachte Grundrechtswidrigkeit nicht aufgegriffen hat; insofern koÈnnen verfassungswidrige Akte der Befehls- und Zwangsgewalt zumindest mittelbar beim VfGH bekaÈmpft werden.
1032 2. Nur letztinstanzliche Bescheide koÈnnen nach Art 144 B-VG bekaÈmpft werden. Zur ErschoÈpfung des Instanzenzuges gehoÈren auch andere als die im AVG vorgeseÈ berpru henen Rechtsbehelfe, die eine U È fung und Aufhebung eines Bescheids ermoÈglichen, daher etwa auch die gemeinderechtliche Vorstellung, die Vorstellung nach § 57 Abs 2 AVG oder administrative Rechtsbehelfe (wie zB die BeschwerdemoÈglichkeit von Strafgefangenen). 1033 3. Der Pru È fungsmaûstab des VfGH wird durch die Beschwerdebehauptung bestimmt, wobei die Beschwerde nach Art 144 B-VG mit zwei verschiedenen Beschwerdebehauptungen erhoben werden kann, naÈmlich mit der Behauptung, dass der Bf . durch den Bescheid in einem verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Recht verletzt wurde (Art 144 Abs 1 B-VG 1. Fall) oder dass er . durch den Bescheid wegen der Anwendung einer rechtswidrigen (gesetzwidrigen, verfassungswidrigen) generellen Norm in seinen Rechten (dh auch in einem sonstigen, nicht verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Recht) verletzt wurde (Art 144 Abs 1 B-VG 2. Fall). a) Verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Rechte sind alle subjektiven Rechte, die durch eine Verfassungsbestimmung gewaÈhrleistet sind. Dazu gehoÈren in erster Linie die Grundrechte (Grundfreiheiten und Menschenrechte), die im StGG, der EMRK, dem B-VG oder in sonstigen im Verfassungsrang stehenden Bestimmungen verankert sind (vgl Rz 1161). Aus dem Grundsatz der GesetzmaÈûigkeit der Verwaltung (Art 18 B-VG) kann kein verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistetes Recht abgeleitet werden (vgl zB VfSlg 10.349/1985); die Wahrung der GesetzmaÈûigkeit des Verwaltungshandelns ist ausschlieûlich dem VwGH u È bertragen. È ûe gegen b) Im Rahmen des 2. Falles der Beschwerde nach Art 144 B-VG ko Ènnen auch Versto objektives Verfassungsrecht (zB gegen Kompetenzbestimmungen oder gegen das LegalitaÈtsprinzip) geltend gemacht werden. Die beiden Beschwerdebehauptungen koÈnnen auch nebeneinander erhoben werden. c) Fu È r die Beurteilung der RechtmaÈûigkeit von Verwaltungsakten unter Gesichtspunkten des EuropaÈischen Gemeinschaftsrechts ist an sich der VwGH zustaÈndig; der Eingriff in ein aus
2. Kapitel: Die Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts und die unabhaÈngigen Verwaltungssenate 279 dem Gemeinschaftsrecht abgeleitetes subjektives Recht stellt keine Verletzung eines verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechts dar. Unter bestimmten UmstaÈnden kann aber die fehlerhafte Anwendung von Gemeinschaftsrecht oder seine Nichtanwendung (im Fall eines gegebenen Vorrangs vor einer innerstaatlichen Norm) auf eine Grundrechtsverletzung hinauslaufen und vor dem VfGH geltend gemacht werden. Das gilt vor allem fu È r den Fall einer offenkundigen Verletzung von Gemeinschaftsrecht, weil eine denkunmoÈgliche Nichtanwendung von Gemeinschaftsrecht oder eine denkunmoÈgliche Interpretation eine Verletzung des Eigentumsgrundrechts oder Willku È r implizieren kann. Wird durch eine vorlagepflichtige BehoÈrde (vor allem: KollegialbehoÈrden mit richterlichem Einschlag) gegen die Vorlagepflicht nach Art 234 EGV verstoûen, kann das mit einer auf das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter (Art 83 Abs 2 B-VG) gestu È tzten Beschwerde nach Art 144 B-VG geru È gt werden.
3. Zur Einbringung einer Beschwerde nach Art 144 B-VG legitimiert ist diejenige 1034 (natu È rliche oder juristische) Person, die behauptet durch einen Bescheid entweder in einem verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Recht (1. Fall) oder in einem sonstigen Recht durch die Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm (2. Fall) verletzt worden zu sein. Nach der Judikatur muss die Behauptung der Rechtsverletzung È glich sein, dh der Bf muss denkbarer Weise TraÈger des geltend gemachfreilich mo ten Rechts sein und die Verletzung in diesem Recht darf nicht gaÈnzlich ausgeschlossen sein. 40.5.3. Das anzuwendende Verfahrensrecht Neben den allgemeinen Verfahrensvorschriften der §§ 15±36 VfGG (und der subsi- 1035 diaÈr anzuwendenden ZPO) kommen im Verfahren nach Art 144 B-VG die Regelungen der §§ 82±88 VfGG zur Anwendung. 40.5.4. Die Einleitung des Verfahrens 1. Das Verfahren nach Art 144 B-VG wird durch eine Beschwerde eingeleitet. Die 1036 zwingend schriftlich einzureichende Beschwerdeschrift muss den allgemeinen Erfordernissen der §§ 15 ff VfGG entsprechen; weitere notwendige Form- und Inhaltserfordernisse finden sich in den §§ 82 ff VfGG. Daraus ergeben sich die folgenden Anforderungen an eine entsprechende Beschwerdeschrift: . Berufung auf Art 144 B-VG (§ 15 Abs 2 VfGG); È rde, die den Bescheid erlas. die Bezeichnung des angefochtenen Bescheids und der Beho sen hat (belangte BehoÈrde; § 82 Abs 2 VfGG); . eine Darstellung des Sachverhalts (§ 15 Abs 2 iVm § 82 Abs 2 VfGG); . eine entsprechende Beschwerdebehauptung (Behauptung der Verletzung durch den Bescheid in einem verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Recht oder der Rechtsverletzung wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm) (Art 82 Abs 2 VfGG); . Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Bescheids (Art 82 Abs 2 VfGG); . die Angaben, die erforderlich sind, um zu beurteilen, ob die Beschwerde rechtzeitig eingebracht ist, insb das Datum, an dem der Bescheid zugestellt wurde (§ 82 Abs 2 und 3 VfGG); . allfaÈllige weitere AntraÈge (Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung, Kostenersatz, Abtretung an den VwGH) (§ 15 Abs 2 VfGG); . eine entsprechende Begru È ndung der Beschwerde (die das VfGG aber nicht zwingend vorschreibt); . anzuschlieûen ist der angefochtene Bescheid (§ 82 Abs 3 VfGG); . ggf kann die Beilage eines StaatsbuÈrgerschaftsnachweises erforderlich sein (bei InlaÈndergrundrechten);
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. Nachweis der BevollmaÈchtigung und Unterschrift eines Rechtsanwalts (§ 17 Abs 2 VfGG); . Nachweis der Entrichtung der Eingabengebu È hr (§ 17a VfGG).
Die Beschwerdeschrift einschlieûlich der Beilagen ist in so vielen Ausfertigungen vorzulegen, dass jeder Partei des Verfahrens ein Exemplar zugestellt werden kann. È rde vorzuDaher wird regelmaÈûig eine weitere Ausfertigung fu È r die belangte Beho legen sein; gibt es mitbeteiligte Parteien ist die entsprechende Anzahl weiterer Ausfertigungen erforderlich. Fehlt eines der Mindesterfordernisse einer Eingabe (vgl Rz 1016), wird die Beschwerde zuru È ckgewiesen; bei sonstigen MaÈngeln (zB keine Angaben zur Zustellung des Bescheids) wird die Beschwerde zur Verbesserung zuru È ckgestellt. 1037 2. Die Beschwerdefrist betraÈgt sechs Wochen, gerechnet ab Zustellung des letztinstanzlichen Bescheids. Die Beschwerde kann auch erhoben werden, bevor der Bescheid dem Bf zugestellt oder verku È ndet worden ist. Fu È r das Verfahren vor dem VfGH gilt der Bescheid als an dem Tag zugestellt, an dem der Bf von seinem Inhalt Kenntnis erlangt hat (§ 82 Abs 1a VfGG). Das kann bei Mehrparteienverfahren eine Rolle spielen, in denen der Bescheid schon einer Partei (aber nicht dem Bf) zugestellt wurde. 1038 3. Der Beschwerde nach Art 144 B-VG kommt von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung zu, dh der angefochtene Bescheid kann vollstreckt oder sonstwie vollzogen werden. Auf Antrag hat der VfGH der Beschwerde aber die aufschiebende Wirkung (aW) zuzuerkennen (§ 85 Abs 2 VfGG), È ffentliche Interessen entgegenstehen und . wenn dem nicht zwingende o wenn . nach AbwaÈgung aller beru È hrten Interessen mit dem Vollzug oder mit der Ausu È bung der mit Bescheid eingeraÈumten Berechtigung durch einen Dritten fu È r den Bf ein unverhaÈltnismaÈûiger Nachteil verbunden waÈre. 1039 Die Regelung u È ber die Zuerkennung der aW einer Beschwerde nach Art 144 B-VG entspricht derjenigen bei einer Parteibeschwerde an den VwGH; auch hier kommt sie nur in Betracht, wenn der Bescheid einem Vollzug zugaÈnglich ist (vgl Rz 945). Auch im VfGH-Verfahren hat der Einzelne einen Rechtsanspruch auf Zuerkennung der aW; es kann der Antrag schon mit dem Beschwerdeschriftsatz oder in einem nachtraÈglichen Schriftsatz eingebracht werden. Wenn der VfGH nicht versammelt ist, wird die Zuerkennung der aW auf Antrag des Referenten vom PraÈsidenten ausgesprochen (§ 85 Abs 4 VfGG). Im Fall der Zuerkennung der aW hat die BehoÈrde den Vollzug des angefochtenen Bescheids aufzuschieben; der durch den Bescheid Berechtigte darf diese Berechtigung nicht ausu È ben (§ 85 Abs 3 VfGG). È ber die Zuerkennung der aW gibt es eine kasuistische Judikatur. Zwingende o U È ffentliche Interessen stehen der Zuerkennung der aW etwa entgegen: wenn Gefahren fu È r das Leben und die Gesundheit von Menschen drohen, bei der Entziehung einer Lenkerberechtigung nach Begehung eines Alkoholdelikts, wenn ein zwingendes Verkehrsbedu È rfnis zu befriedigen ist usw. Stehen der aW keine zwingenden oÈffentlichen Interessen entgegen, sind alle beru È hrten Interessen miteinander abzuwaÈgen. Bei Geldstrafen wird im Allgemeinen die aW nicht bewilligt, wohl aber bei Freiheitsstrafen. Bei Steuerbescheiden wird in der Regel die aW bewilligt, wenn die Steuerschuld besonders hoch und ihre Einbringlichkeit nicht gefaÈhrdet ist. Bei Nachbarbeschwerden gegen eine Baubewilligung wird die aW in der Regel nicht gewaÈhrt. Wie der VwGH geht auch der VfGH davon aus, dass die aW nur bei vollzugsfaÈhigen Bescheiden zuerkannt werden kann (daher zB nicht bei Abweisung eines Ansuchens um Nachsicht von Steuern) und einem Bf durch die Zuerkennung der aW keine Rechtsstellung vermittelt werden darf, die er vor Erlassung des angefochtenen Bescheids nicht hatte (zB Zuerkennung einer Aufenthaltsberechtigung). Auch die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen hat der VfGH im Hinblick auf die aW in der gleichen Weise zu beachten, wie sie beim VwGH dargestellt wurden (vgl Rz 946).
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40.5.5. Die Ablehnung der Beschwerde nach Art 144 Abs 2 B-VG 1. Der steigende Anfall von Beschwerden, der in den vergangenen Jahrzehnten 1040 mehrmals dramatische Ausmaûe annahm und zu erheblichen Entscheidungsru È ckstaÈnden fu È hrte, veranlasste den Verfassungsgesetzgeber zu Maûnahmen der ¹Entlastungª des Gerichtshofs. Zu diesem Zweck wurde die MoÈglichkeit der Ablehnung von Beschwerden eingefu È hrt, die entweder wenig Aussicht auf Erfolg haben oder keine spezifischen verfassungsrechtlichen Fragen aufwerfen. Um eine Verku È rzung des Rechtsschutzes zu vermeiden ist eine Ablehnung allerdings nur in den FaÈllen zulaÈssig, in denen der VwGH angerufen werden kann. Im Ergebnis zielt die Ablehnungsbefugnis daher auf eine gewisse Verlagerung des Rechtsschutzes gegen Verwaltungsakte hin zum VwGH. 2. Nach Art 144 Abs 2 B-VG kann der VfGH die Behandlung einer Beschwerde 1041 durch Beschluss ablehnen, wenn . die Beschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (1. Ablehnungstatbestand) oder . von der Entscheidung die KlaÈrung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (2. Ablehnungstatbestand). Eine Ablehnung wegen Aussichtslosigkeit (1. Ablehnungstatbestand) kommt dann 1042 in Betracht, wenn vor dem Hintergrund der stRspr des VfGH eine Verletzung des geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechts oder eines anderen Grundrechts als so wenig wahrscheinlich erscheint, dass die Beschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Wegen Aussichtslosigkeit kann auch eine Beschwerde nach Art 144 Abs 1 B-VG 2. Fall abgelehnt werden, in welcher Bedenken gegen ein Gesetz oder eine VO vorgetragen werden (Normbedenken); dies ist vor allem dann zu erwarten, wenn die bekaÈmpfte generelle Norm schon einmal vom VfGH gepru È ft wurde und dieser die geltend gemachten Bedenken verworfen hat. Wegen fehlender verfassungsrechtlicher Relevanz (2. Ablehnungstatbestand) 1043 kann eine Beschwerde abgelehnt werden, wenn Bedenken geltend gemacht werden, die auch unter dem Aspekt einer einfachgesetzlichen Rechtswidrigkeit genauso gut vom VwGH gepru È ft werden koÈnnen. Dies ist bei allen jenen Grundrechten der Fall, bei denen der VfGH nur eine ¹Grobpru È fungª (vgl dazu Rz 1059) vornimmt: Wenn daher zB gegen einen Enteignungsbescheid vorgebracht wird, dass er auf einer grob unrichtigen Rechtsansicht beruht (was auf eine DenkunmoÈglichkeit und damit auf eine Verletzung von Art 5 StGG hinauslaufen koÈnnte), kann diese moÈgliche Rechtswidrigkeit auch vom VwGH wahrgenommen werden, wenn er den Bescheid im Hinblick auf eine einfachgesetzliche Rechtswidrigkeit pru È ft; daher waÈre mit der Behandlung dieser Beschwerde eine KlaÈrung einer spezifisch verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten und der VfGH kann ihre Behandlung ablehnen. Bei Grundrechten, bei denen der VfGH eine ¹Feinpru È fungª vornimmt (zB Vereins- und Versammlungsrecht), kommt eine Ablehnung unter diesem Aspekt nicht in Betracht, weil hier einfache Rechtswidrigkeiten immer in die VerfassungssphaÈre hineinreichen. Vergleichbares gilt, wenn der Bf Normbedenken geltend macht (Art 144 Abs 1 B-VG 2. Fall), da ihre Behandlung immer von verfassungsrechtlicher Relevanz ist. Solche Beschwerden koÈnnen daher nur wegen Aussichtslosigkeit abgelehnt werden. Die Bedeutung des zweiten Ablehnungstatbestands macht die vom VfGH standardmaÈûig verwendete Begru È ndung deutlich: ¹Der VfGH kann die Behandlung einer Beschwerde in einer nicht von der ZustaÈndigkeit des VwGH ausgeschlossenen Angelegenheit ablehnen, wenn von der Entscheidung die KlaÈrung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist. Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maûgebenden Fragen spezifisch verfas-
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Teil III. Die Kontrolle der Staatsgewalt
È berlegungen nicht erforderlich sind. Die Beschwerde ru sungsrechtliche U È gt die Verletzung des ... [zB des Gleichheitsgrundsatzes, des Grundrechts auf den gesetzlichen Richter, der Eigentumsgarantie]. Die geru È gten Rechtsverletzungen waÈren im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer ± allenfalls ± grob unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfasÈ berlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzusungsrechtliche U stellen. Die Sache ist auch nicht von der ZustaÈndigkeit des VwGH ausgeschlossen. DemgemaÈû wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde abzusehen und sie gem Art 144 Abs 3 B-VG dem VwGH abzutreten.ª
1044 3. Eine Ablehnung ist ausgeschlossen, wenn es sich um einen Fall handelt, der gemaÈû Art 133 B-VG von der ZustaÈndigkeit des VwGH ausgeschlossen ist. Dadurch ist sichergestellt, dass sich jedenfalls einer der GerichtshoÈfe des o È ffentlichen Rechts meritorisch mit der Beschwerde befasst. Man spricht hier von so genannten ¹ablehnungsfesten Beschwerdenª; ablehnungsfest sind vor allem Beschwerden gegen die Bescheide von KollegialbehoÈrden mit richterlichem Einschlag nach Art 133 Z 4 B-VG (zB kollegiale GrundverkehrsbehoÈrden) oder Beschwerden, die sich auf Grundrechte stu È tzen, bei denen der VfGH eine ¹Feinkontrolleª vornimmt (was ebenfalls zum Ausschluss der ZustaÈndigkeit des VwGH fu È hrt). 1045 4. Die Entscheidung u È ber die Ablehnung einer Beschwerde bedarf der Einstimmigkeit. Wenn der VfGH die Behandlung einer Beschwerde ablehnt, kann diese an den VwGH abgetreten werden. Eine solche Abtretung nimmt der VfGH auf Antrag des Bf vor, wobei dieser Abtretungsantrag entweder sogleich mit der Beschwerde oder innerhalb von 14 Tagen nach Zustellung des Ablehnungsbeschlusses eingebracht werden kann (§ 87 Abs 3 VfGG). Nach der Praxis des VfGH kann eine Abtretung selbst dann erfolgen, wenn die ZulaÈssigkeit der Beschwerde fraglich ist. 40.5.6. Die Pru È fung der Prozessvoraussetzungen Zum Begriff der Prozessvoraussetzungen vgl oben Rz 951. Die wichtigsten UmstaÈnde, die zur Zuru È ckweisung einer Beschwerde fu È hren, sind in § 19 Abs 3 VfGG aufgezaÈhlt. Es handelt sich um die folgenden Prozessvoraussetzungen: 1046 . ZustaÈndigkeit des VfGH (§ 19 Abs 3 Z 2 lit a VfGG): Die ZustaÈndigkeit des VfGH zur Behandlung von Beschwerden ist dann gegeben, wenn ein letztinstanzlicher Bescheid einer VerwaltungsbehoÈrde vorliegt und der Bf behauptet, dass er in einem verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Recht oder durch die Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in einem sonstigen Recht verletzt wurde. Ist daher zB der Instanzenzug nicht erscho È pft worden oder handelt es sich um eine Form des Verwaltungshandelns, auf welche die Merkmale eines hoheitlichen Bescheids nicht zutreffen (zB bloûe Belehrungen einer BehoÈrde, VO, privatwirtschaftliches Handeln, Maûnahmen der Befehls- und Zwangsgewalt), ist die Beschwerde wegen UnzustaÈndigkeit zuru È ckzuweisen. Sie ist ebenfalls zuru È ckzuweisen, wenn weder die Verletzung verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteter Rechte noch eine Verletzung in Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm behauptet wird. 1047 . Einhaltung der Beschwerdefrist (§ 19 Abs 3 Z 2 lit b VfGG): Zuru È ckzuweisen sind Beschwerden, die nach Ablauf der sechswoÈchigen Beschwerdefrist ab Zustellung (Verku È ndigung) des Bescheids eingebracht wurden. 1048 . Beschwerdelegitimation (§ 19 Abs 3 lit e VfGG): Beschwerdelegitimiert vor dem VfGH sind die Parteien des vorangegangenen Verwaltungsverfahrens. Der Bf muss auûerdem TraÈger des Rechts sein, das er vor dem VwGH geltend macht. Dabei muss der Bf nur die Verletzung dieses Rechts behaupten; er ist legitimiert, wenn die Richtigkeit dieser Behauptung moÈglich ist (VfSlg 9002/1980,
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14.954/1997). Ob der Bf in dem geltend gemachten Recht tatsaÈchlich verletzt wurde, ist Sache der meritorischen Entscheidung. Wenn daher die Verletzung subjektiver Rechte gar nicht moÈglich ist oder nur die Rechte dritter Personen betroffen sind, ist die Beschwerde mangels Legitimation zuru È ckzuweisen (so ist zB ein Ehepartner nicht legitimiert gegen das gegenu È ber dem anderen Partner erlassene Aufenthaltsverbot Beschwerde zu fu È hren; VfSlg 14.335/1993). Ist das Rechtssubjekt bereits untergegangen, kann eine Beschwerde nicht mehr erhoben werden; im Fall der rechtskraÈftigen AufloÈsung eines Vereins sind daher zur Beschwerde nur die ehemaligen Vereinsmitglieder, nicht aber der aufgeloÈste Verein selbst legitimiert. Bilden mehrere Personen eine Verwaltungsverfahrensgemeinschaft (etwa indem mehrere Personen, die sich um die Stelle eines Schuldirektors beworben haben, in einen bindenden Besetzungsvorschlag aufgenommen werden), kommt allen die Parteistellung und damit auch die Beschwerdelegitimation zu (vgl zB VfSlg 12.782/1991).
. Partei- und ProzessfaÈhigkeit: Die Partei- und ProzessfaÈhigkeit des Bf richtet 1049 sich nach den Bestimmungen des bu È rgerlichen Rechts (§§ 1 ff ZPO iVm § 35 VfGG). Einer Gesellschaft nach bu È rgerlichem Recht fehlt zB die ParteifaÈhigkeit, weil sie nicht juristische Person ist; ebenso fehlt die ParteifaÈhigkeit einem rechtskraÈftig aufgeloÈsten Verein. . Nichtvorliegen von res iudicata (§ 19 Abs 3 lit d VfGG): Die Einwendung der 1050 entschiedenen Sache liegt vor, wenn der VfGH in derselben Sache bereits einmal entschieden hat, also eine Beschwerde abgewiesen hat. . Einhaltung der Form- und Inhaltserfordernisse einer Beschwerde (§ 19 1051 Abs 3 lit c VfGG): Weist eine Beschwerdeschrift behebbare FormmaÈngel auf, wird sie zur Verbesserung zuru È ckgestellt; wird dem Verbesserungsauftrag nicht fristgerecht Rechnung getragen, wird die Beschwerde wegen des nicht behobenen Mangels eines formellen Erfordernisses zuru È ckgewiesen. Zu den nicht verbesserungsfaÈhigen Mindesterfordernissen einer Beschwerde vgl Rz 1016. . Beschwer (Rechtsschutzbedu È rfnis): Vereinzelt hat der VfGH Beschwerden 1052 auch wegen fehlender Beschwer zuru È ckgewiesen. Ein solcher Fall liegt dann vor, wenn der Bf bei Aufhebung des Bescheids nicht besser gestellt waÈre, also wenn die Beschwerde zB nur zur Austragung theoretischer Kontroversen an den Gerichtshof herangetragen wurde (VfSlg 8951/1980); eine Beschwerde ist ferner unzulaÈssig, wenn es ausgeschlossen ist, dass ein Bf durch den Bescheid u È berhaupt belastet wurde (was etwa dann der Fall ist, wenn durch den Bescheid einem Antrag der Partei vollinhaltlich stattgegeben oder durch einen Berufungsbescheid einem Berufungsbegehren voll Rechnung getragen wurde). Liegt ein Prozesshindernis vor, dh fehlt eine der angefu È hrten Prozessvoraussetzun- 1053 gen, wird die Beschwerde in nichtoÈffentlicher Sitzung durch Beschluss zuru È ckgewiesen; diese Entscheidung erfolgt in der Regel in ¹kleiner Besetzungª (dh im kleinen Senat; vgl oben Rz 1012). Wird die Beschwerde zuru È ckgezogen oder wurde der Bf klaglos gestellt, kommt es 1054 zu einer Einstellung des Verfahrens, die ebenfalls durch Beschluss ausgesprochen wird. Wenn eine Parallelbeschwerde eingebracht wurde (vgl dazu oben Rz 1028) und der VwGH den Bescheid aufhebt, wird das Verfahren vor dem VfGH ebenfalls eingestellt. 40.5.7. Das Vorverfahren Wenn die Beschwerde weder zuru È ckgewiesen wird noch das Verfahren einzustellen 1055 ist, leitet der VfGH das Vorverfahren ein. In diesem Verfahrensabschnitt fordert der zustaÈndige Referent zunaÈchst die belangte BehoÈrde auf eine Gegenschrift zu er-
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statten. Gleichzeitig wird die BehoÈrde aufgefordert alle die Sache betreffenden Akten vorzulegen. Die Beschwerde ist auûerdem allfaÈlligen mitbeteiligten Parteien zuzustellen, die sich zur Beschwerde Èauûern koÈnnen. Zur Vorbereitung der meritoriÈ uûerungen schen Entscheidung kann den Parteien auch die Erstattung weiterer A und GegenaÈuûerungen freigestellt werden. Nach Abschluss des Vorverfahrens wird entweder eine mu È ndliche Verhandlung anberaumt, was nur ausnahmsweise der Fall ist; ansonsten bereitet der Referent einen Erledigungsentwurf vor.
40.5.8. Die Pru È fung des Bescheids 1056 1. In der Hauptsache hat der VfGH zu pru È fen, ob die geltend gemachte Rechtsverletzung vorliegt oder nicht. Dabei ist der Umfang seiner Pru È fung unterschiedlich, je nachdem ob ein Bf die Verletzung verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteter Rechte (Art 144 Abs 1 B-VG 1. Fall) oder die Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm (Art 144 Abs 1 B-VG 2. Fall) geltend gemacht hat. a) Wenn in einer Beschwerde die Verletzung von verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechten geltend gemacht wurde, nimmt der VfGH eine umfassende Pru È fung vor, ohne sich auf das konkret geltend gemachte Recht zu beschraÈnken. Ein Bescheid kann daher zB wegen Gleichheitswidrigkeit aufgehoben werden, auch wenn der Bf dieses Grundrecht gar nicht angesprochen und nur die Verletzung eines anderen verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechts (zB Eigentum) geltend gemacht hat. b) Wurde die Beschwerde ausschlieûlich mit Normbedenken begru È ndet, beschraÈnkt sich der È berpru VfGH auf die U È fung der VerfassungsmaÈûigkeit bzw GesetzmaÈûigkeit der fraglichen generellen Norm. Wenn die behauptete Rechtswidrigkeit nicht vorliegt, nimmt der Gerichtshof daher keine weitere Pru È fung im Hinblick auf die allfaÈllige Verletzung verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteter Rechte vor (VfSlg 15.432/1999). Um den moÈglichen Pru È fungsumfang nicht einzuengen, wird daher in der Praxis neben der Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm regelmaÈûig auch die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechten geltend gemacht. c) Bei der Pru È fung in keiner Weise È fung eines Bescheids ist der VfGH in der Sachverhaltspru beschraÈnkt und insbesondere ± anders als der VwGH ± auch nicht an den von der BehoÈrde angenommenen Sachverhalt gebunden (volle Kognitionsbefugnis). Daher kann der Gerichtshof auch selbst Beweise aufnehmen.
1057 2. Besondere Fragen wirft die Pru È fung von Bescheiden wegen der behaupteten Verletzung von verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechten (Grundrechten) im Hinblick auf die Abgrenzung der ZustaÈndigkeiten von VwGH und VfGH auf. An sich koÈnnte man davon ausgehen, dass jeder gesetzwidrige Verwaltungsakt auch das entsprechende Grundrecht verletzt: Wenn entgegen den Bestimmungen eines zur Enteignung ermaÈchtigenden Gesetzes eine Enteignung verfu È gt wird, handelt es sich eben nicht mehr um einen Eigentumseingriff ¹in den FaÈllen und in der Artª, welche ¹das Gesetz bestimmtª (Art 5 StGG), so dass von einem verfassungswidrigen Grundrechtseingriff auszugehen waÈre. Jeder Verstoû gegen eine Verfahrensvorschrift oder jede materielle Rechtswidrigkeit des Enteignungsbescheids mu È sste dementsprechend auf eine Verfassungswidrigkeit hinauslaufen. Dieser Konsequenz steht nun allerdings die dem B-VG zu Grunde liegende Aufgabenverteilung zwischen der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Verfassungsgerichtsbarkeit entgegen. Denn wenn jede einfache Gesetzwidrigkeit zur Annahme einer Verfassungswidrigkeit fu È nnte, wu È hren ko È rde die Kompetenz des VwGH ausgehoÈhlt, u È ber die Rechtswidrigkeit von Bescheiden unter dem Gesichtspunkt der behaupteten Verletzung einfachgesetzlich gewaÈhrleisteter subjektiver Rechte zu entscheiden (Art 131 B-VG). Eine Verletzung von Verfahrensvorschriften oder von sonstigen einfachgesetzlichen Bestimmungen kann daher auch im Fall der Beru È hrung eines Grundrechts nicht als Verfassungswidrigkeit gedeutet werden, die
2. Kapitel: Die Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts und die unabhaÈngigen Verwaltungssenate 285 nach Art 133 Z 1 B-VG die ZustaÈndigkeit des VwGH beseitigen wu È rde. Vielmehr muss die ZustaÈndigkeit des VfGH bei Bescheidbeschwerden auf die Verletzung ¹spezifischen Verfassungsrechtsª eingeschraÈnkt werden, was mit anderen Worten darauf hinauslaÈuft, dass ein Grundrecht nicht schon im Fall einer einfachen Gesetzwidrigkeit verletzt wird, sondern nur dann, wenn die Rechtswidrigkeit ¹in die VerfassungssphaÈre reichtª.
3. Die schwierige und in vielen FaÈllen gar nicht eindeutig vorzunehmende Abgren- 1058 zung zwischen ¹einfachen Gesetzwidrigkeitenª und den ¹in die VerfassungssphaÈre reichenden Gesetzwidrigkeitenª versucht der VfGH mit den so genannten ¹Spruchformelnª vorzunehmen. Sie umschreiben bezogen auf das jeweilige Grundrecht die FaÈlle, in denen eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts anzunehmen ist. Auf die bei den einzelnen Grundrechten maûgeblichen ¹Spruchformelnª wird bei der Behandlung der Grundrechte hingewiesen. Hier werden nur ihre allgemeine Struktur und vor allem die wichtige Unterscheidung zwischen einer ¹Grobpru È fungª eines Bescheids und seiner ¹Feinpru È fungª behandelt. a) Bei Grundrechten, die unter einem Eingriffsvorbehalt stehen (zB Eigentum, 1059 Erwerbsfreiheit), geht der VfGH von einer Verletzung des Grundrechts durch einen Bescheid aus, wenn . der Bescheid gesetzlos ist, . wenn er auf Grund einer rechtswidrigen generellen Norm erlassen wurde oder . wenn der BehoÈrde eine ¹denkunmoÈglicheª Gesetzesanwendung vorzuwerfen ist, wobei der VfGH ¹DenkunmoÈglichkeitª auch dann annimmt, wenn die BehoÈrde dem Gesetz faÈlschlich einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt. Im Anwendungsbereich dieser ¹Formelª, dh bei Grundrechten unter Gesetzesvorbehalt (im Sinn eines ¹Eingriffsvorbehaltsª; vgl dazu Rz 1287), nimmt der VfGH eine so genannte ¹Grobpru È fungª des Bescheids vor. Das bedeutet, dass er nicht jede Rechtswidrigkeit aufgreift, sondern nur jene qualifizierten Rechtswidrigkeiten, die mit der dreigliedrigen Formel umschrieben werden. Dabei bezeichnet der Vorwurf der ¹denkunmoÈglichenª Rechtsanwendung FaÈlle einer besonders schwer wiegenden Rechtswidrigkeit, die entweder einer Gesetzlosigkeit gleichzuhalten ist oder die auf einen Verstoû gegen das Gebot der verfassungskonformen Interpretation hinauslaÈuft. Die drei angefu È hrten FaÈlle einer ¹qualifizierten Rechtswidrigkeitª haÈngen systematisch eng zusammen: Weil nur auf der Grundlage eines fo È rmlichen Gesetzes in eine grundrechtliche Freiheit eingegriffen werden darf, stellt der gesetzlose Eingriff jedenfalls eine Verfassungswidrigkeit dar. Ihm gleichzuhalten ist der Eingriff, der auf ein verfassungswidriges Gesetz gestu È tzt wird, weil ein solcher Verwaltungsakt nach Aufhebung des verfassungswidrigen Gesetzes ebenfalls einen Fall des gesetzlosen Eingriffs darstellt. Dass sich auch die ¹denkunmoÈgliche Gesetzesanwendungª zumindest dem Ansatz nach in dieses Schema einfu È gt, zeigt das urspru È ngliÈ glichkeitª, worunter der VfGH die einer Gesetzlosigkeit che VerstaÈndnis der ¹Denkunmo gleichzuhaltenden Rechtswidrigkeiten verstanden hat: Wenn ein Gesetz auf einen Fall u È berhaupt nicht anwendbar ist oder nur zum Schein angewendet wird, dann ist dieser Fall tatsaÈchlich wie ein gesetzloser Eingriff zu qualifizieren. In der weiteren Entwicklung wurde die Kategorie der ¹denkunmoÈglichen Rechtsanwendungª freilich auf alle unvertretbaren Rechtsanwendungen erweitert bis hin zur gegenwaÈrtigen Auffassung des VfGH, dass auch VerstoÈûe gegen das Gebot der verfassungskonformen Interpretation (haÈtte das Gesetz tatsaÈchlich den unterstellten Inhalt, so erschiene es verfassungswidrig) einen Fall der DenkunmoÈglichkeit darstellen. Im Ergebnis laÈuft das darauf hinaus, dass der VfGH auch Bescheide wegen qualifizierter Rechtswidrigkeit aufheben kann, wenn er nur eine andere (verfassungskonforme) Interpretation fu È r geboten erachtet als die belangte BehoÈrde bzw der VwGH oder wenn die BehoÈrde eine (nach Ansicht des VfGH gebotene) InteressenabwaÈgung nicht oder fehlerhaft vorgenommen hat. Damit wird die ¹DenkunmoÈglichkeitª zur Einfallspforte fu È r das Aufgreifen von Rechtswidrigkeiten, die man an und fu È r sich auch als ¹einfache Gesetzwidrigkeitenª qualifizieren ko È nnte, welche ausschlieûlich eine ZustaÈndigkeit des VwGH begru È nden wu È rden.
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1060 b) Bei Grundrechten, die nach Ansicht des VfGH unter einem so genannten ¹Ausgestaltungsvorbehaltª stehen, verletzt jeder Verstoû gegen das (nicht im Verfassungsrang stehende) Ausfu È hrungsgesetz auch das Grundrecht. Das gilt vor allem fu Èr die Grundrechte der Vereins- und Versammlungsfreiheit mit der Konsequenz, dass jede bescheidfoÈrmige Verletzung des (einfachgesetzlichen) VerG oder des VersG auf eine Verfassungswidrigkeit hinauslaÈuft. Sie ist ausschlieûlich im Verfahren der Bescheidbeschwerde nach Art 144 B-VG vor dem VfGH geltend zu machen; dem VwGH kommt (von der Geltendmachung von verfahrensrechtlichen Anspru È chen abgesehen) in diesen Angelegenheiten keine ZustaÈndigkeit zu. Man kann daher auch sagen, dass in diesen FaÈllen der VfGH eine Kompetenz zur ¹Feinpru È fungª in Anspruch nimmt, weil bei ihnen auch ¹einfache Gesetzwidrigkeitenª als VerstoÈûe gegen spezifisches Verfassungsrecht angesehen werden und der Kognition des VfGH unterliegen (zur Vereins- und Versammlungsfreiheit vgl noch unten Rz 1511 und 1527). 1061 c) Bei den vorbehaltlosen Grundrechten ist in der Judikatur des VfGH keine ganz klare Linie erkennbar. Man koÈnnte davon ausgehen, dass bei diesen Grundrechten jeder Eingriff wegen der Vorbehaltlosigkeit verfassungswidrig ist (zB VfSlg 3565/ 1959). In seiner Rspr zur Kunst- und Wissenschaftsfreiheit geht der VfGH freilich einen anderen Weg, weil er diese Grundrechte dann als beschraÈnkbar ansieht, wenn die Schranke durch ein allgemeines Gesetz verfu È gt wird (vgl Rz 1320). Unter Zugrundelegung dieser Judikatur verletzt ein Bescheid dann ein vorbehaltlos gewaÈhrleistetes Grundrecht, wenn . der Bescheid gesetzlos ist, . wenn er auf Grund eines verfassungswidrigen Gesetzes erlassen wurde, wobei ein ¹besonderesª Gesetz im Schutzbereich eines vorbehaltlosen Grundrechts jedenfalls verfassungswidrig ist, oder . wenn die BehoÈrde dem Gesetz einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt oder die verfassungsrechtlich gebotene AbwaÈgung mit dem Grundrecht nicht vornimmt. Im Ergebnis nimmt daher der Gerichtshof auch bei diesen Grundrechten nur eine ¹Grobpru È fungª vor, weil Bescheide, die in verfassungskonformer Weise ein allgemeines Gesetz konkretisieren, nicht in die VerfassungssphaÈre reichen. 1062 4. Hat der VfGH einen Bescheid zu pru È fen, der bereits (im Wege einer Parallelbeschwerde) vom VwGH gepru È ft wurde, oder entscheidet der VfGH u È ber einen Ersatzbescheid, der nach einer aufhebenden Entscheidung durch den VwGH ergangen ist, stellt sich die Frage, ob der VfGH an die Entscheidung des VwGH gebunden ist. Im Prinzip ist von einer solchen Bindung auszugehen, wobei sich das Ausmaû der Bindung nach der Judikatur des VfGH freilich kompliziert darstellt. Hat der VwGH die Bescheidbeschwerde abgewiesen, erachtet sich der VfGH zur selbstaÈndigen Pru È fung befugt (er pru È ft also den Bescheid etwa noch unter dem Aspekt der DenkunmoÈglichkeit auf ¹grobeª Rechtswidrigkeiten, auch wenn der VwGH bereits seine RechtmaÈûigkeit festgestellt hat); er kann auch Normbedenken aufgreifen, selbst wenn der VwGH keinen Anlass zur Einleitung eines Gesetzes- oder Verordnungspru È fungsverfahrens gesehen hat (VfSlg 7261/1974). Bei der Pru È fung von Ersatzbescheiden ist der VfGH an die Rechtsansicht des VwGH gebunden und hat den Bescheid an dessen Rechtsansicht zu messen. Trotzdem kann der VfGH auch in einem solchen Fall zu einem abweichenden Ergebnis kommen, weil er fu Èr die Pru È fung der VerfassungskonformitaÈt der vom VwGH vertretenen Auslegung zustaÈndig ist. Im Licht einer verfassungskonformen Interpretation kann der VfGH daher uU dem Gesetz einen anderen Inhalt beimessen, als er sich aus der vorhergehenden Entscheidung des VwGH ergibt (VfSlg 14.071/1995).
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40.5.9. Die Entscheidung im Bescheidbeschwerdeverfahren 1. Wurde der Bf in dem geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten 1063 Recht verletzt, hebt der VfGH den Bescheid der VerwaltungsbehoÈrde in seinem Erkenntnis auf. Ansonsten wird die Beschwerde abgewiesen. Das stattgebende Erkenntnis des VfGH hat daher (nur) kassatorische Wirkung. Der Bescheid ist aufgehoben und die Rechtssache tritt in die Lage zuru È ck, in der sie sich vor Erlassung des aufgehobenen Bescheids befunden hat. In der Folge hat die belangte BehoÈrde unverzu È glich mit den ihr zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln den der Rechtsanschauung des VfGH entsprechenden Rechtszustand herzustellen (§ 87 Abs 2 VfGG). In der Regel wird die BehoÈrde daher einen Ersatzbescheid zu erlassen haben, wobei sie an die Rechtsauffassung des VfGH gebunden ist. Die Nichtbeachtung dieser Bindungswirkung belastet den Ersatzbescheid mit einer Verfassungswidrigkeit. Die Bindung besteht freilich nur bei unveraÈnderter Sach- und Rechtslage; hat sich die Rechtslage geaÈndert (zB Novellierung eines Gesetzes), darf und muss die BehoÈrde den Ersatzbescheid auf dieser geaÈnderten Rechtsgrundlage erlassen. 2. Neben der Erlassung eines entsprechenden Ersatzbescheids ist die BehoÈrde auch 1064 zur Beseitigung der Folgen des verfassungswidrigen Bescheids verpflichtet (Folgenbeseitigungsanspruch; zB Ru È ckzahlung eines zu Unrecht eingehobenen Strafbetrags, Ausfolgung beschlagnahmter GegenstaÈnde, Leistung eines Èaquivalenten Ersatzes in Geld, wenn eine Ru È ckgabe nicht mehr moÈglich ist). 3. Besonderheiten gelten, wenn der VfGH aus Anlass einer Beschwerde nach Art 144 1065 B-VG von Amts wegen ein Gesetzes- oder VO-Pru È fungsverfahren eingeleitet hat. Man spricht in einem solchen Fall von einem inzidenten Normpru È fungsverfahren (dh von einer aus Anlass eines anderen Verfahrens eingeleiteten Normenkontrolle; vgl Rz 1085). Im Hinblick auf dieses Verfahren stellt das Bescheidpru È fungsverfahren den so genannten Anlassfall dar. a) Hat der Bf in seiner Beschwerde die Anwendung einer rechtswidrigen generellen 1066 Norm behauptet und schlieût sich der VfGH diesen Bedenken an oder sind dem Gerichtshof selbst entsprechende Bedenken gekommen, wird von Amts wegen ein Normenkontrollverfahren eingeleitet und das anhaÈngige Bescheidbeschwerdeverfahren mit Beschluss unterbrochen. Die Pru È fung erstreckt sich auf jene Normen, die im anhaÈngigen Verfahren praÈjudiziell sind (dazu Rz 1093 ff). Nach Abschluss des Gesetzes- oder VO-Pru È fungsverfahrens nimmt der VfGH das Bescheidbeschwerdeverfahren wieder auf und entscheidet dieses unter Beru È cksichtigung der Ergebnisse des Normenkontrollverfahrens. b) Hat der Gerichtshof eine praÈjudizielle Norm aufgehoben, wirkt diese Aufhebung grundsaÈtzlich nur pro futuro (vgl dazu Rz 1106), dh dass die verfassungswidrige Gesetzesbestimmung oder die gesetzwidrige VO fu È r bereits in der Vergangenheit verwirklichte Sachverhalte weiter anzuwenden ist. Im Fall des Anlassfalles ist die Aufhebung aber bereits wirksam (Art 140 Abs 7 B-VG), so dass das wieder aufgenommene ¹B-Verfahrenª anhand der bereinigten Rechtslage zu entscheiden ist. Das bedeutet, dass idR der angefochtene Bescheid, der auf einer verfassungsbzw gesetzwidrigen Rechtsgrundlage beruhte, als verfassungswidrig aufzuheben sein wird (¹ErgreiferpraÈmieª fu È r den Bf, der den Anstoû zum Normenkontrollverfahren gegeben hat). An sich mu È sste auch in einem solchen Fall der Bescheid noch umfassend anhand der durch die Aufhebung neu gestalteten Rechtslage gepru È ft werden, weil ja nicht auszuschlieûen waÈre, dass er trotzdem rechtmaÈûig ist. Der VfGH hebt in seiner Praxis den Bescheid aber ohne weitere Pru È fung immer schon dann wegen der Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes oder
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einer gesetzwidrigen VO auf, wenn es offenbar ist oder nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass die Anwendung der rechtswidrigen generellen Norm dem Bf zum Nachteil gereicht hat. Nur in EinzelfaÈllen kann es trotz Aufhebung einer generellen Norm zur Abweisung im Bescheidverfahren kommen, zB dann, wenn ein Anspruch auf eine staatliche Leistung geltend gemacht wird und die gesamte anspruchsbegru È ndende Regelung wegen Verfassungswidrigkeit wegfaÈllt. Wenn dagegen nur einzelne Bestimmungen (zB AusnahmetatbestaÈnde) aufgehoben werden, liegt wiederum ein Fall vor, in dem der VfGH mit Aufhebung des Bescheids vorgehen wu È rde, weil es nicht ausgeschlossen ist, dass die Anwendung der Norm dem Bf zum Nachteil gereicht hat.
1067 c) Beschwerden nach Art 144 B-VG, die AnlassfaÈlle sind, kommen in den Genuss der dargestellten ausnahmsweisen Ru È ckwirkung eines aufhebenden Erkenntnisses in einem Gesetzes- oder VO-Pru È fungsverfahren. Der darin liegende Vorteil wird klar, wenn man bedenkt, dass andere FaÈlle, die von den BehoÈrden auf der Grundlage der gleichen verfassungswidrigen Rechtslage entschieden wurden, nicht erfolgreich bekaÈmpft werden koÈnnen, weil sich die Wirkung des aufhebenden Erkenntnisses auf diese FaÈlle nicht erstreckt. Vor allem wenn der VfGH eine Frist fu È r das AuûerKraft-Treten eines Gesetzes (VO) festlegt (Art 139, 140 Abs 5 B-VG), haben solche Beschwerden keine Aussicht auf Erfolg, weil die Norm bis zum Ablauf der Frist nicht mehr angegriffen werden kann (vgl Rz 1109). Es ist daher bedeutsam, welche BeschwerdefaÈlle AnlassfaÈlle im Hinblick auf eingeleitete Verfahren der inzidenten Normenkontrolle sein koÈnnen: Nach der Judikatur sind das alle Beschwerden, die vor Beginn der mu È ndlichen Verhandlung im Normenkontrollverfahren eingebracht worden sind; kommt es zu keiner mu È ndlichen Verhandlung, dann sind es alle FaÈlle, die vor Beginn der Verhandlung beim VfGH eingelangt sind (so genannte Quasi-AnlassfaÈlle). Die Anlassfallwirkung kann auûerdem nach Art 140 Abs 7 B-VG erweitert werden, dh der Gerichtshof kann eine Ru È ckwirkung des aufhebenden Erkenntnisses anordnen (vgl dazu naÈher Rz 1107). Ob ein Bf in den Genuss der ¹ErgreiferpraÈmieª kommt, haÈngt daher davon ab, ob seine Beschwerde rechtzeitig eingebracht ist; Kenntnis u È ber die Anberaumung von mu È ndlichen Verhandlungen in anhaÈngigen Normenkontrollverfahren kann man u È ber die entsprechenden Verlautbarungen im Amtsblatt zur Wiener Zeitung oder auf der Homepage des VfGH erlangen.
40.5.10. Abtretung an den VwGH 1068 1. Wenn der VfGH zu der Auffassung kommt, dass der Bescheid gegen kein verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistetes Recht verstoÈût und auch nicht in Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm ergangen ist, kommt es zur Abweisung der Beschwerde. Diese Entscheidung bedeutet nicht, dass der Bf unter UmstaÈnden nicht doch in einem einfachgesetzlich gewaÈhrleisteten Recht verletzt sein kann; wenn zB der VfGH keine denkunmo È gliche und daher in die VerfassungssphaÈre reichende Rechtsverletzung annimmt, ist es immer noch moÈglich, dass der Bescheid mit einer einfachen Rechtswidrigkeit belastet ist, weil die BehoÈrde die maûgeblichen Rechtsvorschriften zwar nicht ¹denkunmoÈglichª, aber immerhin doch unrichtig ausgelegt hat. Diese Rechtsverletzung kann vor dem VwGH durch Bescheidbeschwerde nach Art 131 Abs 1 Z 1 B-VG geltend gemacht werden (vgl oben Rz 937 ff). Zur EroÈffnung des Rechtsweges vor den VwGH dient der Abtretungsantrag. Er kann entweder schon bei der Einbringung der Art 144 B-VG-Beschwerde beim VfGH eingebracht werden; er ist dann als Eventualantrag formuliert (naÈmlich entweder der Beschwerde stattzugeben oder sie an den VwGH abzutreten). Der Abtretungsantrag kann aber auch noch nach Abweisung der Beschwerde durch den VfGH eingebracht werden, und zwar innerhalb einer Frist von zwei Wochen nach Zustellung des Erkenntnisses des VfGH.
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2. Eine Abtretung kommt nicht in Betracht (und der entsprechende Abtretungsantrag ist vom VfGH zuru È ckzuweisen), wenn die Sache nach Art 133 B-VG von der ZustaÈndigkeit des VwGH ausgeschlossen ist. Wird daher zB ein Bescheid einer KollegialbehoÈrde mit richterlichem Einschlag beim VfGH angefochten, wird dieser einen Abtretungsantrag zuru È ckweisen, auûer es ist gesetzlich eine ZustaÈndigkeit des VwGH begru È ndet worden (vgl Rz 936). Gleiches gilt zB auch, wenn ein Bescheid in einer Angelegenheit des Vereins- oder Versammlungsrechts angefochten wurde, weil auch hier keine ZustaÈndigkeit des VwGH besteht. Wird eine Beschwerde an den VwGH abgetreten und entspricht diese nicht den Formvorschriften des VwGG, darf sie nicht zuru È ckgewiesen werden, sondern es ist ein MaÈngelbehebungsauftrag zu erteilen. Eine Abtretung kommt auch in Betracht, wenn der Bf die Verletzung eines verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechts geltend gemacht hat (VfSlg 14.436/1996).
40.5.11. Die Massenverfahren nach § 86a VfGG Um den VfGH in jenen FaÈllen zu entlasten, in denen dieselben Rechtsfragen in mas- 1069 senhaft erhobenen Beschwerden an den Gerichtshof herangetragen werden, hat der Gesetzgeber die schon zuvor fu È r den VwGH getroffene Regelung u È ber Massenverfahren auch auf den VfGH erstreckt (§ 86a VfGG). Danach kann auch der VfGH durch Beschluss bewirken, dass anhaÈngige Verwaltungsverfahren und die beim VfGH anhaÈngigen Beschwerdeverfahren vorlaÈufig nicht weiter verfolgt werden. Die anstehende Rechtsfrage wird sodann vom Gerichtshof entschieden, wobei sie der Gerichtshof in der Form eines Rechtssatzes zusammenfasst, der kundgemacht wird und in den unterbrochenen Verfahren anzuwenden ist (vgl zur gleichartigen Regelung des § 38a VwGG oben Rz 960).
40.6. Die Beschwerde gegen Entscheidungen des AsylGH (Art 144a B-VG) In Asylangelegenheiten ergehende Bescheide des Bundesasylamtes sind durch Be- 1070 schwerden an den AsylGH zu bekaÈmpfen. Gegen seine Entscheidungen eroÈffnet Art È glichkeit an den VfGH, wenn die Verletzung in ei144a B-VG eine Beschwerdemo nem verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Recht oder die Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm behauptet wird (Art 144a B-VG). Auf dieses Verfahren sind die Regelungen u È ber das Bescheidbeschwerdeverfahren anzuwenden (§ 88a VfGG). Eine Abtretung an den VwGH in den FaÈllen, in denen der VfGH die Behandlung solcher Beschwerden wegen Aussichtslosigkeit oder fehlender verfassungsrechtlicher Relevanz ablehnt (Art 144a Abs 2 B-VG), ist allerdings ausgeschlossen.
40.7. Das Gesetzespru È fungsverfahren nach Art 140 B-VG Nach Art 140 B-VG erkennt der VfGH u È ber die Verfassungswidrigkeit von Bundes- oder Landesgesetzen; er hat verfassungswidrige Gesetze aufzuheben bzw auszusprechen, dass ein bereits auûer Kraft getretenes Gesetz verfassungswidrig war (¹G-Verfahrenª). 40.7.1. Zur Bedeutung des Gesetzespru È fungsverfahrens 1. Mit der in Art 140 B-VG geregelten ZustaÈndigkeit des VfGH hat das B-VG ein rich- 1071 terliches Pru È fungsrecht gegenu È ber Gesetzen (¹judicial reviewª) vorgesehen und dieses Pru È fungsrecht zugleich beim VfGH konzentriert. Darin liegt eine bemer-
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kenswerte (und zur Zeit der Einfu È hrung des Gesetzespru È fungsrechts durch das B-VG des Jahres 1920 wegweisende) Systementscheidung unserer Verfassung: In erster Linie wird damit der Vorrang des Verfassungsrechts (also der ¹Norm der Normenª) auch gegenu È ber dem einfachen Gesetz gewaÈhrleistet und sichergestellt, dass Gesetze, die im Widerspruch zur Verfassung stehen, aufgehoben werden koÈnnen. Zugleich ergibt sich daraus aber auch, dass alle anderen Gerichte und VerwaltungsbehoÈrden an gehoÈrig kundgemachte Gesetze gebunden sind (vgl Art 89 Abs 2 B-VG), so dass sie auch Gesetze, die nach ihrer Ansicht verfassungswidrig sind, zunaÈchst anzuwenden haben. Bestimmte Gerichte und BehoÈrden koÈnnen aber (neben anderen Antragstellern) einen Antrag auf Gesetzespru È fung stellen; das Verwerfungsrecht selbst ist beim VfGH monopolisiert. 1072 2. Auf die politische Dimension des Gesetzespru È fungsrechts und das darin angelegte SpannungsverhaÈltnis zum Parlament ist schon hingewiesen worden (vgl Rz 996 f). An dieser Stelle soll nochmals daran erinnert werden, dass es sich auch bei der Pru È fung von Gesetzen auf ihre VerfassungsmaÈûigkeit um eine Form der Rechtsanwendung handelt, naÈmlich um die Interpretation der verfassungsrechtlichen Erzeugungsbedingungen fu È r Gesetze. Freilich sind die vorgegebenen verfassungsrechtlichen MaûstaÈbe zT Èauûerst konkretisierungsbedu È rftig und von Wertungen abhaÈngig, vor allem wenn generalklauselartig formulierte Grundrechte wie zB der Gleichheitsgrundsatz anzuwenden sind. Insofern ist die Aufgabe des VfGH nicht leicht: Er hat die demokratische Legitimation des Gesetzgebers und dessen Auftrag zur politischen Steuerung des Gemeinwesens zu respektieren und darf Gesetze nicht deshalb aufheben, weil ihm eine andere LoÈsung zweckmaÈûiger, gerechter oder vernu È nftiger erscheint. Andererseits muss er den Vorrang der Verfassung sichern und muss Entscheidungen des Gesetzgebers entgegentreten, wenn die verfassungsrechtlichen MaûstaÈbe verfehlt werden. 1073 3. Die dem VfGH im Rahmen seiner Kompetenz nach Art 140 B-VG u È bertragene Aufgabe der GesetzespruÈfung ist mit keinem Auftrag zur rechtspolitischen Gestaltung verbunden. Das bringt man oft mit der Formulierung zum Ausdruck, dass der Gerichtshof nur ein ¹negativer Gesetzgeberª ist, dh dass er nur zur Aufhebung, nicht aber zum Erlass von Gesetzen berufen ist und er auch gegen eine UntaÈtigkeit des Gesetzgebers nicht angerufen werden kann. Diese Charakterisierung ist im Grunde auch richtig: Der Gerichtshof kann nur dort von seiner Kompetenz Gebrauch machen, wo eine gegebene gesetzliche Regelung zur Pru È fung ansteht, und er nimmt in seiner Praxis auch grundsaÈtzlich davon Abstand, in die Entscheidungsbegru È ndungen Richtlinien oder Empfehlungen fu È r ku È nftige Rechtsetzungen aufzunehmen. Andererseits darf man nicht u È bersehen, dass der Gesetzgeber dann, wenn er nach der Aufhebung eines Gesetzes eine Ersatzregelung erlaÈsst, mitunter nur mehr einen eingeschraÈnkten Handlungsspielraum vorfindet; gewisse Alternativen werden bei Beachtung der vom VfGH vertretenen Rechtsansicht ausscheiden und oft lassen sich fu È r eine verfassungskonforme Regelung u È berhaupt nur mehr eine oder wenige verschiedene LoÈsungen finden. a) Wenn der VfGH beispielsweise zu der Auffassung kommt, dass Zivildiener einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf eine angemessene Verpflegung haben, und er eine diesen Anspruch negierende gesetzliche Regelung aufhebt, hat der Gesetzgeber zwar noch einen Handlungsspielraum u È ber das ¹Wieª einer solchen Regelung, das ¹Obª steht indessen fest; auch das, was unter einer ¹angemessenenª Verpflegung zu verstehen ist, kann bzw muss letztlich der Gerichtshof bestimmen (vgl VfSlg 16.389/2001, 16.588/2002). b) Auch die Auffassung, dass der VfGH ein (verfassungswidriges) legistisches Unterlassen im Rahmen seiner Kompetenz nach Art 140 B-VG nicht sanktionieren kann, bedarf einer genaueren Betrachtung, wobei es in erster Linie auf die Unterscheidung zwischen einer ¹partiellenª und einer ¹gaÈnzlichenª UntaÈtigkeit des Gesetzgebers ankommt (dazu unten Rz 1077).
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4. Auch in praktischer Hinsicht kommt der Gesetzespru È fung durch den VfGH groûe 1074 Bedeutung zu, weil die Wahrnehmung dieser Kompetenz weit reichende Folgen fu Èr die Politik, die Wirtschaft und die Gesellschaft haben kann. So hat der Gerichtshof È ffnung des Rundfunkbeispielsweise der Liberalisierung des Gewerberechts, der O marktes fu È r private Veranstalter oder der Neugestaltung der FamilienfoÈrderung mit seiner Judikatur entscheidende AnstoÈûe gegeben. Zugenommen hat auch die Anzahl der Gesetzespru È fungsverfahren und die Zahl der aufgehobenen Gesetze, was auch mit der Intensivierung der Kontrolle im Zuge der ¹ju È ngerenª Grundrechtsjudikatur zusammenhaÈngt, auf die schon hingewiesen wurde (vgl Rz 999). So hat der Gerichtshof etwa im Jahr 2007 von 42 gepru È ften Gesetzen 25 (zumindest teilweise) als verfassungswidrig aufgehoben, das sind immerhin rund 60 % (zum Vergleich: Im Jahr 1970 wurden lediglich 19 Gesetze gepru È ft, von denen 12 aufgehoben wurden). 40.7.2. Das Gesetz als Pru È fungsgegenstand 1. Im Verfahren nach Art 140 B-VG erkennt der VfGH u È ber die Verfassungswidrigkeit 1075 von Bundes- oder Landesgesetzen. Zu Grunde gelegt ist hier der formelle Gesetzesbegriff: Pru È fungsgegenstand ist jede foÈrmlich als Gesetz vom Nationalrat oder von einem Landtag erzeugte Norm. Andere generelle Normen, die nicht als Gesetz im formellen Sinn erlassen wurden, koÈnnen nicht nach Art 140 B-VG angefochten werden: Das gilt etwa fu È r nicht in Gesetzesform ergehende autonome GeschaÈftsordnungsbeschlu È sse oder Budgetbeschlu È sse der Landtage (obwohl es sich in beiden FaÈllen um generelle Normen eines Gesetzgebungsorgans handelt; vgl VfSlg 6277/1970) oder fu È r die GeschaÈftsordnungen der GerichtshoÈfe des oÈffentlichen Rechts. Unter den Begriff der Bundes- oder Landesgesetze iS von Art 140 B-VG fallen auch Bundesund Landesverfassungsgesetze sowie Bundes-Grundsatzgesetze iS von Art 12 B-VG. Fu È r generelle Normen, die nicht in der Form eines Gesetzes ergehen und die auch nicht als VO von Verwaltungsbeho È rden im Verfahren nach Art 139 B-VG gepru È nnen, sieht das È ft werden ko B-VG kein Normenkontrollverfahren vor (VfSlg 12.262/1990). Entsprechend der Lehre vom Fehlerkalku È l sind solche Normen im Fall ihrer Verfassungswidrigkeit daher absolut nichtig. Gesetze, die iS von Art 89 Abs 1 B-VG nicht gehoÈrig kundgemacht wurden, sind ebenfalls als absolut nichtig von den Gerichten nicht anzuwenden; damit wird auch der Pru È fungsbefugnis des VfGH eine (im Einzelnen unklare) Grenze gezogen. Eine nicht in einem schriftlichen Kundmachungsorgan verlautbarte Regelung eines Gesetzgebungsorgans waÈre zB ein Nicht-Gesetz, È berpru dessen U È fung im Verfahren nach Art 140 B-VG ausgeschlossen ist.
2. Die ZustaÈndigkeit des VfGH erstreckt sich auf Gesetze, die noch in Geltung ste- 1076 hen, aber auch auf bereits auûer Kraft getretene Gesetze, soweit diese noch anzuwenden sind. Ist eine Gesetzesbestimmung bereits auûer Kraft getreten, beschraÈnkt sich das Erkenntnis des VfGH darauf, die Verfassungswidrigkeit festzustellen (Art 140 Abs 4 B-VG). 3. Eine UntaÈtigkeit des Gesetzgebers kann als solche nicht im Verfahren nach Art 1077 140 B-VG angegriffen werden, und zwar auch dann nicht, wenn etwa im Zusammenhang mit einer aus einem Grundrecht abgeleiteten Schutzpflicht (vgl Rz 1224) oder zur Effektuierung eines ausreichenden Rechtsschutzes gesetzliche Vorkehrungen geboten sind und ihre Unterlassung verfassungswidrig ist. Daher hat der VfGH zB der Verfassungswidrigkeit nicht abhelfen koÈnnen, die darin begru È ndet lag, dass die Gesetzgebung lange Zeit keine (im Licht der verfassungsrechtlichen Rundfunkfreiheit gebotenen) Regelungen fu È r ein terrestrisches Privatfernsehen geschaffen hat (vgl dazu VfSlg 14.453/1996). Wenn es aber eine gesetzliche Regelung gibt, die nach Art 140 B-VG gepru È glich, eine damit zusammenhaÈnÈ ft werden kann, ist es auch mo gende legistische UntaÈtigkeit zu bekaÈmpfen, weil dann das Fehlen einer verfassungs-
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rechtlich gebotenen Regelung zur Verfassungswidrigkeit des Grundtatbestands fu È hren und durch dessen Aufhebung der verfassungskonforme Zustand herbeigefu È hrt werden kann; man spricht hier im Unterschied zu der nicht angreifbaren gaÈnzlichen UntaÈtigkeit von einer ¹partiellen UntaÈtigkeitª des Gesetzgebers. Daher konnte der VfGH trotz der UntaÈtigkeit des Gesetzgebers eine Liberalisierung im Bereich des Kabelfernsehens dadurch herbeifu È hren, dass er sehr weit reichende BeschraÈnkungen im einschlaÈgigen Gesetz (Verbot des aktiven Kabelfernsehens, Werbeverbote) als verfassungswidrig aufhob und so im Ergebnis diese AktivitaÈten freigab (VfSlg 14.635/1996). Auch im Bereich des Gleichheitssatzes gibt es Èahnliche Konstellationen, weil zB dann, wenn der Gesetzgeber bestimmten Personen eine staatliche Leistung in gleichheitswidriger Weise nicht zuerkennt, durch die Aufhebung der diskriminierenden EinschraÈnkung der Anspruch auf die urspru È nglich ausgeschlossene Personengruppe erstreckt werden kann (vgl VfSlg 15.054/1997 zu einer durch die Aufhebung des Wortes ¹weiblichª bewirkten gleichheitsrechtlich gebotenen Ausdehnung eines Anspruchs auch auf MaÈnner; zu diesen ¹derivativen Leistungsanspru È chenª vgl Rz 1641 ff). Mitunter kann auch die ¹Nichtregelungª einer bestimmten Frage doch auch eine ¹Regelungª darstellen, die als solche verfassungswidrig ist, etwa wenn die Anrechnung von Haftzeiten auf eine Strafe nicht vorgesehen und daher implizit ausgeschlossen ist; das Fehlen einer verfassungsrechtlich gebotenen Anrechnungsregel fu È hrte daher zur Verfassungswidrigkeit der gesamten Strafbemessungsregelung (VfSlg 8017/1977). Zur Staatshaftung wegen unterlassener Gesetzgebung vgl Rz 841 ff.
40.7.3. Der Pru È fungsmaûstab 1078 1. Der VfGH hat Gesetze auf ihre VerfassungsmaÈûigkeit zu u È berpru È fen. Das bedeutet zunaÈchst, dass der Gerichtshof die ZweckmaÈûigkeit oder Sinnhaftigkeit einer gesetzlichen Regelung nicht zu beurteilen hat; ausschlieûlicher Pru È fungsmaûstab ist das im Stufenbau der Rechtsordnung hoÈherrangige formelle Verfassungsrecht. Heranzuziehen ist dabei prinzipiell die im Zeitpunkt der Pru È fung maûgebliche Verfassungsrechtslage, weil Gesetze jederzeit in Einklang mit der Verfassung stehen mu È ssen. 1079 a) Durch eine AÈnderung verfassungsrechtlicher Vorschriften koÈnnen daher urspruÈnglich verfassungsmaÈûig unbedenkliche Regelungen invalidieren (dh verfassungswidrig werden). Auch ein Wandel der tatsaÈchlichen VerhaÈltnisse kann, vor allem im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz, zu einer Invalidation fu È hren (vgl Rz 1653). Umgekehrt kann auch ein urspru È ngÈ nderung der Verfassung saniert werden (Konvalich verfassungswidriges Gesetz durch eine A lidation). b) WaÈhrend im Zusammenhang mit dem Inhalt eines Gesetzes die jeweils aktuelle Verfassungsrechtslage maûgebend ist, richtet sich die VerfassungsmaÈûigkeit im Hinblick auf das Gesetzgebungsverfahren nach den zum Zeitpunkt der Erzeugung des Gesetzes in Geltung stehenden Normen. Abweichend von der prinzipiellen Maûgeblichkeit der aktuellen Verfassungsrechtslage soll auûerdem nach einer umstrittenen Ansicht des VfGH (VfSlg 3735/1960) die Kompetenz zur Erlassung eines Gesetzes ebenfalls nach der Rechtslage zum Zeitpunkt der Gesetzwerdung zu beurteilen sein. c) Mittelbar kann auch ein Verstoû gegen einfachgesetzliche Vorschriften zu einer Verfassungswidrigkeit fu È hren: So ist etwa ein Ausfu È hrungsgesetz eines Landes, das gegen bundesrechtlich geregelte GrundsaÈtze verstoÈût, wegen des darin liegenden Widerspruchs zu Art 12 B-VG verfassungswidrig. Gleiches gilt fu È r VerstoÈûe gegen jene einfachgesetzlichen Normen, welche die Erzeugung von Gesetzen regeln (GONR, BGBlG) und die daher zum materiellen Verfassungsrecht gezaÈhlt werden.
1080 2. Zum Pru È fungsmaûstab nach Art 140 B-VG gehoÈren auch die verfassungsrechtlichen Grundprinzipien iS von Art 44 Abs 3 B-VG. Aus diesem Grund kann der VfGH auch Bundesverfassungsgesetze auf ihre VerfassungsmaÈûigkeit pru È fen, weil È nderung eines Grundprinzips, ohne dass diese eine Aufhebung oder wesentliche A durch eine Volksabstimmung gedeckt waÈre, zur Verfassungswidrigkeit der entsprechenden verfassungsrechtlichen Regelung fu È hrt (vgl Rz 118).
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3. Die Regelungen des EuropaÈischen Gemeinschaftsrechts sind nicht Teil des 1081 o È sterreichischen Verfassungsrechts. Widerspricht eine in einem oÈsterreichischen Gesetz enthaltene Regelung dem Gemeinschaftsrecht, kann das daher im Verfahren nach Art 140 B-VG nicht geltend gemacht werden; der Vorrang des Gemeinschaftsrechts ist von jedem Rechtsanwendungsorgan zu beachten, das die widersprechende o È sterreichische Norm unangewendet zu lassen hat. Bei der Ausfu È hrung von Gemeinschaftsrecht kommt dessen Vorrang auch gegenu È ber entgegenstehendem Verfassungsrecht zum Tragen; soweit dieser Vorrang reicht, kann eine oÈsterreichische Norm daher nicht bundesverfassungswidrig sein. Wenn allerdings das Gemeinschaftsrecht nicht beeintraÈchtigt wird (weil etwa verschiedene Formen der Ausfu È hrung moÈglich sind oder es sich um einen gemeinschaftsrechtlich nicht geregelten Aspekt handelt), ist der Gesetzgeber an bestehende bundesverfassungsrechtliche Vorgaben gebunden. Vgl zu diesem Prinzip der doppelten Bindung Rz 345 f. 40.7.4. Die Antragsbefugnis (Legitimation) 1. Das B-VG zaÈhlt in Art 140 Abs 1 jene Organe und Personen auf, die berechtigt (le- 1082 gitimiert) sind, durch einen Antrag ein Gesetzespru È fungsverfahren einzuleiten. Dabei ist zwischen einer abstrakten und einer konkreten Normenkontrolle zu unterscheiden: Von einer abstrakten Normenkontrolle spricht man dann, wenn ein È berpru Antragsberechtigter die U È st von einem È fung einer gesetzlichen Norm losgelo konkreten Anlassfall beantragen kann. Demgegenu È ber sind die FaÈlle der konkreten Normenkontrolle dadurch gekennzeichnet, dass ein Gericht oder eine BehoÈrde dann und nur soweit zur Anfechtung einer gesetzlichen Bestimmung befugt ist, als diese Norm in einem anhaÈngigen Verfahren anzuwenden ist, dh insoweit diese Norm praÈjudiziell ist. 2. Zur Stellung eines Antrags nach Art 140 B-VG sind legitimiert:
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. die BReg im Hinblick auf Landesgesetze und die LReg im Hinblick auf Bundesgesetze; . ein Drittel der Mitglieder des NR oder des BR im Hinblick auf Bundesgesetze bzw (soweit das die Landesverfassung vorsieht) ein Drittel der Mitglieder des jeweiligen LT im Hinblick auf Landesgesetze; . der VwGH, der OGH und jedes zur Entscheidung in zweiter Instanz berufene Gericht sowie der AsylGH; . die UVS und das Bundesvergabeamt (BVA); . der VfGH von Amts wegen; . schlieûlich kann auch der Einzelne unter bestimmten Voraussetzungen einen Individualantrag auf GesetzespruÈfung beim VfGH einbringen. 3. Bei den AntraÈgen der Regierungen und bei den ¹DrittelantraÈgenª der Mitglie- 1084 der der Parlamente von Bund und LaÈndern handelt es sich um FaÈlle der abstrakten Normenkontrolle. Sie dienen einmal (bei den RegierungsantraÈgen) der Austragung È deralistischer Streitfragen, weshalb sich die Anfechtungsbefugnis jeweils auf fo die Akte des gegenbeteiligten Gesetzgebers richtet. Das Antragsrecht der Abgeordneten ist als ein Oppositionsrecht konzipiert, weil einer zahlenmaÈûig nicht unerheblichen parlamentarischen Minderheit die Kompetenz eingeraÈumt wird Gesetzesbeschlu È sse der Mehrheit verfassungsrechtlich kontrollieren zu lassen. Diese Anfechtungsrechte koÈnnen zeitlich unbegrenzt und losgelo È st von irgendwelchen AnlassfaÈllen jederzeit wahrgenommen werden. Hinsichtlich schon auûer Kraft getretener Rechtsvorschriften kann ein Verfahren der abstrakten Normenkontrolle nicht eingeleitet werden (vgl Art 140 Abs 4 B-VG).
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1085 4. Die Antragsrechte der erwaÈhnten Gerichte (VwGH, OGH, zweitinstanzliche È rden (UVS/BVA) sowie die amtswegige NormenkonGerichte, AsylGH) und Beho trolle durch den VfGH sind FaÈlle der konkreten bzw inzidenten Normenkontrolle: Die Gerichte und BehoÈrden koÈnnen den Antrag nur stellen bzw der VfGH kann nur dann das GesetzespruÈfungsverfahren von Amts wegen einleiten, wenn Bedenken gegen die VerfassungsmaÈûigkeit des Gesetzes bestehen und wenn das Gesetz in einer anhaÈngigen Rechtssache anzuwenden ist. Damit wird die PraÈjudizialitaÈt der angefochtenen Norm als Prozessvoraussetzung festgelegt (dazu Rz 1093 ff). In diesen FaÈllen kann auch ein schon auûer Kraft getretenes, aber noch anzuwendendes Gesetz angefochten und die Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit begehrt werden. a) Hat ein Gericht (UVS/BVA) Bedenken gegen die VerfassungsmaÈûigkeit einer praÈjudiziellen Norm, unterbricht es das anhaÈngige Verfahren und leitet das GesetzespruÈfungsverfahren durch Antrag beim VfGH ein. Die Parteien des gerichtlichen Verfahrens ko È nnen die Einleitung des Normenkontrollverfahrens anregen, indem sie entsprechende Bedenken vortragen. Ein durchsetzbarer Rechtsanspruch ist ihnen aber nicht eingeraÈumt, auch wenn man davon ausgehen muss, dass ein Gericht zur Antragstellung verpflichtet ist, wenn es Verfassungsbedenken hat. Vergleichbares gilt fu È r die vom VfGH von Amts wegen eingeleiteten Gesetzespru È fungsverfahren: Hier unterbricht der VfGH (durch einen Unterbrechungsbeschluss) das bei ihm anhaÈngige Bescheidbeschwerdeverfahren nach Art 144 B-VG (oder ein anderes Verfahren) und leitet das Art 140 B-VG-Verfahren ein, wobei im Einleitungsbeschluss zunaÈchst die Bedenken formuliert werden, mit denen sich der Gerichtshof im anschlieûenden Hauptverfahren auseinander setzt. b) Da die Gerichte (UVS/BVA) nur an geho È rig kundgemachte Gesetze gebunden sind (Art 89 Abs 1 B-VG), entfalten nicht gehoÈrig kundgemachte Gesetze keine Rechtswirkungen und ko È nnen daher von den Gerichten (UVS/BVA) auch nicht angefochten werden.
1086 5. Der Individualantrag (IA) gibt dem einzelnen Bu È rger und sonstigen rechtsunterworfenen Rechtssubjekten die MoÈglichkeit, gesetzliche Bestimmungen unmittelbar anzufechten, ohne dass sie den ¹Umwegª u È ber ein gerichtliches oder verwaltungsbehoÈrdliches Verfahren gehen mu È ssen, um die Verfassungswidrigkeit an den VfGH heranzutragen. Ob ein IA zulaÈssig ist oder nicht, ist nicht immer einfach zu beurteilen; die Schwierigkeiten ru È hren nicht zuletzt daher, dass der Verfassungsgesetzgeber die È chst unklar umschrieben Antragslegitimation in Art 140 Abs 1 letzter Satz B-VG ho hat. 1087 a) ZunaÈchst soll anhand von zwei Beispielen die typische Ausgangslage umschrieben werden: aa) Als durch eine Novelle zum MedienG im Jahr 1993 eine Bestimmung eingefu È hrt wurde, welche den Medien eine gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung verstoûende Berichterstattung untersagte, wurde behauptet, dass dieser Tatbestand (§ 7b MedienG) im Licht der Meinungsfreiheit verfassungswidrig waÈre. Ein Medieninhaber, der diese Sache vor den VfGH bringen wollte, haÈtte nun durch eine praÈjudizierende Berichterstattung u È ber einen Kriminalfall gegen die Bestimmung verstoûen und gegen die ihm sodann durch das Mediengericht auferlegte EntschaÈdigung die entsprechenden Rechtsmittel ergreifen ko È nnen, wobei hier in letzter Instanz eine Entscheidung des zustaÈndigen OLG erwirkt haÈtte werden ko Ènnen. In dem Verfahren vor dem OLG haÈtte der Medieninhaber auf die seiner Ansicht nach bestehende Verfassungswidrigkeit hinweisen koÈnnen, wobei das OLG ± wenn es diese Bedenken geteilt haÈtte ± einen Antrag auf Gesetzespru Ènnen. È fung an den VfGH haÈtte stellen ko bb) Auch im Verwaltungsrecht stellt sich die Situation oft Èahnlich dar: Nehmen wir an, ein Unternehmer moÈchte Spielapparate aufstellen, wozu er nach einer landesgesetzlichen Regelung eine beho È rdliche Bewilligung benoÈtigt, die er freilich fu È r den Betrieb von Geldspielapparaten wegen eines bestehenden gesetzlichen Verbots gar nicht erhalten kann. Er moÈchte dieses Verbot als verfassungswidrig bekaÈmpfen. Kann er das im Wege eines Individualantrags tun oder muss er zunaÈchst um eine Bewilligung ansuchen, obwohl er weiû, dass er eine solche fu È r Geldspielapparate nicht bekommen wird, weil diese ohnedies verboten sind? In beiden FaÈllen stellt sich die Frage, ob der ¹normaleª Rechtsweg (dh der Umweg u È ber die gerichtlichen bzw admi-
2. Kapitel: Die Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts und die unabhaÈngigen Verwaltungssenate 295 nistrativen Instanzenzu È ge) ausreicht, um einen effektiven Rechtsschutz zu sichern, oder ob die unmittelbare BekaÈmpfung des behauptetermaûen verfassungswidrigen Gesetzes durch IA geboten ist. Vgl zu diesen beiden FaÈllen die Nachweise zu den entsprechenden Entscheidungen am Ende dieses Kapitels.
b) Art 140 Abs 1 letzter Satz B-VG umschreibt die Voraussetzungen fu È r die Einbrin- 1088 gung eines zulaÈssigen IA. Danach erkennt der VfGH u È ber die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auf Antrag einer Person, die unmittelbar in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, sofern das Gesetz ohne FaÈllung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheids fu È r diese Person wirksam geworden ist. Durch die Judikatur und Lehre sind aus dieser ± wie schon gesagt nicht sonderlich klaren ± Bestimmung die folgenden Voraussetzungen fu È r die ZulaÈssigkeit eines IA abgeleitet worden: Es muss . ein aktueller, eindeutig bestimmter Eingriff in die RechtssphaÈre des Antragstellers vorliegen (unmittelbare Eingriffswirkung) . und es darf kein anderer Rechtsweg zumutbar sein (Umwegunzumutbarkeit). Der VfGH umschreibt diese Voraussetzungen in seiner Rspr anhand der folgenden Formel: ¹Voraussetzung der Antragslegitimation ist einerseits, dass der Antragsteller behauptet unmittelbar durch das angefochtene Gesetz ± im Hinblick auf dessen Verfassungswidrigkeit ± in seinen Rechten verletzt worden zu sein, dann aber auch, dass das Gesetz fu È r den Antragsteller tatsaÈchlich, und zwar ohne FaÈllung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheids, wirksam geworden ist. Grundlegende Voraussetzung der Antragslegitimation ist, dass das Gesetz in die RechtssphaÈre des Antragstellers nachteilig eingreift und diese ± im Fall seiner Verfassungswidrigkeit ± verletzt. Nicht jedem Normadressaten aber kommt die Anfechtungsbefugnis zu. Es ist daru È ber hinaus erforderlich, dass das Gesetz selbst tatsaÈchlich in die RechtssphaÈre des Antragstellers unmittelbar eingreift. Ein derartiger Eingriff ist jedenfalls nur dann anzunehmen, wenn dieser nach Art und Ausmaû durch das Gesetz selbst eindeutig bestimmt ist, wenn er die (rechtlich geschu È tzten) Interessen des Antragstellers nicht bloû potentiell, sondern aktuell beeintraÈchtigt und wenn dem Antragsteller kein anderer zumutbarer Weg zur Abwehr des ± behaupteterweise ± rechtswidrigen Eingriffes zur Verfu È gung stehtª (stRspr seit VfSlg 8009/1977, zB VfSlg 15.065/1997).
aa) Erste Voraussetzung eines IA ist daher, dass die angefochtene Norm in die 1089 RechtssphaÈre des Antragstellers unmittelbar eingreift und diese im Fall der Verfassungswidrigkeit verletzt. Das setzt voraus, dass das Gesetz u È berhaupt in einen rechtlich geschu È tzten Interessenbereich des Antragstellers eingreift, also eine Rechtsposition vorliegt und der Antragsteller selbst (und nicht ein Dritter) betroffen ist. Rein wirtschaftliche oder andere nachteilige tatsaÈchliche Auswirkungen begru È nden keine Antragsbefugnis. Der Eingriff muss auûerdem (wegen der geforderten ¹Unmittelbarkeitª) eindeutig bestimmt sein und er muss die rechtlich geschu È tzten Interessen des Antragstellers nicht bloû potentiell, sondern aktuell beeintraÈchtigen. Kein Eingriff (und damit keine moÈgliche Verletzung) in eine RechtssphaÈre liegt etwa vor, wenn die Hersteller von Verpackungsmaterial das (nicht an sie gerichtete) Verbot bekaÈmpfen wollen in Kartons abgefu È llten Wein zu verkaufen (VfSlg 11.369/1987); keinen Eingriff in die RechtssphaÈre eines VerkaÈufers stellt es auch dar, wenn eine Marktordnung den Zutritt von Kunden zeitlich beschraÈnkt, weil sich das nur auf die wirtschaftliche Position des VerkaÈufers auswirkt (VfSlg 14.359/1995). Ob durch die angefochtene Norm in verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Rechte eingegriffen wird oder nur in einfachgesetzliche Rechte, ist nicht ausschlaggebend; auch im zweiten Fall liegt eine betroffene Rechtsposition vor. Der Antragsteller muss selbst Adressat der Norm sein, was etwa im Fall von Eltern verneint wurde, die eine Regelung des PrivatschulG bekaÈmpfen wollten, die nur konfessionellen Privatschulen einen Rechtsanspruch auf Subventionen gibt (VfSlg 12.865/1991); demgegenu È ber hat sich das Nachtarbeitsverbot fu È r Frauen dem Wortlaut nach zwar nur an den Arbeitgeber gerichtet, es hat nach VfSlg 13.038/1992 aber auch die RechtssphaÈre der Arbeitnehmerinnen gestaltet. Der Eingriff ist dann ausreichend bestimmt, wenn die angefochtene Norm auf den Normadressaten angewendet werden kann und nicht noch weitere Konkretisierungsschritte erforderlich sind; da-
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Teil III. Die Kontrolle der Staatsgewalt
her sind Gesetzesbestimmungen nicht im Wege eines Individualantrags bekaÈmpfbar, die ausschlieûlich eine VO-ErmaÈchtigung enthalten (VfSlg 13.318/1992 ± ErmaÈchtigung an LH Ladenschlusszeiten festzulegen) oder die erst durch die Entscheidung eines Gerichts konkretisiert werden mu È ssen (wie zB eine Regelung u È ber die Auferlegung von Verfahrenskosten; VfSlg 12.353/1990). Unter dem Gesichtspunkt der AktualitaÈt ist zu pru È fen, ob der Betroffene mit der jederzeitigen Verwirklichung des Tatbestands rechnen muss. So koÈnnen Bestimmungen eines VolkszaÈhlungsG nur dann im Wege eines Individualantrags angefochten werden, wenn eine VolkszaÈhlung knapp bevorsteht (VfSlg 12.976/1992), und kann eine gewerberechtliche Ausu È bungsregelung nur von dem bekaÈmpft werden, der bereits die entsprechende Gewerbeberechtigung besitzt (VfSlg 14.017/1995).
1090 Der Antragsteller muss auûerdem behaupten, dass die angefochtene Norm verfassungswidrig ist. Anders als beim Rechtseingriff, der tatsaÈchlich vorliegen muss, È brigen koÈnnen im Wege eines IA ausreicht hier die bloûe Behauptung aus. Im U nahmslos alle Verfassungswidrigkeiten eines Gesetzes geltend gemacht werden; der Antragsteller kann daher auch Kompetenzwidrigkeiten oder VerstoÈûe gegen das Bestimmtheitsgebot (Art 18 B-VG) aufgreifen. 1091 bb) Schlieûlich darf es keinen anderen Weg geben die behauptete Verfassungswidrigkeit an den VfGH heranzutragen. Diese als ¹Umwegunzumutbarkeitª bezeichnete Prozessvoraussetzung, die im Wortlaut des Art 140 Abs 1 letzter Satz B-VG kaum angedeutet ist, kann aus dem Umstand abgeleitet werden, dass der IA als ein subsidiaÈrer Rechtsbehelf eingefu È hrt wurde, um Lu È cken im Rechtsschutz zu schlieûen; er ist dort nicht berechtigt, wo es ohnedies einen anderen zielfu È hrenden Weg gibt die anstehenden Verfassungsbedenken geltend zu machen (grundlegend: VfSlg 8009/1977). Der IA ist daher nur zulaÈssig, wenn ein anderes gerichtliches oder verwaltungsbehoÈrdliches Verfahren, das Gelegenheit zur Anregung eines Antrags auf Normpru È fung bietet, entweder gaÈnzlich fehlt oder ein gegebener Rechtsweg unzumutbar ist. Kann der Normadressat daher einen Bescheid oder eine gerichtliche Entscheidung erwirken und ist ihm dies zumutbar, ist der IA unzulaÈssig. Gleiches gilt dann, wenn der Antragsteller bereits einen Bescheid oder eine gerichtliche Entscheidung erlangt hat. Das Musterbeispiel fu È r ein unmittelbar und ohne Dazwischentreten eines Bescheids (oder Urteils) wirksames Gesetz waÈre ein Maûnahmegesetz, dh ein Gesetz, das beispielsweise eine ganz konkrete Enteignung ex lege verfu È gt, so dass diese nicht mehr durch einen Bescheid konkretisiert werden mu È sste. In diesem Fall gaÈbe es keinen anderen Weg die behauptete Verfassungswidrigkeit dieses Gesetzes geltend zu machen. Denkbar waÈre allenfalls die Erlassung eines Feststellungsbescheids; das zeigt, dass sich hier und in praktisch allen anderen FaÈllen nicht so sehr die Frage stellt, ob u È berhaupt ein Bescheid (ein Urteil) erlangt werden kann (was fast immer der Fall waÈre), sondern ob der dadurch eroÈffnete Rechtsweg zumutbar ist. Dazu gibt es eine umfangreiche, kasuistische Judikatur des VfGH. Als unzumutbare Rechtswege werÈ bertretung einer als verfassungswidrig angesehenen Norm nur zu dem den angesehen: die U Zweck, einen bekaÈmpfbaren Strafbescheid (Strafurteil) zu erlangen (VfSlg 13.891/1994); die mit einem wettbewerbswidrigen Verhalten verbundene Provokation eines Wettbewerbsprozesses (VfSlg 12.379/1990); unzumutbar koÈnnen Rechtswege sein, die mit besonderen HaÈrten (zB voru È bergehender Verlust eines Versicherungsschutzes) oder hohen Kosten verbunden sind oder wegen des damit verbundenen Zeitverlusts erhebliche Nachteile nach sich ziehen. Besteht ein zumutbarer Rechtsweg, muss dieser grundsaÈtzlich auch dann beschritten werden, wenn er der Sache nach aussichtslos ist (aber immerhin die Chance eroÈffnet die geltend gemachten Bedenken an ein antragsbefugtes Gericht heranzutragen). Vergleichbares gilt fu È r gesetzliche Verbote (etwa naturschutzrechtliche BeschraÈnkungen), wenn die grundsaÈtzliche MoÈglichkeit einer Ausnahmebewilligung besteht; in einem solchen Fall ist es nach der Rspr zumutbar einen (auch aussichtslosen) Antrag auf Ausnahmebewilligung zu stellen, um die Verfassungsbedenken geltend zu machen (VfSlg 11.623/1988). Ist die Erlassung eines Feststellungsbescheids gesetzlich vorgesehen, schlieût das die ZulaÈssigkeit eines IA aus (VfSlg 9048/1981); andererseits wird die Provokation eines Feststellungsbescheids als unzumutbar angesehen, wenn sein alleiniger Zweck darin bestu È nde damit ein Mittel zu gewinnen, um die gegen ein
2. Kapitel: Die Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts und die unabhaÈngigen Verwaltungssenate 297 Gesetz bestehenden verfassungsrechtlichen Bedenken an den VfGH heranzutragen (VfSlg 14.591/1996). Ist bereits ein gerichtliches oder verwaltungsbehoÈrdliches Verfahren anhaÈngig, ist der IA prinzipiell unzulaÈssig, auûer es laÈgen auûergewoÈhnliche UmstaÈnde vor (wie zB in VfSlg 16.772/2002, wo durch eine theoretische MoÈglichkeit ein Rechtsmittel zu erheben ein unmittelbar drohender Nachteil, naÈmlich eine Auslieferung, nicht haÈtte verhindert werden ko È nnen).
40.7.5. Weitere Prozessvoraussetzungen beim Gesetzespru È fungsverfahren Neben der Antragslegitimation (vgl Rz 1082 ff) sind bei GesetzespruÈfungsverfahren nach Art 140 B-VG noch weitere Prozessvoraussetzungen zu beachten. 1. Jeder Antrag auf Gesetzespru È fung muss ein bestimmtes Begehren enthalten, das 1092 auf die (teilweise) Aufhebung eines Gesetzes bzw bei schon auûer Kraft getretenen Gesetzen auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit gerichtet sein muss. In dem Antrag sind die Bedenken, welche gegen die VerfassungsmaÈûigkeit der aufzuhebenden Norm sprechen, im Einzelnen und praÈzise auszubreiten. Fehlt ein entsprechender Antrag oder werden die Gru È nde fu È r die behauptete Verfassungswidrigkeit nicht ausreichend konkretisiert, wird der Antrag als unzulaÈssig zuru È ckgewiesen (vgl zB VfSlg 11.150/1986). Die vorgebrachten Bedenken begrenzen auch den Pru È fungsumfang (das Prozessthema); der VfGH sieht sich nicht fu È r befugt an andere als die vorgetragenen Bedenken zu pru È fen. 2. Die bei den FaÈllen der konkreten Normenkontrolle geforderte PraÈjudizialitaÈt 1093 liegt vor, wenn das Gericht bzw die BehoÈrde die entsprechende Norm in einem anhaÈngigen Verfahren anzuwenden hat. Freilich kann im Einzelfall strittig sein, ob eine Norm praÈjudiziell ist oder nicht. Der VfGH geht in solchen FaÈllen davon aus, dass er nicht berechtigt ist durch seine PraÈjudizialitaÈtsentscheidung das antragstellende Gericht (UVS/BVA) an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung des Gerichts in der Hauptsache vorgreifen wu È rde. Der Antrag wird nur dann als unzulaÈssig zuru È ckgewiesen, wenn es offenkundig unÈ glich ist, dass das angefochtene Gesetz vom Gerichtig bzw geradezu denkunmo richt (UVS/BVA) anzuwenden ist (zB VfSlg 14.322/1995). a) So ist zB die Annahme eines UVS, er haÈtte eine Strafnorm im Berufungsverfahren anzuwen- 1094 den, die erst nach dem Zeitpunkt der Tatbegehung erlassen wurde, offenkundig unzutreffend, weil sich im Verwaltungsstrafverfahren die Strafe nach der im Zeitpunkt der Tat geltenden Rechtslage richtet (§ 1 Abs 2 VStG) (VfSlg 16.124, 16.407/2001). UnzulaÈssig ist ein Antrag auch, durch den ein ganzes Gesetz angefochten wird, wenn in einem anhaÈngigen Fall nur einzelne Bestimmungen anzuwenden sind. Wenn ein Autolenker wegen Trunkenheit bestraft wurde, ist von der entsprechenden Norm (¹...wer in einem durch Alkohol oder Suchtgift beeintraÈchtigten Zustand ein Fahrzeug lenkt...ª) nur die Wortfolge ¹Alkohol oderª praÈjudiziell, so dass ein daru È ber hinausgehender Antrag zuru È ckzuweisen ist (VfSlg 14.711/1996). b) Auch fu È fungsverfahrens durch den 1095 È r die Einleitung eines amtswegigen Gesetzespru VfGH gilt die Voraussetzung der PraÈjudizialitaÈt, die dann vorliegt, wenn das Gesetz eine Voraussetzung fu È r die Entscheidung in einer beim VfGH anhaÈngigen Rechtssache ist. Das trifft zunaÈchst fu È r alle jene Normen zu, welche die BehoÈrde (im vorausgehenden Verfahren) anzuwenden hatte oder anzuwenden gehabt haÈtte (VfSlg 8647/1979); praÈjudiziell sind ferner auch jene Normen, welche die BehoÈrde tatsaÈchlich angewendet hat, auch wenn dies faÈlschlich erfolgt sein sollte (auûer die Anwendung war schlicht denkunmoÈglich); schlieûlich sind auch jene Bestimmungen praÈjudiziell, welche der VfGH anzuwenden haÈtte, auch wenn diese von der belangten BehoÈrde weder angewendet wurden noch anzuwenden waren (zB Normen eines Bundes-Grundsatzgesetzes oder Bestimmungen u È ber das Verfahren vor dem VfGH). Weit gezogen wird der Begriff der PraÈjudizialitaÈt bei AusnahmetatbestaÈnden; sie gelten auch dann als praÈjudiziell, wenn im Anlassfall nur der Grundtatbestand (zB ein Steuertatbestand) anzuwenden ist (VfSlg 14.805/1997).
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1096 c) Schwierigkeiten kann die Bestimmung der PraÈjudizialitaÈt in FaÈllen aufwerfen, in welche
das EuropaÈische Gemeinschaftsrecht hineinspielt. Kann zB eine steuerrechtliche innerstaatliche Vorschrift praÈjudiziell sein, wenn diese moÈglicherweise durch eine unmittelbar anwendbare Richtlinie verdraÈngt wird, die kraft des Anwendungsvorrangs an ihrer Stelle anzuwenden waÈre? ZunaÈchst ist davon auszugehen, dass dann, wenn der Widerspruch offenkundig ist, ein Gesetzespru È fungsverfahren durch den VfGH nicht in Betracht kommt, weil die gemeinschaftsrechtliche Bestimmung jedenfalls anzuwenden ist und das innerstaatliche Gesetz daher auch nicht praÈjudiziell sein kann. Wenn es aber zweifelhaft ist, ob das nationale Recht durch das unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsrecht verdraÈngt wird, ko È nnte das innerstaatliche Gesetz moÈglicherweise doch anzuwenden sein. Daher geht der VfGH von der ZulaÈssigkeit eines Normenkontrollverfahrens dann aus, wenn eine BehoÈrde das fragliche innerstaatliche Gesetz tatsaÈchlich angewendet hat und diese Anwendung denkmoÈglich war (VfSlg 15.215, 15.267/1998).
1097 d) Die PraÈjudizialitaÈt muss waÈhrend der Dauer des gesamten GesetzespruÈfungsverfahrens
bestehen. FaÈllt sie weg ± etwa durch Zuru È ckziehung der Klage beim antragstellenden Gericht ± ist der Normpru È fungsantrag zuru È ckzuweisen. Fu È r den Fall eines vor dem VfGH anhaÈngigen Beschwerdeverfahrens sieht Art 140 Abs 2 B-VG freilich eine Ausnahme vor, weil hier ± trotz Klaglosstellung durch eine belangte BehoÈrde ± das inzidente Normenkontrollverfahren fortzusetzen ist (so dass die BehoÈrde dieses nicht vereiteln kann).
1098 3. In jedem GesetzespruÈfungsantrag sind die angefochtenen gesetzlichen Bestimmungen genau zu bezeichnen. Angefochten werden nicht ¹Gesetzeª schlechthin, sondern ganz bestimmte gesetzliche Bestimmungen, die aus einzelnen WoÈrtern, aus Wortfolgen, aus SaÈtzen oder AbsaÈtzen, ganzen Paragraphen oder der gesamten Rechtsvorschrift bestehen koÈnnen. Der richtigen Abgrenzung der angefochtenen Normen, durch die auch der Pru È fungsgegenstand bestimmt wird, kommt in der Praxis groûe Bedeutung zu. 1099 Ziel eines Gesetzespru È fungsverfahrens ist die Bereinigung einer als verfassungswidrig erkannten Rechtslage. Daher sind (1) die Rechtsvorschriften in dem Umfang aufzuheben, soweit dies zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit erforderlich ist, wobei aber nicht mehr als notwendig aus dem Rechtsbestand ausgeschieden werden soll. Gleichzeitig ist darauf zu achten, dass (2) der nach Aufhebung verbleibende Teil keine BedeutungsaÈnderung erfaÈhrt. Beide Ziele lassen sich sehr oft nicht vollstaÈndig erreichen; es ist daher nach Ansicht des VfGH in jedem Einzelfall abzuwaÈgen, welchem der beiden Ziele der Vorrang gebu È hrt (entweder den Eingriff in den Rechtsbestand mo È glichst gering zu halten oder mehr aufzuheben, damit nicht der verbleibende Rest der Norm eine vom gesetzgeberischen Konzept gar nicht mehr gedeckte Bedeutung erhaÈlt). Daher ist beispielsweise dann, wenn gegen einen steuerlichen Befreiungstatbestand verfassungsrechtliche Bedenken bestehen, dieser und nicht der Grundtatbestand anzufechten, weil die behauptete Verfassungswidrigkeit durch die Aufhebung der Befreiungsbestimmung beseitigt werden kann und weil dadurch der Inhalt des Gesetzes insgesamt in wesentlich geringerem Ausmaû veraÈndert wu È rde, als dies bei der Aufhebung der BesteuerungsgegenstaÈnde selbst der Fall waÈre (VfSlg 15.299/1998).
Angefochten mu È ssen auch Bestimmungen werden, die in einem untrennbaren Zusammenhang mit der verfassungswidrigen Bestimmung stehen, damit kein unverstaÈndlicher ¹Torsoª im Rechtsbestand verbleibt. Es ist zunaÈchst Sache des Antragstellers den Pru È fungsgegenstand ¹richtigª abzugrenzen; wird zuviel oder zuwenig angefochten, kann dies zur Zuru È ckweisung fu È hren. In der Praxis wird daher haÈufig ein Hauptbegehren (¹Aufhebung des gesamten § xyª) mit einem oder mehreren Eventualbegehren verbunden (¹in eventu Aufhebung der Wortfolge abc in § xyª). 1100 4. Wegen des Prozesshindernisses der entschiedenen Sache (res iudicata) ist ein Antrag auf GesetzespruÈfung zuru È ckzuweisen, wenn die angefochtene Norm schon einmal vom VfGH gepru È ft wurde (VfSlg 15.293/1998). Dies gilt allerdings
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nur, soweit die vorgetragenen Bedenken die gleichen sind. Wenn daher zB eine Norm unter dem Gesichtspunkt des Grundrechts auf Achtung des Privatlebens angefochten und bestimmte Gleichheitswidrigkeiten behauptet wurden, hindert das nicht eine neuerliche Antragstellung, wenn nunmehr andere unsachliche Differenzierungen geltend gemacht werden (vgl VfSlg 16.565/2002 zur unsachlichen Ausgestaltung des Schutzalters bei homosexuellen Beziehungen; zuvor hatte der VfGH in Slg 12.182/1989 den § 209 StGB unter dem damals vorgetragenen Aspekt der Ungleichbehandlung zwischen heterosexuellen und homosexuellen Beziehungen beÈ nderung des ¹rechtlichen Umhandelt und diese Bedenken verworfen). Auch eine A feldsª oder der sachlichen Gegebenheiten kann dazu fu È hren, dass einer erneuten Pru È fung die Rechtskraft eines Vorerkenntnisses nicht entgegen gehalten werden kann. Ist ein Gesetz unter Setzung einer Frist fu È r das Auûer-Kraft-Treten bereits aufgehoben worden, kann es allerdings ± gleichgu È ltig unter welchem Gesichtspunkt ± nicht neuerlich angefochten werden (zur ¹Unangreifbarkeitª aufgehobener Gesetze vgl auch noch Rz 1109). 40.7.6. Die Entscheidung im Gesetzespru È fungsverfahren 1. BestaÈtigen sich die verfassungsrechtlichen Bedenken, wird die fragliche Gesetzes- 1101 bestimmung durch das Erkenntnis des VfGH aufgehoben. Ist das Gesetz zum Zeitpunkt der Entscheidung des VfGH bereits auûer Kraft getreten, beschraÈnkt sich das Erkenntnis auf die Feststellung, dass das Gesetz verfassungswidrig war; ein solcher Ausspruch kommt nur bei der konkreten Normenkontrolle in Betracht. Kommt der VfGH zur Ansicht, dass das Gesetz nicht verfassungswidrig ist, wird der Antrag abgewiesen (bzw wird bei von Amts wegen eingeleiteten Verfahren ausgesprochen, dass die Norm nicht als verfassungswidrig aufgehoben wird). 2. Der Umfang der Aufhebung wird durch den Antrag begrenzt; der VfGH darf ein 1102 Gesetz nur insoweit als verfassungswidrig aufheben, als seine Aufhebung ausdru È cklich beantragt wurde. In dem dadurch abgesteckten Rahmen ist der Umfang der aufzuhebenden Normen nach den schon dargestellten GrundsaÈtzen abzugrenzen: Aufzuheben ist in jenem Umfang, wie es zur Bereinigung der verfassungswidrigen Rechtslage erforderlich ist; andererseits soll nicht mehr als erforderlich aus dem Rechtsbestand ausgeschieden werden (vgl Rz 1099). In gewissen FaÈllen sieht Art 140 Abs 3 B-VG vor, dass der Gerichtshof u È ber den bean- 1103 tragten bzw praÈjudiziellen Umfang hinauszugehen und das ganze Gesetz aufzuheben hat, und zwar dann, wenn . das Gesetz von einem unzustaÈndigen Gesetzgeber erlassen wurde oder wenn . das Gesetz in verfassungswidriger Weise kundgemacht wurde. In diesen FaÈllen der Kompetenzwidrigkeit und von KundmachungsmaÈngeln hat der VfGH daher die verfassungswidrige Rechtslage losgeloÈst von den im Antrag vorgebrachten Bedenken oder dem Umfang der PraÈjudizialitaÈt zu bereinigen. Wenn die Aufhebung eines Gesetzes allerdings den Interessen eines Bu È rgers zuwiderlaÈuft, der einen IA gestellt oder dessen Rechtssache Anlass fu È r die Einleitung eines amtswegigen Verfahrens war, hat sich der VfGH auf den Antrag bzw den Umfang der PraÈjudizialitaÈt zu beschraÈnken, um den Antragsteller bzw Beschwerdefu È hrer nicht um den Erfolg der Anfechtung zu bringen.
3. Ein aufhebendes Erkenntnis wirkt grundsaÈtzlich nur pro futuro; dies ergibt sich 1104 aus der Anordnung des Art 140 Abs 5 B-VG, wonach die Aufhebung mit Ablauf des Tages der Kundmachung des Erkenntnisses in Kraft tritt, sofern der VfGH nicht eine Frist fu È r das Auûer-Kraft-Treten bestimmt. Die Kundmachung der Aufhebung (im BGBl oder LGBl) obliegt bei Bundesgesetzen dem Bundeskanzler, bei Landesgesetzen dem Landeshauptmann. Ab dem der Kundmachung folgenden Tag gilt das Gesetz als aufgehoben und es darf von den Gerichten und VerwaltungsbehoÈrden,
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von dem noch zu besprechenden Fall der Fristsetzung abgesehen, nicht mehr angewendet werden. 1105 a) Verfassungswidrige Gesetze sind daher nicht (ex tunc) nichtig, sondern ex nunc vernichtbar. Die wichtigste Konsequenz dieser Anordnung ist der Umstand, dass das verfassungswidrige Gesetz ungeachtet seiner Aufhebung auf fru È her verwirklichte Sachverhalte weiter anzuwenden ist, weil der Aufhebung keine ru È ckwirkende Kraft zukommt (Art 140 Abs 7 B-VG). Bei einem gleichheitswidrigen Steuertatbestand ist die Steuer fu È r vergangene SteuerzeitraÈume daher weiterhin auf der Grundlage der verfassungswidrigen Norm vorzuschreiben. Mit dieser Regelung raÈumt das B-VG dem Prinzip der RechtsbestaÈndigkeit einen bemerkenswerten Vorrang vor der materiellen VerfassungsmaÈûigkeit ein und mutet dem Rechtsunterworfenen zu, eine verfassungswidrige Rechtslage und die darauf gestu È tzten Vollzugsakte fu È r eine laÈngere Zeit hinnehmen zu mu È ssen. Wie die nachfolgend zu besprechenden Regelungen zeigen, raÈumt das B-VG dem Gerichtshof allerdings ein weit reichendes Ermessen ein, durch abweichende Ausspru È che nach Art 140 Abs 7 B-VG die damit verbundenen HaÈrten zu mildern.
1106 b) Ausgenommen von der grundsaÈtzlichen pro-futuro-Wirkung ist zunaÈchst immer der so genannte Anlassfall (Art 140 Abs 7 B-VG): Bei der Entscheidung jenes Rechtsfalles, der Anlass fu È r die Einleitung des Gesetzespru È fungsverfahrens war, ist die verfassungswidrige Gesetzesbestimmung jedenfalls nicht mehr anzuwenden; das bedeutet, dass das Gericht, das eine praÈjudizielle Norm angefochten hat, bzw dass der VfGH, der das Gesetz selbst anzuwenden gehabt haÈtte, diesen Fall auf der Grundlage der bereinigten, verfassungsmaÈûigen Rechtslage zu entscheiden hat. aa) Durch diese ausdru È cklich vorgesehene Begu È nstigung des Anlassfalles (bei dem dem aufhebenden Erkenntnis ru È ckwirkende Kraft zukommt) hat das B-VG eine Art von ¹ErgreiferpraÈmieª geschaffen: Derjenige, der den Anstoû fu È r die Beseitigung einer verfassungswidrigen Rechtslage gegeben hat, soll dafu È r gleichsam belohnt werden. bb) Die Begu È nstigung des Anlassfalles kommt bei Verfahren der konkreten Normenkontrolle (dh durch Antrag eines Gerichts oder UVS/BVA bzw von Amts wegen eingeleiteten Gesetzespru È fungsverfahren) zum Tragen. cc) WaÈhrend nach einem engen Wortsinn als Anlassfall nur jener Beschwerdefall anzusehen waÈre, der tatsaÈchlich den Anstoû zur Einleitung eines Gesetzespru È fungsverfahrens gegeben hat (so dass alle spaÈter eingebrachten gleichartigen Beschwerden keine AnlassfaÈlle waÈren), zieht der VfGH den Kreis der als AnlassfaÈlle anzusehenden FaÈlle weiter: Nach der Judikatur sind AnlassfaÈlle alle Beschwerden, die vor Beginn der (mu È ndlichen) Verhandlung im Normenkontrollverfahren eingebracht worden sind (so genannte ¹Quasi-AnlassfaÈlleª). dd) Ein Anlassfall kann zB auch ein Verordnungspru È fungsverfahren sein, das den Anstoû zur Pru È fung der gesetzlichen Grundlagen gegeben hat. Daher ist nach der Aufhebung der gesetzlichen VerordnungsermaÈchtigung auch die entsprechende Verordnung aufzuheben (VfSlg 14.679/1996). ee) Das folgende Beispiel verdeutlicht die in der Qualifikation als ¹Anlassfallª bzw ¹Quasi-Anlassfallª liegende Begu È nstigung: Durch die Zivildienstnovelle 2000 war das Verpflegungsgeld der Zivildiener von 155 auf 43 Schilling pro Tag geku È rzt worden. Aus Anlass der Beschwerde eines betroffenen Zivildieners leitete der VfGH ein Verfahren nach Art 140 B-VG ein und sprach in seinem Erkenntnis aus, dass die angefochtenen Bestimmungen verfassungswidrig waren, weil sie dem im Verfassungsrecht begru È ndeten Anspruch auf angemessene Verpflegung nicht ausreichend Rechnung getragen hatten (VfSlg 16.389/2001). In diesem Anlassfall konnte der betroffene Zivildiener daher seinen Anspruch auf angemessene Verpflegung durchsetzen, weil auf ihn die verfassungswidrigen Bestimmungen nicht mehr anzuwenden waren. Dem gleich gehalten wurden als Quasi-AnlassfaÈlle weitere Beschwerden, die beim VfGH bis zum 29.11.2001 (dem Beginn der nichtoÈffentlichen Beratung in dem GesetzespruÈfungsverfahren) eingetroffen waren (vgl B 1858/00 ua). Freilich waren das nur rd 200 von ca 7000 Zivildienern; alle u È brigen Betroffenen blieben auf die verfassungswidrige Rechtslage verwiesen und mussten mit dem geku È rzten Verpflegungsgeld Vorlieb nehmen, weil die Aufhebung vom Anlassfall abgesehen nur pro futuro wirkt.
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c) Eine weitere, selbst u È ber ¹Quasi-AnlassfaÈlleª hinausreichende Ru È ckwirkung kann 1107 der Aufhebung zukommen, wenn dies der VfGH ausspricht; zur Anordnung einer solchen erweiterten Anlassfallwirkung ermaÈchtigt Art 140 Abs 7 B-VG (¹Auf die vor der Aufhebung verwirklichten TatbestaÈnde ... ist das Gesetz weiterhin anzuwenden, sofern der Verfassungsgerichtshof nicht in seinem aufhebenden Erkenntnis anderes aussprichtª). Ein solcher Ausspruch hat zur Folge, dass die Gerichte oder VerwaltungsbehoÈrden das aufgehobene Gesetz auch auf in der Vergangenheit verwirklichte Sachverhalte nicht mehr anzuwenden haben. Die Anordnung einer solchen erweiterten Anlassfallwirkung ist in das Ermessen des VfGH gestellt, der auch den Umfang der Ru È ckwirkung bestimmt. In der Praxis macht der Gerichtshof davon etwa dann Gebrauch, wenn dem Anlassfall vergleichbare FaÈlle vor einem anfechtungsberechtigten Gericht oder UVS bereits anhaÈngig sind, diese aber aus Gru È nden des Verfahrenslaufes nicht oder nicht rechtzeitig einen GesetzespruÈfungsantrag stellen konnten; Vergleichbares gilt fu È r FaÈlle, in denen VerwaltungsbehoÈrden die bei ihnen anhaÈngigen Berufungsentscheidungen ausgesetzt hatten, um die (fu È r die Einstufung als ¹QuasiAnlassfallª) rechtzeitige BekaÈmpfung der Bescheide beim VfGH zu behindern. In besonders gelagerten FaÈllen hat der VfGH die Ru È ckwirkung der Aufhebung noch weiter erstreckt und ausgesprochen, dass die aufgehobenen Bestimmungen auch auf vor der Aufhebung verwirklichte TatbestaÈnde nicht mehr anzuwenden sind (vgl zur Aufhebung der MindestkoÈrperschaftssteuer VfSlg 14.723, 15.060/1997, wo der Gerichtshof auch die Aufhebung bereits rechtskraÈftig gewordener Bescheide angeordnet hat). Eine ru È ckwirkende Nicht-Anwendbarkeit hat der VfGH auch ausgesprochen, wenn gesetzliche Vorschriften inhaltlich vo È llig unbestimmt waren, so dass ihre Anwendung aus rechtsstaatlichen Gru È nden problematisch waÈre (VfSlg 13.492/1993).
4. Durch die Setzung einer Frist nach Art 140 Abs 5 B-VG kann der VfGH die zeitli- 1108 che Wirkung einer Aufhebung (die ohne Fristsetzung mit ihrer Kundmachung eintritt) in die Zukunft erstrecken. Eine solche Aufhebung unter Fristsetzung soll dem Gesetzgeber die MoÈglichkeit geben eine Ersatzregelung fu È r die als verfassungswidrig erkannte gesetzliche Bestimmung zu schaffen (vgl zB VfSlg 15.578/1999: 15monatige Frist wegen der Notwendigkeit der vo È lligen Umgestaltung des Rechtsschutzsystems im Vergaberecht). Die Frist dafu È r darf 18 Monate nicht u È berschreiten. Bis zum Ablauf der Frist ist das (verfassungswidrige!) Gesetz weiter anzuwenden. Eine wichtige Konsequenz einer solchen Fristsetzung ist der Umstand, dass das aufgehobene 1109 verfassungswidrige Gesetz fu È r die Dauer der Frist unangreifbar wird (VfSlg 12.564/1990); gegen ein solches Gesetz eingebrachte Gesetzespru È fungsantraÈge sind daher zuru È ckzuweisen. In der Praxis kommt es relativ haÈufig zu Fristsetzungen; eine solche kann auch aus gemeinschaftsrechtlichen Gru È nden geboten sein, weil hier die Frist verhindern kann, dass (durch die Aufhebung eines Gesetzes) gegen eine Umsetzungspflicht verstoûen wird. UnzulaÈssig ist eine Fristsetzung, wenn die Verfassungswidrigkeit in einem Verstoû gegen die EMRK besteht (weil dann die weitere Anwendung zu weiteren VerstoÈûen gegen die Konvention fu È hren mu È sste; VfSlg 15.129/1998).
5. Wird ein Gesetz als verfassungswidrig aufgehoben, treten nach Art 140 Abs 6 1110 B-VG grundsaÈtzlich wieder jene gesetzlichen Bestimmungen in Kraft, die durch das vom VfGH als verfassungswidrig erkannte Gesetz aufgehoben worden waren. Welche Bestimmungen wieder in Kraft treten, ist in der Kundmachung des aufhebenden Erkenntnisses zu verlautbaren. Der VfGH kann allerdings auch anderes aussprechen, dh er kann in seinem Erkenntnis verfu È gen, dass die zuvor geltenden Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten (negative Geltungsanordnung). Von dieser Befugnis macht der Gerichtshof sehr haÈufig Gebrauch.
40.8. Das Verordnungspru È fungsverfahren nach Art 139 B-VG Nach Art 139 B-VG erkennt der VfGH u È ber die Gesetzwidrigkeit von Verordnun- 1111 È rde; er hat gesetzwidrige Verordnungen aufgen einer Bundes- oder Landesbeho zuheben bzw auszusprechen, dass eine bereits auûer Kraft getretene Verordnung
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gesetzwidrig war (¹V-Verfahrenª). Das Verordnungspru È fungsverfahren entspricht in Vielem dem im vorstehenden Abschnitt dargestellten Verfahren zur Pru È fung von Gesetzen nach Art 140 B-VG. Im Folgenden werden daher nur die wesentlichsten Punkte und die abweichenden Besonderheiten der Verordnungspru È fung dargestellt. 40.8.1. Zur Bedeutung des Verordnungspru È fungsverfahrens 1112 1. Die Pru È fung von Verordnungen bildet den zweiten Bereich der dem VfGH u È bertragenen Kompetenz zur Normenkontrolle. Wie bei den Gesetzen geht es auch hier um die GewaÈhrleistung des Stufenbaus der Rechtsordnung und um die Sicherung des rechtsstaatlichen Grundsatzes, dass letztlich keine Rechtsnorm auf Dauer dem Rechtsbestand angehoÈren soll, die in Widerspruch zu hoÈherrangigem Recht steht. Im Fall der Verordnungen, die (von wenigen Ausnahmen abgesehen) nur ¹auf Grund È bereinstimmung der Gesetzeª (Art 18 Abs 2 B-VG) ergehen du È rfen, ist daher die U mit dem ermaÈchtigenden Gesetz zu gewaÈhrleisten. Diese ZustaÈndigkeit zur Aufhebung von Verordnungen hat das B-VG ebenfalls beim VfGH monopolisiert, wobei allerdings der Kreis der anfechtungsbefugten Organe etwas weiter als bei den Gesetzen gezogen ist. 2. Die praktische Bedeutung der Verordnungspru È fung ist ebenfalls nicht zu vernachlaÈssigen. So wurden im Jahr 2007 vom VfGH 32 Verordnungen gepru È ft, von denen 25 ganz oder teilweise als gesetzwidrig aufgehoben wurden. Sachliche Schwerpunkte liegen bei der Kontrolle von in Verordnungsform ergehenden Planungsakten (zB FlaÈchenwidmungsplaÈne), bei Gebu È hrenordnungen oder bei durch VO verfu È gten StraûenverkehrsbeschraÈnkungen.
40.8.2. Die Verordnung als Pru È fungsgegenstand und der Pru È fungsmaûstab 1113 1. Der VfGH ist nach Art 139 B-VG zur Pru È fung von Verordnungen berufen, das heiût zur Kontrolle genereller Verwaltungsakte. Umfasst sind VO von Bundes- und LandesbehoÈrden im funktionellen Sinn; darunter fallen auch die VO der Gemeinden und von anderen Selbstverwaltungsko È rperschaften, die entweder dem Bundesoder Landesvollzugsbereich zuzuordnen sind. a) Auf die Stellung der VO im Stufenbau der Rechtsordnung kommt es nicht an: Daher sind neben den Durchfu È hrungsVO iS von Art 18 Abs 2 B-VG auch selbstaÈndige VO erfasst (dazu Rz 668). b) Der VfGH pru È ft auch die so genannten VerwaltungsVO, das sind generelle Weisungen, im Rahmen seiner Kompetenz nach Art 139 B-VG (VfSlg 13.635/1993). Richtet sich eine derartige generelle Weisung (¹Erlassª) nur zum Schein an nachgeordnete Verwaltungsorgane und gestaltet sie in Wahrheit die Rechte oder Pflichten von Rechtsunterworfenen, liegt eine RechtsVO vor; wenn sie nicht ordnungsgemaÈû kundgemacht ist, was bei ¹VerwaltungsVOª regelmaÈûig der Fall ist, hebt sie der VfGH schon aus diesem Grund auf (zB VfSlg 11.467/1987 oder 15.189/1998). c) Auch bereits aufgehobene VO fallen unter Art 139 B-VG, dies freilich nur dann, wenn sie in einem anhaÈngigen Verfahren noch anzuwenden sind (Art 139 Abs 4 B-VG).
1114 2. Als Pru È fungsmaûstab fu È r VO bezeichnet Art 139 Abs 1 B-VG deren GesetzmaÈûigÈ bereinstimmung mit dem zur Erlassung keit. Bei Durchfu È hrungsVO ist daher die U der VO ermaÈchtigenden einfachen Gesetz zu pru È fen; verfassungsunmittelbare (gesetzesvertretende oder gesetzaÈndernde) VO sind an der entsprechenden verfassungsrechtlichen Rechtsgrundlage zu messen; zum Pru È fungsmaûstab gehoÈren aber auch sonstige RechtmaÈûigkeitsbedingungen. Unter den Begriff der GesetzmaÈûigkeit kann daher auch die ¹VerordnungsmaÈûigkeitª fallen, wenn die zu pru È fende VO durch eine hoÈherrangige VO determiniert wird; dies ist zum Beispiel im VerhaÈltnis abgestufter Planungsakte (Bebauungsplan im VerhaÈltnis zum FlaÈchenwidmungsplan, FlaÈ-
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chenwidmungsplan im VerhaÈltnis zu einem u È beroÈrtlichen Entwicklungsprogramm) der Fall. Hinsichtlich der fu È r die Pru È fung maûgeblichen Rechtslage vgl sinngemaÈû oben Rz 1079. VerstoÈûe gegen das Gemeinschaftsrecht ko È nnen nicht im Verfahren nach Art 139 B-VG geltend gemacht werden, weil dieses nicht Gesetzesrecht iS von Art 139 B-VG ist.
40.8.3. Die Antragsbefugnis (Legitimation) 1. In Bezug auf VO zieht das B-VG die Antragsbefugnis etwas weiter als bei Gesetzen, 1115 weil jedes Gericht (und nicht nur die Ho È chstgerichte und zweitinstanzlich entscheidenden Gerichte) einen Antrag auf VO-Pru È fung stellen kann, wenn es die VO in einem anhaÈngigen Verfahren anzuwenden hat. Andererseits gibt es bei VO keine Anfechtung durch die Parlamente. È brigen entspricht die Anfechtungslegitimation der bei Gesetzen, dh zur AnIm U fechtung von VO sind nach Art 139 Abs 1 B-VG befugt: . die BReg im Hinblick auf VO einer LandesbehoÈrde und die LReg im Hinblick auf VO einer BundesbehoÈrde; . die Gemeinden im Hinblick auf VO einer Gemeindeaufsichtsbeho È rde (Art 119a Abs 6 B-VG); . alle Gerichte; . die UVS und das Bundesvergabeamt (BVA); . der VfGH von Amts wegen; . schlieûlich kann der Einzelne unter bestimmten Voraussetzungen einen Individualantrag auf Verordnungspru È fung beim VfGH einbringen. 2. Gerichte und UVS/BVA koÈnnen VO nur dann anfechten, wenn sie diese in einem 1116 anhaÈngigen Verfahren anzuwenden haÈtten, dh wenn die VO praÈjudiziell ist; Gleiches gilt fu È r die amtswegige Einleitung eines VO-Pru È fungsverfahrens durch den VfGH. Zu dieser Voraussetzung der PraÈjudizialitaÈt vgl sinngemaÈû oben Rz 1093 ff. Hat ein Gericht (UVS/BVA) Bedenken gegen die GesetzmaÈûigkeit einer VO, hat es das Verfahren zu unterbrechen und einen entsprechenden Antrag beim VfGH zu stellen. Ist die VO allerdings nicht ordnungsgemaÈû kundgemacht, sind Gerichte (UVS/BVA) an sie nicht gebunden (vgl Art 89 Abs 1 B-VG); sie ist auûer Acht zu lassen, ohne dass ein Antrag an den VfGH in Betracht kommt. Andere Antragsteller koÈnnen solche VO allerdings anfechten. Die Anfechtungsbefugnis der Regierungen (und der Gemeinden) bildet einen Fall der abstrakten Normenkontrolle; sie bezieht sich nur auf noch in Kraft stehende VO. 3. Hinsichtlich der ZulaÈssigkeit eines gegen eine VO gerichteten Individualantrags 1117 (IA) kann auf die vorstehenden Ausfu È hrungen zur Gesetzespru È fung verwiesen werden. Auch bei VO ist ein solcher Antrag nur zulaÈssig, wenn (1) ein aktueller, eindeutig bestimmter Eingriff in die RechtssphaÈre des Antragstellers vorliegt (unmittelbare Eingriffswirkung) und (2) kein anderer Rechtsweg zumutbar ist (Umwegunzumutbarkeit). Vgl zu diesen Kriterien im Einzelnen oben Rz 1088 ff. Zum IA bei VO gibt es eine reichhaltige Judikatur: ZulaÈssig ist beispielsweise der IA gegen die È ffentlicherklaÈrung eines bereits vorhandenen Weges (VfSlg 13.811/1994; dagegen nicht, O wenn erst ein bekaÈmpfbarer Straûenbaubescheid zu erlassen ist; VfSlg 10.988/1986); die BekaÈmpfung eines FlaÈchenwidmungsplans durch den Grundstu È ckseigentu È mer (nicht durch den Nachbarn), dies allerdings nur dann, wenn nicht in einem vereinfachten (kostengu È nstigen) Verfahren (zB BauplatzerklaÈrung) u È ber die ZulaÈssigkeit der Bebauung bescheidmaÈûig entschieden werden kann (VfSlg 13.766/1994); gegen eine VO u È ber die Kfz-Haftpflicht, weil ein Zuwar-
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ten zum Verlust des Versicherungsschutzes fu È hren mu È sste (VfSlg 8212/1977); gegen TarifVO, durch die Preise fu È r Energie verbindlich festgelegt werden (VfSlg 15.888/2000). UnzulaÈssig sind AntraÈge gegen naturschutzrechtliche Planungen (VfSlg 15.467/1999) oder BeschraÈnkungen nach der StVO (VfSlg 13.618/1993), wenn um Ausnahmebewilligung angesucht werden kann, und zwar auch bei Aussichtslosigkeit eines solchen Ansuchens.
1118 4. Neben Art 139 B-VG sehen weitere Verfassungsbestimmungen eine VO-Anfechtung vor: durch den Finanzminister nach § 10 F-VG sowie durch die VA (bzw durch eine LandesVA) nach Art 148e, 148i B-VG. 5. Hinsichtlich der weiteren Prozessvoraussetzungen (ausreichend bestimmte Bezeichnung der zur Pru È fung beantragten VO-Bestimmungen, Abgrenzung des Pru Èfungsgegenstandes, Begehren der Aufhebung, res iudicata etc) kann auf die vorstehenden Ausfu È hrungen zur GesetzespruÈfung verwiesen werden. 40.8.4. Die Entscheidung im Verordnungspru È fungsverfahren 1119 1. BestaÈtigen sich die aufgeworfenen Bedenken, hat der VfGH die gesetzwidrige VO durch sein Erkenntnis aufzuheben bzw (soweit sie schon auûer Kraft getreten ist) festzustellen, dass sie gesetzwidrig war. Aufzuheben sind nur jene Verordnungsbestimmungen, deren Aufhebung ausdru È cklich beantragt wurde oder die der VfGH (im Fall der amtswegigen Einleitung) in einer bei ihm anhaÈngigen Rechtssache anzuwenden haÈtte. Ist die VO allerdings ohne gesetzliche Grundlage oder von einer È rde erlassen worden oder wurde sie in gesetzwidriger unzustaÈndigen Beho Weise kundgemacht, ist sie zur GaÈnze aufzuheben, auûer wenn eine solche Gesamtaufhebung den Interessen einer Partei zuwiderlaÈuft (Art 139 Abs 3 B-VG) (vgl die entsprechenden Ausfu È hrungen zur Gesetzespru È fung oben Rz 1103). 1120 2. Die Folgen eines aufhebenden Erkenntnisses sind in den Art 139 Abs 5, 6 B-VG in einer Èahnlichen Weise wie bei der Aufhebung von Gesetzen geregelt (vgl Rz 1104 ff). Sie unterscheiden sich davon in zwei Punkten: a) Der VfGH kann fu È r die Aufhebung eine Frist setzen, die bei VO sechs Monate (wenn gesetzliche Vorkehrungen erforderlich sind, 18 Monate) nicht u È bersteigen darf. b) Da eine Art 140 Abs 6 B-VG entsprechende Anordnung bei der VO-Pru È fung fehlt, treten im Fall einer Aufhebung einer VO aÈltere Bestimmungen jedenfalls nicht mehr in Kraft.
40.9. Die Kausalgerichtsbarkeit (Art 137 B-VG) È gensrechtliche An1121 Nach Art 137 B-VG erkennt der VfGH u È ber gewisse vermo È rperschaften. Solche Anspru spru È che gegen Gebietsko È che werden durch Klage geltend gemacht (¹A-Verfahrenª); sie kann auf die Zuerkennung einer faÈlligen vermoÈgenswerten Leistung oder ± wenn eine Leistungsklage noch nicht mo È glich ist ± auf Feststellung eines nach Art 137 B-VG einklagbaren Anspruchs gerichtet sein. Fu Èr die Austragung dieser o È ffentlich-rechtlichen Streitigkeiten hat sich die Bezeichnung ¹Kausalgerichtsbarkeitª eingebu È rgert. 1122 1. ZulaÈssig sind Klagen nach Art 137 B-VG nur dann, wenn u È ber den vermoÈgensrechtlichen Anspruch weder durch ein ordentliches Gericht noch durch den È rde zu entscheiden ist; die hier dem VfGH u Bescheid einer Verwaltungsbeho È bertragene Kompetenz begru È ndet daher nur eine subsidiaÈre (ergaÈnzende) ZustaÈndigkeit des Gerichtshofs. Besteht die MoÈglichkeit einer Klage bei einem ordentlichen Gericht oder ein Anspruch auf Bescheiderlassung, scheidet die Klage nach Art 137
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B-VG aus. Passiv legitimiert sind nur die in Art 137 B-VG genannten GebietskoÈrperschaften, dh der Bund, die LaÈnder, die Gemeinden und die GemeindeverbaÈnde. Andere o È ffentlich-rechtliche KoÈrperschaften (zB Kammern, SozialversicherungstraÈger) koÈnnen nicht nach dieser Bestimmung geklagt werden. È gensrechtlicher Natur sind alle auf eine Geldleistung oder geldwerte Leistung gea) Vermo richteten Anspru È nnen daher zB die folgenden Anspru È che. Nach dieser Bestimmung ko È che geltend gemacht werden: auf Ru È ckzahlung von Geldstrafen nach Aufhebung eines Straferkenntnisses (VfSlg 13.993/1994), auf Herausgabe beschlagnahmter Sachen (VfSlg 11.180/ 1986), auf Liquidation der schon auf Grund des Gesetzes gebu È hrenden oder von bereits bescheidmaÈûig zuerkannten Gehaltsanspru È chen von Beamten (VfSlg 12.024/1989); auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung (VfSlg 14.419/1995). Auch die finanziellen Anspru Èche zwischen GebietskoÈrperschaften aus dem Finanzausgleich (zB eines Landes gegen den Bund) ko È nnen nach Art 137 B-VG durchgesetzt werden (vgl zum Finanzausgleich Rz 452 ff). Zum Folgenbeseitigungsanspruch nach Aufhebung eines Bescheids durch einen Gerichtshof des oÈffentlichen Rechts vgl Rz 1064. b) Der Anspruchsberechtigte kann bei Geldforderungen in analoger Anwendung der §§ 1333, 1334 ABGB auch die u È blichen Verzugszinsen begehren; dabei tritt Verzug nach der Judikatur erst dann ein, wenn zur Zahlung aufgefordert wurde und dem Zahlungsbegehren nicht innerhalb einer angemessenen Frist entsprochen wurde (VfSlg 12.026/1989, 13.993/1994). c) Ob ein Anspruch auf dem ordentlichen Rechtsweg durchzusetzen (und daher die Art 137 B-VG-Klage unzulaÈssig) ist, richtet sich nach § 1 JN und anderen die ZustaÈndigkeit eines Ziviloder Strafgerichts begru Ènnen Anspru È ndenden Normen. Daher ko È che, die im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung entstanden sind, ferner schadenersatzrechtliche Anspru È che gegen GebietskoÈrperschaften oder EntschaÈdigungsanspru È che bei Enteignungen nicht nach Art 137 B-VG durchgesetzt werden. Ob ein vermoÈgensrechtlicher Anspruch durch Bescheid zu erledigen ist, richtet sich nach den Verwaltungsvorschriften.
2. Haftungsrechtliche Anspru È che gegen GebietskoÈrperschaften, die aus rechtswidri- 1123 gem Staatshandeln herru È che), koÈnnen auf verschieÈ hren (Staatshaftungsanspru dene Weise geltend gemacht werden, in erster Linie im Amtshaftungsverfahren nach dem AHG (dazu Rz 831 ff). Amtshaftungsanspru È che bestehen freilich nur dann, wenn der Schaden durch ein schuldhaftes Handeln eines Staatsorgans ¹in Vollziehung der Gesetzeª verursacht wurde, dh wenn es sich um einen (hoheitlichen) Verwaltungsakt oder einen gerichtlichen Akt gehandelt hat, wobei nach § 2 Abs 3 AHG aus einem Erkenntnis eines der HoÈchstgerichte ein Ersatzanspruch nicht abgeleitet werden kann. Weiter gehende Staatshaftungsanspru È che, die sich auch aus Akten (Unterlassun- 1124 gen) des Gesetzgebers und Erkenntnissen der HoÈchstgerichte ableiten lassen, gewaÈhrt nach der Judikatur des EuGH das EuropaÈische Gemeinschaftsrecht (vgl zB EuGH, verb Rs C-46/93, Brasserie, und C-48/93, Factortame, Slg 1996, I-1029; dazu im Einzelnen Rz 841). Gemeinschaftsrechtlich begru È ndete Anspru È che sind je nach Lage vor den Amtshaftungsgerichten nach dem AHG, vor den ordentlichen Gerichten oder vor dem VfGH nach Art 137 B-VG durchzusetzen. Nach der Judikatur des VfGH kann gegen legislatives Unrecht nur dann nach Art 137 B-VG vorgegangen werden, wenn die anspruchsbegru È ndenden Handlungen oder Unterlassungen nicht einem hoheitlich taÈtigen Vollzugsorgan oder einem privatrechtsfo Èrmig taÈtigen Staatsorgan, sondern unmittelbar dem Gesetzgeber zuzurechnen sind (etwa weil eine TaÈtigkeit eines Vollzugsorgans gar nicht vorgesehen ist). Ist der Schaden einem Vollzugsorgan zuzurechnen, sind entweder die Amtshaftungsgerichte (wenn ¹in Vollziehung der Gesetzeª) oder die ordentlichen Gerichte zustaÈndig (VfSlg 16.107/2001). StaatshaftungsanspruÈche aus Entscheidungen der Ho È chstgerichte (OGH, VwGH, VfGH) sind nach Art 137 B-VG geltend zu machen (VfSlg 17.019/2003).
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40.10. Die Kompetenzgerichtsbarkeit (Art 138 B-VG) 1125 Der VfGH ist in mehreren ZusammenhaÈngen zur Entscheidung von strittigen Kompetenzfragen berufen. Dabei kann man zwischen der Entscheidung von Kompetenzkonflikten (Art 138 Abs 1 B-VG) und der Kompetenzfeststellung (Art 138 Abs 2 B-VG) unterscheiden (¹K-I- und K-II-Verfahrenª). 40.10.1. Entscheidung von Kompetenzkonflikten (Art 138 Abs 1 B-VG) 1126 1. In den folgenden FaÈllen entscheidet der VfGH endgu È ltig, wenn ein Kompetenzkonflikt entsteht (Art 138 Abs 1 B-VG): È rden (Z 1); . zwischen Gerichten und Verwaltungsbeho . zwischen dem VwGH und dem AsylGH sowie zwischen dem VwGH (AsylGH) und allen anderen Gerichten (insbesondere auch zwischen dem VwGH und dem VfGH selbst) (Z 2); . zwischen dem VfGH und allen anderen Gerichten (Z 2); . zwischen den LaÈndern untereinander sowie zwischen einem Land und dem Bund (Z 3). Mit dieser Kompetenz soll sichergestellt werden, dass jede Rechtssache von der zustaÈndigen BehoÈrde entschieden wird und keine Rechtsdurchsetzung daran scheitert, dass sich weder ein Gericht noch eine BehoÈrde dafu È r zustaÈndig erklaÈrt. Dass diese ZustaÈndigkeit dem VfGH eingeraÈumt ist, liegt darin begru È ndet, dass es in den in Art 138 Abs 1 B-VG genannten FaÈllen keine gemeinsame OberbehoÈrde gibt, die den ZustaÈndigkeitsstreit entscheiden koÈnnte (wie das zB der Fall ist, wenn zwei Verwaltungsbeho È rden aus dem gleichen Vollzugsbereich in einem Kompetenzkonflikt verfangen sind, den dann die OberbehoÈrde ± zB die BReg oder LReg ± entscheidet). Andere als die angefu È hrten Kompetenzkonflikte (etwa zwischen Bundesministern untereinander) ko È nnen nicht im Verfahren nach Art 138 B-VG behandelt werden.
1127 2. Ein vom VfGH zu entscheidender Kompetenzkonflikt liegt nur dann vor, wenn beide BehoÈrden (Gerichte) ihre ZustaÈndigkeit in derselben Sache entweder verneint haben (negativer oder verneinender Kompetenzkonflikt) oder beide ihre ZustaÈndigkeit angenommen haben (positiver oder bejahender Kompetenzkonflikt) und wenn das eine der beiden beteiligten BehoÈrden (Gerichte) zu Unrecht getan hat. Daher ist es kein nach Art 138 Abs 1 B-VG auszutragender Kompetenzkonflikt, wenn zwei BehoÈrden eine ihnen zustehende Kompetenz in Anspruch nehmen (ZustaÈndigkeitskonkurrenz) oder wenn tatsaÈchlich beide befassten BehoÈrden unzustaÈndig sind. 1128 3. Wer zur Stellung eines Antrags zur Entscheidung eines Kompetenzkonflikts legitimiert ist, er-
gibt sich aus den §§ 42 ff VfGG: Antragsbefugt sind danach bei positiven Kompetenzkonflikten (zwischen Gerichten und Verwaltungsbeho È rden bzw zwischen Verwaltungsbeho È rden von Bund und LaÈndern oder verschiedener LaÈnder) jeweils die obersten Verwaltungsbeho È rden innerhalb bestimmter Fristen. Die Parteien des Streitfalls haben ein subsidiaÈres Antragsrecht, dh sie ko È nnen selbst an den VfGH mit einem Antrag herantreten, wenn die oberste VerwaltungsbehoÈrde nicht taÈtig geworden ist. Bei positiven Kompetenzkonflikten zwischen Gerichten ko È nnen diese den Fall durch eine Anzeige an den VfGH herantragen. In allen FaÈllen eines negativen Kompetenzkonflikts kann der Antrag nur von einer Partei gestellt werden, der eine Entscheidung von beiden BehoÈrden (Gerichten) verweigert wurde.
40.10.2. Kompetenzfeststellung (Art 138 Abs 2 B-VG) 1129 Nach Art 138 Abs 2 B-VG kann der VfGH feststellen, ob ein Akt der Gesetzgebung oder der Vollziehung in die ZustaÈndigkeit des Bundes oder der LaÈnder faÈllt. Eine solche Kompetenzfeststellung dient der praÈventiven (vorbeugenden) KlaÈrung foÈ-
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deralistischer Streitfragen; praktisch bedeutsam ist diese ZustaÈndigkeit des VfGH vor allem bei der Entscheidung strittiger Fragen im Bereich der Gesetzgebung. Durch ein solches Erkenntnis wird die ZustaÈndigkeitsfrage bindend entschieden. Die 1130 Entscheidung des VfGH wird in der Form eines Rechtssatzes zusammengefasst, der im BGBl kundzumachen ist. Ein solcher Rechtssatz stellt eine authentische Interpretation der entsprechenden verfassungsrechtlichen Kompetenzbestimmung dar; er steht im Verfassungsrang und bindet alle Staatsorgane (vor allem den einfachen Gesetzgeber, aber auch den VfGH selbst). Der VfGH kann nicht nur feststellen, welcher Gesetzgeber zur Erlassung eines bestimmten Gesetzes zustaÈndig ist; er kann auch aussprechen, dass ein Akt weder in die ZustaÈndigkeit des Bundes noch in die der LaÈnder faÈllt. Im Verfahren nach Art 138 Abs 2 B-VG koÈnnen nur Kompetenzfragen verbindlich geklaÈrt werden; zur Entscheidung anderer strittiger Verfassungsfragen (inhaltliche VerfassungsmaÈûigkeit einer Regelung) ist der VfGH in diesem Verfahren nicht befugt. Antragsberechtigt sind die BReg oder eine LReg. Sie haben dem VfGH den Entwurf des fraglichen Aktes vorzulegen; soweit daher die KlaÈrung einer Gesetzgebungskompetenz begehrt wird, ist der Entwurf des fraglichen Gesetzes vorzulegen. Seit 1926 wurden u È ber 70 RechtsÈ sterreiÈ ffer, O saÈtze nach Art 138 Abs 2 B-VG im BGBl kundgemacht (vgl die Auflistung bei Scha chische Verfassungs- und Verwaltungsgesetze, bei Art 138 B-VG).
40.10.3. Kompetenzkonflikte im Zusammenhang mit Rechnungshof (Art 126a B-VG) und Volksanwaltschaft (Art 148f B-VG) Im Zusammenhang mit dem Rechnungshof und der Volksanwaltschaft u È bertraÈgt 1131 das B-VG dem VfGH noch die Entscheidung weiterer Kompetenzstreitigkeiten: Nach Art 126a B-VG entscheidet der VfGH, wenn eine Meinungsverschiedenheit u È ber die ZustaÈndigkeit des RH zwischen diesem und einem gepru È ften RechtstraÈger entsteht, dh wenn zB die Pru È fungszustaÈndigkeit u È berhaupt bestritten oder bestimmte VorgaÈnge von der Einsicht durch den RH ausgeschlossen werden oder der RH eine bestimmte Pru È fung nicht durchfu È hrt. In gleicher Weise ist der VfGH nach Art 148f B-VG dazu berufen u È ber die ZustaÈndigkeit È ber Meinungsverschiedenheiten u der VA zu entscheiden, die zwischen dieser und der BReg oder einem BM entstehen. Antragsberechtigt sind in beiden FaÈllen die BReg oder eine LReg bzw die VA oder der RH. In seinem Erkenntnis stellt der VfGH die umstrittene ZustaÈndigkeit verbindlich fest. Alle RechtsÈ berpru traÈger sind verpflichtet entsprechend der Rechtsanschauung des VfGH eine U È fung durch den RH zu ermoÈglichen (Art 126a B-VG).
40.11. Die Pru È fung von Vereinbarungen nach Art 15a B-VG (Art 138a B-VG) Art 138a B-VG gibt dem VfGH gewisse ZustaÈndigkeiten im Hinblick auf Bund-LaÈn- 1132 der-Vereinbarungen und LaÈnder-Vereinbarungen nach Art 15a B-VG (vgl zu diesen Vereinbarungen Rz 459 ff). Der Gerichtshof hat festzustellen, ob eine gu È ltige Vereinbarung vorliegt und ob die Vertragspartner die aus einer solchen Vereinbarung folgenden Vertragspflichten erfu È llt haben. Die Entscheidung nach Art 138a B-VG ergeht als ein bloûes Feststellungserkenntnis, eine Verurteilung zur Erbringung der aus dem Vertrag resultierenden Pflichten, die idR auf den Erlass von Gesetzen gerichtet sind, ist daher nicht moÈglich. Antragsberechtigt sind die beteiligten Regierungen. Bei Vereinbarungen zwischen den LaÈndern kann der VfGH nur angerufen werden, wenn das in der Vereinbarung vorgesehen ist. VermoÈgensrechtliche Anspru È che, die aus Art 15a-Vereinbarungen resultieren, sind nach Art 137
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B-VG geltend zu machen (vgl Rz 1121 ff). Im Zusammenhang mit dem Konsultationsmechanismus (vgl Rz 444) wurden auch der Gemeindebund und der StaÈdtebund ermaÈchtigt AntraÈge nach Art 138a B-VG zu stellen.
40.12. Die Pru È fung von Wiederverlautbarungen (Art 139a B-VG) 1133 Gesetze und StaatsvertraÈge koÈnnen nach der in Art 49a B-VG bzw nach den in den einzelnen LV enthaltenen ErmaÈchtigungen mit verbindlicher Wirkung wiederverlautbart werden (vgl Rz 633 f). Art 139a B-VG gibt dem VfGH die ZustaÈndigkeit, die GesetzmaÈûigkeit der durch ein oberstes Verwaltungsorgan vorgenommenen Kundmachung u È ber eine solche Wiederverlautbarung zu pru È fen. Maûstab dafu È r ist die entsprechende bundes- bzw landesverfassungsrechtliche ErmaÈchtigung. Das Verfahren nach Art 139a B-VG ist dem Verordnungspru È fungsverfahren angeglichen (vgl den Verweis in § 61b VfGG). Ist die Wiederverlautbarung mit einer Gesetzwidrigkeit belastet (etwa weil nicht mehr geltende Bestimmungen wiederverlautbart, geltende Normen nicht in die Wiederverlautbarung aufgenommen oder unzulaÈssigerweise veraÈndert wurden), hebt der Gerichtshof die Wiederverlautbarung auf. In einem solchen Fall sind die urspru È nglichen, durch die Wiederverlautbarung verdraÈngten Bestimmungen wieder anzuwenden. 1. Aufzuheben ist die verfassungswidrige Wiederverlautbarung in dem beantragten Umfang bzw (bei amtswegiger Einleitung) soweit sie Voraussetzung eines Erkenntnisses des VfGH ist. Die Wirkungen einer Aufhebung entsprechen denjenigen, die bei der Aufhebung einer VO eintreten (vgl Rz 1120). Ist die Wiederverlautbarung bereits auûer Kraft getreten, stellt dies der VfGH fest. 2. Vgl das nachfolgende Beispiel fu È r eine verfassungswidrige Wiederverlautbarung: Die KaÈrntner LReg hatte das mehrfach novellierte StraûenG als StraûenG 1978 wiederverlautbart und in die wiederverlautbarte Fassung auch den § 9 u È ber die Haftung des Straûenerhalters aufgenommen. In seinem nach Art 139a B-VG eingeleiteten Verfahren kam der VfGH zu dem Ergebnis, dass dieser Regelung durch den 1975 geschaffenen § 1319a ABGB inhaltlich derogiert worden war. Damit stand fest, dass die LReg die Grenzen der ErmaÈchtigung zur Wiederverlautbarung u È berschritten hatte, weil eine bereits auûer Kraft getretene Bestimmung als geltend festgestellt wurde. Die Wiederverlautbarung wurde aufgehoben (VfSlg 9597/1982).
È lkerrechtlichen VertraÈgen 40.13. Die Pru È fung von vo (Art 140a B-VG) 1134 1. Das B-VG gibt dem VfGH (neben der Pru È fung von Gesetzen und VO) auch die ZustaÈndigkeit zur Kontrolle der RechtmaÈûigkeit von StaatsvertraÈgen (des Bundes und der LaÈnder). Der Pru È fungsmaûstab und das naÈhere Verfahren richten sich nach dem Rang des Staatsvertrags im innerstaatlichen Recht: StaatsvertraÈge, die vom NR nach Art 50 B-VG genehmigt wurden, und StaatsvertraÈge der BundeslaÈnder, die gesetzaÈndernd oder gesetzesergaÈnzend sind, gelten in diesem Zusammenhang als Bundes- oder Landesgesetze. Sie sind auf ihre VerfassungsmaÈûigkeit zu pru È fen, wobei auf sie Art 140 B-VG (Gesetzespru È fungsverfahren) anzuwenden ist. Alle anderen StaatsvertraÈge, die im Rang von VO stehen, sind in dem Verfahren nach Art 139 B-VG (Verordnungspru È fungsverfahren) auf ihre GesetzmaÈûigkeit zu pru È fen. 1135 2. Die Antragslegitimation entspricht derjenigen bei der Gesetzes- bzw Verordnungspru È fung (vgl Art 139, 140 B-VG). Kommt der VfGH zur Auffassung, dass der Staatsvertrag rechtswidrig ist, stellt der Gerichtshof die Verfassungs- oder Gesetzwidrigkeit fest. Eine Aufhebung kommt wegen der voÈlkerrechtlichen Wirkungen des Staatsvertrags nicht in Betracht. Die Feststellung hat jedoch die folgenden Auswirkungen:
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. Wurde der Staatsvertrag generell transformiert (vgl Rz 274), ist er vom Ablauf des Tages der Kundmachung des Erkenntnisses an von den VerwaltungsbehoÈrden und Gerichten nicht mehr anzuwenden. Der VfGH kann allerdings eine Frist setzen, bis zu deren Ablauf der Staatsvertrag weiter anwendbar bleibt. . Wurde der Staatsvertrag mit Erfu È llungsvorbehalt speziell transformiert (vgl Rz 270), erlischt mit Ablauf des Tages der Kundmachung des Erkenntnisses der vom NR gefasste Genehmigungsbeschluss bzw die Anordnung des BPraÈs, dass der Staatsvertrag durch Gesetz oder VO zu erfu È llen ist. Das hat zur Folge, dass der Staatsvertrag nicht ausgefu È hrt zu werden braucht.
40.14. Die Wahlgerichtsbarkeit (Art 141 B-VG) Art 141 B-VG u È bertraÈgt dem VfGH drei zusammenhaÈngende Kompetenzen. Er ist zu- 1136 staÈndig zu Entscheidungen u È ber . die Anfechtung von bestimmten Wahlen in Parlamente oder zu bestimmten Verwaltungsfunktionen (BPraÈs, Nationalrat, Landtag, Bundesrat, Gemeinderat, o È sterreichische Abgeordnete zum EuropaÈischen Parlament, LReg, Gemeindevorstand bzw Stadtsenat und Stadtrat, Bu È rgermeister, satzungsgebende Organe der gesetzlichen beruflichen Vertretungen ± Kammern); . die Anfechtung von Volksbegehren, Volksbefragungen und Volksabstimmungen; . den Mandatsverlust von Mitgliedern eines allgemeinen Vertretungsko È rpers (Nationalrat, Bundesrat, Landtag), von Mitgliedern des EuropaÈischen Parlaments oder von Mitgliedern des satzungsgebenden Organs einer Kammer sowie zur Entscheidung u È ber Bescheide, mit denen der Mandatsverlust in einem allgemeinen Vertretungsko È rper, einem Gemeindevorstand oder einem satzungsgebenden Organ einer gesetzlichen beruflichen Vertretung verfu È gt wurde. Mit diesen ZustaÈndigkeiten sind dem VfGH demokratiepolitisch wichtige Aufgaben u È bertragen worden, weil er auf diese Weise u È ber die ordnungsgemaÈûe und objektive Durchfu È hrung der Wahlen und der plebiszitaÈren Akte wacht und damit zum Funktionieren des demokratischen Systems Entscheidendes beitraÈgt. Die Anfechtungsbefugnisse (Antragsbefugnisse) sind in Art 141 B-VG sowie (zusammen mit dem Verfahren) in den §§ 67 ff VfGG geregelt. 40.14.1. Die Wahlanfechtung Die Wahlen zu den Parlamenten einschlieûlich des EuropaÈischen Parlaments, die 1137 Wahl zum BPraÈs sowie die Wahlen in satzungsgebende Organe einer Kammer koÈnnen von den wahlwerbenden Parteien angefochten werden, die WahlvorschlaÈge eingebracht haben. Antragsbefugt ist ferner jeder Wahlwerber, dem die WaÈhlbarkeit aberkannt wurde. Die Wahlen in die LReg oder in einen Gemeindevorstand koÈnnen von einem Zehntel der Mitglieder des Landtags (Gemeinderats) angefochten werden. In der Anfechtung kann die Rechtswidrigkeit der Wahl geltend gemacht und die gaÈnzliche oder teilweise Aufhebung der Wahl beantragt werden (§ 67 VfGG). Liegt die geltend gemachte Rechtswidrigkeit vor, hebt der VfGH die Wahl ganz oder teilweise auf; dies freilich nur unter der weiteren Voraussetzung, dass die Rechtswidrigkeit auf das Wahlergebnis Einfluss hatte (§ 70 VfGG). 1. Die Wahlanfechtung muss innerhalb von vier Wochen nach Beendigung des Wahlverfah- 1138 rens eingebracht werden; ist in dem betreffenden Wahlgesetz ein Instanzenzug vorgesehen, gilt diese Frist ab der Zustellung des letztinstanzlichen Bescheids. In den meisten Wahlordnun-
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Teil III. Die Kontrolle der Staatsgewalt
gen ist vorgesehen, dass Einspru È che gegen die ziffernmaÈûige Ermittlung des Wahlergebnisses zunaÈchst im administrativen Instanzenzug durch Einspruch bei den WahlbehoÈrden geltend zu machen sind (zB § 110 NRWO); die Anrufung des VfGH kommt dann erst nach der letztinstanzlichen Entscheidung in Betracht. Andere (nicht die ziffernmaÈûige Ermittlung betreffende) Rechtswidrigkeiten ko È nnen dagegen durch unmittelbare Anfechtung an den VfGH herangetragen werden. Die geltend gemachte Rechtswidrigkeit (etwa bei der Anlegung der WaÈhlerlisten, bei der AuszaÈhlung der Stimmen, bei der Ermittlung des Wahlergebnisses) muss ausreichend substantiiert werden.
1139 2. Bei der Beurteilung der RechtmaÈûigkeit von Wahlen geht der VfGH in stRspr davon aus, dass
die Formalvorschriften der Wahlordnungen strikt nach ihrem Wortlaut auszulegen sind (zB VfSlg 15.375/1998), weil nur so eine korrekte Durchfu È hrung von Wahlen gewaÈhrleistet ist. Relevante Rechtswidrigkeiten sind zB: die ungerechtfertigte Zuru È ckweisung von WahlvorschlaÈgen, die Unterlassung der VeroÈffentlichung der Parteilisten, das Fehlen einer Wahlzelle oder ihre mangelhafte Beschaffenheit, die fehlerhafte Anerkennung von Stimmen als gu È ltig oder ungu È ltig oder die falsche Zuordnung einer Stimme zu einer bestimmten Partei. Geltend gemacht werden kann auch die Verfassungswidrigkeit der die Wahl regelnden Wahlordnung; teilt der VfGH diese Bedenken, leitet er ein Normpru È fungsverfahren (Art 140 B-VG) ein; wird die in Pru Èfung gezogene Bestimmung aufgehoben, ist das Wahlpru È fungsverfahren nach der bereinigten Rechtslage zu entscheiden (VfSlg 14.080/1995).
1140 3. Aufzuheben ist die Wahl, wenn die Rechtswidrigkeit auf das Wahlergebnis von Einfluss
war, dh wenn sich bei einer korrekten Durchfu È hrung eine andere Mandatsverteilung ergeben haÈtte (Erheblichkeitsprinzip). Aufzuheben ist die rechtswidrige Wahl ab dem Zeitpunkt, an dem sich die Rechtswidrigkeit auswirken konnte; die angeordnete Wiederholung kann daher zB die neuerliche Ermittlung des Wahlergebnisses, die NeuauszaÈhlung der Stimmen oder die gaÈnzliche Wiederholung der Wahl (oder ihre Wiederholung in einzelnen Wahlkreisen) betreffen. Wurde eine nicht waÈhlbare Person fu È r waÈhlbar erklaÈrt, erklaÈrt der VfGH die Wahl dieser Person fu È r nichtig. Ist einer Person die WaÈhlbarkeit zu Unrecht aberkannt worden, hat das Erkenntnis auszusprechen, ob dadurch die Wahl einer anderen Person nichtig geworden ist und in diesem Fall die Wahl dieser Person aufzuheben.
È H-Wahlen) koÈnnen 4. Andere als die in Art 141 B-VG vorgesehenen Wahlen (zB O nur im Bescheidpru È fungsverfahren nach Art 144 B-VG beim VfGH angefochten werden. Auch das subjektive Wahlrecht (das etwa durch die Streichung aus der WaÈhlerevidenz beru È hrt wird) ist im Wege der Bescheidbeschwerde durchzusetzen. 40.14.2. Die Kontrolle von Volksbegehren, Volksabstimmung und Volksbefragung 1141 Die Regelungen u È ber die Anfechtung von Wahlen gelten im Wesentlichen sinngemaÈû auch fu È r die Anfechtung von Volksbegehren, Volksabstimmungen oder Volksbefragungen nach den Bestimmungen der entsprechenden Gesetze (§ 18 VolksbegehrenG, § 14 VolksabstimmungsG, § 16 VolksbefragungsG). Antragsbefugt sind bei den Volksbegehren der BevollmaÈchtigte des Einleitungsantrags oder eine bestimmte Anzahl von NR- bzw LT-Abgeordneten; bei Volksabstimmungen und -befragungen eine gewisse Mindestanzahl von Stimmberechtigten. Bei den auf Landesebene vorgesehenen direktdemokratischen Instrumenten (zB Plebiszite) kann die Anfechtung in Ermangelung einer bundesgesetzlichen Ausfu È hrungsregelung unmittelbar auf Art 141 B-VG gestu È tzt werden (VfSlg 15.816/2000). 40.14.3. Die Entscheidung u È ber einen Mandatsverlust 1142 1. Das selbstaÈndige Mandatsverlustverfahren wird durch einen Antrag eines allgemeinen Vertretungsko È rpers (Nationalrat, Bundesrat, Landtag, Gemeinderat) eingeleitet und kann sich auf einen gesetzlich geregelten Mandatsverlusttatbestand stu È t-
2. Kapitel: Die Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts und die unabhaÈngigen Verwaltungssenate 311
zen. Im Fall der o È sterreichischen Abgeordneten im EuropaÈischen Parlament kann È sterreich gestellt werden. dieser Antrag von wenigstens 11 Abgeordneten aus O 2. Vereinzelt ist vorgesehen, dass der Verlust eines Mandats durch Bescheid der 1143 WahlbehoÈrde ausgesprochen werden kann (vor allem in Gemeindeordnungen). Ein solcher Bescheid kann nach ErschoÈpfung des Instanzenzuges innerhalb einer Frist von sechs Wochen ebenfalls beim VfGH angefochten werden. Liegt die behauptete Rechtswidrigkeit vor, wird der Bescheid vom VfGH aufgehoben.
40.15. Die Staatsgerichtsbarkeit (Art 142, 143 B-VG) Die obersten Verwaltungsorgane (BPraÈs, Mitglieder der BReg und LReg) sind fu È r 1144 schuldhafte Rechtsverletzungen, die sie bei ihrer AmtstaÈtigkeit begehen, staatsrechtlich verantwortlich. Eine Èahnliche Verantwortlichkeit besteht auch fu È r die Landeshauptleute im Rahmen der mittelbaren Bundesverwaltung, die fu È r die Nichtbefolgung von Weisungen zur Verantwortung gezogen werden koÈnnen, sowie È sterreichische Vertreter im Rat der EU. Diese verfassungsmaÈûige Verantwortfu Èr o lichkeit wird durch Klage beim VfGH geltend gemacht. Die Befugnis zur Einbringung einer Klage ist in Art 142 B-VG geregelt: Im Hin- 1145 blick auf den BPraÈs ist ein Beschluss der Bundesversammlung, im Hinblick auf Mitglieder der BReg ein Beschluss des NR bzw bei den LReg-Mitgliedern ein solcher des LT erforderlich. Landeshauptleute koÈnnen wegen der Nichtbefolgung von Weisungen durch Beschluss der BReg angeklagt werden (vgl zu den u È brigen FaÈllen Art 142 Abs 2 B-VG). 1. Der BPraÈs kann nur wegen schuldhafter Verletzung der Bundesverfassung angeklagt werden; in den u È brigen FaÈllen kann jede schuldhafte Rechtsverletzung (dh auch ein Verstoû gegen einfachgesetzliche Bestimmungen) geltend gemacht werden. Liegt der Anklage eine strafgerichtlich strafbare Handlung zu Grunde, wird auch das Strafverfahren vom VfGH gefu È hrt (Art 143 B-VG). 2. Im Fall einer Verurteilung durch den VfGH kann auf den Verlust des Amtes und unter erschwerten VerhaÈltnissen auch auf den zeitlichen Verlust der politischen Rechte (zB aktives und passives Wahlrecht) erkannt werden. Bei geringfu È gigen Rechtsverletzungen kann sich der VfGH auf die Feststellung beschraÈnken, dass eine Rechtsverletzung vorliegt. 3. In der bisherigen Staatspraxis ist es nur in ganz wenigen FaÈllen zu einer Anklage nach Art 142 B-VG gekommen, wobei es sich ausschlieûlich um Anklagen gegen LH wegen Nichtbefolgung von Weisungen gehandelt hat; zu einer Ministeranklage ist es noch nie gekommen. Diese geringe praktische Bedeutung ist auch verstaÈndlich, weil die Verfassung die Anklageerhebung in die HaÈnde der politischen Mehrheit im jeweiligen Vertretungsorgan (NR, LT) gelegt hat, die nur unter auûergewoÈhnlichen UmstaÈnden ein ihr nahestehendes Mitglied der BReg oder LReg anklagen wu È rde.
È lkerrechtsgerichtshof 40.16. Der Verfassungsgerichtshof als Vo Art 145 B-VG bestimmt, dass der VfGH u È ber Verletzungen des VoÈlkerrechts ¹nach 1146 den Bestimmungen eines besonderen Bundesgesetzesª entscheidet. Da ein solches Bundesgesetz nie erlassen wurde, ist diese ZustaÈndigkeit gegenstandslos und sind AntraÈge nach Art 145 B-VG nicht zulaÈssig.
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Teil III. Die Kontrolle der Staatsgewalt
AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zum Abschnitt 40: VfSlg 8009/1977: In diesem Erkenntnis hat der VfGH zum ersten Mal die ZulaÈssigkeitsvoraussetzungen fu È r einen Individualantrag nach Art 140 B-VG herausgearbeitet. VfSlg 9547/1982: Der VfGH ist im Verfahren nach Art 138 Abs 2 B-VG nur befugt Gesetzesentwu È rfe in kompetenzrechtlicher Hinsicht zu beurteilen; es ist ihm in diesem Verfahren verwehrt zur inhaltlichen RechtmaÈûigkeit (hier: Einfu È hrung der Briefwahl) Stellung zu nehmen. VfSlg 10.510/1985: Der einzige Fall einer staatsrechtlichen Anklage, der in der 2. Republik an den VfGH herangetragen wurde (Klage gegen den Salzburger LH wegen Nichtbefolgung einer Weisung des zustaÈndigen BM im Zusammenhang mit dem Offenhalten von GeschaÈften an einem Feiertag). In der 1. Republik gab es eine Anklage gegen den Wiener Bu È rgermeister (in seiner Eigenschaft als LH), weil er der Aufforderung des Innenministers nicht Rechnung getragen hatte, die Auffu È hrung von Schnitzlers ¹Reigenª aus Gru È nden der oÈffentlichen Ordnung zu untersagen. Der VfGH faÈllte in diesem Fall einen Freispruch (VfSlg 8/1921). VfSlg 11.180/1986: Ein interessantes ¹A-Verfahrenª (Klage auf Ru È ckstellung von beschlagnahmten Schimpansen). VfSlg 11.506/1987: Hier geht es um die richtige Abgrenzung des Pru È fungsumfangs bei einem Gesetzespru È fungsverfahren. Wenn der VfGH Bedenken gegen die VerhaÈngung von Strafen durch eine nicht als Tribunal (Art 6 EMRK) eingerichtete BehoÈrde hat ± soll in einem solchen Fall die Strafbestimmung oder die die Strafbeho È rde konstituierende Organisationsnorm gepru È ft und bei Zutreffen der Bedenken aufgehoben werden? Der Gerichtshof hat sich fu È sung entschieden, weil dadurch die Rechtsordnung weniger einÈ r die zweite Lo schneidend veraÈndert wird. VfSlg 13.171/1992: In diesem Fall war ein Individualantrag unzulaÈssig, weil die Einleitung eines Bewilligungsverfahrens zumutbar war (Verbot von Geldspielapparaten). VfSlg 13.440/1993: Der Eigentu È mer einer alpinen Hu È tte hatte bei einem Bezirksgericht die EinraÈumung eines Notwegerechts beantragt; das Gericht wies den Antrag mit der Begru È ndung zuru È rden des Landes zustaÈndig waÈren; als diese angerufen È ck, dass dafu È r die Agrarbeho wurden, wiesen auch sie den Antrag zuru È ck, weil sie eine ZustaÈndigkeit der ordentlichen Gerichte fu È r gegeben annahmen. Wie kann ein solcher negativer Kompetenzkonflikt aufgeloÈst werden? VfSlg 13.839/1994: Anfechtung der EU-Volksabstimmung nach Art 141 Abs 3 B-VG wegen behaupteter unzulaÈssiger Beeinflussung der Bu È rger durch die Regierung; zum Unterschied zwischen Wahlen und Volksabstimmungen und zum Grundsatz der Freiheit der politischen Willensbildung. VfSlg 13.983/1994: Es liegt ein nach Art 138 Abs 1 B-VG vom VfGH zu entscheidender (negativer) Kompetenzkonflikt vor, wenn der VfGH die Behandlung einer Beschwerde abgelehnt und den Fall an den VwGH abgetreten hat, dieser aber die Beschwerde zuru È ckweist. VfSlg 14.260/1995: Ein Beispiel fu È r einen zulaÈssigen Individualantrag gegen eine gesetzliche Bestimmung (Anfechtung des § 7b MedienG). VfSlg 14.723/1997: In diesem Fall zur verfassungswidrigen MindestkoÈrperschaftssteuer hat der VfGH eine besonders weit reichende, auch bereits rechtskraÈftige Bescheide erfassende Ru È ckwirkung der Aufhebung verfu È gt. È BB von der Kommunalsteuer. BeVfSlg 14.805/1997: Verfassungswidrige Befreiung der O achte den Umstand, dass die Ausnahme als praÈjudiziell angesehen wurde, obwohl es im Anlassfall um die Beschwerde eines steuerpflichtigen Unternehmers ging. VfSlg 15.266/1998: VerlustigerklaÈrung des Mandats eines NR-Abgeordneten, der wegen einer u È ber ihn in Brasilien verhaÈngten Auslieferungshaft ungerechtfertigt den Sitzungen fernblieb ± Verfahren nach Art 141 Abs 1 lit c B-VG. VfSlg 17.065/2003: Ein Streit um Einsichtsrechte des Rechnungshofs, hinter dem die Frage steht, ob die namentliche Offenlegung der Bezu È ge bestimmter Personen zulaÈssig ist. Zugleich ein Beispiel fu È r ein vom VfGH an den EuGH herangetragenes Ersuchen um eine Vorabentscheidung.
2. Kapitel: Die Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts und die unabhaÈngigen Verwaltungssenate 313 VfSlg 17.576/2005: Entsteht durch die verspaÈtete gesetzliche Umsetzung einer Richtlinie der EU ein Schaden, kann dieser Staatshaftungsanspruch als ¹legislatives Unrechtª nach Art 137 B-VG vor dem VfGH geltend gemacht werden. Hier: verspaÈtete Umsetzung der GeldwaÈscherRL. Beachte allerdings auch die dreijaÈhrige VerjaÈhrungsfrist fu È r gemeinschaftsrechtliche StaatshaftungsanspruÈche, die der VfGH hier im Wege einer Analogie begru È ndet hat. VfGH 30.6.2007, K I-1/07: Welches Gericht ist zustaÈndig u È ber eine Beschwerde zu entscheiden, die ein Direktor einer Arbeiterkammer gegen seine Abberufung angestrengt hat? Im vorliegenden Fall haben sowohl der VwGH wie die Arbeits- und Sozialgerichte jeweils ihre ZustaÈndigkeit verneint (negativer Kompetenzkonflikt). Wovon haÈngt die LoÈsung dieser ZustaÈndigkeitsfrage ab? È sterreich. GeZur Vertiefung: Adamovich, Der Verfassungsgerichtshof der Republik O schichte ± Gegenwart ± Visionen, JRP 1997, 1; Evers, Zur Stellung der o È sterreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefu È ge der Staatsfunktionen, DVBl 1980, 779; Holzinger, Zu den Auswirkungen der o È sterreichischen EU-Mitgliedschaft auf das Rechtsschutzsystem der Bundesverfassung, in: G. Winkler-FS (1997) 351; Kelsen, Das Wesen und die Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929) 30; Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefu È ge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981) 7; ders, Fu È r eine umfassende Reform der Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts, in: Koja-FS (1998) 289; ders, Zur Relevanz von europaÈischem Gemeinschaftsrecht in der verfassungsgerichtlichen Judikatur, in: Tomandl-FS (1998) 465; Machacek (Hrsg), Verfahren vor dem VfGH und vor dem VwGH5 È hlinger/Hiesel, Verfahren vor den Gerichtsho (2004) VwGH5 1±175; O Èfen des o È ffentlichen Rechts Bd 1: Verfassungsgerichtsbarkeit (2001); Potacs, Die EuropaÈische Union und die GeÈ JT I/1 (2000); Scha È ffer, Verfassungsgerichtsbarrichtsbarkeit des o È ffentlichen Rechts, 14. O keit und Gesetzgebung, in: Koja-FS (1998) 101; Walzel von Wiesentreu, Die Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts (1998) 61±105.
Teil IV. Die Grundrechte È sterreichischen 1147 In den folgenden Abschnitten werden die Grundrechte des o Verfassungsrechts dargestellt. Ihnen ist in der ju È ngeren Rechtsentwicklung eine wichtige Rolle zugekommen. Dazu haben mehrere Faktoren beigetragen: Durch die È sterreich einen EMRK, die innerstaatlich als Verfassungsrecht in Geltung steht, hat O modernen Grundrechtskatalog erhalten, der die im StGG von 1867 enthaltenen Grundrechte ergaÈnzt und u È berlagert. Die EMRK hat die Grundrechtsinterpretation maûgeblich beeinflusst, und zwar auch im Hinblick auf die Èalteren Grundrechte des StGG. Der VfGH hat diese Einflu È sse aufgegriffen und seit den 1980er Jahren eine Grundrechtsjudikatur entwickelt, die den Grundrechten jene Bedeutung zuerkannt hat, die lange Zeit durch eine formalistische Interpretation verschu È ttet worden war. Zur umfassenden Durchsetzung der Grundrechte haben aber auch die ordentlichen Gerichte beigetragen, die nicht mehr laÈnger zo È gern, auch in zivil- und strafrechtlichen ZusammenhaÈngen auf die grundrechtlichen Wertungen zuru È ckzugreifen. Diese zentrale Bedeutung der Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, ihr Begriff und ihre Entwicklung sollen in dem folgenden, einleitenden Kapitel herausgearbeitet werden. Weil die nationale Grundrechtslage heute maûgeblich durch das Recht der EU beeinflusst wird, sind diese Einflu È sse und die EU-Grundrechte in einem eigenen Abschnitt zu wu È rdigen. Daran anschlieûend werden die allgemeinen Grundrechtslehren dargestellt, die deshalb wichtig sind, weil die meisten Grundrechte in knappen und lapidaren RechtssaÈtzen formuliert sind, so dass sie auf ein bestimmtes VorverstaÈndnis angewiesen sind. In den folgenden Kapiteln werden die einzelnen Grundrechte behandelt.
1. Kapitel: Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat 41. Die Bedeutung der Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat 1. Der demokratische Verfassungsstaat ist darauf angelegt, dem einzelnen Menschen 1148 ein Leben in Freiheit, Gleichheit und Wu È rde zu sichern; daraus bezieht er seine eigentliche Rechtfertigung. Verfassungsrechtlich werden diese Werte als Grund- und Menschenrechte garantiert. Insoweit ist der demokratische Verfassungsstaat zugleich ein Grundrechtsstaat, fu È r den die Grund- und Menschenrechte die wichtigste Legitimationsgrundlage bilden. Sie machen deutlich, dass der Staat um des Menschen Willen da ist und nicht umgekehrt. Das in seiner Ursprungsfassung betont nu È chtern konzipierte B-VG laÈsst diese fundamentale Be- 1149 deutung der Grundrechte freilich nicht unmittelbar erkennen. Im Text der Stammverfassung von 1920 sind nur wenige Grundrechte verankert und der auf das Jahr 1867 zuru È ckgehende Grundrechtskatalog des StGG ist schon rein Èauûerlich vom B-VG getrennt. Erst die EuropaÈische Menschenrechtskonvention (EMRK) hat die grundlegende Bedeutung der Grund-
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Teil IV. Die Grundrechte
rechte klar und eindeutig zum Ausdruck gebracht. Sie wird durch die Grundrechte des EURechts verstaÈrkt, welche die EU nach Art 6 Abs 2 EUV zu achten verpflichtet ist.
1150 Die EMRK knuÈpft bewusst an jene Tradition der westlichen Verfassungsstaaten an, die zu den
amerikanischen und franzo Èsischen Menschenrechtsdokumenten zuru È ckreicht, in denen den Grundrechten die Bedeutung von Staatsfundamentalnormen zukam. In diesem Sinn unterstreicht die PraÈambel zur EMRK, dass die in der Konvention gewaÈhrleisteten Rechte die ¹Grundlage der Gerechtigkeit und des Friedens in der Weltª sind. Zugleich betont die PraÈambel den Zusammenhang zwischen den Grundrechten und dem Prinzip der Demokratie, wenn es heiût, dass die Aufrechterhaltung der Grundfreiheiten ¹wesentlich auf einem wahrhaft demokratischen politischen Regime einerseits und auf einer gemeinsamen Auffassung und Achtung der Menschenrechte andererseitsª beruht. Damit werden die beiden Gestaltungsprinzipien staatlicher Herrschaft im demokratischen Verfassungsstaat verdeutlicht: die GewaÈhrleistung der Grundrechte als Ausdruck der individuellen Freiheit, Gleichheit und Wu È rde der Menschen in diesem Staat und ihre aktive Beteiligung an der Hervorbringung der staatlichen Gemeinschaft im demokratischen Prozess.
1151 2. Beide Gestaltungsprinzipien ± die Staatsform der Demokratie und die grundrechtlich gesicherten Werte der Freiheit, Gleichheit und Wu È rde ± zielen auf eine umfassende Sicherung der Rechte der Menschen im Staat. Sie koÈnnen allerdings auch in ein SpannungsverhaÈltnis treten: Denn die Demokratie beruht darauf, dass die vom Volk gewaÈhlten Abgeordneten die Staatsaufgaben in freier politischer Gestaltung verfolgen. Das kann sich im Hinblick auf die Grundrechte in zwiespaÈltiger Weise auswirken. 1152 Die Grundrechte koÈnnen dem politischen Handeln den Weg weisen und in dieser Hinsicht als
normative Direktiven fu È r das Staatshandeln wirksam werden, etwa wenn der Staat einer entsprechenden Schutzpflicht nachkommt und grundrechtlich verankerte Rechtsgu È ter (zB das Recht auf Leben) vor Angriffen durch Dritte schu È tzt. In solchen ZusammenhaÈngen verwirklicht der Staat grundrechtliche Freiheit. Andererseits ist die Realisierung des oÈffentlichen Interesses Sache der freien politischen Entscheidung, was angesichts divergierender politischer Ziele und Interessen zwangslaÈufig auf die Maûgeblichkeit der demokratischen Mehrheitsentscheidung hinauslaÈuft. Gegenu È ber der demokratischen Mehrheit werden die Grundrechte als Schranke der politischen Gestaltung wirksam. Sie verbu È rgen jene Rechte, die der Mehrheitsentscheidung entzogen sind, weil es sich um Rechtspositionen handelt, u È ber die nicht abgestimmt werden darf. Darin liegt die Bedeutung der Grundrechte als Instrumente des politischen Minderheitenschutzes, weil sie die unverfu È gbaren Rechte dem Zugriff der Mehrheit entziehen und zugleich auch das Funktionieren des demokratischen Prozesses sichern, indem sie der Minderheit die Chancen wahren selbst einmal zur Mehrheit zu werden.
1153 3. Im Ergebnis sind die Grundrechte daher auf staatliche GewaÈhrleistung ebenso angewiesen wie sie den Staat in seine Grenzen verweisen. Dieser Ausgleich zwischen den Rechten des Einzelnen und den Belangen der Allgemeinheit und zwischen seiner Freiheit und dem Schutz der Gemeinschaft ist die entscheidende Herausforderung des Grundrechtsstaats, an der er sich bewaÈhren muss. Dazu kommen in der Gegenwart noch ganz spezifische Probleme: Die Bedrohungen durch den internationalen Terror fordern angemessene Reaktionen durch die internationale Staatengemeinschaft und den Nationalstaat, wobei die Gefahr besteht, dass das auf Kosten der individuellen Freiheit geht. Sicherheit auf Kosten der Freiheit kann freilich ebenso wenig die Lo È sung sein wie Freiheit ohne Sicherheit. Neue GefaÈhrdungen der menschlichen Wu È rde koÈnnen auch vom technologischen Fortschritt ausgehen, wie sich das exemplarisch an den offenen Fragen rund um die Gentechnologie zeigt. Schlieûlich stellt es ein grundrechtliches Problem dar, wie die Werte der mitmenschlichen SolidaritaÈt auch in der postmodernen Gesellschaft gewahrt werden koÈnnen.
1. Kapitel: Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat
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42. Begriff, Geltung und historische Entwicklung der Grundrechte Es ist bemerkenswert, dass der Begriff des ¹Grundrechtsª im oÈsterreichischen Verfassungsrecht nur an ganz entlegener Stelle vorkommt. Im Folgenden ist daher zu klaÈren, von welchen Rechten die Rede ist, wenn wir uns auf die Grundrechte oder auf Menschenrechte beziehen. Daran anschlieûend wird kurz auf die Geltungsbegru È ndung dieser Rechte eingegangen und ihre historische Entwicklung zumindest in den knappsten Grundzu È gen geschildert.
42.1. Zum Begriff der Grund- und Menschenrechte 1. Grund- und Menschenrechte sind (a) fundamentale Rechtspositionen des Men- 1154 schen, die mit einer gewissen (b) Unverbru È chlichkeit ausgestattet und die (c) durchsetzbar sind. Sie sind fundamentale Rechtspositionen, weil sie mit der Wu È rde des Menschen und seinen auf Freiheit, Gleichheit und mitmenschliche SolidaritaÈt gerichteten Anspru È chen zusammenhaÈngen und sich daher von den vielen anderen Rechten abheben, welche die Rechtsordnung dem Einzelnen gewaÈhrt. Im Wesentlichen sind es historische Erfahrungen, die mit daru È ber entscheiden, welche Rechtspositionen als so grundlegend angesehen werden, dass man sie zu den Grund- und Menschenrechten rechnet. Dabei haÈngt es natu È rlich von subjektiven EinschaÈtzungen und der jeweiligen Lage des Einzelnen ab, welche Rechte er fu È r sich selbst als grundlegend erachten wird. È sterreich wird das einfachgesetzliche Recht auf eine StudienbeiEinem StudienanfaÈnger in O hilfe vielleicht wichtiger erscheinen als die Unverletzlichkeit des Eigentums oder das Verbot der Zwangsarbeit. Trotzdem geben die Grundrechtskataloge im Wesentlichen jene Rechtspositionen zutreffend wieder, die angesichts der historischen Erfahrungen fu È r ein Leben in Freiheit und Wu È rde unverzichtbar sind.
2. Das zweite Merkmal der Grund- und Menschenrechte ist ihre Unverbru È chlich- 1155 keit. Damit ist gemeint, dass die Rechte fu È r die Staatsgewalt nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen (zB im Rahmen eines Gesetzesvorbehalts) verfu È gbar sind; È herrangigkeit gegenu darin liegt in gewissem Sinn auch ihre Ho È ber anderen Rechtspositionen. Diese Unverbru È chlichkeit kann auf verschiedene Weise gewaÈhrleistet sein: Fu È r AnhaÈnger einer Naturrechtskonzeption sind die Menschenrechte wegen ihrer vorstaatlichen Geltung unantastbar; der Staat kann sie in dieser Sicht nur anerkennen und fu È r ihre Durchsetzung sorgen. Im Verfassungsstaat kann die Bestandskraft der Grundrechte auch unabhaÈngig von einer umstrittenen naturrechtlichen Geltung durch ihre Aufnahme in eine Verfassungsvorschrift gesichert sein, weil sie dann als rangho È chstes Recht jede andere Form der Rechtserzeugung und alle Staatsgewalten binden und ihre AbaÈnderung oder Aufhebung nur unter den fu È r VerfassungsaÈnderungen vorgesehenen Bedingungen zulaÈssig ist.
3. Von Grund- und Menschenrechten kann man schlieûlich nur sprechen, wenn sie 1156 in einem rechtlichen Verfahren durchsetzbar sind. Als wirkungsvollstes Verfahren zur Durchsetzung der Rechte hat sich dabei in der geschichtlichen Entwicklung der Grundrechtsschutz durch unabhaÈngige und unparteiische Gerichte erwiesen. Insofern ist die GewaÈhrleistung der Grundrechte eng mit dem Konzept der Gewaltenteilung und dem Rechtsstaat verbunden. Im oÈsterreichischen Verfassungsrecht sind es vor allem die ZustaÈndigkeiten des VfGH, die den grundrechtlichen Rechtsschutz verbu È rgen (vgl Rz 989). Daneben haben aber auch der VwGH, der AsylGH und die ordentlichen Gerichte sowie die UVS jeweils in ihren eigenen ZustaÈndigkeitsbereichen fu È r die Durchsetzung der Grundrechte zu sorgen. Der gerichtliche Grundrechtsschutz ist allerdings nicht das einzige Mittel zur GewaÈhrleistung der Grundrechte. Sowohl im nationalen wie im internationalen Bereich gibt es noch wei-
318
Teil IV. Die Grundrechte
tere Instrumente, wie die rechtliche und politische Verantwortlichkeit der Regierungen, die Kontrolle durch unabhaÈngige Institutionen (zB Volksanwaltschaften) oder Besuchssysteme, È sterreich È berwachung der Anti-Folter-Konventionen vorgesehen sind. In O wie sie etwa zur U wird der gerichtliche Grundrechtsschutz vor allem durch einen Menschenrechtsbeirat sowie durch Rechtsschutzbeauftragte ergaÈnzt, die in grundrechtlich sensiblen Bereichen dafu Èr sorgen sollen, dass die BehoÈrden nicht in unverhaÈltnismaÈûiger Weise in die Rechte von Menschen eingreifen. Dazu und zu weiteren Formen des auûergerichtlichen Grundrechtsschutzes vgl unten Rz 1325 ff.
42.2. Die Unterscheidung zwischen Grundrechten und Menschenrechten und die Begru È ndung dieser Rechte È blicherweise wird zwischen Grundrechten und Menschenrechten unter1157 1. U schieden, wobei diese Unterscheidung verschiedene, miteinander verflochtene Bedeutungen hat. Spricht man von Menschenrechten (Human Rights, Droits de l'homme), so bezieht man sich zum einen auf Rechte, die zum Wesen des Menschen gehoÈren und ihm daher gleichsam angeboren sind; in diesem Sinn spricht etwa § 16 ABGB von den ¹angebornen, schon durch die Vernunft einleuchtenden Rechtenª jedes Menschen. Weil diese Rechte dem Menschen seiner Natur gemaÈû zustehen, gehen AnhaÈnger des Naturrechts auch davon aus, dass der Staat diese Rechte unabhaÈngig von ihrer gesetzlichen Anerkennung zu achten und zu respektieren hat; ihr Geltungsgrund liegt entweder im Naturrecht (fu È r AnhaÈnger der Naturrechtslehre) oder sie sind positivrechtlich im VoÈlkerrecht verankert und als solche ebenfalls den einzelnen Staaten vorgegeben. Menschenrechte in diesem Sinn sind immer auch (vom persoÈnlichen Geltungsbereich aus betrachtet) Jedermannsrechte, weil sie wesensgemaÈû jedem Menschen unabhaÈngig von seiner StaatsangehoÈrigkeit zukommen und zukommen mu È ssen. 1158 2. Im Begriff der Grundrechte (leges fundamentales) klingt dagegen die GewaÈhrung der Rechte durch den Staat an, wie es auch der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung im Konstitutionalismus entsprach, in dem der Monarch den Staatsbu È rgern gewisse Bu È rgerrechte (¹Rechte der Deutschenª, ¹Rechte der Franzosenª usw) zusicherte. Grundrechte sind daher vom Geltungsgrund her gesehen staatliche Rechte, die verfassungsrechtlich garantiert sind. Sie sind im Hinblick auf ihren persoÈnlichen Geltungsbereich oft Staatsbu È rgerrechte, sie koÈnnen aber auch Jedermannsrechte sein, wenn der Staat diese Rechte jedem Menschen einraÈumt. Insoweit, dh im Hinblick auf den persoÈnlichen Geltungsbereich, koÈnnen manche Grundrechte auch ¹Menschenrechteª sein. 1159 Ob man die Grundrechte naturrechtlich begruÈndet oder sie nur als positivrechtlich ga-
rantierte Rechte ansieht, die auf eine staatliche (voÈlkerrechtliche) Rechtsetzung zuru È ckgehen, haÈngt von der grundlegenden rechtsphilosophischen Position ab, die jemand bezieht. Solange die Grund- und Menschenrechte verfassungsrechtlich und voÈlkerrechtlich garantiert sind, leitet sich ihre Verbindlichkeit freilich aus dem positiven Recht ab und besteht diese unabhaÈngig von der Anerkennung oder Verneinung ihrer naturrechtlichen Geltung, die offen bleiben kann. Das ist die Situation, von der fu È sterreichische Verfassungsrecht auszugeÈ r das o hen ist. Daher kann es auch im Rahmen einer positivistischen Rechtstradition, wie sie fu È r das oÈsterreichische Recht besteht, keinen Grund geben, die aus den Grundfreiheiten und Menschenrechten entspringenden Verpflichtungen weniger ernst zu nehmen als in Rechtsordnungen mit einer staÈrker naturrechtlich orientierten Ausrichtung.
42.3. Die verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechte È sterreichische Verfassungsrecht verwendet den Begriff der 1160 1. Das positive o Grund- oder Menschenrechte nur ganz sporadisch (zB § 1 DSG); im StGG ist nur
1. Kapitel: Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat
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von den ¹allgemeinen Rechten der Staatsbu È rgerª die Rede. Durch die EMRK wurden allerdings auch die Begriffe ¹Menschenrechte und Grundfreiheitenª zu Begriffen des innerstaatlichen Verfassungsrechts. Damit kann auch der oben entwickelte materielle Begriff der Grund- und Menschenrechte auf das oÈsterreichische Recht angewendet werden. 2. Fu È r den Grundrechtsschutz des B-VG ist allerdings noch ein weiterer Begriff maû- 1161 geblich, naÈmlich der formale Begriff des ¹verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechtsª (Art 144 Abs 1 B-VG): Mit der Behauptung in einem solchen Recht verletzt zu sein wird die ZustaÈndigkeit des VfGH begru È ndet, u È ber Beschwerden gegen Bescheide zu entscheiden. Verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Rechte in diesem Sinn sind alle subjektiven Rechte, die durch eine Vorschrift im Verfassungsrang (Art 44 B-VG) gewaÈhrleistet sind. Nach VfSlg 9744/1983 setzt das voraus, dass an der Einhaltung einer objektiven Verfassungsbestimmung ein hinlaÈnglich individualisiertes Parteiinteresse besteht. Zu den verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechten gehoÈren daher die im StGG und in der EMRK verbu È rgten Freiheitsrechte und sonstigen Grundrechtsgarantien, ferner die Gleichheitsrechte und die im B-VG oder in anderen Bundesverfassungsgesetzen verankerten Grundrechte. Kein verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistetes Recht kann dagegen aus dem LegalitaÈtsprinzip des Art 18 B-VG abgeleitet werden; die behauptete Gesetzwidrigkeit eines Verwaltungshandelns kann daher nicht im Wege einer Verfassungsbeschwerde an den VfGH herangetragen werden (VfSlg 1324/1930, 5800/1968, 10.241/1984). Auch die EUÈ sterreich anzuGrundrechte begru È nden ungeachtet ihrer Geltung als Teil des in O wendenden Rechts keine verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechte, auf die man sich vor dem VfGH berufen koÈnnte (vgl dazu Rz 352 f). Der materielle Begriff des Grund- oder Menschenrechts und der formelle Begriff des verfas- 1162 sungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechts fallen weitgehend zusammen. Die Begriffe sind aber nicht vollstaÈndig deckungsgleich: Gewisse subjektive Berechtigungen ko È nnen durch eine Verfassungsbestimmung eingeraÈumt sein, ohne dass es sich der Sache nach um ein Grundrecht im Sinn eines unverzichtbaren menschlichen Rechtsanspruchs handelt (vgl zu dem nur aus Kompetenzgru È nden verfassungsrechtlich verankerten ¹subjektiven verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechtª bestimmter Arbeitnehmer, nicht der Arbeiterkammer angehoÈren zu mu È ssen, VfSlg 1936/1950, 3415/1958). Andererseits sind die Menschenrechte der UN-Menschenrechtspakte oder die sozialen Grundrechte der EuropaÈischen Sozialcharta vo È lkerrechtlich garantierte Rechte, die aber innerstaatlich nicht im Rang eines Verfassungsgesetzes in Geltung stehen und daher keine verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechte iS des Art 144 B-VG sind. Verfassungsrechtliche Staatszielbestimmungen wie das Bekenntnis zum umfassenden Umweltschutz oder programmatische Bestimmungen in manchen Landesverfassungen stellen ausschlieûlich objektives Verfassungsrecht dar; auch sie sind keine verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechte und in Ermangelung einer subjektiven Berechtigung auch keine Grundrechte im eigentlichen Sinn des Wortes (vgl zu den Staatszielen Rz 203 ff).
È sterreichischen ¹Grundrechtskatalogª 42.4. Der Weg zum o 1. Auf die historische Entstehung der Grundrechte kann in diesem Rahmen nicht naÈ- 1163 her eingegangen werden. Geht man von den Grundrechten im modernen Sinn aus und versteht darunter rechtlich gewaÈhrleistete, subjektive Rechte des Einzelnen, dann sind diese Rechte ganz eng mit der Entwicklung des modernen Verfassungsstaats verbunden. Das Ringen um eine rechtliche GewaÈhrleistung der grundlegenden Rechte des Menschen ist freilich sehr viel Èalter. a) Im Lauf der Geschichte wurden verschiedene Rechtsinstrumente herangezogen 1164 um die Idee der menschlichen Freiheit rechtlich zu realisieren. Bedeutsam waren vor allem die mittelalterlichen Freiheitsverbu È rgungen. Solche Freiheitsbriefe gab es in vielen LaÈndern; am beru È hmtesten wurde die englische Magna Carta Libertatum
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Teil IV. Die Grundrechte
von 1215. In diesen Freiheitsbriefen wurden staÈndische Freiheiten (¹jura et libertatesª) garantiert, dh Rechte der StaÈnde und nicht Rechte des Einzelnen. Daher waren es auch keine Grundrechte im heutigen VerstaÈndnis, sondern Privilegien des Adels. Das hat die englischen Juristen des 17. Jahrhunderts nicht davon abgehalten, sich auf diese Freiheitsverbu È rgungen zu berufen, um die dort garantierten Freiheiten fu È r alle englischen Bu È rger zu beanspruchen. Auf diese Weise konnte die AutoritaÈt des ¹guten, alten Rechtsª angerufen werden, um im Machtkampf zwischen dem KoÈnig und dem englischen Parlament den Bu È rgern gewisse Rechte zu sichern, wie etwa den Schutz vor willku È rlicher Verhaftung. Als Ergebnis der AuseinandersetÈ nig und dem Parlament kam es in England zungen zwischen dem englischen Ko im 17. Jahrhundert zu ersten Verbriefungen von Grundrechten. In der Petition of Rights 1628, der Habeas Corpus Akte 1679 und schlieûlich in der Bill of Rights 1689 wurden grundlegende Rechte der englischen Bu È rger festgelegt, in welche der KoÈnig und seine Exekutive nicht eingreifen durften. 1165 b) Zu verfassungsgestaltenden Rechtsprinzipien wurden die Grundrechte erstmals in den
Verfassungen der sich vom englischen Mutterland losloÈsenden amerikanischen Kolonien. Insofern sind die ¹Bill of Rightsª der Verfassungen der amerikanischen Staaten die ersten modernen Grundrechtskataloge. Zugleich haben die amerikanischen Kolonisten unter dem Einfluss des naturrechtlichen Gedankenguts die Rechte der EnglaÈnder zu Menschenrechten fortentwickelt. Weil diese Rechte unabhaÈngig von jeder staatlichen Anerkennung und auch auûerhalb des Staates existieren, konnten sie die Legitimationsgrundlage fu È r den Abfall von England È sische sein. Den Durchbruch der Grundrechte am europaÈischen Kontinent bildete die franzo ErklaÈrung der Menschen- und Bu È rgerrechte von 1789, die das Fanal zur franzoÈsischen Revolution und zum wichtigsten Markstein der Grundrechtsgeschichte wurde. Die alle anderen MenschenrechtserklaÈrungen u È berragende Ausstrahlungskraft der DeÂclaration hatte zur Folge, dass es in der weiteren europaÈischen Verfassungsentwicklung keine fortschrittliche Verfassung geben sollte, welche auf die GewaÈhrleistung solcher Rechte verzichten konnte.
È sterreich wurden die Grundrechte erst verhaÈltnismaÈûig spaÈt verfassungs1166 2. In O rechtlich garantiert: Die Verfassungsentwu È rfe der Jahre 1848/49 enthielten jeweils Grundrechtskataloge, die sich an auslaÈndischen Vorbildern, etwa an der Belgischen Verfassung von 1831, der preuûischen Verfassung von 1848 und der Frankfurter Paulskirchenverfassung 1849, orientierten. Am fortschrittlichsten war der Grundrechtsentwurf des Kremsierer Reichstages konzipiert, der die weitere Entwicklung wesentlich beeinflussen sollte. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 wurden vorerst freilich auch noch jene bescheidenen Grundrechte, welche das Grundrechtspatent zur oktroyierten MaÈrzverfassung 1849 vorgesehen hatte, durch das È sterreich Silvesterpatent von 1851 beseitigt. Als nach den Jahren des Neoabsolutismus O schlieûlich den Weg zu einer konstitutionellen Verfassung einschlug, wurden wichtige liberale Forderungen bereits vorweg grundrechtlich abgesichert. Die Gesetze zum Schutz der perÈ nlichen Freiheit und zum Schutz des Hausrechts aus dem Jahr 1862 garantierten die erso È sterreich, die im Vorgriff auf die endgu sten effektiven Grundrechte in O È ltige Verfassung beschlossen wurden; das HausrechtsG 1862 verbu È rgt zugleich das Èalteste oÈsterreichische Grundrecht, das bis heute in Geltung steht.
1167 Im Rahmen der Dezemberverfassung 1867 kam es schlieûlich zur Verabschiedung des oÈsterreichischen Grundrechtskatalogs, der im Staatsgrundgesetz u È ber die allgemeinen Rechte der Staatsbu È rger (StGG) zusammengefasst wurde. Das StGG steht bis heute in Geltung und ist, neben der EMRK, die wichtigste Quelle der o È sterreichischen Grundrechte. 1168 a) Mit der Sicherung der Grundrechte als subjektive oÈffentliche Rechte und der Einrichtung È sterreich vor allem der Kompetenz des Reichsgeder entsprechenden Rechtsschutzwege, in O richts, war ihre rechtliche Durchsetzbarkeit erreicht worden. Das war ein groûer Fortschritt auch im Vergleich mit anderen europaÈischen Staaten, in denen die Grundrechte nur als rechtlich unverbindliche ProgrammsaÈtze galten. Je mehr der Rechtsstaat ausgebaut und die Rechtsstellung des Bu È rgers umfassend durch subjektive Rechte abgesichert wurde, umso
1. Kapitel: Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat
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weniger unterschieden sich die Grundrechte freilich von anderen Rechten. Ihre fru È here programmatische Bedeutung fu È r Staat und Gesellschaft trat in den Hintergrund. ZwangslaÈufig gingen die Grundrechte daher in der allgemeinen LegalitaÈtsbindung des zum Durchbruch gelangten Rechtsstaats auf. Fu È r den staatsrechtlichen Positivismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts waren die Grundrechte nur mehr eine ¹historische Reminiszenzª, ihre praktische juristische Bedeutung war gering. b) Im Rahmen der Ausarbeitung des B-VG gelang es nicht, einen Grundrechtskatalog fu È r die 1169 Verfassung der neu gegru È ndeten Republik zu formulieren. Vor allem die parteipolitischen Auseinandersetzungen u È ber das VerhaÈltnis von Kirche und Staat und der Streit um die Eigentumsgarantie verhinderten einen entsprechenden Konsens. So kam es zu der Entscheidung der verfassungsgebenden KraÈfte, dass es ¹hinsichtlich der Grund- und Freiheitsrechte ... grundsaÈtzlich beim bisher bestehenden Zustand zu verbleiben habeª. Durch Art 149 Abs 1 B-VG wurden das StGG von 1867 sowie eine Reihe weiterer Èalterer Grundrechtsquellen als Verfassungsgesetze rezipiert (vgl die Auflistung unten Rz 1177).
3. Die Aufnahme der Grundrechte in die Rechtsordnung eines demokratischen Ver- 1170 fassungsstaats hatte zwangslaÈufig einen Bedeutungswandel der Grundrechte zur Folge. WaÈhrend in der konstitutionellen Monarchie die Grundrechte als die GewaÈhrleistung einer staatsfreien und unpolitischen Gesellschaft erscheinen konnten, die dem durch den Monarchen repraÈsentierten Staat fremd gegenu È ber stand, wird der demokratische Staat aus der Gesellschaft seiner Bu È rger aufgebaut. In diesen gewandelten Verfassungsstrukturen koÈnnen die Grundrechte nicht mehr als der Ausdruck einer tiefen Trennung zwischen Staat und Gesellschaft aufgefasst werden. Auch kann dieser Staat nicht mehr nur als Feind der bu È rgerlichen Freiheit verstanden werden, der demokratische Staat traÈgt vielmehr auch zu ihrer realen Verwirklichung bei, ohne dass deswegen die Abwehrfunktion der Grundrechte bedeutungslos wu È rde. In einer Verfassungsordnung, welche den Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes in 1171 umfassender Form verwirklicht, tritt zugleich die Bindung der Verwaltung an die Grundrechte in den Hintergrund: Wenn jeder Akt der Verwaltung seine Grundlage im Gesetz haben muss, wie dies Art 18 B-VG anordnet, verliert eine urspru È ngliche Bedeutung der Grundrechte, naÈmlich Eingriffe der Verwaltung in Freiheit und Eigentum an das Gesetz zu binden, teilweise ihren Sinn. Nunmehr richten sich die Grundrechte primaÈr an den Gesetzgeber, der bei der Gestaltung der Ordnung einer demokratischen Gesellschaft und beim Ausgleich der gesellschaftlichen Bedu È rfnisse an die Grundrechte gebunden ist. Die Anerkennung einer richterlichen Normenkontrolle È sterreich in der Form der bereits im B-VG gegenu È ber Akten des Gesetzgebers, in O von 1920 verwirklichten Verfassungsgerichtsbarkeit, ist eine konsequente Absicherung dieser Grundrechtsbindung der Gesetzgebung. Daher musste sich allmaÈhlich die Auffassung durchsetzen, dass auch der Gesetzgeber selbst an die Grundrechte gebunden ist. 4. Nach dem 2. Weltkrieg kommt es vor dem Hintergrund der unfassbaren GraÈuelta- 1172 ten des Nationalsozialismus und der Schrecken des Krieges zu einer Internationalisierung des Menschenrechtsschutzes, die auch ErgaÈnzungen des o È sterreichischen Grundrechtskatalogs zur Folge hatte: Durch einzelne Verfassungsbestimmungen des StV von Wien 1955 (Art 7 und 8) wurde der Minderheitenschutz ausgebaut. Weitere Grundrechte wurden durch punktuelle VerfassungsaÈnderungen geschaffen. Die wichtigste ju È ngere Neuregelung stellte die Neukodifikation des Grundrechts auf persoÈnliche Freiheit durch das entsprechende BVG aus dem Jahr 1988 dar. Bei weitem die wichtigste ErgaÈnzung des o È sterreichischen Grundrechtsbestandes sollte aber die Aufnahme des Grundrechtskatalogs der EMRK in das innerstaatliche Verfassungsrecht darstellen. È ster- 1173 Die in der EMRK verankerten Grundfreiheiten und Menschenrechte gelten in O reich innerstaatlich als unmittelbar anwendbare verfassungsgesetzlich ge-
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Teil IV. Die Grundrechte
waÈhrleistete Rechte. Sie haben nicht nur den Grundrechtsbestand durch neue GewaÈhrleistungen erweitert (zB Recht auf Bildung) und den personellen Geltungsbereich mancher Grundrechte verbreitert, die zu Jedermannsrechten wurden (zB Vereins- und Versammlungsfreiheit); mit den Art 5 und 6 EMRK wurden Garantien in das oÈsterreichische Recht eingefu È hrt, die einen immer noch nicht abgeschlossenen Prozess der Umgestaltung des Rechtsschutzsystems im o È ffentlichen Recht sowie wesentliche Reformen im Strafprozessrecht zur Folge hatten. Vor allem wirkte die EMRK als der wichtigste Katalysator fu È r einen Wandel der GrundrechtsjudiÈ sterreich, durch den die Grundrechte eine ganz neue und gesteigerte Bekatur in O deutung erlangten. 1174 a) Dabei war die innerstaatliche Wirkung der in BGBl 1958/210 kundgemachten Konven-
tion anfangs alles andere als klar gewesen. Da bei der parlamentarischen Genehmigung entsprechend der damaligen Staatspraxis keine ausdru È ckliche Bezeichnung als verfassungsaÈndernd vorgenommen worden war, ging der VfGH in VfSlg 4049/1961 davon aus, dass der EMRK nur der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zukam. Durch das BVG vom 4.3.1964 BGBl 59 wurde allerdings die EMRK ru È ckwirkend mit Verfassungsrang ausgestattet. Auûerdem sprach der VfGH in seiner Èalteren Judikatur den in der Konvention gewaÈhrleisteten Rechten mit einer wenig u È berzeugenden Begru È ndung die GrundrechtsqualitaÈt ab, weil er sie fu È r nicht unmittelbar anwendbar hielt. Auch diese Auffassung wurde erst schrittweise u È berwunden, so dass es geraume Zeit dauerte, bis die Konvention quasi volles ¹Heimatrechtª erlangen konnte (zum Verfassungsrang der EMRK vgl VfSlg 4924/1965, zur unmittelbaren Anwendbarkeit der Konventionsrechte vgl VfSlg 5102/1965).
1175 b) Auûerdem wurde anfangs die inhaltliche Tragweite der durch die EMRK bewirkten RechtsaÈnderungen drastisch unterschaÈtzt. Als allmaÈhlich deutlich wurde, dass von der Konvention doch weit reichende Auswirkungen ausgingen, wozu nicht zuletzt der Umstand beiÈ sterreich verhaÈltnismaÈûig haÈufig in Straûburg ¹verurteiltª wurde, wurden diese Imtrug, dass O pulse sehr zo È gernd aufgegriffen. Auf diese Weise blieb die EMRK lange Zeit eine ¹schlafende Scho È nheitª, bis schlieûlich etwa ab den 1980er Jahren ihre vollen Auswirkungen zum Tragen kamen; wichtig war in diesem Zusammenhang der Umstand, dass der VfGH und ± mit einer gewissen VerzoÈgerung ± auch die anderen HoÈchstgerichte begannen die Judikatur des EGMR zu beru È cksichtigen.
1176 c) Die EMRK enthaÈlt eine ausdruÈckliche Regelung ihres VerhaÈltnisses zu innerstaatlich gelten-
den Èalteren Grundrechten in der Form des so genannten Gu È nstigkeitsprinzips (Art 53 EMRK): Danach darf keine Bestimmung der Konvention als BeschraÈnkung oder Minderung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ausgelegt werden, die in einem Gesetz einer VerÈ ltere Grundrechte haben daher einen Vorrang gegenu tragspartei festgelegt sind. A È ber Konventionsrechten, wenn erstere einen gu È nstigeren Grundrechtsstandard verbu È rgen. È sterreichs zur EU wurde schlieûlich der in O È sterreich geltende Grundd) Durch den Beitritt O rechtsbestand durch die Grundrechte des EU-Rechts erweitert (zu diesen Grundrechten vgl unten Rz 1181 ff).
1177 5. Als Folge der vorstehend geschilderten Entwicklung sind die oÈsterreichischen Grundrechte ein ¹Konglomeratª (Robert Walter) aus einer Vielzahl von RechtsquelÈ bersicht stellt die gegenwaÈrtig geltenden Grundrechtsquellen. Die folgende U len des Bundesverfassungsrechts in chronologischer Reihenfolge zusammen: 1. Gesetz zum Schutze des Hausrechtes, RGBl 1862/88 (rezipiert durch Art 149 B-VG) idF BGBl 1974/422 2. Staatsgrundgesetz u È ber die allgemeinen Rechte der Staatsbu È rger, RGBl 1867/142 (rezipiert durch Art 149 B-VG) idF BGBl 1988/684 3. Grundrechtsbestimmungen im Beschluss der Provisorischen Nationalversammlung 1918, StGBl 1918/3 (rezipiert durch Art 149 B-VG) idF BGBl 1920/1 4. Grundrechtsbestimmungen im Abschnitt V des III. Teiles des Staatsvertrags von St. Germain, StGBl 1920/303 (rezipiert durch Art 149 B-VG) idF BGBl III 2002/179
1. Kapitel: Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat
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5. Neuerliche Verankerung des Gleichheitsgrundsatzes (Art 7) und des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art 83 Abs 2) im B-VG von 1920 (weitere Grundrechte finden sich im B-VG in Art 14 Abs 7 sowie Art 90 Abs 2 B-VG) 6. Grundrechtsbestimmungen im Staatsvertrag von Wien, BGBl 1955/152 idF BGBl I 2008/2 (Art 7 Z 2 bis 4, Art 8) 7. EuropaÈische Menschenrechtskonvention, BGBl 1958/210 idF BGBl III 2002/179, sowie die Zusatzprotokolle zur EMRK, von denen das 1., 4., 6., 7. und 13. ZProtEMRK grundrechtliche Bestimmungen enthalten 8. Minderheitenrechte im Minderheiten-Schulgesetz fu È r KaÈrnten, BGBl 1959/101 idF BGBl I 2008/2 È bereinkommens u 9. BVG zur Durchfu È hrung des Internationalen U È ber die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 1973/390 10. BVG u È ber die Sicherung der UnabhaÈngigkeit des Rundfunks, BGBl 1974/396 11. Parteienfreiheit nach Art I des Parteiengesetzes, BGBl 1975/404 idF BGBl I 2008/2 12. Grundrecht auf Datenschutz nach § 1 des Datenschutzgesetzes, urspru È nglich durch BGBl 1978/565 geschaffen, nunmehr in abgeaÈnderter Fassung im Datenschutzgesetz 2000 BGBl I 1999/165 idF BGBl I 2008/2 garantiert 13. § 12 und § 44 des Auslieferungs- und Rechtshilfegesetzes, BGBl 1979/529 idF BGBl I 2007/ 112 14. Recht auf Leistung eines Zivildienstes nach § 1 Zivildienstgesetz 1986 BGBl 679 idF BGBl I 2006/40 und BGBl I 2008/2 15. BVG u È ber den Schutz der persoÈnlichen Freiheit, BGBl 1988/684 idF BGBl I 2008/2 16. Minderheitenrechte im Minderheiten-Schulgesetz fu È r das Burgenland, BGBl 1994/641 idF BGBl I 2008/2 17. Freiwillige Dienstleistung im Bundesheer als Soldatin als verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistetes Recht (Art 9a Abs 3 B-VG)
6. Neben den vorstehend angefu È hrten Rechtsquellen, die verfassungsgesetzlich ge- 1178 waÈhrleistete subjektive Rechte und damit Grundrechte verankern, wurden nach dem 2. Weltkrieg noch weitere Menschenrechtsdokumente vo È lkerrechtlicher È sterreich Provenienz in das o È sterreichische Recht aufgenommen. Sie sind fu Èr O zwar voÈlkerrechtlich verbindlich, ihre innerstaatliche Wirkung ist aber gering, weil sie nicht im Verfassungsrang stehen und wegen des in den meisten FaÈllen vom NR beschlossenen Erfu È llungsvorbehalts (Art 50 Abs 2 B-VG) in ihrer Mehrzahl auch nicht unmittelbar anwendbar sind. Die wichtigsten dieser StaatsvertraÈge sind die beiden UN-Pakte (der Pakt u È ber wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, BGBl 1978/590, sowie der Pakt u È ber bu È rgerliche und politische Rechte, BGBl 1978/591), die EuropaÈische Sozialcharta, BGBl 1969/460, die UN-Konvention u È ber die Rechte des Kindes, BGBl 1993/7, die Konvention u È ber die politischen Rechte der Frau, BGBl 1969/256 und die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau, BGBl 1982/443 (diese Abkommen stehen im Verfassungsrang, sind aber mit ErÈ bereinkommen gegen Folter und andere grausame, unfu È llungsvorbehalt beschlossen), das U menschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, BGBl 1987/492 (ohne Verfassungsrang, aber auch ohne Erfu È llungsvorbehalt).
7. Angesichts der Zersplittertheit des o È sterreichischen ¹Grundrechtskatalogsª, der 1179 Rechte aus ganz verschiedenen Perioden und unterschiedlichster Provenienz umfasst, waÈre eine Gesamtreform der Grundrechte unabdingbar. Zwar gab es schon in den 1960er Jahren einzelne AnlaÈufe in einer ¹Grundrechtsreformkommissionª, die aber ebenso wie nachfolgende Bemu È hungen zu keinem Erfolg fu È hrten, sieht man von der 1988 bewerkstelligten Neufassung des Grundrechts auf persoÈnliche Freiheit ab.
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Teil IV. Die Grundrechte
È sterreich-Konvent stand daher von Anfang an fest, dass die Neukodifika1180 8. Im O tion der Grundrechte zu den zentralen Anliegen der angestrebten Verfassungsreform gehoÈren mu È sterreichischen GrundÈ sste. Wie schon so oft in der Geschichte der o rechte schien freilich auch hier wieder der Streit um die GewaÈhrleistung sozialer Grundrechte und um die umstrittene Frage ihrer rechtlichen Durchsetzbarkeit eine È sterreich-KonEinigung der politischen KraÈfte zu verhindern. Letztlich konnte im O vent aber doch ein sehr weitgehender Konsens erzielt werden, wobei die TextvorschlaÈge fu È r einen neu gefassten Grundrechtskatalog durchaus innovative Zu È ge aufweisen. Die Arbeiten der Expertengruppe Staats- und Verwaltungsreform knu È pfen an diese VorschlaÈge des Konvents an, ohne dass gegenwaÈrtig verlaÈsslich abgeschaÈtzt werden kann, ob und wann es zu einer Neufassung der Grundrechte kommen wird. Zu den Beratungen des Konvents vgl den Bericht des Ausschusses 4 und die entsprechenden ErlaÈuterungen im Endbericht (Teil 3 ± Beratungsergebnisse, 82 ff). Der Vorschlag des Ausschusses orientierte sich textlich weitgehend an der EMRK und an der EuropaÈischen Grundrechtscharta. Die GewaÈhrleistung moÈglichst konkreter sozialer Grundrechte wurde im Prinzip befu È rwortet, wobei die Vorbildfunktion der EuropaÈischen Grundrechtscharta hervorgehoben wurde; im Hinblick auf die Realisierung sozialstaatlicher GewaÈhrleistungen standen sich im Einzelnen freilich zwei unterschiedliche Auffassungen gegenu È ber (Verankerung als subjektive Rechte oder lediglich als AuftraÈge an den Gesetzgeber). AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zu den Abschnitten 41±42: VfSlg 1451/1932: Ein historisch wichtiges Erkenntnis, weil hier der VfGH die Bindung des Gesetzgebers an ein Grundrecht (Gleichheitssatz) zum ersten Mal bejaht hat ± beachte die lapidare Formulierung, in welche diese bahnbrechende Aussage gekleidet ist. VfSlg 11.500/1987: In vielen ju È ngeren Grundrechtsentscheidungen hat sich der VfGH an der Judikatur des EGMR orientiert. In dieser wichtigen Entscheidung hat er das ganz bewusst nicht getan. Was waren die Gru È nde? VfSlg 16.584/2002: Auch in dieser Entscheidung geht der VfGH von einem verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Recht aus, nicht der Arbeiterkammer angehoÈren zu mu È ssen. Wie verhaÈlt sich der Begriff des Grundrechts zu dem der verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechte (Art 144 B-VG)? VfSlg 17.507/2005: Wenn nach der Bestimmung eines BVG die Entsendung eines Beamten zu einem Auslandseinsatz nur mit dessen Zustimmung moÈglich ist: Ist das ein Recht, das nach Art 144 B-VG vor dem VfGH geltend gemacht werden kann? Zur Vertiefung: Baumgartner, Das VerhaÈltnis der GrundrechtsgewaÈhrleistungen auf euroÈ R 1999, 117; Brauneder, Die Gesetzgebungsgeschichte paÈischer und nationaler Ebene, ZO der oÈsterreichischen Grundrechte, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 70 Jahre Republik. È sterreich (1991) 189; Nowak, Einfu Grund- und Menschenrechte in O È hrung in das internaÈ ber Grundrechte und deren Durchsettionale Menschenrechtssystem (2002); Ringhofer, U zung im innerstaatlichen Recht, in: Hellbling-FS (1981) 355; Stelzer, Die Quellen der GrundÈ R 1999, 9; Stern, Die Idee der Menschen- und Grundrechte, in: Merten/Papier rechte, ZO (Hrsg), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Bd 1 (2004) 3; Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie (1989); ferner die BeitraÈge zur Geschichte der Grundrechte in: Merten/Papier (Hrsg), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Bd 1 (2004).
1. Kapitel: Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat
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43. Die Grundrechte der EU Die innerstaatliche Geltung des EuropaÈischen Gemeinschaftsrechts und sein 1181 Anwendungsvorrang gegenu È ber entgegenstehendem nationalen Recht, der auch gegenu È ber dem Verfassungsrecht wirksam ist (vgl Rz 339 f), haben einschneidende Folgen fu È sterreichiÈ r den Grundrechtsschutz. Die EU ist an die Grundrechte des o schen Verfassungsrechts nicht gebunden und auch o È sterreichische Rechtsakte, die durch Gemeinschaftsrecht determiniert sind, du È rfen im Umfang dieser Determinierung nicht an den MaûstaÈben des innerstaatlichen Verfassungsrechts einschlieûlich der Grundrechte gemessen werden. Dem VfGH ist es verwehrt irgendeine gemeinschaftsrechtliche Bestimmung nach Maûgabe der verfassungsrechtlichen Grundrechte zu beurteilen, da u È ber die Gu È ltigkeit des Gemeinschaftsrechts nur der EuGH zu entscheiden befugt ist. Beru È cksichtigt man den umfassenden Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, wird deutlich, dass der Grundrechtsschutz fu Èr È sterreich geltenden Rechts nicht mehr allein vom o weite Teile des in O È sterreichischen Recht abhaÈngt und nicht mehr allein von Organen der oÈsterreichischen Rechtsordnung wahrgenommen wird. Diese Einbruchsstelle in den Grundrechtsschutz ist nur ertraÈglich, weil auch im 1182 Recht der EU Grundrechte gelten, die einen Grundrechtsschutz verbu È rgen, der im Prinzip mit den Standards des innerstaatlichen Grundrechtsschutzes vergleichbar ist. In diesem Abschnitt wird gerafft auf die Entwicklung und den Stand der Grundrechte der EU eingegangen und werden die wichtigsten allgemeinen Fragen ihrer Anwendung behandelt. Dabei wird deutlich werden, dass beim gegenwaÈrtigen Stand der europaÈischen Integration der wirksame Schutz der Grundfreiheiten und Menschenrechte einem ¹Grundrechtsverbundª u È berantwortet ist, in dem sich die Grundrechte des nationalen Verfassungsrechts mit den EU-Grundrechten ergaÈnzen und in dessen Rahmen die nationalen Gerichte mit dem EuGH zusammenwirken.
43.1. Der Bestand der EU-Grundrechte 1. Das Recht der EU enthaÈlt gegenwaÈrtig keinen ausdru È cklichen Grundrechts- 1183 katalog. Explizit verankert sind im PrimaÈrrecht nur einzelne Gleichheitsverbu È rgungen, die Diskriminierungen aus Gru È nden der StaatsangehoÈrigkeit und des Geschlechts ausschlieûen (Art 12, 141 EGV). Der EuGH hat allerdings die Existenz ungeschriebener Grundrechte des Gemeinschaftsrechts anerkannt, die zu den allgemeinen RechtsgrundsaÈtzen des Gemeinschaftsrechts gezaÈhlt werden (stRspr EuGH, Internationale Handelsgesellschaft, Rs 11/70, Slg 1970, 1125; Nold, Rs 4/73, Slg 1974, 491; Hauer, Rs 44/79, Slg 1979, 3727). Ihren Inhalt leitet der Gerichtshof aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie von den voÈlkerrechtlichen VertraÈgen ab, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind. Der EuropaÈischen Menschenrechtskonvention kommt dabei ¹besondere Bedeutungª zu (zB EuGH, ERT, Rs C-260/89, Slg 1991, I-2925). In Form einer ausdru È cklichen Anerkennung der Grundrechtsbindung der EU stellt 1184 Art 6 Abs 2 EUV klar, dass die Union die Grundrechte achtet, wie sie insbesondere in der Konvention gewaÈhrleistet sind. Damit wurde die Beachtung der EMRK der EU als rechtliche Verpflichtung auferlegt; praktisch kann man davon ausgehen, dass die Rechte der EMRK Ausdruck des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsstandards sind, der sich auch aus den VerfassungsuÈberlieferungen ergibt. Weil die EMRK-Grundrechte und allfaÈllige weitere, ungeschriebene Grundrechte fu È r die EU verbindlich sind, kann auch die EU als eine Grundrechtsgemeinschaft angesehen
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Teil IV. Die Grundrechte
werden, die Grundrechte voraussetzt und auf ihnen beruht (vgl auch Art 6 Abs 1 EUV). 1185 2. Trotzdem stellte das Fehlen eines kodifizierten Grundrechtskatalogs einen gravierenden Nachteil dar, der die Legitimation der EU als eine den Grundrechten verpflichtete Rechtsgemeinschaft in Frage stellen konnte. Deshalb wurde ein Grundrechtskonvent mit dem Auftrag betraut, eine EuropaÈische Grundrechtscharta (EGC) auszuarbeiten, welche die geltenden EU-Grundrechte ¹sichtbar machenª sollte. Diese Charta wurde auf dem Gipfel von Nizza im Jahr 2000 feierlich verabschiedet; die Mitgliedstaaten konnten sich allerdings nicht dazu durchringen, ihr rechtliche Verbindlichkeit zuzuerkennen. Die EGC kann daher nur als ein Ausdruck der gemeinsamen Verfassungsu È berlieferungen angesehen und als Erkenntnisquelle fu È r die geltenden Grundrechte herangezogen werden, die rechtlich weiterhin in den allgemeinen RechtsgrundsaÈtzen verankert sind. In diesem Sinne stu È tzt sich auch der EuGH auf die Grundrechtscharta (EuGH, EuropaÈisches Parlament/Rat der EU, Rs C-540/03, Slg 2006, I-5769). Nach dem Reformvertrag von Lissabon soll die Charta zwar nicht in die VertraÈge eingebaut, aber mit gleichem Rang wie die VertraÈge Bestandteil des PrimaÈrrechts werden und damit rechtliche Verbindlichkeit erlangen (vgl zum Reformvertrag von Lissabon Rz 295 ff). Nach dem vorlaÈufigen Scheitern dieses Reformvertrags bleibt es vorerst bei der bisherigen Rechtslage, wonach sich die rechtliche Verbindlichkeit der EU-Grundrechte aus den ungeschriebenen allgemeinen RechtsgrundsaÈtzen ableitet.
1186 3. Die EGC ist ein bemerkenswertes Grundrechtsdokument, das einen umfassenden Katalog von Grundrechten verankert und mit weiteren GrundsaÈtzen anreichert, in denen grundlegende Werte und Ziele der EU verankert sind. Die EGC besteht aus einer PraÈambel und sechs Kapiteln, welche die Grundrechte und GrundÈ berschriften an den pathetischen Dreiklang saÈtze der Charta gliedern, wobei die U der franzo È sischen Revolution (liberteÂ, eÂgaliteÂ, fraterniteÂ) erinnern: (1) Menschenwu È rde, (2) Freiheit, (3) Gleichheit, (4) SolidaritaÈt, (5) Bu È rgerrechte und (6) justizielle Rechte. Im Kontext dieser sechs Kapitel sieht die EGC zahlreiche und zum Teil neuartige GewaÈhrleistungen vor. a) Im Hinblick auf die Freiheitsrechte hat sich die EGC weitgehend an die EMRK angelehnt, die auch sonst fu È r die Auslegung der Charta maûgeblich ist. Nach Art 52 Abs 3 EGC haben die in der Charta gewaÈhrleisteten Rechte die gleiche Bedeutung und Tragweite wie die ihnen entsprechenden Rechte nach der EMRK; die Rechte der EGC koÈnnen aber einen daru È ber hinausgehenden Garantiegehalt aufweisen. b) Neben den aus der EMRK u È bernommenen Rechten hat die EGC noch weitere Grundrechte verankert: So enthaÈlt sie zB eine ausdru È ckliche GewaÈhrleistung der Menschenwu È rde (Art 1), die Berufsfreiheit (Art 15), Rechte der Kinder (Art 24) oder ein Asylrecht (Art 18). c) Mit weiteren GewaÈhrleistungen geht die EGC weit u È ber das hinaus, was sich in traditionellen Grundrechtskatalogen findet. So enthaÈlt die Charta eine Reihe von GewaÈhrleistungen fu È r ArbeitsverhaÈltnisse (zB Recht auf Kollektivvertragsverhandlungen oder auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen); unter dem Kapitel SolidaritaÈt werden soziale Leistungsanspru È che (zB Anspru È che auf soziale Unterstu È tzung, Gesundheitsschutz, Umweltschutz) angesprochen. Auch ein Dokumentenzugangsrecht (Art 42) oder ein ¹Recht auf eine gute Verwaltungª (Art 41) finden sich in der Charta. Nicht alle diese GewaÈhrleistungen sind Grundrechte, die dem Einzelnen unmittelbar anwendbare subjektive Rechte einraÈumen. Vor allem viele soziale Anspru È che und zahlreiche Bu È rgerrechte sind vielmehr GrundsaÈtze, die auf eine naÈhere Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angewiesen sind, wobei es sich in den meisten FaÈllen um den nationalen Gesetzgeber handeln wird. Dies zeigt sich etwa darin, dass viele dieser Anspru È che nur nach Maûgabe ihrer Ausgestaltung durch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften gewaÈhrleistet sind (vgl zB Art 35 zum Gesundheitsschutz).
Eine umfassende Darstellung der EU-Grundrechte ist in diesem Rahmen nicht È glich. Soweit einzelne EU-Grundrechte Besonderheiten aufweisen, die hervorzumo
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heben sind, wird darauf im Zusammenhang mit den entsprechenden Grundrechten des oÈsterreichischen Verfassungsrechts hingewiesen werden. Hier sind einige allgemeine Fragen anzuschneiden, welche die Anwendung der EU-Grundrechte und vor allem ihre Reichweite betreffen.
43.2. Die EU-Grundrechte: Allgemeine Anwendungsfragen 1. Der Inhalt der gemeinschaftsrechtlich gewaÈhrleisteten Grundrechte ist im 1187 Wege der Rechtsvergleichung aus den verfassungsrechtlichen Traditionen der Mitgliedstaaten und vor allem aus den entsprechenden GewaÈhrleistungen der EMRK zu ermitteln. Die EGC kann als Interpretationshilfe herangezogen werden (zu Bezugnahmen auf die EGC durch die GeneralanwaÈlte beim EuGH und durch die Rspr vgl zB EuGEI, JeÂgo-QueÂreÂ, Rs T-177/01, Slg 2002, II-2365; EuGH, EuropaÈisches Parlament/Rat der EU, Rs C-540/03, Slg 2006, I-5769). Zu zahlreichen Grundrechten gibt es mittlerweile schon eine einschlaÈgige Judikatur des EuGH, deren Beachtung gemeinschaftsrechtlich geboten ist. Dabei ist der EuGH in einzelnen FaÈllen auch u È ber die in der EMRK gewaÈhrleisteten Grundrechte hinausgegangen, vor allem im Zusammenhang mit rechtsstaatlichen GewaÈhrleistungen und Verfahrensgarantien sowie im Hinblick auf die nicht unter Rekurs auf die EMRK begru È ndbare Berufsfreiheit. 2. Die fu È r die EU-Grundrechte maûgebliche Grundrechtsdogmatik weist Paralle- 1188 len zur Dogmatik der nationalen Grundrechte auf; dies trifft vor allem auch fu Èr È sterreich zu, weil die EMRK nicht nur die wichtigste innerstaatlich geltende O Grundrechtsquelle ist, sondern auch der maûgebliche Ansatzpunkt fu È r die EUGrundrechte. Trotzdem gibt es Abweichungen, die sich vor allem aus der Rechtsnatur der EU, den Eigenarten des EU-Rechts und der Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten ergeben. Letztlich ergaÈnzen sich die mitgliedstaatlichen und die gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte, wobei es Aufgabe der EUGrundrechte ist, allfaÈllige Lu È cken des Grundrechtsschutzes zu schlieûen. In diesem Rahmen soll nur auf einige Besonderheiten hingewiesen werden; fu È r die Einzelheiten muss auf die einschlaÈgige Literatur verwiesen werden. a) Auch im Rahmen der EU-Grundrechte kann man zwischen absolut gewaÈhrleisteten 1189 Grundrechten (zB Folterverbot) und beschraÈnkbaren Grundrechten (zB Berufsfreiheit) unterscheiden; bei beschraÈnkbaren Grundrechten sind die Schranken im Wesentlichen anhand der Schrankenklauseln der EMRK zu bestimmen, soweit es sich um Rechte handelt, die auch in der Konvention gewaÈhrleistet sind. Die EGC hat die Schranken nicht bei den einzelnen Grundrechten ausgeformt, sondern sie enthaÈlt eine generelle Schrankenklausel; nach Art 52 Abs 1 EGC muss jede EinschraÈnkung eines Grundrechts gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt des Rechts wahren und unter Beachtung des Grundsatzes der VerhaÈltnismaÈûigkeit vorgenommen werden. Dies entspricht einem materiellen Gesetzesvorbehalt, wie er auch bei den meisten innerstaatlichen Grundrechten zum Tragen kommt (vgl Rz 1292 f). Nach der Judikatur des EuGH sind Grundrechtsschranken auch im Licht der ¹Struktur und der Ziele der Gemeinschaftª zu beurteilen, so dass grundrechtsbeschraÈnkende Maûnahmen zulaÈssig sein ko È nnen, wenn sie der Durchsetzung eines vertraglich verankerten Zieles (zB der gemeinschaftlichen Agrarpolitik) dienen. Wegen des Zusammenspiels zwischen dem EU-Recht und dem mitgliedstaatlichen Recht sind die Grundrechtsschranken freilich haÈufig mehrstufig, wenn etwa zu einer RL, die bestimmte GrundrechtsbeschraÈnkungen vorsieht, aber noch nicht naÈher determiniert, ein entsprechender Umsetzungsakt des Mitgliedstaats kommt. b) Die meisten EU-Grundrechte sind Menschenrechte, die allen Menschen zustehen. Nur die 1190 politischen Grundrechte, wie das aktive und passive Wahlrecht zum EP, bleiben den Unionsbu È rgern vorbehalten. Eine Drittwirkung der EU-Grundrechte ist eher ausgeschlossen, doch kann es eine Verpflichtung des zustaÈndigen Gesetzgebers (auf europaÈischer oder nationaler Ebene) geben, einzelne GewaÈhrleistungen (zB Schutz vor Meinungsmonopolen) auch gegenu È ber privaten RechtstraÈgern durchzusetzen.
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Teil IV. Die Grundrechte
43.3. Die Bindungswirkung der EU-Grundrechte Von besonderer Bedeutung ist die Frage nach der Reichweite der EU-Grundrechte im Hinblick auf die durch sie verpflichteten RechtstraÈger: Sind nur die Organe der EU (oder noch enger der EG) oder sind auch die Mitgliedstaaten durch die EU-Grundrechte in irgendeiner Form gebunden? Hinter dieser Frage steht auch ein Kompetenzproblem, weil eine umfassende, tief in das Recht der Mitgliedstaaten hineinwirkende Grundrechtsbindung dazu fu È hren koÈnnte, dass der EU Kompetenzen in Bereichen zuwachsen wu È rden, die nach den VertraÈgen bei den Mitgliedstaaten verblieben sind. 1191 1. Nach Art 6 Abs 2 EUV und Art 51 EGC verpflichten die EU-Grundrechte jedenfalls die Union, die ihr primaÈrer Adressat ist. Sie gelten damit fu È r alle ¹drei SaÈulenª, auch wenn die gerichtsfoÈrmliche Durchsetzung wegen der beschraÈnkten ZustaÈndigkeiten des EuGH in den Bereichen der GASP (keine ZustaÈndigkeit) und PJZS (begrenzte ZustaÈndigkeit) durchgaÈngig nur im Bereich der Gemeinschaften (¹Erste SaÈuleª) gesichert ist. Als Ausfluss der Grundrechtsbindung der Union binden die EU-Grundrechte alle Handlungen der Union, vor allem die sekundaÈren Rechtsakte der Gemeinschaften, das sonstige sekundaÈre EU-Recht oder Zwangsakte, an denen Gemeinschaftsorgane beteiligt sind. Verordnungen, Richtlinien oder Entscheidungen der EU sind daher rechtswidrig, wenn sie gegen ein EU-Grundrecht verstoûen (zB EuGH, Prais, Rs 130/75, Slg 1976, 1589; vgl ferner zum Eigentumsrecht zB EuGH, The Irish Farmers Association, Rs C-22/94, Slg 1997, I-1809). 1192 2. Schwieriger ist der Umfang der Bindung der Mitgliedstaaten an die EU-Grundrechte abzugrenzen. Nach der Rspr des EuGH sind Maûnahmen der Mitgliedstaaten (innerstaatliche Gesetze oder Vollzugsakte) an den Gemeinschaftsgrundrechten zu messen, wenn sie ¹in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechtsª fallen (zB EuGH, ERT, Rs C-260/89, Slg 1991, I-2925). Art 51 EGC spricht davon, dass die Mitgliedstaaten an die Charta ¹ausschlieûlich bei der Durchfu È hrung des Rechts der Unionª gebunden sind. Die genaue Tragweite dieser Grundrechtsbindung ist noch nicht endgu È ltig ausdiskutiert. Fest steht, dass Sachverhalte, die keinen Bezug zu den ZustaÈndigkeiten der Gemeinschaft haben, wie etwa Informationen u È ber AbtreibungsmoÈglichkeiten in einem anderen Staat, die nicht im Auftrag eines Wirtschaftsteilnehmers verbreitet werden, oder der Vollzug einer gerichtlichen Strafe wegen Mordes, von der Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte jedenfalls nicht erfasst sind (EuGH, Grogan, Rs C-159/90, Slg 1991, I-4685; Kremzow, Rs C-299/95, Slg 1997, I-2629). Dagegen sind die Mitgliedstaaten im Prinzip an die EU-Grundrechte gebunden, wenn sie im Rahmen des Rechts der EU handeln: Denn sie agieren dann funktional fu È r die Gemeinschaft und mu È ssen in gleicher Weise wie diese an die Grundrechte gebunden sein, wenn es angesichts des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts auch gegenu È ber den nationalen Grundrechten nicht zu grundrechtsfreien HandlungsraÈumen kommen soll. Daher ist eine Bindung der Mitgliedstaaten in den folgenden FaÈllen anzunehmen: 1193 . Beim unmittelbaren Vollzug von Gemeinschaftsrecht, etwa bei der Anwendung von gemeinschaftsrechtlichen VO oder von unmittelbar anwendbaren RL (vgl zB EuGH, Graff, Rs C-351/92, Slg 1994, I-3361); hier handeln die staatlichen Organe funktional als GemeinschaftsbehoÈrden. 1194 . Bei der Umsetzung von Richtlinien und beim Vollzug von Umsetzungsvorschriften (mittelbarer Vollzug von Gemeinschaftsrecht). Die Bindung besteht dabei in dem Umfang, in dem der Umsetzungsakt durch das Gemeinschaftsrecht determi-
1. Kapitel: Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat
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niert ist (vgl zB EuGH, Booker Aquaculture, verb Rs C-20/00 und C-64/00, Slg 2003, I-7411). Soweit der Mitgliedstaat einen Spielraum autonomer Rechtsgestaltung hat, waÈre er nach verbreiteter Auffassung an sich nicht an die EU-Grundrechte, sondern an seine nationalen Grundrechte gebunden (vgl zur ¹doppelten Bindungª Rz 345 f). Der EuGH neigt freilich dazu, eine Bindung des Mitgliedstaats an die Unionsgrundrechte auch bei den durch eine Richtlinie nicht naÈher determinierten nationalen HandlungsspielraÈumen und insbesondere auch fu È r gemeinschaftsrechtliche È ffnungsklauseln anzunehmen, die strengere nationale Regelungen zwar nicht geO bieten, aber erlauben (etwa beim Familiennachzug von Fremden; vgl EuGH, EuropaÈisches Parlament/Rat der EU, Rs C-540/03, Slg 2006, I-5769). . Eine Bindung der mitgliedstaatlichen Rechtsetzung besteht schlieûlich auch dann, 1195 wenn innerstaatliche Maûnahmen eine beschraÈnkende Wirkung auf die gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten entfalten. Insoweit sind die vorgesehenen Rechtfertigungspflichten (zB Art 30 EGV) auch im Licht der Grundrechte auszulegen. Die ersten beiden FaÈlle leuchten deshalb ein, weil hier die Mitgliedstaaten gleichsam als ¹Agentenª der Gemeinschaft taÈtig werden, die das Gemeinschaftsrecht anwenden und ausfu È hren. Fu È r sie muss daher die gleiche Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte gelten wie fu È r die Gemeinschaft selbst. StaÈrker umstritten ist der dritte Anwendungsfall. Hier ist deshalb von einer Grundrechtsbindung auszugehen, weil der Mitgliedstaat von einer gemeinschaftsrechtlichen ErmaÈchtigung zur EinschraÈnkung einer Grundfreiheit Gebrauch macht. Wenn daher zB der o È sterreichische Gesetzgeber zum Schutz der gefaÈhrdeten Vielfalt auf dem Pressemarkt bestimmte Restriktionen fu È r die Zeitschriftenwerbung vorsieht (Verbot von bestimmten Gewinnspielen), beschraÈnkt er die gemeinschaftsrechtliche Warenverkehrsfreiheit (Art 28 EGV). Eine solche Maûnahme kann nach Art 30 EGV gerechtfertigt sein; insoweit stu È tzt sich der Gesetzgeber auf einen gemeinschaftsrechtlichen Rechtfertigungsgrund und er muss daher auch die EU-Grundrechte beachten. Die WerbebeschraÈnkung muss daher im Hinblick auf die Medienfreiheit, in die durch sie eingegriffen wird, grundrechtskonform und verhaÈltnismaÈûig ausgestaltet sein. In solchen Konstellationen kommt den Gemeinschaftsgrundrechten die Funktion zu die Grundfreiheiten anzureichern und zu verstaÈrken (vgl EuGH, Familiapress, Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689). Die genaue Reichweite dieser Grundrechtsbindung ist umstritten. Eine vollstaÈndige Bindung der Mitgliedstaaten laÈsst sich auf der Grundlage des geltenden Rechts jedenfalls nicht begru È nden.
È ûe gegen EU-Grundrechte durch die Gemeinschaftsorgane selbst koÈn- 1196 3. Versto nen in den entsprechenden Verfahren (vor allem Nichtigkeits- und UntaÈtigkeitsklage, ferner Vorabentscheidungsverfahren) bei den Gerichten der Gemeinschaft (EuGH, EuGEI) bekaÈmpft werden. Beim indirekten Vollzug des Gemeinschaftsrechts durch o È sterreichische Organe koÈnnen die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts vor den nationalen oÈsterreichischen Instanzen (VerwaltungsbehoÈrden, Gerichten) geltend gemacht werden, auch durch Bescheidbeschwerden an den VwGH oder durch Anrufung der UVS. Im Bereich der PJZS gibt es nur eine eingeschraÈnkte, im Bereich der GASP keine gerichtliche Kontrolle der Grundrechtsbindung. È rden be- 1197 Im Umfang der dargelegten Grundrechtsbindung sind alle innerstaatlichen Beho fugt und verpflichtet, die Vereinbarkeit genereller innerstaatlicher Rechtsvorschriften mit den Grundrechten des Gemeinschaftsrechts inzidenter zu pru È fen (EuGH, ERT, Rs C-260/89, Slg 1991, I-2925). Widersprechende Rechtsvorschriften sind wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts nicht anzuwenden. Im Zweifel ist das staatliche Recht so zu interpretieren, dass es mit den gemeinschaftsrechtlichen Grundrechten vereinbar ist (Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung; VfSlg 14.391/1995). Mit den dabei auftretenden Zweifelsfragen im Hinblick auf die Auslegung der Gemeinschaftsgrundrechte ist der EuGH im Wege von Vorabentscheidungsverfahren zu befassen, der insoweit auch ein ¹Grundrechtsgerichtª ist.
Dagegen sind ausschlieûlich gemeinschaftsrechtlich geltende Grundrechte kein 1198 Maûstab fu È r die Pru È fung innerstaatlicher Gesetze oder von Verordnungen
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Teil IV. Die Grundrechte
durch den VfGH, weil VerstoÈûe gegen Gemeinschaftsrecht keine Gesetzwidrigkeit (Art 139 B-VG) bzw Verfassungswidrigkeit (Art 140 B-VG) darstellen. Auch eine Anrufung des VfGH nach Art 144 B-VG kommt bei einer behaupteten Verletzung eines Grundrechts des Gemeinschaftsrechts nicht in Betracht. Allerdings kann eine Gemeinschaftswidrigkeit auf eine qualifizierte und in die VerfassungssphaÈre reichende Rechtswidrigkeit im Hinblick auf die innerstaatlichen Grundrechte (vor allem Willku È r oder Gesetzlosigkeit) hinauslaufen. Insoweit kann eine Gemeinschaftswidrigkeit einen Verstoû gegen nationale Grundrechte indizieren, den der VfGH im Rahmen seiner Kompetenz nach Art 144 B-VG aufgreifen kann (vgl Rz 353).
43.4. Die Wirksamkeit der EU-Grundrechte 1199 Obwohl die Grundrechte der EU im Prinzip einen den nationalen Verfassungen gleichwertigen Grundrechtsschutz verbu È rgen, wird seine EffektivitaÈt von manchen angezweifelt. Das Problem ist weniger das Fehlen eines kodifizierten Grundrechtskatalogs; diesem Manko wu È rde mit dem In-Kraft-Treten der Grundrechtscharta abgeholfen werden. Problematischer ist, dass das EU-PrimaÈrrecht an keine Grundrechte gebunden ist und dass der EuGH nicht in erster Linie als ¹Grundrechtsgerichtª taÈtig wird. Ein vielfach diskutierter Ausweg waÈre ein Beitritt der EU zur EMRK: Dadurch wu È rde eine ZustaÈndigkeit des EGMR begru È ndet werden, u È ber die Einhaltung der Grundrechte durch die Organe der EU abzusprechen, so dass ein kohaÈrentes europaÈisches Grundrechtsschutzsystem entstuÈnde. Der Reformvertrag von Lissabon sieht einen Beitritt zur Konvention vor. Auch die EMRK soll im Rahmen eines 14. ZProtEMRK an einen allfaÈlligen Beitritt der EU angepasst werden. 1200 Solange die EU nicht selbst foÈrmlich an die EMRK gebunden ist, wird die Konvention allerdings
mittelbar wirksam, weil die einzelnen EU-Mitgliedstaaten die aus der EMRK erwachsenden Verpflichtungen jedenfalls zu respektieren haben und sich ihnen auch nicht unter Hinweis auf ihre Mitgliedschaft in der Union entziehen ko È nnen. Der EGMR beansprucht daher auch È berpru eine ZustaÈndigkeit zur U È fung von Maûnahmen der Mitgliedstaaten, die in Grundrechte der EMRK eingreifen, und zwar auch dann, wenn der Mitgliedstaat wegen seiner Bindung an das Unionsrecht gar nicht anders handeln konnte oder der EuGH bereits festgestellt haben sollte, dass diese Maûnahme nicht gegen das Unionsrecht verstoÈût. Der EGMR nimmt aber Ru È cksicht auf die Union und den EuGH, indem er unter Hinweis auf den im Prinzip gleichwertigen unionsrechtlichen Grundrechtsschutz von der grundsaÈtzlichen GrundrechtskonformitaÈt von Akten der Union und darauf gestu È tzter Maûnahmen der Mitgliedstaaten ausgeht und nur einschreiten moÈchte, wenn sich gemessen an den UmstaÈnden des Einzelfalles zeigen sollte, dass der Schutz der Konventionsrechte durch die Union offensichtlich unzureichend (¹manifestly deficientª) gewesen waÈre (vgl zur Beschlagnahme eines Flugzeugs durch die irische Regierung in Vollziehung von Sanktionsmaûnahmen der EU die Entscheidung EGMR, Bosphorus, EuGRZ 2007, 662). AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zum Abschnitt 43: EuGH, Stauder, Rs 29/69, Slg 1969, 419: Die Judikatur des EuGH zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch vor nationalem Verfassungsrecht stieû auf Widerstand jener Staaten, die einen entwickelten Grundrechtsschutz (zB Deutschland) kannten und die sich an der ¹Grundrechtsblindheitª der EU stieûen. Diese Entscheidung ist eine erste Reaktion des EuGH. EuGH, Hauer, Rs 44/79, Slg 1979, 3727: Die EMRK wird als Erkenntnisquelle fu È r die gemeinschaftsrechtlich geltenden Grundrechte herangezogen. EuGH, Carpenter, Rs C-60/00, Slg 2002, I-6279: Eine Entscheidung, die zeigt zu welchen BeschraÈnkungen von mitgliedstaatlichen HandlungsspielraÈumen der europaÈische Grundrechtsschutz fu È hren kann.
1. Kapitel: Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat
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EuGH, Rechnungshof gegen ORF ua, verb Rs C-465/00, Slg 2003, I-4989: Ein interessanter Fall zur Grundrechtsbindung mitgliedstaatlichen Handelns; vgl dazu auch VfSlg 16.050/ 2000 (Vorlagebeschluss des VfGH) und VfSlg 17.065/2003 (Entscheidung). EuGH, Omega, Rs C-36/02, Slg 2004, I-9609: Verstoûen Veranstaltungen, bei denen die ToÈtung von Menschen mit Laserpistolen simuliert wird, gegen die Menschenwu È rde? Beachte, wie hier eine EinschraÈnkung einer Grundfreiheit durch einen Mitgliedstaat durch den Rekurs auf ein Unionsgrundrecht gerechtfertigt wird. VwGH 15.12.2003, 99/03/0423: Beachte, wie hier der VwGH als ¹Grundrechtsgerichtshofª agiert und Art 6 EMRK als Grundrecht des Gemeinschaftsrechts unmittelbar anwendet. Zur Vertiefung: Berka, Grundrechtsschutz durch EuGH und EGMR ± Konkurrenz oder KoÈ JZ 2006, 876; Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der EuropaÈioperation? O schen Union (2002); Duschanek/Griller (Hrsg), Grundrechte fu È r Europa (2002); Grabenwarter, Auf dem Weg in die Grundrechtsgemeinschaft? EuGRZ 2004, 563; Griller, Vom Diskriminierungsverbot zur Grundrechtsgemeinschaft? in: SchaÈffer-FS (2006) 203; HengstÈ ger, Grundrechtsschutz kraft EU-Rechts, JBl 2000, 409 und 494; Jarass, EU-Grundschla rechte (2005); Korinek, Zur Bedeutung des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes im System des nationalen und europaÈischen Schutzes der Grund- und Menschenrechte, in: Badura-FS (2004) 1099; Meyer (Hrsg), Charta der Grundrechte der EuropaÈischen Union2 (2006); Potacs, Die EuropaÈische Union und die Gerichtsbarkeit oÈffentlichen Rechts, 14. È JT I/1 (2000); Ress, Menschenrechte, europaÈisches Gemeinschaftsrecht und nationales O Verfassungsrecht, in: G. Winkler-FS (1997) 897; R. Winkler, Die Grundrechte der EuropaÈischen Union (2006).
2. Kapitel: Allgemeine Grundrechtslehren 1201 Bevor auf die einzelnen Grundrechte des o È sterreichischen Verfassungsrechts naÈher eingegangen wird, sind einige allgemeine GrundsaÈtze fu È r die Interpretation und Anwendung dieser Rechte zu behandeln. Solche Aussagen werden u È blicherweise in der Form einer ¹allgemeinen Grundrechtslehreª zusammengefasst. Sie stellt eine Art von allgemeiner Dogmatik der Grundrechte dar, die Auskunft gibt u È ber die Rechtsnatur dieser Rechte, ihren persoÈnlichen und sachlichen Anwendungsbereich, u È ber das VerhaÈltnis zwischen der GewaÈhrleistung der Grundrechte und ihren Schranken und einige andere Fragen. Manche (nicht immer einfache) Probleme der allgemeinen Grundrechtsdogmatik lassen sich besser verstehen, wenn man schon mehr mit den Grundrechten gearbeitet hat. Es kann daher sinnvoll sein, das folgende Kapitel erst dann genauer durchzuarbeiten, wenn man sich schon in die Einzelgrundrechte etwas ¹hineingelesenª hat.
44. Zur Interpretation der Grundrechte 1202 1. Die Grundrechte sind Èauûerst voraussetzungsvolle Normen. Der Wortlaut der Grundrechte ist durch die Sprache der politischen Rhetorik gepraÈgt und gemessen an der juristischen Begrifflichkeit oft vage, inhaltlich offen und fragmentarisch. Fu Èr das konkrete VerstaÈndnis der Grundrechte ist daher die Art und Weise ihrer Interpretation von ausschlaggebender Bedeutung, die sich teilweise von der Auslegung anderer Verfassungsbestimmungen unterscheidet. È sterreich war die Interpretation der Grundrechte lange Zeit durch ein ausgesprochen In O formales und begriffsjuristisches VerstaÈndnis gekennzeichnet. Erst Mitte der 1980er Jahre ist es zu einem markanten Wandel in der Grundrechtsjudikatur des VfGH gekommen, der sich auch in der Interpretation der Rechte niedergeschlagen hat. Heute steht weitgehend auûer Streit, dass bei der Interpretation der Grundrechte alle juristischen Auslegungsmethoden heranzuziehen sind, um ihnen zur vollen Wirksamkeit zu verhelfen.
1203 2. Ausgangspunkt der Grundrechtsinterpretation ist wie bei allen u È brigen Rechtsnormen idR der Wortlaut. Bei der grammatikalischen Interpretation muss freilich die geschichtliche Bedingtheit mancher grundrechtlicher Begriffe entsprechend beru È cksichtigt werden. Unter ¹Meinungenª im Sinn der Garantien der Meinungsfreiheit fallen daher beispielsweise nicht nur subjektive Werturteile, sondern auch Tatsachenaussagen, weil der Begriff der Meinungsfreiheit schlechterdings ¹Redefreiheitª bedeutet. 1204 Die systematische Interpretation kann vor allem den Zusammenhang zwischen den einzelnen Grundrechten, aber auch ihre Stellung im Zusammenhang der gesamten Verfassung erhellen. Die an sich schrankenlos gewaÈhrleistete Freizu È gigkeit der Person (Art 4 StGG) kann daher beispielsweise auch aus Gru È nden eingeschraÈnkt werden, die nach anderen Verfassungsbestimmungen gerechtfertigt sind, etwa im Zusammenhang mit einer zulaÈssigen Haft oder im Rahmen der Erfu È llung der Wehrpflicht. 1205 Die Bedeutung einer historischen Interpretation der Grundrechte liegt in erster Linie darin, dass diese Auskunft u È ber die historischen GefaÈhrdungslagen gibt, auf welche die Grundrechte eine Antwort darstellen. In diesem Sinn kann zB die historische Interpretation zeigen, dass die Liegenschaftsfreiheit (Art 6 StGG) eine Reaktion auf die bestimmten Gruppen der staÈndischen Gesellschaft eingeraÈumten Privilegien beim Liegenschaftserwerb war. 1206 Die Ergebnisse der Wortinterpretation und der historischen Interpretation mu È ssen aber im Kontext einer teleologischen Interpretation der Grundrechte bewertet
2. Kapitel: Allgemeine Grundrechtslehren
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und unter UmstaÈnden auch korrigiert werden. Denn der Sinngehalt der Grundrechte erscho È pft sich nicht in der Abwehr historischer Bedrohungen der menschlichen Freiheit und Wu È rde. Sie sind vielmehr offen fu È r eine Anpassung an gewandelte rechtliche und soziale Bedingungen; nur eine solche Anpassung stellt sicher, dass die Grundrechte nicht ¹leer laufenª und sich nicht in historischen Reminiszenzen an fru Èhere Bedrohungen erscho È pfen. Die Bedeutung einer teleologischen Grundrechtsinterpretation kommt beispielhaft in der 1207 Judikatur des EGMR zum Ausdruck, der den Maximen einer ¹dynamischen und evolutivenª Auslegung folgt. Danach sind die Grundfreiheiten und Menschenrechte der Konvention im Licht der wandelbaren sozialen und politischen Gegebenheiten dynamisch zu entwickeln und ist unter Beru È cksichtigung dieser Gegebenheiten ein effektiver Grundrechtsschutz zu gewaÈhren: Denn die Konvention ist ¹ein lebendiges Instrument, das im Lichte der heutigen VerhaÈltnisse zu interpretieren istª (stRspr seit EGMR, Tyrer, EuGRZ 1979, 162). Daher kann zB die Todesstrafe eine unmenschliche oder erniedrigende Strafe iS von Art 3 EMRK sein, obwohl die Todesstrafe bei der Schaffung der Konvention noch nicht ausgeschlossen werden sollte, und kann die Ausweisung eines Fremden gegen Art 3 EMRK verstoûen, obwohl bei der Schaffung dieser Bestimmung noch nicht an diese Problematik gedacht worden war. Auch der VfGH laÈsst sich in seiner Grundrechtsjudikatur von den Maximen einer dynamischen und um GrundrechtseffektivitaÈt bemu È hten Interpretation leiten (VfSlg 16.245/2001).
3. Weil die Grundrechte in die verschiedenen unterverfassungsrechtlichen Rechtsge- 1208 biete ¹ausstrahlenª, kommt dem Gebot der verfassungskonformen Interpretation besondere Bedeutung zu. Es gebietet, bei der Auslegung von unterverfassungsrechtlichen Normen im Rahmen des moÈglichen Wortsinnes jene Bedeutung zu waÈhlen, welche die Normen im Zweifel als nicht verfassungswidrig erscheinen laÈsst. Gesetze sind also so zu interpretieren, dass sie beispielsweise im Zweifel nicht gleichheitswidrig sind (vgl zB VfSlg 10.387/1985, 13.210/1992); eigentumsbeschraÈnkenden Regelungen ist in verfassungskonformer Auslegung zu unterstellen, dass sie unter einem Vorbehalt des wirtschaftlich Zumutbaren stehen (zB VfSlg 14.489/1996); bei aufenthaltsbeendenden Maûnahmen oder der Versagung von Aufenthaltstiteln im Rahmen des Fremdenpolizeirechts ist auch dann auf das Privat- und Familienleben eines Fremden Ru È cksicht zu nehmen, wenn das im entsprechenden Gesetz nicht ausdru È cklich angeordnet ist (zB VfSlg 14.300/1995, 14.571/1996). Setzt sich eine VerwaltungsbehoÈrde bei der Erlassung eines Bescheids u È ber das Gebot der verfassungskonformen Interpretation hinweg, kann das eine in die VerfassungssphaÈre reichende Rechtswidrigkeit begru È nden; fu È r den VfGH stellt das ¹Unterstellen eines verfassungswidrigen È glichkeitª dar, welche die Verfassungswidrigkeit des BeInhaltsª eine Form der ¹Denkunmo scheids zur Folge hat (vgl Rz 1059, 1311 ff).
45. Die Rechtsnatur der Grundrechte Auch wenn die gemeinsame Mitte aller Grund- und Menschenrechte der Schutz der 1209 menschlichen Wu È rde und Freiheit ist, garantieren sie im Einzelnen unterschiedliche Sachverhalte: etwa die IntegritaÈt der menschlichen Person (zB Folterverbot), die Freiheit bestimmter Verhaltensweisen (zB Meinungsfreiheit) oder bestimmter Lebensbereiche (zB PrivatsphaÈre) oder den Schutz gewisser Rechtsgu È ter (zB Eigentum); sie koÈnnen bestimmte Verfahren oder ZustaÈndigkeiten gewaÈhrleisten (zB Recht auf den gesetzlichen Richter), den Zugang zu staatlichen Leistungen einraÈumen (zB Recht auf Bildung) oder Schutz vor Ungleichbehandlung (zB Willku È rverbot) verbu È rgen. Diesen grundrechtlich geschu È tzten Sachverhalt kann man als den Schutzbereich oder GewaÈhrleistungsbereich des jeweiligen Grundrechts bezeichnen.
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Teil IV. Die Grundrechte
45.1. Grundrechte als objektive Grundsatznormen 1210 Im Rahmen des jeweiligen Schutzbereichs (zB Freiheit des Eigentums, Meinungsfreiheit, Recht auf Bildung) verpflichten die Grundrechte den Staat dazu, die gewaÈhrleisteten Sachverhalte zu achten und zu schu È tzen: Er hat dafu È r zu sorgen, dass das EiÈ uûerung gentum in Freiheit in Anspruch genommen werden kann, dass die freie A von Meinungen moÈglich ist, dass das Recht auf Bildung gewahrt bleibt und dass sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlungen unterbleiben. In diesem Sinn sind die Grundrechte zunaÈchst umfassende objektive verfassungsrechtliche Grundsatznormen fu È r das staatliche Handeln, die potentiell in alle Richtungen und in alle Rechtsbereiche hineinwirken koÈnnen. Sie sind zentrale Elemente der verfassungsrechtlichen Ordnung, die jede Erscheinungsform der Staatsgewalt und das gesamte Recht unterhalb der Verfassungsstufe binden. Sie verpflichten den Staat zur umfassenden Achtung der grundrechtlich gewaÈhrleisteten Sachverhalte, wobei dieser Achtungsanspruch im Einzelnen unterschiedliche individuelle Rechtspositionen der Grundrechtsberechtigten nach sich zieht (vgl im Folgenden 45.2.). Abgesehen von den individuellen Rechten des Einzelnen kann sich die Bedeutung der Grundrechte als objektive Grundsatznormen aber auch in der Form von GewaÈhrleistungspflichten niederschlagen (vgl im Folgenden 45.3.).
45.2. Grundrechte als subjektive Rechte 1211 1. Aufbauend auf den jeweiligen Schutzbereich gewaÈhrleisten die Grundrechte dem Einzelnen bestimmte subjektive Rechte. In dieser verfassungsrechtlich verbu È rgten Berechtigung des Einzelmenschen, die rechtsfoÈrmlich durchgesetzt werden kann, liegt das eigentliche Wesen der Grundrechte. Aus diesem Grund sind etwa bloûe Staatszielbestimmungen wie das verfassungsrechtliche Bekenntnis zum umfassenden Umweltschutz oder objektive Verfassungsnormen (wie das LegalitaÈtsprinzip des Art 18 B-VG) keine Grundrechte. 1212 Die Art des gewaÈhrleisteten Rechtsanspruchs richtet sich nach dem jeweiligen Grundrecht. Im Einzelnen koÈnnen das unterschiedliche Anspru È che sein. Freiheitsrechte begru È nden in der Regel subjektive Abwehrrechte, die auf ein staatliches Unterlassen gerichtet sind: etwa das subjektive Recht nicht enteignet oder wegen einer MeinungsaÈuûerung nicht bestraft zu werden. Im Zusammenhang mit Freiheitsrechten koÈnnen ferner subjektive Rechte auf staatliche Leistungen begru È ndet sein, etwa der Anspruch eines Festgenommenen u È ber die Gru È nde seiner Festnahme unverzu È glich unterrichtet zu werden (Art 4 Abs 6 PersFrG) oder der verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Anspruch auf Schutz von rechtmaÈûigen Versammlungen vor StoÈrungen durch Dritte, der aus der Versammlungsfreiheit abzuleiten ist (VfSlg 12.501/1990). Andere Grundrechte gewaÈhren von vornherein Anspru È che auf bestimmte staatliche Leistungen, wie etwa das verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Recht auf eine Entscheidung durch ein Gericht (Art 6 EMRK) oder das Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zu bestehenden Bildungseinrichtungen, das aus dem Recht auf Bildung (Art 2 1. ZProtEMRK) folgt. 1213 Zur Kategorisierung der einzelnen subjektiven Rechte wird haÈufig auf die Statuslehre Georg
Jellineks Bezug genommen, die dieser Staatsrechtslehrer Ende des 19. Jahrhunderts entwikkelt hat. Danach kann man mit Bezug auf die Grundrechte unterscheiden: Rechte des status negativus, die dem Einzelnen einen Anspruch auf staatliches Unterlassen gewaÈhren (zB einen Rechtsanspruch darauf, dass Druckschriften keiner staatlichen Zensur unterworfen werden); Rechte des status positivus, die dem Einzelnen Anspru È che auf staatliche Leistungen gewaÈhren (wie sie zB fu È r soziale Grundrechte, etwa ein Grundrecht auf Arbeit, charakteristisch waÈren); Rechte des status activus, die dem Einzelnen einen Anspruch auf Mitwirkung an der staatlichen Willensbildung gewaÈhren (dazu gehoÈren die politischen Grundrechte, wie zB das
2. Kapitel: Allgemeine Grundrechtslehren
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aktive und passive Wahlrecht). Diese Einteilung hat mit ihrer EinpraÈgsamkeit einen gewissen didaktischen Wert. Sie bringt freilich die Vielschichtigkeit der grundrechtlichen Anspru È che nicht ausreichend zum Ausdruck, weil zB die Freiheitsrechte eben nicht ± wie Georg Jellinek meinte ± nur Ausdruck einer ¹natu È rlichen Freiheitª des Menschen sind, die Abwehrrechte gegen gesetzwidrigen Zwang gewaÈhren, sondern diese Rechte zB auch gewisse positive Anspru Èche umschlieûen ko È nnen. Um die in der o È sterreichischen Verfassungsrechtsordnung einschlieûlich der in internationalen Menschenrechtsdokumenten verankerten und im Verfassungsrang stehenden Rechte angemessen zu erfassen, bedarf es daher einer differenzierteren Einteilung, die im Folgenden zu Grunde gelegt wird.
2. In inhaltlicher Hinsicht lassen sich die Grundrechte wie folgt einteilen: . Freiheitsrechte: Freiheitsrechte bilden den Kernbestand der auf das 18. und 1214 19. Jahrhundert zuru È ckgehenden Grundrechtskataloge. Auch im StGG und in der EMRK finden sich neben den Gleichheitsrechten u È berwiegend Freiheitsrechte. Freiheitsrechte geben Schutz vor staatlichen Eingriffen in die IntegritaÈt der menschlichen Person oder in bestimmte menschliche Entfaltungsbereiche. In diesem Sinn sind sie Abwehrrechte, die sich primaÈr auf ein staatliches Unterlassen richten: Dem Staat ist es untersagt ohne ausreichenden Grund Enteignungen oder ohne richterlichen Befehl Hausdurchsuchungen vorzunehmen oder Versammlungen einem Konzessionssystem zu unterwerfen usw. Wie die oben angefu È hrten Beispiele zeigen, koÈnnen in Freiheitsrechten aber auch positive Anspru Èche auf staatliche Leistungen angelegt sein. . Gleichheitsrechte: Neben der GewaÈhrleistung bu È rgerlicher Freiheit war die Her- 1215 stellung rechtlicher Gleichheit die zweite zentrale Stoûrichtung der Grundrechtsbewegung. Gleichheitsrechte verbu È rgen einen Status rechtlicher Gleichheit, der grundsaÈtzlich in alle Bereiche der Rechtsordnung ausstrahlt. Gleichheit gewaÈhrleistet die Verfassung in der Form des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes (Art 7 B-VG, Art 2 StGG), der in der Rechtspraxis zu dem wohl wichtigsten Grundrecht geworden ist. Daru È ber hinaus garantiert die Verfassung noch verschiedene AuspraÈgungen der Rechtsgleichheit in der Form von besonderen È mterzugaÈnglichkeit (Art 3 Gleichheitsgeboten, wie zB dem Recht auf gleiche A StGG). . Verfahrensgarantien: Grundrechtliche Verfahrensgarantien sind subjektive 1216 verfassungsgesetzlich garantierte Rechte, die entweder Anspru È che auf ein bestimmtes Verfahren gewaÈhren, wie etwa das Recht auf eine Entscheidung durch ein Tribunal (Art 6 Abs 1 EMRK), oder die eine bestimmte Ausgestaltung eines VerÈ ffentlichkeit) oder bestimmte prozessuale Rechtspositionen gewaÈhrfahrens (zB O leisten (zB die Verteidigungsrechte im Strafverfahren nach Art 6 Abs 3 EMRK). Sie sind in der Regel auf staatliche Leistung gerichtet; so hat zB der Staat durch entsprechende organisatorische Vorkehrungen dafu È r zu sorgen, dass die dem Einzelnen garantierte Entscheidung durch ein Gericht auch tatsaÈchlich innerhalb angemessener Frist (Art 6 Abs 1 EMRK) ergeht. In den Verfahrensgarantien koÈnnen aber auch Unterlassungspflichten angelegt sein; so darf zB der Beschuldigte nicht zu selbstbelastenden Aussagen gezwungen werden (Art 90 Abs 2 B-VG). . Politische Rechte: Die politischen Grundrechte geben dem Einzelnen das 1217 subjektive Recht der aktiven politischen Mitwirkung an der Hervorbringung des Staatswillens. Durch sie erlangt der Einzelne den Status des ¹citoyenª als vollberechtigtes Mitglied der Bu È rgergesellschaft (¹civil societyª), aus welcher der freiheitliche Verfassungsstaat hervorgeht. Durch die Ausu È bung dieser Rechte, in erster Linie durch das aktive und passive Wahlrecht, wird die Staatsgewalt in der fu È r eine repraÈsentative Demokratie charakteristischen Weise legitimiert. . Soziale Grundrechte: Soziale Grundrechte sind subjektive verfassungsgesetzlich 1218 gewaÈhrleistete Rechte, die dem Einzelnen einen staatsgerichteten Anspruch auf
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Teil IV. Die Grundrechte
soziale Leistungen geben, etwa ein Recht auf Arbeit, ein Recht auf Wohnung oder ein Recht auf soziale Fu È rsorge. Derartige Rechte werden auch als Teilhaberechte bezeichnet. Das geltende o È sterreichische Bundesverfassungsrecht sieht derartige Leistungsanspru È che zumindest expressis verbis nicht vor. Gewisse grundrechtliche Anspru È che auf Teilhabe an staatlichen Leistungen koÈnnen aber aus einzelnen Freiheits- und Gleichheitsrechten abgeleitet werden. 1219
So gibt zB das Recht auf Bildung zwar keinen Anspruch auf die Errichtung von bestimmten Schulen oder UniversitaÈten, aber einen Anspruch auf diskriminierungsfreien Zugang zu bestehenden Bildungseinrichtungen (vgl unten Rz 1537 f). Auch das Grundrecht auf Datenschutz ist ein Beispiel, das zeigt, dass auch u È blicherweise als Freiheitsrechte gedeutete Grundrechte LeistungsanspruÈche umschlieûen ko Ènnen, hier zB ein Recht auf Auskunftserteilung oder Lo È schung von Daten (vgl unten Rz 1411). Gewisse LeistungsanspruÈche lassen sich auch aus dem Gleichheitsgrundsatz ableiten (so genannte ¹derivativeª Leistungsanspru È che; vgl dazu unten Rz 1643).
1220 3. Die Grundrechte als Elemente des objektiven Verfassungsrechts und ihr subjektiver Gehalt stehen nicht beziehungslos nebeneinander. Indem der Einzelne von seinen subjektiven Grundrechten Gebrauch macht, aktualisieren sich die grundrechtlichen Freiheiten in der demokratischen Gesellschaft. Insofern zielen vor allem die Freiheitsrechte auf die GewaÈhrleistung freiheitlicher Ordnungen in den verschiedensten gesellschaftlichen Teilbereichen, dh auf die Freiheit bestimmter Lebensbereiche (Wissenschaft, Presse, Religion), menschlicher ZustaÈnde (Leben, persoÈnliche Freiheit) oder menschlicher EntfaltungsmoÈglichkeiten (Eigentum). Wenn diese freiheitliche Ordnung durch den selbstbestimmten Grundrechtsgebrauch der einzelnen GrundrechtstraÈger nicht oder nur in defizitaÈrer Weise entsteht, kann es unter UmstaÈnden eine Pflicht des Staates geben die dafu È r notwendigen Voraussetzungen zu schaffen ± etwa indem der Staat gegen eine u È bermaÈûige Konzentration von Medienmacht durch Maûnahmen der KonzentrationsbekaÈmpfung einschreitet, wenn die Bedingungen einer pluralistischen Meinungsbildung bedroht sind. Auch der VfGH bezieht einzelne Grundrechte auf die durch sie gewaÈhrleistete Ordnung bestimmter freiheitlicher Lebensbereiche: In diesem Sinn wurde die Erwerbsfreiheit etwa mit dem System des ¹freien Wettbewerbsª verknu È pft, das ¹vom Verfassungsgesetzgeber mitgedachtª ist (VfSlg 11.483/1987 ua); auch die in Art 10 EMRK verankerte ¹Kommunikationsfreiheitª wird als Ausdruck einer freiheitlichen Kommunikationsordnung gedeutet, die der Tendenz nach alle Formen und Funktionen von Kommunikation umschlieût und deren Ziel die umfassende GewaÈhrleistung offener Kommunikationsprozesse ist (VfSlg 10.948/1986 ua).
45.3. Grundrechtliche GewaÈhrleistungspflichten 1221 1. Wenn die Grundrechte bestimmte Individualrechtspositionen gewaÈhrleisten, verpflichten sie den Staat zu einer umfassenden Achtung dieser Interessen, im Fall der Freiheitsrechte zur Respektierung der garantierten Freiheitsbereiche. Diesem Achtungsanspruch entspringen regelmaÈûig gewisse Unterlassungspflichten: Der Staat darf in die gewaÈhrleisteten Freiheiten nicht bzw nur unter Beachtung bestimmter Bedingungen eingreifen. Die Funktion der Grundrechte erscho È pft sich aber nicht in diesen Wirkungen. In den umfassend formulierten Grundrechtsgarantien, welche die Freiheitlichkeit bestimmter Lebensbereiche (zB Wissenschaftsfreiheit) oder ZustaÈnde (zB persoÈnliche Freiheit) verheiûen, koÈnnen vielmehr auch positive GewaÈhrleistungspflichten angelegt sein, die den Staat zu einem bestimmten Handeln verpflichten. Sie ergaÈnzen und stu È tzen die so genannte ¹abwehrrechtliche Funktionª der Grundrechte und stellen sicher, dass die garantierten Freiheiten auch dann real werden, wenn ein bloûes Unterlassen staatlicher AktivitaÈten dafu È r nicht ausreicht.
2. Kapitel: Allgemeine Grundrechtslehren
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Diese grundrechtlichen GewaÈhrleistungspflichten richten sich regelmaÈûig an den 1222 Gesetzgeber, der fu È r den entsprechenden Schutz der individuellen Freiheit zu sorgen hat oder zur organisatorischen oder verfahrensmaÈûigen Ausgestaltung einzelner GewaÈhrleistungen verpflichtet ist. In aller Regel steht dem Gesetzgeber allerdings gerade bei den positiven GewaÈhrleistungspflichten ein weit gespannter Spielraum rechtspolitischer Gestaltungsfreiheit zur Verfu È gung, dem durch das Grundrecht nur die Richtung gewiesen wird. Bei der Erfu È llung von GewaÈhrleistungspflichten kann der Gesetzgeber zudem im Einzelfall durch konkurrierende Grundrechte beschraÈnkt sein, so dass die Reichweite eines entgegenstehenden Rechts die Einlo È sung einer Schutzpflicht begrenzt. Wenn daher etwa der Gesetzgeber den zivil- oder strafrechtlichen PersoÈnlichkeitsschutz ausbaut, um dem Grundrecht auf Wahrung der Unschuldsvermutung bei der Kriminalberichterstattung der Massenmedien zum Durchbruch zu verhelfen, muss er das entgegenstehende Grundrecht der Meinungsfreiheit beachten. Obwohl die Kompetenzen des VfGH im Rahmen des Gesetzespru È fungsverfahrens grundsaÈtz- 1223 lich auf die Aufhebung verfassungswidriger Normen beschraÈnkt sind, ist die Durchsetzung legislativer Handlungspflichten nicht ausgeschlossen. Sie ist vor allem dann moÈglich, wenn eine bestehende gesetzliche Regelung gepru È ft wird, die zB einen nur ungenu È genden Schutz vorsieht, ihn in irgendeiner Form einschraÈnkt oder einen gegebenen Schutz beseitigt. Eine gaÈnzliche UntaÈtigkeit des Gesetzgebers ist im Rahmen des Rechtsschutzsystems des B-VG freilich nicht angreifbar, kann aber vor dem EGMR geltend gemacht werden (vgl zB VfSlg 14.453/1996; vgl dazu auch oben Rz 1077).
2. Die wichtigsten grundrechtlichen GewaÈhrleistungspflichten sind (1) die Schutzpflichten, (2) die Einrichtungsgarantien und (3) die Organisations- und Verfahrensgarantien. a) Schutzpflichten verpflichten den Staat die gewaÈhrleisteten Freiheiten vor Eingriffen von 1224 dritter (nichtstaatlicher) Seite zu schu È tzen. So zieht nach der Judikatur des EGMR der in Art 8 EMRK dem Privat- und Familienleben gewaÈhrte Achtungsanspruch positive Verpflichtungen nach sich, weil der Staat durch eine Ausgestaltung der entsprechenden Rechtsbeziehungen fu Èr die Integration des Kindes in die Familie unter Vermeidung jeder Diskriminierung etwa der unehelichen Kinder sowie dafu È r zu sorgen hat, dass den Menschen die Fu È hrung eines normalen Familienlebens moÈglich ist. Aus Art 8 EMRK folgt ferner ein Anspruch des Einzelnen auf Schutz È JZ 1999, 355) vor gesundheitsbeeintraÈchtigenden Emissionen (EGMR, McGinley und Egan, O oder auf einen effektiven Ehrenschutz (EGMR, Pfeifer, MR 2007, 362). Eine bestimmte Ausgestaltung einer Schutzpflicht kann freilich nicht erzwungen werden; als eindeutig verfassungswidrig koÈnnte das Unterlassen grundrechtlich gebotener Vorkehrungen nur aufgegriffen werden, wenn ein bestimmtes grundrechtliches Rechtsgut entweder u È berhaupt nicht oder in voÈllig ungenu È gendem Ausmaû geschu È tzt wu È rde. Auch kann der Gesetzgeber grundsaÈtzlich frei entscheiden, ob er den gebotenen Schutz entweder durch die EinraÈumung privatrechtlicher Anspru È che, mit verwaltungsrechtlichen Mitteln oder durch strafrechtliche Verbote schafft. So genannte PoÈnalisierungsgebote, dh eine Verpflichtung zur strafrechtlichen Sanktionierung eines die geschu È tzte FreiheitssphaÈre eines anderen Menschen beeintraÈchtigenden Verhaltens, sind nur in besonders gelagerten FaÈllen begru È ndbar; im Hinblick È bergriffen hat der EGMR beispielsauf einen effektiven Rechtsschutz der Opfer von sexuellen U weise eine PoÈnalisierungspflicht aus Art 8 EMRK abgeleitet (EGMR, X und Y gegen die Niederlande, EuGRZ 1985, 297; zur Haftung des Staates fu È r eine fahrlaÈssige ToÈtung durch Èarztliche Behandlung und zum VerhaÈltnis zwischen strafrechtlichem Schutz und zivilrechtlichen Anspru ÈÈ JZ 2003, 307). chen vgl auch EGMR, Calvelli und Ciglio, O b) Durch einzelne Grundrechte werden bestimmte Einrichtungen garantiert (Einrichtungsga- 1225 rantien). Ihr positiver GewaÈhrleistungsgehalt liegt in der Verpflichtung zur Aufrechterhaltung der garantierten Einrichtung. Dabei wird u È blicherweise zwischen Institutsgarantien und institutionellen Garantien unterschieden: Institutsgarantien stellen bestimmte privatrechtliche Regelungskomplexe unter grundrechtlichen Schutz und verwehren dem Gesetzgeber die entsprechenden Rechtsinstitute zu beseitigen oder in ihrem wesentlichen Kern umzugestalten. In diesem Sinn garantiert etwa das Eigentumsgrundrecht (Art 5 StGG) eine grundsaÈtzlich
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Teil IV. Die Grundrechte
privatnu È tzige, auf der Zuteilung individueller Rechtspositionen beruhende privatrechtliche Eigentumsordnung. Auch bei dem in Art 12 EMRK gewaÈhrleisteten Recht, gemaÈû den einschlaÈgigen nationalen Gesetzen eine Ehe einzugehen, wird die Ehe als ein bestimmtes rechtliches Institut vorausgesetzt, naÈmlich die auf Freiwilligkeit beruhende und auf Dauer angelegte Verbindung von Mann und Frau. Institutionelle Garantien beziehen sich auf bestimmte oÈffentlichrechtliche Organisationen, deren Bestehen und leitbildgerechte Ausgestaltung grundrechtlich garantiert ist. Eine solche Garantie wird nach u È berwiegender Auffassung fu È r die UniversitaÈten aus dem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit abgeleitet und sie ist auch in Art 81c B-VG angelegt (vgl Rz 770). Eine ganz bestimmte Organisationsform ist damit freilich nicht vorgegeben.
1226 c) Ein effektiver Schutz grundrechtlich gewaÈhrleisteter Rechtspositionen ist darauf angewiesen, dass der Einzelne seine Interessen in rechtlich geordneten Verfahren durchsetzen kann. In diesem Sinn ko È nnen auch die Freiheitsrechte (und nicht nur die eigentlichen Verfahrensgrundrechte) bestimmte Pflichten zu einer entsprechenden einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Organisations- und Verfahrensrechts nach sich ziehen (Grundrechtssicherung durch Organisation und Verfahren). Geboten kann vor allem die EinraÈumung einer Parteistellung in denjenigen Verwaltungsverfahren sein, in denen u È ber die BeeintraÈchtigung grundrechtlich geschu È tzter Freiheiten entschieden wird. AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zu den Abschnitten 44±45: EGMR, Tyrer, EuGRZ 1979, 162: Dieses Èaltere Erkenntnis des EGMR verdeutlicht den evolutiven und dynamischen Ansatz bei der Interpretation der Konvention ¹as a living instrumentª. VfSlg 1123/1928, 1809/1949, 9911/1983: Im Vergleich dieser drei Entscheidungen zum Eigentumsgrundrecht kann man sehr gut sehen, wie sich die Judikatur des VfGH von einem ausgepraÈgten ¹judicial self-restraintª in die Richtung eines ¹judicial activismª entwickelt hat. VfSlg 16.109/2001: Beachte die in dieser Entscheidung zur Grundrechtsinterpretation getroffenen Aussagen. VfSlg 16.245/2001: Eine weitere Interpretationsmaxime fu È r Grundrechte ist es, den durch sie geschu È tzten Werten zur moÈglichsten EffektivitaÈt zu verhelfen. VfSlg 12.501/1990: Ein Beispiel fu È r die Begru È ndung einer grundrechtlichen Schutzpflicht. VfSlg 14.260/1995: Hier laÈsst der VfGH erkennen, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, die Unschuldsvermutung auch gegenu È ber den privaten Massenmedien durchzusetzen ± ein weiteres Beispiel fu È r eine Schutzpflicht. VfSlg 14.258/1995, 14.635/1996: GewaÈhrleistungspflichten zielen auf ein Handeln des Gesetzgebers, das im oÈsterreichischen Rechtsschutzsystem nur begrenzt durchsetzbar ist. Wie diese beiden Entscheidungen zeigen, kann der VfGH aber doch eine UntaÈtigkeit des Gesetzgebers aufgreifen (so genannte ¹partielle UntaÈtigkeitª). Eine gaÈnzliche UntaÈtigkeit des Gesetzgebers kann vor dem VfGH nicht geltend gemacht werden, wie in diesem Zusammenhang die Entscheidung VfSlg 14.453/1996 zeigt. Zur Vertiefung: Zur Interpretation der Grundrechte: Holoubek, Die Interpretation der Grundrechte in der ju È ngeren Judikatur des VfGH, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 70 È sterreich (1991) 43; Holoubek, Funktion Jahre Republik. Grund- und Menschenrechte in O È R 1999, 97; Korinek, Entwicklungstendenzen in und Interpretation der Grundrechte, ZO der Grundrechtsjudikatur des Verfassungsgerichtshofes (1992); Matscher, Methods of Interpretation of the Convention, in: Macdonald/Matscher/Petzold (ed), The European System È hl, GrundsaÈtze der Grundrechtsinfor the Protection of Human Rights (1993) 63; Ossenbu terpretation, in: Merten/Papier (Hrsg), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Bd 1 (2004) 595. Zur Rechtsnatur der Grundrechte: Baumgartner, Grundrechtliche Einrichtungsgarantien, È R 2004, 321; Berka, Der Freiheitsbegriff des ¹materiellen GrundrechtsverstaÈndnissesª, ZO in: Schambeck-FS (1994) 339; Holoubek, Grundrechtliche GewaÈhrleistungspflichten (1997); Wahl, Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, in: Merten/Papier (Hrsg), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Bd 1 (2004) 745.
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46. Die GrundrechtstraÈger 46.1. Der Mensch als urspru È ngliches Grundrechtssubjekt 1. In diesem Abschnitt ist zu klaÈren, wer die TraÈger der aus den Grundrechten er- 1227 flieûenden Berechtigungen sind. Dass das grundsaÈtzlich der individuelle Mensch ist, liegt auf der Hand: Die natu È rliche Person ist primaÈres und urspru È ngliches Grundrechtssubjekt (TraÈger der Grundrechtsberechtigung, Grundrechtsinhaber). Diese umfassende GrundrechtssubjektivitaÈt der natu È rlichen Person ist ein Ausdruck der allgemeinen und uneingeschraÈnkten RechtsfaÈhigkeit des Menschen. Die modernen Menschenrechte stehen daher jedem Menschen auch unabhaÈngig von seiner StaatsangehoÈrigkeit zu; sie sind Menschenrechte nicht nur nach ihrem Ursprung, sondern auch nach ihrem persoÈnlichen Geltungsbereich (vgl oben Rz 1157). Insofern spricht man auch von Jedermannsrechten. Ihnen werden die Staatsbu È rgerrechte gegenu È bergestellt, die nur die oÈsterreichischen Staatsbu È rger begu È nstigen und auf die sich Fremde daher nicht berufen koÈnnen. Maûgebliches Kriterium fu Èr die Unterscheidung zwischen Menschen- und Bu È rgerrechten ist, ob ein Grundrecht in seinem Text eine EinschraÈnkung auf StaatsbuÈrger enthaÈlt oder ob es ¹alle Menschenª bzw ¹jedermannª berechtigt. 2. Der Kreis der Menschenrechte wurde durch die EMRK erweitert, die vor allem 1228 die urspru È nglich als Bu È rgerrechte gewaÈhrleistete Vereins- und Versammlungsfreiheit zu Jedermannsrechten gemacht hat (Art 11 EMRK). Ausschlieûliche StaatsbuÈrgerrechte sind auch weiterhin die in Art 6 StGG gewaÈhrleisteten Grundrechte (Aufenthalts-, Liegenschafts- und Erwerbsfreiheit), ferner die politischen Grundrechte und der Gleichheitsgrundsatz, wobei die Judikatur die Geltung des Gleichheitssatzes auch auf Fremde erstreckt hat (vgl Rz 1631 ff). a) Dem Umstand, dass einzelne Rechte als bloûe Staatsbu È rgerrechte konzipiert sind, kommt 1229 heute keine allzu groûe praktische Bedeutung mehr zu, wenn man von den nur den Staatsbu È rgern zustehenden Grundrechten auf Einreise und Aufenthalt und den politischen Mitwirkungsrechten absieht. In vielen FaÈllen koÈnnen naÈmlich andere Grundrechte quasi als ¹Auffanggrundrechteª fu È nnen Fremde, wenn ihnen die Berufung È r AuslaÈnder fungieren: So ko auf den Gleichheitsgrundsatz versagt bleibt, in ihrer Verfassungsbeschwerde beispielsweise das Grundrecht der Unverletzlichkeit des Eigentums geltend machen und damit im Prinzip dieselben RechtsbeeintraÈchtigungen ru È gen wie inlaÈndische Beschwerdefu È hrer (weil zB eine willku È rliche Gesetzesanwendung oft auf eine ¹denkunmoÈglicheª Gesetzesanwendung im Rahmen des Art 5 StGG hinauslaufen kann). Soweit in Verfassungsbeschwerden die Verfassungswidrigkeit bzw Gesetzwidrigkeit der angewendeten generellen Normen geltend gemacht wird, kommt der AuslaÈndereigenschaft ebenfalls keine Bedeutung zu (VfSlg 10.036/1984, 11.282/ 1987). b) Durch das EuropaÈische Gemeinschaftsrecht wurde die GeltungsbeschraÈnkung man- 1230 cher Grundrechte auf InlaÈnder verdraÈngt, soweit EU-Bu È rger betroffen sind und es sich um einen gemeinschaftsrechtlich relevanten Sachverhalt handelt. Praktisch bedeutsam ist diese Konsequenz vor allem fu È r die Erwerbsfreiheit, weil die Ausu È bung wirtschaftlicher TaÈtigkeiten in den Anwendungsbereich des EGV faÈllt und sich die Gemeinschaftsbu È rger insoweit auf das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot (Art 12 EGV) berufen koÈnnen. Denn wenn das Rechtsmittel der Bescheidbeschwerde nach Art 144 B-VG, das oÈsterreichischen Staatsbu È sterreichischen Unionsbu È rgern bei allen Grundrechten zusteht, den nicht-o È rgern bei einzelnen Grundrechten verwehrt wu È rde, waÈre das eine Diskriminierung in prozessualer Hinsicht. Dies wu È rde dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz widersprechen, dass der innerstaatliche Rechtsschutz zur Durchsetzung gemeinschaftsrechtlich begru È ndeter Rechtspositionen ohne Diskriminierung im VerhaÈltnis zum Rechtsschutz national begru È ndeter Anspru È che zu gewaÈhren ist. Daher darf eine auf Art 6 StGG gestu È tzte Verfassungsbeschwerde eines EU-Bu È rgers wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts nicht zuru È ckgewiesen werden.
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Teil IV. Die Grundrechte
46.2. Die Grundrechtsmu È ndigkeit, die GrundrechtstraÈgerschaft Hinterbliebener und die Grundrechte in ¹besonderen GewaltverhaÈltnissenª 1231 1. In Analogie zu der Unterscheidung zwischen der allgemeinen RechtsfaÈhigkeit und der HandlungsfaÈhigkeit wird auch bei den Grundrechten zwischen der grundsaÈtzlich unbeschraÈnkten FaÈhigkeit TraÈger eines Grundrechts zu sein und der FaÈhigkeit unterschieden, von der durch das Grundrecht eingeraÈumten Berechtigung durch eigenverantwortliches Handeln einen selbstaÈndigen Gebrauch zu machen. Letzteres wird haÈufig als Grundrechtsmu È ndigkeit bezeichnet. Im Einzelnen muss man unterscheiden: 1232 a) Bei manchen Grundrechten spielt die Frage nach der Grundrechtsmu È ndigkeit u È berhaupt keine Rolle. So sind die Grundrechte, welche die menschliche Existenz oder die IntegritaÈt der Person schu È tzen, unabhaÈngig von jeder altersmaÈûigen Begrenzung gewaÈhrleistet. In Bezug auf das Recht auf Leben, das Folterverbot oder auf die Unverletzlichkeit der Person macht es keinen Sinn von einer ¹Grundrechtsmu È ndigkeitª zu sprechen. Diese Rechte stehen selbstverstaÈndlich auch Menschen zu, deren zivilrechtliche HandlungsfaÈhigkeit aus anderen Gru È nden, etwa wegen einer geistigen Behinderung oder Geisteskrankheit, eingeschraÈnkt ist. 1233 b) Bei bestimmten Grundrechten, vor allem bei den politischen Grundrechten (zB aktives und passives Wahlrecht) oder beim Recht auf Eheschlieûung, knu È pft die Verfassung selbst bereits an bestimmte Altersstufen an (zB Art 26 Abs 1 B-VG). Auch diese Regelungen werfen wegen der bestimmten Abgrenzung des Grundrechtstatbestands keine Probleme auf. 1234 c) Der geistige und physische Reifegrad kann dagegen bei denjenigen Grundrechten eine Rolle spielen, die eine Befugnis zu bestimmten Handlungen rechtlicher oder tatsaÈchlicher Natur einraÈumen, etwa das Grundrecht gewaÈhrleisten an Versammlungen teilzunehmen, u È ber das Eigentum zu verfu È gen oder seine Meinung zu Èauûern. Insoweit wird angenommen, dass Kinder oder sonstige MinderjaÈhrige dann die Grundrechtsmu È ndigkeit erlangen, wenn sie von diesen Grundrechten einen eigenverantwortlichen Gebrauch machen koÈnnen. 1235 So hat der VfGH die selbstaÈndige AusuÈbung der Religionsfreiheit von einer entsprechenden al-
tersbedingten UrteilsfaÈhigkeit abhaÈngig gemacht, die er nach Maûgabe der Altersstufen des BG u Èse Kindererziehung (heute: BGBl 1985/155 idF BGBl I 1999/191) bestimmt hat È ber die religio (VfSlg 799, 800/1927). Die unter Berufung auf die Vereinsfreiheit erhobene Verfassungsbeschwerde eines minderjaÈhrigen Schu È lers, die ohne Einwilligung des gesetzlichen Vertreters erhoben wurde, hat der VfGH zugelassen, weil der Vereinsbeitritt nach § 151 Abs 3 ABGB in den Bereich der zivilrechtlichen GeschaÈftsfaÈhigkeit faÈllt (VfSlg 7526/1975). Altersstufen des einfachen Gesetzesrechts koÈnnen sich daher als eine sachgerechte Ausgestaltung der Grundrechte des MinderjaÈhrigen darstellen, wenn sie eine dem jeweiligen Grad der PersoÈnlichkeitsentfaltung entsprechende Handlungsbefugnis einraÈumen. Als Schranken der Grundrechtsausu È bung mu È ssen sie freilich genauso wie sonstige altersbezogene BeschraÈnkungen (zB des Jugendschutzrechts) an dem jeweiligen Gesetzesvorbehalt gemessen werden; sie sind nur zulaÈssig, wenn es dafu È r gute Gru È nde gibt, die haÈufig beim Schutz des MinderjaÈhrigen selbst liegen werden.
1236 2. Wenn ein Mensch durch einen staatlichen Grundrechtseingriff ums Leben kommt, stellt sich die Frage, ob den Hinterbliebenen eine Beschwerdeberechtigung zukommt. Dies muss man annehmen, da ansonsten bei bestimmten Rechten ± vor allem beim Recht auf Leben ± kein effektiver Grundrechtsschutz gewaÈhrleistet waÈre. Daher hat der VfGH die Legitimation der Tochter eines Menschen, der durch eine Maûnahme der verwaltungsbehoÈrdlichen Befehls- und Zwangsgewalt getoÈtet wurde, bejaht (VfSlg 16.109, 16.179/2001). Auf die Grundrechte des Verstorbenen koÈnnen
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sich aber nur AngehoÈrige berufen, die in einem engeren persoÈnlichen NaheverhaÈltnis zu diesem standen, daher zB nicht die Verlassenschaft (VfSlg 16.108/2001). 3. Im Èalteren Staatsrecht gab es eine Doktrin, wonach die Grundrechte den in ein ¹besonde- 1237 res GewaltverhaÈltnisª eingegliederten Menschen nicht oder zumindest nur in einem eingeschraÈnkten Umfang zustehen sollten. Solche ¹besonderen GewaltverhaÈltnisseª waren Situationen besonderer Gewaltunterworfenheit, wie man sie bei der Unterbringung von Schu È lern, Gefangenen oder Kranken in Anstalten, beim MilitaÈrdienst und dem DienstverhaÈltnis der oÈffentlich Bediensteten fu È r gegeben ansah. Auch der VfGH ist in seiner Judikatur lange Zeit davon ausgegangen, dass Strafgefangene bestimmte GrundrechtseinschraÈnkungen, etwa im Hinblick auf das aktive Wahlrecht, den Genuss des Familienlebens oder beim Bezug von Medien, deshalb hinzunehmen haÈtten, weil solche BeschraÈnkungen zum ¹Wesen des Strafvollzugsª gehoÈren (VfSlg 6747/1972, 8691/1979). Im demokratischen Verfassungsstaat ist freilich kein Platz fu È r ¹besondere GewaltverhaÈltnisseª, und daher gibt es keinen Zweifel, dass auch Schu È ler, Beamte oder AngehoÈrige des Bundesheeres sich in gleicher Weise auf die Grundrechte berufen ko È nnen wie andere Bu È rger. Auch bei den BeschraÈnkungen in der Haft nimmt der VfGH in seiner ju È ngeren Judikatur eine genauere Pru È fung ihrer Notwendigkeit und VerhaÈltnismaÈûigkeit vor und hat deutlich gemacht, dass aus dem bloûen ¹Wesenª der Straf- oder Untersuchungshaft heraus keine Grundrechtsschranken gerechtfertigt werden ko È nnen (VfSlg 15.575/1999).
46.3. Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen und sonstiger Personengemeinschaften Weil die Grundrechte den individuellen Menschen berechtigen wollen und in der 1238 menschlichen Wu È rde ihren tiefsten Grund haben, ist es nicht selbstverstaÈndlich, dass sich auch juristische Personen auf sie berufen koÈnnen. Wenn man allerdings bedenkt, dass die juristische Person nur ein Zurechnungssubjekt von Rechtsbeziehungen ist, welche letztlich natu È rliche Personen berechtigen oder verpflichten, und weiters beru È cksichtigt, dass die Ausu È bung mancher Grundrechte notwendigerweise in organisierter Form gemeinsam mit anderen Grundrechtsberechtigten erfolgt, macht es durchaus Sinn, eine begrenzte GrundrechtstraÈgerschaft auch der juristischen Personen anzuerkennen. Judikatur und Lehre gehen daher zu Recht davon aus, dass juristische Personen TraÈ- 1239 ger aller jener Grundrechte sind, die juristischen Personen ¹ihrem Wesen nachª zustehen koÈnnen. Das laÈuft darauf hinaus, dass juristischen Personen jene Grundrechte zustehen, in denen juristische Personen verletzt werden koÈnnen. Daher ist die GrundrechtstraÈgerschaft juristischer Personen zB unbestritten im Hinblick auf die Eigentums- und Erwerbsfreiheit (VfSlg 14.211/1995), den Gleichheitsgrundsatz (VfSlg 11.790/1988), das Grundrecht auf Datenschutz (VfSlg 12.228/1989), den gesetzlichen Richter (VfSlg 7380/1974), das Hausrecht (VfSlg 11.981/1989), das Recht auf ein faires Verfahren (VfSlg 14.211/1995), die Medienfreiheit (VfSlg 11.314/1987), die Vereins- und Versammlungsfreiheit (VfSlg 5161/1965, 7007/ 1973). Auch die Meinungs- oder Wissenschaftsfreiheit steht juristischen Personen zu, weil auch diese Meinungen verbreiten oder Wissenschaft organisieren koÈnnen und insoweit auf den Grundrechtsschutz angewiesen sind. a) Keinen Grundrechtsschutz koÈnnen juristische Personen dagegen beanspruchen im Zusam- 1240 menhang mit den eindeutig auf die natu È rliche Person begrenzten Rechten wie dem der persoÈnlichen Freiheit und dem Recht auf Schutz vor Folter und erniedrigender Behandlung iS von Art 3 EMRK sowie im Hinblick auf die Gewissensfreiheit (VfSlg 13.513/1993) und die Freiheit der Berufswahl und Berufsausbildung nach Art 18 StGG (VfSlg 8968/1980). b) Vereine sind waÈhrend ihres aufrechten Bestandes als juristische Personen TraÈger des ent- 1241 sprechenden Grundrechts der Vereinsfreiheit und koÈnnen sich, vertreten durch ihre Organe, gegen Eingriffe in die VereinstaÈtigkeit zur Wehr setzen (vgl zB VfSlg 9366/1982). Ist der Verein
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allerdings durch einen rechtskraÈftigen Bescheid der Vereinsbeho È rde bereits aufgeloÈst worden, kommt die Legitimation zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde nach der Judikatur des VfGH nicht mehr dem aufgelo È sten Verein und seinen Organen, sondern nur den in ihrer individuellen Vereinsfreiheit betroffenen ehemaligen Vereinsmitgliedern bzw den Organen des Vereins in ihrer Eigenschaft als Mitglieder zu (VfSlg 2984/1956, 7526/1975, 8090/1977).
46.4. Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen È ffentlichen Rechts o È ffentlichen 1242 Nach der Judikatur des VfGH sind auch juristische Personen des o Rechts, dh vor allem KoÈrperschaften, Anstalten und Fonds, TraÈger aller jener Grundrechte, die fu È r juristische Personen ihrem Wesen nach in Betracht kommen. In diesem Sinn hat der VfGH beispielsweise die Grundrechtsberechtigung der GebietskoÈrperschaften (Bund, LaÈnder, Gemeinden) oder von Sozialversicherungsanstalten ohne weiteres anerkannt (VfSlg 8578/1979, 8854/1980, 9379/1982, 10.000/1984, 11.828/ 1988). 1243 In dieser Allgemeinheit ist diese Auffassung nicht u È berzeugend. Es ist widersinnig anzunehmen, dass dem ¹Grundrechtsgegner Staatª, dh der zur Beachtung der Grundrechte der Menschen verpflichteten o È ffentlichen Gewalt, ihrerseits selbst die Grundrechte zustehen sollen, und zwar auch dann, wenn der Staat oÈffentliche Aufgaben wahrnimmt. Denn im Bereich der Erfu È ffentlicher Aufgaben haben juristiÈ llung o sche Personen oÈffentlichen Rechts Kompetenzen, aber keine Freiheiten, wie sie die Grundrechte verbu È rgen, und auch keine FreiheitssphaÈre, die sie gegen den Staat verteidigen koÈnnen. Richtigerweise wird daher zu differenzieren sein. 1244 a) Eine GrundrechtstraÈgerschaft juristischer Personen des oÈffentlichen Rechts kommt
im Bereich der Freiheitsrechte nur dann in Betracht, wenn sich eine o È ffentlich-rechtliche KoÈrperschaft oder Anstalt in einer Lage befindet, die der eines privaten Grundrechtssubjekts È sterreichische Rundvergleichbar ist. Daher sind die o È ffentlichen UniversitaÈten oder der O funk als rechtsfaÈhige Anstalten o È ffentlichen Rechts bzw als Stiftung durchaus TraÈger von Grundrechten, weil hier eine Aufgabe, die in den Schutzbereich entsprechender Freiheitsrechte faÈllt (Wissenschaftsfreiheit, Rundfunkfreiheit), aus bestimmten Gru È ffentÈ nden in einer o lich-rechtlichen Form organisiert ist (zur Beschwerdelegitimation der UniversitaÈten vgl VfSlg 13.429/1993, 14.594/1996; zu der des ORF zB VfSlg 12.086/1989). Auch den Einrichtungen der beruflichen Selbstverwaltung (Kammern) wird man den Grundrechtsschutz zuerkennen koÈnnen, soweit sie Aufgaben der gesellschaftlichen Selbstverwaltung wahrnehmen.
1245 b) Dagegen koÈnnen sich die GebietskoÈrperschaften bei der ErfuÈllung ihrer oÈffentlichen Aufga-
ben nicht auf die Freiheitsrechte berufen: In diesem Sinn haben weder der Staat noch seine Organe eine grundrechtlich geschu È tzte Meinungsfreiheit oder eine Freiheit zur Ausu È bung einer ErwerbstaÈtigkeit im Schutz der entsprechenden Grundrechte.
1246 c) Der Gleichheitsgrundsatz in seiner Ausformung als allgemeines Sachlichkeitsgebot und
Willku È rverbot ist ein umfassender verfassungsrechtlicher Maûstab fu È r staatliches Handeln, der auch auf das VerhaÈltnis zwischen den Gliederungen des Staates angewendet werden kann. Insoweit spricht nichts dagegen, etwa einem Bundesland oder einer Sozialversicherungsanstalt die Berufung auf dieses Grundrecht zuzugestehen, wenn sich diese RechtstraÈger etwa gegen ein willku È rliches Verwaltungsverfahren oder eine unsachliche gesetzliche Regelung zur Wehr setzen wollen. Aus diesen Gru È fÈ nden sind auch die Verfahrensgrundrechte im VerhaÈltnis o fentlich-rechtlicher Einrichtungen untereinander anwendbar. Schlieûlich wird auch noch erwogen den GebietskoÈrperschaften dann Grundrechtsschutz zuzuerkennen, wenn sie als TraÈger von Privatrechten auftreten, dh im Bereich der Privatwirtschaftsverwaltung. Dies kann allerdings nur dann zutreffen, wenn sie erwerbswirtschaftlich taÈtig sind; werden dagegen o È ffentliche Aufgaben in Formen des Privatrechts besorgt, scheidet die Berufung auf die Grundrechte aus den oben genannten Gru È nden jedenfalls aus.
1247 d) Auch der VfGH schraÈnkt die von ihm prinzipiell angenommene GrundrechtstraÈgerschaft juristischer Personen o È ffentlichen Rechts selbst insoweit ein, als hoheitlich handelnden Staats-
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organen keine Legitimation zur Einbringung einer Bescheidbeschwerde zuerkannt wird, weil sie nicht ¹in ihren Rechtenª iS von Art 144 B-VG verletzt werden koÈnnen (VfSlg 11.359/ 1987). Eine solche Beschwerdeberechtigung darf auch nicht durch den einfachen Gesetzgeber eingeraÈumt werden (VfSlg 17.220/2004).
47. Die Grundrechtsverpflichteten Unter dem Stichwort der Grundrechtsverpflichteten werden wir eroÈrtern, wer der 1248 Adressat der aus den Grundrechten folgenden rechtlichen Verpflichtungen ist. Die prinzipielle Antwort ist zunaÈchst klar: TraÈger der grundrechtlichen Verpflichtungen ist der Staat. Die Grundrechte binden die Staatsgewalt des Bundes und der È ffentLaÈnder und sie binden die Gemeinden. Sie richten sich auch an andere o È rperschaften, jedenfalls soweit diese Anteil an der Ausu lich-rechtliche Ko È bung von Staatsgewalt haben und Aufgaben der oÈffentlichen Verwaltung erfu È llen. Gebunden ist auûerdem die Staatsgewalt in allen ihren Erscheinungsformen, dh die Grundrechte verpflichten die Gesetzgebung, die Verwaltung und die Rechtsprechung. Im Bereich der Staatsgewalt gibt es keine ¹grundrechtsfreienª RaÈume. Das alles ist jedenfalls fu È r die hoheitlich handelnde Staatsgewalt unstreitig. Zweifelsfragen bestehen im Bereich der staatlichen Privatwirtschaftsverwaltung sowie im Hinblick auf die Frage, ob auch das privatrechtliche Handeln der Bu È rger an die Grundrechte gebunden ist.
47.1. Die Bindung der Gesetzgebung Dass sich die Grundrechte in erster Linie an den Gesetzgeber richten, ist heute 1249 nicht mehr strittig. Es ist die Aufgabe des demokratisch legitimierten Gesetzes, jenen Ausgleich zwischen der grundrechtlichen Freiheit und den Erfordernissen der gesellschaftlichen Ordnung herbeizufu È hren, den die Grundrechte anstreben. Welchen Inhalt diese Bindungswirkung hat, richtet sich nach dem jeweiligen Grundrecht. Es kann dem Gesetzgeber verbieten einer grundrechtlichen Freiheit bestimmte Schranken zu setzen (zB Zensurverbot), es kann ihn dazu ermaÈchtigen die gewaÈhrleistete Freiheit in gewissem Umfang zu beschraÈnken (zB EinschraÈnkungen der LadenoÈffnungszeiten im Interesse des Arbeitnehmerschutzes) oder ihn verpflichten das Grundrecht in eine bestimmte Richtung auszugestalten (zB Ausgestaltung der Eigentumsordnung). Diese ErmaÈchtigungen zur EinschraÈnkung oder Ausgestaltung von Grundrechten sind freilich niemals grenzenlos, sondern immer ihrerseits beschraÈnkt, wobei die Reichweite der gesetzgeberischen Gestaltungsbefugnisse bei den meisten Grundrechten durch einen Gesetzesvorbehalt naÈher bestimmt wird (vgl Rz 1286 ff). Soweit die Grundrechte bestimmte Gesetzgebungsakte untersagen, wirken sie als negative 1250 Kompetenznormen fu È r den Gesetzgeber. Soweit sie positive GewaÈhrleistungsgehalte umschlieûen, sind sie GesetzgebungsauftraÈge, die durch den Erlass von Gesetzen zu erfu È llen sind, denen die Grundrechte eine mehr oder weniger bestimmte inhaltliche Richtung vorgeÈ ber die Bindung des Gesetzgebers verwirklicht sich zugleich die Grundrechtsbindung ben. U aller u È brigen Erscheinungsformen der Staatsgewalt und ± unter den noch naÈher darzulegenden Bedingungen ± auch die Wirkung der Grundrechte im Privatrecht. Weil der Gesetzgeber der primaÈre Grundrechtsadressat ist und weil im Gesetzesstaat des B-VG das formelle Gesetz die notwendige Grundlage fu È r jedes Handeln der Vollziehung ist, sind auch die Rechtsprechung und die Verwaltung an die Grundrechte gebunden.
47.2. Die Bindung der Verwaltung È rden an die Grundrechte gebunden sind, war niemals 1251 Dass die Verwaltungsbeho zweifelhaft. In der Grundrechtsgeschichte war die Bindung der Verwaltung sogar
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die primaÈre Wirkungsrichtung der Grundrechte, durch die Eingriffe der Exekutive in die Freiheit und das Eigentum dem Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage unterworfen wurden. Trotzdem sind mit der Bindungswirkung im Bereich der Verwaltung auch einige Zweifelsfragen verbunden, vor allem soweit sich die Verwaltung atypischer Handlungsformen bedient oder es um Erscheinungsformen der mittelbaren oder ausgelagerten Staatsverwaltung geht. 1252 a) Der gleichsam ¹klassischeª Grundrechtseingriff durch VerwaltungsbehoÈrden ist der
einseitige, mit Befehls- und Zwangsgewalt verbundene Verwaltungsakt (Bescheid, Maûnahme unmittelbarer verwaltungsbehoÈrdlicher Befehls- und Zwangsgewalt). Dass insoweit Grundrechtsbindung besteht, ist nicht weiter zweifelhaft. Im modernen Verwaltungsstaat steht der Verwaltung allerdings ein viel breiteres Spektrum von HandlungsmoÈglichkeiten zur Verfu È gung und sie kann auch durch zwangsfreie Akte einschneidende Wirkungen erzielen: Durch die Warnung vor gefaÈhrlichen Produkten oder gewissen Praktiken von Sekten kann in die Wirtschaftsfreiheit oder religio Èse Freiheit der davon Betroffenen eingegriffen werden; durch die Videou È berwachung von PlaÈtzen kann die Polizei das Privatleben der Bu È rger umfassend kontrollieren; Ausku È rden ko È nnen schutzwu È nfte von Verwaltungsbeho È rdige Vertrauenspositionen schaffen usw. Weil der Grundrechtsschutz nicht von der Form staatlichen Handelns abhaÈngen kann, mu È ssen im Prinzip auch solche Erscheinungsformen des informellen Verwaltungshandelns an die Grundrechte gebunden sein.
1253 b) Die Bindung an die Grundrechte besteht auch bei ausgegliederten Verwaltungseinhei-
ten der mittelbaren Staatsverwaltung, zumindest soweit sie in hoheitlicher Form oder in ForÈ ffentlich-rechtliche KoÈrperschaften, Anmen der schlichten Hoheitsverwaltung taÈtig werden. O stalten, Stiftungen und Fonds sind daher in dem Umfang, in dem sie hoheitlich oder schlichthoheitlich taÈtig werden, an die Grundrechte gebunden. Dies gilt auch fu È r Einrichtungen der Selbstverwaltung. In Bezug auf die Gemeinden war das immer unproblematisch. Bei den Kammern und sonstigen Erscheinungsformen der nichtterritorialen Selbstverwaltung ist von einer Grundrechtsbindung dagegen nur auszugehen, wenn sie hoheitlich taÈtig sind; im Bereich der Wahrnehmung von Aufgaben der gesellschaftlichen Interessenvertretung stehen sie dem Staat gegenu È ber und koÈnnen insoweit selbst von Grundrechten Gebrauch machen; in dieser Beziehung waÈre es widersinnig eine Grundrechtsbindung anzunehmen, die u È ber eine allfaÈllige Drittwirkung eines Grundrechts hinausgeht.
47.3. Die ¹Spruchformelnª des VfGH 1254 1. Im Rechtsschutzsystem des o È sterreichischen Verfassungsrechts bedarf die Frage, unter welchen UmstaÈnden ein Verwaltungsakt gegen ein Grundrecht verÈ berlegungen. Wegen der so genannten ¹Mediatisierung stoÈût, noch besonderer U der Grundrechteª durch das einfache Gesetzesrecht, die vor allem bei den unter Gesetzesvorbehalt stehenden Grundrechten besonders augenscheinlich ist, verletzt an sich jeder gesetzwidrige Verwaltungsakt auch das entsprechende Grundrecht (vgl oben Rz 1057). Im Hinblick auf die ZustaÈndigkeitsverteilung zwischen der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Verfassungsgerichtsbarkeit muss aber die ZustaÈndigkeit des VfGH bei Bescheidbeschwerden auf die Verletzung ¹spezifischen Verfassungsrechtsª eingeschraÈnkt werden. Unter welchen UmstaÈnden ein Bescheid mit einer ¹in die VerfassungssphaÈre reichenden Rechtswidrigkeitª belastet ist, umschreibt der VfGH mit seinen so genannten ¹Spruchformelnª. 1255 2. Auf diese Spruchformeln wurde oben im Rahmen der Besprechung der Bescheidbeschwerde schon naÈher eingegangen (vgl Rz 1058 ff). Es wurde deutlich gemacht, dass man zu unterscheiden hat zwischen . Grundrechten, die unter einem Eingriffsvorbehalt stehen, bei denen der VfGH eine ¹Grobpru È fungª vornimmt,
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. Grundrechten, die unter einem so genannten Ausgestaltungsvorbehalt stehen, bei denen der VfGH eine Kompetenz zur ¹Feinpru È fungª in Anspruch nimmt, und . Grundrechten, die vorbehaltlos gewaÈhrleistet sind. Auch die entsprechenden allgemeinen Spruchformeln wurden bereits angefu È hrt; sie koÈnnen bei einzelnen Grundrechten noch eine naÈhere PraÈzisierung erfahren, auf die bei dem jeweiligen Grundrecht hingewiesen wird. Die Beherrschung dieser Spruchformeln ist fu È r die praktische Arbeit mit GrundrechtsfaÈllen von groûer Bedeutung. 3. Im Rahmen der Bescheidbeschwerde nach Art 144 B-VG kann der VfGH nur Be- 1256 scheide u È berpru È fen. Da die Verwaltung aber auch durch faktische Maûnahmen, È rdlichen Befehls- und vor allem durch Maûnahmen der verwaltungsbeho Zwangsgewalt, in Grundrechte eingreifen kann, stellt sich auch die Frage nach der Verfassungswidrigkeit derartiger Akte, wenn sie nach Art 129a Abs 1 Z 2 B-VG vor einem UVS bekaÈmpft werden und der in der Sache ergangene abweisende Bescheid des UVS vor dem VfGH angefochten wird. In diesen FaÈllen geht der VfGH davon aus, dass das Grundrecht dann verletzt ist, wenn der UVS eine erfolgte Grundrechtsverletzung nicht wahrnimmt, dh wenn zB eine erniedrigende polizeiliche Zwangsmaûnahme vom UVS faÈlschlicherweise als nicht rechtswidrig qualifiziert wird; dem wird es gleichgehalten, wenn der Bescheid des UVS auf einer dem Grundrecht widersprechenden Rechtsgrundlage beruht oder wenn er auf einer Auslegung des Gesetzes beruht, die dem Grundrecht widerspricht, oder wenn dem UVS grobe Verfahrensfehler unterlaufen sind. Fu È r diesen Pru È fungsmaûstab ist die zu Art 3 EMRK (Verbot menschenunwu È rdiger und erniedrigender Behandlung oder Strafe) entwickelte ¹Formelª typisch (vgl Rz 1353).
47.4. Die Bindung der Rechtsprechung Da auch die Rechtsprechung Ausu È bung von Staatsgewalt ist, gehoÈren auch die 1257 Gerichte zu den grundrechtsverpflichteten Staatsorganen. Die Bindung besteht dabei zum einen im Hinblick auf das gerichtliche Verfahren, dem die Verfahrensgrundrechte (Justizgrundrechte) wesentliche Bedingungen vorgeben, wie etwa die È ffentlichkeit des Verfahrens oder die Wahrung grundlegender Verteidigungsrechte. O Zum anderen mu È ssen die Gerichte die Grundrechte im Hinblick auf den Inhalt ihrer Entscheidungen beachten; dies freilich nur in dem Umfang, in dem ein Grundrecht fu È r den konkreten Fall normative Geltung beansprucht. Im Bereich des Justizstrafrechts sind daher nicht nur die einschlaÈgigen Verfahrensgrundrechte, sondern auch wesentliche inhaltliche Vorgaben zu beachten, wie zB das Verbot der Doppelbestrafung (Art 4 7. ZProtEMRK) oder die StrafbemessungsgrundsaÈtze, die aus den Bestimmungen des BVG zum Schutz der persoÈnlichen Freiheit im Zusammenhang mit gerichtlichen Freiheitsstrafen erwachsen. Fu È r die Entscheidung zivilrechtlicher StreitfaÈlle sind ebenfalls bestimmte Verfahrensgrundrechte maûgeblich, wie zB das Gebot einer fairen, unparteiischen Prozessleitung.
47.5. Die Fiskalgeltung der Grundrechte Der Begriff ¹Fiskalgeltungª betrifft die Frage, ob die Grundrechte nicht nur den ho- 1258 heitlich handelnden Staat verpflichten, sondern den Staat auch dann, wenn dieser als TraÈger von Privatrechten (Art 17 B-VG) taÈtig wird. Praktische Beispiele waÈren etwa die Bindung an den Gleichheitsgrundsatz bei der Vergabe von Subventionen und oÈffentlichen AuftraÈgen oder die Verpflichtung zur Respektierung der Freiheitsrechte im Rahmen von VertragsbedienstetenverhaÈltnissen oder bei der Handhabung
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einer privatrechtlichen Hausgewalt. Im Prinzip wird eine solche Fiskalgeltung heute von der Lehre und der Judikatur mehr oder minder einhellig bejaht. 1259 Anders als bei der verwandten Problematik der ¹Drittwirkungª bleibt bei der Fiskalgeltung der
urspru È ngliche Adressat der grundrechtlichen Verpflichtungen, dh der Staat, der gleiche. Schon aus diesem Grund spricht wenig gegen eine Fiskalgeltung, wenn man nicht annehmen moÈchte, dass die bloûe Form staatlichen Handelns daru È ber entscheidet, ob die oÈffentliche Hand an Grundrechte gebunden ist oder nicht. Von der Teleologie der Grundrechte her betrachtet steht fest, dass sich der Einzelne auch gegenu È ber der staatlichen Privatwirtschaftsverwaltung in einer Lage der Schutzbedu È rftigkeit befinden kann, die der Situation in der Hoheitsverwaltung vergleichbar ist. Der Anspruch auf Gleichbehandlung oder die menschliche È berFreiheit kann auch dann bedroht sein, wenn die oÈffentliche Hand ihre wirtschaftliche U macht zum Einsatz bringt, wobei ¹im Hintergrundª der privatrechtlichen HandlungsmoÈglichkeit ohnedies oft latente Hoheitsgewalt steht. Andererseits verfu È gt der Staat auch nicht u È ber eine (grundrechtlich abgestu È tzte) Privatautonomie, so dass es sich auch unter diesem Aspekt um ein einseitiges VerhaÈltnis handelt, in dem sich ± wie in der Hoheitsverwaltung ± staatliche Kompetenz und menschliche Freiheit gegenu È berstehen.
1260 Mit der prinzipiellen Anerkennung einer Fiskalgeltung der Grundrechte sind der Umfang und die IntensitaÈt der damit verbundenen Bindungen noch nicht abschlieûend entschieden. So wird eine Fiskalgeltung im Bereich des erwerbswirtschaftlichen Handelns des Staates ausgeschlossen, praktisch vor allem beim Betrieb von o È ffentlichen Unternehmen. Wenn die Grundrechte fu È r diesen Bereich wirksam sein sollten, kann es sich folglich nur um eine Frage der allgemeinen ¹Drittwirkungª handeln (vgl Rz 1263 ff). È ffentlicher Aufgaben in Formen des Privatrechts ist dagegen 1261 Bei der Erfu È llung o von einer Fiskalgeltung auszugehen, wie dies in der Judikatur der ordentlichen Gerichte durchwegs anerkannt ist (vgl zB OGH 24.2.2003, 1 Ob 272/02k, RZ 2003, 213). Sie verwirklicht sich im Einzelnen in Formen der ¹mittelbaren Drittwirkungª, dh durch eine entsprechende Anwendung privatrechtlicher Normen (zB § 879 ABGB) und von allgemeinen Rechtsprinzipien des Privatrechts, wie dem Verbot des Monopolmissbrauchs und dem daraus abgeleiteten Kontrahierungszwang oder der Begru È ndung von Pflichten aus vorvertraglichen SchuldverhaÈltnissen; das kann auf die GewaÈhrung von Schadenersatz, Nichtigkeit bzw Teilnichtigkeit, Beseitigung, Unterlassung bis hin zu unmittelbaren Leistungsanspru È chen hinzielen, mit deren Hilfe im Einzelfall der grundrechtskonforme Zustand herzustellen ist (vgl zum Begriff einer mittelbaren Drittwirkung auch noch im Folgenden Rz 1270 ff). 1262 AnwendungsfaÈlle dieser Judikatur finden sich bei der Erbringung von Leistungen der staatli-
chen oder kommunalen Daseinsvorsorge, im Subventionsrecht und bei der Vergabe von È ffentlichen AuftraÈgen. In allen diesen RechtsverhaÈltnissen folgt aus dem Gleichheitsgrundo satz ein von den Organen der Privatwirtschaftsverwaltung zu beachtendes Diskriminierungsverbot, das in EinzelfaÈllen zu einem Sachlichkeitsgebot ausgebaut wurde, vor allem im Zusammenhang mit der Bindung an Subventionsrichtlinien und Èahnlichen Akten der Selbstbindung (vgl dazu noch die Beispiele unten Rz 1703). Auch andere oÈffentlich-rechtliche RechtstraÈger sind dort, wo sie oÈffentliche Aufgaben erfu È llen, an die Grundrechte gebunden (zB OGH È rztekammer bei der Vergabe von Kas11.7.2001, 7 Ob 299/00x, JBl 2002, 36 zur Bindung der A senarztstellen).
47.6. Die ¹Drittwirkungª der Grundrechte 1263 1. Die Frage der ¹Drittwirkungª der Grundrechte stellt sich im ¹VerhaÈltnis der Bu È rger untereinanderª, genauer: im Hinblick darauf, ob die Grundrechte auch fu È r das Privatrecht und im Privatrecht Geltung beanspruchen. Typische Drittwirkungsprobleme sind etwa: Ist der Vermieter einer Wohnung beim Abschluss eines Mietvertrags an das Gleichbehandlungsgebot gebunden oder darf er eine ¹will-
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ku È rlicheª Auswahl zwischen potentiellen Vertragspartnern nach ganz persoÈnlichen Vorlieben treffen; kann sich ein Arbeitnehmer weigern bestimmte Arbeiten zu verrichten, wenn er sie mit seinem Gewissen oder religio È sen Anschauungen fu È r unvereinbar haÈlt (zB VervielfaÈltigung rassistischer Schriften in einer Druckerei), ohne dass ihm ein Nachteil drohen du È rfte; handelt es sich um einen ¹Grundrechtskonfliktª, wenn sich der Autor eines Enthu È llungsromans gegenu È ber dem zivilrechtlichen Unterlassungsanspruch des Bloûgestellten auf die verfassungsrechtlich gewaÈhrleistete Kunstfreiheit beruft usw. 2. Eine Drittwirkung kann durch eine ausdru È ckliche Verfassungsbestimmung 1264 angeordnet sein. Das ist beim Grundrecht auf Datenschutz der Fall, das nach § 1 Abs 5 DSG ¹auf dem Zivilrechtswegª geltend zu machen ist, soweit RechtstraÈger, die in Formen des Privatrechts eingerichtet sind, taÈtig werden. Es steht fest, dass der Verfassungsgesetzgeber mit dieser Formulierung eine Drittwirkung begru È nden wollte, dh angeordnet hat, dass der hier verankerte Geheimhaltungsanspruch auch von privaten Rechtssubjekten beachtet werden muss. Bei dieser Geltungsanordnung handelt es sich zugleich um die Anordnung einer unmittelbaren Drittwirkung (zum Begriff der unmittelbaren Drittwirkung vgl noch im Folgenden Rz 1271). 3. Die ausdru È ckliche Anordnung einer Drittwirkung ist im oÈsterreichischen Verfas- 1265 sungsrecht auf den vorstehend geschilderten Fall beschraÈnkt. Vom Grundrecht auf Datenschutz abgesehen ist es daher bis heute eine kontrovers diskutierte Frage, ob von einer Drittwirkung der Grundrechte auszugehen ist, wie sie sich dogmatisch begru È nden laÈsst und welche Konsequenzen sie allenfalls nach sich zieht. Im Folgenden soll nur auf die wichtigsten AnsaÈtze kurz hingewiesen werden. a) Einige (wenige) Auffassungen lehnen jede Form der Drittwirkung mehr oder weniger 1266 apodiktisch ab. Dafu È r kann einmal eine historisierende Interpretation ausschlaggebend sein, die sich darauf stu È ffentlich-rechtliche È tzt, dass sich die Grundrechte immer nur auf o RechtsverhaÈltnisse und das Staat-Bu È rger-VerhaÈltnis bezogen haÈtten; inhaltlich argumentierend stu È tzen sich andere Einwendungen auf die den privaten Rechtssubjekten zuerkannte Privatautonomie, mit der jede Pflicht zur Beachtung der Grundrechte, vor allem jede Annahme eines Gleichbehandlungsgebotes, unvereinbar waÈre; in dieser Sicht laÈuft die Annahme einer Drittwirkung auf eine Bedrohung, wenn nicht sogar Aufhebung der bu È rgerlichen Freiheit hinaus, wenn die gegen den Staat gewaÈhrten Abwehrrechte ploÈtzlich gegen die Bu È rger gewendet wu È rden. b) Zu einer gegenteiligen Ansicht kommen jene Autoren, die aus dem Umstand, dass jede pri- 1267 vatrechtliche Rechtsmacht eine staatlich legitimierte oder zumindest gebilligte und durch Staatsorgane sanktionierte Rechtsmacht ist, auf eine prinzipielle Drittwirkung schlieûen. In dieser Betrachtungsweise brauchen die Grundrechte gar nicht aus ihrer ¹Staatsrichtungª herausgeloÈst zu werden, sondern sie verpflichten den Staat, der einziger Grundrechtsadressat bleibt, dazu Eingriffe in die gewaÈhrleistete Freiheit durch eigenes Handeln zu unterlassen, aber auch dazu, davon Abstand zu nehmen Privatrechtssubjekte zu Eingriffen in die FreiheitssphaÈre Dritter zu ermaÈchtigen und diese ¹Eingriffeª durch staatliche Organe durchzusetzen È sterreich vor allem Stefan Griller). È rgen Schwabe; dem folgend fu (grundlegend Ju Èr O c) Beide Auffassungen ko Ènnen in ihrer SchaÈrfe nicht u È berzeugen: Aus dem formalen Rechts- 1268 erzeugungszusammenhang zwischen der staatlichen Rechtsordnung und privater Rechtsetzung kann noch nicht ohne weiteres auf eine Drittwirkung geschlossen werden. Denn die Bindungen, die dem Staat bei der Gestaltung des Zivilrechts durch die Grundrechte auferlegt sind, stellen ein rechtsinhaltliches Problem dar, das durch den Hinweis auf die staatliche Verantwortung fu È r die Privatrechtsordnung allein noch nicht geloÈst ist. Jede Form der Drittwirkung bedarf daher einer zusaÈtzlichen Begru È ndung, die nur eine materielle, dh inhaltliche Begru È ndung sein kann, die auf den GewaÈhrleistungsgehalt des jeweiligen Grundrechts bezogen ist. Fu È r eine solche inhaltliche Begru È ndung stellt die Entstehungsgeschichte der Grundrechte andererseits kein schlagendes Gegenargument dar. Richtig ist zwar, dass in historischer Sicht einzelne Grundrechte ausschlieûlich auf die Abwehr staatlicher Eingriffe bezogen waren (wie zB das Zensurverbot). Gewisse RechtsgewaÈhrleistungen, wie zB die Freiheit des Liegenschaftserwerbs, zielten dagegen von vornherein auf eine freiheitliche Ausgestaltung der
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Teil IV. Die Grundrechte
Privatrechtsordnung und vielen anderen Grundrechten lag zu einer Zeit, in der die Unterscheidung und Trennung von o È ffentlichem und privatem Recht noch nicht voll zum Durchbruch gelangt war, der Gedanke einer oÈffentliche wie private RechtsverhaÈltnisse umfassenden Freiheitssicherung zu Grunde. Auch von der Zielrichtung der Grundrechte her betrachtet kann es im Interesse eines wirksamen Schutzes menschlicher Freiheit geboten sein, gewisse Formen der sozialen Macht den GrundsaÈtzen der grundrechtlichen Freiheit zu unterwerfen.
1269 4. Einer Drittwirkung der Grundrechte in privatrechtlichen RechtsverhaÈltnissen stehen daher keine prinzipiellen EinwaÈnde entgegen. Es haÈngt von der Analyse des jeweiligen RechtsverhaÈltnisses ab und vom Inhalt des entsprechenden Grundrechts, ob von drittgerichteten Wirkungen ausgegangen werden kann und welche Konsequenzen sich daran knu È pfen. Im Prinzip muss man annehmen, dass der EinÈ nlichen Bezelne in den durch die Grundrechte bezeichneten elementaren perso reichen gegenu È ber allen Eingriffen schutzwu È rdig ist, auch wenn diese von ¹dritter Seiteª ausgehen. Zugleich muss man respektieren, dass der Einzelne u È ber seine Rechte frei verfu È gen und auch rechtliche (zB vertragliche) Verpflichtungen in grundrechtlich geschu È tzten Bereichen eingehen kann, die durch die undifferenzierte Annahme einer Drittwirkung nicht u È berspielt werden du È rfen. 1270 Dort, wo im Privatrecht von einer Drittwirkung auszugehen ist, werden diese Wirkungen in der Regel durch das einfache Gesetzesrecht vermittelt, das sich ohnedies in vielfaÈltiger Weise dem Ausgleich der privaten Rechtspositionen zuwendet, das in der Form von unbestimmten Rechtsbegriffen oder ausfu È llungsbedu È rftigen Generalklauseln offen ist fu È r die Ausfu È llung durch grundrechtliche Wertungen und das allenfalls auch durch Analogie oder durch andere Formen der legitimen Rechtsfortbildung grundrechtskonform gestaltet werden kann. Damit ist auch klargestellt, dass die Form der Verwirklichung der Grundrechte im Privatrecht grundsaÈtzlich die der mittelbaren Drittwirkung ist, dh dass die Wirkung der Grundrechte durch das verfassungskonforme und verfassungskonform auszulegende Zivilrecht vermittelt wird. 1271 Der vorstehend verwendete Begriff der ¹mittelbaren Drittwirkungª bezieht sich auf die Gegen-
u È berstellung einer ¹unmittelbarenª und einer ¹mittelbaren Drittwirkungª, welche die Drittwirkungsdiskussion lange Zeit beherrscht hat. Unmittelbar ist danach eine Drittwirkung, wenn die Grundrechte als zivilrechtliche Anspru È che oder als zivilrechtliche Gebote und Verbote im Privatrecht wirken, etwa mit der Folge, dass ein grundrechtswidriger Vertrag mit einer unmittelbaren Nichtigkeitsfolge sanktioniert ist. Wie das Grundrecht auf Datenschutz zeigt (vgl oben Rz 1264), ist eine solche Konstruktion nicht ausgeschlossen. Ohne ausdru È ckliche verfassungsrechtliche Anordnung ist es aber schwer begru È ndbar, wieso die Grundrechte als Normen des o È ffentlichen Rechts unvermittelt auch als privatrechtliche Normen gelten sollen. Wenn È ffentlichen man dagegen erkennt, dass sich die Grundrechte immer (und auch im o Recht) primaÈr an den Gesetzgeber richten, dann wird klar, dass auch jede Wirkung im Privatrecht durch das Gesetz, dh durch das bu È rgerliche Recht mediatisiert wird. Das ist sodann eine ¹mittelbare Drittwirkungª.
5. Zur Verdeutlichung der ¹Drittwirkungseffekteª der Grundrechte soll im Folgenden anhand einzelner ausgewaÈhlter Konstellationen geschildert werden, wie sich die Grundrechte in PrivatrechtsverhaÈltnissen auswirken koÈnnen: 1272 a) Der Konflikt zwischen widerstreitenden PersoÈnlichkeitsrechten stellt sich aus der
Warte der Grundrechte betrachtet regelmaÈûig auch als Grundrechtskonflikt mit Drittwirkungseffekten dar. Wenn zB durch eine zivilrechtliche Unterlassungsklage eines Gewerbetreibenden einer Tierschutzorganisation die Kritik an tierquaÈlerischen Praktiken untersagt werden soll und der geltend gemachte Anspruch (§ 1330 ABGB) unter Berufung auf die Meinungsfreiheit abgewiesen wird (OGH 27.5.1998, 6 Ob 93/98, RdW 1998, 525), dann wird dem Grundrecht der Meinungsfreiheit Drittwirkung zuerkannt. Wenn das Zivilrecht lu È ckenhaft erscheint und dort, wo es grundrechtlich geboten waÈre, keinen Abwehranspruch gewaÈhrt, kann ein solcher aus den Grundrechten abgeleitet werden. In diesem Sinn hat zB der OGH aus einer Verbin-
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dung von Art 8 EMRK und § 16 ABGB einzelne persoÈnlichkeitsrechtliche Anspru È che abgeleitet, zB ein Recht auf NamensanonymitaÈt gegenu È ber den Massenmedien (OGH SZ 59/182). b) Man kann die Ableitung zivilrechtlicher Abwehranspru È che auch als Ausdruck grundrecht- 1273 licher Schutzpflichten deuten, welche den Staat treffen (zu den Schutzpflichten vgl oben Rz 1224). Da derartige Pflichten zum Schutz vor Eingriffen von dritter Seite nur ausnahmsweise eine strafrechtliche PoÈnalisierungspflicht nach sich ziehen, kann der Staat den gebotenen Schutz in der Regel dadurch gewaÈhrleisten, dass er die Zivilrechtsordnung entsprechend ausgestaltet. Wenn man daher zB mit dem EGMR davon ausgeht, dass eine ko Èrperliche Zu È chtigung als Erziehungsmaûnahme das in Art 3 EMRK garantierte Recht verletzt und eine Pflicht des Staates begru È ndet, die seiner Jurisdiktion unterstehenden Personen vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe zu bewahren, dann gebietet das eine entsprechende Auslegung des Familienrechts, dem erforderlichenfalls auch ein entsprechender AbÈ JZ 1999, 617). wehranspruch entnommen werden muss (vgl EGMR, A., O c) Ein privatrechtlicher Kontrahierungszwang kann sich in vielen Situationen ebenfalls als 1274 konkrete Ausgestaltung einer grundrechtlichen Drittwirkung darstellen. Die Rspr geht davon È bermacht eines Beaus, dass ein Kontrahierungszwang dann gegeben ist, wenn die faktische U teiligten bei bloû formaler ParitaÈt diesem die MoÈglichkeit einer ¹Fremdbestimmungª u È ber andere gaÈbe und die Ausnu È tzung dieser Monopolstellung gegen die guten Sitten verstoÈût. Daher darf zB ein Gastwirt ein ¹Lokalverbotª nicht aus diskriminierenden, sachlich nicht gerechtfertigten Gru È nden verhaÈngen (OGH SZ 59/130). d) Bei vertraglich begru È ndeten RechtsverhaÈltnissen ist der Gesichtspunkt der (nach Lehre 1275 und Rspr ebenfalls grundrechtlich abgesicherten) Privatautonomie mit zu beachten. Die freiwillige Zustimmung zu einer EinschraÈnkung der eigenen Freiheit ist daher in der Regel hinzunehmen und auch dann bindend, wenn solche Bindungen irgendwann einmal beschwerlich werden. Grundrechtlich betrachtet handelt es sich dabei um Akte des Grundrechtsverzichts, die der Staat zu respektieren hat. Akte einseitiger Rechtsgestaltung (wie zB eine Ku È ndigung) ko È nnen freilich auch im Rahmen von VertragsverhaÈltnissen aus Grundrechtsgru È nden sittenwidrig sein (vgl zur nach § 879 ABGB sittenwidrigen Motivku È ndigung OGH SZ 66/95). Eine Korrektur der privatautonom getroffenen Rechtsgestaltung unter dem Aspekt betroffener Grundrechte ist daher auf eine besondere Rechtfertigung angewiesen. So ist es etwa prinzipiell anerkannt, dass sich ein Arbeitnehmer auf seine Gewissensfreiheit berufen kann, wobei die Reichweite des Gewissensschutzes in ArbeitsverhaÈltnissen aus allgemeinen RechtsgrundsaÈtzen abzuleiten ist; dabei koÈnnen Gesichtspunkte wie die Vorhersehbarkeit einer Konfliktsituation, die Zumutbarkeit der Verweigerung gewisser Dienstleistungen fu È r den ArbeitgeÈ hnliches eine Rolle spielen. Solche ErwaÈgungen begrenzen auch die Pflicht zur Ru ber und A È cksichtnahme auf religio È se Beweggru È nde in ArbeitsverhaÈltnissen (vgl zB OGH 27.3.1996, 9 Ob A 18/96, RdW 1996, 491). Der Einsatz einer Machtstellung kann auch in diesen ZusammenhaÈngen zu einer Drittwirkung fu È hren. Aus den zum Kontrahierungszwang entwickelten GrundsaÈtzen wird daher in der neueren Rspr ganz allgemein abgeleitet, dass es einem ¹Monopolistenª È bermacht in unsachlicher Weise auszuu verwehrt ist, seine faktische U È ben. Es kann daher auch unter dem Aspekt der Erwerbsfreiheit sittenwidrig sein, wenn sich monopolistisch organisierte SportverbaÈnde auf Satzungsbestimmungen berufen, die Berufsspielern einschneidende BeschraÈnkungen beim Transfer (Ablo È sesummen) auferlegen (OGH 25.6.1998, 8 Ob A 268/97, WBl 1998, 543; OGH 24.9.1998, 2 Ob 232/98, JBl 1999, 126). e) In anderen arbeitsrechtlichen Lagen ist der Einfluss der Grundrechte schon durch laÈn- 1276 gere Rechtsprechungstraditionen etabliert: Das gilt etwa fu È r die Geltung des Prinzips der Lohngleichheit im Vergleich von MaÈnnern und Frauen (vgl zB schon OGH Arb 7085/1959), fu È r unzulaÈssige EinschraÈnkungen der persoÈnlichen Freizu È gigkeit durch arbeitsvertragliche Klauseln (OGH 22.11.1977, 4 Ob 148/77, DRdA 1979, 24) oder fu È r die Begrenzung von vorvertraglichen Offenbarungspflichten im Zusammenhang mit Fragen, die in die PrivatsphaÈre eines Arbeitnehmers eindringen. In der Praxis anerkannt ist auch die Bindung der Kollektivvertragsparteien an die Grundrechte im Wege einer mittelbaren Drittwirkung.
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Teil IV. Die Grundrechte
AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zu den Abschnitten 46±47: VfSlg 12.257/1990: Die Versammlungsfreiheit ist ± wie diese Entscheidung beispielhaft zeigt ± ein Grundrecht unter Ausgestaltungsvorbehalt, so dass der VfGH eine ¹Feinpru È fungª vornimmt. Wieso hat der Gerichtshof in der ebenfalls zur Versammlungsfreiheit ergangenen Entscheidung Slg 8685/1979 dann trotzdem nur gepru È ft, ob der Bescheid denkunmoÈglich ergangen ist? VfSlg 13.839/1994: Der VfGH spricht in dieser Entscheidung zur EU-Volksabstimmung davon, dass Stellungnahmen von Regierungsmitgliedern im Zuge der Abstimmungskampagne in ¹Ausu È bung ihres Rechts auf Meinungsfreiheitª ergangen waÈren. LaÈuft das auf die Anerkennung eines Grundrechtsschutzes fu È r staatliches Organhandeln hinaus oder hat sich der VfGH nur unklar ausgedru È ckt? OGH 15.4.1998, 3 Ob 2440/96, RdW 1998, 592: Du È rfen die oÈsterreichischen Spielbanken einem Glu È cksspieler den Zutritt zum Kasino verwehren? Ist das ein Drittwirkungsfall und wie wird er geloÈst? OGH 24.2.2003, 1 Ob 272/02k, RZ 2003, 213: Ein politisch brisanter Fall der Fiskalgeltung È bernahme von Asylwerbern in die Bundesbe± zur Geltung des Willku È rverbots bei der U treuung. Zur Vertiefung: Feik, Der raÈumliche und persoÈnliche Geltungsbereich der Grundrechte in È R 1999, 19; Griller, Der Schutz der Grundrechte vor Verletzung der Judikatur des VfGH, ZO durch Private, JBl 1992, 205 und 289; Hinteregger, Die Bedeutung der Grundrechte fu È r das È JZ 1999, 741; Korinek/Holoubek, Grundlagen staatlicher PrivatwirtschaftsPrivatrecht, O È R 1999, 57; verwaltung (1993); Holoubek, Wer ist durch die Grundrechte gebunden? ZO ders, Staatsbu È rgerrechte als Unionsbu È rgerrechte, in: Krejci-FS (2001) 1913; Mayer, Der ¹Rechtserzeugungszusammenhangª und die so genannte ¹Drittwirkungª der Grundrechte, È chler, Grundrechte und Grundrechtsformel, in: Floretta-FS (1983) JBl 1990, 768; Spielbu 289.
48. Grundrechtseingriffe und Grundrechtsschranken Im folgenden Abschnitt wird der Aufbau der Freiheitsrechte dargestellt: Dabei geht es um das VerhaÈltnis zwischen dem Schutzbereich eines Grundrechts, der ErmaÈchtigung zu seiner EinschraÈnkung und der Verletzung des Rechts. Die Arbeit mit diesen dogmatischen Grundbegriffen geho È rt zum ¹taÈglichen Brotª bei der LoÈsung von GrundrechtsfaÈllen.
48.1. Grundrechtstatbestand, Grundrechtseingriffe und Grundrechtsschranken 48.1.1. Der Schutzbereich (Tatbestand) der Grundrechte 1277 Von den verschiedenen Grundrechten weisen vor allem die Freiheitsrechte eine besonders ausgepraÈgte und weitgehend vergleichbare dogmatische Struktur auf. Die Freiheitsrechte gewaÈhrleisten dem Einzelnen eine SphaÈre individueller Freiheit, die dem Zugriff des Staates prinzipiell entzogen ist und die den Schutzbereich oder Tatbestand des jeweiligen Grundrechts bildet: etwa die Freiheit der Kommunikation, die Unverletzlichkeit des Eigentums oder das Recht der ungehinderten Berufsausu È bung. Typische auf den Schutzbereich eines Grundrechts bezogene Fragestellungen sind beispielsweise: Wann erreicht eine unmenschliche Behandlung den Schweregrad einer ¹Folterª iS von Art 3 EMRK? Schu È tzt das Grundrecht der Meinungsfreiheit auch Erscheinungsformen der kommerziellen Werbung? Kann sich auch ein KunsthaÈndler auf die Kunstfreiheitsgarantie berufen?
2. Kapitel: Allgemeine Grundrechtslehren
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Die Frage nach dem Schutzbereich eines Grundrechts kann auch anhand der unterschiedlichen Konzeption der Versammlungsfreiheit im StGG und in der EMRK erlaÈutert werden: Art 11 EMRK gewaÈhrleistet die Versammlungsfreiheit eingeschraÈnkt auf friedliche Versammlungen; gewalttaÈtige Manifestationen liegen daher grundsaÈtzlich auûerhalb des durch die EMRK gewaÈhrleisteten Schutzbereichs. Auch das StGG will selbstverstaÈndlich nur friedvolle Versammlungen schu È tzen, wie das in § 9 VersG enthaltene Verbot der Bewaffnung zeigt. Der Schutzbereich des Art 12 StGG ist allerdings nicht auf friedliche Versammlungen eingeschraÈnkt, so dass davon auszugehen ist, dass die AufloÈsung auch einer gewalttaÈtigen Versammlung in das Grundrecht nach Art 12 StGG eingreift, wobei freilich dieser Eingriff regelmaÈûig gerechtfertigt ist. Darin zeigt sich die wechselseitige Bedingtheit von Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken: Je weiter der Schutzbereich eines Grundrechts gezogen ist, umso mehr staatliche Akte ko È nnen potentiell in dieses Grundrecht eingreifen und bedu È rfen daher einer entsprechenden Rechtfertigung.
Liegt ein bestimmtes Verhalten oder ein Zustand auûerhalb des betreffenden 1278 grundrechtlichen Schutzbereichs, entfaÈllt der Grundrechtsschutz: Wenn zB gewerblich genutzte RaÈumlichkeiten keine ¹Wohnungª iS des Art 8 EMRK sind, kann sich ihr Inhaber nicht auf den Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung berufen, wenn die Polizei in solche RaÈumlichkeiten eindringt. 48.1.2. Schranken und Eingriffe in ein Grundrecht Weil in einer menschlichen Gesellschaft keine Freiheit unbegrenzt sein kann, und 1279 zwar schon allein wegen der gleichen Freiheit der Mitmenschen, ist auch kein Freiheitsrecht schrankenlos gewaÈhrleistet. Die Abgrenzung der den einzelnen Freiheitsrechten gesetzten Schranken ist eine der wichtigsten Aufgaben der Grundrechtsdogmatik. Die Begriffe der grundrechtlichen Schranke und des Grundrechtseingriffs werden oft gleichbedeutend verwendet, sinnvollerweise wird aber differenziert: Danach sind Schranken die generellen, in der Regel durch Gesetz, verfu È gten BeschraÈnkungen, die dem Einzelnen ein bestimmtes Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts faÈllt, verwehren. In diesem Sinn sind beispielsweise die strafrechtlichen Ehrenschutzbestimmungen Schranken der MeinungsaÈuûerungsfreiheit. Von einem Eingriff spricht man dagegen, wenn ± sei es auf der Grundlage einer gesetzlichen Schranke oder ohne gesetzliche Deckung (und dann grundsaÈtzlich in verfassungswidriger Weise) ± im Einzelfall in eine gewaÈhrleistete Freiheit eingegriffen wird, etwa wenn der Einzelne wegen einer u È blen Nachrede bestraft wird. In diesem Sinn ermaÈchtigen die gesetzlichen Schranken eines Grundrechts zu Eingriffen in die geschu È tzte FreiheitssphaÈre.
48.1.3. Die Verletzung eines Grundrechts Eingriffe in ein Grundrecht koÈnnen zulaÈssig (rechtmaÈûig) oder unzulaÈssig 1280 (rechtswidrig) sein, je nachdem, ob die verfassungsmaÈûigen Bedingungen fu È r einen Eingriff erfu È llt sind oder nicht. Im ersten Fall ist der Eingriff gerechtfertigt; im zweiten Fall wird das Grundrecht verletzt. Daraus ergibt sich, dass nicht schon jede BeeintraÈchtigung bzw jeder Eingriff in ein Grundrecht dieses auch verletzt; eine Verletzung liegt nur dann vor, wenn der Eingriff verfassungsrechtlich nicht vorgesehen ist oder eine verfassungsrechtliche Bedingung fu È r einen gerechtfertigten Eingriff nicht erfu È llt ist, etwa weil keine gesetzliche Grundlage fu È r den Eingriff vorliegt oder weil kein legitimes Eingriffsziel verfolgt wird oder weil der Eingriff unverhaÈltnismaÈûig ist. Es kann auch sein, dass ein Grundrecht jeden Eingriff kategorisch ausschlieût: Ein Eingriff in das Folterverbot (Art 3 EMRK) laÈuft immer auf eine Grundrechtsverletzung hinaus, weil dieses Grundrecht keine EingriffsermaÈchtigung enthaÈlt.
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Teil IV. Die Grundrechte
48.1.4. Die Grundrechtsausgestaltung 1281 Von den Grundrechtsschranken und -eingriffen ist die Ausgestaltung eines Grundrechts zu unterscheiden. Sie spielt vor allem bei jenen Grundrechten eine Rolle, die eine bestimmte rechtliche Regelung oder Ordnung voraussetzen, ohne die von der gewaÈhrleisteten Freiheit kein Gebrauch gemacht werden kann. So setzt das Grundrecht auf Unverletzlichkeit des Eigentums beispielsweise eine privatrechtliche Eigentumsordnung voraus, ohne die Eigentum als rechtliche Kategorie gar nicht existent waÈre; das Recht der Vereinigungsfreiheit ist zumindest praktisch darauf angewiesen, dass entsprechende Rechtsformen (zB Vereine) fu È r die gemeinschaftliche Interessenverfolgung bestehen. Gesetzliche Ausgestaltungen lassen die Substanz der jeweiligen Freiheit unberu È hrt und mu È ssen daher auch nicht wie Eingriffe an den Schrankenvorbehalten gemessen werden. Die Grenze zwischen Ausgestaltung und Eingriff ist freilich mit Sorgfalt zu bestimmen: Der Gesetzgeber ist nicht zu jeder beliebigen ¹Ausgestaltungª der privaten Eigentumsordnung befugt; wenn er zB bestimmte Sachen von der VerkehrsfaÈhigkeit ausschlieûen wu È rde, ist dies keine Ausgestaltung mehr, sondern ein Eingriff. 48.1.5. Nochmals zum Eingriffsbegriff 1282 Bei jedem Grundrecht ist ± neben der Bemessung des jeweiligen Schutzbereichs ± gesondert zu klaÈren, welche staatlichen Akte als BeschraÈnkungen (Schranken oder Eingriffe) anzusehen sind. So liegt zB nach der stRspr des VfGH ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit vor, wenn eine Versammlung untersagt oder aufgeloÈst È bertretung des VersG bestraft wird (zB VfSlg wird oder wenn jemand wegen einer U 14.869/1997). Verallgemeinernd laÈsst sich sagen, dass ein Eingriff jedenfalls dann vorliegt, wenn ein grundrechtlich geschu È tztes Verhalten zum Gegenstand einer staatlichen Sanktion (Strafe, Zwangsmaûnahme) gemacht wird. 1283 a) In EinzelfaÈllen kann die Bestimmung des grundrechtsrelevanten Eingriffs schwierig
sein. So ist es sicherlich ein Eingriff in die Medienfreiheit, wenn staatliche BehoÈrden das Erscheinen einer Zeitung verbieten oder einen Journalisten wegen einer VeroÈffentlichung bestrafen; ob aber eine besondere Steuer auf Zeitungspapier oder die Beschlagnahme eines InternetServers ebenfalls in dieses Grundrecht eingreift, ist fraglich, obwohl natu È rlich auch dadurch das Erscheinen eines Massenmediums erschwert oder verhindert werden kann. Unstrittig ist, dass eine, wenngleich vielleicht auch nur kurzfristige, behoÈrdliche Anhaltung in einer Arrestzelle ein Eingriff in das Grundrecht der persoÈnlichen Freiheit ist; schwieriger zu beurteilen ist dagegen, ob eine voru È bergehende Behinderung in der Ausu È bung der persoÈnlichen Bewegungsfreiheit etwa aus Anlass der AufloÈsung einer Demonstration (zB durch Wegtragen der Demonstranten) gleichermaûen als Eingriff in dieses Grundrecht zu qualifizieren ist. In all diesen FaÈllen gilt es, den relevanten Eingriff von sonstigen, entfernteren BeeintraÈchtigungen zu unterscheiden, die nicht am Grundrecht zu messen sind.
1284 b) Die Schwierigkeiten bei der Bestimmung des relevanten Eingriffs in ein Grundrecht
haÈngen damit zusammen, dass der Begriff des Grundrechtseingriffs seine klaren Konturen teilweise verloren hat. Fu È r den ¹klassischenª Eingriffsbegriff war maûgeblich, dass der Staat mit rechtlichen Wirkungen bzw mit Befehl und Zwang sowie in unmittelbarer und gezielter (intentionaler) Weise in den Schutzbereich eines Grundrechts eingreift. In diesem Sinn hat der VfGH lange Zeit etwa nur jene BeschraÈnkungen der ko È rperlichen Bewegungsfreiheit, die intentional auf den Entzug der Freiheit gerichtet waren, als Eingriffe in die persoÈnliche Freiheit gedeutet oder nur intentional gegen die Freiheit der wissenschaftlichen Lehre gerichtete Akte als Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit qualifiziert. Und bei zwangsfreien Informationsakten, etwa der Herausgabe einer diskriminierenden polizeilichen Pressemitteilung oder dem schlichten Belauschen oder Fotografieren von Menschen durch Sicherheitswachebeamte, wurde die EingriffsqualitaÈt in der Èalteren Rspr durchwegs verneint.
1285 c) Im Interesse eines wirksamen Schutzes der Grundrechte, die vor allem in der modernen
Gesellschaft angesichts der vielfaÈltigen staatlichen HandlungsmoÈglichkeiten auch durch nicht
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gezielte, nur faktische oder zwangsfreie staatliche Akte erheblich beeintraÈchtigt werden ko È nnen, bedarf der ¹klassischeª Eingriffsbegriff einer Erweiterung. Einzubeziehen sind vor allem die Auswirkungen des jeweiligen staatlichen Handelns auf die gewaÈhrleistete Freiheit. Als Eingriff ist daher jedes staatliche Handeln anzusehen, das dem Einzelnen ein bestimmtes Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts faÈllt, unmoÈglich macht oder erheblich erschwert, und zwar auch dann, wenn diese Wirkungen nicht beabsichtigt sind, nur in mittelbarer Folge oder in tatsaÈchlicher Hinsicht eintreten oder nicht mit Befehls- oder Zwangsgewalt verbunden sind.
48.2. Die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte 48.2.1. Die Arten der Gesetzesvorbehalte Welche Schranken einer grundrechtlich geschu È tzten Freiheit gezogen werden du È r- 1286 fen, haÈngt davon ab, ob es sich um ein Grundrecht handelt, das einem Gesetzesvorbehalt unterworfen ist oder ob es sich um ein vorbehaltloses Grundrecht handelt; bei den Grundrechten mit Gesetzesvorbehalten ist zwischen verschiedenen Formen des Gesetzesvorbehalts zu unterscheiden. Dies fu È hrt zu folgender Typologie: . Grundrechte mit einem nur formellen Gesetzesvorbehalt . Grundrechte mit einem qualifizierten Gesetzesvorbehalt . Grundrechte mit einem materiellen Gesetzesvorbehalt . vorbehaltlose Grundrechte Wie bereits erwaÈhnt, ermaÈchtigt die Verfassung vereinzelt auch zur naÈheren ¹Rege- 1287 lungª einer Freiheit durch die Gesetze. Damit wird der Gesetzgeber zur Ausgestaltung eines Grundrechts im oben dargelegten Sinn ermaÈchtigt. Mit Bezug auf diese Art des Gesetzesvorbehalts hat man zwischen ¹Ausgestaltungsvorbehaltenª und ¹Eingriffsvorbehaltenª unterschieden, wobei das wichtigste Beispiel die unter einen ¹Ausgestaltungsvorbehaltª gestellte Vereins- und Versammlungsfreiheit (Art 12 StGG) ist. Die Aussagekraft dieser Unterscheidung darf freilich nicht u È berschaÈtzt werden: Weil die ¹Ausgestaltungª einer Freiheit auf eine Schrankensetzung hinauslaufen kann und in vielen FaÈllen eine EingriffsermaÈchtigung ist, sind solche ¹Ausgestaltungsvorbehalteª regelmaÈûig auch ¹Eingriffsvorbehalteª. Wenn trotzdem an der Qualifikation als Ausgestaltungsvorbehalt oder Ausu È bungsvorbehalt festgehalten wird, hat dies vor allem eine gewisse praktische Bedeutung im Hinblick auf die Abgrenzung der ZustaÈndigkeiten von VwGH und VfGH, weil der VfGH bei Grundrechten mit einem Ausgestaltungsvorbehalt die Kompetenz zu einer umfassenden RechtmaÈûigkeitskontrolle (¹Feinpru È fungª) beansprucht (vgl Rz 1058 ff).
48.2.2. Der ¹formelleª Gesetzesvorbehalt Bei Grundrechten mit einem formellen Gesetzesvorbehalt ist das Vorliegen einer 1288 foÈrmlichen gesetzlichen ErmaÈchtigung notwendige, aber auch ausreichende Bedingung fu È r Eingriffe in das Grundrecht. Beispiele finden sich vor allem im StGG: Die meisten der hier gewaÈhrleisteten Grundrechte (zB Art 5, 6, 12 und 13 StGG) stehen jedenfalls dem Wortlaut nach unter einem nur formellen Gesetzesvorbehalt. In diesen FaÈllen scheint die Befugnis des Gesetzgebers zur Bestimmung der Grundrechtsschranken prinzipiell unbegrenzt zu sein. In diesem Sinn war es zB lange Zeit stRspr des VfGH, dass der einfache Gesetzgeber den Antritt und die Ausu È bung von Berufen im Rahmen der in Art 6 StGG gewaÈhrleisteten Erwerbsfreiheit nahezu beliebig beschraÈnken durfte, solange der Wesensgehalt dieser Freiheit nicht gaÈnzlich beseitigt oder gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoûen wurde. Es wird freilich noch darzulegen sein, dass nach dem heutigen Stand von Judikatur und Lehre dem Ge-
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Teil IV. Die Grundrechte
setzgeber auch im Rahmen von formellen Grundrechtsvorbehalten inhaltliche Grenzen gesetzt sind (vgl unten Rz 1294 ff). 1289 Ein formeller Gesetzesvorbehalt fordert nicht nur das Vorliegen eines Gesetzes schlechthin; vorausgesetzt ist vielmehr auch eine ausreichende Bestimmtheit des Gesetzes, die den Eingriff fu È r den Bu È rger vorhersehbar macht; man spricht in diesem Zusammenhang von einer spezifischen grundrechtlichen Determinierungspflicht. Eine AuspraÈgung dieser Determinierungspflicht stellt die Judikatur zu den ¹eingriffsnahen Gesetzenª dar. 1290 Bereits in seiner Èalteren Judikatur ist der VfGH in verschiedenen ZusammenhaÈngen von gestei-
gerten Bestimmtheitserfordernissen ausgegangen, so etwa bei StraftatbestaÈnden (VfSlg 4589/1963, 8695/1979) oder bei Konzessionspflichten im Hinblick auf die Erwerbsfreiheit (VfSlg 5240/1966). In VfSlg 10.737/1985 hat der Gerichtshof die Anforderungen an die ausreichende Bestimmtheit bei den so genannten ¹eingriffsnahen Gesetzenª verschaÈrft: ¹Eingriffsnahe Gesetzeª sind gesetzliche Regelungen, die Maûnahmen vorsehen, die ¹nicht bloû zufaÈllig und ausnahmsweise, sondern geradezu in der Regelª und mit besonderer ¹IntensitaÈtª in ein grundrechtlich geschu È tztes Rechtsgut eingreifen, wie zB die VerhaÈngung eines Aufenthaltsverbots u È ber einen im Inland lebenden und hier integrierten Fremden im Hinblick auf Art 8 EMRK. In einem solchen Fall muss nach Ansicht des VfGH der Eingriffstatbestand ¹besonders deutlich umschrieben seinª und muss der Gesetzgeber selbst den Ausgleich zwischen der grundrechtlichen Freiheit und den zum Schutz anderer Rechtsgu È ter notwendigen Schranken durch eine abschlieûende und umfassende Regelung normieren (vgl ferner VfSlg 11.455/ 1987; die ¹EingriffsnaÈheª verneinend dagegen VfSlg 11.044/1986, 14.259/1995; zum Zusammenhang zwischen der EingriffsnaÈhe und Art 18 B-VG vgl Rz 507).
48.2.3. Der qualifizierte Gesetzesvorbehalt 1291 Von einem qualifizierten Gesetzesvorbehalt kann man sprechen, wenn die Verfassung ± u È ber das Vorliegen einer formellen gesetzlichen ErmaÈchtigung hinausgehend ± noch einzelne weitere ZulaÈssigkeitsbedingungen fu È r einen Grundrechtseingriff normiert. Ein wichtiges Beispiel dafu È r ist der ¹Richtervorbehaltª bei manchen Grundrechten: So bedu È rfen Hausdurchsuchungen im Regelfall eines begru È ndeten richterlichen Befehls (§ 1 HausrechtsG), dh der Gesetzgeber darf nur zu Hausdurchsuchungen ermaÈchtigen, wenn er zugleich eine entsprechende Befugnis eines richterlichen Organs begru È ndet. Auch bei anderen Grundrechten finden sich mehr oder minder praÈzise umschriebene Eingriffsbedingungen (vgl zB die Bedingungen fu È r freiheitsbeschraÈnkende Maûnahmen im PersFrG unter Rz 1361 ff). 48.2.4. Der materielle Gesetzesvorbehalt 1292 Materielle Gesetzesvorbehalte ermaÈchtigen den Gesetzgeber zur Schrankensetzung, wenn die BeschraÈnkung der Freiheit einem bestimmten o È ffentlichen oder individuellen Interesse dient und der Eingriff in eine grundrechtliche Freiheit zur Wahrung dieses Interesses zwingend erforderlich ist. Vor allem die meisten Grundrechte der EMRK stehen unter solchen materiellen Gesetzesvorbehalten; die Verfasser der Konvention gingen von der durch die moderne Geschichte ausreichend belegten Erfahrung aus, dass es auch Unrecht in Gesetzesform gibt und dass daher auch dem gesetzgeberischen Handeln bestimmte Schranken gesetzt werden mu È ssen, wenn ein effektiver Schutz der Grundfreiheiten und Menschenrechte garantiert sein soll. In diesem Zusammenhang hat es sich eingebu È rgert, von so genannten ¹SchrankenSchrankenª zu sprechen: Damit soll ausgedru È ckt werden, dass die Befugnis des Gesetzgebers den grundrechtlichen Freiheiten bestimmte Schranken zu ziehen ihrerseits durch materielle Schranken begrenzt ist.
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Beispiele fu È r materielle Gesetzesvorbehalte finden sich vor allem in den Art 8 1293 bis 11 EMRK, deren zweite AbsaÈtze jeweils gleichfoÈrmig aufgebaut sind: Sie ermaÈchtigen zu BeschraÈnkungen der gewaÈhrleisteten Freiheiten, wenn . der Eingriff gesetzlich vorgesehen ist, . er einem bestimmten, jeweils ausdruÈcklich angefu È hrten Schutzgut dient (zB der Wahrung der o È ffentlichen Sicherheit, der Verteidigung der Ordnung, dem Schutz der Gesundheit, dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer usw) . und der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft zur Erreichung dieses Zwecks notwendig ist. Dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen sein muss, entspricht den Bedingungen eines formellen Gesetzesvorbehalts. Auch im Rahmen eines materiellen Vorbehalts ist das fo È rmliche, ausreichend bestimmte Gesetz erste und unverzichtbare Bedingung eines verfassungsmaÈûigen Grundrechtseingriffs. Der Gesetzgeber darf aber daru È ber hinausgehend im Schutzbereich eines Freiheitsrechts nicht jeden beliebigen Zweck verfolgen. Nur die namentlich angefu È hrten Rechtsgu È ter rechtfertigen Eingriffe in die Freiheit des Bu È rgers; damit ist, bei aller Weite der diese Schutzgu È ter umschreibenden Begriffe, eine Eingrenzung der gesetzgeberischen HandlungsmoÈglichkeiten verbunden. Dass der Eingriff schlieûlich ¹in einer demokratischen Gesellschaft notwendigª sein muss oder ± mit anderen Worten ± dass nur zwingende soziale Bedu È rfnisse Grundrechtseingriffe legitimieren, verankert den Grundsatz der VerhaÈltnismaÈûigkeit als grundrechtliche ¹Schranken-Schrankeª (vgl dazu unten Rz 1300 ff).
48.2.5. Vom formellen zum materiellen Gesetzesvorbehalt Die Entwicklung des modernen Grundrechtsschutzes kann mit dem Schlagwort 1294 ¹vom formellen zum materiellen Gesetzesvorbehaltª gekennzeichnet werden. Das StGG hat sich, wie die meisten Grundrechtsdokumente des 19. Jahrhunderts, mit formellen Gesetzesvorbehalten begnu È gt und damit den Schutz der grundrechtlichen Freiheiten in die Hand des (einfachen) Gesetzgebers gelegt. Der formelle Gesetzesvorbehalt verlangt nur, dass ein Gesetz vorliegt, ohne an die QualitaÈt des freiheitsbeschraÈnkenden Gesetzes irgendwelche inhaltliche Anforderungen zu stellen. Damit war in historischer Sicht nicht unbedingt eine SchwaÈche des Grundrechtsschutzes 1295 verbunden. Denn gerade in der Herrschaft des Gesetzes lag nach der Idee des bu È rgerlichen Rechtsstaats die Garantie der Unverbru È chlichkeit der Grundrechte, die institutionell durch den Gesetzesvorbehalt abgesichert wurde. Die PublizitaÈt des Gesetzes sollte die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der Grenzen der Freiheit sichern und in der vorausgesetzten Allgemeinheit des Gesetzes sollten sich Gleichheit und Freiheit zur gleichen Freiheit aller verbinden. Dies schloss ± der Idee nach ± aus, dass die Gesetzesherrschaft willku È rliche Herrschaft wurde und die Grundrechte verletzte.
Im 20. Jahrhundert konnte der Glaube an die freiheitssichernde Kraft des Ge- 1296 setzes nicht mehr bedingungslos aufrechterhalten werden. Nunmehr geht es auch darum, wie die jeweilige politische Minderheit vor dem Machtspruch der parlamentarischen Mehrheit geschu È tzt werden kann; der formelle grundrechtliche Gesetzesvorbehalt kann dies nicht mehr leisten und erscheint sogar als entbehrlich, wenn ohnedies unter der Geltung eines umfassenden LegalitaÈtsprinzips (Art 18 B-VG) jeder hoheitliche Staatsakt (und nicht nur der Grundrechtseingriff) einer foÈrmlichen gesetzlichen Deckung bedarf. Umso mehr stellte sich daher die Frage nach dem Garantiegehalt der Grundrechte gegenu È ber der sich im einfachen Gesetz ausdru È ckenden demokratischen Mehrheitsentscheidung. Vereinzelt war der VfGH schon in seiner Èalteren Judikatur im Wege der Interpretation zu einer 1297 materiellen Bindung des Gesetzgebers gelangt. So wurde aus dem verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff das Erfordernis abgeleitet, dass Enteignungen dem oÈffentlichen Wohl dienen mu È ssen und dass daher auch der Gesetzgeber nur unter Beachtung dieser Bedingung zu Ein-
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Teil IV. Die Grundrechte
griffen in das Eigentum ermaÈchtigen darf (VfSlg 1853/1949). Daru È ber hinaus und losgeloÈst von einzelnen Grundrechten hat sich der VfGH seit VfSlg 3118/1956 und 3505/1959 zur so genannten ¹Wesensgehaltssperreª bekannt: Danach du È rfen gesetzliche BeschraÈnkungen eines Grundrechts nicht gegen das ¹Wesenª des Grundrechts verstoûen, was dann der Fall waÈre, wenn sie ihrer Wirkung nach der Aufhebung des Grundrechts gleichkaÈmen. Diese Formel wurde in vielen Entscheidungen wiederholt, doch hat sie der Gerichtshof niemals ausreichend konkretisiert und in keinem einzigen Fall ein Gesetz wegen eines Verstoûes gegen den garantierten Wesensgehalt aufgehoben. Besondere praktische Bedeutung hat die Wesensgehaltssperre daher niemals erlangt.
1298 Ein Wandel vollzog sich unter der Geltung der materiellen Gesetzesvorbehalte der EMRK. Sie machten deutlich, dass auch die Befugnis des Gesetzgebers zur BeschraÈnkung der grundrechtlichen Freiheiten immer nur eine begrenzte ist und vor allem unter den Anforderungen des VerhaÈltnismaÈûigkeitsprinzips steht. Die Gesetzesvorbehalte der Konvention wirkten damit als Katalysator fu È r einen Wandel der Judikatur. Der Durchbruch zu einer umfassenden Anerkennung des VerhaÈltnismaÈûigkeitsprinzips als allgemein geltender grundrechtlicher SchrankenSchranke vollzog sich in der verfassungsgerichtlichen Praxis beginnend mit einer Entscheidung aus dem Jahr 1984 und hat in der weiteren Folge alle Grundrechte erfasst. In VfSlg 10.179/1984 (Schrottlenkung I) pru È fte der Gerichtshof zum ersten Mal bei einem unter formellem Gesetzesvorbehalt stehenden Grundrecht (Erwerbsfreiheit), ob eine gesetzliche Schranke einem bestimmten oÈffentlichen Interesse diente und dieses o È ffentliche Interesse mit einem insgesamt geeigneten, erforderlichen und angemessenen Mittel verfolgt wurde. Damit wurde dieses Grundrecht so behandelt, als ob es unter einem den Vorbehalten der EMRK vergleichbaren materiellen Gesetzesvorbehalt stu È nde. Dieser Ansatz wurde in der Folge auch auf andere Grundrechte (Eigentum, Liegenschaftsfreiheit) erstreckt.
1299 Im Ergebnis kann daher heute davon ausgegangen werden, dass jeder Eingriff in eine grundrechtliche Freiheit nur im Rahmen des VerhaÈltnismaÈûigen gerechtfertigt ist und der Gesetzgeber auch bei jenen Grundrechten, die dem Wortlaut nach mit einem nur formellen Gesetzesvorbehalt versehen sind, diejenigen materiellen ¹Schranken-Schrankenª zu beachten hat, die sich aus der Geltung des VerhaÈltnismaÈûigkeitsprinzips ergeben. Die Schranken der Grundrechte mu È ssen daher heute nicht mehr nur anhand des formalen Prinzips der GesetzmaÈûigkeit, sondern nach inhaltlichen MaûstaÈben beurteilt werden. So betrachtet sind auch die formellen Gesetzesvorbehalte des StGG eigentlich zugleich materielle Vorbehalte des Gesetzes.
48.3. Das VerhaÈltnismaÈûigkeitsprinzip 1300 BeschraÈnkungen der Grundrechte und Eingriffe in ihren Schutzbereich sind nach dem Gesagten nur unter Beachtung des Grundsatzes der VerhaÈltnismaÈûigkeit zulaÈssig. Dabei zielt das VerhaÈltnismaÈûigkeitsprinzip im Grunde auf eine angemessene Ziel-Mittel-Relation: Der mit einem Grundrechtseingriff verfolgte legitime Zweck darf nicht auûer VerhaÈltnis zu dem damit verbundenen Eingriff in die FreiheitssphaÈre der betroffenen GrundrechtstraÈger stehen. Im Einzelnen zieht diese Ziel-Mittel-Relation eine Reihe von besonderen Bedingungen nach sich. Sie stellen gleichsam das ¹Pru È fungsprogrammª im Rahmen einer VerhaÈltnismaÈûigkeitspru È fung dar. In diesem Sinn verlangt der Grundsatz der VerhaÈltnismaÈûigkeit, dass . der vom Staat verfolgte Zweck legitim ist, . das vom Staat eingesetzte Mittel geeignet ist, . der Einsatz des Mittels zur Erreichung des Zwecks notwendig bzw erforderlich ist und
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. insgesamt ein angemessenes (adaÈquates) VerhaÈltnis zwischen dem eingesetzten Mittel und der damit verbundenen GrundrechtsbeeintraÈchtigung gewahrt bleibt; dieses Erfordernis wird oft als VerhaÈltnismaÈûigkeit oder ProportionalitaÈt im engeren Sinn bezeichnet. 48.3.1. Die Bindung an ein legitimes Ziel Der grundrechtsbeschraÈnkende Staat darf nur legitime Ziele verfolgen. Die Unzu- 1301 laÈssigkeit bestimmter Zwecke kann sich aus ausdruÈcklichen verfassungsrechtlichen Verboten ergeben; so du È rfte der Staat etwa keine Maûnahmen mit dem Ziel einer Diskriminierung von Behinderten setzen (Art 7 Abs 1 B-VG) oder rassistische Ziele verfolgen (Art I BVG-Rassendiskriminierung). a) Im Allgemeinen gibt die Verfassung freilich dem Gesetzgeber die Kompetenz bestimmte An- 1302 liegen als oÈffentliche Zwecke aufzugreifen und zu verfolgen; insoweit entscheidet der einfache Gesetzgeber in eigener Verantwortung u È ber die LegitimitaÈt der von ihm verfolgten Ziele. Dies schraÈnkt auch die Kontrollbefugnis des VfGH ein, der anerkennt, dass dem einfachen Gesetzgeber bei der Entscheidung, welche politischen Ziele er mit seinen Regelungen verfolgt, ein rechtspolitischer Gestaltungsspielraum eingeraÈumt ist: ¹Der Verfassungsgerichtshof hat nicht zu beurteilen, ob die Verfolgung eines bestimmten Zieles etwa aus wirtschaftspolitischen oder sozialpolitischen Gru È nden zweckmaÈûig ist. Er kann dem Gesetzgeber nur entgegentreten, wenn dieser Ziele verfolgt, die keinesfalls als im o È ffentlichen Interesse liegend anzusehen sindª (so zB VfSlg 12.094/1989). In diesem Sinn hat der VfGH beispielsweise das hinter manchen Bedarfspru È fungen stehende Ziel des Konkurrentenschutzes (von SonderfaÈllen abgesehen) als nicht im o È ffentlichen Interesse liegend angesehen (zB VfSlg 11.483/1987). b) Diese Befugnis des Gesetzgebers nach freier Entscheidung bestimmte Anliegen als Gemein- 1303 wohlanliegen aufzugreifen ist im Geltungsbereich der materiellen Gesetzesvorbehalte der EMRK allerdings begrenzt. Nach den Abs 2 der Art 8 bis 11 EMRK darf der Gesetzgeber die hier verankerten Grundrechte nur zur Verfolgung bestimmter, namentlich angefu È hrter Schutzgu È ter beschraÈnken; findet eine grundrechtsbeschraÈnkende Regelung in einem solchen legitimen Eingriffsziel keine Deckung, ist sie schon aus diesem Grund verfassungswidrig. Diese Schutzgu È ter beziehen sich zum einen auf bestimmte oÈffentliche Interessen (zB oÈffentliche Sicherheit, Schutz der Gesundheit usw); die grundrechtlichen Freiheiten du È rfen auûerdem ¹zum Schutz der Rechte und Freiheiten andererª beschraÈnkt werden. Zu den ¹Rechten und Freiheiten andererª gehoÈren die in der EMRK selbst geschu È tzten Grundfreiheiten und Menschenrechte, zu deren Gunsten der Staat konkurrierende Grundrechte beschraÈnken darf; auûerdem andere Rechtspositionen nach einfachem Gesetzesrecht, wobei allerdings letztere Ausdruck eines gemeinsamen europaÈischen Standards sein mu È ssen. Daher dient es zB einem legitimen Eingriffsziel, wenn der Gesetzgeber bestimmte Erscheinungsformen der Arzneimittelwerbung (¹Schutz der Gesundheitª) oder irrefu È hrende Werbeformen aus Gru È nden des Konsumentenschutzes (¹Rechte und Freiheiten andererª) beschraÈnkt.
48.3.2. Die Eignung der eingesetzten Mittel Die zur Verfolgung des legitimen Zieles eingesetzten Mittel mu È ssen geeignet sein 1304 dieses Ziel auch tatsaÈchlich zu erreichen. Dem Staat ist es verwehrt die Freiheit seiner Bu È ffentliche Interessen gar nicht wirklich È rger zu beschraÈnken, wenn dadurch o gefoÈrdert wu È rden. Ein gaÈnzliches Werbeverbot fu È r Tabakwaren waÈre zB unter dem Aspekt der Geeignetheit nur verhaÈltnismaÈûig, wenn anzunehmen ist, dass die gesundheitsschaÈdigenden Auswirkungen des Rauchens verringert werden koÈnnen, wenn fu È r Zigaretten nicht mehr geworben werden darf. Die Eignung mu È sste dagegen verneint werden, wenn sich die Behauptung verifizieren lieûe, dass durch die Zigarettenwerbung in Wahrheit der Umsatz schadstoffarmer Zigaretten gefoÈrdert und im Ergebnis durch die Werbung die schaÈdigenden Auswirkungen verringert und nicht vermehrt werden. In der Judikatur des VfGH wurde etwa die Bedarfspru È fung fu Èr
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Teil IV. Die Grundrechte
Fahrschulen als ungeeignetes Mittel zur Hebung der Verkehrssicherheit angesehen, weil es ohnedies keinen gesetzlichen Zwang zum Besuch von Fahrschulen gibt (VfSlg 11.276/1987).
48.3.3. Die Notwendigkeit der GrundrechtsbeschraÈnkung 1305 Unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit (Erforderlichkeit) ist zu pru È fen, ob der Staat die gewaÈhrleistete Freiheit nicht in einem groÈûeren Maû einschraÈnkt, als dies zur Erreichung des legitimen Eingriffszieles erforderlich ist. Insofern gibt es ein Gebot des mildesten Mittels, das es dem Staat verwehrt, die Freiheit der Bu È rger u È ber das unbedingt Erforderliche hinausgehend zu beschraÈnken. Ein umfassendes Werbeverbot fu È r Tabakwaren waÈre unter dem Aspekt der Notwendigkeit verhaÈltnismaÈûig, wenn es kein anderes dem Staat zugaÈngliches Mittel gibt, die gesundheitsschaÈdlichen Auswirkungen des Rauchens zuru È ckzudraÈngen, welches die Grundfreiheiten der Bu È rger weniger beeintraÈchtigt. Wenn daher bloûe Warnhinweise auf Zigarettenpackungen, staatliche AufklaÈrungsaktionen oder das Verbot bestimmter Werbeformen ausreichen, um den Konsum von Zigaretten zuru È nnte man die VerhaÈltnismaÈûigkeit eines umfassenÈ ckzudraÈngen, ko den Werbeverbots in Frage stellen. Nach VfSlg 12.689/1991 war die umfassende Registrierung der von Bu È rgern in Videotheken entlehnten Filme zur Sicherung einer Steuerquelle nicht erforderlich und daher verfassungswidrig.
1306 Bei der Beurteilung der Eignung und Notwendigkeit stehen mitunter schwierige AbschaÈtzungen und Prognosefragen an. Insofern ist es anerkannt, dass der Gesetzgeber einen erheblichen Beurteilungsspielraum hat, innerhalb dessen er selbst beurteilen darf, ob eine bestimmte Maûnahme zur Erreichung des angestrebten Zieles tatsaÈchlich etwas beitraÈgt und erforderlich ist. Die gerichtliche Kontrolle durch den VfGH beschraÈnkt sich insoweit auf die Nachpru È fung, ob diese EinschaÈtzung vertretbar ist. Wie sich WerbebeschraÈnkungen auf den Konsum von Zigaretten auswirken, ist umstritten. Wenn man vom Gesetzgeber absolute Gewissheit verlangen wu È rde, mu È sste staatliches Handeln bei ungesicherten Sachverhalten immer unterbleiben. Deshalb darf der Gesetzgeber die fraglichen WerbebeschraÈnkungen schon dann verfu È gen, wenn gute Gru È nde fu È r die Annahme sprechen, dass sie ein geeignetes und notwendiges Mittel des Gesundheitsschutzes sind.
48.3.4. Die AdaÈquanz (VerhaÈltnismaÈûigkeit im engeren Sinn) 1307 Ist eine grundrechtsbeschraÈnkende Regelung im dargelegten Sinn geeignet und notwendig, ist schlieûlich noch ihre AdaÈquanz, dh ihre VerhaÈltnismaÈûigkeit im engeren Sinn, zu pru È fÈ fen. Dabei kommt es auf eine AbwaÈgung der angestrebten o fentlichen Interessen mit dem Gewicht der beeintraÈchtigten Freiheit an. Die BeschraÈnkung der individuellen Freiheit ist nur zulaÈssig, wenn sie durch u È berwiegende Interessen der Allgemeinheit oder u È berwiegende Interessen anderer gerechtfertigt werden kann. In diese Gu È terabwaÈgung sind alle fu È r eine solche Beurteilung notwendigen UmstaÈnde einzustellen, vor allem das Gewicht der vom Staat verfolgten Interessen und das Ausmaû der BeeintraÈchtigung der entgegenstehenden Freiheit: Der Eingriff muss ¹bei einer GesamtabwaÈgung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gru È nde verhaÈltnismaÈûigª erscheinen (so zB der VfGH bei der Beurteilung von Berufsausu È bungsregelungen; zB VfSlg 11.558/ 1987). Zum Schutz gewichtiger Rechtsgu È ter, wie etwa des menschlichen Lebens, muss der Einzelne daher auch unter UmstaÈnden empfindliche EinschraÈnkungen hinnehmen; ist umgekehrt eine grundrechtliche Freiheit in ihrem Kern betroffen, koÈnnen nur Schutzgu È ter von hohem Rang den Eingriff rechtfertigen. Um die mit dem Zigarettenkonsum verbundenen Gesundheitsgefahren wirksam abzuwehren, waÈre ein umfassendes Verbot des Rauchens sicherlich geeignet und nach Ansicht mancher vielleicht auch notwendig. Trotzdem waÈre ein solches Verbot ein so schwerer Eingriff in
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die individuelle Freiheit, dass es ± zumindest nach den heutigen Wertvorstellungen ± schwer vorstellbar waÈre, dass ein solches Verbot als verhaÈltnismaÈûig im engeren Sinn angesehen werÈ brigen den ko È nnte, zumal der Staat auch andere Formen der SelbstgefaÈhrdung hinnimmt. Im U hat der VfGH in seiner ju È ngeren Rspr die AdaÈquanz grundrechtsbeschraÈnkender Regelungen in vielen FaÈllen verneint: etwa im Hinblick auf ein umfassendes System der Wohnraumbewirtschaftung (VfSlg 14.704/1996), einschraÈnkende Ladenschlusszeiten (zB VfSlg 12.094/1989) oder ein ausnahmsloses Verbot von Zweitwohnsitzen (VfSlg 13.964/1994).
Eine Gu È terabwaÈgung, wie sie durch das VerhaÈltnismaÈûigkeitsprinzip vorgegeben 1308 ist, laÈuft auf wertende ErwaÈgungen hinaus. Ob zB die unternehmerische Dispositionsfreiheit im Bereich der LadenoÈffnungszeiten gewichtiger ist als die diesem Anliegen unter UmstaÈnden entgegenstehenden Interessen an einem wirksamen Arbeitnehmerschutz, kann schon wegen des Fehlens u È bergreifender MaûstaÈbe nicht mit absoluter Gewissheit festgestellt werden. Trotzdem darf sich ein Verfassungsgericht, dem die nachpru È fende Kontrolle der gesetzgeberischen Entscheidungen nach Maûgabe ihrer VerhaÈltnismaÈûigkeit aufgetragen ist, diesen Wertungen nicht entziehen und muss sich um eine Offenlegung der tragenden Gesichtspunkte bemu È hen. Einen gewissen Bezugspunkt findet die AbwaÈgungsentscheidung in den GrundsaÈtzen einer 1309 ¹demokratischen Gesellschaftª, wie sie in den materiellen Gesetzesvorbehalten der EMRK angesprochen werden. Damit wird auf die Werte einer freiheitlichen, sozialen und rechtsstaatlichen Demokratie verwiesen, die die Freiheit und Wu È chstwert È rde des Menschen zu ihrem Ho erhoben hat. Diese Werte liefern MaûstaÈbe fu È r die Bewertung der kollidierenden Gu È ter und geben Auskunft u È ber die Art und das Ausmaû der in der europaÈischen Menschenrechtsordnung zulaÈssigen FreiheitsbeschraÈnkungen.
48.3.5. VerhaÈltnismaÈûigkeitsprinzip und Vollziehung Das VerhaÈltnismaÈûigkeitsprinzip ist Maûstab und Grenze fu È r den einfachen Gesetz- 1310 geber, wenn er einer grundrechtlich gewaÈhrleisteten Freiheit Schranken setzt. Das Prinzip der VerhaÈltnismaÈûigkeit bindet aber auch die Gerichte und VerwaltungsbehoÈrden bei der Vollziehung des verfassungskonformen Rechts. Sie sind verpflichtet, die Grundrechte bei der Interpretation und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts zu beachten und unverhaÈltnismaÈûige Eingriffe zu unterlassen. Methodisch handelt es sich dabei um einen Anwendungsfall des Grundsatzes der verfassungskonformen Interpretation (vgl oben Rz 1208), der die Grundrechte zu Einfallspforten fu È r unmittelbar aus der Verfassung abgeleitete AbwaÈgungspflichten werden laÈsst. Die behoÈrdliche Entscheidung im Schutzbereich eines Grundrechts kann daher ver- 1311 fassungswidrig sein, wenn die Verpflichtung zu einer verfassungsgerechten Gu È terund InteressenabwaÈgung u È berhaupt nicht erkannt wurde, daru È ber hinaus hat die Vollziehung sachgerechte, dh mit den betroffenen Grundrechten vereinbare AbwaÈgungskriterien heranzuziehen und die maûgeblichen Kriterien in nachvollziehbarer Weise zu gewichten. Die Richtigkeit der AbwaÈgungsentscheidung selbst unterliegt der nachpru È fenden verfassungsgerichtlichen Kontrolle unter dem Aspekt der È glichkeitª, die der VfGH heute auch dann annimmt, wenn einem Ge¹Denkunmo setz ein verfassungswidriger, naÈmlich die besonderen Eingriffsschranken eines materiellen Gesetzesvorbehalts oder den Grundsatz der VerhaÈltnismaÈûigkeit missachtender, Inhalt zugemessen wird. a) Dies bringt beispielsweise die vom VfGH zu Art 10 EMRK entwickelte ¹Grundrechtsfor- 1312 melª recht deutlich zum Ausdruck: Danach verletzen Verwaltungsakte (Bescheide) dann das Grundrecht der Meinungsfreiheit, wenn sie (a) gesetzlos oder (b) auf der Grundlage eines verfassungswidrigen Gesetzes ergehen oder wenn der BehoÈrde (c) eine ¹denkunmoÈglicheª Gesetzesanwendung vorzuwerfen ist, wobei der VfGH ¹DenkunmoÈglichkeitª auch dann annimmt, wenn die BehoÈrde dem Gesetz faÈlschlich einen verfassungswidrigen, weil die besonderen
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Teil IV. Die Grundrechte
Schranken des Art 10 EMRK missachtenden, Inhalt unterstellt. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die durch den Verwaltungsakt verfu È gte BeschraÈnkung der MeinungsaÈuûerungsfreiheit u È ber das hinausgeht, was zur Erreichung des iS des Art 10 Abs 2 EMRK berechtigten Zwecks notwendig war, sohin dann, wenn der Eingriff in die MeinungsaÈuûerungsfreiheit im Hinblick auf den damit verfolgten berechtigten Zweck unverhaÈltnismaÈûig war (VfSlg 11.996/ 1989, 13.035/1992, 13.122/1992 uva). Die Bestrafung eines ¹Liedermachersª wegen des o È ffentlichen Gebrauchs anstoÈûiger Worte war daher nach VfSlg 10.700/1985 verfassungswidrig, weil das verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Recht auf Freiheit der MeinungsaÈuûerung eine È uûerung als strafbare Anstandsverletzung besondere Zuru È ckhaltung bei der Beurteilung einer A fordert und weil eine demokratische Gesellschaft die in Rede stehenden Formulierungen ohne Schaden fu È r die in Art 10 Abs 2 EMRK enthaltenen Rechtsgu È ter hinnehmen konnte, so dass eine verfassungskonforme Auslegung des angewendeten (verfassungskonformen) Gesetzes zu dem Ergebnis haÈtte fu È hren mu È ssen, dass eine Verletzung des oÈffentlichen Anstandes nicht stattgefunden hat. È rden in erheblichem b) Diese Judikatur des VfGH hat dazu gefu È hrt, dass die Verwaltungsbeho Umfang in eine grundrechtliche Verantwortung genommen und zum Verfassungsvollzug verpflichtet sind. Bei einer ganzen Reihe von Rechtsgebieten kommt diesen AbwaÈgungspflichten eine erhebliche praktische Bedeutung zu; umfassende grundrechtliche AbwaÈgungspflichten treffen nach der Judikatur die BehoÈrden etwa bei der Vollziehung des Fremdenrechts im Hinblick auf die in Art 3 und 8 EMRK gewaÈhrleisteten Grundrechte, bei der Handhabung der versammlungsrechtlichen Befugnisse zur Untersagung oder AufloÈsung von Versammlungen oder bei der verfassungskonformen Interpretation von Regelungen, welche die Erwerbsfreiheit einschraÈnken.
1313 c) Zu einer grundrechtskonformen Rechtsanwendung unter Beachtung des Grundsatzes der
VerhaÈltnismaÈûigkeit sind auch die Gerichte verpflichtet, wenn sie grundrechtsbeschraÈnkende Rechtsvorschriften vollziehen. Dies ist beispielsweise bei der Anwendung des zivil- und strafrechtlichen Ehrenschutzrechts deutlich geworden, bei dessen Interpretation verfassungsrechtliche ErwaÈgungen nicht mehr ausgeblendet werden ko È nnen und das auf InteressenabwaÈgungen angewiesen ist, die ihre maûgeblichen Wertungen aus den betroffenen Grundrechten beziehen (vgl dazu Rz 1474 ff).
48.4. Vorbehaltlose Grundrechte 48.4.1. Absolute Grundrechte 1314 Einzelne Grundrechte sind als vorbehaltlose Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt gewaÈhrleistet. Zum Teil handelt es sich bei ihnen tatsaÈchlich um absolute Grundrechte, die keiner BeschraÈnkung unterworfen werden du È rfen. Ein Mensch darf daher unter keinen UmstaÈnden gefoltert oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung zugefu È hrt werden. Steht daher fest, dass eine bestimmte Form der Misshandlung auf eine Folter oder auf eine unmenschliche (erniedrigende) Behandlung hinauslaÈuft, ist das Grundrecht aus Art 3 EMRK verletzt, ohne dass es auf weitere ErwaÈgungen ankaÈme. Vergleichbares gilt fu È r das Verbot der Sklaverei oder Leibeigenschaft (Art 4 Abs 1 EMRK), das Verbot der Todesstrafe (Art 85 B-VG iVm Art 1 6. ZProtEMRK) und einzelne Freizu È gigkeitsrechte des Staatsbu È rgers nach dem 4. ZProtEMRK. 48.4.2. Ungeschriebene Gesetzesvorbehalte 1315 Einzelne an sich vorbehaltlos gewaÈhrleistete Grundrechte stehen unter einem ungeschriebenen Gesetzesvorbehalt, der sich aus der Systematik des Grundrechtskatalogs ergibt. So ist die Liegenschaftsfreiheit (Art 6 StGG) ihrem Wortlaut nach an sich keinem Gesetzesvorbehalt unterworfen. Trotzdem geht der VfGH davon aus, dass diese in sachlichem Zusammenhang zur Eigentumsgarantie stehende GewaÈhr-
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leistung den gleichen Schranken wie Art 5 StGG unterliegt und dass daher auch gesetzliche BeschraÈnkungen dieser Freiheit im Rahmen des VerhaÈltnismaÈûigen zulaÈssig sind (vgl unten Rz 1569). 48.4.3. Die Schranken der Wissenschafts- und Kunstfreiheit Besonderheiten gelten fu È r die Wissenschaftsfreiheit und die Freiheit der Kunst 1316 (Art 17 und 17a StGG). Mit diesen vorbehaltlos garantierten Grundrechten gewaÈhrleistet die Verfassung sachlich umfassende Freiheitsbereiche ohne ausdru È cklich zu ihrer BeschraÈnkung zu ermaÈchtigen, obwohl weder die Wissenschaft noch die Kunst in einer menschlichen Gesellschaft eine grenzenlose Freiheit in Anspruch nehmen koÈnnten: Dass der Wissenschaftler aus Art 17 StGG weder die Freiheit zu menschenverachtenden Experimenten ableiten noch in einem einsturzgefaÈhrdeten Haus die Freiheit der wissenschaftlichen Lehre beanspruchen du È rfte und dass sich auch ein Ku È nstler nicht u È ber alle Gesetze hinwegsetzen kann, bedarf keiner Begru È ndung. Trotzdem ist die Entscheidung der Verfassung fu È r die Vorbehaltlosigkeit ernst zu nehmen, so dass die Begru È ndung der zulaÈssigen Schranken dieser Grundrechte besondere dogmatische Probleme aufwirft. Wegen der ausdru È cklich gewaÈhrleisteten Vorbehaltlosigkeit koÈnnen diese Grund- 1317 rechte jedenfalls keinem ungeschriebenen Gesetzesvorbehalt unterworfen sein. Ihre Schranken mu È ssen anders bestimmt werden, wobei man in diesem Zusammenhang u È blicherweise von immanenten GewaÈhrleistungsschranken spricht. Auch diese Schranken hat der Gesetzgeber zu bestimmen, dessen ErmaÈchtigung sich allerdings nicht aus einem Gesetzesvorbehalt ableitet; er beschraÈnkt dabei auch nicht einen vorausgesetzten, umfassenden Schutzbereich, sondern grenzt den vorbehaltlos gewaÈhrleisteten Bereich der wissenschaftlichen und ku È nstlerischen BetaÈtigung gegenu È ber anderen Rechtsgu È tern ab. a) Immanente GewaÈhrleistungsschranken ko È nnen sich aus verschiedenen Sachverhalten 1318 ergeben. Immanent begrenzt sind die Freiheit der Wissenschaft und der Kunst zum einen durch ihren sachlichen GewaÈhrleistungsbereich (begrifflich-immanente GewaÈhrleistungsschranken): Die entsprechenden Grundrechte schu È tzen nur wissenschaftliche oder ku È nstlerische BetaÈtigungen; was nicht Kunst oder Wissenschaft ist oder solches zu sein nur vorgibt, liegt von vornherein auûerhalb des Schutzbereichs. b) Immanent begrenzt sind die vorbehaltlosen Grundrechte ferner durch die entgegen- 1319 stehenden Grundrechte anderer Menschen (verfassungsimmanente GewaÈhrleistungsschranken). Wegen des systematischen Zusammenhangs der gleichrangig verbu È rgten verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechte finden die in Art 17 und 17a StGG gewaÈhrleisteten Freiheiten ihre Grenzen an den Vorschriften, die der Gesetzgeber zum Schutz der Grundrechte anderer erlaÈsst. Daher darf der Staat der Forschung am Menschen enge Grenzen setzen oder bestimmte Forschungsmethoden zum Schutz des Lebens und der menschlichen Wu È rde u È berhaupt verbieten (VfSlg 13.635/1993). c) Schlieûlich sind die vorbehaltlosen Grundrechte nur in den Grenzen der allgemeinen Ge- 1320 setze gewaÈhrleistet (sachlich-immanente GewaÈhrleistungsschranken). Weder die Kunst noch die Wissenschaft ko È nnen beanspruchen, von denjenigen allgemein geltenden Gesetzen ausgenommen zu werden, die zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgu È ter erlassen wurden und die sich nicht spezifisch gegen die Kunst oder die Wissenschaft richten. Die Pflicht zur Entrichtung von Steuern, das Gebot zur Beachtung der Vorschriften des Bauordnungsrechts, das Verbot der Vermeidung unnoÈtig stoÈrenden LaÈrms sind beispielsweise solche allgemeinen Gesetze, freilich nur unter der Voraussetzung, dass sie nicht spezifisch in den gewaÈhrleisteten Freiheitsbereich eingreifen und Wissenschaft oder Kunst im Ergebnis nicht unmoÈglich machen. ¹Nichtallgemeine Gesetzeª sind immer verfassungswidrig, wenn sie nicht durch eine im Verfassungsrang stehende Norm gerechtfertigt werden koÈnnen. Weil jede BeschraÈnkung eines grundrechtlich garantierten Freiheitsgebrauchs u È berdies nur im Rahmen des VerhaÈltnismaÈûigen zulaÈssig ist, mu È ssen auûerdem auch die allgemeinen Gesetze, welche die immanenten Schranken der
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Teil IV. Die Grundrechte
Kunst oder Wissenschaft bestimmen, den aus diesem Grundsatz entspringenden Anforderungen entsprechen, dh geeignet, erforderlich und insgesamt adaÈquat sein.
49. Die Durchsetzung der Grundrechte 1321 Es ist ein Wesensmerkmal der Grundrechte, dass der Einzelne die durch sie gewaÈhrten Anspru È che durchsetzen kann, wobei der demokratische Verfassungsstaat den Schutz der Grundrechte in erster Linie den unabhaÈngigen Gerichten u È bertraÈgt. Wenn in diesem Abschnitt auf die wichtigsten Verfahren und Institutionen eingegangen wird, die den Grundrechtsschutz verbu È rgen, handelt es sich weitgehend um Einrichtungen, die bereits an anderer Stelle behandelt wurden. Deshalb kann hier mit einigen wenigen Hinweisen und Verweisen das Auslangen gefunden werden.
È sterreichische Gerichte (UVS) 49.1. Grundrechtsschutz durch o 1322 1. SchraÈnkt der innerstaatliche Gesetzgeber Grundrechte ein, gewaÈhrleistet der VfGH im Verfahren nach Art 140 B-VG den Grundrechtsschutz. Da die Befugnis zur Normenkontrolle beim VfGH monopolisiert ist, handelt es sich dabei um eine ausschlieûliche Kompetenz dieses Gerichtshofs, die zugleich auch seine wichtigste Aufgabe ist (vgl zum Verfahren nach Art 140 B-VG Rz 1071 ff). Das gleiche gilt fu Èr die Kontrolle von VO. Legislative UntaÈtigkeit kann im System des o È sterreichischen Verfassungsrechts nur begrenzt angegriffen werden, so dass es hier zu Lu È cken im Grundrechtsschutz kommen kann (vgl Rz 1077). Bei Rechtsetzungsakten, die durch das EuropaÈische Gemeinschaftsrecht determiniert sind, ist die ZustaÈndigkeit des VfGH eingeschraÈnkt; eine Kontrolle am Maûstab der o È sterreichischen Grundrechte ist nur in dem Umfang moÈglich, als eine ¹doppelte Bindungª besteht (vgl Rz 345 f). 1323 2. Wird durch individuelle Verwaltungsakte in Grundrechte eingegriffen, kann sich der GundrechtstraÈger durch Bescheidbeschwerde an die beiden Gerichtsho È fe des o È ffentlichen Rechts zur Wehr setzen (zum VfGH als Sonderverwaltungsgerichtshof und zur Bescheidbeschwerde an den VwGH vgl Rz 1025 ff und Rz 937 ff). Maûnahmen der verwaltungsbehoÈrdlichen Befehls- und Zwangsgewalt mu È ssen zuvor bei den UVS angefochten werden; ggf kann der Bescheid des UVS beim VfGH oder VwGH bekaÈmpft werden (zu den UVS vgl Rz 896 ff). Gegenu È ber Grundrechtseingriffen, die nicht in Bescheidform ergehen und die nicht mit Befehl und Zwang verbunden sind, kann es wegen des beschraÈnkten Kreises der Anfechtungsobjekte Rechtsschutzlu È cken geben. In einzelnen ZusammenhaÈngen ist auch die Anfechtung zwangsfreier Verwaltungsakte (zB von Informationseingriffen) vorgesehen, in erster Linie durch die Beschwerde an die Datenschutzkommission und die Beschwerde an die UVS nach § 88 Abs 2 SPG, die sich gegen schlichtes Polizeihandeln richtet. 1324 3. Grundrechtsschutz im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist durch die ordentlichen Gerichte und im Rahmen der im Straf- und Zivilprozessrecht vorgesehenen Rechtsmittel zu gewaÈhren. Weil diese Rechtsmittel eine umfassende Beurteilung der RechtmaÈûigkeit richterlicher Entscheidungen vorsehen, ist jedenfalls im Prinzip sichergestellt, dass auch die Wahrung der Grundfreiheiten und Menschenrechte in einem entsprechenden justizfoÈrmigen Verfahren u È berwacht und im Instanzenzug durchgesetzt werden kann. Eine zum VfGH fu È hrende Urteilsverfassungsbeschwerde gegen Entscheidungen der Straf- und Zivilgerichte ist nicht vorgesehen, wird aber immer wieder gefordert (vgl Rz 1004). Grundrechtsschutz durch die ordentlichen È rGerichte ist auch in denjenigen FaÈllen zu gewaÈhren, in denen Verwaltungsbeho den in Befolgung einer richterlichen Anordnung oder einer Bewilligung durch das Gericht taÈtig werden, da insoweit das Einschreiten der BehoÈrden der Ge-
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richtsbarkeit zugerechnet wird. Dies ist vor allem bei gerichtlich bewilligten Hausdurchsuchungen oder Verhaftungen auf der Grundlage der entsprechenden ErmaÈchtigungen in der StPO praktisch bedeutsam.
49.2. Grundrechtsschutz durch andere unabhaÈngige Kontrolleinrichtungen 1. Obwohl der gerichtliche Grundrechtsschutz ganz zentral fu È r die Durchsetzung 1325 der Rechte ist, gibt es Situationen, in denen er zu kurz greift oder einer ErgaÈnzung bedarf. So ist es sinnvoll, in bestimmten Situationen (etwa bei polizeilichen ZwangsÈ bergriffen in die Menschenrechte schon praÈakten oder in der Haft) moÈglichen U ventiv entgegenzuwirken, etwa durch Beratung der Beamten, durch Ausbildungsmaûnahmen oder durch Etablierung gewisser Verhaltensstandards. Besondere È berwachungsmaûnahmen Rechtsschutzprobleme koÈnnen geheime staatliche U aufwerfen, weil hier der Zugang zu den Gerichten erschwert ist, wenn die Betroffenen erst nachtraÈglich u È ber Grundrechtseingriffe informiert werden. Oft scheitert der gerichtsfo È rmige Grundrechtsschutz aber auch an faktischen Barrieren, etwa an der Kostenfrage, so dass den Menschen auf eine andere Art und Weise geholfen werden muss. Daher hat man in den letzten Jahren eine Reihe von unabhaÈngigen Einrichtungen geschaffen, deren Aufgabe es ist fu È r die Durchsetzung der Grundrechte losgeloÈst von oder ergaÈnzend zu den Gerichten zu sorgen. 2. Um im grundrechtlich besonders sensiblen Bereich der Sicherheitspolizei fu È r ei- 1326 nen effektiven Schutz der Menschenrechte zu sorgen, wurde 1999 durch eine Verfassungsbestimmung (§ 15a SPG) ein Menschenrechtsbeirat geschaffen, dessen Aufgabe es ist, die SicherheitsbehoÈrden und die Exekutive zu beraten, zu beobachten und begleitend zu u È berpru È fen. È sterreich vom Internationalen Komitee Die Einrichtung eines unabhaÈngigen Beirats wurde O zur Verhinderung der Folter empfohlen, wobei der Tod eines SchubhaÈftlings bei der Abschiebung den letztlich entscheidenden Anstoû gab. Dem Menschenrechtsbeirat gehoÈren 11 weisungsfrei gestellte Mitglieder an, in ihm sind auch nichtstaatliche Organisationen aus dem Bereich des Menschenrechtsschutzes vertreten. Der Beirat arbeitet Empfehlungen fu È r die polizeiliche Praxis aus, untersucht gravierende strukturelle Problemlagen und erstellt Berichte fu È r den Innenminister. Die begleitende Kontrolle ¹vor Ortª wird durch regionale Kommissionen wahrgenommen, die etwa regelmaÈûig HaftraÈume kontrollieren und an polizeilichen Amtshandlungen teilnehmen. Zu den AktivitaÈten des Menschenrechtsbeirats und zu den von ihm erstellten Berichten und Empfehlungen siehe www.menschenrechtsbeirat.at.
3. Als erstmals zu Zwecken der VerbrechensaufklaÈrung besondere technisch unter- 1327 stu È tzte Ermittlungsmaûnahmen eingefu È hrt wurden, mit denen massive Grundrechtseingriffe verbunden sein koÈnnen (Lausch- und SpaÈhangriffe, Rasterfahndung), galt es, eine drohende Rechtsschutzlu È cke zu schlieûen: Weil diese Maûnahmen in È berwachten und anderen Beteiligten zumindest voru der Regel vor dem U È bergehend geheim gehalten werden mu È ssen, wird in Grundrechte eingegriffen, ohne dass die Betroffenen die Gerichte anrufen koÈnnen; auch die stets mo È gliche Gefahr eines Missbrauchs der besonderen Ermittlungsmaûnahmen erfordert eine effektive Kontrolle, die auch verfassungsrechtlich geboten sein kann um ein gesetz- und verhaÈltnismaÈûiges Vorgehen zu sichern. Daher wurde erstmals im Rahmen der StPO ein unabhaÈngiger Rechtsschutzbeauftragter installiert, der vor allem die Anordnung und Durchfu È hrung von AbhoÈraktionen, von Lausch- und SpaÈhangriffen sowie von Rasterfahndungen u È berwacht, wobei gewisse Maûnahmen seiner Zustimmung bedu È rfen. Nach diesem Vorbild wurden Èahnliche Rechtsschutzbeauftragte auch fu È r den Bereich der Sicherheitspolizei und der militaÈrischen Nachrichtendienste geschaffen, denen die Kontrolle von verdeckten Ermittlungsmaûnahmen (¹kleineª Lausch- und SpaÈhangriffe) nach dem
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Teil IV. Die Grundrechte
SPG und dem MBG obliegt: Ihre Aufgaben wurden schrittweise ausgeweitet und so u È berwacht der Rechtsschutzbeauftragte nach dem SPG nunmehr auch weitere EinsaÈtze der Sicherheitspolizei (etwa die Videou È berwachung an ¹KriminalitaÈtsbrennpunktenª oder die verdeckte Erfassung von Autokennzeichen). Damit Rechtsschutzbeauftragte die in sie gesetzten Erwartungen erfu È nnen, mu È llen ko È ssen sie u È ber effektive Aufsichtsmittel und eine ausreichende Ausstattung verfu È gen und tatsaÈchlich unabhaÈngig sein (zu den MaÈngeln im Bereich des MBG vgl VfSlg 17.102/2004). Die den Rechtsschutzbeauftragten eingeraÈumte Weisungsfreiheit ist sachlich geboten und sie kann sich, soweit sie einfachgesetzlich verankert ist, auf Art 20 Abs 2 Z 2 B-VG stu È tzen.
1328 4. Um Menschen zu helfen, die sich diskriminiert fu È hlen und um diese bei der Durchsetzung ihrer Rechte zu unterstu È tzen, wurde im Rahmen des GleichbehandlungsG (GlBG) eine Anwaltschaft fu È r Gleichbehandlung eingerichtet (vgl das GBK/GAW-Gesetz BGBl I 2004/66 idgF). Sie fungiert als eine Art von Ombudsstelle im Bereich des Diskriminierungsschutzes; abgesehen von der Beratung diskriminierter Menschen haben die AnwaÈltinnen und AnwaÈlte fu È r Gleichbehandlung das Recht der Antragstellung an die Gleichbehandlungskommission bzw an die Verwaltungsstrafbeho È rden und sie koÈnnen auch Betroffene vor der Gleichbehandlungskommission vertreten (vgl zum Diskriminierungsschutz Rz 1682). Zur Beratung und Unterstu È tzung von behinderten Menschen, die sich diskriminiert fu È hlen, gibt es einen unabhaÈngigen Behindertenanwalt (BundesbehindertenG BGBl 1990/283 idgF).
49.3. Grundrechtsschutz durch den EuropaÈischen Gerichtshof fu È r Menschenrechte 1329 1. Zusammen mit der Verabschiedung der EMRK wurde im Jahr 1955 der bis heute wirkungsvollste und erfolgreichste internationale Kontrollmechanismus zum È lkerrechtlich verbindlichen europaÈischen Grundrechte geSchutz der vo schaffen: Der Einzelne kann wegen einer behaupteten Verletzung der in der Konvention gewaÈhrleisteten Grundfreiheiten und Menschenrechte eine Individualbeschwerde einbringen, u È ber die ein internationales Gericht, der EuropaÈische Gerichtshof fu È r Menschenrechte (EGMR), entscheidet. Weil diese Beschwerde erst nach ErschoÈpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges zulaÈssig ist, ergaÈnzt der EGMR den nationalen Grundrechtsschutz, wirkt zugleich aber auch als eine weitere Instanz, die gegen Urteile der nationalen Gerichte angerufen werden kann. Auch È sterreichs haben wichtige Entscheidungen des EGMR als Katalysator fu im Fall O Èr die Effektuierung der Grundrechte gewirkt und AnstoÈûe fu È r zT weit reichende Reformen in wichtigen Rechtsbereichen gegeben (zB im Strafprozessrecht, beim Verwaltungsrechtsschutz, in Form einer Liberalisierung des Beleidigungsrechts oder bei der Beseitigung des Rundfunkmonopols). Die Interpretation der Konventionsrechte durch den EGMR genieût hohe AutoritaÈt und sie wird auch von den o È sterreichischen HoÈchstgerichten im Allgemeinen strikt beachtet. Im Folgenden werden nur die Grundzu È ge der Organisation des EGMR und seines Verfahrens geschildert. Hinsichtlich der Einzelheiten ist auf die einschlaÈgigen Lehrbu È cher zu verweisen.
1330 2. Der EGMR setzt sich entsprechend der Zahl der Vertragsstaaten der EMRK aus gegenwaÈrtig 47 Richterinnen und Richtern zusammen. Sie werden auf der Grundlage von DreiervorschlaÈgen der Staaten von der Beratenden Versammlung des Europarats gewaÈhlt und sie u È ben dieses Amt hauptberuflich aus (Art 19 ff EMRK). Der Gerichtshof tagt staÈndig; er entscheidet in Kammern, die mit 7 Richtern besetzt sind, sowie durch eine Groûe Kammer, der 17 Richter angehoÈren. Eine Art von Filterfunktion haben 3-er-Ausschu È sse, die Individualbeschwerden fu È r unzulaÈssig erklaÈren koÈnnen. Ansonsten werden die Beschwerden von den Kammern entschieden; gegen ihre Entscheidungen ko È nnen die Parteien (Beschwerdefu È hrer, Staat) die Verweisung an die Groûe Kammer beantragen,
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wenn ein Fall schwerwiegende Auslegungsfragen aufwirft (die beantragte Verweisung bedarf der Annahme durch einen 5-er-Ausschuss; vgl Art 43 EMRK; daneben gibt es noch die Abgabe an die Groûe Kammer nach Art 30 EMRK, wenn eine Kammer das beschlieût).
3. Der Gerichtshof fu È r Menschenrechte kann im Wege einer Staatenbeschwerde 1331 oder durch jede natu È rliche Person, nichtstaatliche Organisation oder Personenvereinigung im Wege der Individualbeschwerde angerufen werden (Art 33 und 34 EMRK). Die internationale Menschenrechtsbeschwerde ist nur ein subsidiaÈrer Rechtsbehelf, da der Schutz der Menschenrechte in erster Linie eine Aufgabe der einzelnen nationalen Staaten ist. Daher kann die Beschwerde erst nach ErschoÈpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe eingebracht werden; die Einbringung darf nicht spaÈter als sechs Monate nach Ergehen der endgu È ltigen innerstaatlichen Entscheidung erfolgen (Art 35 EMRK). Der befasste Ausschuss kann eine Beschwerde einstimmig fu È r unzulaÈssig erklaÈren, wenn ohne weitere Pru È fung bereits entschieden werden kann, dass sie mit Bestimmungen der Konvention unvereinbar oder ¹offensichtlich unbegru È ndetª ist oder wenn sie einen Missbrauch des Beschwerderechts darstellt (Art 28 und 35 EMRK). Diese Entscheidung ist endgu È ltig. Ansonsten entscheidet eine Kammer idR nach Durchfu È hrung einer mu È ndlichen Verhandlung u È ber die ZulaÈssigkeit und Begru È ndetheit der Beschwerde. Einzelheiten des Verfahrens sind in einer vom Plenum des Gerichtshofs erlassenen Verfahrensordnung festgelegt.
Die Urteile des Gerichtshofs sind endgu È ltig. Wird eine Konventionsverletzung 1332 festgestellt, kann der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte EntschaÈdigung zusprechen (Art 41 EMRK). Die Staaten sind verpflichtet das rechtskraÈftige Urteil mit den ihnen zur Verfu È gung stehenden innerstaatlichen Mitteln zu erfu È llen und È berwachung der Durchfu ggf auch die Rechtsordnung anzupassen. Die U È hrung obliegt dem Ministerkomitee. Im Einzelnen kann die Frage nach den innerstaatlichen Wirkungen der Entscheidungen des EGMR schwierige Fragen aufwerfen. Die verbindliche Wirkung bezieht sich jedenfalls nur auf den Einzelfall. Eine Entscheidung des Gerichtshofs kann konventionswidrige Gesetzesbestimmungen weder aufheben noch abaÈndern und auch die allfaÈllige Aufhebung einer innerstaatlichen Entscheidung bleibt den nationalen BehoÈrden u È berlassen, weil im Urteil des EGMR nur die Tatsache einer Konventionsverletzung festgestellt wird. Um dem Urteil zu entsprechen mu È ssen sich die Vertragsstaaten der entsprechenden Mittel des inlaÈndischen Rechts bedienen. So sieht § 363a StPO beispielsweise eine Erneuerung des Strafverfahrens vor, wenn durch ein Urteil des EGMR festgestellt wurde, dass durch eine Entscheidung oder Verfu ÈÈ ber den gung eines Strafgerichts die Konvention oder eines ihrer ZProt verletzt worden ist. U entsprechenden Antrag entscheidet der OGH (vgl VfSlg 16.747/2002).
4. Nachdem der EMRK in den Jahren seit 1990 zahlreiche neue Mitglieder aus 1333 dem fru È heren kommunistischen Europa beigetreten sind, ist der EGMR heute ein internationaler Grundrechtsgerichtshof, der Menschenrechtsbeschwerden aus 47 Staaten entgegenzunehmen hat, in denen mehr als 800 Millionen Menschen leben. In den letzten Jahren wurden rd 40.000 Beschwerden pro Jahr an den Gerichtshof herangetragen, der laÈngst an den Grenzen seiner KapazitaÈt angelangt ist. Obwohl das Straûburger Beschwerdesystem bereits durch das 11. ZProtEMRK im Jahr 1998 grundlegend reformiert wurde, ist eine weitere Reform unabweisbar, wenn der EGMR weiter seine Aufgabe erfu È llen koÈnnen soll. Durch ein im Jahr 2004 zur Ratifikation aufgelegtes 14. Zusatzprotokoll soll es zu einer Beschleunigung der Verfahren und einer Entlastung des Gerichtshofs kommen (ZulaÈssigkeitspru È fung durch einen Einzelrichter, Entscheidungen durch ein 3-Richter-Komitee bei etablierter Rspr, MoÈglichkeit der Zuru È ckweisung von Beschwerden, wenn dem Beschwerdefu È hrer durch die behauptete Verletzung kein erheblicher Nachteil entstanden ist). Das 14. ZProtEMRK ist wegen der fehlenden Ratifikation durch einen Mitgliedstaat (Russland) bisher nicht in Kraft getreten.
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Teil IV. Die Grundrechte
AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zu den Abschnitten 48±49: VfSlg 3118/1956: Eines jener Èalteren Erkenntnisse (zur Verstaatlichungs-Gesetzgebung), in dem sich der VfGH zu einem auch dem Gesetzgeber unzugaÈnglichen ¹Wesensgehaltª einzelner Grundrechte bekannt hat. VfSlg 10.718/1985, 12.689/1991, 14.704/1996: Drei Entscheidungen, bei denen sich die dem VerhaÈltnismaÈûigkeitsprinzip immanenten Anforderungen (Eignung, Notwendigkeit, AdaÈquanz) gut studieren lassen (Werbeverbot fu È r Kontaktlinsenoptiker, Aufzeichnungspflicht beim Verleih von Videofilmen, umfassendes System der Wohnraumbewirtschaftung). VfSlg 15.109/1998: Die grundrechtliche Beurteilung von zwangsfreien staatlichen Maûnahmen, die in eine FreiheitssphaÈre eingreifen (hier die Beurteilung polizeilicher Videoaufnahmen), ist immer noch umstritten, wie diese problematische Entscheidung zeigt. VfSlg 15.632/1999: Lesen Sie die interessante Entscheidung des VfGH zum Verbot der heterologen In-vitro-Fertilisation: Welche Bedeutung hatte die groûzu È gige EinschaÈtzung des rechtspolitischen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers bei ¹neuen medizinischen Verfahrenª fu È r den Ausgang des Rechtsstreits? VfSlg 14.555/1996: Zur Durchsetzung der Vereins- und Versammlungsfreiheit bei SaÈumnis ± ist eine SaÈumnisbeschwerde zulaÈssig? VfSlg 17.102/2004: Zu den Aufgaben eines Rechtsschutzbeauftragten im grundrechtlich sensiblen Bereich der militaÈrischen Nachrichtendienste und zu den Erfordernissen einer effektiven Kontrolle. Zur Vertiefung: Zu den Grundrechtsschranken und -eingriffen: Berka, Die GesetzesvorbeÈ R 1986, 71; ders, Das allgemeine halte der EuropaÈischen Menschenrechtskonvention, ZO Gesetz als Schranke der grundrechtlichen Freiheit, in: Koja-FS (1998) 221; Holoubek, Die Struktur der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte (1997); ders, Der Grundrechtseingriff, DVBl 1997, 1031; Kokott, Grundrechtliche Schranken und Schrankenschranken, in: Merten/Papier (Hrsg), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Bd 1 (2004) 853; Korinek, Gedanken zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt bei Grundrechten, in: Korinek, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit (2000) 1; R. Novak, VerhaÈltnismaÈûigkeitsgebot und Grundrechtsschutz, in: G. Winkler-FS (1989) 39; PoÈschl/Kahl, Die IntentionalitaÈt È JZ 2001, 41; Stelzer, ± ihre Bedeutung und Berechtigung in der Grundrechtsjudikatur, O Das Wesensgehaltsargument und der Grundsatz der VerhaÈltnismaÈûigkeit (1991). Zur Durchsetzung der Grundrechte: Evers, Zur Stellung der oÈsterreichischen VerfassungsÈ ller und gerichtsbarkeit im Gefu È ge der Staatsfunktionen, DVBl 1980, 779; Korinek, Mu Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefu È ge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981) 7, 53 und 99; Korinek/Dujmovits, Grundrechtsdurchsetzung und Grundrechtsverwirklichung, in: Merten/Papier (Hrsg), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Bd 1 (2004) 909; PoÈschl, Der Menschenrechtsbeirat, JRP 2001, 47; Ringhofer, È ber Grundrechte und deren Durchsetzung im innerstaatlichen Recht, in: Hellbling-FS U È R 1999, 71; Vogl, Der RechtsÈ ffer/Jahnel, Der Schutz der Grundrechte, ZO (1981) 355; Scha È sterreich (2004). schutzbeauftragte in O
3. Kapitel: Die einzelnen Grundrechte È sterreichischen In den folgenden Abschnitten werden die Grundrechte des o Verfassungsrechts naÈher dargestellt. Dabei wird am Beginn jeweils auf die maûgeblichen Rechtsquellen hingewiesen, in denen das entsprechende Grundrecht verankert ist. Daran anschlieûend werden der Schutzbereich und die Schranken des Grundrechts und die wichtigsten AnwendungsfaÈlle behandelt. Weil die EMRK die wichtigste Grundrechtsquelle fu È sterreichische Verfassungsrecht ist und È r das o zugleich die maûgebliche Grundlage fu È r die Grundrechte der EuropaÈischen Union, lassen sich viele Aussagen zu den nationalen Grundrechten auch auf die im Recht der EU geltenden Grundrechte u È bertragen. Auf allfaÈllige Besonderheiten dieser Rechte wird aufmerksam gemacht. Die Fundstellen der EU-Grundrechte in der EuropaÈischen Grundrechtscharta (EGC) werden einleitend bei den Rechtsquellen ausgewiesen.
50. Die Grundrechte der Person Die menschenwu È rdige Existenz des Menschen, seine koÈrperliche und psychische In- 1334 tegritaÈt, seine persoÈnliche Freiheit und der Schutz seiner religioÈsen und weltanÈ berzeugungen stehen im Zentrum des grundrechtlichen Schutzschaulichen U systems. Zu dieser engsten persoÈnlichen SphaÈre gehoÈren auch das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der Schutz sonstiger GeheimsphaÈren. Diese Rechte werden hier als Grundrechte der Person zusammengefasst.
50.1. Das Recht auf Leben Rechtsquellen: Art 85 B-VG; Art 2 EMRK; Art 1 6. ZProtEMRK; Art 1 13. ZProtEMRK; Art 2 EGC. Das Recht des Menschen auf Achtung seines Lebens ist das existentiellste Grund- 1335 recht. Seine ganze Tragweite wurde durch den staatlich organisierten Mord im menschenverachtenden totalitaÈren System des Nationalsozialismus sichtbar, der vor der Vernichtung ¹lebensunwertenª oder ¹rassisch wertlosenª Lebens nicht zuruÈckgeschreckt hat. Das StGG hat wie auch andere Èaltere Verfassungen dieses Recht nicht ausdru È cklich garantiert, wohl aber stillschweigend vorausgesetzt. Ausdru È cklich gewaÈhrleistet wurde das Recht auf Leben durch Art 2 EMRK. Im EU-Recht wird das Recht auf Leben in Art 2 EGC angesprochen und durch das Recht auf È rperliche und geistige Unversehrtheit (Art 3 EGC) ergaÈnzt, das u ko È ber Art 2 und Art 3 EMRK hinausgeht und das auch bestimmte medizinische Praktiken verbietet (zB Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen). Art 19 Abs 2 EGC verbietet in Konkretisierung des Rechts auf Leben die Auslieferung in einen Staat, in dem die Todesstrafe droht.
50.1.1. Der Schutzbereich 1. Aus Art 85 B-VG iVm Art 2 EMRK sowie dem 6. und 13. ZProtEMRK ergibt sich das 1336 absolute, uneinschraÈnkbare Recht jedes Menschen nicht zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet zu werden (VfSlg 13.981/1994). Dieses Recht ist auch bei der Auslieferung und Ausweisung eines Fremden zu respektieren, die daher unzulaÈssig sind, wenn einem Menschen im Empfangsstaat die Todesstrafe droht (VfSlg 13.981, 13.995/1994).
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1337 2. Abgesehen von der aus Art 85 B-VG folgenden UnzulaÈssigkeit der Todesstrafe anerkennt Art 2 EMRK das Lebensrecht des Menschen und verpflichtet den Staat, dem Leben gesetzlichen Schutz zu gewaÈhren. In das Recht auf Leben wird jedenfalls durch eine absichtliche ToÈtung oder lebensgefaÈhrliche Bedrohung eingegriffen, etwa durch eine staatlich praktizierte Euthanasie, eine ToÈtung im Rahmen polizeilicher Amtshandlungen, durch die VernachlaÈssigung eines in staatlicher Aufsicht befindlichen Menschen, die zu seinem Tod fu È hrt, oder durch eine Verpflichtung zu einer lebensgefaÈhrlichen TaÈtigkeit. Der ToÈtung gleichzuhalten sind lebensbedrohende GesundheitsbeeintraÈchtigungen. Auch der lebensgefaÈhrliche Schusswaffengebrauch ist ein Eingriff in das Recht auf Leben, und zwar auch dann, wenn der Tod eines Menschen nicht beabsichtigt ist (VfSlg 17.046/2003). Das Recht auf Leben kann auch durch Unterlassungen verletzt werden, so etwa wenn ein HaÈftling durch unterlassene Èarztliche Versorgung verstirbt (VfSlg 16.638/2002). 1338 a) GeschuÈtzt ist das Lebensrecht jedes Menschen vom Beginn seiner koÈrperlich-geistigen
Existenz bis zu seinem Tod. Nach dem Tod koÈnnen nahe AngehoÈrige das Lebensrecht des Verstorbenen geltend machen (VfSlg 16.109, 16.179/2001; vgl Rz 1236).
1339 b) Das Recht auf Leben kommt auch dem Embryo zu, zumindest ab dem Zeitpunkt seiner Ent-
wicklung zu einem mit IndividualitaÈt ausgestatteten lebensfaÈhigen menschlichen Wesen. Die umstrittene Frage nach der Reichweite des grundrechtlichen Lebensschutzes noch nicht geborener Menschen ist nach den Erkenntnissen der einschlaÈgigen Wissenschaften zu beantÈ berwiegend wird angenommen, dass der Grundrechtsschutz jedenfalls vom 14. Tag worten. U nach der EmpfaÈngnis (Nidation, Individuation) an besteht. Die heutigen biomedizinischen MoÈglichkeiten (zB In-vitro-Befruchtung) werfen hier neue Probleme auf. Der VfGH ist in VfSlg 7400/1974 noch davon ausgegangen, dass sich Art 2 EMRK auf das noch ungeborene Leben u È berhaupt nicht bezieht; seine dafu È r gegebene Begru È ndung ist nicht u È berzeugend. Freilich bildet sich die menschliche IndividualitaÈt in geistiger und koÈrperlicher Hinsicht beim Embryo in einem Entwicklungsprozess heraus, was dann eine Rolle spielen kann, wenn eine AbwaÈgung mit konkurrierenden Rechtsgu È tern zulaÈssig und erforderlich ist (vgl im Folgenden Rz 1344). Der EGMR hat die Frage nach dem Grundrechtsschutz Ungeborener auch in seiner ju È ngeren Rspr offen gelassen.
50.1.2. Grundrechtsschranken und -eingriffe È sterreich jedenfalls verbotenen Todesstrafe laÈsst Art 2 Abs 2 1340 Abgesehen von der fu Èr O È tung eines Menschen in den folgenden FaÈllen zu: EMRK eine To . im Fall der Notwehr (lit a), . zur Sicherung einer ordnungsgemaÈûen Festnahme oder zur Verhinderung der Flucht eines Festgenommenen (lit b), . zur Unterdru È ckung eines Aufruhrs oder eines Aufstands im Rahmen der Gesetze (lit c). Diese EingriffsermaÈchtigungen beziehen sich auf staatliche Zwangsakte, die wegen Art 18 B-VG jedenfalls gesetzlich vorgesehen sein mu È ssen. Weil in diesem Rahmen nur eine ¹unbedingt erforderliche Gewaltanwendungª zulaÈssig ist, mu È ssen sie daru È ber hinaus dem strikt anzuwendenden Grundsatz der VerhaÈltnismaÈûigkeit entsprechen. 1341 Eine wichtige innerstaatliche Ausgestaltung der in Art 2 Abs 2 EMRK verankerten Eingriffser-
maÈchtigung ist das WaffengebrauchsG, das sich nicht nur im Rahmen des Grundrechts haÈlt, sondern zum Teil strengere Anforderungen aufstellt. Nach der Rspr des VfGH verstoÈût der nach dem WaffengebrauchsG unter gewissen UmstaÈnden erlaubte lebensgefaÈhrliche Waffengebrauch durch ein Polizeiorgan nicht gegen das Recht auf Leben, sofern die VerhaÈltnismaÈûigkeit gewahrt ist (VfSlg 8082/1975). Angesichts der Bedeutung des Rechts auf Leben sind an die Erforderlichkeit einer lebensbedrohenden staatlichen Zwangsmaûnahme freilich besonders strenge Anforderungen zu stellen (VfSlg 15.046/1997). Dies bedingt auch entsprechend sorg-
3. Kapitel: Die einzelnen Grundrechte
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faÈltige Ermittlungspflichten der BehoÈrden einschlieûlich der UVS, wenn gegen einen lebensbedrohenden Schusswaffengebrauch Beschwerde erhoben wird (VfSlg 17.257/2004), sowie eine entsprechende Ausbildung und Anleitung der EinsatzkraÈfte (EGMR, Makaratzis, NL 2005, 6).
50.1.3. Die staatliche Schutzpflicht Art 2 EMRK verpflichtet den Staat sich schu È tzend und foÈrdernd vor das menschliche 1342 Leben zu stellen, auch wenn es um GefaÈhrdungen von nicht-staatlicher Seite geht. Die naÈhere Reichweite dieser Schutzpflicht ist freilich nicht eindeutig abzugrenzen; letztlich ist hier ein erheblicher Gestaltungsspielraum des einfachen Gesetzgebers anzuerkennen. a) Der im Rahmen der strafrechtlichen Bestimmungen u È ber strafbare Handlungen gegen Leib 1343
und Leben (§§ 75 ff StGB) gewaÈhrleistete Lebensschutz ist eine wichtige Ausgestaltung der Schutzpflicht. In diesen Rahmen ist auch die Notwehrbestimmung des § 3 StGB einzuordnen, die auch zum Schutz von Rechtsgu È tern, die dem Leben untergeordnet sind, angemessene Verteidigungsmaûnahmen erlaubt. Grundrechtlich geboten ist auch die GewaÈhrleistung einer effektiven Durchsetzung des Lebensschutzes, etwa durch entsprechenden polizeilichen Schutz und durch andere rechtliche und tatsaÈchliche Maûnahmen. Art 2 EMRK begru È ndet daher zB eine Pflicht des Staates, bei MordanschlaÈgen wirksame Untersuchungen durchzufu È hren, praÈventive Maûnahmen zum Schutz gefaÈhrdeter Personen zu setzen und u È berhaupt alles zu unternehmen, dass das Leben der Menschen im Staat keinem vermeidbaren Risiko ausgesetzt wird; auch ein wirksames Justizsystem, das etwa bei Èarztlichen Behandlungsfehlern entsprechende Anspru È che gibt, ist grundrechtlich geboten (vgl zu diesen Schutzpflichten vor alÈ JZ lem die Judikatur des EGMR, zB EGMR, Osman, RJD 1998-VIII, 3124; EGMR, Cakici, O È JZ 2002, 274; EGMR, Calvelli und Ciglio, O È JZ 2002, 307). Im 2000, 474; EGMR, Streletz ua, O Bereich des Schutzes des Lebens vor den GefaÈhrdungen der modernen Zivilisation (Verkehr, Umweltschutz, Atomenergie, Gentechnologie usw) hat der Staat einen besonders weit gespannten rechtspolitischen Gestaltungsspielraum. Nur in extremen FaÈllen waÈre es denkbar, dass die Schutzpflicht in diesen ZusammenhaÈngen verfassungsrechtlich eindeutig greifbar wird, etwa wenn ein Schutz vor erkennbaren GefaÈhrdungen gaÈnzlich unterlassen oder ein bestehendes Schutzniveau drastisch abgesenkt wu È rde (zu einer Verletzung des Rechts auf Leben wegen ungenu È gender Vorsorge vor Naturkatastrophen vgl EGMR, Budayeva, NL 2008, 73).
b) Die Straflosigkeit des in § 97 StGB vorgesehenen Schwangerschaftsabbruchs wegen einer 1344 ernsten Gefahr fu È r das Leben oder die Gesundheit der Mutter oder der Gesundheit des Kindes ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt, weil in diesen FaÈllen dem Lebensrecht des Kindes ein gleichgewichtiges Rechtsgut entgegensteht. Problematisch bleibt dagegen die Rechtfertigung È sungª in mehrfacher Hinsicht: Zum einen ist es strittig, ob das Selbstbestimder ¹Fristenlo mungsrecht der Frau, das grundrechtlich unter anderem eine Grundlage in Art 8 EMRK findet, gegenu È ber dem Recht des Embryos auf Leben u È berwiegt. Zum anderen ist einzuraÈumen, dass der Gesetzgeber auch andere Mittel als ein in seiner Wirksamkeit und sozialen Akzeptanz fragwu È rdiges strafrechtliches Verbot vorsehen darf, um der ihm obliegenden Schutzpflicht nachzukommen. Realistisch betrachtet hat allerdings die ¹FristenloÈsungª den Lebensschutz des Embryos in seinen ersten drei Lebensmonaten weitgehend beseitigt. c) Die staatliche Schutzpflicht begrenzt auch die ZulaÈssigkeit der Sterbehilfe, weil der nicht 1345 mehr zur Selbstbestimmung faÈhige Sterbende davor geschu È tzt werden muss, dass andere u È ber sein Leben verfu È gen. Andererseits muss der Staat auch die freie Selbstbestimmung des Einzelnen respektieren. Die damit verbundenen Probleme sind nicht leicht zu loÈsen. Ein Recht auf den Tod (zB Recht auf SelbsttoÈtung oder Beihilfe dazu) kann aus Art 2 EMRK nicht abgeleitet È JZ 2003, 311). werden (EGMR, Pretty, O
50.2. Das Folterverbot und das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung Rechtsquellen: Art 3 EMRK; Art 1, 4 EGC. Das Verbot der Folter und einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder 1346 Behandlung schu È tzt den Anspruch des Menschen auf Achtung der ihm zukommen-
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Teil IV. Die Grundrechte
den menschlichen Wu È rde. Auch dieses Grundrecht ist eine Reaktion auf die Verbrechen der modernen totalitaÈren Systeme, welche die Menschenwu È rde mit Fu È ûen getreten haben. Es zielt gleichwohl u È ber diese historischen Bedrohungen hinaus und will den Menschen in umfassender Weise davor bewahren zum bloûen Objekt staatlicher Zwangsmaûnahmen gemacht zu werden. 1347 a) Dem Verbot des Art 3 EMRK entspricht kein Grundrecht des nationalen oÈsterreichischen
Grundrechtskatalogs. Der VfGH und der OGH gehen aber davon aus, dass die Menschenwu È rde einen ungeschriebenen ¹allgemeinen Wertungsgrundsatzª der oÈsterreichischen Rechtsordnung darstellt (VfSlg 13.635/1993; OGH 14.4.1994, 10 Ob 501/94, JBl 1995, 46). Weil letztlich alle Grundrechte ihre gemeinsame Mitte im Schutz der menschlichen Wu È rde haben, kann man daru È ber hinausgehend von einem umfassenden grundrechtlichen Schutz der Menschenwu È rde ausgehen. Seine praktische Bedeutung liegt in der GewaÈhrleistung eines unantastbaren Kernbereichs (¹Menschenwu È rdekernsª), den es bei allen Grundrechten gibt und in den der Staat nicht eingreifen darf. Seine Reichweite muss bei jedem Grundrecht gesondert herausgearbeitet werden.
1348 b) In der Form eines ausdruÈcklichen Grundrechts wird die menschliche WuÈrde in Art 1 EGC geschu È nnen auch Bedrohungen der menschlichen Wu È tzt. Damit ko È rde erfasst werden, die nicht in den Schutzbereich eines besonderen Grundrechts fallen (zB eine GefaÈhrdung der existentiellen materiellen Lebensgrundlagen eines Menschen).
50.2.1. Der Schutzbereich 1349 1. Art 3 EMRK verankert mehrere Verbote, die nach dem Schweregrad der zugefu È gten Leiden bzw Erniedrigung abgestuft sind (Folterverbot, Verbot der unmenschlichen Strafe oder Behandlung bzw der erniedrigenden Strafe oder Behandlung). Dabei handelt es sich um absolute Verbote; weil jeder staatliche Eingriff in diese GewaÈhrleistungen verfassungswidrig ist, kommt der Abgrenzung ihrer Schutzbereiche besondere Bedeutung zu. a) Als verbotene Folter ist die Zufu È gung schwerer physischer oder psychischer Leiden durch staatliche Organe anzusehen, die dazu dienen von der betroffenen Person oder von dritten Personen Informationen oder ein GestaÈndnis zu erhalten. LosgeloÈst von einem solchen Zweck kann auch eine Misshandlung durch staatliche Sicherheitsorgane (zB Vergewaltigung eines HaÈftlings) eine derart schwere Form der Misshandlung sein, dass sie auf eine Folter iS von Art 3 EMRK hinauslaÈuft (EGMR, Aydin, NL 1997, 223). b) Gegen das Verbot einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung verstoÈût nach der Rspr des VfGH ein Zwangsakt dann, wenn in ihm eine die Menschenwu È rde beeintraÈchtigende gro È bliche Missachtung des Betroffenen als Person zum Ausdruck kommt (zB VfSlg 11.687/1988, 12.271/1990 ua). Eine Behandlung ist dann ¹erniedrigendª, wenn sie im Opfer Gefu È hle der Angst, der Ohnmacht oder der Minderwertigkeit erzeugt, welche herabwu È rdigen oder demu È tigen. Sie ist ¹unmenschlichª, wenn sie absichtlich heftigen koÈrperlichen oder seelischen Schmerz bewirkt und den Menschen dadurch erniedrigt.
1350 2. Polizeiliche Zwangsmaûnahmen verstoûen dann gegen Art 3 EMRK, wenn sie nicht Maû haltend und nicht verhaÈltnismaÈûig sind, dh u È ber das nach Lage der Dinge Gebotene hinausgehen. Ein im Rahmen des WaffengebrauchsG liegender Waffengebrauch kann daher das Grundrecht nicht verletzen (VfSlg 10.427/1985); andererseits verletzt ein dem (einfachgesetzlichen) WaffengebrauchsG widersprechender Akt das Grundrecht des Art 3 EMRK nur unter der weiteren qualifizierenden Voraussetzung, dass eine ¹groÈbliche Missachtung des Betroffenen als Personª hinzutritt (VfSlg 10.546/1985, 12.596/1991). Bei behaupteten Misshandlungen durch Polizeiorgane trifft den Staat eine besondere Beweislast; kommt es zu Verletzungen waÈhrend einer Polizeihaft, haben die BehoÈrden nachzuweisen, dass diese nicht durch die Polizei zugefu È gt wurden (EGMR, Ribitsch, EuGRZ 1996, 504). Auch der VfGH betont die È berNotwendigkeit zielfu È hrender Ermittlungsmaûnahmen bei behaupteten U griffen durch Staatsorgane (zB VfSlg 15.372/1995).
3. Kapitel: Die einzelnen Grundrechte
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3. Aus Art 3 EMRK folgt ein Verbot von Strafen, die nach ihrer Art und wegen ei- 1351 nes exzessiven Ausmaûes menschenunwu È rdig sind. Eine erniedrigende bzw menschenunwu È rdige Bestrafung waÈre zB die Pru È gelstrafe (EGMR, Tyrer, EuGRZ 1979, 162). Auch die UmstaÈnde der Anhaltung eines Inhaftierten koÈnnen gegen Art 3 EMRK verstoûen, etwa seine voÈllige Isolation, die Unterlassung einer ausreichenden medizinischen Versorgung oder sonstige menschenunwu È rdige Haftbedingungen (VfSlg 11.687/1988, 12.336/1990). 4. Obwohl Fremden kein grundrechtlicher Anspruch auf Aufenthalt im Inland oder 1352 auf Asyl zukommt, kann eine Abschiebung unter UmstaÈnden gegen Art 3 EMRK verstoûen, wenn Grund zur Annahme besteht, dass der Betroffene in jenem Land, in das er abgeschoben werden soll, ernstlich Gefahr laÈuft gefoltert oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Dies gilt auch wenn die Abschiebung in einen Staat erfolgt, in welchem die konkrete Gefahr einer Weiterschiebung des Fremden in einen derartigen Staat droht (so genannte Kettenabschiebung; VfSlg 17.340/2004). Dementsprechend enthaÈlt das oÈsterreichische Fremdenrecht ein Refoulement-Verbot (§ 50 FPG), gegen dessen Missachtung auch der VfGH angerufen werden kann. Bei der Feststellung, ob stichhaltige Gru È nde fu È r die Annahme drohender Folter vorliegen, ist auch der Umstand zu beru È cksichtigen, ob im betreffenden Staat eine staÈndige Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzung der Menschenrechte herrscht (vgl VfSlg 13.837, 13.897/1994, 14.119/ 1995). Zu beru È cksichtigen ist auch eine Folter oder drohende unmenschliche Behandlung, die nicht von staatlichen Organen, sondern von anderen Machthabern ausgeht. Selbst nur voru È nnen È bergehende Abschiebungshindernisse (zB eine Traumatisierung eines Asylwerbers) ko eine Ausweisung im Licht des Art 3 EMRK unzulaÈssig machen (VfSlg 17.586/2005; VfGH 1.10.2007, G 179/07). Dem menschenrechtlichen Refoulement-Verbot kommt absolute Geltung zu, dh es ist unabhaÈngig vom Verhalten des Betroffenen zu beachten, und daher etwa auch dann bindend, wenn dieser unter Terrorismusverdacht steht (EGMR, Saadi, NL 2008, 36).
È rdliche 1353 5. VerstoÈûe gegen Art 3 EMRK erfolgen haÈufig durch verwaltungsbeho Zwangsakte, die durch Beschwerde an den UVS bekaÈmpfbar sind. Im Verfahren nach Art 144 B-VG kommt die folgende ¹Grundrechtsformelª zur Anwendung: Ein Bescheid des UVS verletzt Art 3 EMRK, wenn er eine erfolgte Verletzung nicht wahrnimmt, ferner auch dann, wenn der Bescheid auf einer diesem Grundrecht widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn er auf einer Auslegung des Gesetzes beruht, die dem Art 3 EMRK widerspricht, oder wenn dem UVS grobe Verfahrensfehler unterlaufen sind (VfSlg 13.837, 13.897/1994, 16.384/2001). 50.2.2. AnwendungsfaÈlle Eine Verletzung des Art 3 EMRK hat der VfGH in folgenden ZusammenhaÈngen angenom- 1354 men: durch eine nicht erforderliche Fesselung (VfSlg 9231/1981, 13.044/1992, 16.384/2001), durch unnoÈtiges Zerren und Schieben waÈhrend einer polizeilichen Amtshandlung (VfSlg 8145/1977), bei exzessivem Gebrauch des Gummiknu È ppels bei der AufloÈsung von Versammlungen (zB VfSlg 11.095, 11.170/1986 uva), durch das Ziehen an den Haaren oder das Versetzen von Fuûtritten (VfSlg 11.230/1987, 11.687/1988) oder die Verabreichung von Ohrfeigen durch Exekutivorgane (VfSlg 10.052/1984). Leibesvisitationen ko È nnen dann Art 3 EMRK verletzen, wenn sie aus sachlichen Gru È nden nicht geboten sind (VfSlg 10.661/1985, 12.258/1990) oder wenn sie in der Gegenwart von MithaÈftlingen oder unter sonstigen erniedrigenden UmstaÈnden durchgefu È hrt werden (VfSlg 10.746/1986). Eine Verweigerung oder VerzoÈgerung Èarztlicher Betreuung waÈhrend der Haft kann Art 3 EMRK ebenso verletzen (VfSlg 11.687/1988) wie eine Zwangsinjektion mit Beruhigungsmitteln (VfSlg 10.051/1984). Keine Verletzung des Art 3 EMRK stellte der VfGH in den folgenden FaÈllen fest: durch das 1355 Ziehen an den Haaren in scheinbar besonders gelagerten FaÈllen (VfSlg 11.081/1986), den beleidigenden Gebrauch des Du-Worts durch Exekutivorgane (VfSlg 8654/1979), ein Schieben und
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Teil IV. Die Grundrechte
È berwindung eines passiven Widerstands (VfSlg 8580/1979), das Hinunterstoûen Stoûen zur U u È ber eine BoÈschung (VfSlg 11.229/1987) oder das Anlegen von Handfesseln bei Vorliegen von Fluchtgefahr (VfSlg 8654/1979).
È nliche Freiheit 50.3. Das Recht auf perso Rechtsquellen: BVG u È ber den Schutz der persoÈnlichen Freiheit; Art 5 EMRK; Art 6 EGC. 1356 Wirklich frei kann der Mensch nur sein, wenn er nicht in Angst vor willku È rlicher Verhaftung leben muss. Daher ist das Recht auf persoÈnliche Freiheit ein elementarer Bestandteil jedes Grundrechtskatalogs. Eine erste GewaÈhrleistung des Grundrechts enthielt bereits das vom Reichsrat 1862 erlassene Gesetz zum Schutze der persoÈnlichen Freiheit RGBl 1862/87. Diese Rechtslage bestimmte den Schutz der persoÈnlichen Freiheit bis 1991. Um die immer deutlicher zu Tage tretenden Widerspru È che zu Art 5 EMRK zu bereinigen, wurde der Schutz der persoÈnlichen Freiheit È nlichen durch das BVG vom 29. November 1988 u È ber den Schutz der perso Freiheit (PersFrG) auf eine neue verfassungsrechtliche Grundlage gestellt. Unmittelbar mit dieser Reform verbunden war die Einfu È hrung der UVS (vgl Rz 896). a) Die EMRK verlangt bei freiheitsentziehenden Maûnahmen die Einschaltung unabhaÈngiger BehoÈrden, was im System des oÈsterreichischen Verwaltungsstrafrechts urspru È nglich nicht vorgesehen war. Lange Zeit hatte man freilich angenommen, dass die Widerspru È che zwischen È sterreich anlaÈsslich der Ratider oÈsterreichischen Rechtslage und der EMRK durch einen von O fikation der Konvention abgegebenen Vorbehalt zu Art 5 EMRK ausgeraÈumt worden waÈren. Die Reichweite dieses Vorbehalts, der nach dem urspru È nglichen VerstaÈndnis der Bundesregierung das gesamte System des o È sterreichischen Verwaltungsstrafrechts abdecken sollte, wurde allerdings im Lauf der Jahre zunehmend fragwu È rdiger; in der Judikatur wurde sein Anwendungsbereich immer mehr eingeschraÈnkt. Nach heutigem VerstaÈndnis kommt dem Vorbehalt zu Art 5 EMRK praktisch kein Anwendungsbereich mehr zu. b) Ein Recht auf persoÈnliche Freiheit ist auch im EU-Recht anerkannt (vgl Art 6 EGC); es ist etwa im Zusammenhang mit dem Rahmenbeschluss u È ber den EuropaÈischen Haftbefehl zu beÈ bergabe von Menschen achten, der die Mitgliedstaaten zu FreiheitsbeschraÈnkungen und zur U an andere Mitgliedstaaten verpflichtet.
50.3.1. Der Schutzbereich 1357 1. Zum besseren VerstaÈndnis des PersFrG soll zunaÈchst seine Struktur verdeutlicht werden: Im Anschluss an die allgemeine FreiheitsgewaÈhrleistung (Art 1 Abs 1: ¹Jedermann hat das Recht auf Freiheit und Sicherheitª) . stellt das PersFrG allgemeine Voraussetzungen fu È r freiheitsentziehende Maûnahmen auf (Art 1 Abs 2 und 3), . bezeichnet taxativ die Festnahme- und Anhaltungsgru È nde (Art 2), . regelt im GrundsaÈtzlichen die ZustaÈndigkeiten und das Verfahren bei Eingriffen in die persoÈnliche Freiheit (Art 3, 4 und 5) und enthaÈlt schlieûlich . gewisse bei der Festnahme oder Anhaltung eines Menschen zu beachtende Garantien (Art 1 Abs 4, Art 6 und 7). È rper1358 2. Gegenstand der im PersFrG gewaÈhrleisteten Freiheit ist der Schutz der ko lichen Bewegungsfreiheit (und nicht die GewaÈhrleistung einer daru È ber hinausgehenden allgemeinen Handlungs- oder Willensfreiheit). In das Grundrecht wird daher durch staatliche Maûnahmen eingegriffen, welche einem Menschen die Freiheit entziehen, dh seine freie Entscheidung u È ber seinen Aufenthaltsort durch staatlichen Zwang oder die Androhung von Zwang beschraÈnken und ihn zu einem unfrei-
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willigen Verbleiben an einem bestimmten begrenzten Ort verhalten (zB VfSlg 13.063/1992). Nach der Rspr des VfGH greifen allerdings behoÈrdliche Maûnahmen nur dann in das Grundrecht ein, wenn der Wille der BehoÈrde primaÈr auf die BeschraÈnkung der Freiheit gerichtet war, nicht jedoch dann, wenn eine FreiheitsbeschraÈnkung bloû die zwangslaÈufige (¹sekundaÈreª) Folge einer mit einer anderen Zielrichtung vorgenommenen Amtshandlung war. Daher wurden zB die Anwesenheitspflicht bei einer Vernehmung, die Anhaltung zur Ausweisleistung oder die mit einer Personen- oder GepaÈcksdurchsuchung verbundenen BeschraÈnkungen nicht als Eingriffe in die persoÈnliche Freiheit gewertet. Diese Judikatur ist zumindest missverstaÈndlich. So versagt etwa das Kriterium der ¹Inten- 1359 tionalitaÈtª (der behoÈrdlichen Willensrichtung) bei der Anhaltung in Anstalten, obwohl eine solche Anhaltung immer als Freiheitsentzug qualifiziert wurde, auch wenn sie therapeutischen oder erzieherischen Zwecken dient (der Wille der BehoÈrde daher nicht ¹primaÈrª auf eine FreiheitsbeschraÈnkung gerichtet ist). Das Kriterium ist auch entbehrlich, wenn der Begriff des Freiheitsentzugs entsprechend scharf gefasst wird. Daher stellt die bloûe Verhinderung des Aufenthalts an einem bestimmten Ort, etwa als Folge der VerhaÈngung eines Aufenthaltsverbots (VfSlg 8996/1980) oder bei einem Platzverweis oder bei der zwangsweisen AufloÈsung einer Versammlung (VfSlg 11.930/1988), deshalb keinen Eingriff in die persoÈnliche Freiheit dar, weil die Bewegungsfreiheit erhalten bleibt und der Betroffene den jeweiligen Ort verlassen kann. Ju È ngere Entscheidungen des VfGH lassen erkennen, dass der Gerichtshof nunmehr zu einer deutlich differenzierteren Betrachtungsweise neigt (vgl VfSlg 15.465/1999 zum erzwungenen Aufenthalt im Sondertransitraum Schwechat).
Art 1 Abs 2 PersFrG bezeichnet die FaÈlle der Festnahme und Anhaltung als Ein- 1360 griffe in die persoÈnliche Freiheit. Dabei stellt die Festnahme die Einleitung des Freiheitsentzugs dar und die Anhaltung dessen Aufrechterhaltung. Beide Begriffe sind materiell zu verstehen, dh es kommt nicht auf bestimmte FoÈrmlichkeiten, wie einen dezidierten Festnahmebefehl, an. GrundsaÈtzlich sind auch kurzfristige Anhaltungen, wie zB eine 15-minu È tige FreiheitsbeschraÈnkung, relevant (VfSlg 12.622/1991); in GrenzfaÈllen kann neben der Dauer auch die IntensitaÈt der mit der Maûnahme verbundenen BewegungsbeschraÈnkungen eine Rolle spielen, so dass zB die kurzfristige Bewegungsbehinderung bei der AufloÈsung einer Demonstration noch keinen Eingriff in das Grundrecht darstellt. Folgt jemand freiwillig einem Polizeibeamten auf die Wachstube, liegt keine Festnahme vor (VfSlg 12.728/1991). È nlichen Freiheit 50.3.2. BeschraÈnkungen der perso 1. Nach Art 1 Abs 2 und 3 PersFrG muss jeder Entzug der Freiheit gesetzlich vorgese- 1361 hen sein. Dieser Gesetzesvorbehalt verpflichtet den Gesetzgeber zu einer genauen Determinierung der Gru È nde einer Festnahme und Anhaltung und zu einer Regelung des dabei einzuhaltenden Verfahrens. Dabei ist der Gesetzgeber an das VerhaÈltnismaÈûigkeitsprinzip gebunden, weil er einen Freiheitsentzug nur vorsehen darf, wenn dies nach dem Zweck der Maûnahme notwendig ist. Damit bringt die Verfassung den Grundsatz zum Ausdruck, dass die EinschraÈnkung der persoÈnlichen Freiheit immer die ultima ratio sein muss. Nach dem zweiten Satzteil des Art 1 Abs 3 darf daru È ber hinaus die persoÈnliche Freiheit jeweils nur entzogen werden, wenn und soweit dies nicht zum Zweck der Maûnahme auûer VerhaÈltnis steht. Diese Anordnung richtet sich an die Vollziehung, die daher dort, wo ihr die gesetzlichen EingriffsermaÈchtigungen einen Spielraum belassen, die Erforderlichkeit und Angemessenheit einer FreiheitsbeschraÈnkung mit zu beru È cksichtigen hat. 2. Der Gesetzesvorbehalt des Art 1 wird durch die taxative AufzaÈhlung der FaÈlle 1362 eines zulaÈssigen Freiheitsentzugs in Art 2 inhaltlich determiniert. Eine Festnahme oder Anhaltung darf daher nur im Rahmen dieser TatbestaÈnde vorgesehen werden; jeder hier nicht gedeckte Eingriff in die persoÈnliche Freiheit ist verfassungs-
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Teil IV. Die Grundrechte
widrig. Die folgenden Regelungen sind relativ detailliert und sie werden durch zahlreiche einfachgesetzliche Bestimmungen naÈher ausgestaltet. 1363 a) Entzug der Freiheit durch ein Gericht auf Grund eines Straferkenntnisses (Art 2
Abs 1 Z 1 iVm Art 3 Abs 1 PersFrG): Der Entzug der persoÈnlichen Freiheit darf als Strafmittel vorgesehen werden, wobei die Strafbefugnis der Gerichte im Bereich des Justizstrafrechts im Rahmen des Grundsatzes der VerhaÈltnismaÈûigkeit im PersFrG nicht weiter beschraÈnkt wird; gewisse Grenzen der gerichtlichen Strafbefugnisse ergeben sich aber aus den Art 3 und 7 EMRK.
1364 b) Entzug der Freiheit durch eine VerwaltungsbehoÈrde auf Grund eines Straferkennt-
nisses (Art 2 Abs 1 Z 1 iVm Art 3 Abs 2 PersFrG): Im Bereich des Verwaltungsstrafrechts du È rfen Freiheitsstrafen und Ersatzfreiheitsstrafen nur zeitlich begrenzt vorgesehen werden. Sofern die Strafe durch eine (weisungsgebundene) Verwaltungsbeho È rde verhaÈngt wird, darf das Ausmaû des angedrohten Freiheitsentzugs sechs Wochen nicht u È berschreiten. Wird die Strafe von einer unabhaÈngigen BehoÈrde (UVS) verhaÈngt, kann das Strafausmaû bis zu drei Monaten betragen. Wird eine Freiheitsstrafe im Verwaltungsstrafrecht nicht von einer unabhaÈngigen BehoÈrde verhaÈngt, muss die Anfechtung der Entscheidung bei einer solchen BehoÈrde in vollem Umfang und mit aufschiebender Wirkung gewaÈhrleistet sein (Art 3 Abs 3 PersFrG). Mit dieser Regelung versucht das PersFrG den Anforderungen der Art 5 und 6 EMRK Rechnung zu tragen. Sie bezieht sich auf die Einrichtung der UVS als BerufungsbehoÈrden im Verwaltungsstrafverfahren, die die von den VerwaltungsstrafbehoÈrden 1. Instanz verhaÈngten Freiheitsstrafen (Ersatzfreiheitsstrafen) nach §§ 51 ff VStG u È berpru È fen.
1365 c) Entzug der Freiheit bei Verdacht einer gerichtlich oder finanzbehoÈrdlich strafba-
ren Handlung (Art 2 Abs 1 Z 2, Art 4 PersFrG): Liegt ein hinreichender Tatverdacht vor, ist die Festnahme eines mutmaûlichen StraftaÈters unter den folgenden weiteren, alternativen Voraussetzungen zulaÈssig: . zur Beendigung des Angriffs oder zur sofortigen Sachverhaltsfeststellung, wenn der Verdacht in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Tat oder dadurch entsteht, dass der VerdaÈchtige einen bestimmten Gegenstand innehat (lit a), . bei Flucht- oder Verdunkelungsgefahr (lit b), . bei Wiederholungs- oder Ausfu È hrungsgefahr (lit c). In den FaÈllen der Flucht- oder Verdunkelungsgefahr und der Wiederholungs- und Ausfu È hrungsgefahr darf der Betroffene grundsaÈtzlich nur mit begru È ndetem richterlichen Befehl in Haft genommen werden. Bei Gefahr im Verzug (sowie im Fall der lit a) darf eine Person von einem Verwaltungsorgan auch ohne richterlichen Befehl festgenommen werden. Der Festgenommene ist ohne unnoÈtigen Aufschub, spaÈtestens vor Ablauf von 48 Stunden, dem zustaÈndigen Gericht zu u È bergeben und vom Richter ohne Verzug zu vernehmen; faÈllt der Festnahmegrund schon vorher weg, ist er unverzu È glich freizulassen. Die naÈheren einfachgesetzlichen Regelungen u È ber Festnahmen im Dienste der Strafjustiz finden sich in den §§ 170 ff StPO; die Festnahmen wegen des Verdachts von Finanzdelikten sind in den §§ 85 ff FinStrG geregelt. Das Vorliegen von Gefahr im Verzug als Voraussetzung fu È r eine Festnahme ohne richterliche Verfu È gung ist streng zu pru È fen: Gefahr im Verzug liegt vor allem dann nicht vor, wenn der Richter im Ermittlungsverfahren u È ber Telefon oder Funk erreichbar ist und eine fernmu È ndliche richterliche Bewilligung erteilen kann (vgl zB VfSlg 11.491/1987, 13.155/1992); das Vorliegen der Haftgru È nde muss sich aus einem konkreten Sachverhalt ergeben, so dass etwa die bloûe MoÈglichkeit zu fliehen oder die Wahrheitsfindung zu beeintraÈchtigen nicht ausreicht (vgl zB VfSlg 11.568/1987, 13.255/1992). Im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Pflicht zur unverÈ bergabe Festgenommener an das Gericht haben die VerwaltungsbehoÈrden auch zu È glichen U die erforderlichen organisatorischen und personellen Maûnahmen zu treffen, um jede vermeidbare VerzoÈgerung in Haftsachen hintanzuhalten (vgl zB VfSlg 11.781/1988). Eine Festnahme wegen strafloser Vorbereitungshandlungen darf nicht vorgesehen werden (VfSlg 17.102/2004).
1366 d) Entzug der Freiheit bei Verdacht einer VerwaltungsuÈbertretung (Art 2 Abs 1 Z 3, Art
4 Abs 5 PersFrG): Wegen des Verdachts einer Verwaltungsu È bertretung darf ein Mensch nur festgenommen werden, wenn er auf frischer Tat betreten wird und die Festnahme zur Sicherung der Strafverfolgung oder zur Verhinderung weiteren gleichartigen strafbaren Handelns erforderlich ist. Damit werden Festnahmen im Bereich des Verwaltungsstrafrechts wesentlich
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engeren Voraussetzungen unterworfen als jene im Dienste der gerichtlichen Strafrechtspflege. Der wegen des Verdachts einer Verwaltungsu È bertretung Festgenommene ist, wenn der Grund fu È r die Festnahme nicht schon vorher wegfaÈllt, unverzu È glich der zustaÈndigen BehoÈrde zu u È bergeben; vermeidbare VerzoÈgerungen verstoûen gegen die Verfassung (VfSlg 17.102/2004). Die Anhaltung darf hoÈchstens 24 Stunden dauern. È ffentlichen SicherDie einfachgesetzliche Grundlage fu È r Festnahmen durch Organe des o heitsdienstes findet sich in den §§ 35 ff VStG; vergleichbare ErmaÈchtigungen fu È fÈ r andere o fentliche Wachorgane gibt es in einer Reihe von Verwaltungsvorschriften (zB § 112 ForstG). Nach der Rspr wird eine Person dann auf frischer Tat betreten, wenn das Sicherheitsorgan die Tatbegehung unmittelbar selbst wahrgenommen hat und es das Verhalten ¹zumindest vertretbarerweiseª als eine als Verwaltungsu È bertretung strafbare Tat qualifizieren konnte (vgl zB VfSlg 12.747/1991, 13.097/1992). Das Vorliegen eines gesetzlichen Haftgrundes (zB Fluchtgefahr) unterliegt den gleichen strengen Voraussetzungen wie oben unter c) dargestellt (vgl zB VfSlg 13.108/1992); auch in diesen FaÈllen ist die Anhaltung unverzu È glich zu beenden, wenn der Haftgrund wegfaÈllt (vgl zB VfSlg 10.229/1984). e) Entzug der Freiheit als Beugemittel (Art 2 Abs 1 Z 4 PersFrG): Ein Freiheitsentzug darf 1367 gesetzlich vorgesehen werden, um die Befolgung einer rechtmaÈûigen Gerichtsentscheidung oder die Erfu È llung einer durch das Gesetz vorgeschriebenen Verpflichtung zu erzwingen. Entsprechende einfachgesetzliche ErmaÈchtigungen finden sich zB in § 93 StPO (Beugehaft bei ungerechtfertigter Zeugnisverweigerung), im Vollstreckungsrecht (§ 355 EO, § 5 VVG) oder bei der zwangsweisen Vorfu È hrung (§ 153 StPO, § 19 Abs 3 AVG, § 53b VStG). f) Entzug der Freiheit wegen einer gefaÈhrlichen Krankheit (Art 2 Abs 1 Z 5 PersFrG): 1368 Eine Erkrankung eines Menschen kann in zwei FaÈllen die Anhaltung rechtfertigen: Wenn Grund zur Annahme besteht, dass er eine Gefahrenquelle fu È r die Ausbreitung einer ansteckenden Krankheit ist, oder wenn Grund zur Annahme besteht, dass er wegen einer psychischen Erkrankung sich oder andere gefaÈhrdet. Zur Verhinderung einer Ansteckungsgefahr gibt es entsprechende Regelungen im SanitaÈtsrecht, die eine zwangsweise Einweisung in eine Krankenanstalt vorsehen (zB §§ 14 ff TuberkuloseG BGBl 1967/127 idgF). Der zweite Tatbestand erlaubt eine praÈventive EinschraÈnkung der Freiheit psychisch kranker Menschen um spezifisch krankheitsbedingte Gefahren abzuwehren. Neben der durch entsprechend fachkundige und objektive medizinische Feststellungen abzuklaÈrenden psychischen Erkrankung ist daher erforderlich, dass der Betroffene wegen dieser Krankheit sich oder andere konkret gefaÈhrdet. Eine bloûe Therapiebedu È rftigkeit rechtfertigt fu È r sich genommen noch keine zwangsweise Anhaltung. Die mit einem Freiheitsentzug verbundenen Anhaltungen in geschlossenen psychiatri- 1369 schen Anstalten haben im UnterbringungsG ihre naÈhere gesetzliche Ausgestaltung gefunden, das ausgehend von der besonderen Schutzwu È rdigkeit zwangsweise untergebrachter Kranker versucht, die damit verbundenen FreiheitsbeschraÈnkungen an enge Voraussetzungen zu binden und einer besonderen Kontrolle zu unterwerfen. Das Gesetz ermaÈchtigt die Organe des o È ffentlichen Sicherheitsdienstes einen Kranken einem Amtsarzt vorzufu È hren, der nach einer Untersuchung die Voraussetzungen fu È r die Unterbringung bescheinigen muss; bei Gefahr im Verzug kann die betroffene Person auch ohne vorherige Untersuchung in die Anstalt eingeliefert werden (§§ 4 ff UbG, § 46 SPG). Die Vorfu È hrung und die Entscheidung u È ber die Einlieferung sind als Maûnahmen der Befehls- und Zwangsgewalt beim UVS bekaÈmpfbar. Die Aufnahme in die Anstalt selbst ist erst nach einer weiteren fachaÈrztlichen Untersuchung zulaÈssig. Die verfassungsrechtlich geforderte Kontrolle der Anhaltung obliegt dem Unterbringungsgericht, das nach Anho È rung des Kranken und in mu È ndlicher Verhandlung u È ber die ZulaÈssigkeit der Unterbringung entscheidet, die immer nur fu È r begrenzte ZeitraÈume (6 Monate bzw 1 Jahr) verhaÈngt werden darf. Die Voraussetzungen fu È r freiheitsbeschraÈnkende Maûnahmen in AltenÈ berpru und Pflegeheimen und Èahnlichen privaten Einrichtungen und ihre gerichtliche U È fung regelt das HeimaufenthaltsG BGBl I 2004/11 idgF. g) Entzug der Freiheit zum Zweck notwendiger Erziehungsmaûnahmen (Art 2 Abs 1 1370 Z 6 PersFrG): Dieser Tatbestand ermaÈchtigt den Gesetzgeber die Anhaltung von MinderjaÈhrigen mit dem Ziel der Setzung notwendiger Erziehungsmaûnahmen vorzusehen. Die Jugendwohlfahrtsgesetze der LaÈnder sehen in Ausfu È hrung der §§ 26 ff des (Bundes-)JugendwohlfahrtsG 1989 BGBl 161 idgF die Heimunterbringung unter UmstaÈnden auch ohne die Zustim-
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Teil IV. Die Grundrechte
mung der Erziehungsberechtigten auf Grund einer gerichtlichen Verfu È gung oder als eine von den JugendwohlfahrtsbehoÈrden vorlaÈufig angeordnete Maûnahme vor.
1371 h) Entzug der Freiheit zur Sicherung einer Ausweisung oder Auslieferung (Art 2 Abs 1 Z 7 PersFrG): Eine verhaÈltnismaÈûig weit reichende ErmaÈchtigung zur BeschraÈnkung der persoÈnlichen Freiheit enthaÈlt die Verfassung im Zusammenhang mit der fremdenpolizeilichen Behandlung von Fremden oder ihrer Auslieferung. Ein diesen Zielen dienender Freiheitsentzug ist grundsaÈtzlich zulaÈssig, muss freilich auf die FaÈlle der Notwendigkeit beschraÈnkt bleiben, so dass die Anhaltung eines Fremden nicht laÈnger verfu È gt werden darf, als dies zur Durchfu È hrung einer Ausweisung oder Auslieferung notwendig ist und die BehoÈrde auch das Verfahren mit der gebotenen Schnelligkeit durchzufu È hren hat (VfSlg 13.958/1994). Ausweisung im Sinn dieses Tatbestands umfasst alle fremdenpolizeilichen Maûnahmen, die darauf abzielen, dass der Fremde das Land verlaÈsst (VfSlg 13.300/1992).
Der wichtigste Anwendungsfall dieses Tatbestands ist die VerhaÈngung der Schubhaft zur Sicherung aufenthaltsbeendender Maûnahmen (§§ 76 ff FPG); weitere FaÈlle des Entzugs der persoÈnlichen Freiheit sind in diesem Zusammenhang die Festnahme nach § 39 und § 74 FPG. Die Schubhaft ist nur zulaÈssig, soweit sie zur Erreichung ihres Zwecks erforderlich ist; daher ist auch eine VerhaÈltnismaÈûigkeitspruÈfung durchzufu È hren (VfSlg 17.288/2004). Ist eine Abschiebung rechtlich (zB wegen des Refoulement-Verbots) oder faktisch (zB kein Aufnahmestaat) unmoÈglich, so darf auch die Schubhaft nicht mehr aufrechterhalten werden. Die Auslieferungshaft hat ihre Regelung in § 29 des Auslieferungs- und RechtshilfeG 1979/529 idgF gefunden. i) Im Rahmen der justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der EU kann es zu Verhaftungen in Durchfu È hrung eines EuropaÈischen Haftbefehls kommen, durch welche die Strafverfolgung oder Vollstreckung einer Freiheitsstrafe in einem anderen Mitgliedstaat gesichert werden soll (vgl §§ 3 ff EU-JZG). Gegenu È ber oÈsterreichischen Staatsbu È rgern ist die Vollsteckung eines EuropaÈischen Haftbefehls auf Grund der Verfassungsbestimmungen in den §§ 5, 77 Abs 2 EU-JZG nur unter eingeschraÈnkten Bedingungen zulaÈssig.
50.3.3. Verfassungsgesetzliche Rechte eines Festgenommenen Das PersFrG gewaÈhrleistet einem festgenommenen und angehaltenen Menschen eine Reihe von elementaren Rechten als verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Rechte, weil er sich in einer besonders schutzwu È rdigen Situation befindet. 1372 a) Informationsrechte (Art 4 Abs 6 und 7 PersFrG): Weil kein Mensch u È ber die Gru È nde eines Freiheitsentzugs im Unklaren gelassen werden darf und um dem Festgenommenen jene Informationen zu geben, die er zur wirkungsvollen Wahrnehmung seiner Rechte braucht, schreibt die Verfassung vor, dass jeder Festgenommene ehestens, womo È glich bei seiner Festnahme, in einer ihm verstaÈndlichen Sprache u È ber die Gru È nde seiner Festnahme und die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen unterrichtet werden muss. Erforderlichenfalls ist ein Dolmetscher beizuziehen (VfSlg 13.914/1994). Ferner hat jeder Festgenommene das verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Recht, dass auf sein Verlangen ohne unnoÈtigen Aufschub und nach seiner Wahl ein AngehoÈriger und ein Rechtsbeistand von der Festnahme verstaÈndigt werden (Art 4 Abs 7 PersFrG). Das einfache Gesetzesrecht fu È hrt diese Garantien vor allem in § 36 VStG und § 171 StPO naÈher aus.
1373 b) BeschraÈnkung der Untersuchungshaft (Art 5 PersFrG): Wer in Untersuchungshaft angehalten wird, hat einen grundrechtlichen Anspruch darauf, dass das Verfahren innerhalb angemessener Frist beendet oder dass er noch waÈhrend des Verfahrens aus der Haft entlassen wird. Auûerdem ist vom Freiheitsentzug abzusehen, wenn gelindere Mittel ausreichen. Eine wegen Fluchtgefahr verhaÈngte Haft hat bei leichteren Delikten zu unterbleiben, wenn eine Kaution hinterlegt wird. Die Angemessenheit der Dauer einer Untersuchungshaft haÈngt nach der Rspr des EGMR von den UmstaÈnden des Einzelfalles ab; Verletzungen wurden in FaÈllen festgestellt, in denen die Haft mehr als zwei Jahre gedauert hat, andererseits stellte der EGMR auch bei einer vierjaÈh-
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rigen Untersuchungshaft noch keine Verletzung von Art 5 Abs 3 EMRK fest. GrundsaÈtzlich sind die staatlichen BehoÈrden zur entsprechenden Sorgfalt bei der Pru È fung und ausreichend konkreten Begru È ndung der Haftgru È nde und zur zielstrebigen Fortsetzung und Beendigung des Strafverfahrens verpflichtet. In den §§ 173 ff StPO versucht der Gesetzgeber dem Auftrag gerecht zu werden, die Untersuchungshaft auf die angemessene Dauer iS des PersFrG zu beschraÈnken. Dazu dienen die naÈheren Regelungen u È ber die Haftgru È nde und die Befristung der Haft. In der Praxis kommt es immer wieder zu u È berlangen Untersuchungshaften.
c) Haftpru È fungsverfahren (Art 6 PersFrG): Jeder festgenommene (angehaltene) 1374 Mensch hat ein Recht auf ein wirksames Haftpru È fungsverfahren durch ein Gericht oder durch eine andere unabhaÈngige BehoÈrde. In diesem Verfahren muss u È ber die RechtmaÈûigkeit des Freiheitsentzugs entschieden und im Fall der Rechtswidrigkeit seine Freilassung angeordnet werden. Diese Entscheidung muss innerhalb einer Woche ergehen, es sei denn, die Anhaltung haÈtte vorher geendet. Diese Bestimmung verwirklicht das im angelsaÈchsischen Recht ausgeformte ¹habeas-corpus-Prinzipª; sie gilt grundsaÈtzlich fu È r alle FaÈlle des Freiheitsentzugs. Fu È r die Dauer der von einem Gericht oder einer unabhaÈngigen BehoÈrde verhaÈngten Strafhaft wird die hier vorgesehene Kontrolle allerdings durch die Verurteilung ¹absorbiertª. Bei Anhaltungen von unbestimmter Dauer ist deren Notwendigkeit nach Art 6 Abs 2 PersFrG aber jedenfalls in angemessenen AbstaÈnden zu u È berpru È fen. Im Haftpru È fungsverfahren mu È ssen die grundlegenden Garantien eines Gerichtsverfahrens zum Tragen kommen; daher ist es grundsaÈtzlich als ein kontradiktorisches Verfahren auszugestalten, in dem die AnhoÈrung des Inhaftierten und die Waffengleichheit zwischen Verteidigung È JZ 1992, 242). Der Anspruch auf Feststellung der und Anklage gesichert sind (EGMR, Toth, O Rechtswidrigkeit der Anhaltung besteht auch dann, wenn die Anhaltung schon vorher geendet hat (VfSlg 13.698/1994). Haftpru È fungsverfahren im Sinn dieser Bestimmung sind: die Beschwerde an den UVS wegen einer Festnahme und Anhaltung durch einen Akt der verwaltungsbehoÈrdlichen Befehls- und Zwangsgewalt (§ 67a AVG), die Haftverhandlung bei der Untersuchungshaft (§ 176 StPO), die Schubhaftbeschwerde (§ 82 FPG), die gerichtliche Anho È rung eines untergebrachten Kranken (§ 20 UbG).
d) Anspruch auf HaftentschaÈdigung (Art 7 PersFrG): Jedermann, der rechtswid- 1375 rig festgenommen oder angehalten wurde, hat einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf volle Genugtuung. Dieser Anspruch umfasst auch den Ersatz des nicht vermoÈgensrechtlichen (immateriellen) Schadens und er ist vom Verschulden des staatlichen Organs unabhaÈngig. NaÈhere Bestimmungen u È ber die HaftentschaÈdigung wegen eines Entzugs der persoÈnlichen Freiheit im Dienste der Strafjustiz oder wegen einer strafgerichtlichen Verurteilung enthaÈlt das Strafrechtliche EntschaÈdigungsG 2005 BGBl I 125 idgF. Sonstige auf Art 7 PersFrG gestu È tzte Anspru È che sind unter sinngemaÈûer Anwendung des AHG bei den ordentlichen Gerichten geltend zu machen (OGH 15.11.1989, 1 Ob 43/89, JBl 1990, 456). e) Anspruch auf Achtung der Menschenwu È rde und Schonung der Person 1376 (Art 1 Abs 4 PersFrG): Schlieûlich garantiert die Verfassung jedem seiner Freiheit beraubten Menschen, dass er unter Achtung der Menschenwu È rde und mit moÈglichster Schonung der Person behandelt wird; er darf nur solchen BeschraÈnkungen unterworfen werden, die dem Zweck der Anhaltung angemessen oder zur Wahrung von Sicherheit und Ordnung am Ort seiner Anhaltung notwendig sind. È nliche Freiheit 50.3.4. Rechtsschutz bei Eingriffen in die perso 1. Maûnahmen des Freiheitsentzugs, die durch ein Gericht bewilligt oder angeord- 1377 net werden, sind im ordentlichen Rechtsweg zu bekaÈmpfen. Das gilt auch bei Festnahmen durch ein Exekutivorgan auf Grund einer richterlichen Bewilligung und fu È r Verhaftungen, welche ein Exekutivorgan (Kriminalpolizei) ohne richterliche Genehmigung vornimmt, wenn das Einschreiten im Dienste der Strafjustiz erfolgt (Be-
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schwerde nach § 87 StPO oder Einspruch wegen Rechtsverletzung nach § 106 StPO). Dasselbe gilt fu È r FaÈlle, in denen die Kriminalpolizei die richterliche Genehmigung u È berschreitet oder wenn die naÈheren UmstaÈnde einer Festnahme gegen Rechte des Betroffenen verstoûen. 1378 Durch das GrundrechtsbeschwerdeG BGBl 1992/864 wurde zum Schutz der persoÈnlichen
Freiheit ein besonderer Rechtszug zum OGH eingerichtet. Nach diesem Gesetz steht dem Betroffenen nach Erscho È pfung des Instanzenzuges dann eine Grundrechtsbeschwerde an den OGH zu, wenn er durch eine strafgerichtliche Entscheidung oder Verfu È gung in seinem Grundrecht auf persoÈnliche Freiheit verletzt zu sein behauptet (§ 2 Abs 1 leg cit). Der Hauptanwendungsfall der Grundrechtsbeschwerde ist die gerichtliche Kontrolle der Untersuchungshaft. Ausdru È cklich ausgeschlossen ist die Grundrechtsbeschwerde gegen die VerhaÈngung oder den Vollzug von Freiheitsstrafen oder vorbeugenden Maûnahmen durch ein Gericht. Ob dieses Verfahren den der Sache nach gebotenen Grundrechtsschutz leistet ist umstritten.
1379 2. In sonstigen FaÈllen einer Festnahme oder Anhaltung durch ein Exekutivorgan (auûerhalb der StPO) kann Beschwerde an den UVS erhoben werden. Gegen dessen bescheidfoÈrmige Entscheidung kann der VwGH oder der VfGH angerufen werden. Der VfGH nimmt in diesem Zusammenhang eine so genannte ¹Grobpru È fungª vor, in deren Rahmen die folgende ¹Grundrechtsformelª zur Anwendung kommt: Ein Bescheid einer VerwaltungsbehoÈrde verletzt das Recht auf persoÈnliche Freiheit, wenn er gegen die verfassungsgesetzlich festgelegten Erfordernisse der Festnahme bzw Anhaltung verstoÈût, wenn er in Anwendung eines verfassungswidrigen, insbesondere den genannten Verfassungsvorschriften widersprechenden Gesetzes ergangen ist, wenn er gesetzlos ist oder in denkunmoÈglicher Anwendung einer verfassungsrechtlich unbedenklichen Rechtsgrundlage ergangen ist ± ein Fall, der nur dann vorlaÈge, wenn die BehoÈrde einen so schweren Fehler begangen haÈtte, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen waÈre (VfSlg 13.708, 13.913/1994, 15.684/1999). Daher verletzt zB ein Bescheid eines UVS das Grundrecht, wenn dessen Entscheidung dem Beschwerdefu È hrer nicht binnen einer Woche zugestellt wurde (VfSlg 13.914/1994), wenn eine Verletzung der Informationsrechte eines Festgenommenen durch den UVS nicht wahrgenommen wurde (VfSlg 13.893/1994) oder wenn der UVS in ¹denkunmoÈglicher Weiseª davon ausgegangen ist, dass ein in Schubhaft genommener Fremder auch in ein anderes Land als in das, aus dem er eingereist ist, zuru È ckgeschoben werden du È rfte (VfSlg 13.913/1994). Auch die Pru È fung der Frage, ob die freiheitsentziehende Maûnahme verhaÈltnismaÈûig war, obliegt dem VfGH. Im Rahmen der vom VfGH beanspruchten Kompetenz bleibt allerdings auch Raum fu È r Beschwerden an den VwGH, in denen die (einfache) Gesetzwidrigkeit eines in die persoÈnliche Freiheit eingreifenden Bescheids geltend gemacht werden kann (VwSlg 12.821 A/1988).
50.4. Die Freizu È gigkeit der Person Rechtsquellen: Art 4 StGG; Art 6 StGG; Art 7 StGG; Art 4 EMRK; Art 2±4 4. ZProtEMRK. 1380 Die unter dem Begriff der persoÈnlichen Freizu È gigkeit zusammengefassten GrundÈ nliche Bewegungsfreiheit innerhalb rechte garantieren dem Einzelnen die perso des Staatsgebietes und die freie Wahl eines Wohnsitzes (Aufenthaltsrecht), einschlieûlich das Recht den eigenen Staat ohne Behinderungen verlassen zu du È rfen (Auswanderungsfreiheit). In vollem Umfang stehen diese Rechte nur dem InlaÈnder zu. Dem Fremden kommt die persoÈnliche Freizu È gigkeit nur in einem eingeschraÈnkten Umfang zu. Er hat vor allem keinen grundrechtlichen Anspruch auf Einreise È sterreich. Auch ein Grundrecht auf politisches Asyl kennt die o nach O È sterreichische Rechtsordnung nicht.
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Auch die EGC sieht kein eigenstaÈndiges Recht auf Asyl vor, sondern verweist auf die Genfer Flu È chtlingskonvention und den EGV (Art 18 EGC). Das Recht der freien Bewegung und des Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten wird nur den Unionsbu È rgern zuerkannt (Art 45 EGC).
È nliche Freizu 50.4.1. Die perso È gigkeit des InlaÈnders 1. Jeder o È sterreichische StaatsbuÈrger hat das unbedingte, verfassungsgesetzlich ge- 1381 È sterreich einzureisen (Art 3 Abs 2 4. ZProtEMRK). Er waÈhrleistete Recht nach O darf daher an der Grenze nicht zuru È ckgewiesen werden. Ebenso unbedingt ist das È sterreich ausgeRecht jedes o È sterreichischen StaatsbuÈrgers garantiert nicht aus O wiesen zu werden (Art 3 Abs 1 4. ZProtEMRK). Durch die Verfassungsbestimmungen in den §§ 12 und 44 Auslieferungs- und RechtshilfeG È sterreichern auûerdem die Grundrechte gewaÈhrleistet, nicht an fremde Staaten auswurden O geliefert oder durchgeliefert zu werden. Im Zuge der Einrichtung internationaler VoÈlkerstrafgerichte, vor allem des Internationalen Strafgerichtshofs, und im Rahmen der justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen innerhalb der EU ist es allerdings zu EinschraÈnkungen dieser Grundrechte gekommen; entsprechende Verfassungsbestimmungen erlauben unter geÈ berstellung oÈsterreichischer Staatsbu wissen UmstaÈnden auch eine U È rger an internationale GeÈ sterreicher (§ 5 des BG richte oder die Vollstreckung eines EuropaÈischen Haftbefehls gegen O u È ber die Zusammenarbeit mit den internationalen Gerichten BGBl 1996/263; § 7 des BG u È ber die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof BGBl I 2002/135; §§ 5, 77 Abs 2 EU-JZG).
2. Nach Art 4 StGG unterliegt die Freizu È gigkeit der Person innerhalb des Staatsge- 1382 bietes keinen BeschraÈnkungen; nach Art 6 StGG kann jeder Staatsbu È rger auûerdem an jedem Orte des Staatsgebietes seinen Aufenthalt und Wohnsitz nehmen. Damit werden die o È rtliche Bewegungsfreiheit der Person und ihr Recht auf Begru È ndung eines Wohnsitzes garantiert. Niemand darf durch die Staatsgewalt gehindert werden, sich in ein bestimmtes Gebiet oder an einen bestimmten Ort zu begeben oder gezwungen werden ein bestimmtes Gebiet auf ausdru È cklich vorgeschriebenen Wegen zu verlassen (VfSlg 2611/1953, 7379/1974). Daru È ber hinaus hat jeder Bu È rger das verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Recht an jedem Ort innerhalb des Staatsgebietes dauernd zu wohnen (VfSlg 3248/1957). Obwohl diese Rechte nach dem Wortlaut des StGG keinem ausdru È cklichen Gesetzesvorbehalt 1383 unterliegen, sind sie nach der Rspr des VfGH von vornherein nur ¹im Rahmen der Rechtsordnungª garantiert, wobei ¹unsachliche, durch oÈffentliche Ru È cksichten nicht gebotene Einengungen dieses Schutzesª durch das Gleichheitsgebot verhindert werden sollen (VfSlg 13.097/1992). Im Zusammenhang mit dem 4. ZProtEMRK ist freilich davon auszugehen, dass nur jene Rechtsvorschriften die persoÈnliche Freizu È gigkeit und die freie Wohnsitzwahl zulaÈssigerweise beschraÈnken ko È nnen, die im materiellen Gesetzesvorbehalt des Art 2 Abs 3 4. ZProtEMRK ihre Deckung finden. Nach der Judikatur wird das Grundrecht der persoÈnlichen Freizu Ègigkeit nicht verletzt: durch eine Versagung oder Abnahme eines Fu È hrerscheins (VfSlg 4043/ 1961, 8669/1979), ein Fahrverbot fu È r Pkw an bestimmten Tagen (VfSlg 7361/1974), das Verbot der Benutzung bestimmter Straûenstrecken (VfSlg 8086/1977), die Versagung einer grundverkehrsbehoÈrdlichen Genehmigung (VfSlg 10.814/1986) oder die Verweigerung einer Arbeitserlaubnis (VfSlg 14.049/1995). In den meisten dieser FaÈlle ist es u È berdies fraglich, ob durch diese BeschraÈnkungen u È berhaupt in das Grundrecht der persoÈnlichen Freizu È gigkeit eingegriffen wurde. Anders sind dagegen Platzverbote (§ 36 SPG) oder die Befugnis der Sicherheitsorgane zur Wegweisung (§ 38 SPG) zu beurteilen; sie sind als Grundrechtseingriffe nur im Rahmen des materiellen Gesetzesvorbehalts zulaÈssig.
È nliche Freizu 50.4.2. Die perso È gigkeit des AuslaÈnders 1. Fremden (AuslaÈndern, Staatenlosen) stehen die in Art 4 StGG und Art 2 4. ZProt- 1384 EMRK gewaÈhrleistete Bewegungsfreiheit und das Recht der freien Wohnsitznahme
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von vornherein nur unter der Bedingung zu, dass sie sich rechtmaÈûig im HoheitsÈ sterreichs aufhalten. Darin dru gebiet O È ckt sich der Anspruch des Staates aus frei u È ber die Aufenthaltsberechtigung eines Fremden zu entscheiden, was auch unter den heutigen VerhaÈltnissen immer noch als ein Kernstu È ck der nationalen staatlichen SouveraÈnitaÈt angesehen wird. Ein verfassungsrechtliches Recht auf Einreise in das Inland ist nicht gewaÈhrleistet (VfSlg 11.397/1987). Liegt aber ein rechtmaÈûiger Aufenthalt vor, du È rfen diese Rechte auch beim Fremden nur nach Maûgabe des materiellen Gesetzesvorbehalts (Art 2 Abs 3 4. ZProtEMRK) eingeschraÈnkt werden. Unter welchen Bedingungen der Aufenthalt eines Fremden rechtmaÈûig ist, richtet sich nach dem einfachgesetzlichen Fremden- und Asylrecht. 1385 2. Abgesehen von den aus Art 2, 3 und 8 EMRK erwachsenden BeschraÈnkungen (vgl Rz 1336, 1352 und 1404 f) hat der Fremde auch keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Verbleib im Inland (VfSlg 8607/1979). Art 1 des 7. ZProtEMRK sichert aber fu È r den Fall der Ausweisung gewisse verfahrensrechtliche Mindestgarantien, die aber ebenfalls vom Erfordernis eines rechtmaÈûigen Aufenthalts abhaÈngig sind. È nliche Freizu 50.4.3. Die perso È gigkeit der EU-Bu È rger 1386 Um das angestrebte ¹Europa der Bu È rgerª zu verwirklichen, sichert Art 18 EGV den Unionsbu È rgern (StaatsangehoÈrigen der Mitgliedstaaten) ein gemeinschaftsweites Aufenthaltsrecht zu. Dieses Recht wird durch weitere Bestimmungen des Vertrags und sekundaÈres Gemeinschaftsrecht naÈher ausgefu È hrt. Diese Regelungen geben den erwerbstaÈtigen Unionsbu È rgern und ihren AngehoÈrigen und ± soweit sie u È ber eine ausreichende Krankenversicherung und ausreichende eigene Mittel verfu È gen ± auch allen anderen Bu È rgern der EU ein Recht auf Einreise und Aufenthalt in jedem Mitgliedstaat. Die persoÈnliche Freizu È gigkeit der EU-Bu È rger wird auch noch dadurch geschu È tzt, dass nach der Judikatur des EuGH eine Ausweisung auf Lebenszeit idR unzulaÈssig ist und den sich in einem anderen Mitgliedstaat rechtmaÈûig aufhaltenden EU-Bu È rgern auch ein umfassender Schutz vor Diskriminierungen zukommt (vgl EuGH, Calfa, Rs C-348/96, Slg 1999, I-11 und EuGH, Sala, Rs C-85/96, Slg 1998, I-2691).
50.5. Das Verbot der Zwangs- oder Pflichtarbeit Rechtsquellen: Art 4 EMRK; Art 5 EGC. 1387 1. Die unmenschlichsten Formen der persoÈnlichen AbhaÈngigkeit, die Sklaverei und È sterreich bereits durch § 16 ABGB untersagt; die Leibeigenschaft, wurden fu Èr O durch Art 4 Abs 1 EMRK werden diese Verbote auch verfassungsrechtlich abgesichert. Art 4 Abs 2 EMRK ergaÈnzt diese historisch bedingten Verbote durch ein Verbot der Zwangs- und Pflichtarbeit. 1388 2. Die nach Art 4 Abs 2 EMRK verbotene Zwangs- oder Pflichtarbeit umfasst jede Verpflichtung zu einer hoÈchstpersoÈnlichen Dienstleistung, gleichgu È ltig ob es sich um eine koÈrperliche oder geistige Arbeit handelt, sofern die Verpflichtung nicht freiwillig u È bernommen wird. Fu È r den EGMR ist daru È ber hinaus auch noch entscheidend, ob die Arbeit ungerecht oder unterdru È ckend ist bzw zwangslaÈufige HaÈrten zur Folge hat (EGMR, Van der Mussele, EuGRZ 1985, 477). Nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit gelten nach Art 4 Abs 3 EMRK die folgenden Arbeiten: . ¹normalerweiseª verlangte Arbeiten im Rahmen einer konventionskonformen Haft, . Dienstleistungen im Rahmen der Wehrpflicht oder eines ZivildienstverhaÈltnisses,
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. Dienstleistungen im Fall von NotstaÈnden und Katastrophen, . schlieûlich jede Arbeit, die zu den normalen Bu È rgerpflichten gehoÈrt. Zu den normalen Bu È rgerpflichten wird man jene Pflichten rechnen mu È ssen, die von jedem 1389 Bu È nnen und die ihm zumutbar È rger einer demokratischen Gesellschaft erwartet werden ko È bernahme des Amtes eines SchoÈffen oder Geschworenen, die in den sind. Dazu geho È ren die U Gemeindeordnungen zum Teil vorgesehenen ¹Hand- und Zugdiensteª fu È r bestimmte Gemeindeerfordernisse, wenn sie der oder die Verpflichtete selbst erbringen kann (VfSlg 13.185/1992), eine auf das Zumutbare beschraÈnkte Pflicht zur Verbringung von Mu È lltonnen an einen geeigneten Abholort (VfSlg 11.198/1986), aber auch die nicht unerheblich belastenden Mitwirkungspflichten der Arbeitgeber bei der Einhebung der Lohnsteuer (VfSlg 6425/1971). Auf eine nach Art 4 Abs 2 EMRK verbotene Zwangsarbeit wu È rde es hinauslaufen, wenn ein Arbeitnehmer ohne seine ausdru È ckliche Zustimmung durch privatrechtlichen Vertrag an einen anderen Arbeitgeber ¹verliehenª wu È rde (so OGH SZ 70/148 zur ¹Verleihungª eines Fuûballspielers an einen anderen Verein).
50.6. Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und das Grundrecht auf Datenschutz Rechtsquellen: Art 8 EMRK; Art 12 EMRK; § 1 DSG 2000 (Verfassungsbestimmung); Art 7, 8 EGC. WaÈhrend das nationale oÈsterreichische Verfassungsrecht die PrivatsphaÈre eines 1390 Menschen nur punktuell vor gewissen Eingriffsakten geschu È tzt hat (Unverletzlichkeit des Hausrechts, Brief- und Fernmeldegeheimnis), gibt Art 8 EMRK dem Privatund Familienleben einen umfassenden Schutz. Dieses Grundrecht traÈgt der Tatsache Rechnung, dass die moderne Gesellschaft die IntegritaÈt der menschlichen PersoÈnlichkeit und das familiaÈre Zusammenleben in vielfacher Weise bedrohen kann. Das Grundrecht auf Datenschutz schu È tzt ebenfalls das Privat- und Familienleben mit Blickrichtung auf das GefaÈhrdungspotential, das von den MoÈglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung ausgeht, hat aber einen daru È ber hinausgehenden Anwendungsbereich. Auch im Recht der EU gibt es einen umfassenden Schutz der PrivatsphaÈre, wobei die EGC das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens einschlieûlich des Schutzes der Wohnung und der Kommunikation (Art 7) sowie den Schutz personenbezogener Daten (Art 8) besonders hervorgehoben hat. So hat der EuGH etwa das Arztgeheimnis als Bestandteil der geschu È tzten PrivatsphaÈre behandelt, die durch Maûnahmen der Mitgliedstaaten zur Arzneimittelkontrolle nicht in unverhaÈltnismaÈûiger Weise angetastet werden darf (EuGH, Kommission/ Deutschland, Rs C-62/90, Slg 1992, I-2575). Datenverarbeitungen werden vom EuGH auch anhand von Art 8 EMRK gepru È ft (EuGH, Rechnungshof gegen ORF ua, verb Rs C-465/00, Slg 2003, I-4989).
50.6.1. Der Schutz des Privatlebens 1. Das Recht auf Achtung des Privatlebens schu È tzt die einzigartige PersoÈnlichkeit 1391 des Menschen in ihrer physischen, seelischen und geistigen Existenz, wie sie sich in der Begegnung des Menschen mit sich selbst und in zwischenmenschlichen Bezu Ègen Èauûert. Eine abschlieûende Umschreibung des geschu È tzten Bereichs ist bis jetzt nicht gelungen; vor allem laÈsst sich die verfassungsrechtlich geschu È tzte PrivatsphaÈre nicht ohne weiteres auf die GegensaÈtze oÈffentlich ± privat oder Berufsleben ± Privatleben reduzieren. Zum geschu È tzten Privatleben eines Menschen gehoÈren jedenfalls die Verfu È gung u È ber den ei- 1392 genen KoÈrper, sein Sexualverhalten und seine ko È rperlichen und geistigen Befindlichkeiten (zB sein Gesundheitszustand), aber auch sein privates Tun und Treiben, seine Kontakte mit engen Bezugspersonen und seine persoÈnliche IdentitaÈt. Im Einzelnen kann die Abgrenzung des in
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Teil IV. Die Grundrechte
Art 8 EMRK gewaÈhrleisteten Privatlebens schwierig sein, wobei diese Schwierigkeiten zum Teil damit zusammenhaÈngen, dass viele Eingriffe in dieses Recht ihrem Wesen nach nicht-materieller Natur sind (zB Informationseingriffe), zum Teil aber auch damit, dass sich die PersoÈnlichkeit eines Menschen in vielfaÈltiger Weise in der Interaktion mit der Gemeinschaft entfaltet. È ffentlichkeit oder im Beruf Ausdruck der Daher kann auch das Verhalten in der (raÈumlichen) O geschu È ffentlichen VideoÈ tzten Privatheit sein, weshalb zB das Anmieten eines Films in einer o thek genauso zur PrivatsphaÈre gehoÈrt wie der Aufenthalt im oÈffentlichen Krankenhaus oder ein privates Telefonat am Arbeitsplatz. Denn ¹in einer von der Achtung der Freiheit gepraÈgten Gesellschaft ... braucht der Bu È rger ohne triftigen Grund niemandem Einblick zu gewaÈhren, welchem Zeitvertreib er nachgeht, welche Bu È cher er kauft, welche Zeitungen er abonniert, was er isst und trinkt und wo er die Nacht verbringtª (VfSlg 12.689/1991). Den schutzwu È rdigsten Teil der PrivatsphaÈre bildet der Intimbereich eines Menschen (zB seine koÈrperlichen und psychischen Befindlichkeiten, seine Krankheiten und sein Geisteszustand, sein Sexualverhalten), zu dem auûerdem noch der engere Kreis der persoÈnlichen Beziehungen zu seinem Partner, zu Familienmitgliedern, Freunden oder Vertrauten (zB Arzt, Beichtvater) gehoÈrt. Zum Privatleben kann aber auch das Leben im Beruf oder in gesellschaftlichen ZusammenhaÈngen zu rechnen sein, auch wenn hier der Einzelne weder auf eine vollstaÈndige Abschirmung vertrauen È fnoch einen umfassenden Schutz seiner Privatheit beanspruchen kann. Verhalten, das an die O fentlichkeit adressiert ist, oder Handlungen mit starkem Sozialbezug gehoÈren nicht mehr zum Privatleben. Auch so genannte Personen der Zeitgeschichte haben einen Anspruch auf den Schutz einer abgeschirmten SphaÈre der Privatheit (vgl EGMR, Hannover, MR 2004, 246 zum Schutz der monegassischen Prinzessin vor aufdringlichen Paparazzi).
1393 Ein wirkungsvoller Schutz des Privatlebens setzt voraus, dass der Staat den Einzelnen È bergriffen Dritter schu auch vor U È tzt (EGMR, Marckx, EuGRZ 1979, 454). Das kann auch die Pflicht umschlieûen, entsprechenden strafrechtlichen Schutz vor Eingriffen in die persoÈnliche IntegritaÈt zu schaffen (zu einem PoÈnalisierungsgebot im Hinblick auf Vergewaltigungen vgl EGMR, X und Y gegen die Niederlande, EuGRZ 1985, 297). Weil schwere UmweltbeeintraÈchtigungen das in Art 8 EMRK gewaÈhrleistete Privat- und Familienleben beeintraÈchtigen koÈnnen, folgt aus diesem Grundrecht eine Verpflichtung der BehoÈrden zur Information der BevoÈlkerung u È ber die RisikoÈ JZ 1999, 33). faktoren einer gefahrentraÈchtigen Industrieanlage (EGMR, Guerra, O Nach Ansicht des EGMR soll auch der gute Ruf eines Menschen Teil seines geschu È tzten Privatlebens sein, so dass der Staat verpflichtet ist fu È r einen ausreichenden Schutz der persoÈnlichen Ehre zu sorgen (EGMR, Pfeifer, MR 2007, 362). 1394 2. Eingriffe in das Privatleben sind nur unter den Bedingungen des Art 8 Abs 2 EMRK zulaÈssig, dh wenn sie gesetzlich vorgesehen und zur Erreichung eines in dieser Bestimmung umschriebenen o È ffentlichen Zwecks auch in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind. Weil gerade eine Demokratie darauf angewiesen ist, dass der Einzelne, der ihr angehoÈrt, nicht in allen seinen Bezu È gen einer Kontrolle È ffentlichkeit unterworfen ist, muss sie in besonderer Weise die Privatheit durch die O ihrer Bu È rger respektieren. Denn gemessen an den WertmaûstaÈben einer Demokratie ist der Staat ¹nicht dazu legitimiert, die Freiheit des Individuums in Ansehung von È ffentlichkeit gegenu Verhaltensweisen einzuschraÈnken, die der O È ber nicht in Erscheinung treten und weder Gemeinschaftsinteressen noch auch legitime Interessen anderer Individuen irgendwie beeintraÈchtigenª (VfSlg 8272/1978). Im Einzelnen hat Art 8 EMRK einen breiten Anwendungsbereich, der hier nur exemplarisch behandelt werden kann: 1395 a) Das menschliche Sexualverhalten darf der Staat nur insoweit reglementieren, als die
Rechte anderer oder die oÈffentliche Ordnung betroffen sind. Das Verbot einer nicht o È ffentlich in Erscheinung tretenden Prostitution war daher verfassungswidrig, weil der ¹Umstand, dass dieses Verhalten als unmoralisch qualifiziert wird, ... fu È r sich allein noch nicht zur Folge (hat), dass ein Verbot als zulaÈssig, weil ,in einer demokratischen Gesellschaft ... notwendig`, beurteilt werden du È rfteª (VfSlg 8272/1978). Auch ein Verbot homosexueller Beziehungen zwischen Erwachsenen verstoÈût gegen Art 8 EMRK (zB EGMR, Dudgeon, EuGRZ 1983, 488). BeschraÈnkun-
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gen oder Verbote der Prostitution sind zulaÈssig, soweit sie die gewerbsmaÈûig ausgeu È bte und oÈffentlich in Erscheinung tretende Prostitution betreffen (zB VfSlg 9252/1981, 11.926/1988). È rperliche oder psychische IntegritaÈt, wie zwangsweise Bluttests, 1396 b) Eingriffe in die ko psychiatrische Zwangsuntersuchungen oder genetische Untersuchungen (DNA-Analysen), ko È nnen nur zulaÈssig sein, wenn es dafu È r ein gewichtiges Interesse iS des Art 8 Abs 2 EMRK gibt. Die in der Verfassungsbestimmung des § 5 Abs 6 StVO verankerte und durch eine Verwaltungsstrafe sanktionierte Pflicht sich unter bestimmten Voraussetzungen Blut abnehmen zu lassen, bildet keine gesetzliche Grundlage fu È r eine zwangsweise Blutabnahme; daher stellt nach VfSlg 11.923/1988 auch eine Blutabnahme bei bewusstlosen Personen einen gesetzlosen und daher verfassungswidrigen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens dar. c) Zum geschu È tzten Privatleben gehoÈrt auch die IdentitaÈt eines Menschen. Daher kann Art 8 1397 EMRK verletzt sein, wenn der Staat nach einer Geschlechtsumwandlung die NamensaÈnderung È JZ 1992, 625) oder die Eheschlieûung verwehrt (VwSlg 14.748 A/ verweigert (EGMR, B., O 1997). Der Einzelne ist daru È ber hinaus auch vor Missdeutungen seiner IdentitaÈt zu schu È tzen und vor einer grundlosen Bloûstellung, was etwa im Zusammenhang mit der Berichterstattung in den Massenmedien Bedeutung erlangen kann. In Verbindung mit dem PersoÈnlichkeitsrecht des § 16 ABGB hat daher der OGH aus Art 8 EMRK einen zivilrechtlichen Anspruch auf NamensanonymitaÈt abgeleitet (OGH SZ 59/182). Zu einem in Art 8 EMRK angesiedelten Ehrenschutz vgl oben Rz 1393. d) In das Privatleben eines Menschen wird auch eingegriffen, wenn Auûenstehende sich Infor- 1398 mationen aus diesem Bereich verschaffen (so genannte Informationseingriffe). Das gilt fu Èr die erkennungsdienstliche Behandlung genauso wie fu È r statistische Erfassungen, die jeweils nur bei entsprechendem o È ffentlichen Interesse und im Rahmen des VerhaÈltnismaÈûigen zulaÈssig sind. Bei dieser AbwaÈgung kommt es auf die Art der Informationen an, deren sich der Staat bemaÈchtigt, auf den Umfang der Datenerfassung und die weitere Verwendung der Daten und die Dauer ihrer Aufbewahrung. Verfassungswidrig waÈre jedenfalls die vollstaÈndige ¹Durchleuchtungª eines Menschen oder die Anlage lu È ckenloser Datenprofile. Die Ende der È ber1990er Jahre eingefu È hrten und in den letzten Jahren weiter ausgebauten polizeilichen U wachungsmaûnahmen (¹groûer Lauschangriffª, ¹Rasterfahndungª) stellen intensive Grundrechtseingriffe dar, weil hier Menschen ohne ihr Wissen im geschu È tzten Bereich der Wohnung in einer privaten Kommunikationssituation belauscht bzw eine Vielzahl von Daten auch von unbeteiligten Bu È rgern verknu È pft werden koÈnnen. Derartige Eingriffe koÈnnen angesichts des neuen, von der organisierten KriminalitaÈt und dem Terrorismus ausgehenden GefaÈhrdungspotentials gerechtfertigt sein. Entscheidend ist aber die naÈhere Ausgestaltung dieser Maûnahmen, weil der Staat die damit verbundenen Grundrechtseingriffe moÈglichst gering halten und vor allem auch fu È r einen gehoÈrigen Schutz vor Missbrauch sorgen muss, der auf die Besonderheiten È berwachung zugeschnitten ist (VfSlg 17.102/2004). Denn Befugnisse zur geeiner geheimen U È berwachung von Bu heimen U È rgern, wie sie fu È r einen Polizeistaat typisch sind, koÈnnen in einer demokratischen Gesellschaft nur bei auûergewo È hnlichen Situationen und in engen Grenzen zulaÈssig sein (EGMR, Klass, EuGRZ 1979, 278). Werden die Bu È ffentlichen È rger auch bei ihrem o Auftreten durch technische Mittel u È ffentÈ berwacht, wie das zB bei der Videou È berwachung an o lichen Orten oder der verdeckten Erfassung von Autokennzeichen der Fall ist, mu È ssen ausreichende EinschraÈnkungen und Sicherungen vorgesehen sein, wenn diese Maûnahmen im Licht des Art 8 EMRK zulaÈssig sein sollen (etwa im Hinblick auf die Speicherung der gewonnenen Daten und die Dauer ihrer Aufbewahrung; vgl zu diesen Maûnahmen § 54 Abs 4b und Abs 6 SPG). Die Einrichtung von Rechtsschutzbeauftragten kann Schutz vor Missbrauch bieten, wenn diese die BehoÈrden tatsaÈchlich wirksam kontrollieren ko È nnen (vgl Rz 1327). Auch die Erfassung von Daten aus dem privaten Bereich, wie sie etwa zu Steuerzwecken notwendig sein kann, muss sich auf das Erforderliche beschraÈnken. Daher war es verfassungswidrig, wenn eine umfassende Registrierung der vom Bu È rger in Videotheken entlehnten Filme zur Sicherung einer Videoabgabe gesetzlich vorgeschrieben war (VfSlg 12.689/1991) und ist der Schutz der privaten SphaÈre bei der Bestimmung des Hauptwohnsitzes einer Person zu beachten, was zu einer Einengung der zulaÈssigen Beweismittel fu È hrt (VfSlg 16.285/2001). Verletzt wird das Recht auf Achtung der PrivatsphaÈre durch eine namentliche Offenlegung von Einkommensdaten, und zwar auch dann, wenn es sich um o È ffentliche Unternehmen handelt (VfSlg 17.065/2003). Die lu È ckenlose Erfassung von GespraÈchsdaten durch einen Arbeitgeber kann Art 8 EMRK beeintraÈchtigten (OGH SZ 2002/83).
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Teil IV. Die Grundrechte
1399 e) Der Einzelne hat auûerdem einen Anspruch darauf in seiner privaten SphaÈre durch Dritte
nicht unnoÈtig belaÈstigt zu werden; die Rechtswidrigkeit einer StoÈrung durch anonyme TeleÈ berwachungskameras kann daher fonanrufe oder die UnzulaÈssigkeit der Installierung von U auch aus dem Grundrecht auf Achtung des Privatlebens heraus begru È ndet werden (OGH 18.10.1994, 4 Ob 99/94, JBl 1995, 166; OGH 14.5.1997, 7 Ob 89/97, JBl 1997, 641; OGH SZ 70/18).
1400 Nach der zu Art 8 EMRK gebraÈuchlichen ¹Grundrechtsformelª verletzt ein Bescheid das Grundrecht, wenn er ohne jede Rechtsgrundlage ergeht, wenn er auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die BehoÈrde eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmoÈglicher Weise anwendet; ein solcher Fall liegt vor, wenn die BehoÈrde einen mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellenden schweren Fehler begeht oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift faÈlschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt (zB VfSlg 13.610/1993, 13.723/1994 uva).
50.6.2. Der Schutz des Familienlebens 1401 1. Das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art 8 EMRK schu È tzt das Zusammenleben in der Familie, deren IntegritaÈt eine wichtige Voraussetzung fu È r die Entwicklung der menschlichen PersoÈnlichkeit ist. Das geschu È tzte Familienleben umfasst das Zusammenleben der Eltern mit ihren Kindern, zu denen selbstverstaÈndlich auch uneheliche Kinder, aber auch adoptierte Kinder gehoÈren, auûerdem das Zusammenleben eines Elternteils mit dem Kind oder die Beziehung von LebensgefaÈhrten auûerhalb einer Ehe; die familiaÈren Beziehungen zu einem Kind bleiben auch nach einer Scheidung oder Trennung der Eltern bestehen. NaÈhere Verwandte, insbesondere auch die Groûeltern oder Geschwister, gehoÈren zur geschu È tzten Familie, wenn tatsaÈchliche familiaÈre Bindungen bestehen. 1402 2. Der Staat wird durch Art 8 EMRK verpflichtet Eingriffe in den geschu È tzten Bereich des Familienlebens zu unterlassen und dessen IntegritaÈt bei allen Akten der Rechtsetzung und Vollziehung zu respektieren. Eltern steht das Recht zu das Familienleben mit ihren Kindern nach eigenem Gutdu È nken zu leben und zu gestalten. Die gebotene Achtung des Familienlebens schlieût die positive Verpflichtung ein den Menschen die Fu È hrung eines normalen Familienlebens zu ermoÈglichen (EGMR, Keegan, EuGRZ 1995, 113). Dagegen kann aus Art 8 EMRK kein Anspruch auf eine finanzielle Unterstu È tzung von Familien nach der Art einer Familienbeihilfe abgeleitet werden; wenn der Staat eine solche gewaÈhrt, darf er dabei freilich nicht diskriminieren (Art 8 iVm Art 14 EMRK). 1403 Ein Schwerpunkt des Grundrechts liegt bei der Gestaltung der familienrechtlichen Bezie-
hungen, wobei der Gesetzgeber freilich einen nicht unerheblichen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum in Anspruch nehmen kann. Unter Hinweis auf diesen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum hat der VfGH die Regelung des § 177 ABGB (aF) nicht beanstandet, die ein gemeinsames Sorgerecht der Eltern nach ihrer Scheidung grundsaÈtzlich ausschloss (VfSlg 12.103/ 1989, 14.301/1995). Die durch das FortpflanzungsmedizinG BGBl 1992/275 idgF errichteten BeschraÈnkungen bei der heterologen In-vitro-Fertilisation sind nach Ansicht des VfGH gerechtfertigt, wobei der Gerichtshof ebenfalls auf den weiten rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und die beru È ffentlichen Interessen hinwies (VfSlg 15.632/1999). Das È hrten o kann bedeuten, dass das Recht des Menschen auf Kinder im Licht weiterer Entwicklungen ggf erneut zu u È berdenken sein wird. Der Entzug des Sorgerechts wegen der ZugehoÈrigkeit eines Elternteils zu einer Sekte kann auf eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Familienle-
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bens in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK hinauslaufen (EGMR, È JZ 1993, 853; OGH SZ 69/179). Hoffmann, O
3. Besondere Bedeutung hat das Recht auf Achtung des Familienlebens fu È r den Be- 1404 reich des AuslaÈnderrechts erlangt. Durch aufenthaltsbeendende Maûnahmen (zB Ausweisung, Aufenthaltsverbot) wird in vielen FaÈllen in dieses Recht eingegriffen, wobei die Ausweisung eines Fremden, der im Aufenthaltsstaat geboren wurde oder dort zumindest laÈngere Zeit gelebt hat (AuslaÈnder zweiter Generation), selbst dann unverhaÈltnismaÈûig iS von Art 8 Abs 2 EMRK sein kann, wenn der AuslaÈnder schwerere Straftaten veru È bt hat (vgl aus der Straûburger Judikatur zB EGMR, Mehemi, È JZ 1998, 625; zu einer zulaÈssigen Ausweisung vgl zB EGMR, Boughanemi, O È JZ O 1996, 834). Ein Recht auf Familienzusammenfu È hrung kann dagegen aus Art 8 EMRK nur in SonderfaÈllen abgeleitet werden, und es besteht vor allem dann nicht, wenn die MoÈglichkeit besteht, das Familienleben im eigenen Staat aufzunehmen (vgl zB EGMR, Sen, NL 2002, 11; EGMR Rodrigues, NL 2006, 26). Weil die VerhaÈngung eines Aufenthaltsverbots einen intensiven Eingriff in das in Art 8 1405 EMRK gewaÈhrleistete Grundrecht darstellt, ist der Gesetzgeber nach der Judikatur des VfGH verpflichtet, den Eingriffstatbestand besonders genau zu regeln; er muss mit ausreichender Bestimmtheit zu erkennen geben, unter welchen Voraussetzungen das Aufenthaltsverbot ohne jede Ru È cksichtnahme auf familiaÈre Beziehungen des Fremden verhaÈngt werden darf und unter welchen Voraussetzungen die familiaÈren oder privaten Interessen in einer InteressenabwaÈgung zu beru È cksichtigen sind (VfSlg 10.737/1985). Bei anderen fremdenpolizeilichen Regelungen, die nicht mit derselben IntensitaÈt und Wahrscheinlichkeit in das Familienleben eingreifen, wie zB bei der Verweigerung eines Sichtvermerks oder der Ausweisung eines Fremden, reicht es im Hinblick auf Art 8 EMRK aus, wenn das Gesetz ausreichenden Spielraum fu È r die Beru È cksichtigung der familiaÈren Belange eines Fremden belaÈsst. In solchen FaÈllen ist die BehoÈrde aber zu einer an den Wertungen des Art 8 EMRK orientierten InteressenabwaÈgung verpflichtet. UnterlaÈsst sie diese InteressenabwaÈgung, ist der Bescheid gemaÈû der bei Art 8 EMRK herangezogenen ¹Grundrechtsformelª (vgl oben Rz 1400) verfassungswidrig, was auch fu È r nur formelhafte AbwaÈgungsentscheidungen gilt, welche die UmstaÈnde eines konkreten Einzelfalls nicht ausreichend beru È cksichtigen. Anhand von mehreren EinzelfaÈllen hat der VfGH u È berdies gewisse allgemeine Kriterien aufgestellt, welche die BehoÈrden in verfassungskonformer Weise È sterreich zu beru È cksichtigen haben, wenn sie u È ber den weiteren Verbleib eines AuslaÈnders in O (¹Bleiberechtª) zu entscheiden haben (zB die Dauer des Aufenthalts, die Integration des AuslaÈnders, aber auch das Gewicht allfaÈlliger Straftaten). Danach kann unter gewissen UmstaÈnden nach einem fu È nfjaÈhrigen Aufenthalt ein Bleiberecht entstanden sein, waÈhrend andererseits auch bei einem sehr viel laÈngeren Aufenhalt eine Ausweisung noch zulaÈssig sein kann, wenn das Aufenthaltsrecht etwa durch wiederholte Scheinehen erschlichen wurde (vgl VfGH 29.9.2007, B 328/07 und B 1150/07). Der bloûe Umstand, dass sich ein Fremder laÈngere Zeit È sterreich aufgehalten hat, darf nicht nur zu seinen Lasten beru rechtswidrig in O È cksichtigt werden, vor allem wenn die Aufenthaltsdauer letztlich auf die primaÈr von der BehoÈrde zu verantwortende Dauer der asyl- und fremdenrechtlichen Verfahren zuru È ckzufu È hren ist, der Fremde selbst aber unbescholten ist und eine Familie gegru È ndet hat (vgl zB VfGH 13.3.2008, B 1032/07 ua). Weil Fremden unter UmstaÈnden aus Art 8 EMRK ein Recht auf Aufenthalt im Inland erwachsen kann, ist es auch verfassungswidrig, wenn der Fremde selbst keinen entsprechenden Antrag stellen und ein humanitaÈres Bleiberecht nur von Amts wegen zuerkannt werden kann (VfGH 27.6.2008, G 246/07).
50.6.3. Das Recht auf Eheschlieûung In Zusammenhang mit Art 8 EMRK steht das in Art 12 EMRK gewaÈhrleistete Recht 1406 eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gru È nden. Im Hinblick auf das Recht der Eheschlieûung liegt der Konvention das traditionelle Bild einer rechtsfo È rmlich eingerichteten Lebensgemeinschaft von Mann und Frau zu Grunde (EGMR, CosÈ JZ 1991, 173). Dieses Recht steht MaÈnnern und Frauen im heiratsfaÈhigen Alter sey, O nach Maûgabe der einschlaÈgigen nationalen Gesetze zu, die freilich den Wesensge-
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halt dieses Rechts nicht verletzen du È rfen. Die Begru È ndung einer Familie ist dagegen nicht zwangslaÈufig mit der Eheschlieûung verbunden, so dass auch Raum fu È r familiaÈre Lebensformen auûerhalb einer Ehe besteht. Nach der auf Art 8 und 12 EMRK gestu È tzten Rechtsansicht des VwGH darf einem Menschen, der sich einer wirksamen Geschlechtsumwandlung unterzogen hat, die Eheschlieûung nicht wegen des Ehehindernisses der Gleichgeschlechtlichkeit verwehrt werden (VwSlg 14.748 A/ 1997). Eine Ausdehnung des Rechts auf Eheschlieûung auf homosexuelle Beziehungen kann nach Ansicht des VfGH dem oÈsterreichischen Verfassungsrecht nicht entnommen werden, obwohl sich auch solche Partnerschaften auf Art 8 EMRK berufen koÈnnen und nicht diskriminiert werden du È rfen (VfSlg 17.098/2003); eine Gleichbehandlung von gleichgeschlechtlichen Partnern mit Ehepartnern im Fremdenrecht ist allerdings nicht geboten (VfSlg 17.337/ 2004). Im Mietrecht wird dagegen in der Judikatur des EGMR die homosexuelle Partnerschaft einer heterosexuellen gleich gestellt und daher ein Eintrittsrecht des Partners auch bei einer È JZ-MRK 2004, 36; gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft bejaht (vgl EGMR, Karner, O OGH 5 Ob 70/06i, RdW 2006/689, 757). Anspru È che auf staatliche FoÈrderung der Familien oder ihre steuerliche Begu È nstigung koÈnnen aus Art 12 EMRK nicht abgeleitet werden (VfSlg 6071/1969, 8037/1977).
50.6.4. Das Grundrecht auf Datenschutz 1407 Das Datenschutzgesetz 2000 (DSG 2000) mo È chte den Gefahren entgegenwirken, die von den nahezu unbegrenzten MoÈglichkeiten der Speicherung und Verarbeitung von Daten in elektronischen Datenverarbeitungsanlagen oder anderen DatensammÈ bermittlung von Dalungen ausgehen. Indem es die Ermittlung, Verarbeitung und U ten im oÈffentlichen und privaten Bereich an enge ZulaÈssigkeitsgrenzen bindet, soll eine Art informationelles Selbstbestimmungsrecht verwirklicht werden. An die Spitze dieses Gesetzes hat der Gesetzgeber auch ein Grundrecht gestellt, naÈmlich das in der Verfassungsbestimmung des § 1 DSG verankerte Grundrecht auf Datenschutz, das die einfachgesetzlichen Bestimmungen des DSG verfassungsrechtlich absichert und einen allgemeinen Geheimhaltungsschutz verbu È rgt. 1408 1. Nach § 1 Abs 1 DSG hat jedermann einen grundrechtlichen Anspruch auf Geheimhaltung der ihn betreffenden personenbezogenen Daten, soweit daran ein schutzwu È rdiges Interesse, insbesondere im Hinblick auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, besteht. Dieses allgemeine Grundrecht auf Datenschutz gilt nicht nur fu È r automationsunterstu È tzt verarbeitete Daten, sondern auch fu È r konventionelle Datensammlungen (zB Karteien). Es bezieht sich auf die Ermittlung und den Schutz vor der Weitergabe der ermittelten Daten; der Schutz entfaÈllt aber, wenn die Daten allgemein verfu È gbar oder so weit anonymisiert sind, dass sie nicht auf einen Betroffenen zuru È ckgefu È hrt werden koÈnnen. In diesem Umfang sind nicht nur die Daten natu È rlicher Personen, sondern auch die von juristischen Personen geschu È tzt, so dass § 1 DSG auch einen Schutz von Wirtschaftsgeheimnissen verbu È rgt. 1409 Nach § 1 Abs 5 DSG ist das Grundrecht auf Datenschutz im Zivilrechtsweg geltend zu machen,
soweit RechtstraÈger in Formen des Privatrechts eingerichtet sind und nicht in Vollziehung der Gesetze taÈtig werden. Durch diese Anordnung ist dem Grundrecht auf Datenschutz ausdru È cklich unmittelbare Drittwirkung zuerkannt worden (VfSlg 12.194/1989). Daher sind auch private Rechtssubjekte zur Geheimhaltung personenbezogener Daten verpflichtet; ihnen gegenu È ber besteht ein subjektives privates Recht auf Geheimhaltung, das auf zivilrechtlichem Weg, etwa durch eine Unterlassungs- oder Schadenersatzklage, geltend zu machen ist. Im o È ffentlichen Bereich sowie ganz allgemein zur Geltendmachung des Rechts auf Auskunft ist die Datenschutzkommission zustaÈndig.
1410 2. BeschraÈnkungen des in § 1 Abs 1 DSG verbu È rgten Geheimhaltungsanspruchs sind nur zur Wahrung u È berwiegender berechtigter Interessen eines anderen zulaÈssig; bei Eingriffen einer staatlichen BehoÈrde mu È ssen diese BeschraÈnkungen auûer-
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dem in einem Gesetz vorgesehen sein, das aus einem der in Art 8 Abs 2 EMRK genannten Gru È nde notwendig ist. Eingriffe einer staatlichen BehoÈrde unterliegen daher grundsaÈtzlich einem Gesetzesvorbehalt, dh dass der Einzelne eine Datenermittlung oder -weitergabe nur dulden muss, soweit ein Gesetz dazu ermaÈchtigt, wobei der Gesetzgeber an den materiellen Gesetzesvorbehalt des Art 8 Abs 2 EMRK gebunden ist. Bei besonders sensiblen Daten muss der Gesetzgeber angemessene Schutzvorkehrungen treffen und darf jedenfalls den Geheimhaltungsanspruch nicht mehr als notwendig einschraÈnken (zum Begriff der ¹sensiblen Datenª vgl § 4 Z 2 DSG). Klargestellt ist auûerdem, dass die Zustimmung des Betroffenen zu einer Verwendung seiner Daten den Geheimhaltungsanspruch beseitigt, der auch dann nicht besteht, wenn die Datenverwendung im lebenswichtigen Interesse des Betroffenen selbst erfolgt. a) Statistische Erhebungen, die auf schutzwu È rdige Daten der Bu È rger oder von Unternehmen zugreifen, stellen grundsaÈtzlich einen Eingriff in den Geheimhaltungsanspruch des § 1 Abs 1 DSG dar. Sie ko È nnen aber fu È r das wirtschaftliche Wohl eines Landes notwendig und daher verfassungsrechtlich zulaÈssig sein, wenn sie sich auf den erforderlichen Umfang beschraÈnken und auch die gebotene Geheimhaltung gesichert ist; dies gilt auch fu È r die VeroÈffentlichung von statistischen Daten, die freilich keinen Ru È ckschluss auf schutzwu È rdige und durch das Grundrecht geschu È tzte personenbezogene Daten erlauben du È rfen (VfSlg 12.228/1989). Gesetze, welche den Datenschutz einschraÈnken, unterliegen einem strikten VerhaÈltnismaÈûigkeitsgebot und sie mu È ssen die erlaubten Eingriffe praÈzise festlegen; eine gesetzliche Verpflichtung zur Auskunftserteilung, die es erlaubt Daten gleichsam ¹auf Vorratª abzufragen, ist verfassungswidrig (VfSlg 16.369/2001). Das Erfordernis einer praÈzisen Regelung einer Datensammlung und -verwendung, die diese Eingriffe auch vorhersehbar macht, gilt vor allem auch fu È r die massenhafte Erfassung von persoÈnlichkeitsbezogenen Daten, wie sie etwa bei automatischen Geschwindigkeitsmesssystemen (Section Control) anfallen (VfGH 15.6.2007, G 147/06). Der Leitgedanke des GlaÈubigerschutzes rechtfertigt Offenlegungspflichten fu È r Kapitalgesellschaften (OGH 28.6.2000, 6 Ob 162/00t, EvBl 2001/3). b) Auch wenn gesetzliche Bestimmungen eine Datensammlung u È ber laÈngere ZeitraÈume erlauben, haben die BehoÈrden die fu È r die Erfu È llung ihrer Verwaltungszwecke nicht mehr unbedingt benoÈtigten Daten in Anwendung des VerhaÈltnismaÈûigkeitsgrundsatzes zu loÈschen und irrefu È hrende Angaben richtig zu stellen (so VfSlg 16.150/2001 zur zentralen sicherheitspolizeilichen Informationssammlung; VfGH 15.6.2007, G 147/06 zur Section Control).
3. Neben dem allgemeinen Grundrecht auf Datenschutz gewaÈhrt die Verfassungsbe- 1411 stimmung des § 1 Abs 3 DSG weitere grundrechtliche Anspru È che: Danach hat jedermann ein Recht auf Auskunft daru È ber, wer welche Daten u È ber ihn verarbeitet, woher die Daten stammen und wozu sie verwendet werden. Er hat ferner ein verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistetes Recht auf Richtigstellung unrichtiger Daten bzw È schung unzulaÈssigerweise verarbeiteter Daten. Diese Rechte beziehen sich auf Lo auf die automationsunterstu È tzte Datenverarbeitung sowie auf sonstige strukturierte Datensammlungen, die ohne Automationsunterstu È tzung hergestellt und benu È tzt werden. EingeraÈumt sind diese Rechte freilich nur nach Maûgabe gesetzlicher Bestimmungen, dh dass der einfache Gesetzgeber die naÈhere Reichweite dieser Rechte und die ModalitaÈten ihrer Durchsetzung zu regeln hat. Eine generelle EinschraÈnkung des Auskunftsrechts durch eine einfachgesetzliche Bestimmung ist verfassungswidrig (VfSlg 16.986/2003). Nach VfSlg 11.548/1987, 12.768/1991 verletzt allerdings nicht jeder Verstoû gegen einfachgesetzliche Bestimmungen des DSG das Grundrecht auf Datenschutz, sondern nur eine Auslegung des Gesetzes, die den angefu È hrten Verfassungsbestimmungen nicht Rechnung traÈgt oder die diese Rechte in einer den Anforderungen des Art 8 Abs 2 EMRK nicht genu È genden Weise beschraÈnkt. In diesem Umfang nimmt der VfGH daher nur eine so genannte ¹Grobpru È fungª von Bescheiden der Datenschutzkommission vor.
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50.7. Der Schutz des Hausrechts und des Brief- und Fernmeldegeheimnisses Rechtsquellen: Art 9 StGG; Gesetz zum Schutze des Hausrechtes; Art 10 StGG; Art 10a StGG; Art 8 EMRK; Art 7 EGC. 1412 Die Unverletzlichkeit des Hausrechts gehoÈrt zum traditionellen liberalen Grundrechtsbestand. Schutz vor willku È rlichen Hausdurchsuchungen gewaÈhrte bereits das Gesetz zum Schutze des Hausrechtes vom 27. Oktober 1862, RGBl 88, das durch Art 9 StGG zu einem Bestandteil des Staatsgrundgesetzes erklaÈrt wurde. Durch Art 8 EMRK, der einen Anspruch auf Achtung der Wohnung verbu È rgt, wurde dieses Grundrecht ergaÈnzt. Der Schutz der IntegritaÈt der haÈuslichen SphaÈre ist auch unter den Bedingungen der Gegenwart immer noch ein wesentlicher Bestandteil der bu È rgerlichen Freiheit. Die freie Entfaltung der PersoÈnlichkeit setzt voraus, dass sich jeder Mensch in die Geborgenheit einer Wohnung zuru È ckziehen und dort abgeschirmt von der o È ffentlichen Anteilnahme sein privates Leben fu È hren kann. 1413 Ebenfalls einen der freien Entfaltung der PersoÈnlichkeit dienenden Geheimbereich schirmen das Grundrecht des Briefgeheimnisses (Art 10 StGG) und das Fernmeldegeheimnis (Art 10a StGG) ab. Der in Art 8 EMRK verankerte Anspruch auf Achtung der Unverletzlichkeit des Briefverkehrs tritt mit einem u È ber einen bloûen Geheimnisschutz hinausreichenden Schutzbereich zu diesen Garantien hinzu. Diese Grundrechte sind auch im EU-Recht anerkannt (Art 7 EGC; vgl zum Schutz des Hausrechts zB EuGH, Roquette FreÁres, Rs C-94/00, Slg 2002, I-9011).
50.7.1. Der Schutz des Hausrechts 1414 1. Der Schutz des Art 9 StGG iVm dem HausrechtsG bezieht sich auf die UnverÈ riger RaÈumletzlichkeit der ¹Wohnung oder sonstiger zum Hauswesen geho lichkeitenª (§ 1 HausrechtsG). Nach der Rspr des VfGH dient das Grundrecht der Wahrung der IntimsphaÈre, weil ¹ein die persoÈnliche Wu È rde und UnabhaÈngigkeit verletzender Eingriff in den Lebenskreis des Wohnungsinhabersª und in ¹Dinge, die man im Allgemeinen berechtigt und gewohnt ist, dem Einblick Fremder zu entziehenª verhindert werden soll (VfSlg 10.897/1986 mwN). Daher ist der Bereich der geschu È tzten RaÈumlichkeiten weit auszulegen; er umfasst jeden abgeschlossenen raÈumlichen Bereich, der dem Einblick Auûenstehender grundsaÈtzlich entzogen ist. Neben Wohnungen im engeren Sinn genieûen auch NebengebaÈude zu Wohnungen (zB Kellerabteile), betrieblich genutzte RaÈumlichkeiten (zB eine Èarztliche Ordination), umfriedete Grundstu È cke oder Wohnmobile den Schutz des HausrechtsG iVm Art 9 StGG. Andererseits soll Art 9 StGG iVm dem HausrechtsG nach der stRspr des VfGH nur vor Hausdurchsuchungen schu È tzen, nicht aber vor anderen BeeintraÈchtigungen der geschu È tzten HaÈuslichkeit. 1415 Eine Hausdurchsuchung ist nur die Suche nach Personen oder GegenstaÈnden, von denen es
unbekannt ist, wo sie sich befinden; andere Formen des Eindringens in den geschu È tzten Bereich, etwa eine beho È rdliche Nachschau zum Zweck der Kontrolle von Verwaltungsvorschriften oder zur AufklaÈrung dubioser VorgaÈnge, gelten nicht als Hausdurchsuchungen. Unter Unverletzlichkeit des Hausrechts versteht der VfGH daher nur den Schutz vor willku È rlichen Hausdurchsuchungen (VfSlg 12.056/1989). Dagegen ist das Betreten eines Hotelzimmers zu Zwecken der polizeilichen Kontrolle im Hinblick auf die Einhaltung der Meldevorschriften (VfSlg 6328/1970) oder das Eindringen in ein Haus um einem Verletzten Hilfe zu leisten (VfSlg 8928/1980) oder das Betreten von RaÈumlichkeiten, wenn die Sicherheitsorgane bereits wissen, dass sich dort eine bestimmte Person aufhaÈlt (VfSlg 11.266/1987), keine Hausdurchsuchung. Ob diese Verku È rzung des Grundrechtsschutzes u È berzeugt, ist fraglich; zT wurde die drohende Rechtsschutzlu È cke allerdings durch Art 8 EMRK geschlossen.
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2. Hausdurchsuchungen sind nur unter den im HausrechtsG statuierten Bedingungen ver- 1416 fassungsgemaÈû. Nach § 1 leg cit du È rfen sie ¹in der Regelª nur kraft eines mit Gru È nden versehenen richterlichen Befehls vorgenommen werden (Richtervorbehalt). Unter gewissen UmstaÈnden ist aber auch eine Hausdurchsuchung ohne richterlichen Befehl zulaÈssig, wobei das HausrechtsG nach dem Zweck der Hausdurchsuchung unterscheidet: a) Hausdurchsuchungen zum Zwecke der Strafrechtspflege (§ 2 HausrechtsG): Haus- 1417 durchsuchungen im Dienste der Strafjustiz, dh zur AufklaÈrung und Verfolgung gerichtlich strafbarer Handlungen, bedu È rfen eines richterlichen Befehls (Bewilligung). Auf die Bewilligung durch einen Richter kann bei Gefahr im Verzug verzichtet werden, dh wenn die Bewilligung ohne GefaÈhrdung des Zwecks der Amtshandlung nicht zeitgerecht eingeholt werden kann. In diesem Fall darf die Hausdurchsuchung auch von den SicherheitsbehoÈrden angeordnet werden; unter gewissen UmstaÈnden (bei Vorliegen eines Vorfu È hrungs- oder Haftbefehls, bei Betreten auf frischer Tat, wenn jemand ¹durch oÈffentliche Nacheile oder oÈffentlichen Ruf einer strafbaren Handlung verdaÈchtigª bezeichnet wird, wenn jemand im Besitz von GegenstaÈnden betreten wird, die auf eine Beteiligung an einer strafbaren Handlung hinweisen) darf eine spontane Hausdurchsuchung auch von einem Sicherheitsorgan ¹aus eigener Machtª, dh ohne behoÈrdliche Anordnung, vorgenommen werden. Die naÈheren gesetzlichen Bestimmungen u È ber Hausdurchsuchungen im Dienste der Strafjustiz finden sich in den §§ 119 ff StPO. Ob Gefahr im Verzug vorliegt und daher auf die richterliche Bewilligung verzichtet werden kann, ist nach strengen MaûstaÈben zu beurteilen; vorausgesetzt ist, dass es nach der Lage des Falles unmoÈglich ist, ohne GefaÈhrdung der Amtshandlung eine richterliche Verfu È gung einzuholen, wobei auch die MoÈglichkeiten einer telefonischen Kontaktaufnahme mit dem Richter unter Beru È cksichtigung eines eingerichteten Journaldienstes ausgescho Èpft werden mu È ssen (VfSlg 12.213/1989, 12.657/1991). Eine von einem Sicherheitsorgan eigenmaÈchtig vorgenommene Hausdurchsuchung setzt daru È ber hinaus eine entsprechende Verdachtslage voraus. Eine Durchsuchung von Orten, die nicht vom Schutz des Hausrechts erfasst sind (zB Durchsuchung eines Pkws oder eines Treppenhauses) darf die Kriminalpolizei von sich aus durchfu È hren (§ 120 Abs 2 StPO). b) Hausdurchsuchungen zum Zwecke der polizeilichen Aufsicht: § 3 HausrechtsG er- 1418 maÈchtigt den Gesetzgeber, zum Zwecke der polizeilichen Aufsicht Hausdurchsuchungen vorzusehen; im Hinblick auf Art 8 EMRK darf der Gesetzgeber freilich nur jene Hausdurchsuchungen vorsehen, die den Eingriffsbedingungen des Art 8 Abs 2 EMRK entsprechen (dazu unten Rz 1424). Entsprechende einfachgesetzliche ErmaÈchtigungen finden sich zB in § 39 Abs 3 SPG oder § 87 TKG. c) Hausdurchsuchungen zum Zwecke der finanziellen Aufsicht (§ 3 HausrechtsG): Auch 1419 zu Zwecken der finanziellen Aufsicht darf der Gesetzgeber Hausdurchsuchungen vorsehen; entsprechende ErmaÈchtigungen finden sich in den §§ 93 ff FinStrG. Diese Hausdurchsuchungen werden durch Bescheid angeordnet; aus eigener Macht du È rfen in diesen FaÈllen Exekutivorgane Hausdurchsuchungen vornehmen, wenn wegen Gefahr im Verzug weder die Einholung eines schriftlichen noch eines mu È ndlichen Befehls moÈglich ist.
3. Die durch ¹richterlichen Befehlª angeordneten, dh von einem Richter bewilligten 1420 Hausdurchsuchungen sind der Gerichtsbarkeit zuzuordnen und auf dem ordentlichen Rechtsweg (durch Beschwerde an das OLG) zu bekaÈmpfen. Hausdurchsuchungen, welche die Kriminalpolizei eigenstaÈndig (ohne richterliche Bewilligung) durchfu È hrt, koÈnnen durch einen Einspruch nach § 106 StPO bekaÈmpft werden. Das gilt auch fu È r FaÈlle, in denen die Polizei die richterliche Verfu È gung ¹u È berschreitetª (etwa durch die Durchsuchung von RaÈumen, die von der richterlichen ErmaÈchtigung nicht erfasst waren). BescheidmaÈûig angeordnete Hausdurchsuchungen sind auf dem Verwaltungsrechtsweg zu bekaÈmpfen. Greift die Polizei auûerhalb ihrer kriminalpolizeilichen Aufgaben nach der StPO in das Hausrecht ein, kann eine Maûnahmebeschwerde an den UVS erhoben werden. 50.7.2. Der Schutz der Wohnung nach Art 8 EMRK 1. Anders als Art 9 StGG in der Auslegung durch den VfGH schu È tzt Art 8 EMRK die 1421 È rdlichen Eingriffen. Wohnung eines Menschen in umfassender Weise vor beho
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1422 In den Schutzbereich des Art 8 EMRK greift daher auch das bloûe Betreten oder Eindringen in eine Wohnung ein, wenn dies ohne Zustimmung des Wohnungsinhabers erfolgt (VfSlg 11.266/1987). Daru È ber hinaus schu È tzt Art 8 EMRK die IntegritaÈt der Wohnung auch gegenu È ber anderen Einwirkungen, so dass etwa auch das Anbringen È berwachungsmitteln oder die ZwangsraÈumung von AbhoÈrgeraÈten und optischen U einer Wohnung in das Grundrecht eingreift. Der EGMR hat daru È ber hinausgehend aus Art 8 EMRK auch ein Recht des Wohnungsinhabers auf Benutzung seiner Wohnung sowie einen Anspruch abgeleitet, vor u È bermaÈûigen, die Benutzung der WohÈ JZ nung beeintraÈchtigenden Immissionen geschu È tzt zu werden (EGMR, Buckley, O 1997, 313). Ein soziales (Grund-)Recht auf Zuweisung einer Wohnung ist dagegen in dieser Bestimmung nicht gewaÈhrleistet. 1423 Andererseits schuÈtzt Art 8 EMRK nur die Wohnung, nicht aber auch andere RaÈumlichkeiten.
Daher hat man angenommen, dass betrieblich genutzte RaÈume oder sonstige, nicht Wohnzwecken gewidmete RaÈume nicht unter diesen Grundrechtstatbestand fallen (VfSlg 11.650/ 1988, 12.135/1989). In dieser Allgemeinheit ist das nicht richtig: Weil auch in GeschaÈftsraÈumen private oder vertrauliche Angelegenheiten behandelt werden ko È nnen und eine klare Trennung zwischen dem privaten und beruflichen Leben oft nicht ohne weiteres moÈglich ist, du È rfen die Begriffe ¹homeª bzw ¹domicileª nicht zu eng ausgelegt werden; im Hinblick auf den Zweck des Art 8 EMRK, naÈmlich den Einzelnen gegen willku È rliche Eingriffe der BehoÈrden zu schu È tzen, umfassen diese Begriffe auch GeschaÈftsraÈumlichkeiten (EGMR, Niemietz, EuGRZ 1993, 65 zur Durchsuchung einer Anwaltskanzlei; dem folgend VfSlg 14.864/1997; EGMR, Buck, NL 2005, 83).
1424 2. BeschraÈnkungen des in Art 8 EMRK gewaÈhrleisteten Achtungsanspruchs sind nur unter den Bedingungen des Art 8 Abs 2 zulaÈssig, dh soweit ein Eingriff in das Wohnungsrecht gesetzlich vorgesehen und zur Erreichung eines der angefu È hrten Zwecke in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Die Verwaltungsvorschriften ermaÈchtigen in vielen FaÈllen die BehoÈrden und ihre Organe zum Betreten von Wohnungen oder Grundstu È cken (vgl zB § 26 AuslaÈnderbeschaÈftigungsG BGBl 1975/218 idgF, § 39 Abs 1 und 2 SPG). Bei der Handhabung dieser Befugnisse ist im Hinblick auf das betroffene Grundrecht der Grundsatz der VerhaÈltnismaÈûigkeit strikt zu beachten. Gesetzlose und unverhaÈltnismaÈûige Eingriffe verletzen das Grundrecht (VfSlg 11.266/1987). 50.7.3. Der Schutz des Briefgeheimnisses und das Recht auf Achtung des Briefverkehrs 1425 1. Art 10 StGG erklaÈrt das Briefgeheimnis fu È r unverletzlich. Verfassungsrechtlich geschu È tzt wird damit die Vertraulichkeit von Briefen, dh von verschlossenen Schriftstu È cken, deren Inhalt nicht Auûenstehenden zur Kenntnis gebracht werden darf. Ein Eingriff in dieses Recht liegt vor, wenn ein Brief geoÈffnet wird, vor allem um von seinem Inhalt Kenntnis zu erlangen. Eine Durchbrechung des Briefgeheimnisses ist nur in den folgenden FaÈllen zulaÈssig: . im Fall einer gesetzlichen Verhaftung oder Hausdurchsuchung; . in KriegsfaÈllen; . auf Grund eines richterlichen Befehls in GemaÈûheit bestehender Gesetze. In den FaÈllen einer Hausdurchsuchung oder Verhaftung du È rfen Briefe auch ohne gesonderte Anordnung beschlagnahmt werden (VfSlg 3592/1959). Auch die Zensur der HaÈftlingspost nach § 90 StVG findet ihre Deckung in Art 10 StGG, weil der Vollzug einer Freiheitsstrafe ein Fall der ¹gesetzlichen Verhaftungª ist (VfSlg 6464/1971). Von den vorstehend angefu È hrten FaÈllen und von einem Kriegsfall abgesehen bedarf eine Beschlagnahme eines Briefes immer eiÈ ffner richterlichen Verfu È gung. NaÈhere Regelungen u È ber die Postbeschlagnahme und die O nung von Briefen eines Beschuldigten finden sich in den §§ 134 ff StPO.
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2. Einen u È ber Art 10 StGG hinausgehenden Anwendungsbereich hat das in Art 8 1426 EMRK enthaltene Recht auf Achtung des Briefverkehrs (Korrespondenz). Nach der Judikatur des EGMR bezieht sich dieser Achtungsanspruch nicht nur auf die schriftliche Korrespondenz, sondern auch auf TelefongespraÈche (EGMR, Klass, EuGRZ 1979, 278). Auûerdem wird in dieses Recht auch dann eingegriffen, wenn staatliche BehoÈrden ± auch ohne Durchbrechung des eigentlichen Briefgeheimnisses ± die Korrespondenz eines Menschen in irgendeiner anderen Weise behindern, etwa indem die Post von HaÈftlingen oder in Anstaltsverwahrung befindlicher Kranker nicht weitergeleitet oder zahlenmaÈûig begrenzt wird (EGMR, Herczegfalvy, EuGRZ 1992, 535). BeschraÈnkungen dieses Rechts sind nur unter den Bedingungen des Art 8 Abs 2 EMRK zu- 1427 laÈssig; daher darf auch bei einem entsprechend gewichtigen oÈffentlichen Interesse der Briefverkehr nicht mehr als notwendig behindert werden, wobei der EGMR vor allem gewisse Grenzen der ZulaÈssigkeit einer Briefkontrolle in GefaÈngnissen und geschlossenen Anstalten aufgezeigt hat (zB EGMR, Pfeifer und Plankl, EuGRZ 1992, 99). Nach VfSlg 13.630/1993 war È berwachung des Briefverkehrs der HaÈftlinge mit AnwaÈlten im Hinblick auf die gebotene die U Vertraulichkeit der Anwaltskorrespondenz verfassungswidrig.
50.7.4. Der Schutz des Fernmeldegeheimnisses und der Telekommunikation Art 10a StGG gestaltet das Fernmeldegeheimnis aus. Es schu È tzt die Vertraulichkeit 1428 der u È ber Telekommunikationsnetze (Telefon, Funk, Internet, sonstige DatenuÈbertragungen) vermittelten und nicht zur Kenntnisnahme durch Dritte bestimmten Kommunikation. Eine Durchbrechung des Fernmeldegeheimnisses ist nur auf Grund eines richterlichen Befehls in GemaÈûheit bestehender Gesetze zulaÈssig, wobei der Gesetzgeber die Schranken des materiellen Gesetzesvorbehalts nach Art 8 Abs 2 EMRK zu beachten hat. Wie dargelegt schu È berÈ tzt auch Art 8 EMRK die Informationsu mittlung u È ber elektronische Kommunikationsnetze; er geht insoweit u È ber Art 10a StGG hinaus, als nicht nur die verbreiteten Inhalte, sondern auch andere Daten geschu È tzt sind, welche den Informationsverkehr betreffen (das sind die Stamm-, Zugangs-, Verkehrs- und Standortdaten (§ 92 TKG), wie zB Name, Telefonnummer, Standort der Anlage, IP-Adresse usw). Eine richterliche Genehmigung ist (nach umÈ berwachung der strittener Ansicht) nicht erforderlich, wenn diese Daten ohne U u È bermittelten Inhalte erfasst werden. Vor allem wegen der groûen Bedeutung der u È ber das Internet vermittelten Kommunikation kann freilich auch schon der Zugriff auf solche Daten zu erheblichen Eingriffen in die FreiheitssphaÈre des Einzelnen fu È hren, weil umfassende Ru È glicht È ckschlu È sse auf sein Kommunikationsverhalten ermo werden. Im Zusammenhang mit der AufklaÈrung gerichtlich strafbarer Handlungen ist die Einholung von 1429 È berAusku È nften u È ber die Daten einer Nachrichtenu È bermittlung sowie die inhaltliche U wachung von Nachrichten, also etwa das AbhoÈren eines Telefonats oder die Einsichtnahme È berwachung von Nachin E-Mails, in den §§ 134 f StPO geregelt. Danach ist die inhaltliche U richten nur in FaÈllen von Entfu È hrungen sowie zum Zwecke der AufklaÈrung schwerer Straftaten zulaÈssig; sie ist von der Staatsanwaltschaft zu beantragen und bedarf einer richterlichen Bewilligung. Nach der StPO bedarf auch der Zugriff auf Zugangs- und Verkehrsdaten (RufdatenruÈckÈ berwachung von erfassung, Standortfeststellung) einer richterlichen Genehmigung. Die U Nachrichten kann sich auch auf die Anlagen unbeteiligter Dritter beziehen, wenn anzunehmen È ber ist, dass ein TatverdaÈchtiger diese Anlage benu È tzt oder mit ihr eine Verbindung herstellt. U die Telefonu È berwachung werden der Inhaber der Fernmeldeanlage und der Beschuldigte erst nach der Beendigung dieser Maûnahme informiert. Der EGMR hat die ZulaÈssigkeit einer Telefonu È berwachung bestaÈtigt, sofern dafu È r eine entsprechende gesetzliche Grundlage im nationalen Recht gegeben ist (EGMR, Malone, EuGRZ 1985, 17). Er hat aber auch betont, dass BefugÈ berwachung von Bu nisse zur geheimen U È rgern, wie sie fu È r einen Polizeistaat typisch sind, in
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È hnlichen Situation zulaÈssig sein einer demokratischen Gesellschaft nur bei einer auûergewo ko È nnen und besonderer Maûnahmen des Rechtsschutzes bedu È rfen (EGMR, Klass, EuGRZ 1979, 278). Erheblich ausgebaut wurden in den letzten Jahren die sicherheitspolizeilichen Befugnisse È berwachung der elektronischen Kommunikation. So gibt § 53 Abs 3a SPG den Sicherheitszur U È berbehoÈrden die Befugnis zu einer Rufdatenru È ckerfassung und sieht eine Verpflichtung zur U mittlung von IP-Adressen vor, die sich auch auf dynamische IP-Adressen bezieht, die vom Provider fu È r einen bestimmten Kommunikationsvorgang im Internet zugewiesen werden. Zur Abwehr von Gefahren fu È r das Leben oder die Gesundheit von Menschen koÈnnen die SicherheitsbehoÈrden die Bekanntgabe des Standorts und der so genannten internationalen Mobilteilnehmerkennung (IMSI) verlangen, durch die unter Verwendung der entsprechenden technischen GeraÈte (IMSI-Catcher) der Standort eines Mobiltelefons innerhalb einer Funkzelle eingegrenzt werden kann. Die Verwendung dieser GeraÈte hat der Gesetzgeber ausdru È cklich zugelassen; IMSI-Catcher erlauben auch ein AbhoÈren von Handy-Telefonaten, womit die Exekutive freilich ihre durch das SPG eingeraÈumten Befugnisse u È berschreiten wu È rde. È Weitere Uberwachungsbefugnisse werden von den SicherheitsbehoÈrden gefordert. Sie sollen sich vor allem auf eine ¹Online-Fahndungª beziehen, durch die auf den Inhalt privater Computer zugegriffen werden soll. Auf der europaÈischen Ebene wurde durch die Richtlinie zur È berwachung der bei der TelekomVorratsdatenspeicherung eine Rechtsgrundlage fu È r die U munikation einschlieûlich des Internet anfallenden Verkehrsdaten geschaffen, wobei diese Daten von den Diensteanbietern unabhaÈngig von konkreten Verdachtslagen lu È ckenlos erfasst und fu È r einen laÈngeren Zeitraum gespeichert werden mu È ssen, damit auf sie von den BehoÈrden gegebenenfalls zugegriffen werden kann (RL 2006/24/EG).
50.8. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit und das Grundrecht auf Wehrdienstverweigerung Rechtsquellen: Art 14 StGG; Art 63 Abs 2 StV St. Germain; Art 9 EMRK; Art 9a Abs 4 B-VG; § 1 ZDG (Verfassungsbestimmung); Art 10 EGC. 1430 Die Glaubensfreiheit war eine wichtige Durchbruchsstelle fu È r die Anerkennung der geistigen Freiheit des Menschen, nachdem der Staat lange Zeit fu È r sich beansprucht hatte, nach der Maxime ¹cuius regio eius religioª auch den Glauben seiner Untertanen bestimmen zu du È rfen. Mit der Gewissensfreiheit anerkennt die Verfassung das Gewissen als den ethisch verpflichtenden Bezugspunkt menschlichen Handelns, das auch dann Verbindlichkeit beansprucht, wenn es zu einem Konflikt mit den von der Gesellschaft aufgestellten Geboten und Verboten kommt (Art 14 StGG, Art 9 EMRK). Eine besondere verfassungsrechtliche Ausgestaltung hat das Recht der Wehrdienstverweigerung erfahren, weil viele junge Menschen den Dienst mit der Waffe aus Gewissensgru È nden ablehnen (Art 9a Abs 4 B-VG, § 1 ZDG). Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit ist auch im EU-Recht anerkannt (Art 10 EGC). Im Hinblick auf das Recht auf Wehrdienstverweigerung verweist die EGC auf die einzelstaatlichen Gesetze.
50.8.1. Die Glaubensfreiheit 1431 1. Die Glaubensfreiheit (Art 14 StGG, Art 9 EMRK) schu È tzt die freie Wahl und die È sen Bekenntnisses; das Wesen dieser Freiheit liegt freie Ausu È bung eines religio È sem Gebiet (VfSlg 10.547/1985). im Ausschluss staatlichen Zwangs auf religio Der Inhalt dieser Freiheit wird in Art 9 EMRK naÈher bestimmt: Danach umfasst dieses Recht die Freiheit des Einzelnen zum Wechsel seiner Religion sowie die Freiheit, seinen Glauben einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen oÈffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, Andachten und Beachtung religio È ser GebraÈuche auszuu È ben (Bekenntnisfreiheit). Der Bestimmung des Art 16 StGG, der die AnhaÈnger ei-
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nes nicht vom Staat anerkannten Religionsbekenntnisses (¹Sektenª) auf die haÈusliche ReligionsausuÈbung beschraÈnkt hat, ist durch Art 63 Abs 2 StV St. Germain derogiert worden; diese Bestimmung gewaÈhrt jedermann das Recht jede Art von Glauben oÈffentlich oder privat auszuu È ben. a) Die Glaubensfreiheit ist daher einmal die Freiheit sich fu È r eine bestimmte Religion zu ent- 1432 scheiden und sich zu diesem Glauben zu bekennen; damit verbunden auch das Recht, jederzeit die ReligionszugehoÈrigkeit zu wechseln. Der Austritt aus einer Religionsgemeinschaft darf daher staatlicherseits nicht behindert werden, auch wenn der Staat dafu È r ein bestimmtes Verfahren vorsehen kann (vgl §§ 4 ff des Gesetzes vom 25.5.1868 RGBl 49 u È ber die interkonfessionellen VerhaÈltnisse der Staatsbu Ès È rger). Sodann gibt die Glaubensfreiheit das Recht sich religio zu betaÈtigen, und zwar sowohl privat und alleine als auch o È ffentlich und in Gemeinschaft È JZ 1997, 351). Der Staat darf auch keine mit anderen GlaÈubigen (vgl zB EGMR, Manoussakis, O È JZ 1993, 853; dem folgend religio È sen Bekenntnisse diskriminieren (vgl EGMR, Hoffmann, O È ser GebraÈuche zur geschu OGH SZ 69/179). Schlieûlich gehoÈrt auch die Beachtung religio È tzten Religionsausu È bung, zB die Einhaltung der Sabbatruhe, die fu È r den ju È dischen Glauben ein wesentlicher Bestandteil der religio Èsen Lebensfu È hrung ist. b) Die Glaubensfreiheit umfasst ferner das Recht keinem religio È sen Glauben angehoÈren zu 1433 mu È ssen (negative Glaubensfreiheit). Damit ist jeder staatliche Zwang zur Teilnahme an reliÈ bungen oder an einem Religionsunterricht unvereinbar (VfSlg 802/1927). Die Pflicht gioÈsen U zur Zahlung von KirchenbeitraÈgen ist mit der Religionsfreiheit vereinbar, wenn die Mitgliedschaft selbst eine freiwillige ist und ein Austritt nicht willku È rlich erschwert wird. Ob es auf einen mit der negativen Glaubensfreiheit unvereinbaren religio Èsen Zwang hinauslaÈuft, wenn NichtglaÈubige oder AndersglaÈubige mit religio Èsen Symbolen einer bestimmten Glaubensgemeinschaft konfrontiert werden, ist umstritten; kontrovers diskutiert wurde in diesem Zusammenhang vor allem die nach o È sterreichischem Recht verpflichtend vorgeschriebene Anbringung eines Kruzifixes in den KlassenraÈumen von Schulen, deren Schu È ler mehrheitlich einem christlichen Bekenntnis angehoÈren (§ 2b ReligionsunterrichtsG BGBl 1949/190 idgF). c) Die in Art 14 StGG und Art 9 EMRK gewaÈhrleistete Freiheit schu Èse È tzt auch nicht-religio Weltanschauungen (zB einen nicht-religio Ès begru È ndeten Pazifismus). Der Staat darf sie seinen Bu È rgern weder vorschreiben, noch aufdraÈngen oder verbieten. d) Das Grundrecht der Glaubensfreiheit verpflichtet den Staat auch zum Schutz einer rechtmaÈûigen Religionsausu È bung vor StoÈrungen durch Dritte (VfSlg 16.054/2000).
2. Obwohl die Glaubensfreiheit kein schrankenloses Grundrecht ist, unterliegen Ein- 1434 griffe in das Grundrecht engen Grenzen: Nach Art 63 Abs 2 StV St. Germain ist jede Religionsausu È ffentlichen Ordnung oder È bung frei, soweit sie nicht mit der o mit den guten Sitten unvereinbar ist. Weil der Schrankenvorbehalt des Art 63 Abs 2 StV St. Germain enger gefasst ist als der Vorbehalt des Art 9 Abs 2 EMRK, kommt Ersterem auf Grund des Gu È nstigkeitsprinzips (Art 53 EMRK) der Vorrang zu. Daher darf der Gesetzgeber EinschraÈnkungen der Religionsfreiheit nur vorsehen, wenn Schranken im Interesse der Wahrung der o È ffentlichen Ordnung oder der guten Sitten unerlaÈsslich sind. È ffentlichen Ordnung versteht der VfGH den ¹Inbegriff der die 1435 a) Unter dem Begriff der o Rechtsordnung beherrschenden Grundgedankenª (VfSlg 2944/1955); es du È rfen daher nur jene Handlungen verboten werden, die das Zusammenleben der Menschen im Staat empfindlich stoÈren (VfSlg 15.394/1998). Daher war es verfassungswidrig, wenn der Gesetzgeber in § 67 des PersonenstandsG von 1937 die Durchfu È hrung einer kirchlichen Trauung vor der standesamtlichen Trauung mit Strafe bedrohte, weil die Vornahme der religio Èsen Feierlichkeiten einer Eheschlieûung nicht der o È ffentlichen Ordnung widersprechen kann (VfSlg 2944/1955). EinschraÈnkungen der freien Religionswahl ko Ènnen in einer demokratischen Gesellschaft niemals erforderlich sein. È ser GebraÈuche wird nur dann zulaÈssig sein, wenn ernstli- 1436 b) Ein Verbot bestimmter religio che Gefahren fu È ffentliche Ordnung drohen. Verfassungswidrig kann es sein, wenn StrafÈ r die o gefangenen die frei gewaÈhlte seelsorgerische Betreuung oder die Teilnahme an einer Messe untersagt wird (VfSlg 15.592/1999). Fraglich ist, ob unter Berufung auf die Religionsfreiheit
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VerstoÈûe gegen allgemein geltende Gebote oder Verbote gerechtfertigt sein koÈnnen; dies war zB im Hinblick auf das in einzelnen TierschutzG der oÈsterreichischen BundeslaÈnder vorgesehene SchaÈchtungsverbot umstritten, das Juden oder Muslimen die ToÈtung von Tieren in der fu È r sie vorgeschriebenen Weise verbot. Nach VfSlg 15.394/1998 sei der Tierschutz nicht von derart zentraler Bedeutung, dass er ein Verbot einer einem jahrtausendealten Ritus entsprechenden Handlung gebiete; ein Verbot des SchaÈchtens sei in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig und stelle einen verfassungswidrigen Eingriff in die Glaubensfreiheit dar. Das nunmehrige (Bundes-)TierschutzG laÈsst eine rituelle SchaÈchtung mit behoÈrdlicher Bewilligung und unter Einhaltung einer Reihe von Bedingungen zu (§ 32). Da nach Art 14 Abs 2 StGG den staatsbuÈrgerlichen Pflichten durch das Religionsbekenntnis kein Abbruch geschehen È brigen ein Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund nur dann angenommen darf, kann im U werden, wenn der Einzelne durch die Beachtung staatlicher Gebote oder Verbote in einen unÈ sen Konflikt gestu ausweichlichen religio È rzt wu È rde. Daher kann sich niemand seiner Steuerpflicht mit dem Argument entziehen, dass die Pflicht zur Zahlung von Steuern ganz allgemein oder im Hinblick auf einen bestimmten Verwendungszweck seinen religio Èsen oder È berzeugungen zuwiderlaufen wu weltanschaulichen U È rde.
50.8.2. Die Gewissensfreiheit 1437 Das Gewissen ist die dem Menschen eigene innere Instanz, die einen Maûstab fu È r die sittliche Bewertung seiner Handlungen und Urteile bereitstellt. Die verfassungsrechtliche Gewissensfreiheit (Art 14 StGG) sichert dem Einzelnen zum einen die MoÈglichkeit sein Gewissen frei und unbeeinflusst zu bilden. Diese Freiheit kann und darf auch nicht eingeschraÈnkt werden. Daru È ber hinaus will sie dem Menschen ein Leben nach seinen eigenen Gewissensentscheidungen ermoÈglichen. Im Konflikt zwischen den Geboten und Verboten der staatlichen Rechtsordnung und den davon unter UmstaÈnden abweichenden Anforderungen des individuellen Gewissens muss die Verfassung freilich die Geltung der Rechtsordnung sichern. Die Anordnung des Art 14 Abs 2 StGG, dass den staatsbu È rgerlichen Pflichten durch das Religionsbekenntnis kein Abbruch geschehen darf, muss auch auf die im 1. Absatz garantierte ¹volle Gewissensfreiheitª bezogen werden; ein Maûstab fu È r BeschraÈnkungen der Gewissensfreiheit kann im materiellen Gesetzesvorbehalt des Art 9 Abs 2 EMRK gefunden werden. 1438 a) In der Situation eines Gewissenskonflikts ist es daher letztlich eine Sache der individuel-
len sittlichen Entscheidung, ob sich der Einzelne den staatlichen Gesetzen unterordnet, auch wenn sie seinem Gewissen widerstreiten, oder ob er seinem Gewissen folgt und dafu È r den Konflikt mit der Rechtsordnung in Kauf nimmt. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit gebietet freilich, dass bei der rechtlichen Bewertung einer solchen Konfliktsituation der Umstand nicht unberu È cksichtigt bleibt, ob der Einzelne einem unwiderstehlichen Gewissenszwang gefolgt ist. Das kann etwa bei der Frage, ob ein an sich rechtswidriges Handeln gerechtfertigt oder entschuldigt ist, eine Rolle spielen und dazu fu È hren, dass der Richter im Einzelfall der Gewissensentscheidung Rechnung tragen kann.
b) Daher haben Gerichte vereinzelt bei so genannten ¹Totalverweigerernª, dh bei jenen jungen MaÈnnern, die aus Gewissensgru È nden sowohl den Wehrdienst wie den zivilen Ersatzdienst ablehnen, diese Gewissensentscheidung respektiert und von einer Verurteilung abgesehen. Eine einheitliche Linie ist hier freilich nicht erkennbar, so wie es u È berhaupt zum Grundrecht der Gewissensfreiheit nur wenige aussagekraÈftige gerichtliche Entscheidungen gibt. Der VfGH hat lediglich wiederholt ausgesprochen, dass die Gewissensfreiheit kein Recht auf Befreiung vom Wehrdienst umschlieût (zB VfSlg 8033/1977, 11.253/1987). Er qualifiziert u È berdies die im Fall der Verweigerung des Wehrdienstes bestehende Pflicht zur Ableistung eines Zivildienstes als verhaÈltnismaÈûigen Eingriff in die GrundrechtssphaÈre; auch aus diesem Grund ko È nnten sich die ¹Totalverweigererª auch dann nicht auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit berufen, wenn sie ernsthafte religio È se Gru È nde geltend machen (VfSlg 14.978/1997).
1439 c) DaruÈber hinaus verpflichtet das Grundrecht der Gewissensfreiheit den Gesetzgeber durch
eine entsprechende Ausgestaltung der Rechtsordnung dafu È r Sorge zu tragen, dass den Bu È rgern schwere Gewissenskonflikte moÈglichst erspart bleiben. Dafu È r gibt es zahlreiche Beispiele:
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So darf zB nach § 6 Abs 3 Kranken- und KuranstaltenG BGBl 1957/1 idgF einem Arzt an einer Krankenanstalt kein Nachteil entstehen, wenn er sich weigert an einer Abtreibung mitzuwirken; nach § 2 MedienG darf ein Journalist seine Mitarbeit an der Gestaltung eines Beitrags verÈ berzeugungen widerspricht; nach § 105 UG 2002 darf weigern, der seinen grundsaÈtzlichen U kein UniversitaÈtsangehoÈriger gegen sein Gewissen zur Mitwirkung bei einzelnen wissenschaftlichen Arbeiten verhalten werden. d) Anerkannt ist, dass der Arbeitgeber in arbeitsrechtlichen ZusammenhaÈngen die Beru- 1440 fung auf Gewissensgru È nde in gewissem Umfang respektieren muss. Daher kann der Arbeitnehmer die Mitwirkung an Arbeiten, die ihn in einen schweren Gewissenskonflikt stu È rzen wu È rden, verweigern und hat auch ein Recht darauf, dass bei der Ausgestaltung seiner Dienstpflichten auf seine religio È sen Bedu È rfnisse Ru È cksicht genommen wird. Wenn ein Gewissenskonflikt freilich vorhersehbar war, kann sich der Einzelne den eingegangenen vertraglichen Pflichten nicht ohne weiteres entziehen.
50.8.3. Das Grundrecht auf Wehrdienstverweigerung Im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Verankerung der Wehrpflicht legt 1441 Art 9a B-VG fest, dass derjenige, der aus Gewissensgru È nden die Erfu È llung der Wehrpflicht verweigert, einen Ersatzdienst zu leisten hat; hinsichtlich der naÈheren Bestimmungen wird auf das Gesetz verwiesen. In Ausfu È hrung dieser Bestimmung regelt das ZDG die Erfu È llung des Zivildienstes, wobei das Grundrecht auf Wehrdienstverweigerung durch eigene, in dieses Gesetz aufgenommene Verfassungsbestimmungen naÈher ausgestaltet wird. Nach der Verfassungsbestimmung des § 1 ZDG werden Wehrpflichtige vom Wehrdienst befreit 1442 und zivildienstpflichtig, wenn sie eine ZivildiensterklaÈrung abgeben. Dass die Dauer des Zivildienstes die Dauer des Wehrdienstes u È bersteigen darf, ist verfassungsrechtlich vorgesehen; daher stellt sich die Frage nach der allfaÈlligen Gleichheitswidrigkeit einer Ungleichbehandlung zwischen Wehrdienstpflichtigen und Zivildienstpflichtigen zumindest nicht im Hinblick auf die Dauer der Dienstpflicht. Das Grundrecht auf Wehrdienstverweigerung darf aber nicht durch eine Èauûerst ungu È nstige Ausgestaltung der Èauûeren Bedingungen (zB des Verpflegungsanspruchs) ausgehoÈhlt werden (VfSlg 16.389/2001). Die fru È her vorgesehene und in mehrfacher Hinsicht problematische Gewissenspru È fung durch eine Kommission gibt es nicht mehr. Das Grundrecht auf Wehrdienstverweigerung wird nach der Judikatur des VfGH verletzt, wenn die im ZDG umschriebenen materiellrechtlichen Voraussetzungen des Entstehens der Zivildienstpflicht und der damit verbundenen Ausnahme von der Wehrpflicht von der BehoÈrde nicht richtig beurteilt werden oder wenn grobe Verfahrensfehler dazu fu È hren, dass eine nach § 1 ZDG abgegebene ErklaÈrung von der BehoÈrde als nicht rechtswirksam qualifiziert wird (zB VfSlg 13.700/1994).
50.9. Die grundrechtliche Rechtsstellung der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften und die È sen Bekenntnisgemeinschaften religio Rechtsquelle: Art 15 StGG. 50.9.1. Die gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften 1. Das o È sterreichische Verfassungsrecht hat den Staat als einen saÈkularen (weltlich-ir- 1443 dischen) Staat verfasst und geht vom Prinzip der staatlichen NeutralitaÈt gegenu È ber Fragen der Religion aus. Fu È r eine Koordinierung zwischen der staatlichen Rechtsordnung und dem inneren Recht der Religionsgemeinschaften sorgt allerdings der Sonderstatus der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften, den Art 15 StGG vorsieht.
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Mit der gesetzlichen Anerkennung sind gewisse Privilegien (zB im Steuerrecht), staatliche È ffentlichen EinflussmoÈglichkeiten und die Rechtsstellung einer juristischen Person des o Rechts verbunden. Die Benachteiligung der AngehoÈrigen der nicht-anerkannten Religionsgemeinschaften bei der o È ffentlichen Ausu È bung ihrer Religion wurde durch die Verfassungsbestimmungen des StV St. Germain beseitigt (vgl oben Rz 1431). Die Unterscheidung zwiÈ sen Bekenntschen den anerkannten Religionsgemeinschaften und anderen religio nissen ist verfassungsrechtlich verankert und insoweit der Anwendung des Gleichheitssatzes entzogen. Der VfGH hat allerdings klargestellt, dass die aus dieser Unterscheidung flieûenden einzelnen Rechtsfolgen dem Gleichheitssatz entsprechen und daher fu È r sich genommen jeÈ sterweils sachlich sein mu È ssen (VfSlg 6919/1972). Nach dem gegenwaÈrtigen Stand sind in O reich 13 Religionsgemeinschaften gesetzlich anerkannt; rund 79 % der BevoÈlkerung bekennen sich zur katholischen Kirche.
1444 2. Der besondere Status nach Art 15 StGG setzt die Anerkennung als Kirche oder Religionsgesellschaft voraus (man spricht von Kirchen im Hinblick auf die christlichen und von Religionsgesellschaften im Hinblick auf die nichtchristlichen Bekenntnisse). Abgesehen von der katholischen Kirche, bei der man von einer ¹historischen Anerkennungª ausgeht, kann die Anerkennung entweder durch ein besonderes Gesetz erfolgen (zB IsraelitenG RGBl 1890/57, IslamG RGBl 1912/159) oder durch einen Verwaltungsakt auf Grund des AnerkennungsG RGBl 1874/68 idgF. 1445 Die Anerkennung setzt voraus, dass die Religionslehre, der Gottesdienst, die Verfassung so-
wie die gewaÈhlte Bezeichnung des entsprechenden Bekenntnisses nichts Gesetzwidriges oder sittlich AnstoÈûiges enthaÈlt; ferner mu È ssen die Erhaltung und der Bestand wenigstens einer Kultusgemeinde gesichert sein; die Verfassung der Religionsgemeinschaft, in der die Erfordernisse der Zugeho È rigkeit und die Art des Beitritts zu regeln sind, bedarf der behoÈrdlichen Genehmigung. Durch das BekenntnisgemeinschaftenG BGBl I 1998/19 wurden weitere Anerkennungsvoraussetzungen geschaffen: Nunmehr muss die religio È se Gemeinschaft unter anderem seit mindestens 20 Jahren bestanden haben (davon 10 Jahre als staatlich eingetragene religio È se Bekenntnisgemeinschaft), ihr mu È ssen mindestens 2 vT der oÈsterreichischen BevoÈlkerung angehoÈren und sie muss eine ¹positive Grundeinstellung gegenu È ber Gesellschaft und Staatª nachweisen. Bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen besteht ein durchsetzbarer Anspruch auf Anerkennung, da jedenfalls die Abweisung eines auf Anerkennung gerichteten Antrags durch Bescheid erfolgen muss. Nach VfSlg 11.931/1988 kann die Anerkennung zwar durch Verordnung erfolgen; wenn aber die BehoÈrde einem Antrag nicht Rechnung tragen moÈchte, muss sie aus RechtsstaatsgruÈnden einen negativen Bescheid erlassen, der durch Beschwerde an die GerichtshoÈfe des oÈffentlichen Rechts bekaÈmpft werden kann.
È nlichkeit als juristische 1446 Mit der Anerkennung ist die Verleihung der Rechtsperso Person des o È ffentlichen Rechts verbunden. Gegenu È ber ihren Mitgliedern kommt den anerkannten Religionsgemeinschaften ein Ausschlieûlichkeitsrecht zu, dh dass die ZugehoÈrigkeit zum betreffenden Glauben staatskirchenrechtlich die Mitgliedschaft in der jeweiligen Religionsgemeinschaft bedingt und es aus der Sicht des staatlichen Rechts unmoÈglich ist mehr als einer gesetzlich anerkannten Gemeinschaft anzugehoÈren. Gegenu È ber den anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften ist der Staat zur Gleichbehandlung verpflichtet. 1447 3. Art 15 StGG sichert den anerkannten Religionsgemeinschaften die selbstaÈndige Ordnung und Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten zu. Damit garantiert die Verfassung eine SphaÈre der freien Selbstbestimmung innerkirchlicher Angelegenheiten. Dazu gehoÈren die Glaubens- und Sittenlehre der Religionsgemeinschaft, die È mtern, die innere OrganisaEinrichtung eines religio È sen Kultus, die Verleihung von A tion und Gliederung, die Regelung der Mitgliedschaft, die Schaffung einer innerkirchlichen Rechtsordnung usw. Dagegen kann der Staat die aÈuûeren RechtsverhaÈltnisse, welche die o È ffentliche Ordnung oder die Rechte Dritter erheblich beru È hren, gesetzlich regeln. 1448 Dass die anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften ¹wie jede Gesellschaftª den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen sind, betont der letzte Satzteil des Art 15 StGG. Damit
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verbindet sich zugleich ein verfassungsrechtlicher Schutz vor nicht-allgemeinen, diskriminierenden Sondergesetzen, die gegen eine bestimmte Religionsgemeinschaft oder gegen Religionsgemeinschaften im Allgemeinen gerichtet sind. Nach VfSlg 2944/1955 erlaubt dieser Vorbehalt eine BeschraÈnkung durch einfaches Gesetz nur unter der Voraussetzung, ¹dass damit jede Gesellschaft im Staat getroffen wirdª.
È sen Bekenntnisgemeinschaften 50.9.2. Die religio Auch den AngehoÈrigen von religioÈsen Gemeinschaften, welche die Anerkennung 1449 nach dem AnerkennungsG entweder nicht anstreben wollen oder nicht erlangen koÈnnen, stehen die Glaubensfreiheit und das Recht der freien oÈffentlichen Religionsausu È bung zu. Diese Gemeinschaften, die oft (mehr oder weniger abwertend) als ¹Sektenª oder Weltanschauungsgemeinschaften angesprochen werden, haben daher auch einen grundrechtlichen Anspruch auf eine entsprechende Organisation als Glaubensgemeinschaft. Nach der einfachgesetzlichen Rechtslage koÈnnen sie sich È se Bekenntnisgemeinals Vereine oder als ¹staatlich eingetragene religio schaftª konstituieren. Auch ihnen gegenu È ber muss der Staat NeutralitaÈt wahren und er darf sie nicht diskriminieren, was etwa auch der staatlichen SektenaufklaÈrung gewisse Grenzen setzt (vgl § 4 Abs 2 des BG u È ber die Einrichtung einer Bundesstelle fu È r Sektenfragen BGBl I 1998/150). È sen Bekenntnisgemeinschaften 1450 Durch das BG u È ber die RechtspersoÈnlichkeit von religio BGBl I 1998/19 wurde fu È r die AngehoÈrigen von Religionen, die gesetzlich nicht anerkannt sind, eine eigene Rechtsform geschaffen. Ein Hintergrund dieses Gesetzes war es, die Anerkennung als anerkannte Religionsgemeinschaft fu È r bestimmte Gruppierungen zu erschweren, vor allem durch die Voraussetzung einer bestimmten zahlenmaÈûigen Bedeutung und einer Art von ¹Wartefristª (vgl Rz 1445). Bekenntnisgemeinschaften erlangen zwar RechtspersoÈnlichkeit, die Rechtsstellung einer juristischen Person oÈffentlichen Rechts und der besondere verfassungsrechtliche Status der anerkannten Religionsgemeinschaften, vor allem die diesen eingeraÈumte Autonomie, bleiben ihnen aber verwehrt. Zur Erlangung der RechtsperÈ nlichkeit ist eine Anzeige beim Unterrichtsministerium einzubringen; die Bekenntnisgeso meinschaft entsteht, wenn nicht innerhalb von sechs Monaten ein Bescheid u È ber die Versagung ergeht. Gesetzliche Versagungsgru È nde liegen ua vor, wenn die Lehre und ihre Anwendung auf eine Aufforderung zu einem mit Strafe bedrohten Verhalten, auf die Behinderung der psychischen Entwicklung von Heranwachsenden oder auf die Anwendung psychotherapeutischer Methoden hinauslaufen (§ 5 leg cit). Der VfGH hat in VfSlg 16.120/2001 die gegen einzelne Bestimmungen dieses Gesetzes und gegen die gleichzeitige VerschaÈrfung der Voraussetzungen nach dem AnerkennungsG vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken nicht geteilt. GegenwaÈrtig bestehen ca 10 Bekenntnisgemeinschaften, darunter die Zeugen Jehovas (welche die Anerkennung anstreben) oder die BahaÂ-Religionsgemeinschaft. AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zum Abschnitt 50: VfSlg 15.046/1997: Ein Beispiel zur strikten VerhaÈltnismaÈûigkeitspru È fung bei einem lebensgefaÈhrlichen Waffengebrauch (¹Warnschu È sseª). VfSlg 16.109/2001: Der Fall Omofuma ist ein ¹leading caseª zum grundrechtlichen Lebensschutz. È JZ 1999, 353: Art 2 EMRK verpflichtet den Staat auch dazu, vor Bedrohungen EGMR, LCB, O des Lebens, die von Privaten ausgehen, zu schu È tzen. VfSlg 10.051/1984, 12.190/1989: Zwei bemerkenswerte FaÈlle zu Art 3 EMRK (Zwangsinjektionen, Einsatz von Hunden), die verdeutlichen, wieso es bei diesem Grundrecht um den Schutz der Menschenwu È rde geht. VfSlg 15.372/1998: Bei behaupteten Misshandlungen von Menschen durch die Polizei oder in der Haft ist es fu È r die Betroffenen oft schwierig den Eingriff in ihre Rechte aus Art 3 EMRK zu beweisen. Wie soll in solchen FaÈllen von den Gerichten entschieden werden?
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Teil IV. Die Grundrechte
È JZ 2000, 911: Kann es eine dem Staat anzulastende unmenschliche BehandEGMR, SCC, O lung sein, wenn ein todkranker Mensch in ein Land ausgewiesen wird, in dem eine entsprechende medizinische Behandlung nicht gesichert ist? EGMR, Wieser, NL 2007, 30: Ein massiver Polizeieinsatz mit erniedrigenden BegleitumstaÈnden. Beachte die unterschiedliche Bewertung durch VwGH, UVS und EGMR. VfSlg 16.929/2003: Zu den FreiheitsbeschraÈnkungen in privaten Pflegeheimen; im vorliegenden Fall wurde das entsprechende Gesetz allerdings wegen Kompetenzwidrigkeit aufgehoben. VfSlg 12.689/1991: Ein interessanter Fall zu den Aufzeichnungspflichten bei aus Videotheken entlehnten Filmen, der zeigt, wie der VfGH die Erforderlichkeit solcher grundrechtsbeschraÈnkender Maûnahmen beurteilt; zu einer Maû haltenden Regelung VfSlg 14.065/1995. VfSlg 14.148/1995: Ein Beispiel fu È r die weit reichenden AbwaÈgungspflichten, die der VfGH aus Art 8 EMRK ableitet und den FremdenbehoÈrden vorgibt; sie fu È hren hier zu einer Ausnahme von dem Gebot den Antrag auf Aufenthaltsbewilligung aus dem Ausland zu stellen. Vgl ferner VfGH 12.6.2007, B 2126/06: Wie muss die AbwaÈgung ausfallen, wenn die BehoÈrde die VerhaÈngung eines Aufenthaltsverbots u È ber einen AuslaÈnder erwaÈgt, der seit È sterreich integriert ist, aber eine schwere Straftat begangen hat? 27 Jahren in O VfSlg 15.632/1999: Eine sehr kontrovers beurteilte Entscheidung des VfGH zu den gesetzlichen Schranken der Fortpflanzungsmedizin. VfGH 20.6.2007, B 881/06: Zu Eingriffen in das Recht des Privatlebens durch vorlaÈufige Maûnahmen eines JugendwohlfahrtstraÈgers (zwangsweise Entfernung von Kindern aus der elterlichen Obsorge und Heimunterbringung), die allerdings nach Ansicht des VfGH als privatrechtliche Maûnahmen zu deuten sind und daher auch nicht vor dem UVS bekaÈmpft werden ko È nnen (vgl aber auch die abweichende Judikatur des OGH, der in solchen FaÈllen von einem Akt der Hoheitsgewalt ausgeht). VfSlg 11.650/1988: Zur Unterscheidung zwischen einer Hausdurchsuchung und einer verwaltungspolizeilichen ¹Nachschauª. VfSlg 14.366/1995: Ein Fall des ¹zivilen Ungehorsamsª ± hat das etwas mit der Gewissensfreiheit zu tun? VfSlg 14.295, 14.383/1995: Kann gegen die SaÈumnis der BehoÈrde bei der Erlassung eines Bescheids betreffend die Anerkennung als Religionsgemeinschaft eine SaÈumnisbeschwerde beim VwGH eingebracht werden? VfSlg 16.395/2001: Kann durch die Gru È sen Vereins in die innere AutonoÈ ndung eines religio mie einer gesetzlich anerkannten Kirche eingegriffen werden? Zur Vertiefung: Zum Recht auf Leben: Kneihs, Grundrechte und Sterbehilfe (1998); ders, È sterreich, JBl 1999, 76; Lagodny, Art 2 EMRK, in: Karl (Hrsg), InDas Recht auf Leben in O ternationaler Kommentar zur EuropaÈischen Menschenrechtskonvention (Loseblattsammlung); Lewisch, Recht auf Leben (Art 2 EMRK) und Strafgesetz, in: Platzgummer-FS (1995) 381; Morscher, Verbot der Todesstrafe: Vom Grundsatz zum Grundrecht, JBl 2007, 82. Zum Schutz vor Folter usw: Pernthaler, Braucht ein positivrechtlicher Grundrechtskatalog das Rechtsprinzip der Menschenwu È rde, in: SchaÈffer-FS (2006) 613; Zellenberg, Der grundrechtliche Schutz vor Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 50 Jahre Allgemeine ErklaÈrung der Menschenrechte. È sterreich Bd 3 (1997) 441. Grund- und Menschenrechte in O Zur persoÈnlichen Freiheit: U. Davy, PersoÈnliche Freiheit und verfassungsgerichtliche Kontrolle, ZfV 1992, 14; Kopetzki, Unterbringungsrecht Bd 1 (1995) 235 ff; ders, Das Recht auf persoÈnliche Freiheit, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 50 Jahre Allgemeine ErklaÈrung È sterreich Bd 3 (1997) 261; Morder Menschenrechte. Grund- und Menschenrechte in O È sterreich (1990). scher, Der Schutz der persoÈnlichen Freiheit in O Zur persoÈnlichen Freizu È gigkeit: Machacek/Grof, Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 50 Jahre Allgemeine ErklaÈrung der Menschenrechte. È sterreich Bd 3 (1997) 497; Rosenmayr, Asylrecht, in: MaGrund- und Menschenrechte in O chacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 50 Jahre Allgemeine ErklaÈrung der Menschenrechte. GrundÈ sterreich Bd 3 (1997) 535. und Menschenrechte in O
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Zu Art 8 EMRK und § 1 DSG: Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schu È tzt È JZ 1998, 761; ders, Grundrechtliche Einrichtungsgarantien. Die Figur der die Verfassung? O grundrechtlichen Einrichtungsgarantie, dargestellt am Beispiel des Grundrechts auf Ehe È R 2004, 321; Berka, Geheimnisschutz ± Datenschutz ± Informationsschutz und Familie, ZO im Lichte der Verfassung, in: Studiengesellschaft fu È r Wirtschaft und Recht (Hrsg), Geheimnisschutz ± Datenschutz ± Informationsschutz (2008) 53; U. Davy, ¹Familienlebenª und Familiennachzug, JRP 1996, 250; Dohr/Pollirer/Weiss, Datenschutzrecht2 (Loseblattsammlung); Jahnel, Das Grundrecht auf Datenschutz nach dem DSG 2000, in: SchaÈffer-FS (2006) 313; Pernthaler/Rath-Kathrein, Der grundrechtliche Schutz von Ehe und Familie, Art. 8 und 12 EMRK, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 40 Jahre EMRK. Grund- und MenÈ sterreich Bd 2 (1992) 245; M. Roth, EuropaÈische Menschenrechtskonvenschenrechte in O tion und Privatrecht, Rabels Zeitschrift 63 (1999) 709; Wiederin, Aufenthaltsbeendende Maûnahmen im Fremdenpolizeirecht (1993). Zum Hausrecht, Wohnrecht und Brief- und Fernmeldegeheimnis: Stolzlechner, Der Schutz des Hausrechts, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 40 Jahre EMRK. Grund- und MenschenÈ sterreich Bd 2 (1992) 303; Wessely, Das Fernmeldegeheimnis ± ein unbekanntes rechte in O È JZ 1999, 491. Grundrecht? O Zur Glaubens- und Gewissensfreiheit und zur Rechtsstellung der Religionsgemeinschaften: È sterreichisches Staatskirchenrecht (1971); Grabenwarter, Kirchen, ReligionsgeGampl, O sellschaften und andere, JRP 1997, 265; Kalb/Potz/Schinkele, Religionsgemeinschaftenrecht (1998); Kucsko-Stadlmayer, Die Rechtsprechung des o È sterreichischen VerfassungsgeÈ ber Grenzen È ller, U richtshofs auf dem Gebiet der Glaubensfreiheit, EuGRZ 1999, 505; Mu der Religionsfreiheit am Beispiel des SchaÈchtens, in: Adamovich-FS (2002) 503; Ortner, ReÈ sterreich, in: Manssen/Banaszak ligion und Staat (2000); Thienel, Religionsfreiheit in O (Hrsg), Religionsfreiheit in Mittel- und Osteuropa zwischen Tradition und EuropaÈisierung (2006) 35.
51. Die Grundrechte des Gemeinschaftslebens Neben den Rechten der Person schu È tzt die Grundrechtsordnung das Leben in der 1451 Gemeinschaft, in der sich der Einzelne in Freiheit mit seinen Mitmenschen entfalten kann. Dazu gehoÈren die geistige Freiheit zur Mitteilung und zum Empfang von Nachrichten und Ideen mit den Sonderformen der ku È nstlerischen und wissenschaftlichen Kommunikation, das Zusammenwirken in Vereinen und Versammlungen und der grundrechtliche Schutz der Bildungsprozesse. Diese Grundrechte werden hier als Grundrechte des Gemeinschaftslebens zusammengefasst.
51.1. Die Kommunikationsfreiheit Rechtsquellen: Art 13 StGG; Art 10 EMRK; Z 1 und 2 Beschluss ProvNV; BVG-Rundfunk (Art I); Art 11 EGC. Die Freiheit der MeinungsaÈuûerung und die Pressefreiheit bilden die ¹Magna Chartaª geisti- 1452 ger Freiheit, die zum unverzichtbaren Standard der Grundrechtskataloge demokratischer Verfassungsstaaten gehoÈrt. Eine erste verfassungsrechtliche GewaÈhrleistung erfolgte in Art 13 StGG; eine VerstaÈrkung dieser verfassungsrechtlichen Garantie brachte der Beschluss der ProvNV 1918, dessen unmittelbarer Anlass die Beseitigung der waÈhrend des Ersten Weltkriegs eingefu È hrten Zensur war. Art 10 EMRK hat den Verfassungsschutz der Meinungsfreiheit entscheidend ausgebaut und dazu beigetragen, dass diesem Grundrecht heute eine wichtige Stellung im oÈsterreichischen Grundrechtssystem zukommt. Auch im Recht der EU ist die Kommunikationsfreiheit als ein Grundrecht gewaÈhrleistet, das die MeinungsaÈuûerungsfreiheit und die Informationsfreiheit umschlieût (Art 11 EGC) und das mit der Freiheit von Wissenschaft und Kunst (Art 13 EGC) verbunden ist. Art 11 Abs 2 EGC weist in der Form eines Achtungsgebots auf die besondere Bedeutung der MedienpluralitaÈt
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hin; dies kommt auch in der Judikatur des EuGH zum Ausdruck, der wiederholt die Aufrechterhaltung einer pluralistischen Kommunikationsordnung als ein legitimes oÈffentliches Ziel anerkannt hat (zB EuGH, Familiapress, Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689).
51.1.1. Der Schutzbereich 1453 1. Im Zentrum des durch die Art 13 StGG und Art 10 EMRK gewaÈhrleisteten grundrechtlichen Schutzsystems steht die individuelle Meinungsfreiheit. Jeder Mensch hat das unveraÈuûerliche Recht, sich durch den Austausch von Meinungen und Informationen geistig und sozial zu verwirklichen. Zu diesem Zweck gewaÈhrleisten die È uangefu È hrten Verfassungsnormen grundrechtliche Anspru È che auf der Seite des A È uûerungsempfaÈnûernden (MeinungsaÈuûerungsfreiheit) wie auf der Seite eines A gers (Informationsfreiheit) und konstituieren damit eine wechselbezu È gliche Sinneinheit kommunikativer Freiheit, die man als Kommunikationsfreiheit bezeichnet (VfSlg 11.297/1987, 12.104/1989). Mit der Freiheit der Presse, des Rundfunks und der anderen Massenmedien garantiert die Verfassung ferner diejenigen Mittel, durch die unter den Bedingungen der Gegenwart diese sich wechselseitig ergaÈnzenden Freiheiten zu informieren und informiert zu werden, wirksam ausgeu È bt werden koÈnnen (Medienfreiheit). 1454 2. Gegenstand der in Art 13 StGG und Art 10 EMRK gewaÈhrleisteten Freiheit ist zum È uûerungsfreiheit. Geschu einen die A È tzt sind nach Art 10 EMRK die Freiheit zum È u¹Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideenª; das umschlieût die A È ûerung von subjektiven Werturteilen (¹Meinungenª) ebenso wie die Ubermittlung von Tatsachenaussagen (stRspr seit VfSlg 10.393/1985). Auf den geistigen Wert oder die Bedeutsamkeit des Mitgeteilten kommt es dabei nicht an; nach einer klassisch gewordenen Formulierung des EGMR ist auûerdem nicht nur die in Form und È uûerung ein garantierter Inhalt gemaÈûigte, inhaltlich unschaÈdliche oder angepasste A È uûerung von MeiFreiheitsgebrauch, sondern auch und sogar in erster Linie die A nungen, welche den Staat oder irgendwelche BevoÈlkerungsteile schockieren oder beunruhigen (EGMR, Handyside, EuGRZ 1977, 38; Èahnlich VfSlg 10.700/1985). 1455 a) Weil der Grundrechtsschutz grundsaÈtzlich jeder Form und jedem Inhalt menschlicher Kom-
munikation zukommt, faÈllt auch kommerzielle Werbung unter Art 10 EMRK (stRspr seit VfSlg 10.948/1986). WerbebeschraÈnkungen sind daher nicht nur an der Erwerbsfreiheit, sondern auch an der MeinungsaÈuûerungsfreiheit zu messen, auch wenn es nach der Rspr anerkannt ist, dass die Werbung staÈrkeren BeschraÈnkungen unterworfen werden darf als andere Formen der MeinungsaÈuûerung. 1456 b) Art 13 StGG bezeichnet als grundrechtsgeschuÈtzte Mittel der MeinungsaÈuûerung die AÈuûerung durch Wort, Schrift, Druck oder durch bildliche Darstellung. Diese scheinbar taxative AufzaÈhlung hat nicht gehindert, dass in EinzelfaÈllen auch andere Manifestationsformen, darunter auch symbolische Verhaltensweisen wie das Tragen einer Uniform, der Meinungsfreiheit unterstellt werden konnten (VfSlg 1207/1929). Durch Art 10 EMRK, der (abgesehen von Funk und Film) keine besonderen Kommunikationsformen oder -technologien bezeichnet und der daher jede Verbreitungsform einschlieût, wurde das Recht klargestellt, sich jedes denkbaren VerstaÈndigungsmittels eigener Wahl zu bedienen; das gilt auch fu È r alle modernen Kommunikationsformen einschlieûlich der Online-Medien.
È uûerungsfreiheit gewaÈhrleistet Art 10 EMRK das als ¹Informations1457 3. Neben der A freiheitª bezeichnete Grundrecht, Nachrichten und Ideen ohne Eingriffe staatlicher BehoÈrden empfangen zu du È rfen. Mit der ausdru È cklichen GewaÈhrleistung dieses Rechts reagiert die EMRK auf moderne Formen staatlicher Informationskontrolle, die im Zeitalter der drahtlosen, grenzu È berschreitenden Nachrichtenflu È sse haÈufig an den Empfang anknu È pfen. Die selbstaÈndige Bedeutung des Grundrechts der Informationsfreiheit hat der VfGH erstmals in VfSlg 11.297/1987 anerkannt, in der es um die gesetzlich nicht gedeckte ZerstoÈrung
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belichteter Filme gegangen war, die ein Journalist bei der polizeilichen AufloÈsung einer Groûdemonstration angefertigt hatte. Nach dieser Entscheidung ist auch das Beschaffen von Informationen zum Zweck der Verbreitung von Art 10 EMRK erfasst, wobei sich dieses Grundrecht ¹im Hinblick auf den hoÈheren Informationsbedarf der Presse im Besonderen im Medienbereich È ffentlich zugaÈnglichen Informaauswirktª. Geschu È tzt sind nach dieser Entscheidung alle ¹o È ffentlichkeit prinzipiell zugaÈnglich sind oder tionenª, das sind alle Informationen, die der O nach Absicht des Urhebers zugaÈnglich sein sollen (zB die Massenmedien, die oÈffentlichen BiÈ ffentlichkeit zubliotheken und Archive, unmittelbar wahrnehmbare Ereignisse und fu È r die O gaÈngliche Veranstaltungen).
Eingriffe in dieses Recht des ungehinderten Empfanges sind nur zur Wahrung 1458 u È berwiegender Gemeinschaftsinteressen unter Einhaltung der in Art 10 Abs 2 EMRK angefu È hrten Bedingungen zulaÈssig (VfSlg 12.104/1989, 15.575/1999 zur zulaÈssigen BeschraÈnkung des Bezugs von Zeitschriften durch HaÈftlinge). Das gilt auch fu È r den Bereich des Rundfunks, wo die Informationsfreiheit als Rundfunkempfangsfreiheit ein Recht auf den Empfang aller tatsaÈchlich empfangbaren und fu È r die Allgemeinheit bestimmten Rundfunksendungen gibt (EGMR, Autronic AG, EuGRZ 1990, 261). 4. Neben der in ihren Mitteln unbeschraÈnkten MeinungsaÈuûerungsfreiheit gewaÈhr- 1459 leistet das Verfassungsrecht gesondert die Freiheit der Massenmedien (Medienfreiheit): Art 13 StGG und Z 2 Beschluss ProvNV heben die Pressefreiheit hervor und im BVG-Rundfunk findet die verfassungsrechtliche Sonderstellung des Rundfunks ihre Ausformung. Im Zusammenhang des Art 10 EMRK fehlt zwar eine ausdru È ckliche GewaÈhrleistung einzelner Medien ± hinsichtlich von Funk und Film wird lediglich die ZulaÈssigkeit einer Genehmigungspflicht statuiert ±, doch ist es unbestritten, dass der Garantiegehalt des Konventionsrechts sich auf alle Massenmedien erstreckt, dh dass auch die Freiheit der Presse, des Rundfunks und der Online-Medien in der Konvention gewaÈhrleistet sind. È ffentliche Kom- 1460 a) Die gesonderte Hervorhebung der Medienfreiheit hat ihren guten Sinn: O munikation und die Herausbildung einer oÈffentlichen Meinung sind auf leistungsfaÈhige Medien angewiesen, die eine unerlaÈssliche Voraussetzung dafu È r sind, dass der einzelne Bu È rger von seinen individuellen Rechten auf Information und zur Information Gebrauch machen kann. Weil die Massenmedien wegen der organisatorischen und finanziellen KomplexitaÈt der modernen Produktions- und Vertriebsverfahren besonders verletzlich sind, bedarf es auch eines besonderen grundrechtlichen Schutzes. Vor allem ruht auf den Massenmedien aber eine besondere Verantwortung: Sie erfu È llen eine wichtige, fu È r die Demokratie unverzichtbare Aufgabe, wenn sie u È ber gemeinschaftswichtige Angelegenheiten informieren und den gesellschaftlichen Meinungen Raum geben oder als ¹public watchdogª demokratische Kontrollaufgaben erfu È llen. Im Hinblick auf diese Aufgaben bezeichnet der EGMR die Meinungs- und Medienfreiheit als einen ¹Grundpfeiler einer demokratischen Gesellschaftª (EGMR, Handyside, EuGRZ 1977, 38; vgl ferner zur besonderen Aufgabe der Presse VfSlg 13.725/1994). È ffentliche Aufgabe und die o È ffentliche Verantwortung der Medien ist bei 1461 b) Auf diese o der Interpretation der Kommunikationsfreiheit entsprechend Bedacht zu nehmen, wobei das bestimmte Rechte der Medien (zB den Schutz des Redaktionsgeheimnisses und damit der journalistischen Quellen), aber auch bestimmte Pflichten nach sich ziehen kann (zB eine besondere Verantwortung im Hinblick auf die Respektierung der Unschuldsvermutung bei der Kriminalberichterstattung). Wegen der Bedeutung der Medien fu È r die demokratische Meinungsbildung hat der Staat den Auftrag fu È r eine pluralistische Medienordnung zu sorgen; Vorkehrungen gegen eine u È ffentlichen È bermaÈûige Konzentration von Medienmacht liegen daher im o Interesse und sie koÈnnen Èauûerstenfalls auch verfassungsrechtlich geboten sein (zum Staat als ¹ultimate guarantorª der Medienvielfalt vgl EGMR, Informationsverein Lentia, EuGRZ 1994, 549; vgl ferner VfSlg 13.725/1994).
5. Die Presse einerseits und der Rundfunk andererseits unterliegen allerdings einem 1462 unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Regime. WaÈhrend die Pressefreiheit ein klassisches Individualrecht ist, treten beim Rundfunk auf Grund der historischen
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Teil IV. Die Grundrechte
Entwicklung dieses Massenmediums staÈrker die Besonderheiten einer institutionelÈ ffentlichen Rundfunkfreiheit hervor, die sich in der ausdru len o È cklichen Zuerkennung einer ¹oÈffentlichen Aufgabeª im BVG-Rundfunk und in besonderen verfassungsrechtlich vorgegebenen Organisations- und Programmgestaltungsprinzipien ausdru È cken (vgl unten Rz 1477 ff). 51.1.2. Grundrechtsschranken und -eingriffe 1463 1. Die Freiheit zur Mitteilung und zum Empfang von Nachrichten und Ideen ist nicht schrankenlos gewaÈhrleistet. Weil die Ausu È bung dieser Freiheiten von der Verfassung (nur bei diesem Grundrecht) ausdru È cklich in Erinnerung gerufene ¹Pflichten und Verantwortungª mit sich bringt, ist der Gesetzgeber zur EinschraÈnkung der Freiheit ermaÈchtigt. Dabei wird in die gewaÈhrleisteten Freiheiten eingegriffen, wenn der Inhalt von MeinungsaÈuûerungen einer Sanktion oder sonstigen BeschraÈnkung unterworfen oder wenn in einer anderen Weise die freie Kommunikation behindert wird, etwa durch VertriebsbeschraÈnkungen oder durch die Behinderung beim Zugang zu Informationen. Die Grundrechtsschranken der Kommunikationsfreiheit ergeben sich aus dem Zusammenhalt der Art 13 StGG, Art 10 EMRK und des Beschlusses ProvNV: BeschraÈnkungen der Kommunikationsfreiheit sind danach nur zulaÈssig, wenn sie den Bedingungen entsprechen, die im materiellen Gesetzesvorbehalt des Art 10 Abs 2 EMRK statuiert sind und die absoluten Eingriffsschranken des Art 13 StGG sowie des Beschlusses ProvNV gewahrt sind. In die Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit darf daher in verfassungskonformer Weise nur eingegriffen werden, wenn der Eingriff gesetzlich vorgesehen ist, er nicht gegen ein absolutes Eingriffsverbot verstoÈût, der Eingriff einem der in Art 10 Abs 2 EMRK angefu È hrten Zwecke dient und u È berdies zur Erreichung eines solchen Zwecks oder dieser Zwecke ¹in einer demokratischen Gesellschaft notwendigª ist (vgl zB VfSlg 11.996/1989, 13.694/1994). 1464 2. Diese formellen und materiellen Bedingungen (¹Schranken-Schrankenª) binden den Gesetzgeber, wenn er der Meinungsfreiheit generelle Schranken setzt, und sie sind von den Organen der Vollziehung zu beachten, wenn diese auf der Grundlage der Schrankengesetze im Einzelfall in die grundrechtliche FreiheitssphaÈre eingreifen. Gesetzliche Schranken der MeinungsaÈuûerungsfreiheit sind daher vor allem dann verfassungswidrig, wenn sie keinem legitimen Ziel dienen oder iS des Art 10 Abs 2 EMRK nicht erforderlich sind, dh keinem zwingenden sozialen Bedu È rfnis entsprechen (VfSlg 11.314/1987). Akte der Vollziehung (Bescheide) verletzen nach der folgenden ¹Grundrechtsformelª dann das Grundrecht, wenn sie (a) gesetzlos oder (b) auf der Grundlage eines verfassungswidrigen Gesetzes ergehen oder wenn der BehoÈrde (c) eine ¹denkunmoÈglicheª Gesetzesanwendung vorzuwerfen ist, wobei der VfGH ¹DenkunmoÈglichkeitª auch dann annimmt, wenn die BehoÈrde dem Gesetz faÈlschlich einen verfassungswidrigen, weil die besonderen Schranken des Art 10 EMRK missachtenden Inhalt unterstellt. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die durch Verwaltungsakt verfu È gte BeschraÈnkung der MeinungsaÈuûerungsfreiheit u È ber das hinausgeht, was zur Erreichung des im Sinn des Art 10 Abs 2 EMRK berechtigten Zwecks notwendig war, somit dann, wenn der Eingriff in die MeinungsaÈuûerungsfreiheit im Hinblick auf den damit verfolgten berechtigten Zweck unverhaÈltnismaÈûig war (VfSlg 11.996/1989, 13.035, 13.122/1992 uva). 1465 a) Gesetzgebung und Vollziehung sind daher im Ergebnis verpflichtet, einen materiellen Aus-
gleich zwischen dem Verfassungswert der freien Kommunikation und den entgegenstehenden individuellen und kollektiven Rechtsgu È tern anzustreben, wobei dieser Ausgleich
3. Kapitel: Die einzelnen Grundrechte
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im Licht der WertmaûstaÈbe einer demokratischen Gesellschaft vorzunehmen ist. Weil die demokratische Gesellschaft auf PluralitaÈt, Toleranz und Freiheit beruht, sind EinschraÈnkungen der Meinungsfreiheit nur zulaÈssig, soweit ein ¹zwingendes soziales Bedu È rfnisª vorliegt. Dies È uûerung und der entgegensetzt letztlich einen gewichtenden Vergleich der Werte der freien A stehenden Interessen voraus, dh eine verfassungsgerechte Gu È terabwaÈgung. b) Diese Gu È terabwaÈgung obliegt in erster Linie dem demokratischen Gesetzgeber, im Rah- 1466 men des verfassungskonformen Gesetzesrechts ist aber auch die Vollziehung zur Beachtung der Kommunikationsfreiheit verpflichtet, dh dass Schrankengesetze im Licht des Grundrechts auszulegen und anzuwenden sind (verfassungskonforme Interpretation). Das kann im Einzelfall eine sorgfaÈltige Pru È fung und wertende ErwaÈgung aller UmstaÈnde des Einzelfalles sowie die Anwendung von BeurteilungsmaûstaÈben erfordern, die ihrerseits den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen mu È ssen; fu È r den VfGH begru È ndet eine Missachtung der in È glicherª GeArt 10 Abs 2 EMRK enthaltenen Eingriffsbedingungen eine Spielart ¹denkunmo setzesanwendung, weil die BehoÈrden zu einer gehoÈrigen InteressenabwaÈgung unter Beachtung des Grundrechts verpflichtet sind, wobei die konkreten UmstaÈnde der jeweiligen Situation zu beru È cksichtigen sind (VfSlg 10.700/1985). Dabei muss ¹angesichts der besonderen Bedeutung und Funktion der MeinungsaÈuûerungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft ... die Notwendigkeit der mit einer Bestrafung verbundenen EinschraÈnkung der Freiheit der MeinungsaÈuûerung ... im Einzelfall auûer Zweifel stehenª (vgl zB VfSlg 11.996/1989).
3. Die absoluten Eingriffsschranken des Art 13 StGG und der Z 1 und 2 Be- 1467 schluss ProvNV bezeichnen jedenfalls unzulaÈssige staatliche Maûnahmen. Zum Teil wehren sie nicht mehr aktuelle Eingriffe ab und sind ± wie das Konzessionsverbot, das Verbot behoÈrdlicher Einstellung und die UnzulaÈssigkeit von Postverboten ± auf den Verfassungsschutz speziell der Druckwerke bezogen. Allgemeine und weit reichende Bedeutung hat das Zensurverbot erlangt. Das Zensurverbot richtet sich nur gegen die Vorzensur und erfasst damit alle praÈventiven, vor dem Erscheinen eines Mediums ausgeu È bten Formen einer staatlichen Inhaltskontrolle (VfSlg 6615/ 1971). Sachlich ist nicht nur die Zensur der Presse, sondern gemaÈû Z 1 Beschluss ProvNV auch jede andere Form der Zensur, wie zB eine Zensur von Theater- oder Kinovorfu È hrungen oder von Online-Medien, verboten. 51.1.3. Konflikte zwischen der Kommunikationsfreiheit und entgegenstehenden Rechtsgu È tern 1. Das Grundrecht der Kommunikationsfreiheit verwehrt es dem Staat nicht, Angrif- 1468 fen auf Gemeinschaftsgu È ter entgegenzutreten und sozialschaÈdliches Verhalten abÈ uûerungen in Erscheinung tritt. Bezuwehren, auch wenn dieses in der Form von A stimmungen, welche zB die NoÈtigung von Staatsorganen oder die Aufforderung zu Straftaten verbieten, dienen legitimen Zielen iS von Art 10 Abs 2 EMRK und belassen auch einer kritischen und scharfen geistigen Auseinandersetzung mit der staatlichen AutoritaÈt und der Rechtsordnung in der Regel den grundrechtlich gebotenen Spielraum. Die Propagierung staatsfeindlicher Zielsetzungen oder das Infragestellen von Grundwerten der verfassungsrechtlichen Ordnung ist nicht strafbar; im Rahmen der gewaltfreien weltanschaulichen Auseinandersetzungen koÈnnen sich auch die Gegner der Demokratie zu Wort melden, soweit es sich nicht um die nationalsozialistische Ideologie handelt. Art 10 EMRK schu È tzt auch Meinungen, die schockieren oder den Staat aufru È hren, und er umfasst auch die Art und Weise, wie diese Meinungen geaÈuûert werden. Daher sind auch die TatbestaÈnde des Polizeistrafrechts (§§ 81 und 82 SPG) im Licht der WertmaûstaÈbe einer demokratischen Gesellschaft auszulegen, die nicht auf Friedhofsruhe und Kadavergehorsam, sondern auf Toleranz und Groûzu È gigkeit auch gegenu È ber anstoÈûigen oder unbequemen Meinungen und provokantem Auftreten beruht; auch nach Ansicht des VfGH fordert das verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Recht auf Freiheit der MeinungsaÈuûerung ¹beÈ uûerung als strafbare Anstandsverletzungª, sondere Zuru È ckhaltung in der Beurteilung einer A
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Teil IV. Die Grundrechte
wobei eine demokratische Gesellschaft unter gewissen UmstaÈnden auch derbe und obszoÈne Ausdru È cke ¹hinnehmen kann, ohne dass ihre oÈffentliche Ordnung oder die Moral Schaden leidetª (VfSlg 10.700/1985). Nach diesen MaûstaÈben muss auch Kritik an behoÈrdlichem Fehlverhalten moÈglich sein, selbst wenn sie scharfe Formen annimmt (VfSlg 13.035/1992).
1469 2. BeschraÈnkungen bei der Verbreitung von Massenmedien, insbesondere auch von Druckschriften (zB Verteilung von FlugblaÈttern, Straûenverkauf von Zeitschriften, Anschlagen von Plakaten), wie sie in zahlreichen Bundes- und Landesgesetzen zum Schutz verschiedenster o È ffentlicher Belange (Straûenverkehr, Ortsbildschutz, Naturschutz) enthalten sind, greifen in die Kommunikationsfreiheit ein. Neben vereinzelten Anzeigepflichten sehen diese Gesetze vor allem Bewilligungspflichten vor; der wichtigste Fall eines solchen Bewilligungsvorbehalts ist die in § 82 StVO normierte Pflicht, fu È r die Benu È tzung von Straûen zu ¹verkehrsfremden Zweckenª eine Bewilligung durch die StraûenverkehrsbehoÈrde einzuholen. In stRspr geht der VfGH von der VerfassungsmaÈûigkeit dieser Regelungen aus, wobei er allerdings die BehoÈrden fu È r verpflichtet ansieht, die relevanten Interessen (etwa an der Flu È ssigkeit des Straûenverkehrs) mit dem Interesse an der Meinungsfreiheit abzuwaÈgen. Verfassungswidrig waÈre es daher, wenn Bewilligungsverfahren verzo È gert oder fu È r die Bewilligung unzumutbar hohe Gebu È hren vorgeschrieben wu È rden (VfSlg 11.651, 11.733/1988).
È rzte, Notare, Wirtschafts1470 3. Die AngehoÈrigen der freien Berufe (RechtsanwaÈlte, A treuhaÈnder usw) unterliegen einer besonderen Standesgerichtsbarkeit, die VerstoÈûe gegen die Berufspflichten und die Pflicht zur Wahrung des Standesansehens mit disziplinaÈren Sanktionen ahndet. Dabei koÈnnen solche Standespflichten auch die Meinungs- und Informationsfreiheit der BerufsangehoÈrigen betreffen; in erster Linie handelt es sich um BeschraÈnkungen bei der kommerziellen Werbung und um gesteigerte Pflichten zur Zuru È ckhaltung bei MeinungsaÈuûerungen, vor allem im È uûerungen gegenu Zusammenhang mit kritischen oder beleidigenden A È ber Berufsgenossen und Standesvertretern oder gegenu È ber Richtern und BehoÈrden(vertretern) bei den rechtsberatenden Berufen. 1471 a) Nach der Judikatur des VfGH sind absolute Werbeverbote, die auch eine sachlich infor-
mierende Werbung beschraÈnken, im Hinblick auf die Meinungsfreiheit jedenfalls unzulaÈssig, waÈhrend der Gesetzgeber bestimmte Formen einer standeswidrigen Werbung verbieten darf (vgl VfSlg 12.467/1990, 12.886, 12.942/1991 zum Standesrecht der RechtsanwaÈlte, VfSlg 13.128/1992 zum Werbeverbot fu È r WirtschaftstreuhaÈnder, VfSlg 13.554/1993 zum WerbeverÈ rzte, VfSlg 13.675/1994 zum Werbeverbot fu bot fu Èr A È r TieraÈrzte). Der Gerichtshof hat auch der Kritik an den Standesvertretern oder an Kollegen einen groÈûeren Spielraum eroÈffnet und betont, dass die MoÈglichkeit zur sachlichen, in der gebotenen Form geaÈuûerten Kritik ein unverzichtbares, aus Art 10 EMRK erflieûendes und jedermann zustehendes Recht ist (VfSlg 11.996/1989, 13.612/1993, 14.037/1995, 17.852/2006). Das gilt auch fu È r die Kritik an Richtern und BehoÈrden (VfSlg 16.267/2001; VfGH 14.12.2007, B 579/07).
1472 b) Unter besonderen UmstaÈnden kann auch ein Verbot wahrer werbender AnkuÈndigun-
gen verfassungsmaÈûig unbedenklich sein, um die Rechte anderer sicherzustellen und den besonderen UmstaÈnden bestimmter Berufe Rechnung zu tragen (VfSlg 16.296/2001 zur Èarztlichen Werbung). Das Verbot belaÈstigender Werbemitteilungen (unerwu È nschte Anrufe, Faxsendungen, E-Mails) verstoÈût nicht gegen Art 10 EMRK (VfSlg 16.688/2002). Die Werbesteuer ist im Hinblick auf Art 10 EMRK unbedenklich (VfSlg 16.635/2002).
1473 4. Die Freiheit zur Kritik steht grundsaÈtzlich auch Beamten zu, und zwar auch dann, wenn sie sich kritisch mit ihrer eigenen BehoÈrde oder mit der Regierung auseinander setzen (VfSlg 13.978/1994; VwSlg 15.468 A/2000). Auch Beamte der EU koÈnnen sich auf die Meinungsfreiheit berufen, wenngleich auch sie die Grenzen der ihnen auferlegten Treuepflicht zu wahren haben (vgl EuGH, Connolly, Rs C-274/99 P, Slg 2001, I-1611; EuGH, Cwik, Rs C-340/00 P, Slg 2001, I-10269). Nach Ansicht des EGMR kann es in EinzelfaÈllen sogar gerechtfertigt sein, dass sich Beamte u È ber die ihnen obliegenden Pflichten zur LoyalitaÈt und Diskretion hinwegsetzen, wenn sich an-
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ders o È ffentliche MissstaÈnde (zB Korruption) nicht aufdecken lassen (EGMR, Guja, NL 2008, 28). 5. Groûen Einfluss hat die Kommunikationsfreiheit auf die Ausgestaltung des Kon- 1474 È bergriffen der Medien und È nlichkeit vor U flikts zwischen dem Schutz der Perso der verfassungsrechtlich geschu È tzten Freiheit der Medien. Die Medienfreiheit verpflichtet die Straf- und Zivilgerichte zu einer verfassungskonformen Interpretation und zu einer InteressenabwaÈgung unter Beru È cksichtigung des verfassungsrechtlich geschu È tzten Werts der freien geistigen Auseinandersetzung. Das hat in den letzten Jahren zu einer ¹Konstitutionalisierungª des Beleidigungsrechts gefu È hrt. Vor allem wird ± nicht zuletzt unter dem Eindruck der Judikatur des EGMR ± der Kritikfreiheit im Bereich der beleidigenden Werturteile ein groÈûerer Freiheitsraum eroÈffnet, in erster Linie bei der Auseinandersetzung u È ffentlich bedeutsame Themen, woÈ ber o bei bei der naÈheren Bemessung dieses Spielraumes unter anderem der Status der angegriffenen Person (¹public-figures-Standardª) eine Rolle spielt (grundlegend EGMR, Lingens, EuGRZ 1986, 424). a) Im Ergebnis ist nunmehr anerkannt, dass es gegen Art 10 EMRK verstoûen wu È rde, wenn bei 1475 subjektiven Werturteilen ein Wahrheitsbeweis verlangt wu È rde, wobei vor allem Politiker und andere im oÈffentlichen Leben stehende Personen eine staÈrkere EinschraÈnkung ihres Ehrenschutzes hinnehmen mu È ffentliche Diskussion u È ssen, damit die o È ber gemeinschaftswichtige Angelegenheiten nicht allzu sehr behindert wird. Dazu gibt es eine reichhaltige Judikatur des È sterEGMR, der sich gerade in diesem Zusammenhang immer wieder mit Beschwerden aus O reich beschaÈftigen und Urteile oÈsterreichischer Gerichte im Licht von Art 10 EMRK korrigieren È JZ 2001, 693; EGMR, Dichand, O È JZ 2002, 464; EGMR, Krawamuss (vgl zB EGMR, Jerusalem, O È JZ gna-Pfeifer und Standard VerlagsGmbH, MR 2007, 23; EGMR, Albert Engelmann GmbH, O 2006, 695). Auch die VeroÈffentlichung von Bildern in Medien faÈllt unter den Schutz des Art 10 EMRK; die zT Èauûerst restriktive Judikatur der Zivilgerichte zum Recht am eigenen Bild (§ 78 UrhG) wurde daher unter dem Eindruck der Medienfreiheit revidiert (vgl OGH SZ 70/ 183). b) Weil sich beim Konflikt von Meinungsfreiheit und PersoÈnlichkeitsschutz im Prinzip gleich- 1476 rangige Rechtsgu È ter gegenu È berstehen, kann freilich keines der beiden Gu È ter einen unbedingten Vorrang beanspruchen; daher mu È ssen sich der Gesetzgeber und die Gerichte in besonderer Weise um einen schonenden Ausgleich der Interessen bemu È hen, der dem Verfassungswert der freien Rede ebenso Rechnung traÈgt wie den schutzwu È rdigen Interessen des Einzelnen. Daher ist es kein Widerspruch, wenn es in den letzten Jahren auch zu einem Ausbau È nlichkeitsschutzes gekommen ist, vor allem im Hinblick auf den Schutz der Privatdes Perso È bergriffen der Medien und den Schutz der Unschuldsvermutung. In diesem ZusphaÈre vor U sammenhang hat der VfGH die VerfassungsmaÈûigkeit der Regelung des § 7b MedienG bestaÈtigt, welche die Massenmedien zur Achtung der Unschuldsvermutung bei der Kriminalberichterstattung verpflichtet (VfSlg 14.260/1995). Nach Ansicht des EGMR ist der Staat auch unter den Gesichtspunkten des Art 8 EMRK verpflichtet, einen fairen Ausgleich zwischen dem Schutz des guten Rufes und der Meinungsfreiheit anzustreben, so dass der Einzelne etwa auch vor exzessiver Kritik zu schu È tzen ist (EGMR, Pfeifer, MR 2007, 362).
È ffentliche Verantwortung des Rundfunks 51.1.4. Die Freiheit und die o 1. Die Veranstaltung von Rundfunk ist Teil der in Art 10 EMRK gewaÈhrleisteten 1477 Freiheit, wobei in diesem Zusammenhang von einer Rundfunkfreiheit gesprochen wird (VfSlg 9909/1983, 10.948/1986). Sie umfasst die Veranstaltung und Verbreitung von HoÈrfunk- und Fernsehprogrammen u È ber terrestrischen Funk, Satelliten oder Kabelnetze in analoger und digitaler Technik; sie garantiert auch privaten Veranstaltern das Recht Radio- und Fernsehprogramme mit allen in Betracht kommenden Mitteln zu verbreiten. Auch audiovisuelle Multimediadienste koÈnnen unter diese Freiheit fallen. Rundfunk unterliegt auch dem BVG-Rundfunk, das den Bundesgesetzgeber beauftragt die naÈheren Bestimmungen fu È r den Rundfunk und seine Organisation festzu-
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Teil IV. Die Grundrechte
legen, wobei dafu È r bestimmte Programm- und OrganisationsgrundsaÈtze vorgegeben È ffentlichen Aufgabe erwerden (Art I Abs 2); auûerdem wird Rundfunk zu einer o klaÈrt (Art I Abs 3). 1478 Das VerhaÈltnis zwischen der individuellen Rundfunkfreiheit und dem BVG-Rundfunk
war lange Zeit umstritten. Klar war nur, dass Rundfunk wegen des in Art I Abs 2 BVG-Rundfunk enthaltenen ¹Rundfunkvorbehaltsª nur auf der Grundlage einer bundesgesetzlichen ErmaÈchtigung betrieben werden darf, so dass ± solange das auf den ORF zugeschnittene ORF-G das einzige Rundfunkgesetz war ± nur der ORF und kein anderer Veranstalter zugelassen war (VfSlg 9909/1983). Durch die Entscheidung des EGMR im Fall Informationsverein Lentia wurde È sterreich durch die Nichtzulassung privater Radioveranstalter geallerdings festgestellt, dass O gen die Konvention verstoûen hatte; dies fu È hrte zu einer allmaÈhlichen Auflockerung der Monopolsituation (EGMR, Informationsverein Lentia, EuGRZ 1994, 549). Zu ihr trug auch der VfGH mit mehreren rundfunkrechtlichen Entscheidungen bei, die eine Liberalisierung beim Kabelfernsehen zur Folge hatten (VfSlg 14.258/1995, 14.635/1996).
1479 2. Gestu È tzt auf den in Art 10 Abs 1 Satz 3 EMRK enthaltenen Genehmigungsvorbehalt ist der Gesetzgeber befugt einen rundfunkpolitischen Ordnungsrahmen zu begru È nden und dabei vor allem die besondere Gemeinwohlverantwortung des Rundfunks auszuformen, die sich in seinem publizistischen und kulturellen Auftrag ausdru È ckt. Gleichzeitig muss der Gesetzgeber aber der individuellen Rundfunkfreiheit Rechnung tragen und die notwendigen Rechtsgrundlagen fu È r die Zulassung privater Rundfunkveranstalter schaffen. Ein Zulassungsverfahren ist mit Art 10 EMRK vereinbar; es muss freilich die GewaÈhr dafu È r bieten, dass die Auswahl nach sachlichen Gesichtspunkten und frei von Willku È r und Diskriminierung erfolgt. Das BVG-Rundfunk verankert in diesem Sinn einen so genannten Rundfunkvorbehalt, dh dass Rundfunk nur auf der Grundlage einer entsprechenden gesetzlichen ErmaÈchtigung betrieben werden darf; zugleich werden dem Gesetzgeber bestimmte GrundsaÈtze fu È r die Ausgestaltung der Rundfunkordnung vorgegeben. 1480 a) Das BVG-Rundfunk hat einen unabhaÈngigen Rundfunk im Auge, der zu einer ausgewogenen
oÈffentlichen Meinungsbildung und zur objektiven Information verpflichtet ist und insoweit È ffentliche Aufgabe erfu eine o È llt. Daher muss der Gesetzgeber fu È r ein Rundfunksystem sorgen, das im Ergebnis und in seiner Gesamtheit den Anforderungen des Art I Abs 2 BVG-Rundfunk Rechnung traÈgt, dh dass gewaÈhrleistet sein muss, dass die Rundfunkprogramme den GrundsaÈtzen der ObjektivitaÈt und Unparteilichkeit unter Beru È cksichtigung der Meinungsvielfalt entsprechen, dass ausgewogene Programme angeboten werden und dass der Rundfunk unabhaÈngig ist. Im Rahmen dieser Vorgaben hat der Gesetzgeber eine ¹duale Rundfunkordnungª verwirklicht; dabei stehen der oÈffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt ORF mit einem gesetzlich umschriebenen oÈffentlichen Programmauftrag, der auch durch Rundfunkgebu È hren finanziert wird, private Rundfunkunternehmen gegenu È ber, die kommerziell orientiert und auf Werbeeinnahmen angewiesen sind. Bei der Ausgestaltung der dualen Rundfunkordnung kann sich der Gesetzgeber auf einen nicht unerheblichen rundfunkpolitischen Gestaltungsspielraum stu È tzen. Im Prinzip mu È ssen den privaten Rundfunkunternehmern die entsprechenden kommerziellen EntfaltungsmoÈglichkeiten offen gehalten werden, was etwa auch WerbebeschraÈnkungen fu È r den ORF rechtfertigt (VfSlg 16.911, 17.006/2003); andererseits muss dem ORF die Erfu È llung seines oÈffentlich-rechtlichen Auftrags auch unter den sich wandelnden Bedingungen der digitalen Medienwelt gesichert bleiben, was auf eine Bestands- und Entwicklungsgarantie fu È ffentlich-rechtlichen Rundfunk hinauslaÈuft. È r den o
1481 b) Das BVG-Rundfunk mit seinen Programm- und OrganisationsgrundsaÈtzen stammt aus dem
Jahr 1974 und ist ganz eindeutig auf die damalige rundfunkrechtliche Monopolsituation zugeschnitten, dh es hatte den ORF als einzigen zugelassenen Rundfunkveranstalter vor Augen, dem die mit dem oÈffentlichen Auftrag verbundenen GrundsaÈtze u È berbunden wurden. Auf die Gegebenheiten auf den modernen RundfunkmaÈrkten laÈsst sich dieses Verfassungsgesetz kaum mehr sinnvoll anwenden. Besondere Schwierigkeiten wirft die sachliche Abgrenzung des BVG-Rundfunk auf, weil es auf einen hauptsaÈchlich technisch definierten Rundfunkbegriff (Art I Abs 1 BVG-Rundfunk) aufbaut, so dass woÈrtlich genommen auch viele Dienste der heutigen Informationsgesellschaft (zB Erscheinungsformen des Internet wie Online-Radio usw) un-
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ter den Rundfunkvorbehalt fielen und nur nach Maûgabe einer gesetzlichen Regelung betrieben werden du È rften. Eine solche Ausdehnung des Rundfunkvorbehalts waÈre mit der gewaÈhrleisteten Medienfreiheit unvereinbar, so dass man davon ausgeht, dass der Rundfunkvorbehalt des BVG-Rundfunk und damit auch die Geltung der entsprechenden ObjektivitaÈtsund Unparteilichkeitsgebote usw einer teleologischen Reduktion (einschraÈnkenden Interpretation) bedu È rfen. Dem Rundfunkvorbehalt unterliegen damit im Ergebnis nur jene Formen von Rundfunk, denen die besondere publizistische Wirkungsmacht zukommt, die mit klassischen Rundfunk- und Fernsehprogrammen verbunden ist.
3. Eingriffe in die Rundfunkfreiheit koÈnnen, soweit sie durch Bescheid erfolgen, 1482 durch Beschwerde an den VfGH bekaÈmpft werden. In diesem Zusammenhang kommt vor allem der BekaÈmpfung von Bescheiden des Bundeskommunikationssenats in Betracht; diese nach Art 133 Z 4 B-VG eingerichtete KollegialbehoÈrde nimmt gegenu È rde wahr und sie entÈ ber dem ORF die Funktion einer Aufsichtsbeho scheidet im Berufungsweg u È ber Bescheide der RundfunkregulierungsbehoÈrde KommAustria (zu den Rechtsgrundlagen dieser BehoÈrden vgl das KommAustria-G BGBl I 2001/32 idgF). Zu Eingriffen in die Programmgestaltungsfreiheit der Rundfunkanstalten in der Form von inhaltlichen Vorgaben ist die BehoÈrde nicht berechtigt (VfSlg 18.018/2006).
51.2. Die Wissenschaftsfreiheit und die Freiheit der Kunst Rechtsquellen: Art 17 Abs 1 StGG; Art 17a StGG; Art 13 EGC. In Art 17 Abs 1 StGG und Art 17a StGG gewaÈhrleistet die Verfassung die Freiheit 1483 der wissenschaftlichen Lehre und Forschung und die Freiheit der Kunst. Wissenschaft und Kunst sind Manifestationen des geistigen und kulturellen Schaffens der Menschen, die an sich bereits durch die allgemeine MeinungsaÈuûerungsfreiheit geschu È tzt waÈren. Wenn sie die Verfassung gesondert garantiert, will sie die Eigengesetzlichkeiten der Wissenschaft und Kunst unter besonderen Schutz stellen, was sich in erster Linie darin Èauûert, dass beide Grundrechte vorbehaltlos gewaÈhrleistete Grundrechte sind. Die Wissenschaft und die darauf aufbauende Lehre sollen nur ihrem eigentlichen Ideal ± der vorbehaltlosen Wahrheitssuche ± verpflichtet sein und auch die Kunst soll sich ihren eigenen Gesetzen gemaÈû entfalten koÈnnen. 51.2.1. Die individuelle Wissenschaftsfreiheit 1. Art 17 Abs 1 StGG schu È tzt die Wissenschaft und ihre Lehre. Gegenstand der 1484 Grundrechtsgarantie sind daher die wissenschaftliche Forschung und die wissenschaftliche Lehre. Wissenschaft ist jedes planvolle und methodische Bemu È hen um È berpru die Gewinnung objektiver Erkenntnisse, das sich einer intersubjektiven U Èfung stellt. Angesichts der Vielzahl wissenschaftlicher Schulen und Methoden ist eine naÈhere Eingrenzung von Wissenschaft nicht moÈglich; in den GrenzfaÈllen entscheidet letztlich das Urteil der ¹scientific communityª daru È ber, ob ein bestimmtes Handeln als wissenschaftlich qualifiziert werden kann. Wissenschaftliche Lehre ist nur die auf eigenstaÈndige Forschung aufbauende LehrtaÈtigkeit, nicht die bloûe Wiedergabe fremder Forschungsergebnisse. Auf das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit kann sich jeder berufen, der wissenschaftlich forscht oder eine selbstaÈndige wissenschaftliche Lehre betreibt (VfSlg 13.978/1994). Sachlich garantiert Art 17 StGG die freie Selbstbestimmung des Wissenschaftlers u È ber die GegenstaÈnde seines wissenschaftlichen Bemu È hens, die Freiheit der Methodenwahl und die Freiheit seine Erkenntnisse ohne jede Behinderung zu verbreiten. Vor allem darf niemand wegen der Aufstellung eines wissenschaftlichen Lehrsatzes behoÈrdlich verfolgt werden (VfSlg 2823/1955). In die Wissenschaftsfreiheit wird
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aber auch eingegriffen, wenn die freie Entscheidung des Forschers u È ber die ForschungsgegenstaÈnde etwa durch Bewilligungspflichten beschraÈnkt oder eine bestimmte Forschungsmethode verboten wu È rde. Im Bereich der akademischen Lehre garantiert das Grundrecht die eigenverantwortliche Entscheidung des UniversitaÈtslehrers u È ber Inhalte und Methoden seiner Lehre. 1485 2. Art 17 StGG gewaÈhrleistet die Wissenschaftsfreiheit als ein vorbehaltloses Grundrecht. Dass diese Freiheit trotzdem nicht schrankenlos ausgeu È bt werden kann, versteht sich von selbst; die dogmatische Konstruktion der Grundrechtsschranken stellt aber ± wie bei allen vorbehaltlosen Grundrechten ± vor erhebliche Probleme (vgl oben Rz 1315 ff). 1486 Die Judikatur des VfGH zu den Schranken der Wissenschaftsfreiheit ist nicht ganz eindeutig.
An sich betont der Gerichtshof, dass das Grundrecht des Art 17 StGG ein absolutes Grundrecht ist, das durch kein einfaches Gesetz und durch keinen Verwaltungsakt eingeschraÈnkt werden darf (VfSlg 3565/1959). Dienstrechtliche Bestimmungen, welche die Versetzung eines dienstunfaÈhigen Hochschullehrers in den Ruhestand oder die Suspendierung eines UniversitaÈtsprofessors wegen eines standeswidrigen Verhaltens vorsehen, verstoûen nach Ansicht des VfGH nicht gegen die Wissenschaftsfreiheit, weil sie dieses Grundrecht gar nicht ¹beru È hrenª; die entsprechenden Bescheide wurden aber trotzdem auf ihre GesetzmaÈûigkeit gepru È ft (VfSlg 3565/ 1959, 4732/1964; vgl auch VfSlg 16.879/2003). In einem weiteren Erkenntnis hat der VfGH dagegen auch einen manifesten Eingriff in den Inhalt einer wissenschaftlichen TaÈtigkeit (die Disziplinierung eines Beamten wegen des Inhalts eines wissenschaftlichen Vortrags) mit dem Argument gerechtfertigt, dass ein Eingriff in die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre nur dann (aber offensichtlich auch immer schon dann!) zulaÈssig sein soll, wenn er zum Schutz eines anderen Rechtsguts erforderlich und verhaÈltnismaÈûig ist (VfSlg 13.978/1994). Das kann so nicht richtig sein, weil damit die vorbehaltlose Wissenschaftsfreiheit im Ergebnis einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt unterstellt wird.
1487 Die Schranken der Wissenschaftsfreiheit sind daher ± wie bei dem Èahnlichen Grundrecht der Kunstfreiheit ± im Wege von immanenten Schranken zu bestimmen: Daher ist auch die wissenschaftliche Forschung und Lehre an die Schranken der allgemeinen Gesetze gebunden, so dass zB ein wissenschaftlicher Vortragsraum wegen eines Baugebrechens gesperrt oder die Errichtung eines Forschungslabors den aus Sicherheitsgru È nden erforderlichen Genehmigungen unterworfen werden darf. UnzulaÈssige nicht-allgemeine Gesetze waÈren alle Vorschriften, die intentional in die wissenschaftliche Forschung und Lehre eingreifen oder bestimmte Formen der wissenschaftlichen Forschung und Lehre im Ergebnis unmoÈglich machen. Auch die allgemeinen Gesetze du È rfen die wissenschaftliche TaÈtigkeit nicht unverhaÈltnismaÈûig beengen, so dass es ± im Rahmen dieser Gesetze ± auf eine Gu È terabwaÈgung zwischen der Freiheit der Wissenschaft und den Gemeinschaftsgu È tern ankommen kann, zu deren Gunsten der Wissenschaft gewisse BeschraÈnkungen auferlegt werden. 1488 Auch intentionale BeschraÈnkungen der Wissenschaftsfreiheit koÈnnen freilich ausnahmsweise zulaÈssig sein, wenn sie aus Bestimmungen im Verfassungsrang abgeleitet werden koÈnnen. Insofern findet die Freiheit der Wissenschaft ihre verfassungsimmanenten Grenzen an den Grundrechten der Mitmenschen. Auf dieser Grundlage sind auch die EinschraÈnkungen zu diskutieren, die heute manchen Zweigen der Naturwissenschaften, etwa der Gentechnologie, auferlegt werden, weil mit ihr mo È glicherweise nicht beherrschbare Gefahren verbunden sind. Zu den verfassungsimmanenten Grenzen der wissenschaftlichen Forschung gehoÈrt auch die menschliche Wu È rde, mit der es unvereinbar waÈre, wenn der Einzelne zu einem bloûen Objekt wissenschaftlicher Neugierde oder wirtschaftlicher Interessen gemacht wu È rde (VfSlg 13.635/1993).
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51.2.2. Wissenschaftsfreiheit und UniversitaÈtsorganisation 1. Aus der historischen Entwicklung der Wissenschaftsfreiheit im 19. Jahrhundert 1489 laÈsst sich begru È nden, dass dieses Grundrecht auch institutionelle Komponenten aufweist und als ¹Grundrecht der UniversitaÈtenª einen Kernbestand der UniversitaÈtsautonomie verfassungsrechtlich gewaÈhrleistet. Daraus folgt zum einen, dass den staatlichen UniversitaÈten in den Angelegenheiten der Wissenschaftsverwaltung autonome Entscheidungsbefugnisse zukommen und den dort taÈtigen Wissenschaftlern in Angelegenheiten der wissenschaftlichen Forschung und Lehre Weisungsfreiheit einzuraÈumen ist. Die Bindung an Curricula ist damit freilich vereinbar; die Eigengesetzlichkeiten der Wissenschaften sind aber ansonsten auch im inneruniversitaÈren Bereich zu beachten, etwa im Rahmen der Ausgestaltung der dienstrechtlichen Pflichten, beim Abschluss von Zielvereinbarungen oder bei der Evaluierung der Lehre. In der Vergangenheit haben sich die Auseinandersetzungen vor allem um die Frage gedreht, ob 1490 es mit der Wissenschaftsfreiheit vereinbar ist, wenn den Studenten oder dem nicht-habilitierten ¹Mittelbauª in Angelegenheiten der autonomen Wissenschaftsverwaltung (etwa bei Berufungen und Habilitationen oder bei der Erlassung von StudienplaÈnen) eine maûgebliche Mitbestimmung eingeraÈumt wird. Der VfGH hat in VfSlg 8136/1977 (¹UOG-Erkenntnisª) diese Ansicht mit einer anfechtbaren Begru È ndung zuru È ckgewiesen und Art 17 StGG jeden moÈglichen institutionellen Bezug aberkannt. Ohne Bezugnahme auf die Wissenschaftsfreiheit hat der VfGH in seiner Entscheidung VfSlg 14.362/1995 eine Regelung des UOG 1975 u È ber die Willensbildung in Habilitationskommissionen als gleichheitswidrig aufgehoben, weil sie es ermoÈglichte, dass eine Mehrheit der durch Habilitation qualifizierten Mitglieder dieser Kommission bei der Beurteilung der wissenschaftlichen Qualifikation eines Bewerbers von Nicht-Habilitierten u È berstimmt werden konnte. Nachdem das UG 2002 die Mitbestimmung der Kurien im Rahmen der autonomen UniversitaÈt nicht unerheblich eingeschraÈnkt hat, wurde behauptet, dass das gegen den verfassungsrechtlich vorausgesetzten Charakter der UniversitaÈten als Selbstverwaltungseinrichtungen verstoûen wu È rde. Auch diese Bedenken hat der VfGH nicht geteilt (VfSlg 17.101/ 2004).
2. Durch Art 81c B-VG wird die Autonomie der o È ffentlichen UniversitaÈten ausdru È ck- 1491 lich verfassungsrechtlich garantiert (vgl Rz 770). Gleichzeitig wird durch diese Verfassungsbestimmung festgelegt, dass diese UniversitaÈten ¹StaÈtten freier wissenschaftlicher Forschung, Lehre und Erschlieûung der Ku È nsteª sind. Damit anerkennt die Verfassung, dass innerhalb der Organisation der UniversitaÈt den TraÈgern der Grundrechte aus Art 17 StGG (Art 17a StGG) FreiheitsspielraÈume einzuraÈumen sind, weil anders keine freie Wissenschaft (Kunst) betrieben werden kann. Diese FreiheitsspielraÈume hat der staatliche Organisationsgesetzgeber zu gewaÈhrleisten, aber auch die einzelne UniversitaÈt, wenn sie im Rahmen der Gesetze ihre Organisation durch Satzungen naÈher regelt. Insbesondere ist sicherzustellen, dass es durch die Einbindung in den organisierten Lehr- und Forschungsbetrieb zu keiner strukturellen GefaÈhrdung der Freiheit des einzelnen Forschers und akademischen Lehrers kommen kann; auûerdem mu È ssen die Hochschullehrer an den inneruniversitaÈren Entscheidungen, welche die Lehre und Forschung (Erschlieûung der Ku È nste) betreffen, in angemessener Weise beteiligt sein. Darin liegt eine organisatorische VerstaÈrkung des individuellen Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit bzw im Falle der KunstuniversitaÈten der Kunstfreiheit, deren naÈhere Ausgestaltung dem UniversitaÈtsgesetzgeber und der Satzung (Organisationsplan) der UniversitaÈt obliegt. 51.2.3. Die Kunstfreiheit 1. Art 17a StGG schu È nstlerische Schaffen, die Vermittlung von Kunst 1492 È tzt das ku und die Lehre der Kunst. Angesichts der Vielgestaltigkeit und Vieldeutigkeit dessen, was in der gesellschaftlichen Wirklichkeit als ¹Kunstª in Erscheinung tritt, berei-
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tet die Bestimmung des Schutzbereichs gewisse Schwierigkeiten. Fest steht, dass dem Staat ein so genanntes ¹Kunstrichtertumª verwehrt ist. Daher darf der Schutz des Grundrechts nicht etwa nur Formen einer gesellschaftlich anerkannten Kunst vorbehalten oder von vornherein Manifestationen versagt werden, die nach sittlichen oder rechtlichen MaûstaÈben vielleicht unzu È chtig, obszoÈn oder blasphemisch sind. Insofern ist von einem offenen Kunstbegriff auszugehen, der grundsaÈtzlich alles das umfasst, was sich objektiv als eine Erscheinungsform von Kunst darstellt. Grundrechtsschutz genieûen daher die traditionellen Werkgattungen (bildende und darstellende Kunst, Literatur, Musik, Film, Baukunst), aber auch unkonventionelle Kunstformen wie ein Happening, land-art oder Graffiti. Weil nach Art 17a StGG auch die Vermittlung von Kunst erfasst ist, schu È tzt die Kunstfreiheitsgarantie nicht nur den Werkbereich, sondern auch den ku È nstlerischen Wirkbereich, dh die PraÈsentation von Kunst. In diesem Sinn kann sich daher etwa auch der Galerist, der Leiter eines Museums oder der Intendant eines Theaters auf das Grundrecht berufen. Umfasst ist auch die ku È nstlerische Lehre, worunter vor allem (aber nicht nur) die Lehre an den KunstuniversitaÈten faÈllt.
1493 2. Auch die Bestimmung der Schranken der ausdru È cklich als vorbehaltloses Grundrecht garantierten Kunstfreiheit ist nicht einfach. Nach der Rspr des VfGH sind jedenfalls intentional auf eine EinschraÈnkung der gewaÈhrleisteten Freiheit gerichtete BeschraÈnkungen verfassungswidrig, was etwa dann der Fall waÈre, wenn der Staat eine bestimmte ku È nstlerische Richtung unterdru È cken wu È rde (VfSlg 10.401/1985). Dagegen beru È hren allgemeine Gesetze, welche die Kunst in die Èauûeren Erfordernisse einer gesellschaftlichen Ordnung einfu È gen, die gewaÈhrleistete Freiheit grundsaÈtzlich nicht; auch allgemeine Gesetze koÈnnen aber verfassungswidrig sein, wenn sie eine wesentliche tatsaÈchliche BeschraÈnkung ku È nstlerischer BetaÈtigung bewirken oder eine entsprechende Bedachtnahme auf die gewaÈhrleistete Kunstfreiheit ausschlieûen (VfSlg 11.567/1987, 11.737/1988). 1494 Daher stellt die Pflicht zur Einholung einer Baubewilligung fu È r ein bauliches Kunstwerk keine BeschraÈnkung dar, weil es sich dabei um ein allgemeines Gesetz handelt, und koÈnnten erst die Kriterien, nach denen eine Baubewilligung zu erteilen oder zu versagen ist, mit der Freiheit der Kunst in Konflikt geraten (VfSlg 10.401/ 1985). Auch das Verbot der ungebu È hrlichen LaÈrmerregung ist an sich ein allgemeines Gesetz; wenn die LaÈrmerregung aber im Zusammenhang mit einer ku È nstlerischen BetaÈtigung erfolgt, ist bei der Handhabung dieses Tatbestands auf die Auswirkungen auf die Freiheit zur ku È nstlerischen BetaÈtigung entsprechend Ru È cksicht zu nehmen und kann ein Vollzugsakt verfassungswidrig sein, wenn diese AbwaÈgungspflicht verkannt wird (VfSlg 11.567/1987). Wenn eine Vorschrift eine solche verfassungskonforme AbwaÈgung ausschlieût, dann kann auch das Gesetz selbst verfassungswidrig sein, und zwar auch dann, wenn es sich um ein allgemeines Gesetz handelt; das traf etwa auf eine Regelung zu, welche unter bestimmten UmstaÈnden eine zwingende Verweigerung der BeschaÈftigungsbewilligung fu È r auslaÈndische Arbeitnehmer vorsah und damit auslaÈndischen Ku È nstlern eine BeschaÈftigung im Inland u È berhaupt unmoÈglich machte (VfSlg 11.737/1988).
1495 3. Eine teilweise abweichende Schrankenlehre haben die Strafgerichte entwickelt, wenn sie im Zusammenhang mit der Beschlagnahme von Filmen (¹Das Gespenstª, ¹Das Liebeskonzilª) wegen einer angeblichen StoÈrung des religio È sen Friedens (§ 188 StGB) davon ausgegangen sind, dass die Kunstfreiheit ihre Grenze jedenfalls auch in den einfachgesetzlichen Bestimmungen des StGB findet. Diese Judikatur ist in dieser Form nicht haltbar, weil sie Art 17a StGG einem umfassenden Gemeinwohlvorbehalt unterwirft und damit der bewussten verfassungsrechtlichen Entscheidung fu Èr ein vorbehaltloses Grundrecht nicht ausreichend Rechnung traÈgt. TragfaÈhiger ist es, wenn in weiteren strafrechtlichen Entscheidungen ergaÈnzend auf diejenigen imma-
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nenten Schranken hingewiesen wird, die sich aus den anderen verfassungsrechtlich gewaÈhrleisteten Grundrechten, wie zB der Religionsfreiheit, ergeben koÈnnen. Freilich ist auch in einem solchen Konfliktfall der Kunstfreiheit angemessen Rechnung zu tragen und dem Anliegen des Ku È nstlers mit VerstaÈndnis entgegenzukommen. Schwierige AbwaÈgungsfragen kann der Konflikt zwischen der Freiheit der Kunst und den 1496 entgegenstehenden Rechten des Einzelnen auf Achtung seiner Ehre und PrivatsphaÈre aufwerfen. Auch hier gilt, dass die entsprechenden straf- und zivilrechtlichen Normen, welche der Kunstfreiheit Schranken setzen, gerechtfertigt sind, soweit sie verfassungsimmanente Schranken der PersoÈnlichkeitsrechte ausformen. Nach der Judikatur der Straf- und Zivilgerichte sind die Grenzen der Kunst dabei durch eine einzelfallbezogene AbwaÈgung zu ermitteln. Daher ko È nnen sich etwa die Satire und die Karikatur auf einen entsprechend weit gezogenen Freiheitsspielraum berufen (vgl zB OGH 30.10.1991, 1 Ob 4/91, EvBl 1992/50).
51.3. Die Versammlungsfreiheit Rechtsquellen: Art 12 StGG; Z 3 Beschluss ProvNV; Art 11 EMRK; Art 12 EGC. È ffentlich auftreten 1497 Versammlungen sind ein wichtiges Mittel, mit dem Menschen o koÈnnen, um gemeinsame Interessen und Anliegen zu artikulieren. In der geschichtlichen Entwicklung ist der absolute Staat Versammlungen mit aÈuûerstem Misstrauen entgegengetreten. Vor allem politische Versammlungen, die den staatlichen Herrschaftsanspruch in Frage stellen konnten, waren verboten. Andere VersammlunÈ berwachung unterworfen. Erst das Vergen wurden geduldet, aber einer strikten U sammlungsgesetz (VersG) des Jahres 1867 brachte den Durchbruch zu einer freiheitlichen Regelung. Dieses Gesetz steht in der als VersG 1953 wiederverlautbarten Fassung auch heute noch in Geltung. Durch Art 12 des StGG 1867 wurde allen StaatsbuÈrgern das Grundrecht garantiert sich zu versammeln. Hinsichtlich der Ausu È bung dieses Grundrechts verwies das StGG auf ¹besondere Gesetzeª; damit war das zuvor beschlossene VersG gemeint, das seither als Ausfu È hrungsgesetz zu Art 12 StGG angesehen wird. Der Beschluss ProvNV 1918 hob die kriegsbedingten Ausnahmeverfu È gungen betreffend die Versammlungsfreiheit auf und garantierte die ¹volle Versammlungsfreiheitª. Zu diesen Grundrechtsquellen trat Art 11 EMRK, der allen Menschen das Recht gibt, sich friedlich zu versammeln und der dieses Grundrecht einem materiellen Gesetzesvorbehalt unterwirft. Auch die EGC anerkennt die Versammlungsfreiheit im Anwendungsbereich des EU-Rechts (Art 12 EGC), wobei nach der Judikatur des EuGH die Inanspruchnahme dieses Grundrechts auch EinschraÈnkungen der Warenverkehrsfreiheit, etwa durch die Blockade einer Autobahn, rechtfertigt (EuGH, Schmidberger, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659).
51.3.1. Der Schutzbereich 1. Art 12 StGG und Art 11 EMRK gewaÈhrleisten die Freiheit von Versammlungen 1498 als Mittel der kollektiven Meinungsfreiheit. Darunter faÈllt jede voru È bergehende Vereinigung mehrerer Menschen an einem bestimmten Ort, die von der Absicht getragen ist durch ein kollektives Zusammenwirken Meinungen zu bilden oder diese nach auûen zu bekunden. Die isolierte Manifestation eines Einzelnen ist daher ebenso wenig eine Versammlung wie ein bloû zufaÈlliges Zusammentreffen von Menschen, ein schlichter Vortrag ohne Debatte, eine Werbeveranstaltung oder ein geselliges Zusammensein. Veranstaltungen, die dem Veranstaltungsrecht der BundeslaÈnder unterliegen, koÈnnen Versammlungen im Sinn des Grundrechts sein, wenn Menschen zu einer kollektiven Meinungsbildung oder Meinungskundgabe zusammenkommen. Daher kann zB ein o È ffentlicher Festakt eine Versammlung im verfassungsÈ brigen rechtlichen Sinn sein, nicht aber eine Theater- oder Kinovorstellung. Im U
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Teil IV. Die Grundrechte
kommt es auf den mit einer Manifestation verfolgten Zweck nicht an. Obwohl die Versammlungsfreiheit dort besondere Bedeutung erlangt, wo politische und oÈffentliche Anliegen behandelt oder verfolgt werden, ist jede kollektive MeinungsaÈuûerung grundrechtlich geschu È tzt. Seit der Geltung der EMRK ist die Versammlungsfreiheit ein Jedermannsrecht, das auch AuslaÈndern zusteht. 1499 a) Der VfGH neigt in seiner Rspr zu Art 12 StGG und dem VersG zu einer restriktiven Inter-
pretation des Versammlungsbegriffs: Eine Zusammenkunft mehrerer Menschen ist nach dieser Judikatur nur dann als Versammlung zu werten, wenn sie ¹in der Absicht veranstaltet wird, die Anwesenden zu einem gemeinsamen Wirken (Debatte, Diskussion, Manifestation usw) zu bringen, so dass eine gewisse Assoziation der Zusammengekommenen entstehtª. Dabei hat sich die Beurteilung, ob eine Zusammenkunft eine Versammlung ist, ¹an ihrem Zweck und an den Elementen der Èauûeren Erscheinungsformen (wozu die naÈheren ModalitaÈten, die Dauer und die Zahl der Teilnehmer der Veranstaltung gehoÈren) zu orientierenª (stRspr, zB VfSlg 12.161/1989). Das Aufstellen eines Informationstisches, von dem aus Unterschriften gesammelt und Flugzettel verteilt wurden (VfSlg 11.651/1988), hat dabei der VfGH ebenso wenig als Versammlung gewertet wie ein mehrtaÈgiges ¹sit inª von Obdachlosen (VfSlg 11.935/1988).
1500 b) DemgegenuÈber liegt Art 11 EMRK nach der Ansicht des VfGH ein weiter Versammlungs-
begriff zu Grunde, der ¹jede organisierte einmalige Vereinigung mehrerer Menschen zu einem gemeinsamen Ziel an einem bestimmten Ortª umfasst. Daher wurde ein o È ffentlicher Festakt zwar als eine Versammlung nach Art 11 EMRK, nicht aber als eine solche nach Art 12 StGG qualifiziert (VfSlg 12.501/1990). Es ist fraglich, ob diese unterschiedliche Abgrenzung des Schutzumfangs von Art 12 StGG und Art 11 EMRK richtig ist. Nach der hier vertretenen Auffassung fallen beide Versammlungsbegriffe zusammen, weil auch Art 11 EMRK rein gesellschaftliche Veranstaltungen nicht schu È ffentlicher Festakt wegen der damit verbunÈ tzt, waÈhrend ein o denen Manifestation von Meinungen durchaus eine Versammlung auch im Sinn von Art 12 StGG sein kann.
1501 c) Die Verfassung schuÈtzt auch die nicht vorweg geplante Manifestation von Meinungen
(¹Spontanversammlungª), bei der ein bestimmter Veranstalter oft fehlt und es mitunter schwierig ist, die vorgesehene Anzeige rechtzeitig zu erstatten. Dem traÈgt der VfGH in der Form Rechnung, dass er einen bloûen Verstoû gegen die versammlungsrechtliche Anzeigepflicht nicht als einen ausreichenden Grund ansieht, der es rechtfertigen wu È rde eine Versammlung aufzulo È sen (vgl auch unten Rz 1515; auch ist die 24-Stunden-Frist fu È r die Versammlungsanzeige nicht an die Amtsstunden gebunden; VfSlg 16.842/2003).
1502 2. In dem beschriebenen Umfang gewaÈhrleistet die Versammlungsfreiheit das È rdliche BeschraÈnkungen vorbereiten und Recht Versammlungen ohne beho durchfu È hren zu du È rfen. Eine Verletzung der Versammlungsfreiheit kann sowohl dadurch eintreten, dass die BehoÈrde die grundrechtlich gestatteten Handlungen unmoÈglich macht (zB Untersagung oder AufloÈsung einer Versammlung), als auch dadurch, dass sie eine solche Handlung zum Anlass fu È r die VerhaÈngung einer Strafsanktion nimmt (VfSlg 8159/1977, 8685/1979, 11.651/1988). 1503 Mit der Versammlungsfreiheit unvereinbar ist nach der Rspr des VfGH die Einfu È hrung eines Konzessionssystems, das die ZulaÈssigkeit von Versammlungen an eine vorherige behoÈrdliche Genehmigung binden wu È rde; dies leitet der VfGH aus der im Beschluss ProvNV garantierten ¹vollen Versammlungsfreiheitª ab (VfSlg 4885/1964, 11.866/1988). Die Unterwerfung unter Ordnungsvorschriften (zB ein Anzeigesystem) ist nur nach Maûgabe des in Art 11 Abs 2 EMRK enthaltenen materiellen Gesetzesvorbehalts zulaÈssig (vgl dazu im Folgenden Rz 1507 ff). 1504 Die Versammlungsfreiheit gibt dem Veranstalter auch das Recht die naÈheren ModalitaÈten zur
Durchfu È hrung von Versammlungen festzulegen. Die Verwendung von Hilfsmitteln (zB Lautsprecherwagen, Informationstische, Transparente usw) ist daher grundsaÈtzlich zulaÈssig, wenn eine Versammlung ordnungsgemaÈû angemeldet und nicht untersagt wurde; eine gesonderte behoÈrdliche Bewilligung ist fu È r die notwendigen Hilfsmittel nicht erforderlich (VfSlg 11.866, 11.904/1988; unter der Voraussetzung, dass in der Anzeige darauf hingewiesen wurde). Im Rahmen der erstatteten Anzeige koÈnnen auch bestimmte Verhaltensweisen, wie zB ein Ver-
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stoû gegen Bestimmungen der StVO (etwa ein Marschieren gegen die Einbahn oder das Abstellen eines Pkws) gerechtfertigt sein. Das gilt freilich nur fu È r Handlungen, die zur Durchfu È hrung der angezeigten Versammlung notwendig sind, so dass zB eine exzessive LaÈrmerregung nicht gedeckt ist (VfSlg 11.832/1988).
51.3.2. Die staatliche Schutzpflicht Der Versammlungsfreiheit entspringt auch ein Anspruch auf Schutz ordnungsge- 1505 maÈû durchgefu È hrter Versammlungen durch den Staat, der insbesondere dann zu gewaÈhren ist, wenn StoÈrungen durch Gegendemonstrationen zu befu È rchten sind (VfSlg 12.501/1990). Die Androhung von Gegendemonstrationen ist in der Regel auch kein ausreichender Grund dafu È r, die Durchfu È hrung einer Versammlung zu untersagen (zB VfSlg 6530/1971, 8609/1979). Dabei ist es grundsaÈtzlich Sache des Gesetzgebers fu È r die erforderlichen Schutzmaûnahmen zu sorgen (vgl §§ 284 und 285 StGB, welche bestimmte Formen der Verhinderung oder StoÈrung von Versammlungen unter Strafe stellen). Im Rahmen der sicherheitspolizeilichen ErmaÈchtigungen (§§ 28 ff SPG) und StraftatbestaÈnde (§ 81 SPG ± OrdnungsstoÈrung) ist es aber auch eine Aufgabe der Exekutive angemessene Maûnahmen zur Abwehr von StoÈrungen von Versammlungen zu treffen.
51.3.3. Grundrechtsschranken und -eingriffe 1. Nach Art 12 StGG wird die Ausu È bung der Versammlungsfreiheit durch be- 1506 sondere Gesetze geregelt. Man hat aus dieser Formulierung ableiten wollen, dass der Inhalt der gewaÈhrleisteten Freiheit nur nach Maûgabe ihrer einfachgesetzlichen Ausgestaltung bestehe. In Wirklichkeit werden Inhalt und Umfang der Versammlungsfreiheit von der Verfassung vorausgesetzt und wird der Gesetzgeber durch Art 12 StGG ± nicht anders als bei anderen Freiheitsrechten auch ± ermaÈchtigt, der gewaÈhrleisteten Freiheit gewisse Schranken zu setzen (was freilich auch als eine Form der Ausgestaltung angesehen werden kann). Es waÈre daher falsch den Inhalt der Versammlungsfreiheit etwa mit der durch das VersG gestalteten Rechtslage gleichzusetzen. Fu È fungsbefugnis des VfGH hat die AnÈ r den Umfang der Pru nahme, dass Art 12 StGG unter einem ¹Ausu È bungsvorbehaltª (Ausgestaltungsvorbehalt) steht, allerdings gewisse Konsequenzen (vgl unten Rz 1511). 2. Die durch den formellen Gesetzesvorbehalt des Art 12 StGG dem Gesetzgeber ein- 1507 geraÈumte Befugnis zur Schrankenziehung ist in mehrfacher Hinsicht begrenzt. Zum einen darf der Gesetzgeber gemaÈû der in Z 3 Beschluss ProvNV proklamierten vollen Versammlungsfreiheit keine Bewilligungspflichten vorsehen, sondern hat È brigen sind gesetzliche sich auf bloûe Ordnungsvorschriften zu beschraÈnken. Im U Schranken nur nach Maûgabe des in Art 11 Abs 2 EMRK formulierten materiellen Gesetzesvorbehalts zulaÈssig. BeschraÈnkungen der Versammlungsfreiheit entsprechen daher nur dann der Verfassung, wenn sie einem der in Art 11 EMRK bezeichneten Zwecke dienen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind. Sie mu È ssen einem zwingenden sozialen Bedu È rfnis entsprechen und du È rfen vom Staat nur mit verhaÈltnismaÈûigen, dh mit geeigneten, notwendigen und angemessenen Mitteln verfolgt werden. a) Nach der Rspr des VfGH stellen vor allem die im VersG enthaltenen Regelungen verfas- 1508 sungsrechtlich zulaÈssige Schranken der Versammlungsfreiheit dar (VfSlg 4885/1964, 8685/1979). Das auf das Jahr 1867 zuru È ckgehende VersG unterwirft Versammlungen freilich eiÈ berwachung, die sich auch auf jene Versammlunner verhaÈltnismaÈûig strikten polizeilichen U gen erstreckt, von denen eine Gefahr nicht ausgeht. Um Widerspru È che zur Versammlungsfreiheit zu vermeiden ist daher dieses Gesetz in einem besonderen Ausmaû auf eine verfassungskonforme Interpretation angewiesen.
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1509 b) Weitere Schranken der Versammlungsfreiheit finden sich im Straûenverkehrsrecht, das
die Benu È tzung von Straûen fu È r verkehrsfremde Zwecke einer Bewilligungspflicht unterwirft (§ 82 StVO), fu È r Versammlungen unter freiem Himmel aber in verfassungskonformer Weise eine bloûe Anzeigepflicht im Rahmen des Gemeingebrauchs statuiert (§ 86 StVO). Besondere Schranken fu È r den Grundrechtsgebrauch durch Soldaten enthaÈlt das WehrG (§ 43); ein an Wahltagen geltendes Versammlungsverbot fu È r Wahllokale und ihre Umgebung (Verbotskreis) sieht § 58 Abs 1 NRWO vor. Die Versammlungsfreiheit gewaÈhrt schlieûlich auch nicht das Recht, ohne Einwilligung des Eigentu È mers fremde, nicht dem Gemeingebrauch dienende Liegenschaften zu benutzen. Die fehlende Genehmigung des Verfu È gungsberechtigten kann daher unter UmstaÈnden auch eine Haftung fu È r den durch rechtswidrige Demonstrationen verursachten Schaden nach sich ziehen (OGH 25.5.1994, 3 Ob 501/94, JBl 1995, 658; OGH 25.3.1999, 6 Ob 201/98, RdU 1999, 156).
1510 3. Greift die BehoÈrde in Handhabung des VersG oder eines anderen Gesetzes in die Versammlungsfreiheit ein, ist sie zu einer verfassungskonformen Anwendung des Gesetzes verpflichtet. Sie hat insbesondere ihre Eingriffsbefugnisse an den in Art 11 Abs 2 EMRK formulierten Eingriffsbedingungen auszurichten und darf in das Grundrecht nur dann eingreifen, wenn der Eingriff zur Verfolgung eines der genannten Eingriffsziele unerlaÈsslich ist. Die bestehenden BeschraÈnkungen und Verbote sind daher restriktiv zu interpretieren. So ist die AufloÈsung einer Versammlung nur dann gerechtfertigt, wenn ohne diese Maûnahme eines der in der Konventionsnorm aufgezaÈhlten Schutzgu È ter gefaÈhrdet waÈre (VfSlg 10.443/1985, 10.955, 11.132/1986). Bei der Untersagung einer Versammlung muss die BehoÈrde die Interessen des Veranstalters an ihrer Abhaltung gegen die in Art 11 Abs 2 EMRK aufgezaÈhlten Interessen am Unterbleiben der Versammlung abwaÈgen (VfSlg 12.155/1989). 1511 4. Anknu È pfend an die Deutung des in Art 12 StGG enthaltenen Gesetzesvorbehalts als Ausgestaltungsvorbehalt vertritt der VfGH in stRspr die Auffassung, dass jede Verletzung des einfachgesetzlichen VersG einen Eingriff in das durch Art 12 StGG und Art 11 EMRK gewaÈhrleistete Grundrecht darstellt. Der VfGH beansprucht daher eine Kompetenz zur ¹Feinpru È fungª, die fu È r eine entsprechende ZustaÈndigkeit des VwGH keinen Raum laÈsst. Dies kommt auch in der entsprechenden ¹Grundrechtsformelª zum Ausdruck: Nach der stRspr des VfGH ist jede Verletzung des VersG, die unmittelbar die Ausu È bung des Versammlungsrechts betrifft und damit in die Versammlungsfreiheit eingreift, als Verletzung des durch Art 12 StGG und Art 11 EMRK verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Rechts zu werten. So verletzt etwa jeder Bescheid, mit dem die Abhaltung einer Versammlung untersagt wird, das verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Recht auf Versammlungsfreiheit schon dann, wenn das Gesetz unrichtig angewendet wurde (zB VfSlg 12.257/1990 uva). Beschwerde an den VfGH nach Art 144 B-VG kann daher mit der Behauptung erhoben werden in einer Bestimmung des VersG verletzt worden zu sein. Eine Abtretung an den VwGH kommt nicht in Betracht. Anders soll dagegen nach der Judikatur die Rechtslage sein, wenn sich ein auslaÈndischer Beschwerdefu È hrer nur auf Art 11 EMRK stu È tzen kann, weil dieses Grundrecht bei AuslaÈndern nur dann verletzt sein soll, wenn der Bescheid unter Heranziehung einer verfassungswidrigen Rechtsgrundlage erlassen wurde oder wenn er gesetzlos ist, wobei die denkunmoÈgliche Anwendung eines Gesetzes ebenfalls als Gesetzlosigkeit angesehen wird (¹Grobpru È fungª); in diesem Fall ist daher auch die Anrufung des VwGH zulaÈssig (VfSlg 8685/ 1979, 15.109/1998).
È berblick 51.3.4. Das Versammlungsrecht im U Da nach der Judikatur des VfGH dem VersG ein mittelbarer Verfassungsinhalt unterÈ berblick darstellt wird, werden im Folgenden die Regelungen dieses Gesetzes im U gestellt.
3. Kapitel: Die einzelnen Grundrechte
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a) Das VersG nimmt eine Reihe von Versammlungen von seinen Bestimmungen aus. Sie unter- 1512 liegen damit keinen versammlungsrechtlichen BeschraÈnkungen (vgl §§ 4 und 5 VersG); zum Teil werden diese Veranstaltungen aber durch das Veranstaltungsrecht der LaÈnder geregelt. Zu den freien Versammlungen gehoÈren die ¹auf geladene GaÈste beschraÈnktenª, dh geschlossenen Versammlungen (§ 2 VersG), die zwar dem VersG unterliegen, aber von einzelnen Ordnungsvorschriften (insbesondere von der Anzeigepflicht) ausgenommen sind. Nach der Rspr des VfGH ist eine Versammlung aber nur dann auf geladene GaÈste beschraÈnkt, wenn die Teilnehmer persoÈnlich und individuell vom Veranstaltenden zum Erscheinen geladen werden; der Veranstalter muss ferner Vorkehrungen treffen, welche die Nichtzulassung Ungeladener sichern (zB VfSlg 11.132/1986). b) Alle u È brigen Versammlungen unterliegen einer Anzeigepflicht (§ 2 VersG). Wenn eine Ver- 1513 sammlung auf einer oÈffentlichen VerkehrsflaÈche stattfindet, ist neben der versammlungsrechtlichen Anzeige eine weitere Anzeige an die Straûenpolizeibeho È rde zu erstatten (§ 86 StVO). c) Versammlungen ko È nnen von der BehoÈrde vor ihrer Abhaltung untersagt werden, wenn der 1514 Zweck der Versammlung den Strafgesetzen zuwiderlaÈuft, wenn ihre Abhaltung die o È ffentliche Sicherheit oder das o È ffentliche Wohl gefaÈhrdet (§ 6 VersG) oder wenn sie entgegen den Vorschriften des VersG veranstaltet werden (§ 13 Abs 1 VersG). Bei der Entscheidung u È ber eine allfaÈllige Untersagung einer Versammlung hat die BehoÈrde auf die Versammlungsfreiheit entsprechend Bedacht zu nehmen. Sie ist zur Untersagung nur ermaÈchtigt, wenn dies aus einem der in Art 11 Abs 2 EMRK genannten Gru È nde notwendig ist; dabei sind die Interessen des Veranstalters an der Abhaltung der Versammlung in der geplanten Form gegen die in Art 11 Abs 2 EMRK aufgezaÈhlten oÈffentlichen Interessen am Unterbleiben der Versammlung abzuwaÈgen (VfSlg 12.155/1989). Im Rahmen dieser AbwaÈgungspflicht rechtfertigen nur klare und gegenwaÈrtige GefaÈhrdungslagen eine Untersagung; bloûe Vermutungen und Befu È rchtungen reichen nicht aus (VfSlg 6850/1972, 17.259/2004). So sind beispielsweise gewisse Verkehrsbehinderungen im Interesse der Versammlungsfreiheit in Kauf zu nehmen (VfSlg 7229/1973), waÈhrend bei einer weitraÈumigen, langwaÈhrenden und extremen StoÈrung des Straûenverkehrs (mehrstu È ndige Blockade einer Autobahn) die gebotene InteressenabwaÈgung zum Nachteil des Versammlungsveranstalters ausfallen kann (VfSlg 12.155/1989, 12.257/1990). Besondere Sicherheitsrisken, die mit dem Besuch eines auslaÈndischen Regierungschefs verbunden sind, rechtfertigen zwar eine EinschraÈnkung der Versammlungsfreiheit; diese EinschraÈnkung darf jedoch nicht so weit gehen, dass mit der gaÈnzlichen Untersagung den Veranstaltern der geplanten Versammlung jede MoÈglichkeit genommen wird, das an sich nicht zu beanstandende Versammlungsziel, naÈmlich die friedliche Demonstration gegen die Menschenrechtspolitik eines bestimmten Staates, zu erreichen (VfSlg 15.170/1998, 15.952/2000). Sollen auf einer Versammlung nationalsozialistische Bestrebungen verfolgt oder Traditionen der ehemaligen deutschen Wehrmacht gepflegt werden, rechtfertigt das unmittelbar anwendbare VerbotsG die Untersagung (VfSlg 17.543/2005). Ob die Untersagung einer Gegendemonstration gegen eine Kranzniederlegung gegen Art 11 EMRK verstoûen hat oder nicht, haben der VfGH und der EGMR unÈ llinger, O È JZ 2007, 79). terschiedlich beurteilt (vgl VfSlg 16.054/2000 und EGMR, O È sung einer Versammlung, wenn eine Ver- 1515 d) § 13 VersG ermaÈchtigt die BehoÈrde zur Auflo sammlung gegen die Vorschriften des VersG veranstaltet wird, wenn sich in der Versammlung gesetzwidrige VorgaÈnge ereignen oder wenn sie einen die oÈffentliche Ordnung bedrohenden Charakter annimmt. Dabei rechtfertigt aber nicht jeder Verstoû gegen das VersG oder andere Gesetze oder jede der Versammlung zurechenbare BeeintraÈchtigung der Ordnung die Auflo Èsung; sie ist vielmehr als einschneidender Eingriff in die Versammlungsfreiheit nur zulaÈssig, wenn sie zur Wahrung eines der in Art 11 Abs 2 EMRK aufgezaÈhlten Schutzgu È ter notwendig, dh unerlaÈsslich ist (VfSlg 10.443/1985). Vor allem kann die AufloÈsung einer Versammlung nicht auf die bloûe Verletzung der Anzeigepflicht gestu È tzt werden (VfSlg 11.132/1986). Auf einen Verstoû gegen das VersG kann es hinauslaufen, wenn an einer Versammlung vermummte oder bewaffnete Personen teilnehmen (§ 9, 9a VersG).
51.4. Die Vereinigungsfreiheit Rechtsquellen: Art 12 StGG; Z 3 Beschluss ProvNV; Art 11 EMRK; Art 12 EGC. Die MoÈglichkeiten der Bu È rger sich zur Verfolgung gemeinsamer Anliegen in Formen 1516 der freien gesellschaftlichen Organisation zusammenzuschlieûen ist eines der
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wesentlichsten Merkmale einer demokratischen Bu È rgergesellschaft (¹civil societyª). Diese Assoziations- oder Vereinigungsfreiheit gewaÈhrleisten die Grundrechte der Art 12 StGG und Art 11 EMRK. a) Historisch hat sich die Vereinsfreiheit aÈhnlich wie die Versammlungsfreiheit entwickelt. Der Absolutismus hatte die TaÈtigkeit von Vereinen als Bedrohung der staatlichen Macht empÈ berwafunden und sie verboten oder zumindest einem strikten System der polizeilichen U chung unterworfen. Der Durchbruch zu einem liberaleren System erfolgte mit dem Vereinsgesetz des Jahres 1867. Durch Art 12 StGG wurde sodann die Geltung der Vereinsfreiheit fu È r die Staatsbu È rger auch verfassungsrechtlich verankert. Auch hinsichtlich der Vereinsfreiheit verwies das StGG auf ¹besondere Gesetzeª, so dass auch das VereinsG als Ausfu È hrungsgesetz zu Art 12 StGG angesehen wurde. Der Beschluss ProvNV 1918 garantierte die ¹volle Vereinsfreiheitª ohne Unterschied des Geschlechts. Zu diesen innerstaatlichen Grundrechtsquellen trat Art 11 EMRK, der allen Menschen das Recht gibt sich frei mit anderen zusammenzuschlieûen und der dieses Grundrecht einem materiellen Gesetzesvorbehalt unterwirft. Durch das Vereinsgesetz 2002 (VerG) wurde das Vereinsrecht neu kodifiziert, was vor allem notwendig war, um einen geeigneten Rechtsrahmen auch fu È r die ¹groûenª Vereine zu schaffen, deren wirtschaftliche Bedeutung entsprechende Vorkehrungen (etwa im Hinblick auf den GlaÈubigerschutz) noÈtig macht. Auch dieses Gesetz wird als ein Ausfu È hrungsgesetz zu Art 12 StGG anzusehen sein. b) Der EuGH hat die (auch in Art 12 EGC genannte) Vereinigungsfreiheit ausdru È cklich als ein im EU-Recht geltendes Grundrecht anerkannt und auch auf gewerkschaftliche TaÈtigkeiten erstreckt (zB EuGH, Bosman, Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921; EuGEI, Esch-Leonhard ua/EZB, Rs T-320/02).
51.4.1. Der Schutzbereich 1517 1. Art 12 StGG und Art 11 EMRK gewaÈhrleisten die freie Begru È ndung und BetaÈtigung von Vereinigungen. Dazu gehoÈren alle freiwillig gebildeten Zusammenschlu È sse von Menschen zur gemeinsamen Zweckverfolgung, die auf eine gewisse Dauerhaftigkeit angelegt sind und ein Mindestmaû an organisatorischer Gestaltung (Organe, Statuten, etc) aufweisen. Im o È sterreichischen Recht ist die wichtigste grundrechtlich geschu È tzte Organisationsform die des Idealvereins nach dem VerG. WaÈhrend der VfGH lange Zeit dazu geneigt hat die Vereinigungsfreiheit ausschlieûlich Vereinen nach dem VerG zukommen zu lassen, hat sich heute die Auffassung durchgesetzt, dass auch andere Vereinigungen durch dieses Grundrecht geschu È tzt sind; dies gilt jedenfalls im Hinblick auf Art 11 EMRK, der auf eine Vereinigungsfreiheit (¹freedom of association, liberte d'associationª) schlechthin bezogen ist. 1518 a) Das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit ist damit nicht auf eine bestimmte Organisations-
form eingeschraÈnkt, sondern will einen umfassenden Freiheitsschutz gewaÈhrleisten, der das gesamte Spektrum von Vereinigungen umfasst, ausgehend von eher lose gefu È gten Zusammenschlu È ssen (zB Bu È rgerinitiativen) u È ber ad-hoc-Koalitionen bis hin zu juristischen Personen mit RechtspersoÈnlichkeit. Auf den Zweck der Vereinigung kommt es grundsaÈtzlich nicht an. Auch Assoziationen mit ausschlieûlich wirtschaftlicher Zielsetzung (zB Kapitalgesellschaften) ko È nnen (nach umstrittener Auffassung) das Grundrecht in Anspruch nehmen, obwohl insoweit in erster Linie die Erwerbsfreiheit einschlaÈgig ist. Nicht in den Geltungsbereich È rperschaften des o È ffentlichen Rechts, die Zielder Vereinigungsfreiheit fallen dagegen Ko setzungen von allgemeinem Interesse verfolgen (EGMR, Le Compte, Van Leuven und De MeyÈ JZ 2002, 778 zu o ere, EuGRZ 1981, 551; EGMR, KoÈll, O È sterreichischen TourismusverbaÈnden; zur negativen Vereinigungsfreiheit gegenu È ber Vereinigungen mit Zwangsmitgliedschaft vgl unÈ JZ ten Rz 1523). Der Betriebsrat ist keine Vereinigung iS von Art 11 EMRK (EGMR, Karakurt, O 2000, 574). Art 11 EMRK hebt ausdru È cklich hervor, dass die Vereinigungsfreiheit auch das Recht umschlieût Gewerkschaften zu bilden und diesen beizutreten.
1519 b) Mit dem In-Kraft-Treten der EMRK wurde auch die Vereinigungsfreiheit zu einem Jeder-
mannsrecht, das In- und AuslaÈndern gleichermaûen zusteht. TraÈger des Grundrechts sind auch juristische Personen, so dass sich auch der Verein selbst auf die Vereinigungsfreiheit
3. Kapitel: Die einzelnen Grundrechte
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berufen kann. Nach einer behoÈrdlichen AufloÈsung sind die ehemaligen Mitglieder als TraÈger der Vereinsfreiheit zur Einbringung einer VfGH-Beschwerde legitimiert (zB VfSlg 8090/1977, 13.654/1993).
2. Art 12 StGG und Art 11 EMRK gewaÈhrleisten sowohl die freie Gru È ndung, den 1520 aufrechten Bestand sowie die freie BetaÈtigung von Assoziationen in dem beschriebenen Umfang (Gru È ndungs-, Bestands- und BetaÈtigungsfreiheit; vgl zB VfSlg 7048/1973, 8090/1977, 9364/1982). Es ist grundsaÈtzlich Sache der Bu È rger, mit welchen Zielen und in welchen Formen sie sich zur gemeinschaftlichen Zweckverfolgung zusammenschlieûen, welchen bestehenden Vereinigungen sie beitreten und wie lange sie einer solchen angehoÈren wollen (zur Freiheit des Vereinsaustritts vgl mwN OGH 25.8.1998, 1 Ob 176/98h, RdW 1999, 22). Daru È ber hinaus ist auch die FunktionsfaÈhigkeit der Vereinigung geschu È tzt, welche die Selbstbestimmung u È ber die eigene Organisation, das Verfahren der Willensbildung und die Fu È hrung der GeschaÈfte umfasst. Mit der Vereinigungsfreiheit unvereinbar ist jedenfalls die Einfu È hrung eines Kon- 1521 zessionssystems fu È r ideelle Vereine, das die Begru È ndung eines Vereins von einer vorhergehenden behoÈrdlichen Genehmigung abhaÈngig machen wu È rde. Die Unterwerfung unter Ordnungsvorschriften (zB ein Anzeigesystem) ist nur nach Maûgabe des in Art 11 Abs 2 EMRK enthaltenen materiellen Gesetzesvorbehalts zulaÈssig (vgl dazu im Folgenden Rz 1525 ff). 3. Die Begru È ndungsfreiheit gilt auch fu È r die in Art 11 EMRK ausdruÈcklich hervorge- 1522 hobenen Gewerkschaften, dh fu È r Vereinigungen von Arbeitnehmern zur Wahrung und FoÈrderung von Arbeitnehmerinteressen. Diese Koalitionsfreiheit umschlieût auch das Recht der Gewerkschaften die Interessen ihrer Mitglieder durch kollektive Maûnahmen zu verteidigen; ferner folgt daraus ein Anspruch der Gewerkschaften gehoÈrt zu werden, waÈhrend ein Recht zum Abschluss von KollektivvertraÈgen nach Auffassung des EGMR aus Art 11 EMRK nicht abgeleitet werden kann (EGMR, Nationale belgische Polizeigewerkschaft, EuGRZ 1975, 562; EGMR, Schmidt und DahlstroÈm, EuGRZ 1976, 68). Grundrechtlich unzulaÈssig waÈre daher jedenfalls ein strafrechtliches Verbot von Maûnahmen des Arbeitskampfes nach der Art der bis in das 19. Jahrhundert bestehenden Koalitionsverbote. Geschu È tzt ist auûerdem die freie BetaÈtigung zur Erreichung des Koalitionszwecks, etwa durch die Werbung von Mitgliedern, Abhaltung von Versammlungen oder Organisation von Streikmaûnahmen. Insofern ist auch das ¹Streikrechtª grundrechtlich garantiert. Eine andere Frage ist freilich, ob daraus auch die zivilrechtliche RechtmaÈûigkeit von Streikmaûnahmen folgt, dh ob ein Arbeitnehmer berechtigt ist, ohne Verletzung seiner Pflichten aus dem Arbeitsvertrag an einem Streik teilzunehmen, weil die Arbeitspflicht waÈhrend eines Streiks suspendiert ist. Dies wird nur vereinzelt behauptet; die zivilrechtliche Lehre geht dagegen ganz u È berwiegend davon aus, dass sich Streikmaûnahmen in einem ¹auûerrechtlichen Raumª bewegen und die Rechtsordnung einen Streik ¹allenfalls dulde, aber nicht schu È tzeª.
4. Art 12 StGG und Art 11 EMRK schu È tzen auch die negative Vereinigungsfrei- 1523 heit, dh die Freiheit keiner Vereinigung gegen seinen eigenen Willen angehoÈren zu È JZ 1994, 207). Gegen diese Freiheit koÈnnen die so mu È ssen (EGMR, Sigurjonsson, O genannten ¹closed-shop-Regelungenª verstoûen, welche die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft als Voraussetzung fu È r eine BeschaÈftigung in einem bestimmten Betrieb fordern; dies gilt nach der (nicht ganz konsequenten) Judikatur des EGMR freilich nicht generell, sondern nur unter bestimmten UmstaÈnden (EGMR, Young, James È JZ 1994, 35; EGMR, Sùrensen und and Webster, EuGRZ 1981, 559; EGMR, Sibson, O È JZ 2006, 550). Die Pflichtmitgliedschaft in den Kammern verstoÈût Rasmussen, O nach der herrschenden Auffassung und der Judikatur nicht gegen die negative Vereinigungsfreiheit, weil KoÈrperschaften des o È ffentlichen Rechts auûerhalb des Gel-
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È JZ 2000, tungsbereichs des Grundrechts liegen (vgl aber auch EGMR, Chassagnou, O 113 zu einer unzulaÈssigen Pflichtmitgliedschaft in einer Jagdvereinigung). 51.4.2. Grundrechtsschranken und -eingriffe 1524 1. Wie die Versammlungsfreiheit hat Art 12 StGG auch die Vereinigungsfreiheit einem Ausu È bungsvorbehalt (Ausgestaltungsvorbehalt) unterworfen; wie dort hat die Èaltere Lehre und Judikatur daraus den Schluss gezogen, dass der Inhalt der gewaÈhrleisteten Freiheit nur nach Maûgabe ihrer einfachgesetzlichen Ausgestaltung bestehe. Dass diese Auffassung verfehlt war, wurde oben im Zusammenhang mit der Versammlungsfreiheit schon dargelegt (vgl Rz 1506); im Hinblick auf den Umfang der vom VfGH wahrgenommenen Pru È fungskompetenz hat sie freilich auch bei der Vereinigungsfreiheit praktisch greifbare Konsequenzen (vgl unten Rz 1527). 1525 Art 12 StGG ermaÈchtigt den Gesetzgeber, der Vereinigungsfreiheit gewisse Schranken zu setzen, wobei diese Befugnis allerdings in mehrfacher Hinsicht begrenzt ist. Zum einen darf der Gesetzgeber gemaÈû der in Z 3 Beschluss ProvNV proklamierten vollen Vereinsfreiheit keine Bewilligungspflichten fu È r Vereine vorsehen, sonÈ brigen sind gedern hat sich auf bloûe Ordnungsvorschriften zu beschraÈnken. Im U setzliche Schranken nur nach Maûgabe des in Art 11 Abs 2 EMRK formulierten materiellen Gesetzesvorbehalts zulaÈssig; sie entsprechen nur dann der Verfassung, wenn sie einem der bezeichneten Zwecke dienen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind. Auch im Bereich der Vereinigungsfreiheit mu È ssen die gesetzlichen Schranken daher einem zwingenden sozialen Bedu È rfnis entsprechen und du È rfen vom Staat nur mit verhaÈltnismaÈûigen, dh mit geeigneten, notwendigen und angemessenen Mitteln verfolgt werden. 1526 Verfassungsrechtlich zulaÈssige Schranken der Vereinigungsfreiheit sind vor allem diejeni-
gen Ordnungsvorschriften, die sich in den verschiedenen die Organisation von Assoziationen regelnden Gesetzen finden; fu È r Vereine daher vor allem die Regelungen des VerG. Wie das VersG ist auch das VerG auf eine verfassungskonforme Interpretation angewiesen, wobei der einfache Gesetzgeber dazu auch besonders anhaÈlt, weil er den Schrankenvorbehalt des Art 11 Abs 2 EMRK in die Regelung des VerG u È sung È ber die Untersagung (Nicht-Gestattung) und Auflo von Vereinen inkorporiert hat. Der Inhalt des VerG wird unten (Rz 1529 ff) in den groben Zu Ègen dargestellt.
1527 2. Anknu È pfend an die Deutung des in Art 12 StGG enthaltenen Gesetzesvorbehalts als Ausgestaltungsvorbehalt vertritt der VfGH in stRspr die Auffassung, dass jede Verletzung des einfachgesetzlichen VerG einen Eingriff in das durch Art 12 StGG und Art 11 EMRK gewaÈhrleistete Grundrecht darstellt. Der VfGH beansprucht daher auch bei der Vereinsfreiheit eine Kompetenz zur ¹Feinpru È fungª, die fu È r eine entsprechende ZustaÈndigkeit des VwGH keinen Raum laÈsst; die Beschwerde nach Art 144 B-VG kann mit der Behauptung erhoben werden, in einer Bestimmung des VerG verletzt worden zu sein; eine Abtretung an den VwGH kommt nicht in Betracht. Auch die herangezogene ¹Grundrechtsformelª ist gleichartig: Nach stRspr verletzt jeder Bescheid, der entgegen den Bestimmungen des VerG in die Vereinsfreiheit eingreift (zB durch Untersagung oder AufloÈsung eines Vereins), das verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Recht der Vereinsfreiheit (vgl dazu etwa VfSlg 11.199/1986, 11.735, 11.745/1988, 13.025/1992). 1528 3. Bei Eingriffen in die Vereinigungsfreiheit ist die BehoÈrde zu einer verfassungskonformen Anwendung des Gesetzes verpflichtet; insbesondere hat sie ihre Eingriffsbefugnisse an den in Art 11 Abs 2 EMRK formulierten Eingriffsbedingungen auszurichten und darf in das Grundrecht nur dann eingreifen, wenn der Eingriff zur Verfolgung eines der genannten Eingriffsziele unerlaÈsslich ist. Die bestehenden BeschraÈnkungen und Verbote sind in diesem Sinn zu interpretieren. Daher ist die AufloÈsung ei-
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nes Vereins als ¹ultima ratioª nur gerechtfertigt, wenn schwerwiegende Gru È nde vorliegen, nicht aber schon dann, wenn dem Verein bzw seinen Organen ein Verstoû gegen Ordnungsvorschriften anzulasten ist (VfSlg 8090/1977, 13.654/1993). Vereinsstatuten sind im Licht der Vereinigungsfreiheit auszulegen, so dass allfaÈllige Unklarheiten oder Mehrdeutigkeiten nicht ohne weiteres als Grund fu È r die Untersagung eines Vereins herangezogen werden du È rfen (VfSlg 9879/1983, 13.025/1992). È berblick 51.4.3. Das Vereinsrecht im U Da nach der Judikatur des VfGH dem VerG ein mittelbarer Verfassungsinhalt unterÈ berblick darstellt wird, werden im Folgenden die Regelungen dieses Gesetzes im U gestellt. a) Vereine sind nach § 1 VerG freiwillige, auf Dauer angelegte, statutenmaÈûig organisierte Zu- 1529 sammenschlu È sse mindestens zweier Personen mit eigener RechtspersoÈnlichkeit zur Verfolgung eines gemeinsamen ideellen Zwecks. Daher erstreckt sich das VerG nur auf die so genannten ¹ideellen Vereineª; Vereinigungen mit Gewinnerzielungsabsicht sind von den Regelungen dieses Gesetzes ausgenommen und unterliegen den dafu È r geltenden Normen. Zu dieser Abgrenzung gibt es eine reichhaltige Judikatur des VfGH, die auch einer wirtschaftlichen VereinstaÈtigkeit ein weites BetaÈtigungsfeld eroÈffnet hat (vgl zB VfSlg 8844/1980, 9566/1982, 9879/1983, 11.735/1988). Ausgenommen von der Geltung des VerG sind Zusammenschlu È sse, die nach anderen gesetzlichen Vorschriften in anderen Rechtsformen gebildet werden mu È ssen oder auf Grund freier Rechtsformwahl nach anderen gesetzlichen Vorschriften gebildet werden. b) Die Gru È ndung eines Vereins erfolgt in zwei Stufen: Durch die Vereinbarung von Statuten 1530 durch die Gru È nder wird der Verein errichtet; die Gru È nder haben die Errichtung unter Vorlage der Statuten der BehoÈrde anzuzeigen (§ 11). Bei Nicht-Untersagung innerhalb einer bestimmten Frist ist der Verein entstanden und er erlangt RechtspersoÈnlichkeit. Die Gru È ndung ist zu untersagen (nicht zu gestatten), wenn der Verein nach seinem Zweck, seinem Namen oder seiner Organisation gesetzwidrig waÈre, sofern die Voraussetzungen des Art 11 Abs 2 EMRK vorliegen, dh dass die Untersagung aus den dort angefu È hrten Gru È nden auch tatsaÈchlich notwendig ist (§ 12 Abs 1). Ausschlieûlicher Bezugspunkt fu È r eine Untersagung sind die Statuten; die bloûe MoÈglichkeit eines ku È nftigen rechtswidrigen TaÈtigseins oder behoÈrdliche Mutmaûungen reichen fu È r eine Untersagung nicht aus (zB VfSlg 4936/1965). Hinsichtlich des Vereinsnamens und der diesbezu È glichen Anforderungen (Aussagekraft, keine VerwechslungsfaÈhigkeit) gibt es eine umfangreiche Judikatur (zB VfSlg 7007/1973, 8141/1977, 11.199/1986). c) Die Rechtsbeziehungen des Vereins zu Dritten und die Beziehungen der Vereinsmitglie- 1531 der untereinander bestimmen sich grundsaÈtzlich nach bu È rgerlichem Recht; sie unterliegen der Kontrolle durch die ordentlichen Gerichte, die auch gegen den Ausschluss eines Mitglieds angerufen werden ko È nnen. Durch das VerG 2002 wurden weitere vereinsrechtliche Regelungen geschaffen, die vor allem die Interessen der Vereinsmitglieder (zB Anspru È che auf Information und Rechnungslegung) und der Rechtspartner von Vereinen (zB Haftungsregelungen) betreffen. So genannte ¹groûe Vereineª mit einem Budget von mehr als einer Million Euro haben qualifizierte Rechnungslegungspflichten zu beachten. Fu È r Vereinsversammlungen gelten gegenu È ber anderen Versammlungen Sondervorschriften (§ 10). d) Das VerG sieht neben der freiwilligen Auflo È sung eines Vereins, fu È r die es eine Reihe von Be- 1532 È rdstimmungen u È ber die Liquidation des VereinsvermoÈgens gibt, auch die zwangsweise beho È sung vor: Nach § 29 kann ein Verein aufgelo liche Auflo È st werden, wenn er gegen das Strafgesetz verstoÈût, wenn er seinen statutenmaÈûigen Wirkungskreis u È berschreitet oder ¹u È berhaupt den Bedingungen seines rechtlichen Bestands nicht mehr entsprichtª; der letzte Tatbestand ermaÈchtigt vor allem zur AufloÈsung von Vereinen, die eine gesetzwidrige TaÈtigkeit entfalten oder ihre VereinstaÈtigkeit u È ber laÈngere Zeit eingestellt haben. Auch bei der Handhabung dieser TatbestaÈnde ist dem Grundrecht der Vereinigungsfreiheit dadurch Rechnung zu tragen, dass eine bescheidmaÈûige AufloÈsung nur dann vorgenommen wird, wenn sie aus einem zwingenden Grund unbedingt erforderlich ist; die Notwendigkeit einer solchen VerhaÈltnismaÈûigkeitspru Èfung hat der Gesetzgeber durch einen ausdru È cklichen Verweis auf Art 11 Abs 2 EMRK verdeutlicht (vgl ferner VfSlg 8090/1977, 13.654/1993).
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51.5. Die Grundrechte des Bildungswesens Rechtsquellen: Art 17 StGG; Art 18 StGG; Art 2 1. ZProtEMRK; Art 14 Abs 7 B-VG; Art 14 EGC. 1533 Erziehung und Bildung tragen entscheidend zur Herausbildung der menschliÈ nlichkeit bei und befaÈhigen den Einzelnen ein selbstbestimmtes Leben chen Perso in der Gemeinschaft zu fu È hren. Daher wenden sich auch verschiedene Grundrechte dem Bildungsgeschehen zu, wobei im Lauf der Zeit unterschiedliche Anliegen eine bestimmende Rolle gespielt haben. Bei den entsprechenden GewaÈhrleistungen des StGG ging es in erster Linie um die Durchsetzung der staatlichen Unterrichtshoheit gegenu È ber dem lange Zeit dominierenden kirchlichen Einfluss auf die Schule. Die EMRK wollte nach dem 2. Weltkrieg ein deutliches Zeichen gegen die staatliche Indoktrination und den Missbrauch der Erziehungsmacht in den modernen totalitaÈren Systemen setzen und verankerte mit dieser Zielrichtung das Elternrecht. Die Berufausbildungsfreiheit des Art 18 StGG u È berschneidet sich zT mit diesen Grundrechten. 51.5.1. Die Unterrichts- und Privatschulfreiheit 1534 1. Art 17 Abs 5 StGG verankert mit dem Recht der staatlichen Leitung und Aufsicht ¹ru È cksichtlich des gesamten Unterrichts- und Erziehungswesensª die staatliche Unterrichtshoheit. Darin dru È ckt sich die Verantwortung des Staates fu È r die Erziehung und Bildung aus, wobei sich diese Verantwortung auf die Bereitstellung oÈffentlicher Bildungseinrichtungen, auf die GewaÈhrleistung ihrer ZugaÈnglichkeit und die Sicherung der Einheit und QualitaÈt der Bildung bezieht. Durch Art 14 Abs 5a und Abs 6a B-VG werden dem Staat auch bestimmte Erziehungsziele und Bildungswerte sowie die Verpflichtung zur Vorhaltung eines differenzierten Schulsystems verfassungsrechtlich verbindlich aufgetragen. 1535 2. Die staatliche Unterrichtshoheit gibt dem Staat kein Monopol fu È r die Erziehung. Vielmehr betont Art 17 Abs 2 StGG das Recht jedes Staatsbu È rgers zur Gru È ndung von Unterrichts- und Erziehungsanstalten und zur Erteilung von Unterricht, der seine BefaÈhigung dazu in gesetzlicher Weise nachgewiesen hat. Diese Privatschulfreiheit wird in Art 14 Abs 7 B-VG weiter ausgestaltet, wo ein daru È ber hinausgehenÈ ffentlichkeitsrechts an Prider verfassungsrechtlicher Anspruch auf Verleihung des O vatschulen nach Maûgabe der gesetzlichen Bestimmungen verankert ist. Der haÈusliche Unterricht ist nach Art 17 Abs 3 StGG ohne jede EinschraÈnkung gewaÈhrleistet (Unterrichtsfreiheit), so dass fu È r einen solchen Unterricht auch keine persoÈnlichen oder sachlichen Voraussetzungen gefordert werden koÈnnen. 1536 Die Privatschulfreiheit ist ein verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistetes Recht der oÈsterreichi-
schen Staatsbu È rger, das freilich unter einem Gesetzesvorbehalt steht. Gesetzliche Regelungen zur Ausgestaltung der Privatschulfreiheit du È rfen nicht weiter gehen als dies zur Sicherung der staatlichen Verantwortung notwendig ist und mu È ssen den Wesensgehalt dieser Freiheit beachten; er liegt in der GewaÈhrleistung eines pluralistischen Erziehungssystems, in dem Raum ist fu Èser, weltanschaulicher È r paÈdagogische Alternativen und fu È r die Erziehungsbedu È rfnisse religio oder ethnischer Gruppen einschlieûlich von Minderheiten. Die einfachgesetzliche Ausgestaltung der Privatschulfreiheit findet sich im PrivatschulG BGBl 1962/244 idgF.
51.5.2. Das Recht auf Bildung und die Berufsausbildungsfreiheit Art 18 StGG verankert im Zusammenhang mit der Freiheit zur Wahl eines Berufes das verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Recht sich fu È r einen Beruf auszubilden, ¹wie und woª man will. Nach dem 1. Satz des Art 2 1. ZProtEMRK darf das Recht
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auf Bildung niemandem verwehrt werden. Beide Bestimmungen haben einen sich u È berschneidenden sachlichen Geltungsbereich. 1. Das Recht auf Bildung wurde bewusst in der Form einer ¹negativenª Formulie- 1537 rung gewaÈhrleistet (¹... darf niemandem verwehrt werden ...ª), weil die Staaten keine Verpflichtung zur Einrichtung von zuvor nicht bestehenden Erziehungseinrichtungen nach der Art eines sozialen Grundrechts u È bernehmen wollten; gewaÈhrleistet ist daher nur ein Zugang zu bestehenden Bildungsinstitutionen (vgl EGMR, Belgischer Sprachenfall, EuGRZ 1975, 298). Auch die Berufsausbildungsfreiheit des Art 18 StGG gibt keinen Anspruch auf Bereitstellung von Bildungseinrichtungen, sondern stellt nur klar, dass das Recht sich jeden beliebigen Bildungsinhalt anzueignen nicht beschraÈnkt werden darf. Beide Grundrechte gewaÈhrleisten daher ein Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zu den bestehenden Bildungsinstitutionen. Niemand darf aus unsachlichen Gru È nden von der Teilnahme an oÈffentlichen Bildungseinrichtungen ausgeschlossen werden; in diesem Umfang muss auch jedermann die gleiche Chance gegeben werden, sich der geschaffenen Einrichtungen zu bedienen und seine PersoÈnlichkeit durch Erziehung zu entfalten. Zugangsregelungen oder ZugangsbeschraÈnkungen (Aufnahmepru È fungen, Mindestalter, Studiengebu È hren) sind mit diesem Recht vereinbar, wenn sie in sachlicher Weise ausgestaltet sind. Auf eine unzulaÈssige Diskriminierung kann es allerdings hinaus laufen, wenn bestimmte gesellschaftliche Gruppen auch nur faktisch benachteiligt und dadurch um ihre Bildungschancen gebracht werden (EGMR, D.H., NL 2006, 33 zu den ungleichen Bildungschancen der in tschechischen Sonderschulen untergebrachten Roma-Kinder). Aus dem Recht auf Bildung folgt ferner der Anspruch, dass die an Bildungseinrichtungen zuru È ckgelegten Studien und Pru È fungen, darunter auch solche an gleichwertigen auslaÈndischen Einrichtungen, anerkannt werden.
2. GewaÈhrleistet ist auûerdem die Chancengleichheit gleichwertiger Ausbil- 1538 dungsgaÈnge. Werden staatliche AusbildungsgaÈnge eingerichtet, die Voraussetzungen fu È r eine Berufsausbildung festsetzen, besteht ein Rechtsanspruch auf Anerkennung anderer gleichwertiger AusbildungsgaÈnge (VfSlg 12.578/1990 zur Ausbildung zum Lebensmitteltechniker). Auûerdem du È rfen die Zugangsvoraussetzungen nicht so ausgestaltet werden, dass befaÈhigte Teilnehmer faktisch vom Zugang ausgeschlossen werden; wer eine bestimmte fachliche Ausbildung erworben hat, hat einen Rechtsanspruch auf ihre Anerkennung (VfSlg 13.094/1992, 14.038/1995, 14.611/ 1996). Der Gesetzgeber darf auch keine Ausbildungsalternativen etwa aus Gru È nden des Konkurrenzschutzes diskriminieren. 51.5.3. Das Elternrecht Art 2 1. ZProtEMRK gewaÈhrleistet in seinem 2. Satz das als Elternrecht bezeichnete 1539 Recht, dass der Staat bei der Ausu È bung der von ihm auf dem Gebiete der Erziehung und des Unterrichts u È bernommenen Aufgaben das Recht der Eltern achtet, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religio È sen und weltanschauliÈ berzeugungen sicherzustellen. Dieses Recht ist auch im Bereich des oÈffentlichen U chen Unterrichtswesens zu respektieren, dh die Eltern mu È ssen sich nicht auf die MoÈglichkeit verweisen lassen, ihrem Kind privaten Unterricht zu geben oder es auf È berzeugungen entsprechenden Uneine Privatschule zu schicken, um einen ihren U terricht zu erlangen. Andererseits verwehrt diese Bestimmung dem Staat nicht die Durchfu È se oder weltanschauliche Fragen beÈ hrung eines Unterrichts, der religio ru È hrt; die Eltern haben kein absolutes Recht, ihre Kinder von der Teilnahme an einem solchen Unterricht abzuhalten oder individuell abzumelden. È se oder weltanschauliche IndoktrinaDaher verbietet Art 2 1. ZProtEMRK nur eine religio tion der Schu È sen oder weltÈ ler; die Vermittlung von Informationen und die Erziehung in religio
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anschaulichen Fragen mu È ssen in einer ¹objektiven, kritischen und pluralistischen Formª erfolÈ JZ gen (EGMR, Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen, EuGRZ 1976, 478; EGMR, Valsamis, O 1998, 114). Das Elternrecht ist nicht nur bei der Vermittlung von Bildungsinhalten, sondern auch bei schulischen Disziplinarmaûnahmen zu respektieren; es wird verletzt, wenn Kinder gegen den Willen ihrer Eltern einer koÈrperlichen Zu È chtigung unterworfen werden (EGMR, Campbell und Cosans, EuGRZ 1982, 153 zu Zu È chtigungsmaûnahmen an englischen Schulen). AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zum Abschnitt 51: VfSlg 6615/1971, 12.394/1990: Zwei Entscheidungen, die zum VerstaÈndnis des Zensurverbots beitragen. VfSlg 10.700/1985: Dieser Fall des Anstoû erregenden Liedermachers zeigt sehr scho Èn, wie der materielle Gesetzesvorbehalt des Art 10 EMRK in Form einer verfassungskonformen Interpretation zur Anwendung kommt. VfSlg 10.948/1986: Dass auch kommerzielle Werbung durch das Grundrecht auf Meinungsfreiheit geschu È tzt wird, war lange Zeit nicht selbstverstaÈndlich. Wie hat der VfGH seine Auffassung begru È ndet? EGMR, Lingens, EuGRZ 1986, 424: Der Fall Lingens ist immer noch der ¹leading caseª zum VerhaÈltnis Meinungsfreiheit und Ehrenschutz. VfSlg 10.401/1985: Die erste einschlaÈgige Entscheidung des VfGH zur Kunstfreiheitsgarantie, nachdem dieses Grundrecht im Jahr 1982 neu in das StGG eingefu È gt worden war. OLG Wien, MR 1992, 17: Was hat die ¹Erste Allgemeine Verunsicherungª mit der Kunstfreiheit zu tun? Ein Beispiel fu È r die Privilegierung von Satire unter Art 17a StGG. È JZ 1995, 154: Die Beschlagnahme des Films ¹Das LiebesEGMR, Otto Preminger-Institut, O konzilª durch ein o È sterreichisches Strafgericht hat zu dieser ± vielfach kritisierten ± Entscheidung gefu È hrt. EGMR, Vereinigung Bildender Ku È nstler, MR 2007, 124: Auf einer von der Vereinigung Secession veranstalteten Ausstellung wurde das skandaltraÈchtige Bild ¹Apokalypseª von Otto Mu È sterreichischen Gerichte auf Grund der Klage eines in obszo ÈÈ hl ausgestellt, wobei die o ner Geste dargestellten Politikers in der weiteren Folge ein Ausstellungsverbot erlieûen. In einer mit knapper Mehrheit erlassenen Entscheidung stellte der EGMR eine Konventionsverletzung fest. VfSlg 10.443/1985: Die Tragweite des Art 11 EMRK fu È r die Versammlungsfreiheit wurde zum ersten Mal in dieser Entscheidung deutlich; vgl ferner zur rechtlichen Bewertung von Spontanversammlungen 14.366/1995. VfSlg 15.170/1998: Wie geht die BehoÈrde mit den ¹StoÈrungenª um, die einem feierlichen Staatsbesuch drohen, wenn Demonstrationen angeku È ndigt sind? Und nach welchen GrundsaÈtzen ist eine verfassungskonforme InteressenabwaÈgung vorzunehmen? VfGH 16.3.2007, B 1954/06: Die Untersagung einer Versammlung mit rechtsradikalen Tendenzen wird nicht fu È r verfassungswidrig angesehen ± eine diskussionswu È rdige Enscheidung. VfSlg 13.654/1993: Ein Fall zur verfassungskonformen Auslegung des VerG bei der VereinsaufloÈsung. Hat das neue VerG die Rechtslage veraÈndert? VfSlg 16.734/2002: Kann die BefaÈhigung zum Baumeister nur durch eine Praxis bei einem Bauunternehmen erworben werden? Zur Anerkennung gleichwertiger Ausbildungswege. Zur Vertiefung: Zur Kommunikationsfreiheit: Berka, Die Kommunikationsfreiheit, in: MaÈ sterreich Bd chacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 40 Jahre EMRK. Grund- und Menschenrechte in O 2 (1992) 393; ders, Medien zwischen Freiheit und Verantwortung, in: Aicher/Holoubek (Hrsg), Das Recht der Medienunternehmen (1998) 1; ders, Aktuelle Probleme des PersoÈnlichkeitsschutzes, JRP 1996, 232; EnnoÈckl/Windhager, Aktuelle EGMR-Rechtsprechung, MR 2007, 11; Grabenwarter, Medienfreiheit und Bildnisschutz nach der Menschenrechtskonvention, in: Ress-FS (2005) 979; Korinek, Die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingun-
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È sterreich, in: O È JK (Hrsg), Kritik und Fortschritt im Rechtsstaat gen des Rundfunks in O (1998) 33; ders, Zur Rechtfertigung der Sonderstellung des o È ffentlich-rechtlichen Rundfunks im dualen System, in: Schmitt Glaeser-FS (2003) 487; Wiederin, Information, Medien È sterreich, in: Hofmann/Marko/Merli/Wiederin (Hrsg), und Demokratie ± Rechtslage in O Information, Medien und Demokratie (1997) 215. Zur Wissenschafts- und Kunstfreiheit: Berka, Die Kunstfreiheitsgarantie des Art. 17a StGG È berle/Heuer/Lerche, in der Rechtsprechung der o È sterreichischen Gerichte, in: Berka/Ha Kunst und Recht im In- und Ausland (1994) 19; ders, Autonomie und Freiheit der UniversitaÈt: Ein neuer Verfassungsartikel (Art 81c B-VG) fu È ffentlichen UniversitaÈten, ZoÈR È r die o 2008, 293; Holoubek/Neisser, Die Freiheit der Kunst, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), È sterreich Bd 2 (1992) 195; Koja, Wissen40 Jahre EMRK. Grund- und Menschenrechte in O È chler, Grundrechte und die Folgen, in: Rosenschaftsfreiheit und UniversitaÈt (1976); Spielbu zweig-FS (1988) 525; Wielinger, Die Freiheit der Wissenschaft: Art. 17 StGG, in: Machacek/ È sterreich Bd 2 Pahr/Stadler (Hrsg), 40 Jahre EMRK. Grund- und Menschenrechte in O (1992) 175. Zur Versammlungsfreiheit: Berka, Probleme der grundrechtlichen InteressenabwaÈgung ± dargestellt am Beispiel der Untersagung von Versammlungen, in: Rill-FS (1995) 3; Fessler/ Keller/Scherhak, Das o È sterreichische Versammlungs- und Demonstrationsrecht3 (2000); Hofer-Zeni, Die Versammlungsfreiheit, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 40 Jahre EMRK. È sterreich Bd 2 (1992) 349; Stolzlechner, DemonstrationsGrund- und Menschenrechte in O freiheit und Straûenpolizeirecht, ZfV 1987, 389; G. Winkler, Grundfragen und aktuelle Probleme der Versammlungsfreiheit, in: G. Winkler, Studien zum Verfassungsrecht (1991) 185. Zur Vereinsfreiheit: Bric, Vereinsfreiheit (1998); Fessler/Keller, Kommentar zum Vereinsgesetz 2002 (2004); HoÈhne/JoÈchl/Lummerstorfer, Das Recht der Vereine2 (2002); Raschauer, È ZW 1992, 11; Tichy, Die Vereinigungsfreiheit, in: Wirtschaftliche Vereinigungsfreiheit, O Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 50 Jahre Allgemeine ErklaÈrung der Menschenrechte. È sterreich Bd 3 (1997) 103. Grund- und Menschenrechte in O Zu den Grundrechten des Bildungswesens: Berka, Autonomie im Bildungswesen (2002); È sterreich, JoÈR 1984, 189; Evers, Kulturverfassungsrecht und Kulturverwaltungsrecht in O Mantl, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaûstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, VVDStRL 54 (1995) 75; Oberndorfer, Berufswahl- und Berufsausbildungsfreiheit, Art 18 StGG, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 40 Jahre EMRK. Grund- und MenschenÈ sterreich Bd 2 (1992) 617; Spielbu È chler, Das Grundrecht auf Bildung, in: Macharechte in O È sterreich Bd 2 cek/Pahr/Stadler (Hrsg), 40 Jahre EMRK. Grund- und Menschenrechte in O (1992) 149.
52. Die Grundrechte des Wirtschaftslebens Zur Entfaltung des Menschen in der Gesellschaft geho È rt auch seine wirtschaftliche 1540 BetaÈtigung. Der Beruf ist ein wichtiges Mittel der persoÈnlichen Selbstverwirklichung, das Eigentum gibt dem Einzelnen die Freiheit zu einer selbstbestimmten Lebensfu È hrung. Daher schu È tzt die Grundrechtsordnung die wirtschaftliche BetaÈtigung durch entsprechende Grundrechte, die hier als Grundrechte des Wirtschaftslebens zusammengefasst werden. Die Freiheit des Eigentums und die Erwerbsfreiheit praÈgen daru È ber hinaus den verfassungsrechtlichen Rahmen fu È r die Wirtschaftsordnung und konstituieren eine freiheitliche Wirtschaftsverfassung. Der VfGH entnimmt diesen Grundrechten eine verfassungsrechtliche Wertentscheidung 1541 zu Gunsten einer marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftsordnung (VfSlg 11.483/ 1987, 11.625, 11.749/1988, 12.379/1990). Diese Judikatur darf freilich nicht in dem Sinn missverstanden werden, dass eine bestimmte Ordnung der Wirtschaft verfassungsrechtlich gewaÈhrleistet waÈre. Vielmehr verbu È rgt die Verfassung mit der Garantie der wirtschaftlichen Grundrechte bestimmte Rechtspositionen, auf deren Grundlage und in deren Rahmen sich eine bestimmte Wirtschaftsordnung in der Gesellschaft entwickeln kann, zu deren wesentlich-
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sten Ordnungselementen der Wettbewerb und individuelle unternehmerische Entscheidungen geho È ren. Insofern ist das o È sterreichische Verfassungsrecht auch nicht wirtschaftspolitisch neutral. Der Gesetzgeber hat aber einen betraÈchtlichen wirtschaftspolitischen Gestaltungsspielraum und er kann in Teilbereichen auch abweichende Ordnungsmodelle verwirklichen, wenn dies mit den individuell gewaÈhrleisteten Grundrechten vereinbar ist.
52.1. Die Eigentumsgarantie Rechtsquellen: Art 5 StGG; Art 1 1. ZProtEMRK; Art 17 EGC. 1542 Das Recht des Einzelnen Eigentum zu erwerben und daru È ber zu verfu È gen ist eine wichtige Voraussetzung fu È r eine eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens. Aus diesem Grund geho È rt die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie zu den zentralen Bestandteilen des Grundrechtskatalogs. Zugleich ist das Eigentumsrecht auch ein politisch befrachtetes Grundrecht, weil mit der eigentumsrechtlichen Zuordnung von Gu È tern gesellschaftliche Machtpositionen verbunden sind. a) Als VorlaÈufer des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes hat das ABGB den Schutz des Eigentums und zugleich die MoÈglichkeiten seiner BeschraÈnkung ausgeformt. Die in den §§ 354, 364 und 365 ABGB ausgedru È ckten GrundsaÈtze (Privatnu È tzigkeit des Eigentums, seine Sozialpflichtigkeit und die Eigentumswertgarantie bei Enteignungen) sind bis heute maûgeblich geblieben. Art 5 StGG hat sodann das Eigentum verfassungsrechtlich garantiert, sich aber zu der bis heute strittigen Frage nach der EntschaÈdigungspflicht verschwiegen. Sie wurde auch in der EigentumsgewaÈhrleistung der EMRK (Art 1 1. ZProtEMRK) nicht eindeutig gelo È st. Einzelne landesverfassungsrechtliche Bestimmungen gehen insoweit u È ber Art 5 StGG hinaus, als sie eine EntschaÈdigungspflicht und den Anspruch auf Ru È cku È bereignung ausdru È cklich normieren (Art 11 Tiroler LO, Art 11 Vorarlberger LV, Art 10 Abs 3 Salzburger L-VG). b) Auch im EU-Recht ist das Eigentumsrecht grundrechtlich gewaÈhrleistet (vgl auch Art 17 EGC), wobei der EuGH in seiner Praxis EigentumsbeschraÈnkungen einer VerhaÈltnismaÈûigkeitspru È fung nach MaûstaÈben unterwirft, die dem Gemeinschaftsgesetzgeber einen Èauûerst weiten Spielraum belassen (vgl zB EuGH, Metronome Musik, Rs C-200/96, Slg 1998, I-1953).
52.1.1. Der Schutzbereich 1543 1. Gegenstand des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes sind nach der È genswerten Privatrechte. Daher ist nicht nur das SachRspr des VfGH alle vermo eigentum, sondern sind auch Anspru È che aus obligatorischen SchuldverhaÈltnissen (zB Miete, DienstvertraÈge) und sonstige zivilrechtliche Anspru È che (Urheberrechte, Patentrechte) oder Jagd- und Fischereirechte von der GewaÈhrleistung umfasst (zB VfSlg 7160/1973, 9887/1983 uva). Auch das Recht des Grundeigentu È mers zur Bebauung seiner Liegenschaft erflieût aus Art 5 StGG. Nach der Judikatur ist daru È ber hinaus das VermoÈgen (in das zB durch die Auferlegung von Strafen oder Abgaben eingegriffen wird) eigentumsrechtlich geschu È tzt (VfSlg 12.967/1992, 13.733/1994). Schlieûlich wird nach der herrschenden Auffassung auch die Privatautonomie und damit das Recht zum Abschluss privatrechtlicher VertraÈge grundrechtlich durch die Eigentumsgarantie abgesichert; Eingriffe in die Vertragsfreiheit sind nur unter den fu È r EigentumsbeschraÈnkungen geltenden Bedingungen zulaÈssig (VfSlg 12.227/ 1989). È ffentlichen Recht wur1544 2. Dagegen hat es der VfGH lange Zeit abgelehnt, im o zelnde Anspru È che der Eigentumsgarantie zu unterstellen, wie zB Leistungen der Sozialversicherung, die Familienbeihilfe oder Anspru È che aus BeamtendienstverhaÈltnissen. Gleiches gilt fu È r die Nachbarrechte im baupolizeilichen Verfahren (VfSlg 10.106/1984), fu È r die durch oÈffentlich-rechtliche Bewilligungen erworbenen Berechtigungen (zB eine Apothekenkonzession; VfSlg 11.937/1988) oder fu È r Anspru È che auf Ru È ckerstattung zu Unrecht bezahlter Abgaben (vgl VfSlg 5263/1966). In spaÈteren
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Entscheidungen hat sich der VfGH allerdings der Judikatur des EGMR angeschlossen und ausgesprochen, dass gewisse oÈffentlich-rechtliche Anspru È che unter die Eigentumsgarantie des Art 1 1. ZProtEMRK fallen; dies gilt vor allem fu È r solche Anspru È che oÈffentlich-rechtlichen Charakters, die wie die Notstandshilfe durch eigene Leistungen eines Anspruchsberechtigten (Beitragszahlungen) begru È ndet wurden (VfSlg 15.129/1998). Der EGMR hat den Eigentumsschutz zuletzt auch auf beitragslose Sozialleistungen erstreckt (EGMR, Stec (ZulaÈssigkeitsentscheidung), NL 2005, 223). Da gewisse o È ffentlich-rechtliche Anspru È che in der Gegenwart die Funktionen des privaten Eigentums u È bernommen haben, wenn man etwa an die Leistungen aus einer gesetzlichen Sozialversicherung zur GewaÈhrleistung der Altersversorgung denkt, ist diese Erweiterung des Schutzbereichs sinnvoll. 3. Auf die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie ko È nnen sich InlaÈnder und AuslaÈnder glei- 1545 chermaûen berufen (Jedermannsrecht). Auch juristischen Personen kommt der Eigentumsschutz zu (VfSlg 5531/1967), der von der Judikatur auch auf juristische Personen des o È ffentlichen Rechts erstreckt wird.
52.1.2. Grundrechtsschranken und -eingriffe 1. Eingriffe in das Eigentum koÈnnen entweder in der Form einer Enteignung oder 1546 durch eine sonstige EigentumsbeschraÈnkung erfolgen. Mit dieser fu È r die Eigentumsdogmatik grundlegenden Unterscheidung ist eine wesentliche Konsequenz verbunden: Enteignungen sind grundsaÈtzlich nur gegen eine angemessene EntschaÈdigung zulaÈssig, waÈhrend der Eigentu È mer sonstige EigentumsbeschraÈnkungen als Ausfluss der Sozialbindung des Eigentums grundsaÈtzlich entschaÈdigungslos zu dulden hat. Eine Enteignung liegt vor, wenn durch Gesetz oder Verwaltungsakt das Eigentum 1547 an einer Rechtsposition entzogen und (im Regelfall) auf ein anderes Rechtssubjekt u È bertragen wird (zB VfSlg 11.209/1987). Das erfasst zum einen die so genannte ¹klassische Enteignungª durch Bescheid auf der Grundlage eines entsprechenden Gesetzes, etwa wenn zur Errichtung einer Straûe ein privates Grundstu È ck enteignet und an einen (privaten oder o È ffentlichen) Straûenerhalter u È bertragen wird. Nach der (umstrittenen) Auffassung des VfGH koÈnnen auch Legalenteignungen und Verstaatlichungen auf Art 5 StGG gestu È tzt werden (zB VfSlg 2431/1952). EigentumsbeschraÈnkungen sind alle anderen, nicht als Enteignung zu qualifizie- 1548 renden Eingriffe in das Eigentum, dh jede BeschraÈnkung der Eigentu È merbefugnisse, die der Gesetzgeber aus Gru È nden des Gemeinwohls verfu È gt. In diesem Sinn stellt zB die denkmalschutzrechtliche Unterschutzstellung eines GebaÈudes eine EigentumsbeschraÈnkung dar, weil mit ihr die unter UmstaÈnden wirtschaftlich erheblich belastende Pflicht verbunden ist, VeraÈnderungen oder ZerstoÈrungen des Denkmals zu unterlassen und gewisse Instandhaltungsarbeiten durchzufu È hren (vgl zB VfSlg 9189/1981). È ffentlichAls EigentumsbeschraÈnkungen wurden von der Judikatur ferner qualifiziert: die O erklaÈrung eines privaten Weges (VfSlg 10.754/1986), der Widerruf einer Baubewilligung (VfSlg 9306/1981), die Reservierung von FlaÈchen fu È r den Gemeinbedarf (VfSlg 14.043/1995) bzw die Festlegung von Bauverboten (VfSlg 14.155/1995), ein Verbot der Errichtung von Zweitwohnsitzen (VfSlg 14.679/1996), die Erteilung eines wasserrechtlichen Auftrags (VfSlg 13.587/ 1993). Eigentumseingriffe sind weiters die Vorschreibung von Abgaben (VfSlg 12.473/1990), von Geldstrafen (VfSlg 12.105/1989) oder von Kammerumlagen (VfSlg 13.639/1993). Die Abnahme von Urkunden ist ein Eigentumseingriff, wenn dadurch eine aus einem Privatrecht entspringende Nutzungsbefugnis beschraÈnkt wird, wie das etwa bei der Entziehung eines Waffenpasses (VfSlg 9331/1982) oder der Kennzeichentafel bzw des Zulassungsscheins der Fall ist (VfSlg 12.270/1990; nicht dagegen bei der Abnahme des Fu È hrerscheins; so VfSlg 8669/1979). Unter dem Aspekt des Schutzes der Privatautonomie stellen EigentumsbeschraÈnkungen dar:
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die Versagung einer grundverkehrsbehoÈrdlichen Bewilligung (VfSlg 9014/1981), das Erfordernis einer BeschaÈftigungsbewilligung fu È r auslaÈndische Arbeitnehmer (VfSlg 14.049/1995, 14.503/1996) oder das Gebot bestimmte Weine nur in Flaschen zu exportieren (VfSlg 13.576/ 1993).
1549 2. In der Lehre wird angenommen, dass bestimmte gewichtige EigentumsbeschraÈnkungen, welche der Sache nach einer foÈrmlichen Entziehung des Eigentums gleichkommen, als so genannte materielle Enteignungen den fu È r Enteignungen geltenden GrundsaÈtzen zu unterstellen sind. Als wichtigste Rechtsfolge mu È ssten materielle Enteignungen eine EntschaÈdigungspflicht ausloÈsen. Die Abgrenzung zwischen EigentumsbeschraÈnkungen, welche auf eine materielle Enteignung hinauslaufen, weil sie dem Eigentu È mer nur mehr ein ¹ius nudumª belassen, und sonstigen EigentumsbeschraÈnkungen ist nicht ganz einfach; u È berwiegend wird darauf abgestellt, ob dem Einzelnen ein Sonderopfer auferlegt wird, dh eine Belastung seines Eigentums, die andere Eigentu È mer in einer vergleichbaren Position so nicht trifft (Sonderopfertheorie). Abgestellt werden kann aber auch auf die Zumutbarkeit der Belastung (Schweretheorie) bzw auf die soziale AdaÈquanz einer die Sozialbindung des Eigentums u È bersteigenden Belastung. 1550 3. Eigentumseingriffe sind verfassungsrechtlich zulaÈssig, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind, einem oÈffentlichen Interesse dienen und dieses oÈffentliche Interesse mit verhaÈltnismaÈûigen Mitteln verfolgen und sie auûerdem nicht den Wesensgehalt der EigentumsgewaÈhrleistung beru È hren (vgl zB VfSlg 13.659/1993, 13.963, 13.964/ 1994, 17.604/2005). Handelt es sich um eine Enteignung (sei es durch Entzug des Eigentums oder in der Form einer materiellen Enteignung) kommt dazu nach einhelliger Auffassung der Lehre noch das Erfordernis einer angemessenen EntschaÈdigung fu È r die Preisgabe des Eigentums. a) Dem Gesetzesvorbehalt in Art 5 StGG wird nur durch eine besondere gesetzliche Regelung Genu È ge getan, die ausreichend bestimmt ist; § 365 ABGB reicht als Grundlage fu È r eine Enteignung nicht aus (VfSlg 1123/1928). Im Hinblick auf die kompetenzrechtliche Zuordnung einer Enteignungsregelung ± zustaÈndig ist der zur Regelung der Materie kompetente Gesetzgeber (Art 10 Abs 1 Z 6 B-VG) ± sowie zur Bestimmung des verfolgten oÈffentlichen Interesses ist der Zweck einer Enteignungsmaûnahme im Gesetz exakt festzulegen (VfSlg 3666/1959). b) Gesetzliche Regelungen, die zu Eingriffen in das Eigentum ermaÈchtigen, mu È ssen einem beÈ ffentlichen Interesse (¹oÈffentliches Wohlª) dienen und verhaÈltnismaÈûig sein. stimmten o Fu È r Enteignungen hat der VfGH dieses Erfordernis noch weiter konkretisiert: Nach VfSlg 3666/1959 ist eine Enteignung verfassungsrechtlich nur zulaÈssig, wenn ein konkreter Bedarf vorliegt, das Objekt zur Deckung dieses Bedarfs geeignet ist und es unmoÈglich ist, diesen Bedarf anders als durch Enteignung zu decken. Daraus wird zB abgeleitet, dass eine Enteignung ¹auf Vorratª unzulaÈssig waÈre und dass vor der Durchfu È hrung eines Enteignungsverfahrens versucht werden muss, die zur Deckung eines o È ffentlichen Bedarfs benoÈtigten Grundstu È cke durch privatrechtlichen Vertrag zu erwerben (VfSlg 13.579/1993). Die unbeschraÈnkte Reservierung von FlaÈchen fu È r den Gemeinbedarf verletzt nach VfSlg 14.043/1995 die Eigentumsgarantie. UnzulaÈssig waÈre auch eine Enteignung allein aus fiskalischen Interessen oder nur zur FoÈrderung privater Interessen. c) Auch EigentumsbeschraÈnkungen mu È ssen verhaÈltnismaÈûig sein (stRspr seit VfSlg 9911/ 1983). Auf einen massiven und daher unverhaÈltnismaÈûigen Eigentumseingriff kann es hinauslaufen, wenn Gemeinden private Grundstu È ckseigentu È mer zum Abschluss von VertraÈgen veranlassen ko È nnen, wobei im Hintergrund hoheitliche Sanktionen (Baulandru È ckwidmung) drohen (so zur ¹Vertragsraumordnungª VfSlg 15.625/1999). Eine mit erheblichen Kosten verbundene Inpflichtnahme privater Unternehmen ist nur zulaÈssig, wenn sie auf einer besonderen È berwaÈlzung der InvesSachnaÈhe beruht und die Belastung nicht unverhaÈltnismaÈûig ist (so zur U È berwachung des Fernmeldeverkehrs auf die Netzbetreiber VfSlg 16.808/ titionskosten fu È r die U 2003). Dem Eigentumsgrundrecht widerspricht auch ein ausnahmsloses Verbot bei befristeten Bausperren eine Baubewilligung zu erteilen (VfSlg 15.577/1999) oder ein umfassendes Verbot der Schaffung und VergroÈûerung von Freizeitwohnsitzen (VfSlg 14.679/1996). Wegen
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mangelnder Eignung zur Erreichung des angestrebten oÈffentlichen Zwecks verfassungswidrig war eine Bestimmung des PunzierungsG, dass importierte EdelmetallgegenstaÈnde zu zerschlagen sind, wenn sie den geforderten Mindestfeingehalt nicht erreichen (VfSlg 14.174/1995); È bertraebenso der Eigentumseingriff, der darin lag, dass die Haftung des Bundes bei der U È BB-Bediensteten auf das ausgegliederte Ungung der privatrechtlichen DienstverhaÈltnisse der O È BB ausgeschlossen wurde (VfSlg 14.075/1995). Eine unsachliche Benachteiliternehmen O gung der KleinaktionaÈre bei der Spaltung von Kapitalgesellschaften, aus denen sie unter Verlust ihrer Anteilsrechte hinausgedraÈngt werden koÈnnen, verletzt die Eigentumsgarantie (VfSlg 17.584/2005).
52.1.3. Die EntschaÈdigungsproblematik Die meisten o È sterreichischen Gesetze sehen bei Enteignungen eine EntschaÈdigung 1551 vor. Lange Zeit war es umstritten, ob das auch verfassungsrechtlich geboten ist. Nach der Rspr des VfGH und des OGH du È rfte der Gesetzgeber auch entschaÈdigungslose Enteignungen vorsehen, wobei sich die Gerichte im Wesentlichen auf das Fehlen einer entsprechenden ausdru È cklichen Anordnung in Art 5 StGG stu È tzen; der auf eine angemessene Schadloshaltung verweisende § 365 ABGB stehe ± was unbestritten richtig ist ± nicht im Verfassungsrang (VfSlg 2572/1953, 9911/1983, 10.841/ 1986; OGH 3.6.1976, 7 Ob 30/76, JBl 1977, 37). Diese Judikatur war aus mehreren Gru È nden verfehlt: Art 1 1. ZProtEMRK gebietet zumindest einen ¹billigen Ausgleichª der durch Enteignungen eintretenden VermoÈgensverschiebungen. Daru È ber hinaus ist nach zutreffender Ansicht der hL auch eine angemessene EntschaÈdigung des durch Enteignungen verursachten Schadens deshalb verfassungsrechtlich geboten, weil dem Begriff der Enteignung in Art 5 StGG schon aus historischen Gru È nden der VermoÈgensausgleich immanent ist. Art 5 StGG gebietet daher einen Ausgleich des durch eine Enteignung eingetretenen Schadens durch die Zahlung einer angemessenen EntschaÈdigung. Insofern wirkt die Eigentumsgarantie als Eigentumswertgarantie, weil dem Einzelnen zwar nicht der ungeschmaÈlerte Bestand seines Eigentums verbu È rgt ist ± er sein Eigentum vielmehr bei einem entsprechend gewichtigen o È ffentlichen Interesse aufzugeben hat ±, aber immerhin doch der Erhalt des Eigentumswerts. a) Zumindest teilweise vermeidet der VfGH die nachteiligen Konsequenzen seiner Auffassung, 1552 weil er auf dem Umweg u È ber den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz dann zu einer EntschaÈdigungspflicht gelangt, wenn einem Eigentu È mer ein gleichheitswidriges ¹Sonderopferª auferlegt wird. Daher verstoÈût es zB gegen den Gleichheitsgrundsatz, wenn der Einzelne zu einer Grundabtretung ohne Ru È cksicht auf den Aufschlieûungsnutzen verhalten wird, wenn bei einer Umwidmung von Bauland in Gru È nland die wirtschaftlichen Interessen des von der PlanaÈnderung Betroffenen nicht ausreichend beru È cksichtigt werden oder wenn bei der Ablo Èsung von Partizipationsscheinen nur eine unangemessene EntschaÈdigung vorgesehen ist (VfSlg 6884/1972, 7234/1973, 13.282/1992, 16.455, 16.636/2002; zur Verfassungswidrigkeit einer entschaÈdigungslosen, gleichheitswidrigen materiellen Enteignung im Naturschutzrecht vgl VfSlg 16.316/2001). Vor einer gleichmaÈûigen Belastung einer Mehrzahl von Betroffenen kann aber auch der Gleichheitsgrundsatz in Verbindung mit der Sonderopfertheorie nicht ausreichend schu È tzen. b) Art 1 1. ZProtEMRK verweist hinsichtlich der EntschaÈdigungsproblematik auf die ¹durch 1553 die allgemeinen GrundsaÈtze des VoÈlkerrechts vorgesehenen Bedingungenª, die bei einer Enteignung zu respektieren sind. Danach ist die Konfiskation auslaÈndischen VermoÈgens nur gegen eine unverzu È gliche, angemessene und wirksame EntschaÈdigung zulaÈssig. Umstritten ist nun, ob Art 1 1. ZProtEMRK hinsichtlich der Rechtsfolgen auf das VoÈlkerrecht verweist (dann waÈre generell eine EntschaÈdigung geboten) oder als Rechtsgrundverweisung auf den Tatbestand, dass AuslaÈnder nicht entschaÈdigungslos enteignet werden du È rfen (dann besteht die EntschaÈdigungspflicht nur gegenu È ber AuslaÈndern). Angesichts der Entstehungsgeschichte der Bestimmung ist der EGMR zu der Auffassung gekommen, dass eine strikte EntschaÈdigungspflicht tatsaÈchlich nur fu È r AuslaÈnder gegeben ist. Er hat allerdings aus dem 1. Satz des Art 1 1. ZProtEMRK ab-
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geleitet, dass jeder Eigentumseingriff einen billigen Ausgleich (¹fair balanceª) zwischen den Erfordernissen des Allgemeininteresses der Gemeinschaft und denen des Grundrechtsschutzes des Einzelnen herstellen muss; gemessen an diesem Maûstab werden entschaÈdigungslose Enteignungen nur in AusnahmefaÈllen konventionskonform sein (EGMR, James, EuGRZ 1988, 341; EGMR, Lithgow, EuGRZ 1988, 350; EGMR, Papachelas, EuGRZ 1999, 319). Dieser Judikatur hat sich auch der VfGH angeschlossen, der etwa bei Flurbereinigungsmaûnahmen von einer verfassungsmaÈûigen, aus Art 1 1. ZProtEMRK abzuleitenden Verpflichtung zum Ersatz des Schadens ausgeht, der durch die gesetzwidrige Zuteilung minderwertigerer Grundstu È cke entstanden ist (VfGH 1.3.2007, B 183/06).
52.1.4. Eigentumsrecht und Vollziehung 1554 Dass Eingriffe in das Eigentum nur zur Verfolgung o È ffentlicher Interessen und in verhaÈltnismaÈûiger Weise vorgenommen werden du È rfen, hat auch die Vollziehung zu beachten, wenn sie auf der Grundlage einer gesetzlichen ErmaÈchtigung in das Eigentum eingreift. In diesem Zusammenhang wendet der VfGH die folgende ¹Grundrechtsformelª an: Ein in das Eigentum eingreifender Bescheid verletzt das Grundrecht, wenn er gesetzlos ergeht, sich auf eine verfassungswidrige Rechtsgrundlage stu È tzt oder eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage denkunmoÈglich anwendet, wobei es als eine Form der Denkunmo È glichkeit aufgefasst wird, wenn einem Gesetz ein verfassungswidriger Inhalt unterstellt wird (vgl zB VfSlg 10.482/1985, 13.847/1994). 1555 GemaÈû dieser Formel beschraÈnkt sich der VfGH beim Eigentumsgrundrecht auf eine ¹GrobpruÈ-
fungª. Unter dem Aspekt der denkunmoÈglichen Gesetzesanwendung bzw des Unterstellens eines verfassungswidrigen Inhalts bilden allerdings das Kriterium des oÈffentlichen Wohls bzw das damit zusammenhaÈngende VerhaÈltnismaÈûigkeitsprinzip einen Maûstab fu È r eine unter UmstaÈnden auch intensive Kontrolle von eigentumsbeschraÈnkenden Verwaltungsakten. In diesem Sinn hat der VfGH zB die mit erheblichen finanziellen Belastungen verbundene Erteilung eines wasserwirtschaftlichen Auftrags zur Sanierung einer Altlast als Verletzung des Art 5 StGG qualifiziert, weil dieser Auftrag ohne Beru È cksichtigung der wirtschaftlichen Zumutbarkeit vorgeschrieben wurde (VfSlg 13.587/1993). Gleiches gilt fu È r Enteignungen, denen im Einzelfall kein nachweisbarer Bedarf zu Grunde liegt, etwa weil das angestrebte Projekt gar nicht mehr realisiert werden kann (VfSlg 6097/1969, 8981/1980); ob eine Enteignung tatsaÈchlich notwendig ist, muss bei sonstiger Verfassungswidrigkeit in einem Ermittlungsverfahren geklaÈrt und im Rahmen einer geho È rigen InteressenabwaÈgung beurteilt werden (VfSlg 6517/1971).
52.1.5. Der Ru È cku È bereignungsanspruch 1556 Wird das einer Enteignung zu Grunde gelegte Projekt nicht verwirklicht (so genannte ¹zweckverfehlende Enteignungª), hat der betroffene Eigentu È mer einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Ru È cku È bereignung, dh auf Ru È ckabwicklung der Enteignung (VfSlg 8980, 8981, 8982/1980, 11.017/1986, 11.828/1988). Diesen Anspruch hat der VfGH aus dem Wesensgehalt der Eigentumsgarantie abgeleitet, denn dem Rechtsinstitut der Enteignung ist die Ru È ckgaÈngigmachung bei Nichtverwirklichung des als Enteignungsgrund normierten oÈffentlichen Zwecks immanent. Der Ru È cku È bereignungsanspruch besteht bereits unmittelbar auf Grund der Verfassung und setzt daher keine einfachgesetzlichen Durchfu È nnen È hrungsregelungen voraus; solche ko aber erlassen werden, um die naÈheren ModalitaÈten der Ru È cku È bereignung (zB Fristen, Verfahren) zu regeln. Der Ru È cku È bereignungsanspruch ist durch ru È ckwirkende Aufhebung des urspru È nglichen Enteignungsbescheids zu erfu È llen, wobei jene BehoÈrde zustaÈndig ist, die im Zeitpunkt der Aufhebung zur Erlassung des Enteignungsbescheids zustaÈndig waÈre. Ein Gesetz, das die Ru È cku È bereignung ausschloÈsse, waÈre verfassungswidrig (VfSlg 15.768/2000).
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52.2. Die Erwerbsfreiheit Rechtsquellen: Art 6 StGG; Art 15, 16 EGC. WaÈhrend die Eigentumsgarantie den Ertrag der menschlichen Arbeit garantiert, 1557 schu È tzt das Grundrecht der Erwerbsfreiheit die menschliche Arbeit. In den fru È hen 1980er Jahren wurde die Judikatur zu Art 6 StGG geradezu zur Durchbruchsstelle fu Èr die damals neue ¹materielleª Grundrechtsjudikatur des VfGH. Dies hatte auch sehr weit reichende praktische Konsequenzen, weil der Gerichtshof in der Folge zahlreiche gesetzliche BeschraÈnkungen der freien ErwerbstaÈtigkeit als verfassungswidrig aufhob und damit im Ergebnis wesentliche AnstoÈûe zu einer Deregulierung und Liberalisierung vieler Wirtschaftsbereiche gegeben hat. Gestu È tzt auf die mitgliedstaatlichen Verfassungsu È berlieferungen hat der EuGH auch die Berufsfreiheit als ein im Recht der EU geltendes Grundrecht anerkannt (vgl nunmehr auch Art 15, 16 EGC) und dazu eine reiche Rspr entwickelt (vgl zB EuGH, National Federation of Fishermen's Organizations ua, Rs C-44/94, Slg 1995, I-3115). Auf die Berufsfreiheit ko È nnen sich Unternehmen und Arbeitnehmer berufen.
52.2.1. Der Schutzbereich 1. Art 6 StGG schu È tzt jede Form der wirtschaftlichen, auf Erwerb ausgerichte- 1558 ten BetaÈtigung vor staatlichen BeschraÈnkungen. In den Schutzbereich dieses Grundrechts fallen nicht nur die selbstaÈndigen Gewerbe im engeren Sinn, sondern auch die freien Berufe und daru È ber hinaus auch unselbstaÈndige TaÈtigkeiten einschlieûlich der BeschaÈftigung im o È ffentlichen Dienst (zB VfSlg 3092/1956, 7798/ 1976). Insoweit kann man auch von einer umfassenden Berufsfreiheit sprechen. Die Erwerbsfreiheit ist eines der wenigen Grundrechte, das als ¹Staatsbu È rgerrechtª nicht auf AuslaÈnder anwendbar ist. Zur Frage, ob sich EU-Bu È rger sowie Bu È rger der EWR-Mitgliedstaaten auf das Grundrecht der Erwerbsfreiheit berufen ko È nnen, vgl oben Rz 1230. Juristischen Personen steht das Grundrecht des Art 6 StGG zu.
2. Art 6 StGG schu È tzt den freien Antritt eines Berufes und die freie Ausu È bung dieses 1559 Berufes. Insoweit kann man im Hinblick auf die gesetzlichen Schranken dieser Freiheit zwischen BerufszugangsbeschraÈnkungen und Berufsausu È bungsbeschraÈnkungen unterscheiden. Diese Unterscheidung ist wichtig im Hinblick auf den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bzw die IntensitaÈt der Kontrolle durch den VfGH. Denn BeschraÈnkungen des Erwerbsantritts werden grundsaÈtzlich als schwere Eingriffe in die Erwerbsfreiheit qualifiziert, vor allem wenn es sich um objektive BeschraÈnkungen handelt, dh um BeschraÈnkungen, die der Einzelne nicht ¹aus eigener Kraft u È berwinden kannª, wie zB eine Bedarfspru È fung. Bei der Normierung subjektiver ZugangsbeschraÈnkungen, das sind solche Bedingungen fu È r den Berufsantritt, deren Erfu È llung dem Einzelnen moÈglich ist, wie etwa der Nachweis bestimmter Ausbildungserfordernisse, ist der rechtspolitische Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers dagegen groÈûer, weil eine solche Schranke regelmaÈûig weniger gravierend wirkt. Am gro È ûten ist der Spielraum des Gesetzgebers schlieûlich bei der Begru È bungsschranken, È ndung von Ausu etwa bei der Normierung von Ladenschlusszeiten, WerbebeschraÈnkungen, preisregelnden Vorschriften usw. Denn solche BeschraÈnkungen hindern den Einzelnen nicht am Zugang zum Beruf, sondern unterwerfen nur seine Ausu È bung bestimmten Schranken.
52.2.2. Grundrechtsschranken und -eingriffe 1. Obwohl Art 6 StGG nach seinem Wortlaut nur einen formellen Gesetzesvorbehalt 1560 (¹... unter den gesetzlichen Bedingungen ...ª) enthaÈlt, unterwirft der VfGH gesetzliche BeschraÈnkungen der hier gewaÈhrleisteten Freiheit seit einer mit VfSlg 10.179/ 1984 beginnenden Judikatur einer strikten VerhaÈltnismaÈûigkeitspru È fung und
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Teil IV. Die Grundrechte
pru È ft, ob eine gesetzliche Schranke einem bestimmten oÈffentlichen Interesse dient und dieses oÈffentliche Interesse mit einem insgesamt geeigneten, erforderlichen und angemessenen Mittel verfolgt wird. Diese Bedingungen umschreibt der VfGH mit folgender ¹Formelª: Gesetzliche BeschraÈnkungen der Erwerbsfreiheit sind nur zulaÈssig, wenn sie durch ein oÈffentliches Interesse geboten, zur Zielerreichung geeignet und adaÈquat und auch sonst sachlich zu rechtfertigen sind (zB VfSlg 13.704, 13.725/1994, 14.038/1995 uva). 1561 a) Unter dem Gesichtspunkt des oÈffentlichen Interesses betont der VfGH, dass dem Gesetz-
geber ein ¹weiter rechtspolitischer Gestaltungsspielraumª eingeraÈumt ist und der Gerichtshof nicht zu beurteilen habe, ob die Verfolgung eines Zieles etwa aus wirtschaftspolitischen oder sozialpolitischen Gru È nden zweckmaÈûig waÈre; der Gerichtshof habe dem Gesetzgeber nur entgegenzutreten, wenn dieser Ziele verfolge, die keinesfalls im o È ffentlichen Interesse liegen. Ein nur auf den Schutz vor Konkurrenz zielender Eingriff in die Erwerbsfreiheit liegt in diesem Sinn niemals im o È ffentlichen Interesse.
b) Auch die Eignung und Erforderlichkeit einer Maûnahme hat primaÈr der Gesetzgeber zu beurteilen; der VfGH haÈlt ein Gesetz unter diesem Gesichtspunkt nur dann fu È r verfassungswidrig, wenn das eingesetzte Mittel keinesfalls geeignet ist (VfSlg 10.718/1985 zum Werbeverbot fu È r Kontaktlinsenoptiker) oder es eindeutig ¹mildereª Mittel gibt, die das Grundrecht weniger einschraÈnken (nach VfSlg 11.276/1987 ko È nnen gewerbepolizeiliche oder wettbewerbsrechtliche Regelungen die bestmoÈgliche Ausbildung von Fahrschu È lern gewaÈhrleisten, so dass eine Bedarfspru È fung fu È r Fahrschulen nicht erforderlich ist). c) Am schwierigsten ist die Beurteilung der AdaÈquanz (Angemessenheit, VerhaÈltnismaÈûigkeit im engeren Sinn) einer Regelung, weil diese letztlich von einer wertenden Gu È terabwaÈgung zwischen der beeintraÈchtigten Erwerbsfreiheit und dem oÈffentlichen Interesse abhaÈngt, dem eine bestimmte Grundrechtsschranke dienen soll. So setzt etwa die Pru È fung von Ladenschlussregelungen eine AbwaÈgung zwischen der beeintraÈchtigten unternehmerischen Dispositionsfreiheit und dem arbeitnehmerschutzrechtlichen Interesse der Bediensteten an der Vorhersehbarkeit der individuellen Arbeitszeit voraus, fu È r die eindeutige BewertungsmaûstaÈbe schwer nachweisbar sind. In erster Linie wird es bei dieser AbwaÈgung auf die Schwere des jeweiligen Eingriffs und das Gewicht der rechtfertigenden Gru È nde ankommen.
1562 2. Objektive BerufszugangsbeschraÈnkungen sind vor allem verfassungswidrig, wenn sie eine Bedarfspru È fung oder einen Gebietsschutz vorsehen, wodurch der freie Zugang zu einem bestimmten Gewerbe ausgeschlossen oder behindert wird, ohne dass dies durch zwingende und gewichtige o È ffentliche Interessen geboten waÈre. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass in einer Wettbewerbswirtschaft der Zugang zum Markt grundsaÈtzlich unbeschraÈnkt moÈglich sein muss und es nicht Sache des Staates ist zu beurteilen, ob ein ¹Bedarfª nach einer bestimmten beruflichen BetaÈtigung besteht; der Schutz bestehender Unternehmer vor einer Konkurrenz durch neu auf den Markt tretende Unternehmen liegt nur unter besonderen UmstaÈnden im o È ffentlichen Interesse (VfSlg 15.700/1999). 1563 Verfassungswidrig waren daher die dem Konkurrenzschutz dienenden BedarfspruÈfungsklau-
seln bei der Schrottent- und -versorgung (VfSlg 10.179/1984, 11.625/1988), bei verschiedenen Verkehrsgewerben (Taxi: VfSlg 10.932/1986; Gu È terbefoÈrderung: VfSlg 11.483/1987; Kraftfahrlinien: VfSlg 12.236/1989), bei Fahr- und Skischulen (VfSlg 11.276/1987, 11.652/1988 ua), bei È berwachungsgewerben (VfSlg 16.927/ Kinos (VfSlg 11.749/1988) oder bei technischen U 2003). Gerechtfertigt ist eine Bedarfspru È fung fu È r die Binnenschifffahrt wegen des gesteigerten Interesses an einem wirksamen Umweltschutz im Bereich von Seen (VfSlg 12.009/ 1989), die BeschraÈnkung bei den Konzessionen fu È r Banken, weil diese ihre TaÈtigkeit in einem volkswirtschaftlichen Schlu È sselbereich ausu È ben (VfSlg 12.098/1989) sowie bei den Spielbanken wegen der besonderen Anforderungen an die VerlaÈsslichkeit und an die wirtschaftliche Potenz der Spielbankunternehmen (VfSlg 12.165/1989), bei Apotheken wegen des Interesses an einer ordnungsgemaÈûen Arzneimittelversorgung (VfSlg 10.386/1985), bei den Bestattungsunternehmen im Hinblick auf den Schutz ihrer Kunden vor pietaÈtlosen BelaÈstigungen (VfSlg
3. Kapitel: Die einzelnen Grundrechte
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11.503/1987), bei den Rauchfangkehrern im Interesse des vorbeugenden Brandschutzes (VfSlg 12.296/1990). Werden Krankenanstalten erwerbswirtschaftlich gefu È hrt, ist eine mit dem Krankenanstaltenplan verbundene Bedarfspru È fung verfassungswidrig (VfSlg 15.740/2000).
Subjektive ZugangsbeschraÈnkungen, vor allem das Vorschreiben eines bestimm- 1564 ten Ausbildungsganges oder der Nachweis von BefaÈhigungen, koÈnnen im Interesse der Sicherung der QualitaÈt beruflicher Leistungen zulaÈssig sein. Sachlich nicht mehr zu rechtfertigende, u È berlange Ausbildungszeiten sind allerdings verfassungswidrig (VfSlg 13.011/1992). Der Gesetzgeber muss auûerdem ± auch unter dem Aspekt der Berufsausbildungsfreiheit ± gleichwertige Ausbildungsalternativen anerkennen. Daher muss auch eine Nachsicht von bestimmten formalisierten Ausbildungserfordernissen moÈglich sein, um der Vielfalt unterschiedlicher AusbildungsgaÈnge angemessen Rechnung zu tragen; solche Nachsichtregelungen du È rfen den Berufszugang nicht von weiteren, nicht ausbildungsbezogenen Erschwernissen abhaÈngig machen, wenn die Erbringung der fachlichen Leistung sichergestellt ist (VfSlg 13.094/1992, 14.038/1995, 14.611/1996). Der Gesetzgeber darf auch gewisse Berufsbilder schaffen, muss aber die entsprechenden Berechtigungen sachgerecht ausgestalten; verfassungswidrig sind zB unterschiedliche Berufsberechtigungen bei gleichwertiger Ausbildung (VfSlg 17.171/2004 zu den gewerblichen Buchhaltern). 3. Bei Ausu È bungsbeschraÈnkungen steht dem Gesetzgeber der schon erwaÈhnte 1565 groÈûere rechtspolitische Gestaltungsspielraum zu, doch mu È ssen nach der Rspr des VfGH auch die BerufsausuÈbung beschraÈnkende Regelungen durch ein o È ffentliches Interesse sachlich gerechtfertigt sein, dh bei einer GesamtabwaÈgung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gru È nde verhaÈltnismaÈûig sein (VfSlg 11.558/1987). Ausu È nnen daher aus Gru È bungsregelungen ko È nden des Konsumentenschutzes zulaÈssig sein, wie zB bei der BeschraÈnkung des Vertriebs von Kosmetika auf Verkaufspartys (VfSlg 11.853/ 1988) oder des Verbots des Versandhandels mit Verzehrprodukten (VfSlg 16.222/2001). Das Ziel des Schutzes klein- und mittelstaÈndischer Unternehmen sowie der Schutz der Nahversorgung rechtfertigen gewisse wettbewerbsrechtliche BeschraÈnkungen, doch war das Verbot des Verkaufs von Waren unter dem Einstandspreis ebenso u È berschieûend wie das umfassende Verbot der ¹Lockvogelwerbungª, soweit es sich auch auf WiederverkaÈufer erstreckte und nicht auf schutzbedu È rftige Letztverbraucher beschraÈnkt war (VfSlg 13.704/1994). Zu den fru È heren restriktiven Ladenschlussregelungen gibt es eine ausgedehnte Judikatur, in der vor allem der Aspekt der unternehmerischen Dispositionsfreiheit betont wurde; die entgegenstehenden sozial- und familienpolitischen Interessen der betroffenen Arbeitnehmer seien zwar gewichtige Interessen, ko È nnten aber gravierende Eingriffe in die Erwerbsfreiheit nicht rechtfertigen (vgl zB VfSlg 11.558/1987). Verfassungswidrig waren die undifferenzierte Vorschreibung von Mindesthonoraren fu È r freie Berufe (VfSlg 12.481/1990) oder eine Verpflichtung zur Erbringung bestimmter unentgeltlicher Dienstleistungen (VfSlg 17.932/2006). Die Einfu È hrung eines Marktordnungssystems mit umfassenden Lenkungsmaûnahmen stellt einen gewichtigen Eingriff in die Erwerbsfreiheit dar, kann aber in bestimmten Wirtschaftsbereichen, wie im Agrarsektor, zulaÈssig sein; trotzdem pru È ft der VfGH auch die VerhaÈltnismaÈûigkeit der BeschraÈnkungen im Rahmen eines solchen Systems (zB VfSlg 12.677/1991 zur Lieferpflicht von hartkaÈsetauglicher Milch; VfSlg 12.678/1991 zum System des ¹Einfrierensª von Einzelrichtmengen von Milch; VfSlg 12.742/1991 zum Verbot des Nachpflanzens von Weinreben).
52.2.3. Erwerbsfreiheit und Vollziehung Auch die Vollziehung ist bei der Anwendung der die Erwerbsfreiheit beschraÈnken- 1566 È berpru den Gesetze zur Beachtung des Grundrechts verpflichtet. Bei der U È fung von Bescheiden wendet der VfGH dabei die folgende ¹Grundrechtsformelª an: Ein die Erwerbsfreiheit beschraÈnkender Bescheid verletzt das in Art 6 StGG gewaÈhrleistete Grundrecht, wenn die BehoÈrde gesetzlos handelt, wenn die Rechtsvorschrift, auf die sich der Bescheid stu È tzt, verfassungswidrig oder ge-
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Teil IV. Die Grundrechte
setzwidrig ist oder wenn die BehoÈrde die Rechtsvorschrift denkunmo È glich anwendet (vgl zB VfSlg 10.413/1985, 14.305/1995). GemaÈû dieser Formel beschraÈnkt sich der VfGH bei Art 6 StGG daher auf eine ¹Grobpru È fungª. Unter dem Aspekt der Pru È fung der DenkmoÈglichkeit spielt es allerdings auch eine Rolle, ob die BehoÈrde dem Gesetz einen unter dem Aspekt der Erwerbsfreiheit verfassungswidrigen Inhalt unterstellt hat (vgl VfSlg 14.305/1995 zu einer verfassungswidrigen Gesetzesauslegung, weil die Anrechnung einer rechtsberuflichen TaÈtigkeit bei einer Kammer auf die Dauer der praktischen Verwendung zur Erlangung der Rechtsanwaltschaft verweigert wurde).
52.3. Die Liegenschaftsfreiheit und die Freizu È gigkeit des È gens Vermo Rechtsquellen: Art 4 StGG; Art 6 StGG. 1567 Die Bodenordnung der staÈndischen Gesellschaft unterlag zahlreichen BeschraÈnkungen, etwa in der Form, dass der Erwerb bestimmter Grundstu È cke nur AngehoÈrigen des Adels moÈglich war oder bestimmte Personengruppen vom Grunderwerb ausgeschlossen waren. Das Grundrecht der Liegenschaftsfreiheit richtete sich gegen diese fu È r die Entwicklung der bu È rgerlichen Erwerbsgesellschaft hinderlichen BeschraÈnkungen; es wurde vom VfGH lange Zeit sehr restriktiv im Licht dieses historischen Regelungszwecks interpretiert. Erst die einschneidende VerschaÈrfung des grundverkehrsrechtlichen Regimes in manchen BundeslaÈndern, die im Vorfeld des EU-Beitritts dem befu È rchteten Ausverkauf des inlaÈndischen Grundbesitzes entgegenwirken wollten, hat dazu gefu È hrt, dass in der Lehre und ihr folgend auch in der Judikatur die aktuelle Tragweite dieses Grundrechts verstaÈrkt ausgelotet wird. 52.3.1. Die Liegenschaftsfreiheit 1568 Art 6 StGG schu È rgers, Liegenschaften frei zu erÈ tzt das Grundrecht jedes Staatsbu werben und frei daru È ber zu verfu È gen. AuslaÈndern ist dieses Recht nicht eingeraÈumt, doch koÈnnen sich EU-Bu È rger und AngehoÈrige der EWR-Staaten beim Liegenschaftserwerb auf die Grundfreiheiten des EGV stu È tzen und du È rfen gegenu È ber InlaÈndern nicht diskriminiert oder in unverhaÈltnismaÈûiger Weise behindert werden. 1569 In das Grundrecht greifen BeschraÈnkungen des Erwerbs von bzw der Verfu Ègung u È ber Liegenschaften ein. Nach dem Wortlaut ist dieses Recht vorbehaltlos gewaÈhrleistet; nach der Judikatur des VfGH unterliegt das Grundrecht aber einem ungeschriebenen Gesetzesvorbehalt, der aus dem inneren Zusammenhang zwischen der Liegenschaftsfreiheit und den unter Gesetzesvorbehalt stehenden Garantien des Eigentums und der Erwerbsfreiheit heraus begru È ndet wird. Wie das Eigentumsgrundrecht darf der Gesetzgeber allerdings auch die Liegenschaftsfreiheit nur im Rahmen des VerhaÈltnismaÈûigen beschraÈnken. Im Licht dieses Maûstabes hat der VfGH jene grundverkehrsrechtlichen Regelungen, die den Rechtserwerb an Freizeitwohnsitzen rigoros einschraÈnken wollten, als u È berschieûend und daher als verfassungswidrig angesehen. Auch die Einfu È hrung eines umfassenden grundverkehrsrechtlichen Systems der Wohnraumbewirtschaftung ist dem Gesetzgeber unter dem Aspekt der Liegenschaftsverkehrsfreiheit verwehrt (VfSlg 14.704/1996). 1570 AnknuÈpfend an seine Èaltere Judikatur, wonach sich die Liegenschaftsfreiheit nur gegen jene Be-
schraÈnkungen beim Grunderwerb richtet, die ehemals fu È r staÈndisch oder konfessionell abgegrenzte BevoÈlkerungsgruppen bestanden, hat der VfGH auch von einem Verbot gesprochen, eine neue bevorrechtete Klasse zu schaffen; daher darf Landwirten nur deshalb, weil sie Landwirte sind, kein vorzugsweises Recht auf Liegenschaftserwerb eingeraÈumt werden (VfSlg 5374/1966). Um eine verfassungswidrige InlaÈnderdiskriminierung zu vermeiden, kann es geboten sein, gewisse aus den Grundfreiheiten abgeleitete Erleichterungen der EU-Bu È rger
3. Kapitel: Die einzelnen Grundrechte
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beim Grunderwerb auf InlaÈnder zu erstrecken (daher kann zB eine Selbstbewirtschaftung auch auûerhalb des Anwendungsbereichs der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten nicht unbedingt verlangt werden; vgl VfSlg 17.554/2005, 18.027/2006, jeweils unter Hinweis auf EuGH, Ospelt, Rs C-452/01, Slg 2003, I-9743).
È gens 52.3.2. Die Freizu È gigkeit des Vermo È gens erstreckt sich 1571 Das durch Art 4 StGG gewaÈhrleistete Recht auf Freizu È gigkeit des Vermo nur auf bewegliche Sachen (VfSlg 5547/1967 uva). Gegen BeeintraÈchtigungen in Rechten an Liegenschaften (zB Verweigerung einer Bauerlaubnis) kann dieses Grundrecht nicht in Anspruch genommen werden. Art 4 StGG bezieht sich daher nur auf die o È rtliche Bewegung des VermoÈgens (VfSlg 10.564/1985, 13.671/1994 ua). Da der VfGH annimmt, dass die Freizu È gigkeit des VermoÈgens einem allgemeinen (ungeschriebenen) Gesetzesvorbehalt unterliegt und nur eine Freiheit im Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung einraÈumt, ist die praktische Bedeutung dieses Grundrechts gering. Die Einhebung einer Straûenmaut verletzt ebenso wenig das Grundrecht wie die VerhaÈngung von VerkehrsbeschraÈnkungen (VfSlg 8086/1977, 9609/1983, 14.169/1995).
AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zum Abschnitt 52: VfSlg 15.129/1998: Der Anspruch auf Notstandshilfe ist ein im o È ffentlichen Recht wurzelnder Anspruch. FaÈllt er unter den Schutz des Art 5 StGG? Vgl dazu auch EGMR, Gaygusuz, È JZ 1996, 955 und VfSlg 15.506/1999. O VfSlg 15.768/2000: Ein Beispiel zum Ru È cku È bereignungsanspruch. È berwachungsVfSlg 16.808/2003: Wie weit darf der Staat die Kosten von beho È rdlichen U maûnahmen auf private Unternehmen u È berwaÈlzen? VfSlg 4163/1962 (BaÈckernachtarbeit) und VfSlg 10.932/1986 (Bedarfspru È fung Taxigewerbe): Welcher Judikaturwandel dru È ckt sich hier in Bezug auf die gesetzlichen Schranken der Erwerbsfreiheit aus? VfSlg 11.558/1987: Das erste ¹Ladenschluss-Erkenntnisª zum ¹Sperrhalbtagª mit einer AbwaÈgung zwischen der unternehmerischen Dispositionsfreiheit und den entgegenstehenden Interessen des Arbeitnehmerschutzes. Vgl die weitere Judikatur: VfSlg 11.848/1988 (Mittagssperre), VfSlg 12.094/1989 (Abend- und Nachtsperre) sowie VfSlg 15.316/1998, 16.484/2002 (ua zum Sonntags-Ladenschluss). VfSlg 14.411/1996: Anhand dieses Falles kann auch die Bedeutung der ¹Spruchformelª zur Erwerbsfreiheit studiert werden (Verweigerung einer Nachsichterteilung). VfSlg 16.927/2003: Ein ju È ngeres Erkenntnis zu einer unzulaÈssigen Bedarfspru È fung, das als Beispiel fu È r viele andere Èahnliche Entscheidungen dienen kann. VfGH 18.6.2007, G 220/06: VerstoÈût es gegen die Erwerbsfreiheit, wenn einem Hundeausbilder der Einsatz elektrisierender Dressurmittel bei der Abrichtung von Tieren durch das TierschutzG verboten wird? OGH 25.6.1998, 8 Ob A 268/97, WBl 1998, 543: Auch die Erwerbsfreiheit kann Drittwirkungseffekte haben (hier: Sittenwidrigkeit einer Vereinbarung zwischen einem Berufssportler und seinem Verein, die dem Sportler die Zahlung einer AbloÈsesumme beim Vereinswechsel abverlangt hat). VfSlg 14.701/1996: Ein wichtiges Erkenntnis zur Entwicklung der neueren Judikatur zur Liegenschaftsfreiheit. Zur Vertiefung: Zum Eigentumsschutz: Barfuû, Das Eigentumsrecht und die Vollziehung, È sterin: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 40 Jahre EMRK. Grund- und Menschenrechte in O reich Bd 2 (1992) 689; Korinek, Verfassungsrechtliche Grundlagen des Eigentumsschutzes È sterreich, in: Korinek/Pauger/Rummel, Handbuch des Entund des Enteignungsrechts in O È hlinger, Eigentum und Gesetzgebung, in: Machacek/Pahr/Stadeignungsrechts (1994) 1; O
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È sterreich Bd 2 (1992) 643; ler (Hrsg), 40 Jahre EMRK. Grund- und Menschenrechte in O Pernthaler, Raumordnung und Verfassung Bd 3 (1990) 399 ff; Rill, Eigentum, Sozialbindung und Enteignung bei der Nutzung von Boden und Umwelt, VVDStRL 51 (1992) 177. Zur Erwerbsfreiheit: Grabenwarter, Die Freiheit der ErwerbsbetaÈtigung, Art 6 StGG, in: MaÈ sterreich chacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 40 Jahre EMRK. Grund- und Menschenrechte in O È berlegungen zur Erwerbsfreiheit Bd 2 (1992) 553; ders, Rechtliche und oÈkonomische U (1994); Oberndorfer, Berufswahl- und Berufsausbildungsfreiheit, Art 18 StGG, in: MachaÈ sterreich Bd 2 cek/Pahr/Stadler (Hrsg), 40 Jahre EMRK. Grund- und Menschenrechte in O (1992) 617; Schulev-Steindl, Wirtschaftslenkung und Verfassung (1996). Zur Liegenschaftsfreiheit und Freizu È gigkeit des VermoÈgens: Holoubek, Grundrechtsfragen, in: Funk (Hrsg), Grundverkehrsrecht (1996) 37; Korinek, Grundrechte und administrative BeschraÈnkungen des Liegenschaftsverkehrs, ZfV 1992, 8; Morscher, Die Niederlassungsfreiheit und die Freiheit des Liegenschaftsverkehrs, Art. 6 StGG und Art. 2 des 4. ZP-EMRK, in: È sterreich Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 40 Jahre EMRK. Grund- und Menschenrechte in O Bd 2 (1992) 507.
53. Grundrechtliche Organisations- und Verfahrensgarantien 1572 Die Grundrechtsordnung sichert dem Einzelnen auch die Durchsetzung seiner Rechte in fairen Verfahren, an denen er in einer verfahrensmaÈûig gesicherten Rechtsposition teilnehmen kann. Diese Organisations- und Verfahrensgarantien werden in dem folgenden Abschnitt dargestellt.
53.1. Das Recht auf den gesetzlichen Richter Rechtsquelle: Art 83 Abs 2 B-VG. 1573 Das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter richtete sich urspru È nglich gegen die so genannte ¹Kabinettsjustizª, dh gegen die Versuche des Monarchen durch einen Machtspruch gerichtliche Verfahren an sich zu ziehen oder nach Gutdu È nken Richter zu bestellen bzw abzusetzen. Insoweit stand das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter historisch betrachtet im Zusammenhang mit dem Schutz der gerichtlichen ZustaÈndigkeitsverteilung. Bereits das Reichsgericht leitete aber eine erweiternde Interpretation ein und verstand unter dem ¹gesetzlichen Richterª nicht nur Gerichte, sondern jede mit einem Entscheidungsrecht bekleidete staatliche BehoÈrde. Anknu È pfend an diese Judikatur hat der VfGH das Grundrecht von Anfang an auf den Schutz der behoÈrdlichen ZustaÈndigkeitsverteilung schlechthin bezogen und unter dem ¹gesetzlichen Richterª auch jede zustaÈndige VerwaltungsbehoÈrde verstanden. Damit war die Grundlage fu È r eine Rspr geschaffen, in deren Verlauf das Grundrecht eine weit reichende und auch praktisch bedeutsame Funktion als grundrechtliche Garantie der gesetzlichen ZustaÈndigkeitsordnung erlangte. 53.1.1. Der Geltungsbereich des Grundrechts 1574 Das Grundrecht des Art 83 Abs 2 B-VG ist auf den Schutz und die Wahrung der È rdenzustaÈndigkeit schlechthin gerichtet (VfSlg gesetzlich begru È ndeten Beho 2536/1953). ¹Gesetzlicher Richterª im Sinn dieses Grundrechts ist daher jede staatliche BehoÈrde, dh jedes Gericht und jede VerwaltungsbehoÈrde, die mit hoheitlichen Kompetenzen ausgestattet ist. Im ¹dualistischen Rechtsschutzsystemª des EURechts, in dem es zu einer Aufgabenteilung zwischen den nationalen Gerichten und dem EuGH kommt, wirkt auch dieses Gericht in spezifischer Form an innerstaat-
3. Kapitel: Die einzelnen Grundrechte
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lichen Entscheidungen mit; in diesem Umfang ist auch der EuGH ein ¹gesetzlicher Richterª iS von Art 83 Abs 2 B-VG (VfSlg 14.390/1995, 14.607/1996). 53.1.2. Gesetzlicher Richter und Gesetzgebung Fu È r den Gesetzgeber folgt aus Art 83 Abs 2 B-VG die Verpflichtung, die behoÈrdlichen 1575 ZustaÈndigkeiten bereits im Gesetz ausreichend praÈzise festzulegen und so sicherzustellen, dass niemand im Einzelfall durch einen Akt der Vollziehung seinem gesetzlichen Richter entzogen werden kann. BehoÈrdliche ZustaÈndigkeiten sind daher durch den Gesetzgeber durch Umschreibung der die ZustaÈndigkeit begru È ndenden objektiven Tatbestandsvoraussetzungen festzulegen und du È rfen nicht von UmstaÈnden abhaÈngen, die der einzelne Rechtsunterworfene nicht vorhersehen kann. Fu È r die gesetzliche Regelung der ZustaÈndigkeiten gelten besonders strenge Bestimmtheitserfordernisse: BehoÈrdenzustaÈndigkeiten sind ¹praÈzis zu regelnª (VfSlg 10.311/1984). Im Hinblick auf Art 83 Abs 2 B-VG kann daher eine Regelung verfassungswidrig sein, wenn die ZustaÈndigkeit an einen Sachverhalt geknu È pft ist, dessen Vorliegen nicht in einer vom Gesetz geregelten Weise feststellbar ist; dies war etwa bei einer Regelung der Fall, welche je nach der Einwohnerzahl einer Gemeinde verschiedene BerufungsbehoÈrden vorsah (VfSlg 6675/ 1972). Auch die Zusammensetzung der BehoÈrde muss gesetzlich geregelt sein (VfSlg 12.788/ 1991). Dem Gebot strikter ZustaÈndigkeitsgrenzen laufen ferner konkurrierende ZustaÈndigkeiten verschiedener BehoÈrden zuwider (VfSlg 13.886/1994).
53.1.3. Gesetzlicher Richter und Vollziehung 1. Die Einhaltung der gesetzlichen ZustaÈndigkeitsregelungen ist im Bereich der or- 1576 dentlichen Gerichtsbarkeit von den Gerichten im Instanzenzug wahrzunehmen. È berpru Die Judikatur des VfGH beschraÈnkt sich mangels U È fungsmoÈglichkeiten von gerichtlichen Entscheidungen praktisch ausschlieûlich auf VerwaltungsbehoÈrden. In seiner Rspr zieht der Gerichtshof dabei die folgende ¹Grundrechtsformelª heran: Ein Bescheid einer VerwaltungsbehoÈrde verletzt das Grundrecht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter, wenn die BehoÈrde eine ihr gesetzlich nicht zukommende ZustaÈndigkeit in Anspruch nimmt oder in gesetzwidriger Weise ihre ZustaÈndigkeit ablehnt und damit eine Sachentscheidung verweigert (vgl zB VfSlg 12.889/1991, 13.280/1992, 14.544/1996, 14.713/1997 ua). Im Einzelnen ist die Rspr auûerordentlich vielfaÈltig, nicht zuletzt deshalb, weil nicht alle ZustaÈndigkeitsmaÈngel gleich behandelt werden und weil die Frage nach der Wahrung der behoÈrdlichen ZustaÈndigkeit auch in materiellrechtliche Fragen ausgreifen kann. Die Abgrenzung der verfassungsgerichtlichen ZustaÈndigkeit zur Kompetenz des VwGH kann daher bei diesem Grundrecht besonders problematisch sein. È rtlich unzustaÈndige Beho È rde entscheidet, ist idR der gesetz- 1577 a) Wenn eine sachlich oder o liche Richter verletzt. Im Einzelnen ist allerdings nach der Judikatur des VfGH zu unterscheiden: Die Entscheidung durch eine sachlich unzustaÈndige BehoÈrde fu È hrt auch dann zu einer Verletzung dieses Grundrechts, wenn in der letzten Instanz die sachlich zustaÈndige BehoÈrde entschieden hat, weil es sonst zu einer Verku È rzung des Instanzenzuges kaÈme (vgl etwa VfSlg 5700/1968). Hat dagegen in erster Instanz eine oÈrtlich unzustaÈndige BehoÈrde entschieden, ist Art 83 Abs 2 B-VG nicht verletzt, wenn in hoÈherer Instanz die o È rtlich und sachlich zustaÈndige BehoÈrde eingeschritten ist (VfSlg 5236/1966). b) Die Inanspruchnahme einer gesetzlich nicht gedeckten EntscheidungszustaÈndigkeit kann in unterschiedlichen ZusammenhaÈngen zu einer Verletzung des Art 83 Abs 2 B-VG fu È hren. So wird das Grundrecht verletzt, wenn die BehoÈrde eine Befugnis fu È r sich in Anspruch nimmt, fu È r die im Gesetz jede materielle Grundlage fehlt (VfSlg 11.073/1986), wenn eine Strafe
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Teil IV. Die Grundrechte
nach eingetretener VerjaÈhrung verhaÈngt wird (VfSlg 8273/1978) oder ein antragsbedu È rftiger Bescheid ohne entsprechenden Antrag erlassen wird (VfSlg 11.502/1987). c) Eine verfassungswidrige Verweigerung einer Sachentscheidung durch die zustaÈndige BehoÈrde liegt vor, wenn ein Rechtsanspruch auf ein TaÈtigwerden der BehoÈrde gegeben ist, diese aber in gesetzwidriger Weise nicht taÈtig wird. Dies wurde zB in den folgenden FaÈllen angenommen: Zuru È ckweisung wegen rechtswidriger Nichtanerkennung einer Parteistellung (VfSlg 14.690/1996), Zuru È ckweisung wegen entschiedener Sache, obwohl ein veraÈnderter Sachverhalt vorlag (VfSlg 14.590/1996), Zuru È ckweisung einer ausreichend begru È ndeten Berufung (VfSlg 11.597/1988), Anwendung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt an Stelle des rechtlich erforderlichen Bescheids (VfSlg 7279/1974).
1578 2. Eine Verletzung des gesetzlichen Richters liegt ferner vor, wenn eine zwar zuÈ rde entscheidet. Dies ist staÈndige, aber nicht dem Gesetz entsprechende Beho zB dann der Fall, wenn ein ausgeschlossenes Organ an einer behoÈrdlichen Entscheidung mitwirkt (VfSlg 14.731/1997) oder eine unrichtig zusammengesetzte KollegialbehoÈrde entscheidet oder die Mitglieder einer KollegialbehoÈrde waÈhrend des Verfahrens ausgetauscht werden (VfSlg 13.946/1994, 14.499/1996). Art 83 Abs 2 B-VG ist auch dann verletzt, wenn ein im Gesetz vorgesehenes Einvernehmen mehrerer BehoÈrden nicht hergestellt wird oder wenn entgegen dem Gesetz ein Bescheid von mehreren BehoÈrden einvernehmlich erlassen wird (VfSlg 5930/1969). Dagegen verstoÈût die Mitwirkung eines befangenen Organwalters nicht gegen das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter (VfSlg 14.843/1997), ebenso nicht die Beiziehung eines nichtamtlichen SachverstaÈndigen (VfSlg 6172/1970) oder die Erledigung einer Angelegenheit auf Grund einer Weisung (VfSlg 7772/1976).
1579 3. Weil der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach Art 234 EGV ein ¹gesetzlicher Richterª ist, wird das Grundrecht auch verletzt, wenn ein vorlagepflichtiges Gericht ± und das koÈnnen auch die KollegialbehoÈrden nach Art 133 Z 4 B-VG sein ± gegen die Vorlagepflicht verstoÈût; in einem solchen Fall wu È rde naÈmlich den Parteien insofern ein gesetzlicher Richter entzogen, als eine dem EuGH vorbehaltene Frage nicht durch diesen geloÈst werden koÈnnte. Im Sinn der ¹acte clairª-Doktrin kann einem vorlagepflichtigen Gericht die Nichtvorlage allerdings nur dann zum Vorwurf gemacht werden, wenn es begru È ndete Zweifel daran haben musste, ob die von ihm fu È r zutreffend befundene Interpretation des nationalen Rechts mit den Anforderungen des in Frage kommenden Gemeinschaftsrechts in Widerspruch geraten koÈnnte (VfSlg 14.390/1995, 14.607/1996; zum Vorabentscheidungsverfahren vgl auch oben Rz 355).
53.2. Das Recht auf ein faires gerichtliches Verfahren Rechtsquellen: Art 6 EMRK; Art 2 7. ZProtEMRK; Art 90 Abs 2 B-VG; Art 41, 47, 48 EGC. 1580 Aus dem Grundrecht auf den gesetzlichen Richter kann kein Anspruch auf eine Entscheidung durch ein Gericht abgeleitet werden. Auch der Grundsatz der Trennung von Justiz und Verwaltung (Art 94 B-VG), der in der oÈsterreichischen Tradition weitgehend auf eine nur formell-organisatorische Gewaltentrennung bezogen wird, laÈsst die Freiheit des Gesetzgebers unberu È hrt, die Entscheidung einer bestimmten Angelegenheit entweder als Justizsache einem Gericht oder als Verwaltungssache einer VerwaltungsbehoÈrde zuzuweisen (vgl Rz 391). Erst Art 6 EMRK hat eine Rechtswegegarantie in das oÈsterreichische Verfassungsrecht eingefu È hrt, dh einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf eine Entscheidung durch ein Gericht bei Streitigkeiten u È ber civil rights und bei strafrechtlichen Anklagen. Zugleich wurden die Grundprinzipien eines ¹fair trialª verfassungsrechtlich verankert.
3. Kapitel: Die einzelnen Grundrechte
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Vergleichbare rechtsstaatliche Garantien gelten auch im Recht der EU, wobei der Wahrung der Verfahrensgrundrechte in Verwaltungs- und Gerichtsverfahren in der Judikatur des EuGH groûe Bedeutung zukommt. Dabei stu È tzt sich der EuGH maûgeblich auf Art 6 EMRK (vgl nunmehr auch Art 41, 47, 48 EGC). Die gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundrechte ko È nnen auch fu È r Verfahren vor mitgliedstaatlichen BehoÈrden gelten; auf die differenzierte Rspr des EuGH zu diesen Rechten kann hier nur hingewiesen werden.
53.2.1. Der Begriff der strafrechtlichen Anklagen Art 6 EMRK fordert, dass u È ber die Stichhaltigkeit strafrechtlicher Anklagen (cri- 1581 minal charges) ein Gericht im Sinn dieser Bestimmung entscheidet. Der Begriff der strafrechtlichen Anklagen ist autonom auszulegen und haÈngt vom Inhalt der entsprechenden Beschuldigung und den vorgesehenen (nicht den tatsaÈchlich verhaÈngten) Strafen ab: ZunaÈchst ist nach der Judikatur des EGMR zu fragen, ob die Zuwiderhandlung nach dem innerstaatlichen Recht systematisch dem klassischen Kriminalstrafrecht (zB StGB und strafrechtliche Nebengesetze) zugehoÈrt oder einem anderen Rechtsbereich (Disziplinarrecht, Ordnungswidrigkeitenrecht). FaÈllt die vorgeworfene Tat nicht unter das innerstaatliche Strafrecht, ist auf die Natur der Zuwiderhandlung und die Art der verhaÈngten Sanktion abzustellen. LaÈngere Freiheitsstrafen und sonstige Strafsanktionen von vergleichbarer Schwere begru È nden dann È brigen wird darauf abgestellt, ob eine ebenfalls eine strafrechtliche Anklage. Im U Sanktion praÈventive Zwecke verfolgt und einen Unrechtsgehalt ahndet; dann koÈnnen auch geringfu È gige Sanktionen (zB Geldbuûen) Strafen iS von Art 6 EMRK sein È ztu (zB EGMR, O È rk, EuGRZ 1985, 62). Die disziplinarrechtliche Ahndung von VerstoÈûen gegen bestimmte Berufspflichten oder sonstige Disziplinarstrafen (etwa im Rahmen einer Wehrpflicht oder Haft) sind nur bei entsprechender Gewichtigkeit (laÈngere Freiheitsstrafe) als strafrechtliche Anklagen anzusehen (EGMR, Engel, EuGRZ 1976, 422). Im oÈsterreichischen Recht gehoÈrt jedenfalls das Justizstrafrecht zu den strafrechtlichen An- 1582 klagen. Strafrechtlicher Natur sind aber auch die VerwaltungsstraftatbestaÈnde; daher muss auch in diesem Bereich den Erfordernissen einer Entscheidung durch ein unabhaÈngiges Tribunal entsprochen werden, dem volle Rechts- und Tatsachenkognition zukommt. Die bloû nachpru Èfe des o È ffentlichen Rechts reicht nicht aus (VfSlg È fende Kontrolle durch die Gerichtsho È JZ 1995, 954). Der VfGH hat auch Disziplinar11.834/1988, 12.948/1991; EGMR, Gradinger, O strafen, durch welche die Freiheit entzogen wird oder die in ihrer Schwere einer solchen Strafe gleichkommen (zB Berufsausu È bungsverbote), Art 6 EMRK unterstellt (VfSlg 11.506, 11.569/ 1987, 11.776/1988).
53.2.2. Der Begriff der ¹civil rightsª 1. GroÈûere Schwierigkeiten wirft die Abgrenzung der zivilrechtlichen Anspru È che 1583 und Verpflichtungen (civil rights and obligations) auf. Fest steht jedenfalls, dass der Begriff der civil rights autonom und unabhaÈngig von der innerstaatlichen Zuordnung zu einer bestimmten Rechtsmaterie auszulegen ist und nicht nur Rechtsstreitigkeiten der Bu È rger untereinander, sondern auch gewisse Anspru È che gegen den Staat umfasst, die nach der kontinentaleuropaÈischen Rechtstradition dem o È ffentlichen Recht zugerechnet werden. Ob ein zivilrechtlicher Anspruch iS von Art 6 EMRK vorliegt, haÈngt nach der Rspr des EGMR im Prinzip von drei Voraussetzungen ab: . einem aus dem innerstaatlichen Recht abzuleitenden Anspruch bzw einem Recht; . einem echten Streit ernsthafter Natur (a genuine dispute of a serious nature), sei es zwischen Privatpersonen oder zwischen einer Privatperson und einer Verwal-
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Teil IV. Die Grundrechte
tungsbeho È rde, dessen Ausgang fu È r diesen Anspruch bzw dieses Recht unmittelbar entscheidend ist; . dem zivilrechtlichen Charakter des Anspruchs; insoweit steht fest, dass darunter nicht nur privatrechtliche RechtsverhaÈltnisse fallen, wobei aber eine abschlieûende Umschreibung der von Art 6 EMRK erfassten Rechte bisher nicht gelungen ist. 1584 Nach Auffassung des EGMR sind grundsaÈtzlich alle Verfahren umfasst, deren Ergebnisse fu È che und Verpflichtungen direkt entscheidend È r zivilrechtliche Anspru È genssind, die in die ErwerbstaÈtigkeit einer Person eingreifen oder die vermo È JZ 1992, 771). werte Auswirkungen haben (vgl zB EGMR, Editions Periscope, O Die entsprechende Judikatur des EGMR hat sich dynamisch entfaltet und dabei den Begriff der civil rights sukzessive erweitert; dies hat der VfGH nicht zu Unrecht als offene Rechtsfortbildung qualifiziert (VfSlg 11.500/1987). Eine vollstaÈndige Darstellung dieser Spruchpraxis ist hier nicht moÈglich; im Folgenden wird daher nur auf signifikante Beispiele hingewiesen. a) Ist das Eigentum betroffen, liegt idR eine Entscheidung u È ber civil rights vor. Dies trifft etwa auf die grundverkehrsbehoÈrdliche Genehmigung eines Liegenschaftserwerbs (EGMR, Sramek, EuGRZ 1985, 336) oder Enteignungsmaûnahmen und den Streit u È ber die HoÈhe der zu zahlenden EntschaÈdigung (EGMR, Lithgow, EuGRZ 1988, 350) zu. Auch oÈffentlich-rechtliche NutzungsbeschraÈnkungen (Bauverbote, VerwendungsbeschraÈnkungen, naturschutzrechtliche BeschraÈnkungen) betreffen in ihren Auswirkungen das Eigentum und fallen daher unter Art 6 EMRK; ebenso Verfahren u È ber die Erteilung von Baubewilligungen oder die Entscheidung È JZ 1995, u È ber oÈffentlich-rechtliche Einwendungen von Nachbarn (zB EGMR, Ortenberg, O È JZ 2004, 396; EGMR, Alge, O È JZ 2004, 477). 225; EGMR, Emsenhuber, O b) Als civil rights wurden Anspru È hrung einer zugelassenen freiberufliÈ che auf Weiterfu chen oder gewerblichen TaÈtigkeit qualifiziert: Daher fallen Berufsverbote, die behoÈrdliche Entziehung der Erlaubnis zum Betrieb einer Privatklinik, der Widerruf einer Bewilligung zum Betrieb einer Flu È ssiggasanlage oder zur Ablagerung von AbfaÈllen oder der Widerruf einer Lizenz fu È r den Taxi- und Linienverkehr unter Art 6 EMRK (zB EGMR, Le Compte ua, EuGRZ 1981, 551; EGMR, KoÈnig, EuGRZ 1978, 406; EGMR, Bentham, EuGRZ 1986, 299). c) Auch sozialversicherungsrechtliche Anspru È che (zB Anspruch auf Hinterbliebenen- oder Invalidenrente) und beamtenrechtliche Anspru È che auf Pensionen oder sonstige GeldleistunÈ JZ 1994, gen werden vom EGMR dem Art 6 EMRK unterstellt (zB EGMR, Schuler-Zgraggen, O È JZ 1993, 317; EGMR, Pauger, O È JZ 1997, 836). Nach der 138; EGMR, Francesco Lombardo, O È ffentlichju È nnen auch andere Streitigkeiten aus einem o È ngeren Judikatur des EGMR ko rechtlichen DienstverhaÈltnis unter gewissen UmstaÈnden unter Art 6 EMRK fallen (EGMR, È JZ 2008, 35). Vilho Eskelinen, O
1585 2. Im Licht dieser Judikatur des EGMR sind zahlreiche Entscheidungen, die nach È sterreichischem Recht von VerwaltungsbehoÈrden getroffen werden (zB Betriebso anlagenbewilligungen, Bauverfahren, Entscheidungen im Rahmen eines o È ffentlichrechtlichen DienstverhaÈltnisses usw), Entscheidungen u È ber civil rights. Sie mu È ssten von einem Tribunal iS von Art 6 EMRK getroffen werden und unterliegen den entsprechenden Verfahrensgarantien dieser Bestimmung. 1586 Der VfGH ist freilich in bewusster Abwendung von der Judikatur des EGMR einen anderen Weg gegangen und hat sich fu È r einen ¹gespaltenenª Zivilrechtsbegriff entschieden: Danach ist zwischen Anspru È chen und Verpflichtungen, die dem Zivilrecht in engster Bedeutung und damit dem Kernbereich der civil rights zuzuzaÈhlen sind, und solchen Entscheidungen zu unterscheiden, die zivilrechtliche Anspru Èche und Verpflichtungen nur in ihren Auswirkungen betreffen (stRspr seit VfSlg 11.500, 11.591/1987). An diese Unterscheidung knu È pft sich die folgende wesentliche Konsequenz: Im ¹Kernbereichª der civil rights muss ein mit voller Tatsachenund Rechtskognition ausgestattetes Gericht (Tribunal) iS des Art 6 EMRK zumindest in letzter Instanz entscheiden und reicht (soweit eine VerwaltungsbehoÈrde entschei-
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det) die nur nachpru È fende Kontrolle durch den VwGH und VfGH nicht aus. In anderen Angelegenheiten, die nur in ihren Auswirkungen ein civil right betreffen (¹Randbereichª), wird nach Auffassung des VfGH dem Art 6 EMRK auch dann entsprochen, wenn eine VerwaltungsbehoÈrde unter der nachpru È fenden Kontrolle der beiden GerichtshoÈfe des oÈffentlichen Rechts die Sachentscheidung trifft. Bei der Bestimmung des ¹Kernbereichsª, der im Wesentlichen die ¹traditionell der Ziviljustiz 1587 zuzuzaÈhlendenª privatrechtlichen Angelegenheiten umfasst, orientiert sich der VfGH an der u È blichen Abgrenzung zwischen oÈffentlichem Recht und Privatrecht und zieht die geschichtliche Entwicklung einer Rechtslage, die an ihr beteiligten Personen und die Art der betroffenen Interessen in Betracht. In diesem Sinn wurden dem ¹Kernbereichª zugeordnet: die Entscheidung u È ber die EntschaÈdigung bei Enteignungen oder EigentumsbeschraÈnkungen (VfSlg 13.979/1994), die Entscheidung u È ber den Ersatz von Jagd- und WildschaÈden (VfSlg 11.646/ 1988), die Schlichtung von Streitigkeiten u È ber eine Vertragsauslegung durch eine Schiedskommission nach dem ASVG (VfSlg 13.946/1994), die Entscheidung u È ber Pflegegebu È hrenersaÈtze (VfSlg 12.470/1990), die Zustimmung zur Ku È ndigung eines behinderten Arbeitnehmers durch den Behindertenausschuss (VfSlg 12.933/1991). Nicht zum ¹Kernbereichª gehoÈren dagegen die Entscheidung u È ber die Enteignung oder EigentumsbeschraÈnkung selbst (VfSlg 11.760/ 1988), die Erteilung einer Baubewilligung (VfSlg 11.500/1987), die Bewilligung eines Straûenbaus (VfSlg 11.645/1988), die Untersagung einer gewerblichen BetaÈtigung (VfSlg 12.384/ 1990), der Entzug einer Apothekenkonzession (VfSlg 11.937/1988), die Zuerkennung von Pensionen (VfSlg 14.210/1995) und andere Streitigkeiten aus einem oÈffentlich-rechtlichen DienstverhaÈltnis (VfSlg 17.644/2005; VfGH 6.12.2007, B 639/07).
53.2.3. Der Anspruch auf eine Entscheidung durch ein unabhaÈngiges und unparteiisches Gericht 1. FaÈllt eine Angelegenheit in den vorstehend umschriebenen Anwendungsbereich 1588 des Art 6 EMRK, dann hat der Einzelne einen Anspruch auf eine Entscheidung durch ein unabhaÈngiges und unparteiisches, auf dem Gesetz beruhendes Gericht (independent and impartial tribunal). Weil der Konvention ein materieller Begriff des Gerichts zu Grunde liegt, der nicht notwendigerweise mit dem Gerichtsbegriff einer bestimmten nationalen Rechtsordnung deckungsgleich sein muss, hat sich der Begriff des ¹Tribunalsª eingebu È rgert. In diesem Sinn gewaÈhrt Art 6 EMRK einen Anspruch auf Zugang zu einem Tribunal und auf eine Entscheidung durch ein Tribunal unter Wahrung der in Art 6 EMRK enthaltenen Organisations- und Verfahrensgarantien. Auch unabhaÈngige VerwaltungsbehoÈrden koÈnnen unter gewissen Voraussetzungen die QualitaÈt eines Tribunals aufweisen. BeschraÈnkungen des Zugangs zu einem Gericht sind zulaÈssig, sofern sie verhaÈltnismaÈûig sind und nicht den Kern dieses Rechts verletzen; das gilt auch fu È r Gerichtsgebu È hren, die È JZ dann gegen Art 6 EMRK verstoûen, wenn sie unverhaÈltnismaÈûig sind (EGMR, Kreuz, O 2002, 693). Die geforderte gerichtsfo È rmliche Entscheidung muss nicht in allen Instanzen gegeben sein; ausreichend ist, wenn zumindest in letzter Instanz ein Tribunal entscheidet, so dass der Entscheidung durch ein Tribunal allenfalls auch ein Administrativverfahren vor VerwaltungsbehoÈrden vorgeschaltet sein kann. Bei strafrechtlichen Verurteilungen ordnet Art 2 des 7. ZProtEMRK allerdings ein zweistufiges gerichtliches Verfahren an: Wer von einem Gericht wegen einer strafbaren Handlung verurteilt ist, hat das Recht das Urteil von einem u È bergeordneten Gericht nachpru È fen zu lassen. Die naÈhere Ausu È bung dieses Rechts auf eine Berufung richtet sich nach dem Gesetz. Ausnahmen sind zulaÈssig bei strafbaren Handlungen geringfu È giger Art, ferner wenn ein oberstes Gericht in erster Instanz entschieden hat oder fu Èr den Fall einer Verurteilung nach einem gegen einen Freispruch eingelegten Rechtsmittel.
2. Ein Gericht (Tribunal) iS von Art 6 EMRK muss auf Gesetz beruhen, unabhaÈngig und unparteiisch sein und eine volle Jurisdiktionsgewalt besitzen, dh eine umfasÈ berpru sende U È fung der aufgeworfenen Sachverhalts- und Rechtsfragen gewaÈhrleisten.
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1589 a) Nur ein tatsaÈchlich unabhaÈngiges und unparteiisches Organ kann den Erfordernissen
des Art 6 EMRK entsprechen. Die UnabhaÈngigkeit muss gegenu È ber den anderen Staatsgewalten (Parlament, Regierung, Verwaltung) und gegenu È ber den Parteien des Verfahrens bestehen. Mit ihr sind personelle Verflechtungen mit der Exekutive oder die Unterstellung unter eine Weisungsgewalt unvereinbar; daher muss einem Tribunal Weisungsfreiheit garantiert sein und du È rfen seine Entscheidungen nicht Gegenstand einer Aufhebung durch Verwaltungsorgane sein. Zur GewaÈhrleistung der UnabhaÈngigkeit mu È ssen die Mitglieder eines Tribunals eine feste Amtsperiode haben und du È rfen waÈhrend ihrer Amtsdauer nur ausnahmsweise und in einem geordneten Verfahren ihres Amtes enthoben werden. Bei der Beurteilung der UnabhaÈngigkeit zieht der EGMR nicht nur die objektiven Gegebenheiten heran, sondern ± dem englischen Rechtssprichwort ¹Justice must not only be done, it must also be seen to be doneª entsprechend ± auch den aÈuûeren Anschein: Mu È ssen die Parteien des Verfahrens den Eindruck haben, einem nicht wirklich unabhaÈngigen richterlichen Organ gegenu È rper È berzustehen, kann der Spruchko nicht als ein unabhaÈngiges Tribunal angesehen werden.
1590 b) Um den Anforderungen des Art 6 EMRK zu entsprechen muss dem Tribunal auûerdem eine
È berpru umfassende Kognitionsbefugnis zukommen, die eine volle und wirksame U È fung sowohl des Sachverhalts wie der Rechtsfragen erlaubt. Das Tribunal muss nicht zwingend selbst in der Sache entscheiden. Eine nur kassatorische Entscheidungskompetenz eines in hoÈherer Instanz entscheidenden Tribunals kann mit Art 6 EMRK vereinbar sein, wenn diesem eine unbeschraÈnkte Sachverhaltspru È fung moÈglich ist (EGMR, Zumtobel, JBl 1994, 396).
1591 3. Tribunale iS von Art 6 EMRK sind jedenfalls die ordentlichen Gerichte gemaÈû È rdem formal-organisatorischen Gerichtsbegriff des B-VG. Soweit Verwaltungsbeho den u È ber zivilrechtliche Anspru È che und Verpflichtungen oder strafrechtliche Anklagen entscheiden, mu È ssen sie entweder selbst Tribunale sein oder mu È ssen ihre Entscheidungen vor einem Tribunal angefochten werden koÈnnen. VerwaltungsbehoÈrÈ rden mit den mit TribunalqualitaÈt sind die UVS; ferner koÈnnen Kollegialbeho richterlichem Einschlag iS von Art 20 Abs 2 Z 3 und Art 133 Z 4 B-VG Tribunale sein, dies freilich nur dann, wenn sie gesetzlich so organisiert sind, dass sie den dargelegten Anforderungen an ihre UnabhaÈngigkeit und Unparteilichkeit entsprechen und diese auch im konkreten Einzelfall auûer Zweifel stehen. Das erfordert eine der Sicherung der UnabhaÈngigkeit dienende feste Amtsperiode, wobei sich EGMR und VfGH mit verhaÈltnismaÈûig kurzen Bestellungsfristen (3 Jahre) begnu È gen (EGMR, Sramek, EuGRZ 1985, 336; VfSlg 10.639/1985, 10.800, 11.124/1986). Ferner muss die BehoÈrde derart zusammengesetzt sein, dass keine berechtigten Zweifel an der UnabhaÈngigkeit ihrer Mitglieder entstehen; bei dieser Beurteilung stellt auch der VfGH auf den Èauûeren Anschein ab (so genannte ¹Anscheinsparteilichkeitª; vgl VfSlg 11.131/1986, 12.074/1989, 15.810/2000). 1592 a) Personelle Verflechtungen mit und AbhaÈngigkeiten von der Exekutive, wie im Fall Sramek die Mitwirkung eines Verwaltungsbeamten in der LandesgrundverkehrsbehoÈrde, der dem Landesgrundverkehrsreferenten und damit einer Partei des Verfahrens dienstlich untergeordnet war, verstoûen daher gegen Art 6 EMRK (VfSlg 10.634, 10.639/1985). Gleiches gilt, wenn ein Mitglied eines Tribunals u È ber die RechtmaÈûigkeit eines Genehmigungsaktes zu befinden hat, an dem es selbst mitgewirkt hat (VfSlg 13.553/1993), wenn ein Mitglied eines Tribunals gleichzeitig Vertreter einer Prozesspartei ist (VfSlg 12.470/1990) oder wenn ein Mitglied eines Tribunals gleichzeitig als SachverstaÈndiger in Erscheinung tritt (VfSlg 16.827/2003). Eine ¹Anscheinsparteilichkeitª liegt auch vor, wenn ein Beisitzer in einer Landesberufungskommission nach dem ASVG entscheidet, der an der Beschlussfassung u È ber die zu beurteilende VerÈ brigen hat der VfGH an der Mitwirkung einbarung mitgewirkt hat (VfSlg 15.981/2000). Im U entsandter Interessenvertreter oder von ansonsten weisungsgebundenen Beamten in Tribunalen keinen Anstoû unter dem Gesichtspunkt der Unparteilichkeit genommen (VfSlg 13.895/ 1994). Nach EGMR, Thaler, NL 2005, 21 verstoÈût allerdings die Mitwirkung von FunktionaÈren dann gegen Art 6 EMRK, wenn sie von jener KoÈrperschaft entsandt wurden, die den vor dem Tribunal angefochtenen Gesamtvertrag abgeschlossen hatte.
1593 b) In diesem Sinn hat der VfGH etwa die TribunalqualitaÈt von LandesgrundverkehrsbehoÈr-
den (zB VfSlg 13.709/1994), der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission fu È r Rechtsan-
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waÈlte (VfSlg 13.580/1993), von sozialversicherungsrechtlichen Schiedskommissionen (VfSlg 12.470/1990), von Schlichtungsstellen nach dem ArbeitsverfassungsG (VfSlg 15.177/1998) und von Vergabekontrollkommissionen (VfSlg 14.499/1996) anerkannt. c) Auch die UVS sind Tribunale, die grundsaÈtzlich die durch Art 6 EMRK geforderte Entschei- 1594 dung durch ein unabhaÈngiges und unparteiisches Gericht gewaÈhrleisten (EGMR, Baischer, È JZ 2002, 394). Vor allem im Hinblick auf den Einfluss, welcher der Exekutive bei der BestelO lung bzw Wiederbestellung der nur fu È r eine zeitlich begrenzte Funktionsperiode bestellten Mitglieder der UVS zukommt, wurde allerdings die tatsaÈchliche UnabhaÈngigkeit der Senatsmitglieder angezweifelt. Jedenfalls muss auch im Einzelfall jeder Anschein einer Befangenheit ausgeschlossen sein. Nach Ansicht des VfGH kann die TaÈtigkeit eines fru È heren Polizeijuristen oder sonstigen Verwaltungsbeamten bei einem UVS, der nach Ablauf seiner Ernennungsdauer wieder in die Dienste jener BehoÈrde zuru È ckkehren wird, deren Rechtsakte er zuvor als UVS-Mitglied zu u È berpru È fen hatte, gegen die durch Art 6 EMRK geforderte UnabhaÈngigkeit und Unparteilichkeit verstoûen (VfSlg 14.939/1997, 17.990/2006).
4. Durch die Einrichtung der UVS als BerufungsbehoÈrden in Verfahren wegen Ver- 1595 waltungsu È bertretungen (Art 129a Abs 1 Z 1 B-VG) wird den Erfordernissen des Art 6 EMRK fu È r den Bereich des Verwaltungsstrafrechts grundsaÈtzlich Rechnung getragen. Freilich muss auch das Verfahren vor den UVS den in dieser Bestimmung verankerten Garantien Rechnung tragen, weil der zu Art 5 EMRK abgegebene Vorbehalt im Licht der Straûburger Judikatur praktisch bedeutungslos ist. Bei sonstigen Entscheidungen strafrechtlicher Natur (zB bei der VerhaÈngung schwerer Disziplinarstrafen) muss das entscheidende Organ als Tribunal eingerichtet sein. Die nachpru È fende Kontrolle durch den VwGH reicht in solchen FaÈllen keinesfalls aus (vgl zB VfSlg 11.933/1988, 12.162/1989). 5. Soweit weisungsgebundene VerwaltungsbehoÈrden u È - 1596 È ber zivilrechtliche Anspru che und Verpflichtungen iS von Art 6 EMRK entscheiden, muss diese Entscheidung bei einem mit umfassender EntscheidungszustaÈndigkeit ausgestatteten Tribunal angefochten werden koÈnnen. Das kann, wie in den FaÈllen des sukzessiven Instanzenzuges, ein ordentliches Gericht sein (vgl zB § 117 Abs 4 WRG); der Gesetzgeber kann auch eine ZustaÈndigkeit der UVS nach Art 129a Abs 1 Z 3 B-VG oder einer sonstigen unabhaÈngigen VerwaltungsbehoÈrde mit TribunalqualitaÈt begru È nden (vgl zB die Schiedskommissionen nach ASVG). Die Anrufung eines Tribunals im dargelegten Sinn muss nach der Judikatur des VfGH jedenfalls immer dann moÈglich sein, wenn der geltend gemachte Anspruch dem Kernbereich der civil rights zugehoÈrt, weil dann die nachpru È fende Kontrolle durch den VfGH und VwGH keinesfalls ausreicht (vgl oben Rz 1586 f). KoÈnnen gegen eine Entscheidung einer VerwaltungsbehoÈrde nur der VwGH und 1597 der VfGH angerufen werden, stellt sich die Frage, ob damit den Erfordernissen des Art 6 EMRK entsprochen wird. Fu È r den VfGH ist dies im Prinzip zu verneinen, weil der Gerichtshof nur die VerfassungsmaÈûigkeit von Bescheiden u È berpru È ft. Beim VwGH ist die geforderte umfassende Kognitionsbefugnis problematisch, weil dieses Gericht nach § 41 VwGG einen angefochtenen Bescheid nur auf Grund des von der BehoÈrde angenommenen Sachverhalts pru È fen kann; daran Èandern auch die begrenzten MoÈglichkeiten zur gerichtlichen Kontrolle der verwaltungsbehoÈrdlichen Sachverhaltsermittlung (§ 42 Abs 2 Z 3 VwGG) nur wenig. Auf der Grundlage der Judikatur des VfGH ist diese Frage freilich insoweit bedeutungslos, weil 1598 auûerhalb des Kernbereichs der civil rights die nachpru È fende Kontrolle des VwGH jedenfalls ausreicht und eine Entscheidung durch ein Tribunal gar nicht gefordert ist (vgl oben Rz 1586). Fu È r den EGMR fallen dagegen auch die Angelegenheiten des ¹Randbereichsª in den Geltungsbereich des Art 6 EMRK (zB Entscheidungen u È ber Baubewilligungen oder Nachbarrechte, Enteignungsmaûnahmen, der Entzug von Gewerbeberechtigungen usw). Ob in solchen FaÈllen die verwaltungsgerichtliche Kontrolle den Erfordernissen des Art 6 EMRK genu È gt, hat der EGMR bislang noch nicht grundsaÈtzlich entschieden. Er hat vielmehr jeweils nur im Einzelfall
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erwogen, ob der VwGH die maûgeblichen Rechts- und Sachfragen eines Falles ausreichend gepru È ft hat, und hat die Kognitionsbefugnis des VwGH in diesen FaÈllen jeweils fu È r ausreichend È JZ 1993, 782; EGMR, Ortenberg, O È JZ 1995, 225; EGMR, Fischer, befunden (EGMR, Zumtobel, O È JZ 1995, 633). Auf Dauer wird sich eine grundlegende Reform des Systems der VerwaltungsO rechtspflege allerdings nicht vermeiden lassen, wobei nach dem derzeitigen Stand der Dinge die Einrichtung von Landesverwaltungsgerichten am ehesten die Chance bietet, den von der EMRK vorgegebenen MaûstaÈben zu entsprechen (vgl zu den ReformerwaÈgungen Rz 916).
È ffentlichkeit des Verfahrens 53.2.4. Die O 1599 Zur Sicherung einer demokratischen Kontrolle der Justiz gibt Art 6 Abs 1 EMRK eiÈ ffentlichen mu nen Anspruch auf Durchfu È hrung einer o È ndlichen Verhandlung È ffentliche vor dem u È ber die Tat- und Rechtsfrage entscheidenden Gericht und auf o È ffentlichkeit ist nur aus bestimmVerku È ndigung des Urteils. Ein Ausschluss der O ten Gru È nden (Interesse der Sittlichkeit, der oÈffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit, Interesse von Jugendlichen oder des Schutzes des Privatlebens von Prozessbeteiligten, BeeintraÈchtigung der Interessen der Rechtspflege) zulaÈssig. È ffentlichkeitsgebots mehrfach eingeschraÈnkt: Zu1600 a) Der EGMR hat die Reichweite des O
mindest im zivilrechtlichen Verfahren kann der Betroffene jederzeit auf die oÈffentliche Verhandlung verzichten (EGMR, HaÊkansson und Sturesson, EuGRZ 1992, 5); von einem Verzicht ist auch auszugehen, wenn ein vorgesehener Antrag auf Durchfu È hrung einer mu È ndlichen VerÈ JZ 1997, 836). Im Strafverfahren ist ein stillhandlung nicht gestellt wird (EGMR, Pauger, O schweigender Verzicht nicht moÈglich. Wenn in erster Instanz eine mu È ndliche Verhandlung durchgefu È hrt wurde, kann sie in hoÈherer Instanz unter bestimmten UmstaÈnden (zB unstrittiger È JZ 1996, 430; EGMR, Weh, O È JZ Sachverhalt, keine StrafverschaÈrfung) entfallen (EGMR, Bulut, O 2002, 736). Bei unstrittigem Sachverhalt und im Zuge eines Verfahrens, in dem es ausschlieûlich um Rechtsfragen oder um nur technische Fragen geht, kann die mu È ndliche Verhandlung È JZ 2003, 117; EGMR, Schelling, O È JZ 2006, 472). Im Hinblick ebenfalls entfallen (EGMR, Speil, O auf die oÈffentliche Urteilsverku È ndigung begnu È gt sich der EGMR mit der Hinterlegung der Entscheidung von Rechtsmittelinstanzen in der Gerichtskanzlei zur Einsichtnahme (EGMR, Pretto, EuGRZ 1985, 548).
È sterreich hat zu Art 6 EMRK den Vorbehalt abgegeben, dass die in Art 90 B-VG festgeleg1601 b) O
È ffentlichkeit im gerichtlichen Verfahren durch diese Bestimmung in ten GrundsaÈtze u È ber die O keiner Weise beeintraÈchtigt werden. Dieser Vorbehalt ist allerdings gemaÈû Art 57 EMRK unÈ JZ 2001, 194). Daher sieht § 39 Abs 2 Z 6 VwGG vor, dass der gu È ltig (EGMR, Eisenstecken, O VwGH nur dann von einer mu È ndlichen Verhandlung absehen darf, wenn dem Art 6 EMRK nicht entgegen steht (vgl Rz 972). Soweit im Hinblick auf die eingeschraÈnkte Kognitionsbefugnis des VwGH bereits das der Entscheidung vorgeschaltete Verfahren vor einem Tribunal (UVS, Art 133 Z 4-BehoÈrde) dem Art 6 EMRK entsprechen muss (Verwaltungsstrafverfahren, È ffentlichkeitsgebot Entscheidungen u È ber den Kernbereich von civil rights), ist auch hier das O zu beachten (vgl VfSlg 16.402/2001, 16.624/2002). Wird der VfGH als Tribunal nach Art 6 EMRK taÈtig, kann auch ihn eine Verpflichtung zur Durchfu È hrung einer mu È ndlichen Verhandlung treffen. Im Verfahren der ordentlichen Gerichte in Zivil- und Strafrechtssachen ist das È ffentlichkeitsgebot unmittelbar anwendbar und von den Gerichten zu beachten. O
53.2.5. Die angemessene Verfahrensdauer 1602 Die in Art 6 EMRK garantierte gerichtliche Entscheidung muss innerhalb einer angemessenen Frist ergehen. Der Staat ist verpflichtet, bei der Ausgestaltung seines Gerichtswesens das Gebot der angemessenen Verfahrensdauer gebu È hrend zu beachten und durch geeignete Vorkehrungen (ausreichendes Personal, verfahrensrechtliche Vorkehrungen) die angemessene Verfahrensdauer sicherzustellen. Eine gegen Art 6 EMRK verstoûende u È berlange Verfahrensdauer ist bei der Strafbemessung oder bei der Entscheidung u È ber die Einstellung eines Strafverfahrens zu beru È cksichtigen (VfSlg 16.550/2002).
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Nach der kasuistischen Judikatur der Straûburger Instanzen richtet sich die Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer nach den UmstaÈnden des Einzelfalles. Maûgebliche Kriterien sind: die Bedeutung der Sache fu È r den Beschwerdefu È hrer, die KomplexitaÈt des Falles, eine allfaÈllige VerzoÈgerungstaktik der Parteien, die Behandlung des Falles durch die BehoÈrden, die verpflichtet sind den Fall zu È gig voranzutreiben.
53.2.6. Das Recht auf ein faires Verfahren Fu È r jedes von Art 6 EMRK erfasste Verfahren gelten die allgemeinen Verfahrens- 1603 garantien des ersten Absatzes dieser Bestimmung: Der Einzelne hat einen Anspruch darauf, dass die gerichtliche Entscheidung in einem billigen (fairen) und o È ffentlichen Verfahren innerhalb einer angemessenen Frist ergeht. Fu È r strafrechtliche Anklagen garantieren Art 6 Abs 2 und 3 EMRK daru È ber hinaus die Beachtung der Unschuldsvermutung und einen Mindeststandard von Verteidigungsrechten. Im Folgenden werden nur die wesentlichsten VerfahrensgrundsaÈtze angefu È hrt; eine genauere BeschaÈftigung mit diesen GrundsaÈtzen setzt eine gru È ndliche Kenntnis der einschlaÈgigen Verfahrensordnungen voraus, auf die in diesem Rahmen nicht naÈher eingegangen werden kann. 1. Die GrundsaÈtze eines fairen Verfahrens (fair trial) wollen im Prinzip dem Ein- 1604 zelnen die MoÈglichkeit garantieren, dem Gericht seine Sache in einem Verfahren vorzutragen, das die Waffengleichheit der Parteien und die Prinzipien eines ordnungsgemaÈûen Beweisverfahrens gewaÈhrleistet. Bei der Verwirklichung der Verfahrensgarantien respektiert der EGMR einen weiten Ermessensspielraum der nationalen Instanzen. Die wesentlichsten Konkretisierungen des fair trial-Prinzips sind: . das Recht auf persoÈnliche Teilnahme an der Verhandlung; . die GewaÈhrung des Rechts auf GehoÈr; . die Respektierung des Grundsatzes der Waffengleichheit; . die Beachtung der Prinzipien eines ordnungsgemaÈûen Beweisverfahrens; . die ausreichende Begru È ndung von Entscheidungen. a) Der besonders wichtige Grundsatz der Waffengleichheit verlangt die Gleichstellung von 1605 KlaÈger und Beklagtem im Zivilprozess und von Angeklagtem und StrafverfolgungsbehoÈrde bei strafrechtlichen Anklagen und beinhaltet ein Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren (VfSlg 16.560/2002). Die Einfu È hrung einer mu È ndlichen Verhandlung im Berufungsverfahren durch die StPO-Novelle 1962 stellte eine der ersten Anpassungen der o È sterreichischen Rechtslage È nisch erkannte der EGMR auf an die Erfordernisse der EMRK dar. Im o È sterreichischen Fall Bo eine Verletzung des Grundsatzes der Waffengleichheit, weil der SachverstaÈndige der Bundesanstalt fu È r Lebensmitteluntersuchungen, der durch sein Anzeigegutachten das Strafverfahren ausgeloÈst hatte, im Verfahren als Gerichtsexperte und quasi als ¹Zeuge der Anklageª auftrat, der wesentlich mehr Rechte genoss als der von der Verteidigung gestellte Experte (EGMR, BoÈnisch, EuGRZ 1986, 127; VfSlg 10.701/1985). Auch die o È sterreichische Verfahrenspraxis im Zusammenhang mit dem so genannten ¹Croquisª ± einer Stellungnahme der Staatsanwaltschaft zu der von einem Angeklagten eingelegten Berufung, u È ber die dieser nicht informiert wurde È JZ 1996, 430). Die Waffengleichheit im ± widersprach der Konvention (vgl zB EGMR, Bulut, O Zivilprozess wird dagegen durch die einseitige Auferlegung der Kostenersatzpflicht auf eine wirtschaftlich staÈrkere Partei (Enteignungswerber) nicht verletzt (VfSlg 14.610/1996). b) Die naÈhere Ausgestaltung des Beweisverfahrens obliegt zwar grundsaÈtzlich den nationa- 1606 len Instanzen; trotzdem lassen sich aus den Prinzipien eines fairen Verfahrens bestimmte verbindliche Direktiven fu È r die Aufnahme und Verwertung von Beweisen ableiten. Fu È r das Strafverfahren begru È ndet Art 6 Abs 3 lit d EMRK das Recht des Angeklagten, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen und die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter densel-
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ben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken. Die Beweisaufnahme hat kontradiktorisch zu erfolgen. GrundsaÈtzlich sind daher alle Beweise in Gegenwart des Angeklagten zu erheben; ist das nicht moÈglich, darf die Verurteilung zumindest nicht ausschlieûlich auf fru Èheren Zeugenaussagen oder Polizeiprotokollen beruhen. Rechtswidrig erlangte Beweismittel sind nach der Judikatur der Straûburger Instanzen nicht generell ausgeschlossen. Sie du È rfen aber dann nicht verwertet werden, wenn dadurch der faire Prozess beeintraÈchtigt wird. Die Beweislast darf nicht auf den Beschuldigten verlagert werden, und zwar auch nicht dadurch, dass sein Schweigen zu seinen Lasten ausgelegt wird, wenn nicht besondere UmstaÈnde vorlieÈ JZ gen, die es erlauben aus dem Schweigen bestimmte Schlu È sse zu ziehen (EGMR, Telfner, O 2001, 613).
1607 2. Im Zentrum der besonderen Verteidigungsrechte des Art 6 Abs 3 EMRK, die einen (nicht abschlieûenden) rechtsstaatlichen Mindeststandard fu È r das Strafverfahren umschreiben, steht das Recht des Angeklagten auf eine wirksame Verteidigung. Zu diesem Zweck ist er in moÈglichst kurzer Frist u È ber die gegen ihn erhobene Beschuldigung in Kenntnis zu setzen und ist ihm ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu geben (lit a und b). Die persoÈnliche Teilnahme des Angeklagten an der Verhandlung ist ein wesentlicher Ausfluss des Rechts auf ein faires Verfahren; mit ihm kann freilich ein kurzfristiger Ausschluss von der Verhandlung vereinbar sein, vorausgesetzt dass der Verteidiger die Rechte des Angeklagten wahren kann. Im Rechtsmittelverfahren ist die persoÈnliche Anwesenheit vor allem erforderlich, wenn es zu einer reformatio in peius fu È hren kann oder der persoÈnliche Eindruck fu È r die zu entscheidenden Fragen wesentlich ist. Der Anspruch auf Verteidigung durch einen Anwalt (lit c) gilt grundsaÈtzlich auch schon fu È r das Vorverfahren. In einer Situation, in der die Verteidigungsrechte in einer irreversiblen Weise beeintraÈchtigt werden koÈnnen, verletzt die Verweigerung der Kontaktaufnahme mit einem Anwalt auch È JZ schon waÈhrend der ersten polizeilichen Vernehmungen Art 6 EMRK (EGMR, Murray, O 1996, 627). GespraÈche mit dem Verteidiger du È rfen grundsaÈtzlich nicht u È berwacht werden. Das Entschlagungsrecht des Verteidigers darf auch nicht dadurch umgangen werden, dass jene Unterlagen beschlagnahmt werden, die der Beschuldigte dem Verteidiger ausgehaÈndigt hat (VfSlg 10.291/1984). Bei Mittellosigkeit des Angeklagten ist diesem ein Pflichtverteidiger unentgeltlich beizugeben, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist (lit c). Das Recht zur Befragung von Belastungszeugen und zur Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen (lit d) wurde schon erwaÈhnt. Der Anspruch auf unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers (lit e) ist nicht auf die FaÈlle der Mittellosigkeit beschraÈnkt.
1608 3. Erstreckt sich die Wirkung einer gerichtlichen Entscheidung auf die RechtssphaÈre von Personen, die an ihr nicht in einer gesicherten Verfahrensposition zur Wahrung des rechtlichen GehoÈrs mitwirken konnten, kann Art 6 EMRK verletzt sein. Dies kann vor allem im Zusammenhang mit der Bindungswirkung eines Urteils oder der Rechtskrafterstreckung auf Dritte problematisch sein. Daher hat der VfGH die durch § 268 ZPO angeordnete Bindung des Richters im Zivilprozess an ein rechtskraÈftiges verurteilendes Erkenntnis eines Strafgerichts als verfassungswidrig aufgehoben; der Anspruch auf Geho È r wird nach dieser Entscheidung verletzt, wenn der Betroffene den Beweis und die Zurechnung einer fu È r die Entscheidung u È ber seine Anspru È che und Verpflichtungen wesentlichen Handlung im zivilrechtlichen Verfahren nicht mehr in Frage stellen kann, weil das Gericht an die Entscheidung im strafgerichtlichen Verfahren gebunden ist, zu welchem er aus rechtlichen oder tatsaÈchlichen Gru È nden keinen Zugang hatte (VfSlg 12.504/1990). Die naÈhere Abgrenzung der nach der Aufhebung des § 268 ZPO weiter bestehenden Bindungswirkung auf Grund der materiellen Rechtskraft eines verurteilenden Erkenntnisses hat den OGH mehrfach beschaÈftigt (vgl zB OGH 17.10.1995, verst Sen 1 Ob 612/95, EvBl 1996/34 ua). Das Recht auf Geho È r kann auch durch die Bindung eines als unÈ rde eingerichteten Tribunals verletzt sein, wenn dieses abhaÈngige Verwaltungsbeho u È ber zivilrechtliche Anspru È che entscheidet und dabei die Bindung an einen Bescheid einer VerwaltungsbehoÈrde annimmt, bei dessen Erlassung die Partei, u È ber deren Rechte im Verfahren vor dem Tribunal entschieden wird, keine Parteistellung hatte (VfSlg 14.145/1995). Wenn u È ber die sozialversicherungsrechtliche Anrechnung von Kindererziehungszeiten gestu È tzt auf ein Verfahren entschieden wird, an dem der Betroffene nicht mitwirken konnte, verstoÈût das ebenfalls gegen Art 6 EMRK (VfSlg 16.663/2002).
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53.2.7. Die Unschuldsvermutung Art 6 Abs 2 EMRK verankert mit der Unschuldsvermutung ein in allen Rechtsstaa- 1609 ten anerkanntes Prinzip, das nach Ansicht des VfGH auch ein ¹die gesamte oÈsterreichische Rechtsordnung beherrschender Grundsatzª ist (VfSlg 11.062/1986). Diese Garantie gilt fu È r alle strafrechtlichen Anklagen iS von Art 6 EMRK, daher auch fu Èr das Verwaltungsstrafrecht. Die Unschuldsvermutung verpflichtet den u È ber die Anklage entscheidenden Richter (Verwaltungsbeamten) dazu, bis zum gesetzlichen Schuldnachweis von der Unschuld des Angeklagten auszugehen; er muss diesem Gelegenheit geben seine Unschuld unter Beweis zu stellen. Die Beweislast liegt bei der BehoÈrde, die den Nachweis eines schuldhaften strafbaren Verhaltens in der gesetzlich vorgesehenen Weise zu erbringen hat. Daru È ber hinaus sind auch andere staatliche Organe (Staatsanwaltschaft, Polizei, Regierungen) an die Unschuldsvermutung gebunden; auch eine von keinem verurteilenden Erkenntnis getragene formlose Feststellung, eine Person habe eine strafbare Handlung begangen, ist unzulaÈssig (EGMR, Adolf, EuGRZ 1982, 297; EGMR, Minelli, EuGRZ 1983, 475; EGMR, È JZ 1995, 509). Allenet de Ribemont, O Wenn der gesetzliche Schuldnachweis nicht erbracht wird, ist das Strafverfahren in 1610 foÈrmlicher Weise zu beenden. Wird einem Beschuldigten nach einem Freispruch eine EntschaÈdigung fu È r die Untersuchungshaft nach einer neuerlichen Beweiswu È rdigung mit der Begru È ndung verweigert, dass der urspru È ngliche Verdacht nicht zerÈ JZ 1993, 816; streut sei, verletzt das die Unschuldsvermutung (EGMR, Sekanina, O È JZ 2001, 155). Daher musste das Strafrechtliche EntschaÈdigungsG, EGMR, Rushiti, O das einen EntschaÈdigungsanspruch bei einem Freispruch ¹im Zweifelª ausschloss, an die EMRK angepasst werden (vgl den Nachweis oben Rz 1375). Art 6 Abs 2 EMRK wird auch verletzt, wenn bei der Strafbemessung eine noch nicht rechtskraÈftige Vorstrafe als erschwerender Umstand beru È cksichtigt wird (VfSlg 8483/1979). Die im Hinblick auf die Unschuldsvermutung problematische Regelung u È ber die Ungehorsamsdelikte (§ 5 Abs 1 VStG), nach der ein TaÈter glaubhaft zu machen hat, dass ihn an der Verletzung einer Verwaltungsvorschrift kein Verschulden trifft, ist dagegen verfassungskonform interpretierbar (VfSlg 13.790/1994). 53.2.8. Selbstbelastende Aussagen Ein weiterer Grundsatz eines kontradiktorischen Strafverfahrens ist das Gebot, dass 1611 der Beschuldigte nicht gezwungen werden darf sich selbst zu belasten (so genanntes ¹nemo tenetur-Prinzipª). Weil dieses Prinzip ein zentrales Element eines fairen Verfahrens und zugleich eine Ausformung des Grundsatzes der Waffengleichheit zwischen dem AnklaÈger und dem Beschuldigten ist, folgt es (nach einer freilich nicht ganz unumstrittenen Auffassung) aus den Garantien des Art 6 EMRK. Der VfGH leitet das gleiche Verbot aus dem in Art 90 Abs 2 B-VG verankerten Grundsatz des Anklageprozesses ab: Art 90 Abs 2 B-VG verankert fu È r das gerichtliche Strafverfahren den Anklageprozess, dh die Trennung der Funktion des AnklaÈgers von der des Richters. Der VfGH geht u È ber den Wortlaut dieser Bestimmung hinaus und entnimmt ihr die Bedeutung, dass der Beschuldigte schlechterdings ¹nicht Objekt des Verfahrens, sondern Subjekt, also Prozesspartei, istª und daher in allen Strafverfahren das verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Recht hat nicht gegen sich selbst Zeugnis ablegen zu mu È ssen (VfSlg 5235/1966, 9950/1984, 10.394/1985). a) Das Verbot eines Zwangs zur Selbstbezichtigung gilt nach dieser Judikatur des VfGH fu È r 1612 alle Strafverfahren, dh auch fu È rmlichen È r Verwaltungsstrafverfahren, und zwar schon vor der fo Verfahrenseinleitung. Es verbietet jeden rechtlichen Zwang zur selbstbelastenden Aussage oder zur Lieferung sonstiger Beweismittel, die gegen den Betreffenden verwendet werden koÈnnen. Das Verbot darf auch nicht dadurch umgangen werden, dass GegenstaÈnde, die dem Zeugnis-
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verweigerungsrecht unterliegen, beschlagnahmt werden (VfSlg 10.291/1984 zur UnzulaÈssigkeit der Beschlagnahme von Unterlagen, die einem Anwalt u È bergeben wurden). Verwaltungsrechtliche Auskunftspflichten sind im Licht des Art 90 Abs 2 B-VG zwar an sich nicht zu beanstanden; es kann aber verfassungswidrig sein, wenn die BehoÈrde eine Auskunft mit der Zielrichtung verlangt sich Informationen u È ber ein strafbares Verhalten eines Auskunftspflichtigen zu verschaffen. Auch sonstige Mitwirkungspflichten (etwa die VerstaÈndigungspflicht nach VerkehrsunfaÈllen) beurteilt der VfGH unter dem Gesichtspunkt ihrer Zielrichtung; sie sind zulaÈssig, wenn sie nicht die Erlangung eines GestaÈndnisses bezwecken (VfSlg 11.549/1987).
1613 b) Von diesen GrundsaÈtzen ausgehend hat der VfGH die Regelung uÈber die so genannte ¹Len-
kerauskunftª, dh die Verpflichtung des Zulassungsbesitzers zur Bekanntgabe des Lenkers, als verfassungswidrig aufgehoben, weil sie auf eine Selbstbezichtigung hinauslaufen kann (VfSlg 9950/1984, 10.394/1985). Die entsprechende Regelung in § 103 Abs 2 letzter Satz KFG ist nun durch eine Verfassungsbestimmung abgesichert. Verfassungswidrig war auch die Verpflichtung des Arbeitgebers eine Auskunft u È ber die IdentitaÈt offensichtlich auslaÈndischer BeschaÈftigter zu geben, weil dadurch die BehoÈrde in die Lage versetzt wurde eine unerlaubte BeschaÈftigung nachzuweisen (VfSlg 15.600/1999).
1614 c) Das Recht des Beschuldigten zu schweigen und keine Beweismittel gegen sich selbst liefern
zu mu È ssen ist in den einschlaÈgigen Prozessordnungen gesichert (§ 7 Abs 2 StPO, § 33 Abs 2 VStG). Problematisch kann die Pflicht zur Zeugenaussage sein, wenn sich der Zeuge durch eine Aussage selbst zu belasten droht; daher raÈumt § 157 Abs 1 Z 1 StPO dem Zeugen ein Aussageverweigerungsrecht bei selbstbelastenden Aussagen ein. Nach zutreffender (aber umstrittener) Ansicht folgt aus dem Verbot der Selbstbezichtigung auch ein Beweisverwertungsverbot, weil dies eine Voraussetzung fu È r eine effektive Wirksamkeit des in Art 6 EMRK bzw Art 90 Abs 2 B-VG gewaÈhrleisteten Grundrechts ist.
53.3. Grundrechtliche Garantien im Strafrecht Rechtsquellen: Art 7 EMRK; Art 3, 4 7. ZProtEMRK; Art 49, 50 EGC. 1615 Die strafrechtlichen Gebote und Verbote ziehen der Freiheit des Einzelnen die in einer menschlichen Gesellschaft notwendigen Grenzen und sie schu È tzen die Rechte È bergriffen. Strafrechtliche Verfolgungsmaûnahmen koÈnnen andedes anderen vor U rerseits massiv in individuelle Rechte eingreifen. Klar abgegrenzte StraftatbestaÈnde sind daher eine Bedingung der menschlichen Freiheit. Art 7 EMRK verankert mit dem Verbot ru È ckwirkender Strafgesetze eine grundlegende Norm des Freiheitsschutzes. Diese rechtsstaatliche Garantie wird durch das Verbot der Doppelbestrafung und den Anspruch auf EntschaÈdigung bei Fehlurteilen ergaÈnzt, die im 7. ZProtEMRK verankert sind. 53.3.1. Das Verbot ru È ckwirkender Strafgesetze 1616 Art 7 EMRK verbietet die Bestrafung wegen einer Tat, die zur Zeit ihrer Begehung nicht strafbar war. Damit werden die elementaren rechtsstaatlichen GrundsaÈtze ¹nulla poena sine legeª und ¹nullum crimen sine legeª verfassungsrechtlich verankert. Das Ru È ckwirkungsverbot gilt fu È r alle strafrechtlichen Anklagen, daher auch fu È r das Verwaltungsstrafrecht und fu È r die unter Art 6 EMRK fallenden Disziplinarverfahren (VfSlg 11.776/1988). UnzulaÈssig ist die Bestrafung wegen einer Tat, die im Tatzeitpunkt nicht strafbar war oder die Auferlegung einer hoÈheren als der zum Tatzeitpunkt angedrohten Strafe. È ber das im Wortlaut angesprochene Ru 1617 a) U È ckwirkungsverbot hinausgehend hat die Judikatur
des VfGH und der Straûburger Instanzen aus Art 7 EMRK ein Klarheitsgebot und ein Analogieverbot abgeleitet. StraftatbestaÈnde mu È ssen so bestimmt sein, dass der Rechtsunterworfene das Unerlaubte eines Handelns vorhersehen kann; dies kann eine restriktive Interpretation von
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StraftatbestaÈnden erzwingen (VfSlg 11.776/1988, 13.012, 13.233/1992). Eine Ausdehnung eines Straftatbestands im Wege der Analogie ist mit Art 7 EMRK unvereinbar. b) Mit Art 7 EMRK vereinbar sind nach Ansicht des VfGH so genannte Blankettstrafnormen, dh eine gesetzestechnische Trennung von Tatbild und Strafdrohung. Eine Bestrafung auf Grund einer solchen Strafnorm ist aber nur zulaÈssig, wenn das strafbare Verhalten vom Normadressaten zweifelsfrei als unerlaubt und strafbar erkannt werden kann (VfSlg 14.319/1995). c) Ausdru È cklich ausgenommen vom Verbot ru È ckwirkender Strafgesetze ist die Verurteilung einer Person, die sich einer Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht hat, welche im Zeitpunkt ihrer Begehung ¹nach den von den zivilisierten VoÈlkern allgemein anerkannten RechtsgrundsaÈtzenª strafbar war (Art 7 Abs 2 EMRK).
53.3.2. Das Verbot der Doppelbestrafung Nach Art 4 des 7. ZProtEMRK darf niemand, der wegen einer strafbaren Handlung 1618 entweder bereits rechtskraÈftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, erneut vor Gericht gestellt oder bestraft werden (Grundsatz des ne bis in idem). Die Wiederaufnahme eines Verfahrens, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere MaÈngel aufweist, wird dadurch nicht ausgeschlossen. Eine Strafverfolgung ist daher unzulaÈssig, wenn die strafbare Handlung bereits Gegenstand eines Strafverfahrens war; dies ist dann der Fall, wenn der herangezogene Deliktstypus den Unrechts- und Schuldgehalt eiÈ pft und ein weiter gehendes Strafbedu nes TaÈterverhaltens vollstaÈndig erscho È rfnis entfaÈllt, weil das eine Delikt den Unrechtsgehalt des anderen Delikts in jeder Beziehung mit umfasst (so genannter Fall einer Scheinkonkurrenz). In einem solchen Fall kommt einer bereits erfolgten Bestrafung oder einem Freispruch eine Sperrwirkung im Hinblick auf andere Strafverfahren zu (UnzulaÈssigkeit entweder eines weiteren gerichtlichen Strafverfahrens oder eines Verwaltungsstrafverfahrens). Eine Bestrafung ist dagegen nicht ausgeschlossen, wenn durch dieselbe Handlung mehrere Delikte verwirklicht wurden (Idealkonkurrenz) (VfSlg 15.824/2000). ZulaÈssig ist auch eine gesonderte disziplinarrechtliche Verurteilung wegen strafrechtlich bereits È rzte), die einer besondegeahndeter Straftaten bei Personen (zB Beamte, AnwaÈlte, A ren Disziplinargewalt unterstehen (VfSlg 15.847/2000). a) Daher darf auch der Gesetzgeber ein bestimmtes Verhalten, das bereits ein wesentlicher Ge- 1619 sichtspunkt eines von den Strafgerichten zu ahndenden Straftatbestands ist, nicht neuerlich È rden unterwerfen. Unter einer Beurteilung und Bewertung durch die Verwaltungsstrafbeho Zugrundelegung dieser Gesichtspunkte wurde eine in der StVO enthaltene Regelung als verfassungswidrig aufgehoben, nach der das Lenken eines Fahrzeugs in einem durch Alkohol beeintraÈchtigten Zustand unter Strafe gestellt wurde, und zwar unabhaÈngig davon, ob die Tat auch nach dem Tatbestand des § 81 Z 2 StGB gerichtlich strafbar war, bei dem das Lenken in einem durch Alkohol beeintraÈchtigten Zustand ebenfalls ein tatbestandliches Qualifikationskriterium ist (VfSlg 14.696/1996). In anderen Fallkonstellationen koÈnnen moÈgliche VerstoÈûe gegen das Verbot der Doppelbestrafung durch eine verfassungskonforme Interpretation ausgeraÈumt werden, vor allem dann, wenn ein Verwaltungsstraftatbestand seine SubsidiaritaÈt gegenu È ber gerichtlichen StraftatbestaÈnden nicht ausdru È cklich ausschlieût (VfSlg 15.128, 15.199/1998). Der Ausschluss eines Rechtsmittels gegen die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens beru È hrt Art 4 des 7. ZProtEMRK und verstoÈût gegen das Rechtsstaatsprinzip (VfSlg 16.245/2001). È sterreich hat zu dieser Bestimmung eine auslegende ErklaÈrung abgegeben, wonach sich 1620 b) O dieser Artikel nur auf Strafverfahren im Sinn der oÈsterreichischen StPO bezieht; weil diese als Vorbehalt zu deutende ErklaÈrung den Anforderungen des Art 57 EMRK nicht entspricht, ist È JZ 1995, 954; VfSlg 14.696/1996). Daher ist das Verbot sie nicht gu È ltig (EGMR, Gradinger, O der Doppelbestrafung auch auf das VerhaÈltnis zwischen Verwaltungsstrafen untereinander und auf das VerhaÈltnis von Verwaltungsstrafen und Justizstrafen anzuwenden. Liegt etwa bereits ein (uU rechtswidriger) Strafbescheid einer Verwaltungsbeho È rde vor, kann ein strafgerichtliches Verfahren wegen derselben Tat erst dann eingeleitet werden, wenn der Strafbescheid aufgehoben wurde.
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53.3.3. Der Anspruch auf EntschaÈdigung bei Fehlurteilen 1621 Nach Art 3 des 7. ZProtEMRK hat derjenige, der wegen einer strafbaren Handlung rechtskraÈftig
verurteilt wurde, einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf eine EntschaÈdigung, wenn das Urteil spaÈter aufgehoben wurde oder der Verurteilte begnadigt wurde, weil ein Fehlurteil vorlag. Fu È r den Bereich des gerichtlichen Strafrechts ist dieser Anspruch nach den Bestimmungen des Strafrechtlichen EntschaÈdigungsG 2005 BGBl I 125 idgF geltend zu machen. Soweit ein EntschaÈdigungsanpruch nicht auf dieses Gesetz gestu È tzt werden kann (etwa fu È r den Bereich des Verwaltungsstrafrechts) ist anzunehmen, dass der Anspruch unmittelbar auf Grund der Verfassung besteht und unter sinngemaÈûer Anwendung des AHG bei den ordentlichen Gerichten einzuklagen ist.
53.4. Das Recht auf eine wirksame Grundrechtsbeschwerde Rechtsquelle: Art 13 EMRK. 1622 Ein wirksamer Grundrechtsschutz setzt voraus, dass dem Einzelnen gegen alle Handlungen oder Unterlassungen, die in seine Grundrechte eingreifen, geeignete RechtsschutzmoÈglichkeiten eroÈffnet werden. Dabei geht die EMRK von einem Vorrang des nationalen Grundrechtsschutzes aus und gibt dem Einzelnen ein subjektives Recht auf eine wirksame Grundrechtsbeschwerde bei einer nationalen Instanz. 53.4.1. Voraussetzungen des Beschwerderechts 1623 Art 13 EMRK garantiert einen Rechtsweg im Hinblick auf die in der Konvention einschlieûlich ihrer Zusatzprotokolle gewaÈhrleisteten Grundfreiheiten und Menschenrechte. Insofern stellt die Bestimmung eine ¹akzessorischeª GewaÈhrleistung und keine allgemeine Rechtsschutzgarantie dar. Ein Rechtsweg muss freilich immer schon dann eroÈffnet sein, wenn die Verletzung eines Grundrechts vertretbarerweise behauptet werden kann (und nicht nur im Fall einer tatsaÈchlichen Verletzung); das Vorliegen einer ¹arguable claimª wird allerdings verhaÈltnismaÈûig streng gepru È ft (EGMR, Klass, EuGRZ 1979, 278; EGMR, Silver, EuGRZ 1984, 147). Auf die Rechtsform des in Beschwerde gezogenen Aktes kommt es grundsaÈtzlich nicht an. Eine wirksame BeschwerdemoÈglichkeit ist gegen jeden Staatsakt zu eroÈffnen, der moÈglicherweise ein Grundrecht verletzen kann, dh etwa auch gegen Akte der Privatwirtschaftsverwaltung oder schlichte Hoheitsakte und auch gegen staatliches Unterlassen. Daher muss auch gegenu È ber einer SaÈumnis von Verwaltungsbeho È rden ein wirksamer Grundrechtsschutz gegeben sein; eine ausschlieûlich auf die behauptete Verletzung verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteter Rechte gestu È tzte SaÈumnisbeschwerde an den VwGH ist daher zulaÈssig, weil der ZulaÈssigkeitsausschluss nach Art 133 Z 1 B-VG insoweit nicht zum Tragen kommt (VfSlg 14.555/1996).
53.4.2. Das garantierte Beschwerderecht È glichkeit vor einer nationa1624 Art 13 EMRK verlangt eine wirksame Beschwerdemo len BehoÈrde. Dies setzt voraus, dass der Einzelne einen Rechtsanspruch auf eine inhaltliche Pru È fung und Entscheidung hat und dass die angerufene Instanz eine wirksame Abhilfe gegen die geltend gemachte Grundrechtsverletzung bieten kann. Die Beschwerdeinstanz muss kein Gericht sein, auch die Anrufung eines anderen Organs (zB Minister, parlamentarischer Ausschuss, Rechtsschutzbeauftragte) kann ausreichen, sofern diese Instanz nicht ¹Richter in eigener Sacheª ist. BeschraÈnken sich die Befugnisse des angerufenen Organs allerdings nur auf die Abgabe von Empfehlungen, wie zB im Fall einer Beschwerde an die Volksanwaltschaft, oder besteht kein Erledigungsanspruch, wie bei bloûen Aufsichtsbeschwerden, wird den Erfordernissen des Art 13 EMRK nicht entsprochen.
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È sterreichischen Recht stellen die ordentlichen und auûerordentlichen Rechtsmittel und 1625 Im o Rechtsbehelfe des Zivil- und Strafrechts, die Rechtsmittel im Verwaltungsverfahren einschlieûlich der gemeinderechtlichen Vorstellung, die Beschwerden an die UVS und an die GerichtshoÈfe des o È ffentlichen Rechts (vgl zB VfSlg 13.708/1994) oder der Individualantrag gegen Gesetze und Verordnungen wirksame Beschwerdemittel iS von Art 13 EMRK dar; auch die Geltendmachung von Amtshaftungsanspru È chen oder von EntschaÈdigungsanspru È chen nach dem Strafrechtlichen EntschaÈdigungsG sowie die MoÈglichkeit zur Einbringung von Subsidiaranklagen nach § 72 StPO sind dazuzurechnen. Gegen behoÈrdliche UntaÈtigkeit und VerfahrensverzoÈgerungen wird der entsprechende Rechtsschutz etwa durch die SaÈumnisbeschwerde an den È JZ 2001, VwGH oder den Fristsetzungsantrag nach § 91 GOG gesichert (EGMR, Holzinger, O 478). Der VfGH leitet die gebotene Wirksamkeit von Rechtsmitteln auch aus dem rechtsstaatlichen Prinzip und dem diesem Prinzip immanenten Grundsatz der ¹Effizienz des Rechtsschutzesª ab (VfSlg 11.196/1986, 13.003/1992, 14.374/1995). AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zum Abschnitt 53: VfSlg 14.390/1995: Zur moÈglichen Verletzung des Art 83 Abs 2 B-VG wegen unterlassener Vorlage beim EuGH. Diese Entscheidung kann auch bei der Beantwortung der Frage weiterhelfen, welche innerstaatlichen BehoÈrden vorlagepflichtig sind (dazu Art 234 EGV), ferner zur KlaÈrung der Frage beitragen, ob der EuGH ein ¹gesetzlicher Richterª ist sowie zu der in diesem Zusammenhang wichtigen ¹acte clairª-Doktrin. VfSlg 11.597/1988, 15.230/1998, 15.365/1999: Einige unterschiedliche FaÈlle zum Recht auf den gesetzlichen Richter. VfSlg 11.500, 11.506/1987: Zwei wichtige Entscheidungen zum VerstaÈndnis des Art 6 EMRK in der Judikatur des VfGH (Kernbereich und Randbereich der civil rights, strafrechtliche Anklagen). VfSlg 14.939/1997: Sind die UVS unabhaÈngige Tribunale? Was hat diese Frage mit der Art der Bestellung der Mitglieder der UVS zu tun? VfSlg 15.810/2000: Darstellung der ju È ngeren Judikatur zu unzulaÈssigen Verflechtungen zwischen einer Verwaltungsbeho È rde und einem Tribunal und dem dadurch hervorgerufenen Anschein der Parteilichkeit. VfSlg 15.600/1999: Ein Beispiel fu È r eine unzulaÈssige Verpflichtung zur Auskunftserteilung, die gegen Art 90 Abs 2 B-VG verstoÈût (Verpflichtung des Arbeitsgebers Auskunft u È ber die IdentitaÈt von offensichtlich auslaÈndischen ArbeitskraÈften zu geben). VfSlg 14.319/1995: Aus Art 7 EMRK folgt auch das Gebot ausreichend bestimmter StraftatbestaÈnde. Vgl den vorliegenden Fall zur VerpackungsVO. VfSlg 14.696/1996: Zu einer verfassungswidrigen, gegen das Verbot der Doppelbestrafung verstoûenden Vorschrift. Vgl andererseits VfSlg 15.821/2000. VfSlg 14.555/1996: Eine wichtige Entscheidung des VfGH, die auf Art 13 EMRK Bezug nimmt, betrifft die ZulaÈssigkeit einer ausschlieûlich auf verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Rechte gestu È tzten SaÈumnisbeschwerde an den VwGH. Zur Vertiefung: Zum Recht auf den gesetzlichen Richter: Berchtold, Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 40 Jahre EMRK. È sterreich Bd 2 (1992) 711. Grund- und Menschenrechte in O Zu Art 6 EMRK: Grabenwarter, Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit (1997); Laurer, Der Grundsatz des fair trial (Art 6 MRK) in den von der Zivilprozessordnung beherrschten Verfahrenssystemen, in: Adamovich-FS (1992) 314; Matscher, Der Einfluss der EMRK auf den Zivilprozess, in: Henckel-FS (1995) 593; R. Novak, Zivilprozess und GewalÈ hlinger, Das Recht auf Parteistellung im Strafvertentrennung, in: Jelinek-FS (2002) 199; O fahren, im Besonderen das Recht, nicht gegen sich selbst aussagen zu mu È ssen, in: MachaÈ sterreich Bd 2 cek/Pahr/Stadler (Hrsg), 40 Jahre EMRK. Grund- und Menschenrechte in O (1992) 767; Schneider, Das Mu È ndlichkeitsgebot im Verfahren vor den UVS und Art 6 MRK, È JZ 2000, 121; Thienel, Anklageprinzip und Zeugnisentschlagungsrecht (1991); ders, Die O angemessene Verfahrensdauer (Art 6 Abs 1 MRK) in der Rechtsprechung der Straûburger È JZ 1993, 473. Organe, O
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Zu den grundrechtlichen Garantien im Strafrecht: Giese, Das Grundrecht des ¹ne bis in idemª, in: Grabenwarter/Thienel (Hrsg), KontinuitaÈt und Wandel der EMRK (1998) 97; Lewisch, Verfassung und Strafrecht (1993); Thienel/Hauenschild, Verfassungsrechtliches ¹ne bis in idemª und seine Auswirkung auf das VerhaÈltnis von Justiz- und Verwaltungsstrafverfahren, JBl 2004, 69 und 153. Zum Recht auf eine wirksame Beschwerde: Bernegger, Das Recht auf eine wirksame Beschwerde ± Art. 13 EMRK, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 40 Jahre EMRK. GrundÈ sterreich Bd 2 (1992) 733; Holoubek, Das Recht auf eine wirkund Menschenrechte in O same Beschwerde bei einer nationalen Instanz, JBl 1992, 137.
54. Gleichheitsrechte 54.1. Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz Rechtsquellen: Art 7 B-VG; Art 2 StGG; Art 66 Abs 1 und 2 StV St. Germain; Art 20, 21 EGC. 1626 1. WaÈhrend die bisher behandelten Grundrechte in erster Linie die menschliche Freiheit gewaÈhrleisten, dru È ckt sich im Gleichheitsgrundsatz die zweite Stoûrichtung der Menschenrechtsidee aus: die Verbu È rgung des Prinzips der Gleichbehandlung der Menschen. Dieser Anspruch findet in dem Satz, dass vor dem Gesetz alle Menschen bzw alle Bu È rger gleich sind, seinen klassischen Ausdruck. In der Praxis des VfGH kam dem Gleichheitssatz lange Zeit eine alle anderen Grundrechte u È berragende Bedeutung zu und auch noch heute ist er der praktisch wichtigste Maûstab fu È r die Beurteilung der VerfassungsmaÈûigkeit von Gesetzen. 1627 a) Historisch richtete sich der Gleichheitsgrundsatz in erster Linie gegen die Privilegien der Èal-
teren staÈndischen Gesellschaftsordnung und zielte auf den Abbau jener Benachteiligungen, die mit bestimmten u È berkommenen Gegebenheiten des ¹ancien reÂgimeª verbunden waren. Vor allem die Herkunft eines Menschen, seine Zugeho È rigkeit zu einer bestimmten Klasse oder Religion oder sein Geschlecht sollten ku È nftig weder ein Grund fu È r Vorrechte noch fu È r Benachteiligungen sein. Freilich verstand man im 19. Jahrhundert unter Gleichheit immer nur eine Rechtsanwendungsgleichheit, dh die gleichmaÈûige und willku È rfreie Vollziehung des geltenden Rechts (Gleichheit ¹vor dem Gesetzª). Dass auch die Gesetze dem Gleichheitsgebot entsprechen mu È ssen und rechtliche Gleichheit daher nicht nur ¹vorª dem Gesetz, sondern auch ¹durchª das Gesetz und ¹imª Gesetz zu gewaÈhrleisten ist, war zwar vereinzelt in der Theorie anerkannt worden, konnte aber mangels einer Kompetenz zur gerichtsfo È rmigen Normenkontrolle im 19. Jahrhundert nicht aktuell werden. È berpru Nachdem das B-VG dem VfGH die Kompetenz zur U È fung der VerfassungsmaÈûigkeit von Gesetzen gegeben hatte und der Gleichheitsgrundsatz auch in das B-VG aufgenommen worden war (Art 7 B-VG), anerkannte der Gerichtshof sehr bald den Umstand, dass auch Gesetze am Maûstab der grundrechtlichen Gleichheit gemessen werden koÈnnen (VfSlg 1451/1932). Damit war eine Weichenstellung von nicht zu unterschaÈtzender Tragweite erfolgt; praktisch wirksam wurde die Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz freilich erst in der 2. Republik.
1628 b) Der Gleichheitsgrundsatz verbuÈrgt grundsaÈtzlich Rechtsgleichheit. Durch juÈngere Verfas-
sungsnovellen wurden allerdings auch Gebote zur Realisierung einer faktischen Gleichheit in den Zusammenhang des allgemeinen Gleichheitssatzes aufgenommen, und zwar in der Form von Geboten zur FoÈrderung der tatsaÈchlichen Chancengleichheit Behinderter und der Gleichheit von Frauen (Art 7 Abs 1 und Abs 2 B-VG idF der Verfassungsnovellen BGBl I 1997/87 und BGBl I 1998/68).
1629 2. Im EU-Recht gibt es zunaÈchst ein umfassendes Verbot der Diskriminierung È rigkeit im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts nach der Staatsangeho (Art 12 Abs 1 EGV). Daneben ist aber auch der allgemeine Gleichheitsgrundsatz
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als ein gemeinschaftsrechtlich geltendes Grundrecht anerkannt. Auf ihn bezieht sich auch die EGC, welche die klassische Formulierung des Gleichheitssatzes aufnimmt (Art 20 EGC) und sie mit spezifischen Diskriminierungsverboten ergaÈnzt (Art 21 EGC). Art 23 EGC spricht gesondert das Gebot zur Herstellung der Gleichheit von MaÈnnern und Frauen an. Nach der Rspr des EuGH verbietet der Gleichheitssatz jede Form der Ungleichbehandlung, wenn diese nicht objektiv gerechtfertigt ist (zB È berschaÈr, Rs 810/79, Slg 1980, 2747). EuGH, U Die Rechtsentwicklung im Bereich von Anti-Diskriminierungsmaûnahmen wurde in den 1630 letzten Jahren ganz wesentlich durch mehrere Richtlinien der EG gepraÈgt, die sich auf Art 13 EGV stu È tzen. Dabei handelt es sich um die folgenden RL: . RL 2000/43/EG, die sich gegen rassische oder ethnische Diskriminierung wendet (Anti-RassismusRL); diese RL betrifft nahezu alle sozialen Lebensbereiche; . RL 2000/78/EG, welche die Gleichbehandlung in BeschaÈftigung und Beruf anstrebt und Diskriminierungen auf Grund der Religion, der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung verbietet (Rahmen-GleichbehandlungsRL); diese RL ist auf die Arbeitsbedingungen in einem weiteren Sinn beschraÈnkt; . RL 2006/54/EG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von MaÈnnern und Frauen in Arbeits- und BeschaÈftigungsfragen (Neufassung); . RL 2004/113/EG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von MaÈnnern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gu È tern und Dienstleistungen; sie gilt fu È r die Bereitstellung bestimmter Gu È ter und Dienstleistungen (zB Versicherungen, Wohnungen) unabhaÈngig davon, ob die Bereitstellung durch o È ffentliche Stellen oder durch Private erfolgt. Diese Regelungen gehen von einem umfassenden Begriff der Diskriminierung aus, der sowohl die direkte wie Formen der indirekten Diskriminierung umfasst; auch BelaÈstigungen, die im Zusammenhang mit einem Diskriminierungsgrund stehen, werden als diskriminierend bewertet. Die Mitgliedstaaten werden zu effektiven Maûnahmen verpflichtet, um die Menschen È sterreich durch mehrere Gesetze umvor Diskriminierung zu schu È tzen. Diese RL wurden in O gesetzt; auf sie wird weiter unten im entsprechenden Zusammenhang eingegangen (vgl Rz 1682 und Rz 1685).
54.1.1. Der Schutzbereich des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes È nlichen Geltungsbereich sind die Verbu 1. Im Hinblick auf den perso È rgungen des 1631 allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes auf die Gleichberechtigung der Staatsbu È rger bezogen (Art 2 StGG, Art 7 B-VG, Art 66 StV St. Germain). Angesichts des klaren Wortlauts wurde lange Zeit nie in Zweifel gezogen, dass es sich beim Gleichheitsrecht um ein Staatsbu È rgerrecht handelt, auf das sich Fremde nicht berufen koÈnnen. Auch das nur auf die Konventionsgrundrechte bezogene Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK hat daran nichts geaÈndert (vgl dazu unten Rz 1714 ff). Der VfGH hat diese EinschraÈnkung aber u È berwunden und laÈsst auch AuslaÈnder an bestimmten AuspraÈgungen des Gleichheitssatzes teilhaben. a) Ausgangspunkt dieser Entwicklung war das in Art I BVG-Rassendiskriminie- 1632 rung ausgedru È ckte Verbot der rassischen Diskriminierung, durch das der Gleichheitsgrundsatz auf das VerhaÈltnis von AuslaÈndern untereinander ausgedehnt wurde. Die unmittelbare Konsequenz dieser Verfassungsbestimmung war der Umstand, dass eine Ungleichbehandlung zwischen Fremden ohne sachlichen Grund bzw eine Diskriminierung aus dem alleinigen Grund der StaatsangehoÈrigkeit unzulaÈssig ist (VfSlg 13.836/1994). Der VfGH hat daru È ber hinausgehend anerkannt, dass auch AuslaÈnder ± gestu È tzt auf Art I BVG-Rassendiskriminierung ± jedenfalls die Unsachlichkeit einer gesetzlichen Regelung ru È gen oder einen Verstoû gegen
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Teil IV. Die Grundrechte
das die Vollziehung bindende Willku È rverbot behaupten koÈnnen; nach dieser Judikatur ist eine Ungleichbehandlung eines Fremden nur dann und insoweit zulaÈssig, als hierfu È r ein vernu È nftiger Grund erkennbar ist und die Ungleichbehandlung nicht willku È rlich ist (VfSlg 14.191, 14.369, 14.393/1995, 14.421, 14.516, 14.694/1996 ua). Ob die fragliche Regelung zwischen verschiedenen AuslaÈndergruppen differenziert oder davon losgeloÈst unsachlich ist, spielt dabei ebenso wenig eine Rolle wie der Umstand, ob Willku È r wegen der AuslaÈndereigenschaft oder aus einem anderen Grund geu È bt wurde. Insofern hat diese ju È ngere Judikatur den allgemeinen Gleichheitssatz zu einem Jedermannsrecht fortentwickelt, auch wenn der VfGH das garantierte Recht immer noch als ein ¹Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinanderª bezeichnet. 1633 b) Die dargestellte Judikatur laÈuft freilich nicht auf ein striktes Gebot der Gleichbehand-
È sterreicher lung von InlaÈndern und AuslaÈndern hinaus. Der Gesetzgeber darf weiterhin O in bestimmten Rechtsbeziehungen, etwa bei sozialen Anspru È chen, besser stellen als Fremde oder AuslaÈnder im Bereich der persoÈnlichen Freizu È gigkeit anders behandeln als InlaÈnder. Art I Abs 2 BVG-Rassendiskriminierung stellt dies zweifelsfrei fest. Gleichbehandlung ist allerdings im Bereich der durch die EMRK gewaÈhrleisteten Rechte geboten, die auch gewisse aus der Eigentumsgarantie des Art 1 1. ZProtEMRK folgende Sozialleistungen umschlieûen ko È nnen (vgl dazu noch unten Rz 1714). Dazu kommt noch das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot aus Gru È nden der StaatsangehoÈrigkeit im Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts (Art 12 EGV).
È sterreich in Geltung steht, kann 1634 2. Seitdem das EuropaÈische Gemeinschaftsrecht in O es zu einer problematischen Benachteiligung von InlaÈndern kommen. Sie ist in der Regel eine Folge bestimmter Rechte, die das Gemeinschaftsrecht bei grenzu È berschreitenden Sachverhalten zuerkennt, waÈhrend die Rechtslage bei rein inlaÈndischen Sachverhalten ungu È nstiger ausgestaltet sein kann. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer InlaÈnderdiskriminierung; auf typische Konstellationen dieser Art stoÈût man etwa im Zusammenhang mit der Warenverkehrsfreiheit, welche die Einfu È hrung auslaÈndischer Produkte unabhaÈngig von innerstaatlich geltenden strengeren Vorschriften erlaubt (die aber weiterhin auf inlaÈndische Waren angewendet werden), oder bei der Anerkennung auslaÈndischer BefaÈhigungsnachweise, die den Zugang zu inlaÈndischen Berufen eroÈffnen (waÈhrend fu È r inlaÈndische BefaÈhigungsnachweise uU strengere Voraussetzungen gelten). Aus der Perspektive des Gemeinschaftsrechts ist eine solche InlaÈnderdiskriminierung grundsaÈtzlich unbedenklich, weil es bei fehlendem Auslandsbezug den Mitgliedstaaten u È berlassen bleibt, ob sie InlaÈnder benachteiligen oder ihnen dieselben Rechte wie das Gemeinschaftsrecht zuerkennen. Nach der Auffassung des VfGH widerspricht es aber dem innerstaatÈ sterreichische Staatsbu lichen Gleichheitsgrundsatz, wenn o È rger gegenu È ber AuslaÈndern ohne sachlichen Grund benachteiligt werden (VfSlg 14.863, 14.963/1997, 15.683/1999). Wenn der Nachweis der Absolvierung einer bestimmten fachlichen TaÈtigkeit im Ausland als ausreichend fu È r die GewaÈhrung einer gewerberechtlichen Nachsicht angesehen wird, ist es gleichheitswidrig, wenn die Nachsicht nur aus dem Grund eines fehlenden ¹AuslandsbeÈ sterreich erworben wurden. Gleichzugsª versagt wird, weil die beruflichen Erfahrungen in O heitswidrig ist es auch, wenn InlaÈnder beim Grunderwerb gegenu È ber anderen EU-Bu È rgern, denen der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts zu Gute kommt, diskriminiert werden (vgl Rz 1570).
1635 3. Das Gleichheitsrecht steht auch juristischen Personen zu, sofern der Schutz vor Ungleichbehandlung solche Merkmale betrifft, die auch fu È r juristische Personen in Betracht kommen ko È nnen (zB VfSlg 13.208/1992). Das gilt auch fu È r auslaÈndische juristische Personen (VfSlg 15.668/1999).
4. In inhaltlicher Hinsicht umfasst der allgemeine Gleichheitsgrundsatz verschiedene Bedeutungsschichten. Der Gleichheitsgrundsatz umschlieût:
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a) Ein Privilegierungsverbot: Niemand darf wegen seiner persoÈnlichen, subjekti- 1636 ven Eigenschaften gegenu È ber anderen Menschen bevorzugt werden, vor allem wenn dies solche Eigenschaften betrifft, die den Wert eines Menschen unberu È hrt lassen, wie seine Rasse oder sein Geschlecht. Diese Seite des Gleichheitssatzes bringt etwa Art 7 B-VG deutlich zum Ausdruck, wenn es dort heiût, dass Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses ausgeschlossen sind. b) Ein Diskriminierungsverbot: Obwohl Art 7 B-VG ausdru È cklich nur bestimmten 1637 Vorrechten eine Absage erteilt, gilt Gleiches auch fu È r Benachteiligungen. Auch Diskriminierungen aus den angefu È hrten Motiven oder aus anderen unsachlichen Gru È nden sind verfassungsrechtlich unzulaÈssig. In der ju È ngeren Rechtsentwicklung werden auch Diskriminierungen aus Gru È nden des Alters und der sexuellen Orientierung ausdru È nten Motive aufgenommen (vgl zu den Anti-DisÈ cklich in den Kreis der verpo kriminierungsRL Rz 1630). c) Ein Differenzierungsverbot: Die verpoÈnten Differenzierungsmerkmale des Art 1638 7 B-VG (Geburt, Geschlecht, Stand, Klasse, Bekenntnis) sind Beispiele fu È r menschliche Merkmale, die im Licht der Geschichte betrachtet keine zureichenden Gru È nde darstellen, um einen Menschen zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Als solche sind diese verpo È nten Differenzierungsmerkmale freilich nur exemplarisch zu verstehen, so dass der Gleichheitsgrundsatz auch alle anderen Unterscheidungen verbietet, denen die sachliche Rechtfertigung fehlt: In diesem Sinn laÈuft die Quintessenz des Gleichheitssatzes darauf hinaus, dass der Staat ¹Gleiches gleich und Ungleiches ungleichª behandeln muss, es ihm mithin verwehrt ist Ungleichbehandlungen ohne sachliche Rechtfertigung vorzusehen. Gegen den Gleichheitssatz verstoÈût es auch, wenn Ungleiches in unsachlicher Weise vom Gesetzgeber gleich behandelt wird. Das Differenzierungsverbot schlieût daher auch ein Differenzierungsgebot ein. d) Ein Sachlichkeitsgebot: Bei den vorstehend dargelegten Bedeutungsschichten 1639 des Gleichheitssatzes geht es jeweils um einen Vergleich unterschiedlicher Regelungen und um die Frage, ob es fu È r eine unterschiedliche Behandlung (Bevorzugung, Benachteiligung, sonstige Differenzierung) einen rechtfertigenden Grund gibt. So war etwa das unterschiedliche Pensionsantrittsalter fu È r MaÈnner und Frauen daraufhin zu hinterfragen, ob es einen gerechtfertigten, sachlichen Grund dafu È r gibt, dass Frauen ganz allgemein um einige Jahre fru È her in Pension gehen du È rfen als MaÈnner (was in VfSlg 12.568/1990 verneint wurde). Der VfGH ist dabei nicht stehen geblieben, sondern hat den Gleichheitsgrundsatz zu einem allgemeinen Sachlichkeitsgebot weiterentwickelt, das auch dann angewendet werden kann, wenn es gar nicht mehr um einen Vergleich unterschiedlicher Regelungen geht. Wenn der Gerichtshof etwa eine Regelung als gleichheitswidrig aufgehoben hat, die Meldepflichtige dazu anhaÈlt die Anmeldung persoÈnlich vorzunehmen (eine Verpflichtung, fu È r die der VfGH keine Notwendigkeit sehen konnte), kann diese Verfassungswidrigkeit schwerlich auf eine Ungleichbehandlung zuru È ckgefu È hrt werden; es ist aber unsachlich, wenn eine solche Verpflichtung ohne besondere Notwendigkeit geschaffen wird (VfSlg 13.781/ 1994). In diesem Sinn wurde aus dem Gleichheitsgrundsatz ein allgemeines und umfassendes verfassungsrechtliches Sachlichkeitsgebot abgeleitet, dem jedes Staatshandeln entsprechen muss. Man hat die Merkmale des Art 7 Abs 1 Satz 2 B-VG in der Lehre zum Teil als absolute Diffe- 1640 renzierungsverbote verstanden, die schlechterdings ¹verpo È nteª Merkmale fu È r eine unterschiedliche Behandlung nach persoÈnlichen Merkmalen darstellen: Das wu È rde dann bedeuten, dass jede Ungleichbehandlung zwischen Mann und Frau oder zwischen AngehoÈrigen unterschiedlicher Bekenntnisse unzulaÈssig waÈre. Demgegenu È ber lassen die Judikatur und die herrschende Lehre Ausnahmen von diesen Differenzierungsverboten zu, wenn diese ¹sachlich gerechtfertigtª werden koÈnnen. Richtigerweise wird man davon ausgehen mu È ssen, dass die in
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Art 7 Abs 1 Satz 2 B-VG genannten Merkmale jedenfalls in dem Sinn ¹suspekteª Merkmale darstellen, als eine daran anknu È pfende Differenzierung in besonderem Maû auf eine u È berzeugende Rechtfertigung angewiesen ist.
1641 5. Der VfGH hat in fru È heren Erkenntnissen mehrfach ausgesprochen, dass der Gleichheitssatz den Staat (Gesetzgeber) nicht zu einem positiven Tun verpflichte und eine UntaÈtigkeit des Gesetzgebers gestu È tzt auf dieses Grundrecht nicht bekaÈmpft werden koÈnne (VfSlg 3810/1960, 4150, 4277/1962). GaÈnzlich ausgeschlossen sind legislative Handlungspflichten freilich nicht, so dass diese apodiktischen Aussagen als u È berholt anzusehen sind. Denn wenn der Gesetzgeber bestimmte Regelungen erlaÈsst, kann das dem Gleichheitssatz immanente Sachlichkeitsgebot zur Folge haben, dass eine Regelung etwa an geaÈnderte tatsaÈchliche VerhaÈltnisse angepasst werden muss oder dass gesetzliche TatbestaÈnde weiter zu fassen sind um Gleichheitswidrigkeiten zu vermeiden. 1642 a) So war ein Gesetz verfassungswidrig, das eine EntschaÈdigung fuÈr nationalsozialistisches Un-
recht nur oÈsterreichischen Staatsbu È rigkeit zuerkannte und damit È rgern deutscher Sprachzugeho È sterreicher von der Leistung in willku nicht deutsch sprechende O È rlicher Weise ausschloss, obwohl sie im Hinblick auf die Opfereigenschaft gleich zu behandeln gewesen waÈren. Eine UntaÈtigkeit des Gesetzgebers kann somit gegen den Gleichheitssatz verstoûen, wenn sie zu einer Differenzierung nach unsachlichen Unterscheidungsmerkmalen fu È hrt (vgl VfSlg 3822/1960, 4455/1963, 5169/1965 usw).
1643 b) Dieses Beispiel zeigt, dass es auch LeistungsanspruÈche geben kann, die der Gesetzgeber un-
ter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes einzuraÈumen hat, wenn er u È berhaupt Leistungen gewaÈhrt, weil der Kreis der LeistungsempfaÈnger sachgerecht abgegrenzt werden muss. Man kann solche Anspru È che nennen, weil sie voraussetzen, È che derivative Leistungsanspru dass der Gesetzgeber u È berhaupt entsprechende Anspru È che vorsieht. Prozessual koÈnnen sie dann durchgesetzt werden, wenn eine ¹partielle UntaÈtigkeitª des Gesetzgebers vorliegt, dh wenn der Gesetzgeber u È berhaupt eine Regelung erlassen hat, die der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt (vgl zB VfSlg 15.054/1997 zu einer durch die Aufhebung des Wortes ¹weiblichª bewirkten gleichheitsrechtlich gebotenen Ausdehnung eines Anspruchs auch auf MaÈnner).
54.1.2. Gleichheitsgrundsatz und Gesetzgebung 1644 1. Der VfGH umschreibt die Bedeutung des Gleichheitssatzes fu È r Akte des Gesetzgebers mit einer Reihe von Formulierungen: Danach verbietet das Grundrecht dem Gesetzgeber Gleiches ungleich oder Ungleiches gleich zu behandeln, verwehrt ihm aber nicht sachlich gerechtfertigte Differenzierungen vorzunehmen. Der Gesetzgeber muss an gleiche TatbestaÈnde gleiche Rechtsfolgen knu È pfen, wesentlich ungleiche TatbestaÈnde mu È ssen zu entsprechend unterschiedlichen Regelungen fu È hren. Nur dann, wenn gesetzliche Differenzierungen aus entsprechenden Unterschieden im TatsaÈchlichen ableitbar sind, entspricht das Gesetz dem Gleichheitssatz (stRspr, vgl zB VfSlg 4392/1963, 8475/1978, 11.641/1988, 13.477/ 1993 uva). Diese Formulierungen deuten die sachliche Dimension des Gleichbehandlungsgebotes an, wobei die Grundaussage auf ein ¹Verbot sachlich nicht gerechtfertigter Differenzierungenª hinauslaÈuft. Die mit der Anwendung des Gleichheitssatzes verbundenen Probleme lassen sich durch diese Umschreibungen freilich noch nicht ausreichend erkennen. Dazu wollen wir zunaÈchst die folgenden ErwaÈgungen anstellen: 1645 a) Jede gesetzliche Regelung ist eine Differenzierung nach irgendwelchen Kriterien und laÈuft
zwangslaÈufig auf eine ¹Ungleichbehandlungª hinaus: Diebe werden anders behandelt als ehrliche Menschen, denn Erstere werden bestraft und Letztere nicht; wer als Unternehmer UmsaÈtze erzielt, ist einer Umsatzsteuerpflicht unterworfen, die unselbstaÈndige Arbeitnehmer nicht entrichten mu È ssen; die Regelungen des ABGB u È ber die HandlungsfaÈhigkeit machen die GeschaÈftsfaÈhigkeit von unterschiedlichen Altersstufen abhaÈngig und geben einem Erwachsenen sehr viel
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mehr rechtliche HandlungsmoÈglichkeiten als einem MinderjaÈhrigen, usw. Der Satz, dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind, verbietet zunaÈchst einmal, derartige Unterscheidungen von gewissen subjektiven, in der Person liegenden UmstaÈnden abhaÈngig zu machen: Wu È rde die Anstellung als Lehrer an einer oÈffentlichen Schule nicht nur von der nachgewiesenen BefaÈhigung, sondern etwa vom Religionsbekenntnis abhaÈngig gemacht, waÈre das verfassungswidrig. Unterschiedliche Regelungen sind daher nur zulaÈssig, wenn sie durch objektive Gru È nnen È nde oder durch ¹Unterschiede im TatsaÈchlichenª gerechtfertigt werden ko (etwa durch die Anknu È pfung der HandlungsfaÈhigkeit an unterschiedliche Altersstufen). In diesem Sinn fordert der Gleichheitssatz, dass rechtliche Differenzierungen durch tatsaÈchliche Unterschiede der geregelten Sachverhalte gerechtfertigt werden ko È nnen. b) Freilich sind die einzelnen Sachverhalte, welchen sich der Gesetzgeber in einer Regelung zu- 1646 wendet, niemals gaÈnzlich gleich, sondern immer unterschiedlich: Jeder Mensch ist als Individuum betrachtet anders als sein Mitmensch; Frauen sind anders als MaÈnner, Kinder anders als Erwachsene, Arbeitgeber anders als Arbeitnehmer usw. Die entscheidende Frage ist, ob diese (immer gegebenen) Unterschiede im Hinblick auf die getroffene Regelung maûgeblich sind: Ob im Hinblick auf den anzuwendenden Steuertarif zwischen MaÈnnern und Frauen differenziert werden darf oder ob insoweit die Unterschiede zwischen den Geschlechtern vo È llig irrelevant sind (was wohl niemand bestreiten wird) oder ob ein unterschiedliches Alter ein Grund fu È r die Zulassung zur Fu È hrerscheinpru È fung ist (was zu bejahen ist). In beiden Beispielen gibt es ¹Unterschiede im TatsaÈchlichenª, die jedoch einmal unterschiedliche Rechtsfolgen rechtfertigen, dann wiederum nicht. Mit anderen Worten: Weil die Menschen und LebensverÈ hnhaÈltnisse immer anders sind, gebietet der Gleichheitssatz nur eine Gleichbehandlung des ¹A lichenª und ist rechtliche Gleichbehandlung ¹immer nur Abstraktion von gegebener Ungleichheit unter einem bestimmten Gesichtspunktª (Gustav Radbruch). Eine Differenzierung muss daher, wenn sie zulaÈssig sein soll, nicht irgendeinen Grund im TatsaÈchlichen haben, sondern sie muss einen zureichenden und gerechten Grund im TatsaÈchlichen haben. Damit wird deutlich, dass der Gleichheitsgrundsatz auf Wertungen angewiesen ist, die auf die Frage hinauslaufen: Gibt es fu È r eine Ungleichbehandlung (Differenzierung) einen vernu È nftigen, gerechtfertigten und gerechten Grund?
È berlegungen zusammenfassend laÈsst sich sagen, dass der Gleichheitssatz 1647 2. Diese U dann verletzt ist, wenn es fu È r eine Ungleichbehandlung (Differenzierung) keinen rechtfertigenden Grund gibt. Von dieser Feststellung ausgehend lassen sich nunmehr die bei der Anwendung des Gleichheitssatzes einzuschlagenden Pru È fungsschritte darlegen: a) Ausgangspunkt ist die Feststellung, welche Regelungen verglichen werden, die unter- 1648 schiedliche Rechtsfolgen anordnen (Normenvergleich), bzw welche Sachverhalte verglichen werden, fu È r die gleiche oder unterschiedliche Rechtsfolgen bestehen (Sachverhaltsvergleich). Die zu pru È fende Rechtsnorm ist mit jenen Normen zu vergleichen, die dazu fu È hren, dass eine Ungleichbehandlung im Rechtssinn erkannt werden kann. So bildeten etwa im Hinblick auf das Nachtarbeitsverbot fu È r Frauen (VfSlg 11.774/1988) jene Regelungen die Vergleichsbasis, die einerseits die BeschaÈftigung von Frauen waÈhrend der Nacht verbieten und die andererseits fu È r MaÈnner ein solches Verbot nicht aussprechen. Die sachgerechte Auswahl der Vergleichspaare kann unter UmstaÈnden eine schwierige Entscheidung sein, durch die bereits gewisse Weichen fu È r die nachfolgende Beurteilung der Begru È ndetheit einer Differenzierung gestellt werden! So hat es bei der Beurteilung der VerfassungsmaÈûigkeit der Familienbesteuerung (VfSlg 12.940/1991) durchaus eine Rolle gespielt, ob in den Vergleich Ehepaare mit Kindern und solche ohne Kinder einbezogen wurden und auf dieser Grundlage die steuerliche Belastung verglichen wurde oder ob vielmehr besser verdienende Eltern mit weniger gut verdienenden Eltern verglichen wurden. b) Stehen die zu vergleichenden Regelungen fest, ist zu fragen, ob es fu È r die unterschiedliche 1649 Behandlung einen rechtfertigenden Grund gibt. Dabei sind die sachlichen Gegebenheiten, die der Gesetzgeber seinen Regelungen zu Grunde gelegt hat (die ¹Unterschiede im TatsaÈchlichenª) zu erfassen und es ist zu beurteilen, ob die Gleich- oder Ungleichbehandlung im Hinblick auf diese Unterschiede sachlich begru È ndet ist. In der Regel umschlieût diese Pru È fung die Frage, ob der vom Gesetzgeber angestrebte Regelungszweck legitim ist und ob der Gesetzgeber im Hinblick auf dieses Regelungsziel die damit verbundene Ungleichbehandlung nach ih-
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rer Art und IntensitaÈt in Kauf nehmen durfte. Das Nachtarbeitsverbot fu È r Frauen sollte Frauen vor den mit diesen Arbeiten verbundenen Belastungen schu È tzen, was sicherlich ein legitimes Ziel ist. Rechtfertigt dieses Ziel aber, dass auch den Frauen, die trotzdem zur Nachtzeit einer BeschaÈftigung nachgehen wollen, dies ebenfalls verwehrt wird? Der VfGH hat diese Frage in VfSlg 11.774/1988 und 13.038/1992 bejaht.
1650 c) Soweit der Gleichheitsgrundsatz in seiner AuspraÈgung als allgemeines Sachlichkeitsge-
bot zur Anwendung kommt, wird der erste Teilschritt u È bersprungen. Wenn der VfGH etwa die Zusammensetzung einer Habilitationskommission deswegen als unsachlich und gleichheitswidrig beurteilt, weil die Mehrheit der habilitierten Mitglieder von den Mitgliedern ohne diese Qualifikation u È berstimmt werden kann, liegt dem kein Vergleich der gepru È ften Regelung mit irgendwelchen anderen Regelungen zu Grunde (VfSlg 14.362/1995). In solchen FaÈllen wird vielmehr das vom Gesetzgeber angestrebte Ziel losgeloÈst von einer vergleichbaren Regelung auf seine Vertretbarkeit (LegitimitaÈt des Zieles, VerhaÈltnismaÈûigkeit der eingesetzten Mittel) gepru È ft.
1651 3. Die Pru È fung gesetzlicher Regelungen anhand des Gleichheitsgrundsatzes nach Maûgabe der vorstehend umrissenen Pru È fungsschemata umschlieût in erheblichem Umfang Wertungen und damit verbundene InteressenabwaÈgungen. Dies gilt vor allem fu È r die Frage, ob bestimmte Unterschiede im TatsaÈchlichen so wesentlich sind, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen oder ob nicht vielmehr die geregelten Sachverhalte doch so Èahnlich sind, dass der Gleichheitssatz eine Gleichbehandlung gebietet. Im Hinblick darauf ist es die Pflicht des VfGH seine ErwaÈgungen rational nachvollziehbar darzulegen. Weil sich kein Gericht von den herrschenden moralischen und ethischen Anschauungen der Gemeinschaft gaÈnzlich losloÈsen kann und weil Wertungen anzustreben sind, die fu È r die Bu È rgerinnen und Bu È rger einer gegebenen Gesellschaft akzeptierbar sind, werden seine Entscheidungen freilich immer historisch bedingt sein. Es ist von daher betrachtet kein Zufall, wenn die Judikatur gewisse Gleichheitsfragen im Lauf der Zeit unterschiedlich beantwortet hat, was sich etwa sehr deutlich bei der Problematik der Geschlechtergleichberechtigung gezeigt hat (vgl dazu die Beispiele unten Rz 1671 ff). 1652 4. Die Judikatur zum Gleichheitssatz und die damit zwangslaÈufig verbundenen Wertungen werden in gewisser Weise stabilisiert durch jene verallgemeinerungsfaÈhigen Entscheidungsstandards, die der VfGH entwickelt hat. In ihnen werden die ErwaÈgungen zum Vergleichsmaûstab, zur LegitimitaÈt der vom Gesetzgeber angestrebten Ziele, zur VerhaÈltnismaÈûigkeit einer Ungleichbehandlung und zur Kontrolldichte in argumentative ¹Zwischenformelnª zusammengefasst. Sie strukturieren die Gerechtigkeits- und Wertungsfragen, auf die der Gleichheitssatz verweist, und sie bilden das Arsenal, aus dem die Argumente gewonnen werden, die bei der gleichheitsrechtlichen Beurteilung bestimmter Sachfragen herangezogen werden koÈnnen. Die wichtigsten dieser Gesichtspunkte werden im Folgenden dargestellt; ihre Kenntnis ist wichtig, wenn es auf eine u È berzeugende Argumentation mit dem Gleichheitsgrundsatz ankommt. 1653 a) Gesetzliche Regelungen mu È ssen jederzeit dem Gleichheitsgebot entsprechen (VfSlg 11.632, 11.641/1988, 13.917/1994 usw). Ungleichbehandlungen mu È ssen daher zum Pru È fungszeitpunkt sachlich gerechtfertigt sein; sie koÈnnen, auch wenn sie zum Zeitpunkt ihrer Erlassung sachlich gerechtfertigt waren, durch Zeitablauf bzw È nderung der tatsaÈchlichen VerhaÈltnisse verfassungswidrig werden (invalidiedurch A È nderung der Rechtslage unsachlich werren). Regelungen koÈnnen auch durch eine A den. So hat etwa die Neugestaltung des Familienrechts unter den rechtspolitischen Vorzeichen des Partnerschaftsgedankens dazu gefu È hrt, dass die pensionsrechtliche Ungleichbehandlung von Mann und Frau, die fru È her noch als sachlich erscheinen mochte, gleichheitswidrig wurde (VfSlg 8871/1980; vgl ferner 8651/1979: Gleichheitswidrigkeit einer studienrechtlichen Be-
3. Kapitel: Die einzelnen Grundrechte
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stimmung nach Wegfall der strafrechtlichen Regelung u È ber den Verlust akademischer Grade bei Verurteilung wegen eines Verbrechens).
b) Im gewaltenteilenden System der Verfassungsrechtsordnung ist es grundsaÈtzlich 1654 der einfache Gesetzgeber, der in Wahrnehmung seiner rechtspolitischen Verantwortung und legitimiert durch die demokratischen Wahlen daru È ber entscheidet, welche politischen Ziele durch die Gesetzgebung angestrebt werden und welche Mittel im Einzelnen zur Erreichung dieser Ziele eingesetzt werden. Diese Kompetenz wird durch den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz zwar begrenzt, aber nicht aufgehoben. Auch der VfGH anerkennt in stRspr diesen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, innerhalb dessen es diesem frei steht seine politischen Ziele auf die ihm geeignet erscheinende Art zu verfolgen: Ob eine Regelung ¹zweckmaÈûig ist und das Ergebnis in allen FaÈllen als befriedigend empfunden wird, kann nicht mit dem Maû des Gleichheitssatzes gemessen werdenª (VfSlg 12.416/1990). Die rechtspolitische Gestaltungsfreiheit bei der Wahl der Ziele, die der Gesetzgeber aufgreift, 1655 ist relativ umfassend: Ob zB Regelungen zur Sicherung der Nahversorgung mit Gu È tern und Dienstleistungen erlassen werden, entscheidet der Gesetzgeber im Rahmen der von der parlamentarischen Mehrheit angestrebten Wirtschaftspolitik. Nur wenn die Verfassung ausnahmsweise bestimmte Ziele ausschlieût, kann eine Regelung schon aus diesem Grund gleichheitswidrig sein: Nach den verfassungsrechtlichen Wertungen liegt etwa ein Schutz von Wirtschaftsunternehmen vor Konkurrenz von wenigen Ausnahmen abgesehen keinesfalls im o È ffentlichen Interesse, so dass eine ausschlieûlich auf Konkurrentenschutz abzielende Regelung (abgesehen vom Konflikt mit Art 6 StGG) auch als unsachlich und damit als gleichheitswidrig qualifiziert werden mu È sste (vgl zB VfSlg 10.179/1984, 13.330/1993). Auch bei der Wahl der Mittel ist der Gesetzgeber sehr weitgehend frei, er darf aber keine zur 1656 Zielerreichung voÈllig ungeeigneten Mittel vorsehen oder Mittel, die zwar an sich geeignet waÈren, die aber zu einer sachlich nicht begru È ndbaren Differenzierung fu È hren (zB VfSlg 8457/ È brigen mu 1978); im U È ssen die vom Gesetzgeber eingesetzten Mittel geeignet, erforderlich und angemessen sein, so dass die damit verbundenen Differenzierungen gerechtfertigt werden ko È nnen (vgl zB VfSlg 11.775/1988: Abstellen auf die Nutzlast von Lkw ist taugliches Mittel fu Èr die Anknu È pfung zur Festsetzung eines Straûenverkehrsbeitrages; VfSlg 13.363/1993: Ein auf oÈffentliche Orte beschraÈnktes Verbot der Prostitution ist nicht u È berschieûend). Wo die Grenzen dieses rechtspolitischen Gestaltungsspielraumes liegen, die eine be- 1657 stimmte vom Gesetzgeber getroffene Differenzierung als so unvernu È nftig, unsachlich oder unvertretbar erscheinen lassen, dass der Grundsatz der Sachlichkeit und damit der Gleichheitssatz verletzt ist, kann nicht auf eine allgemeine Formel gebracht werden. Letztlich kann diese Grenze nur im Einzelfall vom VfGH bestimmt werden. Soweit der VfGH in der Vergangenheit bestimmte Formeln gepraÈgt hat, in denen sich ein besonderes Maû richterlicher Zuru È ckhaltung gegenu È ber den Entscheidungen des Gesetzgebers ausgedru È ckt hat, wird man diese heute als u È berholt anzusehen haben: Kaum mehr aktuell ist vor allem die fru È here so genannte Exzess-Judikatur: Nach dieser Rspr sollten nur grobe VerstoÈûe gegen das Sachlichkeitsgebot ± also ein ¹Exzessª des Gesetzgebers ± eine Regelung gleichheitswidrig machen (zB VfSlg 5862/1968). Auch wenn die Exzess-Formel in vereinzelten spaÈteren Entscheidungen noch aufgetaucht ist (zB VfSlg 12.431/1990), zo Ègert der Gerichtshof heute in der Regel nicht mehr, auch mit groûer Mehrheit legitimierte EntÈ hlinscheidungen des Gesetzgebers als unsachlich zu qualifizieren und aufzuheben (Theo O È berholt ist auch jene fru ger). U È here Judikatur des VfGH, nach der eine gesetzliche Regelung immer schon dann als ¹sachlichª anerkannt wurde, wenn sich der Gesetzgeber um eine sachgerechte LoÈsung nur ¹bemu È htª hatte. Zutreffend wird heute nicht mehr auf die Absicht und die Motive des Gesetzgebers, sondern auf den objektiven Gehalt und den Effekt einer Regelung abgestellt (VfSlg 10.090/1984, 10.365/1985).
c) Jede generelle gesetzliche Regelung laÈuft notwendigerweise auf eine mehr oder 1658 minder weitgehende Abstrahierung von den vielfaÈltigen UmstaÈnden des Einzelfalles hinaus und fu È hrt damit zwangslaÈufig zu gewissen Ungleichbehandlungen.
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Teil IV. Die Grundrechte
Wenn der Gesetzgeber zB eine steuerliche Entlastung blinder Unternehmer vorsieht, die Unternehmern mit einer anderen unter UmstaÈnden vergleichbaren Behinderung nicht gewaÈhrt wird, kann man die Sachlichkeit einer solchen Regelung durchaus diskutieren; der VfGH hat sie deshalb nicht als gleichheitswidrig angesehen, weil andere koÈrperbehinderte Gewerbetreibende zwar in vielen FaÈllen, aber ¹doch nicht typischerweiseª die gleichen Schwierigkeiten bei der Erledigung ihrer GeschaÈfte haben wie die Gruppe der blinden Gewerbetreibenden (VfSlg 9524/1982). Der VfGH anerkennt in solchen ZusammenhaÈngen ganz allgemein, dass der Gesetzgeber von einer Durchschnittsbetrachtung ausgehen und auf den Regelfall abstellen kann; auch einzelne HaÈrtefaÈlle, wie sie haÈufig mit Stichtagsregelungen, Altersgrenzen oder Pauschalierungen usw verbunden sind, machen ein Gesetz noch nicht gleichheitswidrig. 1659 Aus diesem Grund ist die BeruÈcksichtigung von Gesichtspunkten der Verwaltungsvereinfa-
chung ebenso legitim (zB VfSlg 13.726/1994) wie die ZulaÈssigkeit von Pauschalierungen (zB VfSlg 11.615/1988). TraÈgt eine Pauschalvergu È tung tatsaÈchlich sehr unterschiedlichen Belastungen nicht ausreichend Rechnung, ist das aber verfassungswidrig (VfSlg 12.638/1991). Im Hinblick auf die ¹HaÈrtefaÈlleª, die eine Regelung noch nicht zwangslaÈufig unsachlich machen (VfSlg 16.196/2001), kommt es auf das Ausmaû der einzelnen Normadressaten zugemuteten Belastungen an und auch darauf, ob derartige HaÈrtefaÈlle nur ausnahmsweise und im atypischen Fall auftreten (VfSlg 12.641/1991). Ist der HaÈrtefall vom System der Regelung geradezu schon mitgedacht, ist das Gesetz insoweit gleichheitswidrig (zB VfSlg 9901/1983). ZulaÈssig sind auch Fristsetzungen, selbst wenn sie im Einzelfall zu Ungleichbehandlungen fu È nnen. È hren ko Wenn allerdings der mit einer Fristsetzung verbundene Eintritt einer Rechtsfolge von ZufaÈllen oder bloû manipulativen UmstaÈnden abhaÈngt, ist das unsachlich und gleichheitswidrig (zB VfSlg 10.620/1985). Auch durch Stichtagsregelungen bedingte gravierende VerschlechterunÈ bergangs- oder gen einer Rechtsposition sind nur dann hinnehmbar, wenn der Gesetzgeber U Einschleifregelungen vorsieht (VfSlg 12.485/1990). MoÈgliche Gleichheitswidrigkeiten ko È nnen durch Ausnahmeregelungen ausgeschlossen werden (VfSlg 14.212/1995).
1660 d) Eine wichtige Rolle bei der Beurteilung der GleichheitsgemaÈûheit einer Regelung kann der Frage zukommen, wieweit der Gesetzgeber an GrundsaÈtze der Systemgerechtigkeit gebunden ist: Ob also die bereits vom Gesetzgeber bei der rechtlichen Ordnung bestimmter Lebensbereiche getroffenen prinzipiellen Ordnungsgesichtspunkte und WertmaûstaÈbe Kriterien der Sachlichkeit auch fu È r nachfolgende Rechtsetzungsakte sind oder ob insoweit eine Gestaltungsfreiheit besteht, die die Inkaufnahme von ¹Systembru È chenª umschlieût. Wenn also zB Beamten bestimmte Rechte zuerkannt werden, kann es dann als sachlich angesehen werden, wenn diese Anspru È che Vertragsbediensteten vorenthalten werden, die an sich die gleiche Arbeit leisten? 1661 In diesem Zusammenhang geht der VfGH zum einen davon aus, dass der Gesetzgeber unter-
schiedliche Ordnungssysteme schaffen darf und nicht verpflichtet ist, verschiedene an sich Èahnliche Rechtsinstitute oder Regelungsmaterien gleich zu behandeln. Es ist daher zulaÈssig in den verschiedenen Verfahrenssystemen jeweils unterschiedliche Regelungen vorzusehen (VfSlg 10.367/1985 ± grundsaÈtzlich keine Vergleichbarkeit zwischen der ZPO und dem VwGHVerfahrensrecht); der Gleichheitsgrundsatz gebietet keine einheitliche Regelung der verschiedenen Sozialversicherungssysteme (VfSlg 13.829/1994); zwischen einem o È ffentlich-rechtlichen BeamtendienstverhaÈltnis und einem VertragsbedienstetenverhaÈltnis bestehen prinzipielle Unterschiede, die eine differenzierte Regelung rechtfertigen (VfSlg 13.558/1993, 13.829/1994).
1662 Dies schlieût allerdings nicht aus, dass es grundlegende rechtliche Wertungsgesichtspunkte
gibt, welche verschiedene Ordnungssysteme u È bergreifend praÈgen und gewisse Ungleichbehandlungen doch unsachlich erscheinen lassen koÈnnen: So besteht zwar keine Verpflichtung ein inhaltlich u È bereinstimmendes Disziplinarrecht fu È r alle oÈffentlich-rechtlichen Bediensteten zu schaffen; besonders gravierende Abweichungen ko È nnten aber gleichheitswidrig sein (VfSlg 10.084/1984). Gleichheitswidrig war eine unterschiedliche Regelung u È ber die Anrechnung der Vorhaft im gerichtlichen und im verwaltungsbehoÈrdlichen Strafverfahren (VfSlg 8017/
3. Kapitel: Die einzelnen Grundrechte
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1977). Das Abweichen von Ordnungsprinzipien kann daher eine Unsachlichkeit indizieren und bedarf einer besonderen Begru È ndung: Wenn der Gesetzgeber steuerrechtliche Begu È nstigungen nach einem bestimmten System gewaÈhrt, darf er davon nicht ohne besonderen Grund abweichen (vgl zB VfSlg 11.368/1987 zur Verfassungswidrigkeit einer Regelung, welche die Hingabe eines Heiratsgutes nicht als auûergewoÈhnliche Belastung anerkennen wollte; VfSlg 18.030/ 2006 zur Gleichheitswidrigkeit des Ausschlusses von Freiberuflern von der steuerlichen Begu È nstigung entnommener Gewinne).
e) In der Judikatur finden sich noch weitere verallgemeinerungsfaÈhige Gesichts- 1663 punkte der gesetzlichen Sachlichkeit: Aus dem bundesstaatlichen Prinzip leitet der VfGH ab, dass unterschiedliche Regelungen in Bundes- und Landesgesetzen im Prinzip ebenso wenig gleichheitswidrig sind wie landesweise unterschiedliche Regelungen (zB VfSlg 9804/1983). Ein Gesetz, das so unbestimmt ist, dass es nicht auf seine GleichheitskonformitaÈt gepru È ft werden kann, ist selbst gleichheitswidrig (VfSlg 13.492/1993). Bei juristischen Personen ist es nicht unsachlich, wenn der Gesetzgeber mit seinen Regelungen auf die hinter der juristischen Person stehenden RechtstraÈger durchgreift und dementsprechend differenziert (VfSlg 10.841/1986). Auch budgetaÈre ErwaÈgungen koÈnnen Regelungen sachlich rechtfertigen (VfSlg 12.641/1991). 54.1.3. Beispiele aus der Judikatur zum Gleichheitsgrundsatz Im folgenden Abschnitt wird die gleichheitsrechtliche Judikatur des VfGH zu ausgewaÈhlten Rechtsbereichen unter Hervorhebung tragender Gesichtspunkte und wichtiger Entscheidungen exemplarisch behandelt. Eine auch nur annaÈhernd vollstaÈndige Darstellung ist angesichts der Vielzahl einschlaÈgiger Erkenntnisse nicht moÈglich; insoweit muss auf die Kommentarliteratur verwiesen werden. Das Abgabenrecht wirft Fragen der Gleichheit etwa im Zusammenhang mit der Einbeziehung 1664 von bestimmten Sachverhalten in eine Steuerpflicht auf, ferner bei der Beurteilung der sachlichen Rechtfertigung unterschiedlicher Belastungen oder bei der Beurteilung von steuerlichen AusnahmetatbestaÈnden. Dabei ko Ènnen bei der Beurteilung steuerrechtlicher Regelungen nach der Judikatur grundsaÈtzlich auch fiskalische Gesichtspunkte als rechtfertigende Gru È nde ins Gewicht fallen; der Gesetzgeber darf mit Steuergesetzen aber auch andere Zwecke (Lenkungswirkungen) verfolgen. Einen wichtigen sachlichen Gesichtspunkt stellt das LeistungsfaÈhigkeitsprinzip dar; danach mu È ssen Ertragssteuern, denen dieses Prinzip ¹immanentª ist, an die LeistungsfaÈhigkeit der Steuersubjekte anknu È pfen (VfSlg 14.723/1997). Wie im Sozialversicherungsrecht gilt auch im Steuerrecht, dass die AngehoÈrigeneigenschaft bzw ein damit in Zusammenhang stehender Versuch des Gesetzgebers moÈgliche MissbraÈuche zu unterbinden, kein ausreichender sachlicher Grund fu È r eine Schlechterstellung ist (VfSlg 11.368/ 1987). Wiederholt hat der VfGH ausgesprochen, dass eine unterschiedliche Behandlung verschiedener Einkommensarten, darunter auch die Differenzierung zwischen Einku È nften aus selbstaÈndiger und unselbstaÈndiger Arbeit, nicht unsachlich ist (VfSlg 8487/1979, 10.424/ 1985, 11.316/1987); das gilt auch fu È r die Begu È nstigung des 13. und 14. Monatsgehalts (VfSlg 16.196/2001). Wichtige ju È ngere Erkenntnisse betrafen die AusnahmetatbestaÈnde bei der Grunderwerbssteuer (VfSlg 11.190/1986), die Mindestbesteuerung von Kapitalgesellschaften È BB von der Kommunal(VfSlg 14.723/1997), die Verfassungswidrigkeit der Befreiung der O und KoÈrperschaftssteuer (VfSlg 14.805/1997, 16.223/2001), den generellen Ausschluss der AbzugsfaÈhigkeit der Aufwendungen fu È r UniversitaÈtsstudien, der fu È r verfassungswidrig erachtet wurde (VfSlg 17.218/2004), die Fortsetzung der mit VfSlg 12.940/1991 eingeleiteten Judikatur zur Familienbesteuerung (VfSlg 14.992, 15.023/1997) und die Verfassungswidrigkeit der Erbschafts- und Schenkungssteuer wegen der unsachlichen Abgrenzung der Bemessungsgrundlage (VfGH 7.3.2007, G 54/06 und VfGH 15.6.2007, G 23/07). Bei der Judikatur zu dienst- und arbeitsrechtlichen Fragen spielt der Vergleich unter- 1665 schiedlicher Dienstrechtssysteme eine wichtige Rolle. Der VfGH geht in stRspr davon aus, dass o È ffentliche DienstverhaÈltnisse und private DienstverhaÈltnisse ¹grundsaÈtzlich unterschiedlicheª Systeme sind (VfSlg 14.867/1997) und unterstreicht den weiten Gestaltungsspiel-
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Teil IV. Die Grundrechte
raum des Gesetzgebers bei der Regelung des oÈffentlichen Dienstrechts; das Sachlichkeitsgebot erfordere ¹lediglichª, das System des Dienst-, Besoldungs- und Pensionsrechts derart zu gestalten, dass es im Groûen und Ganzen in angemessenem VerhaÈltnis zu den den Beamten obliegenden Dienstpflichten stehe (VfSlg 9607/1983, 11.193/1986, 12.154/1989, 14.867/1997). Die mit den Budgetsanierungsmaûnahmen (¹Sparpaketª) verbundenen Ku È rzungen bestimmter Zulagen und von Ruhegenussanspru È ffentlich Bedienstete wurden weder im Hinblick È chen fu Èr o auf ihre sachliche Rechtfertigung noch wegen eines Verstoûes gegen die GrundsaÈtze des Vertrauensschutzes beanstandet, wobei der Gerichtshof auf die ¹geringfu È gige IntensitaÈtª der Ku È rzungen und den Umstand, dass davon alle oÈffentlich Bediensteten betroffen waren, hinwies (VfSlg 14.867, 14.888/1997, 15.269/1998; VfSlg 18.010/2006).
1666 Bei der Beurteilung familienrechtlicher Regelungen betont der VfGH den rechtspoliti-
schen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers in besonderer Weise, etwa im Zusammenhang mit dem fu È r gleichheitsrechtlich unbedenklich erklaÈrten gesetzlichen Ausschluss eines gemeinsamen Sorgerechts geschiedener Eltern, wobei in diese Problematik auch das besondere Gleichheitsgebot des Art 5 7. ZProtEMRK hineinspielte (VfSlg 14.301/1995). Im Hinblick auf die fru È her gegebene und auch zum Teil vom VfGH fu È r zulaÈssig erklaÈrte Benachteiligung unehelicher Kinder nimmt der Gerichtshof nunmehr an, dass eine unterschiedliche Behandlung unehelicher und ehelicher Kinder prinzipiell unzulaÈssig ist, ¹sofern nicht sehr gewichtige Gru È nde vorliegenª (VfSlg 12.735/1991; vgl demgegenu È ber noch VfSlg 4678/1964); richtigerweise wird man davon auszugehen haben, dass eine Benachteiligung wegen einer unehelichen Geburt unter keinen UmstaÈnden gerechtfertigt werden kann (vgl in diesem Zusammenhang auch die Judikatur des EGMR zum fru È heren oÈsterreichischen AnÈ JZ 1988, 177). Schlieûlich geht der VfGH davon aus, dass die erbenrecht; EGMR, Inze, O È rderung von Ehe und Familie ein legitimes o Fo È ffentliches Anliegen ist, das in verschiedenen (etwa steuerrechtlichen) ZusammenhaÈngen fu È r die Sachlichkeit bestimmter Regelungen ausschlaggebend sein kann (VfSlg 14.992/1997).
1667 Im Sozialrecht geht der VfGH von dem Grundsatz aus, dass die GewaÈhrung einer Soziallei-
stung grundsaÈtzlich in das rechtspolitische Ermessen des Gesetzgebers gestellt ist (VfSlg 14.694/1996). Wird eine Beihilfe gewaÈhrt, muss sie den Gesichtspunkten der Sachlichkeit entsprechen, was etwa fu È r den Ausschluss verheirateter Kinder von der Familienbeihilfe verneint wurde (VfSlg 8793/1980; zulaÈssig ist dagegen der Ausschluss von Kindern, die sich staÈndig im Ausland aufhalten; VfSlg 16.542/2002). Im Hinblick auf Leistungen der Kranken- oder Pensionsversicherung ko Ènnen das System der gesetzlichen Sozialversicherung und das VersorÈ ffentlich Bediensteten nach Ansicht des Gerichtshofs nicht miteinander gungsrecht der o verglichen werden (VfSlg 13.829/1994). Wichtige Entscheidungen dieses Bereichs betrafen die Witwerpension und die Problematik des ungleichen Pensionsantrittsalters von Mann und Frau sowie die Ruhensbestimmungen in der Altersversorgung (zu den Entscheidungen zur Witwerpension und zum ungleichen Pensionsantrittsalter vgl unten Rz 1671 ff). Die gesetzliche Einfu È hrung von Ruhensbestimmungen fu È r Beamtenpensionen bei einem Zusammentreffen von Pension und Erwerbseinkommen scheiterte an der Judikatur des VfGH; ihre nachtraÈgliche Einfu È hrung sei dem einfachen Gesetzgeber aus Gru È nden des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes verwehrt, weil es sich um ¹wohlerworbene Rechteª handle (VfSlg 11.665/1988). Verfassungswidrig waren die unterschiedlichen BeitragssaÈtze in der gewerblichen Pensionsversicherung fu È r ¹neue SelbstaÈndigeª und sonstige Gewerbetreibende (VfSlg 15.859/2000).
1668 Im Hinblick auf die Sachlichkeit unterschiedlicher verfahrensrechtlicher Regelungen weist der VfGH in stRspr darauf hin, dass die verschiedenen Verfahrensordnungen wegen der unterschiedlichen Rechtsbereiche, denen sie angehoÈren, grundsaÈtzlich nicht vergleichbar sind und daher jeweils eigene Ordnungssysteme darstellen (VfSlg 10.770/1986, 12.863/1991). Daher sind zwischen verschiedenen Verfahren differenzierende Regelungen zulaÈssig (VfSlg 11.795/ 1988, 13.455, 13.527/1993). Wie aber bereits bei der Behandlung der ¹Ordnungssystemª-Judikatur gesagt wurde, kann es trotzdem u È bergreifende Wertungsgesichtspunkte geben, die unterschiedliche verfahrensrechtliche Ausgestaltungen gleichheitswidrig erscheinen lassen ko È nnen. Als einen solchen verallgemeinerungsfaÈhigen Gesichtspunkt hat der VfGH zB das Prinzip angesehen, dass rechtskraÈftig abgeschlossene Strafverfahren zum Nachteil eines Beschuldigten nur dann wieder aufgenommen werden du È rfen, wenn gesetzlich streng umrissene Wiederaufnahmegru È nde erfu È llt sind (VfSlg 11.865/1988, 13.135/1992, 13.778/1994).
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Nachdem der VfGH es in stRspr ablehnt, von SonderfaÈllen abgesehen eine verfassungsrechtli- 1669 che Verpflichtung zur EinraÈumung einer Parteistellung in Verwaltungsverfahren anzunehmen, kann eine EinschraÈnkung oder ein Ausschluss der Parteistellung nur am Gleichheitsgrundsatz gemessen werden. Die entsprechende Judikatur des VfGH war lange Zeit Èauûerst restriktiv und u È berlieû letztlich die Entscheidung, welchen von einem Verwaltungsverfahren Betroffenen eine gesicherte Verfahrensposition eingeraÈumt wird, weitgehend dem einfachen Gesetzgeber (VfSlg 12.465/1990, 13.013/1992). Ju È ngere Entscheidungen legen an gesetzliche BeschraÈnkungen der Parteistellung einen strengeren Maûstab an (zu verschiedenen FaÈllen eines verfassungswidrigen Ausschlusses (EinschraÈnkung) der Parteistellung im Baurecht vgl VfSlg 15.360/1998, 15.581/1999, 16.040/2000, 17.593/2005 ua). ZulaÈssig ist der Ausschluss der Parteistellung der Nachbarn im vereinfachten Betriebsanlagenverfahren, nicht aber ihre Verweigerung auch in Bezug auf die Frage, ob u È berhaupt die Voraussetzungen fu È r ein vereinfachtes Verfahren vorliegen (VfSlg 16.103/2001). Eine Haftung fu È r Abgabenschulden Dritter oder ganz allgemein fu È r das Verhalten Dritter 1670 ist nicht per se unsachlich, setzt aber eine rechtliche oder tatsaÈchliche Verbindung zwischen dem Haftenden und dem Dritten voraus, sie muss ferner sachlich begrenzt und vorhersehbar sein. Sachlich war daher die Haftung des VerpaÈchters fu È r die Abgabenschulden eines fru È heren PaÈchters (VfSlg 11.921/1988), nicht aber die Haftung des Herausgebers fu È r Abgabenschulden des Medieninhabers (VfSlg 13.583/1993) oder der Kreditinstitute fu È r die Einbehaltung und Abfuhr der Spekulationsertragssteuer (VfSlg 15.773/2000). Auch eine strafrechtliche Verantwortlichkeit fu È r das Verhalten Dritter muss zur Erreichung des angestrebten Zieles (zB Verhinderung illegaler AuslaÈnderbeschaÈftigung) geeignet und zumutbar sein (VfSlg 16.664/2002). Bei der Festlegung von Strafdrohungen hat der Gesetzgeber einen groûen Spielraum; gleichheitswidrig ko È nnen aber zB undifferenzierte Mindeststrafen sein, die in keinem angemessenen VerhaÈltnis zum Grad des Verschuldens oder zur Ho È he des durch die Straftat bewirkten Schadens stehen oder die fu È r ein vergleichbares strafbares Verhalten unterschiedliche StrafsaÈtze vorsehen (VfGH 13.12.2007, G 16/07).
54.1.4. Die Gleichbehandlung von Frauen und MaÈnnern 1. Der Abbau rechtlicher Benachteiligungen der Frauen hat sich ± trotz der nun- 1671 mehr schon 140-jaÈhrigen Geltung des Gleichheitsgrundsatzes ± bis in die Gegenwart hingezogen. Dass Frauen erst am Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals zu politischen Wahlen zugelassen wurden (die erste Parlamentswahl mit Frauenbeteiligung fand 1919 statt) oder dass ihnen der Zugang zu den UniversitaÈtsstudien lange Zeit verwehrt blieb, war zunaÈchst ein Resultat der herrschenden politischen und gesellschaftlichen VerhaÈltnisse. Solche Beispiele belegen aber auch die WertabhaÈngigkeit des juristischen Denkens in den Kategorien der rechtlichen Gleichheit, das sich mitunter nur sehr zoÈgernd von u È berkommenen Traditionen und Vorurteilen loÈsen kann. Auch die Judikatur des VfGH zur Frage der Gleichberechtigung von MaÈnnern und Frauen hat 1672 sich von zeitbedingten Anschauungen und der Festschreibung traditioneller Rollenbilder nicht immer freihalten koÈnnen. Ein bekanntes Beispiel ist die Entscheidung VfSlg 1526/1947, in welcher der Gerichtshof die Benachteiligung der Frauen bei der Abgabe rationierter Tabakwaren damit rechtfertigte, dass es eine ¹Erfahrung des taÈglichen Lebensª waÈre, dass Frauen weniger rauchen. In anderen Erkenntnissen bezog sich der Gerichtshof undifferenziert auf die ¹Natur der Frauª um Ungleichbehandlungen zu rechtfertigen oder um umgekehrt den Anspruch der Frauen auf Gleichbehandlung durchzusetzen (VfSlg 651/1926, 2979/1956). Auch die nur fu Èr weibliche Schu È lerinnen in Vorarlberg verpflichtend vorgeschriebene hauswirtschaftliche Ausbildung legitimierte der Gerichtshof noch mit den u È berkommenen Auffassungen von der Stellung der Frau (VfSlg 7461/1974). Einen Durchbruch stellte das Erkenntnis VfSlg 8871/ 1980 zur Witwerpension dar, in dem der Gerichtshof zum ersten Mal anerkannte, dass der Gleichheitsgrundsatz eine die gegebenen gesellschaftlichen VerhaÈltnisse veraÈndernde Wirkung entfalten kann: Angesichts der geaÈnderten und vom Gedanken der Partnerschaft gepraÈgten Ausgestaltung der familienrechtlichen Beziehungen und der Abkehr vom Leitbild der Hausfrauenehe wurden jene Bestimmungen als verfassungswidrig qualifiziert, die der Witwe jeden-
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Teil IV. Die Grundrechte
falls eine Pension nach dem verstorbenen Gatten zusprachen, dem Witwer aber nur in besonderen FaÈllen. Ausdru È cklich stellte der VfGH fest, dass nur solche Ungleichheiten (voru È bergehend) sachlich sein ko Ènnten, die wenigstens in der Richtung eines Abbaus der Unterschiede È bergangsbestimmunwirken wu È nnen freilich auch solche U È rden (nach Ansicht des EGMR ko gen unter bestimmten UmstaÈnden konventionswidrig sein; vgl EGMR, Zeman, NL 2006, 152). Dass die traditionelle Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern keine rechtfertigende Wirkung mehr entfalten kann, zeigte sodann VfSlg 13.917/1994, wo die zuvor erwaÈhnte diskriminierende Bestimmung des Schulorganisationsrechts fu È r den Haushaltungsunterricht in Vorarlberg aufgehoben wurde. Eine bemerkenswerte Anerkennung der tatsaÈchlichen Lage der Frauen stellte die Entscheidung VfSlg 13.558/1993 dar, in der die ausnahmslose Begrenzung der Verwendungsdauer von UniversitaÈts-Vertragsassistenten und -assistentinnen deshalb fu È r unsachlich erachtet wurde, weil sie sich im Zusammenhang mit der MoÈglichkeit von TeilzeitbeschaÈftigungen faktisch vor allem fu È r Frauen negativ auswirkte.
1673 2. Heute ist davon auszugehen, dass eine Ungleichbehandlung zwischen den Geschlechtern nur mehr insoweit gerechtfertigt werden kann, als sie durch die gegebenen biologischen Unterschiede bedingt ist. Dabei kommt es nicht nur auf eine formale Gleichbehandlung im Sinn einer geschlechtsneutralen Gestaltung gesetzlicher TatbestaÈnde an, sondern auf eine materielle Gleichheit unter Beru È cksichtigung der realen Lage von Frauen oder MaÈnnern (VfSlg 13.558/1993); daher sind auch nur mittelbare Diskriminierungen gleichheitswidrig. Die u È berkommene und teilweise immer noch gegebene traditionelle Rollenverteilung zwischen Mann und Frau hat ihre rechtfertigende Wirkung verloren und muss einer differenzierenden Betrachtungsweise Platz machen. Daher ist es auch im Ergebnis schlu È ssig, wenn der VfGH die Bevorzugung von Frauen beim Pensionsantrittsalter fu È r verfassungswidrig erklaÈrt hat. Das Argument der ¹Doppelbelastungª der Frau durch Beruf und Haushalt vermag zwar eine ausgleichende sozialversicherungsrechtliche Begu È nstigung davon betroffener Frauen zu rechtfertigen, aber nicht eine ganz allgemeine Privilegierung auch der davon gar nicht betroffenen Frauen; in Wahrheit kommt naÈmlich die Bevorzugung jenen Frauen zu Gute, deren Rollenbild sich von jenem der MaÈnner nicht unterscheidet, waÈhrend jene Frauen, die durch Haushaltsfu È hrung und Obsorge fu È r AngehoÈrige besonders belastet sind, von solchen Regelungen in wesentlich geringerem Maû Gebrauch machen koÈnnen (VfSlg 12.568/1990, 13.795/1994). 1674 a) Weitere sachlich nicht gerechtfertigte Differenzierungen nach dem Geschlecht, die der
VfGH als verfassungswidrig aufhob, betrafen den Ausschluss von Frauen von bestimmten Berufen (VfSlg 2979/1958 ± Taxilenkerinnen), eine geschlechtsspezifische Regelung hinsichtlich der GewaÈhrung von Haushaltshilfe fu È r Beamte (VfSlg 8147/1977), unterschiedlich geregelte Abfertigungsanspru È che von Beamten und Beamtinnen (VfSlg 11.155/1986, 12.000/1989, È rzten und A È rz13.353/1993), eine geschlechtsspezifische Regelung der Altersversorgung von A tinnen (VfSlg 13.549/1993, 14.513, 14.684/1996) sowie eine Regelung, welche eine Notlage als Anspruchsvoraussetzung fu È r die GewaÈhrung von Notstandshilfe dann ausschloss, wenn der Ehegatte einer arbeitslosen Frau Einku È nfte erzielte, waÈhrend eine gleichartige Regelung fu È r Ehefrauen arbeitsloser MaÈnner fehlte (VfSlg 11.928/1988). Die BeschraÈnkung des Anspruchs auf Teilzeitbeihilfe zum Zweck der Kinderbetreuung auf Frauen verstieû ebenso gegen Art 7 B-VG (VfSlg 15.961/2000) wie die fru È her geltende Regelung, die es den Frauen, nicht aber auch den MaÈnnern erlaubte, im Fall der Eheschlieûung den bisherigen Namen dem gemeinsamen Familiennamen nachzustellen (VfSlg 10.384/1985). MoÈgliche Bedenken wegen Gleichheitswidrigkeit ko È nnen in einzelnen FaÈllen durch eine verfassungskonforme Interpretation vermieden werden (so zum Begriff ¹Tagesmutterª im Jugendwohlfahrtsrecht, der nicht geschlechtsspezifisch zu verstehen ist, VfSlg 15.576/1999).
1675 b) Dagegen hatte der Gerichtshof keine Bedenken gegen die (seinerzeitige) Regelung des § 93
ABGB, wonach der Familienname des Mannes dann der gemeinsame Familienname wird, wenn die Ehegatten bei der Heirat keinen anderen Namen bestimmen (VfSlg 13.661/1993 unter Hinweis auf die ¹tatsaÈchlichen Gepflogenheitenª). WaÈhrend diese Zweifelsregelung nunmehr durch das Recht jedes Ehepartners auf Beibehaltung seines bisherigen Namens abgeloÈst wurde, erhaÈlt das Kind im Fall der Nichteinigung auf einen gemeinsamen Familiennamen
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oder einen bestimmten Namen des Kindes weiterhin den Namen des Mannes (§ 139 Abs 3 ABGB); auch dieser Bestimmung hat der VfGH VerfassungsmaÈûigkeit attestiert (VfSlg 15.031/ 1997). Nach Ansicht des VfGH widerspricht es auch nicht dem Gleichheitssatz, die Ausu È bung der Prostitution je nach Geschlecht unterschiedlich zu regeln (VfSlg 8445/1978) oder nur bestimmte Formen maÈnnlicher HomosexualitaÈt zu sanktionieren (VfSlg 12.182/1989).
3. Die unbestreitbaren Benachteiligungen, denen Frauen im wirtschaftlichen, poli- 1676 tischen und sozialen Leben weiterhin ausgesetzt sind und zu denen auch die bei vielen Frauen gegebene Doppelbelastung durch berufliche und familiaÈre Verpflichtungen geho È rt, lassen sich in den Kategorien rechtlicher Gleichheit nur beschraÈnkt erfassen. Das zeigt sich zB auch in der Judikatur des VfGH, der etwa in VfSlg 11.774/ 1988 davon spricht, dass es ¹gerade die Aufgabe des Gesetzgebers (ist) zu entscheiden, ob ± und gegebenenfalls wie ± er die Angleichung der (tatsaÈchlichen) LebensverhaÈltnisse von Frauen und MaÈnnern fu È r die Zukunft vorantreibtª. Der Gesetzgeber È nderung der tatsaÈchlichen GepflogenwaÈre jedenfalls nicht verpflichtet auf ¹eine A heitenª hinzuwirken (so in VfSlg 13.661/1993 in Bezug auf die freie Wahl des Ehenamens). È rderung der Chancengleichheit von Frauen waÈren auf der 1677 Maûnahmen zur Fo Grundlage dieser Sicht jedenfalls verfassungsrechtlich nicht zwingend geboten; sofern derartige Maûnahmen Formen der so genannten ¹positiven Diskriminierungª (affirmative actions) annehmen, dh eine Bevorzugung von Frauen in bestimmten Situationen gebieten (zB bevorzugte Einstellung in den oÈffentlichen Dienst), koÈnnte ihnen das Gebot zur rechtlichen Gleichbehandlung entgegengehalten werden. Im Jahre 1998 wurde die Gleichheitsgarantie des Art 7 B-VG durch einen Abs 2 er- 1678 gaÈnzt, in dem sich die GebietskoÈrperschaften zur tatsaÈchlichen Gleichstellung È rderung der fakvon Mann und Frau ¹bekennenª und in dem Maûnahmen zur Fo tischen Gleichstellung von Frauen und MaÈnnern insbesondere durch Beseitigung tatsaÈchlich bestehender Ungleichheiten fu È r zulaÈssig erklaÈrt werden. Bei dem verfassungsrechtlichen ¹Bekenntnisª zur tatsaÈchlichen Gleichstellung von Mann und Frau handelt es sich um eine Staatszielbestimmung. Es gewaÈhrleistet kein subjektives Recht auf Herstellung faktischer Gleichheit und stellt daher auch kein Grundrecht dar, verpflichtet aber Bund, LaÈnder und Gemeinden zu einer aktiven FoÈrderung des Anliegens der Geschlechtergleichberechtigung. Der Sache nach zielt die Regelung auf den Abbau der sozialen Ungleichheit der Frauen im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben und gebietet ein aktives TaÈtigwerden der GebietskoÈrperschaften im Rahmen ihrer Mittel und MoÈglichkeiten. a) Neben der Begru È ndung einer verfassungsrechtlichen Aufgabe verbunden mit einer prinzi- 1679 piellen Handlungspflicht kann die Staatszielbestimmung des Art 7 Abs 2 B-VG als Ausdruck einer verfassungsrechtlichen Wertentscheidung auch staatliches Handeln legitimieren. In dieser Bedeutung kann die Bestimmung eine die Auslegung steuernde Wirkung haben und eine Beru È cksichtigung des Grundsatzes der GeschlechterparitaÈt etwa bei verfassungsrechtlichen oder einfachgesetzlichen AbwaÈgungsentscheidungen gebieten. Der zweite Satz des Absatzes È rderung der tatunterstreicht daru È ber hinausgehend die ZulaÈssigkeit von Maûnahmen zur Fo saÈchlichen Gleichheit der Geschlechter. Vor dem Hintergrund der rechtspolitischen Diskussion wird man darin auch eine Aussage zur ZulaÈssigkeit von Maûnahmen der ¹positiven Diskriminierungª sehen mu È ssen. Zu einer aktiven Gleichbehandlungspolitik verpflichtet die im Verfassungsrang stehende (aber nicht unmittelbar anwendbare) Konvention zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau BGBl 1982/443. È rderung ist daher ein verfassungsrechtlich legitimiertes Ziel staatlichen 1680 b) Frauenfo Handelns und kann daher auch einen sachlichen Grund im Sinn des Gleichheitsgrundsatzes darstellen und differenzierende Regelungen rechtfertigen. Weil allerdings auch legitime Zwecke nur durch verhaÈltnismaÈûige Maûnahmen verfolgt werden du È rfen, rechtfertigt auch das legitime Ziel der FrauenfoÈrderung nicht jegliche Maûnahme unabhaÈngig von ihren Auswir-
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Teil IV. Die Grundrechte
kungen auf geschu È tzte Rechtspositionen. Fu È r Maûnahmen der positiven Diskriminierung, etwa fu È r Quotenregelungen oder generelle PraÈferenzregeln, bedeutet das vor allem, dass ihre Auswirkungen auf den Gleichbehandlungsanspruch der davon betroffenen individuellen Menschen immer mit in die Beurteilung ihrer ZulaÈssigkeit einzustellen sind. Historisch begru È ndete Benachteiligungen der Frauen als Gruppe koÈnnen bestimmte ausgleichende, der Herbeifu È hrung von Chancengleichheit im gesellschaftlichen Leben dienende Maûnahmen rechtfertigen; weil dies sehr oft zu einer Diskriminierung ganz konkret betroffener Einzelner fu È hren kann, mu È ssen sie zeitlich und in ihren Auswirkungen (etwa durch HaÈrteklauseln) begrenzt gehalten werden. Vor allem du È rfen sie nicht auf die Begru È ndung oder Verfestigung neuer gesellschaftlicher Privilegien hinauslaufen.
1681 c) Ein Èahnliches Ergebnis liegt auch nahe, wenn man den Gleichbehandlungsgrundsatz des
EuropaÈischen Gemeinschaftsrechts mit in die ErwaÈgung einbezieht. Nach der Kalanke-Entscheidung des EuGH verstoÈût jedenfalls eine ¹automatischeª Bevorzugung von Frauen im oÈffentlichen Dienst durch eine strikte Quotenregelung gegen die Gleichbehandlungsrichtlinie der EuropaÈischen Union (76/207/EWG); dagegen sind leistungsabhaÈngige Quotenregelungen, die Ausnahmen (zB Beru È cksichtigung von HaÈrtefaÈllen) zulassen, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar (EuGH, Marschall, Rs C-409/95, Slg 1997, I-6363). Durch Art 141 Abs 4 EGV wurde der Grundsatz der ¹effektiven GewaÈhrleistung der vollen Gleichstellungª primaÈrrechtlich anerkannt.
1682 4. Der Anspruch auf Gleichbehandlung von MaÈnnern und Frauen ist auch im Privatrechtsverkehr und in Arbeits- und DienstverhaÈltnissen sowie beim Zugang zu bestimmten Gu È tern und Dienstleistungen zu beachten. Entsprechende Verpflichtungen und Verfahren zur Sicherung der Geschlechtergleichberechtigung finden sich auf einfachgesetzlicher Ebene in verschiedenen Gleichbehandlungsgesetzen. Sie wurden in den letzten Jahren in Umsetzung der einschlaÈgigen Anti-DiskriminierungsRL der EU umfassend u È berarbeitet: Das fu È r private ArbeitsverhaÈltnisse geltende GleichbehandlungsG (GlBG) verbietet jede Form der direkten oder indirekten Diskriminierung auf Grund des Geschlechts im Zusammenhang mit ArbeitsverhaÈltnissen und in sonstigen ZusammenhaÈngen mit der Arbeitswelt sowie beim Zugang zu bestimmten Gu È tern und Dienstleistungen. Sexuelle BelaÈstigung und gewisse andere BelaÈstigungen werden einer Diskriminierung gleich gehalten. Stellenausschreibungen sind geschlechtsneutral zu verfassen. Abgesichert werden diese Regelungen durch zivilrechtliche Anspru È gensschaÈ che (vor allem Ersatz des Vermo dens und EntschaÈdigung fu È r die persoÈnliche BeeintraÈchtigung), wobei die Durchsetzung der Anspru È che durch eine Beweislastumkehr erleichtert wird. Auch andere Formen der Diskriminierung im Zusammenhang mit ArbeitsverhaÈltnissen bzw der Arbeitswelt werden verboten und in das Schutzsystem einbezogen; das betrifft DiskriÈ rigkeit, der Religion oder Weltminierungen auf Grund der ethnischen Zugeho anschauung, des Alters oder der sexuellen Orientierung. Fu È r DienstverhaÈltnisse zum Bund enthaÈlt das Bundes-GleichbehandlungsG BGBl 1993/100 idgF Èahnliche Bestimmungen; im Kompetenzbereich der LaÈnder (land- und forstwirtschaftliche ArbeitsverhaÈltnisse, DienstverhaÈltnisse zum Land und zu den Gemeinden) gibt es vergleichbare Regelungen. 1683 5. Als eine besondere AuspraÈgung des Prinzips der GeschlechterparitaÈt verankert Art 7 Abs 3
B-VG das Recht Amtsbezeichnungen, Titel, akademische Grade und Berufsbezeichnungen in der Form zu verwenden, die das Geschlecht des Amtsinhabers oder der Amtsinhaberin zum Ausdruck bringt. Damit soll unabhaÈngig von der durch eine Rechtsvorschrift oder durch den Sprachgebrauch eingefu È hrten (haÈufig maÈnnlich formulierten) Sprachform die Fu È hrung der genannten Bezeichnungen auch in einer Form ermoÈglicht werden, welche die entsprechende GeschlechtszugehoÈrigkeit verdeutlicht. Dieses Recht gilt unmittelbar und auch dann, wenn die die Amtsbezeichnung usw regelnde Norm (zB eine studienrechtliche Rechtsvorschrift) nur eine maÈnnliche Form vorsieht.
3. Kapitel: Die einzelnen Grundrechte
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54.1.5. Die Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen Art 7 Abs 1 Satz 3 B-VG formuliert mit dem Verbot der Benachteiligung behin- 1684 derter Menschen ein spezielles Diskriminierungsverbot. An sich bringt dieser Satz nur eine Verdeutlichung; dass eine Benachteiligung Behinderter wegen ihrer Behinderung unzulaÈssig ist, folgt schon aus dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz. Eine Ungleichbehandlung zum Schutz Behinderter ist freilich zulaÈssig. Der weitere Satz mit dem ¹Bekenntnisª der Republik zur GewaÈhrleistung der 1685 Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen in allen Bereichen des taÈglichen Lebens zielt auf eine Realisierung tatsaÈchlicher Chancengleichheit behinderter Menschen durch eine entsprechende Ausgestaltung der Rechtsordnung (zB durch eine baurechtliche Verpflichtung zu behindertengerechtem Bauen) und durch FoÈrderungsmaûnahmen und sonstige faktische Vorkehrungen, die behinderten Menschen das Leben erleichtern (zB durch eine entsprechende Gestaltung von Verkehrswegen im Rahmen der privatwirtschaftlichen Straûenverwaltung). a) Dogmatisch betrachtet stellt diese Regelung ebenso wie Art 7 Abs 2 B-VG eine Staatszielbestimmung dar, die im Rahmen einer weit bemessenen rechtspolitischen Gestaltungsfreiheit eine verfassungsrechtliche Handlungspflicht begru È ndet; daru È ber hinaus stellt sie eine Wertentscheidung dar, die bei der Auslegung des einfachen Gesetzesrechts oder im Rahmen von AbwaÈgungsentscheidungen entsprechend zu beru È cksichtigen ist (vgl VfSlg 16.350/2001 zum verfassungswidrigen Ausschluss arbeitsunfaÈhiger Personen von der Sondernotstandshilfe, was ua gegen das Verbot der Benachteiligung Behinderter verstoÈût). b) Der verfassungsrechtliche Auftrag des Art 7 Abs 1 Satz 3 B-VG wurde fu È r den ZustaÈndigkeitsbereich des Bundes durch das Bundes-BehindertengleichstellungsG BGBl I 2005/82 ausgefu È hrt, das zugleich die Anti-DiskriminierungsRL 2000/78/EG im Hinblick auf den Schutz behinderter Menschen vor Diskriminierung fu È r den Bundesbereich umsetzt. Es verbietet jede Diskriminierung und andere BelaÈstigungen wegen einer Behinderung, verpflichtet zum Abbau bauliÈ bergangsfristen gibt, und sieht Schadenersatzanspru cher Barrieren, wofu È r es freilich lange U Èche sowie die MoÈglichkeit einer Verbandsklage bei VerstoÈûen gegen das Diskriminierungsverbot vor. Durch die Verfassungsbestimmung des Art 8 Abs 3 B-VG wird die GebaÈrdensprache verfassungsrechtlich anerkannt; ihre Verwendung im Verkehr mit BehoÈrden richtet sich nach naÈheren einfachgesetzlichen Regelungen (vgl zB § 76 Abs 1 AVG). Eine weitere Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Schutzes behinderter Menschen durch den einfachen Gesetzgeber stellt die Verwaltungsstrafbestimmung des Art III Abs 1 Z 3 EGVG dar, welche auch die ungerechtfertigte Benachteiligung Behinderter unter Strafe stellt.
54.1.6. Vertrauensschutz und Gleichheitsgrundsatz 1. Der Rechtsstaat beruht auf dem Grundwert der Rechtssicherheit und er muss 1686 das Vertrauen seiner Bu È rger schu È tzen, die im Hinblick auf eine bestehende Rechtslage Dispositionen treffen. Andererseits ist der regelungsintensive Sozialstaat der Gegenwart darauf angewiesen die Rechtsordnung fortwaÈhrend an geaÈnderte Bedu È rfnisse und neue Notwendigkeiten anzupassen. In einer durch die persoÈnliche Freiheit gekennzeichneten Gesellschaftsordnung muss der Mensch daher auch mit dem Risiko von RechtsaÈnderungen leben. Daher kann der Staat dem Bu È rger nicht jede EnttaÈuschung ersparen, auch wenn er fu È r die vom ihm geweckten Rechtserwartungen einstehen muss. Das verfassungsrechtliche Vertrauensschutzprinzip ist auf einen Ausgleich dieser widerspru È chlichen Prinzipien angelegt. Es wird ± da es eine ausdruÈckliche verfassungsrechtliche Verankerung dieses Prinzips in der oÈsterreichischen Verfassung nicht gibt ± vom VfGH aus dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz abgeleitet. 2. Das verfassungsrechtliche Vertrauensschutzprinzip umfasst verschiedene in- 1687 haltliche AuspraÈgungen. Auch wenn ihnen das Grundprinzip gemeinsam ist,
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weil es in allen FaÈllen um den Schutz von Vertrauenspositionen des Bu È rgers vor u È berraschenden und nicht vorhersehbaren RechtsaÈnderungen geht, mu È ssen diese unterschiedlichen TatbestaÈnde auseinander gehalten werden. Der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz verbu È rgt im Einzelnen (Einteilung nach Michael Holoubek): . einen Schutz vor ru È ckwirkenden Gesetzen, . einen Schutz von rechtlichen Anwartschaften (¹wohlerworbene Rechteª), . einen eng begrenzten Schutz von begru È ndeten Erwartungshaltungen und damit in Zusammenhang stehenden Dispositionen und Investitionen bei sonstiger RechtsÈanderung. È nderung einer gesetz1688 a) Eine ru È ckwirkende und fu È r die Bu È rger nachteilige A lichen Bestimmung ist unter den Aspekten des Vertrauensschutzprinzips verfassungswidrig, wenn ¹die Normunterworfenen durch einen Eingriff von erheblichem Gewicht in einem berechtigten Vertrauen auf die Rechtslage enttaÈuscht wurden und nicht etwa besondere UmstaÈnde eine solche Ru È ckwirkung verlangenª (stRspr seit VfSlg 12.186/1989). Diese Judikatur ist vor allem zu ru È ckwirkenden Abgabengesetzen entwickelt worden und hat dazu gefu È hrt, dass eine ru È ckwirkend fu È r schon realisierte TatbestaÈnde eingefu È hrte steuerliche Belastung in der Regel unzulaÈssig ist; sie ist auch auf andere FaÈlle einer Ru È ckwirkung erstreckt worden. Zu den Einzelheiten dieses Ru È ckwirkungsverbots vgl Rz 489 f. 1689 Nach der aÈlteren Rspr sollte der Gesetzgeber grundsaÈtzlich befugt sein Rechtsvorschriften
auch mit ru È ckwirkender Geltung in Kraft zu setzen (VfSlg 2009/1950); die einzige explizite Grenze bestand im ausdru È cklichen Verbot ru È ckwirkender Strafgesetze (Art 7 EMRK). Den Durchbruch zu einem prinzipiellen Ru È ckwirkungsverbot brachte die Entscheidung VfSlg 12.186/1989. Dabei konnte der Gerichtshof an seine kurz zuvor getroffene Entscheidung zu den Politikerpensionen (VfSlg 11.309/1987) und das Grundprinzip des Vertrauensschutzes anknu È pfen: Rechtsnormen zielen danach auf die Steuerung menschlichen Verhaltens, eine Funktion, die sie nur erfu È nnen, wenn sich die Normunterworfenen bei ihren Dispositionen È llen ko an der geltenden Rechtslage orientieren ko È nnen. Daher ko È nnen gesetzliche Vorschriften mit dem Gleichheitsgrundsatz in Konflikt geraten, weil und soweit sie die im Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage handelnden Normunterworfenen nachtraÈglich belasten. Dies gelte ± so der VfGH ± nicht nur bei schwer wiegenden und ploÈtzlich eintretenden Eingriffen in erworbene Rechtspositionen, sondern auch fu È r ru È ckwirkende gesetzliche Vorschriften.
1690 b) Der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz erstreckt sich auch auf rechtliche Anwartschaften, wie sie zB die durch bereits geleistete BeitraÈge erworbenen Anspru È che auf ku È nftige Pensionsleistungen oder vergleichbare Anspru È che aus privaten PensionsvertraÈgen darstellen (vgl zum Pensionsanspruch der Beamten VfSlg 11.665/ 1988 und zu dem von Politikern VfSlg 11.309/1987): Weil die Betroffenen solche Anwartschaften durch eine langjaÈhrige AmtstaÈtigkeit erworben und im Vertrauen auf den entsprechenden Ruhegenuss auch Dispositionen getroffen haben, sind dem Gesetzgeber einschneidende Eingriffe verwehrt. Bei u È berwiegenden oÈffentlichen Interessen sind auch Eingriffe in rechtlich geschu È tzte Erwartungen und bereits bestehende Leistungen zulaÈssig (VfSlg 16.764/2002). 1691 Eingriffe in solche Rechtspositionen sind daher nicht schlechterdings ausgeschlossen. Un-
ter den Aspekten des Vertrauensschutzes sachlich nicht zu rechtfertigen ist nur die ¹Minderung wohlerworbener Rechte jedweder Art in jedweder IntensitaÈtª (so der VfGH in stRspr; vgl zB VfSlg 11.665/1988). Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers wird damit im Ergebnis durch das VerhaÈltnismaÈûigkeitsprinzip bestimmt, wobei in die AbwaÈgung das Ausmaû des Eingriffs in eine rechtliche Anwartschaft und das Gewicht der oÈffentlichen Interessen, welche die EinschraÈnkung erzwingen, eingestellt werden mu È ssen. So hat der VfGH das Ziel der Budgetkonsolidierung oder der Arbeitsmarktpolitik als oÈffentliche Interessen anerkannt, die eine maÈûige Beschneidung rechtlicher Anwartschaften rechtfertigen koÈnnen, wobei auch soziale Aspekte (eine Ku È rzung darf nicht wirtschaftlich SchwaÈchere staÈrker treffen), der Erwartungshorizont der Betroffenen und Gesichtspunkte der gesamtgesellschaftlichen SolidaritaÈt
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(dh ob notwendige Einschnitte gleichmaÈûig auf alle BevoÈlkerungsgruppen verteilt sind) eine Rolle spielen (vgl zB VfSlg 11.288/1987, 11.665/1988, 14.842/1997). Auch die Zulagenku È rzungen bei Beamten und Richtern wurden vor allem im Hinblick auf ihre vergleichsweise geringe Ho È he nicht beanstandet (VfSlg 14.867, 14.888/1997), ebenso wenig die Anhebung des PensiÈ bergangsbestimmungen und Einschleifregelunonsalters fu È r Politiker (VfSlg 16.292/2001). U gen koÈnnen die VerhaÈltnismaÈûigkeit gewaÈhrleisten. Verfassungswidrig war aber eine erhebliche Pensionsku È rzung (20 bis 26 %) bei nahe dem Pensionsalter stehenden Personen (VfSlg 17.254/2004 zur Pensionsku È rzung bei Notaren).
È nderungen der Rechtslage, die fu c) Sonstigen A È r die Normunterworfenen nach- 1692 teilig sind und die weder einen Fall einer Ru È ckwirkung betreffen noch in rechtliche Anwartschaften eingreifen, legt der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz im Allgemeinen keine Hindernisse in den Weg. Nach der Judikatur des VfGH genieût das Vertrauen auf den unveraÈnderten Fortbestand der gegebenen Rechtslage keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz, weil dies auf eine weitgehende Beseitigung des von der Verfassung dem Gesetzgeber zugewiesenen rechtspolitischen Gestaltungsspielraumes hinauslaufen wu È rde (VfSlg 13.461, 13.657/1993). Im wirtschaftlichen Verkehr mu È sse auch damit gerechnet werden, dass sich Preise, Tarife und Abgaben Èandern (so zur ErhoÈhung der Flughafen-Sicherheitsabgabe VfSlg 14.868/ 1997). Nur ausnahmsweise und unter ganz spezifischen Voraussetzungen kann es sein, dass der Gesetzgeber verfassungsrechtlich zu einer Ru È cksichtnahme verpflichtet ist und er eine einmal geschaffene Rechtslage nicht ohne weiteres zum Nachteil der davon Betroffenen Èandern darf. Es handelt sich dabei in der Regel um FaÈlle, in denen der Gesetzgeber durch vorheriges Handeln einen besonderen Vertrauenstatbestand geschaffen hat, der u È ber das Vertrauen hinausgeht, das die Bu È rger allgemein in den Bestand der Rechtsordnung setzen du È rfen, oder wenn es sich um besonders intensive Eingriffe in schutzwu È rdige Interessen handelt. Derartige UmstaÈnde nimmt der VfGH vor allem dann an, wenn die Normunterworfenen durch 1693 eine in Aussicht gestellte Begu È nstigung zu einem bestimmten Aufwand veranlasst wurden, der dann wegen Wegfalls der Begu È nstigung frustriert wird. Exemplarisch ist der Fall des Nachtfahrverbots fu È r laÈrmarme Lkw: Nachdem Anfang der 1990er Jahre Unternehmer veranlasst durch das Nachtfahrverbot fu È r schwere Lkw ihren Fuhrpark auf laÈrmarme Fahrzeuge umgestellt hatten, die vom Fahrverbot explizit ausgenommen waren, wurde vom Verordnungsgeber fu È r eine wichtige Durchzugsstraûe ein Fahrverbot auch fu È r solche laÈrmarmen Lkw erlassen. Weil zuvor ein entsprechender Vertrauenstatbestand geschaffen worden war, der geradezu zu der dann frustrierten Investition motiviert hatte, war die Verordnung verfassungswidrig (VfSlg 12.944/1991). Verfassungswidrig war auch die u È berfallsartige Besteuerung der Einku È nfte aus Unfallrenten in Zusammenhang mit den damit verbundenen betraÈchtlichen Einkommensverlusten (VfSlg 16.754/2002) oder die plo È tzliche Ku È rzung der Bezu È ge der Rechtspraktikanten um 14 % (VfSlg 15.936/2000). Auch schwere Eingriffe wie ein Verbot der Nutzung bestimmter Investitionsgu Ènnen freilich dann gerechtfertigt sein, wenn der Gesetzgeber entspreÈ ter ko È bergangsvorschriften oder Einschleifregelungen vorsieht (VfSlg 12.485/1990, chende U 13.177/1992).
54.1.7. Gleichheitsgrundsatz und Vollziehung Der Gleichheitsgrundsatz bindet auch die Vollziehung, wobei die Rechtsanwen- 1694 dungsgleichheit (Gleichheit ¹vor dem Gesetzª) sogar die urspru È ngliche Bedeutung dieses Grundrechts war. Vor dem VfGH kommt die Bindung der Verwaltung im Zusammenhang mit der Kontrolle von Verordnungen und im Bescheidpru È fungsverfahren zum Tragen. 1. Fu È fung gelten im Prinzip die gleichen MaûstaÈbe wie bei 1695 È r die Verordnungspru der Gesetzespru È fung: Eine Verordnung verletzt daher dann den Gleichheitsgrundsatz, wenn sie entweder auf einem gleichheitswidrigen Gesetz beruht (und daher nach Aufhebung des Gesetzes auch gesetzlos ist) oder wenn sie eine Differenzierung
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vornimmt, die sachlich nicht gerechtfertigt ist (VfSlg 10.492/1985, 13.482/1993). Freilich u È berlagert bei Verordnungen oft die Pru È fung ihrer GesetzmaÈûigkeit die Beurteilung anhand des Gleichheitsgrundsatzes. Eine umfangreiche gleichheitsrechtliche Judikatur zu Verordnungen gibt es vor allem im Zusammenhang mit dem planungsrechtlichen Sachlichkeitsgebot bei RaumordnungsplaÈnen. Unsachlich und gleichheitswidrig ist etwa die willku È rliche Begu È nstigung eines Liegenschaftseigentu È mers (VfSlg 14.629/1996) oder die Umwidmung eines Grundstu È ckes nur zu dem Zweck um einen der Gemeinde nicht genehmen Liegenschaftserwerb zu verhindern (VfSlg 7949/ 1976) oder eine rechtswidrige Baufu È hrung nachtraÈglich zu sanieren (VfSlg 15.104/1998). Auch Verordnungen mu È ssen jederzeit dem Sachlichkeitsgebot entsprechen, so dass auch sie durch eine Nichtanpassung an geaÈnderte UmstaÈnde gleichheitswidrig werden ko È nnen. Daher wurde eine durch Verordnung als provisorische Sicherheitsmaûnahme verfu È gte GeschwinÈ nderung der VerhaÈltnisse nicht angedigkeitsbeschraÈnkung verfassungswidrig, die nach einer A passt wurde (VfSlg 12.290/1990).
È berpru 1696 2. Bei der U È fung individueller Verwaltungsakte (Bescheide) am Maûstab des Gleichheitsgrundsatzes kommt in stRspr die folgende ¹Grundrechtsformelª zur Anwendung: Ein Bescheid verletzt den Gleichheitsgrundsatz dann, wenn er sich auf ein gleichheitswidriges Gesetz stu È tzt, wenn die BehoÈrde dem anzuwendenden Gesetz einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn sie bei der Erlassung des Bescheids Willku Èr u È bt (zB VfSlg 9212/1981). È berlegung verdeutliDie praktische Bedeutung dieser ¹Formelª laÈsst sich durch die folgende U chen: An sich ko È nnte man davon ausgehen, dass jeder rechtswidrige Akt der Vollziehung auch gegen das Gleichheitsgebot verstoÈût, weil in einem solchen Fall eine Rechtsvorschrift eben nicht ¹gleichmaÈûigª gegenu È ber allen Rechtsunterworfenen angewendet wird; denn der Einzelne wird im Fall eines rechtswidrigen Vollzugsaktes anders behandelt, wenn man seinen Fall mit einem rechtmaÈûigen Vollzugsakt vergleicht. So gesehen wu È rde dann freilich jede Rechtswidrigkeit auf eine Gleichheitswidrigkeit und damit zugleich auf eine Verfassungswidrigkeit hinauslaufen, was dem Rechtsschutzkonzept des B-VG nicht entspraÈche, das die Entscheidung u È ber ¹einfacheª Rechtswidrigkeiten dem VwGH vorbehaÈlt. Daher hat die angefu È hrte ¹Grundrechtsformelª die praktische Funktion, jene gravierenden VerstoÈûe gegen das Gebot der gleichmaÈûigen Rechtsanwendung, welche in die VerfassungssphaÈre reichen, von sonstigen Rechtswidrigkeiten abzuheben und damit zugleich die Kompetenz des VfGH nach Art 144 B-VG zu begrenzen.
1697 a) Gleichheitswidrig ist ein Bescheid, wenn das ihm zu Grunde liegende Gesetz gleichheitswidrig ist. Nach Aufhebung des Gesetzes im GesetzespruÈfungsverfahren wird auch der Anlassfallbescheid nach Art 144 B-VG als verfassungswidrig aufgehoben. Die praktische Bedeutung dieser ersten Formelvariante ist deshalb groû, weil Bescheidbeschwerden und die dahinter stehenden individuellen Anliegen immer wieder und auch in wichtigen FaÈllen den Anstoû fu È r die amtswegige Einleitung eines GesetzespruÈfungsverfahrens gegeben haben (vgl zB VfSlg 12.940/1991, 14.992/1997 ± Familienbesteuerung). 1698 b) Unterstellt die VerwaltungsbehoÈrde einem Gesetz bei der Erlassung eines Bescheids faÈlschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt, wird ebenfalls der Gleichheitssatz verletzt (stRspr seit VfSlg 5442/1966; vgl ferner zB VfSlg 13.220/ 1992, 13.730/1994). Daher war es zB gleichheitswidrig, wenn die BehoÈrde die Pflege und Erziehung eines Kindes vor Vollendung des dritten Lebensjahres nicht als wichtigen Grund iS des StudienfoÈrderungsG anerkannt hatte (VfSlg 14.442/ 1996). Zur Vermeidung einer gleichheitswidrigen Auslegung kann es geboten sein eine Lu È cke im Wege der Analogie zu schlieûen (VfSlg 15.197/1998 zur gebotenen analogen Anwendung einer steuerrechtlichen Befreiungsvorschrift; vgl ferner zB VfSlg 15.730/2000, 17.905/2006).
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c) Gleichheitswidrige Willku È r tritt in verschiedenen Erscheinungsformen auf. 1699 Subjektive Willku È r liegt vor, wenn eine BehoÈrde absichtlich Unrecht zufu È gt und vor allem aus persoÈnlichen Motiven parteiisch handelt (vgl VfSlg 2602/1953 zu einer offensichtlich aus politischen Gru È nden erfolgten Entlassung eines oÈffentlich-rechtlichen Bediensteten). Derartige FaÈlle des krassen behoÈrdlichen Fehlverhaltens sind freilich selten und oft auch nicht nachweisbar. Daher hat der VfGH schon fru È h (VfSlg 4480/1963, 9206/1981) den Begriff der Willku È r auch auf FaÈlle der so genannten objektiven Willku È r erweitert. Von objektiver Willku È r wird gesprochen, wenn ein Bescheid wegen gehaÈuften Verkennens der Rechtslage mit den Rechtsvorschriften in besonderem Maû in Widerspruch steht oder wenn der BehoÈrde gravierende Verfahrensfehler unterlaufen sind. In beiden FaÈllen handelt es sich um qualifizierte Rechtswidrigkeiten entweder im materiellrechtlichen Bereich oder im Bereich des formellen Rechts. Objektive Willku È r liegt jedenfalls vor, wenn die BehoÈrde so fehlerhaft vorgegangen ist, dass 1700 dies mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist (VfSlg 12.563/1990). Daher kann auch È gliche Gesetzesanwendung ein Indiz fu eine denkunmo È r Willku È r sein (VfSlg 11.754/ È brigen umschreibt der VfGH die qualifizierte Gesetzwidrigkeit mit unterschiedli1988). Im U chen Wendungen und spricht von Willku È r, wenn die Rechtslage ¹in besonderem Maûª (VfSlg 11.840/1988), ¹gehaÈuftª (VfSlg 13.407/1993), ¹krassª (VfSlg 14.906/1997) oder ¹voÈlligª (VfSlg 10.129/1984) verkannt wurde. Ob sich die BehoÈrde um eine richtige Rechtsanwendung bemu È ht hat oder nicht, spielt keine entscheidende Rolle: Entscheidet die BehoÈrde leichtfertig, ist das ein deutlicher Hinweis auf Willku È r, waÈhrend andererseits aber auch ein ¹Bemu È henª der BehoÈrde allfaÈllige Gleichheitswidrigkeiten nicht ausschlieût (VfSlg 8737, 8808/1980). Abgesehen von den bereits angefu È hrten FaÈllen einer grob unrichtigen und auf eine denkunmoÈgliche Auslegung hinauslaufenden Rechtsanwendung liegt objektive Willku È r auch vor: bei einem Ermessensexzess (VfSlg 4480/1963, 12.484/1990), bei einem Verstoû gegen die GrundsaÈtze von Treu und Glauben (VfSlg 10.220/1984, 12.566/1990) oder bei einem nicht ausreichend begru È ndeten Abgehen von einer rechtmaÈûigen behoÈrdlichen Praxis (VfSlg 8375/1978). Willku È rlich kann es auch sein, wenn eine BehoÈrde von voÈllig abwegigen Sachverhaltsannahmen È nderung der Praxis einer BehoÈrde ist fu ausgeht (VfSlg 17.506/2005). Eine A È r sich allein betrachtet freilich nicht geeignet den Gleichheitsgrundsatz zu verletzen (so zB VfSlg 13.404/ 1993 zur jahrelangen Nicht-Einhebung einer Abgabe). Es gibt auûerdem keinen Anspruch auf ¹Gleichbehandlung im Unrechtª; daher kann aus einem behoÈrdlichen Fehlverhalten (zB unterlaÈsst die BehoÈrde in Begu È nstigungsabsicht die Bestrafung vorschriftswidrig abgestellter Pkw) nicht das Recht abgeleitet werden ebenfalls nicht bestraft zu werden (VfSlg 8376/ 1978, 9110/1981, 9806/1983, 14.811/1997). Im Hinblick auf VerfahrensmaÈngel begru È ndet nicht jeder Verstoû gegen eine Verfahrens- 1701 vorschrift Willku È r, sondern nur eine gravierende Verletzung des formellen Rechts. Eine solche nimmt der VfGH an: wenn die BehoÈrde u È berhaupt oder in einem entscheidenden Punkt jede ErmittlungstaÈtigkeit unterlaÈsst, vor allem wenn das mit einem Ignorieren des Parteienvorbringens, einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder einem Auûerachtlassen des konkreten Sachverhalts verbunden ist (vgl zB VfSlg 11.852/1988), wenn eine Beweisaufnahme einseitig durchgefu È ndung oder È hrt wird (VfSlg 13.830/1994), wenn jegliche Begru eine Begru È ndung zu besonders wichtigen Teilen eines Bescheids fehlt oder die BehoÈrde einen Bescheid mit Ausfu È hrungen begru È ndet, denen kein Begru È ndungswert zukommt (vgl zB VfSlg 10.057/1984). Weitere schwere VerfahrensmaÈngel stellen dar: die Missachtung von ParteienÈ r, wenn die BehoÈrde es rechten, VerstoÈûe gegen die Bestimmungen u È ber das Parteiengeho unterlaÈsst sich mit den Gru È nden auseinander zu setzen, die fu È r oder gegen die von ihr getroffene Entscheidung sprechen (vgl vor allem die Judikatur zur Besetzung bestimmter Dienstposten im Schulbereich auf Grund eines mehrere Personen umfassenden Besetzungsvorschlags, zB VfSlg 15.114/1998).
54.1.8. Zur Fiskalgeltung des Gleichheitsgrundsatzes Fu È r die staatliche Privatwirtschaftsverwaltung ist das dem Gleichheitssatz imma- 1702 nente Sachlichkeitsgebot ebenso unabdingbar, wie es klar ist, dass der Staat auch
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Teil IV. Die Grundrechte
dann nicht willku È rlich handeln darf, wenn er sich der Rechtsformen des Privatrechts bedient. Die Fiskalgeltung des Gleichheitssatzes ist heute daher auch nicht mehr strittig und in der Judikatur anerkannt. Dabei handelt es sich zumindest nach der Praxis der Zivilgerichte um eine Erscheinungsform der mittelbaren Drittwirkung, dh dass die dem Gleichheitssatz entspringenden Pflichten und Anspru È che mit den privatrechtlich vorgesehenen Rechtsinstitutionen (Sittenwidrigkeit, culpa in contrahendo, Kontrahierungszwang, Diskriminierungsverbote usw) durchgesetzt werden. Die wichtigsten Anwendungsbereiche dieser Fiskalgeltung finden sich in den Bereichen der staatlichen und kommunalen Leistungsverwaltung, beim FoÈrderungswesen und bei der Vergabe oÈffentlicher AuftraÈge. 1703 Erbringt eine GebietskoÈrperschaft Versorgungsleistungen in privatrechtlicher Form, auf welche die Bu È rger angewiesen sind, unterliegt sie unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes einer Verpflichtung zur Gleichbehandlung und einem Abschlusszwang zu angemessenen Bedingungen, wenn sie die Verweigerung eines Vertragsabschlusses nicht auf sachliche Gru È nde stu È tzen kann (stRspr seit OGH SZ 44/138 ± Anschluss an Straûe). Ein Diskriminierungsverbot gilt auch fu È r die Vergabe von Subventionen. Ein Ausschluss von einer FoÈrderung ist danach nur aus sachlichen, im FoÈrderungszweck liegenden Gru È nden zulaÈssig (zB OGH SZ 61/261, 65/166). Im Vergaberecht kann es schlieûlich zu Schadenersatzpflichten unter dem Gesichtspunkt der culpa in contrahendo kommen, wenn ein Bieter in unsachlicher Weise u È bergangen wird, wobei auch nur intern wirkende Vergabevorschriften als Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebotes aufgefasst werden (OGH SZ 61/90, 61/134). Weite Bereiche des Vergaberechts sind allerdings gesetzlich ausgestaltet (BVergG), so dass sich der unmittelbare Ru È ckgriff auf den Gleichheitsgrundsatz eru È brigt. Die Reichweite des Vergaberechts selbst muss sachlich abgegrenzt sein (vgl zur Gleichheitswidrigkeit von Schwellenwertregelungen im BVergG VfSlg 16.027/2000, 16.073/2001).
54.1.9. Zur Drittwirkung des Gleichheitsgrundsatzes 1704 Im privatrechtlichen VerhaÈltnis der Bu È rger untereinander bedarf es einer besonderen Begru È ndung, wieso aus dem Gleichheitsgrundsatz eine Verpflichtung zur Gleichbehandlung folgen soll: In der Regel koÈnnen die Privaten ihre Rechtsbeziehungen im Rahmen der Privatautonomie frei gestalten, und zwar auch dann, wenn es wirtschaftliche oder andere Ungleichgewichtigkeiten gibt. Bei besonderen Lagen kann allerdings auch im vertraglichen Bereich eine Drittwirkung des Gleichheitssatzes bestehen, die in der Regel als mittelbare Drittwirkung in Erscheinung tritt. So ist es unumstritten, dass der Monopolist einem Kontrahierungszwang unterliegt und einen Vertragsabschluss nur aus sachlichen ErwaÈgungen ablehnen darf; ein solcher Kontrahierungszwang kann nach der ju È ngeren Judikatur auch losgeloÈst von der Versorgung mit lebenswichtigen Gu È tern oder Dienstleistungen und auch auûerhalb von Monopolsituationen bestehen, vor allem dann, wenn der Ausschluss von einer Leistung (zB Lokalverbot) in diskriminierender Weise erfolgt und daher sittenwidrig erscheint (vgl die Nachweise oben Rz 1272 ff). 1705 Um eine Form der Drittwirkung handelt es sich ferner, wenn die Vertragspartner bei den ar-
beitsrechtlichen Instrumenten der kollektiven Rechtsgestaltung (Kollektivvertrag, Betriebsvereinbarung) an den Gleichheitsgrundsatz gebunden sind (vgl oben Rz 1276). Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet dem Arbeitgeber einzelne Arbeitnehmer willku È rlich, dh ohne sachlichen Grund, gegenu È ber anderen Arbeitnehmern zu benachteiligen (vgl zB OGH SZ 62/4; OGH 19.12.1990, 9 Ob A 601/90, JBl 1991, 468 usw). Eine weitere einfachgesetzliche Ausgestaltung des Gleichheitsgrundsatzes ist durch die Gleichbehandlungsgesetze erfolgt. Sie verbieten jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung im Zusammenhang mit einem ArbeitsverhaÈltnis oder in der sonstigen Arbeitswelt, wobei diese Diskriminierungsverbote jede Benachteiligung eines Menschen wegen seines Geschlechts, der ethnischen ZugehoÈrigkeit, der Religion oder Weltanschauung, der sexuellen Orientierung oder einer Behinderung umfassen (vgl Rz 1682 und Rz 1685).
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54.2. Besondere Gleichheitsverbu È rgungen Rechtsquellen: Art 7 Abs 4 B-VG; Art 3 StGG; Art 8 StV Wien; Art 66 Abs 2 StV St. Germain; Art 14 EMRK; Art I BVG-Rassendiskriminierung.
È ffentlich 54.2.1. Die GewaÈhrleistung der politischen Rechte der o Bediensteten Zu den besonderen AuspraÈgungen des Gleichheitssatzes geho È rt das in Art 7 1706 Abs 4 B-VG verankerte Diskriminierungsverbot, das o È ffentlich Bediensteten (Beamte, Vertragsbedienstete) Gleichheit im Hinblick auf die Ausu È bung der politischen Rechte gewaÈhrleistet. Es bezog sich historisch auf die noch in der Monarchie u È blichen besonderen BeschraÈnkungen der Beamten und der AngehoÈrigen des Heeres bei politischen AktivitaÈten. Umstritten war wegen der Mehrdeutigkeit des Begriffs der ¹politischen Rechteª die Abgren- 1707 zung der Rechte, hinsichtlich derer Art 7 Abs 4 B-VG Gleichberechtigung verbu È rgt. In seiner Èalteren Judikatur hat der VfGH den Begriff der politischen Rechte in dieser Bestimmung mit dem Begriff der ¹politischen Rechteª in Art 142 Abs 4 B-VG gleichgesetzt und auf die Rechte des ¹status activusª beschraÈnkt (dh auf das aktive und passive Wahlrecht und die plebiszitaÈren Volksrechte; seit VfSlg 775/1927; vgl ferner zB VfSlg 5003/1965 ua). Verfassungswidrig waÈre danach etwa nur ein Ausschluss vom Wahlrecht oder eine sonstige Benachteiligung eines Mandatars bei seiner BeamtentaÈtigkeit (VfSlg 13.976/1994). In der Literatur wurde demgegenu È ber u È berzeugend dargelegt, dass zu den ¹politischen Rechtenª iS von Art 7 Abs 4 B-VG nicht nur die Rechte des status activus gehoÈren, sondern auch die Vereins-, Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit sowie das Petitionsrecht und das Recht auf gleichen ZuÈ mtern. Daher du È ffentlichen A gang zu o È rfen oÈffentlich Bedienstete auch hinsichtlich dieser Rechte nicht diskriminiert werden und haben ± wie die anderen GrundrechtstraÈger ± einen grundrechtlichen Anspruch darauf, ihre Meinung frei zu Èauûern oder sich in politischen Vereinen oder Parteien zu organisieren usw. Dienstrechtliche BeschraÈnkungen sind nur in jenen Grenzen zulaÈssig, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft wegen der den o È ffentlich Bediensteten auferlegten Pflichten sachlich gerechtfertigt und unerlaÈsslich sind.
È mterzugaÈnglichkeit 54.2.2. Das Recht auf gleiche A È m- 1708 È ffentliche A Art 3 StGG sichert jedem Staatsbu È rger das Grundrecht zu, sich um o È mtern nicht aus unsachliter frei zu bewerben und vom Zugang zu solchen A chen Gru È nden ausgeschlossen zu werden. Zugleich wird fu È r die Ausu È bung ¹oÈffentliÈ mterª das Erfordernis der oÈsterreichischen Staatsbu cher A È rgerschaft aufgestellt (Art 3 Abs 2 StGG). È mtern im Sinn von Art 1709 È ffentlichen A a) Nach der herrschenden Auffassung gehoÈren zu den o 3 StGG diejenigen Organstellungen zu einer GebietskoÈrperschaft oder zu sonstigen juristischen Personen des oÈffentlichen Rechts, die durch einen oÈffentlich-rechtlichen Akt (zB bescheidmaÈûige Ernennung zum Beamten) begru È ndet werden und die Anteil an der Ausu È bung von Hoheitsgewalt geben (VfSlg 7593/1975, 14.299/1995). Daher ist AuslaÈndern auch der ZuÈ sterreich grundsaÈtzlich vergang zum oÈffentlich-rechtlichen BeamtendienstverhaÈltnis in O wehrt. Bu È rger der Mitgliedstaaten der EU und des EWR du È rfen wegen der ihnen gemeinschaftsrechtlich eingeraÈumten persoÈnlichen Freizu È gigkeit (Art 39 EGV) nicht schlechterdings von oÈffentlich-rechtlichen (oder privatrechtlichen) DienstverhaÈltnissen zur oÈffentlichen Hand ausgeschlossen werden, sondern nur von einer ¹BeschaÈftigung in der o È ffentlichen Verwaltungª iS von Art 39 Abs 4 EGV. Nach der Rspr des EuGH sind das nur jene DienstverhaÈltnisse, die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Besorgung hoheitlicher Aufgaben vermitteln und die Wahrnehmung allgemeiner Belange des Staates umschlieûen (zB EuGH, Kommission/ Griechenland, Rs C-290/94, Slg 1996, I-3285).
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Teil IV. Die Grundrechte
1710 b) Die praktische Bedeutung und die EffektivitaÈt des Rechts auf gleiche AÈmterzugaÈnglich-
keit sind gering, weil Bewerber um ein oÈffentliches Amt nach einer sachlich problematischen Rspr keine Parteistellung haben. Damit stehen ihnen auch keine wirksamen Rechtsbehelfe zur Verfu È gung, wenn sie tatsaÈchlich aus unsachlichen Gru È nden (etwa aus parteipolitischen Motiven) diskriminiert werden. Eine Parteistellung wird nur fu È r bestimmte Positionen im Schul- und UniversitaÈtsbereich anerkannt, wenn der Bewerber in einen bindenden Besetzungsvorschlag aufgenommen wurde (vgl zB VfSlg 14.744/1997, 15.114/1998, 15.365/1998).
54.2.3. Das Verbot der rassischen Diskriminierung 1711 Das BVG-Rassendiskriminierung stellt eine verfassungsrechtliche Durchfu È hrung des È bereinkommens u Internationalen U È ber die Beseitigung aller Formen der È sterreich hat dieses Abkommen 1972 (BGBl rassischen Diskriminierung dar. O 377) im Rang eines Verfassungsgesetzes ratifiziert, seine unmittelbare Anwendung aber durch einen Erfu È llungsvorbehalt ausgeschlossen. 1712 Art I des BVG-Rassendiskriminierung verbietet kategorisch jede Form rassischer Diskriminierung. Dieses Verbot wird im naÈchsten Satz dahingehend konkretisiert, dass Gesetzgebung und Vollziehung jede Unterscheidung aus dem alleinigen Grund der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung oder der nationalen oder ethnischen Herkunft zu unterlassen haben. Eine mittelbare oder unmittelbare Benachteiligung aus den angefu È hrten Gru È nden ist daher verfassungswidrig; begu È nstigende Maûnahmen zu Gunsten bestimmter benachteiligter ethnischer Gruppen fallen allerdings nicht unter den Begriff der Diskriminierung und werden daher durch das Diskriminierungsverbot nicht behindert. Ausdru È cklich klargestellt ist, dass eine Bevorzugung oder Benachteiligung von Menschen aus dem Grund, dass sie oÈsterreichische Staatsbu È rger sind, weiterhin zulaÈssig ist (Art I Abs 2). Freilich wird man davon auszugehen haben, dass zwischen der Eigenschaft als oÈsterreichischer Staatsbu È rger und der Ungleichbehandlung ein sachlicher Zusammenhang bestehen muss. Im Wesentlichen wurde daher durch Art I BVG-Rassendiskriminierung der Gleichheitssatz auf das VerhaÈltnis von Fremden untereinander erstreckt. Wie schon dargelegt hat der VfGH nunmehr daru È ber hinausgehende Anspru È che von Fremden auf Gleichbehandlung anerkannt (vgl oben Rz 1631 ff). 1713 Das internationale Abkommen verpflichtet die Staaten auch gegen eine Rassendiskriminierung
einzuschreiten, die von privater Seite ausgeht (Art 2 Abs 1 lit d). Zur Durchfu È hrung dieser Verpflichtung wurde der (praktisch Èauûerst selten angewandte) Verwaltungsstraftatbestand des Art III Abs 1 Z 3 EGVG geschaffen. Schwere Formen der rassistischen Hetze koÈnnen den Straftatbestand nach § 283 StGB (¹Verhetzungª) erfu È llen. Durch das GleichbehandlungsG wurde eine sehr viel umfassendere Ausgestaltung des Verbots rassischer Diskriminierung vorgenommen, wobei dieses Gesetz auch die Anti-RassismusRL der EU umsetzt (dazu Rz 1630). Eine Diskriminierung wegen der ethnischen ZugehoÈrigkeit eines Menschen ist nach dem III. Teil dieses Gesetzes auch auûerhalb von ArbeitsverhaÈltnissen in den Bereichen des Sozialschutzes, bei sozialen Vergu È nstigungen, bei der Bildung und beim Zugang zu oÈffentlich zugaÈnglichen Gu È ffentliÈ tern und Dienstleistungen (zB am Wohnungsmarkt, zu Restaurants, in o chen Parks usw) verboten. VerstoÈûe gegen das Diskriminierungsverbot ko Ènnen Schadenersatzanspru È che ausloÈsen, die auch den Ersatz eines immateriellen Schadens umfassen (§ 35 GlBG). Fu È r den ZustaÈndigkeitsbereich der LaÈnder haben diese entsprechende gesetzliche Regelungen erlassen.
54.2.4. Das menschenrechtliche Diskriminierungsverbot (Art 14 EMRK) 1714 Art 14 EMRK verbietet jede Form der Diskriminierung beim Genuss der in der Konvention oder in einem ZProt zur EMRK festgelegten Rechte und Freiheiten. Der hier gewaÈhrleistete Gleichbehandlungsanspruch ist ein akzessorischer
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Anspruch, weil er nicht wie der allgemeine Gleichheitssatz Gleichbehandlung schlechthin, sondern nur im Hinblick auf die Konventionsrechte garantiert. Art 14 EMRK hat daher auch nicht den allgemeinen Gleichheitssatz (Art 7 B-VG) auf Menschen ohne oÈsterreichische Staatsbu È rgerschaft erstreckt; Fremde koÈnnen Gleichbehandlung mit InlaÈndern nur im Hinblick auf die in der Konvention garantierten Rechte beanspruchen (VfSlg 13.315/1992; zur UnzulaÈssigkeit eines Ausschlusses Fremder vom Bezug von Notstandshilfe vgl VfSlg 15.129/1998, 15.506/1999). Ein 12. Zusatzprotokoll zur EMRK, das ein allgemeines, nicht nur akzessorisches DiskriÈ sterreich noch nicht ratifiziert worden. minierungsverbot enthaÈlt, ist von O Art 14 EMRK kommt im Rahmen der Konventionsrechte eine autonome Geltung zu. Damit 1715 ist gemeint, dass eine Verletzung dieser Bestimmung nicht nur dann in Betracht zu ziehen ist, wenn zugleich ein anderes Recht der EMRK verletzt wird, sondern dass es FaÈlle einer unzulaÈssigen Diskriminierung auch dann geben kann, wenn der Staat in zulaÈssiger Weise eine gewaÈhrleistete Freiheit einschraÈnkt oder ausgestaltet und daher keine Verletzung eines anderen Rechts festzustellen ist (stRspr seit EGMR, Belgischer Sprachenfall, EuGRZ 1975, 298). Obwohl zB das Recht auf Bildung keinen unmittelbaren Anspruch auf die Errichtung von Schulen gibt, muss der Staat dann, wenn er Bildungseinrichtungen bereitstellt, den Zugang dazu ohne jede Diskriminierung gewaÈhrleisten. Auûerdem kann das Diskriminierungsverbot auch dann wirksam werden, wenn der Staat den Grundrechtsschutz von sich aus erweitert. Wird daher eine Personengruppe bei der Einreise in einen Staat gu È nstiger behandelt als eine andere, kann eine Diskriminierung vorliegen, auch wenn aus der Konvention kein Recht auf Einreise abgeleitet werden kann (EGMR, Abdulaziz, EuGRZ 1985, 567).
Art 14 EMRK wird vom EGMR im Sinn eines Diskriminierungsverbots ausgelegt. 1716 UnzulaÈssig ist daher wie beim innerstaatlichen Gleichheitsgrundsatz nur eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung. Im Einzelnen qualifiziert der EGMR eine Maûnahme oder Regelung dann als diskriminierend, . wenn sie bei Personen oder Personengruppen, die sich in einer vergleichbaren Lage befinden, eine Unterscheidung hinsichtlich des Genusses eines Konventionsrechts trifft, . wenn dieser Unterscheidung kein objektiver und angemessener Rechtfertigungsgrund zu Grunde liegt . und/oder zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten legitimen Ziel È JZ 1996, 955). kein angemessenes VerhaÈltnis besteht (vgl zB EGMR, Gaygusuz, O AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zum Abschnitt 54: VfSlg 11.190/1986: Beachten Sie im Zusammenhang des Gleichheitssatzes, dass Ausnahmebestimmungen, die unsachlich sind, dazu fu È hren koÈnnen, dass der ¹Grundtatbestandª selbst verfassungswidrig ist; dies illustriert etwa die Entscheidung zur Grunderwerbssteuer. VfSlg 12.568/1990: Das Erkenntnis zum unterschiedlichen Pensionsalter von MaÈnnern und Frauen ist immer noch ein lehrreiches Beispiel fu È r die Sachlichkeitspru È fung, zu der der Gleichheitsgrundsatz anhaÈlt. VfSlg 13.558/1993: Ein Beispiel dafu È r, dass auch ¹mittelbare Diskriminierungenª gegen Art 7 B-VG verstoûen ko È nnen. VfSlg 13.781/1994: Der VfGH betont in stRspr den politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Andererseits laÈuft ± wie dargelegt ± die Anwendung des Gleichheitssatzes in betraÈchtlichem Ausmaû auf Wertentscheidungen hinaus und hebt der VfGH mitunter auch Regelungen als unsachlich und gleichheitswidrig auf, wenn sie ihm nur unvernu È nftig oder sinnlos erscheinen. Studieren Sie diese Entscheidung zum Meldewesen und erwaÈgen Sie die Argumente der Bundesregierung. War die aufgehobene Regelung wirklich so unsachlich, wie der VfGH annahm?
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VfSlg 15.836/2000: Beachte die Differenzierung ± die Altersgrenze von 14 Jahren fu È r die È sterreich war nach dieser Entscheidung gleichNachzugsberechtigung von Kindern nach O heitswidrig, nicht dagegen die Altersgrenze von 15 Jahren nach VfSlg 16.672/2002. VfSlg 16.534/2002: Das Fehlen einer entsprechenden Ausnahmeregelung kann eine an sich sachliche Norm (Anschlusszwang an kommunale KlaÈranlagen) verfassungswidrig machen. VfSlg 17.466/2005: Ist es mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar, wenn ein Student, der zwischen dem Abschluss des Diplomstudiums und dem Beginn des Doktoratsstudiums einer Arbeit nachgeht, fu È r letzteres eine Studienbeihilfe bekommt, waÈhrend der Anspruch auf Studienbeihilfe entfaÈllt, wenn zwischen diesen beiden Studien ein Zweitstudium begonnen wird? È berfalls wurde die in der Handtasche VfSlg 17.905/2006: Dem Opfer eines raÈuberischen U getragene Brille entwendet. Die BehoÈrde hat die EntschaÈdigung verweigert, weil sie nicht ± wie vom Gesetz gefordert ± ¹am KoÈrper getragenª wurde. Wie kann dieses unsachliche Ergebnis vermieden werden? Ein gutes Beispiel fu È r eine durch den Gleichheitsgrundsatz erzwungene verfassungskonforme Interpretation. VfSlg 11.309/1987: Ein wichtiges Erkenntnis zur Entwicklung des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes war das Erkenntnis zu den Politikerpensionen und zum Schutz ¹wohlerworbener Rechteª. VfSlg 16.764/2002: Die Abschaffung der vorzeitigen Alterspension wegen geminderter ErwerbsfaÈhigkeit war ein nicht unerheblicher Eingriff in bestehende Erwartungen. Warum war er zulaÈssig? VfSlg 17.892/2006: Ein Beispiel fu È r eine verfassungswidrige Ru È ckwirkung (ru È ckwirkende ErhoÈhung der Beitragsgrundlagen fu È r SozialversicherungsbeitraÈge). VfSlg 17.313/2004: Ein Beispiel fu È r den Vertrauensschutz (ru È ckwirkender gesetzlicher Eingriff in LehrauftragsverhaÈltnisse), wobei die Gleichheitswidrigkeit durch eine verfassungskonforme Interpretation vermieden werden kann. Weitere wichtige Entscheidungen zum Gleichheitssatz, von denen man moÈglichst viele lesen sollte, sind oben Rz 1664 ff zitiert. Zur Vertiefung: Bernegger, Der (allgemeine) Gleichheitsgrundsatz (Art. 7 B-VG, Art. 2 StGG) und das Diskriminierungsverbot gemaÈû Art. 14 EMRK, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 50 Jahre Allgemeine ErklaÈrung der Menschenrechte. Grund- und Menschenrechte È sterreich Bd 3 (1997) 709; Holoubek, Die Sachlichkeitspru in O È fung des allgemeinen È ZW 1991, 72; ders, Verfassungsrechtlicher Vertrauensschutz geGleichheitsgrundsatzes, O genu È ber dem Gesetzgeber, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 50 Jahre Allgemeine ErklaÈÈ sterreich Bd 3 (1997) 795; rung der Menschenrechte. Grund- und Menschenrechte in O Holoubek/Lang (Hrsg), Vertrauensschutz im Abgabenrecht (2004); Korinek, Der gleichheitsrechtliche Gehalt des BVG gegen rassische Diskriminierung, in: Rill-FS (1995) 183; Kucsko-Stadlmayer, Rechtliche Aspekte der FrauenfoÈrderung, JRP 1997, 35; dies, Europarechtliche Rahmenbedingungen der FrauenfoÈrderung, RZ 1999, 106; Noll, Sachlichkeit statt Gleichheit (1996); PoÈschl, Gleichheit vor dem Gesetz (2008); Stelzer, Verfassungsrechtliche Grenzen des Eingriffs in Rechte oder VertragsverhaÈltnisse, DrdA 2001, 508; Walzel von Wiesentreu, Die Bedeutung des Vertrauensgrundsatzes im oÈffentlichen Recht, JAP 1999/2000, È ller, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989) 7 und 37. 5; Zippelius und Mu
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55. Der Minderheitenschutz Rechtsquellen: Art 8 Abs 2 B-VG; Art 19 StGG; Art 66 bis 68 StV St. Germain; Art 7 StV Wien; § 7 Minderheiten-Schulgesetz KaÈrnten (Verfassungsbestimmung); § 1 Minderheiten-Schulgesetz Burgenland (Verfassungsbestimmung).
55.1. Der Schutz ethnischer Minderheiten Menschen, die einer Minderheit im Staat angehoÈren ± sei es in ethnischer, sprachli- 1717 cher, religio È ser oder kultureller Hinsicht ±, sind auf besonderen rechtlichen Schutz angewiesen. Dabei geht es zuerst einmal um den Schutz davor, wegen der ZugehoÈrigkeit zu einer Minderheit benachteiligt zu werden. Diesen Schutz soll weitgehend der allgemeine Gleichheitssatz in Verbindung mit spezifischen Diskriminierungsverboten gewaÈhrleisten. Weil die AngehoÈrigen von Minderheiten aber in vielen È berleben der FaÈllen auch durch faktische Nachteile bedroht sind und weil das U Gruppe innerhalb des Mehrheitsvolkes von einer besonderen Pflege ihrer sprachlichen und kulturellen Eigenarten abhaÈngig ist, setzt ein wirksamer MinderheitenÈ rderungsmaûnahmen voraus, die u schutz auch positive Fo È ber eine formale Gleichbehandlung hinausgehen. Im o È sterreichischen Verfassungsrecht gibt es einen ausgebauten Minderheitenschutz im Hinblick auf bestimmte ethnische Minderheiten. Im VielvoÈlkerstaat der oÈsterreichischen Monarchie wurde die Gleichberechtigung aller VolksstaÈmme durch Art 19 StGG anerkannt. Ob diese Bestimmung noch in Geltung steht, ist umstritten. Nach dem Untergang der Monarchie wurden die auf o È sterreichischem Staatsgebiet lebenden nicht-deutschsprachigen Bu È rger zu sprachlichen Minderheiten. Ihrem Schutz dienen die Art 66 bis 68 StV St. Germain sowie die Verfassungsbestimmungen des Art 7 Z 2, 3 und 4 StV Wien. Zur teilweisen Durchfu È hrung der sich aus den verfassungsrechtlichen Minderheitenbestimmungen ergebenden Verpflichtungen wurden das (einfachgesetzliche) VolksgruppenG BGBl 1976/396 idgF sowie eine Reihe von Durchfu È hrungsVO der Bundesregierung erlassen; nach diesen Regelungen sind gegenwaÈrtig VolksgruppenbeiraÈte fu È r die kroatische, die slowenische, die ungarische, die tschechische und die slowakische Volksgruppe sowie die Volksgruppe der Roma eingerichtet. Nach (nicht unbestrittenen) SchaÈtzungen gehoÈren diesen Minderheiten zwischen 65.000 und 105.000 Menschen an. Durch eine Verfassungsnovelle wurde 2000 eine Staatszielbestimmung zu Gunsten des Schutzes der sprachlichen und kulÈ sterreich in den Art 8 Abs 2 B-VG aufgenommen. turellen Vielfalt in O
55.2. Der Geltungsbereich der Minderheitenrechte WaÈhrend Art 7 StV Wien nur die slowenischen und kroatischen Volksgruppen in 1718 KaÈrnten, Burgenland und der Steiermark begu È nstigt, beziehen sich die Minderheitenschutzbestimmungen des StV St. Germain auf alle oÈsterreichischen StaatsbuÈrger, È sen oder sprachlichen Minderheit angehoÈdie irgendeiner ethnischen, religio ren. Auf die Garantien des StV St. Germain koÈnnen sich daher vor allem auch die Roma und Sinti sowie die AngehoÈrigen der ungarischen, tschechischen und slowakischen Volksgruppe berufen. Beide Minderheitenartikel schu È tzen allerdings nur jene È sterreichische Staatsbu AngehoÈrigen einer Minderheit, die o È rger sind. Fremde koÈnnen nach geltendem Verfassungsrecht die besonderen Minderheitengarantien nicht beanspruchen. Daher sind viele AngehoÈrige der ¹neuen Minderheitenª, die im È sterreich gekommen sind, nicht vom MinderZuge der Immigrationsstro È me nach O heitenschutz erfasst. a) Fu È r die Zurechnung eines Einzelnen zu einer Minderheit oder Volksgruppe ist das freie Bekenntnis des Betreffenden maûgeblich (Bekenntnisprinzip); dass die ZugehoÈrigkeit zu einer
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Teil IV. Die Grundrechte
Minderheit nicht nachgewiesen werden muss ± was unter UmstaÈnden gerade zu Diskriminierungen fu È nnte ±, ist ein Grundgedanke des Minderheitenrechts (VfSlg 11.585/1987). È hren ko b) Fu È r die gerichtliche Durchsetzung der Volksgruppenrechte ist es wichtig festzuhalten, dass È rigen einer geschu sie grundsaÈtzlich nur von individuellen Angeho È tzten Minderheit geltend gemacht werden koÈnnen, nicht aber von den Volksgruppen als solchen. Der Volksgruppenschutz ist nicht als kollektives Recht (Gruppenrecht) ausgestaltet.
55.3. Das Diskriminierungsverbot und die staatliche È rderungspflicht Fo 1719 1. Die Minderheitenschutzbestimmungen verbieten jede Ungleichbehandlung der AngehoÈrigen ethnischer, sprachlicher oder religioÈser Minderheiten im Vergleich zum Mehrheitsvolk; dies gilt auch fu È r faktische oder verdeckte Diskriminierungen (Art 67 StV St. Germain, Art 7 Z 4 sowie (nicht im Verfassungsrang) Art 7 Z 1 StV Wien). Nach VfSlg 3822/1960 kann die Schlechterstellung der Sprache einer Minderheit niemals sachlich gerechtfertigt sein. Bei diesen Diskriminierungsverboten handelt es sich um spezifische AuspraÈgungen des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes. 1720 2. Die Minderheitenschutzbestimmungen verpflichten den Staat daru È ber hinausgeÈ rderung der MinoritaÈten, denen die Erhaltung und Enthend zu einer aktiven Fo wicklung ihrer ethnischen, sprachlichen oder religio È sen IdentitaÈt im Rahmen des MoÈglichen gesichert bleiben muss. Das hat auch der VfGH anerkannt, wenn er die verstreuten einschlaÈgigen Verfassungsnormen als Ausdruck einer ¹Wertentscheidung des Verfassungsgesetzgebers zu Gunsten des Minderheitenschutzesª gedeutet hat, die u È ber eine bloû formale Gleichstellung hinausziele: Der Schutz von AngehoÈrigen einer Minderheit gegenu È ber AngehoÈrigen anderer gesellschaftlicher Gruppen koÈnne es sachlich rechtfertigen oder sogar erfordern die Minderheit in gewissen Belangen zu bevorzugen (VfSlg 9224/1981). Aus diesem Grund du È rfen die einzelnen Minderheitenschutzbestimmungen auch nicht restriktiv ausgelegt werden (VfSlg 12.245/1989). Durch Art 8 Abs 2 B-VG wurde diese Verpflichtung zu einer aktiven Volksgruppenpolitik ausdru È cklich bestaÈtigt. Eine Ausdehnung des Kreises der verfassungsrechtlich besonders geschu È tzten Minderheiten ist damit nicht verbunden. È sterreich zu ihrer gewachsenen sprachli1721 Nach Art 8 Abs 2 B-VG bekennt sich die Republik O
chen und kulturellen Vielfalt, die in den autochthonen (dh angestammten) Volksgruppen zum Ausdruck kommt. Sprache und Kultur, Bestand und Erhaltung dieser Volksgruppen sind È sterreich ansaÈszu achten, zu sichern und zu foÈrdern. Autochthone Volksgruppen sind alle in O sigen Gruppen oÈsterreichischer Staatsbu È rger mit nicht-deutscher Muttersprache und eigenem È rdeVolkstum. Die verfassungsrechtliche Verpflichtung zu einer aktiven Minderheitenfo rung richtet sich in erster Linie an den Gesetzgeber, der u È berall dort, wo Belange der Minderheiten beru È hrt sind, auf deren Interessen entsprechend Bedacht zu nehmen hat. In diesem Sinn sieht etwa das VolksgruppenG vor, dass der Bund Maûnahmen und Vorhaben, die der Erhaltung und Sicherung des Bestandes der Volksgruppen, ihres Volkstums sowie ihrer Eigenschaften und Rechte dienen, zu fo Èrdern und den Volksgruppenorganisationen Geldleistungen zu gewaÈhren hat. Ein Recht auf eine eigene politische RepraÈsentation der Minderheiten im jeweiligen Landtag kann dagegen aus den Minderheitengarantien nicht abgeleitet werden (VfSlg 9224/1981).
È brigen gewaÈhren die verfassungsrechtlichen Minderheitenschutzbestimmungen Im U den AngehoÈrigen der Minderheiten bestimmte konkrete Begu È nstigungen beim Gebrauch der eigenen Sprache, im Bereich des Unterrichts- und Erziehungswesens und im Hinblick auf topographische Bezeichnungen. Sie werden im Folgenden dargestellt.
3. Kapitel: Die einzelnen Grundrechte
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55.4. Sprachenschutz und topographische Bezeichnungen 1. Jeder Minderheit ist ohne EinschraÈnkungen das Recht zum ungehinderten Ge- 1722 brauch der eigenen Sprache gewaÈhrleistet (Art 66 Abs 3 und Art 67 StV St. Germain). Weil nach Art 8 B-VG die deutsche Sprache die Amtssprache der Republik ist, gilt dies an sich freilich nur fu È r den privaten und gesellschaftlichen Verkehr; in gewissem Umfang ist allerdings den Minderheiten auch der Gebrauch der Muttersprache als Amtssprache garantiert. So mu È ssen bereits nach Art 66 Abs 4 StV St. Germain den nicht Deutsch sprechen- 1723 den oÈsterreichischen StaatsangehoÈrigen ¹angemessene Erleichterungenª beim Gebrauch ihrer Sprache vor Gericht in Wort und Schrift geboten werden. Sehr viel konkreter und weiter gehend ist der verfassungsrechtlich gewaÈhrleistete Anspruch der slowenischen und kroatischen MinderheitenangehoÈrigen auf Verwendung ihrer Sprache als Amtssprache in den Verwaltungs- und Gerichtsbezirken KaÈrntens, des Burgenlandes und der Steiermark mit slowenischer, kroatischer oder gemischter BevoÈlkerung (Art 7 Z 3 StV Wien). Diese Verfassungsbestimmung ist unmittelbar anwendbar, so dass der Rechtsanspruch auf Gebrauch dieser Volksgruppensprachen als Amtssprache auch dann durchgesetzt werden kann, wenn es keine Ausfu È hrungsbestimmungen gibt oder die entsprechenden Ausfu È hrungsbestimmungen diesen Anspruch nur unvollstaÈndig gewaÈhrleisten (VfSlg 9744, 9752, 9801/1983, 11.585/1987, 14.452/1996). Von einem Verwaltungsbezirk mit einer ¹gemischten BevoÈlkerungª ist dabei schon dann auszugehen, wenn ein nicht ganz unbedeutender Anteil der WohnbevoÈlkerung einer Minderheit angehoÈrt, wobei dieses Kriterium nach VfSlg 15.970/2000 bereits bei einem Anteil von ca 10 % erfu È llt ist. Der Gebrauch der slowenischen Sprache als Amtssprache vor bestimmten BehoÈrden KaÈrntens und der Gebrauch der kroatischen und ungarischen Sprache vor bestimmten BehoÈrden des Burgenlandes sind durch §§ 13 ff VolksgruppenG und die entsprechenden AmtssprachenVO der Bundesregierung geregelt worden. Wegen der in diesen Verordnungen verfu È gten territorialen EinschraÈnkung wird dem staatsvertraglichen Anspruch in diesen Ausfu È hrungsbestimmungen nur teilweise Rechnung getragen; insofern kann der unmittelbaren Anwendbarkeit des Art 7 Z 3 StV Wien praktische Bedeutung zukommen.
2. Nach Art 7 Z 3 StV Wien sind in den Verwaltungs- und Gerichtsbezirken KaÈrntens, 1724 des Burgenlandes und der Steiermark mit slowenischer, kroatischer oder gemischter BevoÈlkerung ferner die topographischen Bezeichnungen und Aufschriften (zB Ortstafeln etc) zweisprachig anzubringen. Im Hinblick auf die praktische Umsetzung dieser Verpflichtung gibt es Defizite. Nach dem VolksgruppenG waren zweisprachige Bezeichnungen nur in Gebieten mit mindestens 25 % Minderheitenanteil anzubringen. Dieser Schwellenwert war nach VfSlg 16.404/ 2001 zu hoch angesetzt, so dass damit der staatsvertraglichen Verpflichtung nicht entsprochen wurde, nach der schon bei einem Minderheitenprozentsatz von etwa 10 % zweisprachige Ortstafeln anzubringen sind. Diesem Erkenntnis ist in KaÈrnten immer noch nicht vollstaÈndig Rechnung getragen. Die einzelnen MinderheitenangehoÈrigen ko È nnen allerdings kein subjektives Recht auf zweisprachige Ortstafeln geltend machen (VfSlg 17.416/2004).
55.5. Minderheitenschutz im Schulbereich Alle MinoritaÈten haben das Recht Schulen oder andere Erziehungseinrichtungen in 1725 eigener Verantwortung zu errichten und zu betreiben und nach Maûgabe der entÈ ffentlichkeitsrecht fu sprechenden Bestimmungen des PrivatschulG auch das O Èr diese Schulen zu erlangen (Art 67 StV St. Germain iVm der Privatschulfreiheit). Da allerdings nur die Privatschulen der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften einen Rechtsanspruch auf staatliche Unterstu È tzung haben, sind damit erhebliche finanzielle Belastungen fu È r die Minderheiten verbunden.
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Teil IV. Die Grundrechte
È ffentliche Unterrichtswesen garantiert Art 68 StV St. Ger1726 Im Hinblick auf das o main den Minderheiten ¹angemessene Erleichterungenª um sicherzustellen, dass in den StaÈdten und Bezirken, in denen eine verhaÈltnismaÈûig betraÈchtliche Zahl nichtdeutschsprachiger o È sterreichischer Kinder wohnt, diese in den Volksschulen einen Unterricht in ihrer eigenen Sprache bekommen. Fu È r die AngehoÈrigen der slowenischen und kroatischen Minderheiten wird dieser Anspruch durch Art 7 Z 2 StV Wien praÈzisiert und erweitert. Sie haben nach dieser Bestimmung einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Elementarunterricht in slowenischer oder kroatischer Sprache und auf eine verhaÈltnismaÈûige Anzahl eigener Mittelschulen. Diese Anspru Èche werden durch die beiden Minderheiten-Schulgesetze fu È r KaÈrnten und das Burgenland ausgefu È hrt, die mit ihren Verfassungsbestimmungen auch noch weitere verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Rechte begru È nden. 1727 Nach der Verfassungsbestimmung des § 7 Minderheiten-SchulG fuÈr KaÈrnten hat jedes Kind
einen verfassungsmaÈûigen Anspruch darauf, die slowenische Sprache als Unterrichtssprache zu gebrauchen oder als Pflichtgegenstand zu erlernen, das in einem bundesgesetzlich naÈher umschriebenen zweisprachigen Gebiet eine Volks- oder Hauptschule besucht. Ebenfalls verfassungsrechtlich gewaÈhrleistet ist andererseits der Anspruch der u È brigen (deutschsprachigen) Schu È ler, nicht gegen den Willen ihres gesetzlichen Vertreters verhalten zu werden, die slowenische Sprache in der Schule gebrauchen oder erlernen zu mu È ssen (kein ¹Sprachenzwangª). Um den Anspruch der slowenischen Minderheit auf entsprechenden muttersprachlichen Unterricht zu gewaÈhrleisten, ohne zugleich das Recht der u È brigen Schu È ler diese Sprache nicht verwenden oder erlernen zu mu È ssen zu beeintraÈchtigen, sieht das Gesetz an den zweisprachigen Schulen getrennte Klassen bzw die TaÈtigkeit eines ¹Zweitlehrersª vor. Ein zweisprachiger Unterricht wurde nach der urspru È nglichen Regelung nur im autochthonen (angestammten) Siedlungsgebiet der Slowenen angeboten. Durch VfSlg 12.245/1989, 15.759/2000 wurde klargestellt, dass der verfassungsrechtliche Anspruch auf Elementarunterricht in slowenischer Sprache landesweit gewaÈhrleistet ist, vom tatsaÈchlichen Bedarf abhaÈngt und nicht nur auf die ersten drei Schulstufen beschraÈnkt ist. Die Regelung des Minderheiten-SchulG Burgenland fu È r die im Burgenland lebenden kroatischen und ungarischen Volksgruppen ist Èahnlich.
56. Grundrechte in den Landesverfassungen 1728 1. GestuÈtzt auf ihre Verfassungsautonomie koÈnnten auch die Landesverfassungen Grund-
rechte schaffen. Sie sind ebenfalls verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Rechte iS von Art 144 Abs 1 B-VG, auf die sich der Einzelne vor dem VfGH berufen kann (vgl auch VfSlg 12.472/1990, 14.043/1995). Freilich du È rfen diese Grundrechte der Bundesverfassung nicht widersprechen oder den Geltungsumfang bundesverfassungsrechtlich geregelter Grundrechte beschraÈnken. Praktisch kann der Landesverfassungsgesetzgeber daher nur neue GewaÈhrleistungen schaffen oder den Garantiegehalt eines gegebenen Grundrechts der Bundesverfassung erweitern, etwa indem er weitergehende Anspru È che gewaÈhrt oder der EinschraÈnkbarkeit des Grundrechts engere Schranken setzt. Auûerdem bleibt der sachliche Geltungsbereich eines landesverfassungsrechtlich gewaÈhrleisteten Grundrechts auf den Bereich der Staatsgewalt des jeweiligen Landes beschraÈnkt. Die praktische Bedeutung von Grundrechten in Landesverfassungen ist daher begrenzt.
1729 2. Eine genauere Analyse zeigt auûerdem, dass nur wenige Bestimmungen in den LV als subjek-
tive Grundrechte konzipiert sind. Das einzige wirkliche Beispiel verfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteter Freiheitsrechte sind die in den LV von Tirol (Art 11 Abs 3), Vorarlberg (Art 11 Abs 2) und Salzburg (Art 10 Abs 3) verankerten Anspru È che auf angemessene EntschaÈdigung bei Enteignungen. Soziale Rechte fu È r hilfsbedu È rftige Menschen und fu È r Menschen, die sich in einer Notlage befinden, kennen die Landesverfassungen von OberoÈsterreich (Art 12) und Tirol (Art 13). Diese Rechte sind freilich nur ¹nach Maûgabe der Gesetzeª gewaÈhrleistet. Weitere verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Rechte sehen die Landesverfassungen im Zusammenhang mit politischen Mitwirkungsrechten vor.
1730 3. Alle weiteren GewaÈhrleistungen der Landesverfassungen mit Bezug zur menschenrechtlichen Situation stellen keine subjektiven Grundrechte dar, sondern sind Staatszielbestimmungen (zur Tragweite von Staatszielbestimmungen vgl Rz 203 ff).
3. Kapitel: Die einzelnen Grundrechte
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AusgewaÈhlte Judikatur und Literatur zu den Abschnitten 55±56: VfSlg 11.585/1987: Was bedeutet es, wenn man beim Minderheitenschutz vom Bekenntnisprinzip spricht? VfSlg 15.970/2000: Aufhebung einer Bestimmung der slowenischen AmtssprachenVO im Zusammenhang mit einer zentralen Frage des Minderheitenschutzrechts, naÈmlich des notwendigen Anteils der Minderheit an der BevoÈlkerung, ab dem man von einer ¹gemischten BevoÈlkerungª sprechen kann. VfSlg 16.404/2001: Ein weiteres wichtiges Erkenntnis zum Minderheitenschutz (¹Ortstafelerkenntnisª). EuGH, Bickel und Franz, Rs C-274/96, Slg 1998, I-7637: Eine bemerkenswerte europarechtliche Entscheidung, die allen deutschsprachigen Unionsbu È rgern in Su È dtirol die Rechte der deutschsprachigen Minderheit gibt (zB Strafverfahren in der Muttersprache). VfSlg 12.472/1990: Zum seltenen Fall der Anwendung eines landesverfassungsgesetzlich gewaÈhrleisteten Grundrechts. Zur Vertiefung: Zum Minderheitenschutz: Holzinger, Die Rechte der Volksgruppen in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs, in: Adamovich-FS (2002) 193; Kolonovits, È sterreich (1999); ders, Einige U È berlegungen zum aktuellen Erkenntnis Sprachenrecht in O È hlinger, Der Verfassungsdes Verfassungsgerichtshofes zur Amtssprache, JBl 2001, 356; O È sterreich, in: Koja-FS (1998) 371; Sturm, Der Minderheitenschutz ethnischer Gruppen in O und Volksgruppenschutz, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 40 Jahre EMRK. Grund- und È sterreich Bd 2 (1992) 77. Menschenrechte in O Zu den Grundrechten der Landesverfassungen: Kienberger, Grundrechtsverbu È rgungen in den oÈsterreichischen Landesverfassungen, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), 40 Jahre È sterreich Bd 2 (1992) 27; Schreiner, Grundrechte EMRK. Grund- und Menschenrechte in O È R 1999, 89. und Landesverfassungen, ZO
Sachverzeichnis Fundstelle = Rz Abgaben 445 f, 507, 625, 1664 Abgeordnete 384, 531 ff, 595 abgestufter BevoÈlkerungsschlu È ssel 453 Ablehnung von Beschwerden 959, 1040 ff Abschiebung 1352, 1371 Absolutismus 29, 176 f Abtretung von Beschwerden 1045, 1068 AbwaÈgung 504, 1307 ff, 1312, 1405, 1465 f, 1494, 1561, 1651 Abwehrrechte 1212, 1214 acquis communautaire 301 acte clair-Doktrin 355, 1579 Adoption 247, 250 Alleinregierung 698 allgemeine RechtsgrundsaÈtze 257, 1183 allgemeines Wahlrecht 514 Amt der Landesregierung 755 Amtsbeschwerde 470, 929 Amtshaftung 831 ff Amtshilfe 677 f, 818 Amtssprache 1723 Amtsverschwiegenheit 674 ff, 678, 818, 891 Anerkennung von Kirchen 1444 f Anhaltung 1360 Anklage, staatsrechtliche 98, 385, 579, 1144 ff Anklageprozess 816 f, 1611 Anlassfall 1065 ff, 1106 f Anlassfallwirkung 1067, 1107 Annexmaterien 422 Anwaltschaft fu È r Gleichbehandlung 1328 Anwaltschaften 853 Anwaltspflicht 938, 1016 Anwartschaft 1690 Anwendungsvorrang, siehe EuropaÈisches Gemeinschaftsrecht, Anwendungsvorrang È quivalenzprinzip 446 A Asylgerichtshof 910 ff ± Aufgaben 912 ± Grundsatzentscheidungen 913, 933 ± Organisation 911 ± VfGH-Beschwerde 1070 Asylrecht 1380 Aufenthaltsfreiheit, siehe Freizu È gigkeit der Person Aufenthaltsverbot 1404 f aufschiebende Wirkung 943 ff, 1038 ff Aufsicht 278, 282, 766, 797 ff Auftragsverwaltung 729
Ausfu È hrungsgesetze 407, 413 ff Ausgestaltungsvorbehalt 1060, 1287, 1506, 1524 Ausgliederung 222, 652, 666, 888, 1253 Auskunftspflicht 672 f AuslaÈnder, siehe Fremde AuslaÈnderwahlrecht 368, 783 AuslandsoÈsterreicher 514 Auslieferung 541, 1336, 1371, 1381 Ausschussbericht 613 f, 630 Auûenminister 252, 254, 318 Auûenpolitik 251 f Ausweisung 1336, 1371, 1381, 1385 f, 1404 f Autonomie 764, 771, 1447, 1491 Baugesetze, siehe Verfassungsrecht, Grundprinzipien Beamte 653 f, 1237, 1473, 1584, 1706 ff Bedarfsgesetzgebung 411, 421 Bedarfspru È fung 1562 f Begnadigung 690 Begutachtung 609 Beharrungsbeschluss 619, 622 behinderte Menschen 1684 ff Behindertenanwalt 1328 Beihilfen 606 BeitraÈge 446 Beitritts-BVG 49 ff, 299 Beitrittsvertrag 49, 299 ff Bekenntnisfreiheit 1431 ff Bekenntnisgemeinschaften 1449 f Bekenntnisprinzip 1718 Beleihung 773, 834 Bepackungsverbot 563 Beru È cksichtigungspflicht 469 f Beru È cksichtigungsprinzip 467 ff Berufsausbildungsfreiheit 1537 f Berufsausu È bungsbeschraÈnkungen 1559, 1565 Berufsfreiheit 1558 Berufsverbot 1584 BerufszugangsbeschraÈnkungen 1559, 1562 ff Bescheid 196, 670, 927, 1031, 1252 Bescheidbeschwerde (VfGH) 1025 ff, 1379 ± Ablehnung 1040 ff ± Abtretung 1045, 1068 ff ± aufschiebende Wirkung 1038 ff ± Beschwerdefrist 1037, 1047 ± Beschwerdelegitimation 1031 ff, 1048
482 ± Beschwerdeschrift 1036 ± Entscheidung 1063 ff ± Gegenstand 1031 ff ± Prozessvoraussetzungen 1046 ff ± Verfahren 1035 ± Zuru È ckweisung 1053 ± ZustaÈndigkeit 1046 Bescheidbeschwerde (VwGH) 927 ff ± Ablehnung 959 ± Beschwerdefrist 953 ± Beschwerdelegitimation 954 ± Einstellung 962 ± Entscheidung 974 ± Hauptverfahren 966 ff ± Klaglosstellung 962 ± Prozessvoraussetzungen 951 ff ± Ruhen 962 ± Verbesserungsauftrag 962 ± Vorhalteverfahren 962 ± Vorverfahren 964 f ± Zuru È ckweisung 958 ± Zuru È ckziehung 962 ± ZustaÈndigkeit 952 Beschlagnahme 1425, 1495 Beschwerdefrist 942, 953, 1037, 1047 Beschwerdelegitimation 954, 1031 ff, 1048 f besonderes GewaltverhaÈltnis 1237 Bewegungsfreiheit 1382 Bezeichnungspflicht 50, 66, 79, 794, 1174 Bezirkshauptmannschaft 724, 756 Bezirksvertretung 805 BezirksverwaltungsbehoÈrde 724, 733, 756, 780, 804 Bezu È ge 547 Bildungswesen 217, 1533 ff Binnenmarkt 378 Blankettstrafnorm 1617 BlankoverzichtserklaÈrung 99, 534 Briefgeheimnis 1425 ff Briefverkehr 1426 f Briefwahl 517 Budget 209, 563 f, 597 Budgetausschuss 556, 566 Budgetbeschlu È sse 1075 BudgetgrundsaÈtze 563 Budgethoheit 562 ff Budgetprovisorium 564 f Budgetu È berschreitung 563, 566 Budgetvollzug 566 Bundesaufsicht 470 Bundesfinanzgesetz 563 ff, 617 Bundesfinanzrahmengesetz 562 f, 617 Bundesgebiet 491 Bundesgesetzblatt 627 f Bundeshaushaltsgesetz 562, 617 Bundesheer 737 ff Bundesheer-Beschwerdekommission 581 Bundeskanzler 317 f, 696 ff Bundeskanzleramt 706, 716
Sachverzeichnis (Fundstelle = Rz) Bundeskommunikationssenat 744, 1482 BundeslaÈnder 326, 408 ff, 458 ff Bundesminister 318, 693 ff ± als Ressortminister 715 ± Ernennung 698 ± ohne Portefeuille 698 ± Rechtsstellung 706 ± Vertretung 712 ± Zahl 698 Bundesministeriengesetz 716 ff, 718 Bundesministerium 698, 716 f Bundespolizeidirektion 727, 733 BundespraÈsident 32, 154, 252, 254, 261 f, 281, 679 ff ± Amtsfu È hrung 684 ff ± Aufgaben 596, 689 ff ± Beurkundung 626, 689 ± Delegation 262 ± Funktionsperiode 682 ± ImmunitaÈt 683 ± Oberbefehl Bundesheer 739 ± politischer Einfluss 680 ± Regierungsbildung 698 ± Verantwortlichkeit 683 ± Vertretung 688 ± Wahl 681 Bundesrat 53, 170 f, 173, 384, 582 ff ± Aufgaben 588 f ± Einspruch 266, 618 f ± GeschaÈftsordnung 587 ± Gesetzgebung 617 ff ± Mitglieder 586 ± Organisation 584 ± Partialerneuerung 585 ± Vorsitz 587 ± Wahl 585 ± Zustimmung 266, 398, 620 Bundesrechnungsabschluss 567, 866 Bundesregierung 252, 261 f, 321, 384, 693 ff, 696 ff ± Aufgaben 713 f ± Beschlusserfordernisse 711 ± einstweilige 703 ± Entlassung 700 ff ± Ernennung 680, 697 ± GeschaÈftsfu È hrung 710 ff ± Mitglieder 698 ± Ru È cktritt 98, 703 Bundesstaat 155 ff, 163 ff, 287, 381, 722, 991 ± kooperativer 158, 458 ± Theorien 160 ff Bundesstaatsreform 53, 61, 172 Bundesverfassung 1934 33 Bundesverfassungsrechtsbereinigungsgesetz (Erstes) 60, 78 Bundesvergabeamt 742 Bundes-Vergabekontrollkommission 742 Bundesversammlung 683, 1145 Bundesverwaltung 720 ff
483
Sachverzeichnis (Fundstelle = Rz) ± mittelbare 165, 621, 721, 723 ff, 752 ± unmittelbare 721, 730 Bundesvoranschlag 563 Bu È rgerinitiativen 226 Bu È rgerkrieg 32 Bu È rgermeister 782 ff, 796, 805 Bu È rgerpflichten 1389 Bu È rgerzahlprinzip 515, 524 B-VG 62, 72 f ± GesamtaÈnderung, siehe GesamtaÈnderung ± Geschichte 28 ff, 1169 ± Reformen 52 ff B-VG-Novelle 1929 32 B-VG-Novellen 47 f BVG-Rassendiskriminierung 229, 273, 1632, 1711 ff BVG-Rundfunk 1477 ff Chancengleichheit der Parteien 126, 238, 240 checks and balances 180, 382, 689, 701 civil rights 393, 896, 907, 1583 ff, 1596 ff civil society 24, 152, 226, 236, 858 d`Hondt`sches Verfahren 528 Datenschutz, siehe Grundrecht auf Datenschutz Delegation 793 Demokratie 16 ff, 24, 123 ff, 126, 133 ff, 183, 492, 645 f, 760, 856, 858, 1151, 1170 ± direkte 128 ff, 135, 635 ff, 786 ± EU-Beitritt 140 ± indirekte 128 ff, 134 ff ± parlamentarische 141 f ± streitbare 138 Demokratiereform 150 Demokratisierung 139 denkunmoÈgliche Rechtsanwendung 353, 363, 1043, 1059, 1208, 1312 f Derogation 15, 482 ± formelle 483 f ± materielle 483, 485 Determinierungspflicht, siehe LegalitaÈtsprinzip, Bestimmtheitsgebot Devolution 278, 343, 415 Devolutionsantrag 976 Dezemberverfassung 28, 1167 Diensthoheit 654 Differenzierungsverbot 1638 Diskriminierungsverbot 1183, 1328, 1629 f, 1637, 1682, 1684, 1714 ff, 1717 Doppelbudget 562 f Doppelbestrafungsverbot 1618 ff Doppelverfassung 301, 340 Drei-SaÈulen-Modell 293 DrittelantraÈge 1084 Drittwirkung 1190, 1261, 1263 ff, 1682, 1713 ± mittelbare 1270 f ± unmittelbare 1264, 1271, 1409 duale Rundfunkordnung 1480
Durchfu È hrungsgesetze 272, 277 f Durchfu È hrungsverordnungen 666 Ehe 1401, 1406 Eigentum 1543, 1584 EigentumsbeschraÈnkungen 1546, 1548, 1550 Eigentumsgarantie 1542 ff ± Eingriffe 1546 ± EntschaÈdigungspflicht 1550 ff ± o È ffentlich-rechtliche Anspru È che 1544 ± Schutzbereich 1543 ff Eingriffsvorbehalt 1059, 1287 Einheit des Wirtschaftsgebiets 378 Einheitsgemeinde 790 Einheitsstaat 155 Einkammersystem 590 Einrichtungsgarantien 1225 Elternrecht 1539 Embryo 1339 Enqueterecht 576 Enteignung 422, 1546 f EntschaÈdigung ± bei Fehlurteilen 1621 ± bei Konventionsverletzungen 1332 ± fu È r Enteignungen 1550 ff ± fu È r Freiheitsentzug 1375 Erfu È llungsvorbehalt 270 ff, 277 ErgreiferpraÈmie 1066 f, 1106 Erlass 647, 669, 1113 Ermessen 503 ff, 642, 915, 969 erniedrigende Strafe (Behandlung) 1346 ff Ersatzbescheid 975, 1062 f Erste Republik 32 ff Ertragshoheit 447 Erwerbsfreiheit 1557 ff Erziehungsziele 217, 1534 EU-Beitritt 121, 140, 166, 189, 267, 299 ff, 340, siehe auch Beitritts-BVG EU-Bu È rger 368, 1386 EU-Grundrechte 1149, 1161, 1181 ff EU-Recht 328 ff, siehe auch EuropaÈisches Gemeinschaftsrecht EuropaÈische Gemeinschaft(en) 286, 293 EuropaÈische Grundrechtscharta 1180, 1185 ff EuropaÈische Menschenrechtskonvention 46, 275, 1149, 1160, 1172 ff, 1183 f, 1187, 1199, 1228, 1329 EuropaÈische Sozialcharta 1178, 1162 EuropaÈische Union 2, 21, 27, 49 ff, 116, 286 ff ± als Staatenbund 287 f ± Demokratiedefizit 295 ff, 312 ± Drei-SaÈulen-Modell 293 ± Gru È ndungsvertraÈge 290 ff ± Grundrechte 1161, 1181 ff ± Mitwirkung der BundeslaÈnder 326 ff ± Organe 306 ff ± parlamentarische Mitwirkung 322 ff ± PrimaÈrrecht 290 ff ± SubsidiaritaÈtsprinzip 289
484 ± Unionsbu È rgerschaft 375 ± Verfassungsentwicklung 295 È sterreichs 317 ff ± Vertreter O ± Vorhaben 322 ff EuropaÈischer Gerichtshof fu È r Menschenrechte 1329 ff EuropaÈischer Haftbefehl 1356, 1371, 1381 EuropaÈischer Rat 307, 317 EuropaÈisches Gemeinschaftsrecht 13, 293, 328 ff, 510 f ± allgemeine RechtsgrundsaÈtze 1183 ± Anwendbarkeit 338 ± Anwendungsvorrang 13, 339, 350, 1181 ± doppelte Bindung 345 ff, 511, 1194 ± einstweilige Anordnungen 949 ± Entscheidungen 333 ± Geltung 336 ff ± Grundrechte 1181 ff ± Rechtsetzung 334 ± Rechtsquellen 329 ff ± Rechtsschutz 349 ff ± Richtlinien 332, 347, 1194 ± Umsetzung 332, 341 ff, 1194 ± Verordnungen 331 ± Verweisungen 193 ± Vollziehung 341 ff EuropaÈisches Gericht erster Instanz 314, 1196 EuropaÈisches Parlament 312, 316, 319 Ewigkeitsgarantie 110, 118 Exekutive, siehe Verwaltung Expertengruppe Staats- und Verwaltungsreform 60 f, 173, 202, 583, 916, 1004, 1180 Exzess 1420, 1657 fair trial 1580 ff, 1603 ff, siehe auch Verfahrensgarantien ± Beweisverfahren 1606 È ffentlichkeit 1599 ff ± O ± Unschuldsvermutung 1609 ± Verfahrensdauer 1602 ± Verteidigungsrechte 1607 ± Waffengleichheit 1604 f faktische Gleichheit 1628, 1673, 1678 ff FamilienfoÈrderung 219 Familienleben 1401 ff Familienrecht 1403, 1666 Fehlerkalku È l 1075 Feinpru È fung 1043, 1060, 1255, 1511, 1527 Fernmeldegeheimnis 1428 f feste GeschaÈftsverteilung 811, 904 Festnahme 1340, 1360, 1372, 1377, 1425 Festnahmegru È nde 1363 ff Finanzausgleich 440 f, 452 ff, 1122 FinanzmarktaufsichtsbehoÈrde 746 Finanzschulden 866 Finanzverfassung 170, 440 ff, 447 Finanzzuweisungen 455 Fiskalgeltung, siehe Grundrechte, Fiskalgeltung
Sachverzeichnis (Fundstelle = Rz) FoÈderalismus 159, 170 ff, 437 Folgenbeseitigungsanspruch 1064 Folterverbot 1346 ff formalgesetzliche Delegation 495, 500 Fragerecht, siehe Interpellationsrecht Fragestunde 574 Fraktionsdisziplin 144, 536 Fraktionszwang 536 freies Mandat 144, 533 f, 536, 586, 595 Freiheit 19 f, 22, 25, 82, 123, 127, 156, 175, 181, 198, 1148, 1151 f, 1164, 1358 Freiheitsrechte 1214 Freiheitsstrafen 393, 1351, 1363 f Freizu È gigkeit der Person 1380 ff Freizu È gigkeit des VermoÈgens 1571 Fremde 365 f, 370, 1380, 1384, 1404 FristenloÈsung 1344 GebaÈrdensprache 1685 Gebarungskontrolle 859, 867 ff Gebietsgemeinden 775 GebietskoÈrperschaften 872, 1242 Gebietsvolk 365 ff Gebu È hren 446 Gegenzeichnung 684, 686 Geldstrafen 393, 1122 Gemeindeamt 782 Gemeindeaufsicht, siehe Gemeinden, Aufsicht Gemeindeaufsichtsrecht 798 Gemeinden 326, 757, 760, 774 ff ± Aufgaben 787 ff ± Aufsicht 797 ff ± Bestandsgarantie 779 ± Bezeichnungspflicht 794 ± eigener Wirkungsbereich 787 ff ± LegalitaÈtsprinzip 788 ± Organisation 782 ff ± Rechtsstellung 776 f ± Selbstverwaltungsrecht 787 ff ± u È bertragener Wirkungsbereich 796 ± Verwaltungssprengel 778 ± WirtschaftskoÈrper 777 Gemeinderat 782 ff, 805 Gemeinderecht 425, 775, 781 Gemeindeselbstverwaltung 774 ff GemeindeverbaÈnde 801 f Gemeindevorstand 782 f GemeindewachkoÈrper 734 Gemeinsame Auûen- und Sicherheitspolitik (GASP) 211, 293, 328, 335, 1196 gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation 348 Gemeinwohl 152, 221 Gender Budgeting 209 Gerechtigkeit 19 f, 25, 472 Gerichte 179, 759, 819 ff, 1156, 1313, 1322 ff, 1588, 1591 Gerichtsbarkeit 194, 388 ff, 395, 807 ff Gerichtsbarkeit des oÈffentlichen Rechts 895 ff
Sachverzeichnis (Fundstelle = Rz) Gerichtshof der EuropaÈischen Gemeinschaften 355 f, 1187, 1196, 1574 Gerichtsorganisation 819 ff GesamtaÈnderung 13, 49 f, 67, 111 ff, 118 f, 137, 142, 165, 186, 189, 194, 198, 267, 299 f, 302, 304, 358, 590 GeschaÈftsordnungsbeschlu È sse 1075 GeschaÈftsordnungsgesetz 558 ff Geschlechtergleichbehandlung 1630, 1671 ff, 1678 ff Geschlechtsumwandlung 1397, 1406 Geschworene 824 Geschworenenpflicht 367, 1389 Gesellschaft 22 ff Gesetz 472 ff, 598 ff ± allgemeines 1320, 1448, 1487, 1493 f ± Begriff 473 ff ± Derogation 482 ff ± eingriffsnahe Gesetze 507, 1289 f, 1405 ± im formellen Sinn 473 f ± im materiellen Sinn 473 f ± Geltungsbereich 476 f ± Kundmachung 472, 478, 627 ff ± raÈumlicher Geltungsbereich 377, 491 ± Ru È ckwirkung 487 ff ± zeitlicher Geltungsbereich 477 ff Gesetzesbeschluss 616 Gesetzesbeschwerde 1004 Gesetzesinitiative 589, 607 ff, 637 Gesetzespru È fungsverfahren 1071 ff ± Antragslegitimation 1082 ff ± Aufhebung unter Fristsetzung 1108 f ± Entscheidung 1101 ff ± Individualantrag 1086 ff ± PraÈjudizialitaÈt 1093 ff ± Prozessvoraussetzungen 1092 ff ± Pru È fungsgegenstand 1075 f ± Pru È fungsmaûstab 1078 ff ± Wirkung der Aufhebung 1104 ff Gesetzesreferendum 638 Gesetzesstaat 178, 190 Gesetzesvorbehalt 1286 ff ± Ausgestaltungsvorbehalt 1060, 1287, 1506, 1524 ± Eingriffsvorbehalt 1287 ± formeller 1288 ff ± materieller 1292 ff ± qualifizierter 1291 ± ungeschriebener 1315, 1317, 1569, 1571 Gesetzgebung 14, 380, 384 ff, 395, 471 ff, 598 ff ± Beurkundung 626 ± Einspruch Bundesregierung 622 ff ± Initiativrecht 607 ff, 637 ± Kundmachung 627 f ± Mitwirkung Bundesrat 617 ff ± Zustimmung Bundesregierung 624 Gesetzgebungsperiode 548 f, 596
485 gesetzlicher Richter, siehe Grundrecht auf den gesetzlichen Richter GesetzmaÈûigkeitsprinzip, siehe LegalitaÈtsprinzip Gesichtspunktetheorie 434 ff GewaÈhrleistungspflichten 1221 ff GewaÈhrleistungsschranken, immanente 1317 ff, 1488 Gewaltenbalance 379 ff Gewaltenteilung 115, 180, 199, 316, 379 ff, 545, 821, 1156 ± materielle 383, 386, 391 ff, 1580 ± organisatorische 383 f, 388 ff, 1580 Gewaltenteilungslehre 381 Gewerkschaften 1522 Gewissensfreiheit 1437 ff Gewissenskonflikt 1438 ff Gewohnheitsrecht 98 Glaubensfreiheit 1431 ff È mterzugaÈnglichkeit 1708 ff gleiche A Gleichgewicht, gesamtwirtschaftliches 209 Gleichheit 82, 126, 175, 181, 198, 472, 1077, 1148, 1151, 1626 ff, 1644 ff Gleichheitsgrundsatz 474, 1246, 1552, 1626 ff Gleichheitsrechte 1215, 1626 ff, 1706 ff GliedstaatsvertraÈge 459 ff, 570, 1132 Globalisierung 26 GrenzaÈnderung 377 Grobpru È fung 1043, 1059, 1061, 1255 Groûe Koalition 225, 698 Grundmandat 528, 594 Grundprinzipien, siehe Verfassungsrecht, Grundprinzipien Grundrecht auf Datenschutz 675, 1264, 1407 ff Grundrecht auf den gesetzlichen Richter 355, 819, 1033, 1573 ff Grundrecht auf persoÈnliche Freiheit 896, 1356 ff Grundrecht auf Zivildienst 740, 1441 f Grundrechte 20, 82, 125, 127, 175, 181, 198, 1033, 1057, 1147 ff ± absolute 1314, 1349 ± Abwehrrechte 1212 ± als objektive Grundsatznormen 1210 ± als subjektive Rechte 1211 ff ± Ausgestaltung 1281 ± Begriff 1154 ff ± Determinierungspflicht 507 ± Drittwirkung 1190, 1263 ff, 1702 ff ± Durchsetzung 1156, 1321 ± Eingriffe 1279 ff ± EuropaÈische Union 1149, 1161, 1181 ff ± Fiskalgeltung 498, 661, 1258 ff, 1702 ff ± Freiheitsrechte 1214 ± Geschichte 1163 ff ± GewaÈhrleistungspflichten 1221 ff ± Gleichheitsrechte 1215 ± Interpretation 92, 1202 ff
486 ± ± ± ± ± ± ±
Landesverfassungen 1728 ff Leistungsanspru È che 1212, 1643 politische Rechte 367, 1217, 1233, 1706 f Rechtsnatur 1209 ff Schranken 207, 1279 ff Schutzbereich 1209, 1277 f Schutzpflichten 1224, 1273, 1342 ff, 1393, 1505 ± soziale 20, 198, 1180, 1218 ± Spruchformeln 1254 ff ± Verfahrensgarantien 1216 ± vorbehaltlose 1061, 1314 ff, 1485, 1493 Grundrechtsformel 934, 1254 ff, 1312, 1353, 1379, 1400, 1464, 1511, 1527, 1554, 1566, 1576, 1696 Grundrechtsmu È ndigkeit 1231 Grundrechtsquellen 1177 Grundrechtsreform 55, 1179 f Grundrechtsstaat 181, 198, 1148 GrundrechtstraÈger 1227 ff Grundrechtsverbund 1182 Grundrechtsverzicht 1275 Grundsatzgesetze 413 ff Grundwerte 18 ff Gu È nstigkeitsprinzip 1176 Gu È terabwaÈgung, siehe AbwaÈgung Haft 1351 HaftentschaÈdigung 1375 Haftpru È fungsverfahren 1374 Hare'sches Verfahren 528 Hauptausschuss 321, 325, 554 HauptwahlbehoÈrde 530 Hauptwohnsitz 374 Hausdurchsuchung 1414 ff, 1425 Haushaltsrecht 562 Hausrecht 1414 ff HomogenitaÈtsprinzip 368, 513, 591, 783 HomosexualitaÈt 1395, 1406 ImmunitaÈt 537 ff, 586, 595 ± auûerberufliche 539 ff ± berufliche 537 f ± sachliche 560 imperatives Mandat 535 Individualantrag 1086 ff, 1117 Individualgesetz 473 f Informationseingriffe 1392, 1398 Informationsfreiheit 1457 f Initiativantrag 607, 609 InkompatibilitaÈt 384, 542 ff, 595, 705, 863, 884 Inkorporationsgebot 76 ff InlaÈnderdiskriminierung 1634 InlaÈndergleichbehandlung 375 Instanzenzug 389 f, 651, 726, 787, 806 Institutionelle Garantien 1225 Institutsgarantien 1225 Integrationskonferenz der LaÈnder 327, 464
Sachverzeichnis (Fundstelle = Rz) Integrationsschranke 302 Internationale Organisationen 259, 283 ff Interpellationsrecht 574, 707 Interpretation 87 ff ± baugesetzkonforme 122 ± gemeinschaftsrechtskonforme 97, 348 ± Grundrechte 1202 ff ± Kompetenzbestimmungen 427 ff ± verfassungskonforme 94, 207, 1208, 1310, 1466, 1510, 1528 ± voÈlkerrechtskonforme 97 Interpretationsmethoden 87 ff, 1203 ff Intimationsbescheid 687 intrasystematische Fortentwicklung 433 Invalidation 415, 486, 1079, 1653 Jedermannsrechte 1157 f, 1173, 1227, 1498, 1519, 1632 Jellinek 1213 judicial activism 999 ff judicial self-restraint 999 ff Justiz, siehe Rechtsprechung Justizverwaltung 390, 808, 827 f Justizwache 734 Kabinettsbildung, siehe Bundesregierung, Ernennung Kammern 147 ff, 321, 763 ff, 873, 1244, 1253, 1523 Kanzleramtsminister 698 Kausalgerichtsbarkeit 843, 1024, 1121 ff Kelsen 30, 162, 168, 992 Kernaufgaben 220 ff, 652, 773 Kirchen 1443 ff Kleine Koalition 698 Klubs 242, 557 Koalition 146, 225, 698 Koalitionsregierung 719 Kollegialbeho È rden mit richterlichem Einschlag 355, 744 f, 758, 936, 1068, 1578, 1591, 1593 Kollektivvertrag 664, 1276, 1522 Kommission der EuropaÈischen Gemeinschaft 313, 316 Kommunikationsfreiheit 1452 ff Kommunismus 2 Kompetenzdeckungsklauseln 400 Kompetenzfeststellung 439, 1129 f Kompetenzgerichtsbarkeit 1125 ff Kompetenzhoheit 161, 168, 398 ff Kompetenz-Kompetenz 398, 447 Kompetenzkonflikte 438 f, 1126 ff Kompetenztheorien 428, 438 Kompetenzverteilung 53, 86, 164, 170, 343, 345, 394 ff, 661 komplexe Materien 423 Konkordanzdemokratie 146, 226, 749 Konkordate 259 Konkurrenzdemokratie 146, 226, 749
Sachverzeichnis (Fundstelle = Rz) konkurrierende ZustaÈndigkeiten 435 KonnexitaÈtsprinzip 442 Konsensquorum 70 Konstituierende Nationalversammlung 30 Konstitutionalismus 2, 1166 Konsultationsmechanismus 444, 464, 803 Kontrahierungszwang 1274 f, 1704 KontrollaÈmter 880 Kontrolle 144, 385, 387, 597, 845 ff Konvalidation 1079 Konvergenzkriterien 209 Konzessionssystem 1503, 1521 kooperativer Fo È deralismus 169 Kostentragung 442 ff Kostenu È berwaÈlzung 443 Kremsierer Reichstag 1166 KriegserklaÈrung 683 Kriegsfolgentatbestand 421 Kritikfreiheit 1474 Kumulation 434 Kundmachung 191, 268, 472, 478, 627 f, 632, 667, 813 KundmachungsmaÈngel 631, 1103 Kunstfreiheit 1316 ff, 1492 ff Ladenschluss 1565 Laienrichter 824 LaÈnderstaatsvertraÈge 279 ff Landesbu È rgerschaft 112, 373 Landesgesetz 599 Landesgesetzblatt 627 Landesgesetzgebung 590, 622 ff, 626, 628 Landeshauptleute 137, 722, 753 ± Anklage 725, 1144 ± Direktwahl 749 ± mittelbare Bundesverwaltung 723 ff Landeshauptleutekonferenz 465 Landesrat 748 Landes-RechnungshoÈfe 880 Landesregierung 281, 318, 384, 748 ff ± Beschlusserfordernisse 750 ± Verantwortlichkeit 754 ± Wahl 748 ± Zusammensetzung 748 ± ZustaÈndigkeiten 752 Landesschulrat 735 Landesverfassungsrecht 79, 167, 219, 1728 ff Landesverteidigung 210, 738 Landesverwaltung 747 ff Landesverwaltungsgerichtsbarkeit 54, 61, 202, 897, 916 Landes-Volksanwaltschaften 894 Landtag 384, 590 ff, 597 ff ± Aufgaben 597 ± AufloÈsung 385, 470, 596, 689 ± GliedstaatsvertraÈge 463 ± Legislaturperiode 596 ± Wahl 591 ff Lauschangriff 200, 1327, 1398
487 LegalitaÈtsprinzip 190, 344, 492 ff, 510 f, 642, 662 f, 666, 1033, 1161, 1171, 1296 ± Bestimmtheitsgebot 500 ff, 1290, 1575 ± differenziertes 502 ff, 666 ± EuropaÈisches Gemeinschaftsrecht 510 f ± finale Determinierung 508, 666 ± Justiz 509 ± Privatwirtschaftsverwaltung 663 ± Rechtsprechung 813 ± UniversitaÈten 770 ± Verordnungen 666 Legislative, siehe Gesetzgebung Legisvakanz 479, 632 Leitungsbefugnis 644, 651 Lex Starzynski 420 liberales Prinzip 115 Liberalismus 198 Liegenschaftsfreiheit 1568 ff Magistrat 782, 805 Mandat auf Zeit 532, 545 Mandatsverlust 1136, 1142 f Massenverfahren 960, 1069 Maûnahmebeschwerden 906 Maûnahmegesetz 473 f Maûnahmen verwaltungsbeho È rdlicher Befehlsund Zwangsgewalt 670, 898, 1031, 1252, 1256 Medienfreiheit 857, 1459 ff MedienpluralitaÈt 1452, 1461 Mehrheitswahlrecht 150, 521, 523 Mehrparteiensystem 235, 519 MeinungsaÈuûerungsfreiheit 857, 1453 ff Meinungsvielfalt 1480 Menschenrechte 1157 ff, 1172, 1178, 1190, 1227, siehe auch Grundrechte Menschenrechtsbeirat 1326 Menschenwu È rde 19, 175, 181, 198, 219, 1148, 1151, 1346 ff, 1376 Merkl 14 MilitaÈrgerichtsbarkeit 737 Milizsystem 740 Minderheitenschutz 991, 1152, 1296, 1717 ff Minderheitsregierung 698 Mindestprozentklausel 523, 528, 594 Ministeranklage 98, 385, 579, 1144 ff Ministerialentwurf 601 Ministerialsystem 715, 751 Ministerrat 710 Ministerratsbeschlu È sse 711 Ministerverantwortlichkeit 141, 573, 579, 686 ± politische 597, 707, 754 ± rechtliche 597, 708, 754, 849, 1144 f Missstandskontrolle 853, 881 ff Misstrauensvotum 141 f, 385, 571, 573, 597, 702, 707, 754 Mitbestimmung 150, 1490 mitbeteiligte Parteien 939
488 mittelbare Bundesverwaltung, siehe Bundesverwaltung, mittelbare Monarchie 2, 16, 24, 28 f, 151 ff, 183, 381 Montesquieu 381 mu È ndliche Verhandlung 1599 Nachrichtendienste, militaÈrische 577 Nachrichtenu È berwachung 1429 Nation 371 Nationalrat 384, 512 ff ± Aufgaben 561 ff ± AufloÈsung 385, 549, 689 ± Ausschu È sse 553, 613 ± Beschlu È sse 615 ± Beschlusserfordernisse 559 ± Budgethoheit 562 ff ± Genehmigung von StaatsvertraÈgen 263 ff ± Gesetzgebungsperiode 548 f ± GliedstaatsvertraÈge 463 ± Kontrolle der Verwaltung 571 f ± Lesungen 612 ff ± Mitwirkung an Vollziehung 568 ff ± Neuwahl 98, 548 f È ffentlichkeit 558 ± O ± Organe 551 ff ± PraÈsident 552 ± PraÈsidialkonferenz 552 ± SelbstaufloÈsung 549 ± Sitzungen 550 ± staÈndiger Unterausschuss 555 ± Tagungen 550 ± Verfahren 558 ff ± Wahl 513 ff, 524 ff Nationalrats-Wahlordnung 513, 517, 524 ff Naturrecht 1155, 1157 ne bis in idem 1618 nemo tenetur-Prinzip 1611 ff NeutralitaÈt 117, 211 ff, 276 NeutralitaÈtsgesetz 45 Nichtigkeitsklage 356, 1196 Normenkontrolle 988, siehe auch Gesetzespru È fungsverfahren und Verordnungspru Èfungsverfahren Notifikationspflicht 602 f Notverordnungsrecht 692 Notwehr 1340, 1343 Oberster Gerichtshof 820 oberstes Organ 643 f, 650 f, 750 o È ffentlich Bedienstete 546, 653, 1237, 1473, 1706 f o È ffentliche Unternehmen 572, 872, 875 È ffentlichkeit 814 f, 858, 909, 1599 ff O È ffentlichkeitsarbeit 238, 241 O o È ffentlich-rechtliche VertraÈge 664 Online-Fahndung 1429 Opposition 12, 144, 146, 387, 578, 600, 1084 Organhaftung 844 Organisationsgewalt 508
Sachverzeichnis (Fundstelle = Rz) Organwalter 653 f Ortsgemeinden 775 ortspolizeiliche Verordnungen 795 È sterreichischer Gemeindebund 803 O È sterreichischer StaÈdtebund 803 O È sterreich-Konvent 57 ff, 77, 172 f, 1180 O paktierte Gesetzgebung 377, 424 Parallelbeschwerde 1028 ParitaÈtsgrundsatz 452, 458 parlamentarisches Regierungssystem 32, 137, 141 f, 573, 694, 699, 702, 754 Parlamentarismus 130, 562 Parlamentsberichterstattung 560 Parteibeschwerde, siehe Bescheidbeschwerde (VwGH) Parteien 8, 131, 143 ff, 171, 201, 223 ff, 387, 519, 582, 735, 884, 1010 Parteienfinanzierung 238, 240 ff, 519 Parteienfreiheit 143, 228 ff Parteienproporz 735 f, 749 Parteienstaatlichkeit 143 ff, 536 Parteienverbote 231 Parteispenden 877 Parteistellung 196, 1669 Partizipation 150, 646 persoÈnliche Freiheit 1356 ff PersoÈnlichkeitsschutz 1272, 1474 ff, 1496 Pflichtarbeit 1387 ff Pflichtmitgliedschaft 766, 1523 Planungsermessen 505 Plebiszit 637 Pluralismus 127 Politik 8, 184, 201, 203 ff, 1152, 1222, 1302, 1654 politische Parteien, siehe Parteien politische Rechte 1217 Polizei 1341, 1350 polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) 293, 328, 335, 1196 Polizeistaat 176 f positive Diskriminierung 1677 pouvoir constituant 4 ff pouvoir constitue 4 ff PraÈjudizialitaÈt 1085, 1093 ff, 1116 PraÈsenzquorum 70 PraÈsidentschaftsrepublik 141, 679, 696 Pressefreiheit 1459 ff PrimaÈrrecht 329 Privatautonomie 1266, 1275 Privatisierung 220 ff Privatleben 1391 ff Privatschulfreiheit 1534 ff PrivatsphaÈre 1390 ff Privatwirtschaftsverwaltung 200, 396, 460 f, 496 ff, 657 ff, 663, 729, 835, 888, 918, 1031, 1702 ± Fiskalgeltung 498, 1258 ff ± LegalitaÈtsprinzip 496 ff
Sachverzeichnis (Fundstelle = Rz) Privilegierungsverbot 1636 ProportionalitaÈt, siehe VerhaÈltnismaÈûigkeitsprinzip Proportionalwahlrecht, siehe VerhaÈltniswahlrecht Proporz 146, 735 f, 749 Provisorische Nationalversammlung 6, 31 Quasi-Anlassfall 1067, 1106 f Querschnittsmaterien 423, 459, 467 Rassendiskriminierung 229, 1630, 1632, 1711 ff Rasterfahndung 200, 1327, 1398 Rat 308 ff, 316 ff Ratifikation 260 f, 264, 295 Rechnungsabschluss 567 Rechnungshof 580, 859 ff, 1131 Rechnungshofausschuss 556 Recht auf Bildung 1537 f Recht auf Leben 1335 ff Rechte, subjektive 206, 1168, 1211 ff Rechtsbereinigung 56, 77 f, 634 Rechtsgleichheit 1628 Rechtsinformationssystem des Bundes 105, 478, 628 Rechtspfleger 825 Rechtsprechung 380, 388 ff, 807 ff, 1257 Rechtsquellensystem 664 Rechtsschutz 194 ff ± Effizienz 195, 1625 ± Lu È cken 200, 1323 Rechtsschutzbeauftragte 200, 850, 1327, 1398 Rechtsschutzstaat 179 Rechtsschutzsystem 664, 670, 898 Rechtssicherheit 22 Rechtsstaat 3 ff, 93, 174 ff, 185 ff, 492, 915, 991, 1156 RechtstraÈger 834 Rechtsu È berleitung 40 ff Rechtsverordnungen 669 Referendum 638 Reformvertrag von Lissabon 50, 214, 286, 295 ff, 304, 307, 310, 312, 314, 328, 1185, 1199 Refoulement-Verbot 1352, 1371 Regierungsakte 695 Regierungsbildung, siehe Bundesregierung, Ernennung Regierungssystem 141 f Regierungsu È bereinkommen 262 Regierungsumbildung 700 Regierungsvorlage 607 f, 630, 695, 713 Regionalwahlkreise 524, 528 Regressanspruch 840 Reichsgericht 992, 1029, 1168 Religionsgemeinschaften 1443 ff Religionsunterricht 1433 Remonstrationsrecht 648
489 RepraÈsentation, siehe Demokratie, indirekte RepraÈsentativprinzip 533 Republik 6, 31, 151 ff È sterreich 163, 251 Republik O ± Vertretung nach auûen 252 Resolution 707 Resolutionsrecht 575 Ressortsystem 715, 751 f Ressortu È bereinkommen 262 Ressortverteilung 716 Revolution 6 f Richter 808 f, 823 richterliche Garantien 809, 823 richterlicher Befehl 1291, 1365, 1416 f, 1425, 1428 Richtlinien, siehe EuropaÈisches Gemeinschaftsrecht, Richtlinien richtlinienkonforme Interpretation 348 Rousseau 124 Ru È cku È bereignungsanspruch 1556 Ru È ckwirkung 480 ff, 487 ff, 632 Ru È ckwirkungsverbot 487 ff, 1615 f, 1688 f rule of law 174 Rundfunk 1477 ff Rundfunkfreiheit 1462, 1477 ff Sachlichkeitsgebot 1639, 1644 ff Sanktionsmaûnahmen 212, 285 Satzungsgewalt 499, 766 SaÈumnisbeschwerde 930, 976 ff SchaÈchtungsverbot 1436 schlichthoheitliches Verwaltungshandeln 508, 660, 836, 898, 918, 1031, 1252 Scho È ffenamt 367, 824, 1389 Schubhaft 1371 Schubhaftbeschwerde 1374 SchulbehoÈrden 735 f Schu È ler 1237 Schulpflicht 217 Schulwesen 217, 425, 1533 ff Schutzpflichten 1077, 1224, 1273, 1342 ff, 1505 Schwangerschaftsabbruch 1344 Sekten 1431, 1449 SekundaÈrrecht 329 selbstaÈndige Verordnungen 668 SelbstaufloÈsung 549 selbstbelastende Aussagen 1611 ff Selbstbezichtigungsverbot 817, 1611 ff Selbstbindungsgesetze 396 Selbstverwaltung 649, 653, 760 ff, 1253 ± Begriff 760 ± berufliche 769 ± Erscheinungsformen 769 ± Merkmale 766 ± Rechtfertigung 762 ± sonstige 761 ff ± soziale 769 ± territoriale 769, 774 ff
490 ± Wirkungsbereich 768 ± wirtschaftliche 769 Selbstverwaltungsko È rperschaften 763 ff self-executing 250, 274 Sexualverhalten 1392, 1395, 1682 SicherheitsbehoÈrden 731 ff Sicherheitsdirektion 732 Sicherheitspolizei 731 Sicherheitsverwaltung 731 ff Sklaverei 1387 SolidaritaÈt 19 f, 25, 82, 198, 1186 Sonderopfertheorie 1549, 1552 Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit 934, 1029 SouveraÈnitaÈt 160, 287 Sozialpartnerschaft 147 f, 600, 608, 765 Sozialstaatlichkeit 198, 208 Sozialstaatsklausel 219 SpaÈhangriff 1327 Spielregelverfassung 81 f, 1149 Spontanversammlung 1501 Sprengelrichter 810 Spruchformeln 1058 ff, 1254 ff Staatenbeschwerde 1331 Staatenbund 155, 287 Staatsanwaltschaft 816 Staatsaufgaben 164, 203 ff, 220 ff, 406 Staatsbu È rger 366 ff, 1380 Staatsbu È rgerrechte 369, 1158, 1227, 1380, 1558, 1631 Staatsbu È rgerschaft 366, 369 f, 372 Staatsform 124 Staatsgebiet 376 f Staatsgerichtsbarkeit 1144 f Staatsgerichtshof 990 Staatsgewalt 5, 160, 168, 379 f, 382 Staatsgrundgesetz 1167, 1294 Staatshaftung 347, 829 ff, 841 ff, 1123 Staatsoberhaupt 151 Staatspraxis 98 StaatssekretaÈr 318, 719 Staatsverschuldung 209 Staatsvertrag von St. Germain 31 Staatsvertrag von Wien 45, 1172 StaatsvertraÈge 75, 253, 259 ff, 470, 570, 690, 1134 ff ± Abschluss 260 ff ± Auûer-Kraft-Treten 276 ± BundeslaÈnder 279 ff ± EU-Recht 267 ± gesetzaÈndernde 265, 275 ± gesetzesergaÈnzende 265, 275 ± Kundmachung 268 ± politische 265 ± self-executing 250, 274 ± Transformation 269 f ± verfassungsaÈndernde 75, 265, 275 Staatsvolk 365 ff Staatsziele 82, 203 ff, 1162, 1211, 1678, 1685, 1721, 1730
Sachverzeichnis (Fundstelle = Rz) StabilitaÈtspakt 457, 803 Stadt mit eigenem Statut, siehe StatutarstaÈdte Stadtamt 782 Stadtrat 782 Stadtrecht 780 Stadtsenat 782, 805 staÈndiger Unterausschuss 555 Statutargesetze 396 StatutarstaÈdte 624, 724, 756, 780, 804 Sterbehilfe 1345 Steuern 446 Stiftungen 872 Stimmengewichtung 310 Strafbescheid 1091 Strafe 1351, 1363 f Strafgefangene 1237 Strafgewalt 222 Strafrecht 420, 509, 1615 ff strafrechtliche Anklage 393, 896, 1581 f StraftatbestaÈnde 507 Streikrecht 1522 Stufenbau der Rechtsordnung 10 f, 14 f, 187, 258, 340, 362, 988 SubsidiaritaÈtsprinzip 157, 289 Subventionen 1262, 1703 sukzessive ZustaÈndigkeiten 390 supranationale Organisationen 293 Systemgerechtigkeit 1660 Tatverdacht 1365 TeilaÈnderung 111 Telefonu È berwachung 1429 Terrorismus 26, 1398 Todesstrafe 1336 Toleranz 127 Torpedierungsverbot 469 Transformation 244, 248 ff, 269 ff, 285, 328, 463 ± generelle 250, 256, 274 ff ± spezielle 249, 270 ff Tribunal 393, 745, 896, 901, 1588 ff u È bergangene Partei 942 Umwegunzumutbarkeit 1088, 1091, 1117 Umweltschutz 204, 216, 219 unabhaÈngige Verwaltungssenate 351, 355, 621, 726, 896 ff, 1322 ff, 1379, 1420, 1591, 1594 ± als BerufungsbehoÈrde 905 ± Aufgaben 905 ff ± feste GeschaÈftsverteilung 904 ± Maûnahmebeschwerde 906 ± Organisation 901 ff ± Verfahren 909 ± Verwaltungsstrafsachen 905 ± Vorabentscheidungsverfahren 355, 900 ± Weisungsfreiheit 904 ± Zusammensetzung 903 unabhaÈngiger Finanzsenat 742
491
Sachverzeichnis (Fundstelle = Rz) unabhaÈngiger Umweltsenat 746 UnabhaÈngigkeitserklaÈrung 35 ff, 225 Unionsbu È rger 375, 1386 Unionsrecht, siehe EU-Recht UniversitaÈten 499, 770 ff, 1244, 1489 ff UniversitaÈtsautonomie 770 ff, 1489 ff unmenschliche Strafe (Behandlung) 1346 ff Unschuldsvermutung 1476, 1609 f UntaÈtigkeit des Gesetzgebers 1077, 1641 f UntaÈtigkeitsklage 1196 Unterbrechungsbeschluss 1085 Unterrichtsfreiheit 1534 ff Unterrichtshoheit 1534 Untersuchungsausschuss 576, 707 Untersuchungshaft 1373 Unterzeichnung 260 Unvereinbarkeit, siehe InkompatibilitaÈt Urteilsverfassungsbeschwerde 1004 VerbaÈnde 143 ff, 147, 171 Verbandskompetenzen 394 Verbotsgesetz 229 VerbreitungsbeschraÈnkungen 1469 VerbundfoÈderalismus 169 Vereine 1241, 1517 ff, 1529 ff Vereinigungsfreiheit 1516 ff Vereinsaustritt 1520 Vereinsfreiheit 1516 ff Vereinsrecht 1529 ff Verfahrensdauer 1602 Verfahrensgarantien 1216, 1580 ff, 1603 ff Verfahrenshilfe 950, 1018 Verfassung 11, 62 ± als Grundordnung 82, 93 È nderung 7, 80, 83 ± A ± Bestandskraft 80 ff, 83 Verfassung, historisch erste 7, 37 VerfassungsaÈnderung 7, 80, 83 VerfassungsauftraÈge 203 ff Verfassungsautonomie der LaÈnder 167, 170, 590, 640 Verfassungsbestimmungen 74, 85 Verfassungsbewusstsein 9 Verfassungsdurchbrechung 84, 994 Verfassungsgerichtsbarkeit 182, 197, 390, 987 ff ± Abgrenzung zur Verwaltungsgerichtsbarkeit 1057 ± Rechtsgrundlagen 1005 ± Reformen 1002 ff ± und Parlament 996 ± und Politik 993 ff ± Wesensmerkmale 993 ff Verfassungsgerichtshof 197, 352, 355, 385, 987 ff ± als negativer Gesetzgeber 1073 ± Asylgerichtshof 1070 ± Bescheidbeschwerde 1025 ff ± Beschlusserfordernisse 1012
± ± ± ± ± ± ± ± ± ± ± ± ± ± ± ± ± ± ± ± ± ± ± ±
Eingaben 1016 Exekution 1023 Gesetzespru È fungsverfahren 1071 ff, 1198 Grundrechtsschutz 1322 Individualantrag 362, 1086 ff, 1117 judicial activism 999 ff judicial self-restraint 999 ff Justizverwaltung 1013 Kausalgerichtsbarkeit 1121 ff kleiner Senat 1012 Kompetenzgerichtsbarkeit 1125 ff Kosten 1021 Massenverfahren 1069 mu È ndliche Verhandlung 1019 Normenkontrolle 357 ff, 362, 1071 ff, 1111 ff Organisation 1006 ff PraÈjudizialitaÈt 363, 1085, 1093 ff, 1116 Richter 1007 ff Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit 1029 f Staatsgerichtsbarkeit 1144 ff Staatsvertragspru È fung 1134 f staÈndige Referenten 1011 TribunalqualitaÈt 1597 und EuropaÈisches Gemeinschaftsrecht 352 f, 357 ff, 1003, 1033 ± Verfahren 1015 ff ± Verfahrenshilfe 1018 ± Verordnungspru È fungsverfahren 1111 ff, 1198 ± VoÈlkerrechtsgerichtshof 1146 ± Wahlgerichtsbarkeit 1136 ff ± Wiederaufnahme 1022 ± Wiedereinsetzung 1022 ± Wiederverlautbarungen 1133 ± Zusammensetzung 1006 f ± ZustaÈndigkeit 1024, 1254 Verfassungsgeschichte 28 ff verfassungsgesetzlich gewaÈhrleistete Rechte 1033, 1160 ff Verfassungsinterpretation, siehe Interpretation Verfassungskern, siehe GesamtaÈnderung verfassungskonforme Interpretation, siehe Interpretation, verfassungskonforme VerfassungskontinuitaÈt 36 ff Verfassungskultur 9 Verfassungsrecht 10 ff, 62 ff, 615 ± als Grundordnung 11, 113 ff ± Bedeutung 80 ff ± Begriff 62, 69 ± Erzeugung 65 f ± GesamtaÈnderung, siehe GesamtaÈnderung ± Grundprinzipien 109 ff, 186, 215, 1080 ± im formellen Sinn 65, 68 ± im materiellen Sinn 64, 68 ± Interpretation 87 ff ± Quellen 71 ff ± Zersplitterung 76 f, 83 Verfassungsreferendum 638 Verfassungsreform 52 ff
492 Verfassungsschutz 577 Verfassungsstaat 1 ff, 182, 197, 381, 1148 ff, 1163 È berleitungsgesetz 38 Verfassungs-U Verfassungsurkunde 62 Verfassungsverbund 292, 301 Verfassungswirklichkeit 98 f Vergaberecht 425, 621, 1262, 1703 Verhaftung, siehe Festnahme VerhaÈltnismaÈûigkeitsprinzip 1298 f, 1300 ff, 1340 f, 1361, 1560 ff, 1691 VerhaÈltniswahlrecht 520 ff, 585, 783 vermoÈgensrechtliche Anspru È che 1121 VermoÈgensstrafen 393 Verordnungen 386, 665 ff, 1111 ff ± Kundmachung 667 ± selbstaÈndige 668, 1113 Verordnungspru È fungsverfahren 1111 ff ± Antragslegitimation 1115 ff ± Bedeutung 1112 ± Entscheidung 1119 ± Individualantrag 1117 ± Pru È fungsgegenstand 1113 ± Wirkung der Aufhebung 1120 Versammlungen 1498 ff Versammlungsfreiheit 1497 ff Versammlungsrecht 1512 ff Versteinerungstheorie 92, 429 ff, 436 Versteinerungszeitpunkt 32, 431 Verteidigungspolitik 214 Verteidigungsrechte 1607 Vertrag von Amsterdam 290 Vertrag von Maastricht 286, 290 Vertrag von Nizza 290 Vertrag von Rom 290 Vertragsbedienstete 653 f Vertragstreue 257 Vertrauensschutz 489 f, 1686 ff Vertrauenstatbestand 1692 f Verwaltung 380, 388 ff, 395, 641 ff ± hoheitliche 656 ± nichthoheitliche 657 ± schlichthoheitliche 660 ± Weisungsbindung 647 ff Verwaltungsgerichtsbarkeit 179, 390, 744, 914 ff ± Kassationsprinzip 920 ± Reformen 916 ± Vorabentscheidung 923 ± Wesensmerkmale 917 ff Verwaltungsgerichtshof 194, 351, 355, 914 ff ± Amtsbeschwerde 470, 929 ± aufschiebende Wirkung 943 ff ± Bescheidbeschwerde 927 ff ± Beschwerdefrist 942 ± Beschwerdepunkt 940 f ± einstweilige Anordnungen 949 ± Ersatzbescheid 975
Sachverzeichnis (Fundstelle = Rz) ± Kollegialbeho È rden mit richterlichem Einschlag 744, 936 ± Kompetenzen 927 ff ± Kosten 984 ± Massenverfahren 960 ± mu È ndliche Verhandlung 972 f ± Neuerungsverbot 971 ± Organisation 925 ff ± Parteibeschwerde 937 ff ± Parteien 939 ± Prozessvoraussetzungen 951 ff ± SaÈumnisbeschwerde 930, 976 ff ± Senate 926 ± TribunalqualitaÈt 1597 f ± und EuropaÈisches Gemeinschaftsrecht 351, 360 ± Verfahrenshilfe 950 ± Vorabentscheidung 923, 963, 978 ± Weisungsbeschwerde 932 ± Wiederaufnahme 986 ± Wiedereinsetzung 985 ± ZustaÈndigkeitsausschluss 934 ff Verwaltungsstrafrecht 392, 410, 422, 959, 1366, 1595 Verwaltungsstraftatbestand 1582 Verwaltungsstrafverfahren 393 Verwaltungsu È bereinkommen 262 Verwaltungsverfahrensgesetze 410 ff, 421 f Verwaltungsverordnung 647, 669, 1113 Verwaltungsvollstreckung 410 Verweisungen 193 Vetorecht 622 Volk 371 VoÈlkerrecht 244 ff ± allgemein anerkannte Regeln 255 ff ± Gewohnheitsrecht 255 ff ± Rechtsquellen 245, 254 ± StaatsvertraÈge 259 ff ± VerhaÈltnis zum staatlichen Recht 246 VoÈlkerrechtssubjekte 244 Volksabstimmung 111, 295, 589, 638, 683, 1136, 1141 Volksanwaltschaft 581, 853, 881 ff, 1131 Volksbefragung 639, 1136, 1141 Volksbegehren 607, 637, 1136, 1141 Volksgesetzgebung 137, 590 Volksgruppen 1717 ff Volksgruppenpolitik 218, 1720 Volksgruppensprache 1723 Volksinitiative 637 Volkso È ffentlichkeit 558 Volksrechte 635 ff VolkssouveraÈnitaÈt 16, 123, 998 Vollziehung 380, 641, 807 VollzugsfoÈderalismus 170 Vorabentscheidung 314, 355 f, 900, 923, 1196, 1579 Vorbehalt des Gesetzes 178, 190, 492 f, 915, 1171
Sachverzeichnis (Fundstelle = Rz) Vorlageantrag, siehe Vorabentscheidung Vorlagepflicht 1579 VorlaÈufige Verfassung 38 Vorrang des Gesetzes 178, 492, 915, 1171 Vorstellung 799 Vorzugsstimmen 527, 529 Wachorgane 773 WachkoÈrper 734 Waffengebrauch 1341, 1350 Wahlalter 514, 592 Wahlanfechtung 530, 1137 ff Wahlbeamte 653 WahlbehoÈrden 525 Wahlen 119, 135, 367, 513 ff, 591 ff, 681, 783 f, 1136 f WaÈhlerevidenz 525 Wahlgerichtsbarkeit 1136 ff Wahlparteien 232 WahlrechtsgrundsaÈtze 513 ff, 591, 783 WahlvorschlaÈge 526 wahlwerbende Parteien 526, 1137 Wahlwerbung 519 Wahlzahl 528 Wehrdienstverweigerung 1441 f Wehrpflicht 367, 740, 1441 Weisung 389, 645, 647, 741 Weisungsbeschwerde 736, 932 Weisungsbindung 644 f, 741
493 weisungsfreie VerwaltungsbehoÈrden 741 ff Weisungsfreiheit 736, 741 ff, 762 f, 809, 816, 1327, 1489 ff Werbung 1455, 1470 ff Wesensgehaltssperre 1297 Wesentlichkeitstheorie 507 WiederbetaÈtigungsverbot 218, 229 f Wiederverlautbarung 633 f, 1133 Wien 804 ff Willku È rverbot 1198, 1632, 1699 ff Wirtschaftlichkeitsgebot 851, 867 Wirtschaftsverfassung 1540 f Wissenschaftsfreiheit 1316 ff, 1484 ff wohlerworbene Rechte 1690 f Wohlfahrtsstaat 177 Wohnung 1421, 1422 ff Zensurverbot 1467 Zentralstaat 161 Zitationsrecht 709 Zivildienst, siehe Grundrecht auf Zivildienst Zivilrecht 420, 509, 1587 zivilrechtliche Anspru È che, siehe civil rights Zollunion 289 Zuru È ckweisung 958, 1053, 1099 f Zuschu È sse 455 ZustaÈndigkeit 507, 1574 f, 1577 Zwangsarbeit 1387 ff Zwischenzolllinien 378