Tasos Zembylas Kulturbetriebslehre
Tasos Zembylas
Kulturbetriebslehre Grundlagen einer Inter-Disziplin
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Tasos Zembylas Kulturbetriebslehre
Tasos Zembylas
Kulturbetriebslehre Grundlagen einer Inter-Disziplin
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VS Verlag für Sozialwissenschaften Entstanden mit Beginn des Jahres 2004 aus den beiden Häusern Leske+Budrich und Westdeutscher Verlag. Die breite Basis für sozialwissenschaftliches Publizieren
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Gedruckt mit Förderung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien sowie des österreichischen Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur. ..
1. Auflage August 2004 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2004 Lektorat: Monika Mülhausen / Bettina Endres Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 3-531-14314-X
Danksagung Das vorliegende Buch ist das Ergebnis einer Auseinandersetzimg mit Problemstellungen, die am Institut flir Kulturmanagement und Kulturwissenschaft an der Universitat fur Musik imd Darstellende Kiinst Wien systematisch untersucht werden. An dieser Stelle mochte ich danken: Werner Hasitschka, Franz-Otto Hofecker und Peter Tschmuck, die mit mir in den letzten Jahren engagiert zahlreiche Diskussionen iiber verschiedene Themen, die in die Arbeit eingeflossen sind, fuhrten. Schreiben ist natiirlich keine blo6e Denkarbeit, sondem auch ein handwerkliches Herstellen. Beim Korrigieren haben mir Margaretha Gotsche und Erika Salmhofer, beim Feilen des Textes Katharina Rosenberger und Elisabeth Mayerhofer sehr geholfen - Danke fiir eure Muhe.
Inhaltsverzeichnis Einfiihrende Bemerkungen
13
TEIL I - KULTURBEGRIFF(E) Einleitung
19
1
Zur Vieldeutigkeit des Kulturbegriffs
21
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7
Zwei tradierte Bedeutungen Begriffsgeschichte: Cultura - Paideia - Politea Erste Zwischenbilanz Kultur versus Zivilisation Der Kulturbegriff in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Die Aprioritat der Kultur Konzeptueller und methodologischer Scheideweg
21 22 25 26 28 29 32
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10 2.11 2.12
Aspekte der Kultur Kultur als Forschungsfeld Der AUtag Die Diskretheit der Kultur Kultur als geteiltes und als offentliches Gut Trager und Urheberschaft Das Eigene und das Fremde Kultur als Ideologie Macht, Herrschaft, Hegemonie Konflikte Kultur als Kampfbegriff Soziale Stratifikation und kulturelle Hierarchisierung Hegemonie und Determination
35 35 35 38 40 43 46 48 52 55 56 59 65
3 3.1 3.2
Grundlagenfragen der Kulturforschung Die Suche nach epistemischen Grundlagen Vorbedingungen kulturwissenschaftlicher Forschung
71 71 72
Inhaltsverzeichnis
3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9
Die Erfindung des Kontextes Das Text-Paradigma Alles nur „Texr? Kontrapunkt: das Praxis-Paradigma Das Problem der Grenzziehung Umfang und Bestimmbarkeit des Kontextes Erlautenmgen und Konsequenzen
4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
Institutionelle Annaherung Institution als zentrales Konzept der Kulturtheorie Funktionale Aspekte Institutionskritik Kulturinstitutionen und Kulturgiiter Politische Okonomie der Kultur
73 76 81 85 87 89 92 97 97 99 100 102 109
TEIL II - KUNSTBEGRIFF(E) Einleitung 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 6 6.1 6.2 6.3
117
Die Grenzen der bisherigen kunstphilosophischen Theorien 119 Wie ist Kunst zu denken? 119 Kunst in der philosophischen Forschung 120 Kunst als Sonderling der Kultur 123 Kunst als epistemisch Radikales 127 Das Sichtbare und seine unsichtbaren Rahmenbedingungen 128 Die Kunstphilosophie mittels Interdisziplinaritat erweiteml32 Praxisorientierte Analyse der Kunst Der pragmatische Horizont Kunstpluralitat und gesellschaftliche Praxis Ein institutionstheoretisches Modell der Formation des Kunstbegriffs
135 135 137 140
Inhaltsverzeichrds
7 7.1 7.2 7.3 7.4 75 7.6 in 7.8 7.9 8 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6
9 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6
Die Konflikttrachtigkeit der Kunst Grenzen der Akzeptabilitat Gnmdlagen der Kunstrezeption: Verstehen, Auslegung, Bewertung Konflikttypen Analyse von Kunstkonflikten Die wesentliche Umstrittenheit des Kunstbegriffs Uberlegungen zum Umgang mit Konflikten Die Massenmedien als Kampfarena Staatliche Institutionen als Entscheidungs- imd KontroUinstanzen Mediation als alternative Form der Konfliktbewaltigung...
147 147 149 155 162 164 165 167 171 181
Das Neue als Leitbegriff der Modeme Kulturelle Voraussetziingen fiir das Neue Zwei Bedeutungsvariationen Vom Leitbegriff zum Denkstil und wieder zuriick Das Neue und die Kreativitatsforschung Der metaphorische und der performative Charakter des Neuen Abwendungs- und Reformulierungsversuche: das PostNeue
187 187 190 191 194
Kunst als evaluatives Konzept Der Anspruch auf Kennerschaft Bewertung und Rechtfertigimg Zum epistemischen Status der „asthetischen Qualitat" Die Sozialitat asthetischer Urteile Die Performativitat der asthetischen Urteile Die Unhintergehbarkeit des Bewertens
205 205 208 211 214 215 217
195 199
10
Inhaltsverzeichrds
TEIL III - HANDLUNGEN, TATIGKEITEN, KULTURELLE PRAKTIKEN Einleitung 10 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6 10.7 11 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6 11.7 11.8
12 12.1 12.2 12.3
221
Die epistemologischen Grundlagen der Handlungstheorie 227 Verabschiedimg von der Plantheorie und vom Primat des Geistes 227 Kritik am analytisch-deskriptiven Zugang 230 Beschreiben und Erklaren 233 Neupositionierung einer alten Auffassung: Handlung als wissensgeleitete Aktion 237 Die Praxis und das Konzept des praktischen Wissens 240 Praktischer Wissenserwerb 244 Konnerschaft und Kompetenz 246 Die sozialwissenschaftlichen Grundlagen von Tatigkeiten und Praktiken Was ist ein PraxiskoUektiv? Zur Struktur eines PraxiskoUektivs Die gesellschaftliche Organisation beruflicher Tatigkeiten. Die Teilnahme an einem Berufsfeld Kulturberufe Beruflicher Werdegang Kultureller Wandel und Berufsbilder Kompetenzverteilung und Konflikte: Das Aufkommen einer neuen Konstellation Marksteine fiir die Erklarung und Interpretation des sozialen Handelns im Kulturbetrieb Das Normative im Sozialen - Kurzer theoriehistorischer Aufriss eines Problems Die Auslegung der Regelhaftigkeit des Handelns Konzeptuelle Ausdifferenzierung des Regelbegriffs
251 251 254 257 260 263 267 269 271
277 277 284 286
Inhaltsverzeichrds
12.4 12.5 12.6 12.7 13 13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 13.6 13.7 13.8 13.9
Exkurs zu Wittgensteins Regelbegriff Zweifel am Regelparadigma Das Oszillieren des Handelns zwischen Kreativitat und Konventionalitat „Einer Kegel folgen" als grundlegende Kulturtechnik Bewertung und Rechtfertigung von Handlungen Angaben liber Handlungsintentionen und die Konstruktion des Handlungssinns Zur RoUe von Zielen und Zwecken Werten und Bewerten in der Praxis Die moralische Dimension Drei Grundbegriffe: Verantwortung, Begriindung, Rechtfertigung Spezifische Probleme des praktischen Urteils Rationalitat als evaluatives Kriterium Grenzen der Operationalisienmg von Rationalitatskriterien Fundamente und Ruinen des nutzenorientierten Rationalitatsbegriffs
11
291 294 298 300 305 305 308 310 312 317 322 325 335 338
Nachwort
347
Literaturverzeichnis
349
Sachwortverzeichnis
367
Personenverzeichnis
373
Einfiihrende Bemerkungen „Kulturbetrieb" als makrosoziologisches Konzept stellt sowohl ein Berufsfeld als auch einen institutionellen Rahmen dar, in welchem sich bestimmte kulturelle Praktiken und Diskurse entfalten.^ Die Kulturbetriebslehre ist jenes Fach, das den Kulturbetrieb als historisch gewachsene, gesellschaftliche Organisationsform der Konzeption, Produktion, Distribution, Vermittlung, Rezeption, Konservierung und Erhaltung spezifischer Kulturgiiter imtersucht. Die Forschungsgegenstande der Kulturbetriebslehre sind folglich Phanomene und Zusammenhange, die im Kulturbetrieb auftauchen: der Formationsprozess von Kulturgiitem (Artefakte, kulturelle Leistungen); Kultur- und politikwissenschaftliche sowie okonomische Diskurse (Interpretationen, Werte, symbolische Systeme); Kulturelle Praktiken (berufliche Tatigkeitsfelder, soziale Interaktionen, Rezeptionsweisen, Konsum);
^ Die osterreichische Kulturstatistik (LIKUS-Schema), sowie die Arbeitsgruppe ftir Kiilttirstatistik des EUROSTAT zahlen folgende Bereiche zum Kultursektor: Kulturelles Erbe, Denkmalschutz va\d -pflege; Archive; Bibliotheken; Miiseen, Sammlungen, Aiisstellungsorte; Literatur, Verlagswesen, Printmedien; bUdende und angewandte Kiinste inM. Architektur; darsteUende Kiinste (Musik, Theater, Tanz, Musiktheater); audiovisueller und multimedialer Bereich (Kino, Radio, Femsehen, elektronische Medien); interdiszipHnarer Sektor (sozio-kulturelle Vereine, Volkshochschulen, Musikschulen, Kulturstiftungen, offentliche Kulturverwaltung, Auslandskultur); kiinstlerische Ausbildungsstatten (Kunstuniversitaten, Konservatorien). hi dieser Auflistung sind einige Bereiche nicht enthalten, die kulturwissenschaftlich gesehen zur „Kultur'' gehoren aber aus teils pragmatischen, teils verwaltungstechnischen Uberlegungen nicht in die Kultiirstatistik aufgenommen wurden (z.B. kirchliche Aktivitaten, Landschaftspflege, Sport, Tourismus u.a.). Siehe Hofecker, Franz-Otto: „Zur Definition des Kulturbudgets in Osterreich nach LIKUS", in Hofecker 2003,17-63.
14
Einfiihrende Bemerkungen
Kulturorganisationen und organisationstheoretische Aspekte; mikrookonomische Tauschakte; makrookonomischer Umfang des Kultursektors; Kulturpolitik, rechtliche Rahmenbedingimgen. Die Kulturbetriebslehre hat sich in den spaten 1980er Jahren formiert. Hervorgegangen ist sie aus den wirtschaftswissenschaftlichen Fachem Kulturokonomie und Kulturmanagementlehre. Deshalb kommen die meisten Autorlnnen^ und einschlagigen Fachzeitschriften aus diesen Wissenschaftsgebieten. Viele Forscherlnnen sind jedoch bestrebt, den okonomischen Zugang zu erweitem und die kulturwissenschaftliche Perspektive in die makrookonomische und betriebswirtschaftliche Forschung zu integrieren. In diesem Sinne aufierte Peter Bendixen in einem Symposium liber Kulturmanagement den Wunsch, „(.-) fur das Thema Kulttirnianagement eine theoretische, wenn nicht gar eine philosophische Grundlage zu finden und zu formulieren, und der Versuch, sich anderer Wissenschaften mit analoger oder erganzender Thematik zu vergewissem, indem nach der Ubertragbarkeit von Erfahrungen, wissenschaftlichen und praktischen Instrumenten sowie allgemeinen Erkenntnissen gefragt wird/'^
Dieses Begehren ist legitim, denn die aktuelle Theoriebildung enthalt einige Defizite, die in der vorliegenden Arbeit thematisiert werden: Auf einer konzeptionellen Ebene sind manche Grundbegriffe wie z.B. „Kunst" oder „Kultur" entweder unklar oder werden fiir das spezifische Theoriefeld der Kulturbetriebslehre inadaquat gebraucht. Es besteht folglich die Gefahr, entweder triviale Definitionen vorzulegen, wenn man „Kunst" und „Kultur" beispielsweise selbstreferenziell definiert, oder verworren zu bleiben, wenn man blofi die semantische Uferlosigkeit der Begriffe kon-
2 Es wurde in der vorliegenden Arbeit versucht, durchgangig geschlechtergerechte Sprache zu verwenden. 3 Bendixen, Peter: „Einfuhrung'' in Fuchs 1993,15f.
Einfuhrende Bemerkimgen
15
statiert („Alles ist Kultur.", „Alles kann Kunst sein/'), sie aber nicht hinterfragt. Zweitens befasst sich die Kulturbetriebslehre mit handelnden Personen, professionellen Tatigkeitsfeldem und kulturellen Praktiken. Die Praxis emst nehmen heifit, das Tatigkeitsfeld der Menschen in den Vordergrund der wissenschaftlichen Forschung zu stellen iind so die Reflexion iiber die Praxis zu starken. Die Erarbeitung eines fundierten und zugleich reichen handlungstheoretischen Ansatzes, der einen heuristischen Wert fiir die Kultur- und Berufsfeldforschung sowie fiir die Kulturmanagementlehre hat, ist unverzichtbar. Schliefilicli ist es fiir die Forderung der Eigenstandigkeit der Kulturbetriebslehre notwendig zu zeigen, weshalb die Mainstream-Okonomie mit ihrer Begrifflichkeit und Methodologie den Kulturbetrieb zu einseitig begreift. Der Reduktionismusvorwurf besagt, dass der Verweis auf die Produktions- und Nutzenfunktion nicht ausreicht, um Kulturbetriebe als Organisationseinheiten zu verstehen. Entsprechend dieser Ausgangslage gliedert sich das Buch in drei Telle: Der erste Teil tragt den Titel „Kulturbegriff(e)" und enthalt vier Kapitel. In den ersten zwei Kapiteln werden die Kulturbegriffe, die in verschiedenen wissenschaftlichen Diskursen gebraucht werden, systematisch erlautert und analysiert. Das dritte Kapitel widmet sich einer ausfiihrlichen Diskussion methodologischer Fragen, alien voran der Kontextualisierung kultureller Gegenstande. Im vierten Kapitel wird der Kulturbegriff im Zusammenhang mit Kulturinstitutionen erlautert und prazisiert. Der zweite Teil tragt den Titel „Kunstbegriff(e)" und ist in fiinf Kapitel unterteilt. Im ersten und zweiten Kapitel wird Kritik an den Ergebnissen kunstphilosophischer Zugange geiibt und im Anschluss daran eine praxisorientierte Auslegung des Kunstbegriffs vorgestellt. Im dritten und vierten Kapitel werden zwei wesentliche Aspekte, die den modernen Kunstbegriff charakterisieren, erortert: Am Beispiel von offentlichen Konflikten um Kunstwerke offenbart sich die Pluralitat und die teilweise Unvereinbarkeit verschiedener Auffassungen. Die Assoziation des Kunstbegriffs mit dem Neuen zeigt weiter die tiefere Verbindung der Kunst zu manchen Leitvorstellungen der Kultur der Modeme. Im
16
Einfuhrende Bemerkungen
fiinften Kapitel werden die normativen und evaluativen Komponenten von Kunstbegriffen thematisiert. Der dritte Teil mit dem Titel „Handlungen, Tatigkeiten, kulturelle Praktiken" besteht aus vier Kapiteln. Im ersten Kapitel werden die epistemologischen Grundlagen der Handlimgstheorie dargelegt. Daraus entfaltet sich eine Kritik an jenen handlungstheoretischen Ansatzen, die auf defizitaren Grundlagen aufbauen. Im zweiten Kapitel wird die soziale Dimension des Handelns erlautert und die Konsequenzen fiir die soziologische Forschung von Kulturberufen formuliert. Das dritte Kapitel thematisiert methodologische Aspekte der Interpretation und Erklarung sozialen Handelns. Im vierten Kapitel werden Fragen der Bewertimg von Handlungen, der Verantwortimg fiir das eigene Tun imd der Handlungsrationalitat diskutiert. Anschliefiend wird der nutzenorientierte, okonomische Rationalitatsbegriff in semem universellen Geltungsanspruch hinterfragt. Zusammengefasst thematisiert die vorliegende Arbeit die zentralen Grundbegriffe - Kultur, Kunst sowie Praxis (bzw. Handlungen, Tatigkeiten, Praktiken) -, die die Untersuchungsgegenstande der Kulturbetriebslehre konstituieren und organisieren. Es wird dabei das Ziel verfolgt, ihren operativen imd heuristischen Wert fiir die Theoriebildung und Forschungspraxis herauszuarbeiten. Im Titel dieses Buches - „Kulturbetriebslehre: Grimdlagen einer Inter-Disziplin" - wird explizit der Anspruch erhoben, eine neue InterDiszipltn philosophisch zu begriinden. Sowohl die Vorstellung von Neuheit als auch von Interdisziplinaritat sind nicht rhetorisch gemeint. Die Kulturbetriebslehre reprasentiert eine Synthese von kultur-, sozialund wirtschaftswissenschaftlichen Einsichten. Darin liegt auch der Unterschied zur Kulturokonomie, die sich als international etablierte Disziplin^ primar auf die okonomischen Aspekte des Kulturbetriebs
Seit 1973 wird regehnafiig die Fachzeitschrift ,Joumal of Cultural Economies'' herausgegeben. 1979 fand das erste intemationale Symposium zur Kulturokonomie statt. AnschHefiend setzte ein Institutionalisierirngsprozess an, der zur Gnindimg der Associa-
Einfuhrende Bemerkungen
17
konzentriert. Andere Themen wie etwa die symbolische Dimension von Kulturgiitern oder die Frage nach der beruflichen Kompetenz in diesem Feld werden zwar von Okonomlnnen gelegentlich wahrgenommen, aber als verzichtbare Aspekte behandelt imd aus der okonomischen Analyse ausgeklammert. Die Kulturbetriebslehre unterscheidet sich ebenfalls von der Kulturmanagementlehre, die hauptsachlich eine anwendungsorientierte Auspragung hat. Die vorliegende Konzeption von Kulturbetriebslehre will nicht nur zeigen, dass zwischen symbolischer und okonomischer Bewertung eine kontinuierliche Interaktion existiert, sondem solche dualistischen Unterscheidungen, etwa zwischen „kunstintemen" und „kunstextemen" Funktionen und Bewertungen, aufheben. Die Mannigfaltigkeit der Funktionen, die Kulturgiiter einnehmen, ist vielmehr integraler Bestandteil ihrer sozialen Einbettung - einer Einbettung, die viele Optionen und Facetten zulasst. Das Buch hat zudem einen philosophischen Anspruch. Es will grundlegende Fragen der Kulturarbeit, der Kulturpolitik und der Kulturokonomie ansprechen. Was mir im Laufe des Schreibens und der Auseinandersetzung mit den Fundamenten der Kulturbetriebslehre deutlich wurde, ist die Instabilitat, Dispersion und Vielschichtigkeit ihrer Grundbegriffe. Die Themen und Fragenkomplexe, die hier behandelt werden, sind so umfassend und miteinander verwoben, dass es illusorisch ware, eine geschlossene und koharente Theorie des Kulturbetriebs anzustreben. Philosophieren bedeutet zu ertragen, keine Antworten zu haben. Eine gewisse epistemische Bescheidenheit hat folglich meine Denkbewegung und meinen Argumentationsmodus gepragt: Obwohl wissenschaftliche Abstraktionen stimulierend und heuristisch unverzichtbar sind, erweisen sie sich in hoherer Dosis als Opium fiir Intellektuelle.
tion Cultural Economics International (ACEI) imd Einrichtung der ersten Lehrstuhle fiir Kulturokonomie fiihrte.
TEIL I - Kulturbegriff(e) Einleitung Es gibt kaum ein Buch iiber Kulturokonomie oder Kulturmanagement, das nicht mit der Frage beginnt, was das Wort Kultur bedeuten konnte. So konstatiert David Throsby, dass „die einleitenden Kapitel der meisten modemen Publikationen zur Kulturokonomie beinah identisch sind".i Wenn die Frage nach der Bedeutung des Kulturbegriffs keine blofi rhetorische Manier ist, das hei6t einen in der Wissenschaftsgemeinschaft zur Gewohnheit gewordenen Stil darstellt, dann ist die Begriffs- und Gegenstandsbestimmung eine emst zu nehmende Angelegenheit. Der Kulturbegriff ist selbst fiir analytisch scharf denkende Theoretikerlnnen entweder wie barter Granit, an dem man sich die Zahne ausbeifit oder aber auch wie Treibsand, den man partout vermeiden soUte. Wahrend Raymond Williams bemerkt, dass „culture" eines der kompliziertesten Worter der englischen Sprache ist, und ihm ausgiebige Untersuchungen widmet, kommt Niklas Luhmann zum radikalen Schluss, dass Kultur „einer der schlimmsten Begriffe [ist], die je gebildet worden sind"^. Warum dieses Wort viele Schwierigkeiten und darunter so manche Konfusion bereitet, wird sich, so hoffe ich, in folgendem Textabschnitt zeigen. Dariiber hinaus zwingt die zentrale Annahme, dass kulturelle Phanomene Kristallisationen von gemeinschaftlichen Prozessen sind, eine Problematisierung der Interpretations- und Kon-
1 Throsby 2001,1; Ubersetzung TZ 2 Williams 1976,87 und Luhmann 1995,398.
20
Teil I - Einleitung
textualisierungsweise unserer Untersuchimgsgegenstande. Konsequenterweise wird in den folgenden Kapiteln neben der Analyse der Bedeutungsvielschichtigkeit des Kulturbegriffs auch die Methodologie der Kulturf orschung systematisch thematisiert.
1 Zur Vieldeutigkeit des Kulturbegriffs
1.1
Zwei tradierte Bedeutungen
In der theoretischen Literatur wird das Wort Kultur entweder allumfassend (= die maximalistische Variante) oder innerhalb eines Sets von Abgrenzungen (= die minimalistische Variante) gebraucht. Beide Begriffsbestimmiingen sind problematisch: Innerhalb der maximalistischen Variante - „alles ist Kultur" - gibt es keine andere Instanz, die vor oder hinter der Kultur wirkt und diese in irgendeiner Weise mitgestaltet. Was Kultur iiberhaupt moglich macht, wird hochstens als ein anthropologisches Vermogen angefuhrt, namlich die Fahigkeit des Menschen zur Symbolbildung - man denke zum Beispiel an Ernst Cassirers Charakterisierung des Menschen als „animal symbolicum''^. In dieser maximalistischen Variante wird folglich kein signifikanter Unterschied zwischen Kultur und Gesellschaft gemacht. Nicht, dass beide Begriffe voUig identisch waren, aber es kann keine klare Trennungslinie zwischen ihnen gezogen werden. Das Postulat „Alles ist Kultur'' besagt folglich, dass alles kulturell konstruiert und zugleich kulturell determiniert ist und das gilt freilich selbstreflexiv auch fiir den Kulturbegriff: ,/Kultur' ist eine kulturelle Konstruktion" stellt Joel Kahn fest.^ Die Kulturwissenschaft macht sich somit zur Konigin aller Wissenschaften, derm sie erhebt den Anspruch, die Grundlagen aller anderen Wissenschaften zu erforschen. Angesichts der allumfassenden Definition des Kulturbegriffs stellt sich die schwierige Frage „Was ist Nicht-Kultur?", die eigentlich eine Grundfrage der Ontologie bzw. der Metaphysik ist. Hier wird der weitere Weg der maximalistischen Variante domig und unbequem.
1 Siehe Cassirer 1990b (1944), 51. 2 Kahn 1995,128; Ubersetzimg TZ.
22
Zur Vieldeutigkeit des Ktilturbegriffs
Die minimalistische Variante pladiert hingegen dafiir, den Kulturbegriff nur in einem spezifischen Sinn zu gebrauchen - zum Beispiel im Sinn von Bildimgsgut, wie im Neohumanismus des 19. Jahrhimderts, oder als Ideologie, wie im Marxismus, oder als AUtags- und Soziokultur, wie in den britischen Cultural Studies. Kultur ist demnach kein allumfassender Begriff, sondem ein Bereich des Sozialen, der in Wechselbeziehung zu anderen Instanzen steht. Der Vorzug der minimalistischen Variante kann im ubersichtlichen Begriffsumfang gesehen werden. Problematisch sind allerdings die impliziten normativen Abgrenzungen, die vorausgesetzt oder im Nachhinein generiert werden: Kultur versus Natur, Kultur versus Zivilisation, Kultur versus Technik oder Okonomie usw. Solche Polarisierungen und Oppositionen bediirfen einer Rechtfertigung, die meines Erachtens nicht aufierhalb des jeweiligen Denksystems, das sie erzeugt, erbracht werden kann. Die These, dass Kultur das Gegenteil von Natur sei -- um hier ein allzu bekanntes Beispiel anzufuhren - ist extrem fragwiirdig, wenn wir uns darauf besinnen, dass der Naturbegriff selbst ein diskursives, sprich kulturelles Konstrukt ist. Hier beifit sich die Katze in den Schwartz und es ist nicht leicht sich aus dieser Zirkularitat zu befreien. Jenseits der tradierten Begriffsbestimmungen bietet die AUtagssprache zusatzliche Bedeutungsvariationen, die fiir die theoretische Analyse fruchtbar sind. Neue Wortschopfungen, wie Streitkultur, Untemehmenskultur, Esskultur, Kaffeehauskultur, Rave-Kultur, die in den letzten Dekaden Eingang in die deutsche AUtagssprache fanden, lassen vermuten, dass hinter den Phanomenen, die sie benennen, ein meist impliziter Regelkorpus existiert. Waren die Regeln explizit, d.h. kodifiziert, wie im Rechtssystem, dann wiirde man nicht von ,,-kultur", sondern vielleicht von ,,-ordnung" sprechen. Die Impliziertheit der Regeln ist also entscheidend und rechtfertigt das Beiwort ,,-kultur". Das Beiwort ,,-kultur" verrat hier eine distinkte Dimension, die wesentlich fiir das Verstandnis der differenziellen Variationen von Lebensformen bzw. von Teilkulturen ist, die in einer Gesellschaft koexistieren. 1.2
Begriffsgeschichte: Cultura - Paideia - Politea
Der Riickblick auf die Begriffsgeschichte dient nicht nur einem philologischen Interesse, sondem kann auch helfen, aktuelle Probleme imd Kontroversen um den Kulturbegriff als teilweise historisch vererbt zu
Begriffsgeschichte: Cultura - Paideia - Politea
23
begreifen. Kultur bedeutet gemafi ihrer etymologischen Herkunft vom lateinischen Nomen „cultura" und dem Verb „cultivare" zunachst im landwirtschaftlichen Sinn „Pflege, Anbau, Bearbeitung, Agrikultur".3 Die heutige Bedeutung des Wortes wurde auf Grund einer sinnbildlichen Ubertragung gebildet: Die dem Menschen zugrunde liegende Anlage soil bearbeitet d.h. verbessert, mit anderen Worten, kultiviert werden. So gesehen weist „cultura" eine enge Verwandtschaft zum. klassischen Konzept der Erziehung (paideia) auf. Es ist daher nicht verwiinderlich, dass Cicero die Philosophie als „cultura animi"^ bezeichnete. Die Auffassung der Kultur als Kultivierung des Geistes oder der Seele finden wir am Beginn der philosophischen Moderne wieder, als JeanJacques Rousseau seinen Roman „Emile oder iiber die Erziehung" (1762) mit dem bemerkenswerten Satz eroffnete: „Pflanzen verbessert man durch Kultivierung und Menschen durch Erziehung." Im Altgriechischen gibt es kein exaktes Aquivalent zum heutigen Kulturbegriff. Das Wort „Politea" meint durchaus nicht blofi den Staat als politische Institution, sondem hat eine breitere Bedeutung: Politea umfasst Religion, Sitten und Gebrauche, Technologie, Wirtschaft, eigentlich all das, was man allgemein unter Zivilisation versteht. Die Ubersetzung von „Politea" in „Zivilisation" mag nicht ganz korrekt sein, derm urspriinglich bedeutete das Wort „civilitas" gutes Benehmen, Hoflichkeit. Diese Bedeutung steckt heute noch in den modemen Neologismen, wie z.B. Gesprachskultur, Konfliktkultur oder Politkultur. Im antiken Denken vy^urde der Kulturbegriff konkret gebraucht, das heifit man sprach immer von der Kultur eines bestimmten Volkes. Erst seit dem 17. Jahrhundert wird der Kulturbegriff zimehmend als abstraktes Substantiv verwendet - zusatzlich zu „Kultur der.,/' spricht man auch von „rfer Kultur" als AUgemeinbegriff. Diese konzeptuelle Verallgemeinerung ist ein Nebenprodukt des neuzeitlichen Rechtsdiskurses: Kultur reprasentiert jenes Stadium, das dem Naturzustand folgt - so
3 Dazu siehe Perpeet 1997, Kap. 1. 4 Siehe Cicero 1951, Buch 2, § 13.
24
Zur Vieldeutigkeit des Kulturbegriffs
Thomas Hobbes in seinem ^Leviathan" (1651). Im Naturzustand leben die Menschen ausschliefilich nach ihren Naturtrieben. Sie trachten vor allem danach ihre Existenz zu sichem und bekampfen daher jeden Konkurrenten. In diesem Zustand herrscht sozusagen ein Krieg, in dem jedeR gegen jedeN kampft. Mit seinem Entwurf kritisierte Hobbes die politische Theorie von Aristoteles, die davon ausging, dass der Staat und im weiteren Sinne die Kultur aus der menschlichen Natur entspringen (der Mensch als „zoon politikon" und „on to logon echein"). Hobbes hingegen ging von einer anderen anthropologischen Auffassung aus. Hatte der Mensch von Nahir aus ein Minimum an Moralitat, dann wtirde er nie so grausame Kriege fiihren und nie eine iibergeordnete regulative Autoritat wie den Staat brauchen. Hobbes war also iiberzeugt, dass die Menschen eher von ihrem Selbstinteresse gelenkt werden, obgleich sie auch Vemunft besitzen. Ihre Vemunft ist allerdings keine Anlage zur sittlichen Einsicht (phronesis) wie Aristoteles meinte, sondem lediglich eine instrumentelle Vemunft. Diese wird eingesetzt, um dem Individuum maximale Vorteile zu erbringen, denn die Menschen sind eigentlich amoralische Egoisten. Der Staat, der den Naturzustand beendet, ist eine Erfindung aus einer Not heraus. Er ist das Ergebnis einer Ubereinkunft, damit jeder Einzelne maximale Sicherheit vor dem anderen hat. AUes Weitere, Moral, Gesetze, Gemeinsinn - d.h. auch die Kultur - haben sich nach dem staatbegriindenden Gesellschaftsvertrag formiert, um die Stabilitat der sozialen Ordnung zu erhohen. Hobbes' Deutung des Staates und im weiteren Sinne der Kultur ist also zweifelsohne eine fimktionalistische. Mit Bezug auf Hobbes bezeichnet Samuel von Pufendorf in „Eris scandica" (1686) die Kultur folglich als jenen wohlgeordneten Zustand, in dem die Menschen sich solidarisch verhalten und „durch Fleifi und Nachdenken ihr Leben gestalten''.^
5 Zu Samuel von Pufendorf siehe BoUenbeck 1994,55-61.
Erste Zwischenbilanz
1.3
25
Erste Zwischenbilanz
Durch den Rekurs auf die Begriffsgeschichte lassen sich zwei unterschiedliche Bedeutungen herausarbeiten. Kulturbegriff-1 = Im weitesten Sinn bedeutet Kultur alles, was von Menschen geschaffen ist, mit anderen Worten alle symbolischen, kognitiven, technischen und institutionellen Artefakte sowie samtliche Strukturen und soziale Praktiken, die das Gemeinwesen, die Politea mitkonstituieren. Kulturbegriff-2 = Im engeren Sinn bedeutet Kultur die Kultivierung der Personlichkeit, also Bildung und Paideia im humanistischen Sinn. Der Kulturbegriff-1 hat einen Anschein von Positivitat und Deskriptivitat, derm er benennt in erster Linie Gegenstande und Praktiken. Der Schein ist jedoch triigerisch, weil der Kulturbegriff-1 traditionell in der dualen Typologie Zivilisation versus Barbarei, kultureller versus akultureller Zustand verhaftet war. Diese semantische Last wird in den gegenwartigen Kulturwissenschaften kritisch reflektiert. Der Kulturbegriff-2 hingegen hat eine explizit normative Dimension. Er privilegiert zumindest in latenter Form die Schriftkulturen gegeniiber den oralen Kulturen, das Expertenwissen und die Wissenschaftskultur gegeniiber dem AUtagswissen und der so genannten naiven oder „naturlichen" Einstellung, wie Edmund Husserl sie nannte. Durch den Kulturbegriff-2 wird eine spezifische Auslegung der Kultur forciert, die die Volks-, Laien- oder Popularkultur in der Kegel entwertet. Beide hiterpretationen des Kulturbegriffs haben jedenfalls einige wichtige politische Konsequenzen und werden deshalb in den folgenden Abschnitten genauer diskutiert.
26
1.4
Zur Vieldeutigkeit des Kulturbegriffs
Kultur versus Zivilisation
Die Verklarung der abendlandisch-christlichen^ Kultur offnete Tur und Tor fur die brutale Kolonialisierung der anderen Kontinente. Mord, Diebstahl, Enteignung und hemmungslose Versklavung geschahen im Dienste der Zivilisierung und Christianisierung der Welt. Im Laufe der Kritik an der Fortschrittsglaubigkeit des neuzeitlichen Rationalismus formte sich in der ersten Halfte des 18. Jahrhunderts eine Bewegung, die den neuzeitlichen Kulturbegriff sowie die starke Abgrenzung des Eigenen gegen das Fremde ablehnte. Rousseaus Konzept des „edlen Wilden" wandte sich dezidiert gegen das Ideal eines vemunftgeleiteten Menschen, der von da an als „Mensch ohne Herz" galt.^ Immanuel Kant, der Rousseau den „Newton der sittlichen Welt" nannte, sprach den Widerspruch zwischen dem Ideal einer „kultivierten Seele" und der Zivilisation als blofie Aufierlichkeit und „mechanische Bildung" aus: „Wir sind im hohen Grade durch Kimst und Wissenschaft cultiviert. Wir sind civilisiert bis zixm Uberlastigen, zu allerlei gesellschaftHcher Artigkeit iind Anstandigkeit. Aber ims schon fiir moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralitat gehort noch zur Cultur, der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenahnliche in der Ehrliebe und der aufieren Anstandigkeit hinauslauft, macht die blofie Civilisation aus/'^
Kant verstand unter Kultur primar eine „cultura animi" im Sinn einer sittlichen Bildung - eine Auffassung, die wir auch bei Friedrich Schiller („Briefe iiber die asthetische Erziehung des Menschen", 1795) wieder finden. Kultivierung bedeutete noch nicht sittliche Vemiinftigkeit (Moralitat), sondem vorerst nur die Formung der Urteilskraft. Als Indiz fiir die
6 Natiirlich gibt es nicht die „abendlandische Kultur'^ Diese Begriffskonstruktion suggeriert eine Homogenitat, die real nie existierte. Die Rede von der „abendlandischen'' oder wie heute als altemativ gehandeltes Konzept der „europaischen'' Kultur ist in der Kegel politisch-manipulativ. 7 Siehe Fetscher, Iring: „Kixlturbegriff und Fortschrittskritik bei Jean-Jacques Rousseau'', in Brackert/Wefelmeyer 1984,46-68. 8 Kant 1923 (1784), 26.
Kultur versus Zivilisation
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Kultiviening der Urteilskraft gait der „gute Geschmack". Schiller sah daher die asthetische Erziehung als Propadeutikum zur Schaffung eines aufgeklarten und freien Menschen. Diese Auslegung der Kultur als „Geistes- und Herzens-Nahrung" pragte am Beginn des 19. Jahrhunderts den Kulturbegriff des Neohumanismus. Der somit neu geschaffene Kulturbegriff stellte zugleich ein politisches Projekt dar, das das Bildungsbiirgertum zum Kulturtrager der neuen Gesellschaftsordnung hochstilisierte.9 Kultur wurde primar mit dem Konzept der Hochkultur identifiziert, d.h. mit bestimmten klassenspezifischen kulturellen Praktiken. Diese unter neuer Kodierung fortwahrende Selbsterhebung des eigenen, von da an biirgerlichen Kulturverstandnisses kommentiert Friedrich Nietzsche mit grofiem Argwohn: Den „Bildungsphilister" beschrieb er als einen selbstzufriedenen Gelehrten, dessen Gebildetheit eigentlich in ein Eingebildetsein der iibelsten Art ausartete. Diese „Kultur der Kultivierten" bewirke wegen ihrer Selbstgefalligkeit Stagnation, Mittelmafiigkeit und vorauseilende Affirmation.lo Nietzsches Kritik der biirgerlichen Konzeption von Kultur, inspirierte nicht nur viele Kritikerlnnen der tradierten, so genannten „Hochkultur" - man denke beispielsweise an die Dada-Bewegung, deren nihilistische Gestik unverkennbar nietzscheanisch war -, sondem gab dem Kulturbegriff als solchem eine negative Konnotation, denn Kultur bedeutete fur Nietzsche die „erzwungene Thierzahmung des Menschen"i^ Die Interpretation der Kultur als Domestizierung und Disziplinierung des Begehrens wurde spater von vielen Denkerlrmen iibernommen, die im Gravitationsfeld des Nietzscheanischen Philosophie stehen, alien voran von den franzosischen Poststrukturalistlnnen (Michel Foucault, Gilles Deleuze u.a.). Sie betrachten Kultur explizit oder tendenzios als Sozialtechnologie.
9 BoUenbeck 1994,23ff., 160ff. 10 Siehe Nietzsche, Fr.iedrich: „Nachgelassene Fragmente'' (1888), in ders. 1988, Bd. 13, 485f. " Ebd.486.
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1.5
Zur Vieldeutigkeit des Kulturbegriffs
Der Kulturbegriff in den Kultur- und Sozialwissenschaften
Die Kulturwissenschaften als interpretative Wissenschaften wurden an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert geboren. Das neue geschichtliche Denken, das in den Werken von Giovanni Battista Vico („Grundziige einer neuen Wissenschaft liber die gemeinschaftliche Natur der Volker", 1725) und Johann Gottfried Herder („Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit", 1774) manifest wurde, fasste die Kultur als einen historischen, einmaligen und irreversiblen Prozess auf.^^ „Kultur" im Singular ist allerdings ein Abstraktum; der eigentliche Gegenstand aller Kultur- und Sozialwissenschaften sind die „Kulturen" - im Plural wohlgemerkt. Erst die Sichtbarmachung der Differenzen und die anschliefiende Komparatistik geben dem Kulturbegriff einen prazisen Sinn; erst dann kann Kultur zum Gegenstand eines wissenschaftlichen Diskurses werden. Im 19. Jahrhundert wurde unter dem Einfluss der hegelianischen Philosophie „Kultur'' als die Summe aller „Objektivationen des Geistes" verstanden. Im Rahmen der spekulativen Widerspiegelungstheorie Hegels wurden die Artefakte und Mentefakte einer kulturellen Gemeinschaft als Indizien fiir den jeweiligen Stand seiner geistigen Entwicklung interpretiert. Wahrend der nachhegelianischen Ara formierte sich jedoch jener Kulturbegriff, der heute noch breite Akzeptanz hat. Zu diesem Zeitpunkt, Mitte des 19. Jahrhunderts, wurde der Blick auf die Kultur durch die entstehenden Gesellschaftswissenschaften erweitert. Sozialwissenschafterlnnen betrachteten die Kultur nicht so sehr als Produkt des Geistes, sondern vielmehr als Produkt des Gemeinwesens. Die zunehmende Sensibilisierung fiir die Bedeutung des KoUektivs erweiterte den Kulturbegriff, der ab nun neben den menschlichen Werken (ergon) auch die sozialen Handlungen (energeia) umfasste.
12 Diese Sichtweise trug zur Entstehung der Kulturgeschichte als Subdisziplin bei - siehe z.B. Johann C. Adelung: „Versuch einer Geschichte der Kultur des menschlichen Geschlechtes'', 1782.
Die Aprioritat der Kultur
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Die u m die Jahrhimdertwende entstandene Kultursoziologie untersuchte den Entwicklungsprozess von Kulturen. Georg Simmel und Max Weber zeigten, wie die Kultur das Zusammenleben strukturiert und dem Gemeinwesen einen hoheren, iiber die pragmatische Zweckmafiigkeit reichenden Sinn gibt. Die Kultur als System von Normen, Institutionen und Praktiken erzeugt, abgesehen von allgemeinen Verhaltens- und Denkmustem, stets konkrete und relativ stabile Wirklichkeitskonstruktionen sowie Distinktionskriterien zwischen dem Legitimen und dem lUegitimen, dem Eigenen und dem Fremden, dem Oben und dem Unten. Diese Distinktionen, die unter anderem auch okonomische Wurzeln haben (Karl Marx), sind identitatsstiftend: Neben der Trennung zwischen Wir und Ihr wird die personelle Unterscheidimg zwischen Ich und Du geschaffen. Menschliches Leben konstituiert sich also aus sozialen und kulturellen Zusammenhangen, d.h. aus Zusammenhalt und Unterscheidung. Mikrostrukturen, die das individuelle Leben pragen, sind hier genauso gemeint wie Makrostrukturen (okonomische Institutionen, kommunikative Netzwerke, Organisationsformen, Glaubenssysteme u.a.). Wenn wir Kultur folglich als Form der Konstitution einer Gemeinschaft durch Reprasentation verstehen, dann haben kulturelle Produkte den Charakter eines Symbols. Mit dieser Einsicht, die aus den Sozialwissenschaften gewonnen wurde, begegnen wir wieder der aristotelischen Anthropologie: Der Mensch als politisches d.h. soziales Wesen („zoon politikon") ist ein Wesen, das in und mit der Kultur lebt. Das Studium der Kulturen ist im Laufe des 20. Jahrhunderts von einer geisteswissenschaftlichen bzw. anthropologischen auch zu einer sozialwissenschaftlichen Angelegenheit transformiert. 1.6
Die Aprioritat der Kultur
Ein wichtiger Beitrag der Philosophie zur Klanmg der epistemischen Bedingungen der Kulturwissenschaften war der Hinweis auf etwas grundlegend Einfaches: Die Erfassung der Gegenstande kulturwissenschaftlicher Forschung voUzieht sich in erster Linie iiber die begriffliche Sprache. In weiterer Folge hangen die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung von der Form der Materialisierung der Gedanken, d.h. von den symbolischen Systemen und den Verbreitungstechnologien (vom Buchdruck bis zum Internet) ab. Das ist die Kernthese der so genannten
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Zur Vieldeutigkeit des Kulturbegriffs
linguistischen Wende (linguistic turn), die zwischen 1880 und 1920 stattfand. Die Zentralitat der Sprache besagt, dass die „Welt" nur das sein kann, was sich durch unsere Sprache hindurch darbietet. „Dass die Welt meine Welt ist, das zeigt sich darin, dass die Grenzen der Sprache (der Sprache, die allein ich verstehe), die Grenzen meiner Welt bedeuten" - schrieb der junge Ludwig Wittgenstein.^^ Wenn sich die Sprache wandelt, dann wandelt sich folglich auch unser Bild von der Welt, derm die Sprache ist das Medium, iiber welches sich Gedanken ausdriicken lassen. Das bedeutet keinesfalls, dass es ein Jenseits der Sprache nicht gibt Oder nicht gedacht werden kann. Die Sprache markiert blofi die Grenzen des Sagbaren - nicht aber die Grenzen des Denkens. Die begriffliche Sprache ist fiir die Kulturwissenschaften konstitutiv, nicht nur weil alle Forscherlnnen durch sie Gedanken bilden und artikulieren, sondern auch weil sie von der Schriftlichkeit^^ selbst tief gepragt sind. Die Konsequenzen der linguistischen Wende findet man in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers so prazis wie, meines Erachtens, nirgends anders formuliert. In seinem fundamentalen dreibandigen Werk „Philosophie der symbolischen Formen" (1923-26) wurden die epistemischen Grenzen der Kulturwissenschaften erfasst und zwar im doppelten Sinn des Wortes. Erstens untersuchen Kulturwissenschaften symbolische Formen, die mehr sind als blofi linguistische Texte. (Kulturforscherlnnen hatten namlich bis zum Beginn des 20. Jahrhimderts fast ausschliei?lich nur schriftliche Uberlieferungen als zuverlassige Quelle anerkannt. Aby Warburg, der in engem Kontakt zu Cassirer stand, war einer der ersten, der auf die Bedeutsamkeit bildlicher Uberlieferungen hinwies.) Zweitens reprasentieren symbolische Systeme das Medium der Erkenntnis, denn diese Systeme strukturieren Wahrnehmungen, bilden Reprasentationen
^3 Wittgenstein 1984 (1921), § 5.62. Der spatere Wittgenstein ging iiber die lingmstische Wende insofem hinaus, als er die Wechselbeziehiing zwischen Sprachspiel und Praktiken betonte. ^4 „Schriftlichkeit'' wird hier itn Sinne von Ongs Unterscheidung zwischen LiteraHtat imd Oralitat gebraucht - siehe Ong 1987 (1982).
Die Aprioritat der Kultiir
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und beeinflussen die Denkgerichtetheit im Erkenntnisprozess. Was Cassirer herbeifuhrte, war eigentlich eine Kulturalisierung der Kant'schen Erkenntnistheorie. Die Transzendentalitat der Bedingimgen der Moglichkeit von Erfahrung und Erkenntnis wird bei Cassirer relativiert, indem er die konstitutive Bedeutiing der symbolischen Formen in den Vordergriind setzt. Die symbolischen Formen sind, so Cassirers These, das Formprinzip der Kultur.^s Sie stellen giiltige, intersubjektive Formen des Verstehens und der Kommunikation dar. Die symbolischen Formen gestalten nicht nur die Weltsicht, sondem verhalten sich zugleich produktiv, indem sie Weltbilder ermoglichen. (Diese Einsicht inspirierte spater Nelson Goodman zu seinem bekannten Buch „Ways of Worldmaking", 1978.) Cassirers Kulturphilosophie leistete einen immensen Beitrag fiir die weitere Entfaltung der Kulturwissenschaften. Die Bezeichnung Kulturwissenschaften avancierte allmahlich zum Sammelbegriff fiir alle Disziplinen, die friiher Geisteswissenschaften genannt wurden. Nunmehr sollte die Kultur und nicht der Geist oder das Bewusstsein die generative Instanz sein, die alle menschlichen Hervorbringungen (Diskurse, Artefakte, Praktiken) ausbildet. Cassirer selbst hat diesen Gedanken kurz vor seinem Tod nochmals einpragsam ausgesprochen: „Der Mensch lebt in einem sjnnbolischen und nicht mehr in einem blofi natiirHchen Universum. (...) Der Mensch hat nicht mehr wie das Tier einen unmittelbaren Bezug zur Wirklichkeit; er kann ihr nicht ins Angesicht blicken. (...) Statt mit den Dingen selbst umzugehen, imterhalt sich der Mensch in gewissem Sinne dauemd mit sich selbst. Er lebt so sehr in sprachlichen Formen, in Kunstwerken, in mythischen Symbolen oder religiosen Riten, dass er nichts erfahren oder erbHcken kann, anSer durch Zwischenschaltung dieser kiinstHchen Medien. In der theoretischen wie in der praktischen Sphare ist seine Situation die gleiche. Sogar im. Praktischen lebt der Mensch nicht in einer Welt barter Tatsachen oder nach seinen immittelbaren Bediirfnissen und Wiin-
15 Cassirer 1977 (1923-26), Bd. 1, 11; siehe auch Cassirer 1994 (1906-20), Bd. 2, 186, 661f., 7071
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Ztir Vieldeutigkeit des Kulturbegriffs
schen. Er lebt vielmehr inmitten eingebildeter Affekte, in Hoffnimgen imd Angsten, in Illusionen und Desillusionen, in seinen Phantasien und Traumen/'^^
Seit der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts reprasentiert der Kulturbegriff einen Oberbegriff, eine allumfassende und unhintergehbare Pramisse, die die immanenten Moglichkeiten des iiberhaupt Denkbaren und Machbaren markiert. Die Kultur tritt also gewissermafien an die Stelle von Kants „transzendentalen Bedingungen der Moglichkeit der Erkenntnis". Sinnstiftung und Sinngenerierung sind nicht blofi subjektiv kognitive Akte. Sinn aufiert sich nicht nur im Akt des Verstehens und der Benutzung von Zeichen. Sinn ist ohne jegliche Bindung an eine Kultur nicht realisierbar. Weil der Mensch in einer Kultur, d.h. in einer sozialen, kommunikativen und praktischen Gemeinschaft aufwachst was auch George Herbert Mead unterstreicht^^ -, hat Kultur eine existenzbestimmende Dimension. Wir sind „zum Sinn verurteilfi^, well wir kulturell geformt sind. Das „Denken in Relationen", das Cassirer systematisch einfiihrte, stellt einen Wendepunkt dar, der eine Erweiterung der linguistischen Wende bedeutet. Einige Dekaden spater nannte man diese Transformation „cultural turn''. 1.7
Konzeptueller und methodologischer Scheideweg
Kulturwissenschaften gehen meist aus impliziten Vorannahmen betreffend die Natur des Menschen (Anthropologie), die Konstitution von
16 Cassirer 1990b (1944), 39. 17 Die Zentralitat der Kultur steht auch im Mittelpunkt von Meads Denken: „Der Mensch, der eine Identitat besitzt, ist immer Mitglied einer grofieren Gemeinschaft, einer grofieren geseUschaftHchen Gruppe als jener, in der er sich unmittelbar und direkt befindet oder zu der er tinmittelbar imd direkt gehort. In anderen Worten, das aUgemeine geseUschaftHche Verhaltensmuster, das sich in den jeweiligen organisierten Haltungen der betroffenen Menschen spiegelt, hat fiir diese Menschen immer einen weiteren Bezugsrahmen als sein direktes Verhalten zu ihnen, narrdich einen Bezug iiber sich selbst hinaus auf eine weitgespannte geseUschaftliche Umwelt oder einen Kontext geseUschaftHcher Beziehungen." (Mead 1973 (1934), 319f.) 18 Merleau-Ponty 1966 (1945), 16.
Konzeptueller iind methodologischer Scheideweg
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Sinn (Bedeutungstheorie) sowie die Funktionen imd Relationen im sozialen Raum (Sozialtheorie) aus. Jede/r Wissenschaftler/in verfiigt iiber mehrere Bezugspunkte und spinnt Faden in einem komplexen Netz von Wechselbeziigen. Es ist eine allzu starke Simplifizierimg, wenn man diese Mannigfaltigkeit iibersieht und nur in groben Schemata (Schulen, Richtungen) denkt. Wir konnen trotzdem aus der historischen Distanz heraus gewisse Tendenzen und idealtypische Formationen konstruieren. In diesem Sinne meine ich, dass sich zwei grundlegend unterschiedliche Wege in der Konzeption der Untersuchungsgegenstande der Kulturwissenschaften erkennen lassen: 1. In den Methoden der Sprach- und Literaturwissenschaften geschulte Wissenschafterlnnen sehen in erster Linie Kultur als einen Komplex von Bedeutungen (Referenzen, Interpretationen, Wertungen), die in Texten und anderen symbolisch beladenen Gegenstanden inkorporiert sind. Kultur ergibt sich aus der Permanenz einer Vielzahl von Diskursen und Narrationen, die miteinander verwoben sind, einander wechselseitig durchkreuzen und so einen komplexen Raum von Erfahrungen, Wahrheiten und Wissenshierarchien generieren. Diesen Ansatz nenne ich einfachheitshalber das Text- oder TextualitatParadigma. 2. Der eher sozialwissenschaftlich gepragte Blick eines zweiten Typus von Kulturforscherlnnen begreift die Kultur zwar in einer ahnlichen Weise, namlich als diskursiven Komplex, dessen Basis aber aus einer Unzahl von organisierten sozialen Praktiken besteht. In diesem Fall werden primar Aspekte des Tuns (Handlungsformen, Rituale, Konventionen) thematisiert, die fiir die Lebenspraxis und fiir samtliche kulturelle Phanomene konstitutiv sind. Wesentlich dabei ist die Einsicht iiber den koUektiven Charakter sowie iiber den leiblichen und technologischen Aspekt der zugrunde liegenden Praktiken. Diesen Zugang nenne ich das Praxis-Paradigma. Innerhalb des Text-Paradigmas (Kultur als Text oder textuelles Gewebe) steht die Analyse von symbolischen Formen im Vordergrund, alien voran von Narrationen und Diskursen. Diskurs bedeutet in diesem Zusammenhang nicht die argumentative Begriindung bestimmter Geltungsanspriiche - das v^are die Habermas'sche Version des Diskursbegriffs -, sondem ein System von Aussagen, die ein legitimiertes
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Wissen reprasentieren und somit Handlungen anleitet.^^ Diskurse regeln folglich die Produktion und Erklaning (die Lesart) von Texten und Praktiken. Das Praxis-Paradigma (Kultur als Praxis oder Lebensform) operiert oft mit einem Praxisbegriff, der breiter als der Handlungsbegriff ist: Praxis umfasst neben Handlungen auch Kommunikation und Sinnproduktion. Am Beginn des modemen Praxis-Paradigmas steht der junge Karl Marx, den in seinen „Thesen iiber Feuerbach" (1845) schrieb: „Der Hauptmangel des bisherigen Materialismiis (dem Feuerbach'schen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sirtnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauimg gefasst wird; rdcht aber als sinnlich menschliche Tatigkeit, Praxis; nicht subjektiv. (...) Alles gesellschaftliche Leben ist praktisch/'^°
Gleichberechtigt neben Marx ist der amerikanische Pragmatismus zu erwahnen, der eine aktivistische Auffassung vertrat, die das Primat des Handelns gegeniiber dem Denken betonte. Zwischen beiden Paradigmen gibt es nicht nur konzeptuelle Auffassungsunterschiede; auch die epistemologischen Grundlagen und methodologischen Ansatze sind verschieden. Unter epistemologischen Grundlagen sind anthropologische Vorannahmen, Bedeutungstheorien und implizite Modelle sozialer Ordnung gemeint. Die methodologischen Unterschiede beziehen sich auf die Weise, wie Analysen und Interpretationen von Zusammenhangen gemacht werden. Diese Thematik wird spater genauer behandelt - siehe Kap. 3.
19 Siehe beispielsweise Foucault 1981 (1969), 171 und Foucault 1977a (1971), 34. 20 Marx Karl: „Thesen liber Feuerbach'' (1845), in Marx 1969ff., 3. Bd., 5 und 7; Hervorhebtingen T.Z.
2 Aspekte der Kultur 2.1
Kultur als Forschungsfeld
Jede diskursive Situation, in welcher der Kulturbegriff vorkommt, gibt ihm gewisse Nuancierungen, betont oder unterdriickt bestimmte Aspekte und Charakteristika. Wir konnen, denke ich, nicht aus einer Vogelperspektive, aus einer Art „God's-eye-view", die Totalitat der Kultur iiberblicken und erfassen. Ich werde deshalb einzelne Aspekte davon herausgreifen und thematisieren. Es soil schliefilich ein Mosaik entstehen, das in seiner Gesamtheit mehr vermittelt als die Summe seiner einzelnen Telle. Meine Zugangsweise ist nicht analytisch in dem Sinne, dass ich ein komplexes Ganzes in seine Elemente zerlege; sie ist auch nicht transzendental, denn es wird hier nicht nach einer hoheren Ordnung bzw. einer Struktur gesucht, die Kultur moglich macht. In den folgenden Abschnitten werden verschiedene Momente der Kultur beleuchtet. Diese Momente sind nicht immer in gleichem Mafie prasent und wirksam. Sie treten wie bei einem Vexierbild auf, wenn sie durch den diskursiven oder praktischen Bezugsrahmen aktiviert werden. 2.2
Der AUtag
Lange Zeit haben die Sozial- und Kulturwissenschaften den AUtag eher als ein Ensemble von Vorurteilen und unhinterfragten Glaubensinhalten, die man im Sinne einer Kultur der Aufklarung hinter uns lassen sollte. Selbst Theoretikerlnnen der jiingeren Vergangenheit, wie der vor einigen Jahren verstorbene Soziologe Niklas Luhmann, betrachten die AUtagskultur als ein Epiphanomen der sozialen Systeme, dessen Bedeutung als vemachlassigbar eingeschatzt wird. Die Entdeckung des Alltags als Forschungsgegenstand in den spaten 50er Jahren war von Anfang an in zwei Richtungen gespalten. Ein Teil der Forscherlnnen war von der sozialphanomenologischen Theorie der Lebenswelt und des Symbolischen Interaktionismus inspiriert imd konzentrierte sich auf die Untersuchung des routinierten Alltagslebens der „kompakten Majoritat". Andere wiederum begriffen den Alltag nicht so
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Aspekte der Kultiir
sehr als einen Ort, wo Verhaltensweisen unreflektiert reproduziert werden, sondem eher als ein politisch subversives Biotop, als Weg zur kulturellen Alteritat. Die Sozialforschung war in diesem Fall von neomarxistischen Theorien sowie von gesellschaftskritischen und sozialutopischen Impulsen getragen. Aus diesem Umfeld entstanden Projekte zur Transformation des Alltags, Modelle einer altemativen Okonomie, Versuche zur Griindung neuer Arbeitsformen und die Frauenbewegung erhielt neue Impulse. Das AUtagliche, „das, was ohne Datum isf'v ist der Ort, in welchem die Aneignung eines basalen Raum- und Zeitgefiihls, identitatsstiftende Korperfigurationen und Wiinsche stattfinden. Der AUtag als soziales Feld imifasst eine Unzahl von Funktionen, die der Kultur (dem Kulturbegriff-1) zugeschrieben werden: Er ist integrativ, fiihrt Routinen ein, ist zeichenhaft, reglementierend bzw. hierarchisierend, bietet Kompensationen und Zerstreuung an.^ Zum AUtag gehoren viele Aspekte, die die kognitive und emotionelle Disposition sowie die Identitat eines Menschen tief pragen: Schule, Familiestrukturen, Partnerschaft, Sexualitat, Besitzverhaltnisse, Erwerbsarbeit und Einkommen, Wohnformen, Nachbarschaftsbeziehungen, Konsumgewohnheiten sowie samtliche unscheinbare Selbstverstandlichkeiten, die von den Alltagsgesprachen bis zur Korperpflege reichen. Die Bedeutung des Alltags ist also eminent: „Alle Grundfertigkeiten, Grundaffekte und -verhaltensweisen, mit denen ich iiber meine Umgebimg hinausgehe (...), habe ich mir im Alltag angeeignet", schreibt Agnes Heller.^ Im Alltag formen und reproduzieren sich zugleich die „verallgemeinerten gesellschaftlichen Haltungen", wie Mead sie nannte,^ die man als Verhaltensmuster und Identitatsangebote der Gesellschaft interpretieren kann.
1 Lefebvre 1972 (1968), 40. 2 Siehe audi Sdiwendter 1996. 3 Agnes HeUer zitiert in Schwendter 1996,82. 4 Mead 1973 (1934), 307; siehe auch Douglas 1991 (1986), 93ff.
Der AUtag
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Der Alltag ist den Menschen vertraut, derm er ist ihre Lebenswelt; er hat aber auch diinkle und unangenehme Seiten. Roland Barthes paraphrasierend ist der Alltag faschistisch, well er Zwang impliziert. „Faschistisch" ist freilich eine liberspitzte Charakterisierimg, aber nicht ganz falsch. Der Zwang oder die „sanfte" Gewalt, die der Alltag impliziert, besteht darin, dass Identitaten nicht das Ergebnis einer Wahl, eines freiwilligen Entschlusses der Individuen sind. Die Beziehung zwischen dem Alltag als Rahmen und einem in ihm lebenden Individuum sollte dennoch nicht deterministisch gedacht werden. Die konkreten individuellen Identitaten miissen als vielschichtige Prozesse sowie als Quellenfur das Handeln, nicht als blofi mentale Gebilde oder fertige Strukturen gedacht werden. Sie sind prozessual, weil sich die Bezugs- und Abhangigkeitsfelder jedes Einzelnen stets in einem dynamischen Wandel befinden.s Wir haben dennoch keine Wahl: Identitaten sind unumganglich, denn das Selbst konstituiert sich durch soziale Partizipation und kulturelle Vermittlung, die vomehmlich im Alltag stattfindet. Kulturelle Zugehorigkeit bzw. kulturelle Identitat meint also die Ubemahme und Inkorporierung bestimmter charakteristischer Deutungs- und Handlungsschemata und ist folglich a priori mit der sozialen Integration und Handlungshorizont einer Person verkniipft. Eine fundamental Infragestellung dieser Schemata leitet in der Regel eine tiefe Identitatskrise ein, die eigentlich eine Handlungskrise ist. Die daraus folgende interpretative Unbestimmtheit der erlebten Wirklichkeit uind die radikale Verstorung der praktischen Orientierung wirken befremdlich und konnen in solch einem Mafie zunehmen, dass das Individ u u m sich auf sein AUtagswissen nicht mehr verlassen kann. Solchen psychologischen Phanomenen begegnen wir im Anschluss an tiefe gesellschaftliche und transkulturelle Veranderungen, wie beispielsweise bei Migrationsbewegungen, Krieg und Vertreibung, Gettoisierung u.a.
5 Siehe EHas 1991; White 1992,6ff.; Wenger 1998,154 und 163.
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Aspekte der Kultur
Identitaten sind instabil und hybrid, auch wenn das gesellschaftliche Umfeld stabil ist. „Faschistisch" sind sie, weil sie im Grunde das Ergebnis einer mehr oder weniger restriktiven Politik der Benennung, der Zuund Festschreibung von Eigenschaften, der Anerkennung und Zuriickweisung von Anspriichen sind. Die erzwungene Ubernahme einer Identitat - man denke an die vielen Menschen in Deutschland, die nach den Niimberger Rassengesetzen (1935) plotzlich zu ,Juden" wurden, ohne sich davor selbst diese „Hauptidentitat" zugeschrieben zu haben - ist eine paradigmatische Form von symbolischer Gewalt, die genauso viel Schmerz und tiefe Unsicherheit verursacht wie der unfreiwillige Abschied von einer Lebensweise oder die Ausgrenzung aus einer Gesellschaft. Es ist also wesentlich, wenn wir hier festhalten, „that our identity is partly shaped by recognition or its absence, often by the m/srecognition of others" - so Charles Taylors Der Akt der Anerkennung, des Tolerierens oder der Ablehnung ist ein Akt, der Machtverhaltnisse offen legt. Die realen Moglichkeiten einer Gruppe Identitatsanspriiche zu realisieren und bestimmte Lebensweisen zu verwirklichen hangen schliefilich von den okonomischen, sozialen und symbolischen Mitteln ab, iiber die die Gruppe verfiigt und die sie einsetzen kann7 Das wird besonders dort bewusst, wo Konflikte aufflammen - siehe Unterkap. 2.9. 2.3
Die Diskretheit der Kultur
Der AUtag ist der Ort, der uns am nachsten liegt. Er pragt uns leiblich, nahrt uns kognitiv und emotionell, verleiht uns eine geschlechtliche
' Taylor, Charles: „The PoHtics of Recognition'', in ders.Taylor 1995, 225; siehe auch Taylor 1994 (1989), 68ff. sowie Habermas, Jiirgen: „Anerkenntingskainpfe im demokratischen Rechtsstaat'', in Taylor/Gutmann 1993,147ff. ^ Die Insistenz auf die Bedeutsamkeit kultureller Rechte impHziert keine vorbehaltlose Legitimation von Handliangen, die sich auf bestimmte „Traditionen'' oder eine konkrete „Kultur'' berufen. Bei Horrorszenarien wie z.B. Blutrache, Genitalverstiimmelung, Ziichtigung oder Zwangsehe ist die geltende Rechtslage deutHch. Schwieriger hingegen ist die Abwagungsproblematik zwischen kulturellen Handlungsgewohnheiten sowie Empfindungen und anderen Grundrechten - siehe Britz 2000, Kap. C, 109ff.
Die Diskretheit der Kiiltur
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Identitat, gibt uns einen praktischen Sinn von Gut und Schlecht - und zwar lange bevor wir in die staatlich geregelten Erziehiingsinstitutionen eintreten und viele Jahre bevor wir das Vermogen kritisch zu denken entwickeln konnen. Im Zusammenhang mit diesen Uberlegungen, dass bestimmte Aspekte der Kultur uns in einem sehr friihen entwicklungspsychologischen Stadium pragen und spater von der Reflexion nicht erfasst werden konnen, ist Pierre Bourdieus Habitusbegriff zu erwahnen. Der Habitus ist ein „System der organisierten oder mentalen Dispositionen und der unbewussten Denk-, Wahmehmungs- und Handlungsschemata", die durch Routine und Wiederholung verinnerlicht (habitualisiert) werden.^ Die Wirksamkeit des Habitus erfolgt quasi automatisch ohne Einschaltung irgendeiner bewusstseinsfahigen Zwischeninstanz. Die exteme, vorgefundene soziale Ordnung wird iiber die Habitualisierung somatisiert, so dass der Habitusbegriff nicht blo6 „Mentalitaten" bezeichnet. Der Leib driickt soziokulturelle Ordnungen aus (z.B. M a n n / Frau, Chef/Untergebener, Freund/Feind), indem er eine symbolische Korpersprache spricht. Die vom Leib vermittelten Informationen entziehen sich der bewussten SelbstkontroUe des Individuums. Solche Informationen werden von den anderen in der Regel nur unterschwellig wahrgenommen. Der Habitus zeichnet sich durch diskrete PerformativMt aus. Er ist zwar im Individuum psychisch und somatisch vorhanden, aber sein Ursprung ist koUektiv - Bourdieu nennt ihn in seinem strukturalistischen Jargon das „kulturelle Unbewusste". Dieses kulturelle Unbewusste ergibt sich aus dem permanenten Eindringen der sozialen Welt in das Individuum. Mit dem Habitusbegriff will Bourdieu die Reproduktion sozialer Ordnung (Regularitat, Formkontinuitat) erklaren. In diesem Sinne bezeichnet der Habitus das „Prinzip einer strukturierten nicht aber
8 Bourdieu, Pierre: „Strukturalismus tind soziologische Wissenschaftstheorie'" (1968), in Bourdieu 1991, 40. Zum Habitusbegriff siehe auch Bourdieu: ,/Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis'' (1967), in Bourdieu 1991, 125-158; Bourdieu 1979 (1972), 198-202; Bourdieu/Wacquant 1996 (1992), 147-175.
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Aspekte der Kultur
strukturalen Praxis''.^ Die Dichotomie zwischen individuellem Verhalten tind sozialen Makrostrukturen (Herrschaftsverhaltnisse, Klassen u.a.) oder philosophisch ausgedriickt zwischen Innen und Aufien wird durch den Habitusbegriff aufgehoben. „Wenn man vom Habitus redet, dann geht man davon aus, dass das Individuelle und selbst das Personliche, Subjektive, etwas Gesellschaftliches ist, etwas KoUektives/'^o Der AUtag ist der Ort der Entstehung und Formung des Habitus und somit der Reproduktion sozialer Kategorien, wie Geschlecht und Identitat, Hierarchien, Normen und Konventionen. Durch die Selbstverstandlichkeit, die der soziale Verkehr im AUtag besitzt, werden kulturell geformte Tatsachen Teil einer kaum anfechtbaren und hinterfragten Faktizitat. Dadurch, dass die Frasenz und Wirksamkeit der Kultur im Alltaglichen zugleich allgegenwartig und diskret ist, ist es epistemisch kaum moglich von nicht-kulturell bedingtem Verhalten zu sprechen. Lassen wir reflexartige Reaktionen des Nervensystems aufier Acht, dann konnen die Naturwissenschaften offensichtlich relativ wenig iiber die phylogenetischen Aspekte menschlichen Verhaltens aussagen. Natur und Kultur lassen sich auf dieser Ebene nicht voneinander trennen, so dass Naturalisierungsversuche zur Erklarung des Verhaltens aufierst spekulativ und fragwiirdig sind. 2.4
Kultur als geteiltes und als offentliches Gut
Die Habitualisierung bestimmter Verhaltensweisen ist moglich, wenn die entsprechenden Handlimgsablaufe nach wiederholter Anwendung zur Routine werden. Regelgeleitetes Verhalten, das vom Habitus gene-
9 Ebd. 41. In einer spateren Schrift erlauterte Bourdieu nochmals seinen Habitusbegriff: „Ich kann sagen, dass meine ganze Uberlegung von diesem Pimkt ausgegangen ist: Wie konnen Verhaltensweisen geregelt sein, ohne dass ihnen eine Befolgung von Regeki zugrunde liegt?'' (Bourdieu (1992), 85f.) 10 Bourdieu/Wacquant 1996 (1992), 159. Diese Konzeption findet sich bereits im Denker von Martin Heidegger und Maurice Merleau-Ponty, die spater Bourdieu eingehend rezipiert hat.
Kultur als geteiltes und als offentliches Gut
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riert wird, ist geteiltes, d.h. koUektives Verhalten. Ein solches Verhalten - man denke an Begrufiungsgesten, Essmanieren, Dominanzverhalten, mannliche und weibliche Stereotypien - ist nicht „etwas, was nur ein Mensch, nur einmal im Leben [Ixit]"." Es ist ein Verhalten, das eng mit Gepflogenheiten, Konventionen, Gebrauchen und Institutionen zusammenhangt. Im Mittelpunkt jeder Kultur stehen also mehrere Sets von Regeln, die zur Strukturierung des Handelns und im Weiteren des Zusammenlebens beitragen. Solche Regelungen besitzen auf Grund ihrer gesellschaftlichen Faktizitat auch normative Giiltigkeit. Eine „Kulturgrammatik"i2 muss also nicht nur das Verhalten und die Organisation des AUtags in groben Ztigen vorzeichnen, sondem auch die individuellen LebensvoUziige zueinander in Relation setzen konnen. Eine solche Harmonisierung impliziert nicht, dass es innerhalb einer gemeinsamen kulturellen Praxis keine Konflikte entstehen. Gibt es innerhalb einer Gruppe von Menschen kein Bestreben zur Harmonisierung ihrer LebensvoUziige, dann gibt es auch keinen Anlass und keine Berechtigung von einer sozialen Gemeinschaft zu sprechen. Die Harmonisierung der LebensvoUziige besteht im Wesentlichen in der Griindung von sozialen Praktiken und Institutionen. Die zum Teil explizit gemachten Regeln des gesellschaftlichen Verkehrs sind meist Ausdruck einer bereits implizit vorhandenen und offentlichen Praxis. Eine interessante Perspektive im Hinblick auf die Bestimmung der Kultur als offentlichem und geteiltem Gut bietet Ludwig Wittgensteins Argumente gegen die Moglichkeit einer Privatsprache. In den „Philosophischen Untersuchungen" geht er der Frage nach, ob ein Individuum in der Lage ware, eine Sprache zu erfinden, die seine inneren, quasi privaten Erlebnisse in einer neuen Art und Weise beschreibt. Wenn die Worter dieser neuen Sprache nicht blofi kryptische Ubersetzung bereits
" Wittgenstein 1977 (1953), § 199. 12 Die Grammatik-Metapher hebt die Bedeutung, die konstitutive Regeln in einem Praxisfeld haben hervor - siehe Unterkap. 12.1.
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Aspekte der Kiiltur
bekannter Begriffe waren, sondern wirklich neue Konzeptionen enthielten, dann konnte nur der/die Erfinderln selbst die Satze dieser Privatsprache verstehen. Die Moglichkeit einer Kommunikation ware nicht mehr gegeben. Wittgenstein wendet jedoch ein, dass der Anspruch einer Privatsprache, neue Gegenstande bzw. neue Bedeutungen zu benennen, in dieser Weise nicht eingelost werden kann. Eine Sprache ist mehr als die Bedingung, um Gegenstande iiberhaupt denken zu konnen (Kant); eine Sprache geht Hand in Hand r^it Akten des Verstehens und der Kommunikation. Beides setzt ein gemeinsames Verstandnis von Identitat und eine gleiche Anwendung von Zeichen voraus. Das heil?t, hier bekommt der Regelbegriff eine zentrale Roller „Einen Satz verstehen", fiigt Wittgenstein ein, „heil?t, eine Sprache verstehen. Eine Sprache verstehen, heifit, eine Technik beherrschen.''^^ Daraus ergeben sich zwei Argumente: Man kann erstens nicht behaupten, dass eine Person spricht, wenn andere Personen prinzipiell keine Moglichkeit haben zu kontrollieren Oder nachzuvoUziehen, ob das Gesprochene einen Sinn ergibt, d.h. einer Grammatik entspricht, oder ob es ein „Als Ob", ein Mogeln bzw. sinnloses Geplapper ist. Zweitens muss das Sprechen als regelgeleitete Tatigkeit schon an bestehende Regeln oder Techniken ankniipfen. Wenn wir beide Argumente verallgemeinem, dann besagen sie: Eine Sprache ist immer in ein praktisches und kommunikatives Feld, sprich ein PraxiskoUektiv, eingebettet. Daher ist eine Privatsprache, also eine Sprache ohne eine Sprachgemeinschaft, a priori nicht moglich.i^ Diese Uberlegungen konnen ohne weiteres auf den Kulturbegriff iibertragen werden. Clifford Geertz hat es bereits getan: „Kultur ist deshalb offentlich, weil Bedeutung etwas Offentliches ist."i5 Kultur setzt per
13 Wittgenstein 1977 (1953), § 199; siehe auch ebd. § 225 sowie McGuinness 1991. 14 Siehe Wittgenstein 1977 (1953), § 256-269. Diese Einsicht formtdierte schon Wilhekn von Humboldt: „In der Erscheinung entwickelt sich die Sprache niir geseUschaftHch und der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an andere reflektiert."' (Humboldt, Wilhelm von: „Uber die Verschiedenheiten des menschHchen Sprachbaus" (1827/1829), in Humboldt 1963, Bd. Ill, 196.) 15 Geertz 1991,18. Ahnhch auch Schv^emmer 1997,7^ und 94.
Trager imd Urheberschaft
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Definition eine Gemeinschaft voraus. Privatkultur ist eine Unmoglichkeit. Kulturelle Probleme sind in gleicher Weise offentlich, weil sie immer mit einer symbolischen Politik verkniipft sind: eine Politik des Benennens, der Konstruktion von Identitat und Different und eine Strategie der Kommunikation. Aristoteles schlug in der „Nikomachischen Ethik" vor, ethische Fraugen als kulturelle Fragen bzw. als Fragen der politischen Gemeinschaft zu betrachten. Die Betonung der politischen und kulturellen Dimension ethischer Fragen will unterstreichen, dass viele zentrale Probleme unseres Lebens (die Frage nach dem Gliick, Probleme der Identitat, des Begehrens, das Problem der Gerechtigkeit und des Interessenausgleichs u.a.) erst durch das Zusammenleben generiert werden. Diese Einsicht ist wesentlich fiir unseren Umgang mit solchen Fragestellungen - siehe Unterkap. 13.4. Die aristotelische Ethik weist auf die politische Dimension der Kulturverstandnisse und sozialen Praktiken der Menschen hin. „Politisch" hat hier einen allgemeinen Sinn und bedeutet, dass kulturelle Angelegenheiten offentlich sind und das allgemeine Interesse betreffen. Die Praxis der Realpolitik zeigt, wie miihevoU es ist, dieses wohlbegriindete und berechtigterweise vorhandene allgemeine Interesse fiir offentliche Angelegenheiten abzuwehren und einzuschranken. Unangenehme Zustande werden immer wieder als „innere Angelegenheit" definiert; eine Einmischung von Dritten wird folglich verwehrt. Der offentliche Charakter politischer Probleme und die geteilte Betroffenheit werden so systematisch negiert. 2.5
Trager und Urheberschaft
Die These iiber den koUektiven Charakter der Kultur veranderte die tradierte Vorstellung vom Urspnmg und Trager der Kultur. Idealistische und atomistische Subjektkonzeptionen, die in den philosophischen Stromungen des 18. und 19. Jahrhundert allgemein dominierten - Hegel stellt eine Ausnahme dar -, betrachteten das Individuum als den eigentlichen Trager des Wissens und der Werte einer Kultur. Im Geiste dieser Auffassung genossen einzelne distinguierte Personen, typischerweise mannliche Kiinstler, Intellektuelle, Wissenschafter oder wohlhabende Mazene, den Status des geistigen Adels und Kulturstifters. Diese Auf fas-
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Aspekte der Kultiir
sung wurde in den letzten einhundert Jahren kraftig kritisiert und man konnte meinen, sie sei passe. Der „Tod des Subjekts"^^^ eine nietzscheanisch inspirierte Wendung, bedeutet, dass der idealistische Subjektbegriff, der eine selbsterschaffene Entitat und einen unhintergehbaren transzendentalen Ausgangspunkt bezeichnet, eigentlich eine biirgerliche Fiktion und eine philosophische Misskonzeption darstellt. AUe Kritikerlnnen des traditionellen Subjektbegriffs wiesen auf Konstitutionsinstanzen hin, die hinter, vor und auCerhalb des Subjekts existieren, dieses erschaffen, formen und gestalten. Wenn man konsequenterweise mentalistische Begriffe dieser Art (Subjekt, Identitat, Innerlichkeit, geistige Urheberschaft) als Konstrukte vergangener Diskurse und somit als virtuelle Entitaten betrachtet, dann verandert sich die aktuelle Interpretation der Kulturgeschichte und Kulturentwicklung radikal. Anstelle einzelner monadischer Subjekte in der Gestalt von Kiinstlergenies, prometheischen Denkem und kreativen Erfindem tritt ab nun ein Handlungs- und Denkkollektiv als eigentlicher Trager und Urheber der Kultur auf. Die Hervorhebung der Bedeutung des koUektiven Anteils im kiinstlerischen und wissenschaftlichen Schaffensprozess sagt noch nicht, wie dieses KoUektiv zu denken ist. Welche Beschreibungen des koUektiven Wirkens erscheinen angemessen? Diese Frage ist epistemologisch;^^ daher miissen die Antworten aus den zugrunde liegenden Modellen sozialer Ordnung extrahiert werden. Der Marxismus schlug den Klassenbegriff und das Konzept des Klassenkampfes vor, um kulturelle Formationen zu erklaren. Der Strukturalismus und der Poststrukturalismus orteten hingegen als Trager der Kultur eine omniprasente und alles durchdringende „symbolische Ordnung" bzv^. ein anonymes Personalpronomen
16 Siehe Barthes, Roland: „The Death of the Author'' (1968), in Barthes 1977 sowie Foucault, Michel: „Was ist ein Autor?'' (1969), in Foucault: 1988. 17 Zum koUektiven Charakter der wissenschaftlichen Forschung siehe Fleck 1981 (1935). Zum koUektiven Charakter des kunstlerischen Schaffens siehe Becker 1982 und Janik, AUan: „Culture and Society: Creativity and Creative MiHeu'', in Csaky/Pass 1995,15-20.
Trager iind Urheberschaft
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„es".^8 Die Systemtheorie wiederum spricht von der generativen Eigendynamik sozialer Systerae, die autopoietisch, d.h. ohne eine externe Kraft iind ohne einen eigentlichen Trager, die Kultur hervorbringt. In alien diesen Modellen ist die Vorstellung von einem Trager in Gestalt eines Individuums also unwiderruflich verschwunden. Charles Taylor beschreibt dies f olgendermafien: „we can't understand human Hfe merely in terms of individual subjects, who frame representations about and respond to others, because a great deal of human action only happens insofar as the agent imderstands and constitutes himself as integrally p a r t o f a Ve'/'i9
Wenn die atomistische Subjektkonzeption verschwindet, dann modifiziert sich auch die Zuschreibung von Urheberschaft. Hinter der Produktion kultureller Giiter und Diskurse steht ein „Denkkollektiv'' (Emile Durkheim, Ludwik Fleck), ein „Wissensapparat" (Gilles Deleuze) oder ein „soziales System" (Niklas Luhmann) oder eine Anzahl von „sozialen Institutionen" (David Bloor) oder eine Praxisgemeinschaft, die man allgemein „Kimstwelt" (Howard Becker) bezeichnet. All diese Konzepte sind freilich nicht kommensurabel. Die signifikante Streitfrage kreist um die Art und um die funktionalen Merkmale der Instanzen bzw. der Felder, die Kultur in der einen oder anderen Weise produzieren und reproduzieren. Die einen neigen zur Auffassung, dass diese Felder diskursiv sind und sprechen folglich von der Textualitat der Kultur. Die anderen insistieren, dass Kultur nicht nur aus der Gesamtmenge alien Diskursen, Relationen und Regelmafiigkeiten, sondem auch aus einem Komplex von Praktiken, Gewohnheiten und Fertigkeiten besteht, die weder den Akteurlnnen noch den Beobachterlnnen direkt zuganglich sind. Zwischen beiden Positionen gibt es weitere methodologische Differenzen, die in einigen Abschnitten (siehe Unterkap. 3.4-3.6) genauer vorstellt und diskutiert werden.
IS „Das traditioneUe 'X dachte, dafi../ [ist] durch ein 'es war bekannt, dal?../ zu ersetzen''. (Foucault 1974 (1966), 14.) 19 Taylor Charles: „To Follow a Rule'' (1992) in Taylor 1995,173.
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2.6
Aspekte der Kultur
Das Eigene und das Fremde
Ein weiterer Aspekt, der in alien Kulturen eine konstitutive Bedeutung hat, ist das Konzept des Fremden. Die Unhintergehbarkeit des Fremden liegt in seiner dialektischen Beziehung zur Zusammensetzung des Eigenen. Das Wir-Gefiihl bzw. das Einer-von-uns-Sein besteht nicht in der Summe aller Ich-Intentionalitaten, denn die einzelnen Ichs konnen gar nicht ohne ein vorausgehendes Wir existieren. Das Wir formiert sich aus einem System von Wechselbeziigen und Differenzen zu Anderen und Fremden.2o Ein Anderer ist jemand, der in derselben Weise spricht und handelt wie wir. Das heifit, er partizipiert in demselben PraxiskoUektiv. Seine Aufierungen und Handlungen sind vertraut, verstandlich, nachvollziehbar und grofitenteils anerkennungswiirdig. Der Fremde ist aber ein Dritter, der von aufien eindringt. Der Andere kann noch Vertrautes reprasentieren, wahrend der Fremde fiir etwas Radikaleres steht, das sich bisherigen Erfahrungen entzieht, unverstandlich und undurchschaubar erscheint. Der Fremde steht sozusagen jenseits der „Normalitat".2^ Die Angst, Opfer des Fremden zu werden einerseits und die Verklarung des Fremden andererseits sind zwei extreme Reaktionen in der Begegnung mit Fremden. Das Wir, der Andere und der Fremde werden hier folglich als relationale Begriffe gedacht. Die einzelnen Ichs formieren sich in der jeweiligen Wir-Anderer-Fremder-Konfiguration, die in jeder kultureller Konstellation variiert. Die Wechselseitigkeit der Relation zwischen Wir, Anderem und Fremdem lehnt eine substanziell gedachte Trennung dieser Konzepte ab, negiert jedoch nicht, wie Julia Kristeva es
20 „Wenn eine Identitat auftritt, ist immer Erfahrung von etwas anderem in Spiel/' (Mead 1973 (1934), 239.) Siehe auch Lau 1978,174-182; Joas 1999,251-255 und 265-274. 21 Siehe Waldenfels, Bemhard: „Fremderfahning zwischen Aneignung und Enteignung'", in Waldenfels 1990,59f.
Das Eigene und das Fremde
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meines Erachtens tut,^^ die phanomenologische Differenz zwischen Eigenem und Fremdem. Ganz anders dachten jedenfalls die Europaer der Neuzeit und Friihmodeme, denn sie waren fest davon iiberzeugt, dass es substanzielle Unterschiede zwischen Rassen und Volkem gabe. Die Wir-AndererFremder-Konfiguration hatte im 17. und 18. Jahrhundert eine Form angenommen, die ein besonders aggressives Verhalten gegeniiber Fremden legitimierte. Eine wesentliche Voraussetzung fiir die Kolonialisierung, Unterjochung, Ausbeutung und Versklavung fremder Volker war die Selbsterhebung des Eigenen und die starke Ausgrenzung und Entwertung des Fremden. „Kultur haben" hiefi im neuzeitlichen Diskurs Naturbeherrschung, d.h. Bandigung der aufieren Naturgewalten durch Technik und Kontrolle der inneren Naturkrafte mittels Disziplin und Askese. Diese Auffassung basierte auf der Entgegensetzung von Natur und Kultur; eine Polarisierung, die man in der Antike in dieser Weise nicht kannte. Die Technik stand immerhin fiir Aristoteles in einer mimetischen, nicht in einer beherrschenden Beziehung zur Natur. In den Augen der meisten Menschen der Neuzeit war aber die mimetische Beziehung zur Natur das wesentliche Merkmal des pra-kulturellen Zustandes - dazu kam auch der Paganismus, der Kannibalismus und andere Praktiken, die man den „Wilden" der Neuen Welt und den „Naturvolkem" Afrikas zuschrieb. Akulturell imd daher minderwertig waren also Menschen, die in und mit der Natur lebten. Die Weigerung der Anerkennung der angestammten Bevolkerung und der respektlose Verkehr mit ihnen fuhrte bekanntlich im Laufe der Jahre zur Vemichtung vieler Populationen und ganzer Kulturen. Die klaffenden Wunden, die seit damals aufgerissen sind, pragen nach wie vor den postkolonialen Diskurs.
^2 „Wenn wir unsere Fremdheit erkennen, werden wir drauGen weder unter ihr leiden, noch sie geniefien. Das Fremde ist in mtr, also sind wir alle Fremde. Wenn ich Fremder bin, gibt es keine Fremden/' (Kristeva 1990 (1988), 209.)
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2.7
Aspekte der Kiiltur
Kultur als Ideologie
Viele Kulturwissenschafterlnnen im 20. Jahrhundert stehen bei Karl Marx tief in der Schuld, denn er machte ihnen ein faszinierendes Angebot: die Ideologieanalyse. Diese kann von einer Untersuchung der symbolischen Reprasentationen zu einer Analyse der Produktionsbedingungen weitergefiihrt werden - wie es Marx auch empfohlen hat. Von diesem Angebot machten unter anderen Theoretikerlnnen der Frankfurter Schule, der britischen Cultural Studies und einige amerikanische Autorlnnen aus dem Production-of-Culture-Ansatz (z.B. Richard Peterson, Diana Crane, Janet Wolff) Gebrauch. In der marxistischen Terminologie wird die Ideologie als die Summe all jener Glaubenssatze und Diskurse, die die Lebenspraxis der Menschen (insbesondere einer sozialen Klasse) legitimatorisch festigen, bezeichnet. Als Mittel beniitzt eine Ideologie Sprachmuster und Schlagworter (Jargon, Kampfbegriffe, normative Metaphem) sowie andere Reprasentationen (Bilder, Symbole), die sowohl in AUtagstheorien als auch in wissenschaftlichen Diskursen wirksam werden. Marx vertrat die Auffassung, dass die jeweils dominierende Ideologie den Interessen der herrschenden Klasse dient. Daher hat die Ideologieanalyse als Herrschaftskritik die Aufgabe, die Verquickung von Ideen, materiellen Bedingungen, gesellschaftlichen Ungleichheiten und Klasseninteressen aufzuzeigen. Neomarxistische Theoretikerlnnen versuchen im Anschluss an Antonio Gramsci ein komplexeres Ideologieverstandnis zu entwerfen. Sie betrachten Ideologie nicht mehr als einen grofien monolithischen Block. Neben der dominanten Ideologie koexistieren in einer Gesellschaft mehrere alternative (affirmative und opponierende) Ideologien, die sich in einem standigen Austauschprozess befinden.23 Am umstrittensten ist Marx' Grundannahme, dass Ideologien von einem objektiven, ideologiefreien Standort erkarmt und kritisiert werden konnen. Wenn wir aber davon ausgehen, dass jedes Denken interesse-
23 Siehe WiUiams 1977, Teil I, Kap. 4 und Teil E., Kap. 8 sowie Wolff 1993 (1981), Kap. 3.
Kultur als Ideologie
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geleitet und daher jede Aufierung ideologisch geformt ist („Alles ist Ideologie")/ dann kann Ideologiekritik nie stattfinden. Dieser Einwand ist allerdings nur bedingt plausibel. Die Aussage „Alles ist ideologisch" enthalt ein selbstwiderspriichliches Moment. Aber jenseits dieser kritischen Amnerkung will die Verallgemeineriing des Ideologiekonzeptes uns vielleicht blofi darauf aufmerksam machen, dass oft imter dem Vorwand der Ideologiekritik purer Dogmatismus betrieben wird. Ideologiekritik braucht also nicht den Anspruch zu erheben, die Welt aus einer objektiven und neutralen Position zu erkennen. Ideologiekritik kann als ein Kunstgriff verstanden werden, um nicht stumm der Macht anderer ausgeliefert zu sein. In diesem Sinne kann Ideologiekritik als Mittel des politischen Widerstandes gelten, ahnlich wie beispielsweise Ironie, Ubertreibung und andere subversive Strategien. Mit der „Dialektik der Aufklarung" (1947) von Theodor Adomo und Max Horkheimer bekam der Kulturbegriff eine spezifische Neudeutung: Im 20. Jahrhundert wird Kultur eifrig und unentwegt produziert, wobei nicht die Kultur, sondem der „Triumph des investierten Kapitals"24 im Vordergrund steht. Um diese primar okonomische Funktion zu erfiillen, muss sie schnell und en masse produziert und verteilt werden - kurz in industrieller Weise. Damit die produzierten Giiter leichter Abnehmerlnnen finden, werden sie moglichst einfach aufbereitet, formatiert und entsprechend bestimmter antizipierten Erwartungen frisiert.^s Dariiber hinaus gibt es eine weitere Dimension, die die Handlungslogik grofier Kulturbetriebe wie Museen, Theaterhauser oder Fernsehstationen charakterisiert. Ihr Zielpublikum ist nicht blofi durch jene Personen, die Eintrittstickets kaufen, reprasentiert. Genau so wichtig ist auch der Kreis all jener Stiftungen, Forderer, Sponsorlnnen und werbetreibenden Unternehmungen, die einen wesentlichen Anteil der Einnahmen des jewei-
24 Adomo/Horkheimer 1981 (1947), 145. Ahnliche Anklage gegen die Kulturindiistrie erhebt Pierre Boiirdieu in Bourdieu 2001,80ff. 25 Zu einer differenzierten Analyse von Standardisierungsvorgangen in der Musikindustrie siehe Tsckmuck 2003.
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Aspekte der Kultur
ligen Kulturbetriebs ausmachen. Gro6e Kulturhauser haben sozusagen zwei verschiedene Markte, die sich gegenseitig beeinflussen. Die Geschaftsfuhrung ist gezwungen ein Programra anzubieten, das mit den Zielen der Forderem und Sponsorlnnen nicht negativ interferiert. Das begiinstigt die Wahl von Blockbusters und klassischem Repertoire, was ein Massenpublikum anzieht. Auch die Inszenierungsweise muss „adrett" sein, das heifit, sie darf keinesfalls in hohem Mafi umstritten Oder provozierend sein. Solche Handlungszwange fiihren zu einer Einschrankung der Pluralitat und des innovativen Angebots im Kultursektor. Adomos Begriff der Kulturindustrie26 meint also neben der Massenproduktion und der klasseniibergreifenden Distribution auch die Bevorzugung der affirmativen Unterhaltung, des Trivialen und des Redundanten. Die Massenkultur tauchte mit der Entwicklung der technischen Reproduktion und der massenmedialen Kommunikation im Laufe des 20. Jahrhimderts auf .27 „Masse" hat in diesem Zusammenhang eine pejorative Konnotation und impliziert eine Disqualifizierung auf alien Ebenen: intellektuell, sozial, ethisch und asthetisch. Die modeme Unterhaltungsindustrie war unter anderem erfolgreich, so Adomos Deutung, weil sie durch „Amusement'' die traurigen Seiten des AUtags iiberdeckt. Gerade diese intendierte Ablenkung kam unter akuten Ideologieverdacht. Die Kultur der Kulturindustrie wurde als politischer Betrug, als Narkose der Massen verurteilt. Herbert Marcuse schreibt: „Die Kultur meint nicht so sehr eine bessere wie eine edlere Welt: eine Welt, die nicht durch einen Umsturz der materiellen Lebensordnung, sondem durch ein Geschehen in der Seele des Individuums herbeigefiihrt werden soil." 28
26 Im Englischen wird iibrigens das Wort „culhire industries'' gelegentlich umfassend gebraucht. „Industry'' bezeichnet jede Art von professioneUer Tatigkeit. „Culti3re industries'' lasst sich folglich am besten als Kidtiuwirtschaft ins Deutsche ubersetzen. 27 Zum Konzept der Massenkultur siehe CarroU 1998,184-211. Zur Bestimmung der Massenkultur als Eventkultur siehe auch Gebhardt/Hitzler/Pfadenhauer 2000. 28 Marcuse 1973 (1937), 64 und 71; siehe auch Debord 1996 (1967).
Kultur als Ideologie
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Adomo ist mit seiner anklagenden Sprache noch expressiver. Die Kultur der Kulturindustrie „perhorreziert den Gestank, weil sie stinkt; weil ihr Palast, wie es an einer grofiartigen Stelle von Brecht heifit, gebaut ist aus Hundeschei6e/'29 Kultur im Sinn von verwalteter und gemanagter Kultur wird schliefilich fur die allgemeine Entfremdung^o des modemen Menschen mitverantwortlich gemacht. Eine emanzipatorische Bewegung kann sich folglich nur als radikale Kulturkritik durch Zertriimmerung der „falschen Kultur" entfalten. Erst dann kann sie der Ausgangspunkt fiir eine Gegenkultur werden.^i Eine weitere semantische Verschiebung des Kulturbegriffs fand im Rahmen des in den 1960er Jahren gegriindeten ^Birmingham Centre of Contemporary Cultural Studies" statt. Unter „Kultur" verstand Raymond Williams - ahnlich wie Thomas S. Eliot - „the whole way of life", mit anderen Worten, Kultur wurde als kommunikativer Prozess und Komplex von Tauschbeziehungen, als eine Unzahl von Akten des Gebens und Nehmens, des Interagierens, des Streitens und Ausverhandelns gedacht. Diese Kulturkonzeption hob den tradierten Gegensatz zwischen Kultur und AUtag auf und postulierte, dass jeder an einer Kultur in gleichem Mafi teilnimmt - egal, ob er ein Strafienkehrer, ein Manager Oder ein Hochgelehrter ist. Im Unterschied zum Kulturbegriff der Frankfurter Schule nahm der Kulturbegriff im Rahmen der britischen Cultural Studies wieder eine holistische Bedeutung an. Doch diese zu-
29 Adomo 1973 (1966), 359. Kritik am Hedonismus der Konsiungesellschaft aufiert auch Hannah Arendt, obwohl sie der Frankfurter Schxde nicht nahe stand - siehe Arendt 2001 (1958),389ff. 30 Der Entfremdimgsbegriff hat innerhalb der Ideologiekritik einen zentralen SteUenwert. Karl Marx ging von der VorsteUimg aus, dass der Mensch ein „uninittelbares Naturwesen'' sei, das durch die Einfuhrung des Privateigentums in einen Zustand der Abhangigkeit, der Knechtschaft und der Entfremdung iiberging. (Siehe Marx, Karl: „Kritik der hegeHanischen Dialektik und Philosophie uberhaupt'' (1844), in Marx 1969ff., Erganzxmgsband, Teil I., 537 und 578.) 31 Siehe A d o m o 1992 (1970), 32ff.; siehe auch Borek/Krondorfer/Mende 1993 sowie Johnson, Hazel: „Local Forms of Resistance. Weapons of the Weak"", in Skelton/Allen 1999,159-166.
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Aspekte der Kultur
nachst empirisch-phanomenologisch amnutende Annaherung an kulturelle Phanomene war mit der Methode der Ideologiekritik, der Diskursund Institutionsanalyse angereichert: Somit waren die Forscherlnnen der Cultural Studies in der Lage, die ideologischen Grundlagen der Lebenspraxen, die sie untersuchten, aufzudecken. Die Cultural Studies boten sich folglich als Gesellschaftsanalyse an.32 2.8
Macht, Herrschaft, Hegemonie
Kulturelle Regeln konnen sich aus bloCen Gewohnheiten formieren; oft setzen sie jedoch eine Definitions- und Durchsetzungsmacht voraus, das heifit Instanzen, die normgebend wirken und iiber das Verhalten anderer legitime Urteile fallen. Kulturell geformtes Verhalten ist folglich mit Macht und Herrschaft verkniipft. Max Webers Anmerkung, dass Macht soziologisch amorph ist, bezog sich auf seine Definition der Macht als „jene Chance innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen"^^. Macht bedeutet die Moglichkeit unter Umstanden auch Gewalt auszuiiben, wobei Gewalt eine physische oder eine symbolische Form haben kann. Webers Definitionsansatz setzt am Individuum (am „eigenen Willen") an. Aus einer geselIschaftstheoretischen Perspektive kann Macht, wie Hannah Arendt auch meint, wesentlich fundamentaler erfasst werden: „Die einzige rein materielle, unerlassliche Vorbedingung der Machterzeugung ist das menschliche Zusammen selbst. Nur in einem Miteinander, das nahe genug ist, um die Moglichkeit des Handelns standig offen zu halten, kann Macht entstehen."34 Gemafi dieser Definition ist Macht gesellschaftlich verstreut; sie kommt von oben und von imten. Macht taucht durch das Miteinander-Sein auf und fallt mit der Entstehimg einer Gruppe zusammen.
32 Siehe Williams, Raymond: „Theorie imd Verfahren der Kulturanalyse'' (1965), in WilHams 1983,56. 33 Weber, Max: ,,Soziologische Grundbegriffe'' (1921), in Weber 1925, Bd. I, 28; siehe auch Foucault 1977b Bd. 1,114ff. 34 Arendt 2001 (1958), 253.
Macht, Herrschaft, Hegemonie
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Sie ist weder auf individuellem Willen oder politische Institutionen begrenzt, noch blofi auf Repression und Beherrschung ausgerichtet. Macht ist polymorph und spinnt an einem unsichtbaren Netz, das sich auf den gesamten sozialen (privaten und offentlichen) Raum ausdehnt. Herrschaft meint die Moglichkeit, gehorsames Verhalten bei anderen zu erzeugen, bzw. den Aktionsraum der anderen einzuschranken und zu kontroUieren. Gehorsam wird nicht immer mittels Befehlsgewalt erreicht. Unter Benutzung ausgeklligelter Herrschaftstechniken (z.B. Propaganda, Motivationstechniken, populistische Mafinahmen) und durch systematische Disziplinierung (Moral, Erziehung, Justizwesen) - Michel Foucault entwarf hierfiir den Terminus „Gouvemementalitat"35 - kommt es zu einer allmahlichen Verinnerlichung imd Automatisierung gehorsamen Verhaltens. Reale Gemeinschaften funktionieren also durch ein Gemisch von Uberzeugung, die Gefolgschaft bedeutet, Uberredung und Einfordenmg von Gehorsam mittels Sanktionsandrohung und -durchsetzimg. Dariiber hinaus bewirkt Herrschaft eine Schichtung der Gesellschaft. Diese Schichtung ist primar vertikal (Eliten versus Untergebenen), schliefit aber horizontal Gliederungen nicht aus, das heifit Teilkulturen, die sich entv^eder auf der gleichen vertikalen Ebene oder klasseniiberschreitend formieren. Solche komplexe Schichtungen lassen heterogene und ausdifferenzierte soziale Strukturen entstehen.
35 „Unter 'Gouvemementalitaf verstehe ich eine Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form Macht auszuiiben, die als Hauptzielscheibe die Bevolkerung, als Hauptwissensform die politische Okonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat. Zweitens verstehe ich imter 'Gouvemementalitat' die Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablassig imd seit sehr lange Zeit zur VorrangsteUung dieses Machttypus, den man als 'Regierung' bezeichnen kann, gegenuber aUen anderen - Souveranitat, Disziplin - gefiihrt imd die Entwicklung einer ganzen Reihe spezifischer Regierungsapparate einerseits imd einer ganzen Reihe von Wissensformen andererseits zur Folge gehabt hat/' (Foucault, Michel: „Die 'Gouvemementalitaf „ (1978), in Foucault 2003,820f.)
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Aspekte der Ktiltur
Herrschaft ist ein Konzept, das sich primar auf die Ausiibung politischer Macht bezieht. Herrschaft ist instabil, weil selbst innerhalb der Herrschaftseliten iiberall Gefahr lauert - vom Widerstand der Opposition ganz zu schweigen. Ein bestimmter Herrschaftsstatus kann sich jedoch stabilisieren, wenn es ihm durch soziale Akzeptanz und kulturelle Anerkennung gelingt. Legitimation zu erlangen. Dieser Zustand wird durch den Hegemoniebegriff beschrieben. Die Erlangung sozialer und kultureller Hegemonie erleichtert das Regieren: Der erzielte Grundkonsens iiber zentrale Merkmale der gesellschaftlichen Ordnung macht Zwang imd Sanktionsandrohung relativ verzichtbar. AUe weiteren poHtischen Auseinandersetzimgen drehen sich dann um Feinjustierungen, weil die kulturelle Hegemonie die Grundsicherung der politischen Herrschaft gewahrleistet. Kulturelle Hegemonie besteht in der Produktion und erfolgreichen Distribution von koUektiven Erfahrungen, Identitaten, Werten und Diskursen, die im Zusammenhang zu den bestehenden Machtformationen und Herrschaftsverhaltnissen die Funktion der Affirmation oder Opposition, Stabilisierung oder Destabilisierimg erfiillen. Diese Kulturdistribution kann als „sanfte Gewalt" interpretiert werden, weil sie gewisse Inhalte selbstverstandlich, andere hingegen undenkbar bzw. vollkommen inakzeptabel macht. Deshalb bezeichnete Antonio Gramsci sie als „die normative Grammatik" der Gesellschaft.^^ Ahnlich wie Macht kann Hegemonie nicht ausschliefilich den herrschenden Eliten oder dem dominanten Sektor zugeordnet werden. Die konkrete Formation und Verteilung der kulturellen Hegemonie ist komplexer als die meisten einfachen Kausalerklarimgen und simple Verschworungstheorien zu wissen vorgeben. Die Schichtung des Sozialen bewirkt allerdings, dass manche Gruppienmgen mit mehr Mitteln imd Einfluss ausgestattet sind als andere. Identitats- und Zugehorigkeitsunterscheidungen („Wir und Ihr") sowie diverse Exklusions- und Inklu-
36 Gramsci 1991 (Gefangnisschriften, Heft 39,1935), 260.
Konflikte
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sionsmechanismen stellen ebenfalls soziale Dominanzen her, so dass kulturelle Hegemonie nicht das Ergebnis eines offenen und grundsatzlich pluralistischen Aushandlungsprozesses ist.37 Macht bzw. Machtasymmetrie ist notwendige Vorbedingung fiir jede hegemoniale Formation. 2.9
Konflikte
Kulturelle Hegemonie geht mit Interessensdifferenzen und Antagonismen einher, die soziale Reibimgen und Konflikte erzeugen. Konflikte setzen aber auch Gemeinsamkeiten voraus, wie z.B. einen geteilten Raum, in dem solche Konflikte entstehen sowie ahnliche Wahmehmungsmuster, um artikulierte Interessen als antagonistisch oder oppositionell zu definieren. Wenn die Konfliktparteien keinen Vemichtungskrieg gegeneinander fiihren, dann legen sie ein weiteres gemeinsames Bekenntnis ab: Sie erkennen sich gegenseitig als Mitglieder derselben politischen Gemeinschaft an. Eine solche gegenseitige Anerkennung findet in totalitaren Regimes grundsatzlich nicht statt. Dort werden die Gegner als Fremdkorper und Schadlinge identifiziert, um ihre Ausrottung zu legitimieren; die Oppositionellen wiederum sind mehr oder weniger gezwungen, dem staatlichen Terror ebenfalls mit Gewalt zu begegnen. Konflikte sind keine Randerscheinungen einer Gesellschaft, sondem Grundphanomene, die in jedem sozialen Raum vorkommen. Jede Position ruft Divergierendes hervor, d.h. Macht evoziert Opposition, Herrschaft erzeugt Widerstand. Konflikte sind nicht zwangslaufig Indizien fiir soziale Dysfunktion und Instabilitat - als Zeichen einer Dysfunktion kann oft gerade das Gegenteil gelten, namlich die vorgetauschte Harmonie durch massive Verdrangung vorhandener Konflikte und Antagonismen. Kultur als Ort der Symbolproduktion, der Generierung von Definitionen imd Bedeutungen, als Ausdruck des Artikulationswillens der Men-
37 Siehe Laclau/Mouffe 1991,202.
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Aspekte der Kultur
schen, als Medium der Prasentation iind Selbstdarstellimg gesellschaftlicher Gruppen, als Kommunikationsphanomen, kurz als Kristallisation und Katalysator fur soziale Interaktionen stellt auch einen zentralen Austragungsort politischer Konflikte dar. Mit „politisch" meine ich Konflikte, die mehrere Mitglieder (Gruppen, Teiloffentlichkeiten) einer Gesellschaft betreffen. Solche Konflikte kreisen um vitale Interessen der Betroffenen und stehen mit Problemen in Zusammenhang, die sich aus der politischen Herrschaft und kulturellen Hegemonie - diese Unterscheidung ist unbedingt notwendig - ergeben. Da sie vitale Interessen betreffen, konnen sie wesentlich umstritten sein (siehe Unterkap. 7.5), das heifit sie sind komplex und nicht einfach zu losen. Jede Kultur hat ihre innere Legitimation. Jede Legitimation ist aber prinzipiell gleichermafien wertvoU wie wertlos: WertvoU und verbindlich fiir diejenigen, die sich mit ihr identifizieren; wertlos, well unverbindlich, fiir Aufienstehende. In Konfliktsituationen rotieren daher normative Begriffe wie Recht und Unrecht, Gut und Bose so schnell, dass sie austauschbar werden und infolgedessen keine andere Funktion mehr als die der Propaganda haben. Politisch-kulturelle Konflikte stellen eine Gesellschaft auf eine harte Probe. Die Mittel und Wege, die eine Gesellschaft ihren Mitgliedem zur Verfiigung stellt, um Konflikte so auszutragen, dass der Ausbruch destruktiver Gewalt vermieden werden kann, offenbaren die politische Qualitat dieser Gesellschaft. 2.10
Kultur als Kampfbegriff
Identitaten, kulturelle Zugehorigkeit, Abweichung und Differenzherstellimg sind weder natiirlich noch ein fiir allemal fixiert. Sie stehen in einer Wechselbeziehung zur hegemonialen Formation einer Gesellschaft und verandem sich permanent entsprechend den sozialen Antagonismen und Auseinandersetzungen. Politische Kampfe werden folglich haufig als Kulturkampfe bzw. Kampfe um die Wahrung und Anerkennung einer sozio-kulturellen Identitat ausgetragen. In der Kegel versucht jede groiSere Gruppe, ihr Identitatskonstrukt auf eine „solide", substanzielle Basis zu stellen. Die konstitutiven Kriterien dafiir lassen sich in zwei Kategorien unterteilen: Auf der einen Seite begegnen wir dem Versuch der Naturalisierung sozialer Identitaten, z.B. durch Konzepte wie Rasse, Geschlecht, Abstammung oder Volk (man denke an die Blut-und-BodenIdeologie), auf der anderen Seite gibt es Kriterien, die sich auf konkrete
Kultvir als Kampfbegriff
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kulturelle Praktiken beziehen, wie z.B. Religion, Sprache, Grundwerte oder nationales Bewusstsein. Zwischen naturalistischen und kulturalistischen Begriindungsversuchen gibt es selbstverstandlich vielschichtige Uberschneidungen. Soziale Identitaten bzw. Wir-Konstruktionen miinden also in Kulturkonzepte und Kulturverstandnisse. Diese Kulturkonzeptionen wirken wiederum auf die Identitatskonstruktionen zuriick, weil Identitatsanspriiche in der sozialen und politischen Praxis als Mittel der Legitimation koUektiver Intentionalitaten (Interessen, Vorrechte etc.) eingesetzt werden. Kulturverstandnisse, die eng mit sozialen Gruppen verkniipft sind, sind Platzhalter und dienen der artikulatorischen Praxis der jeweiligen Gruppe. KoUektive Identitaten besitzen soziale Faktizitat, das heifit sie sind weder Phantasmen noch blofie Worthiilsen. Ihnen kommt eine Materialitat zu, genauer gesagt eine unbestimmte Korrelation zu Handlungen. Zugleich -• und das mag paradox klingen - sind Identitaten trotz ihrer sozialen Faktizitat fragwiirdig. Die Debatte iiber die Vorstellung einiger CDU-Politikerlnnen zur „deutschen Leitkultur", die Ende 2000 stattfand,38 zeigt in paradigmatischer Weise, wie eine Kulturkonzeption zum Kampfbegriff wird. Die „deutsche Leitkultur" zeichnet sich gemafi den meisten Befiirworterlnnen dieses politischen Begriffes, durch (a) die deutsche Sprache und Bildung, (b) Verfassungstreue und (c) die egalitare Stellung der Frau in Deutschland aus. Wer diese Merkmale und Werte nicht vertritt, hat keinen Platz in der deutschen Gesellschaft - so die politische Schlussfolgerung. Der Vorstofi der damals wegen diverser Skandale in Bedrangnis geratenen CDU war zweifelsohne populistisch. Die Berufung auf die Werte der „abendlandisch-christlichen Kultur" und auf die Grundwerte, die in der deutschen Verfassung festgehalten sind, spiegelt die hegemonialen Kulturkonzepte der Rechtskonservati-
38 Anfang Oktober 2000 stellte der CDU-Bundestagsfraktionsfuhrer Friedrich Merz im deutschen Parlament das Wort „deutsche Leitkultur"' als zentrales Konzept fiir die Integrations- und Auslanderpolitik seiner Partei vor.
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Aspekte der Ktdtur
ven wider. Selbst wenn es iiber bestimmte Werte einen Grundkonsens gabe, darf man nicht naiv glauben, dass alle danmter dasselbe verstehen Oder dass sie von denselben Motiven geleitet wiirden. Die vorgetauschte und herbeigewiinschte Homogenitat der deutschen Gesellschaft verdrangt und negiert absichtlich die Bandbreite der sozialen Identitaten, AUtagspraktiken und Lebensformen der Menschen. Die CDU-Ideologlnnen operierten damals offen mit Vorurteilen, dass viele Fremde kulturlos (ungebildet) sowie potenzielle Rechtsbrecher (ohne „Verfassungspatriotismus") seien und aufierdem sozialisationsbedingt zu Gewalt gegen Frauen tendieren wiirden. Die Berufung auf die egalitare Stellung der Frau als Leitwert des Kulturverstandnisses der Christdemokraten war geradezu riihrend. Dass sich die Forderung nach Beendigung der Diskriminierung von Frauen politisch durchgesetzt hat, war das Ergebnis Jahrzehnte dauemder Kampfe der Frauenbewegung, die bekanntlich von der traditionsbewussten CDU/CSU realpolitisch nie unterstiitzt wurden. Die Vereinnahmimg der Friichte der emanzipatorischen Frauenbewegung bedeutet eine Verdrehung der historischen Tatsachen. Damit lobte die CDU/CSU implizit die Aufgeschlossenheit der „deutschen Manner". („Deutscher Mann" hat wohlgemerkt eine „volkische" Bedeutung.39) Gewalt gegen Frauen wird als „undeutsches" Verhalten kodiert und sexuelle Gewalt wird folglich an ethnisch-volkische Zuschreibungen gekoppelt. Das Wort „Kultur" wird in diesem Kontext zweifelsfrei in den Dienst verborgener politischer Direktiven gestellt (etwa als Ablenkung vom parteiintemen Finanzskandal der CDU und Repositionierung der Partei als Vertreterin konservativer Wahlerschichten). 1st dieser Populismus aber noch tolerierbar? Verletzen manche
39 Diese Konnotation hat Hans Haacke bei seinem Kunstprojekt „Der Bevolkenmg'', das in einem Innenhof des Deutschen Biindestags (ehemaligen Reichstag) 2000 realisiert wurde, aiifgegriffen und thematisiert. Zur Konstruktion des Nationsbegriffs auf Basis volkischer Konzepte siehe auch Keller, Thomas: „Globalisierung oder Akkulturation'' in Robertson-Wensauer, 2000, 201-232, sowie Bhabha, Homi: „DissenuNation: Zeit, narrative Geschichte und die Rander der modemen Nation", in Bhabha 2000 (1993), 207-253.
Soziale Stratifikation und kulturelle Hierarchisierung
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CDU/CSU Politikerlnnen nicht damit stillschweigend die Wiirde vieler Individuen, die als Mitglieder ethnischer Minderheiten in Deutschland leben? (Nach der deutschen Verfassimg geniefit die Wiirde eines Menschen oder einer Gruppe absoluten Schutz.) Wie weit miissen Demagoglnnen dieser Art gehen, damit sie und ihre Ideen unertraglich werden? Parallel zu diesem politischen Populismus tauchen seit einigen Jahren auch manche Intellektuelle auf, die statt von einer nationalen Kulturkonzeption lieber von einer „europaischen Kultur" und einem „europaischen Wesen" sprechen. Konrad Paul Liessmann, um hier ein Beispiel zu nennen, meldete sich vor kurzem mit der Bemerkimg: „Im strikten modemen Sinn kann eine europaische Kultur nur als eine Kultur der Individuen betrachtet werden, deren immanentes Ziel die politische, moralische und asthetische Autonomic der Subjekte ist/'^o Das Attribut „europaisch" spezifiziert hier die konkrete Aussagefunktion des Kulturbegriffs: „Kultur" wird zum politischen Kampfbegriff und Mittel der Affirmation von Hegemonie und der Legitimation von Unterwerfung.^i Liessmann gehort wahrscheinlich zu jenen Intellektuellen, die verkennen, dass solche hegemonialen Formationen (Menschenrechte, Individualitatskonzepte, Kunstautonomie u.a.) relativ jung sind und die irrtiimlicherweise damit glauben, die „Grundlagen der eigentlichen europaischen Erfahrung und abendlandischen Kultur" erfasst zu haben. 2.11
Soziale Stratifikation und kulturelle Hierarchisierung
Der soziale Status der Individuen v^ird nicht nur durch ihr okonomisches Kapital, ihre soziale Macht imd ihren politischen Einfluss bestimmt, sondem auch anhand ihrer Bildung, kulturellen Zugehorigkeit und kulturellen Praktiken definiert. „Kultur", schreibt Judith Blau, „funktioniert wie eine Sprache der sozialen Rhetorik".42 Wegen ihrer
40 Liessmann 2001,33. 41 Siehe Said 1994 (1993), 16ff. 42 Blau 1992 (1989), 130; Ubersetzmig TZ.
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Aspekte der Kultur
aufierlichen Sichtbarkeit und ihrem zeichenhaften Charakter iibemehmen Kulturgiiter und Praktiken eine ostentative RoUe. Sie signalisieren soziale Zugehorigkeit und Status - z.B. das Klavier als biirgerliches Mobel par excellence.^^ Praferenzen und Geschmacksurteile klassifizieren allerdings nicht nur das Objekt selbst, sondern letztlich auch diejenigen, die die Klassifikation vomehmen. Die Untergliederung der Teilkulturen der Gesellschaft in die so genannte Hochkultur, Massenkultur, Volkskultur, Popularkultur, sowie in mehrere Subkulturen, bringt die allgemeine Arbeitshypothese zum Ausdruck, dass kulturelle Praktiken und soziale Stratifikation miteinander korrelieren. Da aber die soziale Stratifikation vielschichtig ist und mehrere vertikale und horizontale Ebenen hat und da in imseren Zeit zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten eine gewisse Durchlassigkeit besteht, gibt es keine Anhaltspunkte, um diese allgemein beobachtete Korrelation als Kausalbeziehung zu deuten. Bei der Bildung der kulturellen Praferenzen spielen im Gegenteil viele Parameter eine wichtige Rolle, die mit der Grundformation der sozialen Stratifikation wenig zu tun haben: Alter, Moden, Werbimg, Medien und einiges mehr. Zudem wird gegenwartig die so genannte Massenkultur Oder, besser gesagt, die kulturindustrielle Produktion von einem so gemischten und breiten Publikum konsumiert, dass soziale Klassen, ethnische Differenzen und bildungsspezifische Unterschiede haufig iiberschritten werden. Daher lasst sich meines Erachtens keine allgemeine Theorie erstellen, die die Beziehung zwischen dem sozialen Status bzw. der Klassenzugehorigkeit und den individuellen kulturellen Praktiken (Gewohnheiten, Praferenzen, Rezeptionsweise) linear erklart. Die meisten Studien zu diesem Thema haben grofitenteils lokalen Bezug, etwa auf die amerikanische (H. Gans), die franzosische (P. Bourdieu) oder die deutsche (G. Schulze) Gesellschaft und sind auch noch temporar be-
43 Weber 1972 (1921), 11) siehe auch Bourdieu 1997 (1979) sowie Ullrich, 2001.
Soziale Stratifikation und kiilturelle Hierarchisierting
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grenzt.44 Eine Verallgemeinerung der jeweiligen Analysen und Interpretationen ist nur sehr eingeschrankt moglich. Das implizite Wertungsfeld in der Bezeichnung der verschiedenen Teilkulturen - Hochkultur versus alle anderen „niederen" Kulturen, wie Massenkultur, Volkskultur oder Popularkultur - geht mit der sozialen Status der jeweils partizipierenden Gruppen und des involvierten institutionellen Kontextes einher. Die zugrunde liegende Binaritat zwischen Hohem und Niederem, Feinem und Vulgarem ist hegemonial und aufierdem schematisch: Sie suggeriert eine duale Gliederung der Gesellschaft (oben/unten), die jedoch zu simplifizierend ist. Derm das NichtPopulare steht nicht fur das Unpopulare, sondem fiir das Elitare, d.h. die Hochkultur.45 Kritik dazu wurde im Kontext der 1968er Jahre artikuliert. Das Pladoyer fiir eine Kultur „als 'umfassende Lebensform' im Gegensatz zur omamentalen, privilegierten 'hohen' Kultur und einer auf Konsum ausgerichteten kommerzialisierten Form von Kultur"^^ stellt kulturelle Partizipation ins Zentrum und will die Trennung zwischen Kreation und Rezeption aufheben. Kultur als Teil der Lebensgestaltung ist alltaglich, wie Raymond Williams proklamierte.47 Die daraus resultierende Popularkultur basierte auf einem spezifischen Verstandnis von „kultureller Politik", namlich der Auffassung, gesellschaftliche Veranderungen konnten von „unten" her und mit dem Einsatz kultureller Mittel evoziert werden. Unsoziologische Begriffe wie Hochkultur und Popularkultur miissen durch andere Konzepte ersetzt werden, die die Heterogenitat der einzel-
^ IJber die ostentative Funktion kultureller SymboHk siehe Veblen 1958 (1899). Uber die Korrelation kultureller Praferenzen und sozialer Stratifikation siehe Gans 1974, Bourdieu 1997 (1979), Sdiulze 1993, Crane 1992 sowie DiMaggio 1987a, 440-455. '^^ Siehe Bourdieu, Pierre: „Sagten Sie 'popular'?"', in Gebauer/Wulf 1993, 72-92. Kritik an die negative Deutung des Terminus „popular" in Gans 1974, 19-51 und Shusterman 1994, Kap. 2,67-107. 46 Bontinck, Irmgard: „Kritik der etablierten Kultur" (1973), in Bontinck 1999, 215; siehe auch 220f. 47 William, Raymond: „Culture is Ordinary" (1959) in Bredford/Gary/Wallach 2000,16-19.
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Aspekte der Kiiltiir
nen Felder starker reflektieren. So gibt es auf der Ebene der Hochkultur unterschiedliche Typen von kulturellen Praktiken, die nicht unbedingt dem Mainstream angehoren. Andererseits gibt es zahlreiche Subkulturen, die zwar an sich eine marginale Stellung innehaben, aber hohe Konformitat mit der hegemonialen Kultur aufweisen.^s Es ware weiter sinnvoll einen Unterschied zwischen Volkskultur (oder Popularkultur) einerseits und Popularkultur anderseits einzufuhren, um begriffliche Missverstandnisse zu vermeiden. Fiir die deutschen Intellektuellen der Frankfurter Schule waren die Begriffe „Masse" und „Volk" bzw. „Massenkultur'' imd „volkstumliche Kultur" in ein anderes diskursives Feld eingebettet als der englische Terminus „popular", den die britischen Theoretikerlnnen der Cultural Studies beniitzen. So verwenden diese den Terminus „popular culture" und meinen damit das, was die Menschen in ihrem AUtag tun und wie sie etwas rezipieren. Innerhalb der Frankfurter Schule waren jedoch Mass^nproduktion, -distribution und konsumation, die als Grimdmerkmale der Kulturindustrie galten, quantifizierbare und empirisch nachweisbare Grofien - also keine Interpretationskonstrukte, wie beispielsweise John Fiske meint.49 Historisch gesehen bezeichnet der Terminus Volkskultur die Kultur der „einf achen Leute" in vorindustriellen Gesellschaften. Die Volkskultur ist im AUgemeinen durch ein Nahverhaltnis zwischen Produzierenden und Konsumierenden und durch einen niedrigen Grad an Professionalitat gekennzeichnet. Sie erfiillt jedenfalls keine reprasentativen Aufgaben wie die hohe Kunst. Diese Sichtweise wird teilweise auch iiber den Begriff der Popularkultur (popular culture) ausgedriickt - zumal Fiske damit die kulturellen „Formationen unterdriickter imd entmachteter Menschen"
48 Siehe Schwendtner 1978 (1971). 49 Zum Vergleich zwischen Frankfurter Schule und Cultural Studies siehe Kogler, HansHerbert: „Kritische Hermeneutik des Subjekts. Cultural Studies als Erbe der Kritischen Theorie'', in Homing/Winter 1999, 196-237. Ziun Kulturbegriff der Frankfurter Schule siehe BoUenbeck 1994, IV. Kapitel. Kritik am Fiskes Argument in Carroll 1998,236-241.
Soziale Stratifikation iind kiillrurelle Hierarchisierung
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meint.50 So ist der Terminus „Popularkultur" im Unterschied zur Volksimd Popularkultur im kulturindustriellen Kontext entstanden, wahrend „Popularkultur" ein Konzept darstellt, das die klassifizierende Grenzziehimg zwischen „hoher" und „niedriger'', „emster" und „unterhaltender" Kultur iiberwinden will. Natiirlich ist die semantische Abgrenzimg dieser Begriffe niemals eindeutig, derm durch ihre gegenseitige Bezugnahme bleiben sie eng miteinander verwoben. So fragt beispielsweise Herbert Gans, ob Popularkultur etwas sein kann, das von profitorientierten Untemehmen in New York und Hollywood geschaffen wird. Bestimmt kann sie dort produziert werden, aber Gans' Frage will andeuten, dass sich die von Majors und Grofikonzemen produzierte Massenkultur bzw. Popularkultur, die die Majoritat versorgt, von der Volks- und Popularkultur unterscheidet, weil ihre raison d'etre primar okonomisch ist. Das Primat des Okonomischen steht im Gegensatz zu den konstitutiven Grundlagen der anderen Teilkulturen: Volks- und Popularkulturen basieren auf politischen, moralischen und praktischen Wertesystemen.^i Massenkultur als soziologischer Begriff bezieht sich aber nicht nur auf die okonomische Dimension der Kulturindustrie und die Reichweite bestimmter Inhalte, sondem auch auf die Veranderung der Alltagspraxis. Das beste Beispiel dafiir ist das Femsehen, weil es seit seiner Verbreitung die Freizeit der Menschen wesentlich verandert hat.52 Die Kritik an der so genannten Massenkultur ist folglich kulturpolitisch wichtig, da sie zentrale ethische Fragen einer politischen Gemeinschaft anspricht, wie etwa die hegemoniale KontroUe der Offentlichkeitsforen, die Marktkonzentration, die
50 Fiske 2000 (1989), 14. 51 Siehe Gans 1974, viii und lOf. 52 Man kann mit Habermas auch von der „KoloniaHsierung der Lebenswelt'' sprechen, die durch die Freizeits- imd Kulturindustrie in Gang gesetzt wird - siehe Habermas, 1981, Bd. 2, Kap. Vin.
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Aspekte der Kiiltur
kulturellen Entfaltungsmoglichkeiten der Einzelnen und die Forderung der kulturellen Vielfalt.^^ Die hier angefiihrten Klassentypen von Teilkulturen (Volks-, Popular-, Massen- und Hochkultur) sind idealtypisch. In Wirklichkeit gibt es zahlreiche Ubergange und tjberlappungen zwischen alien Teilkulturen. Die unterschiedliche Wertigkeit dieser Teilkulturen spiegelt die hegemoniale Formation einer Gesellschaft wider. Im AUgemeinen ist es so, dass das, was gehobene soziale Schichten konsumieren, durch einen verborgenen Automatismus hoher bewertet wird als die kulturellen Gewohnheiten und Praferenzen anderer Schichten (Arbeiterschaft, landliche Bevolkerung, kulturelle Minderheiten, einfache Angestellte). Die Hoffnung mancher Theoretikerlnnen mittels der Ideologiekritik Oder des Dekonstruktivismus die hierarchische Unterscheidung zwischen Hochkultur und Popularkultur aushebeln zu konnen, betrachte ich deshalb als blofies Wunschdenken, well der Ursprung sozialer Bewertungen und Hierarchien nicht nur diskursiv ist. Er ist gleicherma6en in gesamtgesellschaftliche Strukturen, Institutionen und Praktiken eingebettet. Um es mit Wittgenstein zu sagen: „Unsere Rede enthalt durch unsere tibrigen Handlungen ihren Sinn. "54 Eine theoretische Analyse mag kritisch und entlarvend sein; sie kann aber nicht Dinge verandem, die ihre Existenz keinem expliziten Diskurs verdanken. Dichotomisch aufgebaute Klassifikationen und Taxonomien, die in AUtagsdiskursen existieren ~ z.B. konservativ versus progressiv, repressiv versus emanzi-
53 Kulturelle Vielfalt meint, dass Gegenwartsgesellschaften aus zahkeichen fragmentierten Individuen und Gruppen bestehen, die sich durch unterschiedHche, legitime Lebensfonnen und kulturelle Praktiken auszeichnen. Kulturelle Praxen konnen ntir weitergegeben und -entwickelt werden, wenn die Menschen sie annehmen. In diesem Sinne kann der Staat den Erhalt von kulturellen Praxen bzw. von kultureller Vielfalt nicht garantieren. Antidiskrirriinierungsgesetze allein konnen nicht das Recht auf kialturelle Artikulation gewahrleisten, vielmehr bedarf kulturelle Vielfalt der aktiven Forderung durch den Staat - etwa durch das Angebot von infrastrukturellen Ressourcen, die die Menschen unter zumutbaren Bedingungen niitzen konnen. 54 Wittgenstein 1994a (1969) § 229.
Hegemorde und Determination
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patorisch, hierarchisch versus egalitar - sind bis zu einem gewissen Grad unvermeidbar, well sie Vorgriffe sind, die Interventionen im Sozialen einzuleiten beabsichtigen. 2.12
Hegemonie und Determination
Eine zentrale Frage, die sich bei der Untersuchung der Ausdifferenzierung kultureller Praktiken stellt, betrifft das Wechselverhaltnis der einzelnen Teilkulturen einer Sozietat zueinander. In welcher Beziehung steht die Kultur der Unterschichten zur Kultur der Oberschichten bzw. zur Hochkultur? Mit „Kultur der Unterschichten" sind in erster Linie diverse Soziokulturen, wie z.B. Folklore, Arbeiterkultur, Telle der Jugendkultur gemeint. Popularkultur als eine allgemeine Bezeichnung fiir dieses kulturelle Feld mag sich mit der so genannten Massenkultur teilweise iiberschneiden, aber diese beiden Konzepte soUten, wie ich bereits im vorigen Absatz erwahnt habe, nicht vermengt werden. Ich mochte den Begriff Massenkultur ausdrticklich als einen sozial-historischen Begriff verwenden, der sich auf die kulturindustrielle Herstellung, die massenmediale Verbreitung und den Konsum dieser Produkte bezieht. Historisch ist dieser Begriff deshalb, well er erst durch das Aufkommen bestimmter Technologien und Marktstrukturen ermoglicht wurde - im Buch- und Grafikbereich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Musik- und Filmbranche etwa ein halbes Jahrhundert spater. Die Massenkultur lasst sich sowohl in manchen Teilen der Popularkultur als auch innerhalb der Hochkultur orten. Mit „Kultur der Oberschichten" bezeichne ich im Allgemeinen die hegemoniale blirgerliche Kultur sowie die Kultur der intellektuellen Kemschichten, d.h. die so genannte „hohe" Kunst (museale Kunst, arriviertes Theater, klassische Musik, klassische Literatur) bevor diese eine massenmediale Verbreitung findet. (Da Vincis „Mona Lisa", Van Goghs „Sonnenblumen", Beethovens „Fur Elise" oder Mozarts „Kleine Nachtmusik" sind kulturelle Ikonen und Bestandteil des Allgemeinwissens der meisten im Westen lebenden Menschen.) Dariiber hinaus gibt es diverse avantgardistische, experimentelle und alternative Kulturszenen, die sich teilweise im Randgebiet der intellektuellen Hochkultur und teilweise in subkulturellen Nischen der Popularkultur bewegen.
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Aspekte der Kioltiir
Beide Teilkulturen, die Popularkultur und die Hochkultur, konnen affirmative und kritisch-subversive Ausformungen aufweisen. (Das soil hier betont werden, weil manche „radikal-kritische" Kiinsttheoretikerlnnen, die Hochkultur ausschliefilich als hegemonial und affirmativ kritisieren. Die Hochkultur ist jedoch kein einheitliches Phanomen. Sie ist zwar oft klassenbewusst, aber gelegentlich auch selbstkritisch.) Freilich sind Hochkultur und Popularkultur unterschiedlich - nicht nur im Hinblick auf ihr Formvokabular, ihre Inhalte und Qualitatskriterien, sond e m auch im Hinblick auf die Praktiken, d.h. die Produktionsbedingungen, Prasentationsformen und Rezeptionsweise. Antonio Gramsci beschrieb die Differenz wie folgt: „Das volkstiimliche Element 'fiihlt', aber versteht und weifi nicht immer, das intellektuelle Element 'weifi', aber es versteht und insbesondere 'fuhlt^ nicht immer. Die beiden Extreme sind daher die Pedanterie imd das Philistertum einerseits und die blinde Leidenschaft und das Sektierertum andererseits/'^^
Die Gegeniiberstellung von Intellektualitat und Emotionalitat betrachte ich als ein Stereotyp, das dennoch nicht ganz falsch ist. Interessen, Erwartungen, Aufmerksamkeit und Rezeptionsintensitat sind je nach Publikumsschicht verschieden. Rezeptionssoziologische Untersuchungen zeigen, dass quantitative Unterschiede auf der Ebene der Enkulturation tmd Akkumulation von Bildimg in qualitative Unterschiede umschlagen. (Qualitativ bedeutet hier keine Bewertimg im Sinne von besser oder schlechter, sondem bezieht sich auf die Verschiedenheit der kulturellen Praxis der Hochkultur von der Popularkultur.) Die Frage der Eigenstandigkeit bzw. der Beeinflussung der verschiedenen Teilkulturen kann nicht abstrakt, ohne konkreten Bezug, diskutiert werden. Soziokulturelle Beziehungen sind einerseits vom konkreten politischen System (Art der Verteilung von Ressourcen, struktureller Zwang und Form der Machtausxibung), andererseits von der faktischen Permeabilitat zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen
55 Gramsci 1991 (Gefangnisschriften, Heft 11,1932-33), 93.
Hegemonie xrnd Determination
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abhangig. Die Sozialwissenschaften verfiigen jedoch iiber keinen Algorithmus, der die Relationen der Teilkulturen zueinander beschreibt.56 Die Determinationsthese, die unter anderen Karl Marx imd Friedrich Engels vertraten, besagt zweierlei: Erstens wird die Kultur der unteren Klassen schon seit je durch die herrschende Klasse kontrolliert. Durch ideologische Konstrukte und kanonische Texte verbreitet die herrschende Klasse ein „falsches Bewusstsein". Die daraus resultierende Verblendung der Masse verhindert, dass die unteren sozialen Klassen ein eigenstandiges emanzipatorisches Bewusstsein entwickeln konnen. Zweitens existiert eine Determination auf der Basis der bestehenden Eigentumsund Herrschaftsverhaltnisse. Zwar betonte Engels die Wechselwirkung der politischen, rechtlichen, okonomischen und kulturellen Entwicklung, aber „in letzter Instanz [setzen sich] stets (...) okonomische Notwendigkeiten [durch]", stellte er fest.^^ Im Grofien und Ganzen schrieben Marx und Engels unausgesprochen den Unterschichten kulturelle Passivitat zu und schatzten deren Kultur nicht besonders hoch. Ein anderes Defizit des klassischen Marxismus - abgesehen von seiner Konzeption der sozialen Klassen - ist, dass er keine analytische Unterscheidung zwischen der Kultur des Volkes^s und der Kultur/tir das Volk macht. Der Terminus Kultur flir das Volk umfasst jene kulturellen Produktionen, die von der herrschenden Klasse in Gang gesetzt wurden, sei es durch direkte Finanzierung, sei es durch gezielte Infiltration von Inhalten. (Man sollte konsequenterweise auch zwischen den zwei kulturpolitischen Konzepten „Kultur fiir alle" und „Kultur von alien" imterscheiden.) Die Kultur des Volkes ist natiirlich mit der Kultur fiir das Volk eng vernetzt, aber die Unterscheidung muss mitberiicksichtigt
56 Dazu Mannheim, Karl: „Das Problem der Soziologie des Wissens'' (1925), in Mannheim 1970,375ff. und Mannheim 1969 (1929), 135ff. 57 Engels, Friedrich: „Brief an W. Borgius vom 25.1.1894", in MEW 1968, Bd. 39, 206. Kritik diesem Determinationskonzept uben Laclau/Mouffe 1991,148ff. 58 Der amerikanische Terminus „grass-roots'' fiir die „Kultur der Basis" enthalt eine metaphorische Analogie aus dem Bereich des Organischen. „Grass-roots" suggeriert einen Entstehungs- und Wachstumsprozess, der quasi „von innen her" geleitet ist.
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Aspekte der Kultur
werden, um die vielen Briiche zwischen der Volks- bzw. Popularkultur und der hegemonialen Kultur zu begreifen. Diese Briiche, etwa die Tatsache, dass die Menschen von „unten" gelegentlich die kulturellen Kodes von „oben" voUkommen anders lesen, so dass die Sender ihre beabsichtigte Wirkung verfehlen/^ warden von vielen alteren marxistischen Kulturhistorikerlnnen kaum registriert. Inspiriert von der weiteren Entwicklimg der marxistischen Theorie (Antonio Gramsci, Louis Althusser, Kritische Theorie u.a.) sowie vom Strukturalismus lehnten in den 1960er und 70er Jahren viele ForscherInnen das Marx'sche Basis-Uberbau-Konzept ab und brachten Argumente fur die Eigenstandigkeit der Teilkulturen bzw. fur die Devianz der Popularkulhir ein. Fiir Raymond Williams und Richard Hoggart ist die Popularkultur (Arbeiterkultur, Jugendkultur, Subkulturen etc.) nicht nur eine Transporteurin von Ideologien, wie orthodoxe Marxistlnnen tendenziell meinten, sondem auch ein Feld der gegenseitigen Solidaritat, des Widerstandes und der kritischen Auseinandersetzung mit der Macht. Vor allem sprachen sie der „Kultur von unten" eine kreative Potenz zu, was zu einer Aufwertung und einem wachsenden Interesse der akademischen Forschung fiir die Popularkultur fiihrte. „C)ne of the great insights of Raymond Williams - a really fine insight -", konstatiert Hoggart riickblickend, „was to say you could be as creative in setting up a trade union or a working man's club as in writing literature."6o (Ein ahnlich breiter Kreativitatsbegriff wurde iibrigens zur selben Zeit auch von Joseph Beuys vertreten.) Diese Sichtweise sprach der Popularkultur eine relative Autonomie xmd die politische Kraft zu, oppositionelle
59 Siehe HaU, Stuart (1980): „Encodmg/Decoding" in HaU 1980; Fiske 2000 (1981); Ginzburg 1990 (1976). 60 Hoggart, Richard: „Forty Years of Cultural Studies'', Interview in International Journal of Cultural Studies, Heft. 1, 1998, 20. Diese Position vertritt auch John Fiske. Seine Argumentation ist nicht empirisch, sondem basiert auf der poststrukturalistischen Theorie der frei flotierenden Zeichen. Andere haben die breite Auffassung von Kreativitat in der Art und Weise generaHsiert, dass sie jeden Konsumakt aUes als kreativ bezeichnen siehe z.B. Storey 1993,198.
Hegemorde und Determination
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Inhalte zu formulieren und alternative Wege zu entwickeln. Die postulierte relative Autonomie ist durchaus plausibel, wenngleich die Popularkultur nicht aufierhalb des Rahmens existiert, der sie „popular" macht. Die Momente der Andersartigkeit, die sie verkorpert, und die Widerspenstigkeit, die sie reprasentiert, sind fragil. Durch Akte des Ausschliefiens und der Inkriminierung sowie durch Vereinnahmungsstrategien konnen diese Eigenschaften schnell wirkungslos und im Mainstream integriert werden.^^ Die Interaktionen, die Konflikte und der durch die Mobilitat der heutigen Menschen in Gang gesetzte Wissenstransfer generieren ein zeitlichraumlich dynamisches Geflecht von vielfaltigen Relationen zwischen den Teilkulturen. Die empirisch konstatierte Mannigfaltigkeit der einzelnen Teilkulturen, ihre Formen und Inhalte unterstiitzen also die Annahme, dass die horizontalen und vertikalen Wechselwirkungen sehr reich sind. Wir miissen davon ausgehen, dass eine simple Determinationshypothese nicht haltbar ist. Gleichzeitig sind die eigenstandigen und intrinsischen Momente der einzelnen Teilkulturen meines Erachtens ebenfalls zu schwach, um ihnen a priori Alteritat zuzusprechen. (Natiirlich beziehe ich mich hier primar auf meinen begrenzten Erfahrungshorizont.)
61 Siehe Schwendter 1978 (1971).
3 Grundlagenfragen der Kulturforschung 3.1
Die Suche nach epistemischen Grundlagen
In den folgenden Abschnitten werden die Fundamente untersucht, auf denen verschiedene kulturwissenschaftliche Sichtweisen iiber Kultur aufbauen. „Sichtweisen", in der Mehrzahl gebraucht, soil hier klarstellen, dass der Kulturbegriff innerhalb der Kulturwissenschaften umstritten ist. „Kultur" bezeichnet nicht eine Sammlung von Gegenstanden, sond e m eine komplexe Konfiguration, ein strukturiertes Beziehimgsgeflecht, ein System. Ob Kultur eine Totalitat, ein zusammenhangendes Ganzes ist oder ob sie in fragmentarische Telle zerfallt, ob sie eine zusammengewiirfelte Anhaufung verschiedener Mosaike, ein pastetenahnliches Gemisch ist, hangt mit einer Doppelfrage zusammen: 1. Hat Kultur eine konsistente und durchgehende Ordnung, die wir beschreiben konnen? Und, daran anschliefiend: 2. Hat diese Ordnung einen ontologischen oder einen epistemologischen Status? (Ontologisch bedeutet, dass diese Ordnung der Kultur eigen ist; sie gehort zu ihrem eigentlichen Sein. Schreibt man dieser Ordnung allerdings lediglich einen epistemologischen Status zu, dann meint man, dass die Ordnung notwendig sei, damit wir ein kulturwissenschaftliches Wissen produzieren konnen.) Diese zweifache Frage ist fundamental, sowohl fiir den Aufbau einer Methodologie zur Untersuchung kultureller Phanomene als auch fiir die Bestimmung dessen, was erkannt werden kann, d.h. die Eingrenzung des erkenntnistheoretischen Bereichs der Kulturwissenschaften und in wieterer Folge der Kulturbetriebslehre. Zugleich - das soil keinesfalls ver-
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Gnmdlagenfragen der Ktdturf orschung
schwiegen werden - hat diese doppelte Fragestellung eine einengende Wirkung auf die Wissenschaften. Sie ist metaphysisch, well sie sich mit Prasuppositionen beschaftigt.^ Die Gefahr des Dogmatismus ist augenscheinlich. Eine systematische Darlegimg der verschiedenen Positionen wiirde im Rahmen der vorliegenden Untersuchung zu weit fiihren.^ Wahrend ich dieses Kapitel schrieb und spater wieder iiberarbeitete, entschloss ich mich, die Frage nach der Ordnimg der Kultur imd das Problem der Prasuppositionen anhand eines konkreteren Themas zu prasentieren und zu diskutieren. Der erhoffte Vorteil ist die Senkung des Abstraktionsgrades des Textes, der vom Inhalt her ohnehin theoretisch ist. Im Zentrum der folgenden Abschnitte wird also die Bedeutung von „Kontext" stehen. 3.2
Vorbedingungen kulturwissenschaftlicher Forschung
Ernst Cassirers ausgedehnte und profunde Untersuchungen zum Problem der Erkenntnis3 miindeten seit Beginn der 1920er Jahre in eine Philosophie der Kultur. Cassirer kam zu der Einsicht, dass Erkenntnis von den symbolischen Formen und Symbolisierungsvorgangen strukturell abhangig ist. Unser Zugang zur „Welt", die eigentlich eine symbolisch kodierte Welt ist, erfolgt mittels verschiedener Symbolsprachen und narrativer Systeme. Alle Symbolsprachen (Kodierungssysteme), die es uns ermoglichen einen Sachverhalt zu fixieren, zeichnen sich durch die Tendenz zur Verselbstandigung aus. Das heifit, umso entwickelter ein Symbolsystem ist, desto eigendynamischer agiert es. Jedes entwickelte Symbolsystem generiert also eine eigene Welt. Wir sprechen daher nicht iiber reale Sachverhalte, sondem iiber Objekte, die vorkonstituiert
1 Ziun Begriff Prasupposition siehe CoUingwood 1940,21-47. 2 Dazu siehe z.B. Reckwitz 2000. 3 Siehe Cassirer 1994 (1906-20).
Die Erfindung des Kontextes
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sind, genauer gesagt iiber Reprasentationen. Die Verkennung dieses Faktums fiihrt zu groben Missverstandnissen.4 Die Gegenstande unseres Denkens werden iiberhaupt erst aus einem konkreten diskursiven Rahmen denkbar. Dieser Gedanke ist simpel imd fundamental zugleich. Um ihn anhand eines Beispiels zu erlautem: Manche Kiinstlerlnnen, die dem Surrealismus oder Dadaismus zugeordnet werden konnen, nahmen AUtagsgegenstande, die sie assoziativ anregten, und gaben ihnen verschiedene projektive Deutungen. Diese „objets trouves" zeigen, dass wir jedem beliebigen Objekt einen asthetischen Sinn zuschreiben konnen. Die Sinnzuschreibung ist ein kiinstlerischer Akt, der als solcher von der Kunstoffentlichkeit akzeptiert und gelegentlich auch sehr hoch geschatzt wird. Fiir einen Kiinstler des ausgehenden 17. Jahrhunderts waren „objets trouves" und „ready-mades" undenkbar gewesen. In seinen Augen miisste ein Kunstwerk im fundamentalen Gegensatz zu alien Naturgegenstanden stehen. Kunst als Produkt des Geistes soUte gar nichts mit der geistlosen Natur gemeinsam haben. Die Grenzen des Denkbaren oder Vorstellbaren - der Grund, dass Objektkunst nicht von Klassizisten erfunden wurden - laufen entlang gewisser Vorbedingungen, die teilweise eine absolute, d.h. nicht reflektierte Basis haben. Diese epistemologischen Vorbedingungen sind langfristig veranderbar und stellen das kulturelle Apriori^ einer konkreten historischen Situation dar. 3.3
Die Erfindung des Kontextes
Die Hermeneutik, die im 19. Jahrhimdert als historisch-philologische Methode entwickelt wurde, betont die Prioritat der Rekonstruktion des urspriinglichen Entstehimgs- und Wirkungskontextes des Untersuchungsgegenstandes. Sie gehort somit zu den ersten Ansatzen, die syste-
4 „Das WesentHche der Metaphysik: dass sie den Unterschied zwischen sachlichen und begrifflichen Untersuchungen verwischt/' (Wittgenstein 1994b (1967), § 458.) 5 Mehrere Wissenschafts- und Kulturhistorikerlnnen haben diesen Aspekt hervorgehoben - siehe beispielsweise Fleck 1981 (1935); Kuhn 1976 (1962); Foucault 1974 (1966).
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Grundlagenfragen der Kulturf orschiing
matisch die Frage des Kontextses thematisierten. Hermeneutische Wissenschafterlnnen gehen davon aus, dass die Erschliefiung des Kontextes eines kulturellen Gegenstandes wesentlich fiir dessen Verstandnis ist. Losgelost von jeglichem Kontext kann er vielerlei bedeuten, was aber keinen konkreten Sinn ergeben muss. Der Kontext grenzt daher die grundsatzliche Polyvalenz der kulturellen Gegenstande ein. Bei der Rekonstruktion der Entstehungsbedingungen stofit man auf eine Anzahl von kanonischen Texten und Vorbildem, etablierten Mentalitaten imd normativen Richtlinien, die unter dem Begriff „Tradition" zusammengefasst werden. Hans Robert Jaufi erlautert die Methode der literarischen Hermeneutik wie folgt: Sie beschreibe die „Aiifnahine imd Wirkting eines Werks in dem objektivierbaren Bezugsystem der Erwartiongen, das sich fiir jedes Werk im historischen Augenblick seines Erscheinens aus dem Vorverstandnis der Gattmig, aus der Form vind Thematik zuvor bekannter Werke uind aus dem Gegensatz von poetischer und praktischer Sprache ergibt/'^
Aus der Sicht der Hermeneutik stellt die Tradition die eigentlich sinnstiftende und bedeutungsgenerierende Instanz dar. Hermeneutisch orientierte Wissenschafterlnnen neigen daher dazu, den Kontext mit der Tradition zu identifizieren bzw. zu verwechseln. Unter Berufung auf die Autoritat des urspriinglichen, historisch authentischen Umfeldes - die „Zeit, auf die sich das Werk bezieht" bzw. mit Diltheys Worten des „historisch-gesellschaftlichen Milieus", und der „sprachlichen Objektivitat" - meinen viele Vertreterlnnen dieses Ansatzes, die Grenzen der eigenen Subjektivitat, die aus dem Interpretationsvorgang grundsatzlich nicht eliminierbar ist, transzendieren zu konnen. So begreift Hans-Georg Gadamer die Hermeneutik als Methode zur Erschliefiung der Wahrheit, ohne aber einen „falschen" Anspruch auf Objektivitat zu erheben.
6 JauG, Hans Robert: „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft'', in Warning 1975, 130. Ahrdich auch Ricoeur, Paul: „Der Text als ModeU: hermeneutisches Verstehen'', in Biihl 1972,282.
Die Erfindimg des Kontextes
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Einen weiteren wichtigen Aspekt im hermeneutischen Verstehen stellt die Beriicksichtigung der „Zeit der Herstellung'', das heifit der Intentionalitat, der Innenperspektive und Situiertheit des/der jeweiligen Autors/in dar. Nun, woher wissen wir, was in einem Menschen verging, als er zum Beispiel ein Gedicht schrieb? Um nicht in den Verdacht des spekulativen Psychologisierens zu kommen, betonen die Hermeneutikerlnnen - hier zitiere ich stellvertretend Paul Ricoeur -, dass „Verstehen rdchts mit einem unmittelbaren Begreifen fremdseelischen Lebens oder einer emotionalen Identifikation mit einem geistigen Gehalt [zu tim hat]. Das Verstehen ist durch imd durch vermittelt durch den ganzen Komplex der explanatorischen Verfahren, die ihm vorausgehen und die es begleiten/'^
Die Hermeneutik kommt also nicht ohne vorangehende Annahmen und Erklarungen aus. Sie ist auf Vermittlung angewiesen, die wahrend der weiteren Interpretation nur zum Teil revidiert werden konnen. Die „Zeit des Rezipierens", die Bedingungen des „Lesens" relativieren folglich den Wahrheitsanspruch der Interpretation. Neben dem Bezug auf die historische Tradition und die Intentionalitat verlangt Oswald Schwemmer von der hermeneutischen Methode aufierdem (und zu Recht) eine starkere pragmatische Orientierung: „Mit dem Kontext wird schlief^lich die Verbindung zur Gesamtheit des Textes, insbesondere auch von Reden und Wechselreden angegeben. (...) Der Kontext erhalt seine Einheit so wie der Handlimgszusammenhang Von innen her". Man muss verstehen, u m was es geht, w^enn man ihn erkennen kann. (...) In den Kontexten unseres Redens und Handelns wird die Beriicksichtigung der jeweils bestehenden imd entstehenden Situationen gerade zur definierenden Bedingung, damit wir liberhaupt von solchen Kontexten sprechen konnen.'"^
Die Beriicksichtigung des pragmatischen Kontextes weicht aber von der Forderung nach einer strengen Methodik ab. Die Pragmatik verlangt
7 Ricoeur, Paul: „Der Text als ModeU: hermeneutisches Verstehen'' (1971), in Biihl 1972, 282, (Hervorhebung TZ). Siehe auch Dilthey, Wilhelm: „Der Aufbau der geschichtHchen Welt in den Geisteswissenschaften'' (1907-1910), in Dilthey 1959ff., Bd. VH, 257. 8 Schwemmer 1987,64.
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Grundlagenfragen der Kulturforschting
einen situativen und kasuistischen Denkmodus. Der/Die Interpretin muss zwischen Signifikantem und Bedeutungslosem unterscheiden. Angenommen, ich stofie wahrend meiner Recherchen iiber einen verstorbenen Komponisten auf einen vertraulichen Brief, in welchem er festhielt, dass er ein bestimmtes Musikstiick komponiert hat, um seine Schulden bezahlen zu konnen.^ Derartige Informationen konnen sehr interessant sein, weil sie Hinweise iiber die soziale, okonomische oder psychische Befindlichkeit des Komponisten liefern. Nicht selten helfen sie uns Hypothesen zu formulieren, die beispielsweise erklaren, warum das Werk, von dem im Brief die Rede war, eine bestimmte Form hat. Es kann aber sein, dass ein konkreter Hinweis mehr oder weniger belanglos ist und wir ihn nicht verwerten konnen. Als Forscherlnnen stehen wir oft vor solchen Fragen und sind gelegentlich unsicher, ob eine Information liber- oder unterbewertet wurde. Wir sind stets mit der inieripretativen Unterbestimmtheit kultureller Phanomene konfrontiert, die den Anspruch der historischen Hermeneutik auf Validitat stark einschrankt. 3.4
Das Text-Paradigma
Kunst und kulturelle Leistungen, die im Kulturbetrieb vorkommen, werden entsprechend konkreter Denkstile wahrgenommen, analysiert und gedeutet - siehe auch Unterkap. 7.2 und 11.If. Ein Denkstil ist ein „bestimmter Denkzwang und noch mehr: die Gesamtheit geistiger Bereitschaften, das Bereitsein fiir solches und nicht anderes Sehen und Handeln".io Worauf griindet sich ein Denkstil und die Bereitschaft (oder Neigung) etwas in einer bestimmten Art wahrzunehmen und zu denken? Erkenntnistheorien, welche auf die eine oder andere Weise der linguistischen Wende verpflichtet sind, geben eine eindeutige Antwort: Wir denken und sprechen iiber kulturelle Phanomene, und unser
9 Dieses Beispiel ist entnommen aiis: Winch, Peter: „Text und Kontext" (1982), in Winch 1992,40. 10 Fleck 1981 (1935), 85.
Das Text-Paradigma
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Gesprach findet immer in der begrifflichen Sprache statt. Die Sprache ist daher das dominierende Medium, in welchem Bedeutimgen konstruiert werden. Aus diesem Grund meinen viele Kulturtheoretikerlnnen, die Kultur sei textualisiert. Die Textualitatsthese ist einige Dekaden alter, aber Paul Ricoeur sprach sie als einer der ersten explizit aus, indem er den Text nicht nur als Medium, sondem auch als generalisiertes Modell fiir die Sozial- und Kulturwissenschaften definierte. Der zugrunde liegende Textbegriff ist iibersprachlich konzipiert und eignet sich folglich fiir jede semiotische Analyse. Handlungen und kulturelle Gegenstande konnen wissenschaftlich untersucht werden „durch die Methode der Objektivation, die der schriftlichen Fixierung eines Textes ahnlich ist. (...) Eine Handlimg hinterlasst eine 'Spur', sie setzt ein 'Zeichen'.''^! Die These von der Textualitat der Kultur hat in dieser Version primar eine epistemische Dimension. Textualitat als Medium und Modell impliziert jedoch nicht, dass die Gegenstande der Sozial- und Kulturwissenschaften als solche textuell sind. Eine andere Auffassung der Textualitat entspringt dem Vorschlag, Kultur als Textur, d.h. als Gewebe von Bedeutungen zu untersuchen. („Text" ist vom lateinischen Wort „textus" abgeleitet, das „Gewebe, Geflecht" bedeutet.) Diese Auffassung ist mit dem Werk von Clifford Geertz assoziiert: „Der Ktdturbegriff, den ich vertrete (...) ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, dafi der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchtmg ist daher keine experimenteUe Wissenschaft, die r\ach Gesetzen sucht, sondem eine interpretierende, die nach Bedeutimgen sucht.''^^
" Ricoeur, Paul: „Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen'' (1971), in Biihl 1972, 261,264. Ahnlich aber aus einer anderen Richtung herkommend Barthes, Roland: „From Work to Text'' (1971), in Barthes 1977,155-164. 12 Geertz 1991 (1973), 9.
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Grundlagenfragen der Kulturforschung
Kulturwissenschaften bediirfen eines semiotischen Analyseverfahrens, das in der Lage ist, das Gewebe der Kultur als umfassenden Kontext darzustellen. Die Verweise, die den kulturellen Phanomenen (Ritualen, Texten, Artefakten) innewohnen, fiihren zu komplexen, oft iibereinander gelagerten und ineinander vemetzten Gedankenwelten, zu situationsbedingten pragmatischen Zusammenhangen und Handlungsformen. Erst die Offenlegung dieses Geflechts von Relationen ermoglicht ein tieferes Verstandnis der Kultur. Textualitat wird bei Geertz als semantische Kontextualitat verstanden. Grundlegender, und auch sehr verschieden als die zwei oben erwahnten Ansatze, ist die Textualitatsthese innerhalb des Strukturalismus. Das zentrale Postulat des kulturwissenschaftlichen Strukturalismus ist, dass jede Kultur als ein System symbolischer Ordnungen betrachtet werden kann. Symbolische Ordnungen sind jene Strukturen, die die Denk- und Verhaltensweisen der Menschen determinieren. Claude LeviStrauss forderte, die symbolischen Ordnungen zwar von innen her zu rekonstruieren, jedoch nicht aus der Position der Subjekte, aus ihrem Erlebnis- und Verstehenshorizont, wie die Hermeneutik es tut, sondem aus der immanenten Analyse der Texte bzw. der Objekte, Mythen und Riten der Kultur. Die symbolische Ordnung muss also aus transsubjektiven Elementen, Texten und textahnlichen Gebilden extrapoliert werden. Die hermeneutische Methode greift demnach zu kurz, well sie nur die subjektiven Strukturen herausarbeitet; die strukturalistische Analyse ist jedoch in der Lage, objektive Strukturen, die den Individuen gar nicht bewusst sind, herauszuarbeiten. Die Annahme, dass die Sinnsysteme und in der Folge die symbolischen Ordnungen weitgehend unbewusst sind, hat tief greifende Konsequenzen auf die Konzeption der handelnden Individuen. Die Menschen, die an einer Kultur partizipieren, beherrschen diese nicht, sondem sie selbst werden von der dieser Gesellschaft zugrunde liegenden symbolischen Ordnung gelenkt. Aus dieser Perspektive betrachtet haben symbo-
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lische Formen keine expressive Funktion - das heifit die Funktion, das Ich nach aufien zu kommunizieren - , sondem vielmehr die Aufgabe, das Ich zu konstituieren. Im Strukturalismus hat das Ich demzufolge keinen apriorischen, transzendentalen Status mehr, wie es innerhalb der traditionellen Bewusstseinsphilosophie der Fall war. Selbstreflexion ist, wie Foucault sie iiberzeugend analysierte^^, keine anthropologische, quasinatiirliche Fertigkeit, sondem eine kulturelle Technik zur Bildung des Selbst. Da der kulturwissenschaftliche Strukturalismus stark von den Sprachwissenschaften (Ferdinand de Saussure, Roman Jakobson u.a.) inspiriert war, ist die Zentralitat des textuellen Sprachmodells ein wesentliches Charakteristikum dieses Ansatzes. Jedes kulturelle Phanomen „wird in dem Augenblick, da es bedeutungsvoll wird, zu einer Schrift: Es hat wie die Schrift den Charakter eines Diktums''^^, so Roland Barthes. Kulturelle Phanomene als Schrift zu begreifen heifit, sie als komplexe Zeichenstrukturen, die doppelt und mehrfach kodiert sind, wahrzunehmen. So gesehen haben sie eine Bedeutungsebene, die offensichtlich ist, sozusagen an der „Oberflache" liegt, und eine andere Ebene, die nur als „Spur" vorhanden ist. „Spurenlesen" ist ein interpretativer Akt, der verborgenen Schichten eines Textes ausgrabt, die sonst verdeckt und unerkannt bleiben.i^ Diese „Tiefenstruktur" von Texten enthalt kognitive und affektive Vorurteile - Barthes bezeichnet sie als „kulturelle Mythologien" -, die das Grundgeriist einer Kultur bilden. „Das soziale Band ist sprachlich", folgert deshalb Jean-Frangois Lyotard^^ u^d das heifit konsequenterweise: Die Sozial- und Kulturwissenschaften haben eigentlich nur mit Texten zu tun. Diese Schlussfolgerung ist, wie ich spater zeigen werde, umstritten. Wenn die Sozial- und Kulturwissenschaften nur
^3 Siehe Foucaidt/Martin 1993. 14 Barthes 1996 (1957), S7; Hervorhebimg T.Z. 15 Zixtn Konzept der Interpretation im poststmkturaHstischen Denken siehe auch Dreyfus/ Rabinow 1987 (1983), 153ff. 16 Lyotard 1994 (1979), 119; ahnHch auch Geertz 1991 (1973), 202ff.
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textualisierte Gebilde analysieren sollen (oder konnen), dann bewegt sich die Kontextanalyse ausschliefilich auf einer rein textuellen und vor allem synchronen Ebene. Kontextualitat wird nur als Intertextualitat verstanden. Intertextualitat bedeutet, dass Texte in einem synchronen System aus Aquivalenzen und Oppositionen zu anderen Texten stehen, das heifit alle analysierbaren und hergestellten Zusammenhange sind a priori textuell. „Ein Text-Aul?eres gibt es nicht. (...) Wir haben kein Recht uns iiber diese Beschrankung hinweg zu setzen''^^ lautet eine viel zitierte Feststellung von Jacques Derrida. Damit behauptet er, dass ein Text durch seine intertextuelle Verwebung selbst die notigen Informationen liefert, in welcher Weise er zu lesen sei. Es gibt noch eine weitere Variante des strukturalistischen Ansatzes, die hier erwahnt werden soli. Ausgehend von einer kritischen Revision des klassischen Strukturalismus formierten sich in den 1960er und 70er Jahren neuere Versionen, die eine Dynamisierung der Betrachtungsweise boten. Viele Theoretikerlnnen, die man allgemein als Poststrukturalistlnnen bezeichnet, begreifen symbolische Ordnungen als Netzwerke von Diskursen, die einem diachronen (geschichtlichen) Wandel unterliegen und eine gleichzeitig synchrone Bedeutungsvariation und -fluktuation zulassen. Die meisten Poststrukturalistlnnen weisen zudem eine mehr oder weniger grofie Affinitat zu Friedrich Nietzsche auf, die sie offen zugeben, und oft zur neomarxistischen Theorie aus dem Kreis um Louis Althusser. Die Synthese aus Nietzsche und Neomarxismus fuhrt zu einer machttheoretischen Interpretation der Kultur. Michel Foucault betrachtet Kultur als ein unprazises Wort fiir den Macht/WissenKomplex, der jede Gesellschaft durchzieht wie die Blutbahnen den Korper. Macht und Wissen sind nicht miteinander identisch, sondem stehen blofi in einem korrelativen Verhaltnis zueinander. „Es ist wohl anzunehmen, (...) dafi Macht und Wissen einander einschlieCen, dafi es keine Machtbeziehung gibt, ohne dal? sich ein entsprechendes Wissens-
17 Derrida 1983 (1967), 274. Dazu vermerkt Pierre Bourdieu kritisch: „Weiter lasst sich die Verabsolutienmg des Textes nicht treiben/' (Bourdieu 1999 (1992), 314.)
AUesnur„Texr?
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feld konstituiert, imd kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert/'^s Der Macht/Wissen-Komplex wird in Diskursen materialisiert und kann somit Gegenstand einer wissenschaftlichen Analyse werden. Den Sozial- nnd Kulturwissenschaften kommt die Aufgabe zu, (a) die innere Logik, die „Episteme", eines Diskurses aufzudecken und (b) die Diskursanalyse weiter zu treiben als eine blofie Analyse von bedeutungstragenden Elementen (Inhaltsanalyse Oder Ideengeschichte). Man miisse die Diskurse „als Praktiken behandeln, die systematisch die Gegenstande bilden, von denen sie sprechen"^^ Schliefilich (c) soil die performative und machttheoretische Funktion der Wahrheitseffekte der Diskurse aufgezeigt werden. Der Hinweis auf die performative Fimktion diskursiver Praktiken bedeutet keine Abwendung vom Text-Paradigma und Primat der Diskurse. Praxis ist in der friihen Phase des Foucault'schen Denkens die Gesamtheit „von anon5mien, historischen, stets in Raum und Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche imd fiir eine gegebene soziale, okonomische, geografische und sprachliche Umgebung die Wirkungsweise der Aussagefunktion definiert haben."2o Mit anderen Worten: Die Praxis ist von Diskursen und diskursiven Praktiken determiniert.^i 3.5
AUes nur „Text'7
Die Einsicht iiber die zeichenhafte Dimension als materielles und strukturelles Merkmal von Kultur nimmt im Text-Paradigma eine zentrale und unverriickbare Stellung ein. Aus dem Text-Paradigma sind in der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts faszinierende Forschungsarbeiten entstanden: Levi-Strauss, Barthes, Geertz, Foucault sind heute unanfechtbare Klassiker. Doch jenseits einer Kanonbildung soil hier
18 Foucault, 1976 (1975), 39f. 19 Foucault 1981 (1969), 74. 20 Ebd. 82, Hervorhebung TZ. 21 Siehe Dreyfus/Rabinow 1987 (1983), 304 und Kammler 1986,91-111.
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versucht werden zu klaren, welche neuen Wege das Text-Paradigma eroffnet hat, und welche Probleme es mit sich brachte. Das Postulat vom Primat des Textes negiert nicht, dass viele kulturelle Manifestationen keine linguistische Form haben - man denke z.B. an ein Musikstiick, an Tanz, an manche Hochzeitsrituale usw. Die Vertreterlnnen des Text-Paradigmas insistieren dennoch, dass alle kulhirellen Phanomene, abgesehen von ihren diskursiven Beztigen, eine fundamentale Eigenschaft besitzen: die Bedeutungsfimktion. Aus diesem BHckwinkel gesehen, sind sie wie Texte. Michel Foucault hat die Konsequenzen klar formuliert: „Es geht dabei um die Reduktion diskursiver Praktiken auf Text-Spuren, um das Auflosen der Ereignisse, die in Praktiken auftreten, um ausschliefilich Zeichen fiir eine Lektiire zuruckzubehalten/'22 Der textuelle Charakter der Kultur impliziert, dass bestimmte Eigenschaften, die Texte auszeichnen, auf die Kulturanalyse iibertragen werden konnen. Texte sind keine „fensterlosen Monaden", sondern befinden sich von vomherein in einem Regelkorpus und in Beziehung zu anderen Texten. Dasselbe gilt fiir kulturelle Phanomene: Sie sind bedeutungsvoll. Sie kommen in einem strukturierten Rahmen vor. Sie sind durch Anspielung oder Abgrenzung mit anderen kulturellen Phanomenen verwoben. Sie sind in ein soziales Feld eingebettet, d.h. sie stehen in einer Beziehung (Interrelation oder Determiniertheit) zu kulturellen Praktiken. Kontextualitat wird im strukturalistischen und noch starker im poststrukturalistischen Ansatz als Intertextualitat verstandet. Intertextualitat eliminiert die Bedeutung subjektiver Intentionen, indem sie die transsubjektive Dimension der Texte hervorhebt.23 In diesem Sinne meint Jacques Derrida in seinem Buch „Die Wahrheit in der Malerei", dass die
22 Foucault 1992,41. 23 Siehe Kristeva, Julia: „Wort, Dialog und Roman bei Bachtin'' (1972), in Ihwe 1972,348.
Alles niir „Text'7
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metaphysischen Fundamente der traditionellen Kunstphilosophie erst iiberwimden werden konnen, wenn wir den „Diskurs iiber die Grenze zwischen dem Innen und dem Aufien des Kunstgegenstandes, [... durch den] Diskurs iiber den Rahmen [ersetzen]"24. Der Rahmen ist das, was um und neben einem Kunstwerk wirkt, das Parergon (d.h. Beiwerk) wie Derrida in Anlehnung an Gerard Genette sagt. Er denkt hier an ein rein textimmanentes Verfahren, das intertextuelle Beziige offen legt. Derrida ist kein Kontextualist, weil fiir ihn, auf gut poststrukturalistisch gesagt, alles Text ist und sonst nichts - „il n'y a pas dehors-texte"25. Texte verweisen in unendlichen Iterationsketten auf andere Texte; sie sind immerwahrende „Ereignisse" in einem grenzenlosen Textuniversum, dem „texte general". Der Poststrukturalismus nimmt tendenziell eine entgegengesetzte Position in Bezug auf Philosophen wie Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein ein, die die Bedeutung nicht-diskursiver Hintergrundspraktiken hervorheben. Konkreter: Michel Foucault versteht in seiner „Archaologie des Wissens" Praktiken als „[die Gesamtheit] von anonymen, historischen, stets in Raum und Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und fiir eine gegebene soziale, okonomische, geografischen und sprachliche Umgebung die Wirkungsweise der Aussagefimktion definiert haben/'26 Diese grundlegenden Regeln erscheinen ihm im Wesentlichen als diskursiv und daher sind fiir ihn Praktiken grundsatzlich fassbar und definierbar. Man konnte an dieser Stelle
24 Derrida 1992 (1978), 65. 25 „Ein Text-AuSeres gibt es rdcht'" heifit es in der deutschen Ubersetzung - siehe Derrida 1983 (1967), 274. 26 Foucault 1981 (1969), 82, siehe auch 71 und 100 sowie Dreyfus/Rabinow 1987 (1983), 89 und 103. In den 1980er Jahren erweitert Foucault seinen Begriff von „Praktiken'' und meint damit nicht nur „diskursive Praktiken'', sondem samtliche „Formen des Handelns und des Denkens". Da er 1984 starb, konnte er kein ausgearbeitetes Handlungskonzept mehr vorlegen. (Siehe Foucaults Interview in Dreyfus/Rabinow 1987 (1983), 289, sowie Foucault 1994, 702. Foucaults Wende wird auch beschrieben in Reckwitz 2000, 193ff.; Kammler 1986,91-111.)
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Foucault den Vorwurf machen, dass er die Wiedergabe (den Reprasentationsmodus) von Erfahrungen als Modus der Produktion von Erfahnmgen missversteht. Erfahrungen haben eine eminent praktische Dimension, die beispielsweise Michael Poianyi thematisierte. Sie ist implizit Polanyi nennt sie „the tacit dimension [of our knowledge] "27 - imd grundsatzlich nicht textualisiert imd textualisierbar. „Wir wissen mehr als wir zu sagen wissen", schreibt Polanyi.^s Diese Art von implizitem Wissen entgeht der Aufmerksamkeit vieler Textualistlnnen; Polanyi und andere Handlungstheoretikerlnnen betrachten es hingegen als zentralen Bezugspunkt. Die epistemische Bedingung fiir die Interpretation der Kontextualitat als Intertextualitat liegt, wie wir gesehen haben, in der Privilegierung des Textuellen. Der strukturalistische und poststrukturalistische Ansatz scheint die Bedeutung der Textualitat, worauf die linguistische Wende bereits hinwies, zu verabsolutieren. Kritik an der Privilegierung des Textuellen wird auch innerhalb der Literaturwissenschaft geiibt. So gibt Walter Ong zu bedenken, dass unsere Gegenwart von der Schriftkultur und den diversen Schrifttechnologien (Buchdruck, elektronische Datenverarbeitung) so tief gepragt ist, dass wir allzu leicht den Fehler begehen, Kulturen ausschliefilich in textualisierter Form, als Ecriture wahrzunehmen.29 Die unreflektierte Literalitat der Wissenschafterlnnen fuhrt also zu einem textualistischen Fehlschluss.
27 So auch der Originalbuchtitel von Polanyi 1985 (1966). 28 Ebd. 14, siehe auch 24f. 29 Siehe Ong 1987 (1982), 162-167. Gegen die Reduktion der sozialen Praxis auf Diskurse argumentiert auch Pierre Bourdieu in Bourdieu 2001 (1997), 68ff. und Bourdieu 1979 (1972), 151-164. Zur weiteren Diskussion uber die methodologischen und epistemologischen Probleme des Text-Paradigmas siehe Fuchs, Martin/Berg, Eberhard: „Phanomenologie der Differenz. Reflexionsstufen ethnografischer Reprasentationen'', in. Fuchs/ Berg 1993,11-108.
Kontrapunkt: das Praxis-Paradigma
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Kontrapunkt: das Praxis-Paradigma
Ludwig Wittgenstein vertrat eine pragmatistische Sicht in Bezug auf den Kontext: „Wie lafit sich erklaren, was 'ausdrucksvolles Spiel' ist? [Wittgenstein bezieht sich hier auf das Musizieren; Anmerkimg T.Z.] Gewifi nicht durch etwas, was das Spiel begleitet. - Was gehort also dazu? Eine Kiiltur mochte man sagen. - Wer in einer bestinunten Kultur erzogen ist, dann auf Musik so und so reagiert, dem wird man den Gebrauch des Wortes 'ausdrucksvolles Spiel' beibringen konnen/'^o
Hier wird klar, dass Kontextualisierung eine holistische Betrachtungsweise erfordert. Wittgenstein hat sich gegen Ende der 1920er Jahre von einigen Grundpositionen des „Tractatus logico-philosophicus" sukzessive verabschiedet. Anstelle auf der logischen Struktur der Sprache als der eigentlichen Grundlage der Erkenntnis, insistiert der „spatere" Wittgenstein auf der Bedeutung des praktischen Hintergrundrahmens, jenes „harten Felsens", der unter den Satzen liegt und ihren Sinn wesentlich mitbestimmt. Sehr lapidar formuliert: Es ist „die Praxis, [die] den Worten ihren Sinn [gibt]"3i. Und wenn die Menschen iibereinstimmen, so ist dies „keine Ubereinstimmung der Meinungen, sondem der Lebensformen"32 bzw. eine Ubereinstimmung „im Handeln"33. Wir konnten hier von einer praktischen Wende sprechen, die in den letzten Jahren, wie sich in einigen neueren Studien zur Erkenntnistheorie und Epistemologie zeigt, zu greifen beginnt. Aus der Perspektive einer praxisorientierten Philosophie findet Verstehen a priori in einem praktischen Kontext statt, da der Mensch in seinem In-der-Welt-Sein stets in Praktiken, Tatigkeiten und Handlungen involviert ist.34 Sprache wird folglich nicht als „freies Spiel der Signifi-
30 Wittgenstein 1994b (1967), § 164. 31 Wittgenstein 1994c (1977), 571. 32 Wittgenstein 1977 (1953), § 241. 33 Wittgenstein 1989 (1956), VI-39. Siehe auch Wittgenstein 1977 (1953), § 217, § 325, § 539. 34 Siehe auch Taylor, Charles: „To FoUow a Rule'' (1992), in Taylor 1995, 170 so wie ders. (1993): „Engaged agency and background in Heidegger'', in Guignon 1993,317-336.
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Gmndlageniragen der Kultttrforschung
kanten" aufgefasst, sondern (wie auch John Searle im Anschluss an Wittgenstein betont) als eine artikulatorische Tatigkeit, die mehrfach mit Handlungen nnd Praxisfeldem verkniipft ist. Die Vielfalt der moglichen Verkniipfungen konstituiert unterschiedliche „Sprachspiele". Ein solches Sprachspiel kann folglich nicht rein formal, d.h. nur mit linguistischen Instrumenten (z.B. durch eine rein syntagmatische Analyse) begriffen werden. „Eine Sprache vorstellen heifit, sich eine Lebensform vorstellen/'35 Lebensformen formieren sich aus einem Amalgam von sozialen Praktiken. Searle spricht folglich vom „Primat gesellschaftlicher Handlungen vor gesellschaftlichen Gegenstanden".36 Theodore Schatzki reformuliert diese Position in einer kritischen Paraphrasierimg Martin Heideggers: „Practice is the house of being (Being and be-ing)/'37 Die These vom Primat sozialer Praktiken ist die Schnittstelle einer Anzahl unterschiedlicher Theorien, die ich unter der Bezeichnung Praxis-Paradigma zusammenfassen mochte. Die Urspriinge des PraxisParadigmas finden sich einerseits im Denken des jungen Karl Marx, andererseits in der aktivistischen Grimdeinstellung des amerikanischen Pragmatismus. Doch es sind nicht nur Wittgensteinianerlnnen und Pragmatistlnnen, die das Primat der Praxis hervorheben. Pierre Bourdieu, der aus der strukturalistischen Richtung kommt, weist auf die Eigenart der Praxis hin: „Man mu6 der Praxis eine Logik zuerkennen, die anders ist als die Logik der Logik, damit man der Praxis nicht mehr Logik abverlangt, als sie zu bieten hat/'^s Man kann also der Praxis nicht mehr Logik abverlangen, well sie erstens kein geschlossenes, fixiertes und homogenes System darstellt, und zweitens weil sie nicht begrifflich, sondern praktisch ist.
35 Wittgenstein 1977 (1953), § 19, siehe auch § 241. 36 Searle 1997 (1995), 46, siehe audi 66ff. 37 Schatzki 1996, 111. 38 Bourdieu 1987 (1980), 156; siehe auch Bourdieu 2001 (1997), 72.
Das Problem der Grenzziehting
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Das Problem der Grenzziehung
In einer seiner letzten Schriften scheint Ernst Cassirer den Kulturbegriff in einer ahnlichen Weise zu gebrauchen wie Wittgenstein. Kultur ist, so Cassirer „die Totalitat der Lebensformen, in denen sich menschliches Leben vollzieht".39 Cassirer, der vom Neokantianismus gepragt war, betonte allerdings die Vermittlungsfunktion der Kultur zwischen dem „Ich'' und der „Welt"4o - eine Deutung, die auch Husserls Konzept der Lebenswelt enthalt. Wittgenstein hingegen bemiihte sich in seiner spateren Phase, die dualistische Trennung zwischen dem „Ich" und der „Welt", die das Fundament des Mentalismus darstellt, zu iiberwinden. Wittgenstein erlautert seinerseits nicht, was er genau unter Lebensform versteht. Der Unterschied seiner Konzeption zur phanomenologischen Lebenswelt besteht in der praktischen Ausrichtimg seiner Gesamtauffassung. Wahrend man in der Phanomenologie die Lebenswelt als intersubjektiven Erlebnis- und Erfahrungshorizont betrachtet - Lebenswelt ist „die anschauliche Welt des konkret wirklichen Lebens (...), die wirklich wahmehmungsmafiige gegebene, die je erfahrende und erfahrbare Welt" (Edmund Husserl) imd das „gemeinsame geteilte Wissen, das sozial abgeleitet und sozial gebilligt ist" (Alfred Schutz)4i _^ scheint Wittgenstein eine Lebensform operationell zu begreifen. Lebensform ist fur ihn eine Ganzheit bestehend aus strukturierten Handlungsformen bzw. sozialen Praktiken mit innewohnenden und nicht-darstellbaren Sets von Regeln. Lebensformen haben fiir Wittgenstein einen absoluten Status. Sie stellen den Rahmen dar, aus welchem heraus unsere Urteile
39 Cassirer 1994 (1942), 76. 40 Siehe Cassirer 1994 (1942), 31. 4^ Husserl 1954 (1936), 43, 49; Sdiiitz, Alfred: „Hiisserls Bedeutimg fur die Sozialwissenschaften'' (1959), in Schiitz 1971, 168f. Siehe auch Waldenfels 1985, sowie Schiitz/ Luckniann 1979/1984. Fiir Husserl ist diese „anschaultche Welt" urmriittelbar gegeben, d.h. sie bedarf nicht der Vermittlung durch die Sprache (Husserl 1954 (1936), 42). Damit grenzt er die Lebenswelt von der wissenschaftlichen Anschauung, die begriffsgebunden ist, ab.
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Grundlagenfragen der Kulturforschung
gefallt werden. Lebensformen konnen nach seinem Dafiirhalten nicht direkt reprasentiert werden, well sie hinter bzw. vor der Sprache stehen. Die Nicht-Darstellbarkeit der Lebensformen - eine Auffassimg, die Theoretikerlnnen mit strukturalistischem Hintergrund, wie z.B. Bourdieu imd Foucault so nicht teilen - bereitet ein grundsatzliches epistemisches Problem. Wenn wir den Kontextbegriff sehr weit, d.h. tiber die konkrete Situiertheit begreifen imd ihn mit „Lebensform" identifizieren, dann stellt sich die Frage, wie diese holistische Auffassimg des Kontextes eines kulturellen Gegenstandes aufgezeichnet werden kann. Miissen wir, um Cezannes „Mont St. Victoire" zu erklaren, die Gesamtheit der kulturellen Praktiken in Frankreich des 19. Jahrhunderts und die Geschichte der Malerei spatestens seit Nicolas Poussin beschreiben? Die Kontextualisierung markiert also einerseits die Moglichkeiten und Grenzen kulturwissenschaftlicher Analysen und andererseits fordert er eine kritische Abklarung der erwogenen Beziige. Es gibt emste Griinde und die Versuchung ist grofi, den Kontextbegriff bis zur Uferlosigkeit zu erweitem oder ihn imendlich zu pluralisieren. „Der Kontext", so beispielshalber Lawrence Grossberg, „ist nicht nur ein blofier Hintergrund, sondem die Bedingung dafiir, dafi etwas moglich wird. (...) Kontext ist alles imd alles ist kontextueir'42. Auch wenn man bereit ist zu akzeptieren, dass die Kontextualisierung ein kreativ-interpretatives Verfahren ist - „alles ist mit allem vergleichbar" (Paul Valery) -, so kommen wir meines Erachtens nicht umhin, unsere Bestimmung des Kontextes einzugrenzen. Die Eingrenzung und Prazisierung des Kontextes ist notwendig, um die Komplexitat sinnvoll zu reduzieren, um Uberblick zu gewinnen und operativ zu bleiben. Die Einsicht, dass „alles Kontext ist" und „alles mit allem vergleichbar ist", schliefit eine massive Verfalschung des Untersuchungsgegenstandes durch unsere Analyse und Interpretation nicht aus. Das bedeutet, dass wir selbst aus einem pluralistischen Standpunkt heraus agierend nicht
42 Grossberg, Lawrence: „Was sind Cultural Studies?'', in Homing/Winter 1999,59f.
Umfang iind Bestiimnbarkeit des Kontextes
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jede Interpretation als gleichberechtigt oder begriindet erachten konnen. (Man denke an die Ausstellung „Entartete Kiinst", die 1938 durch Deutschland reiste.) Wir begegnen hier einem ahnlichen Problem wie jenem, das ich schon vorhin im Zusammenhang mit der Frage der Pragmatik im Interpretationsprozess erwahnt habe: Als Wissenschafterlnnen sind wir gezwungen, Entscheidungen dariiber zu treffen, welche Aspekte uns wichtig iind welche ims belanglos erscheinen. Hier laufen wir natiirlich Gefahr Fehleinschatzimgen zu treffen und dafiir kritisiert zu werden. Wissenschaftliche Forschung existiert indessen nicht ohne normative Voraussetzungen. Nicht alle diese Voraussetzimgen konnen explizit gemacht werden, aber dort, wo es moglich ist, soUten sie transparent sein. Die naiven Hoffnungen des (als „frohlich'' oder „emst" konzipierten) Positivismus, namlich mittels inhaltsneutraler Methoden und normenfreier Grundbegriffe operieren zu konnen, gehoren endlich in ein ideengeschichtliches Museum. 3.8
Umfang und Bestimmbarkeit des Kontextes
Skeptikerlnnen, wie zum Beispiel Jacques Derrida, meinen, es sei nicht moglich den Kontext zu bestimmen. Jeder Versuch, den Kontext einzugrenzen sei willkiirlich, arbitrar und daher unbegriindbar.^^ Obwohl ich am Kontextkonzept festhalte, mochte ich Derridas Hinweis auf die Arbitraritat der Festlegung des Kontextes ernst nehmen. Ich telle ebenfalls die Meinung, dass der Kontext weder empirisch vorgegeben, noch durch einen Evidenzbegriff zu rechtfertigen ist. Das heifit, die Konzeption eines originaren, zeit-raumlich vorgegebenen und empirisch iiberpriifbaren Kontextes, wie sie die historische Hermeneutik entwarf, wird zuriickgewiesen. Ebenfalls problematisch ist die Heranziehung der Intentionen des Urhebers/der Urheberin (sofem er oder sie bekannt ist)
43 Derrida begriindet seine These rrdt einer Theorie iiber die Operationsmodi von Zeichen (Dissemination). Kontexte haben folglich keine Verankerung, sondem dienen der Erftndung neuer Verweisungszusarmnenhange. Siehe Derrida, Jacques: „Signatur, Ereignis, Kontext" (1971), in Derrida 1988 (1972), 304 und 292f., 299.
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Grundlagenfragen der Kulturforschimg
als authentischer Bezugspunkt, well man sich damit in die Gruft der Subjektmetaphysik hineinkatapultiert. Um diese Falle zu vermeiden definiert der Kunsthistoriker Michael Baxandall den Kontext als „die Beziehung zwischen dem Objekt imd seinen Rahmenbedingungen"44. Die Rahmenbedingimgen sind „spezifische Vorgaben", so Baxandall, die die Erschaffung eines Werks und die konkrete Wahl der Mittel erklaren konnen. Diese Vorgaben ergeben sich in letzter Instanz aus den kulhirellen, praktischen und pragmatischen Rahmenbedingimgen, die einen konkreten Fall begleiten. Ich zweifle jedenfalls, ob diese Rahmenbedingimgen dem Objekt eigen sind, d.h. seine eigenen Rahmenbedingimgen sind. Das wiirde, wenn man Baxandall Folge leistet, bedeuten, es miisste zwischen dem Objekt und einem Sachverhalt eine intrinsische und notwendige Beziehung geben. Der Hintergedanke dieser Annahme ist plausibel: Es konnte unter anderen Umstanden der Fall sein, dass sich der Gegenstand (ein Artefakt, eine Handlung, eine Relation), den wir untersuchen, anders entwickelt hatte. Es ist aber fragwiirdig, ob und warm ein bestimmter Sachverhalt als kausale Ursache (d.h. als Bedingung) fur einen kulturellen Gegenstand gilt. Wenn wir tatsachlich keine strikten Kausalbeziehungen zwischen einem Gegenstand und der aufieren Situation, in der er sich befindet, formulieren konnen, dann ist die Bestimmung des Kontextes selbst, das In-Beziehung-Setzen des Untersuchungsgegenstandes zu anderen Sachverhalten und Aussagen, ein Interpretationskonstrukt.45 Die Bestimmung des Kontextes ist somit dezisionistisch, genauer gesagt ein selektives Aspektsehen, das sich zum Teil auf praktische, sprich operative Kriterien griindet. Demzufolge reprasentiert der Kontext kein festes, statisches Konzept, sondern er ergibt sich:
44 BaxandaU 1990 (1985), 82f. iind 86ff. 45 Ziir Unvollstandigkeit jeder Kontextbeschreibiing siehe auch Maclntyre 1995 (1981), 135139.
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Umfang xind Bestiminbarkeit des Kontextes
aus der allgemeinen Ambiguitat des Sinns und der Einsicht der Perspektivitat imserer Sichtweise, aus einem assoziativ-interpretativen Prozess sowie aus der immanenten Kontingenz der kulturellen Phanomene. (Mit immanenter Kontingenz meine ich, dass die konkrete Existenzweise eines kulturellen Phanomens nicht als Notwendigkeit gerechtfertigt ist. In der Welt der Sozial- und Kulturwissenschaften sind die Phanomene trotz ihrer Faktizitat niemals logisch oder ontologisch notwendig.) Der hier schrittweise skizzierte Kontextbegriff kann formal-analytisch exakter erlautert werden. Der Kontext erstreckt sich wie ein breites Netz iiber das soziale Feld, das die Bestimmung und Sichtbarkeit des untersuchten Gegenstandes pragt. Es hat folglich eine temporare sowie eine raumliche Dimension. Innerhalb dieser Koordinaten konnen wir vielschichtige Beziige konstruieren, die in drei kategorialen Ebenen eingeordnet werden konnen:
A Vor-Feld Um-Feld Nach-Feld
Kontext
<
A V
— >
Ni/
raumliche Ebene
^
^
Intentionalitat tmd Intertextualitat
Figur 1 Analytische Darstellung des Kontextkonzeptes
Entsprechend dieser schematischen Darstellung haben wir vier Koordinaten (siehe Doppelpfeile) sowie drei kategoriale Konzepte (Vor-, Um-, Nach-Feld), die den Kontext analytisch prazisieren. Die raumliche Ebene bezeichnet das Wo, den Ort des Auftauchens und Gegebenseins des Untersuchungsgegenstandes. Dieser Ort wird als Raum bestehender sozialer Beziehungen aufgefasst. Die temporare Ebene bezieht sich auf das Warm, auf die Zeitlichkeit. Die Modalitat meint das Wie, die dis-
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Grundlagenfragen der Kulttirforschung
kursive und praktische Existenzweise des Gegenstandes. Schliefilich gibt es die Intentionalitatsebene, die den Kommunikationszusammenhang beschreibt. Von wem (Senderin), fiir wen (Adressatin) und wozu (Absicht) wird ein symbolisches Gebilde geschaffen oder eine Handlung voUbracht? Der hier verwendete Intentionalitatsbegriff spricht also nicht nur die Intentionalitat eines individuellen Bewusstseins an, sondern auch die pragmatische Situiertheit eines Sachverhalts. Die Intertextualitat umfasst die mimetischen und kritischen Beziige des Untersuchungsgegenstandes zu anderen Gegenstanden. Alle vier genannten Koordinaten haben jedenfalls einen doppelten Bezug: erstens den untersuchten Gegenstand und zweitens die Forschenden bzw. das Beobachtungsfeld.^^ Die drei kategorialen Konzepte Vor-, Um- und Nach-Feld beziehen sich explizit auf den Rahmen des untersuchten Gegenstandes.47 Das VorFeld umfasst das, was zeitlich und raumlich vor dem Untersuchungsgegenstand vorhanden bzw. wirksam ist. Das, was parallel bzw. gleichzeitig vorhanden und wirksam ist, wird unter Um-Feld subsumiert. Das Nach-Feld schliefit weiter all jene Beziige ein, die zeitlich und raumlich nachfolgen. Neben dieser kategorialen dreistufigen Gliederung konnen die einzelnen Elemente des Kontextes nach Umfang, Ordnung, Frequenz, Dauer, Intensitat etc. untersucht werden. 3.9
Erlauterungen und Konsequenzen
Eine allgemeine epistemologische Grundvoraussetzung vieler Kontextkonzepte ist die Annahme, die „Welt'' bestehe aus Relationen und nicht
^ Zur kontextuellen Analyse der Wissenschaften siehe Johannessen, Kjell: „Sinnkonstitution und Wissenschaftsgeschichte. Zur Formulierung der Grundzxige einer Historiographie der Wissenschaften'", in Bohler/Nordenstam/Skirbekk 1986,66f. 47 Die Konzepte Vor-, Um- und Nach-Feld weisen einige Ahnlichkeiten zu Gerard Genettes Paratextbegriff auf. Genette definiert „Paratext = Peritext + Epitext''. Mit dieser Definition will er die IntertextuaHtat in eine Transtextualitatsfheorie erweitem. (Genette 1992 (1987), 13.)
Erlauterungen imd Konsequenzen
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aus isolierten Gegenstanden.^s Diese Annahme wird im AUgemeinen von Theoretikerlnnen, die den Kontext als zentrales Konzept ihrer Forschungsmethodik erachten, als basal betrachtet. Die Berufung auf einen wirksamen Kontext, der die kulturellen Phanomene tragt und mitkonstituiert, hatte (und hat immer noch) nicht nur eine philosophische, sond e m auch eine politische Relevanz.49 Damit wird betont, dass kulturelle Phanomene Produkte eines sozialen Konglomerats sind, und dass ihr Konstitutionsprozess eine Angelegenheit ist, die uns alle betrifft. Manche Kulturwissenschafterlnnen gehen einen Schritt weiter: Die Thematisierung der Konstruiertheit kultureller Phanomene impliziert, dass diese Entitaten veranderbar sind. Ein Musterbeispiel, das die sozialkritische Sprengkraft der Kontextualisierung aufzeigt, ist der Ausgangspunkt des Feminismus als politische Bewegung, namlich die Feststellimg (hier in Anlehnung an Simone de Beauvoir): Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird dazu gemacht. Der Appell dieser Aussage ist unmissverstandlich: Kulturelle Konstrukte, wie „die Frau" konnen umorganisiert werden - falls die Menschen es woUen imd sich dafiir einsetzen. Kontextualisierimg iiberschreitet also oft die Erkenntnisinteressen der Wissenschaft, um politische und normative Anliegen zu verfolgen. Das Konzept des Kontextses ist unentbehrlich, wenn Menschen beginnen, kulturelle Phanomene antiessentialistisch zu betrachten. Zugleich gilt es drei Gefahren rechtzeitig zu umgehen. Erstens die Auffassung, Kontext bestiinde aus einer objektiv gegebenen Anzahl von Fakten, die wir mittels empirisch-soziologischer oder historischer Methoden erfassen konnen. Zweitens die Interpretation des Kontextes ausschliefilich als Determinationsinstanz. Drittens die Deutung des Kontextes als Topos der Erschaffung des ursprungUchen und eigentlichen Sinns des
48 Siehe Cassirer 1990a (1910); Russell, Bertrand: „C)n the Notion of Cause'' (1912/13), in RusseU 1952 (1950); Wittgenstein 1984 (1921); Camap 1998 (1928). 49 Daraus lasst sich „eine PoUtik der Interpretation" konzipieren - siehe Said, Edward: „Opponents, Audiences, Constituencies and Community'' (1982), in Foster 1991 (1983), 135.
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Grundlagenfragen der Kiiltiirforschung
Untersuchungsgegenstandes. Kontext, so die Kemfolgerung, ist nicht schon „da" als factum brutum, sondem entsteht simultan mit der Konstitution unserer Begriffe, Methoden und Untersuchimgsgegenstande. Was ich allerdings mit manchen De- und Konstruktivistlnnen gar nicht teile, ja was ich sogar fiir sinnlos halte, ist jene Aussage, die gewohnlich von einem leichten Schulterzucken begleitet wird: „Was ein Kontext ist das kiimmert mich wenig. Was auch immer 'Kontext' bedeutet, ich kann mich jederzeit auf ihn beziehen und ihn ganz nach meinem Belieben kommentieren." Eine solche Unbekiimmertheit beruht darauf, dass der Dekonstruktivismus und manche Spielarten des Konstruktivismus die Moglichkeit, einen Trager fiir den Text zu finden zwar akzeptieren, aber nicht gewillt sind, diesen Trager als eine stabile Substruktur oder als Grimd anzuerkennen. Das, was andere vielleicht als „das Reale" hinnehmen, deuten (De-)Konstruktivistlnnen allgemein als Simulakrum. Eine solche generelle Vemeinung und Ablehnung jeglichen Realitatsbegriffs und die Insistenz auf die Ununterscheidbarkeit zwischen einem Objekt und seiner Beschreibung, zwischen Diskurseffekten und Wirklichkeit, widerspricht indessen der ursprunglichen Intention des Deund Konstruktivismus, namlich universalistische Behauptungen zu kritisieren und zuriickzuweisen. Die eigentlichen Probleme und Schwierigkeiten ergeben sich allerdings, wenn wir bis in die Wurzel des Problems weiterbohren. Ist zum Beispiel „Vergewaltigung" nur ein diskursives Produkt also blofi Gegenstand einer erweiterten Linguistik? Anders gefragt: Warm ist es sinnvoU, „Vergewaltigimg" blofi als Benennungsakt zu betrachten? Was besagt die These, dass die Bezeichnung Pinochets als „Diktator, der vors Gericht gehort" genauso sozial konstruiert sei, wie die Behauptung „Pinochet ist ein Patriot, well er Chile vor dem kommunistischen Komplott gerettet hat"? Wenn die Gleichstellung der Aussagen vorerst nur epistemologisch gemeint ist, welche praktischen Folgerungen hat dies? Warum haben eigentlich die Opfer systematischer Folter und die Stimmen der Hinterbliebenen ermordeter Gefangener die gleiche Geltungskraft, wie die Stimme jener, die damals gegen die „rote Gefahr" kampften und heute gegen das „Gutmenschentum" wettem? Der De- und Konstruktionismus tendieren teilweise zur alten Lehre des Solipsismus, weil beide alles auf Diskurskonstruktionen zuriickfuhren. Es gibt jedenfalls ~ davon bin ich fest liberzeugt - Dinge oder Sachverhalte, die unabhangig von Diskursen bestehen, imd deren Exis-
Erlauteningen tind Konsequenzen
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tenz emst genommen werden sollte. Natiirlich haben wir gewissermafien nur „Bilder" von diesen Sachverhalten und die Erklamngen steuem iinser Handeln und unseren Umgang mit ihnen. Es macht deshalb einen Unterschied, ob wir AIDS als Strafe Gottes oder als eine Viruskrankheit betrachten. Weil unsere Bilder von einem Ding oder Sachverhalt veranderbar sind, konnen wir bis zu einem gewissen Grad in den Lauf der Dinge eingreifen, z.B. neue Therapiemethoden erfinden oder wichtige Vorkehrungen treffen. In diesem Sinne diirfen wir beispielsweise Gewalt, Folterungen oder rassistische Diskriminierung nicht blofi linguistisch als „disseminierende" (d.h. polysemisch zerstreute) Zeichen auffassen. Die Kontextualisierung, die ich vorschlage, will nicht objektivieren. Sie stellt einen pragmatischen Zugang dar. Das Wort pragmatisch hebt den intentionalen Aspekt von Kontextmodellen hervor: Von went, fur wen, wann und wozu wird ein Gegenstand fokussiert und kontextualisiert? Kontexte konnen trotzdem nicht vollkommen beliebig konstruiert werden. Soziale Institutionen, gesellschaftliche Normen, der Usus, Diskurstypen strukturieren die kontextuelle Rahmung eines Gegenstandes. Dariiber hinaus gibt es ein epistemisches Argument fiir die Prazisierung des Kontextbegriffs: Kein Gegenstand existiert an sich als leibnizsche Monade; sein Sein ergibt sich durch seine Verflechtung mit anderen Gegenstanden und Relationen. Der Kontextbegriff benennt also ein Biindel von Relationen.50 Die These lautet folglich: In den Sozial- und Kulturwissenschaften konstituieren sich die Gegenstande kontextuell und interaktiv. „Das inter-", wie Ian Hacking schreibt, „deutet auf die Weise hin, in der die Klassifikation und das klassifizierte Individuum interagieren konnen."5i Das heifit, dass selbst Gegenstande und Sachverhalte, die relativ unabhangig von sozialen Praktiken und Diskursen existieren (man denke an Geburt, Tod u.a.), von der Art und Weise beeinflusst
50 Man kann statt vom Kontextualismus, falls jemandem das Wort zu textuaUstisch erscheint, auch vom Relationismus sprechen. 51 Hacking 1999,165, siehe auch 163ff.
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Grundlagenfragen der Kulttirforschung
sind, wie wir sie erleben, artikulieren und wie wir sie anschliefiend erklaren und bewerten. Diese „Bilder" beziehen sich nicht nur auf Gegenstande, sondem sie wirken zugleich auf uns selbst; ihre Ausformung kann fiir uns identitatspragend sein. Kontextualitat und Interaktivitat als Konstitutionsmodus der „Welt" bedeuten eine Absage an jedes Autonomiepostulat sowie an jede Theorie, die die radikale Verselbstandigung von Zeichen und eine unendliche Bedeutungsfluktuation postuliert. Das Vorhanden- und Wirksamsein des Kontextes ist nicht im ontologischen Sinn gemeint. Entdeckung und Erfindung, Offenlegung und Auslegung sind untrennbar miteinander verkniipfte Momente jeder Kontextkonstruktion und Kontextanalyse. Meine gesamte Argumentation iiber die Kontextualisierung kultureller Phanomene basiert auf einem interpretativen Ansatz, ist aber erkenntnistlieoretisch gesehen konstruktionistisch.
4 Institutionelle Annaherung
4.1
Institution als zentrales Konzept der Kulturtheorie
Die Sozial- und Kulturwissenschaften bemiihen sich die Verschrankung zwischen Kultur und Alltag zu beschreiben, indem sie nach dem Modus der Produktion und Reproduktion von Kulturgegenstanden und sozialen Praxen fragen. („Soziale Praxis" meint nicht blofies Tun, sondern Handeln in einem historischen und sozialen Kontext, der die Form und den Sinn des Handelns vorstrukturiert.) Ausgehend von der Beobachtung, dass kulturelles Verhalten ein regelgeleitetes Verhalten und Regelhaftigkeit ein elementares Merkmal jeder Kultur ist, wird der Institutionsbegriff eingefuhrt, urn diese beiden Charakteristika zu erklaren. Der Riickgriff auf den Institutionsbegriff ist sinnvoll und legitim, weil sonst Kulturen als spontane und voraussetzungslose Hervorbringungen eines geheimnisvollen deus ex machina erscheinen wlirden. Wenn aber Tatigkeiten iiber langere Zeit, haufig und verbreitet im sozialen Raum vorkommen, dann sind sie - so die zu iiberpriifende Hypothese - strukturierte soziale Praktiken oder, anders ausgedriickt, institutionalisierte Sets von Handlungen. Um menschliches Handeln organisieren und koordinieren zu konnen, bediirfen Institutionen impliziter und expliziter Regeln. Institutionen und Regeln beziehen sich rekursiv aufeinander.i Institutionen und ihre Regeln erzwingen also bestimmte Praktiken bzw. generieren, handlungstheoretisch gesprochen, kollektives Handeln und in der weiteren Folge gemeinsame Lebensformen - siehe auch Kap. 11-12. Erst die gemeinsamen Lebensformen ermoglicht die Produktion kollektiver Symbole, geteilter Identitaten und ritueller Praktiken, d.h. eine Kultur.
I Siehe auch Giddens 1997 (1984), 69,76; Luckmann 1980,134f.; Wagner 1995 (1994), 46f.
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Institutionelle Annaherung
„Die Institution ist", schreibt George Herbert Mead, „eine gemeinsame Reaktion seitens aller Mitglieder der Gemeinschaft auf eine bestimmte Situation. (...) Somit sind Institutionen der Gesellschaft organisierte Formen der Tatigkeit der Gruppe oder der Gesellschaft. "2 Unter Institution wird hier eine auf Dauer eingestellte, zweckgerichtete Instanz oder Einrichtung verstanden, die in den Interaktionsprozess zwischen den Mitgliedem einer Gesellschaft konstitutiv und regulativ eingreift. Institutionen konnen entweder eine sehr allgemeine Form haben (Eigentum, Ehe, Religion u.a.), die normativ untermauert ist, oder konkrete, nach aul?en hin abgeschlossene organisatorische Einheiten sein (z.B. privatrechtliche Organisationen, Korperschaften offentlichen Rechts u.a.). Die wichtigsten Institutionen einer Gemeinschaft praexistieren, so dass wir in eine institutionell strukturierte Welt existenziell „hineingeworfen" werden.3 Die Geworfenheit in eine institutionalisierte Welt macht die Partizipation weitgehend vom individuellen Willen und Bewusstsein unabhangig. Es ist richtig, dass Institutionen menschliches Denken und Handeln formen, zugleich aber sind Institutionen auf das menschliche Mitwirken angewiesen. Es sind schliel?lich die Menschen durch ihre Praxis, die die Institutionen schaffen, erhalten und verandem. Der Wandel der Institutionen vollzieht sich einerseits intentional, wenn sich die Herrschaftsinteressen oder die politische Konstellation andem, andererseits von selbst, weil die Realisierung dessen, was eine Institution verkorpert und einfordert, nicht mechanisch-reproduktiv geschieht. Die Praxis der Regelbefolgung erzeugt permanent Differenzen, vielfaltige Verschiebungen und Briiche^ - siehe Unterkap. 12.4. Hans Joas betont deshalb die Kreativitat des Handelns, weil die determinierende Kraft der Institutionen nicht die determinierende Kraft des Tuns aufhebt.^ Wir konnen also von
2 Mead 1973 (1934), 308. 3 Siehe Mannheim 1969 (1929), 227. 4 Siehe Wittgenstein 1994a (1969), § 139; Wittgenstein 1977 (1953), § 81. 5 Siehe Joas 1996.
Fimktionale Aspekte
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einer Wechselwirkung zwischen Institutionen und kulturellen Praktiken sprechen. 4.2
Funktionale Aspekte
Institutionen existieren als Instanzen oder als Organisationen. Da sie stets Regeln schaffen und deren Einhaltung begehren, produzieren sie auch ursachlich Regelwidrigkeit und abweichendes Verhalten. Institutionen sind in ihrer Wirkung generativ und ordnungsstiftend. Man kann trotzdem auch Orte „au6erhalb" der Institutionen finden, aber diese Orte werden meist durch Exklusionsmechanismen von den Institutionen selbst geschaffen. Das „Draufien", das „Andere" wird also in der Kegel als Negation (als Devianz, Delinquenz, Wahnsinn, Fremdes, Nichtkunst etc.) definiert.6 Was ich damit sagen will, ist einfach: Soziale Institutionen spinnen ihre Netze iiber den gesamten sozialen Raum. Sie stellen daher das Grundgeriist der Gesellschaft und der Kultur dar. Die Teilnahme oder Nichtteilnahme in einem institutionell strukturierten Gesamtfeld generiert den sozialen, kulturellen, legistischen und okonomischen Status jedes Individuums/ Zusammenfassend lassen sich aus den vielen Aufgaben, die Institutionen wahrnehmen, einige Kemfunktionen extrapolieren, die eine strukturierende Wirkung auf ihr jeweiliges Feld haben: Regelung durch (Re-)Produktion von Werten, Normen, Giiter, Allokationsmodi, Knappheit; Herstellung einer Verbindung zwischen den Makro- und Mikroebenen des Sozialen; Homogenisierung und Koordination durch Interessenbiindelung, Durchsetzung einheitlicher verbindlicher Codes, Schaffung von Konsens;
6 Siehe Deleuze 1979 (1965), 115, sowie Deleuze/Guattari 1977 (1972), 34f. und 41. 7 Siehe Giesen, Bemhard/Schmid, Michael: „SymboHsche, institutioneUe imd sozialstruktureUe Differenzierung"' in Haferkamp 1990,110.
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Institutionelle Armaherung
Stabilisierung durch Psychotechnologien, Identitatsmuster, Konfliktsteuerung, sowie durch Disziplinierung, Sanktionsandrohung und Herrschaft. Diese Kemfunktionen weisen in erster Linie auf die ordnungsstiftende und ordnungsbewahrende Rolle der Institutionen hin. Es ist allerdings einseitig, wenn man Institutionen ausschliefilich als Bewahrerinnen des Status quo betrachtet. Institutionen entwickeln eigenstandige Prozeduren und sind somit in der Lage, sich fortwahrend selbst zu reproduzieren. Dennoch stellt dieser Prozess der Selbstreproduktion nicht automatisch eine statische und zirkulare Bewegung dar, sondem enthalt oft innovatives Potenzial. Institutionen sind also keine „geistlosen Apparate", die Entscheidungen, die anderenorts ausgedacht werden, umsetzen. Sie zeichnen sich durch Reflexion und Temporalitat aus. Das bedeutet, sie konnen sich ihrem Umfeld anpassen und zweckorientiert agieren.s 4.3
Institutionskritik
Da Institutionen hier als aktive Grundbestandteile des Sozialen gedeutet werden, sind sie in das Machtgefiige der Gesellschaft eingeschlossen. Um ihre Funktionen erfiillen zu konnen, sind sie deshalb mit unterschiedlichen Mitteln ausgestattet. Das Verfiigen iiber Macht und deren effizienter Einsatz sind entscheidend fur die Selbstreproduktion von Institutionen, derm Institutionen miissen sich durchsetzen, sonst sind sie keine. Die Existenzrechtfertigung von Institutionen fallt hochst unterschiedlich aus. Wahrend manche Theoretikerlnnen wie beispielsweise Arnold Gehlen, die Institutionen aus einer anthropologischen Sicht fiir unentbehrlich halten, formierte sich vor allem seit den 1930er Jahren eine radi-
8 Siehe Parsons, Takott: „Gnmdzuge des Sozialsystems'' (1961), in Parsons 1976, 161-274; Luhmann 1973,15ff; Lxihmann 1987 (1984), 79. Der Institutionsbegriff spielte librigens in Lxjhmanns Theoriebildung in den 1960er eine zentrale Rolle - siehe Ltihmann 1965, 13 sowie Luhmann 1970,113-136.
Institutionskritik
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kale Institutionskritik, die den repressiven imd totalitaren Charakter der Institutionen in den Vordergrund riickte. „Was ist daran verwunderlich", fragt Foucault, „wenn das Gefangnis den Fabriken, den Schulen, den Kasemen, den Spitalem gleicht, die allesamt den Gefangnissen gleichen?''9 Die verschiedenen Fro- iind Kontraargumente basieren grofitenteils auf unterschiedlichen anthropologischen und politischen Auffassungen. Nach Gehlens Theorie ist der Mensch ein Mangelwesen, das durch zu schwach ausgepragte Instinkte gekennzeichnet ist. Um sein Uberleben zu sichern, ist er auf stabile Institutionen angewiesen. Die Ablehnung der Institutionen, die seinerzeit insbesondere durch Vertreterlnnen der Kritischen Theorie artikuliert wurde, stellte fiir Gehlen eine Verkennung des anthropologisch begrtindeten Angewiesenseins auf soziale Strukturen dar.io Dagegen kann der Einwand erhoben werden, die Anthropologie konne die soziologische Analyse nicht ersetzen. Gehlens Deutung der Institutionen gleicht einer Naturalisierung des Gesellschaftlichen. Viele kritische Theoretikerlnnen folgen Gehlen nur so weit er feststellt, dass Gesellschaft und Kultur sich primar innerhalb institutioneller Rahmen vollziehen. Institutionen entstehen im Prozess der Formierung und Durchsetzung sozialer Anliegen, das heifit, sie haben einen instrumentellen Charakter.^i (Dieser Aspekt wird neuerlich vom Neo-Institutionalismus betont.) Trotzdem akzeptieren die Kritikerlnnen der affirmativen Institutionstheorie diese Argumentation nicht als Rechtfertigungsgrund fiir den totalitaren Charakter mancher Institutionen. Die Notwendigkeit eines normativen Diskurses iiber Institutionen wird leider auch von prominenten Soziologlnnen verkannt. Niklas Luhmann insistiert beispielsweise - ahnlich wie Max Webers und Talcott Parsons Wamung,
9 Foucault 1976 (1975), 292. Spater hat er allerdings Abstand von solchen Suggestionen genominen - siehe Foucault, Michel: „Technologien des Selbsf' (1988), in Foucault/ Martin 1993, 27. 10 Siehe Gehlen, Arnold: „Mensch und Institutionen", in Gehlen 1981 (1961), 69-77. " Siehe auch Taubes, Jacob: „Das Unbehagen an den Institutionen'', in Schelsky 1973, 68.
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Institutionelle Annaherung
Wissenschaft sei nicht Politik -, dass Soziologie nicht als Gesellschaftskritik verstanden werden darf. Luhmann hatte insoweit Recht, wenn er meinte, die Soziologie soUe nicht ausschliefilich normativ operieren. Doch in seinen Augen ist es Aufgabe der Soziologie festzustellen, „dass etwas sein und auch nicht sein kann, dass etwas ersetzbar ist/'^^ Ei^e solche Einstellung hemmt im Endeffekt die transdisziplinare Weiterentwicklung der Sozialwissenschaften. 4.4
Kulturinstitutionen und Kulturgiiter
Wir konnen vorerst Kultur als die Summe von Sinngebilden nnd Praktiken, die Menschen zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort zur Verfugung stehen, begreifen. Sinngebilde sind in einem konventionellen Medium artikuliert: Sprache, Bilder, Symbole u.a. Praktiken sind wiederum spatiale und temporare Prozesse, deren Sinnhaftigkeit aus ihrer situativen Einbettung gewonnen werden muss. Beides, Sinngebilde und kulturelle Praktiken sind in sozialen Institutionen integriert. Diese kormen eine gewisse Verselbststandigung aufweisen - man spricht dann vom Kultursektor oder Kulturbetrieb. Der Kulturbegriff im Kultursektor bzw. im Kulturbetrieb meint also all jene Produkte und Leistungen, die meist von professionell engagierten Leuten geschaffen, prasentiert und vermarktet werden. Will man die Produktions-, Distributionsund Konsumationsprozesse operationell verstehen, dann muss das Studium die Interaktion zwischen Produzierenden, Vermittlerlnnen, Managerlnnen und Konsumentlnnen eine zentrale Stellimg einnehmen: „Cultures cannot be understood apart from the contexts in which they are produced and consumed" - so auch Diana Cranes Credo.^^ Es ist folglich nicht ganz unbegriindet, wenn die meisten Autorlrmen im Fachgebiet der Kulturbetriebslehre, Kulturokonomie und Kulturmanagementlehre das Beiwort „Kultur-" (z.B. beim Begriff des Kultur-
12 Liihmann, NiMas: „Uber Ftmktion und Kausalitat'' (1962), in Luhmann 1970,15. 13 Crane 1992, ix.
Kulturinstitutionen imd Kulturgiiter
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gutes) in der Kegel institutionell definieren. Diese semantische Einengung muss nicht unbedingt eine neohumanistische sein, d.h. Kultur = Bildung = Hochkultur. Man geht im AUgemeinen davon aus, dass kulturelle Erzeugnisse verschiedenste Funktionen erfiillen konnen: Sie haben einen okonomischen Tauschwert und sind somit Wirtschaftsgiiter; sie stimulieren und befriedigen individuelle wie auch kollektive Bediirfnisse und generieren daher konkrete Erwartungen^^ z.B. nach Unterhaltung, Reflexion, Reprasentation. Aufierdem konnen sie Propagandazwecken dienlich sein; konstituieren Identitaten und Lebensstile; transportieren Aussagen und Werte usw. Diese Funktionen entfalten sich entlang zwischenmenschlicher Interaktionen. Neben dem tradierten und doch zu vereinfachten Beziehungsschema zwischen Senderin und Empfangerln oder Produktion und Rezeption gibt es eine Vielzahl von Vorgangen, die steuemd und gestalterisch auf solche Interaktionsprozesse wirken: Vermarktung, Prasentation, Vermittlung, rechtliche Regulierung, Archivierung, Bewertung und Kanonisierung, Forderung und Sanktionierung sind einige Beispiele. Solche Vorgange finden innerhalb des Kultursektors und konkreter Kulturorganisationen statt - siehe auch Unterkap. 6.3. (Die Betriebswirtschaftslehre und die Kulturmanagementtheorie bedienen sich iiblicherweise einer anderen Terminologie. Statt von Kulturinstitutionen und -organisationen spricht man dort von Kulturuntemehmen. Ein Untemehmen stellt einen Betriebstyp dar, dessen Produktionsfunktion, Wirtschaftlichkeit und finanzielles Gleichgewicht im Vordergrund stehen.i^) Die Teilnahme am Kultursektor, der ein komplexes institutionelles Feld darstellt, impliziert die Bindung an konkrete Verpflichtimgen, die Ubernahme mancher praktischer Regeln und Normen sowie die Unterwerfung unter
^4 Siehe Hasitschka, 1997, 35ff. Eine typologische Analyse von Kulturgiitem bietet Ryan 1992,74-91. 15 Siehe beispielsweise Wohe 1990 (1960), Iff.; Schreyogg, Georg: „Normensysteme der Managementpraxis'', in Fuchs 1993,21-34; Hagoort 2001,13f.
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Institutionelle Annaherung
bestimmte Inklusions-/Exklusionsmechanismen, aus denen die Institutionen ihre eigene Existenzberechtigung ableiten.^^ Die vielschichtigen Inklusions-/Exklusionsmechanismen der Kulturinstitutionen xind die damit verbimdene Hierarchisierimg der Kultur (hohe/populare, emste/unterhaltende, reflektierte/naive, professionelle/dilettantische, avancierte/konservative Kultur) wurden in der Modeme permanent diskutiert, doch es scheint, dass Institutionen nicht ganzlich abgeschafft werden konnen. Die Notwendigkeit Differenzen zu bilden und durchzusetzen, Evaluationskriterien zu etablieren und so eine hegemoniale Stellung aufzubauen, die eigenen okonomischen Interessen durch entsprechende asthetische Bewertungen abzusichem und mittels kultureller Symbole unterschiedliche Ziele zu verwirklichen, macht die Inanspruchnahme von institutionellen Strukturen selbst fiir Institutionskritikerlnnen unentbehrlich. Kulturinstitutionen bewirken und fordem somit auch das Gegenteil von Ausschliefiung, namlich Integration.^^ Kulturgiiter sind nicht immer auch Wirtschaftsgiiter. Viele Menschen sind kulturell tatig, weil es zu ihrer Lebensgestaltung gehort und es ihnen einfach Spafi macht. Bei all ihren Aktivitaten hegen sie dennoch keine professionellen Absichten. Von einer wirtschaftlichen Leistung kann hier also nicht die Rede sein. Erst von dem Moment an, in welchem Kulturgiiter in einem okonomischen Tauschprozess vorkommen, werden sie zu Wirtschaftsgiitern und Teil dessen, was man als Kulturbetrieb bezeichnet. („Betrieb" ist hier als makrosoziologischer Begriff gemeint.) Als Wirtschaftsgiiter verlieren Kulturgiiter keinesfalls ihren Status als kulturelle Giiter. Die okonomischen Tauschakte, die Kulturgiiter auslosen konnen, sind stets mit spezifischen Erwartungen imd kulturellen
16 Siehe Zembylas 1997, Kap. 3. 1^ Siehe auch Nida-RiimeHn, Julian: „Integration als kulturpolitische Leitidee in der sozialen Demokratie'', in Hoffmann 2001,244-256.
Kultxirinstitutionen und Kulturgiiter
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Wertvorstellungen gepaart.^^ Fiir die Transformation eines kulturellen Gutes in ein Wirtschaftsgut spielen also neben den (a) okonomischen Aspekten z.B. Nachfrage und Vermarktbarkeit auch (b) ausdriickliche Vorstellungen von der Zweckmafligkeit des Produkts (z.B. Reprasentationsqualitat, Offentlichkeitswirksamkeit, Reflexivitat) sowie (c) Rezeptionsmerkmale (z.B. Lesbarkeit, Unterhaltungswert) eine entscheidende Rolle. Aufierdem sind (d) die quantitativen und qualitativen Zielsetzungen^^ der Kulturorganisationen, die in diesem Transformationsprozess mitwirken ausschlaggebend fiir die Bestimmung des tatsachlichen Kulturangebotes.2o
Viele Theorien der betrieblichen Fiihrung von Kulturorganisationen und des Kulturmarketings fassen den Kulturbegriff entsprechend eng auf. Gemanagt soil demzufolge nur dort werden, wo okonomische Ressourcen zum Einsatz kommen, investiert, verteilt oder verwaltet werden sowie dort, wo der Zugang zu den relevanten Markten schwierig ist.21 Wo keine Kapitalzirkulation stattfindet, wo es keine kulturellen Wirtschaftsgiiter und -leistungen gibt, die eine wesentliche Rolle spielen, dort besteht auch kein Bedarf nach professionellem Kulturmanagement.
18 Jean Baudrillard in den 1970er Jahren sowie Scott Lash und John Urry in den 1990er Jahren haben argumentiert, dass imsere Gesellschaft eine Auflosung der Grenzen zwischen Kultur und Okonomie erfahrt: „Reflexivity is cultural, accumulation is economic. However, we use the term [reflexive accumulation] to enable us to capture how economic and symbolic processes are more than even interrelated and interarticulated; that is, that the economy is increasingly culturally inflected and (...) culture is more and more economically inflected.'' (Lash/Urry 1994,64.) Die daraus abgeleitete These von der KulturaHsierung der Okonomie geht also Hand in Hand mit der Rede von der Okonoinisierung der Kultur. 19 Da die quantitativen Zielsetzimgen (Quoten, Output, Ertrage) messbar sind, werden sie oft in den Vordergmnd gesetzt. Die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die quantitativen Ziele einer Kulturorganisation verdrangt die Auseinadersetzung mit ihren qualitativen Zielen, die meist implizit iind daher schwer darsteUbar sind. 20 Siehe Caves 1992; ERICarts 2003; Tschmuck 2003; Zembylas 1997, Kap. 2. 21 Siehe z.B. Bendixen, Peter: „Grundfragen des Managements kultureUer Einrichtungen", in Fuchs 1993, 73-88 und Heinrichs 1993, Iff.
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Sowohl das Kriterium der Nachfragedifferenzierung und der Bediirfnisbefriedigung, als auch definitorische Aspekte des Nutzens, der Erreichbarkeit und der Knappheit konnen fiir die Bestimmung dessen, was als Wirtschaftsgut verstanden werden kann, in Betracht gezogen werden. Die Grenzen zwischen vermarktbaren Kulturgiitem und kaum vermarktbarer Kultur sind allerdings weiterhin relativ elastisch. Diese Einengung des Kulturbegriffs im Kultursektor und in den einzelnen Kulturinstitutionen impliziert eine Strukturierung des Blickfeldes aller Menschen, die darin involviert sind. Demgemal? wird Kultur in diesem Zusammenhang eng mit Kreativitat, Prestige, geistigem Eigentum und Nutzungsrecht (im urheberrechtlichen Sinn) assoziiert. David Throsby betrachtet diese drei Merkmale als zureichende Griinde fiir die funktionale Definition von Kultur und kulturellen Leistungen innerhalb der Kulturokonomie.22 Das fuhrt zu einer bestimmten Sichtweise kultureller Phanomene. Wenn etwas zu alltaglich erscheint, dann wird ihm auch kein signifikanter okonomischer und semantischer Mehrwert zuerkannt. Das sind einige Griinde, die erlautem, warum nicht alles, was der breite Kulturbegriff der Kultur- und Sozialwissenschaften umfasst, im institutionalisierten Kultursektor vorkommt. Die engere Auffassung des Kulturbegriffs innerhalb der Kulturinstitutionen und der Berufspraxis veranlasst uns in der Folge, nicht alle Untemehmerlnnen, die kulturelle Leistungen anbieten (z.B. Bestattungsund Cateringfirmen, Beziehungs- und Outfitberaterlnnen usw.), als Kulturschaffende oder Kulturarbeiterlnnen anzuerkennen. Die sprachlichen Konventionen, die Berufsbezeichnungen wie KulturschaffendeR, Kulturarbeiterln oder Kulturmanagerin nur in Beziehung zu bestimmten Tatigkeitsfeldem gestatten, sind also nicht das Ergebnis einer blofi aufierlichen grammatikalischen Regelung. Unsere Sprachpraxis ist mit der sozialen imd kulturellen Praxis verkniipft. Wenn Begriffe wie beispielsweise „KiinstlerIn" umstritten sind, dann hangt das oft damit zusammen, dass
22 Throsby 2001,4f.
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die damit assoziierten kulturellen Praktiken imterschiedlich normativ kodiert sind. Das ist einer der Griinde, warum Begriffskonflikte oft kulturelle Konflikte sind - siehe Kap. 7. Neben den vielen pragmatischen und deskriptiven Kriterien, die den Kulturbegriff im wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs prazisieren, gibt es stets eine mitschwingende normative Dimension, die nicht zu vernachlassigen ist. Uberall wohin man blickt, in die Agenden der offentlichen Kulturforderung, in die Sammlungstatigkeit eines Museums, auf das Programm eines Volksmusikfestivals oder auf die Leitziele eines Kulturvereins, kann man feststellen, dass der jeweils implizit angewandte Kunst- oder Kulturbegriff nicht unendlich offen und polysemisch ist, wie manche poststrukturalistischen und semiotischen Theorien uns weismachen wollen. Die Einschrankung der semantischen Ambiguitat durch Werte, normative Kriterien und Taxonomien ist unvermeidbar und uneliminierbar.23 Werte sind die Bedingung dafiir, dass bestimmte Gegenstande symbolische und ostentative Funktionen iibernehmen und so erst iiberhaupt zu Kulturgiitem werden konnen. Die vielfaltigen (okonomischen, politischen, sozialen, ...) Werte, die Kulturgiiter verkorpern und transportieren, gehen mit einem Versprechen einher: Werte, was auch immer sie sind, konnen eingelost werden. Der Charakter dieses Versprechens ergibt sich aus der Tatsache, dass Werte virtuell sind. Aktualitat erlangen sie nur wenn sie funktionell wirksam werden. Die Aktivierung des Wertes eines Kulturgutses bedarf der kommunikativen Interaktion. Erst die soziale Anerkennung der Werthypothek („X" hat diesen oder jenen Wert) biirgt fiir das Wertversprechen und macht das Kulturgut zu einem koUektiven Gut der Gemeinschaft, die seine Wertigkeit anerkennt.
23 Die Aiifmerksamkeit der scientific community auf die Bedeutsamkeit der Werte wurde nach einer langen Pause (bedingt durch Nietzsches kritische „Genealogie der Moral'' und sein Pladoyer fiir eine „Umwertung aller Werte'O in den letzten Dekaden wieder intensiviert - siehe Klamer 1996, Hasitschka 1997, Joas 1999, Smiers 2003.
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Institutionelle Annaherung
Werte, Normierungen und Taxonomien sind folglich, sehr frei gesagt, eine Art „Bedingung der Moglichkeit", ohne die der Kultursektor nicht kodierbar und in der Folge von anderen Bereichen der Gesellschaft ununterscheidbar ware24 - siehe Kap. 9 und Kap. 13. Das bedeutet, dass der Kulturbegriff der Kulturorganisationen und die Konzeption von Kulturgiitem im Tauschprozess normativ impragniert sind.^s Zahlreiche Personen, die im Kultursektor professionell involviert sind, scheinen allerdings durch die Uberlappung von Kultur und Normativitat verunsichert und beangstigt. Sie neigen daher dazu, regelmafiig zu vemeinen, dass die Kulturproduktion (oder die Kulturpolitik) von einer Ideologie kontaminiert wird. Die Managementlehre stellt fiir viele eine Art Rettungsring, einen erlosenden Hoffnungsschimmer dar, denn „der Manager" charakterisiert, wie Alasdair Maclntyre es einmal ausdruckte, „die Hauptperson der zeitgenossischen Szene".26 AIS sozialer Typus verkorpert er nicht nur Erfolg, Macht und Reichtum, sondern auch das ideale Bild eines niichtemen, praktischen und zugleich pragmatischen Menschen. Man braucht sich nicht wundem, wenn Kulturpolitikerlnnen stets auf der Suche nach Managerlnnen und Managementberatungsfirmen sind, um Stadttheater, offentliche Museen oder schwach besuchte Musikfestivals in irgendwelchen Tourismusregionen auf Vordermann zu bringen. Diese Tendenz zur „Vermanagerung" nicht nur der privaten, sondern auch der offentlichen Kulturbetriebe ist zweifelsohne empirisch nachweisbar.27 Werner Heinrichs wamt zu Recht vor der „gro6en Gefahr fiir jeden Kulturmanager: Nur ailzu leicht kann er der Versuchung erliegen, kulturelle Inhalte sekundaren Vermittlungs- und Managementzielen unterzuordnen^^s - siehe auch Unterkap. 13.8.
24 Siehe auch Bourdieu 1999 (1992); Luhmann 1994. 25 Siehe WilHams 1968 (1958), Williams 1983 sowie Zembylas 1997,57,185. 26 Siehe Maclntyre 1995 (1981), 102ff. 27 Siehe Peterson, Richard: „From Impresario to Arts Administrator: Formal Accountability, in Nonprofit Cultural Organisations'', in DiMaggio 1986,161-183 sowie Grasskamp 1992, 90f. 28 Heinrichs 1993,6f.
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4.5
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Politische Okonomie der Kultur
Die Frage, ob kulturelle Giiter als gewohnliche okonomische Giiter betrachtet werden konnen, ist ein immer wiederkehrender Topos der Kulturbetriebslehre und der Kulturokonomie. Die Tatsache, dass die Positionen dazu teilweise weit auseinander liegen, kann als Hinweis fiir die spannungsreiche Beziehiing zwischen Kultur und Okonomie gelten. Werte sind die Bedingung dafiir, dass etwas zum Gut und in der weiteren Folge Gegenstand von Tauschakten wird. Die Werte, die Kulturgiiter transportieren, sind vielfaltig. Deshalb ist die Auffassung der neoklassischen Okonomie, dass eine Preistheorie eo ipso eine Theorie des Wertes ist, nicht gerechtfertigt. Richtig ist lediglich die Behauptung einer Relation zwischen kulturell determiniertem Wert und Preiswert. Diese Relation ist aber weder analog noch homolog; der Preis eines Kulturgutes stellt keine funktionale Aquivalenz^^ zu seinem Wert dar. Werte iiberschreiten die Okonomie des Tausches. (Etwas kann fiir jemanden wertvoU sein, unabhangig von seinem Tauschwert.) Meine Insistenz auf einen sozialen und kulturellen Wertbegriff geht somit mit dem Versuch einher, kulturelles Verhalten mittels „dichter Beschreibungen", d.h. jenseits des Behaviorismus und der okonomischen Rationalitatstheorie zu erfassen - siehe auch Unterkap. 13.7. Wenn Kulturgiiter oder kulturelle Leistimgen als Produkte bzw. als Dienstleistungen definiert werden, dann werden sie gleichzeitig als Tauschobjekte begriffen. Produkte und Dienstleistungen lassen sich im Geiste der klassischen Okonomie als Funktion der Nachfrage und der Kaufentscheidimg erlautern. Francois Colbert definiert folglich „Produkt [als] die Palette von Giitern oder Vorteilen, die von Konsumenten wahr-
29 „Fxmktion'' bezieht sich aiif mehrdeutige Beziehungen („X steht in einer mehrdeutigen Relation zu Y/'). Eine Fimktion verbindet X mit Y und zwar so, dass es zu einer sinnvoUen Behauptung konrnit - siehe auch Wittgenstein 1984 (1921), §3.318, §4.24 und §5.25. Aquivalenz wiederum bedeutet Gleichwertigkeit und gegebenenfaUs Substituierbarkeit.
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Institutionelle Annahenmg
genommen werden"3o. Hier werden die Begriffe Produkt und Gut synonym gebraucht. (Praferenzen werden von den meisten Okonomlnnen iiblicherweise nicht diskutiert. Man betrachtet sie als verborgene individual- oder sozialpsychologische Phanomene, die durch die private Zahlungsbereitschaft unmittelbar abgebildet werden.^i) Dringt also ein Kulturgut in die Sphare des Marktes ein, dann erfahrt es eine Transformation. Da der Markt selbst ein Feld mit eigenen Wertungen ist, impragniert er jedes Objekt, das eine okonomische Funktion einnimmt, mit seiner eigenen Wertelogik. Das bedeutet allerdings nicht, dass alle anderen Werte, die ein Kulturgut reprasentiert und generiert in den Hintergrund geraten. Vielmehr formen sich komplexe Werte- und Funktionsverflechtungen, die charakteristisch fiir Kulturgiiter sind. Die gegenteilige Auffassung, dass Kunst und Kultur nichts oder nur sehr wenig mit der Okonomie zu tun haben, geht auf die neohumanistische Konzeption des Kulturbegriffs zuriick: Kultur im Sinne von geistiger Freiheit und Propadeutikum zur Sittlichkeit (Friedrich Schiller) liegt jenseits eines messbaren Wertes. Innerhalb der marxistischen Tradition wurde ebenfalls die exzessive Kommerzialisierung der Kultur kritisiert. Marxistlnnen betrachteten kulturelles Schaffen als angebotsseitige Tatigkeit, wahrend Markte primar nachfrageseitig operieren. Sie beklagten, dass Kulturschaffende bei der nachfrageorientierten Denklogik des kapitalistischen Marktes auf wenig Verstandnis fiir ihre Produktionsweise stol?en. Dariiber hinaus waren sie iiberzeugt, dass in der Verdinglichung der zweckfreien, kreativ-kiinstlerischen Arbeit imd der Transformation von Kulturgiitem zu Waren mit Fetischcharakter eine Ausbeutung und Entfremdung in gesteigerter Potenz stattfindet.32
30 Colbert 1999 (1994), 35. 3^ Kritik an der rednktiordstischen Betrachtungsweise der klassischen Kulturokonomie libt Arjo Klamer in Klamer 1996, 47. Zu einer differenzierten Diskussion von Praferenzen siehe Sen, Amartya: „Sozialwahl und individueUes Verhalten'', in Sen 2000 (1999), 297334. 32 Siehe exemplarisch Debord 1996 (1967).
Politische Okonomie der Kultur
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Eine differenzierte Position nehmen beispielsweise diejenigen ein, die die Besonderheit der Giiter, die im Kultursektor angeboten werden, hervorheben. Diese sind nur partiell materielle Giiter; ihre immaterielle Seite, ihre syrribolisch-koinmunikative Dimension macht sie zu einer speziellen Art von Giitem. Ihrer Eigenart hat der Kunstmarkt Rechnung getragen iind Praktiken entwickelt, die ihn von anderen Markten teilweise abheben - Pierre Bourdieu spricht daher vom „Markt symbolischer Giiter^^s. Diese Position basiert auf dem Argument, dass Kunst und Kultur, da sie mit koUektiven Identitaten zu tun haben, nicht nur als Privatgiiter zu sehen sind.34 Der Markt besitzt eine Faktizitat, die auch jenseits von Gut imd Bose gedacht werden sollte. Generell gegen Markte zu votieren klingt seltsam, zumal zahlreiche Personen als professionelle Kulturschaffende auf eine Einkommensquelle angewiesen sind. Es gibt meines Erachtens keinen vemiinftigen Grund, die okonomischen Denkkategorien a priori als schadlich zu betrachten; auch lasst sich die okonomische Dimension menschlicher Tauschbeziehungen im Kultursektor nicht negieren. Dariiber hinaus muss man anerkennen, dass die konstruierte, implizit mitschwingende Bipolaritat - hier der Markt, dort der Staat -, keinesfalls gerechtfertigt ist. Der Staat als Finanzierungs- und Subventionsgeber stellt eine wichtige okonomische Instanz dar. Zwischen Staat und Kulturmarkten gibt es vielfaltige Uberscheidungen, besonders weil beide Instanzen Macht ausiiben, womit sie eine determinierende Wirkung auf den Kultursektor haben. Es ist offensichtlich, dass die Diskussion, ob der Kultursektor mit gewohnlichen okonomischen Giitem operiert, nicht nur eine sachliche ist. Sie fragt nicht blofi nach der Eigenart und Differenz der Kulturgiiter im Verhaltnis zu anderen Wirtschaftsgiitem, sondern beriihrt zugleich ein
33 Bourdieu 1985,13ff.; siehe auch Ryan, 1992 und Zembylas 1997, Kap. 2. 34 Siehe beispielsweise Dworkin, Ronald: „Can a Liberal State Support Art?'', in Dworkin 1985, 221-233; O'Hagan 1998, Kap.2; Mas-ColeU 1999, 87-93; Keat, Russell: „Market Boundaries and the Coirtmodification of Culture'', in Ray/Sayer 1999,92-111.
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Institutionelle Annaherung
gesellschaftspolitisches Thema. Sie will herausfinden, ob die Okonomisiening der Kultur, die seit der Etablienmg des Kapitalismus und der einhergehenden Globalisierungstendenz fortschreitet, positive oder negative Effekte auf die Vielfalt der kulturellen Entfaltung der Menschen und auf die politische Qualitat des Gemeinwesens hat.^s (Unter „Okonomisierung der Kultur" ist jene Form der Organisation der Konzeption, Produktion und Distribution kultureller Giiter gemeint, die primar durch die Krafte des Marktes und das Profitinteresse bestimmt sind. Ein solcher Prozess wirkt auch auf das staatliche Handeln und fuhrt zur Zuriicknahme der offentlichen Kulturausgaben, zur Ausgliederung von Kulturbetrieben aus der Hoheitsverwaltung, zur Dezentralisierung und Verlagerung von Entscheidungsstrukturen u.a. Diese staatspolitischen Veranderungen haben Einfluss auf den gesamten Sektor. Langfristige Entwicklungs- und nachhaltige Investitionsplanung werden allgemein erschwert. Der Terminus „Globalisierung" bedeutet vorerst die Uberschreitung lokaler Kulturgrenzen. Globalisierung ist nichts Neues, weil es immer solche tjberschreitungen gab. Im kulturokonomischen Diskurs meint Globalisierung speziell die Entstehung von international agierenden Konzemen und den Abbau von Handelsbarrieren gemafi entsprechenden Vereinbarungen der Welthandelsorganisation WTO - siehe auch ^General Agreement on Trades in Services".) Die Kritik an diesen politischen Veranderungen driickt das Unbehagen einiger Teile der Gesellschaft uber die Mafilosigkeit des Okonomismus aus. Darunter wird die Glorifizienmg des Marktes als „Reich der Freiheit" sowie das imerschiitterliche Vertrauen an seine gemeinwohlfordemde Kraft gemeint. Die konsequente Reduzierung vieler Aspekte des Kultursektors auf eine monetare und managementorientierte Ebene (Steuerbarkeit, Planung, Rentabilitat, Marketing und Nutzenmaximierung) dominiert mittlerweile den kulturpolitischen Diskurs in den Medien. So argumen-
ts Siehe Smiers 2003, Kap. 1 sowie Mulcahy, Kevin: „American cultural patronage: the limits of privatisation'', in Hofecker 2003, 89-104. Beide Autoren argumentieren, dass die kultiarelle Freiheit durch die freie Marktwirtschaft akut gefahrdet ist.
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tierte in einer frappierend naiven Weise ein bekannter osterreichischer Industriemanager, man konne die finanziellen Probleme der grofien Theaterhauser ganz einfach durch Produktivitatssteigerung, Outsourcing, Personalabbau, Sponsoring und grofierer Nachfrageorientierungs^ losen.37 Hier manifestiert sich der tiefe Glaube an die uneingeschrankte Moglichkeit von Performance Measurement (PM) imd Performance Indicators (PI). Die Managementideologie basiert auf dem Motto (frei nach August Comte): Wissen um vorauszusehen, voraussehen um voraushandeln und schliefilich voraushandeln um Macht zu gewinnen. Diese Vorstellung von der universellen Anwendung betriebswirtschaftlicher Instrumente und der daraus abgeleitete Kompetenzanspruch funktioniert jedoch nicht so glatt, wie es die Managementideologie vorgibt.^s Die Kritik am vorherrschenden Okonomismus und der Managementideologie darf allerdings nicht iiberspannt werden. Es ist selbstverstandlich, dass ein Steuerungsbedarf in Kulturuntemehmen existiert - wer wiirde dies schon in Frage stellen woUen. Management ist notwendig, aber es allein lost nicht die fundamental Unsicherheit der Kulturmarkte. Sehr grob gesagt: Nur etwa 10% der Produkte der Kulturindustrien
36 Es gibt freilich schwer vermarktbare Kultiirguter, woran diese nicht iinbedingt selbst schtdd sein miissen. Erstens kann die Nachfrage gering sein, wenn entsprechende Praferenzen imd Kompetenzen nicht ausreichend ausgebildet sind, Zweitens kann ein Marktversagen vorliegen, das als solches nie den Produzentlnnen anzulasten ist. Zu den Grenzen des Marketings von Kulturgiitem siehe Chong 2002, 94-98. Eine erhellende Erlautenmg dieses Problems bietet auch Sunstein, Cass: „Das Femsehen und die Offentlichkeif' in: Wingert/Glinther 2001, 678-701. Seine Uberlegungen sind auch auf andere Sektoren der Kulturwirtschaft ubertragbar. 37 So Claus Raidl, Vorstandsvorsitzender des Edelstahlkonzems Bohler-Uddeholm AG im Streitgesprach mit Georg Springer, Geschaftsfuhrer der Bundestheater-Holding-GmbH., in „Druck ausiiben''. Profit, Nr. 20,14. Mai 2001,180ff. Eine qualifizierte Darstellung der Probleme von Theaterhausem findet man in Baumol/Bowen 1966. Zimi Problem der Evaluierung von Kulturorganisationen siehe auch The Journal of Arts Management, Law, and Society, Fall/1998 mit dem Schwerpunkt „Beyond Economic Impact''. 38 Kritik am Plantingsbegriff iibt Tenbruck 1972.
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(Filme, Musik-CDs, Biicher) sind gewinnbringend.39 Maximal ein weiteres Drittel ist etwa kostendeckend. Die hohe Rate von verlustbringenden Produktionen weist also darauf hin, dass weder die Kulturschaffenden noch die Managerlnnen der Kulturindustrie die Reaktion des Publikums antizipieren konnen. Selbst intensive Marktforschungen im Vorfeld kostspieliger Produktionsentscheidungen und die bekanntermaCen hohen Werbebudgets der Hollywood-Studios, die bis zur 30% der einzelnen Gesamtbudgets ausmachen, konnen die Ungewissheit nur partiell einschranken jedoch nicht eliminieren. Auf Grund dieser Sachlage spricht Richard Caves von der „nobody knows"-Eigenschaft als charakteristischem Merkmal der Kulturmarkte.^o Die Diskussion liber die Bedeutung und Funktion der Kultur (Kap. 2) hat gezeigt, dass ihre Tentakel jenseits aller okonomischen Kategorien reichen. Kultur bedeutet etwas Umfassenderes und es besteht der Verdacht, dass der okonomisch-betriebswirtschaftliche Denkstil dies noch nicht begriffen hat. (Der utilitaristische Charakter der Verkniipfung von Kultur und Business, den beispielsweise die „American Association of Fundraising Council", die „Association of Business Sponsoring of the Arts" in Grofibritannien, der „Mecenat des Entreprises Frangaises", das Wirtschaftskomitee „Initiativen Wirtschaft fiir Kunst" in Osterreich, das „Sponsoring Forum" imd der „Kulturkreis der deutschen Wirtschaft" in Deutschland anstreben, bestarkt diesen Verdacht.) Probleme der Kulturproduktion, der Zuganglichmachung von Kulturgiitem, Fragen der Be-
39 Siehe a u d i Crane 1992,32, 56; Hesmondhalgh 2002,17f. 40 Caves 2000, 3; siehe auch Zembylas 1997, 81. Dariiber hinaiis wird haiifig auch vom partiellen Versagen der Kulturmarkte gesprochen. Marktversagen besagt - ausgehend von einer klassischen bzw. neoklassischen Markttheorie -, dass der Preis der Giiter nicht ihren tatsachHchen Nutzen bzw. Kosten abbildet. Damit kann die Preisbildung die Steuerung von Nachfrage und Angebot und damit von bestimmten Kulturgiitem nicht oder nicht ausreichend iibemehmen. Der sogenannte „sich selbst reguEerende Markf' versagt. Ein solcher Zustand wird entweder auf die „Natur'' mancher Giiter, die im Gegensatz zu Privatgiitem als nicht ganz „marktfahig'' interpretiert werden, oder auf die temporare Struktur lokaler Markten zunickgefiihrt.
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rufsfeldforderung und Kulturpolitik iiberschreiten den Horizont der traditionellen, orthodoxen Okonomie. Sie sind Gegenstand einer politischen Okonomie der Kultur und iiberhaupt von offentlichem Interesse, derm Kultur ist nicht blof? Mittel, sondern hat zugleich eine existenzielle soziale Dimension. Die Forderung, die sich hier ableitet, ist lapidar: Das Wirtschaftsministerium darf nicht die Agenda der Kulturpolitik iibernehmen, derm die zentralen Telle des Kultursektors sind nicht einfach unter „Kulturwirtschaft" zu subsumieren. Die einseitige Fokussierung der offentlichen Aufmerksamkeit auf die Transfiguration der Kulturgiiter zu vermarktbaren Produkten - das wird unter dem polemischen Wort „6konomismus" gemeint - geht meist Hand in Hand mit einer Abnahme der Sensibilitat fiir die sozialen Funktionen der Kultur. Kulturelle Froduktionen blofi als Ware mit einem Marktpreis imd Publizitatswert^i zu betrachten, bedeutet letztlich einen fundamentalen Eingriff in das Recht der Menschen auf Selbstbestimmung. Dieses Recht ist allerdings schwer etnzufordem, well Selbstbestimmung im AUgemeinen ein sehr abstraktes und normativ beladenes Konzept ist. Selbstbestimmung ist jedenfalls eng mit der Moglichkeit verbunden, kulturell produktiv zu sein und diese Produktivitat der AUgemeinheit zeigen zu kormen. Somit kormen die Individuen oder soziale Gruppen sich sowohl in bestehenden offentlichen Debatten einbringen, als auch neue Diskurse initiieren. Werm die Modi der Produktion. Distribution und Vermittlung von Kultur gewisse demokratiepolitische Standards einhalten wiirden, darm ware die Zivilgesellschaft in der Lage, plurale und kritische Offentlichkeitsforen zu konstituieren. Das ist bisher leider nur partiell verwirklicht - siehe Unterkap. IH. Offentlichkeitsforen sind fiir eine offene Gesellschaft notwendig, derm sobald Menschen frei liber ihre soziale Position nachdenken und disku-
41 Publizitatswert meint jene spezifische Art von offentlicher Aufmerksamkeit, die den Kultur- imd Mediensektor eng an der Werbewirtschaft bindet - dazu siehe auch Franck 1998. Man darf nicht vergessen, dass die Werbeeinnahmen der grofien Kultur- und Medienbetriebe nicht unbedeutend sind.
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tieren, werden sie auf die hegemoniale Fremdbestimmung aufmerksam und konnen allmahlich zu einer relativen Selbstbestimmung gelangen.42 Die Schaffimg eines plumlen kulturellen Feldes - durch die Reduzierung von Ungleichgewichten durch gezielte Fordening und positive Diskriminierung sowie durch die Starkung der Ressourcen neuer innovativer Initiativen und sozial benachteiligter Gruppen ~ muss also zum zentralen Ziel der politischen Okonomie der Kultur werden. Die Notwendigkeit einer politischen Okonomie der Kultur ergibt sich schliei?lich auch aus der Tatsache, dass der Staat schon seit jeher ein vitales Interesse an der Forderung und Kontrolle der Produktion von kulturellen Symbolen und der Steuerung der Reproduktion bestimmter sozialer Praktiken hat.43 Fine politische Okonomie der Kultur ist jedoch nicht mit der alltaglichen Kulturpolitik zu verwechseln, denn sie behandelt nicht blofi die Frage der Allokation offentlicher Mittel und der gesetzlichen Grundlagen von Kulturarbeit. Die politische Okonomie muss iiber die okonomischen und legistischen Dimensionen hinausgehen.44 Manche politische Entscheidungen sind so tief greifend, dass sie die prinzipielle Anerkennung und faktische Existenz kultureller Minderheiten und Subkulturen betreffen. Insbesondere sind wir im Kontext konservativer und autoritarer politischer Formationen mit der Situation konfrontiert, dass das „Andere" keine Seinsberechtigung hat. Kultur, Politik und Okonomie miissen also miteinander verkniipft werden, well ihre Existenz auf einer gegenseitige Bezugnahme und Abhangigkeit beruht.
^ Diese MogHchkeit wird beispielsweise von Frederik Jameson in Frage gestellt. Laclau und Mouffe vertreten jedoch eine optimistische Perspektive - siehe Jameson 1991 und Laclau/Mouffe 1991 (1985). ^3 Peter Haberle hat sich in den letzten Dekaden fur die Interpretation des Kulturstaatsbegriffs (in seiner Uberalen Bedeutung) als Staatszielbestimmung stark gemacht - siehe Haberle 1980, 26-35. Zum Umfang der Vemetzung von Staat und Kulturbetrieb siehe auch O'Hagan 1998. ^ Siehe Zembylas, Tasos: „Aufgaben imd Komplexitat einer umfassenden KultiupoHtik^", in Steirische Kulturiiutiative 2000,42-54
Teil II - Kunstbegriff(e)
Einleitung
Die meisten Menschen assoziieren mit dem Wort „Kiinst" bestimmte Dinge oder Tatigkeiten, wie Gemalde, Gedichte, Theaterbesuche, Klavierspiel und miihsames Training, spektakulare Kunstauktionen u.a. Fiir manche reprasentiert Kunst einen zentralen, fiir andere einen peripheren Bestandteil des eigenen Lebens. Kunst ist vor allem in urbanen Raumen allgegenwartig, so dass selbst Desinteressierte die Begegnung mit ihr nicht ganzlich vermeiden konnen. Tagein, tagaus berichten Zeitungen iiber Kunstveranstaltungen und -stars. Bunte Plakate laden auf Strafien, Bahnhofen und Flughafen zu Kunstattraktionen ein. Unzahlige Facetten des AUtags, wie Kleidung, Gebrauchsgegenstande und diverse Produkthiillen sind durch und durch asthetisiert und mit offenen oder versteckten Referenzen an die zeitgenossische Kunst besetzt. So gesehen ist Kunst ein fixer Bestandteil der modemen Lebenswelt. Kunst ist alltaglich prasent; zugleich soil sie etwas Besonderes reprasentieren, derm sie wurde seit Jahrhunderten als ein privilegierter Bereich der Kultur betrachtet. Kunstwerke sind der Inbegriff menschlicher Kreativitat, sagen die einen. Kunstwerke enthalten Spuren des Seins, behaupten ehrfurchtsvoU die anderen. Sie stellen ein Bindeglied zum transzendentalen Gefilde dar, meinen die dritten. Kunst offnet neue Fenster zur Welt, stofit in eine Terra incognita vor; sie ist „promesse du bonheur" imd geistige Nahrung, die man zum Leben genauso benotigt wie Wasser und Sauerstoff. Dies und vieles mehr, was den Status des
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Teil II - Einleittmg
Aufiergewohnlichen emphatisch unterstreicht, reprasentiert eine moderne kulturelle Mythologie.^ Dass die meisten Sozialwissenschafterlnnen, die an einer Theorie des Kunst- und Kultursektors arbeiten, und erst recht viele Kulturokonomlnnen und Kulturmanagerlnnen den Kunstbegriff nicht selten weitraumig umgehen, hat unterschiedliche Griinde. Manche folgen einer skeptizistischen Position - „de gustibus non est disputandum''. Sie proklamieren frohen Gemiits, iiber Kunstpraferenzen und speziell iiber die evaluative Dimension gabe es, wissenschaftlich gesehen, nicht viel zu sagen. Andere wiederum versuchen, ihre Zuriickhaltung als Tugend auszugeben. Managerlnnen sollen eine dienende Funktion einnehmen und die Kunstfrage lieber den Kunstschaffenden iiberlassen - fordert beispielsweise Werner Heinrichs.^ Eine dritte Gruppe argumentiert tautologisch: Sie meinen, Kunstwerke sind diejenigen Gegenstande, die schlicht und einfach den Kunstwerkstatus zugeschrieben bekommen. Somit erscheint der Kunstbegriff als ein nicht-analysierbarer Sprachausdruck. Schliefilich lassen sich unter den akademischen Forscherlnnen auch einige philosophiehistorisch geschulte Theoretikerlnnen finden, welche die Definitionsproblematik zu gut kennen und sich an diesem heifien Eisen nicht verbrennen woUen. Sie weichen daher einer positiven Thematisierung des Kunstbegriffs aus und beschranken sich auf die Kritik bestehender Auffassungen. Solche Kritiken sind gewiss sinnvoll, aber die Dekonstruktion der Kunstmetaphysik allein vermag nicht die Multifunktionalitat von Kunst zu erklaren. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Theorie des Kultur- und Kunstsektors muss die praktische Dimension der Formation des Kunstbegrijfs und somit seine Einbettung in ein System von kulturellen Praktiken explizit herausarbeiten.^ In Teil II werde ich ein Wegstiick in diese Richtung gehen.
1 Siehe Zembylas 1997,105-113,165-170, sowie Zembylas 2000a, 7-12. 2 Heinrichs 1993,190. 3 Ahrdich argxnnentieren WiUiams, Raymond: „Theorie und Verfahren der Kulturanalyse'' (1965), in WiUiams 1983,49 und WoHf 1993 (1981), 3.
5 Die Grenzen der bisherigen kunstphilosophischen Theorien
5.1
Wie ist Kunst zu denken?
„Kunst ist eine Sache, deren Existenz von Theorien abhangig ist/'^ Was Arthur Danto in diesem Satz kundtut, ist seit einigen Dekaden ein Gemeinplatz: Der Kunstbegriff wird diskursiv generiert. Nun, warum schauen wir also nicht in einem Worterbuch nach und geben uns mit der lexikalischen oder ideengeschichtlichen Bedeutung des Kunstbegriffs zufrieden? Gewohnlich sucht man nach einer prazisen Begriffsdefinition, weil in den Wissenschaften seit langem das Diktum gilt: „Was du nicht eindeutig und klar definieren kannst, ist fiir die wissenschaftliche Forschung kaum brauchbar." Es gehort also zum tradierten wissenschaftlichen Denkstil, dass am Beginn von Lehrbiichern die Definition aller Schliisselbegriffe stehen muss. Wenn aber ein Begriff, wie hier „Kunst", ein offener und zudem ein ziemlich umstrittener Begriff ist, dann helfen Definitionen, wie ausgekliigelt sie auch sein mogen, nicht weiter.^ Im Gegenteil, Definitionen nahren die Illusion vom scheinbar prazisen und stringenten Denken. Gerade weil der Kunstbegriff umstritten ist, kann es von ihm keine allgemeingiiltige Definition geben. Nicht nur die Historizitat und Mannigfaltigkeit der Gegenstande und Praktiken sabotieren jeden Definitionsversuch, es ist aufierdem methodologisch nicht klar, wie man sich der Kunst am besten nahem soil. Kunst ist kein deskriptiver Begriff, son-
1 Danto 1984 (1981), 207. 2 Eine Sammlung von Zitaten und Definitionen zum Kunstbegriff bietet MacWer 1987.
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Die Grenzen der bisherigen kimstphilosophischen Theorien
d e m Ergebnis eines sozialen Verhandlungsprozesses.^ Die grofite Schwierigkeit bereitet jedoch die Tatsache, dass Kunst ein dynamisches, polymorphes Werden darstellt, das, wie die Wolkenformationen an einem windigen Nachmittag, das Auge des Betrachters zuerst fasziniert, aber auch bald ermiidet. 5.2
Kunst in der philosophischen Forschung
Die philosophische Beschaftigung mit Kunst reicht historisch gesehen bis Platon zuriick. Es ist schwer, diese mehr als zweitausendjahrige Geschichte unzahliger unterschiedlicher Denkbewegungen zusammenzufassen. Grob gesagt lassen sich aber zwei dominante Zugangsweisen orten: Kunst wird als ein Bereich aufgefasst, in welchem mentale, d.h. sinnliche, affektive und kognitive Vorgange in einer exemplarischen Weise stattfinden - ganz im Sinne der etymologischen Wurzel des Wortes „Asthetik" aus dem altgriechischen Wort Aisthesis. Zuletzt wurde dieser Zugang durch das Konzept der Leiblichkeit als Grundlage jeder Wahmehmung erweitert. Der zweite Zugang konzentriert sich auf die semantischen und semiotischen Aspekte der Kunst. Kunst wird demnach als ein kulturelles Phanomen gesehen, das sich durch ein spezifisches Zeichensystem sowie durch Sinn- und Wertzuschreibungen, also durch eine sinnhafte „Antwort", konstituiert. Parallel zu den unterschiedlichen Zugangsweisen spielen ebenso die zugrunde liegende Methodologie und die jeweiligen Erkenntnisinteressen eine zentrale RoUe fur die Entfaltung der Kunstphilosophie. In den letzten hundert Jahren haben sich verschiedene kunstphilosophische Richtungen ergeben, die hier iiberblicksartig in vier Gruppen zusammengef asst werden:
3 Siehe Zolberg, Vera: „The art object as social process^', in Zolberg 1990, 79ff.
Kunst in der philosophischen Forschung
analytisch
<
essentialistisch wahrheitstheoretisch moralisch oder politisch
^^ ^ ^ \s^
sprachanalytisch zeichentheoretisch bzw. semiotisch diskursanalytisch institutionstheoretisch
phanomenologisch/ interpretativ
wahmehmungspsychologisch ideengeschichtlich semantisch bzw. hermeneutisch
systematisch
Begriffskonstruktion und -destruktion
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Tigur 2 Methodologische Ansatze in der Kunstphilosophie Eine kurze Begriffserlauterung ist fiir die nicht fachphilosophisch ausgebildeten Leserlnnen angebracht: Essentialistische Theorien versuchen das „Wesen der Kunst" zu bestimmen. Der latente Universalismus essentialistischer Thesen ist in meinen Augen sehr problematisch, da sich solche Thesen nur auf bestimmte ausgesuchte, paradigmatische Beispiele beziehen und allem, was nicht in ihre Klassifizierungsschemata passt, kurzerhand den Kunststatus absprechen. Wahrheitstheoretische Ansatze versuchen, Kunst an eine von Fall zu Fall anders definierte, aber im Wesentlichen geschichtstranszendierende Wahrheitskonzeption anzukniipfen. Moralische Kunstauffassungen sind jene Ansatze, die den Kunstwerken eine Existenzberechtigung nur im Zusammenhang mit der Erfiillung einer moralischen und im weitem Sinn politischen Funktion zu~ sprechen (z.B. Kunstwerke sollen die Menschen erziehen oder eine Erlosungslehre verbreiten). Im Rahmen der sprachanalytischen Kunstphilosophie wird darauf hingewiesen, dass wir in erster Linie mit Aufierungen liber Kunstwerke konfrontiert sind. Daher werden die sprachlichen Aufierungen iiber Kunst untersucht und funktional (z.B. als bewertende oder emotive Aussagen) interpretiert.
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Die Grenzen der bisherigen kimstphilosophischen Theorien
Zeichentheoretische Zugange konzentrieren sich auf die Eigenart asthetischer Zeichen sowie auf die Kommimikationsstruktur des Rezeptionsprozesses (Sender-Medium-Empfanger). Die Diskursanalyse - „Diskurs" wird hier als eine Menge von Aussageketten, die ein System bilden, verstanden - befasst sich mit der regulativen Funktion von Kiinstdiskursen im Hinblick auf die Produktion und Rezeption asthetischer Codes. Die Diskursanalyse wird von manchen auch als Ideologieanalyse aufgefasst. Institutionstheoretische Ansatze bemtihen sich um eine holistische Sicht der Kunst. Kunst als Teil eines sozialen Prozesses hat in unterschiedlichen Situationen jeweils eine andere Bedeutung. Fasst man diese Situationen zusammen, so ergibt sich das Konzept „Kunstwelt", das eine zentrale Bedeutung in der Institutionstheorie eirmimmt. Die Phanomenologie untersucht die Interaktion zwischen Werk und Rezipientin und insbesondere die bewussten und unbewussten Vorgange, die die asthetische Erfahrung bzw. das asthetische Erlebnis konstituieren. Hier wird haufig wahmehmungspsychologischen Aspekten besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Ideengeschichtliche Untersuchungen setzen Artefakte in Beziehung zu anderen kulturellen Manifestationen (Religion, philosophische Systeme, Wissenschaft, Politik) und arbeiten daran, signifikante Korrelationen und Wechselwirkungen aufzuzeigen. Im Rahmen der kunstwissenschaftlichen Hermeneutik ist man bestrebt, den Bewusstseinshorizont und die wirksamen Verstehensstrukturen fiir die Entstehung und Rezeption eines Kunstwerks zu rekonstruieren. Dabei wird oft die Symbol- und Referenzfunktion des Kunstwerks in den Vordergrund gestellt. Manche Kunstphilosophlnnen wiederum konzentrieren sich auf die systematische Untersuchung von kunsttheoretischen Begriffen, wie z.B. „Distanz", „Erhabenes", „Ironie", „weibliche Asthetik", „nicht-affirmative Kunst", „AutorIn" u.a. Viele der hier aufgezahlten Ansatze und Richtungen sind inkommensurabel und weisen unterschiedliche Vorteile auf. Trotzdem kann ich ein gewisses Unbehagen nicht verschweigen. Es besteht der Eindruck, dass der Diskurs, den die Kunstphilosophie fuhrt, dem Verwobensein der Kunst mit der sozialen Praxis zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Dieser blinde Fleck der Kimstphilosophie hat unterschiedliche Griinde, die nur
Kunst als Sonderling der Kultur
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teilweise in der jeweiligen theoretischen Konzeption zu finden sind. So stellt das Autonomiepostulat, das Immanuel Kant philosophisch untermauert hatte, ein erstes Denkhindemis dar. Die epistemische Sonderstellung des asthetischen Urteils^ trieb die Trennimg der Kunst vom Sozialen weiter voran. Die Romantisiemng^ der asthetischen Erfahrung gab dem Kunstwerk einen elitaren Status, der eine maximale Distanz zum AUtag sowohl ideologisch als auch institutionell implizierte. Aufierdem trugen atomistische Subjektkonzeptionen, die fiir die Schopfung des Genien\ythos mitverantwortlich waren, dazu bei, dass die meisten Kreativitatsauffassungen der Modeme die koUektiven Aspekte der Kunstproduktion und Kunstrezeption systematisch ausblendeten. Das Kiinstlerische wurde folglich oft als Produkt einer individuellen asthetischen Haltung betrachtet.6 5.3
Kunst als Sonderling der Kultur
Seit der Begriindung der Asthetik als wissenschaftliche Disziplin, d.h. seit Mitte des 18. Jahrhunderts (Alexander Baumgarten), und bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es einige Uberzeugungen, welche die Entwicklung der Kunstphilosophie mafigeblich gepragt haben: Die so genannte „hohe Kunst" sei eine Spitzenleistung der europaisch-abendlandischen (christlich-hellenistischen) Kultur.
4 Kant sondert das Schone sowohl vom Guten als auch vom Angenehmen und NiitzUchen ab. Trotzdem lasst er offen, ob die Konfrontation mit dem Schonen und Erhabenen den Sinn fiir das MoraHsche fordem kann. ^ Romantisierung bedeutet nad\ NovaHs „eine qualitative Potenzierung. (...) Das niedre Selbst wird in einbesseres Selbst [avanciert]. Indem ich dem Gemeinen einen hoher Sinn, dem Gewohnlichen einen geheimnisvoUes Ansehen (...) gebe so romantisiere ich es."" (NovaHs in Oelmiiller 1982,201.) 6 Hier ist auch der programmatische Titel der beriihmt gewordenen Atisstellung von Harald Szeemann „When Attitudes become Form", die 1969 im Kunstmuseum in Bern stattfand, zu erwahnen. Szeemanns Intention war es, Kunst als einen offenen Prozess zu prasentieren, in dem amorphe, unartikulierte Haltungen bzw. das „wilde Denken'' eine Form annehmen kann.
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Die Grenzen der bisherigen kimstphilosophischen Theorien
Ein Kunstwerk sei „geistiges" Eigentum seines unmittelbaren Schopfers, der in der Kegel als reflexionsfahiges und meist mannliches Individuum aufgefasst wurde. Kunstwerke seien Wissensobjekte, denn sie enthielten Spuren und Verweise auf Erkenntnisinhalte, die andere Wissenschaften nicht erfassen konnen. Diese klassische Auffassung verlieh den Kunstwerken eine metaphysische Dignitat, die vor ihnen nur religiose Ikonen besafien. Die Uberspannung der Kunst in Richtung Transzendenz wirkte auf die Kulturpolitik zuriick: Kunst wurde als fixer Bestandteil der Gesellschaft wahrgenommen, deren Erhalt und Forderung als koUektive, politische Verantwortung gait. Die Vorstellung, man konne in Kunstwerken Verweise auf eine sonst unzugangliche Erkenntnis finden, forderte eine intensiv-exegetische Beschaftigung mit Kunstwerken - „Kunst [ist] Vermittlerin ontologischer Erkenntnis. Unter ihren Werken ist keines, das nicht gleichzeitig das Wesen seines Schopfers und das der Welt festhalten will", notierte einst Jean-Paul Sartre.^ Bereits in den ersten zwei Dekaden des 20. Jahrhunderts geriet diese idealistisch angehauchte Kunstauffassung gehorig ins Wanken - eine wichtige Leistung der heute zum Teil in Misskredit geratenen Avantgarde. Seitdem hat sich ein Entmythologisierungsprozess in Gang gesetzt, der allerdings nur soweit betrieben werden kann, wie es die kulturellen Praktiken und institutionellen Rahmenbedingungen der Kunst zugestehen. Die Persistenz modemer Mythologien, wie die Glorifizierung einzelner Kunststars oder die Enigmatisierung und Auratisierung mancher „Meisterwerke", erklart sich unter anderem durch ihre Wirksamkeit als Werbeformen fiir symbolisch und normativ hochaufgeladene Gegenstande.8 Kunsttheoretikerlnnen mogen kritisieren so viel sie
Sartre, Jean-Paul: „Finger imd Nicht-Finger'', in Sartre 1968 (1964), 332. Der Starkidt funktioniert meist iiber die personeUe IdentLfikation des Stars mit einem^ Image, der Geniekult dirrch die Behauptimg der Einmaligkeit geistiger Leistimgen. Der
Kunst als Sonderling der Ktiltur
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woUen: Da die etablierte Praxis iind die Institutionen offensichtlich einen gewissen Widerstand gegen allzu radikale Verandenmgen leisten - noch keine Galerie hat bisher ihre Verkaufsrhetorik verandert, keine Kiinstleragentur lasst sich vom „Tod des Autors" beeindrucken, kaum ein Kunstmuseum hat aufgehort, Kunstwerke als auratische Sondergegenstande zu behandeln -, konnen wir in diesem Zusammenhang von der Trcigheitskraft der kulturellen Praktiken und Institutionen der Kunst sprechen. Dieser Hinweis auf die Beharrlichkeit der vorherrschenden Praxis soil die Euphorie der Dekonstruktion und die gelegentliche Selbstiiberschatzung des Theoretischen eindammen. Trotzdem, nichts liegt mir femer, als die Wichtigkeit und Notwendigkeit der Kritik am tradierten Kunstverstandnis der biirgerlichen Kultur zu marginalisieren. Derm die Ideologie der idealistischen Kunstauffassung beschrankt sich nicht darauf, dass ihre Vertreterlnnen die eigene Position leidenschaftlich verteidigen, sondem problematisch ist vielmehr der Anspruch auf die Wahrheit, Objektivitat und Verallgemeinerung ihrer Auffassung. Der Ideologievorwurf bezieht sich hier vor allem auf die Form der Vermittlung ihrer kunstasthetischen Position.^ Denn der Wesenskem des Ideologischen liegt darin, dass sich Ideologien meist als nicht-ideologisch, also stets als interessenlose Kunsttheorien ausgeben. Sie transportieren folglich bestimmte Interessen und Sichtweisen in getamter Form. Die zentralen Botschaften stehen nicht zur Diskussion, weil sie als Selbstverstandlichkeit hingestellt werden. Die theoretische Abkoppelung der Kunst von der kulturellen Praxis ist nach wie vor und trotz der historischen Kritik eine immer wiederkehrende Denkfigur innerhalb der akademischen Kunstphilosophie. Starkult intendiert die Fixienmg des Blickes der Konsiunentlnnen auf die Aura der Person (deri Star), u m so die exzessive Vermarktimg der Produkte zu erreichen. Der Geniekult hingegen fordert d u r d i die Mystifizierung der kimstlerischen Leistung eine Elitenkultttr und imterstiitzt die Autoritat derer, die die signifikanten Urteile fallen: eine Gruppe von Kennerlnnen und Expertlnnen. 9 Der Ideologievorwurf wurde in den letzten Dekaden vielfaltig formuliert - siehe z.B. Adomo 1997 (1949); Barthes 1967 (1966), Williams 1977; Jameson 1981; Bourdieu in Gebauer/Wulf 1993,14-32; De Man 1993; Wolff 1993 (1981); Eagleton 1994 (1990).
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Die Grenzen der bisherigen kimstphilosophischen Theorien
Kunst wird demnach als ein Ort interpretiert, „in dem Bedeutungen gestiftet werden, die ilber die Wirklichkeit hinausgehen" - so schrieb beispielsweise vor kurzem Konrad Paul Liessmann.io Die ausschliefiliche Zuordnung der Kunst in den Bereich der Asthetik verleitet zur falschlichen Interpretation der Kunst als einem eigenstandigen, autopoetischen Vorgang.ii Die Fixierung auf die transzendentale Reichweite des kunstasthetischen Sinns fiihrt zusatzlich zu einer partiellen Blindheit gegeniiber der Strukturierung des Asthetischen durch verschiedene soziale Instanzen. Der Kunstbegriff existiert dennoch nicht aufierhalb der sozialen Welt. Der Prozess der symbolischen Aufladung eines kulturellen Gutes und speziell eines Kunstwerks (z.B. durch exegetische Kunstkommentare, prestigetrachtige Prasentationsorte, medienwirksame Publizitat, die soziale Qualitat des Publikums) ist ein Ereignis, das innerhalb der Kunstwelt selbst stattfindet. Aufierdem kamen wesentliche Impulse fiir die Formation des Kimstbegriffs der Modeme aus institutionellen Entwicklungen, wie der Expansion des Kunstmarktes, der Liberalisierimg des Ausstellungs- und Auffuhrimgswesens, der Einschrankung der staatlichen Zensur, der Offnung des Zugangs zu den Akademien fiir Frauen, der starkeren Konfrontation und Beachtung der Kunst fremder Kulturen, den technologischen Veranderimgen, der Medialisierung der Offentlichkeit u.a. (Ich spreche hier absichtlich nicht von „exogenen"
10 Liessmann benutzt das Wort „Kultur'', meint jedoch die Kunst: „Man konnte aber auch von einem engen Knltiirbegriff aiisgehen, der iiberhaupt nur jene Formen von Kultur gelten lasst, in dem sich jene Tendenz zur Reflexivitat und Asthetisierung verselbstandigt hat und aUe Erinnerungen an den Alltag in seiner Asthetik erscheinen. Das konnte man dann am besten 'Kimst' nennen/' (Liessmann 2001, 30f. tmd 32.) Ein Pladoyer fiir die SondersteUung der Asthetik und ihre Abkoppelimg von der Kultursoziologie formuliert auch Richard Etlin in Etlin 1996. 11 Die Insistenz auf der Relevanz intrinsischer Prozesse, man denke hier an Clement Greenberg Oder Michael Fried, sowie an die Systemtheorie der Kunst von Niklas Luhmann, hatte nur dann eine Berechtigimg, wenn wir sie als Reaktion gegen allzu vereinfachte Determinationstheorien interpretieren konnten.
Kimst als epistemisch Radikales
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Faktoren, well ich die Unterscheidung zwischen kunstintern und kunstextern voUig aufheben will.) Um die kulturellen und institutionellen Aspekte der Kunst wiirdigen zu konnen, benotigen wir zuerst eine epistemologische Aufwertimg des praxiskonstituierenden und praxisreguUerenden Umfeldes der Kunst. Aber bevor wir uns diesem Thema widmen, soUen noch einige andere Schwachstellen der tradierten Kunstphilosophie erlautert werden. 5.4
Kunst als epistemisch Radikales
Modeme Sozietaten sind keine homogenen Gebilde, die nach einer einzigen binaren Logik operieren. Es ist folglich verstandlich, dass es innerhalb einer pluralen Gesellschaft unterschiedliche, simultan existierende asthetisch-kiinstlerische Kriterien gibt, die grundsatzliche Akzeptanz finden. Viele kunstphilosophischen Theorieansatze sind aber nicht bereit, die beobachtete Kontingenz, Kontextualitat, Konflikttrachtigkeit und Instabilitat des Kunstbegriffs bis zur letzten Konsequenz zu reflektieren. Der Bezug auf geschichtstrachtige Konzepte wie Authentizitat, Wahrheit und Autonomie ging mit dem Versuch einher, der Kunst eine gewisse Uberschreitungs- und Entgrenzungsfunktion zuzusprechen und einigen Kunstschaffenden, alien voran den (meist mannlichen) „Genies" eine Hagiographie zu verpassen.12 Der metaphysische Respekt vor der Kunst, den uns das 18. und 19. Jahrhundert aufgebiirdet hat, wirkt bis heute nach, obwohl viele Kunstschaffende und Kunsttheoretikerlnnen dies nicht geme zugeben. Im tiefen Glauben an die Uberschreitungskraft der Kunst kreieren viele Gegenwartsautorlnnen nach wie vor Subversionsasthetiken und Abweichungspoetiken oder repetieren unermiidlich Theorien der Unlesbarkeit und des Undarstellbaren, die aus der Deutschen Romantik ableitbar sind. Nicht, dass solche Thesen und Interpretationen falsch waren - sie sind eher jenseits von wahr und falsch -, aber die Sonderstellung der
12 Siehe Kris/Kxirz 1980 (1934); Heinich 1991,44; Zembylas 1997,122f.
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Die Grenzen der bisherigen kunstphilosophischen Theorien
Kiinst als epistemisch Radikales erscheint mir problematisch. Wenn Kunst eine subversive Kraft hat, wie beispielsweise Theodor Adomo, Jean-Frangois Lyotard oder Wolfgang Welsch meinten/^ dann hat sie diese weder a priori noch ausschliefilich aus eigener Kraft. Subversiv kann ein Kunstwerk oder eine kiinstlerische Aktion wirken, wenn gleichzeitig auch andere gesellschaftliche Faktoren die Kritik, die sie artikuliert, verstarken und verbreiten. Die Rhetorik der Radikalitat und des Grenziiberschreitungspotenzials der Kunst ist entbehrlich. Sie erzeugt einen falschen Wetteifer - „nicht genug radikal" oder „noch radikaler"i4 - und prolongiert die bekannte Selbstdarstellungsstrategie der Kunstschaffenden als soziale Rebelllnnen und Herolnnen des Biirgertums. 5.5
Das Sichtbare und seine unsichtbaren Rahmenbedingungen
Das Kunstwerk ist in seiner Sichtbarkeit niemals theoriefrei gegeben, das heifit das Sichtbare setzt stets vieles voraus. Karl Poppers legendare Kritik am Konzept der „neutralen Beobachtung" in den Naturwissenschaften lasst sich auch auf die asthetische Theorie iibertragen. Die Frage, die zu stellen ist, lautet: Wie asthetisch ist die Aisthesis? Am Beispiel der philosophischen Auslegung der asthetischen Wahmehmung, speziell innerhalb der hermeneutischen Phanomenologie, wird hier die Diskussion iiber die Deutimg der Kunst als epistemischer Ausnahmezustand weiterentwickelt. Die spezifischen Eigenschaften, die sinnlich-asthetische Akte auszeichnen, sind ein zentrales Thema in Kants „Kritik der Urteilskraft". Die alltaglich sinnliche Wahmehmung, so Kant, ist pragmatisch orientiert. Sie besteht primar aus identifizierenden Wahrnehmungsakten und konvertiert Sinneseindriicke in Gefiihle oder bewertende Urteile. Die
13 Siehe etwa Adomo 1992 (1970), 179; Lyotard 1989 (1983), 33; Welsch 1990,69 und 76. 14 Siehe z.B. Kravagna, Christian: „Arbeit an der Gemeinschaft. ModeUe partizipatorischer Praxis'', in Babias/Konneke 1998,28-46.
Das Sichtbare und seine imsichtbaren Rahmenbedingimgen
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asthetische Wahmehmiing kann zwar ebenso gut manche Funktionen der alltaglichen Wahmehmung erfiillen, ist jedoch kein zweckgerichteter Akt und reprasentiert folglich keine bestimmende Urteilskraft.i^ Daher wurde seit Kant die asthetische Wahrnehmung oft als eine Form des Innehaltens, als „Denken in der Schwebe" gedeutet.^^ Wahrend die alltagliche Aisthesis im jeweiligen lebensweltlichen Kontext fest verankert ist, erreicht die asthetische Wahmehmung eine Distanz zum Alltaglichen und somit eine Entbundenheit, die Friedrich Schiller im Anschluss an Kant als Freiheit auslegte. Martin Heidegger perpetuierte die Differenz zwischen alltaglicher und asthetischer Wahmehmimg, indem er zwischen Sehen und Erblicken, das heifit zwischen dem physiologischen Wahrnehmungsvorgang und dem asthetisch-hermeneutischen Blick unterschied. „Etwas sehen und das Gesehene eigens er-blicken, ist nicht das gleiche. Erblicken meint hier: ein-blicken in das, was vtns aus dem Geschehen her eigentHch, d.h. als dessen Eigenstes anblickt. Wir sehen viel imd erblicken wenig. Sogar dann, wenn wir das Gesehene er-bHckt haben, vermogen wir selten den Anblick des Erblickten auszuhalten und das Erblickte im Blick zu behalten. Derm zimi wahren Behalten braucht es fiir die Sterblichen die stets emeuerte, d.h. je und je urspriinglichere Aneignimg.'^i^
Um Kunst verstehend betrachten zu konnen, braucht man einen anderen Blick, „ein Auge zu vieV'^^, wie Holderlin sagte. Dieses „Auge zu viel" ist die Gnmdbedingung fiir ein fragendes Sehen, das die blofie Phanomenalitat iiberschreitet. Hinter diesen Gedanken wirkt die Vorstellung, dass Kunstwerke einen tieferen Sinn enthalten, der sozusagen unter der Oberflache liegt und darauf wartet, entdeckt zu werden. Die Trennung zwischen beiden Wahmehmungsweisen ist insofern berechtigt, als man damit auf die unterschiedliche Ausrichtung und
15 Siehe Kant 1990 (1790), § 49, B 193. 1^ Zur kontroversen Deutim^g der Kantschen Asthetik siehe auch Zembylas 2000a, lOOf. 17 Heidegger 1988 (1930), 64. 18 Heidegger zitiert Holderlins metaphorischer Ausdruck „ein Auge zu vieF' aus seinem Gedicht „In HebHcher Blaue bluhet ../' und interpretiert ihn als „die Grundbedingung alles grofien Fragens imd Wissens'' - siehe Heidegger 1953,81.
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Die Grenzen der bisherigen kunstphilosophischen Theorien
Situieriing der jeweiligen Wahmehmungsakte hinweist. Trotzdem haben beide Wahmehmungsweisen etwas gemeinsam: Das Sichtbare imd das Eingebildete sind in jedem Wahmehmimgsakt eng miteinander verflochten. „Das Imaginare haust in der Welt", schrieb Maurice MerleauPonty.i9 Damit meinte er erstens, dass wir zu keiner Zeit in der Lage sind, Reales und Imaginares strikt auseinander zu halten, und zweitens, dass die verschiedenen Sichtweisen der Welt intersubjektive Moglichkeiten der Welterzeugung darstellen. Die Variabilitat der Wahmehmung korreliert also mit der Modalitat der „Welt". Die Kant'sche Konzeption eines interessenlosen Wohlgefallens, die auf rein asthetischem Sehen beruht, muss zuriickgewiesen. Das Sichtbare wird in der Kegel von Bedingungen generiert, die unsichtbar bleiben. Das Konzept des Unsichtbaren spielt folglich in der Wahmehmungstheorie eine zentrale Rolle.20 Das Unsichtbare kann freilich mehrere Bedeutungen haben: 1. Es bezeichnet das aktuell Nicht-Sichtbare. 2. Es meint jene prareflexiven Perzeptionen, die vom Bewusstsein nicht erfasst werden und implizit bleiben. 3. Es weist auf den begrifflich erfassbaren Sinn. 4. Es benennt auch einen Moglichkeitssinn, den wir momentan nicht kennen. Es gibt noch eine fiinfte Dimension des Unsichtbaren, die in kunstphilosophischen Untersuchungen, wenn iiberhaupt, nur sehr marginal erf asst wird: die Situation. Der Situationsbegriff meint sowohl die Situiertheit und Befindlichkeit des/der Betrachters/in (Alter, Geschlecht, Motivation, emotionaler Zustand u.a.) als auch die Situation des Wahrnehmungsgegenstandes (Prasentationskontext, Form der Sichtbarmachung des Gegenstandes, diskursives Umfeld u.a.). Beide Bezugspunkte stellen
19 Merleau-Ponty, M.: „Die indirekte Sprache'' (1959), in Merleau-Ponty 1993 (1969), 69. 20 Siehe Merleau-Ponty 1986 (1964), 308-313, Merleau-Ponty 1966 (1945), 123-127, sowie Zembylas 2000,246-252.
Das Sichtbare und seine xinsichtbaren Rahmenbedingungen
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die elementaren Rahmenbedingungen fiir den Wahrnehmimgsakt dar. Die asthetische Wahmehmung als Akt und Verhalten zu beschreiben heifit, sie als soziales Handeln zu betrachten. Soziales Handeki korreliert mit anderen koUektiven Handlungsformen: mit Bewertungsakten, diskursiven Praktiken, Konventionen und tnstitutionellen Vorgaben, wie z.B. Lokalitat, Architektur, Ausstellungsgestaltung, Hangetechnik u.a.^i Fassen wir zusammen: Asthetische Wahmehmung reprasentiert kein natiirliches Vermogen, keine anthropologische Disposition, sondem ist eine kulturell geformte Praxis - kurz, eine Seh-, Hor- und Lesetechnik. Sie konstituiert sich in Relation zu mentalen Zustanden (z.B. Aufmerksamkeit), kognitiven Strukturen (Klassifikationsschemata) sowie prareflexiven Aspekten (z.B. Gewohnheiten) imd wird durch wiederholte Einiibung angeeignet. Wenn man der Situation zu wenig Beachtung schenkt, erscheint das Wahmehmungsergebnis als unmittelbarer Einfall Oder spontanes Ereignis. Man verhalt sich wie ein Brillentrager, der das, was ihm zunachst liegt, namlich die Brille, die auf seiner eigenen Nase sitzt, nicht sieht. Als Kulturtechnik funktioniert das Konzept der asthetischen Wahrnehmung nur innerhalb eines spezifischen Kontextes sowie im Bezug auf bestimmte Produktformen. Kiinstlerische Arbeiten, die weder explizite asthetisch-sinnliche Merkmale noch einen klar definierbaren Werkstatus aufweisen - hier meine ich beispielsweise die so genannten visuell nicht-unterscheidbaren Objekte wie Ready-mades oder objets trouves, sowie Arbeiten aus dem Situationismus, der Konzeptkunst und Interventionskunst -, unterlaufen das tradierte Konzept der asthetischen Erfahnmg. Der universalistische Anspruch einer philosophischen Analyse der asthetischen Wahrnehmimg ist folglich nicht haltbar.
21 Siehe Bourdieu, Pierre: „Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kimsfwahmehmung" (1968) in Bourdieu 1991, 159-201; O'Doherty 1986; Rajchman, John: „Foucaults Kunst des Sehens" (1991) in Holert 2000,40-63; Zembylas 1997,211-226.
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5.6
Die Grenzen der bisherigen kimstphilosophischen Theorien
Die Kunstphilosophie mittels Interdisziplinaritat erweitem
Der Kimstbegriff denotiert nicht primar Werke oder Leistungen, wie werkzentrierte Theorien meinen. Er meint ebenso wenig das, was Kiinstlerlnnen machen (so die subjektzentrierten Theorien) noch das, was die Interpretlnnen asthetisch erfassen, also das so genannte asthetische Objekt (so die Rezeptionsasthetik). Die Antwort auf die urspriingliche Frage, „Wie ist Kunst zu denken?" (siehe Unterkap. 5.1) konnte folglich lauten: Der Kunstbegriff besteht stets aus mehreren Sets von Relationen. Der Formationsprozess des Kunstbegriffs ist das Produkt der Interaktion von Produktion, Distribution, Vermittlung, Konservierung und Rezeption bzw. Konsmntion. Kunst ist somit eine Kristallisation spezifischer kultureller Praktiken. Daraus folgt, dass sich die Kunstphilosophie und allgemeiner die Kunstwissenschaften nicht nur mit den Produzentlnnen oder mit der materiellen, semantischen und semiotischen Beschaffenheit der Kunstwerke befassen konnen. Sie miissen ihre Fragestellungen erweitem und die kommunikative Praxis der Kunstwelt mit beriicksichtigen. Hier tauchen aber weitere Fragen auf, die den engen disziplinaren Rahmen einer Kunstphilosophie und Kunstwissenschaft liberschreiten. Beispielsweise ist das Problem der Kunstfreiheit auch Gegenstand der Rechtsphilosophie; die Vermarktung kultureller Giiter wird im Rahmen einer breiteren Gesellschaftstheorie und politischen Philosophie diskutiert; Fragen der asthetischen Kompetenz thematisiert die Epistemologie der Praxis; mit der Entstehung von BerufsroUen und Kimstlerlnnenbildem beschaftigt sich die Sozialisationstheorie; das Problem der Geschlechterasymmetrie im Kunstbetrieb wird innerhalb der Gender Studies untersucht. Wenn wir aber die hier oben erwahnten Probleme untersuchen mochten, miissen wir zwei fundamental Konzepte klaren: Kontext und Wirkung. Der Kontextbegriff ist wichtig, um der idealistischen und essentialistischen Falle, sowie der Gefahr von Verallgemeinerungen zu entgehen: Es gibt nicht die Kunst - weder im platonischen Sinn als
Die Kunstphilosophie mittels Interdisziplinaritat erweitem
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„Idea" noch wesensmafiig als „Noema" oder als Ereignis.22 AUes woriiber wir sprechen, ist eingeflochten in einen dreigliedrigen Zusammenhang: Der Kimstbegriff bezieht sich auf X (als Variable gemeint) fiir Y (ein PraxiskoUektiv) in der Situation Z. Die Variabilitat der Referenzfiinktion des Kunstbegriffs ist aber nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln. Die kommunikative Praxis, die den Kunstbegriff kasuistisch konkretisiert, ist weder spontan, noch findet sie in einem exterritorialen, neutralen Raum statt. Der Begriff der Wirkung wiederum ist notwendig, lun Relationen und Zusammenhange prazisieren zu konnen. Eine Wirkung muss nicht unbedingt eine kausale Bedeutung haben. Die Konstruktion des Kontextes legt offen, in welcher Weise der Begriff von Wirkung von Fall zu Fall zu denken ist. Diese Frage wird uns auch weiterhin beschaftigen.
22 Siehe Panofsky 1989 (1924); Heidegger 1960 (1936) imd zusammenfassend Margreiter 1997.
6 Praxisorientierte Analyse der Kunst 6.1
Der pragmatische Horizont
Jedes Kunstwerk ist ein Unikat und zugleich Reprasentant eines Typus bzw. einer Subspezies. Der Kunstdiskurs bewegt sich innerhalb dieses Spannungsfeldes, d.h. innerhalb der Auffassung des Kunstwerks als ein~ maliger Gegenstand und Stellvertreter einer geografisch und historisch bestimmbaren kulturellen Praxis. Das Spuren-Paradigmai - eine besondere Version des Text-Paradigmas - geht davon aus, dass es unter der „Oberflache" eines Phanomens eine tiefere und wahrere - sofem das Adjektiv „wahr" eine Steigerungsform haben kann - Sinnschicht gibt. Diese Annahme nahrt die Auslegungsfreude, kann aber in einer Interpretationsmanie enden. Unter Berufung auf die Immanenz der Auslegung wird der Interpretationsvorgang eingeengt und kanonisiert. Das fiihrt gelegentlich zu iiberspannten Objektivitatsansprtichen, die die Interpretation als solche in ein schlechtes Licht riicken.^ Die Werkzentriertheit und die Fixierung auf das „Werksein" des Kunstwerks, die Martin Heidegger als ihr einzigartiges Merkmal pries^, resultierten aus einer Misskonzeptualisierung der Kunst. Kunstwerke sind jedoch keine selbstgeniigsamen Entitaten, die ftir sich allein sprechen, ebenso wenig isolierte Monaden, die ein autonomes, kontextunabhangiges Sein besitzen, noch sind sie unendlich offene semiotische Konglomerate, die wie Schwarze Locher alles schlucken konnen. Krampfhafte Interpretationen von geistreich wirkenden Kunst-
^ Siehe Ginzbiirg 1995. 2 Dazu siehe Ricoeur, Paul: „Der Konflikt der Interpretationen"' in Ricoeur 1974 (1965), 3349; Sontag, Susan: „Gegen Interpretation'' (1964), in Sontag 1980 (1967), 9-18; Barthes 1967 (1966). 3 Heidegger 1960 (1936), 17f. und 23f.
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Praxisorientierte Analyse der Kunst
theoretikerlnnen bringen deshalb meist mehr Verwirrimg als Klarheit. In diesem Zusammenhang ist Wittgensteins Appell „Denk nicht, sondem schaul" zu zitieren.4 Seine Aufforderung entsprang keinem naiven Empirismus, sondem einer der „reinen" Theorie misstrauenden Haltung. Ein allzu einseitiges Verstandnis der These von der Offenheit iind Interpretationsbediirftigkeit der Kunst fiihrt zu einer beengenden Fixiertheit auf die semiotische und semantische Dimension des Kunstwerks. Um die Werk-, Subjekt- und Bedeutungszentriertheit des tradierten Kunstdiskurses hinter uns zu lassen, miissen wir den Kontext der Kunst rekonstruieren. Damit sind in erster Linie gemeint: die Bedingungen der Produktion von Kunst, die Voraussetzungen fiir professionelle Tatigkeiten im Kunstbetrieb, die Art und Weise der Zur-Schau-Stellung und Vermarktung einer kiinstlerischen Leistung sowie die Rekonstruktion des Prozesses der Vermittlung, Anerkennung oder Zuriickweisung eines kiinstlerischen Geltungsanspruchs. Der Produktionsbegriff reduziert sich iibrigens nicht auf die Erstellung von Artefakten, er bezeichnet gleichfalls die Schaffung eines materiellen und immateriellen Mehrwertes.5 Produktion geht aufierdem mit der Erzeugung und Reproduktion einer Praxis und im weitesten Sinn mit der Iteration des Sozialen einher. Die asthetische Wahmehmung, das Verstehen und Bewerten von Kunst sind stets nur im Zusammenspiel mit einem kiinstlerischen Praxisfeld denkbar und realisierbar. Mit einer gewissen imnaiven Naivitat kann gesagt werden: Ein Schimpanse, der von Zoologlnnen trainiert wird Acrylbilder zu malen, wird dies niemals in der gleichen Weise tun, v^ie ein Mensch, der einen Kunstbegriff besitzt. Das ahistorische Denken, die einseitige Insistenz auf Synchronie, die manche Gegenwartsautorlnnen charakterisiert, bringt diese dazu, die Differenz zwischen Dingen, die in unterschiedlichen Kontexten entstehen, zu verkermen. Als Beispiel lassen sich dafiir einige Satze aus einem Interview mit Elisabeth von
4 Wittgenstein 1977 (1953), § 66. 5 Siehe Zembylas 1997, 90f.
Ktinstpluralitat imd gesellschaftliche Praxis
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Samsonow iiber den „Neo~Geo" in der Malerei iind den Kiinstler Helmut Federle anfiihren, in dem sie meinte, „dass in der Kunst etwas gezeigt wird, das eben nichts zeigt, auJSer dass es eine Art von netironalen Wahmehmungsmnstem vorstellt. Das ist genau die Aufgabe der Abstraktion. Meiner Meinung nach ist zwischen der keramischen Abstraktion von 40.000 V. Chr. und dem Neo-Geo 1984 n. Chr. nvir ein sehr geringer Unterschied auszumachen/'^
Die hier getatigte Aussage ist das Ergebnis einer abstrakten, zum Formalismus neigenden Denkweise, die historische Daten zugunsten einer reinen Formbeziehung zuriickstellt/ Der pragmatische Horizont ist dabei abhanden gekommen. Der Versuch, die asthetische Wahmehmung, die Interpretation und das asthetische Urteil vom sozialen Kontext epistemisch loszulosen, sie also in erster Linie formal und synchron zu denken, fiihrt letztlich zu einer falschen Verallgemeinerung. Ich mochte vorschlagen, die Kunstproduktion stets als konkretes soziales Handeln aufzufassen. Kunst wahrnehmen, iiber Kunst sprechen, Kunstwerke bewerten, sie kaufen und verkaufen, archivieren imd restaurieren sind Beispiele von Tatigkeiten aus diesem Aktionsfeld. Die verschiedenen Stufen von Konnerschaft, die sich im Vollzug dieser Handlungen zeigen, sind relativ zu den praxisregulierenden Kriterien zu sehen - siehe Unterkap. 10.7 und 11.3. 6.2
Kunstpluralitat und gesellschaftliche Praxis
Jean-Frangois Lyotard deutete den Kunststilpluralismus, den er in der Kimstszene der letzten vier Jahrzehnte beobachtete, als Indiz eines „neuen Seelen- bzw. Geisteszustandes", kurz der Postmodeme.s Obwohl
6 Interview mit EHsabeth von Samsonow in mahr'svierteljahrsschriftfurasthetik, h t t p : / / h2hobel.phl.univie.ac.at/~mahr/001f4-06.html, 30. 07. 2001,4. 7 Kritik am „Elend des Ahistorismus'' siehe in Bourdieu 1999 (1992), 480-485 sowie Schorke 1998. 8 Lyotard, Jean-Frangois: „Tirami Su - Regeki imd Paradoxien zum Begriff der Postmodeme'', Vortrag im Teatro di Roma, veroffentUcht in der Zeitschrift Umrifi, 1990.
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Praxisorientierte Analyse der Kiinst
er es wahrscheinlich nicht so meinte, klang seine Erklarung der Geschichte hegelianisch. Der Kimststilpluralismus entstand jedoch nicht aus einem „Zeitgeist", sondem vielmehr aus der immanenten Dynamik iind Entwicklung der Kunstwelt. Die Vielfalt der Kiinstpraxen^ ist ein Effekt der Expansion des Kunstmarktes und der Nachfrage, der Liberalisierung des Ausstellungs- und Auffiihrungswesens und der Einschrankung staatlicher Zensureingriffe sowie der sukzessiven Deregulierung der Ausiibung von Kunstberufen - kurz, eine soziale und politische Entwicklung, die bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich beobachtbar ist. Indem der liberalisierte Kunstbetrieb in der freien Marktwirtschaft verschiedene Kundengruppen hervorbringt, die die Werke unterschiedlicher Kiinstlerlnnen und Kunststile kaufen, differenziert er zugleich das gesellschaftliche Geschmacksurteil und fordert die Koexistenz mehrerer Kunststile. Die pluralistische Produktion ist folglich langfristig von der Offenheit der Distributionsstrukturen und der pluralen Konsumation abhangig.io Die grofie Anzahl und liohe Diversitat der Kunstwerke hat in den letzten Dekaden ein Ausmafi erreicht, angesichts dessen ein Uberblick kaum mehr moglich ist. Auch die Ausstellungs- und Prasentationsformen sind vielfaltiger und der Preisbildungsprozess nicht-linear geworden. (Im Mittelalter stand der Preis eines Freskos in enger Relation zu Grofie und Materialkosten. Mit dem Untergang des Zunftsystems im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts wurde die Preiskalkulation dereguliert.) Dies alles bewirkt, dass die Kunstkommentare vielfaltig und disparat sind, denn seit dem Zerfall der Autoritat der Akademien im Laufe des 19. Jahrhunderts gibt es keinen offiziell verbindlichen Kanon mehr.
9 Vielfalt hat eine quantitative und qualitative Bedeutung. Sie meint (a) die Zahl der differenten Positionen im kunstlerischen Feld, (b) ihr Verhaltnis zueinander (Ahnlichkeit, Uberschneidung Verschiedenheit) und (c) die Ressourcen, die die einzelnen Positionen einsetzen konnen. 10 Siehe Crane 1987,113f.; Zembylas 1997, 79ff.; Tschmuck 2003, Kap. 11.
Kimstpltiralitat und gesellschaftliche Praxis
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der die Kunsturteile und den Qualitatsbegriff reglementiert.^i Man spricht folglich von der Pluralitat und Dispersion der Kunstszene und doch ist die Formation der Kunst das Ergebnis historisch und geografisch lokalisierbarer Praxen. Diese Praxen konnen rekonstruiert werden.i2
Es wurde bereits dargelegt, dass das Hervorbringen, Vermitteln und Rezipieren von Kunst eine komplexe, auf bestimmten Voraussetzungen basierende Tatigkeit ist (siehe auch Unterkap. 7.2 und 11.2), die schon seit mehr als einem Jahrhundert in hohem Grad professionalisiert ist. In fast alien Fallen ist der Prozess der Realisierung, Veroffentlichung und Vermittlung einer kiinstlerischen Leistung die Folge einer koUektiven Anstrengung. Mit anderen Worten ist Kunst das Ergebnis einer gemeinschaftlichen kulturellen Praxis.^^ Die Einbettung der Kunstwerke in ein PraxiskoUektiv findet auch auf einer funktionalen Ebene statt. Kunstwerke erfiillen je nach situativem Umfeld unterschiedliche Funktionen. Sie konnen als Mittel politischer Propaganda fungieren, Ausdruck von Protest und Haresie sein, als Investitionsform und Kapitalanlage gebraucht werden oder Artikulation von Gedanken sein, identitatsstiftende Symbole liefem, Teil eines Ritus sein und vieles mehr. Kunst erfiillt mehrere Fimktionen, w^eil sie in einer vielfaltigen Beziehung zu kollektiven (okonomischen, sozialen, politischen, kulturellen) und individuellen Bediirfnissen und Interessen steht. Die Beobachtung und Analyse des Umgangs mit Kulturgiitem (bzw. Kunstwerken) ist demzufolge relevant fiir das Verstandnis der Funktionen von Kimst. Ich mochte hier allerdings nicht einer allzu simplifizierenden Auslegung der These „der
11 Siehe auch Groys, Boris: „Uber die Lage des heutigen Kimstkommentators'", in Groys 1997,11-26. 12 Siehe beispielsweise Becker 1982; Crane 1987; White 1993; Bourdieu 1999 (1992) sowie Tschmuck2001. 13 Siehe Becker 1982 und Becker 1986. Der Terminus „gemeinschaftHche Praxis'' lehnt sich an Max Webers Begriff vom „Gemeinschaftshandeln'' an - Weber, Max: „Uber einige Kategorien der verstehenden Soziologie'' (1913), in Weber 1988, 427-474; siehe auch Methlagl2002,9.
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Praxisorientierte Analyse der Kunst
Gebrauch (Usus) bestimmt die Bedeutung" Vorschub leisten. Die Beriicksichtigung des Gebrauchs ist zweifellos bedeutsam, aber der konkrete Gebrauch steht immer im Spannimgsverhaltnis zu altemativen Gebrauchsweisen. In diesem Sinne soUte der einzelne konkrete Gebrauch nicht einfach als der determinierende Aspekt der Praxis verstanden werden. Eine Gebrauchsweise findet nie ohne vorausgehende Diskurse statt - wie es auch umgekehrt keinen Diskurs ohne eine praktische, vordiskursive Einbettung gibt. Die Verschrankung von Kunst mit der kulturellen Semantik (Diskurse) und der gesellschaftlichen Organisation des Handelns (Institutionen, Professionalisierung) verlangt konsequenterweise, dass wir die episteraischen Ziele der Kunstwissenschaften verlagern: von der Suche nach einer „veritas transcendentalis" zur Untersuchung und Klarung der Kontingenz und Sozialitat der Kunst. 6.3
Ein institutionstheoretisches Modell der Formation des Kunstbegriffs
Den Ausgangspunkt fiir dieses Vorhaben bildet die Auffassung des Kunstbegriffs als Ergebnis eines komplexen Interaktionsprozesses zwischen Produktion und Rezeption, wobei sich viele andere Instanzen und Vermittlungsinstitutionen kraftig in diese Interaktion einmischen. Diese praktische Sichtweise der Formation des Kunstbegriffs wird durch eine diskursive Ebene erganzt. Auf der einen Seite wirkt die differenzielle Verwebung von Kunst und Nichtkunst ein, indem sie die Reichweite des Kunstbegriffs permanent neu markiert. Auf der anderen Seite ist der Kunstbegriff eine emergente Schopfung von Klassifikationen, Interpretationsmustem, Praferenzen und Interessen, die im Rahmen eines Systems von Institutionen und kulturellen Praktiken gebildet und artikuliert wird. Die Frage nach dem Umfang und den Merkmalen des Kunstbegriffs gewinnt hier eine neue Ausrichtung: Warm, wo und wie wird ein Gegenstand oder eine Handlimg als „Kunst" bezeichnet und wie entstehen andere verwandte Konzepte, wie zum Beispiel „KunstlerIn", „kunstlerische Qualitat" u.a.? Die Dynamisierung der Fragestellung nicht die Frage nach dem „Was" und dem „Wesen", sondem nach dem Formationsprozess steht im Vordergrund - ist eine notwendige Konsequenz aus der Anerkennung der Kontingenz und Pluralitat der Kunst. Der Formationsprozess meint nicht blofi den regulativen Diskurs,
Ein institutionstheoretisches Modell der Formation des Kunstbegriffs
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sondem dezidiert auch die Praxis, die eine generative Funktion hat, weil sie Handlungen ermoglicht iind reguliert. Die Praxis ist selbst ein strukturiertes Feld. Diese Strukturierung leisten im Wesentlichen jene sozialen Instanzen, die das kiinstlerische Feld ausmachen. Institutionen wie Recht, Markt, Ausbildungswesen und Berufsbedingungen, Kunstkritik, Prasentationsforen und die damit verbimdenen impliziten und expliziten Regeln tun dasselbe, was das Skelett und die Muskeln fiir den menschlichen Korper leisten: Sie halten die Kunstpraxis aufrecht. All die hier genannten Institutionen und Instanzen des Kunstbegriffs haben unterschiedliche konstitutive und regulative Funktionen, deren Wirkung und Intensitat von Fall zu Fall variiert. Viele Produktionspraxen sind beispielsweise iiberproportional von Marktmechanismen abhangig, wahrend andere wiederum nur sehr lose Beziehungen zum Kunstmarkt haben. Manche Kunstschaffende schopfen ihre Legitimation primar aus der Basis ihrer kunsttheoretischen Reputation, fiir andere hingegen ist die massenmediale Prasenz fiir ihren Erfolg entscheidend. All dies soil als Hinweis auf die Vielfalt der existierenden Kunstpraxen und professionellen Karrierewege verstanden werden. Die synergetische Wirkung der Instanzen des Kunstbegriffs kann synchron wie auch diachron gedacht werden. Im letzten Fall benotigen wir drei zusatzliche Koordtnaten: eine raumliche (geografische), eine zeitliche (historische) und eine politische. Diese drei Koordinaten bilden den Rahmen des Kunstbetriebs als institutionelles Feld. Die operativen Funktionen und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Instanzen sind in meinem Buch „Kunst oder Nichtkunst" (1997) ausfiihrlich dargelegt und analysiert, weshalb ich hier nur einige Aspekte streifen werde. Im Korpus der Rechtsnormen ftnden sich direkte und indirekte Bestimmungen iiber zentrale Konzepte wie „Kunstwerk", „Kiinstler", „kiinstlerische Freiheit" sowie iiber andere Termini wie „Originar', „geistiges Eigentum", „Obszonitat", „offentliches Argemis" u.a., die auf die kiinstlerische Praxis riickwirken. Das Privatrecht gibt die Rahmenbedingungen fiir die verschiedenen Vertrage vor, die laufend in der Kunstwelt abgeschlossen werden. Im Strafrecht erfahrt die Ausiibung und Veroffentlichung von Kunst konkrete Grenzen. Schliefilich beeinflusst das jeweils geltende Recht und die reale Kulturpolitik die okonomische
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Praxisorientierte Analyse der Kiinst
Lage der Kimstschaffenden - man denke an das Steuerrecht, die Sozialversicherungsgesetze, die Marktregulieriing oder an die Subventionspolitik der offentlichen Hand. Die Markte fiir ktinstlerische Leistungen sind spartenmafiig sehr verschieden. Man konnte grundsatzlich von drei Arten sprechen: vom Markt fiir Originale, vom Markt fiir Rechte imd Lizenzen sowie vom Markt fiir Kopien. Eine zentrale Voraussetzimg fiir das geordnete Funktionieren der Markte ist die Klarung der materiellen und immateriellen Eigentumsverhaltnisse. Kunstwerke werden grundsatzlich als Ergebnis individueller Handlungen und Entscheidungen, d.h. als „eigentiimliche geistige Schopfimgen" betrachtet. Sie geniefien daher besonderen Schutz, wobei einige Rechtsanspriiche, die an das geistige Eigentum gekniipft sind (z.B. Namensrecht, Schutz der Werkintegritat u.a.) in manchen Fallen starker als das materielle Eigentumsrecht sind. Das ist ein Spezifikum, das Kunstmarkte von anderen Markten unterscheidet.i^ Wahrend wir gewohnlich eine Uberzahl an Kulturschaffenden und eine hohe Redundanz im Kulturangebot beobachten konnen, gelingt es den Kunstmarkten manchmal, ihre Selektionslogik durchzusetzen. Das Marketing und die breiten Distributionsstrukturen von grofien Unternehmen (nicht selten handelt es sich um international agierende Konzeme) zielen darauf ab, die offentliche Aufmerksamkeit auf einige wenige Produkte zu fixieren. In der Folge simulieren sie einen Zustand von Knappheit, der im Einzelfall extrem hohe Ertrage moglich macht. Dieser Prozess wird auch durch die Auratisienmg der Kunst, den Geniemythos und den Superstarkult unterstiitzt. Neben der okonomischen haben Kunstmarkte noch eine weitere wichtige soziale Funktion. Markte im Allgemeinen und konkrete Marktakteurlnnen im Speziellen sind, metaphorisch gesprochen. Gatekeeper, well sie mafigeblich an der Entstehung einer Kimstoffentlichkeit beteiligt
^4 Ziir okonomischen Dimension von Artefakten siehe Pommerehne, Werner: „De artibus nihil nisi bene? Kunstfordenmg axis Sicht des Okonomen'', in Robertson-Wensauer 2000, 283-309.
Ein institutionstheoretisches Modell der Formation des Kunstbegriffs
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sind. Da der Zutritt zu den „hoheren Spharen" der Kimstwelt, der mit Anerkennung, d.h. sozialem Prestige iind Reichtum, einhergeht, meist (aber nicht immer) durch offentliche Prasenz und erfolgreiche Durchsetzung am Markt erreicht wird, ist der Markt als Instanz zu einem unumganglichen Partner der Kunstschaffenden geworden. Die Gatekeeping-Funktion ist sogar lunso wirksamer und intensiver, je starker oligopolistisch einzelne Marktsegmente ausgepragt sind. Dennoch darf der Einfluss des Marktes auf das Kunstgeschehen und die Entstehung offentlicher Aufmerksamkeit nicht iiberbewertet werden. Es ist daher wichtig, die Wechselwirkung zwischen Markt und anderen Instanzen im Auge zu behalten. Die asthetisch-evaluativen Aspekte einerseits und okonomische Uberlegungen andererseits, welche die Strategien der Kunsthandlerlnnen und Produzentlnnen bestimmen, interferieren stark, so dass sie nicht voUig voneinander getrennt erortert werden konnen.i^ Eine dritte Instanz, die die Formation des Kunstbegriffs pragt, betrifft die Berufsbedingungen und die RoUe des BerufskoUektivs, mit anderen Worten die gesellschaftliche Organisation der kiinstlerischen Tatigkeiten. Wie Berufsbilder entstehen, und wer als Kunstschaffende/r, Kunstvermittlerln oder Kunstmanagerin gilt, ist eine Angelegenheit, die teils formell, teils informell, aber weitgehend koUektiv geregelt wird (siehe auch Unterkap. 11.7). Berufsbilder sind insofem signifikant, als sie das subjektive Selbstverstandnis der Einzelnen und den Ethos des Berufskollektivs strukturieren. Daraus formen sich geteilte Handlungs- und Erwartungsmuster, die im Weiteren eine berufliche Praxisgemeinschaft mit konstituieren. Jeder Geltungsanspruch, der im Rahmen der Professionalitat artikuliert wird, strebt stets nach Anerkennung des im jeweiligen Kontext „bedeutimgsvollen Anderen" (Mead). Da Kimst einen symbolisch stark aufgeladenen Bereich umfasst, spielen im Anerkennungsprozess auch kulturelle Mythen (z.B. Kiinstlermythen) und soziale Vorurteile (z.B. Geschlechterasymmetrie, ethnische und rassistische Diskri-
15 Zur Interaktion von Asthetik und Okonomie siehe auch Groys 1992; Klein 1993; Porrunerehne/Frey 1993 (1989).
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Praxisorientierte Analyse der Kimst
minierung) eine relevante Rolle. Sowohl durch die Mythologisierung als auch durch die okonomische Logik des Feldes (aus der Vielfalt und hohen Redundanz muss Knappheit konstruiert werden) entstelit eine Starke Hierarchisierung, die sich in signifikanten Einkommensunterschieden zwischen einzelnen Kunstschaffenden niederschlagt. Die Prasentation und Vermittlung einer kiinstlerischen Leistung spielen eine bedeutende Rolle, well sie die Rezeption quantitativ und qualitativ beeinflussen. Diese Leistung erflillen primar die Institutionen der Kunstkritik und Kunstberichterstattung, die Ausstellungs- und Auffuhrungsorte (Museen, Theater- und Konzerthauser u.a.) sowie kulturelle Archive und Bildungsinstitutionen. All diese Institutionen wirken an der Formation des sozialen Gedachtrdsses mit, das tendenziell entsprechend der Denkkategorien und Valorisierungstechniken strukturiert ist. Unter einer bestimmten Ferspektive sind asthetische Standards, die die jeweiligen Prasentations- und Vermittlimgskontexte transportieren, mit handlungsstiftenden Regeln vergleichbar. Zum Beispiel herrscht im Theater ein Schweigegebot, im Museum wird nur leises Fliistem toleriert, im Konzertsaal gilt sogar „Hustverbot" und selbst das Klatschen ist rituaisiert: Zwischen den Satzen einer Symphonie wird nie applaudiert. Es besteht kein Zweifel, dass die sekundaren Vermittlungsinstanzen von Kunst, namlich die Print- und audiovisuellen Massenmedien sowie die damit einhergehende Professionalisierung der Kunstpublizistik^^^ den gesamten Kultursektor im 20. Jahrhundert mafigebend verandert haben - strukturell und materiell. All die Foren und Organisationen, die asthetische Standards bzw. Werte kommunizieren, wirken ebenfalls auf die Akteurlnnen der Kunstwelt, ihr Handeln und ihre Produktionsweise zuriick. Kunstschaffende arbeiten heute von Anfang an medienbewusst
16 Noch bis in die 1940er Jahre wurde Kunstkritik haufig von gebildeten Laien verfasst. Die Expansion der Medien vaxd des Kunstbetriebes in der zweiten Halfte des 20. Jahrhtinderts machte die Professionalisierung und Spezialisierung der Kunstkritik notwendig. Heute ist die Mehrheit der Kunstkritikerlnnen, die in Fachzeitschiiften und uberregionalen Tageszeitungen schreiben, geisteswissenschaftlich ausgebildet.
Ein institutionstheoretisches Modell der Formation des Kimstbegriffs
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und betrachten die Medienarbeit oft als zentralen Bestandteil ihrer professionellen Tatigkeit. Dies erklart sich u.a. durch die Tatsache, dass die mediale Prasenz ein wichtiger Impulsgeber fiir Konsumentlnnen ist, um eine Ausstellung oder eine Auffuhrung zu besuchen, ein Buch oder eine Musikaufnahme zu kaufen. Die Identitatskrise der primaren Vermittlungsinstitutionen hat in den letzten Jahren markant zugenommen. Nicht nur die interne Kritik hat die Vormachtstellung der Kunstkritiker (die Maskulinform hier ist bewusst gewahlt, weil diese Tatigkeit bis in den 1960er Jahren grundsatzlich als Mannerberuf gait) zuriickgedrangt. Auch (a) der Durchbruch der elektronischen Massenmedien, (b) die starke Abhangigkeit der Kunstzeitschriften und anderer Printmedien von den Einnahmen aus dem Anzeigenverkauf sowie (c) der steigende Einfluss des Marktes (Handlerlnnen und Grofikonzeme) in den letzten Dekaden drangten die Kunstkritikerlnnen eher an den Rand des Kunstgeschehens. Zum Abschluss dieser kurz gehaltenen Erlauterung der Formation des Kunstbegriffs mochte ich nochmals auf den Praxisbegriff zuriickkommen. Den Aspekt der Praxis ernst zu nehmen, bedeutet nicht so sehr, darauf zu achten, was die Menschen iiber Kunst sagen - das ist natiirlich auch signifikant -, sondem vor allem, wie sie mit Kunst umgehen und welchen Handlungsraustem, Gewohnheiten und Konventionen sie dabei folgen. Wenn wir kulturelle Tatigkeiten als soziales Handein beschreiben woUen, miissen wir unweigerlich einsehen, dass Handlungen, Tatigkeitsfelder und soziale Praktiken miteinander vemetzt sind. Wir benotigen ein elaboriertes methodisches und begriffliches Instrumentarium, um uns an das gesamte Handlungsumfeld behutsan\ anzunahem und die zugrunde liegenden Zusammenhange zu erfassen (siehe Kap. 3 und Kap. 12). Die Betonung der praxisbezogenen und institutionellen Aspekte der Kunst zielt nicht auf die Abschaffung der Asthetik und Kunstphilosophie. Sie impliziert lediglich eine heftige Kritik an der Abtrennung ihrer Gegenstande von ihren eigenen sozialen und praktischen Voraussetzungen.
7 Die Konflikttrachtigkeit der Kunst
7.1
Grenzen der Akzeptabilitat
Kunst formt sich an der Schnittstelle zwischen Diskursen und kulturellen Praktiken. Gerade well die relevanten diskursiven und praktischen Prozesse vielfaltig und opak sind, entsteht um den Kunstbegriff ein plurales Bedeutungsfeld, das jede Begriffsbestimmung torpediert. Ludwig Wittgenstein hat flir diese Situation das Konzept von Familienahnlichkeiten ins Spiel gebracht.^ Wenn Begriffsdefinitionen zum Scheitem verurteilt sind, heifit das aber nicht, dass der Kunstbegriff radikal entgrenzt ist. Offenen Begriffen konnen wir uns annahem, indem wir sie im Zusammenhang mit ihrem jeweiligen Gegenbegriff untersuchen: also Kunst und Nichtkunst. Grenz- und Streitfalle legen Zeugnis von den Zwistigkeiten zwischen den verschiedenen Kunstauffassungen und kulturellen Praxisgemeinschaften ab. Die Ablehnung und Nichtanerkennung von kiinstlerischen Geltungsanspriichen lassen die kontingenten Grenzen des Kunstbegriffs sichtbar werden - genauer gesagt, die Grenzen jenes Systems von Praktiken, Interessen und Werten, welches die Selektion und Interpretation asthetischer Symbole in einem gegebenen sozialen Raum dominiert und pragt.^ Die Rede von der semantischen Offenheit der Kunstwerke und der Pluralitat der Kunstpraxen beschreibt nur die eine Seite der Medaille. Es wurde bereits erwahnt, dass der Kunstbegriff im AUtag signifikante Einschrankungen erfahrt: Gerichte sind nicht bereit, alles als „Kunst" gelten zu lassen; Galeristlnnen stellen nicht beliebige Gegenstande aus, Kunstsammlerlnnen sind nicht gewillt, alles als Kunstwerke anzuerkennen
L Siehe Wittgenstein 1977 (1953), § 67, § 77. - Siehe a u d i Williams, Raymond: „Theorie imd Verfahren der Kulttiranalyse'' (1965), in Williams 1983,54f. sowie Douglas 1991 (1986), 79f.
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Die Konflikttrachtigkeit der Kunst
und zu kaufen. Kunstkritikerlnnen besprechen in Zeitungen bestimmte kiinstlerische Events, was natiirlich bedeutet, dass sie implizite Unterscheidungskriterien haben, um einen kiinstlerischen Akt von anderen Ereignissen zu unterscheiden. Es scheint so, als ob Begriffe wie Kunst, Klinstlerln, Kunstobjekt einen relativ klaren und verbindlichen Sinn im alltaglichen Sprachgebrauch haben. Das kann als Hinweis auf die Konventionalitat dieser Begriffe gelten. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb entstehen Abweichung und Dissens, so dass Konflikte als inharenter Bestandteil des kiinstlerischen Feldes betrachtet werden konnen. Die Verkniipfung von Kunst und Konflikt setzt folglich zweierlei voraus: Es ist notwendig, dass die Menschen den Unterschied zwischen Kunst und Nichtkunst als signifikant erachten und asthetischen Urteilen eine besondere Wertigkeit beimessen. Das Vorhandensein eines Ziels bzw. materieller oder immaterieller Interessen, die durchzusetzen sind, geht meistens mit der ijberzeugung einher, dass es sich lohnt, iiber einen Fall zu streiten. Die Tatsache, dass sich gelegentlich offentliche Konflikte um Kunstwerke entziinden, scheint die These vom Verlust der kulturellen Bedeutsamkeit der Kunst (Hermann Ltibbe) sowie die These von der Funktionslosigkeit der Kunst in der Spatmodeme (Peter Burger) zu widerlegen imd unterstiitzt die gegenteilige Annahme, dass zwischen Kimst imd Kultur (Weltbildem, Werten, Lebensformen) nach wie vor eine enge Bindung besteht.3 Dieses Argument lasst sich auch gegen die These von der Selbstreferenzialitat der Kunst anfiihren, die Niklas Luhmann und JeanFrancois Lyotard auf verschiedenste Weise vertraten.^
3 Siehe Liibbe 1998 und Burger 1974. 4 Siehe Luhmann 1994 und Lyotard 1986. Kritik an der Selbstreferenzialitatsthese iibt Beyme 1998a.
Grundlagen der Kunstrezeption: Verstehen, Aiislegung, Bewertung
7.2
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Grundlagen der Kunstrezeption: Verstehen, Auslegung, Bewertung
Bevor ich Kunstkonflikte explizit thematisiere^ mochte ich die Verkniipfung zwischen kiinstlerischen Artikulationen einerseits, sowie zwischen Werten und Interessen andererseits erlautern. Werte sind zentrale Bestandteile praktischer Uberlegungen und jedes Handelns - siehe auch Kap. 9 und Kap. 13. Wir bewerten, well wir interpretierende Wesen sind. Dariiber hinaus sind wir in der Lage, Griinde fur unsere Interpretationen anzugeben. In der Folge werden unsere Interpretationen und Bewertungen reinterpretiert, evaluiert und kritisiert. Da, wo Menschen zusammen leben, entsteht stets eine kommunikative Auseinandersetzung iiber Bewertungen und Bedeutungen. Die Bewertungen, die erwachsene Menschen vomehmen, sind grundsatzlich anders gelagert als das „Urteir' eines Leitwolfs liber das Verhalten eines Rudelmitglieds. Menschliche Bewertungen sind kulturell, das heifit nicht ausschliejSlich handlungsbezogen. Da sie mittels Analogien, Vergleichen und Ubertragungen entstehen, haben sie eine symbolische Struktur. Kulturell sind sie auch, weil sie auf vorangegangene und vorbildhafte Urteile sowie auf vertraute und koharente Sichtweisen (Weltbilder) zuriickgreifen. Merleau-Ponty spricht in diesem Zusammenhang von einem „intentionalen Bogen, der um uns her unsere Vergangenheit, unsere Zukunft, unsere menschliche Umwelt unsere physische Situation unsere weltanschauliche Situation, unsere moralische Situation entwirft''^ imd die Einheit unserer Sinnlichkeit, Gedanken und Handlungen ausmacht. Diese Aspekte verleihen menschlichen Bewertungen ihre unendliche Vielfalt und bedingen zugleich ihre fundamentale Fragwiirdigkeit. Wenn Bewertungen artikuliert werden, losen sie oft eine Kettenreaktion aus. Sie geben Anlass fiir Kritik und Widerstreit, evozieren Gefiihle und Wiinsche, die wiederum neue Werturteile erzeugen. Daran schliefit gelegentlich auch eine (Selbst-)Uberprufung an, eine
5 Merleau-Ponty 1966 (1945), 164.
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Die Konflikttrachtigkeit der Kunst
Infragestellung der Berechtigung des Geltungsanspruchs einer bestiminten Bewertung. Bewerten und Verstehen hangen eng zusammen. Beide sind symbolisch wie auch praktisch angelegt. Ich betone das Wort „praktisch", well ich hervorheben mochte, dass wir Kunstwerke nicht nur intrinsisch, d.h. aus sich selbst oder aus der asthetischen Erfahrung allein begreifen. Die formalen und inhaltsasthetischen Kategorien des Kunstverstehens sind nicht von ihrem historisch-kulturellen Ursprimg zu trennen und dieser ist wiederum sozial. Im Sinngebungsprozess spielen die praktische Einbettung der Kunstwerke und der Kontext ihrer Sichtbarmachung eine entscheidende Rolle. Verstehen wird hier nicht als subjektive Bewusstseinsleistung oder als psychischer Vorgang aufgefasst. Verstehen stellt primar eine praktische Funktion der Beherrschung eines Sprachspiels bzw. eine Funktion des Lebensvollzugs dar.^ Deshalb ist der Verstehenshorizont eines Menschen keinesfalls unendlich, sondem wird durch seine lebensweltliche und praktische Verankerung strukturiert. Dieses Verankertsein des Verstehens im praktischen Leben - und das gilt auch fiir jede kiinstlerische Artikulation^ - meint jedoch keinen Determinismus. In jedem Verstehensvorgang entstehen durch die relative Unbestimmtheit der Handlungen und Symbole stets Interpretationsfreiraume, die variabel besetzt werden konnen. Das ist der Grund dafiir, dass wir in jeder gesellschaftlichen Situation immer eine Interpretationsvielfalt vorfinden. Niemals sind alle Mitglieder eines Kollektivs exakt einer Meinung iiber die Bedeutsamkeit und den Wert eines Sachverhaltes. Kunstwerke (Konzepte, Objekte, Auffiihrungen) haben zwar meist eine konkrete Materialisationsform, ihre Anerkennung als bedeutungsvolle Entitaten wird aber erst durch die aktive Rezeption moglich. Die Rezeptionsweisen variieren bekanntlich: Menschen horen, sehen und le-
6 Siehe Wittgenstein 1977 (1953), § 154; Heidegger 1993 (1927), § 31; Johannessen, KjeU: „Sinnkonstitution und Wissenschaftsgeschichte. Zur Formulienmg der Grundziige einer Historiographie der Wissenschaften'', in Bohler/Nordenstam/Skirbekk 1986,58ff. ^ „Artworks are tangible realisations of culture, in support of identity/' (White 1993, 7.)
Grundlagen der Kunstrezeption: Verstehen, Auslegxmg, Bewertung
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sen Kunstwerke auf verschiedene Weise - nicht so sehr subjektiv, sond e m intersubjektiv, d.h. entsprechend ihrer Wahrnehmungsroutinen und Rezeptionsschemata. Das „Sehen-als" - eine zutreffende Charakterisierimg der Wahmehmung und des Verstehens - deutet darauf hin, dass diese Akte keinen objektiv vorhandenen Sinn aufnehmen, sondem beide sich nach Schemata richten und Sedimente fruherer Akte enthalten. Menschliche Kognition ist also an Gewohnheit und Typizitat gebunden. Diese sind teilweise prareflexiv wirksam, das heifit, sie werden von den Individuen nicht voUstandig erfasst. Die Wahmehmungs- und Verstehensergebnisse werden oft gefuhlsmafiig bzw. emotionell artikuliert, weil die Versprachlichung der zum Teil impliziten Denkbewegungen nur partiell moglich ist.^ Emotionelle Reaktionen, wie Begeisterung oder Entriistung, die sich entlang der Grenzen des Sagbaren bzw. Unsagbaren bewegen, sind zwar nicht „ideologiefrei", sie unterscheiden sich jedoch von ausformulierten Urteilsbegriindungen. In diesem Zusammenhang spielen die subjektive Evidenz und der Emdruck von der Unmittelbarkeit der sinnlichen Erfahrung eine wichtige RoUe. Ludwig Wittgenstein vermerkte diesbeziiglich einmal in seinen Notizen: „Uber das Verstehen eines Bildes mochte ich folgendes sagen: Man wird von einem Verstehen eines Genrebildes reden, wenn wir den dargestellten Vorgang, die Handlung in ihm erkennen. (...) Ist das Bild eines, wovon wir sagen wiirden, 'wir erfassen es auf den ersten Blick', so finden wir eine Schwierigkeit, zu sagen, worin das Verstehen hier eigentlich besteht. (...) Es findet in unserem Fall nicht ein bestimniter Vorgang statt, den man Wiedererkennen nennen konnte. (...) Wenn ich sage: I c h verstehe dieses Bild' so fragt sich eben: wiU ich sagen I c h verstehe es so'7 Und 'so' steht fiir eine Ubersetzung des Verstandenen in einem anderen Ausdruck. Oder ist es ein sozusagen, intransitives Verstehen? Denke ich gleichsam beim Verstehen des Einen an ein Anderes; d.h. besteht das Verstehen darin, dass ich an etwas Anderes denke? Und meine ich
8 Zu den nichtartikulierbaren Aspekten der Kimstrezeption siehe Blimienberg, Hans: „Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit'', in Blimienberg 1979, 75-93; sowie erkenntnistheoretisch in Polanyi, Michael: „Sense-Giving and Sense-Reading'' in P o l a n p 1969,181-207.
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Die Konflikttrachtigkeit der Ktinst
das nicht, so ist das Verstandene quasi autonom, iind das Verstehen dem Verstehen einer Melodie zu vergleichen/'^
Das intransitive Verstehen scheint hier ein unmittelbares Erfassen, ein untergriindiges und implizites Verstehen (tacit understanding) zu sein, das sich vollzieht, ohne in den Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit riicken zu miissen. Diese Art der Sinngenerierung ist im Gegensatz zu artikulierten Auslegungsakten („Ich verstehe es so, weil...") nicht analytisch, sondem taucht quasi spontan auf, ahnlich wie die Gestaltwahrnehmung. Das Gefiihl der Unmittelbarkeit im Sinnerfassen erzeugt beim Betrachter den Eindruck von Evidenz und Gewissheit, was eine weitere Begriindung der Sinnzuschreibung erschwert. Die Zuversicht der Sinngebung - „Es ist voUig klar..." - offenbart eine tiefere Dimension des Erkenntnisvermogens: Die subjektive Gewissheit entspringt einerseits aus der Wohlvertrautheit mit den eigenen Erfahrungsurteilen - denn es gibt immer gewisse Satze, die vom Zweifel ausgenommen sind -, andererseits aus der Untergriindigkeit (tacitness^o) solcher Verstehensakte. Wahmehmen wird in diesen Fallen zu einem Fur-Wahr-Nehmen. Der Hinweis auf den meist unerkannten und unbedachten kulturellen Hintergrund jedes Erfassens und Verstehens soil unterstreichen, dass beides erstens nicht ausschliefilich Bewusstseinsleistungen sind und zweitens nicht nur sprachlich-textuell strukturiert sind. Darauf fufit die Unterscheidung zwischen einem elementaren, sinnstiftenden Interpretationsbegriff und der Auslegung als sprachlich-systematische und reflektierte Deutung." So lasst sich mit Charles Taylor sagen:
9 Wittgensteia 1969, Teil III, § 37, 77ff. Siehe auch Johannessen, Kjell: ^Philosophy, Art and Intransitive Understanding'', in Johannessen 1994, 240ff.; Tilghman, Ben: „Seeing and Seeip-g-As'' in Goranzon/Florin 1990,13-22. 10 Siehe Wittgenstein 1994a (1969), § 341; CoUingwood 1940, 47ff. sowie Polanyi, Michael: „Knowing and Being'' (1961), in Polanyi 1969,134. 11 Die Unterscheidung zwischen ausdriicklicher Auslegung und implizitem Verstehen findet sich auch bei Martin Heidegger. Die Aiislegung ist die Interpretation der aUtaglichen Verstehensleistungen. Das Verstehen ist aber viel fundamentaler als die Auslegung, denn Heidegger definiert es als Grundmerkmal des Daseins. Der Mensch begeg-
Grundlagen der Kuristrezeption: Verstehen, Auslegung, Bewertung
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„To situate our understanding in practices is to see it as implicit in our activity, and hence as going well beyond what we manage to frame representations of. (...) This understanding (that is largely inarticulate) is more fundamental in two ways: (1) it is always there, where we sometimes frame representations and sometimes do not, and (2) the representations we do make are comprehensible against the background provided by this inarticulate understanding.''^^
Das Konzept des intransitiven Verstehens ist fiir die Analyse der Kuristrezeption grundlegend. Kunstwerke und asthetische Symbole weisen eine metaphorische Dichte auf xind haben Mehrfachkodierungen. Das Verstehen eines Kimstwerks setzt in der Kegel voraus, dass der/die Rezipientln eine entsprechende interpretative Kompetenz hat, das heifit er/sie muss bereits vielfaltige Erfahrungen in jenem Kulturkreis gemacht haben, in welchem das Kunstwerk prasentiert und zum Interpretationsgegenstand wird. Im Wahrnehmungs- und Verstehensprozess werden gewisse Erlebnis- und Assoziationsvorgange aktiviert, die unterschwellig wirksam sind. Solche Vorgange sind unvermeidbar; sie sind zugleich verfiihrerisch, well sie die Illusion von Klarheit, Evidenz und Unmittelbarkeit generieren. Wie leicht man Opfer dieser Verfuhrungskraft werden kann, zeigt Martin Heideggers Kommentar zu Vincent Van Goghs Gemalde „Ein Paar Schuhe" (1886), der in seinem Aufsatz „Der Ursprung des Kunstwerkes" (1936) veroffentlicht wurde: „Aus der dimklen Offnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeuges starrt die Muhsal der Arbeitsschritte. (...) Auf dem Leder liegt das Feuchte und Satte des Bodens. Unter den Sohlen schiebt sich hin die Einsamkeit des Feldweges durch den sinkenden Abend. In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stiUes Verschenken des reifenden Komes.''^^
net der Welt verstehend und nicht abbildend. Dadurch, dass er das Begegnende nicht blofi reproduziert, ist er in der Lage sich unterschiedliche Moglichkeiten der Begegnung ausdenken. Die Auslegung setzt sich mit dem Verstandenen auseinander und begreift es zugleich als etwas Entworfenes. Siehe Heidegger 1993 (1927), § 31-33. 12 Taylor, Charles: „To Follow a Rule'' (1992) in Taylor 1995,170. Auch Polanyi imterscheidet zwischen einer primaren sinngenerierenden Einordnung von Zeichen (conceptual subsumption) und einer sekundaren begrifflichen ExempHfikation (conceptual exemplification), die nicht identisch mit dem primaren Akt der Sinngebung ist. Siehe Polanyi, Michael: „Sense-Giving and Sense-Reading" (1967), in Polanyi 1969,190f. 13 Heidegger 1960 (1936), 29.
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Heidegger glaubte in den abgebildeten Schuhen Bauemschuhe zu erkennen. Diese Assoziation ist mit hoher Wahrscheinlichkeit willkiirlich, denn Van Gogh malte diese Schuhe zu einem Zeitpunkt, als er bereits in Paris lebte. Heidegger meinte, dass in dem und durch das Gemalde das verborgene Sein des Bauemtums sichtbar wird: die Bodengebundenheit. Dass seine Auslegung von der damals weit verbreiteten Blut-und-Boden-Ideologie herstammen konnte, kommt Heidegger nicht in den Sinn. Und er fahrt weiter fort: „[Das Kunstwerk] hat gesprochen (...) Das Kunstwerk gab zu wissen, was das Schuhzeug in Wahrheit ist. Es ware die schlimmste Selbsttauschung, wollten wir meinen, tmser Beschreiben habe als ein subjektives Tun alles so ausgemalt und dann hineingelegt."i4
Die Unmittelbarkeit des Sinngebens suggeriert, das Kunstwerk habe dabei eine aktive Rolle inne. Es spricht, man soil also hinhorchen. Heidegger unterscheidet daher nicht zwischen dem kiinstlerischen Ausdruck (Form, Zeichen) und seiner Bedeutung. Das Werk bewirkt eine Einheit und schafft somit eine Identitat zwischen Ausdruck und Bedeutung. Somit wird nachvollziehbar, warum Heidegger in diesem Kunstaufsatz das Wesen des Kunstwerks als das //Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit" definiert.15 Dem Kunstbetrachter, hier Heidegger selbst, erscheint die Stimme des Kunstwerks so wahrhaftig und reell, dass er iiberzeugt ist, nichts hineingelegt, sondem blofi „ausgelegt" zu haben. Er begreift sich folglich als Sprachrohr des Seins, derm die Wahrheit des Kunstwerks ist „ein noch Ungesagtes, [das] durch das Gesagte vor Augen gelegt [wird]", so Heidegger.i6 ist der „Meisterdenker Deutschlands" Opfer seines eigenen Evidenzgefuhls geworden?
i4Ebd.32. 15 Ebd. 34. 16 Heidegger 1929,192f. Das „Sein'', das sich selbst in und durch das Kunstwerk zeigt, steUt in Heideggers antimetaphysischer Philosophie eine nach oben offene Formel dar. Heidegger betont zwar die worthafte Stiftung des Seins und somit auch die Notwendig-
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Entgegen der Heidegger'schen Auffassung orte ich den Sinn des Kunstwerks nicht in ihm selbst, sondem als ein virtuelles Moment, das in der konkreten Interaktion zwischen Werk, Prasentationskontext und Rezeption in vielfaltigen iind polyphonen Gestalten konstruiert wird. Das Kunstverstehen ist nicht von unseren Umgangsweisen mit den Kunstwerken, d.h. von unseren kulturellen Praktiken zu trennen. Wir verstehen asthetische Objekte einmal asthetisch, ein andermal politisch, sinnlich oder historisch orientiert usw^. je nach Situation, aktuellen Erwartungen, Interpretationsschemata sowie sonstigen praktischen und kontextuellen Gegebenheiten.
Wahl, Praferenzen
Interpretationsmuster Rezeptionserfahrungen normative Orientierung
\
Prasentationskontext, Sichtbarkeit
I
praktischer Rahmen (Informations-, Zeit-, Geldressourcen)
Rezeption kulturelle Giiter
-^ t
praktische (teilnehmende oder anfienstehende) Position
„bedeutungsvoUe Andere^'
Figur 3 Rahmenbedingungenfur die Rezeption kultureller Giiter 7.3
Konflikttypen
Nach diesen erkenntnistheoretischen Vorbemerkungen wenden wir uns nun dem eigentlichen Thema, den Kunstkonflikten, zu. Es gibt unterschiedliche Typen von Konflikten, die sich um Kunstwerke entziinden. Sowohl die Ausgangslage als auch die Intentionen der involvierten Konkeit einer Auslegimg des Kunstwerkes, aber das Sein ist fiir ihn kein Begriff - siehe Zembylas 2000a, 215-230.
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Die Konflikttrachtigkeit der Kimst
fliktparteien variieren, so dass hier nur eine allgemeine Typologie der Konflikte formuliert werden kann. Es gibt einen Typus von Konflikten, der privatrechtlicher Natur (z.B. urheber-, arbeits- und vertragsrechtlich) ist. Darauf wird nur peripher eingegangen - siehe Unterkap. 8.5. Solche Konflikte stehen in expliziter Verbindung zu offen dargelegten materiellen Interessen. Sie zeigen in unmissverstandlicher Weise, dass das Attribut „Kunst" nicht blofi eine evaluative Metapher (Richard Wollheim) oder eine absolute Metapher (Hans Blumenberg) darstellt. Der Benennungsakt „X ist ein Kunstwerk" hat reale Konsequenzen. Kunstgegenstande erfahren im Rahmen der geltenden Rechtsordnung bekanntlich eine Sonderbehandlung. Mit dem Kunststatus sind materielle und immaterielle Rechte verkniipft, z.B. Namensrecht, Werkschutz, urheberrechtliche und folgerechtliche Anspriiche.i7 Selbst der Umfang der Kunstfreiheit wird iiblicherweise breiter ausgelegt, als die Freiheit, die im Rahmen der Meinungsfreiheit gewahrleistet wird.18 Die Bedeutsamkeit des Kunststatus zeigt sich letztlich auch im standigen Spannimgsverhaltnis zwischen der so genannten freien und der angewandten Kunst, sowie zwischen klassischen Kulturinsti-
17 Die historische Entwicklimg des Copyrights zeigt jedenfalls, dass die Gesetzgebung primar Riicksicht auf die Interessen der Investoren (Inhaber der Nutzungsrechte) imd nicht so sehr auf die Interessen der Kimstschaffenden nimmt. So steUt Kretschmer fest, dass „the rhetoric of author's rights has been largerly carried by third parties: publishers and record companies, i.e. investors of creativity (rather than creators) who also turn out to be the chief beneficiaries of extended protection.'' (Kretschmer, Martin: „Intellectual Property in Music. A Historical Analysis of Rhetoric and Institutional Practices", Paper, City University Business School, London, 1999,2.) ^8 Die Garantie der Kunstfreiheit in Osterreich (Art. 17a StGG) ist erst seit 1982 expHzit in der Verfassung formuliert worden, weil man der Meinung war, dass die bereits geltende Meinungsfreiheit (Art. 13 StGG) und Freiheit der wissenschaftHchen Forschung imd Lehre (Art. 17 StGG) die Eigenart der kiinstlerischen Ausdrucksformen nicht angemessen beriicksichtigen. In der Rechtsprechung wird demgemafi ein Unterschied gemacht zwischen Aul^erungen, die als „kiinstlerischer Ausdruck" quaMziert werden, imd Aufierungen, die als Tatsachenbehauptungen, Meinungen oder als Aufforderungen interpretiert werden.
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tutionen und kommerziellen Betrieben wie Werbeuntemehmen, Kleidungsindustrie u.a. Sowohl die Anerkennimg des kiinstlerischen Status als auch die Feststellung und Sicherung urheberrechtlicher Anspriiche werden regelmafiig vor Gericht erkampft. Die Finanzvolumen, um die manchmal gestritten wird, konnen astronomische Dimensionen erreichen, wie es z.B. im Streitfall mehrerer Musik-Majors mit dem Internetprovider „Napster" der Fall war.^^ Abgesehen von privatrechtlichen Zwistigkeiten gibt es Konflikte, die primar offentlichen Charakter haben. Solche Konflikte unterscheiden sich von privaten, zwischenmenschlichen Konflikten erstens durch die grofie Anzahl der Individuen, die dadurch betroffen sind und zweitens durch die Tatsache, dass nicht alle Betroffenen zu Wort kommen konnen. Zudem ist die Legitimation der Reprasentanten der jeweiligen Gruppen, die als „Sprachrohre" einer Gemeinschaft auftreten, oft sehr fragwiirdig. Die konkreten Falle lassen sich in zwei Haupttypen teilen: 1. Konflikte, die zumindest vordergriindig um die Interpretation und asthetische Wertschatzung eines Kunstwerks kreisen. 2. Konflikte, die ausdriicklich die rechtliche Legitimitat der Verojfentlichung eines Werks in Frage stellen. Sofem sich Konflikte auf der Ebene der asthetischen Wertschatzung entfalten, kommen asthetische Kriterien explizit zum Einsatz. Man denke hier beispielsweise an offentliche Debatten iiber die Forderungswiirdigkeit und Qualitat eines kiinstlerischen Projektes, z.B. iiber einige Auffiihrungen im Rahmen der „Salzburger Festspiele"2o, iiber Hans
19 Dazu siehe auch Tschmuck, Peter: „Musikanbieter im Internet - B2C-Services als Altemativen zu traditionellen Distributionsformen in der Musikindustrie?'' in Bruhn/ Stauss 2002, 724-751 sowie Smiers 2003, Kap. 3. 20 Die meisten Konflikte wahrend der Ara von Gerard Mortier (1991-2001) entziindeten sich an Vertreterlnnen des sogenannten Regietheaters. Von Kritikerlnnen der Offnimg des Programms fur Gegenwartsproduktionen kam regelmafiig der Vorwurf der Werkuntreue, wie etwa bei der „Fledermaus''-Inszenierung von Hans Neuenfels (August 2001) oder bei Calicxto Bieitos Version von Shakespeares „Macbeth'' (Juli 2001).
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Haackes Installation „Der Bevolkerung" in\ Lichthof des Deutschen Reichstags (Berlin, 1998-20002i) oder iiber die Adaquatheit eines Mahnmals z.B. Rachel Whitereads Holocaust-Mahnmal am Wiener Judenplatz (1996-2000^2) ix.a. Aufieningen iiber den kiinstlerischen Wert eines Artefakts lassen sich nicht auf ein moralisches (gut/schlecht) oder asthetisches (schon/hasslich) Unterscheidungsscheraa reduzieren. Kiinsturteile sind strukturell und inhaltlich komplex, well sie auf unterschiedliche Kunstbegriffe, Zielvorstellungen und kulturelle Erfahrungen zuriickgreifen. Es ware also kurzsichtig und naiv zu glauben, solche Konflikte griindeten sich allein auf Geschmacks- und Meinungsverschiedenheiten. Kunstkonflikte, die offentlich ausgetragen werden, beriihren oft Grundfragen der politischen Gemeinschaft - Fragen, die gelegentlich einen iibergreifenden Konsens erfordem. Als beispielsweise manche kunstinteressierte Personen Gerard Mortiers Programmgestaltung fiir die Salzburger Festspiele nicht goutierten und anschliefiend im Zusammenhang mit Hans Neuenfels' Inszenierung der „Fledern\aus" (2001) in Zeitungsartikeln „dem kleinen Belgier ein Aufnimmerwiedersehen" wiinschten, so ging es bei den anschliel?enden Debatten in den Medien ei-
21 1998 erhielt Hans Haacke eine Einladimg sich am Kunstwettbewerb fiir die Gestaltimg des Reichsrats zu beteiligen. Sein Konzept, eine Neoninstallation mit der Aufschrift „Der Bevolkerung'^, bezog sich aiif die vorhandene Inschrift am Westportal des Reichstags. Der letzte deutsche Kaiser liefi Ende des 19. Jhs. das Gebaude mit der Widmimg „Dem deutschen Voike'' errichten. Haacke kritisierte die nationaUstische Konnotation des Widmungstextes und meinte, dass der Staat bzw. das Parlament fiir aUe Menschen, die im Gebiet der BRD leben, zu sorgen hat - deshalb seine modifizierte Widmungsversion „Der Bevolkerung''. Im Januar 2000 stimmte der Kunstbeirat fiir Haackes Entwurf. Nach einer kontroversiellen Debatte in den Medien votierte auch die Mehrheit der Abgeordneten fiir die Realisierung des Projektes. Im September 2000 wurde die Installation eroffnet. 22 Rachel Whiteread reichte 1996 ihren Entwurf zum Holocaust-Mahnmal am Judenplatz in Wien ein. Im gleichen Jahr wurde ihr Konzept aus mehreren anderen Entwiirfen gewahlt. Es dauerte jedoch vier Jahre bis zur Realisierung des Mahnmals, imter anderem weil m a n im^ter dem Judenplatz die Fundamente einer alten, zerstorten S5magoge fand.
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gentlich nicht nur u m die Frage, was eine „werkgerechte" Interpretation ist oder um die Bewertung der kiinstlerischen Leistung des Intendanten, sondem um ein vorgelagertes und umfassenderes Thema: Ist es wichtiger, bestimmte etablierte Traditionen wie das Image der Salzburger Festspiele konsequent zu pflegen bzw. bestimmte kanonische Exegesen zu verlangen (so der Ruf nach „Werktreue") und somit das Streben nach einer stabilen und homogenen Identitat zu fordern oder ist es generell wiinschenswert, den Umgang mit Differenzen zu normalisieren und so Andersheit als legitime Erscheinung zu betrachten? Wenn homogene Identitat und Koharenz anzustreben ist, dann haben im Sinne einer polemischen Zuspitzung, wie sie etwa die FPO mehrfach praktizierte, „samtliche Nestbeschmutzer, volksfremde Kiinstler imd dekadente Nihilisten, die imser sauer verdientes Geld missbrauchen, in unserem schonen Land nichts verloren"23. Also: „Raus mit dem Schuft!"24 Sofem aber eine politische Gemeinschaft einen positiven Umgang mit Andersheit anstrebt, ist sie auch bereit einzusehen, dass Differenzen und Auseinandersetzimgen das gesellschaftliche Zusammenleben befruchten. Durch eine Konfrontation konnen neue Kontakte und ein Austausch zwischen sozialen Gruppen entstehen, die vorher vielleicht nur wenige Beziehungen miteinander unterhielten. Soziale Transgression kann weiter zur Revision mancher tradierten Ansichten und tief verwurzelter Vorurteile fiihren. Unter dieser Perspektive konnen Konflikte etwas Positives bewirken, zumal sie die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben fordern. Der zweite Konflikttypus, der die Legitimitat der Veroffentlichung eines Kunstwerks in Frage stellt, betrifft zugleich dessen Existenzberech-
23 Ahnliche Formulienmgen finden sich in Haider 1993, 85 und in der IV. These des „Lorenzer Kreises'' (inteUektueUes Umfeld der FPO), erschienen in der rechtskonservativen Zeitschrift Aula, Nr. 10/1989. Dazu siehe auch Klimitsch, 1994. 24 Der Ausspruch „Hinaus mit diesem Schuft aus Wien" lehnt sich an ein Karl Kraus-Zitat an und wurde von Jorg Haider in Richtung Claus Peymann im Oktober 1988, damals Direktor des Wiener Burgtheaters, ausgesprochen.
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tigung. Hier sind einige bekannte Beispiele aus den letzten Jahren in Erinnerung zu rufen: der Film „Das Gespenst" von Herbert Achternbusch (Graz, 198325), das Theaterstiick „Heldenplatz" von Thomas Bernhards (Wiener Burgtheater, 198826), Robert Mappelthorpes Ausstellung „Perfect Moment" (Washington, 1989^^), Otto Miihls Bild „Apokalypse" (Wiener Secession, 199828), Chris Ofilis Bild „The Holy Virgin Mary" (Gruppenausstellung „Sensation - Young British Artists", New York, 199929), der Fibn „Baise-moi" von Virginie Despentes (Frankreich, 20003°)
25 Im November 1983 wurde der Film „Das Gespenst'' wegen Herabwiirdigiing religioser Lehren vor der osterreichischen Erstaiiffiihrung durch das Landesgericht fiir Strafsachen in Graz beschlagnahmt. Die Bekampfimg dieser Mafinahme dauerte uber zwei Jahre ohne Erfolg. Der Film darf in Osterreich bis heute nicht offentHch gezeigt werden. 26 Am 4. November 1988 fand am Wiener Burgtheater die Urauffuhrung von Thomas Bemhards Stuck „Heldenplatz'' statt, das als Auftragswerk zum 100-jahrigen Jubilaum des Burgtheaters entstand. Die Hauptfigur des Stiickes Robert Schuster auEert wiederholt, dass die Osterreicherlnnen immer noch ein Volk von Nationalsozialisten imd Antisemiten seien. Dies emporte vor aUem konservative PoLLtikerLinen und Medien. Der damaHge Bundesprasident Kurt Waldheim bezeichnete das Stuck als „grobe Beleidigung des osterreichischen Volkes'' und zahlreiche PoHtikerlnnen forderten anschHefiend die Absetzung des Stiickes. Die Diskussionen um „Heldenplatz'' erwiesen sich eher als ein Beitrag zum Gedenlgahr 1988, in dem an den 50 Jahre zuriickliegenden Anschluss Osterreichs an Hitler-Deutschland erinnert wurde, als u m das Burgtheaterjubilatims. 27 Nach dem Tod von Robert Mapplethorpe (Marz 1989) versuchten Freunde eine Serie von Photos mit expHzitem sexuellem Inhalt in der Corcoran GaUery of Art in Washington zu zeigen. Kurz vor der Eroffnung der AussteUung sagte die Museumsleitimg die Ausstellung ab, weil der poUtische Druck gegen „obszone Kunst'' sehr grofi war und man finanzieUe Sanktionen befiirchtete. 2s Otto Muhls Bild „Apokal3rpse" steUt in einem karikaturistischen Stil eine Sexorgie dar, worin d e r / die Betrachterin einzelne offentHche Personen wiedererkennen kann. Walter Meischberger, ehemaHger Generalsekretar der FPO, der sich im Bild ebenfaUs wiederfand, klagte wegen Ehrenbeleidigung und strebte ein Ausstellungsverbot an. Nach eineinhalbjahrigem. Rechtsstreit in mehreren Instanzen gewann Meischberger. Die Wiener Secession hat den FaU beim Europaischen Gerichtshof fiir Menschenrechte gebracht; sein Ausgang ist also noch often. 2^ Aus Protest gegen die AussteUung des Bildes von Chris Ofili - DarsteUung der HeiHgen Maria mit afrikanischen Gesichtsziigen, Bildkollagen der Vagina und Elefantenkot - verweigerte die Stadt New York axif Anordnung des damaUgen Burgermeisters Rudolf
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u.a. Man kann diese Liste durch weitere Beispiele erganzen, wie etwa Nazi-Agitationen (Gedichte mit auslanderfeindlichem Inhalt, Hakenkreuzbilder), die imter Berufung auf die Kunstfreiheit politische Legitimitat beanspruchen. Die grimdsatzliche Berechtigung der Infragestellung der Ausstellungs- und Veroffentlichimgsfreiheit eines Kunstwerks ergibt sich aus der Tatsache, dass manche Kunstwerke in symbolische Wertspharen eindringen, die dem Staat, einzelnen sozialen Gruppen oder Individuen sehr wichtig, ja sogar „heilig" sind. Solche „starke Werte"3i finden wir im Zusammenhang mit der Staats- und Religionssymbolik, der allgemeinen Sittlichkeit, der Einhaltung der offentlichen Ordnung, der Respektierung der Menschenwiirde, der Sicherimg der friedlichen Koexistenz in der Gesellschaft u.a. So gesehen sind Kunstkonflikte Ausdruck tief greifender kultureller und politischer Differenzen, die nicht einfach bagatellisiert oder verharmlost werden konnen. Satze wie „Es ist vollig klar, was das Werk intendiert, namlich..." oder „So muss n\an es verstehen..." verraten die Dimension, der eine Auslegung oft unterliegt: Das Evidenzgefiihl und in der Folge die subjektive Gewissheit von der Koharenz und Richtigkeit der eigenen Position. Diese Gewissheit versperrt den Betroffenen meist den Weg zu einem analytischen Verstandnis des Dissenses. Dissens allein erzeugt aber noch keinen Konflikt. Menschen brauchen gewohnlich auch andere Motive und Griinde, um einen Konflikt zu beginnen. Sie miissen in einer sozialen Situation vitale Interessen wahrnehmen, um deren Durchsetzung sich ein Streit lohnt. Wenn Konflikte willentlich in der Offentlichkeit ausgetragen werden, dann geht es den Kontrahentlnnen nicht so sehr darum, im Verlauf eines argumentativen Disputs die gegnerische Giuliani die Auszahlimg der monatlichen Subventionen an das Brooklyn Museum. Das Museum klagte die Stadt und gewann. 30 Der Film enthalt Gewaltszenen (Vergewaltigimg, Mord u.a.) imd wurde deshalb vom franzosischen Kultiirrrdnisteriimi nur unter der hochsten Auffiihrungsrestriktion freigegeben (nicht-jugendfrei, Auffuhrungen erst nach 24h00 Uhr erlaubt). Katholische Verbande mobilisierten allerdings den Conseil d'Etat und dieser verhangte ein absolutes Auffuhrungsverbot. Zwei Jahre spater wurde dieses Verbot wieder aufgehoben. 3^ Zur Unterscheidung zwischen starken und schwachen Wertungen siehe Taylor, Charles: „Was ist menschliches Handeln?'' (1977) in Taylor 1988,9-51.
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Die Konflikttrachtigkeit der Kimst
Seite zu iiberzeugen, sondem primar um die Durchsetzung ihrer Anliegen - der offentliche Streit zwischen Martin Walser und Marcel ReichRanicki (2002) Oder der langjahrige Kampf der FPO gegen Hermann Nitsch's „ekelerregende Aktionen" zeigen, wie stark Polemik und Diffamierung hier im Vordergrund stehen. 7.4
Analyse von Kunstkonflikten
Kunst ist ein Katalysator fiir soziale Interaktionen. Konflikte um Kunstwerke konnen folglich spontan entstehen, weil die Interessendissonanz im sozialen Raum und die Umstrittenheit des Kunstbegriffs genug Ziindstoff liefem. Konflikte konnen aber auch absichtlich als Teil einer Strategie provoziert werden. Kiinstler gewinnen damit oft Publizitat Maurizio Cattelan, Michel Houellebecq, Jeff Koons, Christoph Schlingensief niitzen teilweise sehr geschickt die mediale Berichterstattung. (Die „Okonomie der Aufmerksamkeit" darf allerdings nicht verabsolutiert werden. Der Gewinn an Publizitat ist nicht das einzig relevante Motiv, welches das Handeln der Kunstschaffenden bestimmt.) Politische Parteien wiederum konnen sich durch die Konstruktion von Konflikten oder Aufdeckung bzw. Erfindung von „Skandalkunst" als Standesvertretung oder moralische Instanz profilieren. Die Suche nach Feinden ist bekanntermafien oft eine Erfolg versprechende Vorgangsweise, um verschiedene soziale Gruppen auf die eigene Seite zu bringen. Sofem Kunst in solchen Fallen als Konflikteinkleidung ge- bzw. missbraucht wird, haben asthetisch-symbolische Auseinandersetzungen einen immanent politischen Charakter. Es ist weiter wichtig, zwischen Ursachen, Auslosem und Symptomen eines Konflikts zu unterscheiden. Die Analyse des Konfliktstoffs muss sich bemiihen, mogliche Hintergrundkonflikte und -interessen offen darzulegen. Eine solche Vorgangsweise ist notwendig, weil die Konfliktparteien gewohnlich ihre Position definieren, aber ihre zentralen Interessen und Motive unausgesprochen lassen. Viele Konflikte, die in der Offentlichkeit ausgetragen werden, sind an konkrete politische Absichten gebunden, zumal die Politisierung asthetischer Symbole grundsatzlich unvermeidbar ist. Auf der einen Seite sind viele Kunstschaffende selbst politisch aktiv und begreifen ihre kiinstlerische Arbeit als engagierte, politisch-interventionistische Kimst. Sie nehmen zu aktuellen gesellschaftlichen Problemen Stellung und wagen sich auch an Tabu-
Analyse von Kimstkonflikten
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themen (Sexualitat, Gewalt, Identitatskonstruktionen u.a.) heran. In manchen Fallen ist Provokation also eine Form von performativer politischer Kunst. Auf der anderen Seite sind viele Kulturvorhaben, und Veranstaltungen, die nicht selten auch von der offentlichen Hand mitgetragen werden, an gewisse Zielsetzungen, etwa Reprasentationsfunktionen, gekniipft. Das trifft zum Beispiel auf die Gestaltung der Landerpavillons auf intemationalen Kunstbiennalen oder auf den Landerschwerpunkt der alljahrlichen Frankfurter Buchmesse zu. Die Prasentation von Kunst in solchen Kontexten wird von der Politik als Mittel zur Konstitution einer national-kulturellen Identitat betrachtet.32 Es werden folglich, zumindest bei manchen Politikerlnnen, bestimmte normative Funktionserwartungen erweckt, die die Kunst zu erfiillen hat. Der Streit um die Adaquatheit der Kunstauswahl im Hinblick auf die ErfuUimg solcher normativen Erwartungen ist vorprogrammiert. Selbst dann, wenn asthetische Aspekte in den Vordergrund offentlicher Dispute gestellt werden, sind die politischen und ideologischen Motive zentral. Das weist darauf hin, dass asthetische Symbole oft Platzhalter fiir andere Konflikte sind. Sowohl der Geltungsanspruch eines Kunstwerks als auch die Infragestellung seiner Legitimitat sind Momente im Kampf um die Kontrolle von Begriffen und gesellschaftlich anerkannten Definitionen - also kollektive Giiter. Macht spielt sich hier auf einer symbolischen Ebene ab zu Recht bemerkte George Simmel einst, „die Macht des Capitalismus erstreckt sich auch iiber Begriffe^.^s Entscheidend fiir die Analyse solcher Konflikte ist schliefilich die Klarung der Frage: Fur wen ist ein umstrittenes Kunstwerk oder eine kiinstlerische Handlung, „Kunst" oder „Nichtkunst", „obszon" oder „sittlich", „rassistisch", „beleidigend" und „diffamierend" oder lediglich „gesellschaftskritisch"? Diese Frage darf erstens nicht dazu verleiten zu glauben, dass es Individuen sind, die bestimmte Positionen generieren, und zweitens, dass es eine verbindliche, objekti-
32 Siehe auch von Beyme 1998b. 33 Simmel, George: „Alpenreise'' (1895), in Simmel 1992, 92. Zur engen Verwebting von Staat und Kimst siehe auch Becker 1982, Kap. 6; Zembylas 1997, Kap. 1.
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Die Konflikttrachtigkeit der Kimst
vierbare Auslegung eines Kunstwerks gibt, die wir uns mittels einer argumentativen Rationalitat erarbeiten konnten. Damit will ich nicht sagen, dass ethische oder asthetische Konflikte irrational (imvemunftig) sind. Ich meine aber, dass wir dariiber nicht einfach rasonieren konnen, als ob es sich um wahrheitsfahige Behauptungen handelt.34 Konflikte um Werte und Weltbilder sind intentional und kontextuell - siehe auch Figur 3. Zudem korrelieren sie mit kulturellen Identitaten und politischem Engagement, beides Faktoren, die die Betroffenen nicht wie Kleidungsstiicke nach Belieben wechseln konnen. 7.5
Die wesentliche Umstrittenheit des Kunstbegriffs
Die politische Dimension imd die machttheoretischen Implikationen sind nicht die einzigen Aspekte, die Kimstkonflikte und kulturelle Konflikte generell keimzeichnen. William Gallie sprach in diesem Zusammenhang von der wesentlichen Umstrittenheit (essentially contestability) mancher Begriffe. Als Beispiel dafiir erwahnt er neben dem Kunstbegriff auch Demokratie, Christentum imd soziale Gerechtigkeit. Diese Konzepte reprasentieren Gallie zufolge „head-on conflict[s] of interests or tastes or attitudes, which no amount of discussion can possibly dispel; we are consequently inclined to dismiss the so-called rational defences of the contesting parties as at best unconscious rationalisations and at worst sophistical special pleadings/'^s
Wesentliche umstrittene Begriffe (essentially contested concepts) weisen folgende Merkmale auf: Es handelt sich um wertende Begriffe. Gerade deshalb werden solche Begriffe oft aggressiv imd polemisch gegen andere Kon-
^ Zur Vemeinxmg der Moglichkeit, normative Inhalte mittels einer „praktischen Vernunft'', wie Kant es forderte, zu begriinden siehe Maclntyre 1995 (1981), Kap. 1-5. 35 Gallie, William: „Essentially Contested Concepts'' (1956), in Black 1962, 122. Dazu siehe auch Maclntyre 1973, 1-9 \md Janik, Allan: „Controversy and Human Studies'', in Janik 1989,109-115.
Uberlegungen zum Umgang mit Konflikten
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zeptionen gebraucht - man denke an die tradierte Opposition zwischen Kultur und Barbarei, Demokratie und Tyrannei, Kunst und Kitsch. Sie sind komplex in dem Sinne, dass sie andere Begriffe implizieren. (Jeder Kiinstbegriff enthalt spezielle Konzeptionen iiber Urheberschaft, kiinstlerische Qualitat, Kreativitat u.a. Die Opazitat des Kunstbegriffs liegt also in der ihm innewohnenden Ambiguitat imd Vielschichtigkeit.) Sie haben eine offene Bedeutung, weil es unklar ist, welchen Komponenten des Begriffs ein zentraler Stellenwert beigemessen werden soil. (Manche Kunstauffassungen stellten beispielsweise formal-asthetische, andere expressive, semantische oder politische Aspekte in den Vordergriind.) Gallie erkannte im Geiste eines pluralistisch-liberalen Ethos, dass es mehrere Auffassungen iiber Kunst (oder iiber Gerechtigkeit, Gliick usw.) geben kann, die in Relation zu einem normativen System bzw. zu einer Lebensform konsistent begriindet werden konnen. Die prinzipielle Begriindbarkeit unterschiedlicher Auffassung, die nicht miteinander vereinbar sind,^^ bedeutet, dass wir sie nicht mittels „besserer" Argumente einfach zuriickweisen konnen. Die Anerkennung der Inkommensurabilitat der imterschiedlichen Konzeptionen darf jedoch keinesfalls als Pladoyer fiir eine „repressive Toleranz" oder fiir ein indifferentes „anything goes" missverstanden werden. Die Konflikttrachtigkeit mancher kultureller und sozialer Angelegenheiten verweist auf die Vielfalt der Kontexte, in denen asthetische und moralische Urteile gefallt werden. 7.6
Uberlegungen zum Umgang mit Konflikten
Konflikte sind Phanomene, die in jeder Gesellschaftsformation und jeder politischen Ordnung vorkommen. Dem Staat (Gesetzgebimg, Rechtspre-
36 Dazu siehe auch Forst, Rainer: „Ethik imd Moral'" in Wingert/Giinther 2001,359.
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chiing, Politik) kommt die Aufgabe zu, in Konflikte regulativ und vermittelnd einzugreifen. Dariiber hinaus fallt in den Verantwortungsbereich eines liberal demokratischen Staates auch die Konstituierung und Fordening einer moglichst pluralistischen Offentlichkeit. Das kann auch zur paradoxen Situation fiihren, dass sich der Staat gegeniiber seinem eigenen Widersacher ausgleichend und integrativ verhalten muss. Ich spreche von einem Paradoxon, denn es erfordert viel Idealismus zu glauben, dass der Staat dieser Aufgabe in voUem Umfang nachkommt.37 Es gibt jedoch signifikante Unterschiede zwischen jenen Staaten, die ein relativ liberales politisches Klima gewahrleisten und anderen Regimes, die nur eine Scheinoffentlichkeit dulden. Der Politikwissenschafter Russell Hardin definiert Konflikt als einen Zustand, in welchem „eine Partei nur dann gewinnen kann, wenn die andere verlierf'.^s Diese Bemerkung ist insofem plausibel, soweit sie den agonalen Charakter von Konflikten hervorhebt. Sie ist jedoch zu simplifizierend, weil Konfliktlosimgen nicht nur Entweder-Oder-Resultate anstreben. Losungen konnen bekanntlich auch die Form eines Vergleichs haben bzw. durch gegenseitige Anerkennung erreicht werden. Sehr wiese stellte Ralf Dahrendorf fest, dass man die Reife einer Gesellschaft nach der Art, wie sie zu ihrer eigenen konflikthaften Verfasstheit steht, beurteilen kann.^^ Ich werde drei Formen des Umgangs mit Konflikten thematisieren und die zugehorigen Konfliktlosungsstrategien kommentieren: (a) die Austragung von Konflikten in der medialen Offentlichkeit, (b) die Austragung von Konflikten vor einem Gericht und (c) die Mediation als altemativer Weg zur Konfliktbewaltigung.
37 Siehe Beyme, Klaus von: „KulturpoLitik zwischen staatHcher Steuerung und gesellschaftHcher Autonomie"', in Beyme 1998b, 9-35; Zembylas, Tasos: „Kunst und Staat: Zwischen Forderung imd Kontrolle'', in Zembylas 2000b, 34-49. 38 Hardin 1995,26 (Ubersetzung T.Z.). 39 Siehe Dahrendorf 1965, Kap. „Konflikt und Freiheit", 161-175.
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Der Begriff Offentlichkeit bezeichnet eine relativ diffuse Sphare, in welcher mehrere Mitglieder einer Gemeinschaft kommunikativ zusammentreffen, um ihre Interessen und Meinungen zu prasentieren und dariiber zu debattieren - Jiirgen Habermas spricht von einem „Netzwerk fur Kommunikation"4o. Doch Offentlichkeit ist kein homogener und durchschaubarer Raum. Ein Offentlichkeitsforum produziert Gegenoffentlichkeit, Widerspruch und Widerstand. Daher formieren sich im politischen Raum standig mehrere Offentlichkeiten, die der Komplexitat und Heterogenitat des Sozialen allerdings nur partiell entsprechen. In modemen Gesellschaften sind Offentlichkeitsorte und ihre konstitutiven Infrastrukturen weitgehend durch die Mitwirkung von Massenmedien und anderen politischen Institutionen bestimmt. Die daraus entstehenden Foren sind oft Biihnen der (Selbst-)Inszenierung und der (Selbst-)Reprasentation.4i Offentliches Auftreten ist somit durch das nicht zu beseitigende Bewusstsein der Akteurlnnen bestimmt, dass sie von einem Massenpublikum beobachtet werden, dessen Aufmerksamkeit und Empathie es zu gewinnen gilt. Mediales Auftreten legt haufig wenig Wert darauf, die Diskursteilnehmerlnnen von der Richtigkeit des eigenen Standpunktes zu iiberzeugen. Im Vordergrund steht die erfolgreiche Kommunikation bestimmter Inhalte. Dabei sind - im schlimmsten Fall - den Selbstdarstellerlnnen alle Mittel recht; so kommt es nicht selten zu ungerechtfertigter Diskriminierung und Damonisierung der Gegnerlnnen, u m so Empathie fiir sich zu erzeugen. In diesem Zusammenhang sei an die hitzig gefiihrten Debatten in der US-amerikanischen Presse liber so genannte „obszone" Kunst und die „community values" Anfang der 1990er-Jahre erinnert. Ausloser war eine Ausstellung mit Werken des 1989 an AIDS verstorbenen Photographen Robert Mapple-
40 Habermas 1992,435f. 41 Siehe Habermas 1990 (1962), 267. Zur Verdrangimg der praktischen imd poHtischen Urteilskraft aus der medialen Offentlichkeit siehe auch Meyer 1992, Kap. 9-10 sowie Wingert/Giinther 2001, Teil IE.
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thorpe mit explizit sexuellem Inhalt.42 Konservative Publizistlnnen stellten nicht blofi die Legitimitat der Verwendung von offentlichen Subventionen fiir die Ausstellung von „obszonen" Werken in Frage, sondem auch ob Homosexuelle, die damals mit der AIDS-Krankheit in Assoziation gebracht waren, eine potentielle Gefahr fiir die Offentlichkeit darstellen. In der medialen Offentlichkeit wird zwar kommuniziert, derm es werden meist Pro- und Contraargmnente vorgetragen; die Kommunikation verlauft aber in vielen Fallen nicht dialogisch, sondem propagandistisch. Samtliche Mafinahmen zur Intensivierung und Dramatisierung der Selbstdarstellung, angefangen von der Stilisierimg der Frisur, der Farbauswahl der Krawatte bis zur Wortwahl, der sprachlichen Intonation oder dem bedeutungsvoUen Schiitteln des Kopfes, finden reichlich und prazise Anwendung. Die Diskursfahigkeit der Akteurlnnen in Massenmedien wird aufierdem durch die zunehmende Visualitat der Medien (besonders des Femsehens und Internets) reduziert. Die Logik des Visuellen bewirkt, dass die Form der Prasentation oft mehr als der Inhalt zahlt. Eine logische Folge dieser Entwicklung ist, dass mediales Auftreten mittlerweile von mitunter hochbezahlten Professionalistlnnen organisiert und betreut wird. Diese Entwicklung zwingt zu einer methodischen Transformation der Analyse der Offentlichkeit, namlich von der sprachzentrierten zu einer verstarkten ikonografischen Gewichtung.43 Die mediale Offentlichkeit als Ort der effektiven Distribution von Informationen spielt im politischen Geschehen eine SchliisselroUe. Politische Eliten versuchen deshalb ihre Kontrolle und Einfluss auf die Medien stets zu optimieren. Dariiber hinaus fuhrten die hohen Produktionskosten und Investitionen in den letzten Dekaden zu Fusionen im Mediensektor. Die Bildung von wenigen, grofien Untemehmen, die damit einhergehende Marktkonzentration sowie die intensive Vemet-
42 Die offentlichen Debatten zum Fall Mapplethorpe wurden dokumentiert in Bolton 1992, 37-88. 43 Siehe a u d i Hofmannl999.
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zung zwischen Medienuntemehmungen, politischen Eliten und dem Staat wirken sich insgesamt negativ auf die Entfaltimg einer pluralen Artikulation politischer Anliegen aus. Der Zutritt zur Offentlichkeit ist zu einer „heifien", sprich kostspieligen Ware geworden, wobei die finanziellen Ressourcen unterschiedlich verteilt sind bzw. mobilisiert werden konnen. Damit ist der Zugang zur medialen Offentlichkeit alles andere als relativ frei oder egalitar. Die gegenwartige mediale Offentlichkeit ist somit nicht die diskursive Offentlichkeit, die sich viele Demokratietheoretikerlnnen wiinschen. Aufgrund dieser Uberlegungen scheint mir die Offentlichkeit als Ort der politischen Auseinandersetzimg um Kunstkonflikte im GrofSen und Ganzen kein geeignetes Medium zu sein, um konsensuelle Problemlosungen zu finden, zumal die Mindestbedingungen fiir einen Dialog nicht wirklich gegeben sind. Die Machtasymmetrie, ergibt sich aber nicht nur aufgrund des ungleichen Zugangs der Konfliktparteien zur medialen Offentlichkeit, sondern auch aufgrund von Informationsunterschieden und dem oben erwahnten unterschiedlichen Ressourcenpotential. Machtasymmetrie hat einen wesentlichen Ein auf den offentlichen Meinungsbildungsprozess und den Ausgang des Konflikts. In diesem Zusammenhang sei an die Kontroverse um die Gestaltung des Sitzungssaals des Kamtner Landtages in Klagenfurt durch Cornelius Kolig (1998) erinnert. Nachdem Kolig 1998 mit Zustimmung des Kunstbeirats des Landes Kamten den Auftrag bekam, den Anton-Kolig-Saal im Kamtner Landtag neu zu gestalten, startete die FPO in enger Zusammenarbeit mit der „Kronen Zeitung" und mit Inseraten in der „Kleine Zeitung" sowie Postsendungen an alle Haushalte des Landes eine massive Kampagne gegen das Projekt. Der Kiinstler wurde in den oben erwahnten Medien als „perverser Fakalienkiinstler" stigmatisiert. Man sammelte Unterschriften zur Abhaltung einer Volksbefragung mit dem Argument, dass ein Kunstwerk, das die „religiosen Gefuhle des Volkes verletze", nicht mit Steuergeldem realisiert werden dtirfe. Wenn man
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bedenkt, dass beide Zeitungen die reichweitestarksten Zeitimgen Kamtens sind44, dann ist klar, wie schwierig es fiir den inkriminierten Kiinstler war, dagegen etwas zu untemehmen. Das Argument, das viele Redakteurlnnen und Joumalistlnnen vorbringen, um ihre verbale Aggressivitat zu rechtfertigen, lautet: Die zivile Gesellschaft hat das Recht, sich gegen ihre Kritikerlnnen zur Wehr zu setzen, um ihre Werte zu verteidigen. Die Schwache dieser Argumentation besteht darin, dass, selbst wenn die Mehrheit der Menschen eine bestimmte Tat oder kiinstlerische Artikulationsform fiir „unmoralisch" oder „abscheulich" halt, ihnen das Rechtssystem keine automatische Legitimation gibt, um Repressionen durchzusetzen.^s Eine „Mehrheitsmeinung'', die durch mediale Prasenz suggeriert wird, libt letztlich auch Druck auf die politischen Entscheidungstragerlnnen und gelegentlich auf die gerichtlichen Entscheidungsinstanzen aus.^^ In solchen Fallen geht es nicht um „Wahrheit" oder „begrundete Kritik", sondem vor allem um den hegemonialen Anspruch, wer was als „Kunst" definiert kann. Der metaphorische Ausdruck „Kulturkampf" ist hier zutreffend. Was sich durchsetzt, ist in der Regel nicht das bessere Argument, sondem der starkere Kampfer. Die Auffassung, dass die Offentlichkeit ein neutraler Verhandlungsraum fiir Ideen und Vorschlage sei, entpuppt sich als Fata Morgana.
^ Die „Kronen Zeitung" hat eine Reichweite von 47%, die „Kleine Zeitting^' erreicht 61% Stand 2002. 45 Siehe a u d i Dworkin 1990 (1977), 394£f. 46 In diesem Fall war die FPO-Kan\pagne erfolglos. Sowohl die Mehrheit der Landesregierung als auch der Kamtner Diozesanbischof verteidigten den Entwurf Koligs. Im September 1998 wiB-de der von KoHg gestaltete Saal offiziell eroffnet. Umfassende Informationen dazu finden sich unter: http://www.ewigesarchiv.at (verfiigbar an\ 12.11.2003).
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In den meisten europaischen Staaten gibt es ein verfassungsmafiig verankertes Verbot jeder Praventivzensur sowie eine gnmdrechtliche Garantie der Kunstfreiheit. AUerdings erkennt der Gesetzgeber generell jedem Individuum das Recht zu, ein Gericht anzurufen, um unter bestimmten Bedingungen ein Veroffentlichungsverbot zu erwirken. Der Weg zum Gericht als Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen wird meist dann gewahlt, wenn die klagende Partei den Dialog als gescheitert oder als uneffektives Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen betrachtet und genug finanzielle Ressourcen hat, um sich ein Gerichtsverfahren zu leisten. (Die Tatsache, dass ein Rechtsverfahren den Einsatz von grofien Geld- und Zeitressourcen voraussetzt, schafft asymmetrische Verhaltnisse, die dem Ideal „gleiches Recht fiir alle" widersprechen.) Das Anstreben eines gerichtlichen Verbots und die Verhangung von Sanktionen gegen angefeindete Kunstschaffende ist nur moglich, wenn ein relevanter strafrechtlicher Tatbestand vorliegt - genauer gesagt, wenn ein verfassungsgeschiitztes Rechtsgut verletzt wurde. Oft handelt es sich dabei um Verstofie gegen den religiosen Frieden bzw. um Herabwiirdigung religioser Lehren oder Staatssymbole, Verletzung von Personlichkeitsrechten (iible Nachrede, Verletzung der Ehre), Sittlichkeitsdelikte (Verstofi gegen das Pomografiegesetz, die Jugendschutzbestimmungen, Verletzung der Sittlichkeit oder des offentlichen Anstands). Das Prekare an solchen Mafinahmen ist, dass ein Verbot das Existenzrecht des betroffenen Kunstwerks radikal vemeint, derm ein physisch existentes Werk, das mit einem Veroffentlichungsverbot belegt ist, wird faktisch inexistent. Ein gerichtlich verhangtes Verbot einer Ausstellung oder Auffuhrung ist ein repressiver Akt, der damit begriindet wird, dass die Kunstfreiheit
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nicht grenzenlos ist. Wer wiirde dies wohl bezweifeln wollen?47 Die Unterscheidung zwischen legitimer Beanspruchimg der Kimstfreiheit und ihrem Missbrauch setzt ein Werturteil voraus, das - abgesehen von manchen Extremfallen - im Geiste einer liberalen Einstellung im AUgemeinen schwer zu begriinden ist. Die Einschrankimg der Veroffentlichung und Inkriminierung eines Werks trifft nicht nur den/die Urheber/in, sondern stellt auch einen massiven Eingriff in die Rezeptionsfreiheit der Kunstoffentlichkeit dar. Dieser Aspekt muss hier betont werden, weil ihn die Rechtsprechung leider kaum mitberiicksichtigt. Im Gegenteil, wie folgendes Beispiel zeigt: Nachdem ein Grazer Gericht (November 1983) die Auffuhrimg eines Filmes von Herbert Achtembusch wegen „Herabwurdigimg religioser Lehren" untersagte^s, organisierten Anfang 1984 Kritikerlnnen dieses Urteils eine Diskussionsveranstaltung im Auditorium Maximum der Universitat Wien unter dem Titel „Die Kunst ist frei". Im Rahmen dieser Veranstaltung wurde der inkriminierte Film trotz des geltenden Vorfiihrungsverbots gezeigt, denn die Veranstalterlnnen (die Interessensgemeinschaft-Autorlnnen) waren der Meinung, dass man iiber das gerichtliche Urteil nur dann sinnvoU diskutieren kann, werm man den Film auch kennt. (Auch Hitlers „Mein Kampf" ist in Osterreich verboten, trotzdem konnen Wissenschaftlerlnnen das Buch in manchen offentlichen Bibliotheken ausborgen und studieren.) Nach der Veranstaltung kam es neuerlich zu einer Gerichtsverhandlung. Die Veranstalterlnnen verteidigten sich gegen den von der Staatsanwaltschaft wiederholt erhobenen Vorwurf der Herabwiirdigung religioser Lehren und der Erregung offentlichen Argemisses mit dem Hinweis, dass es sich um einen Diskussionsabend handelte, zu dem alle Anwesenden freiwillig kamen imd sich nicht durch die Filmvorfiihrung ge-
47 Liihmanns Interpretation der Grundrechte als Institution besagt, dass Grundrechte einen „Komplex faktischer Verhaltenserwartimgen'' generieren - so Luhmann 1965, 12. Diese Verhaltenserwartimgen bleiben stets implizit und werden durch die Rechtsprechung aktuaHsiert. 48 Dazu siehe OhUnger 1985 ,193.
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notigt fiihlten, den Film ohne ihre Einwilligimg gesehen zu haben. Das Wiener Gericht akzeptierte die Berufung der Beklagten auf die Freiheit der Wissenschaft nicht und verurteilte diese zu einer Geldstrafe. Die Prozessgeschichte um diesen Film zeigt beispielhaft, dass die groUziigige Anwendung des Terminus „Erregung offentlichen Argemisses" zur rigorosen Unterdriickung der Kunstfreiheit durch behordliche Zwangsgewalt fiihren kann. Nicht, dass die Rezipientlnnen einen absoluten Rechtschutz batten - zum Beispiel ist im Fall einer gravierenden Verletzung von Tierschutzbestimmungen (Tierqualerei) die Rezeptionsfreiheit fiir die Rechtsprechung irrelevant -, aber es besteht die Tendenz, dass Gerichte imter Berufung auf Jugendschutzbestimmungen oder auf den Schutz der offentlichen Ordnung und des sozialen Friedens umstrittene Kunstwerke leichtfertig aus dem Verkehr ziehen.49 Die Gewahrung der Kunstfreiheit soUte also nicht ausschliefilich im Hinblick auf die Moglichkeit ihres Missbrauchs diskutiert werden. Politischen Freiheiten konnen generell missbraucht werden, aber aus der blofien Moglichkeit eines Missbrauchs lasst sich kein plausibles Argument zur flachendeckenden Einschrankung des Liberalitatsprinzips ableiten.so Man soUte den Spiefi umdrehen und fragen, ob das Rechtssystem immer ein geeignetes Mittel fiir den Umgang mit Kunstkonflikten im politischen Raum ist. Selbst manche Juristlnnen sprechen im Zusammenhang mit der Frage der Kunstfreiheit von einer Uberfordenmg des Rechts.5i Diese These ist iiberlegenswert, well dem demokratischen
49 Zur Konkretisienmg dieser Vorwiirfe siehe Kentler, Helmut: ,Jugendschutz als Zensur'', in Vorgange, 1988, 74-87, und Holzleithner, Elisabeth: „An den Grenzen der Kunst: Reaktionen des Rechts", in Zembylas 2000b, 50-65. 50 Das ist ein klassisches Argument des Liberalismus, das auch Dworkin 1990 (1977), Kap. 7 imd Kap. 12 vertritt. 51 Gerhard Luf spricht von der Ambivalenz und paradoxen Beziehung zwischen Kunst und Recht; Giinter EHscheid beklagt die VerrechtHchimg sozialer Beziehimgen; Jiirgen Habermas spricht kritisch von der Wenn-Dann Struktur des konditionalen Rechts, die der Anforderung, die komplexe Wertkonflikte stellen, nicht gerecht werden kann. Siehe
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Rechtsstaat, der auf Mehrheitskonsens basiert, nur sehr begrenzte Mittel zur Regelung von Wertkonflikten zwischen koexistierenden, aber dissonanten Weltbildern bzw. Lebensformen und kulturellen Praktiken zur Verfiigung stehen. Fiir das Aushalten von Differenzen sind die meisten demokratischen Gesellschaften nicht besonders gut ausgestattet.52 Diese Problematik lasst sich anhand der Rechtsprechiing genauer analysieren. Im Fall des Vorwurfs der Obszonitat oder der Herabwiirdigung religioser Lehren muss das Gericht feststellen, ob ein solcher Tatbestand tatsachlich vorliegt. Wie lasst sich eine solche Wertfrage im Rahmen der Rechtsordnung sinnvoll beantworten? In verschiedenen Gesetzestexten finden sich einige Konstruktionen, die den Rechtsfindungsprozess erleichtem soUen. Solche Konstruktionen sind beispielsweise die Beriicksichtigung „des moralischen Empfindens des Durchschnittsmenschen", „der moralischen Werte der gegenwartigen Gesellschaft" oder das Vorhandensein eines (anonymen) „berechtigten Argemisses".53 Was im ersten Moment vielleicht als nachvoUziehbar erscheint, erweist sich in der Anwendungspraxis als vollkommen nebulos. Niemand kann sagen, welche exakte Bedeutung das Konzept des „Durchschnittsmenschen" hat, nach welchen Werten sich die „gegenwartige Gesellschaft" richtet oder woran man erkennen kann, ob ein anonymes Argernis berechtigterweise vorliegt. Selbst wenn die Sozialstatistik mittels aufwandiger Stichprobenverfahren und reprasentativer Analysen die „durchschnittliche" normative Orientierung der Mitglieder einer politischen Gemeinschaft ermitteln konnte, diirfte dieses Ergebnis eigentlich keine argumentative Kraft im Hinblick auf die Legitimitat der Einschrankung der Kunstfreiheit haben, denn die verfassungsmafiige Garantie der Kunstfreiheit setzt implizit voraus, dass Kunst schutzbediirftig ist, vor allem well sie sich nicht immer an Durchschnittswerte halt oder halten muss. Wiirde sie es tun oder tun miissen, gabe es auch gar keinen Grund
Liif, Gerhard: „Kunstfreiheit. Aiifgabe oder Uberfordenmg des Rechts?'', in Zembylas 2000b, 21-33; EUscheid 1979,37-61; Habermas 1981, Bd. 2, 532. 52 Siehe Habermas 1996,318-336. 53 Zur osterreichischen Rechtslage siehe OGH, 03. 03. 1956, 5 Os 1070/54, SSt 27/13; OGH, 06. 07.1971,10. Os 80/71 u.a.
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fiir den Staat, eine Garantie fur die Freiheit der Kunst abzugeben. Einige Juristlrmen wenden dagegen ein, dass die Kimstfreiheitsgarantie nur als Abwehrrecht gegen unzulassige staatliche Eingriffe zu verstehen ist und keine subjektiven Rechte enthalt. Sie hat also keinesfalls einschrankende Wirkung auf die Schutzwiirdigkeit der Grundrechte Dritter. Dieser Einwand ist meines Erachtens schwach, weil er den Status von Grundrechten als Prinzipien ausblendet. Zudem implizieren Freiheitsgrundrechte die Notwendigkeit einer Interessenabwagung unter Beriicksichtigung der Verhaltnismafiigkeit. Die These von der Uberforderung des Rechts im Umgang mit offentlichen Kunstkonflikten ist auch hermeneutisch erklarbar. Eine kiinstlerische Frovokation ist ein konventioneller Akt. Provokativ ist nicht das Unverstandliche - das kann bloi? irritieren -, sondem der Angriff auf allgemein anerkannte Werte. Frovokation hat in der Modeme eine lange Tradition und ist zum gesellschaftlichen Ritual geworden. Sie stellt eine kontroUierte und zugleich symbolische Form der Kritik an vorherrschenden Normen dar.54 Die prototypische RoUe, die der Narr am mittelalterlichen Hof innehatte, haben in der biirgerlichen Kultur grofitenteils die Bohemiens und Kiinstlerlnnen iibemommen. Solange die Gemeinschaft den symbolischen Charakter des Angriffs erkennt, zeigt sie (gewohnlich) gewisse Toleranz. In jenen Fallen, in denen der Akt der Frovokation manchen jedoch zu direkt erscheint, neigen diese dazu, die Frovokation als reale Handlung bzw. als unmittelbare Aufforderung zum Handeln zu interpretieren. Sie sehen in der Frovokation eine kriminelle Handlung und bringen den Fall vor Gericht - so geschah es 1989, als ein deutscher Kriegsdienstverweigerer in Anlehnung an Kurt Tucholskys bekanntes Zitat^s in einem offentlichen Lesebrief schrieb: „Alle Soldaten sind poten-
54 Die Kimstlerlnnen, so Peter Weibel (1973, 41), antworten auf „den gesellschaftlichen Terror mit einem kiinstlerischen''. 55 Kurt Tucholsky veroffentlichte in der Wochenzeitung „Die Weltbiihne'' 1931 einen Artikel mit dem Titel „Soldaten sind Morder'', woraiaf er zu einer Geldstrafe verurteilt wurde.
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zielle Morder" imd wegen Ehrenbeleidigimg verurteilt wurde.56 Die Kunstgeschichte liefert zahlreiche weitere Beispiele, die dieses Problem exemplifizieren. 1931 entbrannte in Paris ein Streit um ein Gedicht von Louis Aragon mit dem Titel „Front Rouge". Aragon, damals Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs, rief darin zu einer gewaltsamen Revolution und zur Ermordung nicht nur der fiihrenden Personen des bestehenden Regierung, sondem auch der „ungehobelten, lerneifrigen Streber der Sozialdemokratie" auf. Die Staatsanwaltschaft konfrontierte Aragon mit dem Vorwurf der Volksaufhetzung zum Massenmord. In der Folge entstand in der Offentlichkeit eine Debatte iiber die Verbindlichkeit von Worten in Kimstwerken. Viele Kiinstler (u.a. Andre Breton und Andre Gide) traten als Zeugen vor den Richter und verteidigten Aragons Gedicht, well sie es als kunstlerischen Ausdruck interpretierten. Das Urteil fiel schliefilich zu Gunsten von Louis Aragon aus. In einem anderen Fall hatten die Kunstschaffende das Nachsehen: 1971 wurden Peter Weibel und Valie Export rechtskraftig verurteilt, weil sie eine Broschiire iiber den Wiener Aktionismus herausgegeben hatten. Das Gericht warf den Angeklagten vor, kiinstlerische Absichten nur vorzutauschen und in Wirklichkeit pomografisches Material zu verbreiten. Vor einigen Jahren ereignete sich in Deutschland ein anderer Vorfall. Eine Hamburger Punkgruppe spielte ein Lied, dessen Refrain lautete „Deutschland muss sterben, damit wir leben konnen". Der Hintergrund zu diesem Refrain lieferte eine offentlich gefuhrte Debatte um ein von den Nationalsozialisten 1936 eingeweihtes Kriegsdenkmal in Hamburg, das die Inschrift „Deutschland muss leben, imd v^enn wir sterben miissen" tragt. Die Staatsanwaltschaft griff zu drastischen Mafinahmen und liefi einen Bandmusiker einsperren und anschliefiend wegen Verunglimpfung des Staates verurteilen. Der Verfassungsgerichtshof hob nach einem mehrmonatigen Prozessverfahren schliefilich die strafrechtliche
561995 hob das Bimdesverfassungsgericht die Gerichtsiirteile aiif und wies den Fall an die zustandigen Strafgerichte zuriick - siehe BVerfG, 10.10.1995 - IBvR 1980191.
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Verurteilung des inkriminierten Musikers auf.57 Die Verfassimgsrichterlnnen befanden die kritische und antimilitaristische Absicht des Liedes fur legitim und im Sinne der Kunstfreiheit schiitzenswiirdig. Die Probleme, die Gerichte im Umgang mit Kunstkonflikten haben, zeigen sich in der Ambiguitat der standigen Rechtsprechung. Wenn wir die Geschichte der osterreichischen Rechtsprechung zu diesem Thema in den letzten vierzig Jahren betrachten, so konnen wir von drei Phasen sprechen: Noch bis Anfang der 1970er Jahre gingen Gerichte regelmafiig explizit auf die Frage „Kunst oder Nichtkunst" ein und versuchten den inkriminierten Kunstwerken und -aktionen jeglichen Kunstcharakter abzusprechen. Diese Feststellung begriindeten die Richter, damit, das bei den jeweiligen Werken „ein ehrliches kiinstlerisches Streben" oder „emsthafte kiinstlerische Werte"58 nicht erkennbar waren. Somit war es wesentlich leichter, die Anwendung strafrechtlicher Normen legistisch zu begriinden imd relativ harte Strafen gegen die verurteilten Kiinstler zu verhangen. Im Zuge der Liberalisienmgsbestrebungen der SPO-Regierung unter Brimo Kreisky in den fruhen 1970er Jahren lasst sich ein kulturpolitischer Klimawechsel beobachten, der 1982 in eine Verfassungsandenmg miindete, die die Kunstfreiheit ausdriicklich garantierte (Art 17a StGG). In der Folge hat sich die Argumentationsstrategie der Gerichte geandert. Die Angst, dass die Rechtsprechimg durch den Geschmack der Richter in unzulassiger Weise gefarbt werden konnte, zwang die Richterschaft, die Frage, ob ein Werk „Kimst" sei oder nicht, zu vermeiden. Exemplarisch steht in der Urteilsbegriindung im Fall Achtembusch (Landesgericht Graz, 1984): „Man komme nicht umhin, festzustellen, dass es sich doch u m ein Kunstwerk handelt {,,)"P Die Verurteilung eines Werks erfolgte nun durch die Feststellung eines strafrechtlich relevanten Tatbe-
57 Siehe BVerfG, Beschliiss vom 03.11. 2000 Az.l BvR 581/00. 58 OGH 11. 01.1972,10 Os 191/71, EvBl 1972/196. 59 Zitiert in Ohlinger 1985,193.
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standes imd das Argument, dass die kiinstlerische Freiheit nicht starker als andere verfassungsgeschiitzte Grundrechte ist. Eine Interessenabwagung zwischen iinterschiedlichen verfassungsgeschiitzten Rechtsgiitem wurde nicht oft als notwendig erachtet.^o Die dritte Phase setzte in den 1990er Jahren ein. Die standige Rechtsprechung des Europaischen Gerichtshofs fiir Menschenrechte erschwerte die Bedingungen fiir die strafrechtliche Verurteilung von Kunstschaffenden.6i (Noch 1965 war es moglich, Giinter Brus fiir seine Aktion „Wiener Spaziergang" wegen Storung der offentlichen Ordnung rechtskraftig zu verurteilen. Brus hatte sich lediglich mit weifier Farbe angemalt und woUte durch die Wiener Innenstadt spazieren.) Zudem sollte nicht der Eindruck entstehen, dass der Rechtsapparat „konservativ" oder „reaktionar" verfahre. (Der Vorwurf der Gesinnungsjustiz untergrabt das Vertrauen der Biirgerlnnen in die Objektivitat der Rechtsprechung und schadet daher dem Image der Gerichtsbarkeit.) Das Druckmittel der Politik gegen unliebsame Kunst hiefi nun: Subventionsentzug und populistische Agitation.62
60 Daran kniipft auch Theo Ohlinger seine Kritik ztim Urteil im Fall Achtembiisch - siehe Ohlinger 1985,190-199. 61 Eine zusammenfassende Darstellimg der Rechtssprechung des EGfM in Hinsicht auf die GeltiHig der Meinimgs- und Aiasdmcksfreiheit (Art. 10 EMRK) bietet Frowein/Peukert 1996, 383-408. Der EGfM verlangt allgemein grofie Toleranz gegeniiber politisch-kritischen Aufierungen. Im Bezug auf die Beurteilung der moralischen Dimension ein.es Sachverhaltes halt sich der EGfM im allgemeinen zuriick und verweist auf die Abhangigkeit moraHscher Urteile von den jeweiligen lokalen Traditionen - siehe Frowein/Peukert 1996,403. 62 Dafiir gibt es zahlreiche Fallbeispiele, wie z.B. „PubHc Netbase'', ein Wiener Kulturverein, dessen Schwerpunkt in der kritischen Beschaftigimg mit den elektronischen Informationsmedien liegt (www.tO.or.at/tO), „Uniktim'' in Klagenfurt, ein Kulturzentnmi, der kritische Kunstprojekte und diverse kulturelle Veranstaltungen organisiert (www. unikimi.ac.at), das avantgardistische Tanztheater „Ikarus'' in Kamten u.a. Zur Dokumentation dieser und vieler anderen Fallen siehe UNIKUM 1996, Gotz 2001, 87-127 sowie http://www.ewigesarchiv.at; http://www.netzkultur.at; http://www.unikum. ac.at; http://www.igkultur.at; http://www.eipcp.net (am 12.11.2003 verfugbar).
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Der Einsatz von offentlichen Subventionen als politisches Druckmittel bedeutet letztendlich eine indirekte, verdeckte Zensur. Die zugrunde liegende Disziplinierungsintention wird gelegentlich ziemlich direkt imd unverbliimt ausgesprochen: So wamte beispielsweise Andreas Molzer (seinerzeit freiheitlicher Kulturberater von Kamtens Landeshauptmann Jorg Haider) die politisch oppositionellen Kiinstlerlnnen und Kulturvereine des Landes vor allzu kritischen Aktivitaten gegen die aktuelle politische Situation und drohte mit der Bemerkung „Schlie61ich darf man die Hand, die jemanden fiittert, nicht beifienC'^s bestehende und zugesagte Subventionen wieder zu streichen. Neben Subventionsverkiirzungen und -entzug kommen auch biirokratische Schikanen dazu, wie zum Beispiel die systematische Verzogerung der Beantwortung von Finanzierungsantragen, die Nichteinhaltung von Fristen und die Hinhaltetaktik vieler Kulturabteilungen. Die Rechtfertigung kulturpolitischer Mafinahmen wie Subventionskiirzungen folgt einem einfachen Muster: Es v^ird behauptet, die betroffene Kunst trafe nicht den Geschmack des Steuerzahlers xind es gehe den Politikerlnnen folglich darum, „Steuergeldverschwendung"64 zu vermeiden. Diese Argumentation v\^ird nicht selten von einer ideologischen, personenzentrierten und diffamierenden^s Polemik begleitet, die medienwirksam imd populis-
63 Andreas Molzer in einem Interview in der Zeitschrift Format, Nr. 15/1999, 142f. Ahnlich auGerte sich auch der damalige Fraktionsfuhrer der FPO Peter Westenthaler in einem Interview, das unter dem Titel „Subventionen schrittweise kiirzen'" am 2.3.2000 in der Zeitschrift Nezvs (Nr.9/2000,172) veroffentHcht wurde. ^ Interessanterweise wird der Vorwurf der Steuergeldverschwendimg und die Forderung nach Rechenschaftsablegung selten selbstreflexiv gedacht. KulturpoHtikerlnnen, die die „Unprofessionalitat'' im Kultursektor beklagen, sind offensichtHch halbbHnd und konnen die Managementdefizite der offentlichen Kulturverwaltimg (fehlende Zielsetzungen, imzulassiger parteipolitischer Einfluss, biirokratischer Apparat mit extrem langsamer Bearbeitung von Anfragen imd Antragen, mangekide Auskimftsbereitschaft u.a.), die sie zu verantworten haben, nicht erkennen. ^ Im „Weisenbericht'' uber die politische Lage in Osterreich, den Martti Ahtisaari, Jochen Frohwein imd Marcelino Oreja im Auftrag der EU-Kommission im September 2000 verfassten, wird die FPO als „rechtspopulistische Partei mit extremistischer Ausdrucks-
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tisch aufbereitet ist. „Lieben Sie Kunst und Kultur - oder Peymann, Turrini, Jelinek und Scholten?" stand auf einem beruhmt-beriichtigten Wahlplakat der FPO 1995. Das Argument „Unsere Bevolkerung will diese Sache nicht." bzw. die Berufung auf das Volk als Einheit ist jedoch noch kein Indiz fiir eine demokratische Gesinnung, sondem ganz im Gegenteil Ausdruck einer verengt normativen und totalitaren Auffassung und eines tiefen Unverstandnisses der Gegenwartskunst. Fast alle Kunstrichtungen waren zumindest in ihrer Entstehungsphase das Produkt einer Minderheitenkultur bzw. einer Subkultur. Es ist daher nicht gerechtfertigt, die Kunstfreiheit und die Forderung der Pluralitat kiinstlerischer Artikulationen als Privilegierung der Kunstschaffenden zu deuten. Ganz im Gegenteil: Der verfassungsmafiige Schutz der Kunst hat eine spezifische Funktion, namlich dem bestehenden asymmetrischen Verhaltnis zwischen Kunst und politischer Macht entgegenzuwirken und so einen sinnvoUen und fairen politischen Ausgleich zu schaffen.^^ Der Schutz der Kunstfreiheit sowie die Verwirklichung einer pluralistischen Kulturpolitik kann weder den „individuellen Praferenzen" (d.h. dem freien Markt) noch der politischen Agora („der Mehrheit der Osterreicherlimen"67) anvertraut werden. Kunstfreiheit als Verfassungsnorm muss liber den alltagspolitischen Ambitionen stehen. Die populistische Intervention und Fiirsprache fiir die „Interessen des Volkes" ist eher bei totalitaren Systemen anzutreffen, derm durch eine konstruierte „volonte generale'' konnen Diktaturen ihren Autoritarismus verschleiem und zugleich legitimieren.
weise" qualifiziert. Im Beiicht steht weiter: „[E]ines der problematischsten Kennzeichen fuhrender Mitglieder der FPO sind Versuche politische Gegner zxim Schweigen zu bringen oder sie sogar zu kriininalisiereri (...). Das haufige Anstrengen von Beleidigungsprozessen gegen Personen, die die FPO oder AuSerungen ihrer politischen Fiihrung kritisiert haben, muss auch in diesem ZusammerJiang gesehen werden/' (Ahtisaari u.a. 2000,26f. auch unter www.virtual-institute.de/de/Bericht-EU/bericht.pdf abrufbar.) 66 Uber das spezifische Verhaltnis des Staates zur Kunst siehe auch Campagna, Norbert: „Der liberale Staat und die Kimst'', in Zembylas 2000b, 10-20. Zur Diskussion uber die Forderung sogenannter kontroversieUer Ktmst siehe Rushton 2000,267-282. 67 Die Berufung auf Mehrheitsmeinungen bei gnmdrechtHchen Problemen fuhrt imausweichlich zu einer Unterdriickung schwacherer und benachteiligter Gruppen.
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Im Fall des politisch motivierten Subventionsentzugs niitzen manche Politikerlnnen eine Rechtsliicke aus, well die Zweckbestimmimg iind der Vergabemodus fiir die offentliche Kunstforderung, die im Rahmen der nicht hoheitlichen Verwaltung (Privatwirtschaftsverwaltimg) verteilt wird, sehr allgemein formuliert sind. Zwar ist das Heranziehen qualitativer Kriterien fiir die Fordenmg des kiinstlerischen Schaffens griindsatzlich zulassig68, aber das legitimiert noch kein staatliches Kunstrichtertum, keine ideologisch oder parteipolitisch motivierte Kunstforderungspolitik. Eine Anfechtiing der konkreten Einzelentscheidungen der Kulturverwaltungsorgane ist gnmdsatzlich schwierig. In alien demokratischen Landem gibt es zwar eine gesetzliche Bindung der nicht hoheitlichen Subventionsverwaltung (Fiskalgeltung der Grundrechte, Informations- iind Sorgfaltspflicht, Sachlichkeitsgebot, Legalitatsprinzip, Willkiirverbot u.a.), aber Verfehlungen nachzuweisen ist sehr schwer. Damit ergibt sich ein breiter Handlungsraum fiir die Verwirklichung partikularer Interessen einzebier Kulturpolitikerlnnen. 7.9
Mediation als alternative Form der Konfliktbewaltigung
Es gibt Konflikte, die von einer Konfliktpartei kiinstlich provoziert werden - man spricht hier von „imechten"69 Konflikten. In solchen Fallen dienen Konflikte als Vorwand, um bestimmte Ziele zu erreichen (z.B. mediale Aufmerksamkeit, Mobilisierung diverser sozialer Gruppen u.a.). Hier ist der Dialog zwischen den Konfliktparteien weder moglich noch erwiinscht. Im Fall eines „echten" Konfliktes ist es allgemein besser.
6^ „InLi Bewusstsein der wertvollen Leistungen, die die Kiinst erbringt und in Anerkenniing ihres Beitrages zur Verbesserimg der Lebensqualitat in Osterreich hat der Bund die Aufgabe, das kiinstlerische Schaffen in Osterreich und seine Verraittlung zu fordem. [...] Die Forderung hat insbesondere die zeitgenossische Ktinst, ihre geistigen Wandlungen und ihre Vielfalt im Geiste von Freiheit und Toleranz zu beriicksichtigen/' Osterreichisches Kunstforderungsgesetz §1 (1-2). Im §9 wird auch der Einsatz von Fachbeiraten legitimiert. ^^ Zur Unterscheidung zwischen echten und unechten Konflikten siehe Coser, 1972 (1956), 57-66.
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Die Konflikttrachtigkeit der Kiirist
wenn die Menschen die Verantwortung fiir die Losung ihrer Konflikte selbst wahmehmen statt die Entscheidungskompetenz ihren Rechtsanwaltlnnen und den Gerichten zu iiberlassen. Das Parteilichkeitsgebot der Rechtsanwaltlnnen wirkt meist kontraproduktiv und einigungsfeindlich. Zudem kann die Durchsetzung einer einseitigen Losung, die mittels einer gerichtlichen Entscheidung erzielt wird, oft den Keim fiir kiinftigen Zwist legen. Sofem beide Konfliktparteien es freiwillig woUen, scheint mir der Weg des Dialoges - unter Umstanden mit Hilfe von professionellen Mediatorlnnen - die beste Strategie zu sein, um nachhaltige Konfliktlosungen zu finden. Durch die Entrechtlichung der Konfliktaustragung und das direkte Gesprach konnen beide Konfliktparteien eine unangemessene Kriminalisierung einzelner Individuen, wie es beispielsweise durch ein Gerichtsurteil geschieht, so wie eine tiefe Anfeindung, wie sie durch andauemde moralisierende Beschuldigungen in den Medien zustande kommt, vermeiden.^o In diesem Sinne soil hier ein Pladoyer fiir einen dialogischen Umgang mit Kunstkonflikten vorgelegt werden. Die allererste Frage, die hier zu diskutieren ist, lautet: Sind Kommurukation und konstruktiver Disput iiber kulturelle oder ethische Probleme iiberhaupt moglich? (Das Wort Kommunikation bedeutet, wie seine etymologische Herkunft nahe legt, „etwas Gemeinsames herstellen". Der Kommunikationsbegriff, der hier gemeint ist, ist also kein technischer Begriff aus der Informationstheorie, sondem muss normativ aufgefasst werden.7i) Manche Theoretikerlrmen halten an einer Vorstellung von kommunikativer Rationalitat fest (z.B. Karl Jaspers, Hannah Arendt, Jiirgen Habermas^^). Andere wiederum, insbesondere manche postmo-
70 Siehe Jimg, Heike: ^Mediation - ein Ansatz zu einer 'Entrechtlichimg sozialer Beziehungen'?'' in Jimg/Neiimann 1999,68-78. 71 Siehe Habermas 1992,140. 72 Habermas' Konzept der „konmiiinikativen RationaUtaf' meint eine Form von verstandigimgsorientierter Argumentation und Begriindung, die trotz ihrer teleologischen Gnmdstruktur auf strategische Kalkiile verzichtet - siehe Habermas 1981, Kap. I3,114ff.
Mediation als alternative Form der Konfliktbewaltigung
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deme Denkerlnnen, insistieren, dass ein Konsens, eine wirkliche Versohnung zwischen den verschiedenen normativen Sichtweisen und Lebensformen, nicht herbeizufuhren ist. Ich mochte mich einer Zwischenposition anschliefien, die eine Debatte iiber umstrittene Begriffe und Geltungsanspriiche fiir bedingt moglich halt. Daher kann die Antwort auf die oben gestellte Frage kein prinzipielles Ja oder Nein, sondem eher ein Mehr oder Weniger sein. Entscheidend fiir das Gelingen oder Scheitem eines Disputs ist die Ausformung des jeweiligen kommunikativen Kontextes, wobei sprachtheoretische Probleme vorerst nur eine periphere Rolle spielen.73 Die Voraussetzungen fiir Kommunikation sind also an manche Bedingiingen anzukniipfen:74 Gemeinsame epistemische Basis: Eine konstruktive Debatte ist moglich, wenn sich die Beteiligten auf eine gemeinsame Basis einigen, zum Beispiel gemeinsame Definitionen oder die geteilte Anerkennung mancher „Autoritaten". (Wenn die epistemische Dissonanz extrem stark ausgepragt ist, wie z.B. zwischen Vertreterlnnen einer kritischen Avantgarde und Ultrakonservativen, ist Verstandigung nicht moglich.) Engagement: Die Kontrahentlnnen in der Debatte miissen an die Sinnhaftigkeit des Disputs zumindest teilweise glauben, das heil3t auch an die Moglichkeit, zwischen legitimen und unbegriindeten Argumenten zu unterscheiden. Es ware zynisch und sinnlos, ein Mediationsverfahren zu beginnen, wenn eine Konfliktpartei den Dialog nicht freiwillig und ehrlich will. Respekt und Aufrichtigkeit: Eine Debatte iiber wesentlich umstrittene Begriffe kann schliefilich nur dann gelingen, wenn die Kontrahenlnnten sich gegenseitig mit Wohlwollen, Respekt und An-
^3 Die analytische PMosophie hat die sprachtheoretischen Aspekte in der Kommunikation meines Erachtens iiberbewertet; siehe z.B. Camap 1966 (1928) irnd Ryle 1970 (1954). ^4 Eine ahrdiche Position nimmt auch die professioneUe Mediation ein; siehe z.B. Besemer 2000 (1993).
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Die Konflikttrachtigkeit der Ktinst
erkennung begegnen. Ein Zustand, der beseitigt werden muss, ist die Neigung, nicht mehr iiber den Sachverhalt zu diskutieren, sondem in einer pauschalen Weise die gegnerische Seite selbst als das eigentliche Problem zu sehen. Relatives Gleichgewicht der Verhandlungspartnerlnnen, also Fairness: Eine der haufigsten Ursachen fiir das Nichtzustandekommen Oder Scheitem einer Verhandlung ist eine extreme Machtasymmetrie, die im Vorfeld des Konflikts vorherrscht oder im Laufe der kommunikativen Interaktion auftritt^^ Epistemische Bescheidenheit: Debatten soUten unter Beriicksichtigung der Grenzen der Versprachlichung und der argumentativen Rationalitat gefuhrt werden - siehe auch Unterkap. 13.676 Am schwierigsten ist eine entkrampfte Gesprachsatmosphare zu erreichen, in der die Kontrahentlnnen das Ziel aufgeben, die Gegenseite umt jeden Preis von der Richtigkeit der eigenen Position iiberzeugen zu woUen. Sprachstil: Da asthetisch-symbolische Konflikte Wertekonflikte sind und auf unterschiedlichen Bewertungskriterien, Lebensformen, Ideologien und Glaubenssatzen beruhen, ist es fiir eine dialogische Auseinandersetzung forderlich, eine unmittelbar bewertende und moralisierende Sprache zu vermeiden. Die Komplexitat jener Kunstkonflikte, die teils historisch-politische, teils soziokulturelle Ursachen haben, verbietet es hier, an Patentlosungen zu denken. Das Aushalten von Differenzen ist eine wichtige soziale Kompetenz, die nur langsam entwickelt werden kann. Wenn es keinen Anerkennungs- und Toleranzraum gibt, wenn die Konfliktparteien nur an ihrem Sieg interessiert sind, landen sie schliefilich bei einem Carl
7^ Siehe auch Forst, Rainer: „Praktische Vemunft und rechtfertigende Griinde. Zur Begriindung der Moral'', in Gosepath, 1999, S168-205. 76 Die Dialogphilosophie beinhaltet viele Uberlegungen, die dem Mediationsverfahren dienen kormen. Sie tendiert jedoch dazu, die Grenzen des ExpHzierens und Argumentierens zu ignorieren - siehe beispielsweise Bohler 1999,43-63.
Mediation als alternative Form der Konfliktbewaltigung
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Schmitt'schen Politikverstandnis: Fiir sie gibt es keine Gemeinsamkeit, sondem nur Freundlnnen und Femdlnnen.^^ Wenn alien Konfliktparteien jedoch das friedliche Zusammenleben wertvoU erscheint, dann miissen sie der Verabsolutierimg des Folitischen entgegentreten und in den Kategorien einer mehrwertigen Logik denken. Der Ausschluss der medialen Offentlichkeit ist - davon bin ich iiberzeugt - oft ratsam, well sonst die Akteurlnnen leicht in den Zwang zur Selbstdarstellimg geraten. Zudem haben Medienberichte manchmal einen skandalisierenden und moralisierenden Sprachstil, der vertrauensbildende Mafinahmen sabotiert. Das Gesprach und das Kennenlemen des Anderen erfordem einerseits viel Energie und Zeit, andererseits aber ermoglichen sie soziale Lemprozesse. Der Gewinn besteht in Erfahnmgsreichtum und kultureller Sensibilisierung, die in der Folge die Qualitat des gesellschaftlichen Umgangs mit Fremd- und Andersheit verbessern konnen.
77 Zur Schmitt'schen Freiind-Feind-Unterscheidimg als Grundkonzept des Folitischen siehe Llanque, Marcus: „Die Theorie politischer Einheitsbildung in Weimar imd die Logik von Einheit und Vielheit", in Gobel 1995,165ff.
8 Das Neue als Leitbegriff der Moderne
8.1
Kulturelle Voraussetzungen fiir das Neue
Wenn einer Entitat (Objekt, Handliing, Konzept, Text, Auffuhrimg) die Eigenschaft „Kunstwerk" zuerkannt wird, wird sie durch diesen Definitionsakt zu einem Symbol. Symbol heifit hier Stellvertreter imd zugleich Vehikel fiir bestimmte Vorstellungen und Handlungen. Das macht den Doppelcharakter von Kunstwerken aus: Sie verweisen einerseits auf sich selbst und andererseits auf die Kunstwelt, die sie hervorbrachte. Der Kunstwerkstatus schafft vorerst nur eine Distinktion zwischen Kunst und Nichtkunst. Die kunstlerisch-asthetische Bewertung wird anschliefiend voUzogen. Das „gute" Kunstwerk, im allerbesten Fall das „Meisterwerk", ist jenes, das bestimmte sozial konstituierte Kriterien, die iibrigens nicht immer asthetisch-kiinstlerisch sind, erfiillt. Das Kunstwerk wird folglich ein d i e d in einer langen Kette von sozialen Relationen, in einem System von normativen Unterscheidungen und kulturellen Praktiken, das man allgemein Kunstwelt (oder auch Kunstbetrieb, Kunstfeld oder Kunstsystem) nennt. Unter den vielen Kriterien, die in den letzten zwei Jahrhunderten in unserem Kulturraum wirkten, nimmt das Neue eine herausragende Stellung ein. Das Neue gait als aquivalentes Konzept zur Vorstellimg des Kiinstlers als einmaliges, sich selbst schaffendes Subjekt. Das Herausstechen aus der breiten „Masse", das Originelle wurde konsequenterweise als genuiner Ausdruck von Individualitat interpretiert. Das Neue avancierte so zum zentralen kulturellen Wert der Moderne.^ In diesem Geist definierte Hermann Bahr 1886 die Moderne als Uberwindung: „Nur nichts Beharrendes, nur keine Dauer, nur kein Gleichbleiben: derm
^ Siehe Groys, 1992; Krauss 2000 (1985), 197-219.
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Das Neue als Leitbegriff der Modeme
jedes Neue ist besser, schon well es jiinger ist als das Alte."2 Aus dieser Perspektive leistet das Neue eine Differenzherstellung: Es hebt sich vom Jetzigen ab und macht dieses zum Alten. Diese Konzeption etablierte auch negativ konnotierte Kategorien, wie zum Beispiel Epigonalitat und Anachronismus. Nicht jede Abweichung wird als bedeutungsvoU und innovativ geschatzt. Es ist stets ein sozial signifikantes Kollektiv (oft ist es eine Gruppe von Peers), das Bewertungen dariiber fallt und durchsetzt, ob ein Kunstwerk irrelevant, misslungen, „konfuses Zeug" ist oder ein innovatives Ergebnis, eine wertvoUe Erfindung oder Applikation einer neuen Kegel darstellt.^ Die kognitive, praktische und normative Bereitschaft, etwas als Neues imd Wertvolles anzuerkennen, setzt ein entsprechendes Dispositiv, ein Akzeptabilitatsfeld voraus. Ludwik Fleck sprach diesbeziiglich von „Urideen", Thomas Kuhn vom „Paradigma" und beide waren sich einig, dass die generative Kraft dieses Dispositivs meist unbewusst wirksam ist.^ Erst die historische Rekonstruktion eines solchen Prozesses lasst diese Voraussetzungen zu Tage treten. Nehmen wir als Beispiel die Geschichte der Ready-mades. Marcel Duchamp erzahlte in einem Interview, dass sein erstes Ready-made „Das Rad" mehr oder weniger zufallig und assoziativ an einem Novembertag im Jahr 1913 entstand.5 Es gab dafiir keinen vorgefassten Plan, keine bewusste Intentionalitat und erst im Nachhinein kam Duchamp auf die Idee, das auf einem Kiichenschemel verkehrt montierte Rad als Kunstwerk zu sehen. Die Rekonstruktion der Entstehung und Durchsetzimg von Readymades als Kunstform muss also herausfinden, inwiefem es zu jener Zeit iiberhaupt denkbar war, ein solches Ding auf diese Art imd Weise zu sehen, namlich als eine kiinstlerische Leistung. Es hatte ohne weiteres
2 Bahr in einem Brief von 14. Marz 1887, in Bahr 1971,154. 3 Bloor 1997,107 und Kuhn 1976 (1962), Postskriptum, 186ff. 4 Fleck 1981 (1935), 35ff. und 83ff. Kuhn 1976 (1962), 203. 5 Siehe Stauffer 1992,104-105 imd 212. Uber den impliziten Charakter von Innovation siehe Polanyi, Michael: „The Logic of Tacit Inference'' (1964), in Polanyi 1969,138-158.
Kulturelle Voraiassetzungen fiir das Neue
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der Fall sein konnen, dass Duchamp „Das Rad" nur als eine „Schnapsidee" interpretiert und weggeworfen hatte. Es hatte aber auch der Fall sein konnen, dass Duchamp es als Kunstwerk definierte, aber seinen Anspruch nicht durchsetzen hatte konnen. „Das Rad" ware verschwunden, ohne je Anerkennung zu erfahren. (Vergessene kiinstlerische Leistungen verfehlen eine sichere Position im koUektiven Gedachtnis einer kulturellen Gemeinschaft. Ihr Scheitem beniht vor allem darauf, dass sie den Validierungskriterien und -verfahren des KoUektivs nicht entsprechen, denn „das Erkennen stellt die am starksten sozialbedingte Tatigkeit des Menschen vor und die Erkenntnis ist das soziale Gebinde katexochon/'^) Kunst- und Kulturhistorikerlnnen konnen im Nachhinein mehrere Voraussetzungen benermen, welche unmittelbar in Duchamps Umfeld zu orten sind und die Akzeptanz der Ready-mades als neue Kunstform erklaren. Der synthetische Kubismus hatte einige Jahre zuvor bereits damit begonnen, alltagliche Materialien als bildnerische Mittel zu verwenden. In den Collagen von Pablo Picasso und Georges Braque finden sich geklebtes Zeitungspapier und Holzstiicke, in Umberto Boccionis Plastik „Fusion d'une tete et d'une fenetre" von 1912 echtes Haar, Glasaugen u.a. Im Futurismus wurden 1913 erste musikalische Experimente gemacht. Liuggi Russolo, der eigentlich Maler war, schuf mit Ugo Piati Gerauschmusik, d.h. eine Art von akustischen Ready-mades. Der Schriftsteller Raymond Roussel, den Duchamp als seine grofite Inspirationsquelle bezeichnete, verkorperte die Idee eines anarchischen, riicksichtslos antikonformistischen Kiinstlers. All dies sind keine beziehungslosen Einzelphanomene. Um es auf den Punkt zu bringen: Duchamps erste Ready-mades waren um 1913 in Paris moglich - aber hundert Jahre vorher nicht denkbar. Das konkrete kulturelle Umfeld enthalt also einen Rahmen, der die Grenzen des Denkbaren markiert. Diese Grenzen sind stets breiter als die Grenzen des dazugehorigen Akzeptabilitatsfeldes.
6 Fleck 1981 (1935), 58; siehe auch Douglas 1991 (1986), 126f.
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8.2
Das Neue als Leitbegriff der Modeme
Zwei Bedeutungsvariationen
Das Neue will Grenzen Ziehen, einen Anspruch auf Eigenheit und in der Folge auf Besitz im Sinne von Urheberschaft geltend machen. Seine Beziehung zum Nicht-Neuen, zu dem, wovon es sich abgrenzen will, kurz die Differenz als solche, bleibt jedoch ambivalent. Diese Ambivalenz ergibt sich aus zwei Bedeutungsvariationen des Neuen: als Neuheit und als Neuartigkeit: Die Neuheit existiert in Beziehung zum Bekannten und bereits Gewussten - zum Beispiel als stilistische Innovation einer etablierten Gattung. Sie reprasentiert gewissermafien das Andere, womit das Alte schwanger geht. Dialektisch gesehen, hangt sie dennoch von den Vorgaben der Tradition ab und kann aus ihr heraus begriffen werden. In diesem Sinne wird Neuheit als Abwiechung begriffen, die zugleich eine Fortentwicklung der Tradition darstellt. Das Neuartige - die „absolute Schopfung", das „Schaffen aus einem NuUpunkt" - wird als radikale Andersheit verstanden. Die standige Referenz der modemen Kunst an die Nichtkunst, wie wir sie seit Beginn des 20. Jahrhunderts beobachten, kann auch als Interesse fiir das Neuartige ausgelegt werden. Diese Referenz hob keinesfalls die Unterscheidung zwischen Kunst und Nichtkimst auf, sondem markierte sie immer wieder aufs Neue. Das Neue als Neuheit hat keine eigene raison d'etre, sondern kniipft an Bestehendes an. Als Neuheit wird es ex post durch das KunstkoUektiv anerkannt; zum Zeitpunkt ihrer Entstehung ist eine Neuheit an sich nichts als eine kontingente beliebige Erscheinung im Strom der allgemeinen Betriebsamkeit der Kunstwelt. Es sind also nicht Individuen, die entscheiden, ob etwas das Attribut des Neuen „verdient" hat oder nicht. Solche Urteile sind kollektiv bzw. miissen vom Kollektiv bestatigt werden.
Vom Leitbegriff zuin Denkstil und wieder zuriick
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Fiir viele Theoretikerlnnen besitzt das Neuartige eine fundamental andere Qualitat als die Neuheit. Es ist dunkel, undurchschaubar, nndurchdringlich und hat sowohl den Charakter des Frevelhaften wie auch des Erhabenen7 Im Geiste dieser Interpretation entflammte von der Romantik bis heute ein anhaltendes Interesse und eine Faszination fiir das Undarstellbare und Unbewusste. Das Neuartige wird keinesfalls als Produkt einer kiinstlerischen Absicht oder eines kiinstlerischen Kalkiils gesehen: „Die Wahrheit des Neuen, als des nicht bereits Besetzten, hat ihren Ort im Intentionslosen", schreibt Adomo.^ Demzufolge wird das Neuartige als ein Ereignis begriffen, das im Konstitutionsprozess in emergenter Weise blitzartig auftauchen kann. Friedrich Schiller sprach in diesem Zusammenhang vom „glucklichen Wurf", Oskar Becker vom „Zufall des Gelingens" der Kunst imd schliefilich Derrida vom Blitz einer „brennendhei6en Wahrheit", dessen Strahl standig auftaucht und fortgeht, zuriickkehrt und sich wieder entfernt.^ So fordert Lyotard die Kunstphilosophie auf: „Unsere Aufgabe besteht darin, zwischen einer Neuheit, die den Verkauf steigert, und einer Neuheit, die etwas fiihlen lasst oder Zeugnis ablegt, zu unterscheiden/'^o 8.3
Vom Leitbegriff zum Denkstil und wieder zuriick
Es wurde bereits angedeutet, dass das Konzept des Neuen zu Beginn der Modeme als Kampfbegriff gebraucht wurde. Das „Neue'' hatte eine soziale Bedeutsan\keit, weil es ein normatives Ideal mit generativer Kraft darstellte. Die Rhetorik des Neuen ist heute noch allgegenwartig. Die Kunstkritik interveniert regelmafiig und feiert jeden Stilwechsel, jede
7 Siehe z.B. Lyotard, Jean-Francois: „Das Interesse des Erhabenen" (1988) in Pries 1989, 116f. und Derrida 1988 (1972), 44ff. 8Adomol992(1970),47. 9 SchiUer, Friedrich: „Uber naive und sentimentale Dichtung'' (1795), in Schiller 1922, 380; Becker, Oskar: „Von der HinfaUigkeit des Schonen und der Abenteuerlichkeit des Kunstlers'' (1929), in Becker 1969,27; Derrida 1992 (1978), 441f. 10 Lyotard in Pries 1989,341.
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Das Neue als Leitbegriff der Modeme
Verschiebung der kiinstlerischen Praxis als Paradigmenwechsel. (Auch Kimstkritikerlnnen stehen iinter Profilierungszwangen.) Vom Diskurs iiber die Neue Musik, bis zu Neo-Dada, Postmodeme, Neo-Geo, PublicArt und Medienkunst: Die Figur des Neuen hat die allgemeinen Denkund Wahrnehmungsgewohnheiten, das heifit den „asthetischen Denkstil" des 20. Jahrhunderts tief gepragt. (Denkstil ist nach Flecks Definition ein „gerichtetes Wahmehmen mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen".") Stellen wir uns eine alltagliche Szene vor: Ein kunsthistorisch ausgebildeter Picasso-Liebhaber unterstreicht mit Enthusiasmus, dass das Gemalde „Les Demoiselles d' Avignon" (1907) eine neue innovative Darstellungsweise reprasentiert. Ein Zuhorer gibt zu bedenken, dass diese Aussage keine Feststellung, sondem eine Interpretation sei. Der PicassoLiebhaber stimmt dem Einwand zwar zu, versucht aber in der Folge zu erlautem, warum diese Interpretation nicht willkiirlich ist, sprich, worauf die Originalitat dieses beruhmten Bildes begriindet ist. Picasso hat viele Ideen aus der afrikanischen Kimst und der Malerei Paul Cezannes aufgegriffen, sich aber dem Vorgefundenen keinesfalls unkritisch angeschlossen. Es ist ihm eine weiterfiihrende Synthese gelungen, aus der sich etwas fundamental Neues ergab: der Kubismus und die Freiheit zur Irregularitat. Der Picasso-Liebhaber wiirde fortfahren und auf verschiedene Details des Gemaldes hinzeigeni2, die Aspekte wie Stilvariation, geometrische Vereinfachung und polyperspektivische Darstellungsweise exemplifizieren. Sein Urteil hat sowohl einen auffordemden („Schlie6e dich meiner Meinung an!") als auch einen propositionalen („Ich behaupte, dass X wahr ist.") Charakter. Die aisthetische Evidenz, auf die er sich beruft, wenn er auf das Gemalde hinzeigt, generiert in ihm jene Gewissheit, die ihm erlaubt, an diesem Pimkt seine Ausfiihrungen vorlaufig abzuschliefien und von der Reflektiertheit und Begriindbarkeit
^1 Fleck 1981 (1935), 130; siehe auch Douglas 1991 (1986), 31f. 12 Eva Sturm analysiert die Gestik des Zeigens als eine Funktion des Benennens und Zuordnens - siehe Sturm 1996,230-241.
Vom Leitbegriff ziiin Denkstil und wieder zuriick
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seines Urteils liberzeugt zu sein. Hier beginnen aber die eigentlichen epistemologischen Probleme. Das Verhaltnis seines Urteils zu den sinnlichen Eigenschaften des Kunstwerks („sinnlich", weil der/die Betrachterln stets auf das Kunstwerk hinzeigt) ist uneindeutig. Es ist unklar, ob das Zeigen sein Werturteil begriindet oder blojS exemplifiziert. Sein Gesprachspartner wird in der Folge mit der Schwierigkeit konfrontiert sein, dem Picasso-Liebhaber plausibel zu machen, dass die Begriindung seines Urteils Teil jenes Bezugsystems bzw. Denkstils ist, das fiir die Entstehung des Urteils verantwortlich ist.i^ Diese Zirkularitat kommentierte Wittgenstein so: „[M]ein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit uberzeugt habe, (...) sondem es ist der uberkommene Hintergmnd, auf welchem ich zwischen wahr und falsch imterscheide. (...) Wir lemen die Praxis des empirischen Urteilens nicht, indem wir Regeln lemen; sondem es werden uns Urteile beigebracht imd ihr Znsammenhang mit anderen Urteilen. Ein Ganzes von Urteilen wird uns plausibel gemacht.^'^^
Wir konnen der Neigung, unsere Urteile als evident und wohlbegriindet zu betrachten, nicht leicht entkommen. Der Grund dafiir liegt in der Genetik der Urteile: Die epistemischen Grundlagen unseres Denkens befinden sich in der Kegel aufierhalb jeder Betrachtung und Infragestellung. Selbst wahrend einer kritischen Phase, wenn wir also unsere Urteile von Grund auf iiberpriifen miissen, tun wir es im Lichte jener Uberzeugungen und akzeptierten Glaubenssatze, die jenseits unserer Zweifel stehen. Unser Denken pendelt stets zwischen kritischen Erkundungen und vertrauten Erklarungsmustem.is
13 Siehe auch Fleck 1981 (1935), 85; Zembylas 1997,171f. 14 Wittgenstein 1994a (1969), § 94 und § 140; siehe auch Nordenstam, Tore: „Wohlvertrautheit - Gewissheit - kritische Reflexion'', in Bohler u.a. 1986, 325ff. Thomas Kuhn nennt dieses „Ganze von Urteilen" Musterbeispiele (exemplars), die wie Paradigmen wirken - siehe Kuhn 1976 (1962), 198f. 15 Siehe auch Polanyi 1958,266f. und 310f.
194
8.4
Das Neue als Leitbegriff der Modeme
Das Neue und die Kreativitatsforschung
Die Zirkularitat der Urteile steht in einem Spannungsverhaltnis zur manchen vorherrschenden Auffassungen von Kreativitat. Da es offensichtlich keine Formel und keine erlosende Methode gibt, die den Abbruch der Zirkularitat der Urteile herbeifiihrt, suchten viele Psychologlnnen in den vergangenen Dekaden eine Antwort auf der Ebene des Individuums. Doch ihr Versuch, mittels psychometrischer und kognitionstheoretischer Ansatze Kreativitat zu erklaren, geriet meines Erachtens in eine Sackgasse. Erstens glaubten sie, dass die Bestimmung des Neuen und Kreativen eine Sachfrage sei, die empirisch-deskriptiv zu beantworten ist. Zweitens setzen sie Kreativitat gleich mit Innovation. Zudem ist die iiberwiegende Mehrheit der Definitionen des Kreativitatsbegriffs von subjektzentrierten Vorstellungen impragniert, so dass sie Kreativitat in erster Linie im Leben und Wirken der europaischen und amerikanischen Bildungsschicht orten. Den meisten psychologischen Kreativitatstheorien entging also die normative Dimension dieser Konzepte. Sie richteten daher ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die Untersuchung des mentalen Prozesses. Die soziale Umwelt wurde in der Kegel nur als Motivationsinstanz beriicksichtigt.i^ Die daraus entstandenen Erklarungen kreativer Prozesse sind, wenn nicht falsch, zumindest irrefiihrend, well sie zu subjekt- und kognitionszentriert sind. Sozialwissenschaftliche Ansatze neigen im Unterschied zu den psychologischen dazu, das Neue als diskursive Konstruktion zu sehen. Dass etwas neu sein soil, hangt grofitenteils von den sozialen Mitspielem, den „bedeutungsvollen Anderen" ab: „Die Erfolgsaussichten von Bewahrungs- wie Umsturzstrategien hangen", schreibt beispielsweise Pierre Bourdieu, „(••.) teilweise immer auch von der Verstarkung ab, die das eine oder andere Lager bei extemen Kraften finden kann (in neuen Kun-
16 Relativ wenige Psychologlnnen haben dem soziokulturellen Kontext gebiihrende Aufmerksamkeit geschenkt - siehe Amabile (1983) 1996, Teil 2; Csikszentmihalyi 1988,325.
Der metaphorische imd der performative Charakter des Neuen
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denkreisen zuin Beispiel)."^^ Bourdieu pladiert folglich fiir ein tieferes Verstandnis der Anerkennung oder der Zuriickweisimg von Kunsturteilen wie „Das ist neu" oder ,,Das ist ein Deja-vu." Wiirde man die soziale Dimension solcher Vorgange aufier Acht lassen, dann ware man der Gefahr ausgesetzt, das Neue blofi erkenntnistheoretisch begriinden zu wollen.18 8.5
Der metaphorische und der performative Charakter des Neuen
Aus einer soziologischen Denkperspektive heraus erscheint Kunst als das, was die Menschen bzw. die Kunstwelt als „Kunst" definieren. Mit anderen Worten: Kunst ist das Produkt eines diskursiven Verfahrens, genauer gesagt einer Politik der Namensgebung. Der dezisionistische Akt der Benennung, der durch den Satz „Das ist ein Kunstwerk." vollzogen wird, erklart jedoch nicht, warum das Neue zum zentralen Wertbegriff der Modeme geworden ist. (Unter „Wert" ist in diesem Zusammenhang jene Kegel gemeint, die Bewertungen moglich macht und steuert.) Ebenso wenig vermogen Modemistlnnen, die typischerweise formal-asthetisch und stilanalytisch argumentieren, wie auch „frohliche" Poststrukturalistlnnen, die auf die Marketingfunktion der Namensgebung hinweisen (so tendenziell Boris Groys^^), zu verdeutlichen, warum das Neue seit Beginn der kiinstlerischen Modeme positiv konnotiert ist. Die Gleichung Neuheit = Fortschritt = Gut bedeutet, das Neue ist oben, wahrend das Alte unten ist. (Dieselbe Analogie existiert auch zwischen anderen Begriffsoppositionen, z.B. zwischen dem Guten und dem Bosen, dem Wahren und dem Falschen.) Mit dieser Ubertragung beziehe ich mich ausdriicklich auf die Studie von George Lakoff und Mark Johnson, die exemplarisch darlegten, wie „die elementarsten Werte einer Kultur mit der metaphorischen Struktur der elementarsten Konzepte
17 Bourdieu 1999 (1992), 370; ahnlich auch in Williams 1983,54. 18 Siehe z.B. Ziff, Paul: „Grunde in der Kunstkritik'' (1958), in Bittner/Pfaff 1977, 63-80; Piecha2001. 19 Groys 1992,38.
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Das Neue als Leitbegriff der Modeme
dieser Kultur koharent [sind]/'2o Das Verstehen der Funktion des Neuen als Wertbegriff muss also aus der Analyse der Wertvorstellungen und kulturellen Praktiken der Modeme erfolgen. Das professionelle Segment der Kimstwelt ist darauf gedrillt, bestimmte Wertvorstellungen zu iibemehmen und zu repetieren. (Das ist kein Behaviorismus!) Die Aneignung von Werten ist Teil der Sozialisation und der professionellen Ausbildung. Werte produzieren Urteile und generieren Geltungsanspriiche. Das bedeutet, dass das Konzept des Neuen eine performative Funktion innehat. Bin Kunstwerk, dem das Attribut des Neuen nicht zuerkannt wird, verschmilzt mit dem Fundus des bereits Gegebenen, Bekannten und kunsthistorisch Archivierten. Kurz, es hat keinen asthetischen Wert und folglich auch keinen signifikanten okonomischen Tauschwert. Da es von der Kunstkritik nicht besprochen, diskutiert, ihm nicht gehuldigt wird, bleibt es kommentarlos, d.h. imgespeichert. Es wird schon vergessen sein, ehe es genauer wahrgenommen wird. Im schlimmsten Fall ist es sogar kein originates Kunstwerk. Dies beschaftigte vor einigen Jahren in einem prominenten Fall ein US-Gericht. Art Rogers, ein kalifornischer Kiinstlerfotograf, dessen Werke in der permanenten Sammlung mehrerer amerikanischer Museen reprasentiert sind, machte 1980 eine Fotoserie mit acht Welpen. Rogers gestaltete dabei das Bildmotiv, indem er das Arrangement, die Komposition, den Lichteinfall, die Filmqualitat und Filmentwicklung bestimmte. Dieser Hinweis ist entscheidend fur die rechtliche Anerkennung eines Fotos als Kunstwerk. Rogers verkaufte einige signierte Abziige der Fotoserie und gab wenige Jahre spater einer Firma die Erlaubnis, aus einem Abzug Postkarten zu reproduzieren. So kam 1984 die Postkarte „Puppies" auf den Markt. Auf der Riickseite der Postkarte stand wie iiblich der Name des Fotografen und der Hinweis auf sein Copyright. Den eigentlichen Grund fiir den darauf folgenden Rechtsstreit lieferte Jeff Koons. Koons, der in der breiten Offentlichkeit durch seine kiinstlerische
20 Lakoff/Johnson 1998 (1980), 31; siehe auch Douglas 1991 (1986), 107ff.
Der metaphorische und der performative Charakter des Neuen
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Kooperation mit lUona Staller alias Cicciolina bekannt ist, war von seiner New Yorker Galerie beauftragt worden, eine Einzelausstellimg vorzubereiten. Kunstgeschichtlich gesehen arbeitet Koons ahnlich wie manche Kiinstlerlnnen der Pop-Art (z.B. Claes Oldenburg), indem er meist banale AUtagsgegenstande oder Ikonen der visuellen Massenkultur mit zum Teil extrem aufwandigen und kostspieligen Verfahren als iiberdimensionale Skulpturen reproduziert. Ftir die geplante Ausstellung erwarb Koons 1986 eine Postkarte von „Puppies". Bald darauf kontaktierte er eine spezielle Werkstatt in Norditalien und beauftragte diese, das Motiv der Postkarte als dreidimensionale Holzskulptur in vierfacher Ausfertigung zu reproduzieren. Nachdem er die Namensangaben und den Hinweis auf das Copyright auf der Riickseite der Postkarte entfemt hatte, iibergab er sie den Kunsthandwerkern mit dezidierten Anweisungen wie „the work must be just like the photo", „keep very, very realistic", „keep woman's big smile", „paint realistic as per photo, but in blues".21 Im November 1988 wurde seine Ausstellung mit dem Titel „Banality Show" medienwirksam eroffnet. Koons verkaufte drei der vier Exemplare von „Sting of Puppies" und behielt das vierte Exemplar fiir sich. Ein halbes Jahr spater erfuhr Art Rogers von dem Vorfall und reichte im Herbst 1989 Klage gegen Koons und die Galerie Sonnabend ein. Rogers warf Koons vor, er habe seine urheberrechtlichen Anspriiche aufs Grobste verletzt, indem er das abgebildete Fotomotiv fiir seine Skulptur verwendete. Durch den Verkauf der Skulpturen hatten sich Koons und die Galerie in unerlaubter Weise bereichert. Koons brachte zu seiner Verteidigung zwei Argumente vor. Er gab zu, das Motiv aus Rogers' Postkarte iibemommen zu haben, betonte aber, dass ihn nicht das Motiv interessierte, sondem die Parodierung dieser asthetischen Banalitat. Die Ubernahme eines Motivs zum Zweck einer sozialen Kritik ist namlich erlaubt. Indem er dieses Bild als Skulptur reproduzierte - die Anderimgen waren minimal -, behauptete
21 Zitiert in „Rogers v. Koons'', D301.html, 12.06.2001,3.
http://www.lawstudents.org/copyright/cases/960f2
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Das Neue als Leitbegiiff der Modeme
Koons, eigentlich ein neues (!) Werk geschaffen zu haben. Der zweite Teil seiner Argumentation war die Vemeinung des von Rogers' erhobenen Urheberanspruches. Das Motiv sei ein banales Bild aus der Massenkultur. Es gehore nicht Rogers, sondern „is resting in the collective subconsciousness of people regardless of whether the card had actually ever been seen by such people''.22 Das Gericht wies jedoch Koons' Argumente zuriick und gab Rogers in alien wichtigen Punkten der Anklage Recht. AUe abgeschlossene Verkaufsvertrage wurden in der Folge annuUiert und Koons musste alle vier Exemplare dem Klager aushandigen. Die Begriindung des Urteils ist fiir diese Diskussion interessant, weil es um den Anspruch auf Neuheit und Originalitat ging. Die Unterscheidung zwischen Ubemahme, Kopie, Falschung (d.h. Plagiat), Reproduktion oder Piraterie kann nur kasuistisch getroffen werden, derm schlussendlich sind die partikularen Parameter entscheidend. Obwohl das amerikanische Urheberrecht in jedem Fall die Angabe der Herkunft eines Text- oder Bildzitats verlangt, ist die Rechtsprechung im AUgemeinen toleranter, wenn Kiinstlerlnnen mittels Collagen, d.h. durch Verwendung von Teilen anderer Kunstwerke, ein Werk schaffen. Das Gericht sah im Fall Koons den Tatbestand des Plagiats als bewiesen. Nicht nur die Ubemahme des Motivs ohne signifikante Veranderungen gait als Indiz, sondern das Gericht legte bei der Urteilsbegriindung grofies Gewicht auf die Tatsache, dass Koons das Namensrecht von Rogers absichtvoU verschwiegen hatte. Das Gericht befand daher den Umgang Koons' mit den Urheber- imd Nutzungsrechten von Rogers fiir unfair. Fairness im urheberrechtlichen Kontext ist bestimmt (a) durch die Art und Absichten der Verwendimg des fremden Originals, (b) in der Transparentmachung des Kopierens und durch den Hinweis auf die Herkunft des Originals, (c) durch das quantitative und qualitative Ausmai? und die Substanzialitat des Kopierens und (d) aus
22 Koons zitiert in „Rogers v. Koons'', http://www.lawstudents.org/copyright/cases/960 f2D301.html, 12.06.2001,2.
Abwendungs- imd Reformulierungsversuche: das Post-Neue
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dem immateriellen und okonomischen Effekt, den die Kopie auf die weitere Nutzung des Originals hat. Die Behauptung von Koons, eine Parodie kreiert zu haben, wurde nicht anerkannt, weil das Gericht die Auffassung vertrat, dass eine Parodie, ahnlich wie eine Karikatur, gewisse signifikante Veranderungen voraussetzt. Diese Feststellung in der Urteilsbegriindung hat Koons offensichtlich verargert, so dass er in einem Interview in der „New York Times" (02. 04.1991) sagte: „Since when do judges qualify as art critics?" Das Urteil stiitzte sich jedoch vor allem auf die Tatsache, dass Koons die Ubemahme des Motivs nicht offentlich machte. Sherrie Levine, eine bekannte Kiinstlerin der Appropriation Art, fotografiert ebenfalls andere Fotos bekannter Fotograflnnen und stellt sie aus. Mit dieser „Ubemahm e " will sie den Diskurs iiber die Bedeutung des Originals weitertreiben. Ihre „Fakes" sind als Abbilder zu verstehen, die die Differenz zwischen Vorbild und Nachbild enthierarchisieren. Sie sind jedoch keine Falschung, weil die Beziehung zum Vorbild nicht verheimlicht wird. Levine vermeidet einen Rechtsbruch, indem sie ihre Werke stets mit dem Hinweis „After..." (d.h. mit dem Namen des legalen Urhebers) betitelt. Der Fall „Rogers versus Koons" zeigte deutlich, wie ein bestimmter Denkstil, hier die aufierst enge Verkniipfimg von Neuheit und Original, zum Entscheidungskriterium wird.23 Das Konzept des Neuen impliziert also eine normative Impragnierung: Es erhebt einen Gegenstand zum „Kandidat einer asthetischen Wertschatzung"24. Performativ ist das Konzept des Neuen, sofem es zur Legitimationsinstanz fiir die Unterscheidung zwischen Kunst und Nichtkimst, Original und Plagiat wird. 8.6
Abwendungs- und Reformulierungsversuche: das Post-Neue
Die feindselige Haltung der Modeme gegeniiber der Tradition wandte sich, historisch gesehen, gegen die Kanonisierungsversuche der Akade-
23 Siehe auch Krauss 2000 (1985), 197-219 sowie Smiers 2003,96f. 24 Dickie 1971,101.
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Das Neue als Leitbegriff der Modeme
mien. Sie entsprang aus einem emanzipatorischen Impuls, wurde aber letztlich selbst zur kanonischen Norm: Das Gebot zur Originalitat war am Begmn des 20 Jahrhiinderts zu einem Muss geworden: Alles musste von nun an neu erfunden werden und nichts durfte dem anderen gleichen. Der blinde Fleck des Modemismus bestand folglich aus dem, was er nicht sehen und zugeben durfte: seine eigene Konventionalitat und die standige Prasenz der Tradition. Konventionelles Wissen ist in jeder Praxis allgegenwartig. Sowohl im Prozess der Produktion (z.B. im Spielen nach einer Partitur, in der Herstellung eines Siebdruckes) als auch im Prozess der Rezeption (z.B. in der Fahigkeit, musikalische Interpretation nen voneinander zu unterscheiden oder versteckte Anspielungen in einem Theaterstiick zu erkennen) greifen Menschen auf bereits erworbenes und tradiertes Wissen zuriick. Kiinstlerische Artikulation ist eine Form von sozialer Praxis und jede Praxis kann nur bestehen, wenn sie systematisch gepflegt wird, das heifit, wenn erworbenes Wissen weitergegeben und verwendet wird - siehe Unterkap. 10.6. Jeder Mensch, auch die avantgardistischen Kiinstlerlnnen, wenden konventionelles Wissen an und zwar in wesentlich hoherem Mafi, als ihnen bewusst ist.^s Die Kritik an der Verkennung der innewohnenden Konventionalitat der Avantgarde versteht Pierre Bourdieu als Ideologiekritik, als Kritik am „Koniormismus des Antikonformismus".26 Ein zweites Merkmal des Modemismus war die Verklarung der Eigenstandigkeit des kiinstlerischen Schaffens und die daraus resultierende Angst vor Beeinflussung.^^ Die Transformation des Kunstbegriffs
25 Howard Becker xinterscheidet ubrigens zwischen vier Typen von Kreativen: a) die professionell integrierten Kimstschaffenden (meist mit einschlagiger Ausbildimg und hoch organisiert); b) die Aufienseiterlnnen (ihre Verbindimgen zu anderen Teikiehmerlnnen des Kulturbetriebs sind sehr lose); c) die Volkskunstlerlnnen (gut organisiert, an traditionsgebunden und lokalen und eher landHchen Gemeinschaften orientiert); d) die „naiven'' Kimstschaffende (meist ohne spezifische Kunstsaubildung und mit sehr losen Kontakten) - siehe Becker 1982, Kap. 8. 26 Bourdieu 1999 (1992), 264. 27 Bloom 1997 (1973).
Abwendungs- iind Reformtilierungsversuche: das Post-Neue
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in den letzten Dekaden ging folglich mit einer Uminterpretation des Einflussbegriffs einher. „Einfluss" bezeichnet die Beziehung zwischen Text und Pratext, Bild nnd Vorbild. Im modemistischen Kontext dachte man hier vorwiegend an ein passives Verhaltnis. Wenn jemand behauptete, „X hat Y beeinflusst" oder „Y ist von X beeinflusst", dann schrieb er Y eine passive RoUe zu. Natiirlich kann ein solcher Fall mehr oder weniger zutreffen, aber in vielen Fallen spielt Y eine aktive RoUe: Y wendet sich X zu, in dem er X's Werk interpretiert, assimiliert, zitiert, paraphrasiert usw. Einfluss kann auch Abweichung und Differenz generieren.^s Der Poststrukturalismus beging einen Bruch - ich sage absichtlich nicht „einen Paradigmenwechsel" - mit der Kunsttheorie des Modemismus. Wie ist dieser Bruch, dieses Schisma zu verstehen? Im Laufe der Spatmodeme bzw. der Postmodeme setzten sich bestimmte Wertvorstellungen und neue epistemologische Einsichten durch, die zur Ablehnung des Modemismus fiihrten. Es lassen sich hier unter anderen zwei Kritikpunkte herausgreifen. Erstens kniipfte das modemistische Verstandnis von Neuheit oft an eine Vorstellung von kiinstlerischer Reflektivitat und Selbstreflexion an, die aus einer idealistischen Subjektkonstruktion stammt. Neuheit ist demnach kein unintendiertes Zufallsprodukt, sond e m ein deklariertes Ziel der Avantgarde.29 Postmodeme Theoretikerlnnen meinen, dass der Modemismus das Neue als Reales begreift, wahrend fur sie das Neue nichts als eine „Illusion" bzw. ein Diskurseffekt ist. Der zweite Kritikpunkt dreht sich um die Symbolfimktion der Kuaistwerke. Die Postmodeme fasst ahnlich wie manche Theoretikerlnnen der Modeme das Kunstwerk als Symbol auf.^o Eine Symbolfunktion tritt bei Zeichen allgemein dann auf, wenn sie durch syntaktische und semanti-
28 Siehe Barthes, Roland: „The Death of the Author" (1968), in Barthes 1977,148 und Bloom 1997 (1973), 14ff. 29 Siehe z.B. ApoUinaire, Guillaume (1918): „The New Spirit and the Poets", teilweise wiedergedruckt in Harrison/Wood (1994), 226f. 30 Siehe Owens, Craig: „The Allegorical Impulse: Towards a Theory of Postmodernism" (1980), in WaUis 1984,203-235.
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Das Neue als Leitbegriff der Modeme
sche Dichte ausgezeichnet sind, ihre Referenzbeziehung eine metaphorische Struktur hat und sie eine multiple und komplexe Bezugnahme auf andere Symbole aufweisen. Auch der Modemismus nimmt die Polyvalenz der Symbole wahr; der signifikante Unterschied zwischen beiden Denklagem liegt jedoch in der Intensitat ihrer Betonung der Arbitraritat und Instabilitat von Bedeutung. Zeichen tragen ihre moglichen Bedeutungen nicht „in sich"; es ist ihre jeweilige Einbettung in ein Referenzfeld, die sinnstiftend wirkt. Jacques Derrida meint deshalb, dass die metaphysischen Fundamente der Kunstphilosophie der Modeme iiberwunden werden konnten, wenn der Diskurs iiber den Rahmen des Kunstwerks in einer radikalen Form gefiihrt wird.^i Der Rahmen (das „Parergon") ist das, was um, neben, aber auch im Kunstwerk wirkt - in Derridas Theoriesystem wird der Rahmen mit dem Konzept der Intertextualitat identifiziert. Intertextualitat meint, dass Artefakte einen potenziell unendlichen Dialog und Wechselbezug zu anderen Artefakten fiihren. Sie findet sowohl auf einer produktionsasthetischen als auch auf einer rezeptionsasthetischen Ebene statt. Durch die Intertextualitatstheorie wird folglich die Idee der Neuheit durch das Konzept der multiplen Bezugnahme, Zitierung, Iteration, Wiederholung und Absorption anderer Kunstwerke ersetzt. In diesem Sinne ist es nicht notwendig etwas Neues zu produzieren, um Neuheit zu schaffen, sondem es geniigt, bereits Bekanntes in einem neuen Kontext zu situieren. Wiederholung erzeugt Differenz.32 Die Ara des Post-Neuen behauptet folglich nicht die Aufhebung des Neuen, sondem seine standige Produktion. So betont man zwar, dass es keine Schopfung aus dem Nichts geben kann, aber im selben Atemzug erklart man, das Neue hat es eigentlich immer schon gegeben. Es ist notwendig, um den Blick der Betrachterlnnen einzufangen, u m Aufmerksamkeit zu erzeugen. Aus dieser poststrukturalistischen Perspektive heraus deutet Boris Groys die Logik des Neuen, namlich die „Logik der
31 Siehe Derrida 1992 (1978), 65. 32 Siehe Deleuze 1992 (1968), 20ff.; Groys 1992,43; Groys 1997,35.
Abwendungs- und Reformuliemngsversuche: das Post-Neue
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Umwertung aller Werte [als] die Logik der Kultur selbsf'.^s Die Konsequenz daraus ist eine ahistorische Emergenztheorie: „Der Urspning eines innovativen Kimstwerkes liegt rdcht in der Rebellion gegen die kulturelle Tradition iu\d in dem Willen zu den Sachen selbst zu konunen, sondem in der kialtnrokonomischen Logik, die die Kulhir regiert und sich als eine strategische Kombination aus positiver und negativer Anpassung an die Tradition aufiert - mit dem Ziel das Signifikant der Gegenwart zu erzeugen/'^
Indem Groys die Okonomie allgemein als „Handeln mit Werten innerhalb bestimmter Werthierarchien" definiert, betrachtet er das Konzept des Neuen als ein kulturiiberschreitendes, notwendiges iind unvermeidbares Merkmal von Tauschprozessen.^s Innovation, Bewertung und Kommerzialisierung sind folglich eng miteinander verwoben. Die Starke dieser poststrukturalistischen Uberlegungen zur Okonomie der Kultur liegt in der Erfassung der normativen Dimension des Neuen. Der desillusionierte Pragmatismus schiitzt Boris Groys vor der Gravitationskraft der „Mythen der Avantgarde", aber der Preis seiner Abgebriihtheit ist die Vemachlassigung der historischen Differenzierung imd der Vielfalt der Funktionen dieses Wertbegriffs. Werte, hier das Neue, sind nicht a priori Zeichen, die einen Warencharakter und somit einen Tauschwert haben - zumindest nicht immer. Werte verfolgen manchmal andere Motive als blol?e pragmatische Zwecke. Groys neigt zur Verabsolutierung des Zeichencharakters und der Tauschfahigkeit von Werten und kulturellen Entitaten. Jenseits dieser kulturokonomischen Uberlegungen findet man innerhalb der Postmodeme immer wieder Formulierungen, in welchen die modemistische Konzeption des Neuen auf eine seltsam anmutende Wiese wiederkehrt. So schreibt beispielsweise Jean-Francois Lyotard:
33 Groys 1992,37; siehe auch Luhmann 1995,55f. 34 Groys 1992,91. 35 Groys beruft sich auf Batailles Pladoyer fur eine Aufhebung und Umwertung des Okonomiebegriffs, siehe Groys 1992,14,16,48f., 64f und 119f.
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Das Neue als Leitbegriff der Modeme
„Der Text, den er [der postmodeme Kiinstler bzw. Schriftsteller; Arun. T.Z.] schreibt, das Werk, das er schafft, sind grundsatzlich rdcht durch bereits feststehende Regeln geleitet und konnen mc±it nach Mafigabe eines bestimmten Urteils beurteilt werden, indem auf einen Text oder auf ein Werk nur bekannte Kategorien angewandt wurden. Diese Kegel und Kategorien sind vielmehr das, was der Text und das Werk suchen. Kunstler und Schriftsteller arbeiten also ohne Regeln; sie arbeiten um die Kegel dessen zu erstellen, was gemacht worden sein w i r d / ' ^
Die in den 1980er Jahren entstandene feierliche Verabschiedung vom Innovationszwang des Modemismus funktionierte ironischerweise vor allem dadurch, dass Kunstrichtiingen, die sich „postmodem" nannten, als Neuheit rezipiert wurden. Nicht nur Jeff Koons behauptete im Rechtstreit mit Art Rogers etwas Neues geschaffen zu haben, sondem auch der bekannte Galerist Leo Castelli sagte in einem Interview iiber die amerikanische Kiinstlerin Elaine Sturtevant, die bereits seit Mitte der 1960er Jahre Appropriationskunst machte: „[Her work] was really at that time an incredibly original idea"37 Welche Paradoxie! Ich mochte hiermit aber nicht sagen, dass die Ablehnung des Innovationsmythos selbst eine Inszenierung des Mythos war. Vielmehr ist es richtig, dass nach dem Bruch des Poststrukturalismus mit den modemistischen Konzepten von Neuheit und Originalitat die Rhetorik des Neuen nicht gleich verschwand. An der Borse der Kunsttheorie notieren postmodeme Aktien des Neuartigen (die „radikale Differenz" von Derrida, das „Unverstandliche" von Lyotard oder die „Schizoanalyse" von Deleuze und Guattari) weiterhin hoch im Kurs.
^ Lyotard, Jean-Francois: „Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?"' (1982), in Engelmann 1990,47f. 37 CastelH in Cameron, Dan (1988): „A Conversation: A Salon History of Appropriation Art with Leo CasteUi and Elaine Sturtevant'', Flash Art - International Edition, Nr. 143, Nov.Dec. 1988, 76-77.
9 Kunst als evaluatives Konzept
9.1
Der Anspruch auf Kennerschaft
Menschen, die Anspruch auf eine spezifische Kennerschaft erheben, meinen in der Lage zu sein, in ihrem Fachgebiet vertretbare Behauptungen bzw. Urteile (so genannte „warranted assertions"^) treffen zu konnen. In der Kunstwelt wird ein Anspruch auf Kennerschaft von Kunstkritikerlnnen, Kunstwissenschafterlnnen, Kunstschaffenden und anderen professionellen Akteurlnnen erhoben. Ihre Urteile gehen stets mit einem Erkenntnisanspruch einher, weil sie ihre Aussagen nicht als kontingente Oder blofi subjektive Meinungsaui?erungen erachten. Das mag zwar trivial klingen, aber ohne diesen Erkenntnisanspruch hatte sich die Kunstkritik niemals als literarisches Genre und als zentrale Institution der Kunstwelt etabliert. Kunsturteile, die Kunstkritikerlnnen fallen, sind spatestens seit Denis Diderot zu dem geworden, was sie heute noch sind: prestigetrachtig und zugleich umstritten. Die Untermauerung des Erkenntnisanspruchs eines asthetischen Urteils kann je nach theoretischem Bezugsystem sehr unterschiedlich ausfallen. Obwohl die Vielfalt der Begriindungen unzahlige feine Nuancen aufweist, soUen hier zwei idealtypische Positionen vorgestellt und besprochen werden. Eine betrachtliche Zahl von Kunstphilosophlnnen meint, dass asthetische Urteile zwar auf sinnlichen Wahmehmungen und Emotionen beruhen, aber im Grunde kognitiv sind. Kognitiv heifit hier - mit den Worten von Nelson Goodman - in der Lage zu sein, „sie [die Sinneseindriicke und Emotionen; Aran. T.Z.] zu unterscheiden und in Beziehung zu setzen, um das Werk einzuschatzen, erfassen und in unsere sonstige Erfahrung und in die Welt zu integrieren zu konnen. [Denn] Wahmehnuing, Vorstellting und Gefuhl vermischen sich miteinander und interagieren; und eine solche Verbin-
^ Siehe Toulmin 1964 (1958), Kap. HI.
206
Kunst als evaluatives Konzept
dting widersteht oft der Analyse in emotive imd nicht-emotive Komponenten. (...) Worauf es ankommt, ist die Tatsache, dass die Vergleiche, Gegenuberstellungen, Organisationen, die in kognitiven Prozessen eine Rolle spielen, oft auch die daran beteiligten Emotionen beeinfliissen.''^
Die zweite Auffassung wiederum betrachtet asthetische Urteile primar als nicht-kognitive Urteile bzw. als Produkte des asthetischen Geschmacks. Geschmack, Gespiir oder Intuition sind metaphorische Ausdriicke, die oft in einer ahnlichen Weise gebraucht werden, um auf die non-verbalen Fundamente, die Kennerschaft und asthetische Kompetenz ausmachen, hinzuweisen. Die Insistenz auf den Geschmack und der Kraft der Intuition stiitzt sich auf die Annahme, dass asthetische Urteile nicht aus einem trockenen Kalkiil hervorgehen, sondem die „Stinime unseres Herzens" reprasentieren. Obwohl diese Auffassung auf den Beginn des 18. Jahrhunderts (Shaftesbury) zuriickgeht, ist sie nach wie vor aktuell. Paradigmatisch dafiir steht die Aussage von Nikolaus Hamoncourt: „Ich glaube, dass es in jeder Kunst Menschen gibt, die eine Antenne haben, eine Sensibilitat und Gutes und weniger Gutes absolut untriiglich unterscheiden konnen."^ Das Verhaltnis zwischen kognitiven und emotiven Vorgangen ist fiir beide Auffassungen von zentraler Bedeutung - blofi die Gewichtung der beiden Aspekte fallt bei den zwei verschiedenen Auffassungen unterschiedlich aus. Gegen den latenten Relativismus vieler Kulturwissenschafterlnnen, die asthetische Urteile als kognitive Konstrukte betrachten, wenden die „IntuitionistInnen"- eine von mir gewahlte Bezeichnung fiir die Vertreterlnnen der zweiten Auffassung - ein, dass wir ohne asthetisches Grundvermogen (Sensibilitat, „Gespur", praktisches Wissen) standig der Gefahr ausgesetzt waren, nur nach unserer momenta-
2 Goodman, Nelson: „Kunst und Erkenntnis'" (1967), in Heniich/Iser 1993,576f. Goodmans Interpretation der asthetischen Erfahrung als hoHstische Erkenntnis geht auf Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen zuriick, siehe auch Paetzold 1994, 79-96, 154 und 166. 3 Nikolaus Hamoncourt in Kunstpunkte, Zeitung der Universitat fiir Musik und darstellende Kunst Wien, Nr. 20/2000,18.
Der Anspruch auf Kennerschaft
207
nen Stimmung zu urteilen. Ware es wirklich so, dann wiirden wir niemals fahig sein, Kennerschaft zu entwickeln. Fiir die „IntuitionistInnen'' steht es aber aufier Frage, dass es Kennerschaft gibt. Kritikerlnnen des Kennerschaftsbegriffs glauben hier eine diskursive Strategic zu erkennen, die das Ziel verfolgt, die soziale Position des „Meisters" und „Kunstkenners" zu festigen. Aus dem postulierten Sonderwissen jener, die iiber das Privileg verfiigen, asthetischen Geschmack zu besitzen, setzt sich eine mehr oder weniger kontroUierte Diskursivierung der Kunst in Gang. KontroUiert ist diese Diskursivierung, insofem als der „Kenner" es sich jederzeit erlauben kann, den Diskurs abzubrechen und sich auf seine „Antennen" zu berufen. Der Spielraum fiir Argumentation wird also willkiirlich eingeschrankt. Geschmack, Sensibilitat und Genie sind bequeme Drehtiiren, um asthetischen Urteilen eine erkenntnistheoretische Erhabenheit und Immunitat zu verleihen.^ Beide Auffassungen bringen Argumente, die ihre jeweilige Position stiitzen, und die nicht einfach vom Tisch zu wischen sind. Ich bezweifle nicht, dass es Kermerschaft, also ein personengebundenes Wissen, gibt. Uberall dort, wo geschulte Wahmehmung gefragt ist, wo es also um die Fahigkeit geht, einzelne Merkmale einer Gestalt zu identifizieren und sie in ihrer Wechselbeziehung zu erfassen, lasst sich spezifische Kompetenz entwickeln, die Professionelle von Laien bzw. Berufsanfangerlnnen von Expertlnnen unterscheidbar macht. Dieses Mehr-Wissen ist teilweise nicht explizierbar, das heifit, es lasst sich kaum begrifflich darstellen.^ Die Kompetenz in einem Fachgebiet (Medizin, Kunst, Management, So-
^ Zu den rhetorischen Mitteln der Kunstkritik siehe Boiordieu, Pierre: „Eleniente zu einer soziologischen Theorie der Kimstwahmehmung'' (1968), in Bourdieu 1991,159-201; Bourdieu 1990 (1982), 146ff.; Adomo, Theodor: „Musikleben", in Adomo 1975 (1962), 154. Zum Sprachstil der Kunstkritik siehe Zembylas 1997,162ff. 5 Zum informeUen und itnpliziten Charakter der Wahmehmung, Sinnstiftung und Urteilsbildung siehe Polanyi, Michael: „The Logic of Tacit Inference'' (1964), sowie „SenseGiving and Sense-Reading" in Polanyi 1969, 138-158 und 181-207 und Fleck, Ludwik: „Uber die wissenschaftHche Beobachtung und die Wahmehmung im. aUgemeinen" (1935), in Fleck 1983 (1935), 59-83.
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Kunst als evaluatives Konzept
zialberufe u.a.) zeigt sich in der Qualitat der Urteile und Handlungen siehe auch Unterkap. 10.7. Das Konzept der Kennerschaft imd der Anspruch auf eine solche soUten jedoch nicht nur erkenntnistheoretisch diskutiert werden. Es bleibt auch die praxeologische Dimension, die die Frage der sozialen Bedeutung von Anspriichen auf Kennerschaft untersucht. Diese Thematisierung ist gerechtfertigt, denn Wissen und Kennerschaft sind keine unschuldigen Elemente im sozialen Feld. Die normative Komponente der Kennerschaft wird oft verdrangt, so dass die Urteile der Expertlnnen unkritisch als objektive Aussage hingenommen werden. In diesem Sinne ist der Hinweis auf die machttheoretische Implikation des Anspruchs auf Kennerschaft ebenso wichtig wie die unleugbare Feststellung, dass man durch langjahrige Erfahrung und Beschaftigung mit Kunst spezifische Kompetenz erwirbt. 9.2
Bewertung und Rechtfertigung
Wenn Worter wie Kunst und Kunstwerk gebraucht werden, driicken sie haufig eine positive Wertzuschreibung aus. Die Werte, die der Kunstbegriff in solchen Fallen transportiert, sind nicht nur asthetische, sondem tiberlappen sich auch mit anderen Werten (z.B. moralischen, politischen, okonomischen Werten).^ Sie sind nichts anderes als die Funktion einer Bewertung im jeweils konkreten Anwendungsfeld der Kunst. Mit anderen Worten hat der Wert, den ein Kunstwerk verkorpert, je nach kulturellem Hintergrund und praktischer Situiertheit eine andere qualitative Gestalt. „Der menschliche Blick hat es an sich, dass er die Dinge kostbar machen kann, allerdings werden sie dann auch teuer", notierte 1929 Wittgenstein.7 Etwas kostbar machen heifit, diesem Objekt einen Wert zuzuerkennen. Werte sind relational zu denken: etwas hat einen Wert
' Siehe a u d i Klamer 1996; Joas 1999. ' Wittgenstein 1994c (1977), 452.
Bewertiing imd Rechtfertigimg
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fiir jemanden in einer bestimmten Situation.^ Die Unterstreichung des relationalen Charakters der Werte will zwei Aspekte in den Vordergrund setzen: (a) Werte korrelieren mit Evaluierimgstechniken und sind Gegenstand eines Aushandlungs- und Abwagungsprozesses sowie (b) sind daher auf Anerkennung angewiesen. Asthetische Kriterien sind kontingent, weil sie sich in einem Raum von antagonistischen Werten und Geltungsanspriichen entfalten. Trotz ihrer Kontingenz stellen Werte ein konstitutives und unhintergehbares Element jedes Diskurses und der damit assoziierten kulturellen Praktiken dar. Kriterien sind immer notwendig, denn ohne sie konnten wir keine Praferenzen bilden, keine Entscheidungen treffen und keine Handlungen setzen - siehe Unterkap. 13.8. Asthetische Kriterien reprasentieren also praktische, handlungsgenerierende Kraftepole und liefem sowohl den Kunstproduzentlnnen als auch den Mediatorlnnen und Rezipientlnnen unverzichtbare Impulse. Um die Praxis des Bewertens zu rekonstruieren und zu analysieren, miissen wir das Rasonieren der Menschen im jeweiligen kulturellen Feld untersuchen. Womit untermauem sie ihre Kunsturteile? Welche Rechtfertigungsmuster verwenden sie, um die Akzeptabilitat ihrer Urteile zu erhohen? Gewohnlich geben die meisten, alien voran Laien, quasi-subjektive Griinde an, indem sie eine Redeform mit dem Personalpronom „ich" beniitzen - „Ich liebe Virginia Wolf." oder „Richard Wagners Pathos kann ich nicht ausstehen." usw. Solche Redefiguren erscheinen legitim und angemessen, weil in der westlichen Kultur eine lange Tradition existiert, die die Urteilsbildung in einem atomistisch konzipierten „Ich" lokalisiert. Dieses „Ich", das hier zu sprechen angibt und sich dabei auf seine Innerlichkeit (Eindriicke, Wertstandards) beruft, iibersieht meist die vergesellschaftlichten Voraussetzungen seiner eigenen Subjektivitat. Aus einer ich-externen, sprich soziologischen und praxeologischen Per-
Gegen eine Naturalisienmg der Werte und in der Folge der Kulturgiiter siehe Clark, Charles: „From natural value to social value'" in Clark 1995, 29-42; Keat, Russell: „Market Boundaries and the Commodification of Culture'" in Ray/Sayer 1999, 95ff; Throsby 2001, 26ff,31ff.
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Kiinst als evaluatives Konzept
spektive lasst sich aber eine enge Korrelation zwischen Geschmack und individuellen Praferenzen einerseits sowie der sozialen und kulturellen Einbettung des Individuums andererseits aufzeigen. Praferenzen sind somit nicht „naturlich", sondem Ergebnisse von existierenden Regelungen und Urteilen (Gewohnheits- oder reflektierte Urteile), die das Verhalten von Marktteilnehmerlnnen determinieren. Das Gewohnte bestimmt weitgehend die individuelle Urteilsbildung und in der Folge den Geschmack. In manchen Fallen, vor allem wenn einzelne Personen professionell in die Kunstwelt involviert sind, nimmt die Untermauerung und Rechtfertigung ihrer Urteile differenziertere Formen an. Der Grund dafiir ist einfach: Eine Rechtfertigung ist der Versuch, einer realen oder antizipierten Infragestellung des gefallten Urteils zu entgegnen. Sie ist also niemals eine neutrale Aufierung, sondem die engagierte Befiirwortung oder Zurlickweisung eines Urteils. Die Rechtfertigung bezieht sich dabei nicht nur auf die Wahrheit oder Richtigkeit vorangegangener Behauptungen, sondem auch auf die Konsistenz der Schlussfolgerung, die zum Urteil fiihrten. Rechtfertigungen werden nicht fiir sich formuliert, sond e m sie sind intentional. Sie woUen iiberzeugend sein und miissen deshalb die Zuhorerlnnen sowie deren Zustimmungsbereitschaft berucksichtigen.9 Die Zustimmungsbereitschaft griindet sich wiederum auf Werte, Interessen und Rationalitatsmuster. Zwischen der Form und der Gerichtetheit einer Rechtfertigung besteht eine enge Beziehung. Die optimale Sjmergie beider maximiert die Uberzeugungskraft der Rechtfertigung. Professionelle Akteurlnnen im Kunstbetrieb gehen regelmafiig auf die Zustimmungsbedingungen der anderen ein. Sie sind beispielsweise darauf bedacht, ihren Kunsturteilen die Form eines „reflexiven asthetischen Urteils" (im Kant'schen Sinn) zu geben, um sich so als unabhangige, objektive und unbestechliche Expertlnnen zu prasentieren. Daher sind die Figuren ihrer Rede oft durch einen entpersonalisierten und
9 Siehe Perelman, 1979, S7 und 139.
Zutn epistemischen Status der „asthetischen Qualitaf'
211
verallgemeinemden Stil gekennzeichnet. Das gelingt meist durch einfache Gegenstandspradikation wie „X ist ein hoch interessantes Werk, well../' ohne auf das Subjekt der Aussage weiter einzugehen. Ein solcher Satztypus enthalt auch einen normativen Appell: „So muss man das sehen; so ist es richtigV Um der Nachvollziehbarkeit und Zustimmung nachzuhelfen, wird ebenfalls auf allgemein akzeptierte Diskurse bzw. auf ein kunstwissenschaftliches und -philosophisches Vokabular zuriickgegriffen, das dem Urteil den Nimbus des Tiefsinnigen und Emsten verleiht.io Nicht zu Unrecht verglich David Carrier die Sprache der Kunstkritik mit der Darstellungsfunktion der illusionistischen Malerei: „Just as illusionistic images trade on our ability to pretend that they present what they depict, so texts demand that we treat their narrative connections as convincing, though on reflection we are aware of their arbitrariness, "^i 9.3
Zum epistemischen Status der „asthetischen Qualitat"
Asthetische Qualitat als Wertkategorie ist aus denselben Griinden so kontroversiell und wesentlich umstritten wie der Kimstbegriff selbst. Um das Konzept der asthetischen Qualitat herrscht eine epistemische Dunkelheit - nicht weil asthetische Qualitat ein unklares Konzept ware, sondem weil die Qualitat eines Kunstwerkes sich nicht im Kunstwerk selbst befindet, wie beispielsweise der Zucker in einem Kuchen. Da der Qualitatsbegriff keine ontologische Dimension aufweist, wird er als soziales Konstrukt begriffen, dessen Bedeutimg stets im Zusammenhang mit einer konkreten kulturellen Praxis gesehen werden muss. In diesem Abschnitt werde ich einige Uberlegungen beisteuem, um die Kritik am Objektivitatsanspruch asthetischer Urteile zu erweitern.
10 Siehe Zembylas 1996,61-75. 11 Carrier 1994,32.
212
Kimst als evaluatives Konzept
Aufieriingen iiber asthetische Qualitaten sind kollektiv - und keinesfalls „subjektiv allgemein"i2 ijxi Sinne Kants -, well die Praxis, die solche Urteiie moglich macht, stets gesellschaftlich ist. Dazu kommt, dass Urteiie immer im Licht bereits gemachter Erfahrungen und Standpunkte gefallt werden. Vergleiche, Analogieschliisse und Assoziationen, die jeden Wahrnehmungs- und Kognitionsakt untergriindig begleiten und die Urteiie formen, sind Produkte von Erfahrungen, die auf einer gesellschaftlich organisierten kulturellen Praxis basieren. Daher betont Ludwik Fleck: „Wir schauen mit den eigenen Augen, wir sehen mit den Augen des Kollektivs."^^ Die koUektive Natur und soziale Bedingtheit asthetischer Urteiie wird selbst von vielen Kunstphilosophlnnen nicht immer in gebuhrender Weise reflektiert. Der Irrglaube, die eigenen Urteiie allein aus der immanenten Analyse der Kunstwerke ableiten zu konnen, fuhrt zu der weit verbreiteten und volkstiimlichen Chimare von der Eigenstandigkeit und Autonomie der asthetischen Urteiie. Der Objektivitatsanspruch modemer Kunsttheorien und -wissenschaften kniipft an die allgemeine Wissenschaftsauffassung, die sich in der Folge von Rene Descartes, David Hume, Immanuel Kant, Edmund Husserl und Rudolf Camap entwickelt hat. Sie ist durch das Bemiihen charakterisiert, das wissenschaftliche Erkennen selbstkritisch zu iiberpriifen und auf sichere Fundamente zu stellen.14 Der Logik kam die Aufgabe zu, anerkannte und verbindliche Kriterien fiir die Akzeptanz oder Ablehnung eines Arguments zu entwickeln. So soUte der Aufbau von korrekten Aussagen gesichert werden. Hinter diesem Projekt wirkte der Glauben an die Moglichkeit einer neutralen und interessenlosen Ver-
12 Kant 1990 (1790), B XLVI. 13 Fleck, Ludwik: „Schauen, sehen, wissen"" (1947) in Fleck 1983,154. 14 Das Wort „Objektivitat'' wixd hier in einem bestimmten Sinn verstanden. Objektiv ist ein Urteil, wenn es wahrheitsgemafi verfahrt. Der Wahrheitsbegriff kann hier mehrere Bedeuttingen haben: Er kann (a) die richtige Beschreibimg iind Benennung der asthetischen Wirkung des Werks (psychologische Wahrheit), (b) die wissenschaftHche Korrektheit und Konsistenz der asthetischen Begriffe und Argumentation (formale Wahrheit), (c) die empirische Evidenz der Interpretation (empirisch-historische Wahrheit) meinen.
Zum epistemischen Status der „asthetischen Qualitat^'
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niinft, die als Selbstzweck operiert. Was die meisten Wissenschaftstheoretikerlrmen der Modeme systematisch iibersahen, war die Tatsache, dass die Praxis und in der Folge einige damit verbundene kulturelle Werte die Urteilskraft mitkonstituieren.^s Trotz der realen Vielfalt und Diversitat der Meinungen und asthetischen Praferenzen gibt es einen Punkt, iiber den sich Kunstexpertlnnen weitgehend einig sind: Es gibt Qualitaten und Qualitatsunterschiede. Nicht iiber die inhaltliche Ebene, sondem iiber die Form und Funktion des Qualitatsbegriffs existiert ein Konsens. „Kiinstlerische Qualitat" ist demnach ein Schliisselbegriff, weil er in der bestehenden kulturellen Praxis fest verwurzelt ist - man denke an die Kunstjurys, an die Ausbildungsinstitutionen, die Argumentation der Programmleiterlnnen in Kunstinstitutionen, an die Kunstzeitschriften usw. Kiinstlerische Qualitat ist folglich ganz im Sinne von Robin CoUingwood eine absolute Vorannahme: „An absolute presupposition is one which stands, relatively to all questions to which it is related, as a presupposition, never as an answer/'^^ Der Qualitatsbegriff als absolute Vorannahme stellt keine Frage Oder Hypothese dar, die man verifizieren bzw. falsifizieren konnte. Es ist ein Schliisselkonzept, das entweder angenommen oder nicht angenommen wird. Wiirden die Akteurlnnen der Kunstwelt diese Vorannahme nicht teilen, dann miissten sie der Kunst jede semantische und semiotische Dimension absprechen. Nun, woriiber wiirden Kritikerlnnen dann schreiben? Welche Motive hatte dann jemand, ein Kunstwerk zu machen? Wozu waren Dirigentlnnen, Regisseurlnnen oder Kuratorlnnen dann gut?
^5 Siehe Charles Taylor: „Overconiing Epistemology'' (1987) in Taylor 1995, 1-19; Polanyi 1958, Fleck 1981 (1935), Wittgenstein 1977 (1953). ^^ CoUingwood 1940, 31f. Absolute Vorannahmen konnen nicht eUminiert werden, weil sie wie Fundamente funktionieren.
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9.4
Kimst als evaluatives Konzept
Die Sozialitat asthetischer Urteile
Ein anderes Wort fiir die koUektive Natur asthetischer Urteile ist ihre Sozialitat. Sozialitat sollte nicht deterministisch missverstanden werden, derm asthetische Urteile resultieren keinesfalls aus einer nicht-intelligiblen, mechanischen Anwendung von expliziten asthetischen Kriterien. WoUen wir iiberhaupt asthetische Qualitatskriterien als Regeln begreifen, so miissen wir zur Kenntnis nehmen, dass Regelsysteme immer offene Stellen aufweisen. Diese Offenheit ergibt sich dadurch, dass Regelsysteme nie alle Anwendungssituationen und Durchfiihrungsbedingungen antizipieren oder regeln konneni^ - siehe Unterkap. 12.6. Asthetische Urteile sind zwar die Konkretisierung von asthetischen Kriterien (Regeln), aber jedes konkrete Urteil ist partikular und kontingent. Man konnte asthetische Kriterien mit Strafiennetzen vergleichen: Sie geben imseren Denkziigen eine gewisse Struktur bzw. einen Bewegungsraum vor; wohin aber jeder einzelne Denkzug tatsachlich fuhrt, lasst sich nicht vorhersagen oder im engeren Sinn steuem. Es ist kein Geheimnis, dass Menschen unterschiedliche Urteile fallen. Nicht nur die asthetischen Kriterien, die sie anwenden, sind oft inhaltlich verschieden. Selbst dann, wenn es eine Ubereinstimmung der Grundwerte und Methoden gabe, wiirde weiterhin Meinungsdissonanz bestehen. Der Grund dafiir ist, dass asthetische Kriterien (Ironie, formale Strenge, Innovation, Ambiguitat, Expressivitat u.a.) keine fest begrenzten Konzepte sind. Die Vorstellung von Stringenz, die viele Theoretikerlnnen von sich haben, basiert nur auf ihrer Uberzeugung von der inneren Notwendigkeit ihrer eigenen Denkziige. So erheben sie regelma6ig den Anspruch, anerkennungswiirdige und gerechtfertigte Urteile abzugeben. Der Entgleisung eines anderen Urteils wird dann mit einer Belehrung begegnet: „So darf man das nicht sehen. Erst wenn du das so betrachtest, wirst du das Werk richtig verstehen." Doch das Urteil eines/einer Kenners/in (bzw. Experten/Expertin), auch wenn es noch
' Siehe Charles Taylor: „ To Follow a Rule" (1992) in Taylor 1995,178.
Die Performativitat der asthetischen Urteile
215
SO fachkundig und durchdacht ist, sagt nichts iiber den Gegenstand des Urteils selbst - das Kiinstwerk - aus. AUes, was im Urteil in erster Linie durchscheint, sind die impliziten Denkkategorien und relevanten asthetischen Kriterien, also das „Glaubensuniversum" desjenigen, der das Urteil fallt.18 9.5
Die Performativitat der asthetischen Urteile
Die Lobpreisung eines Kunstwerks ist ein performativer Sprachakt - ich kann nur loben, indem ich ein Lob ausspreche. Loben ist also kein konstativer Satz, sondem driickt indirekt eine Empfehlung zum Kauf oder zur Rezeption eines Werks aus. Performative Aussagen sind jenseits von wahr und falsch; sie konnen lediglich gelingen oder missglucken.^^ Satze, die eine Wertschatzung iiber die kiinstlerische Qualitat eines Werks enthalten, ja der Kimstbegriff als solcher, implizieren eine tiefer greifende semantische Transaktion: Ein Gegenstand, dem der Kunststatus verliehen wird, bekommt ein Mehr-Sein, das iiber seine blofie Phanomenalitat und Materialitat hinausgeht. Der Rede von der Interessenlosigkeit des asthetischen Urteils ist zu misstrauen, well sie die Performativitat des asthetischen Urteils verleugnet. Man muss natiirlich zugeben, dass, historisch gesehen, die Objektivitatsforderung gelegentlich eine andere Ausrichtung hatte. Wenn zum Beispiel David Hume meinte, dass kompetente Kunstkritiker neben asthetischer Sensibilitat und Erfahrung vor allem vorurteilslos sein miissen, so wandte er sich gegen den beengenden Dogmatismus der damaligen Akademien.2o Doch jenseits der historischen Kritik an zu starren Haltungen ist festzustellen, dass asthetische Urteile alles andere als interessen- und intentionslos sind. Das Konzept der asthetischen Qualitat wird nicht selten aggressiv und kampferisch eingesetzt, um basale Dis-
^8 Siehe Wittgenstein 1977 (1953), 339; und Bourdieu 1999 (1992), 362. 19 Siehe Aiostin 1979 (1962), insbesondere 10. und 11. Vorlesung; Searle 1990 (1969), Kap. 1.4. 20 Hume 1964 (1742), 276.
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Kimst als evaluatives Konzept
tinktionen (z.B. zwischen Popularkunst und hoher Kunst) zu rechtfertigen und eine Trennung zwischen „guter" Kunst und anderen Werken, die eine Devaluierung erfahren, herbeizufiihren. Auf der Ebene der offentlichen Subventionsverwaltung stellt die ietztere Gruppe eben jene Werke und Kunstprojekte dar, die in der Kegel als „nicht forderungswiirdig" eingestuft werden. Daher befinden sich asthetische Kriterien, ob sie es wollen oder nicht, in der Sphare des Politischen. Die Anerkennung einer asthetischen Qualitat ist Ausdruck von Wertschatzung und hat insbesondere auf dera Kunstmarkt eine zentrale Bedeutung. Im Kunstsektor herrscht in der Kegel ein Uberangebot an Kulturgiitem vor. Damit ein Kunstmarkt entsteht und funktionieren kann, muss er permanent mittels einer strengen Auslese Giiterknappheit herstellen. Den Hebel fiir diese Operation liefert die „asthetische Qualitat" als Basiskonzept der Kunstwelt. Das Interessante daran ist, dass es nicht die Kunsthandlerlnnen sind, die diese Selektion durchfiihren und durchsetzen miissen. Das kiinstlerische Feld iibemimmt den grofiten Teil der Arbeit selbst. Sobald der Evaluierungsprozess einsetzt, konnen Kulturgiiter zu Wirtschaftgiitem werden, das heifit zu Giitem mit einem materiellen und immateriellen Mehrwert. Diese Instrumentalisierung des Qualitatskonzeptes^^ koinzidiert einerseits mit dem modus operandi der Kunstmarkte, andererseits mit der Sozio-Logik der Kunstschaffenden als BerufskoUektiv. Die Zuriickweisung des erkenntnistheoretischen Anspruchs von asthetischen Qualitatsbegriffen bedeutet fiir manche einen tiefen Weltschmerz. Das Psychogramm vieler humanistischer Gelehrter ist durch den Faust'schen Affekt bestens charakterisiert: „Und sehe, dass wir nichts wissen konnen! Das will mir schier das Herz verbrennen." Meine Untersuchungen laufen jedoch nicht auf einen Skeptizismus der bequemen Art hinaus. Die Diskussion um asthetische Werturteile will lediglich die Kunstkritik von den abstrakten Gefilden des Theoretischen auf
2^ Nach John Searle fungieren solche Begriffe „als Platzhalter fiir die linguistischen Artikiilation [bestimmter] Praktiken'' - Searle 1997 (1995), 62.
Die Unhintergehbarkeit des Bewertens
217
eine weltliche, praxisorientierte Ebene zuriick holen. In der Folge kann gezeigt werden, dass Qualitatsbegriffe und Urteile genuine, diskursive Artikulationen bestimmter kultureller Praktiken sind. 9.6
Die Unhintergehbarkeit des Bewertens
„Asthetische Qualitat ist eine soziale Konstruktion", sagt einer. „Ja, wir wissen es langst, aber was tut's?'', entgegnet ein anderer. Damit entsteht eine aporetische Situation. Dass etwas eine soziale Konstruktion ist, bedeutet, dass dieser Sachverhalt Bestandteil der gegenwartigen sozialen Realitat ist. Seine Faktizitat fordert seine Existenz und Wirkung emst zu nehmen.22 Die Rede von der asthetischen Qualitat ist in der Tat eine soziale Konstruktion, weil sie in der sozialen Realitat der Kunstwelt fest verankert ist. Asthetische Qualitatskriterien, wie formale Perfektion, sinnliche Komplexitat, Hermetik, Vieldeutigkeit, Innovation, Subversion u.a., haben eine regulative Funktion. Sie sind wichtige Orientierungsgeber fiir gegenwartige Produktions- und Rezeptionsakte. Gerade weil asthetische Kriterien die kiinstlerische Praxis regulieren, sind sie nicht ohne weiteres eliminierbar. JedeR Kuratorin, Regisseurin und jedes Mitglied einer Jury weifi, dass in jeder Auswahl implizit eine Evaluierung enthalten ist. Wenn man Kriterien ersetzt, dann fiihrt man notwendigerweise andere Kriterien ein. Man braucht also stets bestimmte Kriterien, um Entscheidungen zu treffen und diese gegebenenfalls zu verteidigen. Daher meine ich, dass die Qualitatsfrage wohl oder iibel nicht zu umgehen ist. Sie ist ein konstitutives Element der kulturellen Praxis einer Praxis, die a priori normativ impragniert ist. Bewertung hat ausdriicklich eine politische Relevanz, vor allem wenn sie im Wirkungsbereich des Staates stattfindet. Diese Relevanz ergibt sich zum einen aus der engen Verkniipfung zwischen asthetischer und sozialer Artikulation und zum anderen aus der Konflikttrachtigkeit des Kimstbegriffs. Besonders im Fall kulturpolitischer Entscheidungen wa-
'- Siehe Hacking 1999,28.
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Kiinst als evaluatives Konzept
ren hier einige Aspekte zu beachten, um das Neutralitatsgebot des Staates (Verbot eines Staatsrichtertums) und den Gleichheitsgrundsatz (Gleichbehandlung der Antragstellerlnnen bzw. Verbot unsachlicher Differenzienmg) zu gewahrleisten: Es darf nicht normativistisch vorgegangen werden. Das heifit, es soil keine Matrix aufgestellt werden, die diktiert, was „gute" Kunst ist - kurz: Keine deduktionistische Anwendung nur einer einzigen asthetischen, politischen oder sonstigen Theorie. Klassifizierungen zwischen hoher versus trivialer oder popularer und freier versus angewandter Kunst sind meist irrefiihrend und verdeckt diskriminierend. Sie reflektieren nicht die Mannigfaltigkeit der Kunstproduktion und Kunstrezeption, sondem orientieren sich ausschliefilich an den Gebrauchsweisen einer kiinstlerischen Arbeit. Sinn einer Qualitatsdebatte soil nicht sein, eine bestimmte Kunstauffassung durchzusetzen. Die Qualitatsdebatte soil in dem Bewusstsein gefiihrt werden, dass solche Debatten meist ideologiebelastet sind. Man konnte einwenden, dass das Verbot normativistisch vorzugehen, ein Selbstwiderspruch sei, well Entscheidungen dieser Art von Grund auf normativ sind. Hier ist eine Begriffsklarung notwendig. Mit „normativistisch" ist eine dogmatische Vorgangsweise gemeint, die sich der kritischen Auseinandersetzung entzieht. An dieser Stelle ist Kant zu zitieren, der das Ideal des „kritischen Denkens" wie folgt kommentierte: „Die Vemunft muss sich in all ihren UntemehmiHigen der Kritik unterwerfen, imd kann der Freiheit derselben diirch kein Verbot Abbruch tim, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr nachteiligen Verdacht auf sich zu ziehen. Da ist nun nichts so wichtig, in Anschauung des Nutzens, nichts so heilig, das sich dieser priifenden und mustemden Durchsuchung, die kein Ansehen der Person kennt, entziehen diirfte. Auf dieser Freiheit beruht sogar die Existenz der Vemunft, die kein diktatorisches Ansehen hat, sondem deren Anspruch jederzeit nichts als die Einstinunung freier Burger ist.
Die Unhintergehbarkeit des Bewertens
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deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein Veto, ohne Zuruckhaltimg muss aufiem konnen/'^s
Gerade well asthetische Urteile Produkte einer normativ gepragten Praxis sind, ist es legitim, gewisse normative Anforderungen an die Praxis des Beurteilens zu stellen. Asthetische Urteile, die breite Anerkenniing innerhalb einer Praxisgemeinschaft geniefien, haben eine kanonische Funktion, ahnlich wie ein Prazedenzfall in der Rechtsprechung. Sie leiten also Denk- und Wahmehmungsgewohnheiten, die praxiskonstitutiv sind.24 Es gehort zu den Aufgaben eines kritischen Diskurses, den Prozess der Urteilsfindimg und die Bedingungen der Akzeptabilitat von asthetischen Urteilen permanent zu thematisieren, um die Praxis (vielleicht ein wenig) verbessern zu konnen.
23 Kant 1998 (1781), B 766f. 24 Siehe Aristoteles 2000, II. Buch, § 1 imd § 3.
Teil III - Handlungen, Tatigkeiten, kulturelle Praktiken Einleitung Die Kulturbetriebslehre als eine Inter-Disziplin, die sich an der Schnittstelle zwischen Kultur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften entwickelt, befasst sich mit dem Kultursektor als makrosoziologisches Konzept und mit Kulturbetrieben als konkrete Organisationseinheiten. Der Kultursektor stellt ein gesellschaftlich organisiertes und institutionell strukturiertes Feld dar, das die Entfaltung verschiedener kultureller Praktiken ermoglicht. Zugleich wirkt er begrenzend, wobei die Einschrankungen der Handlungsoptionen materieller (physische Einschrankungen, Ressourcenmangel) normativer (Gesetze, Moral) oder struktureller (situationsspezifische und systemimmanente Einschrankungen) Art sind. Neben der Konzentration auf die Erforschung der kulturellen, politischen und okonomischen Dimension von Kulturprozessen darf das Tun und Lassen der Menschen nicht vemachlassigt werden. Ohne einen handlungstheoretischen Zugang wiirde die Kulturbetriebslehre ein blofi institutionalistischer oder strukturell orientierter Ansatz sein. Den Aspekt der Praxis emst zu nehmen bedeutet, nicht nur auf die Aufierimgen der Menschen zu achten - diese sind freilich keinesfalls bedeutungslos -, sondern unsere Aufmerksamkeit auf ihre Tatigkeiten, Konventionen und kulturelle Praktiken zu richten. Dafiir benotigen wir ein adaquates
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Teillll-Emleitung
methodisches Instrumentarium, das im Laufe des dritten Teils vorgestellt werden soil. Die Thematisierung von Handlungen, Tatigkeiten und Praktiken (konventionellen Sets) ist unabdingbar, denn der Mensch ist ein handelndes Wesen.i Handeln ist eine alltagliche Selbstverstandlichkeit und zugleich eine Kemthese der Anthropologie: die Handlungsfahigkeit des Menschen begriindet die Pluralitat menschlichen Verhaltens.2 Wir konnen kaiun einschatzen, wie tief das Handeln unsere Existenz und unsere Identitat pragt, zumal kein Mensch sich seines Handelns ganzlich entziehen kann. Gerade well uns das Handeln so vertraut scheint, ist es schwierig, es zum „Gegen-Stand" des eigenen Denkens zu machen. Die Distanz, die deskriptive Wissenschaften pflegen, wirkt befremdend und deplatziert. Ein weiteres Hindemis fiir die theoretische Beschaftigung mit Handlungen stellt der Handlungsbegriff selbst dar. Er ist ein synthetischer Begriff, der aus vielfaltigen, kontextsensitiven Elementen besteht: mentalen Bestandteilen, wie Absicht, Motiv, Wissen, physischen Bestandteilen, wie Ort, Zeit, Bewegungsaufwand, sowie aus semantischen Komponenten, z.B. Sinn, Wertigkeit, Normorientierung u.a. Nicht geringere Schwierigkeiten bereitet die Mannigfaltigkeit von Handlungen, ihre Situationsgebundenheit und Abhangigkeit von den Interpretationsparametem sowohl der Handelnden als auch der Beobachtenden. Wie vielschichtig der Handlungsbegriff ist, zeigt sich letztlich auch in der Moglichkeit, diesbeziiglich mehrere Verben zu gebrauchen: tun, handeln, agieren, praktizieren, machen, vollziehen, durchfiihren, unternehmen, sich verhalten u.a. Die Bedeutung dieser verschiedenen Ausdnicke ist meist nicht identisch, wohl aber iiberlappend, so dass wir von
1 Siehe beispielsweise Aristoteles 2000, Buch X., § 4, 1175a 12; Gehlen 1981 (1961), 17; Giddens 1995 (1984), 335. 2 Siehe Arendt 2001 (1958), 17 und 213.
Teil III - Emleitimg
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semantischen Verwandtschaftsverhaltnissen sprechen konnen.^ Eine essentialistische Annaherungsweise an die verschiedenen Handlungstypen ist nicht moglich - „Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen. Du kommst von einer Seite und kennst dich aus; du kommst von einer anderen zur selben Stelle, und kennst dich nicht mehr aus"^ - daher muss der Handlungsbegriff notwendigerweise offen bleiben.^ Die Anzahl der bereits ausgearbeiteten Handlungstheorien ist grofi und die Unterschiede zwischen ihnen sind teilweise betrachtlich. Eine Grundfrage, die dennoch fast alle Theoretikerlnnen beschaftigt hat, kreist um das Spannungsverhaltnis zwischen der Partikularitat des einzelnen Tuns und der Redundanz, Wiederholbarkeit, Konventionalitat und Regelhaftigkeit des Handelns allgemein. Ob eine Handlung das „Produkt" eines Individuums oder ob sie auf das soziale Umfeld zuriickzufiihren ist, war folglich seit Jahrzehnten Gegenstand elaborierter Dispute. Jede theoretische Position setzt, wie auch immer sie konkret aussieht, ein Menschenbild (eine philosophische Anthropologie) und ein Gesellschaftsbild (eine Theorie des Sozialen) voraus.^ Diese Grundlagen „Was ist (bzw. wie funktioniert) der Mensch?", „Wie konstituiert sich (bzw. wie funktioniert) die Gesellschaft?'', „In welcher Relation stehen die Individuen zueinander und zum sozialen Ganzen?" - sind nicht zu umgehen, derm ohne sie ist eine systematische Untersuchung des Handlungsbegriffs kaum denkbar. (Diese Fragen werden spater eingehend thematisiert.) Noch eine letzte einleitende Vorbemerkung: Die Logik des Handelns und, allgemeiner, die Logik der Praxis sind grundverschieden von der Logik der Erkenntnis. Bei Handlungen und Tatigkeiten geht es nicht um
3 Vergleiche Wittgensteins Konzept der „Familienahnlichkeit'' in Wittgenstein 1977 (1953), §67, §77. 4 Wittgenstein 1977 (1953), § 203. 5 Siehe Maclntyre 1973,2f. ^ Diese Voraussetzimgen werden gelegentlich von einigen Handlungstheoretikem expHzit thematisiert - siehe z.B. Winch 1974 (1958); Parsons 1979, Kap. IV.; Alexander, Jeffrey: „Action and its Environments'', in Alexander/Giesen 1987,289-318.
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Teillll-Emleitimg
wahre oder falsche, begriindete oder unhaltbare, verifizierbare oder falsifizierte Erkenntnisanspmche, sondem in erster Linie um das Gelingen oder Misslingen des Tuns. Michael Polanyi formuliert es so: „Rriowledge can be true or false, while action can only be successful or unsuccessful, right or wrong. It follows that an observing, which prepares a contriving, must seek knowledge that is not merely true, but also useful as a guide to a practical performance. It must strive for applicable knowledge."'^
Die Zielgerichtetheit und praktische Orientierung sind zentrale Merkmale, die Handlungen von blofien Reflexen oder unbeabsichtigten Ereignissen, wie z.B. Stolpem iiber einen Teppich, unterscheiden. Aus der Zielgerichtetheit lasst sich die praxisinteme Perspektive rekonstruieren. Auf einer zweiten Ebene kann das Tun und Lassen der Menschen im Hinblick auf ihre soziale Wirkung und Bedeutsamkeit untersucht werden. Diese zweite Ebene generiert die praxisexteme oder besser die soziologische Perspektive des Handelns. Die praxisinteme Perspektive geht auf Aristoteles zuriick, der von den inharenten Zielen jeder Praxis sprach: „Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlimg und jeder Entschluss scheint irgendein Gut zu erstreben. (...) Welches ist nun das Gute in jedem einzelnen Fall? Wohl das, u m dessentwillen alles iibrige geschieht. Dies ist in der Medizin die Gesundheit, in der Strategik der Sieg, in der Baukunst das Haus, anderswo wieder anderes.^'^
Diese Zugangsweise konzentriert sich vorerst beschreibend auf das, was die Menschen tun, wie sie es tun, welchen Sinn sie ihrem Tun geben, und wie sie eine bestimmte Tatigkeit (techne) pflegen, weitergeben und verbessem. Die soziologische Perspektive thematisiert hingegen die Folgen und die soziale Relevanz des Handelns. Im Mittelpunkt stehen nicht so sehr die einzelnen Individuen, ihr Wissen, ihre Interessen, Absichten und Fertigkeiten, sondem die sozialen Parameter, die eine Praxis steuem, re-
7 Polanyi, 1958,175. 8 Aristoteles 2000,1. Buch, 1 §, 1094a 1-4 und 5 §, 1097a 18-20.
Teillll-Einleitung
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produzieren und legitimieren. Konzepte wie beispielsweise Macht, Status, Institutionen, normative Akzeptanz spielen hier eine wichtige RoUe. Sowohl die Frage des Gelingens (die „inteme" Perspektive), als auch die Frage der sozialen Funktion und Wirkung des Handelns (die „externe" Perspektive) sind eng miteinander verbunden. Um die Praxis untersuchen zu konnen, miissen wir unsere Aufmerksamkeit auf all jene tiberlegungen, Entscheidungen, Strategien und Interaktionen richten, die die Praxis ausmachen, ohne jedoch die Analyse und Bewertung der Folgen von Handlungen zu vemachlassigen. Die strukturale Analyse des Handlungsfeldes muss also durch die Analyse der Mikrostruktur des Handelns (praktisches Wissen, individuelle Handlimgsstrategien, Selbstdarstellung, Habitualisierung), das diskrete und teilweise personlichkeitsgebimdene Eigenschaften enthalt, erganzt werden.
10 Die epistemologischen Grundlagen der Handlungstheorie
10.1
Verabschiedung von der Plantheorie und vom Primat des Geistes
Seit der Ausbildung der Sozial- und Kulturwissenschaften als eigenstandige Disziplinen stellten Handlungen einen ihren zentralen Forschungsgegenstanden dar ~ Max Weber bezeichnete die Soziologie immerhin als die „Wissenschaft vom sozialen Handeln".i Das Interesse an Handlungen griindete sich in der Auffassung, dass sie das d i e d zwischen dem „Ich" und der Gesellschaft darstellen. Webers Bestiramung des Handlungsbegriffs entspricht dieser Sicht: ,/Handeln' soil dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob aufieres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heifien, wenn und insofem als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. 'Soziales' Handeln aber soil ein solches Handeki heifien, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten der underen bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist/^^
Weber nennt hier zwei Instanzen: die Handelnden und die Anderen und spricht daher von der Beziehung zwischen der partikularen Intentionalitat (dem „subjektiven Sinn") und dem extemen Bezugsrahmen des Handelns (dem „Verhalten der anderen")- Die Anderen konnen konkrete Individuen, eine gro6ere Gruppe oder eine funktionale AUgemeinheit (z.B. die Offentlichkeit, die Moral, das Vaterland) sein. Weber grenzt somit seinen Handlungsbegriff von anderen Begriffen, die nur Aktivitaten, wie beispielsweise schlafen, sich kratzen, reflexartig blinzeln u.a. benennen.
1 Weber, Max: „Soziologische Grundbegriffe'' (1921), in Weber 1925, Bd. L, 1. Im Anschluss an Webers Programmatik siehe auch Touraine 1973 (1965). 2 Ebd. 1. Hervorhebung T.Z.
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Die epistemologischen Grundlagen der Handlungstheorie
ab. „Handlung" wird folglich fiir Tatigkeiten reserviert, die einen (wie immer zu definierenden) „subjektiven Sinn" liaben. Unter Sinn versteht er in Anlehnung an die Phanomenologie (Franz Brentano, Edmund Husserl) eine intentionale Funktion des Bewusstseins.^ Sinn bedeutet also den vom „Handelnden subjektiv gemeinten Sinn [.., und] nicht etwa irgendein objektiv 'richtiger' oder auch metaphysisch ergriindeter 'wahrer' Sinn/'^ Intentionalitat als Bewusstseinsfunktion wird hier an die Reprasentations- bzw. Sprachkompetenz der Handelnden gekoppelt. Wenn beispielsweise eine Spinne ihr Netz baut und in der Folge eine Fliege fangt, so konnte man vorerst denken, dass sie damit eine Absicht (Hungerstillen) verfolgt hatte. Vemeint man jedoch das Vorhandensein einer Intentionalitat, well Spinnen offenbar keine Reprasentationsfahigkeit haben, dann betrachtet man das Fangen der Fliege nicht als Handlung, sondern ausschliefilich als eine instinktmafiige, nicht-intentionale Aktion. Webers Definition des Handlungsbegriffs ist trotz ihrer Klarheit und Einfachheit fragwiirdig, denn die Zuschreibung „subjektiv'', d.h. „dem Subjekt gehorig" und „am Subjekt orientierf' ist problematisch. Als Denker des spaten 19. imd beginnenden 20. Jahrhunderts ging er von einer mittlerweile iiberholten Auffassung des handelnden Menschen aus, wonach eine Handlimg immer eine Entscheidimg voraussetzt. Entscheidung ist begriffsgeschichtlich gesehen ein mentalistischer Begriff.
3 Franz Brentano beschrieb seinen Intentionalitatsbegriff so: ,Jedes psychische Phanomen ist durch das charakterisiert, (...) was wir, obwohl mit nicht ganz imzweideutigem Ausdruck, die Beziehimg aiif einen Inhalt, die Richtung aiif einen Gegenstand oder die immanente Gegenstandlichkeit [des Bewusstseins; Anmerkung T.Z.] nennen wiirden. Jedes enthalt etwas als Objekt in sich, obwohl nicht jedes in gleicher Weise: in der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in den Urteilen ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, im Hasse gehafit, im Begehren begehrt usw.'' In Anschluss an Brentano stellt Edmund Husserl ebenfalls fest, dass „schon in der schlichtesten Wahmehmung, und so in jedem Bewusstsein (...) ein Abzielen Hegt''. (Brentano 1925 (1874ff.), 115; Husserl 1954 (1935-38), 181. Uber die Verkniipfung des Handlungs- und IntentionaHtatsbegriffs siehe auch Runggaldier 1996,68ff. und 88ff.) 4 Weber, Max: „Soziologische Grundbegriffe'' (1921), in Weber 1925, Bd. I., If.
Verabschiedimg von der Plantheorie iind vom Primat des Geistes
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(„Mentalismus'' bezeichnet jene philosophischen Stromiingen, die eine begriffliche Trennung zwischen eineiri Inneren (Geist, Bewusstsein, Mentalen) und einem Aufieren (materielle Aufienwelt, Leib) voraussetzen. Das Mentale (bewusstes Wissen, Erlebnisse, Emotionen) wird in der Folge als Ursprung und unhintergehbare Instanz des Handlimgssinns betrachtet. Die Entkoppelung des Mentalen von der Leiblichkeit und der sozialen Welt soUte die geistige Autonomie des Menschen begriinden.) Aus dem Postulat eines vorangegangenen Handlungsentwurfes und -entschlusses hat sich im Laufe der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts die so genannte plantheoretische^ Auffassung des Handelns entwickelt. Stellvertretend fiir viele Handlungstheoretikerlnnen, die diese Position einnahmen, schrieb Alfred Schiitz: „AIles Handeln [vollzieht] sich nach einem mehr oder minder expliziten Vorgefassten Plan'. (...) Aber das Entwerfen von Handeln voUzieht sich imabhangig von allem wirkHchen Handeln. Jedes Entwerfen von Handeln ist viehnehr ein Phantasieren. (...) Was entworfen wird, ist nicht das sich schrittweise voUendende Handeln, sondem die Handlung, das 'Ziel' des Handelns, welches durch das Handeln verwirklicht werden soU."6
In den 1950er Jahren haben viele analytische Handlungstheoretikerlnnen diese Position soweit verabsolutiert, dass sie schliefilich einer Handlung ohne vorausgehenden Plan und bewusster Entscheidung jeden intelligenten Charakter absprachen7 Und obwohl sich mentalistische Handlungtheorien phanomenologischer Provenienz von den analytischen
5 Weber hebt die Bedeutung des planmafiigen Verhaltens als Grundmerkmal rationalen Wirtschaftens hervor - siehe Weber 1925, Bd. 1, 35f. Eine kritische Analyse des Plan- und Plantmgsbegriffs bietet Tenbruck, 1972,1. Kap., 17-55. 6 Schiitz 1974 (1932), 77f. 7 Fiir eine differenziertere DarsteUung der unterschiedHchen Ansatze der analytischen Handlvingstheorie siehe Beckermann 1977 und Meggle 1977. Explizite Kritik am verborgenen Mentalismus der analytisch-deskriptiven Handlungstheorie findet sich in Ryle 1969 (1949), Taylor 1964, Wright 1974 (1971), Runggaldier 1996 sowie in Neuweg, Georg Hans: „Konnen imd Wissen'' in Neuweg 2000,65-82.
230
Die epistemologischen Gnmdlagen der Handltingstheorie
Handlungstheorien markant unterscheiden, haben beide eine Gemeinsamkeit: Sie setzen Bewusstseinsfunktionen (wie Absicht, Wille, Plan, Entschliisse etc.) in den Vordergrund, so dass sie dem intelligenten Handeln eine starre zeitlich-lineare Struktur vorgeben: Die Kopfarbeit kommt vor der Praxis. 10.2
Kritik am analytisch-deskriptiven Zugang
Die analytische Handlungstheorie basiert auf vier Elementarkonzepten, die die Handlungsanalyse ausmachen: das Handlimgssubjekt (Akteurln), die Intention, der HandlungsvoUzug und die Resultate. Zwischen diesen vier Konzepten wird eine logische Folgerelation behauptet.
Akteur + Intention—•Entscheidung
Wer?
I Urteilsbildung Absichten
-VoUzug-
Umsetzung Plan
Ergebnis + Folgen
aiiSerer Kontext
Das Was der Handlutig
Unbeabsichtigte Wirkimg
Realisienmg der Absichten
Figur 4 Handlungsmodell der analytischen Handlungstheorie
Anders als im klassischen Behaviorismus^ lehnt die analytische Handlungstheorie intentionale Begriffe nicht grundsatzlich ab. Intentionen reprasentieren die intemen Bedingungen der Handlung und werden in einem Handlungsplan umgesetzt. Der VoUzug zielt auf bestimmte Ergebnisse ab. Das Ergebnis einer Handlung ist das, was das Handlung-
8 Siehe beispielsweise Skinner, Burrhus Frederic: „Die Nutzlosigkeit von inneren Ursachen", in Skinner 1978, 188ff. Relativierend auGert sich hingegen Wesfccneyer, Hans (1984): „Von der Schwierigkeit ein Behaviorist zu sein oder Auf der Suche nach einer behavioristischen Identitat'', in Lenk 1977ff., Bd. 3,574-606.
Kritik am analytisch-deskriptiven Zugang
231
ssubjekt erreichen mochte. Welche Folgen eine Handliing schliefilich hat, hangt mitunter von extemen Faktoren ab, die vom Handlungssubjekt nicht beeinflusst werden konnen. Die Unterscheidiing zwischen Ergebnissen iind Folgen ist wichtig. In manchen Fallen, wenn die Differenz zwischen den Ergebnissen imd Folgen plausibel ist, kann die Haftung des Handelnden fiir sein eigenes Tun eingeschrankt werden.^ Auf Grund der Unterscheidung zwischen intemen und extemen Bedingungen deuten analytische Handlungstheoretikerlnnen Handlungen gewohnlich auf zwei Ebenen: Die Umsetzung der Intentionen im HandlungsvoUzug, also das „Wie" der Handlung, erfolgt nach bestimmten Regeln, die sich die Akteurlnnen im Zuge ihrer Sozialisation angeeignet haben. Hier besteht also eine intrinsische Beziehung - siehe ersten und zweiten Pfeil der oben stehenden Figur. Der Ubergang vom VoUzug zu den Folgen der Handlung - siehe dritten Pfeil der Figur - erfolgt nach Meinung der meisten analytischen Handlungstheoretikerlnnen nach einem kausal-logischen Schema, wobei die Struktur dieser Beziehung als extrinsisch gedeutet wird.io Die Behauptung einer intrinsischen Beziehung zwischen dem Handlungssubjekt und „seinen" Intentionen geht auf theoretische Grundannahmen zuriick, die seit den letzten drei Jahrhunderten Gegenstand intensiver Debatten sind. Die Vorstellung von einem „Ich" (oder „Geist")/ das in unserem materiellen Leib waltet und unsere Gedanken kreiert - Gilbert Ryle sprach ironisch vom „Gespenst in der Maschine'' herrschte bis ins 19. Jahrhimdert vor. Spatestens mit Friedrich Nietzsches Werk brach die dualistische Auffassung des Menschen endgiiltig zusammen. Mit der darauf einsetzenden philosophischen Handlungstheorie (man denke an den amerikanischen Pragmatismus oder die phanomenologische Hermeneutik) begann auch die Grundannahme, dass intelligente Handlungen stets eines klaren Plans bediirfen, zu zerbrockeln: „Die intellektualistische Legende macht die absurde Annahme, jede Ver-
^ Siehe Austin, John L.: „Ein Pladoyer fiir Entschuldigungen'' (1956), in Meggle 1977,8-42. 10 Siehe Schwemmer 1987,194-200.
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Die epistemologischen Gnmdlagen der Handlungstheorie
richtung, welcher Art auch immer sie sei, erwerbe ihren gesamten Anspruch auf Intelligenz von einer vorausgehenden inneren Planung dieser Verrichtung", schrieb Gilbert Ryle." Selbstverstandlich kann nicht bezweifelt werden, dass es Handliingen gibt, denen Zieldefinition, planmafiige Arbeit imd bewusste Entschliisse vorangehen. Die Plantheorie des Handelns neigt dennoch dazu, die Begrenztheit des menschlichen Bewusstseins, die auf Grund nicht-bewusster Vorgange, uneingestandener Bedingungen, impliziter und nicht-bewusstseinsfahiger Aspekte sowie auf Grund von Routinisierungsprozessen besteht, nur wenig zu beriicksichtigen. (In diesem Zusammenhang sind auch die Strukturale Anthropologie von Claude Levi-Strauss und die psychoanalytischen Arbeiten von Sigmund Freud und Jacques Lacan zu erwahnen, die die Schranken des Bewusstseins eingehend untersucht haben.) Die neuere Handlungsforschung, die auf einer Philosophie der Praxis basiert, hat in deutlicher Weise belegt, dass intelligente Handlungen nicht notwendigerweise von kognitiven Reprasentationen, z.B. von einem Plan, abhangig sind.i2 Und selbst dann, wenn der/die Handelnde einen Plan hat, unterstreichen Kritikerlnnen der analytischen Handlungs- und Plantheorie, dass die Handlungsmotive vielfaltig und nicht mit dem Plan identisch sind. Erst die soziale Notwendigkeit einer Rechtfertigung erzeugt die Illusion von klaren Intentionen.^^ Ein weiteres Problem ergibt sich, wenn manche Handlungstheoretikerlnnen das Handlungssubjekt als rationales Individuum auffassen, das in der Lage sei, die bestmogliche Handlungsentscheidung fiir seine Ziele zu wahlen. Die Ausformung der Plantheorie, die in die Entscheidungstheorie und in das Modell des Homo oeconomicus integriert wurde, betrachtet uneigenniitzige Motive als irrational. Dieses Bild von
^^ Ryle 1969 (1949), 35; siehe auch Homing, Karl: „Kiiltiir und soziale Praxis'', in Hepp/Winter 1997,31-45. ^2 Siehe Dreyfus 1985 (1972,1979), 206-223; Polanyi 1958, 49; Sdion 2002 (1983), 23ff.; Jardk 1994,53f. sowie Janik/Seekircher/Markowitsch 2000,13ff. 13 Siehe Giddens 1997 (1984), 59ff.
Beschreiben und Erklaren
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Handelnden ist nicht nur einseitig, sondem auch reduktionistisch, well es die sozialen, kulturellen und normativen Parameter sowie den Identitatsaspekt, die alle individuellen Wahmehmungen und Praferenzordnung pragen, nicht adaquat zu berucksichtigen vermag - siehe Unterkap. 13.8-13.9. 10.3
Beschreiben und Erklaren
Die analytische Handlungstheorie der 1950er und 60er Jahre orientierte sich weitgehend an den Idealen des Neopositivismus. Als vorrangige Aufgabe einer Handlungstheorie sah man die reine Beschreibung der tatsachlichen Korperbewegung an; und darauf aufbauend die Erklarung der Handlung durch Angaben iiber die Motive des Handelnden. (Abraham Melden, um ein Beispiel zu nennen, hat „Handlung = Korperbewegung + Motiv" definiert.i4) Dieses Programm war oft von einem latenten Antipsychologismus begleitet. Spekulationen iiber psychische Zustande soUten, wenn nicht ganzlich, zumindest in der deskriptiven Phase der Analyse vermieden werden. Diese Einstellung spiegelte sich auch im Sprachstil der analytischen Theoretikerlnnen wider. Satze wie z.B. „Peter ist wiitend." miissten folglich in einer verhaltensbeschreibenden Form transformiert werden - „Peter verhalt sich so und so..." oder „Wenn das und das geschieht, verhalt sich Peter so und so...". Die deskriptive Methodik der analytischen Handlungstheorie setzte sich auch bei der Angabe der Motive fort, die eine Handlung erklaren soUten. Das Wort „Motiv", das vom lateinischen Wort „movens" abgeleitet wird, bedeutet Beweggrund. Ein Motiv ist eine Antwort auf die Frage „Wozu tut jemand etwas?" - siehe auch Unterkap. 13.1. Vielen Handlungstheoretikerlnnen war unklar, wie sie Motive auffassen sollen. Begreift man das Motiv als Grund, so dass es auch das Handlungsziel enthalt, damn bekommt die Handlungserklarung einen teleologischen
14 Melden, Abraham: „Freie Handlimgen'' (1961), in Beckermann 1977,145.
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Die epistemologischen Grundlagen der Handlungstheorie
(d.h. zielorientierten) Charakter.i^ Begreift man jedoch das Motiv als Ursache, so ist die Erklarung restriktiver. Eine Ursache impliziert, dass die Handlung nicht gesetzt oder anders sein wiirde, wenn dieses konkrete Motiv nicht vorlage. Damit bildet man eine Kausalerklarung.i^ Ob ein Motiv eine Ursache oder vielmehr ein Grimd sei, ist jedoch umstritten, und auch die analytische Handlungstheorie vermochte diese Frage nicht zu beantworten ohne sich gleichzeitig von ihrer Orientierung am naturwissenschaftlichen Vorbild zu verabschieden.^^ Die interne Uberwindung der deskriptiven Handlungstheorie fiihrten drei Schiilerlnnen Ludwig Wittgensteins herbei: Elisabeth Ascombe, Peter Winch, Georg Henrik von Wright. Alle drei betonten die Notwendigkeit eines interpretativen Verfahrens, weil erst die Kontextualisierung und Verkniipfung der Handlung in umfassenden Lebensformen den Handlungssinn offenbart.^^ in der Folge lehnen sie die Vorstellung einer reinen, wertneutralen Beschreibung ab. Beschreibungen sind keine Abbilder, sondern verfolgen stets konkrete Ziele, die meist aus der Beschreibungssituation entstehen: Wir brauchen blofi zu fragen, wer, wozu undfilr wen eine Beschreibung macht. Dariiber hinaus argumentiert Ascombe, dass es stets mehrere koharente Beschreibimgsmoglichkeiten eines Sachverhalts gibt. Denken wir an f olgendes Beispiel: Eine Galeristin hat schon seit langem bemerkt, dass die Werke eines Kiinstlers, den sie unter Vertrag hat, keinen befriedigenden Absatz finden. Die Lager- und sonstigen Werbekosten, die sie fiir die Vermarktung dieses Kiinstlers tragen muss, sind so hoch, dass sie sich entscheidet, die Zusammenarbeit zu beenden (= Absicht). Sie ladt also den Kiinstler zu einem Gesprach ein und teilt ihm ihren Entschluss
15 Siehe Taylor 1964,54. 16 Siehe Maclntyre, Alasdair: „Was dem Handeln vorausgeht'' (1966), in Beckermann 1977, 168-194. 17 Siehe Wright, Georg Henrik von: „Das menschliche Handeln im Lichte seiner Ursachen und Griinde'' in Lenk 1977ff., Bd. 2 / b , 425. 18 Siehe Zimmermann 1975,98ff.; Apel 1965,49-87.
Beschreiben imd Erklaren
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mit. Der Kiinstler verlasst die Galerie iind holt am selben Tag seine verbliebenen Werke aus dem Galeriedepot ab. In den nachsten Tagen verfallt der Kiinstler in tiefe Verzweifeliing. Er wirft seiner Ex-Galeristin lUoyalitat vor und gibt ihr die Schuld fiir den finanziellen Misserfolg. Einige Tage spater betritt er die Galerie, holt aus seiner Manteltasche eine Pistole hervor und feuert einen Schuss ab, der die Galeristin todlich trifft. Der Tathergang, der Polizei, Richterlnnen und Anwaltlnnen beschaftigt, kann in verschiedenen Weisen beschrieben werden: 1. K. driickte gezielt auf den Abzug seiner Pistole, wodurch das Projektil G. traf. In der Folge starb G. 2. K. erschoss G. durch einen gezielten Schuss. In der Folge starb G. 3. K.filhrte den Tod von G. durch einen Schuss herhei, den er mit seiner Pistole gezielt abfeuerte. Die altemativen Beschreibungsweisen sind korrekt, setzen aber unterschiedliche Akzente, die durch das Hauptverb des Satzes ausgedrtickt werden. Welche Beschreibimg von Richterlnnen und Verteidigerlnnen vorgezogen wird, hangt davon ab, was sie jeweils mit einer Beschreibung erreichen wollen, und welche Angaben sie fiir relevant erachten. Jede Handlungsbeschreibung enthalt implizit auch eine Erklarung und diese ist zugleich immer wertend.^^ Somit ist die Vorstellung einer reinen Beschreibung hinf allig. Der interpretative Ansatz beantwortet auch die Frage nach dem epistemologischen Status von Motivangaben. Warum hat der Kiinstler seine Galeristin erschossen? Wenn wir das Handlungsmotiv suchen, deuten wir zugleich das vorliegende Verhalten, weil Angaben iiber das Motiv keine Beschreibungen, sondem Zuschreibungen sind.20 Es gibt mehrere Interpretationsmoglichkeiten, um der Handlung von K. einen Sinn zu geben. Angesichts dieser Vielfalt von Moglichkeiten miissen wir die ver-
19 Siehe Anscombe 1986 (1957), § 46-49; ahnlich auch Taylor 1994 (1989), 108. 20 Ascombe kritisiert die traditioneUe Auffassimg, dass der/die Handelnde selbst autoritativ liber seine/ihre Handlungsmotive entscheiden kann - siehe Ascombe 1986 (1957), 15.
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Die epistemologischen Gnmdlagen der Handlungstheorie
schiedenen Interpretationen im Hinblick auf ihre Stichhaltigkeit und Plausibilitat priifen. Die Abwagung verschiedener Gesichtspiinkte entfaltet sich entlang iinserer Kenntnisse irnd Erfahrungen iiber die menschliche Psyche, iiber die sozialen und moralischen Regeln einer Gesellschaft und iiber die Struktur von Argumentationen in einem spezifischen Kontext. Daher schreibt Peter Winch: „Lemen, was ein Motiv ist, gehort dem Erlemen der Standards an, die das Leben in der Gesellschaft beherrschen."2i Die Zuschreibung eines bestimmten Motivs erscheint uns dann plausibel, wenn wir eine Handlung in unseren Verstehenshorizont integrieren konnen. Wiirden wir keine Verkniipfung zwischen der Enttauschung des Kiinstlers iiber seine Galeristin und der Mordtat herstellen, dann konnten wir keinen Sinnzusammenhang herstellen. In der Folge wiirde uns die Handlung unverstandlich erscheinen - siehe auch Unterkap. 13.2. Die Einsicht von Winch und Wright, dass die Handlungstheorie Teil der Human-, Sozial- und Kulturwissenschaften ist, fiihrte zu einer Wiederbelebung der Diskussion iiber die Unterschiede zwischen Natur- und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts Wilhelm Dilthey ausloste.22 Wahrend in den Naturwissenschaften eine Erklarung aus der Angabe der Ursache eines Ereignisses besteht, hat im kultur- und sozialwissenschaftlichen Kontext die Angabe von Griinden und Motiven den Charakter einer verstehenden Erklarung.23
21 Winch 1974 (1958), 107. 22 Siehe Dilthey, Wilhelni: „Einleitung in die Geisteswissenschaften'' (1883) und „Ideen uber eine beschreibende und zergUedemde Psychologie" (1894), in Dilthey 1959ff., Bd. I und Bd. V. 23 NaturwissenschaftHche Erklarungen sind deduktiv-nomologisch. Sie sagen uns, warum ein Ereignis stattfinden musste, warum es notwendig war. Das ErklarungsmodeU in den Naturwissenschaften lauft also nach dem Subsumptionsschema: Die Ursache hat eine kausale Relation zur Wirkung, weil dies einem (Natur-)Gesetz entspricht. In den Himian- imd Kulturwissenschaften sind Erklanmgen hingegen induktiv-probabilistisch, derm jede Erklarung lasst die MogUchkeit offen, dass ein Ereignis bzw. eine Handlung nicht hatte stattfinden konnen - dazu siehe Wright 1974 (1971), 25f. und 68f. sowie CoUingwood 1940,285-327.
Neupositionierung einer alten Auffassimg: Handlung als wissensgeleitete Aktion
10.4
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Neupositionierung einer alten Auffassung: Handlung als wissensgeleitete Aktion
Intelligentes Handeln unterscheidet sich von blofien Reflexen oder iinabsichtlichen Vorkommnissen, insofem es wissensgeleitet ist. Dieses Postulat kann jedoch zu groben Missverstandnissen fiihren, wie bereits erlautert wurde, denn „Wissen" steht ftir ein Konzept, das immer aus einer Erkenntrdstheorie gewonnen wird. Es gibt verschiedene „Aggregatszustande" von Wissen, well Wissen in den unterschiedlichsten Kontexten auftaucht. Trotzdem wurde diese Vielfalt wegen der vorherrschenden Auffassimg, dass Wissen ein sprachgebundenes bzw. rationales Produkt sei, lange ignoriert bzw. nicht als gleichwertig geschatzt.24 Wenn wir aber intelligentes Handeln im alltaglichen und beruflichen Leben beobachten, so wird bald evident, dass Wissen nicht nur in einer theoretischen Weise gegeben ist, sondem auch praktisch und situativ angelegt ist. Dieses praktische, lokale und kontextspezifische Wissen, ist das Wissen, wie man etwas tut oder besser, wie man es geschickt tut. Wissen wie man etwas tut, ist nicht dasselbe wie das Wissen ilber etwas. Konnerschaft bedeutet demnach etwas anderes als Kennerschaft („connoisseurship''): Konnerschaft bezieht sich auf praktische Fahigkeiten und Fertigkeiten und nicht aufs Kennen. (Gilbert Ryle sprach von der Unterscheidung zwischen „Knowing that" und „Knowing how".25) Die Geiibtheit einer Bauerin beim Fiihren ihrer Kiihe auf der Wiese, der Charme eines Filmstars, wenn er im Blitzlicht der Fotografen steht, die Eloquenz einer Galeristin beim Treffen mit einem kaufkraftigen Kunstsammler, die Eindringlichkeit der Gestik eines Lehrers, der sich Respekt verschaffen will, die Schnelligkeit und Prazision der Bewegungen eines Jongleurs ~ all dies sind Zeugnisse von praktischem Wissen. Dabei handelt es sich u m Fertigkeiten, die nicht theoretisch nach einem Lehrbuch, sondem vor
24 Cassirers aiisgedehnte Studien zutn Problem der Erkenntnis reflektieren die Entwicklung des abendlandischen Wissensbegriffs - siehe Cassirer 1994 (1906-20), Bd. 1-4. 25 Ryle 1969 (1949), 26ff.
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Die epistemologischen Gnmdlagen der Handlimgstheorie
allem durch Imitation und zielgerichtetes Ausprobieren erworben werden. Die Modifikation des Wissensbegriffs ist notwendig, um die Enge einer allzu rationalistisch und kognitivistisch gepragten Vorstellung von sinnvoUem und intelligentem Handeln zu vermeiden. Ein Wissensbegriff, der einen angemessenen Platz in einer Handlungstheorie einnimmt, muss aus einer anthropologischen Sichtweise kommen, die den aktivistischen Aspekt unserer Existenz hervorhebt: Da-Sein hei6t DabeiSein, genauer Dabei-Sein-etwas-zu-tun^^; und Erfahrung ist nicht das, was mit uns geschieht, was wir erleiden, sondem das, was wir daraus machen. Erfahrung generiert Wissen, weil Erfahrimg als aktiver Prozess erfasst wird. Die Rekonzeptualisierung der Philosophie, die vorwiegend in der Mitte des 20. Jahrhunderts (etwa zwischen 1930-1960) stattfand, schuf die Grundlagen fiir eine praktische Erkenntnistheorie. Hier sind einige Theoretiker zu nennen, die einen wertvollen Beitrag geliefert haben: Ludwig Wittgenstein, Gilbert Ryle, und auf eine andere Weise John Dewey und Martin Heidegger, haben betont, dass Wissen nicht als Ergebnis einer blofi kontemplativen Anstrengung angesehen werden darf. Wissen ist vielmehr ein prozedualer Vorgang (kein fixer Zustand), der unser Leben stets begleitet. Zudem unterstrichen mehrere wissenssoziologische Forschungsarbeiten (z.B. von Emile Durkheim, Karl Mannheim und Ludwig Fleck) den koUektiven Urspnmg des Wissens. Maurice Merleau-Ponty und Michael Polanyi wiederum riicken die leibliche Erfahnmg als Ausgangsbasis jedes Wissens in den Vordergrund. In Ankniipfung an die Untersuchungen der Gestaltpsychologie setzte sich im Weiteren die Einsicht durch, dass die menschliche Kognition, im Gegensatz zu den gangigen Modellen der kiinstlichen Intelligenz und Rationalitatstheorien, auch ohne interne Reprasentation und ohne Riickgriff auf explizite Regeln operieren kann. Die Hervorhebung der impliziten Dimension des Denkens - Donald Schon spricht vom „Knowing-in-action"
26 Siehe auch Brand, Gerd: „Entwurf einer Phanomenologie des Handekis'^ in Lenk 1977ff., Bd. 2,206 imd 230 sowie Wenger 1998,45-48.
Neupositionierung einer alten Auffassung: Handlting als wissensgeleitete Aktion
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und „Reflexion-in-action"27 - ermoglicht es uns, eine Vorstellung von Handlungen zu entwickeln, die kein starres zeitlich-lineares Schema aufweist. Der Bruch, der in diesen Jahrzehnten voUzogen wurde, ist fundamental. Konsequenterweise spricht Michael Polanyi - der Vater der Epistemologie des praktischen Wissens - von der Praxisvergessenheit der traditionellen Logik und Erkenntnistheorie: „The logic of deductive reasoning has been systematically studied for two millennia, and the logic of empirical inference has been a major preoccupation of philosophy for centuries, but the logic of contriving has found its way only into scattered hints. One might think that pragmatism., operationalism or cybernetics had contributed to it in their attempt to explain thought as a process of contriving. But the endeavour to reduce all knowledge to strictly impersonal terms prevented this philosophic movement from attending to our knowledge of contriving which itself can never be impersonal.'^^s
Die endgiiltige Rehabilitation des nicht-zeichengebimdenen, also informellen, unartikulierten und impliziten Wissens ist bis heute noch nicht vollzogen. Als Beispiel sei Niklas Luhmann zitiert: „Die 'konkreten' Reduktionen der Praxis - wenn etwa ein Praktiker auf sein Fingerspitzengefiihl Oder auf langjahrige Erfahrungen schwort - sind um vieles einschneidender und sichtverkiirzender als die Abstraktionen der Wissenschaft/'29 (Luhmann ist dariiber hinaus ein spezifischer Fall, denn er lehnt den Handlungsbegriff ganzlich ab und spricht lediglich vom „Verhalten".3o) Es zeigt sich hier deutlich, wie Wissenschafterlnnen, die keine begriffliche Differenzierung zwischen theoretischem und praktischem Wissen machen, denken: sie neigen zur Verabsolutierung ihrer eigenen
27 Reflexion-in-der-Handltmg unterscheidet sich von der Reflexion uber eine Handlung dazu siehe Schon 2002 (1983), 49ff. sowie Altrichter, Herbert: „Handlimg und Reflexion bei Donald Schon'' in Neuweg 2000,201-221. 28 Polanyi 1958, 328; siehe auch Janik, 1994, 15f. und 27f.; Taylor, Charles: „Overconung Epistemology" (1987) in Taylor 1995,1-19. 29 Luhmann 1973,347. Hier muss man eigentHch auch den Kontext der Aiissage Luhmanns mifberiicksichtigen. 30 Siehe ebd. 7-17.
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Die epistemologischen Grundlagen der Handltingstheorie
theorieintemen Denkkategorien. Es existiert demnach immer noch eine Mauer von tief verwurzelten Annahmen und akademisch institutionalisierten Praktiken, die es zu iiberwinden gilt: die Uberzeugung, dass Erkenntnis auf logischen Fundamenten, also auf expliziten Regeln, beruht; daraus folgend das Vertrauen der Wissenschaften in die Analyse als generalisiertes, erkenntnisleitendes Verfahren; den Wunsch nach Bereinigung des gewonnenen Wissens von alien personengebundenen Komponenten. 10.5
Die Praxis und das Konzept des praktischen Wissens
Als Ausgangspunkt fiir die systematische Untersuchung der Spezifika des praktischen Wissens kann Polanyis Bemerkung gelten: „Wir wissen mehr als wir zu sagen wissen. "31 Dieses Mehr-Wissen besteht aus einem Biindel von intellektuellen und praktischen Fahigkeiten. Es lasst sich aber nicht einfach sagen, wo, wie und warm wir es uns angeeignet haben. Da dieses Mehr-Wissen nicht an ein Zeichensystem gebunden ist, hat es keine fixierte und stabile Gestalt. Trotzdem sind praktisches Wissen und begriffliche Artikulation indirekt eng miteinander verbunden; ihre Beziehung ist jedoch asymmetrisch. „In all applications of a formalism to experience there is an indeterminacy involved, which must be resolved by the observer on the ground of unspecifiable criteria/'32 Die Geschichte der Praxis ist also eine „tacit history" in dem Sinn, dass Praxis viele Aspekte hat, die kaum erfasst werden konnen.
31 Polanyi 1985 (1966), 14. Wittgenstein betont ebenfaUs den Unterschied zwischen Wissen und Sagen - siehe Wittgenstein 1977 (1953), § 7S. 32 Polanyi 1958, 81; siehe auch 90 und 101 sowie Schon 2002 (1983), 49ff., und Wenger 1998, 47ff.
Die Praxis und das Konzept des praktischen Wissens
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Der implizite Status des praktischen Wissens bedeutet, dass es sich u m ein Wissen handelt, das nicht notwendigerweise bewusst wird (z.B. ein Wissen, das im Zuge unterschwelliger Wahmehmungen entsteht); verinnerlicht ist bzw. nach langer Ubung und Gewohnung habituell wird; prinzipiell nicht artikulierbar ist (z.B. ein sensomotorisches Wissen). Diese drei Charakteristika konfrontieren uns mit einer epistemologischen Frage: Wie lasst sich ein solches Wissen, das unspezifisch und implizit ist, beobachten, beschreiben und untersuchen? Da praktisches Wissen allein durch seine jeweilige Aktualisierung evident wird, muss es sich selbst offenbaren, namlich dort, wo jemand kompetent handelt. Wir miissen es aus der Beobachtung und Interpretation gelungener Handlungen destillieren.33 Dieses Verfahren ist interpretativ, weil wir die Situationen zu lokalisieren haben, in welchen praktisches Wissen vorkommt und wirksam wird. Die Unterscheidung zwischen theoretischem und praktischem Wissen darf, wie ich oben angemerkt habe, nicht allzu radikal verstanden werden. Formales bzw. theoretisches Wissen setzt stets Konnen (Vollzugswissen) voraus: Auf einer epistemologischen Ebene: Eine Person muss ein formales Reprasentationssystem (ein symbolisches System) beherrschen, das als Medium dient, um theoretisches Wissen zu erwerben bzw. zu produzieren. Die Beherrschung eines solchen Systems geht mit der Beherrschung seiner Anwendung (Technik) einher. Theoretisches Wissen ist somit das Ergebnis eines Erfassungs-, Beschreibungs- und Verstehensprozesses, also einer Praxis.34
33 Siehe Polanyi 1985 (1966), 24f. xmd 34. 34 Siehe Wittgenstein 1977 (1953), § 150, § 202, sowie Neuweg 1999,158.
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Die epistemologischen Grundlagen der Handlungstheorie
Auf einer existenziellen Ebene: Der/die Wissende muss in einer praktischen Welt eingebettet sein, um Sinnzusammenhange verstehen zu lemen. Formales Wissen als Sinngebilde setzt also eine soziale Gemeinschaft voraus, die eo ipso eine Praxisgemeinschaft ist. Mit anderen Worten ist Wissen mit sozialen Praktiken konstitutiv verwoben.35 Umgekehrt wiederum kommt komplexes Konnen nicht ohne formales Wissen aus. Viele kulturell generierte Fertigkeiten bestehen aus langeren und differenzierten Handlungsvorgangen, die dynamisch aufeinander folgen. Explizites Wissen, egal in welcher Weise, ist Grundvoraussetzung, u m erworbene Fahigkeiten (zum Beispiel eine Geschichte schreiben, ein Gerat reparieren, ein Bild malen, ein Lied komponieren) in komplexen Formen weiterzuentwickeln. Systematik und Reflexion sind wichtige Momente im Prozess der Perfektionierung einer komplexen Fertigkeit. Michael Polanyi erwahnt einen zweiten Aspekt, der von zentraler Bedeutung ist: Da praktisches Wissen eine Form von Wissen reprasentiert, das unmittelbar durch handlungsbedingte Erfahrung erworben wird, ist es stets an eine Person gebunden, die diese relevanten Erfahrungen macht. Die Personengebundenheit des praktischen Wissens bedeutet, dass das erworbene Wissen intransitiv ist. Man denke beispielsweise an das Jonglieren: Ein Jonglierlehrer kann seinen Schiilerlnnen die Bewegungsablaufe vorfiihren, aber der Erwerb von Konnen beruht allein auf dem Engagement der einzelnen Schiilerlnnen. Sie miissen iiben, liben, iiben; es gibt keine andere Alternative, u m das Jonglieren zu erlemen und zu perfektionieren. „Indeed, the premises of a skill cannot be (...) even understood (...) before we ourselves have experienced its performance, whether by watching it or by engaging in it ourselves.''36 (Das Beispiel vom Jonglieren konnte jedoch zum Missverstandnis
35 Siehe Wittgenstein 1977 (1953), § 6, § 19 und Fleck 1981 (1935), 53f., 129f. 36 Polanyi 1958,162.
Die Praxis imd das Konzept des praktischen Wissens
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fiihren, dass praktisches Wissen immer mit einer Kunstfertigkeit bzw. der Beherrschung einer Technik verbimden ist.37 Das ist nur teilweise richtig, denn das Konzept des praktischen Wissens ist breiter. Schon Aristoteles betonte, dass praktisches Wissen nicht nur auf der Ebene der korperlichen Geschicklichkeit entsteht, sondern auch in Bereichen, in denen es u m soziale imd kognitive Kompetenzen geht, z.B. im padagogischen, ethischen und politischen Handeln.) Polanyis Konzept des personengebundenen Wissens (personal knowledge) darf keinesfalls als Riickkehr zu einer subjektzentrierten Erkermtnistheorie und zu einer Mystifizierung von Individualitat verstanden werden. Auch wenn Polanyi selbst keine ausdriickliche Klarung seines Personenbegriffs vomimmt, muss die Person und die Personengebundenheit des praktischen Wissens stets in Verbindung mit einem PraxiskoUektiv gedacht werden. Allan Janik stellt diesbeziiglich fest: „Individuals learn only from experience, but it is not their particular experiences as individuals that is the primary teacher. Rather, it is what they learn through the coaching of others that is crucial of understanding concept formation in practice.^^s Es ist ja immer eine Gemeinschaft, die die Kimst des Konnens pflegt und weitergibt. Erstens ist Handlung niemals eine Aktion, die „nur ein Mensch, nur einmal im Leben" vollzieht.39 Zweitens ist ein Individuum nie ohne ein soziales KoUektiv denkbar - ein „Wolfsmensch'' ist kein Individuum im oben erwahnten Sinn, well er keine sozial konstituierte Identitat hat. Das KoUektiv stellt nicht nur die formative Voraussetzung fiir das Individuum dar, es reprasentiert auch die Instanz, die den Denk- und Handlungsraum des Einzelnen vorstrukturiert.
37 Zur Auffassung des berechenbaren Handelns als Techrdk siehe Weber 1925, 44f. sowie Habermas 1981, Bd. 1,240f. 38 Janik 1994,20. 39 Wittgenstein 1977 (1953), § 199.
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10.6
Die epistemologischen Gnmdlagen der Handlungstheorie
Praktischer Wissenserwerb
Die erkenntnis- imd lemtheoretischen Implikationen der „praktischen Wende" sind brisant. Polanyi war einer der ersten Forscher, der die produktive Kraft der nicht-artikulierten Intelligenz imterstrich. Lemen muss demnach nicht unbedingt eine reflexive Struktur ausweisen. (Er erwahnt drei Lembeispiele, in welchen nicht-artikulierte Intelligenz eine zentrale RoUe spielt:4o a) Tricklemen: Dieses Lemen erfolgt meist durch Versuch und Irrtum. Dabei sind in der Kegel motorische Fertigkeiten notwendig. b) Zeichenlemen: Dieses setzt die Fahigkeit voraus, sich komplexe Gestagen zu merken und in bestimmten Situationen mittels Analogien wieder ins Bewusstsein zu rufen. c) Latentes Lemen: Die Verwertung von bereits vorhandenem Wissen setzt eine Interpretations- und Ableitungsfahigkeit voraus - z.B. das Erlemen einer Route oder eines Vorgangs wie Sieden, Fermentieren u.a.). In solchen Fallen erfolgt das Lernen direkt aus der Partizipation in einem Erfahrungs- und Praxisfeld. Die Ausbilderlnnen verzichten also auf deskriptive Satze und greifen zu demonstrativen Handlungen: „So halt man die Geige richtig. Ich mache es dir vor." „So diinn soUte der Strudelteig werden, greif mal hin!" Nur durch Zeigen, Beobachten imd Ausprobieren kann ein nicht-spezifizierbares Wissen vermittelt werden. Nicht der denkende Geist, sondem das leibliche Handeln ist das eigentliche Vehikel praktischen Wissens.^i Eine differenzierte Auffassung von Wissen und die daraus entstandene Epistemologie der Praxis eroffnet neue Wege zur Erforschung professioneller Tatigkeiten im Kultursektor.42 Zuerst ist der Identitats- und Identifikationsaspekt zu erwahnen: Wahrend der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts entwarf George Herbert Mead eine Theorie iiber den Erwerb von Identitat auf der Basis der sozialen Teilnahme des Indivi-
40 Siehe Polanyi 1958, 71-77 und 175. 41 Siehe Merleau-Ponty 1966 (1945) 1. Teil und in Anlehnung an ihn Taylor, Charles: „Leibliches Handeln'', in Metraux/Waldenfels 1986,194-216. 42 Es Hegen bereits einschlagige Forschungsarbeiten fiir andere Berufssparten vor - siehe Schon 1987; Janik et al 2000; Goranzon/Florin 1990 u.a.
Praktischer Wissenserwerb
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duums an einer Gemeinschaft und seiner symbolischen Interaktion mit anderen. Die soziale Partizipation bestimmt nicht nur, was wir sind, sondem auch die Art, wie wir iins selbst betrachten.43 Der Erwerb einer Identitat ist ein Prozess und kein Zustand, der einmal erreicht und dann eingefroren wird. Der Identitatsprozess, der auch als Lemvorgang begriffen werden kann, entfaltet sich stets auf einer personlichen Ebene und tragt leibliche, voluntative, emotionelle und kognitive Komponenten in sich. Daraus entfaltet sich das Handlungsrepertoire und der Handlungsstil jedes/jeder Einzelnen, wobei das Involviertsein, Engagement und die Eingebundenheit in einen praktischen Kontext den wieteren Erwerb praktischen Wissens bestimmen. „Tacit asset and intellectual passions, the sharing of an idiom and of a cultural heritage, affiliation to a like-minded community: such are the impulses which shape our vision of the nature of things on which we rely for our mastery of things. No intelligence, however critical or original can operate outside such a fiduciary framework/'^
Wir lemen zu handeln und erwerben auch berufliche Kompetenzen auf ahnliche Art und Weise, wie wir zu einer sozialen Identitat gelangen: vor allem durch Enkulturation und den Austausch mit anderen. Lemen ist daher grundsatzlich affirmativ, insofem es die tjbemahme geltender Wissensinhalte bedeutet.^s Die einfachste Form des Lemens erfolgt mimetisch, also durch Nachahmung und Ubemahme von Handlungsablaufen und Verhaltensmustem, wobei dieser Vorgang oft implizit und nebenbei, als Flow-Erlebnis erfolgt. In solchen Fallen lemen wir vorwiegend „blind", ohne etwas zu hinterfragen. Polanyi folgert: „To learn by example is to submit to authority. You follow your master because you trust his manner of doing things even when you cannot analyse and account in detail for its effectiveness."^^ Neben dem Vertrauen spielen
43 Siehe Mead 1973 (1934); ahnlich auch Taylor 1994 (1989), Teil I. 44 Polanyi 1958,266; siehe auch Markowitsch 2001,67ff. 45 Siehe Polanyi 1958,264. 46 Polanyi 1958,53; siehe auch Wittgenstein 1977 (1953), § 5f. und § 219.
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Die epistemologischen Gnmdlagen der Handlimgstheorie
beim Lemen auch die Gewohnung und Disziplinierung eine wichtige Rolle. Lemen ist grofitenteils reproduktiv, was aber nicht bedeutet, dass die Lemenden die Leminhalte eins zu eins ubemehmen. Anfangerlnnen sammeln im Laufe des Lemprozesses eigenstandige Erfahriingen und beginnen, das Erlernte situativ anzuwenden. Die komplexen und stets mikrostrukturell variierenden Anwendungssituationen machen es voUkommen unmoglich, dass das Erlernte durch eine einfache Ableitungslogik Anwendung finden kann. Erlemtes in einer Handlungssituation zu niitzen setzt subtile Analogiebildungen und kreative Situationsinterpretationen voraus.^^ Die in jeder neuen Handlungssituation erworbenen Erfahrungen spielen eine mittelbar praskriptive Rolle, well sie ahnlich wie Prazedenzfalle und Musterbeispiele Mafistabe fiir kiinftige Entscheidungen und Handlungen setzen. Sie kreieren einen praktischen Sinn, der den Handelnden nicht notwendigerweise bewusst wird^s - siehe Unterkap. 12.4. 10.7
Konnerschaft und Kompetenz
Die Fahigkeit, gewisse Aufgaben besser zu losen als andere, bedeutet nicht nur mehr Wissen, sondem auch mehr Konnen. Theoretisches Wissen ist notwendig, um manche komplexen Zusammenhange, Eigenschaften und explizite Regeln zu lemen und in der Folge das eigene Konnen zu erweitern. Praktisches Wissen versetzt uns wiederum in die Lage im sozialen und beruflichen Leben sensibler und situationsangemessener zu agieren. Wissen und Konnen korrelieren mit der Intelligenz einer Person, ihrer Kenntnis einer Vielzahl von paradigmatischen Beispielen sowie mit ihrer Vertrautheit mit dem konkreten Tatigkeitsfeld.
47 Siehe Janik, Allan: „Tacit Knowledge, Working Life and Scientific Method'^ in Janik 1989, 216. 48 Siehe Polanyi 1958, 60; Winch 1974 (1958), 76f.; Bourdieu 1987 (1980).
Konnerschaft tind Kompetenz
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(Hier ist von einem umfassenden Konzept von Intelligenz die Rede.) Daraus lasst sich ein Konzept von praktischer Kompetenz erstellen. Um ein iiberdurchschnittliches Konnen entwickeln zu konnen, spielen die Reflexion und Bewertung des eigenen Tuns eine wichtige RoUe. Der Reflexionsbegriff, der hier ins Spiel gebracht wird, darf nicht im Geiste des mentalistischen Paradigmas verstanden werden. Unter Reflexion verstehe ich primar eine Interpretations- und Ableitungsfahigkeit, ahnlich dem aristotelischen Konzept der Klugheit (phronesis) und richtiger Beratung (euboulia), um die richtigen Schliisse aus vergangenem Handeln fiir kiinftiges Tun zu ziehen^^ - siehe auch Unterkap. 13.3 und 13.4. Wenn die Handlungsqualitat von Expertlnnen nicht blofi aus einem rhetorischen Effekt besteht, ergibt sie sich aus der Synergie von breitem und tiefem Wissen, praktischen Erfahrungen sowie aus der Auseinandersetzung mit den immanenten Zielen einer Praxis und den sozial anerkannten Mitteln, die innerhalb dieser Praxis Anwendung finden. Kompetenz heifit folglich nicht nur etwas richtig zu machen, sondern sich auch der eigenen Handlungsmoglichkeiten bewusst zu sein. Der Kompetenzbegriff kann somit von kognitiven Aspekten nicht voUkommen losgelost werden. Um diesen Sozialisierungs- und Lemvorgang, der in jedem BerufskoUektiv stattfindet, darzustellen, hat Hubert Dreyfus ein fiinfstufiges Modell entwickelt:5o Anfangerlnnen sind auf einfache und klare Instruktionen angewiesen, die mit Kochrezepten vergleichbar sind. Solche Instruktionen sind allgemein, das heifit relativ kontextfrei, so dass Anfangerlnnen oft unsicher sind, wie sie die Handlungsanleitungen konkret in die Tat umsetzen sollen.
49 Siehe Aristoteles 2000, Budi VI, § 8-9,1141b 8ff. 50 Siehe Dreyfus/Dreyfus 1987 (1986), 1. Kap.; vergleiche auch Schon 2002 (1983) sowie De Jong/Ferguson-Hessler 1996,105-113.
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Die epistemologischen Gnmdlagen der Handlungstheorie
Fortgeschrittene Anfangerlnnen entwickeln allmahlich eine Vorstellung von der Indeterminiertheit und Partikularitat der Praxis. Sie begiimen situationsspezifische Merkmale wahrzimehmen, ohne diese jedoch in ihr Handeln integrieren zu konnen. Sie sind nach wie vor auf Anleitungen (Regeln) angewiesen, obwohl sie die offene Struktur der Anleitungen erkennen. Sie wissen aber nicht, wie sie die Anleitungen von Fall zu Fall sinnvoU modifizieren soUen, um situationsangemessen handeln zu konnen. Kompetente Personen sind in der Lage, mehrere Situationselemente wahrzunehmen und diese auf ihre Relevanz hin zu priifen. Das bedeutet, dass sie bereits einen praktischen Sinn, ein „Gespiir", fiir ihr Tatigkeitsfeld entwickelt haben. Sie konnen Handlungsaltemativen entwickeln und suchen nach Kriterien, um die bestmogliche Option zu wahlen. Ihr Handeln wird zunehmend kreativer, well sie eigenstandige Entscheidungen iiber die konkrete Umsetzung erlemten und erfahrungsspezifischen Wissens treffen konnen. Da ihr Handlungsspielraum breiter ist, wachst auch das Mai? an personlicher Verantwortung. Versierte Personen sind auf Grund zahlreicher Erfahrungen in der Lage, sehr schnell situative Urteile mittels assoziativer Verkniipfungen zu treffen. Im Unterschied zu kompetenten Personen zeichnen sich versierte Berufstatige durch eine fliissige und zielsichere Handlungsweise aus. Aus ihrem Involviertsein und teilnehmenden Verstehen erwachst auch ihre Bereitschaft, Risiko und eine noch grofiere Verantwortung zu iibemehmen. Verpflichtung und Eigeninitiative sind entscheidende Komponenten fiir den Sprung von einem durchschnittlichen Mai? an Kompetenz zu einem profunderen Konnen. Expertentum ist die letzte Stufe, auf der aufiergewohnliche Leistungen moglich sind. Expertlnnen haben einen subtilen und verfeinerten Umgang auch mit Situationen, die aufierhalb des Routinemafiigen liegen. Sie sind in der Lage, mehr relevante Aspekte zu erfassen und diese qualitativ besser zu verarbeiten als andere. Ihr Bild von einem konkreten Problem ist koharent und funktional, das heifit, sie nehmen das Problem wahr und entwickeln zugleich verschiedene Losungs- bzw. Handlungsoptionen. Viele
Konnerschaft und Kompetenz
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Entscheidungen, die sie treffen, erfolgen ohne analytische Reflexion, also gewissermafien fliefiend und „intuitiv". Die Beschreibimg des individuellen Konnens in einer Skala ist natiirlich vereinfacht und schematisch. Uberdies bleibt sie unvollstandig, wenn wir die Wechselwirkung zwischen Konnen und sozialem Umfeld nicht beriicksichtigen. Die soziale Praxis beeinflusst die Entscheidungslogik und Handlungsintentionalitat der Einzelnen. Umgekehrt verandem die Individuen durch ihr Handeln die Praxis als Ganzes. Die Teilnahme und Eingebundenheit des Individuums in ein soziales Feld bedeutet einerseits eine passive Befindlichkeit, andererseits enthalt sie stets aktive Komponenten, die dem verantwortungsvoUen Engagement, der Identifikation mit den Zielen des eigenen Handelns, dem personlichen Ehrgeiz ein Problem zu losen und dem Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung entspringen. Der Kompetenzbegriff weist folglich normative Komponenten auf.
11 Die sozialwissenschaftlichen Grundlagen von Tatigkeiten und Praktiken 11.1
Was ist ein PraxiskoUektiv?
Die Entfaltung einer Epistemologie der Praxis darf die soziale Natur des praktischen Wissens nicht unterbelichtet lassen. „Wir brauchen eine Theorie der Institutionen, die dem gegenwartigen unsoziologischen Verstandnis menschlicher Erkenntnis abhilft, und zugleich brauchen wir eine Erkenntnistheorie, welche die Schwachen der Analyse von Institutionen ausgleicht'', konstatiert Mary Douglas.^ Wissen und Handeln, Kennerschaft und Konnerschaft sind Attribute kollektiver Zuschreibung und Zuerkennung, die auf gemeinsamen, jedoch nicht ganzlich homogenen Standards beruhen. Die Ruckfiihrung des Handelns und der professionellen Kompetenz auf ein PraxiskoUektiv ist mehrfach begriindet: Anthropologisch: Der Mensch ist ein soziales Wesen („on politikon"), das in sozialer Koexistenz lebt. Seine Vergesellschaftung gilt ebenfalls fiir die Konstitution seiner individuellen Identitat, Wiinsche, Ziele und Handlungsmuster. Erkenntnistheoretisch: Wissen und Fertigkeiten stehen immer in einer Wechselbeziehung zu bereits vorhandenen und intersubjektiv legitimierten Inhalten, Regeln, Praktiken und Konventionen. Soziologisch: Erkennen und Handeln entfalten sich in einem breiteren Kontext, einem vorgefundenen institutionell strukturierten sozialen Raum, einem lokal differenzierten Machtgefiige, das diese Akte stets zu registrieren und zu bewerten bereit ist.
^ Douglas 1991 (1986), 9.
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Die sozialwissenschaftlichen Grundlagen von Tatigkeiten und Praktiken
Kulturtheoretisch: Eine Aktion konstituiert sich als sinnhafte Handlung in enger Relation zu vorangegangenen sowie nachfolgenden Wahmehmungen, Interpretationen und Bewertungen, die auf symbolischen Formen, kulturellen Techniken und materiellen Grundlagen beruhen. Das Konzept des PraxiskoUektivs (oder der Praxisgemeinschaft), wie es hier verwendet wird, hat eine wesentlich breitere und fundamentalere Bedeutung als Bezeichnungen wie Bande, Gruppe, Netzwerk^ u.a. Eine klassische Definition des PraxiskoUektivs, die aus George Herbert Meads Identitatstheorie ableitbar ist, bezieht sich auf die gemeinsame symbolische und praktische Sozialisation. „Communities of practice can be thought as shared histories of learning [... because] learning is the engine of practice", schreibt Etienne Wenger.^ Lemen im Rahmen der zugrunde liegenden Sozialisationstheorie bezeichnet nicht nur einen bewussten, kognitiven Vorgang, sondern auch die Ubernahme und Aneignung von bereits existierenden Handlungsmustern. Diese Aneignung geschieht im Wesentlichen durch korperliche Vorgange, d.h. durch die Nachahmung und Wiederholung von Handlungen - Bourdieu spricht deshalb von der Einverleibung der symbolischen Ordnimg.^ Eine andere Moglichkeit das Konzept des PraxiskoUektivs zu prazisieren bietet sich, wenn man die konstitutiven Instanzen in den Vordergrund stellt. Diesen Weg geht etwa die Wissenssoziologie. Ludwik Fleck definiert ein „Denkkollektiv als gerichtete Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung ste-
2 Der Netzwerkbegriff wird in den letzten Jahren allerdings immer mehr in einem erweiterten Sinn verwendet und hat zimehmend Ahnlichkeiten mit dem Konzept des PraxiskoUektivs - siehe z.B. White 1992, Kap 3; Wittel 2001,51-76. 3 Wenger 1998, 86 und 96. Zu Wengers Konzept der Praxisgemeinschaft siehe auch Markowitsch 2001,53ff. 4 Siehe Bourdieu 2001 (1997), 165-209.
Was ist ein Praxiskollektiv?
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hen" .5 Zu einem DenkkoUektiv gehort auch ein eigener Denkstil. Ein Denkkollektiv zeichnet sich durch die „Bereitschaft zum gleichgerichteten Wahrnehmen, Bewerten und Anwenden des Wahrgenommenen, d.h. einem gemeinsamen Denkstil" aus.^ Eine ahnliche Definitionsstrategie verfolgt auch Thomas Kuhn: Ein wissenschaftliches Paradigma leitet die Tatigkeit der Wissenschafterlnnen und generiert jene Regehi und Methoden, die fiir die Entfaltung der Forschungsarbeit signifikant sind. Daher ist ein Paradigma das, „was den Mitgliedem einer wissenschaftlichen Gemeinschaft gemeinsam ist, und umgekehrt besteht eine wissenschaftliche Gemeinschaft aus Menschen, die ein Paradigma teilen".7 Fleck und Kuhn beziehen sich in ihren Studien primar auf die Wissenschaftsgemeinschaft, aber ihre Uberlegungen lassen sich ohne grobere Schwierigkeiten auf soziale Handlungen und PraxiskoUektive im Kultursektor iibertragen. Das Konzept des PraxiskoUektivs geht Hand in Hand mit der Frage nach den „Bedingungen der Moglichkeit" des Handelns. Diese Bedingungen sind weitgehend gesellschaftlich konstituiert. Die Sozialitat des Handelns bedeutet, dass Handlungen eine iiberpersonliche Dimension haben. So lassen sich einzelne Handlungen und Tatigkeiten als Ausdruck umfassenderer kultureller Praktiken verstehen. Das Konzept des PraxiskoUektivs hat aber auch eine zweite Implikation: Am Anfang jeder Handlung steht nicht die „praktische Vernunft", wie Immanuel Kant^
5 Fleck 1981 (1935), 54f. Mary Douglas weist auf die semantische Uberschneidung zwischen Flecks Konzept des DenkkoUektivs und dem soziologischen Terminus „world'' (z.B. artworld, musicworld) hin - siehe Douglas 1991 (1985), 37. 6 Fleck, Ludwik: „Das Problem einer Theorie des Erkennens'' (1936), in Fleck 1983, 112. Denkstil nennt Fleck ein „gerichtetes Wahrnehmen mit entsprechendem gedanklichen und sachHchen Verarbeiten des Wahrgenommenen. (...) Den gemeinschaftHchen Trager eines Denkstils n ennen wir Denkkollektiv.'' (Fleck 1981 (1935), 130 imd 135.) 7 Kuhn 1976 (1962), Postskriptum, 187. ^ „Praktisch" heifit in Kants Terminologie jenes Denken, das sich an den Grundprinzipien der Moral orientiert. Die praktische Vernunft findet ihren Ausdruck im kategorischen Imperativ.
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Die sozialwissenschaftlichen Gnandlagen von Tatigkeiten imd Praktiken
einst forderte, sondem ein PraxiskoUektiv. Diese Einsicht entlasst die Einzelnen nicht aus ihrer relativen Verantwortung. Die Ethik wird also noch nicht obsolet; die Zuteilung von Verantwortung ist allerdings Gegenstand eines sozialen Aushandlungsprozesses - siehe auch Unterkap. 13.5. 11.2
Zur Struktur eines PraxiskoUektivs
Auf der praktischen Ebene konstituieren sich Praxis- bzw. BerufskoUektive primar durch Netzwerke kooperativer Verbindungen.9 Diese bedtirfen keiner festen Strukturen, sondem bestehen vorerst auf Grund sozialer Interaktionen und korporatistischer Strategien. („Korporatistisch" meint hier die strukturelle Verfestigung der Interessen und des strategischen Handelns umter einem Leitbild.) Die Institutionalisierung eines PraxiskoUektivs erfolgt anschliefiend durch die Einfuhrung formaler und organisatorischer Strukturen, d.h. Organisation der Zusammenarbeit, Verteilung der Aufgaben und Informationen, Regelung der KontroUe imd Evaluierung von Leistungen, Durchsetzung bestimmter Kommunikationsformen und Entlohnungsschemata etc. Diese Grundstrukturen formen das Verhaltnis der Mitglieder untereinander und zu den Aufienstehenden. Dariiber hinaus bilden sie laufend Abgrenzungen zwischen esoterischen und exoterischen Kreisen, deren Existenz von Statussymbolen, Solidaritatsbiindnissen, Informationsbarrieren und einer Sondersprache (Jargon oder Fachtermini) bekraftigt und aufrechterhalten wird.io Die Homogenisierung des Verhaltens ihrer Mitglieder sowie die Herbeifiihrung einer koordinierten strategischen Positionierung (d.h. korporatistischen Verhaltens) im sozialen Feld werden durch Mechanismen bzw. Phanomene erreicht, die die Wirkungsmoglichkeit eines einzelnen Individuums libersteigen: geteilte Vorbilder, Identitatsangebote,
9 Siehe Becker 1982,24ff.; Wenger 1998,45ff.; White 1993,114-116; Robke 2000,182-190. 10 Siehe Fleck 1981 (1935), 138f.; Boltanski 1982; Wenger 1998,126ff.; Schatzki 1996, Kap. 6.
Zur Struktur eines Praxiskollektivs
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Denk- und Handlungsstile, Interessenbiindeliing, Zusammengehorigkeitsethos, Verpflichtungen und Gefolgschaft. PraxiskoUektive entstehen nicht spontan und willkiirlich, sondem sie sind in einem breiten sozialen und geschichtlichen Bezugsrahmen verwurzelt. Eine berufliche Tatigkeit setzt demzufolge eine bereits etablierte Praxis voraus, die von mehreren Personen geteilt wird." Das Bauen von Geigen ist moglich, weil eine Tradition des Geigenbauens praexistiert. Dieses Verankertsein in einer historischen und praktischen Tradition gilt genauso auch fiir die elektronische Musik, die Netzkunst oder das experimentelle Theater. David Bloor behauptet folglich: „To be socialised is to be socialised into an existing custom or institution''.^^ (Die Frage nach dem Ursprung einer Praxis ist irrefiihrend, derm soziale Praktiken befinden sich in einem mutierenden evolutionaren Prozess, der standig von praxisextemen (okonomischen, technologischen u.a.) und praxisintemen (asthetischen oder praktischen) Parametem beeinflusst wird. Die Ruckfiihrung einer Tatigkeit auf eine bereits vorhandene Praxis fuhrt also nicht zu einem infiniten Regress.) Eine Praxis kann nur in einem PraxiskoUektiv realisiert werden, also von mehreren koexistierenden Individuen, die eine Praxis pflegen, sie interpersonell und wechselbezogen hervorbringen, ausdifferenzieren und modulieren. Das ergibt sich aus dem offentlichen Charakter der Kultur - siehe Unterkap. 2.4. Ein PraxiskoUektiv reprasentiert jene soziale Instanz, die die Praxis seiner Mitglieder direkt und indirekt koordiniert und harmonisiert. Zugleich ist es, um Ludwik Flecks Begriff zu verwenden, ein DenkkoUektiv, das gemeinsame Teleoaffektivitat (Ziele, Emotionen, Befindlichkeit), Wahmehmungs- und Interpretationsschemata stiftet. Daraus entwickeln sich ein geteilter Handlungsstil und eine gemeinsame Kommunikationskultur. „Knowledge of professional culture defines a group of practicing professionals who use certain conventions to go about their
11 Siehe Schatzki 1996, Kap. 4 und Bergendal, Gunnar: ^Professional Skill and Traditions of Knowledge" in Goranzon/Florin 1990,185-190. 12 Bloor 1997,47.
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Die sozialwissenschaftlichen Grundlagen von Tatigkeiten und Praktiken
artistic business. (...) These understandings facilitate getting the work done."i3 Zum gemeinsamen Wissenskorpus und praktischen Sinn gehoren auch eine geteiite Moral sowie eine Anzahl von anerkannten und praktizierten Konventionen. All dies sind integrale Bestandteile jeder Praxis. Die Verbreitung der gemeinsamen Moral iibemehmen primar die Sozialisatorlnnen - in Ausbildungsstatten die Lehrenden, in informellen Lemprozessen die Vorbilder. Eine geteiite und akzeptierte Moral tragt dazu bei, partikulare Interessen zuriickzudrangen und das Verhalten der Mitglieder vorhersehbar zu machen - man denke an den Eid des Hippokrates, den Medizinerlnnen am Ende ihres Studiums leisten miissen. All diese gemeinsamen Beziige im Handeln bauen soziale Bindungen zwischen den Menschen auf. Trotzdem konnen ein gemeinsamer Denk- und Handlungsstil, die geteiite Teleoaffektivitat und der normative Konsens der Gruppe das Verhalten der Einzelnen nicht strikt determinieren. Man gebe fiinf Schauspielerlnnen den Auftrag, ein- und dieselbe RoUe aus einem Theaterstuck einzustudieren; am Ende wird jedeR eine andere Interpretation prasentieren. Nicht wesentlich anders verlauft die Realisierung sozialer RoUen imd Tatigkeiten. RoUen (GeschlechterroUen, BerufsroUen u.a.) sind nicht bis in jedes Detail vorgegeben und die Realisienmg hangt von der konkreten Situation (Handlungsrahmen, Ermachtigimg, Status und Integration der Handelnden im sozialen Umfeld) ab. „Fur das Lemen seiner RoUe geniigt es nicht, die untnittelbar notige Routine zu ihrer 'auGeren' Durchfuhrung zu erwerben. Man muss mit den verschiedenen kognitiven und sogar affektiven Schichten des Wissensfeldes vertraut gemacht worden sein, das direkt und indirekt dieser Rolle eigentiimlich ist/'^^
Trotz ahnlicher struktureller Rahmenbedingungen imd gleicher Spielregeki generiert die Interpretations- und Improvisationsgabe der Einzelnen vielfaltige Aktionsmoglichkeiten. Darin manifestiert sich die Intelli-
13 Becker 1982,63. 14 Berger/Luckmann 1969,81; siehe auch Goffman 1991 (1959), 229f.
Die gesellschaftliche Organisation beruflicher Tatigkeiten
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genz, Kompetenz, Kreativitat und das strategische Geschick der Akteurlnnen. Dariiber hinaus ergibt sich die Indeterminiertheit des Handelns dadurch, dass PraxiskoUektive keine homogenen und konsistenten soziale SySterne sind. Menschen partizipieren gleichzeitig an mehreren Praxisfeldem und bedienen sich mehrerer iibereinander gelagerter Sinnsysteme. Das wirkt auf jedes PraxiskoUektiv zuriick. Der Grad der Uneinigkeit, Durchkreuzimg und Penetrierung eines KoUektivs durch andere KoUektive ist variabel und lasst sich nicht einfach messen; Hybriditat als Grundmerkmal von PraxiskoUektiven ist untilgbar. Interne Differenzen, Widerspriiche und Fraktionen sind immer vorhanden, selbst dann, wenn sich beispielsweise Berufsverbande und Interessenvertretungen nach aufien hin scheinbar geschlossen mit einer Stimme prasentieren. PraxiskoUektive schaffen ein optionales Handlungsfeld, einen legitimen Moglichkeitsraum. Wie dieser Raum tatsachlich gefiillt wird, hangt nicht nur von strukturellen, sondem auch von anderen Parametem ab. Makrosoziologische Untersuchungen, wie zum Beispiel manche Ausformungen der Systemtheorie und des Strukturalismus stellen die transindividuellen Merkmale der Handlungen in den Vordergrund. Will man jedoch nicht nur eine allgemeine Theorie des Sozialen, sondem ein tieferes Verstandnis des AUtagslebens gewinnen, muss man zusatzlich die interagierenden Individuen genau beobachten, um so auch die mikrostrukturellen Aspekte des Handelns zu erfassen. Die Teilnehmerlnnen eines PraxiskoUektivs reagieren weder blofi passiv noch ausschliefilich konformistisch auf die makrostrukturellen Bedingimgen. Die konstante Aktualisierung eines PraxiskoUektivs durch die Handlungen seiner Mitglieder, die Wechselbeziiglichkeit ihrer Aktionen und die wandelnden Gewohnheiten formen die tatsachliche, kontingente Gestalt der Praxis. 11.3
Die gesellschaftliche Organisation beruflicher Tatigkeiten
Das Wort „Beruf" bezeichnet ein Ensemble von Tatigkeiten, die sozial organisiert sind, fiir deren Ausfiihrung spezifische Qualifikationen gefordert werden und fiir die eine monetare und ideelle Entlohnung vorgesehen ist. Historisch gesehen wurden im Mittelalter mit dem Aufkommen des Zunftwesens zum ersten Mai bestimmte selbstandige (anfangs einige handwerkliche und kaufmannische) Tatigkeiten als „Berufe" bezeichnet. Max Weber beschreibt in seiner beriihmten Studie liber den Protestantismus> wie sich der Arbeitsbegriff am Beginn der
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Die sozialwissenschaftlichen Grundlagen von Tatigkeiten und Praktiken
Neuzeit allmahlich verandert hat. Auf der einen Seite wurde ab dem 17. Jahrhundert die Arbeit allmahlich als zentrale moralische Verpflichtung im Kontext einer frommen, biirgerlichen Lebensfiihrung gesehen. In der Folge wurde Arbeit als Wert an sich erfahren - man denke an den benediktinischen Spruch „ora et labora". Auf der anderen Seite entstand durch die zunehmende Arbeitsteilung und -rationalisierimg eine interne Differenzierung, die neue berufliche RoUen aufkeimen liefi. Das Wort „Beruf" bekam konsequenterweise eine erweiterte soziale Bedeutung. Beruf stand von nun an in Verbindung mit „Berufung" und war eng mit der Vorstellung von Innerlichkeit, die wesentlich fiir den Subjektdiskurs der friihen Modeme war, verkniipft. Auf der Basis dieser Konzeption entstand die „burgerliche" Auffassung vom Beruf: Ein Burger ist kein Arbeiter, weil er einem Beruf nachgeht. Er lebt also nicht blofi vom Arbeiten, sondem er entfaltet sich in seinem Beruf - so das Klassenverstandnis des 19. Jahrhunderts.^^ Der gegenwartig sozial dominante Diskurs von Beruf und Professionalitat reprasentiert eine komplexe Vorstellung, die aus vier zentralen Elementen besteht: Berufe sind im Gegensatz zu blofien „Jobs" durch einen kreativen Anspruch, mehr Selbstandigkeit imd Selbstverantwortimg sowie durch eine bestimmte Effizienzanforderimg charakterisiert. Da der Stellenwert des Berufs fiir die Konstitution der sozialen Identitat zentral ist, bedeutet fiir die meisten Menschen mangelnde Berufsqualifikation und instabile Beschaftigimg ein Identitatsdefizit: Man ist, was man tut - Hannah Arendt spricht diesbeziiglich kritisch vom „Sieg des Animal laborans".^^ Welche gravierenden Auswirkungen die unfreiwilllige Erwerbslosigkeit aufierdem hat, wurde in der Fachliteratur bereits nachgewiesen. Die Legitimation der beruflichen Kompetenzen und der daraus entstandenen Hierarchien wurde von der alteren Berufssoziologie als Er-
15 Zur weiteren Analyse des Berufsbegriffs siehe Schach 1987,26-60. 16 Arendt 2001 (1958), 407; siehe auch Sennett, Richard: „Arbeit und soziale Inklusion'' Kocka/Offe 2000,431-446; Robke 2000.
Die gesellschaftliche Organisation beniflicher Tatigkeiten
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gebnis der Spezialisierung imd Spezifizierung der Leistung einer Person erklart. Bei kiinstlerischen Berufen wurden zusatzlich psychologische Komponenten, wie Neigimg, Talent, Eignung und Leidenschaft bzw. die „innere Berufimg" herangezogen, um die individuelle Berufswahl und den Werdegang zu erklaren. Kontrastierend zu dieser subjektzentrierten Betrachtung erklaren funktionalistische Theorieansatze, die in den 1950er und 60er Jahren entstanden sind, die Berufsentwicklung (Arbeitsteilung, Entlohnungssysteme, Institutionalisierung) als systemimmanente Notwendigkeit. Professionelles Verhalten ist demnach Ausdruck eines funktionell zwingenden oder technischen Sachzwanges.^^ Andere, vor allem neomarxistisch orientierte Theoretikerlnnen betrachten Berufe als soziopolitische Konstruktionen, genauer gesagt, als Ausdruck sozialer Stratifikation und der Hierarchisierung des Berufsfeldes.is Berufsbezeichnungen, Arbeitsvertrage und Entlohnungssysteme spiegeln die soziale Wertigkeit einer Leistung und den Status einer Berufsgruppe wider. Beruf wird folglich nicht als deskriptiver Terminus verstanden, sondem als Ausdruck soziookonomischer Gegebenheiten. Der Funktionalismus imd der Neomarxismus kommen zu unterschiedlichen Interpretationen der gegenwartigen Berufswelt, weil sie auf divergierende Gesellschaftstheorien zuriickgreifen. Die politische Interpretation der Formation von Berufen steht der funktionalistischen Erklarimg des professionellen Verhaltens gewissermafien entgegen.i^ Trotzdem haben beide Ansatze eine Berechtigung. Berufe entstehen, wenn eine Leistung bzw. fachliche Kompetenz im Arbeitsprozess gefragt ist und daher einen intrinsisch begriindeten Vorrang geniefit - so eine
17 Siehe beispielsweise Luhmann, Niklas: „Institutionalisierung - Funktion imd Mechanismiis im sozialen System der Gesellschaft'', in Sdielsky 1973, 27-41. Zvim Theoriewandel in der Berufssoziologie siehe Bolte, Karl Martin/Beck, Ulrich/Brater, Michael: „Beruf als Kategorie soziologischer Analyse'', in Bolte/Treutner (1983), 62-81. 18 Johnson 1993 (1972); Bourdieu, Pierre: „Klassenschicksal, individuelles Handeln imd das Gesetz der Wahrscheinlichkeit", in Bourdieu/Boltanski u.a. 1981, 169-208; Krais, Beate: „Geschlechterverhaltnisse ttnd symboHsche Gewalf' in Gebauer/Wulf 1993,221. 19 Zu dieser Debatte siehe auch Hall 1986,160-171.
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Die sozialwissenschaftlichen Grundlagen von Tatigkeiten imd Praktiken
vereinfachte Version der funktionalistischen Erklarimg. Der Kompetenzbegriff hat allerdings eine doppelte Bedeutung: Kompetenz bedeutet nicht nur Fahigkeit, sondem auch Befugnis. Konnerschaft wird meist in praktischer Ubung erworben; sie kann jedoch nur dann ausbildet werden, wenn auch eine entsprechende Befugnis und Ermachtigung gewahrt wird. Soziale Strukturen, ungleiche Ressourcenverteilung, Institutionen und Normen determinieren die sozialen Chancen eines Individuums. Die Organisation von Ausbildung, die Regelung des Zugangs zu bestimmten Tatigkeitsfeldem und das Wirtschaftssystem sind politische Aspekte, die die politische Dimension von Berufen pragen. 11.4
Die Teilnahme an einem Berufsfeld
Da Berufe sozial konstituiert sind, bilden sich entsprechende Praxiskollektive bzw. Berufsgemeinschaften aus. Mitglieder dieser KoUektive sind, sofem es sich nicht um eine formelle Mitgliedschaft handelt, im AUgemeinen all jene Individuen, die einem Berufsfeld angehoren und vom Handeln ihrer KoUeglnnen beeinflusst werden. Einflussnahme ist ein zentrales Konzept der Interaktionstheorie und bedeutet, dass das Verhalten anderer bestimmt, wie ein Individuum handelt. Entlang solcher Interaktionen bilden sich Handlungsketten, die dem horizontalen und vertikalen Beziehungsgeflecht entsprechen. Voraussetzung fiir die Beeinflussimg des eigenen Verhaltens ist die Kenntnis dessen, was andere getan haben. Diese Kenntnis kann entweder durch unmittelbare Wahmehmung2o oder durch Benachrichtigung erfolgen. Interaktionen sind Ausdruck einer sozialen Wechselbeziiglichkeit. Handeln in einem gemeinsamen Aktionsraum bedeutet gleiche oder verwandte Unternehmungen zu fiihren. Dadurch ergibt sich eine gleiche institutionelle Bindimg und Abhangigkeit von ahnlichen Rahmenbedingungen, zu-
20 Auch scheinbar unbedeutende Einzelheiten wie Korperhaltung oder Tonfall (die Hexis) werden unterschwellig wahrgenommen und spielen in der komniunikativen Interaktion eine wichtige RoUe - siehe Bourdieu 1987 (1980), 129; Goffman 1993 (1974), 274ff.; Giddens 1995 (1984), 342-347.
Die TeUnahine an einem Berufsfeld
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gleich aber auch ein standiger Kampf fiir dieselben Ressourcen und Ziele. Die Beziehungen, die in einem Praxis- bzw. BerufskoUektiv entstehen, charakterisieren sich folglich durch eine grundsatzliche Ambivalenz: Die Teilnehmerlnnen erfahren Solidaritat und Konkurrenz, soziale Inklusion und Statusunterschiede, reziproke Kommunikation sowie Informationsvorenthaltung und Informationsasymmetrie, Schutz und zugleich repressive KontroUe. Je nachdem wie Individualitat und Identitat im jeweiligen Berufsfeld ausgehandelt werden - Berufsidentitaten beim Militar entfalten sich offensichtlich anders als bei Kulturberufen -, so gestaltet sich der Integrationsprozess. Jedenfalls verandert die zunehmende berufliche Integration das Individuum so, dass es unweigerlich in den Bann koUektiver Berufsbilder gerat - auch wenn es sich im Laufe seines Lebens davon distanziert. Bourdieu vermerkt dazu: „[D]er Kiinstler, der das Werk schafft, [wird] selbst innerhalb des Feldes erschaffen: dxirch all jene namlich, die ihr Teil dazu geben, dass er 'entdeckt' wird und die Weihe erhalt als iDekannter' und anerkannter Kiinstler - die Kritiker, Schreiber von Vorworten, Kunsthandler usw/'^i
Die Einbindung in ein BerufskoUektiv bedeutet fiir die Einzelnen in der Kegel eine Verbesserung ihrer allgemeinen Beschaftiginigssituation. BerufskoUektive schaffen formelle und informelle Informationsnetzwerke, die grundsatzlich nur den Mitgliedem zuganglich sind. Die Haltung und Pflege intensiver Kontakte zu anderen BerufskoUegen - dazu gehort auch das unverbindliche Plaudem und Klatschen22 - stiftet Freundschaften und Solidaritatsbiinde, die oft wahrend eines ganzen Berufslebens
21 Bourdieu 1999 (1992), 271. Zur Definition von „KiinstlerIn'' siehe Pommerehne/Frey 1993 (1989), 161-163. Zur grundsatzHchen Problematik der Definitionskriterien siehe auch Mitchell, Ritva/Karttunen, Sari: „Why and How to Define an Artist: Types of Definitions and Their Implications for Empirical Research Results'" in Towse/Khakee 1992,175-185. 22 UnverbindHches Plaudem imter Berufskolleglnnen ist ein Ritual, das soziale Gleichheit und gegenseitige Vertrautheit signaHsiert - siehe auch Schwendter 1996,119-126.
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Die sozialwissenschaftlichen Gnmdlagen von Tatigkeiten und Praktiken
andauem. Solche Beziehungen generieren auch soziale Verbindlichkeit und Neigung zur Konformitat: „Da meine Freunde mich wertschatzen, darf ich sie nicht enttauschen. Deshalb bin ich auch vor ihnen fiir meine Handlungen verantwortlich." Die daraus entstehende Tendenz gemeinsame Werte und Konventionen einzuhalten - Ludwik Fleck spricht vom „sozialen Denkzwang'^^s _^ bedeutet eine verborgene soziale Kontrolle. Der Einhaltungsgrad der gemeinsamen Standards steht allgemein in Relation (a) zur Intensitat der individuellen Verinnerlichung der Moral eines Kollektivs, (b) zur raumlichen Nahe und zeitlichen Haufigkeit der kommunikativen Interaktion zwischen den Mitgliedern und (c) zur Effizienz der eingesetzten Uberwachungstechniken. An einem Berufsfeld teilnehmen heifit schliefilich gewissen Qualitatsprofilen zu entsprechen. Der/die Einzelne ist folglich von den allgemeinen Diskursen iiber Berufe, Frofessionalisierung und Professionalitat sowie von den damit verbundenen Vorstellungen von Rationalisierung, wirtschaftlicher Effizienz, Konnerschaft und Expertentum betroffen. Aus berufssoziologischer Sicht bedeutet Frofessionalisierung allerdings nicht, dass die Individuen die Qualitat ihrer Leistungen durch Teilnahme an einem Berufsfeld zwangsweise erhohen, wohl aber dass sie ihren Anspruch auf Anerkennung ihrer Leistungen hesser vertreten konnen.24 Das kann unter anderem erreicht werden durch: Bessere Koordinierung und strategische Fositionierung der Interessen der Mitglieder eines BerufskoUektivs; Inhaltliche Differenzierung des Ausbildungsangebotes und Durchsetzung von Akkreditierungsverfahren fiir die Berufsausbildung; Starkung der Kontrolle des Zugangs zum Berufsfeld;
23 Fleck 1981 (1935), 86. 24 Siehe auch DiMaggio 1987b, 52ff.; Parsons, Talcott: „The Professional Complex'' in Parsons 1979, 35-65; Behnke, Christoph: „Platzhalter und Anwarter. Zur ProfessionaHsierung von kultureUen Berufsfeldem", in Winter 1996,193-208; Smudits 2002,153ff.
Kiilturberufe
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Schaffung neuer Sets von beruflichen Leistungskriterien, als Bedingung fur eine interne Kontrolle und als Strategic der Ausgrenzung konkurrierender Berufe. 11.5
Kulturberufe
Wahrend viele kunstschaffende^s Berufe (bildende, musizierende, darstellende Kiinstlerlnnen^^) bereits im Mittelalter in Ziinften organisiert waren und daher auf eine lange historische Tradition zuriickblicken, entstanden die meisten kulturwissenschaftlichen und kulturadministrativen Berufe erst im 19. und 20. Jahrhundert. Kulturmanagement stellt beispielsweise ein Betatigungsfeld dar, das sich zuerst in den USA und in Europa allmahlich in der Phase des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg durchsetzte.^^ Neben der Entfaltung der Kulturindustrie und der Expansion der Kulturmarkte, die entsprechende kaufmannische Aktivitaten in den Vordergrund stellen und somit neue Berufe schaffen, spielen technologische Entwicklungen („Mediamorphosen"28) ebenfalls eine wichtige Rolle im Prozess der Ausdifferenzierung und Arbeitsteilung im Kultursektor.
^ Wenn man anstatt vom „Sdiaffen'' und von der „Schopfung'' von „Prodiiktion'' spricht siehe z.B. Wolff, 1993 (1981), 138 sowie Zembylas 1997,15ff. - lasst man die Beziehiingen der Kiinstlerlnnen zu den Abnehmerlnnen (Rezipientlnnen, Kauferlnnen) in den Vordergrund treten. 1st die Beziehung durch extreme Asymmetrie und hohe Abhangigkeit gekennzeichnet, dann ware es auch legitim, den Termintis „LieferantIn'^ ansteUe von „ProduzentIn'' einzufuhren. 2^ SchriftsteUer bilden innerhalb der Kunstschaffenden eine Sondergruppe. Obwohl seit Beginn des 18. Jahrhunderts das Berufsbild „SchriftsteUer'' bzw. „Hterarische Autor'' klare Konturen hatte, gibt es bis heute - von einzekien Angeboten abgesehen - keine expHzite und institutionaHsierte AusbUdung fiir diesen Beruf. 27 Siehe auch Peterson, Richard: „From Impresario to Arts Administrator: Formal Accountability, in Nonprofit Cultural Organisations'', in DiMaggio, Paul 1986,161-183. 28 Der Begriff der Mediamorphose bezieht sich auf die Entwicklung der Medien und ihre Auswirkung auf die Produktion, Distribution imd Rezeption symboHscher Formen. Zum Einfluss der Mediamorphose auf das Kulturschaffen siehe Smudits 2002, Teil II.
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Die sozialwissenschaftlichen Gnmdlagen von Tatigkeiten und Praktiken
Kulturberufe nehmen in der heutigen Berufswelt, verglichen mit anderen Berufsgruppen, eine Sonderstelliing ein. Im Kultursektor finden wir eine hohere Selbstandigenquote, eine gleichzeitige Kombination von verschiedenen Arbeitsverhaltnissen sowie eine regionale Konzentration rund um bestimmte Ballungszentren. Obwohl Kulturberufe in der Kegel hochspezialisierte Fertigkeiten und eine lange Ausbildung voraussetzen, sind sie vergleichsweise nur wenig gesetzlich reglementiert. Der Zutritt zu einem kiinstlerischen oder kulturellen Beruf ist meist nicht an den Nachweis eines einschlagigen Studiums gekoppelt wie in anderen Arbeitsfeldem (z.B. bei Medizinerlnnen, Rechtsanwaltlnnen, Architektlnnen, Lehrerlnnen u.a.). Aufierdem besteht kaum ein wirksamer Berufsschutz, sei es durch allgemein verbindliche Standards oder durch gewerkschaftliche Organisationen, die die Interessen von Kulturarbeiterlnnen - hier als Oberbegriff29 fur Kulturschaffende, Kulturvermittlerlnnen und Kulturmanagerlnnen verwendet - vertreten.^o Dariiber hinaus ist der Arbeitsmarkt fiir Kulturberufe hoch fragmentarisiert, das heigt es gibt viele spezifische Aufgabenfelder, die besondere Qualifikationen verlangen. Die einzelnen Tatigkeitsfelder sind hinsichtlich des Beschaftigungsstatus (Selbstandige, Angestellte), der Aufgaben, des Einkommens, der sozialen Wertschatzung und Anerkennung sehr heterogen. Hochgradige Spezialisierung und intensive Einbindung in bestehende formelle und informelle Netzwerke sind offensichtlich notwendig, um professionell retissieren zu konnen. Es ist folglich fiir die Einzelnen nicht einfach, von einem Tatigkeitsfeld zu einem anderen zu wechseln.
29 Der Terminiis „KiilturarbeiterIn'' („ciiltural worker'') fungiert in manchen Diskursen als ein Konzept, das tradierte Unterscheidungen zwischen freien und angewandten Kiinstlerlnnen, Kulturproduzentlnnen und Kulturvermittlerlnnen sowie zwischen hoher und popularer Kultur aufheben will. 30 Geltende koUektivvertragliche Vereinbanmgen steUen in der Brandie relativ unverbindliche Mindeststandards dar. Ihre Wirksamkeit beschrankt sich vor aUem auf die offentlichen Kulturbetriebe. Dieser Zustand wird auch von den Kulturschaffenden beklagt siehe Kulturrisse, Zeitschrift der IG-Kultur Osterreich, Nr. 03/2002.
Kiilturberufe
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Wie sehr die Kunst- imd Kulturproduktion eine Form von „Gememschaftshandeln"3i ist, hat bereits Howard Becker eindrucksvoU dargelegt.32 Im Prozess der Konzeption, vor allem bei der Produktion, Distribution, Vermittlung und Vermarktung eines kulturellen Gutes sind stets mehrere Individuen und oft auch mehrere Organisationseinheiten beteiligt. Die Spannweite der Arbeitsteilung zeigt sich in der Diversitat der Kulturberufe: Kulturschaffende, die ihre kreative Arbeitsleistung einbringen; Technikerlnnen, die Assistenz und sonstige Dienste anbieten; Vermittlerlnnen, die den Kontakt zur breiteren Offentlichkeit mitgestalten; Managerlnnen, die administrative und kaufmannische Aufgaben betreffend Koordination, Finanzienmg und Vermarktung von Projekten innehaben. Rund u m dieses primare Netz gibt es eine Anzahl von Berufstatigen, die infrastrukturelle Arbeit leisten. Zu dieser sekundaren Ebene werden nicht nur die Kulturvermittlerlnnen gezahlt, sondem auch diejenigen, die kulturelle Sachverhalte aufbereiten und konservieren. Weiter gibt es eine Anzahl von allgemein administrativen und kaufmannischen Aufgaben, die „Versorgungsleistungen" beinhalten - z.B. Juristlnnen, Buchhalterlnnen, Kulturverwaltungsbeamtlnnen u.a. Eine andere Gruppe umfasst jene Personen, deren Tatigkeit sich auf unterschiedliche Art und Weise mit dem Kulturbetrieb iiberschneidet, wie z.B. Technikerlnnen, Herstellerlnnen von Utensilien u.a. Schliefilich miissen wir auch den gesamten Ausbildungssektor beriicksichtigen, der „Kunst und Kultur" im engeren Sinn unterrichtet und vermittelt (siehe Figur 5)?^
31 Max Webers Begriff vom „Gemeinschaftshandeln'' meint jene interaktiven Situationen, in denen „menschliches Handeln subjektiv sinnhaft auf das Verhalten anderer Menschen bezogen w W . (Weber, Max: „Uber einige Kategorien der verstehenden Soziologie'" (1913), in Weber 1988,441. 32 Siehe Becker 1982, Becker 1986 sowie Ryan 1992; Wolff 1993 (1981), 32-48; Zolberg 1990, 124ff. und 153ff.; Caves 2000, Kap. I-H. 33 Das Berufsverzeichnis der Statistik Austria (Stand 1999) fuhrt 24 Kategorien von Kulturberufen mit uber 500 einzelnen Berufsbezeichnungen an.
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Die sozialwissenschaftlichen Grundlagen von Tatigkeiten und Praktiken
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Figur 5 Berufsfelder im Kultursektor
Die Frage, ob alle Kulturarbeiterlnnen (Kulturschaffende, -vermittlerlnnen und -managerlnnen) eine Berufsgemeinschaft bilden, muss auf Grund der oben erwahnten Heterogenitat negativ beantwortet werden. Arbeitsweise, Aufgabenfelder imd Mentalitaten bzw. Berufsbilder der verschiedenen Kulturberufe sind sehr divergierend, so dass eine vorauseilende Homogenisienmg abzulehnen ist. Entscheidend fiir die Konstitution eines BerufskoUektivs ist vor allem die Starke und Intensitat der Bindungen, die zur Wahrnehmung gemeinsamer Interessen und zur Entstehung eines koUektiven Habitus fiihren konnen. Im Kultursektor fehlen meist iibergreifende und einheitsstiftende Organisationen, die individuelle Interessen und Positionen biindeln konnten. Die hohe Fragmentierung des kulturellen Arbeitsmarktes bedeutet, dass der Kultursektor aus mehreren spezifischen Berufsgemeinschaften besteht.
Beruflicher Werdegang
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11.6 Beruflicher Werdegang Der Begriff „Karriere" reprasentiert eine narrativ konstruierte Vorstellung iiber die Organisation und Strukturierung eines Berufsfeldes.34 Karrierestufen benennen aufierdem soziale Positionen in einem Machtgefiige. Sie zeigen, wie sich die Ausiibung von sozialer KontroUe gestaltet und wie die interne Evaluierung der beruflichen Tatigkeit stattfindet. Erfolg, beruflicher Aufstieg und Reputation sind somit das Ergebnis eines komplexen Prozesses, dessen einzelne Elemente nicht immer sichtbar und beschreibbar sind. Fiir die Ausiibung eines Kulturberufs ist in der Kegel eine hohere Ausbildung, das heifit die Akkumulation von Bildungskapital, vonnoten. Der koUektive Ursprung der kulturellen und materiellen Wertschatzung der beruflichen Leistung macht die Bindung an ein KoUektiv notwendig. „Wenn Kimstanspriiche im Rahmen der kiinstlerischen Professionalitat formuliert werden, steht das prodiizierte Kimstwerk mehr oder weniger im Einflussbereich der Institutionen der Kunst und folgt ihren Regain und ihrem Willen. (...) Pluralitat bedeutet lediglich, dass es mehrere Legitimationsinstanzen gibt, die zum Teil divergierende Interessen verfolgen.''^^
Die Partizipation an einem Praxis- bzw. BerufskoUektiv definiert auch, welche Qualifikationen und Fertigkeiten eine Person in einem Tatigkeitsfeld benotigt. Der Hinweis auf eine akademische Ausbildung ist bei Kiinstlerlnnen nur dann wichtig, wenn sie damit signalisieren konnen, dass sie zu einer Elite gehoren. Jemand, der/die bei Joseph Beuys an der Diisseldorfer Kunstakademie studierte, kann sich mit dem Markenzeichen „SchulerIn von Beuys" schmiicken. Nach dem Besuch eines Meisterkurses bei Vladimir Horowitz ist man „MeisterschulerIn von Horowitz" usw. Viel anspruchvoller hingegen sind die realen Anforderungen, die an alle Kunstschaffenden gestellt werden. Neben dem Verfiigen
34 Siehe auch White 1992,212ff.; White 1993,47-70. 35 Zembylas 1997, 96 imd 100
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Die sozialwissenschaftUchen Grundlagen von Tatigkeiten vaxd Praktiken
iiber wichtige Ressourcen sind praktische Kenntnisse im Umgang mit verschiedenen kiinstlerischen oder technologischen Arbeitsmitteln unumganglich. Dariiber hinaus gibt es den eher schwer zu fassenden Bereich der personlichkeitsgebundenen Kompetenzen. Dazu zahlen soziale und organisatorische Fahigkeiten, die es jemandem ermoglichen, in zwischenmenschlichen Begegnungen seine Ziele und Plane zu realisieren.36 Die allgemeine Instabilitat der Beschaftigung und die damit einhergehende notwendige Flexibilitat sind grundsatzlich ambivalent: Erstens ermoglichen kontingente Leistungsvertrage sowohl Ausbeutungssituationen als auch hochdotierte Arbeitsvertrage (bei „Stars")-^^ Zweitens implizieren flexible und kurzfristige Arbeitsvertrage fiir die Einzelnen gelegentlich eine relativ freie Arbeitseinteilung,38 zugleich aber auch eine schwankende Erwerbssituation und eine schwache Verhandlungsposition gegeniiber institutionellen Vertragspartnerlnnen.39 In diesem Sinne ist der Grad der Integration einer Person in ihr jeweiliges BerufskoUektiv essenziell. Erfahrungsgemafi werden Auftrage und Engagements in der Kegel nach vier Kriterien vergeben: personliche Kontakte, Bekanntheitsgrad, Reputation und Vertrauen.
36 Siehe Martin/Rich 1998, 4-26 sowie meine Studien Zembylas 1998a, 13-67 und 1998b, 1797. 37 Siehe auch Towse 1997, Teil IL, Bd. 2,187-283; Caves 2000,73ff. 38 Manche Autorlnnen scheinen das Arbeitsmodell des „Kunstlers'' zu verklaren und glauben sogar, es fiir den Arbeitsmarkt aUgemein empfehlen zu konnen - siehe z.B. Schmid, Gimther: „Arbeitsplatze der Zukunft. Von standardisierten zu variablen Arbeitsverhaltnissen'', und Rosenberg, Karen: „Work of Art - Art as Work: Reparatur'' beides in Kocka/Offe 2000, 269-292 imd 410-418. Auf eine andere Weise uberhohen andere die Position der Kulturschaffenden als freie, selbstorganisierte InteUektuelle - siehe West, Cornel: „Die neue Politik kultureUer Differenz'' (1993), in Bronfen u.a. 1997, 263. Eine extrem hohe Mobilitat erschwert jedoch die Vereinbarkeit von Bemf und Privatleben (Partnerschaft, Kinder, stabile soziale Bindungen) - siehe Sennett, Richard: „Arbeit und soziale Inklusion'' in Kocka/Offe 2000, 436 und 441; Schulz/Hametner/Wroblewski 1997, 181ff und 196ff; Aknhofer/Lang u.a. 2000, 171ff und 183ff; Deibl 1993, Kap. 6, 52120; CHche/MitcheU/Wiesand 2000. 39 Siehe auch Smudits 2002,181-187.
Kultureller Wandel und Berufsbilder
11.7
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Kultureller Wandel und Berufsbilder
Parallel zur Veranderung der wirtschaftlichen und technologischen Grundlagen der Kulturberufe findet auch ein Wandel der Fremd- und Selbstwahrnehmung in jedem Berufskollektiv statt. Berufsbilder bestimmen ein Tatigkeitskonzept und ahneln daher einer Definition, die eine performative Funktion hat. Definieren heifit, die Bedeutung und den Umfang eines Begriffs bzw. eines Tatigkeitsfeldes zu prazisieren; zugleich voUzieht eine Definition eine Grenzziehung - so auch die Bedeutung des lateinischen Ursprungswortes. Jede Definition setzt folglich einen Inklusions-/Exklusionsmechanismus in Gang und ist daher grundsatzlich umstritten: Definitionen streben einerseits nach einer klaren Bestimmung, andererseits evozieren sie Gegenentwiirfe. Es ist also verstandlich, dass neue Berufsbezeichnungen nicht immer akzeptiert werden. Diese Problematik lasst sich am Beispiel des Kulturmanagements gut demonstrieren. Die Berufbezeichnung „KulturmanagerIn" hat sich zumindest im deutschsprachigen Raum noch nicht wirklich etabliert. Abgesehen von den zahlreichen Ausbildungsstatten, die in den letzten zehn Jahren wie Pilze aus dem Boden schiefien, ist der Professionalisienongsund Organisationsgrad dieser Berufsgruppe (d.h. die Etablierung von gemeinsamen Normen, die Durchsetzung von internen Evaluierungskriterien, die Bindung der Berufstatigen an einen gemeinsamen Dachverband oder iibergreifenden Berufsverein) sehr schwach. Dieser Zustand ist bemerkenswert, zumal die Anzahl von Personen, die im Bereich der Administration und Vermarktung von Kulturgiitem tatig sind, keinesfalls niedrig ist. Die geringe Akzeptanz der Berufbezeichnung „KulturmanagerIn" zeigt sich auch daran, dass viele andere Bezeichnungen verwenden werden, wie z.B. Kiinstlervermittlerln, Galeristin, Kuratorln, Marketingleiterin, Intendantin, Fundraiser usw.^o Die Griinde da-
^ Ziir Vielfalt und Diffusion der Berufsbilder im Kulturmanagement siehe beispielsweise Fischer/Benzer 1997, Siebenhaar 2002.
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Die sozialwissenschaftlichen Grundlagen von Tatigkeiten imd Praktiken
fiir sind gewiss vielfaltig (z.B. der Bezug auf tradierte Berufsbezeichnungen sowie andere Konventionen); zum Teil sind sie auch ideologischnormativ unterlegt. So beklagen manche die Kiinstlichkeit iind Inadaquatheit dieses Begriffs, vor allem weil sie an die prinzipielle Unvereinbarkeit von Kultur und Wirtschaft glauben. Konrad Paul Liessmann, um hier ein Beispiel zu nennen, schreibt: „[F]ur mich hat Ktmst immer nodi den Nimbus, dass es eigentlich die Gegenwelt zum Alltag ist. Und in dem Moment, wo Kultur professionalisiert wird, wird sie alltaglich und hort gewissermafien auf, Kultur zu sein. (...) Wenn Kunst - ujid speziell, wenn sie zeitgemafi also Avantgardekimst ist - eine Botschaft hat, dann ist es gerade die, nicht marktkompatibel zu sein. Und das verkaufen zu woUen, ist erne Falle oder eine Sache, die un Grunde immer nur schief gehen kann.'''*^
Da eine organisatorische Planimg und Kontrolle der Finanzierung, Produktion, Vermittlung und Vermarktung von kiinstlerischer Arbeit unter Berufung auf das idealistische Konzept der Kunst als freie, autonome Produktivitat abgelehnt wird, erscheint Kunstmanagement als Paradoxie: „Kultur als der natiirliche Opponent der Okonomie ist stets durch diese gefahrdet."42 Liessmann und andere unterstellen, dass Kunst ein selbstorganisierender, autopoetischer Vorgang mit einer eigenen intrinsischen Logik sei. (Autopoiesis bedeutet die Abwesenheit einer extemen, ursprtinglichen oder aktuell wirkenden Kraft, die einen Prozess in Gang setzt bzw. aufrechterhalt.) Auf der Basis dieses Deutungsschemas reproduzieren sie das Berufsbild des Kiinstlers, das im 19. Jahrhundert vorherrschte: „Kunstler ist, wer sein Zentrum in sich hat." (Friedrich Schlegel) Berufsbilder sind, wie bereits angedeutet, komplexe Konglomerate von Konzepten und Handlungsanleitungen, die moralische und mythi-
41 Liessmann in Fischer/Benzer 1997, 79f. Zur Analyse der tradierten GegeniibersteUung von Kunst imd Management siehe ChiapeUo 1998, S.46-64. "^ Liessmann 2001 32. Kritik an der These von der prinzipieUen Unvereinbarkeit von Kunst und Markt habe ich auch in Zembylas 1997, 63-67 gexibt. Eine differenzierte Position dazu nimmt ebenso ChiapeUo 1998, Kap.2-3 ein, die von der „Krise der kiinstlerischen Kritik an das Management"' spricht (ebd. S.205ff.).
Kompetenzverteilung und Kortflikte: Das Aufkommen einer neuen Konstellation
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sche Strukturen aufweisen. Bilder von imd iiber Kulturarbeiterlnnen (z.B. als Gerties, soziale Rebelllnnen, freischwebende Intellektuelle, Grenzgangerlnnen und -iiberschreiterlnnen, AUround-Kiinstlerlnnen, Nomadlnnen, hybride Subjekte usw.43) konnen daher von einem metaphorologischen Gesichtspunkt aus untersucht werden.44 Wir konnen ihre Wirksamkeit als Katalysatoren fiir kollektives Handeln erklaren, wenn wir sie als Teil des sozialen Systems begreifen, in welchem sie wirksam sind. Als polyvalente kuUurelle Metaphern konnen Berufsbilder den Einzelnen in ihrem ganzen Umfang nicht vollstandig bewusst sein. Berufsbilder sind also nicht das, was die einzelnen Menschen oder Berufsgruppen iiber sich selbst denken, sondem sie ergeben sich aus praktischen Strukturen und normierenden Diskursen, die im Laufe der historischen Entwicklung eines Berufs bzw. eines PraxiskoUektivs wirksam sind. Solche Interpretationsschemata und Handlungsheuristiken steuem die soziale Wirklichkeit eines KoUektivs. 11.8
Kompetenzverteilung und Konflikte: Das Aufkommen einer neuen Konstellation
Die fortschreitende Professionalisierung und Okonomisierung im Kulturbereich fordert auf der einen Seite die Arbeitsteilung und somit die Entfaltung spezifischer Kompetenzen. Auf der anderen Seite fuhrt die rational-technokratische Zergliederung der kulturellen Arbeit zu neuen LeistungsmaiSstaben. Das zeigt sich darin, dass kiinstlerische Leistung und Produktivitat immer mehr an quantitativen Kriterien (Umsatz,
43 Allgemein zur Mythenbildung in der Kunst siehe Zilsel 1990 (1918); Kris/Kurz 1980 (1934); WiUiams 1968 (1958), 31ff. Neumann 1986; Batschmann/Groblewski 1993; Zembylas 1997, 105-112. Ziun Konzept des Nomaden siehe Deleuze/Guattari 1992 (1980), 522ff.; zttm Konzept der hybriden Identitat siehe Bhabha 2000 (1993), Kap. 2; zur ReaktuaUsierung des Bildes von frei schwebenden IntellektueUen siehe West, Cornel: „Die neue Politik kultureller Differenz'' (1993), in Bronfen 1997, 247-265. Zur Interpretation der Kunst als Grenzuberschreitung siehe Raunig 1999,115ff. und 127ff. 44 Siehe Blumenberg 1999 (1960), 25.
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Die sozialwissenschaftHchen Grtindlagen von Tatigkeiten und Praktiken
Quoten, Gewinn u.a.) bemessen werden. Ich glaube daher, dass Mediatorlnnen mittelfristig einen Zuwachs an Dominanz und Prestige erfahren werden. Unter der Bezeichnung „MediatorIn" werden all jene Personen erfasst, die als Bindeglied zwischen Kunstschaffenden und Offentlichkeit sowie an unterschiedlichen Orten der kulturellen Produktion intervenieren und professionell agieren - Michael Hutter spricht in diesem Zusammenhang vom „Schnittstellenmanagement". Leitende Kulturmanagerlnnen, Kuratorlnnen, Galeristlnnen, Film- und Musikproduzentlnnen, Intendantlnnen, Programmleiterlnnen, Cheflektorlnnen iibernehmen die Aufgabe des Umsetzens, Transformierens, der Vermittlung, Umformulierung, Organisation und Gestaltung von kiinstlerischer und kultureller Arbeit entsprechend bestimmter Zielsetzungen und Rahmenvorgaben.45 Ihre Intervention wird damit legitimiert, dass die hohe Produktionsdichte und -geschwindigkeit sowie die damit einhergehende steigende okonomische Kurzlebigkeit des heutigen Kulturbetriebs ein Management unentbehrlich machen. Mediatorlnnen sind jedoch nicht nur „SchnittstellenmanagerInnen", sondem auch Mitproduzentlnnen, das heifit ursachlich mitverantwortlich fiir die Produktion von kulturellen und okonomischen Werten und gleichzeitig Garanten fiir die Signifikanz der Werke. (Das Kuratorlnnenteam der Documenta 11 beanspruchte explizit diese Rolle.) Mediatorlnnen hiiten die kulturell-normativen Grenzen, bedienen sich ihrer aber auch. (Die normativen Grenzen sind jedoch immer poros und machen die soziale KontroUe des Feldes sehr schwierig.) Hier liegen wohl auch die Wurzeln der spannungsgeladenen Beziehung zwischen Mediatorlnnen und Kunstschaffenden.^^ In ihrer Gatekeeper-Funktion sind Mediatorlnnen auch Publizistlnnen - nicht im journalistischen Sinn -, da sie den Zugang zur Offentlichkeit ermoglichen. Boris Groys bemerkt dazu:
45 Siehe Wolff 1993 (1981), 45; DiMaggio 1987b; Moulin 1997 (1992), Kap. V.; Ryan 1992, 114ff.; Zembylas 1997,83f.; Towse 2001, Teil I. Robke 2000,230f. 46 Siehe auch Chiapello 1998.
Kompetenzverteiliing und Konflikte: Das Aufkommen einer neuen Konstellation
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,,Der Mediator reprasentiert nur eine Offentlichkeit, in deren Auftrag er handelt. (...) Er darf nicht nur das geniefien und weiterleiten, was Unm personlich gefallt, beziehungsweise das ablehnen, was ihm personlich nicht gefallt. Seine Betrachtungsweise ist vielmehr neutral und rein technisch. (...) Er redigiert, kauft, verkauft, platziert, verschiebt, stellt aus, oder legt beiseite. (...) Je weniger ein Mediator subjektiv ist, desto besser kann er funktionieren. (...) Fur den Konsumenten ist der Mediator der Produzent par excellence, weil er den Kontext schafft, der die Rezeption jedes einzekien Kiinstlerbeitrags entscheidend bestiimnt.''^^
Dariiber hinaus betatigen sich Mediatorlnnen auch als Produzentlnnen, weil ein grofier Teil der gegenwartigen Eventkultur (von den Blockbuster-Ausstellungen, Multimedia-Musicals, Snowboard-Partyshows und Festspielen aller Art bis zu den bunten Paraden und Strafienziigen bei diversen Gelegenheiten) eher die Handschrift von Eventmanagerlnnen als die von Kunstschaffenden tragt.^s Dem Aufkommen dieser neuen Berufsklasse begegnen die meisten Kunstschaffenden mit einer eher missbilligenden Ambivalenz. Diese Ambivalenz ist nicht primar durch ideologische Vorurteile getrieben, sondem griindet auf der Verargerung iiber die schleichende Machtverschiebung. Es ist kein Zufall, dass seit einigen Jahren viele bildende Kiinstlerlnnen die Ubermacht der Kuratorlrmen im Ausstellungsbetrieb beklagen - Matthias Poledna schreibt dazu: „Mit dem Modell des Kurators wie es sich in den vergangenen Jahren durchgesetzt hat, ist grundsatzlich nicht viel anzufangen. Von daher muss man daran arbeiten, dieses Modell, nicht unbedingt Kuratoren generell, durch andere Organisations- und Produktionsformen obsolet zu machen, allerdings ohne sich damit selbst in Off-Raume wegzumarginalisieren. "^9
Isabelle Graw vermerkt ebenfalls, dass Kuratorlrmen Zu- und Festschreibungen verbreiten, die sie als illegitime Interventionen kritisiert: „Ihr Anteil am Ergebnis [d.h. an der Ausstellung; Anmerkung T.Z.] ist so hoch, dass ihre manifesten Absichten den Charakter von kiinstlerischen
47Groysl997,151. 48 Siehe Schulze 1993, Kap.9; Gebhardt/Hitzler u.a. 2000. 49 Poledna 1998,63.
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Intentionen annehmen/'so Georg SchoUhammer schreibt ebenfalls: „Wenn ein Kurator oder eine Kuratorin sich selbst als Teil des kiinstlerischen Prozesses darstellt, (...) scheint es vorerst einmal die alten Machtiind Entfremdungsverhaltnisse zwischen den Kiinstlerlnnen und den Vermittlerlnnen aufzuheben". Doch die Strategie der Kuratorlnnen, so SchoUhammer weiter, sei es, aus dem kiinstlerischen Potenzial Kapital fiir sich zu schlagen: „Aus der Krise der traditionellen Institutionen, in Jahren des schwachen Marktes und der schrumpfenden Haushalte, sind sie [die Kuratorlnnen] zu den Hoffnungstragem geworden. Mittlerweile lassen selbst Galerien ihre Verkaufsraume vielfach von Kuratorlnnen dekorieren."5i Hier zeigt sich, dass die Kompetenzverschiebung im Hinblick auf die Prasentation einer kiinstlerischen Leistung und die damit einhergehende Einflussnahme auf die Rezeption ein grofies Konfliktpotenzial in sich birgt. Konflikte entstehen nicht dadurch, dass die Beteiligten auf unterschiedliche Wissensressourcen, Mentalitaten und einen andersartigen Arbeitsstil zuriickgreifen, sondem vor allem dadurch, dass beide Seiten eine FiihrungsroUe beanspruchen. Der Antagonismus wird aber auch von der gegenseitigen Abhangigkeit sowie von der Notwendigkeit iiberlagert, vielfaltige Kooperationen einzugehen. Beide sind regelmafiig gezwungen sich konkreten Interessen zu unterwerfen, zumal sich viele kulturelle Veranstaltungen nach den Bediirfnissen der Institutionen, der Sponsorlnnen, der vorhandenen Kapazitaten und Ressourcen sowie der Nachfrage richten.^^ AUgemein gesprochen verschiebt sich das Machtverhaltnis zugunsten der Kulturmanagerlnnen analog zum Finanzierungsaufwand eines Projektes. Die Arbeitsteilung zwischen Produktkonzeption, Realisierung und Vermarktung wird umso konfliktreicher, je dringender eine konsistente Produktpolitik notwendig wird, um die Warentransformation und
50 Graw 1999,80. 5^ SchoUhammer, Georg in Springer - Hefte fiir Gegenwartskimst, Heft 1, Bd. U, 1996,37f. 52 Zu den Einflussfaktoren bei der Programmgestaltung in anderen Kxinstsparten siehe Giller 1995,102.
Kompetenzverteilimg und Konflikte: Das Axifkommen einer neuen Konstellation
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die Kompatibilitat mit spezifischen Anforderungen zu gewahrleisten.^^ Kulturmanagerlnnen bieten ihre Dienste an, well sie wie nur wenige andere Berufsgruppe mit den Schlagwortem „Qualitatssicherung" und „Effizienzerhohung" assoziiert werden. Der Akzeptanzgrad von Mediatorlnnen bzw. Kulturmanagerlnnen zeigt sich in der Sprache der politischen Offentlichkeit recht deutlich.54 Dass samtliche Versprechungen, die durch den Einsatz von Mitteln, die durch gutes Management und hoheren Organisationsgrad erreicht werden soUen, tatsachlich eintreten, ist nicht zwingend^s; vielmehr gehort dieser Glaube zur Ideologie jenes wirtschaftsorientierten Gesellschaftssegments, das ein einseitiges Verstandnis von Nutzen und Leistungswert hat - siehe Unterkap. 13.9.
53 Siehe a u d i Klein 2001,51. 54 Siehe Boltanski, 1982; Maclntyre 1995 (1981), 102ff.; Townley, Barbara (2001): ^Strategic Performance Management Systems: Managing as a Character of Modernity'', Vortrag fur den Workshop „Personal, Organisation, Poststructuralism'', Universitat Innsbruck, Juni 2001, (http:/ /iol.uibkac.at/conference/townley.pdf, verfugbar am 20.09.2001). 55 Zur Analyse von Flops in der Mtisik- und Fiknindustrie siehe z.B. Caves 2000 und De Vany/Wallis 1999,285-318, Tschmuck 2003,325.
12 Marksteine fiir die Erklarung und Interpretation des sozialen Handelns im Kulturbetrieb
12.1
Das Normative im Sozialen - Kurzer theoriehistorischer Aufriss eines Problems
Ein grofier Tell des menschlichen Verhaltens ist standardisiert und routinisiert. Zugleich macht der tief verwurzelte Glaube an die Individualitat der Handelnden die Erklarung der Handlungsregularitat schwierig. KeinE Handlungstheoretikerin will sich heutzutage dem Vorwurf des Determinismus aussetzen - und trotzdem gehort die Einsicht, dass das soziale Umfeld das alltagliche Tun und Lassen der Menschen weitgehend bestimmt, zu den Gemeinplatzen der Sozial- und Kulturwissenschaften. Weder die Anthropologie noch die Handlungstheorie konnen daher auf ein Kegel- und Normkonzept verzichten - das gilt in besonderem Mafie auch fiir die Kulturbetriebslehre. In den folgenden Abschnitten werde ich die explanatorische Potenz beider Konzepte darlegen und erlautem, worin sie das Handeki konstituiert und reguliert sehen. Beginnen werde ich mit einem kurzen Uberblick einiger theoretischen Positionen. Georg W.F. Hegel hat zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Naturlehre neuzeitlicher Gesellschaftstheorien, namlich der Annahme, dass soziale Regeln ihren Ausgangspunkt in der Natur des Menschen (Instinkte und Bediirfnisse) haben, ausdriicklich widersprochen. In seinem Hauptwerk „Phanomenologie des Geistes" (1807) betrachtet er gesellschaftliche Regeln - Hegel bezieht sich primar auf Rechtsnormen - als Ausdruck und Manifestation eines umfassenden und allgegenwartigen Weltprinzips, das er „Weltgeist" nannte. Karl Marx iibemahm Hegels holistische Auffassung der sozialen Welt und insistierte mit vergleichbarer Vehemenz auf einem sehr engen Zusammenhang zwischen individueller Subjektivitat und realen gesellschaftlichen Prozessen. Normen stellen gemafi der Marx'schen Auffassung keine Ideale, d.h. Produkte der Vernunft bzw. des „Geistes" dar, sondem „das im Menschenkopf umgesetz-
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Marksteine fiir die Erklarung tind Interpretation des sozialen Handelns
te ixnd iibersetzte Materielle".i Marx spricht folglich von der Interdependenz von Normen und Handeln: Normen pragen das menschliche Handeln und werden selbst durch menschliches Tun erzeugt.2 Durch sein dialektisches Denken vermeidet Marx einen allzu strikten Determinismus und spricht implizit den Menschen die Moglichkeit zu, die sozialen und normativen Verhaltnisse zu verandem. Im Unterschied zum politischen Anspruch der Marx'schen Gesellschaftstheorie ist das Werk Emile Durkheims vom Ideal einer positivistischen Wissenschaft gekennzeichnet. Normative Vorstellungen, Gewohnheiten und Konventionen sind fiir ihn „soziale Tatsachen", die ein Eigenleben haben, und daher nicht durch einen politischen Willen bestimmt Oder verandert werden konnen.s Grundsatzlich betrachtet Durkheim samtliche normative Inhalte nicht als aufierliche, akzidentelle Attribute. Vielmehr sind sie wesentliche Bestandtelle jeder sozialen Gemeinschaft imd gelangen mittels Erziehung (Familie, Schule, Kultur etc.) auch in das „Innere" jedes einzelnen Mitglieds. Dort schlagen sie Wurzeln und werden im wortlichen Sinn einverleibt - Bourdieu spricht im Anschluss an Durkheim von der „Somatisierung von sozialen Regeln".^ Durkheim fasst folglich individuelle Handlungen als Glieder in einer endlosen Kette von Internalisierungs-, Extemalisierungs-, und Reprasentationsvorgangen auf, die die soziale Ordnung wiedergeben. Mit seiner Verinnerlichungstheorie erklart Durkheim, warum (fast) alle Mitglieder einer Gruppe sozusagen freiwillig und spontan die sozialen bzw. kulturellen Regeln befolgen - man denke beispielsweise an Begrul?ungsfor-
1 Im Nachwort der zweiten AuQage (1873) von „Das KapitaF', in Marx/Engels 1969ff., Bd. 23,27. 2 „[W]ie die GeseUschaft selbst den Menschen als Menschen produziert, so ist sie durch ihn produziert.'' (Marx, Karl: „Okonomisch-Philosophische Maniiskripte'' (1844), in Marx 1966, Bd. 2, 77.) Diese Uberlegtmgen ahneln Antony Giddens' These iiber die „Dualitat von Struktiiren''. Soziale Struktiiren sind demnach zugleich Medium wie auch Ergebnisse menschlichen Handelns. (Giddens 1997 (1984), 246.) 3 Siehe Durkheim 1970 (1895), 106ff. 4 Bourdieu Pierre: „Die mannliche Herrschaft^', in DoUing/Krais 1997,162.
Das Normative im Sozialen - Kurzer theoriehistorischer Aufriss eines Problems
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men, Verwandtschaftsregeln, Tauschregeln u.a. Durch die Kultur bewahren soziale Systeme eine gewisse Stabilitat, die erst dann aus dem Gefiige gerat, wenn eine tiefe, endogen oder exogen hervorgerufene Krise eintritt, die zur Anomie fiihrt. In diesem Sinne kann die Kultur metaphorisch als Identitatsanker bezeichnet werden. Das Konzept der Soraatisierung von sozialen Regeln ist sehr einleuchtend, wenn wir beispielsweise an die unterschiedlichen Korperschemata von Mannem, Frauen oder Angehorigen unterschiedlicher sozialer und kultureller Gruppen denken. Diese sozial vermittelten Korperschemata reprasentieren, wie es Merleau-Ponty ausdrtickt, „das ZurWelt-Sein meines Leibes"5, also die prareflexiv intentionale Zuwendung eines Individuums zu seiner sozialen Umwelt. Das Eindringen von Normen und sozialen Strukturen in den Leib deutet auf die untilgbare Prasenz eines PraxiskoUektivs hin. Der Denk- und Handlungsraum, der die Kultur generiert, wirkt bei jedem Mitglied des KoUektivs wie eine „transzendente Autoritat".^ Die hier entstehende Frage nach der Freiheit bzw. Determiniertheit des individuellen Handelns durch das soziale Milieu bejaht Durkheim, obgleich er differenziert: Normen iiben durch ihren obligatorischen Charakter gro6en Druck auf die Menschen aus. Die Individualitat der Einzelnen ist um so geringer ausgepragt, je starker der Verinnerlichungsprozess bzw. das KoUektivbewusstsein ist - das ist seiner Meinung nach in traditionellen Sippengemeinschaften eher der Fall als in den modernen Massengesellschaften. Dort konstatiert er eine gegenteilige Tendenz hin zu partikularistischen Normen, die einen breiteren Spielraum und individuelle Initiativen zulassen. „Wenn in den niedrigen Gesellschaften in der Tat der individuellen Personlichkeit ein so geringer Platz eingeraumt wird, so rdcht danim, weil diese itnterdriickt oder kiinst-
5 Merleau-Ponty 1966 (1945), 126. 6 Durkheim 1988 (1893), 134; siehe auch Schatzki 1996, 90. Foucaults Konzept der GouvernementaHtat weist viele verborgene Beziige zu Durkheims Atiffassung der sozialen Ordnung auf. Siehe Foucault, Michel: „Die 'GouvemementaHtat',, (1978), in Foucault 2003, 796-823.)
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lich zuriickgedrangt worden ware, sondem, einfach, weil sie zu diesem Zeitpunkt nicht existiert hat. (...) Individualitat [ist eine] Frucht der historischen Entwicklung. (...) Sie hat nichts Asoziales, weil sie ein Produkt der Gesellschaft ist.''^
Von Durkheims Gedanken ging eine vielfaltige Inspiration fiir spatere Sozialwissenschafterlnnen aus. Insbesondere die Auffassung von der normativen Pragung des Handelns hat eine theoriewirksame Entfaltung erfahren. Talcott Parsons hat dem Durkheim'schen Ansatz ubemommen und ihn um die kulturelle Dimension des Sozialen (Max Weber) und die Psychoanalyse (Sigmund Freud) erweitert. Parsons raumt dabei dem gesamten Bereich des Normativen eine zentrale Rolle ein: „There is no such thing as action except as effort to conform with norms (...) The voluntaristic system [so begriff er 1937 seine Theorie] does not in the least deny an important role to conditional and other non-normative elements, but considers them as interdependent with the normative."8
Im weiteren Ausbau seiner Handlungstheorie schreibt Parsons sozialen Normen eine doppelte Bedeutimg zu: Auf der einen Seite unterstiitzen Normen die exteme Anpassung des Handelns an die Realitatserfordernisse und fordem damit soziale Konfom\itat. Sie strukturieren nienschliche Interaktionen, indem sie sozial legitime RoUen und Handlungsanleitungen generieren. Auf der anderen Seite ist die Normorientierung selbstreferenziell und dient der Aufrechterhaltung normativer Grundmuster.9 Durch die Theorie der Interpenetration von Kultursystemen (Werte), Sozialsystemen (Normen) und Personlichkeit (RoUen, Identitat) und den Hinweis auf die Selbstreferenzialitat der Normen entscharft Parsons den obligatorischen Charakter des Normativen. Die Intemalisierung sozialer Normen ist auch innerhalb des Symbolischen Interaktionismus und der phanomenologisch-interaktionistischen
7 Durkheim 1988 (1893), 250,255,340. 8 Parsons 1961 (1937), 82. 9 Siehe Parsons/Shils/Bales 1953, 172; Parsons, Talcott: „Grundzuge des Sozialsystems'' (1961), in Parsons 1976,179-181 und 192f.; sowie Miinch 1982,64-77.
Das Normative iin Sozialen - Kurzer theoriehistorischer Axifriss eines Problems
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Theorie intensiv diskutiert worden.io Peter Berger imd Thomas Luckmann betonen, dass Extemalisierungs- (= Normenbildung) und Intemalisierungsvorgange (= Normenverinnerlichung) immer dem Handeln vorausgehen. Die Handlungstheorie kann menschliches Tun nicht verstehend erklaren, ehe sie die Riickkoppelung des Individuums an die Gesellschaft begreift. Um diese Riickkoppelung zu erfassen, greifen die Autoren auf das aus der hermeneutischen Phanomenologie stammende Konzept der Vorstruktur des Verstehens zuriick." Jedes Verstehen und im weiteren Sinne jede Handlung haben ihren Ausgangspunkt bei Deutungen und Vorurteilen, die das Individuum im Laufe seiner Sozialisation unhinterfragt iibernimmt. Dieses Vorverstandnis korrespondiert mit der praktischen und symbolischen Ordnung der Gesellschaft.12 Der Symbolische Interaktionismus geht von einer nicht-individualistischen und nicht-kognitivistischen Position aus und betrachtet soziales Handeln grundsatzlich als Gruppenaktivitat. So deklariert George Herbert Mead seinen handlungstheoretischen Ansatz als einen Versuch, „das Verhalten des Individuums im Hinblick auf das organisierte Verhalten der gesellschaftlichen Gruppe [zu] erklaren, anstatt das organisierte Verhalten der gesellschaftUchen Gruppe atis der Sicht des Verhaltens der einzelnen Mitglieder erklaren zu wollen/'i3
Die pragmatistische Perspektive, die Mead einnimmt, besteht darin, dass er das Mentale (Vorstellungen, Interpretationen, Bewertungen, Absichten) aus der sozialen Interaktion ableitet, und nicht umgekehrt. Um menschliches Handeln zu ermoglichen und zu harmonisieren (d.h. es mit dem Verhalten anderer Mitmenschen abzustimmen) bedarf es eines
10 Siehe Mead 1973 (1934); Berger/Luckmann 1969. Fiir einen aUgemeinen UberbUck siehe auchJoasl999. 11 Siehe Heidegger 1993 (1927), § 32; sowie Schiitz 1974 (1932), 112. Heidegger begreift die Vorstruktur des Verstehens als rntersubjektiv, jedoch nicht als transsubjektiv und tiniverseU, wie beispielsweise die strukturale Anthropologie von Levi-Strauss. 12 Siehe Berger/Luckmann 1969, 70. 13 Mead 1973 (1934), 45; siehe auch Joas 1992,28ff.
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normativen Korpers. Diesen reprasentieren soziale Institutionen, die auf der Basis von gesellschaftlich verbreiteten und iiber langere Zeit wirkenden Interaktionen und Handlungsmustem entstehen. Interaktionen sind also elementare Bestandteile der Gesellschaft, denn ohne Interaktionen sind auch keine Institutionen und keine andere stabilen Strukturen moglich.i4 Institutionen bilden dariiber hinaus implizit und explizit Regeln, die auf das individuelle Handeln konstitutiv und regulativ wirken. Die Beziehung zwischen Regeln und individuellem Handeln hat die Form einer „unscharfen Relation". Diese Metapher soil zum Ausdruck bringen, dass wir keine strikte kausale Beziehung zwischen Regeln und Handeln (und daher auch keine Prognostizierbarkeit) begriinden konnen siehe auch Unterkap. 12.4. Menschliches Handeln impliziert Offenheit und Indeterminismus; mit Hannah Arendt gesprochen bedeutet Handeln „un urspriinglichsten und allgemeinsten Sinne" die Moglichkeit, etwas Neues anzufangen, etwas in einer anderen Art und Weise zu tun.i^ Darin liegt der Unterschied von Meads pragmatistischen Auffassung zur koUektivistisch-normativistischen Auffassung Durkheims und Parsons', die den Normen vor allem eine repressive und einschrankende Funktion zuschreiben.i6 Gewiss, es besteht kein Zweifel daran, dass Normen und Sanktionsandrohungen enormen Druck auf die Individuen ausiiben und daher aus einer normativistischen Sicht haufig als kausale Ursachen des Verhaltens gesehen werden. Das Problem liegt darin, dass Durkheim und Parsons die Bedeutung von Normen und Institutionen zu sehr in den Vordergrund stellen und das Handeln vorwiegend in einem funktionalen Zusammenhang mit dem Normativen begreifen. Was ihnen gewissermafien fehlt, ist der interpretative Zugang, der zeigen kann, dass sich die Formation von partikularen Artikulationen, Wahmehmungen,
14 AhnHch auch Bloor 1997,34. 15 Siehe Arendt 2001 (1958), 215; siehe auch Joas 1996. 16 Kritik am Normativismus von Durkheim imd Parsons libt auch Giddens 1997 (1984), 222-228 und Mtinch 1982,195f. Zur Indeterminiertheit des Handelns siehe auch Foucault 1974 (1966), 14.
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Urteilen und Handlimgen nach einer Unzahl von Parametem richtet, die den normativen Kontext weit iiberschreiten. Eine weitere Analyse der Beziehung zwischen dem Normativen und dem Sozialen wurde von Antonio Gramsci entwickelt. Gramsci unterscheidet zwischen einer immanenten und einer normativen Grammatik des Sozialen. Die immanente Grammatik umfasst das explizite, formale Regelwerk der Gesellschaft. Die normative Grammatik ist hingegen verdeckt und implizit. Sie zeigt sich indirekt in der gegenseitigen KontroUe, die in Fragen wie „Was meinst du eigentlich?", „Was willst du damit erreichen?'' sowie in Aufforderungen „Erklare dich besser!", „Benimm dich!", „Rei6 dich zusammen!" ausgedriickt wird. Die Bewusstmachimg des Verhaltens ist Teil einer KontroUtechnik, die Gramsci als Herrschaftstechnik deutet.i^ In der Folge verkniipft Gramsci die normative Grammatik mit seinem Hegemoniekonzept: „Man konnte ein Bild der 'norm^ativen Grammatik' skizzieren, die spontan in jeder gegebenen Gesellschaft wirkt, sofem diese eine Vereinigungstendenz aufweist, sei es in bezug auf das Territorium oder auf die Kultur, d.h, sofem eine fiihrende Schicht existiert, deren Fnnktion anerkannt wird und Anhangerschaft findet/'^^
Die normative Grammatik des Sozialen hat demzufolge die Funktion, die unendliche Mannigfaltigkeit von moglichen Handlungen einzugrenzen und ein Feld von politisch konformen Handlungsoptionen zu schaffen. Dieses Handlungsfeld wirkt zugleich gemeinschaftsstiftend, daher unterstreicht Gramsci die politische Dimension der impliziten Regeln. Die Ausdifferenzierung des Regelbegriffs in explizite (^immanente Grammatik") imd in implizite Regeln („normative Grammatik") ist bemerkenswert, weil sie dem doppelten Charakter von Institutionen entspricht. Wie ich an anderer Stelle ausgefiihrt habe (siehe Unterkap. 4.1
17 Gramsci, Antonio: „Aus den Gefangnisschriften" (Heft 29,1935), in Gramsci 1991, 265f. Eine ahnliche Deutung findet sich auch im Werk Foucaults - siehe Hutton, Partick: „Foucault, Freud und die Technologien des Selbst" (1988), in Foucault/Martin 1993,144167. IS Gramsci, Antonio: „Aus den Gefangnisschriften'' (Heft 29,1935), in Gramsci 1991,260.
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Marksteine fiir die Erklarung tmd Interpretation des sozialen Handelns
und 4.2), haben Institutionen stets eine symbolische und eine praktische Dimension. Sie existieren und reproduzieren sich sowohl symbolisch durch explizite Normen als auch praktisch durch implizite Regeln, die das AUtagshandeln in einer unsichtbaren und diskreten Weise pragen. 12.2
Die Auslegung der Regelhaftigkeit des Handelns
Betrachten wir beispielsweise das Verhalten von Angestellten gegeniiber Vorgesetzten. Es gibt viele individuelle Variationen, aber ein strukturierender Blick kann gewisse Muster erkennen, z.B. regelmafiigen Blickkontakt als Zeichen erhohter Aufmerksamkeit, Demonstration von Zuriickhaltung und Respekt durch leiseres Sprechen, freundliches Anlacheln, haufiges Vorkommen bestimmter Hoflichkeits- oder Anbiederungsformen, hohere Zustimmungsbereitschaft oder das Gegenteil, namlich latentes Misstrauen usw. - das alles sind konventionalisierte Verhaltensformen. Solche Formen, die wir regelmafiig beobachten konnen, bedeuten Regularitat. Es empfiehlt sich, hier zwischen einer Art von Regularitat, die statistische Haufigkeit meint (z.B. „Ich trinke zwei Tassen Kaffe pro Tag")/ und einer zweiten Art, die aus der Befolgung von Regeln entsteht, zu unterscheiden. Die zweite Art ist komplexer als es im ersten Moment vielleicht scheinen mag. Ihre Komplexitat wird klar, wenn wir den Regelbegriff genauer analysiert haben. In der AUtagssprache versteht man unter „Regeln" Vorschriften und Normen (Verkehrsregeln, Spielregeln u.a.) sowie Formeln (logische Ableitungsregeln, syntaktische Regeln u.a.). Der Regelbegriff wird auch mit nicht-kodierten gesellschaftlichen und kulturellen Regeln (Tauschregeln, Benimmregeln, Kochregeln, Kleidungsusancen) assoziiert. Diese Art von Regeln haben meist einen impliziten und unausgesprochenen Status. In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird der Regelbegriff allerdings wieter aufgefasst; man spricht von Verwandtschaftsregeln, von den Regeln der Liebe, der Selbstdarstellung und der kommunikativen Interaktion, der Kunst usw. Der vielfaltige Gebrauch des Regelbegriffs verweist auf die verschiedenen Formen, die Regeln haben konnen: Definitionen, Prinzipien, Konventionen, Formeln, Gesetze, Anweisungen, Empfehlungen. Ihr Vorhandensein und ihre Wirksamkeit sind ebenfalls variabel. Regeln konnen kodiert sein oder in aller Stille wirken, ihre Missachtung kann schwache oder starke Sanktionen nach sich ziehen, sie konnen gehauft und systematisch oder relativ zufallig vorkommen. Trotz ihrer
Die Aiislegimg der Regelhaftigkeit des Handelns
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Vielfalt iind Verschiedenartigkeit haben Regein etwas Gemeinsames: Sie konstituieren und regulieren, produzieren und reproduzieren soziale Praktiken. Alle Menschen, die ein Set von Regein akzeptieren bzw. befolgen, bewegen sich in einem gemeinsamen, regulierten Handliingsraum. Dieser gemeinsame Raum gestattet ihnen, bestimmte Regein als Grund anzugeben, um eine Handlung zu legitimieren, zu verteidigen oder zu kritisieren. Gegen Ende der 1950er Jahre hat Peter Winch mit der These, dass „jedes sinnvoUe (und darum spezifisch menschliche) Verhalten ipso facto von Regein geleitet ist" ^^ eine lange Diskussion ausgelost. Die Grundannahme seiner Auffassung besteht darin, dass Regein - egal ob sie explizit oder implizit sind - und das Befolgen von Regein die soziale Praxis bilden. Umgekehrt schaffen soziale Praktiken selbst Sets von Regein, die w^ie ein Flussbett das individuelle Verhalten in bestimmte Richtungen lenken. Winch betont deshalb die Wechselbedingtheit imd Dualitat von Praxis und Regein. Die These vom regelgeleiteten Verhalten begreift Regein aus einem methodologischen Blickpunkt: Nicht das Was einer Handlung, sondern das Wie, das heifit der Handlungsprozess, riickt in den Vordergrund. Die Erfassung und Benennung der zugrunde liegenden Regein des Handelns ist jedoch nicht immer einfach. „Nur in einer Situation, in welcher sinnvoU angenommen werden kann, dass ein anderer im Prinzip in der Lage ware, die von mir befolgte Regel zu entdecken, kann man verniinftigerweise sagen, dafi ich eine Regel befolge" notiert Winch.^o Damit ist aber das Problem nicht wirklich beantwortet. Die grol?te Schwierigkeit bereitet die Tatsache, dass viele kulturelle Regein nicht kodifiziert und den Akteurlnnen kaum bewusst sind. Solche impliziten, verborgenen Regein konnen erst dann leichter lokalisiert und erkannt werden, wenn
^9 Winch 1974 (1958), 69. Mittlerweile ist die Auffassung der Kultur als „ein durch Regein geleitetes Verhalten'' auch von anderen Forscherlnnen ubemommen worden - siehe z.B. Habermas 1981, Bd. 2,31-39 sowie Baecker 2000,60f. 20 Ebd. 45f.
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Marksteine fiir die Erklarung und Interpretation des sozialen Handelns
wir iinsere Aufmerksamkeit auf Handlimgen richten, die sanktioniert werden. Das Fehlermachen bei der Interpretation und der Anwendung einer Kegel sowie der absichtsvoUe Verstofi gegen Regeln sind der Regelbefolgimg inharent. Eine auferlegte Sanktion weist darauf hin, dass die Mitglieder eines PraxiskoUektivs diese Handlung als nicht-regelkonform wahrgenommen haben. Somit konnen wir Indizien liber die unausgesprochenen Regeln eines Praxisfeldes gewinnen. 12.3
Konzeptuelle Ausdifferenzierung des Regelbegriffs
Eine Autof ahrerin befolgt die Verkehrsregeln. Ein Regisseur halt die vereinbarten Terrainverpflichtungen wahrend der Dreharbeiten ein. Eine Galeristin bewirtet bei Vemissagen die Besucherlnnen stets grofiziigig. Ein Spitalarzt achtet peinlichst genau auf die Desinfektionsvorschriften. Eine Museumsdirektorin begriifit morgens ihre Mitarbeiterlnnen hoflich, gelegentlich schiittelt sie ihnen auch die Hand. Das sind verschiedene Beispiele von Regelbefolgung. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Beispielen soUen nicht als kategoriale Wesensunterschiede verstanden werden, vielmehr geht es hier um mehrere charakteristische Aspekte, die je nach sozialer Situation in unterschiedlicher Mischung und Intensitat vorkommen. Normen reprasentieren jenen Typ von Regeln, die Interessen und Regulierungsanspriiche unmittelbar ausdriicken. Als Beispiel fiir Normen konnen Rechtsnormen, religiose Vorschriften sowie explizite Verhaltensimperative innerhalb geschlossener Gruppen und Organisationen, wie Geheimbiinde, Sekten, Militar angefiihrt werden. Normen diktieren, was getan werden muss; daher lautet ihre allgemeine Formel: Diese oder jene Handlung ist in diesen oder jenen Umstanden fiir diese oder jene Personen erlaubt/verboten/geboten. Der verpflichtende Charakter von Norm^en steht im Vordergrund, deshalb werden Normen von Zwang und Sanktionsandrohung begleitet. (Wenn ein SoUsatz nicht mit Sanktionen verkniipft ist, dann stellt er keine Norm im oben genannten Sinn dar, sondern ein Prinzip oder eine Maxime mit Appell- oder Empfehlungscharakter.) Der herrschende Zwang ist objektiv, well er den Mitgliedem des Kollektivs allgemein bekannt ist. Viele kulturelle Regeln haben, anders als ausformulierte Normen, einen mehr oder weniger impliziten Status und wirken ohne verbindliche Kodifizierung. Das minimiert keinesfalls ihre Bedeutsamkeit. Neh-
Konzeptuelle Ausdifferenzierting des Regelbegriffs
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men wir als Beispiel die Institution der Ehe. Das Eherecht regelt die Ehe nur soweit, als es die Zugangsbedingungen, die Rechte und Pflichten und das Scheidungsverfahren bestimmt. Es enthalt alles, was wir tun oder erfiillen miissen, um den Bund der Ehe einzugehen oder aufzulosen. Die eheliche Partnerschaft als Lebenspraxis wird aber weitgehend von moralischen und kulturellen Regeln gepragt. Es sind eigentlich diese Regeln und nicht das formal kodifizierte Eherecht, die die konkrete Gestalt eines ehelichen AUtagslebens (RoUen, Kompetenz- und Machtverteilung, Sexualitat, Umgangsformen) bestimmen. Solche Regeln pragen das Verhalten; umgekehrt transformieren soziale und kulturelle Praktiken die impliziten Regeln einer Institution. Interaktionen, Regeln und Institutionen beziehen sich daher wechselseitig aufeinander.^^ Die Unterscheidung zwischen regulativen Normen und konstitutiven Regeln22, die oben angedeutet wurde, besteht darin, dass manche Normen in bereits praktizierte Gewohnheiten und Institutionen eingreifen, um sie zu lenken, wahrend andere Regeln ein Praxisfeld iiberhaupt erst eroffnen, indem sie es definieren. Diese Distinktion wurde bereits in der aristotelischen Ethik durch das Konzept der sittlichen Einsicht (phronesis) mitbedacht. Aristoteles sah die Forderung des sittlichen Lebens als oberstes Ziel der Polls. Sittlichkeit ist jedoch nicht voUstandig formalisierbar, weshalb Gesetze das sittliche Handeln (eupraxia) niemals voUstandig bestimmen konnen. Aristoteles benutzt das Konzept der sittlichen Einsicht, um hier auf die Notwendigkeit einer „praktischen Weis-
21 Siehe auch Charles Taylor: „To FoUow a Rule" (1992) in Taylor 1995,177f.; Bloor 1997,34; Dworkin 1990 (1977), 96f. 22 Die Verwendiing des Begriffspaares konstitutiv/regulativ findet sich meines Wissens zuerst bei John Searle (1990 (1969), 54-60). John Rawls schrieb aUerdings bereits 1955 iiber den logischen Unterschied zwischen der Begriindung einer Praxis itnd der Bestimmnng einer einzebien Aktion, ohne jedoch die Begriffe „konstitutiv'' und „regulativ'' zu gebrauchen. (Siehe Rawls 1955, 3-32; ahnlich auch Winch 1974 (1958), 36ff. und Black 1981 (1962), Kap. 4-5.)
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Marksteine fiir die Erklanong und Interpretation des sozialen Handelns
heit" und Handlungskompetenz hmzuweisen.23 Sittliche Einsicht meint nicht das Wissen liber die Rechtmafiigkeit und Gesetzeskonformitat unseres Tun und Lassens, sondem das Konnen, in partikularen Situationen differenziert zu agieren und dem Einzelfall gerecht zu werden. Aristoteles stellt folglich das sittliche Handeln in engste Beziehung zu Tugenden (arete) und zum intellektuellen Vermogen, soziale Begebenheiten verstehend zu analysieren und einzuschatzen (euboulia).24 Sittliche Einsicht ist also durch Tugenden und den intellektuellen Scharfsinn geleitet, wobei die zugrunde liegenden Regeln groiStenteils implizit sind. Diese Regeln sind konstitutiv, weil sie nicht aufierhalb der sittlichen Praxis stehen. Sie existieren in der Praxis, die sie leiten.25 Die praktische Anwendung solcher Regeln („knowing how") macht oft ihre explizite Kenntnis (^knowing that") teilweise iiberflussig. Diese Einsicht gilt freilich nicht nur fiir das ethische Handeln, sondem auch fiir andere Praxisformen. Die praxiskonstituierende Funktion mancher Regeln macht eine entscheidende Differenz sichtbar: Es gibt Regeln, deren Aufhebung bzw. Modifikation keine bemerkenswerte Veranderung der sozialen Praktiken zur Folge haben; andere Regeln jedoch, die eine Praxis begriinden.
23 Siehe Nordenstam, Tore: „Ethische Kompetenz in pragmatischer Sicht'', in Bohler/ Nordenstam/Skirbekk 1986,202-217. 24 Euboulia (richtige Meinung) muss der Partikiilaritat der EinzelfaUe gerecht werden, deshalb ist sie nicht nur eine theoretische, inteUektueUe Angelegenheit. „Ein Beweis fiir das Gesagte ist, dafi man zwar in der Jugend schon ein Geometer, Mathematiker und uberhaupt in solchen Dinge weise sein kann, nicht aber klug. Die Ursache ist, dafi die Klugheit sich auf das Einzekie bezieht imd dieses erst durch die Erfahrung bekannt wird. Ein jimger Mensch kann aber diese Erfahrung nicht haben, derm sie entsteht nur in langem Zeitraum." (Aristoteles 2000, Buch VI, § 9,1142a 10-16, siehe auch § 8,1141b 14ff.) Praktische Klugheit im Sinn von ethischer Reife (sophrosini) ist dennoch nicht ausschliel^lich an Alter imd Erfahnmgsreichtum eines Menschen gekoppelt. Tugendhaftigkeit und Standhaftigkeit spielen hier eine wichtige RoUe. (Siehe Aristoteles 2000, Buch I, § 1, 1095a Iff. 25 Siehe Charles Taylor: „To Follow a Rule'' (1992) in Taylor 1995, 178; Nordenstam, Tore: „Language and Action'' (1988) in Goranzon/Florin 1990, 68.
Konzeptuelle Ausdifferenzierung des Regelbegriffs
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lassen sich nicht aufheben, ohne damit gleichzeitig den gesamten Handlungsraum zu verandem. Wenn mich jemand fragen wiirde, warum ich beim Schachspiel den Konig stets nur um ein Feld bewege, dann kann ich ihm als Antwort nur eines sagen: Die Spielregeln verlangen es! Die Formulierung der Kegel („Der Konig kann pro Zug immer nur um ein Feld bewegt werden."), die hier ein Aktionsfeld definiert, bedarf keiner Rechtfertigung und ist trotzdem nicht arbitrar. Die Kegel kann nicht einfach durch eine andere Kegel (wie z.B. ein Wort durch ein anderes Zeichen) ausgetauscht werden.^e Vielmehr ist die Kegel durch ihre Formulierung begriindet und ihre Selbstbeziiglichkeit weist sie als konstitutiv aus. Andere Kegeln dagegen - ich nenne sie hier der Einfachheit halber Normen - berufen sich auf eine hohere Instanz, z.B. auf die Verfassung, auf heilige Schriften und Werte wie Gerechtigkeit, Ehre, Vaterland, um ihre Existenzberechtigung zu legitimieren. Der implizite oder explizite bzw. formelle oder informelle Status von Kegeln und Normen sagt jedenfalls nichts liber ihre normative Kraft aus, d.h. dariiber, wie intensiv wir uns an ihnen orientieren. Wir befolgen konstitutive Kegeln, wenn wir an einem Praxisfeld partizipieren. Es gibt keinen unmittelbaren extern generierten Druck, der uns zwingt, solche Kegeln zu folgen. Wenn jemand Fufiball spielt, gehen wir davon aus, dass er/sie die Spielregeln kennt. Wir fragen ihn/sie nicht, ob er/sie sie kennt, denn das muss sich durch seine/ihre Verhaltenweise zeigen. Wir fragen ihn/sie ebenso wenig, ob er/sie gewillt ist diese zu befolgen. Indem jemand das Fufiballfeld als Spielerin betritt, leistet er/sie stillschweigend das Versprechen, die Spielregeln zu befolgen. Wenn der Schiedsrichter einen Kegelverstofi anzeigt, kann es gelegentlich zu einem kurzen Disput kommen, ob sein Urteil richtig ist; liber die Kegel als solche wird aber am Spielfeld niemals debattiert. AUe, die Fufiball spielen, akzeptieren sie. Es konnte jedoch eines Tages ein seltsamer Fall eintreten: Ein Spieler nimmt plotzlich den Ball in die Hand und spielt weiter wie
26 Siehe Black 1981 (1962), 100.
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ein Handballspieler. Vermutlich werden alle anderen im ersten Moment mit Verwunderung reagieren und denken, dass dieser Spieler nicht weifi, was er eigentlich tut. Sein Verhalten, namlich das Verlassen des Spielrahmens bzw. des Praxisfeldes ist aus der immanenten Logik des Spiels nicht erklarbar und es gibt meines Wissens keine explizite Kegel, die diese Situation regelt. Dem Schiedsrichter wird nichts anders iibrig bleiben als den „ver-ruckten" Spieler vom Spielfeld zu verweisen. Gegen diese Entscheidung, die verrautlich von keiner expliziten Kegel gedeckt ist, wird keiner protestieren, denn alle miissen sich einig sein, dass jemand, sobald er/sie Fufiball spielt, gleichzeitig implizit verspricht, alle konstitutiven Kegeln des Spiels zu befolgen. Kegelbefolgen ist eo ipso „eine soziale Tatigkeit" (Bloor) bzw. „eine Praxis" (Wittgenstein) - und dasselbe gilt auch fiir alle kulturellen oder kiinstlerischen Aktivitaten.27 Handeln nach Normen heifit relativ situationsunabhangig einen Imperativ (Gebot oder Verbot) in einer invarianten Weise zu voUziehen z.B. bei Kot miissen alle Autos vor der Ampel stehen bleiben. Trotzdem es gibt auch Normen, die einen grofien Interpretationsspielraum zulassen und erst nach einem differenzierten Urteil iiber die konkrete Situation angewendet werden.^s Man denke hier beispielsweise an die Freiheit der Kunst oder auch an die Verkehrsregel, so zu fahren, dass andere Verkehrsteilnehmerlnnen nicht gefahrdet oder behindert werden. Kompetente Autofahrerlnnen miissen stets das Verkehrsgeschehen im Auge behalten, u m angemessen reagieren zu konnen. Das Wort „angemessen" zeigt die Unbestimmtheit und semantische Offenheit dieser Kegel. Erst im konkreten Fall lasst sich sinnvoll argumentieren, was „angemessen" bedeutet.29 ym diesem letzten Hinweis, dass Normen ebenso komplex
27 Bloor 1997,91;Wittgenstein 1977 (1953), § 202. 28 Tore Nordenstam sprich diesbeziiglich von offenen und geschlossenen Regeki, je nach dem wie interpretationsbediirftig ihre Befolgung ist - siehe Nordenstam, Tore: ,/Language and Action'' (1988) in Goranzon/Florin 1990,66f. 29 Siehe Toulmin 1964 (1958), Kap. Ill und Janik 1994, Kap. „Warranted AssertabHity: Logic in Practice'', 45ff.
Exkvtrs zu Wittgensteins Regelbegriff
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und offen sein konnen, soil nochmals deutlich gemacht werden, dass die begriffliche Unterscheidung zwischen Normen und Regeln keinen Wesensunterschied benennt.^o 12.4
Exkurs zu Wittgensteins Regelbegriff
Durch die Berucksichtigung der unterschiedlichen Arten von Regeln und Regelbefolgung konnen wir soziale Handlungen und Handlungsregularitat differenziert erklaren. Die Beschaftigung mit Wittgensteins Philosophie kann in diesem Zusammenhang fruchtbar sein, weil Wittgenstein viele Aspekte, die hier thematisiert werden, in einer subtilen Art untersucht hat. Wer seine Methodik kennt, weifi, dass er seine Uberlegxingen meist anhand von Beispielen und Gedankenexperimenten entwickelt. In seinem aphoristischen Stil gibt es keinen Platz ftir die Ausformulierung einer geschlossenen Theorie iiber Regeln, das Regelverstehen und Regelbefolgen. Erst bei vergleichender Lektiire der verschiedenen Passagen, die in mehreren posthum erschienenen Publikationen verstreut sind, kann ein Urteil iiber die Koharenz und Plausibilitat von Wittgensteins Argumentation getroffen werden. Wittgenstein begann sich Anfang der 1930er Jahre fiir den Regelbegriff in einer differenzierten Art und Weise zu interessieren und zwar in Zusammenhang mit Fragen iiber die Grundlagen der Mathematik. Gottlob Frege und Bertrand Russell fassten die Mathematik als deduktiv-analytisches bzw. als logisches Kalkiilsystem auf. Diese Auffassung, die spater unter der Bezeichnung Logizismus bekannt wurde, meint, dass mathematische Operationen eine logische Begriindung haben. Wittgenstein hingegen begriff das mathematische Denken als soziales Handeln. Hinter mathematischen Operationen sah er soziale Ubereinkiinfte und Konventionen, aber keine logische Notwendigkeit. „So rechnet man. Und Rechnen ist dies. Das, was wir z.B. in der Schule lemen. Vergifi die-
30 „Der Gebrauch des Wortes 'Regel' [... ist] ein Schwankender (nach den Randem zu verschwindender)/' (Wittgenstein 1969, IV-55.)
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Marksteine fiir die Erklanmg und Interpretation des sozialen Handelns
se transzendentale Sicherheit, die mit dem Begriff des Geistes zusammenhangt/', schreibt er.^i Unser Gefiihl von absoluter Gewissheit iiber die Richtigkeit des Satzes „2 + 2 = 4" basiert demnach auf der verinnerlichten Ubemahme der etablierten mathematischen Praxis. Daher charakterisiert Wittgenstein polemisch die Insistenz auf die logisch zwingende Notwendigkeit, dass „2 + 2" „4" ergibt, als eine „etwas hysterische Ausdrucksweise der Universitatssprache".32 Einige Jahre spater iibertrug er diese Uberlegungen auf die Sprache bzw. das Sprachverhalten und das soziale Verhalten iiberhaupt. Eine Kegel, wie Wittgenstein diesen Begriff meist versteht, ist nicht mit einer Norm gleictizusetzen. Eine Kegel markiert vorerst nur ein Handlungsfeld. Dieses Handlungsfeld begreift er a priori als sozial, weil es durch koUektive Partizipation geschaffen wird. „Ist, was wir 'einer Kegel folgen' nennen, etwas was nur ein Mensch, nur einmal im Leben tun konnte?", fragt Wittgenstein.^^ Natiirlich nicht, denn Kegeln und ihre Anwendung sind immer in einen sinnstrukturierten Kontext eingebettet, der offentlich und gemeinschaftlich ist - siehe auch Unterkap. 2.4. Um zu wissen, wie man eine Kegel am besten befolgen soil, muss man ein „Gespur" (einen praktischen Sinn) entwickeln, worum es in einem bestimmten Tatigkeitsfeld geht, wie andere Akteurlnnen handeln, welche Interesse und Gewohnheiten sie haben und wie sie verfahren, wenn sie ihre Ziele realisieren mochten. Die Vermittlung dieses meist impliziten Wissens steuert haufig die Praxis selbst bei. Indem sich jemand blofi in einem praktischen Handlungsfeld befindet und daran teilnimmt, geschieht die Wissensvermittlung auf eine unspezifizierbare Weise fliel?end
31 Wittgenstein 1994a (1969), § 47; siehe auch § 140-142, sowie Wittgenstein, 1977 (1953), § 199 imd § 201. 32 Wittgenstein 1994b (1967), § 299. Wenn das Befolgen mathematischer Regeki tatsachlich eine rein logische Operation ware, dann miisste jemand, der den Satz „2 + 2 = 4'" versteht, potenziell auch die gesamte Mathematik beherrschen. Kritik an der Auffassung der Mathematik als die Summe ihrer Regeki findet sich auch in Kripke 1982,53f. 33 Wittgenstein 1977 (1952), § 199, siehe auch Winch, Peter: „Text und Kontext'' (1982), in Winch 1992,38.
Exkiirs zu Wittgensteins Regelbegriff
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von innen her. Das „Ich" ist also keine Instanz hinter dem Handeln iind deshalb gibt es auch keine „Privatheit" im Bezug auf Regelbefolgen und sinnvolles Handeln. Ahnliche Uberlegungen haben auch Sozialwissenschafterlnnen, zum Beispiel Pierre Bourdieu und Erwing Goffman entwickelt, die die Bedeutung des „Rahmenwissens" bei der Aufrechterhaltung einer Praxis betonen.34 Das Rahmenwissen stellt keinen kognitiven Wissenskorpus dar, der in den Kopfen der Menschen existiert, sondem es wird durch die Handlungssihiation generiert. Es ist lokal, temporar und daher fliichtig. Anders als Goffman hebt Wittgenstein allerdings die Bedeutung von praktischen Beispielen hervor: „Um eine Praxis festzulegen geniigen nicht Regeln, sondem man braucht auch Beispiele/'^^ Paradigmatische Beispiele sind mit Vorbildem oder Gravitationsfeldem vergleichbar und spielen eine quasi-kanonische RoUe, ahnlich wie Prazedenzfalle im angloamerikanischen Rechtssystem. Sie extemalisieren die Regelbefolgung, indem sie vorzeigen, welche Vorgangsweise richtig ist. Die Autoritat der paradigmatischen Beispiele basiert auf ihrer breiten Akzeptanz innerhalb einer Praxisgemeinschaft. David Bloor bringt es auf den Punkt: „In following a rule we move automatically from case to case guided by our (...) (socially educated) sense of 'sameness'. Such a sense does not itself suffice to create a standard of right or wrong. It is necessary to introduce a sociological elem.ent into the account to explain normativity. (...) Consensus makes norms objective, that is, a source of external and impersonal constraint on the individual. "^^
Aus der Ubemahme, Akzeptanz und Tradierung von paradigmatischen Beispielen festigen sich bestimmte Handlungsablaufe, Verhaltensmuster und Techniken, die zur Routinisierung des Verhaltens fiihren konnen.
34 Siehe Bourdieu 1987 (1980); Goffman 1993 (1974), 274ff., 331ff., sowie Reckwitz 2000, 421ff. 35 Wittgenstein 1994a (1969), § 139; siehe auch Wittgenstein 1977 (1953), § 580 und Polanyi 1958,125. 36 Bloor 1997,17.
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Marksteine fiir die Erklarung imd Interpretation des sozialen Handelns
Trotz solcher Routirdsierungstendenzen, die iiberall beobachtbar sind, bleibt jede Praxis variabel iind vielfaltig. Es gibt dafiir zwei Erklarungen: Erstens sind Lemvorgange nicht identisch, d.h. Menschen eignen sich eine Praxis auf verschiedene Weisen an. Zweitens differiert die jeweilige Interpretation und Anwendimg von Regeln, weil die Kontingenz der Handlungssituationen, die Unvorhersehbarkeit sozialer Interaktionen und die unterschiedlichen teleoaffektiven Strukturen der Akteurlnnen die Reglementierung des Handelns durch Normen, Institutionen und regulative Diskurse aufweichen - Wittgenstein spricht auch von den „Hintertiiren", die Regeln immer offen lassen.37 Somit ergibt sich, dass die Beherrschung einer Praxis (auch einer Berufspraxis) nicht auf die Beherrschung der jeweiligen impliziten und expliziten Regeln reduziert werden kann. Anders formuliert: Die Praxis uberschreitet ihre Regeln. In dieser Einsicht besteht auch die Starke des Wittgenstein'schen Ansatzes gegeniiber anderen Theorien.^s 12.5
Zweifel am Regelparadigma
Der Regelskeptizismus wirft eine diffizile Frage auf: Woher weifi ich, ob jemand einer Regel folgt oder ob er/sie blofi glaubt, dass er/sie einer Regel folgt bzw. ob sein/ihr Verhalten nur aufierlich einer Regel entspricht? Und weiter, kann ich mich zufrieden geben, wenn jemand die Regel, nach der er/sie vorgeht, richtig angibt?39 Hier sind zwei Probleme angesprochen: Erstens, es gibt Regeln (eine Frage des Kennens) und es gibt die Befolgung von Regeln (eine Frage des Konnens). Die Differenz
37 Siehe Wittgenstein 1994a (1969), § 139; sowie Ule 1997,150 und Polanyi 1958,81. 3^ Bottrdieus Habitusbegriff unterlag anfangs einer starkeren deterministischen Konzeption als Wittgensteins Regelbegriff - siehe Bouveresse 1987, Kap. 3 und Kap. 4; Bouveresse, Jacques: „Was ist eine Regel?", in Gebauer/Wulf 1993, 41-56; Taylor, Charles: „To FoUow a Rule" (1992) in Taylor 1995,171ff. In seinen spateren Schriften nimmt Bourdieu ausdriicklich Bezug auf Wittgenstein und betont die Indeterminiertheit von Handlungen - siehe Bourdieu 2001 (1997), 70ff. 39 Siehe Wittgenstein 1977 (1953), § 82, § 201; Wittgenstein 1989, VI-23.
Zweifel am Regelparadigma
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zwischen Regeln imd Regelbefolgung besteht darin, dass Regeln eine Ordnung oder Struktur vorzeichnen; die Regelbefolgung ist hingegen eine Aktion. Zweitens heifit „eine Regel erklaren" nicht unbedingt die Regel explizit angeben, sondem Beispiele der richtigen Anwendung bringen zu konnen. Der Logiker Saul Kripke hat Bezug nehmend auf diese Fragen die These der Unentscheidbarkeit aufgestellti^o Es sei unmoglich festzustellen, ob jemand tatsachlich eine Regel richtig befolgt bzw. ob sein/ihr Handeln einer Regel nur aufierlich entspricht. Zur Begriindung seiner These bringt er drei Argumente vor: Der Rekurs auf Introspektion („Ich weifi doch, dass ich eine Regel befolge/') ist problematisch, well Introspektion keine Richtigkeit garantiert. Der Rekurs auf die externe Erfahrung („Ich sehe, dass er/sie eine Regel befolgt.") ist ebenfalls nicht moglich, weil die Regelbefolgung intentional ist. Ob jemand eine Regel richtig befolgt, konnte durch Mehrheitsbeschluss bestimmt werden. In diesem Fall handelt es sich um einen sozialen Entscheidungsprozess, der uns aber keinerlei epistemische Gewissheit gibt. Kripkes Argumente drehen sich um ein Kardinalproblem der Handlungstheorie: Eine Handlungserklarung ist eine Deutung und als solche bleibt sie immer offen und unabgeschlossen. Der Verzicht auf eine Letztbegriindung wird auch von Wittgenstein offen ausgesprochen: „Du musst bedenken, dass das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begriindet. Nicht vemiinftig (oder unverniinftig). Es steht da - wie unser Leben."4i Da Kripke tiberzeugt ist, dass wir von keiner Metaebene beantworten konnen, ob jemand eine Regel
40 Siehe Kripke 1982. 41 Wittgenstein 1994 (1969), § 559.
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Marksteine fiir die Erklaning tind Interpretation des sozialen Handelns
richtig befolgt, stellte er konsequenterweise die Frage auf, ob das Regelparadigma als Ganzes nutzlos ist. Fiir die weitere Diskussion der Argumente Kripkes mochte ich folgende Uberlegungen einbringen: Regelmafiigkeit impliziert nicht automatisch das Vorhandensein von Regeln (d.h. Regelhaftigkeit). Regelmafiigkeit als Produkt von Regelbefolgung setzt bestimmte Bedingungen voraus, die uns zwingen, intentionale Aspekte mitzuberucksichtigen.42 (Diese Position vertritt auch Kripke.) Wiirden wir nur auf die Phanomenalitat des Handelns achten, ohne Bezug auf intentionale Parameter wie Absichten, Wiinsche, Wertorientierung u.a. herzustellen, waren wir zwangsweise Behavioristlnnen. Die Unhintergehbarkeit des Intentionalitatsaspekts hat eine wietere Konsequenz, die ich indirekt ausdriicken mochte: Kann der Balztanz von zwei Vogeln, der immer nach bestimmten Mustem ablauft, als „regelgeleitetes Verhalten" bezeichnet werden? Hiermit soil der Sinn des Ausdrucks „regelgeleitet" bzw. „nach einer Regel vorgehen" eingeschrankt werden: Regeln sind stets in ein kulturelles Umfeld eingebettet und haben eine situationsbezogene Anwendung. Das heifit, ihre Befolgung wird von Institutionen und sozialen Praktiken gewahrleistet. Das Regelbefolgen ist folglich keine blofi intentionale Tatigkeit, weil es ein gemeinsames praktisches und kulturelles Bezugsystem voraussetzt.43 (Es gehort zum Wesen der Regeln, dass sie gebrochen oder verandert werden konnen. Der Balztanz der Vogel ist nicht regel-, sondem triebgeleitet.) Wenn ein Mensch eine Regel befolgt, so verpflichtet er sich, in einem bestimmten Handlungsrahmen zu bleiben. Die Entscheidung, ob er das tut, ist dem Handelnden nicht immer bewusst;
42 Siehe audi Bouveresse, Jacques: „Was ist eine Regel?'', in Gebauer/Wulf 1993,43f. 43 Siehe Wittgenstein 1977 (1953), § 206; Schatzki 1996,105f.; Wenger 1998,45f. und 84f.
Zweifel am Regelparadigma
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Regeln werden oft blind befolgt.44 Daher ist das Regelbefolgen nicht imbedingt ein innerer, intentionaler Vorgang. Wir miissen die Handlung in ihrer Situiertheit verstehen, um zu begreifen, dass das Praxiskollektiv der „Tragef' der Regeln ist, nicht die Handelnden. Kripke will den Atomismus iiberwinden imd das Handeln in seiner sozialen Einbettung erfassen. Ihm ist aber nicht klar - so scheint es mir -, wie eine Handlung kontextualisiert werden soil. Er lehnt sowohl die Reduktion des Handelns auf das Subjekt imd seine Introspektion (Argument 1), als auch auf das KoUektiv als Ort von Konventionen und Gemeinplatzen (Argument 3) ab. Damit hat er gewissermafien Recht, aber nur solange er beides, die Handelnden und ihre Mitwelt, getrennt und isoliert denkt. Was Kripke nicht konzeptuell erfasst ist der Doppelcharakter von Handlungen: ihre Phanomenalitat (Aufierlichkeit) imd ihre Intentionalitat, ihre Partikularitat und ihre Sozialitat. Diese Dualitat lasst sich nicht auseinander dividieren. Tut man es doch, verfallt man in einem Reduktionismus. Somit ist auch der zweite Einwand von Kripke entkraftet. Die Rede vom regelgeleiteten Verhalten hat nur in Bezug auf menschliches Verhalten eine explikative Potenz. Wer eine Regel (implizit oder explizit) versteht bzw. sinnvoll anwenden kann, hat kulturelle Bildung. Das Wort „Bildung" hat eine aktive und passive Bedeutung: Aktiv meint das Verfiigen liber praktisches Wissen. Wer weifi, wie eine Regel befolgt werden soil, weifi sich zurechtzufinden und kann daher in einer konkreten Situation erfolgreich handeln. Die passive Bedeutung von „Bildung" ist, dass der/die Gebildete davon geformt (gebildet) wird. Praktische und kulturelle Bildung sind das Fundament der menschlichen Existenz.
^ Siehe Wittgenstein 1977 (1953), § 211 und § 219.
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12.6
Marksteine fiir die Erklarung und Interpretation des sozialen Handelns
Das Oszillieren des Handelns zwischen Kreativitat und Konventionalitat
Den Begriff der Kegel und der Regelbefolgung in die Sozial- und Kulturwissenschaften zu iibertragen, bedeutet nicht, dass wir die „generative Grammatik" des Sozialen angeben konnten. Das Konzept des regelgeleiteten Verhaltens meint lediglich, dass die Mitglieder eines PraxiskoUektivs auf allgemeine und geteilte Handlungsmuster zuriickgreifen, wobei sie zwischen einer richtigen und emer falschen Weise etwas zu tun, unterscheiden konnen.^^ KoUektive Praktiken und der gemeinsame, vertraute kulturelle Hintergrund der Mitglieder eines PraxiskoUektivs bilden die Ausgangsbasis fiir die Formation ihres Handelns und ihrer Bewertungen. Da der Bezugsrahmen kollektiv ist, das heifit von mehreren Personen geteilt wird, bilden sich Handlungs- und Bewertungsmuster aus, die auf Grund ihrer Dauer und Verbreitung zu Konventionen werden konnen. Grufiformen, wie z.B. Handeschiitteln, Wangenkuss, Hochziehen der Augenbrauen, Schulterklopfen, Verbeugung, sind Variationen eines sozialen Verhaltens, die konventionelle Ziige haben. Konventionen sind also Sets von Regeln und konventionelles Handeln resultiert aus der Befolgung dieser Regeln. Die Mitglieder eines PraxiskoUektivs entwickeln ein stumnies Wissen („tacit knowledge") iiber die Befolgung einer Konvention. Die Missachtung einer Konvention ist insofern sozial, als sie die Kenntnis einer Konvention voraussetzt - ein typisches Beispiel ist die Provokation. Wittgensteins Uberlegungen zum Regelbefolgen zeigen, dass konventionelles Verhalten, das integraler Bestandteil jeder Praxis ist, keine deterministischen Ziige hat bzw. haben muss.^^ Zwar steuert die soziale
45 Siehe Wittgenstein 1977 (1953), § 201 und Windi 1974 (1958), 76f. "^ Martin HoUis schreibt dazu: „Der amerikanische Soziologe Thomas Dusenberry hat einmal gesagt: 'Die Okonomie handelt davon, dass die Menschen Entscheidungen treffen: die Soziologie handelt davon, weshalb ihnen keine Entscheidungen zu treffen bleiben/ Dies ist eine ijberaus witzige Zusanunenfassung der Auseinandersetzung zwischen Homo oeconomicus imd Homo sociologicus, doch zum Gliick ist es eine Fehldeutung
Das Oszillieren des Handelns zwischen Kreativitat xind Konventionalitat
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Praxis das Verhalten der Einzelnen, aber Regeln weisen immer offene Stellen auf. Als kompetente Sprecherlnnen sind wir zwar in ein begrenztes Set von Regeln eingebunden, konnen aber zugleich unendlich viele grammatikalisch korrekte Satze formulieren und sprachliche Variationen selbstandig bilden, die von anderen als sinnvolle Kombinationen (Metapher, Wortspiele, Analogie etc.) erkannt werden. Das liegt in der Natur der Regeln: Auch die prazisesten Beschreibungen, wie man etwas tun soil (kochen, nahen, unterrichten, musizieren, einen Fotoapparat bedienen etc.), konnen das Handeln niemals voUstandig anleiten. Grund dafiir ist nicht nur der implizite, diskrete und oft unspezifizierbare Charakter des Tuns, sondem ein lempsychologisches Phanomen: Wir lemen und wenden komplexe Regeln nicht durch Subsumption, sondem durch Analogie an. „Analogie" heiiSt, dass es keine fixen Regeln der Identitat gibt. Es ist daher notwendig, sich Modelle bzw. Anwendungsbeispiele anzueignen, auf deren Basis wir Ahnlichkeiten und Differenzen konstruieren konnen. Durch den Vergleich und die Interpretation von verschiedenen Situationen entwickeln wir allmahlich ein Gespiir dafiir, wie wir mit Regeln von Fall zu Fall umgehen miissen, welche Ausnahmen und Altemativen es gibt.47 Die Praxis ist eben nicht iiberall von Regeln begrenzt. Praktische Erfahrungen fiillen die offenen Stellen, die Regelsysteme notwendigerweise haben, und „machen" das, was eine Praxis ist: „The practice not only fulfils the rule, but also gives it concrete shape in particular situations. Practice is, as it were, a continual interpretation and reinterpretation of what the rule really means."48 Die Praxis konfrontiert die Handelnden mit der Frage nach dem Sinn einer Anleitung, einer Vorgangsweise, eines Beispiels oder einer Regel, Handeln ist dieser Auseinandersetzung, denn die Formulierung geht davon axis, die Soziologie sei eine 'Wissenschaft' und setzt daher einen weitgehenden kausalen Determinismus voraus. Wittgensteins Begriff des Regelbefolgens kann hier ein niitzliches Korrektiv sein/' (Hollis 1991, 72. Zwc Frage der Determination in der Soziologie siehe auch Munc±i 1982, 237ff.) 47 „[D]ie Anwendung der Regel im besonderen FaU [mul^t] du ja doch ohne Fiihrung machen/' Wittgenstein 1977 (1953), § 292. 48 Taylor, Charles: „To Follow a Rule'' (1992) in Taylor 1995, 178; siehe auch Janik Allan: „Tacit Knowledge, Rule-foUowing and Learning'', in Goranzon/Florin 1990,45-55.
300
Marksteine fiir die Erklarung und Interpretation des sozialen Handelns
demnach das Ergebnis eines Oszillierens zwischen der Wiederholiing gewohnter Handlungsmuster und der Neuinterpretation der Regeln. Die Bedingungen des Verstehens sind zugleich Bedingungen des Handelns. Das Verstehen eines Zusammenhanges (Situation - Kegel) ist eine Form von Erkennen bzw. eine Wissensform. Um etwas zu verstehen, benotigen wir einen Hintergrund, der semantische Ordnungen herzustellen vermag. Dieser Hintergrund entspringt unserem praktischen Erfahrungsraum und, allgemeiner, unserer Sozialisation. „Socialisation or learning to follow a rule is in itself anything but regimentation (...) Learning is social, because I must learn from others, but that it is also 'creative' to the extent that it is essentially a metaphorical, rather then a rote activity" - schreibt Allan Janik.^^ Die Interpretations- und Handlimgsspielraume, die in jedem Praxisfeld existieren, verlangen von den Einzelnen folglich Intelligenz, situative Sensitivitat, Fingerspitzengefuhl, Phantasie und Improvisationsgabe. Jede Neuinterpretation ist kreativ iHid riskant zugleich, weil sie von anderen als unkonventionelles bzw. regelwidriges Verhalten wahrgenommen werden kann. Der Unterschied zwischen einer Neuinterpretation, die als Regelverstofi aufgefasst wird und einer anderen, die neue legitime Handlungen ermoglicht (hier ist das Problem der Innovation und ihrer Akzeptanz angesprochen), kann nur immanent, d.h. aus den Praxisbedingimgen heraus, erklart werden. 12.7
„Einer Kegel folgen" als grundlegende Kulturtechnik
Im ersten Teil war von der allgegenwartigen und impliziten Prasenz der Kultur die Rede - siehe Unterkap. 2.2 und 2.3. Vieles von dem, was wir tagein, tagaus tun, lauft unterschwellig ab, weil es zum Selbstverstandlichen einer Kultur gehort, die wir als Ganzes libemehmen. Dieses Implizite und Selbstverstandliche wird uns, wenn iiberhaupt, erst in Krisensituationen oder in einem Rechtfertigungskontext bewusst. Erinnem wir uns an Gramscis Hinweis auf die Bedeutung von Fragen wie „Was
49 Janik, Allan: „Socialisation is creative becaiise creativity is sociaF', in Janik 1989,157.
„Einer Kegel folgen'' als grundlegende Kulturtechrdk
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meinst du eigentlich?", „Was willst du damit erreichen?" xind von Auffordemngen wie „Erklare dich besser!" oder „Rei6 dich zusammen!". Solche Situationen zwingen uns, Griinde fiir die Akzeptanz und Verstandlichkeit unseres Tuns anzugeben. Lemsituationen bieten ebenfalls Gelegenheit manche implizite Regeln, die zu einer Kultur gehoren, zu reflektieren. Anhand des Erlernens einer Sprache kann gezeigt werden, wie diese Reflexion moglich ist. Wie bringe ich Volksschulkindem das Bilden von sinnbildlichen Ubertragimgen bei? Ich wiirde zuerst viele Beispiele erwahnen, die die Kinder gut kennen - z.B. Beschimpfungen wie „blode Gans'', „lastige Fliege" oder Attribute wie „barenstark", „blitzschneir' u.a. In einem zweiten Schritt wiirde ich einige ihnen weniger bekannte Wendungen nennen („Du hast mein Herz gebrochen.", „Seine Stimmung war pechschwarz/' „Die Zeit schreitet fort.") und sie nach deren Bedeutung fragen. Anschliefiend wiirde ich versuchen, den Kindern mit einfachen Mitteln zu erklaren, dass eine Metapher aus einer sinnbildenden Zusammenfiihrung zweier unterschiedlicher Vorstellungssysteme oder Qualitaten besteht. Der nachste Schritt ist aber ein Quantensprung: Wie kann man selbst Metap h e m erfinden? Das konnte eine Hausaufgabe sein. Wenn die Kinder am kommenden Tag ihre eigenen Beispiele vorbringen, bietet sich die Moglichkeit ihre Vorgangsweise zu besprechen. Worum geht es bei Metaphem? Warm gelingt uns eine gute Metapher? Das didaktische Problem ist ein doppeltes: Erstens sagen uns Erklarungen - wie klug sie auch immer sind - nicht, was wir eigentlich genau tun sollen, um etwas, das wir anstreben, zu erreichen. Zweitens sind Metaphem komplexer als ihre Definition (Bruch auf syntagmatischer Ebene)5o und es ist nicht einfach, alle informellen Parameter anzugeben, die zur Bildung einer
' ,/Metaphor' is a loose word, at best, and we mxist beware of attributing to it stricter rules of usage than are actually found in practice''. (Black 1981 (1962), 29.) Ahnlich auch Wittgenstein: „Konnne ich nicht immer mehr dahin zu sagen, dass die Logik sich am Schluss nicht beschreiben lasse? Du m^usst die Praxis der Sprache ansehen, dann siehst d u sie.'' (Wittgenstein 1994a (1969), § 501.)
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Marksteine fiir die Erklarung iind Interpretation des sozialen Handelns
guten Metapher beitragen. Die Schwierigkeit zu beschreiben, was eine gelungene Metapher ausmacht, liegt nicht zuletzt in der Bedeutsamkeit des Pratextes. Metaphern sind in der lokalen kulturellen Erfahrung einer Sprachgemeinschaft verwurzelt. Ihre Koharenz zu erlautem verlangt, die umfassende Symbolsemantik einer Kultur zu beschreiben. Doch das ist unmoglich, denn viele kulhirelle Aspekte haben einen impliziten Status. Die Vorstellung eines gespeicherten „Hypertextes der Kultur" (George Landow) bzw. eines „texte general" (Jacques Derrida), der das gesamte „semiotische Universum" (Umberto Eco) verfiigbar macht, ist weit mehr als utopisch. Sie basiert auf der Annahme, dass alles, was wir wissen und erfassen, „Text" sei (siehe Unterkap. 3.4). Dennoch, wenn Kinder lemen eigenstandig Metaphern zu bilden, wenn sie sozusagen eine „Intuition" iiber die Zusammenfiigung von Bedeutungen, die urspriinglich nicht zusammengehoren, entwickeln, dann wissen sie („knowing how"), wie implizite Kegel funktionieren. Das Verstehen und die Bildung von Metaphern stellen exemplarische Beispiele eines „intransitiven Verstehens" (Wittgenstein) oder eines „undefined understanding" (Polanyi) dar, die in jeder praktischen Tatigkeit vorkommen und den Kernjeder Handlungskompetenz ausmachen.^i Das Erlemen der Regelbefolgung, bedeutet mehr als die mechanische Reproduktion eines Handlungsschemas. Regeln allein konnen keine Praxis stiften. Praktische Erfahrungen durch Ausprobieren, Verstehen und Intelligenz sind notwendige Voraussetzungen, um aus einem Aktionsrahmen, der von Regeln und Institutionen generiert wird, soziales Handeln zu realisieren. Der Sinn eines solchen Handelns liegt nicht au6erhalb jenes praktischen Rahmens, der es umfasst, eingrenzt und ermoglicht. Satze wie ,,Man tut es so", „Es muss so sein" und „So ist es richtig" weisen auf eine anonyme Gemeinschaft, die die jeweilige Praxis tragt.
51 Siehe Wittgenstein 1969, Teil III, § 37, 77ff.; Polanyi 1958, 250. Charles Taylor hat iibrigens auf die imiere Verwandtschaft der Konzepte „intransitiv'' und „undeftned understanding'' mit Bourdieus Habitusbegriff hingewiesen - siehe Taylor, Charles: „To FoUow a Rule" (1992) in Taylor 1995,165-180.
„Einer Kegel folgen'' als grundlegende Kulturtechnik
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Das PraxiskoUektiv kann zwar durch bestimmte soziale Instanzen reprasentiert sein; im Grunde aber besteht es aus einem Konglomerat von mehreren Faktoren, die nicht einfach aufgezahlt und systemtheoretisch als funktionelle Einheiten beschrieben werden konnen. PraxiskoUektive enthalten vielfache Einschnitte, Knotenpunkte, Uberlappimgen, Widerspriiche und Ausfransungen, die dem Systemmodell widersprechen.52 Wittgenstein verwendet hierfiir das Wort „Lebensform". Lebensformen sind konstitutiv mit sozialen Praktiken verwoben und letztere wiederum mit Sets von Regeln; deshalb fasse ich implizite und explizite Regeln in ihrer Gesamtheit (Definitionen, Prinzipien, Konventionen, Formeln, Gesetze, Anweisungen, Empfehlungen) als strukturelle Elemente von Lebensformen bzw. einer Kultur auf.
^2 Siehe die Diskussion, die Schatzki 1996, in Kap. 4 und 5 entfaltet.
13 Bewertung und Rechtf ertigung von Handlungen 13.1
Angaben iiber Handlungsintentionen und die Konstruktion des Handlungssinns
Das Bewerten von Handlungen stellt einen inharenten Bestandteil jeder sozialen Praxis dar - das gilt selbstverstandlich auch fiir den Kunst- und Kulturbetrieb. Werten und Bewerten sind essenzielle soziale Handlungen. Ohne praktische Wertung und Bewertung wiirden wir die Welt als einen Haufen von zusammenhangslosen Reizen erleben. Der Welt einen Sinn zu geben ist im Anschluss an Maurice Merleau-Ponty eine existenzielle Bestimmung des Menschen: Wir sind demgemal? „zum Sinn verurteilf'i. Kein Glaube und kein System kann die Dringlichkeit des SinnGebens aufheben. Sinn ist aber, wo immer er auftaucht, polyvalent und somit im Plural gegeben. Diese Pluralitat gestattet Offenheit. Sobald Menschen wissen oder blo6 ahnen, dass sie auch anders agieren konnen, entsteht ein Wahlspektrum, das auf ihnen lastet: Jedes Individuum ist dann gewissermafien auf sich selbst zuriickgeworfen und beginnt gelegentlich, vor allem wenn das Handeln nicht durch die Kraft der Gewohnheit habitualisiert ist, nach den Griinden (dem Warum) des eigenen Tuns zu suchen. Handeln ist in diesem Sinne mehr als eine Reaktion auf einen Impuls, mehr als ein blofies Verhalten. Da, wo Wahlaltemativen und somit ein Freiheitsraum vorhanden ist, ist Handeln an Verantwortung gekoppelt. Die Verantwortung hat zwei Seiten: Sie entspringt einerseits der Sorge um sich selbst, andererseits dem Drangen der Mitmenschen, ihnen fiir unser Tun und seine Folgen Rede und Antwort zu stehen. Der Begriff der Ver-Antwortung (Ver-Ant-
1 Merleau-Ponty 1966 (1945), 16.
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Bewertung und Rechtfertigiing von Handlungen
wortung bedarf der Sprache) ist in jedem sozialen Raum unhintergehbar. Denn nur, wenn wir Verantwortung iibemehmen, konnen wir auch die Friichte dessert, was wir leisten, fiir uns beanspruchen. Verantwortung soil daher nicht als eine existentialistische Entweder-Oder- bzw. AUes-oder-Nichts-Situation auf gef asst werden - man denke hier an JeanPaul Sartres Auffassung der „radikalen Wahl" -, sondem pragmatisch als eine Frage des „Wie viel?" bzw. des „Wie grofi?". Wenn sich jemand wertend iiber Handlungen aufiert, bezieht er/sie sich meistens auf die zugrunde liegenden Motive oder Folgen. Dasselbe geschieht, wenn eine Person selbst in die Lage kommt, Rechenschaft uber ihr Tun abgeben zu mussen: Sie beginnt iiber ihre Absichten, Uberlegungen, Ziele, intendierte und unbeabsichtigte Folgen zu sprechen. AUgemein gesagt: Wir lemen intentionale Inhalte zu entwerfen und zu beschreiben durch das Zusammenleben mit den anderen, die uns regelmafiig mit Fragen iiber den Sinn unseren Tuns konfrontieren. Wir werden von Kind auf in der „Grammatik des Sozialen" (Gramsci) unterrichtet2, konnen normative und moralische Fragen verstehen und akzeptieren ihre Berechtigung. Begriindungen und Rechtfertigungen sind daher Teil von Sprachspielen, deren Verstandnis ein Vorverstandnis des Systems von sozialen Praktiken, in welchem sie eingebettet sind, voraussetzt. Das Bezugsystem, innerhalb dessen wir Auskunft iiber unsere Handlungen geben und diese verantworten, ist folglich das, was ich an einer anderen Stelle „Praxisgemeinschaft" bzw. mit Wittgenstein „Lebensform" nannte. Die Erklarung des Handelns durch Bezugnahme auf die Griinde {„]Narum tat er/sie XT') und Motive {„WozuT') des/der Handelnden unterstellt der Handlung eine kognitive Struktur im Sinne einer inneren imd koharenten Organisation. Aussagen iiber intentionale Inhalte (Griinde, Motive etc.) sind freilich Gegenstand intensiver philosophischer Debatten, denn es gilt ihren epistemischen Status und Wahrheits-
2 Ludwik Fleck spricht auch von Dressur und Wittgenstein von Abrichtung - siehe Fleck 1981 (1935), 66; Wittgenstein 1994b (1967), § 186.
Angaben iiber Handlimgsintentionen iind die Konstruktion des Handlungssinns
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wert zu klaren. Innerhalb des mentalistischen Paradigmas wurde oft das Argument gebracht, wir hatten einen privilegierten Zugang zu unserem Inneren. Man zog daher die Konsequenzen, (a) introspektive Auskiinfte seien deskriptiv und (b) wir selbst seien die besten Kenner unserer eigenen Intentionen. Beide Thesen sind nicht haltbar, sobald wir die Sozialitat des Handlungssinns beachten. Die Intentionen unserer Handlungen sind uns nicht unmittelbar oder ^natiirlich" gegeben, weil das Sprechen iiber innere Vorgange eine Interpretationsleistung bzw. eine Fahigkeit ist, die entlang der Enkulturation entwickelt wird. Intentionalitat ist im strengen Sinn nicht „in" der handelnden Person; sie liegt ebenso wenig abseits oder zeitlich vor einer Handlung. Sie ist allein in der sozialen Einbettung des Handelns zu finden.^ Jede Angabe iiber Intentionen und iiber ihre Beziehung zu vergangenen oder kiinftigen Handlungen ist daher nicht deskriptiv, sondem erklarend und au6erdem nicht selten mit moralischen Komponenten bestiickt. Eine Erklarung und eine Rechtfertigung zu produzieren ist nicht selbstverstandlich; beides muss erlernt werden. Griinde angeben setzt voraus, die sozialen und praktischen Strukturen, die eine konkrete Handlungssituation charakterisieren, zu beriicksichtigen und eine praktische Rationalitat, d.h. ein implizites oder explizites Wissen, wie man eine Begriindung oder eine Rechtfertigung aufbaut, zu besitzen. (Mit „Strukturen" sind hier praktische und diskursive, genauer gesagt normative Regeln und in weiterer Folge unterschiedliche Rechtfertigungskontexte gemeint. Daher ist die praktische Rationalitat stets lokal und situativ.^) Friihere Philosophen sprachen in diesem Zusammenhang von der „Selbstreflexion" oder „Selbstvergewisserung" des/der Handelnden. Meine Distanz zu diesen Begriffen kommt daher, dass ich dieses Vermogen nicht als spontane oder gar we-
3 Siehe Wittgenstein 1977 (1953), § 337. 4 Julian Nida-Rumelin spricht auch von „struktureller Rationalitat'' als eine spezifische Form praktischer Rationalitat - siehe Nida-Riiinelin/Schinidt, 2000,190. Zu den sozialen Beziigen praktischer Urteile siehe auch Graham 2002, Kap. 3 und Kap. 5. Zur Kontextgebundenheit der Urteile siehe Benhabib 1995 (1992), 71ff.
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Bewertung und Rechtfertigimg von Handlungen
sensmafiige Tatigkeit des Bewusstseins auffasse, wie es Rationalisten imd Idealisten glaubten. „Lemen, was ein Motiv ist", schreibt Peter Winch, „gehort dem Erlemen der Standards an, die das Leben in der Gesellschaft beherrschen''.^ Wir sind zwar vielleicht „selbstinterpretierende Tiere" (Charles Taylor^) aber nicht aus unserer Naturgeschichte heraus, sondern weil soziale Interaktionen uns zwingen, uns selbst und die anderen bewertend zu deuten. Aus diesem Grund betrachte ich Wertungen und Bewertungen als inharenten Bestandteil jeder sozialen Praxis7 13.2
Zur RoUe von Zielen und Zwecken
Ziele und Zwecke gehoren zur Handlungsintentionalitat und spielen beira Bewerten und Rechtfertigen des Handehis eine wichtige Rolle. Unter Ziel wird meistens der angestrebte Zustand oder ein Gut, das eine Person oder Gruppe erreichen mochte, verstanden. Ziele entstehen einerseits aus der einer Tatigkeit innewohnenden Gerichtetheit - eine Schriftstellerin mochte einen guten Roman schreiben, ein Kimsthandler eine erfolgreiche Galerie fiihren - andererseits aus der normativen Orientierung der Handelnden. Unter Zweck ist hingegen die unmittelbare Funktion einer konkreten Handlung gemeint. Fiir Max Weber ist die Zweckgerichtetheit eine handlungstheoretische Grundkategorie tiberhaupt: „Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns ist zunachst gebunden an die Kategorien
5 Winch 1974 (1958), 107. Zirni Erlemen des praktischen Urteils siehe auch Aristoteles 2000, 2.Buch,§l,1103al4ff. 6 Taylor, Charles: „Self-interpreting animaF' in Taylor 1985,45-76. 7 John Dewey schreibt dazu: „Die Anerkennung der Tatsache, dass das menschliche Verhalten aUe Akte in sich begretft, die sich tinter dem Gesichtspimkt Besser oder Schlimmer beurteilen lassen und dass potentieU kein Teilinhalt menscMichen Verhaltens gedacht werden kann, in dem eine solche Bettrteilung nicht notwendig werden konnte, heilt tins von dem Irrtmn, der die SittHchkeit zu einem Sonderbezirk im Leben macht.'" (Dewey 1931 (1922), 290.)
Zur Rolle von Zielen iind Zwecken
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'Zweck' und 'Mittel'/'^ Das Verhaltnis zwischen Ziel und Zweck lasst sich so formulieren: Ein Ziel karm erreicht werden, indem wir Mittel in den Dienst dieses Zieles stellen; diese erfiillen verschiedene Zwecke, die bei der Erreichung des Zieles helfen konnen. Ein „gluckliches Leben" ist also kein Zweck, sondem ein Ziel. Unter einer bestimmten Perspektive kann ein „hohes Einkommen" als Zweck betrachtet werden, das bei der Zielverwirklichung helfen kann. Ziele ergeben sich aus der soziokulturellen Identitat und aus dem Praxisfeld, in welchem eine Person agiert. Sie enthalten unter anderem eine ethische Dimension (die Frage nach dem Guten). Zwecke hingegen sind funktionell bestimmt und beriihren primar Fragen der Rationalitat (die Frage der Koharenz) und sekundar die Frage der Rechtmafiigkeit („Ist es legal?''). Die Uberlappung der Bereiche des Ethischen, des Rationalen und des Normativen bedeutet, dass Ziele ebenfalls einer normativen und rationalen Uberpriifung unterzogen werden konnen, so wie auch Zwecke Gegenstand ethischer Uberlegungen sein soUen.^ Ziele und Zwecke sind fiir die Bewertung und Rechtfertigung des Handelns entscheidend, well sie uns helfen, eine Handlung sozusagen r.von innen her'' zu verstehen.io („Innen" ist hier sinnbildlich gemeint, weil eine epistemische Unterscheidung zwischen dem „Innen" und dem „AuiSen" des Handelns problematisch sein kann.) Die intentionale Perspektive, d.h. das „Warum" und „Wozu" einer Handlung sind der
^ Weber, Max: „Die 'Objektivitat' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis'' (1904), in Weber 1988, 149; siehe auch Weber, Max: „Soziologische Grundbegriffe'" (1921), in Weber 1925, Bd. I. 12f. Talcott Parsons wahlte librigens diesen Satz als Motto fiir sein Buch „The Structure of Social Action^'. 9 Siehe auch Maclntyre 1995 (1981), Kap. 14-15; Nussbavim/Sen 1993; Forst, Rainer: „Ethik und M o r a r in Wingert/Giinther 2001,356; Winch 1974 (1958), 46. ^0 Siehe Gadamer 1965 (1960), 168. Wright betont auch die Bedeutung der institutioneU angelegten MogHchkeiten des Handelnden. Damit erweitert er den hermeneutischen Begriff des Verstehens. Verstehen und Erklaren hangen eng zusanunen und erganzen sich gegenseitig - siehe Wright 1974 (1971), 92,122f. sowie HoUis, Martin: „Erklaren und Verstehen" in Mollis 1991,9-36.
310
Bewertung und Rechtfertigving von Handlungen
Grund dafiir, dass wir Handlungen nicht als zufallige Naturereignisse, sondem als sinnvolle Aktionen betrachten. Eine Handlimgstheorie, die die Teleologie kategorisch ablehnt, verfallt zwangslaufig in einen reduktionistischen Behaviorismus." 13.3
Werten und Bewerten in der Praxis
Ein PraxiskoUektiv generiert sowohl praktische (richtig / falsch) als auch qualitative (gut / schlecht) Werturteile. Werturteile schreiben einem Objekt ein Wertpradikat zu, das in der Kegel mehrere Bedeutungsfelder (z.B. asthetische, moralisch-normative, emotive, funktionale) mit einschliefit. Diese Urteilsproduktion und -reproduktion verlauft parallel zur Entfaltiuig der sozialen Wirksamkeit eines Kollektivs. Die Formulierung von Wertungen und Bewertungen dient nicht blofi der Erhaltung und Stabilisierung des Kollektivs bzw. des ^Systems", wie Systemtheoretikerlnnen sagen wiirden. Da Handlungen selten irrelevant sind und zumeist mehrere Personen betreffen, werden sie mitunter zum Gegenstand von heftigen Konflikten. Das soziale Feld ist folglich ein Ort des Aushandelns von Werten imd Werturteilen. In dieser Hinsicht konnen wir Praxisgemeinschaften als Wertegemeinschaften begreifen, weil die Praxis nicht nur pragmatisch, sondem auch nach normativ-moralischen und ethischen Kriterien gewertet und bewertet wird.^^ Wird eine Bewertung als Evaluierung begriffen, dann ist die Abwagung ein wesentlicher Bestandteil des Bewertungsprozesses. Das gefallte Bewertungsurteil ist immer in Relation zur Kontingenz der konkreten Situation, der vorhandenen Altemativen, der momentanen Praferenzen und der normativen Kriterien zu sehen.i^ Die Analyse des Bewertungsaktes gestaltet sich aber nicht immer leicht, vor allem dann, wenn der Akt selbst implizit und stumm („tacit") ablauft und erst durch die Hand-
le Zum fundamentalen Stellenwert teleologischer Erklarungen in der Handlimgstheorie siehe Wright 1974 (1971), 93; Maclntyre 1995 (1981), Kap. 15. 12 Siehe audi Markowitdi 2001,64ff. 13 Zur abwagenden Vemunft siehe Rawls 1975 (1971), 454-462.
Werten und Bewerten in der Praxis
311
lungsanalyse zum Vorschein kommt. Diese epistemische Schwierigkeit wird von vielen Theoretikerlnnen imterschatzt, denn es herrscht die Kant'sche Auffassiing, dass Bewertimgsakte in sprachlich-propositionale Urteile miinden mtissen, damit ihnen ein kognitiver Wert zugeschrieben werden kann.^^ Dass die Sprache und die (oft nachtraglich ansetzende) reflexive Rationalisierung von Bewertungen eine wichtige Rolle spielen, wird hier keinesfalls infrage gestellt; aber: „Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen iiberein. Dies ist keine Ubereinstimmung der Meinungen, sondem der Lebensform"i5 bzw. eine Ubereinstimmung „im Handeln".i6 Es ist nicht die praktische Vemunft, die die Urteilsbildung anleitet: „Das Sprachspiel hat seinen Ursprung nicht in der Uberlegung. Die Uberlegung ist ein Teil des Sprachspiels/'i7 YSJ\X soUten daher die Einbettung der Bewertungsakte in institutionelle Strukturen starker beachten, als es die Reflexionsphilosophie und die rationale Handlungstheorie (rational choice theory) iiblicherweise tun. Menschen lemen die Kunst des Urteils nicht durch kontemplatives Nachdenken, sondem sie iibernehmen „Urteilspakete" und Wertsysteme und eignen sich gleichzeitig deren Anwendung an. Die sukzessive Intemalisierung und die praktische Ausrichtung des Wertens und Bewertens macht beide zu einem integrierten Bestandteil jeder Praxis. Praktisch angelegte Bewertungen dienen nicht der theoretischen Erkenntnisgewinnung, sondem leiten in erster Linie kiinftiges Handeln an.
^4 Kant schrieb: „Wir konnen aber alle Handliingen des Verstandes auf Urteile zuriickfuhren, so dass der Verstand uberhaupt als ein Vermogen zu urteilen vorgesteUt werden kann/' (Kant 1998 (1781), B 94 (A 69) siehe auch B 93 und B 103f.) Jiirgen Habermas ist in diesem Punkt „kantianisch'', denn er meint, dass Urteile immer mit Wissen zu tun haben und Wissen eine propositionale Struktur hat - siehe Habermas 1981, Bd. 1,25. 15 Wittgenstein 1977 (1953), § 241. 16 Wittgenstein 1989 (1956), VI-39. 17 Wittgenstein 1994a (1969), § 391.
312
13.4
Bewertimg imd Rechtfertigung von Handlimgen
Die moralische Dimension
Eine Museumsdirektorin weifi, dass sie am kommenden Jahr drei langjahrigen Mitarbeiterlnnen auf Grund von geplanten Umstrukturierungen und budgetaren Zwangen kiindigen muss. Wann und wie soil sie es ihnen sagen? Der Leiter eines grofien Symphonieorchesters findet es bedauemswert, dass nur 5% der Orchestermitglieder Frauen sind und will diesem Zustand entgegen wirken. Handelt er richtig, wenn er die Jahresvertrage von 20 Musikem nicht verlangert, um die vakanten Stellen mit Musikerinnen zu besetzen? Moralische Fragen tauchen auf, sobald jemand an einer Praxisgemeinschaft teilnimmt, sich in einem Raum von Werten und Regeln bewegt, implizit oder explizit Verpflichtungen eingeht und sein/ihr Handeki andere beruhrt. Die „Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten", wie Hannah Arendt^^ es einmal ausdriickte, macht die moralische Dimension uneliminierbar, weil das Bediirfnis nach Wohlergehen und Sicherung des Miteinanderlebens in einer Welt ohne „starke Werte" nicht befriedigt werden kann. „Moralisches Urteil" schreibt Seyla Benhabib, „ist, was wir 'immer schon' praktizieren aufgrimd der Tatsache, dass wir in ein Netz menschlicher Beziehungen eingebunden sind, die unser Zusammenleben bestimmen/'^^ Die Existenzberechtigung moralischer Urteile geht folglich aus dem menschlichen Zusammensein und der Betroffenheit der Person hervor, die ein Urteil bildet. Urteile generieren weitere Urteile. Moralische Pluralitat, Differenz und Wertkonflikte gehoren somit zum Grundstoff des sozialen Lebens. „Moralisch" als Attribut von Handlungen stellt einen Bezug zu Regeln dar. Moralisches Handeln kann daher als eine Form von regelgeleitetem Handeln charakterisiert werden.^o (Die Regelnbefolgung ist nicht
18 Arendt 2001 (1958), 234. 19 Benhabib 1995 (1992), 137. 20 Andrew Sayer sdireibt in diesem Sinne: „I wish to argue that any adequate understanding of culture and economy and the relationship between them^ requires a recognition
Die moralische Diinension
313
per se moralisch. Moralitat kann sich gelegentlich darin zeigen, dass man eine Kegel, die fur einen konkreten Fall zu eng geworden ist, bricht. Der Bruch verlangt allerdings eine normative Rechtfertigimg.) Obwohl das Handeln in den meisten Fallen fliefiend entsteht konnen wir zu analytischen Zwecken versuchen, den Handlimgsprozess zu zergliedem, um genauer iiber seine verschiedenen Komponenten zu sprechen: Zuerst nimmt die handelnde Person eine Situation wahr, die sie veranlasst tatig zu werden. Sie interpretiert sie im Hinblick auf ihre Befindlichkeit, ihre Interessen und Handlungsmoglichkeiten sowie in der Hinsicht auf die moglichen Einfliisse ihres Tuns auf andere. Er/Sie korreliert die konkrete Lage mit bestimmten normativen Regeln, wagt zwischen konkurrierenden Idealen und Zielen ab und bildet auf der Basis seiner/ihrer praktischen Erfahrungen und normativen Orientierung ein Urteil, wie man in diesem Fall handeln sollte.^^ (Diese Phase kann vollkommen unartikuliert d.h. in gewisser Hinsicht „unterbewusst" sein. Sofem der/die Handelnde aufierhalb des Spektrums vom routinisierten Verhalten agiert, kann er/sie, wenn die Rahmenbedingungen es erlauben, die Handlungssituation in expliziter Weise reflektieren. Neben der expliziten Reflexion gibt es auch eine Reflexion-in-der-Handlung (im Sinne von Donald Schon22), die vollkommen in den Handlxingsprozess integriert ist.) Der Ubergang vom Urteil zur Durchfiihrung und Vollendung einer Handlimg ist jedoch diskontinuierlich (siehe strichlierte Pfeile in der Figur of the extend to which they contain and they are shaped by norms and values including moral-political values. (...) In particular, any study of culture or economy which overlooks or evades the moral dimension, or transmutes it to something else, such as aesthetic judgement, power-play or instrumentality, is bound to lack any consistent critical purchase on its object, indeed it is more likely to mystify.'' (Sayer, Andrew: „Valuing CultiH-e and Economy'', in Ray/Sayer 1999,54f.) 21 Siehe auch Rest, James: „Die Rolle des moralischen Urteilens im moralischen Handeln" in Garz/Oser/Althof, 89f., sowie Kohlberg, Lawrence/Candee, Daniel: „Die Beziehimg zwischen moralischem Urteilen vtnd moralischem Handeln" (1984), im selben Band, 43. Kohlberg verfolgt allerdings ein lineares Handlimgsmodell, das der analytischen Plantheorie ahnelt. Kritik an Kohlbergs Auffassung formulieren Krebs, Dennis/Denton, Kathy: „Die Beziehung zwischen der Struktur des moralischen Urteilens und dem. moralischen Handeln" im selben Band, 238ff. 22 Schon 2002 (1983), 49ff.
314
Bewertung und Rechtfertigung von Handlimgen
6) und hangt von personlichkeitsgebundenen Parametem sowie von den praktischen Erfahrungen des/der Handelnden ab.
^
A
I
j ^ Rechtfertigungsdruck
Ergebnis, Wirl Wirkung
f
HANDLUNG<-
Werte, Sensitivitat, 1 Urteilskraft
Position, Situation, Ressourcen
-> VERANTWORTUNG 1^
Wiinsche, Charakter, Erfahrungen Rahmen der Urteilsbildung
Rekonstruktion Figur 6 Erwerb moralischer Handlungskompetenz - Praktisches Lernen Der Erwerb einer moralischen Handlungskompetenz erfolgt nicht blofi auf GriHid der Aneignuaig von moralischen Werten und Prinzipien, vielmehr basiert die moralische Performanz auf einem praktisch angelegten, langwierigen Lemprozess - siehe Unterkap. 10.6. Die Verbindung zwischen Interpretation, Urteilsbildung und HandlungsvoUzug ist nicht linear. Zahlreiche inkonsistente Momente, Briiche und Widersprii-
Die moralische Dimension
315
che, Zufalligkeiten und Zwange, die kaum in ihrer Gesamtheit erfasst werden konnen, interferieren und machen kausale Relationen unmoglich. Moralisches Handeln im AUtag und Berufsleben ist also nicht das Produkt des „reinen Willens" (Kant), sondem eine Form sozialen Handelns. Das soziale Umfeld und die eigene Identifikation mit bestimmten normativen Inhalten zwingen^s uns Verantwortung zu iibemehmen. Das gelingt allerdings nur, wenn wir mit entsprechenden diskursiven Techniken und kognitiven Instrumenten ausgeriistet sind und auch iiber die notigen Ressourcen verfiigen, um verschiedene Formen der Begriindung und Rechtfertigung des Handelns zu erlemen. Der Erwerb von moralischer Handlungskompetenz durch die „Konversation" mit der Handlungssituation kann stimuliert oder auch gehemmt werden. Unterstiitzt wird der Lemprozess allgemein durch die soziale Sensitivitat jedes Individuums, die durch positive Vorbilder, durch den inneren und aufieren Rechtfertigungsdruck sowie durch die Konfrontation mit Ausnahmesituationen und die Erfahrung des Scheitems bestarkt werden kann. Hemmend wirken eine repressive, gewalttatige Autoritat, die totale Gehorsamkeit einfordert und das individuelle Verhalten weitgehend fremdbestimmt macht. Anonymitat bzw. schwache soziale Bindungen sowie die psychische Labilitat des/der Handelnden konnen ebenfalls negative Auswirkungen im Hinblick auf die Entwicklungsmoglichkeit moralischer Handlungskompetenz haben. Der Ausbauprozess des praktischen Konnens kommt beim routinisierten Verhalten zum vorlaufigen Stillstand. Das bedeutet allerdings nicht, dass Routine das Attribut „moralisch" nicht verdient,24 derm die moralischnormative Ausrichtung des Handelns karm implizit und habituell sein.
23 Hier spreche ich von einem strukturellen Zwang, der in der Kontextualitat des In-derWelt-Seins begriindet ist - siehe auch Giddens 1995 (1984) 228ff. sowie Berger/Luckmann 1969,98-112. 24 Eine grundsatzlich andere Position findet man in der Kanf schen Tradition. Kant definiert eine Handlung als „moralisch'' prinzipiell nur, wenn sie aus einer bewussten Absicht bzw. einem „£reien Willen" entspringt. Lawrence Kohlberg ist wegen derselben Ansicht „kantianisch'', denn er betrachtet die „deontische W a W als unabdingbare Kom-
316
Bewertung und Rechtfertigimg von Handlungen
Wenn moralisches Handeln als regelgeleitetes Handeln betrachtet wird, stellt sich die Frage, was moralische Regeln sind. (Ich mochte hier eine langere Diskussion, was die Begriffe „Moral" und „moralisch" bedeuten, umgehen, und daher erlaube ich mir, gleich auf eine mogliche Antwort hinzusteuem.) Hannah Arendt unterscheidet mit Kant die quaestio facti von der quaestio juri, also die Frage nach der Legitimitat und Begrundung des Handelns. Die Begriindung findet meist in der Sprache statt, denn wie Jiirgen Habermas bemerkt, „[e]rst mit dem Ubergang vom Handeln zum Diskurs nehmen die Beteiligten eine reflexive Einstellung ein und streiten sich iiber die zum Thema gemachte Wahrheit kontroverser Aussagen im Lichte der pro und contra vorgebrachten Griinde".^ Deshalb spielen Sprachanalyse und Sprachpragmatik zweifellos eine wichtige Rolle in der Moralphilosophie. Wir miissen Handlungen rechtfertigen, well wir an Praxisgemeinschaften partizipieren und uns in einem Raum von Relationen, Verpflichtungen und Verhindlichkeiten bewegen. Die Partikularitat der einzelnen Praxisgemeinschaften und die Unterschiede der jeweiligen Rechtfertigungskontexte bedeuten, dass Handlungsrechtfertigungen in der Kegel keine universelle Geltung haben. Andererseits impliziert der Kontextualismus nicht, dass eine Verschiebung des Bezugsystems bei der Bewertung und Beurteilung des Handelns unzulassig sei. Es gibt Falle, in denen aus guten Griinden transkulturelle Geltungsanspriiche erhoben werden. Adolf Eichmarm war in Nazi-Deutschland ein „wertvoller Kamerad", ja sogar ein „pflichtbewusster imd gesetzestreuer Burger". Seine Verurteilung im JerusalemProzess 1962 ist in der Uberzeugung begriindet, dass das Bezugsystem seines Handelns in einem breiteren Zusammenhang gesehen werden muss, d.h. von der Warte der „Weltgemeinschaft" aus. Dass Eichmarm den breiteren Kontext seines Wirkens nicht einsah („Ich habe nur meine Dienstpflicht erfiillt"), brachte Hannah Arendt dazu, ihn als Inbegriff des gedankenlosen Menschen zu charakterisieren. Seine Gedankenlosigponente des moralischen Handelns - siehe Kohlberg, Lawrence/Candee, Daniel: „Die Beziehung zwischen moralischem Urteilen und moralischem Handeln" (1984), in Garz/ Oser/Althof 1999,43. 25 Habermas 1999,52.
Drei Gnmdbegriffe: Verantwortimg, Begrundimg, Rechtfertigiing
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keit hatte nichts mit Dummheit oder Egoismus zu tun, sondern mit der Unfahigkeit zum moralischen Denken (a) zur kritischen Uberpriifung seines Tuns und (b) dazu, den Mitmenschen eine basale Form des Respekts zu zoUen, unabhangig davon, was sie konkret miteinander verbindet oder trennt. 13.5
Drei Grundbegriffe: Verantwortung, Begriindung, Rechtfertigung
Das negative Bild vom „gedankenlosen Menschen" will uns wamen und zu einem Ethos ermahnen. Private Nutzenkalkiile, Ehrgeiz, Pflichten und Weisungsgebundenheit liefem viele, nicht zu vemachlassigende Motive fiir das Handeln im beruflichen Kontext. Die interne Orientierung an bestimmten Zielen und Zwecken wie auch der aufiere normative Druck aus dem eigenen Berufsfeld imterstiitzen die Konventionalisierung des Verhaltens. Arendts Aufforderung, in einem breiteren Kontext zu denken, heifit so viel wie den Anderen mitzudenken. Seyla Benhabib schreibt folglich im Anschluss an Arendt: „Das Was-es-ist einer moralischen Handlting erhellt nicht aus der blofien Anwendung einer allgemeinen Kegel auf konkrete Falle; es bedarf dazu vielmehr einer moralischen Vorstellimgskraft, die unsere Fahigkeit aktiviert (...) uns vorzustellen, in welchem Licht unsere Handlungen anderen erscheinen konnten.'"^^
Nur so konnen wir offensichtlich die instrumentelle, gewinnmaximierende oder verwaltungsmafiige Einstellung, die im Berufsalltag vorherrscht, transzendieren. Die Aufforderung, den Anderen mitzudenken, ist zugleich die Forderung nach Verantwortung. Dieses Verantworten begreife ich nicht als eine voluntaristische Angelegenheit, d.h. als eine Frage des WoUens. Es ist die Konsequenz aus der Teilnahme an sozialen Praxisfeldern - siehe das Beispiel des „ver-ruckten" Fufiballspielers in Unterkap. 12.3.
' Benhabib 1995 (1992), 141.
318
Bewertung und Rechtfertigung von Handlungen
Neben der Gedankenlosigkeit besteht auch die Gefahr der Umnoralitat, die aus einem rein individualistischen Kalkiil hervorgeht. Wenn der Eigennutz als Selbstzweck und „Zweck aller Zwecke" verstanden wird, der aufierdem alle Mittel heiligt, dann wird das Handeln strategisch opportun. Verantwortung wird nur dann ubemomnien, wenn dieser Akt nutzenmaximierend ist; Verantwortung wird konsequenterweise zuriickgewiesen, wenn „rationale" Griinde daftir sprechen. („Homo oeconomicus" lasst griifien!) Die rhetorischen Konstruktionen, mittels derer die Verantwortung fiir das eigene Handeln vermieden oder herabgespielt wird, gehoren in hohem Mafie zum Sprachrepertoire (kultur-)politischer Demagogie: Euphemistische Umformulierung („Wir woUen den Missbrauch von Steuergeldern abstellen/'); Falsche Darstellung der Konsequenzen („Eine Rationalisierung des Arbeitsprozesses wird zu keiner Mehrbelastung der Angestellten fuhren."); Beschonigende Verharmlosung und Relativierung („Im Vergleich zu X ist Y unbedeutend."); Damonisierung der Gegnerlnnen („Nestbeschmutzer diirfen nichts von unseren sauer verdienten Geldem erwartenl"). Der Begriff der Verantwortung will eine Antwort auf die Frage „Warum zc/z?" finden. Eine Begriindung bezieht sich wiederum auf die Frage „Warum so?'' imd eine Rechtfertigung auf die Frage „Warum ist es richtig so?". Eine Begriindung (die erklarende Frage) und eine Rechtfertigung27 (die normative Frage) werden verlangt, wenn jemand eine Aufierung Oder eine Handlung kritisiert und ihr ihre Legitimitat abspricht. Daher haben erklarende und rechtfertigende Aufierungen oft den Charakter einer nachtraglichen Rationalisierung. Die Infragestellung des Handelns verlangt von der handelnden Person, Griinde vorzulegen, die
27 Zur Unterscheidimg zwischen erklarenden xrnd rechtfertigenden Grimden siehe Gosepath 1992,218-224 und 237-250, sowie Berger/Luckmann 1969, lOOf.
Drei Gnmdbegriffe: Verantwortung, Begrundimg, Rechtfertigimg
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die Konsistenz (Begriindung) und Geltung der moralischen Regeln, die ihr Handeln anleiten (Rechtfertigung), untermauern. Die Forderung nach Begriindung und Rechtfertigung bedeutet, dass man jemandem zugleich ein Recht auf Verteidigung der eigenen Position zugesteht, wie auch dass man ihm/ihr die Pflicht aufbiirdet, sich den Mitmenschen gegeniiber zu verantworten.^s Die Ubemahme von Verantwortung impliziert zugleich die Moglichkeit von Entschuldigung und Verzeihung. Voraussetzung dafiir ist das Bekenntnis zu den eigenen Taten und die Anerkennung ihrer problematischen Folgen. Der Begriindungsbegriff wurde in der aristotelischen Anthropologie aus der Bestimmung des Menschen als ein Wesen, das Griinde fiir sein Handeln hat (logon echein) und Griinde angeben kann (logon didonai), abgeleitet. Diese Fahigkeit ist in uns nur als Disposition angelegt und wird erst im Laufe der Sozialisation tatsachlich ausgebildet. Mehrere Formen der Begriindung eines Urteils oder einer Handlung werden schliefilich habitualisiert, das heifit in den Denkstrukturen des Individuums fest verankert. Die erfolgreiche Aktualisierung dieses latenten Konnens (d.h. Griinde fiir sein Tun angeben zu konnen) verlangt nach einem lokalen und kontextuellen Wissen iiber den Typus von Angaben, die eine Praxisgemeinschaft als gute Griinde akzeptiert. Der Kontext einer Begriindimg ist also essenziell: Es geht um Kenntnisse (a) der verschiedenen Arten von Geltimgsanspriichen in unterschiedlichen institutionellen Kontexten, (b) der kognitiven imd moralischen Orientierung sowie der Erwartungshaltung bzw. der Zustimmungsbereitschaft der Beteiligten, (c) der offenen und verborgenen Interessen, die die Einzelnen verfolgen, und (d) um die Einsicht iiber die Konsequenz von geta-
28 Verantwortung tragen bekanntlich nicht niir Individuen, sondem auch Organisationen und Behorden. Franz-Otto Hofecker pladiert unter Bezugnahme auf demokratiepolitische Uberlegungen, dass die Begriindung und Rechtfertigting der Kulturpolitik bzw. der Entscheidungen der offentHchen Kulturverwaltung institutionalisiert werden muss siehe Hofecker, F.-O.: „Einleitung: Quo vadis Kulturstatistik Osterreich?'' in ders. 2003, 9-16.
320
Bewertung und Rechtfertigung von Handlimgen
tigten Aussagen u.a. Diese Parameter, die eine Kommunikationssituation charakterisieren, werden von mehreren Theorien der kommunikativen Rationalitat und von alien pragmatistischen Ansatzen beriicksichtigt. Die erklarende Begrtindung des Handelns (Warum so?'') versucht, die Konsistenz der Handlung herauszuarbeiten. Wenn nns eine Handlung koharent erscheint und wenn wir wissen, dass der/die Handelnde aus eigener Uberzeugung etwas tat bzw. es nicht in einer Zwangssituation tat, dann bezieht sich eine Rechtfertigung auf seine/ihre Handlungsgriinde und Motive bzw. auf das Handlungsziel und den Handlungszweck. Als Grund einer Handlung ist eine Aufierung zu verstehen, die eine Handlung rechtfertigt: „In Anbetracht der Sachlage habe ich mich entschieden so zu handeln." Motive sind hingegen Zuschreibungen, die d e m / d e r Handelnden nicht bewusst sein mussen.29 Die Angabe von Griinden und Motiven ist fur den Interpretations- und Bewertungsprozess unabdingbar, well sie die Handlungsintentionalitat und in der Folge den Handlungssinn bestimmen. (Albert Camus' Erzahlimg „Der Fremde" spricht dieses Thema an: Der Ich-Erzahler wird nach einem Mord, den er begangen hat, vom Untersuchungsrichter iiber den Tathergang befragt. Der Richter liegt Wert auf die Griinde, die der Angeklagte hatte, auf die Leiche des Ermordeten mehrmals zu schiefien. Dem IchErzahler fallt keine Antwort darauf ein und er betrachtet diese Frage sogar als ganz und gar unwichtig. Damit wird aber der Eindruck erweckt, er sei ein skrupelloser Morder und genau darauf baut zuletzt der Staatsanwalt seine Anklageschrift auf. Das Gericht verurteilt schliefilich den Ich-Erzahler zum Tod.) Vieles, was iiber die Erklarung einer Handlung gesagt wurde, gilt auch fiir ihre normative Begriindung. Die Normativitat wird explizit in den Vordergrund gesetzt, wenn der Begrundimgszusammenhang es so
29 Zu dieser terminologischen Unterscheidiing siehe Anscombe 1986 (1957), § 1-9; Winch 1974 (1958), 104ff.; Forst, Rainer: „Praktische Vemunft imd rechtfertigende Griinde. Zur Begrimdimg der Moral", in Gosepath, 1999,181.
Drei Grundbegriffe: Verantwortimg, Begrimdung, Rechtfertigimg
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verlangt - man spricht folglich von einer Rechtfertigung. Die Rechtfertigimgskriterien sind interpretationsbedurftig, wie zum Beispiel die Frage nach der Selbstbestimmung der Handlimgsziele; der Situiertheit und Wahlmoglichkeit des/der Handelnden; den Wertstandards (Regeln) des/der Handelnden und sein/ihr Verstandnis von deren Befolgung; der Herkunft der entscheidimgsrelevanten Informationen sowie der kritischen Uberpriifimg dieser Informationen u.a. Diese Art von Kriterien verbinden die inneren Bedingungen mit den aufieren Umstanden einer Handlimg. Es gilt festzustellen, ob eine Handlung nach bestimmten moralisch-normativen Regeln im konkreten Fall prinzipiell moglich ware. Dariiber hinaus wird - oft nur stillschweigend - auf den Handlungsstil Bezug genommen. Unter „Stir' meine ich, dass Handlungen neben strukturellen und semantischen Aspekten auch stilistische, morphologische und sinnliche Merkmale aufweisen. Der Stilbegriff ist also wesentlich breiter als Ausdrlicke wie „Muster" oder „Schema", weil er eine Gestalt anspricht, die eine gruppenspezifische und idiosynkratische Herkunft hat. Die Frage nach der Rechtfertigung des Handelns kann auch anders gestellt werden: Was muss eine Person leisten, damit sie ihren Anspruch, richtig bzw. in einer vertretbaren Weise gehandelt zu haben, geltend machen kann? Hier kommt der Begriff der Verantwortung wieder ins Spiel. Die Rechtfertigung gegeniiber denjenigen, die sie einfordem, muss deren kritische Einwande miteinschliefien. Das bedeutet nicht, dass der/die Kritikerin die moralisch-normativen Kriterien, auf denen eine Rechtfertigung aufbaut, vorgibt. Die Miteinschliefiimg und Anerkennung der Position des/der anderen bedeutet lediglich, dass die Rechtfertigungsgriinde (Kriterien, Regeln) vertretbar sein miissen. „Vertretbar" bedeutet, was jemand fiir sich geltend macht, muss er/sie den anderen ebenfalls zugestehen. Diese Deutung von „vertretbar" raumt dem Handlungskontext eine gewisse Anerkennimg ein und will daher keinesfalls eine Universalitat oder Verallgemeinbarkeit der Moral im Sinne einer Negation der Pluralitat von Werten und Normen behaupten.
322
13.6
Bewertung imd Rechtfertigiing von Handltingen
Spezifische Probleme des praktischen Urteils
Das Bemiihen um eine Theorie der richtigen Schlussfolgerungen ist wahrscheinlich so alt wie die Notwendigkeit, sein eigenes Tun und Lassen zu begriinden. Deshalb gehen die Grundlagen modemer Theorien der praktischen Rationalitatstheorie auf die antike Philosophie zuriick. Die bekannteste Begriindungsform ist der praktische Syllogismus:
Erklarende Begrundung
Moralisch-normative Begriindung
(1) X intendiert p zu verwirklichen.
(a) X glauht, dass r gut/richtig /gerecht ist.
(2) X glauht, dass er p verwirklichen kann, wenn er q tut;
(b) X will gut/gerecht sein.
(3) Daher macht sich X an die Realisierung vonq.
(c) Daher macht sich X an die Realisierung von r.
Die formale Struktur des praktischen Syllogismus hat gelegentlich den Anschein, die Schlussfolgerung sei das Ergebnis eines formal-logischen Ableitungsverfahrens. In Wirklichkeit finden sich hier keine kausalen (d.h. gesetzformigen) Bedingungssatze. Der Handlungsentwurf „q" ist nur eine relative Bedingung in der Schlussfolgerung, weil es in den meisten Fallen auch andere Mittel gibt, um ein Ziel zu erreichen. Allan Janik geht auf dieses Missverstandnis ein: ^Practical logic refers to the capacity that we develop to articulate the coherence of our experience. Practical logic is thus a re-construction of the logic of practical reasoning through an articulation of the regularities impHcit in practical reasoning. Practical logic has four principal moments: the articulation of claims to knowledge, the advancement of grounds, to justify those claims, identifying the rules that 'warrant' advancing a par-
Spezifische Probleme des praktischen Urteils
323
ticular set of grounds as justifying this particular claim, and, finaUy, identifying the sorts of considerations that we take to justify appealing to that particular warrant/'^o
Eine praktische Schlussfolgerung stellt zugleich eine Begriindung wie auch eine Art Handlungsempfehlung dar.3i Der englische Begriff „warrant" driickt die gesellschaftlich garantierte Anerkennung des Ubergangs von den Pramissen zur Schlussfolgerung aus. „When I advance a warrant in an argument I am asserting that I can fall back upon a rule which has the force of a guarantee to support my move from these grounds to this claim."32 „Warrants" reprasentieren demnach das Explizitmachen dessen, was stillschweigend in der Akzeptanz der Schlussf olgenmgen liegt. Begriindete bzw. vertretbare Schlussfolgerungen dieser Art ermachtigen und berechtigen ims etwas zu behaupten, ein Urteil durchzusetzen, eine Handlimg zu vollziehen etc. Im Unterschied zur traditionellen Logik stellen ^warrants" im praktischen Syllogismus implizite Regeln dar, deren Kontextbedingtheit im Vordergrund steht: ^Warrants are requested by someone specific from someone specific at a specific stage in a given argument. (...) As such the rules that we have been calling 'warrants' are neither constitutive nor normative but partake of the character of both inasmuch as they are the articulated result of reflection upon the sorts of regularity that constitutes our thinking and acting.'^^^
Der praktische Syllogismus steht in dieser Applikationsform kontrar zum Kant'schen Anspruch auf Universalitat und AUgemeingiiltigkeit des praktischen Urteils. Die Vielfalt und der dynamische Wandel von Regeln limitieren die Moglichkeit einer universellen Rechtfertigung. Ein weiteres Problem liegt im circulus vitiosus, aus dem die idealistische und zugleich abstrakte Konzeption der „Vemunft", die von einem interesselosen Subjekt (dem „reinen Willen") getragen wurde, nicht ent-
3ojanikl994,49. 3i„Der Syllogismiis ist, wenn er zum Handeki fiihrt, 'praktisch' und kein logischer Beweis.'' (Wright 1974 (1971), 110; Hervorhebung TZ.) 32Janikl994,51. 33 Ebd. 53f.
324
Bewertung und Rechtfertigung von Handlungen
kommt. Das Problem ist folgendes: Wenn wir bestimmte Angaben liber Griinde und Motive fiir die Erklarung und Rechtfertigung einer Handlung akzeptieren, so tun wir das, weil sie uns verstandlich und plausibel erscheinen. Wir betrachten und beurteilen einen Sachverhalt aus der Warte unseres praktisch eingebundenen Wissens. Die Zirkularitat zwischen Begriindung und Handlungserklarung wird allerdings oft verkannt. Diese Zirkularitat entsteht, wenn wir die Koharenz zwischen dem, was wir glauben (Bedingungssatz im praktischen Syllogismus) und dem, was wir tun, nicht kritisch hinterfragen. Zirkularitat im moralischen Begriindungsverfahren fiihrt weiter zum infiniten Regress: „Der Grund fiir den Grund, der ein Grund fiir den Grund..., der die Handlung q rechtfertigt, ist...". Der infinite Regress wird abgebrochen, wenn alle Beteiligten iibereinstimmen, dass ein vorgebrachter Grund keiner weiteren Begriindung bedarf. Ein solcher Bruch kann aber nicht aus sich selbst begriindet sein, weil eine solche Begriindung eine Letztbegriindung ware, die dann wiederum dogmatisch (d.h. ohne weitere Begriindung) festgelegt werden miisste. Ein drittes Problem hat eine sprachpragmatische Wurzel. Im Begriindungsprozess gelangen wir oft an Grenzen - Grenzen der Beschreibung und der Rechtfertigung -, die kaum zu iiberwinden sind. Keine Rechtfertigungsgriinde angeben zu konnen heifit nicht, dass wir etwas zu imrecht behaupten oder tun.34 viele Griinde, die wir haben, wenn wir Aufienmgen oder Handlungen bewerten, sind eigentlich kaum artikulierbar. Unsere Griinde sind dann unspezifizierbar, auch wenn die Urteile deutlich formuliert sind.
34 Habermas vertritt die gegenteilige Auffassimg, weil er „die Rationalitat einer Axil^erung atif Kritisierbarkeit \md Begnindirngsfahigkeit'' zunickfuhrt - Habermas 1981, Bd. 1, 27. Es scheint, als ob er die Grenzen der VersprachHchimg nicht mitbedacht hat.
Rationalitat als evaluatives Kriteriiim
13.7
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Rationalitat als evaluatives Kriterium
Die Begriindung und Rechtfertigung einer Behauptung bzw. einer Handlimg hangt mit dem Problem der Rationalitat zusammen. Rational sein bedeutet, vorerst der altgriechischen Terminologie folgend, „logon echein". Rationalitat setzt in diesem Sinn die Versprachlichung eines Sachverhaltes und das Bestreben voraus, ihm eine angemessene und konsistente Artikulation zu geben. Das Wort „angemessen" spielt auf (a) die inhaltliche und (b) die zweckmafiige Interpretation des Rationalitatsbegriffs an; „Konsistenz" verweist auf (c) die formal-logische Dimension. Im folgenden Abschnitt soUen diese drei Aspekte vorgestellt imd diskutiert werden. Die formale Bestimmimg der Rationalitat baut auf eine tief verwurzelte Grundannahme: Echte Argimientationen haben eine logische Struktur und lassen sich formalisieren?^ Logische Konsistenz meint, dass eine Behauptung und die damit verbundenen argumentativen Verkniipfungen nicht kontradiktorisch sein diirfen. Inkonsistenz besteht dann, wenn es keine logische Moglichkeit gibt, dass die getatigte Behauptimg wahr sein karm - wenn jemand zum Beispiel behauptet „Es regnet und zugleich regnet es nicht." Konsistenz wird in der tradierten Rationalitatstheorie als unabanderliches, nicht-revidierbares Kriterium begriffen.^^ Auf der Basis dieser Konzeption entstand die Entscheidungstheorie, die eine vielfache Anwendung in den okonomischen und politischen Wissenschaften fand.37 Trotz des Verzichts auf die Berticksichtigimg inhalts-
35 AUe Vertreter der formalen Rationalitatskonzeption teilen diese Grundannahme - siehe Searle2001,Kap.4. 36 Kritik daran libt Welsch, Wolfgang: „Vemunft imd Ubergang. Zimi Begriff der transversalen Vemunft", in Apel/Kettner 1996,139-165, insb. 161. 37 Einfache Entscheidungstheorien untersuchen in erster Linie die Entscheidungsparameter theoretisch isolierter und autonomer Individuen. Spieltheorien fokussieren ihre Aufmerksamkeit auf strategische Entscheidungen, die in interaktiven Konkurrenzsituationen notwendig sind. Theorien der Sozialen Wahl untersuchen Gruppenentscheidungsprozesse, bei denen trotz konkurrierender Nutzenvorstellimgen innerhalb der Gruppe eine gemeinsame Entscheidung getroffen werden muss.
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Bewerhing imd Rechtfertigung von Handlimgen
bezogener Aspekte hat der formalistische Ansatz hohen heuristischen Wert, well er die Entscheidungsstruktur eines konkreten Falles mit entsprechenden Wahrscheinlichkeitsmatrizen darlegen kann. Bei der Anwendung des Konsistenzkriteriums auf Handlimgen stofit man allerdings auf einige tiefere Probleme. Eine Handlimg ist nach dem formaltheoretischen Ansatz rational, wenn sie (aus der subjektiven Sicht des/der Handelnden) die Handlimgsziele in optimaler Weise verwirklicht. Das Kriterium der Rationalitat beinhaltet, dass der/die Handelnde ein mehr oder weniger klares und koharentes Bild von der Handlimgssituation und den Konsequenzen der verschiedenen Handlimgsoptionen hat. Irrational handelt demnach jemand, der/die wissentlich mit der jewieligen Wahl der Mittel eine Handlung in Widerspruch zu seinen/ ihren selbstgesetzten Zielen ausfiihrt. (Eine Modifikation dieser Bedingimg ware moglich, wenn man akzeptiert, dass Absicht und Wissen bewusstseinsmaiSig graduelle Abstufungen haben. Jemand konnte daher auch quasi unbewusst irrational handeln.) Im AUtagsleben sind aber sowohl die Handlungsakteurlnnen als auch die Interpretlnnen, die eine Handlung evaluieren, wesentlich starker mit Interpretationsproblemen konfrontiert als die theoretischen Beispiele suggerieren, die man in Lehrbiichem findet. Nehmen wir an, ein Kettenraucher erkrankt an einer Lungenentzundung. Er will von seiner Erkrankung bald genesen, weil er sonst seine geplante Urlaubsreise nicht antreten kann und die Stornogebiihren sehr hoch sind. Trotzdem raucht er wie gewohnt weiter. In diesem Fall haben wir einige Indizien, dass sein Verhalten inkonsistent ist. Nun, wie konnen wir unser Urteil untermauem? Raucht er, weil er einen schwachen Willen hat (das Problem der Sucht), denkfaul ist (jemand bemiiht sich gar nicht, iiber die Folgen einer Handlung nachzudenken), Angst hat, iiber die negativen Folgen des Rauchens nachzudenken (das Problem der Verdrangung), konzeptuell inkonsistent ist („Mir kann das Rauchen nichts anhaben.")/ oder weil er geistig verwirrt bzw. nicht zurechnungsfahig ist? Um unser Urteil iiber die Inkonsistenz seines Verhaltens argumentativ begriinden zu konnen, miissen wir drei weitere Fragen klaren:
Rationalitat als evaluatives Kiiteriinn
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Erstens, ob die erklarende Begriindung einer Handlung ein Problem darstellt, welches einE Logikerin bzw. einE Rationalitatstheoretikerin losen kann. Anders ausgedriickt: 1st es gerechtfertigt, hier die Psychologie und die Epistemologie der Praxis auszuklammern? Zweitens, ob Handlungsziele imd Mittelwahl eine kausale, d.h. ursachliche Relation zum HandlungsvoUzug haben. (Das Problem der Kausalitat in der Handlungstheorie werde ich hier nicht diskutieren.38) Drittens, ob Rationalitat immer mit Nutzenmaximierung identifiziert werden darf, d.h. ob die Wahl der Handlung mit dem hochsten erwarteten Resultat automatisch die „beste Wahl" ist. All diese Fragen werden je nach theoretischem Standpunkt unterschiedlich beantwortet. Dariiber hinaus konnen die konkreten Handlimgskontexte so verschieden voneinander sein, dass es xmzulassig ist, nach generalisierten Antworten zu suchen. Das Problem der Interpretation und Bewertung einer Handlung hat aber auch eine weitere Facette. Ein qualifiziertes Bewertungsurteil verlangt die Rekonstruktion der Handlungssituation aus der Sicht des/der Handelnden. Werm diese Rekonstruktion unvoUstandig bzw. nicht zufrieden stellend ist, dann neigt der/die Interpretln zu extemen Erklarungsmustem - man denke wieder an Camus' „Der Fremde", wenn der Untersuchungsrichter den Ich-Erzahler „Antichrist" nennt. Erklarungen ohne Verstehen werden dem Einzellfall aber nicht gerecht, weil sie notwendigerweise auf Typisierung und Verallgemeinerung basieren. Carl Hempel, der eine formale Rationalitatsauffassung vertritt, spricht diese Problematik explizit an: „Eine bestimmte Handlung durch Bezugnahme auf die Griinde imd die Rationalitat des Handelnden zu erklaren, heifit also sie so darzustellen, als ob sie in Ubereinstimmimg mit jenen allgemeinen Tendenzen stiinde und als ob sie ein Beispiel fiir diese
38 Siehe Wright 1974 (1971), Teil XL
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Bewertung tind Rechtfertigimg von Handlungen
Tendenzen sei."39 Handlungserklaningen, die nicht aus einem Verstehen, sondem aus der Beschreibimg des Handelns entstehen, sind gegeniiber deviantem, fremdartigem und nicht-vertrautem Verhalten iiberfordert. Das Erfassert des Handlungssinns bleibt auf der Strecke und die Beurteilung der Handlung als „irrationar' fallt allzu schnell.^o Der Rationalitatsbegriff wird nicht nur formal, sondem auch materiell (inhaltsbezogen) bestimmt. Materielle Rationalitatstheorien fokussieren ihre Aufmerksamkeit auf die Art der Uberzeugungen und Ziele der handelnden Person, um ihre „Vemunftigkeit" zu beurteilen. Die Konzentration auf Ziele und Zwecke gibt der materiellen Rationalitatsauffassung einen auffallend normativen Charakter. Sie beruft sich auf mehrere Kriterien: 1. Die Annahmen des/der Handelnden miissen empirisch begriindbar, d.h. wahr sein. 2. Die Ziele miissen normativ gesichert sein. 3. Der/die Handelnde muss alle ihm/ihr verfiigbaren Informationen berucksichtigen und kritisch iiberprufen. 4. Die Wahl der Mittel soil zweckdienlich sein u.a. Natiirlich wird auch hier auf formale Anforderungen keinesfalls verzichtet (z.B. der/die Handelnde muss logische Prozeduren voUziehen), aber der Schwerpunkt liegt eindeutig auf dem Handlungsinhalt. Somit suggerieren materielle Rationalitatstheorien, dass das Attribut „rational" soviel wie „normativ richtig" bedeutet. Im Gegensatz zu den meisten formalen Rationalitatsauffassungen wird bei vielen materiellen Rationalitatstheorien der Rationalitatsbegriff keinesfalls relativiert - etwa mit Hinweis auf die Subjektivitat des/der Handelnden. Somit erheben materielle Rationalitatstheorien einen Objektivitatsanspruch, der mit dem
39 Hempel, Carl: „Rationales Handeln" (1961), in Meggle 1977, Bd. 1,400. ^ Ziim moraHsierenden Gebrauch des Rationalitatsbegriffs siehe Taylor, Charles: ^Rationality'', in HoUis/Liikes 1988, 87-105; Cert, Bemhard: „Substantielle Rationalitat" (1990), in Apel/Kettner 1996,335ff.
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analytischen iind normativen Charakter ihrer Untersuchungsmethodik begriindet wird. Doch gerade ihr Objektivitatsanspruch brachte den materiellen Rationalitatstheorien massive Kritik ein, vor allem den Vorwurf des Ethnozentrismus. Eine dritte Rationalitatskonzeption, die ihre Spuren in den meisten okonomischen Handlungstheorien hinterlassen hat, verbindet den Rationalitatsbegriff mit dem Zweck- und Nutzenbegriff. Max Weber liefert eine klassische Definition der Zweckrationalitat: „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zwecken, Mitteln imd Nebenfolgen orientiert imd dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke wie die Zwecke gegen die Nachfolgen, wie auch endlich die verschiedenen moglichen Zwecke gegeneinander rational abwagt/'^^
Weber bezieht sich hier sowohl auf die technische bzw. instrumentelle als auch auf die pragmatische Rationalitat. Technische Rationalitat bedeutet die „Geschicklichkeit im Gebrauch der Mittel zu allerlei beliebigen Zwecken". Pragmatisch (bzw. praktisch-notwendig) ist jene Rationalitat, die „[die] Wahl der Mittel zu seinem eigenen grofiten Wohlsein" mit Klugheit trifft - so Kant.42 Die pragmatische Rationalitat bringt den Aspekt des Eigennutzens ins Spiel. Diese Deutung kniipft auch an das
41 Weber, Max: „Soziologische Gnindbegriffe'' (1921), in Weber 1925, Bd. L, 13. Die zweckrationale Orientienmg stellt aUerdings ntir einen T3rp von sozialen Handlimgen dar. Die anderen drei, die Max Weber erwahnt, sind wertrational affektueU und traditional orientierte Handlimgen. Die Orientienmg ist idealtypisch zu verstehen, das heifit sie bezieht sich auf die dominanten Tendenzen im Handlimgsprozess. Webers Reihung - Zweckrationalitat wird als erste genannt - entspricht dem RationaHtatsgrad jedes Handlimgstyps. 42 Kant 1965 (1785), A 415f. Neben den „Regeln der Geschicklichkeit" und den „Ratschlagen der Klugheit'' spricht Kant auch von den „Geboten (Gesetze) der Sittlichkeit'', d.h. von der sittUchen Rationalitat, die durch den kategorischen Imperativ zum Ausdruck gebracht wird. Im Unterschied zu Kant negiert Max Weber jedoch die MogHchkeit einer rationalen Rechtfertigung von Zielen und Moral - siehe Weber, Max: „Der Sinn der 'Wertfreiheit' der soziologischen und okonomischen Wissenschaften'' (1917), in Weber 1968,229-277 siehe insb. 243f.
^^0
Bewertung und Rechtfertigimg von Handlimgen
Konsistenzkriterium an: Maximale Konsistenz muss zu maximaler Wunschbefriedigung fiihren. Obwohl die Heranziehimg der Wiinsche bzw. der Praferenzen sinnvoU erscheint, werden wir sehen, dass die Rationalitatstheorien auf wackeligen epistemischen Annahmen beruhen. Praferenzen haben in der Theorie der Zweckrationalitat einerseits die Funktion, eine Bewertung von Handlungsalternativen zu ermoglichen, andererseits den Grund von Bewertungen darzustellen. Einige theoretische Ansatze gehen davon aus, dass Menschen iiber konsistente Praferenzordnungen verfiigen, die die Voraussetzungen von Reflexivitat, VoUstandigkeit und Transitivitat erfiillen. (Reflexivitat meint, dass jedes Guterbiindel so gut wie es selbst ist. VoUstandigkeit bedeutet, dass alle beliebigen Guterbiindel miteinander vergleichbar sein miissen. Menschen konnen daher stets entscheiden, welches Guterbiindel sie den anderen vorziehen bzw. zwischen welchen Giiterbiindeln sie indifferent sind. Aus dem VoUstandigkeitsaxiom ergibt sich stets eine Ordnung. Das Prinzip der Transitivitat stellt eine logische Forderung dar: Wenn ein Giiterbiindel A dem Giiterbiindel B vorgezogen wird und Giiterbiindel B dem Giiterbiindel C, dann ist das Giiterbiindel A dem Giiterbiindel C ebenfalls vorzuziehen.) Auch wenn diese drei Voraussetzungen einen Idealstatus darstellen, zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass zahlreiche Ausnahmen und Anomalien moglich sind, die theoretisch nur bedingt gelost werden konnen. Konzeptuelle und voluntative Inkonsistenz stammen einerseits aus Wertkonflikten, andererseits aus der Ambiguitat des Begehrens beides allzu menschliche Phanomene. Es gibt viele Situationen, in denen die Forderung nach VoUstandigkeit nicht leicht zu erfiillen ist, derm Individuen haben manchmal gute Griinde, sich nicht entscheiden zu konnen, welche Option unter mehreren sie besser finden - man denke beispielsweise an moralische Dilemmata. Ein solches Sich-nicht-entscheiden-Konnen ist in derartigen Fallen nicht auf eine Indifferenz zwischen
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den Giiterbundeln reduzierbar.43 Begrimdete Entscheidungsunfahigkeit gibt uns kein Recht, von Irrationalitat zu sprechen. Transitivitat kann ebenfalls nicht immer eingefordert werden, well eine Person ihre Handliingsoptionen von Fall zu Fall nach variablen Kriterien beurteilen kann. So ist es denkbar, dass eine Person in einem Restaurant das Menu A (Nudeln mit Rahmsauce) dem Menii B (Schnitzel mit Reis und Gemiise) vorzieht, weil sie etwas Leichtes essen mochte, d.h. A > B das Menii B dem Menii C (frischer Salat mit gegrillten Gamelen) vorzieht, weil Menii B billiger ist, d.h. B > C aber Menii C gegeniiber Menii A bevorzugt, weil es mehr Vitamine hat, d.h. C > A. Da sie unterschiedliche Aspekte beriicksichtigt, was auch legitim ist, entsteht eine Praferenzrelation, die nicht transitiv ist (A > B > C > A).^ Die Entscheidung, hangt schliefilich davon ab, wie viel mehr sie zu zahlen bereit ist, um C zu bestellen - dann ist B > C nicht stark genug - bzw. bei welchem Preisunterschied sie Halt macht, damit C > A nicht starker als A > B > C wiegt. Eine Praferenzordnung generiert Nutzenfunktionen, die wiederum die Koharenz der Praferenzordnimg abbilden. Eindeutige Praferenzordnungen sind bei axiomatischen Rationalitatsmodellen die Grundvoraussetzimg, damit Individuen ihre Handlungsentwiirfe rational abwagen, u m eine richtige Nutzenoptimierung zu erreichen. Das impliziert ein Bild des Menschen als Homo rationalis, als Herrscher iiber seine Innenwelt und insbesondere iiber seine Bediirfnisse, Wiinsche und Ziele; denn
43 Kritik an den Axiomen konsistenter Praferenzordnimgen ubt auch Mandler, Michael: „A Difficult Choice in Preference Theory: Rationality implies Completeness or Transitivity but Not Both'', in Millgram 2001,373-402. 44 Dieses Beispiel lehnt sich entfemt an das bekannte Condorcet-Paradoxon an, obwohl es hier nicht u m eine Gruppenentscheidung geht. Aus Verstandlichkeitsgrimden wurde hier auf eine komplexere, aber logisch voUstandigere Auslegung des Beispiels verzichtet.
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Bewertiing iirid Rechtfertigung von Handlungen
wer nicht „Herr im eigenen Haus" ist, kann nicht rational handeln. Sind die anthropologischen Grundlagen dieser Auffassung solide? In der Entscheidungstheorie und in vielen theoretischen Arbeiten zur Erklarimg des wirtschaftlichen Verhaltens werden Praferenzen oft als gegeben betrachtet. „Tastes are the unchallengeable axioms of a man's behavior: he may properly (usefully) be criticized for inefficiency in satisfying his desires, but desires themselves are data."45 Nun, wer entscheidet iiber die Praferenzinhalte? Fragt man die handelnde Person, ob sie X gegeniiber Y vorzieht, und verlasst man sich auf die Korrektheit und Wahrhaftigkeit der Antwort? Ist es zulassig eine Antwort weiter zu interpretieren? Oder sollte man lieber induktiv vorgehen, das heifit ihr Verhalten beobachten und sehen, wie sich seine/ihre Praferenzen selbst offenbaren? Nichts hilft uns wirklich weiter: Introspektive Beobachtungen sind epistemisch gesehen nicht zuverlassig und die Theorie der induktiv offenbarten Praferenzen ist nicht leicht operationalisierbar, weil die gewonnenen Erkenntnisse retrospektiv sind. Das bedeutet, wenn wir tatsachlich Nutzenfunktionen aus vergangenen Handlungen extrapolieren konnten, dann batten diese trotzdem keine signifikante Relevanz fiir kiinftige Handlimgen. Bekanntlich haben Menschen mehrere Praferenzordnungen, die sich in komplexer Weise iiberschneiden.46 Das Begehren ist also labil und often - diese Einsicht greift letztendlich die Werbewirtschaft auf, indem sie versucht, Praferenzen gezielt zu stimulieren. Die Starke der Theorie der zweckorientierten und nutzenmaximierenden Rationalitat liegt in ihrer Simplizitat: Der Abstraktionsgrad ist hoch und es gelingt der Theorie, ihre Begrifflichkeit auf viele Falle kon-
45 Stingier/Becker 1977, 76-90; wiedergedriickt in Towse 1997, Bd. 1, 112-126. Diese Position wird iirnner n o d i von vielen Okonomlnnen verteidigt - so z.B. vor kurzem Gregory Mankiw: „Economists normally do not try to explain people's tastes, because tastes are based on historical and psychological forces that are beyond the realm of economics/' (Mankiw 1998, 64.) 46 Zur Variabilitat der Praferenzen siehe Tenbruck 1972, 23f. und Sen, Amartya: „Wohlergehen: Verschiedenheiten und Eigenheiten'' in Sen 2000 (1999), 89ff.
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sistent anzuwenden.47 Die Annahme eines autonomen iind rationalen Handlimgssubjekts sowie das Versprechen, die Wirksamkeit des eigenen Handelns und somit das Ma6 des eigenen Gliicks iinter Zuhilfenahme formeller Einsichten und Kalkiile zu erweitem, ist sicherlich verfuhrerisch. Darin liegt aber, wenn wir die Betrachtungsperspektive verandem, auch die Schwache dieses Ansatzes. Einige bekannte Kritikpunkte sollen hier angefiihrt werden: Erstens ist die Auffassimg der Zweckrationalitat als Nutzenmaximiening dogmatisch, weil es per Definition keine Moglichkeit gibt, Situationen anzuerkennen, in welchen eine Person fiir sich gute Griinde hat, die Maximierung ihres Nutzens als nicht vorrangig zu betrachten^s - siehe auch Unterkap. 13.9. Sind die Handlungsgriinde sogar affektiv oder traditionsorientiert bestimmt, dann neigen viele Rationalitatstheoretikerlnnen dazu, die handelnde Person als irrational zu begreifen. Der Reduktionismusvorwurf, der hier mitschwingt, behauptet, dass der konzeptuelle Rahmen der formalen und instrumentellen Rationalitatstheorien zu „dunn" ist, u m der Komplexitat und Polyvalenz des Handelns gerecht zu werden. Zweitens ist Handeln, wie ich in den vorigen Abschnitten erlautert habe, ein fliefiender Prozess. Die Annahme, vor dem Handeln fande ein Innehalten statt, wahrenddessen der/die Akteurin die Vorinformationen in aller Ruhe prilft, Handlungsoptionen ab-
47 Um das Wort „umversalistisch'' zu vermeiden, sprechen manche Okonomlnnen von der „Integrationsfahigkeit" des okonomischen Erklarungsmodells. Ziir Demonstration des universellen Erldarungsanspruchs der okonomischen Handlimgstheorie siehe z.B. Ramb/Tietzel 1993. 48 Kritik am Maximierungspostulat individualistischer Rationalitaten iibt Slote 1989, Kap. 1-2. Slote arginnentiert itn Anschlxiss an die aristotelische Mesotis-Lehre, dass es moralische wie auch aufiermoralische Griinde gibt, seine Bedurfnisbefriedigung zu mafiigen imd ein ^moderates Individuum'' zu sein - siehe Slote 1989, 70f. imd 112f. (Die Mesotislehre bzw. eine Mafiigimgsethik vertragen sich allerdings nicht mit der Logik unserer exzessiven KonsumgeseUschaft.)
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Bewertung irnd Rechtfertigting von Handlungen
wagt, wobei er/sie Wiinsche und Sachlagen voneinander trennt, dann sozusagen wie eine Rechenmaschine die beste Losimg kalkuliert, schliefilich die Handlung iplant und bruchlos durchfuhrt, ist eine schone und zugleich etwas seltsame „Geschichte", die, wenn sie nicht so oft erzahlt worden ware, der Gattung der Sciencefiction zugerechnet werden konnte.49 Drittens ist die bereits formulierte Skepsis im Hinblick auf die Annahme eindeutiger Praferenzordnungen zu wiederholen. Diese Annahme, auch wenn sie als idealtypisches Modell zitiert wird, erklart alle Einsichten, die die Psychologie im 20. Jahrhundert schuf, fiir null und nichtig. Implizit prolongieren viele Rationalitatstheorien ein Vorurteil, das dem klassischen Rationalismus eigen war: Emotionen - all das, was uns bewegt, so auch die etymologische Bedeutung des Wortes - und „starke Wertungen" seien storende Subjektivitat. Sobald aber das Konzept der eindeutigen Praferenzordnungen briichig wird, ist die Handlungsoptimierung entweder nicht moglich oder nicht eindeutig. Die Optimierungstheorien gehen davon aus, dass Menschen prinzipiell eigenniitzig handeln, imd dass sie in allem, was sie tun, eine Nutzenmaximierung anstreben. Diese Annahme ist aber umstritten. Es ist im Gegenteil festzuhalten, dass Handelnde gewohnlich vielfaltige Orientierungspunkte haben, „unter denen das personliche Wohlergehen vielleicht nur eines unter vielen isf'^o - man denke an Mitgeftihl (Sympathie, Zuneigung, Solidaritat), an Verpflichtungen (moralische Glaubenssatze, Vertrage, Imperative) oder an die Selbstbindung einer Person. Amartya Sen kommt daher zu dem Schluss: „Ob all diese Verhaltensmuster iiberhaupt
49 Aiif der Basis dieser Kritik entwickelte Herbert Simon das Konzept der „eir\geschrankten Rationalitaf' - siehe Simon 1947. John Elster spricht in einem ahnlichen Zusammenhang von der „unvoUstandigen RationaHtat'' - siehe Elster 1987 (1979/1983), Kap. 2. 50 Sen, Amartya: „Rationale Trottel: Eine Kritik der behavioristischen Grundlagen der Wirtschaftstheorie'' (1977), in Gosepath 1999,82.
Grenzen der Operationalisierung von Rationalitatskriterien
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in jenen formalen Rahmen der konsistenten Wahl gefasst werden konnen, auf den die Theorie der Nutzenmaximierung beruht, ist mehr als eine offene Frage/'^i 13.8
Grenzen der Operationalisierung von Rationalitatskriterien
Die vorgebrachten kritischen Einwande wollen den Rationalitatsbegriff nicht abschaffen. Es gibt sowohl in Kommunikationsprozessen als auch beim praktischen Handeln vielfaltige rationale Momente. Das driickt sich auch in Satzen aus wie „Wenn du dies erreichen hattest woUten, hattest du besser das oder jenes getan/', „Es war vorhersehbar, dass er kaum Chancen hatte Y zu erreichen." oder „Wenn du das machst, verstofit du gegen diese Regel." Aber im AUtagsleben sind wir oft mit partikularen Situationen konfrontiert, die fast immer nicht mit den Beispielen aus den Lehrbiichern koinzidieren. „Problem" und „Entscheidungslage", die gemafi der rationalen Handlungstheorien einer Handlung vorausgehen miissen, sind weder selbstevident noch immer vergleichbar. Unsere Wahmehmungen und Erfahnmgen im AUtag sind haufig durch einen hohen Grad an Unordnung, Unspezifizierbarkeit und Unsicherheit gekennzeichnet. Die naive Betrachtungsweise von „Problemen" als etwas Gegebenem zeigt die Ignoranz der tradierten Rationalitatstheorien gegeniiber dem Prozess der Problembestimmung. Wenn wir beispielsweise als Kunstschaffende, Kulturmanagerlnnen usw. im Kultursektor arbeiten, sind wir mit unterschiedlichen und dynamischen Situationen konfrontiert, die wir nicht immer automatisch iiberblicken und identifizieren kormen. Wir versuchen also jene „Elemente", die wir innerhalb einer Situation erfassen, zu interpretieren und zu bewerten; dann ordnen und reinterpretieren wir sie nochmals, bis wir eine fiir uns mehr oder weniger stringente Problembestimmung erhalten. Wir fiihren also eine „Kon-
51 Ebd. 82; ahrdich auch Elster, Jon: „Wesen iind Reichweite rationaler Handlimgserklan m g " (1985), in Gosepath 1999,65ff. sowie Douglas 1991 (1986), 26f.
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Bewertung vand Rechtfertigiing von Handlungen
versation" mit der Situation durch.52 Das Gelingen dieser Konversation hangt einerseits von der Qualitat der Situationserfassimg und -analyse, andererseits von der Sensitivitat der Akteurlnnen iiber begrifflich-analytisch kaum fassbare Aspekte der Praxis ab. Schon konstatiert folglich: „[We] are coming to recognize that although problem setting is a necessary condition for technical problem solving, it is not itself a technical problem. (...) Problem setting is a process in which, interactively, we name the things to which we will attend and frame the context in which we will attend to them.^^s Mit anderen Worten stofien wir sowohl in der Kommunikation als auch im Handeln auf Grenzen der Versprachlichung des Reflexionsprozesses. In vielen Fallen konnen wir nur von lokalen und praxisbezogenen Rationalitaten sprechen^^, die nicht voUstandig konzeptualisiert imd formalisiert werden konnen - siehe auch Unterkap. 10.5. Das Bild, das sich viele Rationalitatstheorien von der beruflichen Praxis implizit machen, ist allzu deduktiv angelegt: Berufstatige befolgen demgemafi bei der Erfiillung ihrer Aufgaben in erster Linie allgemeine Prtnzipien, klare Regeln und gebrauchen dabei standardisiertes Wissen. Dagegen ist (eigentlich trivial) einzuwenden: Es gibt immer einen Interpretationsspielraum beziiglich der Anwendung von Rationalitatskriterien - das wissen Juristlnnen besser als Rationalitatstheoretikerlnnen ganz zu schweigen von den Paradoxien, die Logikerlnnen kontinuierlich entdecken. Debattieren wir nicht haufig und mit gutem Recht uber die Bedeutung von Aussagen und Taten? Es gibt zweifellos berechtigte Rationalitatskonflikte, well es viele lokale Rationalitaten und dazu noch
52 Siehe Schon 2002 (1983), 16 und 79. 53Ebd.40. 54 Diese Einsicht findet sich auch in der neueren Theoriebildimg der Okonomie wieder. Herbert Simon betont in seinen spateren Schriften, dass die Vorstellung einer kontextfreien, universellen Rationalitat sinnlos ist. Rationalitat als Set von Regeln ist immer auf konkrete soziale Verhaltnisse bezogen und deshalb spricht Simon nim vom sozialen Charakter einer Entscheidungsfindimg - siehe Simon 1993 (1983), 84f.; ahnlich auch Schoppe, 1995,103ff.
Grenzen der Operationalisierung von Rationalitatskriterien
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unterschiedliche Begriindungssh'/e gibt, die auf metaphorischen, formallogischen, deduktiven oder induktiven Sprachfiguren beruhen. Es ist daher notwendig den Rationalitatsbegriff im Hinblick auf die bereits mehrfach erwahnten anthropologischen und praxeologisctien Einsichten zu iiberdenken. Wenn wir die Sozialitat des Handelns emst nehmen (und damit die Sozialitat kiinstlerischer und kultureller Praxen), dann miissen wir samtliche Kriterien zur Charakterisierung und Rechtfertigung des Handelns nicht blofi als intrinsische Eigenschaften der Handlungsstruktur begreifen, wie Formalistlnnen es tun, und ebenso wenig als kulturtranszendente, objektive Kategorien, wie Vertreterlnnen der materiellen Auffassung glauben.55 Der Rationalitatsbegriff muss kiinftig kontextspezifisch differenziert und primar kulturalistisch begriffen werden, weil ihm die transzendentale Autoritat und universelle Reichweite, die ihm leider viel zu oft zugesprochen werden, fehlen. Niklas Luhmanns Versuch den Rationalitatsbegriff zu entpersonalisieren und durch den Ausdruck „Systemrationalitat" zu ersetzen, ging zwar aus der Einsicht liber die Schwierigkeiten traditioneller Rationalitatstheorien hervor,^^ kann meines Erachtens aber die Rationalitat des praktischen Handelns nicht erfassen. Der Grund daflir ist einfach: Luhmann lehnt den Handlungsbegriff ab und definiert ihn als „Verhalten". Das Konzept der Systemrationalitat kann unter gewissen Bedingungen auf institutionelle Entscheidungen angewendet werden; individuelles Handeln ist aber aus Griinden, die bereits ofters angefiihrt wurden, kein blofies Verhalten. Theoretische Ansatze, die im Ideal einer distanzierten, wertneutralen und formalen Beschreibung oder in den Schranken der eigenen strengen Begrifflichkeit verharren, scheitem an der Diffusion, Fliichtigkeit und Unscharfe des Handelns. Sie verlangen von der praktischen Welt prir\zipiell eine Struktur („System" oder „Textualitat") und
55 Siehe Granovetters differenzierte Kritik an Konzepten des ubersozialisierten (Systemtheorie) und imtersozialisierten (atomistische Entscheidimgstheorie) Handelns in Granovetter 1985,481-510. 56 Siehe Luhmann 1973, Einfuhrting.
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Bewertung imd Rechtfertigung von Handlungen
eine Logik („Konsistenz", „Vollstandigkeit", „Transitivitat" u.a.), die diese aber von sich aus weder anbietet noch hergeben kann. Was viele Theoretikerlnnen erreichen, wenn sie ihre Abstraktionen euphorisch verbreiten, ist schlicht und einfach eine Verkognitivieriing des Handlimgsprozesses. In solchen Fallen konnte man in Abwandlung von Roland Barthes' bekannten Spruch sagen: Die Theorie ist faschistisch bzw. imperialistisch. 13.9
Fundamente und Ruinen des nutzenorientierten Rationalitatsbegriffs
Ludwig von Mises rechtfertigt die rationale Erklanmg wirtschaftlichen Verhaltens und im weiteren Sinne menschlicher Handlungen allgemein, indem er der Zielorientiertheit des Handelns einen apriorischen Status gibt: „Human action is necessarily always rational. The term 'rational action' is therefore pleonastic."57 Seine Vorstellung vom Pleonasmus des Attributs ^rational" ist fiir das okonomische Denken symptomatisch auch wenn Mises nicht zu den orthodoxen Okonomen seiner Zeit gehorte. Uberdies hat der Rationalitatsbegriff in der okonomischen Handlungstheorie, wie sie sich seit dem spaten 18. Jahrhundert sukzessiv entfaltet hat, ein spezifisches Merkmal: die Nutzenmaximierung. Diese Konzeption erlebte in den Wirtschaftswissenschaften eine lang anhaltende Bliitezeit. (Zweifelsohne gibt es auch andere theoretische Entwiirfe, aber ich beziehe mich hier auf ein dominantes Paradigma, das die Mainstream-Theoriebildung gepragt hat. Der Institutionalismus in der Okonomie beriicksichtigt beispielsweise den Einfluss kultureller Aspekte wesentlich starker als andere Ansatze imd negiert folglich die Vorstellimg von einer eigenstandigen und universellen Logik wirtschaftlichen Verhaltens.)
57 Mises 1949, 19; ahnHch auch Koch, Helmut: „ijber eine aUgemeine Theorie des Handelns", in Koch 1962,367-423.
Fundamente und Ruinen des nutzenorientierten Rationalitatsbegriffs
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Das Konzept der Nutzenmaximierung setzt einen bestimmten Nutzenbegriff voraus. In den ersten Schriften der Utilitaristen wurde der Nutzenbegriff aus den „menschlichen Bediirfnissen" abgeleitet. Daraus entstand die Vorstellung eines „naturlichen' Nutzwertes, der zeitweise zur Definition des Wertes von Giitern herangezogen wurde. Dariiber hinaus wurde „Nutzen" als motivationale Kategorie verstanden. Bediirfnisse treiben die einzelnen Individuen zu Aktivitaten an; die aus Bedurfnissen generierten Nutzenvorstellungen strukturieren und lenken die einzelnen Handlungen. Auf diesen Fundamenten entstand das charakteristische Selbstverstandnis der klassischen und neoklassischen Okonomie: „Utility is plainly the subject matter of economics from beginning to end. It is the alpha and omega of the science, as light is of optics or sound of acoustics."58 Diese Auffassung fand schliefilich auch Eingang in die modeme Entscheidungstheorie, die ebenfalls einen Zusammenhang zwischen einer rationalen Wahl, den Praferenzen und dem individuellen Wohlergehen annimmt. Fur die nutzenorientierte Analyse des Handekis spielen folglich die oben erwahnten Aspekte eine entscheidende RoUe. Das implizite Handlungsschema ahnelt dem Modell der analytischen Handlungstheorie (siehe auch Unterkap. 10.2):
Praferenzordnimg
Ressourcen
Umwelt
A k t e u r I n - 7 ^ Z i e l w a h l - 7 ^ Wahl der M i t t e l — • Operation ^ s i j P^^
Figur 7 Handlungsmodell der rationalen Handlungstheorie
Wenn Okonomlnnen einer Handlung allgemein Rationalitat zuschreiben, meinen sie, dass sich diese Handlimg durch eine richtige Zielbe-
58 William Stanley Jevons, (1906) zitiert in Schefczyk 1999,13; ahnlich Becker 1976,3ff.
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Bewertung und Rechtfertigung von Handliingen
stimmung (Effektivitat) und eine angemessene Wahl der Mittel (Effizienz) auszeichnet. Die Richtigkeit der Ziele wird meist in Bezug zur Praferenzordnung festgestellt. Adjektive wie „angemessen", ^optimal" Oder „effizient" werden in Relation zu den Nutzenfiinktionen, sprich dem Grad der Bediirfnisbefriedigung ermessen. Die logische Konsequenz der Nutzenmaximierungslogik ist der Modellentwurf des Homo oeconomicus.59 Die daraus resultierende Praxis ist die der Gewinnmaximierung. Der Homo oeconomicus achtet auf soziale imd normative Regeln nicht u m ihrer selbst Willen (im Sinne des Kant'schen kategorischen Imperativs), sondem nur, wenn regelkonformes Verhalten zugleich auch optimierendes Verhalten ist. (Die Optimierung muss allerdings in einem Zeithorizont gesehen werden. Kurzfristige Optimierung kann langfristig moglicherweise erhebliche Kosten mit sich bringen.) Die Grenzen der nutzenmaximierenden Rationalitat liegen folglich dort, wo das individuelle Verhalten jene Strukturen sprengt, die fiir soziale Interaktionen und erfolgreiche Kooperationen erforderlich sind. Im Modell des Homo oeconomicus taucht somit das Problem der Zerstorung des sozialen Zusammenhalts auf .^o Wenn alle Menschen homines oeconomici waren und Regeln und Normen nur nach egoistischem Belieben einhielten bzw. sie bei jeder giinstigen Gelegenheit verletzen wiirden, dann konnten soziale Stabilitat und Sicherung des individuellen Wohlstands kaum gewahrleistet werden. Daher ist es aus theorieimmanenten Griinden quasi rational geboten, die okonomische Rationalitat zu beschranken: Der Homo oeconomicus muss stets hoffen, dass die meisten seiner Mitbiirgerlnnen nicht ebenfalls Homines oeconomici sind. Diese Paradoxie hangt, wie gleich erlautert wird, mit den konzeptuellen Defiziten des zugrunde liegenden Nutzenbegriffs zusammen.
59 Ziun ideengesduchtlichen Nexus zwischen Utilitarismus und dem ModeU des Homo oeconomicus siehe Hollis/Nell 1975,47ff. 60 Siehe auch Kirchgassner 1991,36; Nida-RiimeHn/Schmidt, 2000,192f.
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Der Nutzenbegriff nimmt in der Okonomik eine ambivalente Stellung ein. Auf der einen Seite war der Begriff historisch gesehen erforderlich, urn eine positive Theorie wirtschaftlichen Verhaltens aufzubauen. Auf der anderen Seite aufierten sich nicht wenige Wissenschafterlnnen skeptisch tiber die Messbarkeit des Nutzens. Diese Ambivalenz wurde in der Theoriebildung jedoch systematisch negiert: Sobald Okonomlnnen eindeutige Ziele und konsistente Praferenzordnungen voraussetzen, gibt es wenig theoretischen Spielraum, um die semantische Offenheit von zentralen Begriffen wie „richtige Zielwahl", „optimale Mittelwahl" bzw. „Effektivitat" und „Effizienz" zu diskutieren. (Die Pramissen unterbinden quasi dogmatisch jede begriffliche Polyvalenz.) Das unhinterfragte Postulat des Individualismus, das den meisten okonomischen Rationalitatstheorien zugrunde liegt, hat eine funktionalistische Sicht auf das Handeln zur Folge. Es ist dann kaum verwunderlich, dass das menschliche Verhalten nur auf ein Nutzenkalkiil hin gerichtet zu sein scheint. Menschen sind zweifelsohne zu strategischem Handeln^i fahig, aber die okonomische Handlungstheorie ist „farbenblind", derm sie kann die Pluralitat und Vieldeutigkeit des sozialen Handelns nur sehr eingeschrankt wahmehmen. Das Ideal einer eindeutigen und wertfreien Erklarung des wirtschaftlichen Verhaltens trieb grofie Telle der Okonomie dazu, jede politische Oder moralisch-normative Infragestellung des Nutzenbegriffs kategorisch abzulehnen. Es blieb der okonomischen Mainstream-Theorie also kein anderer Ausweg als zwei halbherzige Losungen anzubieten um den Nutzenbegriff zu bestimmen:
61 Strategisches Handeln besteht in der Konstruktion verschiedener Szenarien iind systematischen Abwagung antizipierter Handlungsfolgen. Als zentraler Begriff der Spieltheorie setzt strategisches Handeln ein Bewiisstsein iiber die Interdependenz des eigenen und fremden Verhaltens voraus. Erst dann beginnen Handelnde zu iiberlegen, wie sie das Verhalten der anderen gezielt beeinflussen konnten.
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Bewertung imd Rechtfertigting von Handlungen
Die tautologische Begriffsbestimmung (das Niitzliche ist das, was niitzlich ist), die aber epistemisch stumpf ist.^^ Die spekulative Deklaration der Nutzenmaximierung als „Zweck an sich" und „Endzweck".63 Die Entkoppelung des Nutzenbegriffs von der Sinnfrage - auf die alteren Utilitaristen wie Adam Smith und Jeremy Bentham trifft dies nicht zu - hat schliefilich dem Theoriegebaude der Okonomie eine positivistische Aura gegeben. Doch gerade der Anspruch auf Wertfreiheit der Okonomie und die Vorstellung, das menschliche Verhalten ohne Bewertungen erklaren zu konnen, sind inkoharent und Ausdruck der Unfahigkeit vieler Formalistlnnen imd Spieltheoretikerlnnen, die normativen Voraussetzungen ihres Nutzenbegriffs und Maximienmgspostulats zu reflektieren. In ihrem unerschiitterlichen Glauben an die universelle Geltung des Eigennutzens fassen viele den Eigennutz als ein unproblematisches Konzept64 auf, wahrend sein Gegenstiick, der Altruismus, stets als erklarirngsbediirftig betrachtet wird. Gary Becker beispielsweise thematisiert Altruismus stets im Kontext einer Abwagung von individuellen Vor- und Nachteilen: „It is not difficult to understand why self-interest has highly survival value imder very different circumstances, but
62 Siehe Biervert, Bemd/Wieland, Josef: „Gegenstandsbereich und Rationalitatsform der Okonomie und der Okonomik'', in Biervert/Held/Wieland 1990, 22. Kritik an der formalistischen Definition des Nutzenbegriffs iibt Schefczyk 1999,14ff. und HoUis/NeU 1975,52ff. 63 Zur Interpretation des Strebens n a d i Nutzenmaximierung als „Zweck an sich'' und Endzweck siehe beispielsweise Bentham, Jeremy (1789): „An Introduction to the Principals of Morals and Legislation", Kap. 1. Gegen eine Nutzenmaximierungslogik, die zu Unersattlichkeit und Habgier fiihrt, argiimentiert Michael Slote. Ihm zufolge ist ein solches Verhalten „irrationar' - siehe Slote 1989,70-74. 64 Auch Klassiker der Kulturokonomie wie Werner Pommerehne tmd Bruno Frey halten an diese Pramisse fest: „Man nimmt an, dass sie [die Individuen] - ztimindest impHzit Nutzen imd Kosten kaUcuHeren, die bestimmte Handlungen fur sie beinhalten.'' (Pommerehne/Frey 1993 (1989), 5.) Kritisch dazu Biervert/Held/Wieland 1990; HoUis/NeU 1975, Kap. 2; McCloskey, Deindre: „Missing Ethics in Economics'', in Klamer 1996,187201; Bendixen 1998,210ff.
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why should altruistic behaviour, sometimes observed among animals as well as human beings also survive?"65 Becker fasst in der Folge Altruismus als kooperatives Verhalten auf und qualifiziert ihn, sofem er langfristig einen grofieren Nutzen gewahrleistet als nicht-kooperative Verhaltensstrategien, als „rationar'. Ihm entgeht jedoch die Tatsache, dass Motive fiir Altruismus oft eine ganz andere Logik haben. Es iiberrascht also nicht, wenn Becker Rationalitat nur fiir einen einzigen Typus von Verhalten reserviert: fiir die konsequente Maximierung des Eigennutzens. In kritischer Distanz zu den utilitaristischen Fundamenten des nutzenorientierten Rationalitatsbegriffs schlagt John Rawls vor, ein moralisch-ethisches Korrektiv einzufiihren. Das Streben nach Nutzenmaximienmg sei dann „rational" im Sinne von gerechtfertigt, wenn wir den jeweiligen Nutzen ethisch (d.h. fiir das eigene Wohlergehen) und momlisch (d.h. im Hinblick auf die anderen) begriinden konnen.^^ Der Unterschied zwischen Rawls' Forderung nach einer koharenten und gesellschaftlich nachhaltigen Begriindung des Nutzens und dem primar ergebnisorientierten, nutzenmaximierenden Rationalitatspostulat in der Mainstream-Okonomie ist fimdamental. Die Abwagung von Grilnden soil die Abwagung von Nutzenfunktionen stets begleiten und korrigieren. Es gibt einen letzten Aspekt, der hier noch erwahnt werden soil. Die Popularitat des nutzenmaximierenden Rationalitatsbegriffs hatte speziell in der Zeit des Kalten Krieges ideologische Komponenten. Es ging nicht nur u m die Betonimg der Uberlegenheit des liberalen und kapitalistisch organisierten politischen Systems, sondem auch um die Uberlegenheit der Reprasentantlnnen dieses Systems: des Managers (als mannlich domi-
65 Becker, Gary: „Altruism, Egoism, and Genetic Fitness: Economics and Sociobiology'', in Becker 1976, 283. Eine Zusammenfassung der Diskussion u m Altruismus in der okonomischen Theorie findet sich in Kirchgassner 1991, 45-65. Zur Auslegimg moraHschen Handekis als Ergebnis einer Nutzen-Kosten Abwagung siehe auch Bohnet, Iris/Frey, Bruno: „Moral oder Eigennutz. Eine experimentelle Analyse'' in Lohmann/Priddat 1997, 135-155. 66 Siehe Rawls 1975 (1971), 514ff. und 594ff.
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niertes Konzept). Die Charakterisierung einer Person als „rational handelnd" benennt eine Disposition: Eine rationale Person sei in der Lage, in verschiedenen Situationen regelmafiig auf eine charakteristische Weise, namlich nutzenmaximierend, zu agieren. Die Zuschreibung von Rationalitat als Eigenschaft erhebt folglich einen prognostischen Anspruch67 und liefert zugleich eine vorauseilende Legitimation. Welche soziale Funktion diese Zuschreibung fiir die berufliche Wirklichkeit hat, ist kein Geheimnis: Manager reprasentieren in diesem ideologischen Kontext den Inbegriff rationellen Handelns. Und die Suggestion liegt nah, dass am Manager-Wesen die ganze Welt genesen konnte: „Das Management wird als grundlegende und beherrschende Einrichtung bestehen bleiben, vielleicht solange die westliche Lebensart iiberhaupt bestehen bleibt. Denn es wurzelt nicht allein in der Eigenart der modemen industriellen Ordnimg und den Erfordemissen der modemen Untemelimung, der die industrielle Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sowohl ihre menschlichen wie ihre materiellen Produktionsmittel anvertrauen muss. Im Management verkorpem sich auch grundsatzliche Uberzeugungen der modemen Gesellschaft westKcher Pragimg. Es verkorpert den Glauben an die Moglichkeit, den Lebensimterhalt der Menschen durch eine planmafiige Organisation der Prodiiktionsfaktoren zu sichem/'^^
(Weniger pathetisch meint heute Dirk Baecker, dass der modeme Manager fiir „Kontingenznegation" steht.69) Nicht viel anders schreibt Ludwig von Mises iiber die Volkswirtlnnen: „The professional economist is the specialist who is instrumental in designing various measures of government interference with business. He is an expert in the field of economic legislation, which today invariably aims at hindering the operation of the market economy. (...) Forecasting [is their] profession. (...) They [businessmen] turn to the economists for their advice. (...) In fighting for a higher price of silver, of wheat or of
67 Die Voraussage, „jemand, der rational ist, wird in der Situation X das oder jenes tun'' ist spekulativ. Kausale Aussagen in den Sozial- und Kulturwissenschaften sind jedoch extrem fragwiirdig, es sei denn manbegreift wirtschaftliches Verhalten behavioristisch. 68 Drucker 1956,12. Kritik am Bild des „rationalen Managers" siehe Maclntyre 1995 (1981), 50f. und 102ff. Kritik am Bild des Experten als Besserwissende iibt Schon 2002 (1983), 300ff. 69 Baecker, Dirk: „Management als 'Symbol',,, in Baecker 1999,194f.
Fundamente iind Ruinen des nutzenorientierten Rationalitatsbegriff s
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sugar, for higher wages for the members of their union, they claim to be fighting for the supreme good, for liberty and justice, for their nation's flowering, and for civilisation/'7o
Der primar an Nutzenmaximierung orientierte Denkstil der MainstreamOkonomie erkennt liberhaupt kein Spannungsverhaltnis zwischen Wertungen und Praferenzen.^i Regelmafiig verkannt und ignoriert wird die existentielle Dimension starker Wertungen. Die Interessen und Nutzenvorstellungen einer Person sind wesentlich starker situationsabhangig und daher instabiler als ihre soziale und kulturelle Orientierung. Die Ubemahme von starken Wertungen liegt meistens jenseits der Unterscheidung rational/irrational, denn sie ist iiberhaupt keine Wahl im engeren Sinn des Wortes. Werte und Wertungen gehoren wie Identitaten nicht dem/der eir\zelnen Tragerin, sondern sind kollektiv geteilte Sets von Regeln und Handlungsheuristiken. Das zugrunde liegende Menschenbild der okonomischen Rationalitatsauffassung, das mit dem atomistischen Modell des Homo oeconomicus Hand in Hand geht, ist zu simpel, um das Verhalten der Menschen im Kultursektor wie auch in anderen Lebensbereichen zu erklaren. Es soil hier nicht behauptet werden, dass Menschen okonomische Regeln ignorieren, sondern dass diese Regehi nur ein Bezugspunkt unter vielen anderen sind. Menschen orientieren sich eben nicht blofi am Nutzen; andere Parameter, wie die soziale Bedeutung einer Sache, die normative Selbstbindung eines Individuums oder exteme Zwange sind ebenso bedeutsam. Von all dem scheint der Homo oeconomicus keinen Schimmer zu haben, denn er kann keine Unterscheidung zwischen dem Sinn und dem Nutzen einer Sache machen. Somit ist dieser Typus „tatsachlich so etwas wie ein sozialer Idiot" 72 Neuere verhaltensorientierte
70 Mises 1949,869f. 71 Kritik dazu iiben Hasitschka 1997, 24f. und Throsby 2001,26. 72 Sen, Amartya: „Rationale Trottel: Eine Kritik der behavioristischen Grundlagen der Wirtschaftstheorie'' (1977), in Gosepath 1999, 93. Siehe auch Taylor, Charles: „Was ist
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Theorien in den Betriebswirtschaften und Kulturmanagementlehre haben diese Kritik mittlerweile beriicksichtigt und den Rationalitatsbegriff entsprechend umdefiniert. Die in diesem letzten Abschnitt vorgebrachte Kritik richtet sich gegen die okonomische Handlungstheorie als erklarende Universaltheorie - als hypothetisches Modell hat sie zweifellos einen heuristischen Wert. Okonomische Vorstellungen iiber „Rationalitat" und „Effizienz" sind soziale Konstrukte zur Legitimation des gegenwartigen Gesellschaftssystems. (Effizienz ist keine ideale Vorstellung, sondern das Ergebnis eines bestimmten politischen Diskurses.) Von einer praxeologischen Warte aus reprasentiert der Homo oeconomicus die Verkorperung eines Denk- und Handlxingsstils, der das Primat des Effizienzdenkens iiber andere ethische, politische und asthetische Dimensionen vertritt. Wolfgang Kasper sei hier als eines unter vielen Beispielen zitiert: „Nur ein konzentrierter Angriff auf alle Kostenelemente imd alle kulturellen, sozialen und politischen Produktivitatshemmnisse kann Erfolg versprechen/'^s Meine Kritik am quantitativen Erwartimgsnutzen-Denken geht also mit einer politischen Kritik einher. Es ist notwendig das Effizienzgerede zu demaskieren u m zu zeigen, welche Absichten mit ihm verbunden sind: Wenn Kultur- und Bildungspolitik allein nach einigen wenigen wirtschaftlichen Effizienzkriterien - Senkung der Personalkosten, Steigerung der Produktivitat, Privatisienmg usw. - diskutiert werden, dann mochten bestimmte politische Gruppierungen, die diesen Diskurs lancieren und perpetuieren, still und leise Ethik und Asthetik der okonomischen Perspektive unterordnen. Und ich frage Sie personlich: Wollen Sie das auch?
menschHches Handeln?" (1977), in Taylor 1988, 9-51; Arendt 2001 (1958), 389ff.; Mollis 1991,28f. und 57f. 73 Kasper, Wolfgang: „Nur ein konzentrierter Angriff auf aUe Produktivitatshemmnisse verspricht Erfolg", in Welt am Sonntag, Nr. 18,4.5.1997,57.
Nachwort Das Buch hat in erster Linie die begrifflichen Basisfelder der Kulturbetriebslehre untersucht: Kultur, Kunst, Handliing, Praktiken. Die konzentrierte Erfassung der Differenz, aber auch der Wechselwirkung zwischen dem Diskursiv-Textuellen einerseits und der Praxis anderseits impliziert eine Aufforderung an die Theoriebildung, ihre eigenen Bedingungen nnd Grenzen kritisch zu reflektieren. Die epistemologische Steuerung der Untersuchung in Richtung einer praktischen Wende eroffnet mehrere Fenster fiir neue Forschnngsfelder, die kiinftig genauer erschlossen werden: Die Praxis emst zu nehmen, heifit das Handeln praktisch (im doppelten Sinn des Wortes) zu denken: Etwas tun erfordert Geschicklichkeit, aber auch Verantwortung. Die seit einigen Jahrzehnten gefuhrte Debatte iiber den Sinn und Zweck der offentlichen Kulturforderung sowie die RoUe des Staates und seine Verantwortung fiir die Entwicklung kultureller Liberalitat und Vielfalt sind nicht zu trennen vom politischen Kontext, in dem sie stattfindet. Der okonomische Denkstil, der heute zweifellos grofie Verbreitung findet, verfolgt primar das Ziel der materiellen Gewinnmaximierung. Diese Zielvorstellung ist bereits in die klassischen Bereiche des Kulturbetriebs eingedrungen - Stichworter: Publikumsquoten und Auslastungszahlen, Umsatz- und Produktivitatssteigerung, Outsourcing und flexible Arbeitsverhaltnisse. Und je utilitaristischer das kulturpolitische Denken und die Begegnung mit Kulturgiitem wird, desto mehr entsteht das, was Friedrich Nietzsche einmal „Zweckprocessus in infinitum" nannte. Hohe Quoten und hohe Umsatze, dann noch hohere und noch hohere... - wofiir? Ist das okonomische Wohlergehen der Kulturorganisationen auch ein Indiz fiir das Wohlergehen der Menschen, die Kulturgiiter produzieren und in kulturellen Praxisfeldem partizipieren? Man konnte also hier die Vermutung aufiern, dass es nicht wie einst die Inquisition und der fanatische Dogmatismus der Kirche (Mittelalter, Renaissance), auch nicht die Spitzfindigkeit der Zensurbehorde im ^bsolutistischen Staat (Neuzeit) und in totalitaren Regimen (Modeme) sind, die heute die freie Entfaltung der Kunst und Kultur gefahrden, sondern eher der Okonomismus und die Ideologie des Management. Es ware
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Nachwort
freilich ignorant, die Bedeutung einer wirtschaftliciien Betriebsfiihrung zu negieren, aber es besteht der akute Verdacht, dass, solange die Politik primar die finanziellen und administrativen Aspekte des kulturellen Sektors diskutiert, das Grundrecht der Menschen auf kulturelle Artikulation und Selbstbestimmung nur in den Fufinoten bedacht und beriicksichtigt wird. Meine Intention ist folglich, einen normativ pluralen Diskursraum zu eroffnen, der den Kultursektor aus der Sphare des Okonomischen herausholt und ihn in der Mitte des politischen Gemeinwesens, unserer sozialen Existenz und kulturellen Involviertheit positioniert.
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Sachwortverzeichnis
Absicht (s.a. Intention, Plan, Wille) 92, 162,191,198,222,224,228,230,234, 281,286,296,306,315,326 Abweichung/Devianz 56,68,99,148, 188,190,201 Akzeptanz 54,147,188f., 209,212,225, 275,293,300 AUtag/AUtagskultur 22,35-38,40f., 51, 62,63,97,117,123,147,257,270,284, 326,335 Analogie (s.a. Metapher) 149,195,212, 244,246,299 Andere, Andersheit 46,99,143,159, 185,190,194,227,317 Anthropologie 21,24,29,32,79, lOOf., 222f., 232,238,251,277,319,332 Artefakt (s.a. Kulturgut) 25,28,31, 78, 90,122,136,158,202 Artiktdation (kulttirene, kiinstlerische) 55,149,150,170,180,200,217,282 Asthetik (s.a. Kunstphilosophie) 120, 123,126,132,145,346 Ausbildung (s.a. Lemen) 196,256,260, 262,264,267 Auslegung (s.a. Deutung, Interpretation) 96,135,149,152,161,164 Bedeutung/Sinn 32f., 42,55,74, 77-79, 82,85,96,102,120,126,140,147, 150f., 154,165,202,221,227f., 269, 292,301f.,305f. Bediirfnis (s.a. Praferenz) 103,106, 274, 277,312,331,339 Berufsbegriff 257,259,260 Berufsbild 143,261,266,269,270 BerufskoUektiv/-gemeinschaft (s.a. Praxiskollektiv) 143,216,247,254, 260f., 266-268 Berufsqualifikation 257f., 264,267
Bewertung/Valorisierung (s.a. Evalmerung, Wertung) 17, 64,103f., 128, 131,136,144,149f., 159,187f., 195, 208f., 217,247,252,281,298,305,308311,316,320,324,327,330 Cultural Stiidies 22,48,51f., 62 Dekonstruktion/ Dekonstruktivismus 64,94,118,125 Demokratie 115,164,166,169,180 Denkkollektiv (s.a. PraxiskoUektiv) 44f., 252f., 255 Denkstil 76,192f., 199,253 Determination 65, 67,69,93,126 Dialog 169,171,181,183 Distribution 13,62,102,112,132,138, 142 Effektivitat 340f. Effizienz 262,275,340f., 346 Eigennutz (s.a. Nutzentnaximierung) 318,329,334,342 Einkommen/Entlohnung 144,254, 259, 264 Entfremdung 51,110 Entscheidungstheorie/Spieltheorie (s.a. Rationalitat) 232,325,332,339,341 Epistemologie der Praxis (s.a. Fahigkeit, praktisches Wissen) 85,132,239,244, 251,327 Erkenntnistheorie 31,76,85,195,206208,216,237-239,243,251 Erklarung (s.a. Verstehen) 34,40,75,95, 233,235f., 260,295,301,3061,320, 324,327f., 338,341 Erziehung 23,27,39, 53,278 Ethik (s.a. Moral) 43,63,164,254,287f., 309f., 333,343,346
368
Evalmerung (s.a. Bewertimg) 209,216f., 254,267,269,310 Exklusion/Inkliision (soziale) (s.a. Integration) 54,99,104,261,269 Expertlnnen/Kennerlnnen 125,205, 207f., 214,237,248,262 Fahigkeit/Knowing how/Konnen (s.a. Kompetenz, praktisches Wisen) 207, 222,237,240-242,246,249,260,288, 317,319 Frankfurter Schiile/Kritische Theorie 48,51,62,68 Fremde/Fremdheit 26,29,46f., 58 Gatekeeper 142,272 geistiges Eigentum (s.a. Urheberrecht) 106,124,141f., 196,198f. Gerechtigkeit 43,164,289 Geschlecht/Gender 38,40,56,130,132, 143,256 Geschmack (asthetischer) 27,60,138, 158,177,179,206f., 210,332 Gespiir/praktischer Sinn 39,206,246, 248,292 Gewalt 37f., 52,54-56,58,94f., 163 Gewissheit 152,161,192,292,295 Gewohnheit/Routine 36,39,40,45,52, 60,64,131,145,151,192,219,256f., 278,287,292,305,315 GlobaHsierung/Intemationalisienmg 112 Grund (s.a. Ursache) 94,233f., 285,320, 324,330 Gut (soziales, kulturelles) 40f., 105,107, 111, 114,126,224,265,308,330 Habitus/VerinnerHchung 39f., 53,241, 262,266,278f., 281,294,305 Handlung (s.a. Tatigkeit, Fraktiken) 28, 34,40,57,64, 75,11,85,87,92,97, 141f., 144f., 150,187,209,222-225, 227-233,235,237-239,241-246,252f., 257,262,278,281,283,285f., 291,297, 300,305-310,312f., 316-318,320f., 323-328,332,334f., 337,339 Handlungsbegriff 222f., 227f.
Sachwortverzeichnis
Handlungsraum/-feld 53,243,257,260, 279,283,285,289,292 Handlungsschema/-form 33,37,39,1%, 131,302,339 Handlungsstil 245,255f., 321,346 Handlungstheorie 223,227,229,230f., 234,236,277,281,295, 310f., 327,329, 333,335,338f., 341,346 Handlungsziel (s.a. Ziel) 233,249,309, 320f.,326f. Hegemonie 52, 54-56,59,61-66,68,116, 170,283 Hermeneutik 73-76, 78, 89,122,128, 175,231,281 Herrschaft 48,52-56,98,100,283 Hierarchie/Stratifikation (soziale) 36, 40,59f., 64,104,144,258,259 Hochkultur 27, 60-62, 64-66,103 Homo oeconomicus (Eigennutz) 232, 298,318,340,345f. Ich/Wir (s.a. Identitat) 29,46,79,87, 209,227,231,293 Identitat (soziale) 32,36-40,42-44,46, 56,159,163,222,243f., 258,261,280, 309 Ideologie 22,48f., 56,67,108,123,125, 154,179,200,275,343f., 347 Institution 29,41,45,53,64,95,97-101, 103f., 106,122,1251,140f., 144f., 157, 167,205,213,221,225,251,254,255, 259f., 267,274,282f., 287,294,296, 302 InteUigenz 230,232,237f., 244-246, 257, 300,302 Intention (s.a. Absicht) 82,89,149,155, 215,228,230-232,296,305-307,309 Intentionalitat 46,57, 75,92,188,224, 227f., 249,296f., 307f., 320 Interaktion (soziale) 56,69,98,102f., 107,140,162,225,245,254,260,262, 280-282,294,308,340 Interesse (s.a. Motiv) 24,48,55-57,99, 104,112,116,139f., 147-149,156,162, 167,171,181,210,215,224,254,255f., 264,266f., 274,286,292,313,319,345
Sachwortverzeichnis
Interpretation (s.a. Auslegung, Deutiong, Verstehen) 33, 74f., 89,135, 137,140,149f., 152,155,159,192,222, 235,246,252,255f., 271,281,286,290, 294,299f., 307,314,320,336 Intertextualitat 80, 82,84,92,202 Kapital (okonomisches) 49,59,105 KausaUtat (s.a. Gnand, Ursache) 60,90, 231,234,282,315,322 Klasse/Klassenbegriff 40,44,48,50,53, 60,67,258 Knappheit 99,106,142,144,216 KoUektiv (s.a. Berufs-, Denk-, Praxiskollektiv) 28,40,44,139,143,150,188190,212,243,257,260,262,267,271, 279,286,297f., 310 Kommunikation (s.a. Dialog) 31,42f., 50,56,92,122,167f., 182,254f., 261, 320,335f. Kompetenz (s.a. Fahigkeit, praktisches Wissen) 113,153,184,207f., 243,245248,257-259,268,271,288,302,314f. Konflikt (sozialer) 41,55,107,148f., 155, 157-159,161-166,173,175,177,181f., 184,217,274,310,312 Konnen/Konnerschaft (s.a. Fahigkeit, Kompetenz, praktisches Wissen) 237,242,246,248,251,260,262,288 Konstrukt (soziales, kultureUes) 22,211, 217,346 Konsiun/Konsumation 61,65,102,132, 138 Kontext/Kontextualisierung 72, 74f., 7%, 80,85,88-93,95f., 129,132,136f., 234,292,316,319,323 Kontingenz 91,127,140,294,310 Konvention (s.a. Gewohnheit) 33,40f., 106,131,145,200,221,223,256,262, 278,284,291,297f., 303 Kreativitat 68,98,106,117,165,194,300 Kultur-/Kunstberufe (s.a. Kultur-, Kunstschaffende) 106,138,261,263266,269,271 Kulturbetrieb/Kultursektor 13,50, 76, 102f., 106,108, lllf., 115,118,179, 221, 244,263,265f., 345,347
369
Kulturbetriebslehre 13-17, 71,102,109, 221 Kultur- / Kunstf orderung / Subvention (offentUche) 107, 111, 142,168,179, 181,216,347 Ktilturgut (s.a. Artefakt) 60,102-104, 106-111,113-115,139,209,216,347 Kulturindustrie 50f., 60,62f., 65,113f., 263 Kulturmanagement 105f., 108,118,263, 269,272,274, 335 Kulturmanagementlehre 14f., 17,102, 105,346 Kulturokonomie 14,16f., 19,102,106, 109,112,118,203 Kulturorganisation/Kulturuntemehmen 103,105,108,113,347 KulturpoHtik 63,67,108,112,115f., 124, 141,160,177,179-181,217,319,347 Kulturschaffende (s.a. Kulturberufe) 106,110,114,142,264,265f. Kulturwissenschaft 21,25,28- 32,35,48, 71f., 77, 79, 81,88,91,93,95,97,118, 206,236,277,298,344 Kiinstbetrieb/Kunstwelt 45,118,122, 126,132,136,138,141,143f., 187,190, 195,205,210,213,216f. Kunstfreiheit 132,156,161,171-174,177, 180 Kunstkritik 141,144f., 148,191,196,205, 211,215f. Kunstphilosophie (s.a. Asthetik) 83, 119-123,125,127,132,145,191,202 Kunstschaffende/ Kunstlerlnnen 43, 73, 106,118,125,127f., 132,141-144,156, 159,162,171,175f., 178,180,187,200, 204f., 216,261,263,267f., 271- 273, 335 Kunstwerk/kiinstlerische Leistung 31, 73, 83,110,117f., 121-124,126,128f., 131f., 135-139,141f., 147f., 150,153155,157,159,161-163,169,171,173, 176f., 187-189,193,195-198,201f., 208, 211-213,215,267,274 Kunstwissenschaft 122,132,140 Kuratorin (s.a. Mediatorin) 213,217, 269,272-274
370
Lebensform/Lebenspraxis 22,33f., 48, 58,61,64, 85-87, 97,165,174,184,234, 287,303,306,311 Lebenswelt 35,37,63,87,117,129,150 Leib/LeibHchkeit 39,120,229,231,279 Lemen/Lemprozess (s.a. AusbUdung) 185,236,242,244-246,247,252,256, 294,301f,307,314f. Hngtdstic tum/lingtiistische Wende 30, 32,16,84 Macht 49, 52-55,59,66,68,80f., 100, 108, 111, 113,163,169,180,184,225, 267,273f. Management (s.a. Kiilturmanagement) 113,179,272,275,344,347 Managerin (s.a. Kulturmanagement, Kulturberufe) 102,108,114,118, 264f., 269,273,275,343f. Marketing/Vermarktung 103,105f., 112f., 125,136,142,195,265,270,274 Markt/Kiilturniarkt/Kunstmarkt 50, 65,105,110-112,114f., 126,138,141143,145,180,210,216,263,270 Marxismiis (s.a. Neomarxismus) 22,44, 48,67f.,110 Massenkultur 50,60,62f., 65,197 Mediatorin (s.a. Kulturberufe, Kuratorln) 209,272,275 Medien/Massenmedien 115,144,158, 167-169,182,185,263 Metapher (s.a. Analogie) 48,142,153, 156,170,195,202,271,299,301f., 337 Metaphysik 21,72f., 83,90,118,124,202 Methodologie 15,20,32,34,71,119f., 285 Modemismus 195,200f., 204 Moral/moraHsche Regel (s.a. Ethik) 24, 53,63,107,121,123,149,158,170, 178,208,221,227,236,253,256,258, 262,287,306,310,312-317,319,321, 329,341,343 MoraUtat/SittHchkeit 24,26,110,161, 171,287,313,318 Motiv 161-163,232-236,306,308,317, 320,324,339,343
Sachwortverzeichrds
Mythos/Mythologie 78f., 118,123f., 142f., 203f., 271 Neohumanismus 22,27,103,110 Neomarxismus 36,48, 80, 259 Neues/Neuheit 187f., 190-192,194-196, 198f., 201-204 Nichtkunst 99,140,147f., 163,177,187, 190,199 Norm (s.a. Regel) 29,40,95,99,103, 175,177,200,260,269,277-282,284, 286f., 289f., 292,294,321,340 Nutzen 15,106,114,218,275,325,329, 331-333,339-343,345 Nutzenmaximierung 112,318,327, 333335,338-340,342-345 Objektivitat 74,125,135,178,211f., 215, 328 Offentlichkeit (mediale) (s.a. Medien) 63,115,126,161,166- 170,185 OffentHchkeit (poHtische) 56,105,115, 162,166f., 176,275 Okonomie (s.a. Kulturokonomie) 53, 105,109,115f., 203,270,298,312f., 332,336,338f., 341-345 Ordnimg (soziale) 24,27,34,39,44,54, 100,278f., 281 Ordnung (symboHsche) 78,80,252,300 Partei/ParteipoHtik 57f., 159f., 162, 169f., 179-181 Performativitat 39,81,195f., 199,215, 269 Phanomenologie 87,122,128,228f., 281 Plan/Planung 112,188,229- 232,270, 334 Politik/poHtische Praxis (s.a. KulturpoUtik) 38,43,54,56-58,61, 66,112, 115f., 122,158,162,-165,167,169,170, 174,178-181,185,195,217,243,283, 318,347f. Popularkultur 25,61f., 64f., 68 Populismus 57f., 178,180 Poststrukturalismus 27,44, 68, 80, 8284,107,195,201-204
Sachwortverzeichnis
Praferenz (s.a. Bediirfnis, Nutzentheorie) 60,64,110,113,118,140,180, 209f., 213,310,330-332,339,345 Praferenzordnung 233,330-332,334, 340f. Pragmatismus 34,86,231,281 Praktiken (s.a. Tatigkeit) 25,27,29-31, 33,41,43,45,57-60,62,64-66, 81-83, 85,87,97,99,102,107, 111, 116,124f., 131f., 140,145,147,155,174,196, 216f., 221,242,251,253,255,285, 287f., 296,298,303,306 praktische Wende 85,244,347 Praxis (s.a. Praktiken) 34,40f., 57, 66,81, 85f., 97f., 106,122,125,131-133,135f., 139-141,145,193,200,209,212f., 217, 219,221,223f., 230,232,239-241,244, 247-249,251,255-257,285,287f., 290, 292,294,299,301f., 305,308,310f., 327,336,347 Praxiskollektiv/-gen\einschaft (s.a. BerufskoUektiv) 42,45f., 133,139, 143,219,242f., 251-255,257,271,279, 293,297f., 303,306,310,312, 319 Praxis-Paradigma 33, 85,86 Produktion (kultiirelle) 13,45,48,60, 62, 67,97,102f., 108,110,112,114116,122f., 132,136f., 140f., 200,217f., 263,265,270,272f. ProfessionaHtat/ProfessionaHsierung (s.a. Kulturbertife) 62,140,143f., 179, 258,262,267,269,271 QuaHtat (asthetische, kiinstlerische) 139f., 157,165,211-217 QuaHtat (poLitische, soziale) 56,112, 126,185 Rationalitatsbegriff 325,328f., 335,337f., 343,346 RationaHtatstheorie (s.a. Entscheidungstheorie) 109,238,322,325,327f., 330, 333-337, 341 Recht/Rechtsordnimg 22f., 38,103,106, 141f., 147,156f., 160,165,170-178, 181,196,199,277,286
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Rechtfertigung 101,179,208-210,232, 289,300,306f., 309,315-318,320f., 323-325,337 Rechtsprechung 160,171-178,196,198f. Reflexion 39,53,100,103,239,242, 247, 249,313,336 Regel (expHzite) (s.a. Nornien) 41,97, 141,238,240, 246,282-284,286,289f., 294f., 303 Regel (itnpHzite) (s.a. Konventionen) 22,87,97,141,282-288,294,302f. Regel (konstitutive/regulative) 287-289 Regelbegriff 42,284,286,290f. Regelhaftigkeit 97,223,284,296 Representation 29,31,48, 73,84,163, 232,238,278 Rezeption 60f., 66,103,105,122,132, 140,144,150,155,172,200,215,217, 273f. Sanktion 53,100,103,160,171,282,284, 286 Selbstbestimniung (soziale, kultureUe) 115f., 321,348 SelbstdarsteUung 56,128,168,185, 284 Sichtbarkeit/Sichtbarmachung) 91,128, 130,150 SoziaHsation 132,196,231,247,252,281, 300,319 Sozialwissenschaft 28f., 33,35,67, 77, 79, 81,91,95,97,102,106,118,194, 227,236,277,280,284,293,298 Sprache (begriffliche) 29,41f., 57,59, 74, 77,85-88,102,184,211,223,254,275, 292,301,306,311,316 Sprachspiel 30,86,150,295,306,311 Staat 23f., 64, 111, 116,138,158,161, 163,165,169,171,174-176,181,217, 347 Strukturalismus 39,44,68,78-80,82,84, 88,257 Subjekt 43-45, 78,90,123,187,201, 228, 231,258,271,297,323 Subjektivitat/subjektiv 32,40, 74,82, 143,150-152,209,212,227f-, 277,328, 334
372
Subkultur/Teilkultur 22, 60-66,68f., 116,180 Symbol 21,29,31,38,48,55, 72,97,102, 104,107, 111, 116,122,139,147,150, 153,161-163,171,187,201,302 symbolische Form 30f., 33,52, 72,79, 175,252 Systemtheorie/soziales System 35,45, 126,257,279,280, 303,310,337 Tatigkeit (s.a. Handlimg, Praktiken) 34, 42,85,97f., 106,117,136,139,143, 145,189,221,223,228,244,253,255257,267,269,290,296,302,308 Text-Paradigma/TextuaHtats-Paradigma 33,76, 81f., 135 TexhiaHtat 45, 77f., 84,337 Unterhaltung 50,103,105 Urheberln/Urheberschaft 43-45, 89, 165,172,190,198f. Ursache (s.a. Gnind, Kaiosalitat) 90,162, 234,236,282 Urteil (moralisches) 165, 310,312,322f. Verantwortung 254,305f., 315,317- 319, 321,347 Verhalten 29,32,36,40,52f., 78,97,99, 109,131,210,222,227,229,235,239, 245,254,256,259f., 265,277,281f., 284-287,289f., 292f., 296-300,305,308, 313,317,326,328,332,337f., 340-345 Vermittlung 37,75,103,108,115,125, 132,136,139f., 144f., 181,265,272, 292 Verstehen (s.a. Auslegimg, Interpretation) 31f., 42,85,102,136,149-152,155, 196, 214,236,241,248,291,300,302, 309,327 Verstehen (hermeneutisches) 15,78, 122,129,152f., 281 Verstehen (intransitives) 151,153,302 Vertrautes/Vertrautheit 46,149,152, 193,246,261,298,328
Sachwortverzeichnis
Vielfalt/PluraHtat (kulturelle) 50,64, 112,138-141,144,147,180f., 267,347 Volkskultur 60-62,67 Wahmehmimg (asthetische) 128f., 131, 136f., 151f., 192,205 Weltbild 31,148f., 164,174,193 Wert (kultijreller, sozialer) 43,54,57, 99,103,105,107,109f., 144,147-150, 161,164,174f., 184,187,195,203,208, 210,213,258, 262,264,280,310-312, 314,321,345 Wert (materieUer) 99,105,107,109f., 147,150,203,208f., 272,310,339 Wertung (s.a. Bewertimg) 33,61,110, 305,308,310,334,345 WiUe (s.a. Absicht) 52,98,230,267, 278, 315,323,326 Wir 54,57 Wirtschaftsgut/Ware 103,105f., 109111,115,169,203,274 Wissen (intransitives, impHzites) 84, 207,237-239,241f., 244,292,298 Wissen (praktisches) 200,206,237-240, 242,244-246,248,251,297,324 Wissen (theoretisches, begriffliches) 34, 43,80,113,208,229,237-239,241,246, 293,311 Wissensbegriff (s.a. Epistemologie, Erkenntnistheorie) 237f., 240,243 Zensur 126,138,171,179,347 Ziel (s.a. Handlimgsziel) 50,59,104f., 107f., 148,163,181,203,224,232,234, 247,251,255,261,268,272,292,306, 308f., 313,317,322,326,328,331, 338f., 341 ZiviHsation 22f., 25f. Zwang 37,54,66, 76,173,259,262, 286, 315,320 Zweck 100,105,181,308f., 317f., 328f., 333,342,347
Personenverzeichnis Adomo 49- 51,128,191 Arendt 52,182,258,282,312,316f. Aristoteles 24,29,43,47,224,243,247, 287f. 319 Ascombe 234f.
Kant 26,31f., 42,123,128-130,210,212, 218,253,311,315f., 323,329,340 Levi-Strauss 78,81,232,281 Luhmann 19,35,45, lOOf., 126,148,172, 239,337 Lyotard 79,128,137,148,191,203,204
Barthes 37,79,81,338 Becker, Gary 332,342f. Becker, Howard 45,200,256,265 Benhabib 312,317 Bloor 45,255,290,293 Boiirdieu 39,40, 80,86,88, 111, 194,195, 200,252,261,278,2931
Marx 29,34,48,51, 67,86,277f. Mead 32,36,46, 98,143,244,252,281f. Merleau-Ponty 32,40,130,149,238,279, 305 Mises, von 338,344
Cassirer 21,30-32, 72, 87,237
Nietzsche 27, 80,107,231,347
Deleuze 27,45,204 Derrida 80,82, 89,191,202,204,302 Dewey 238,308 Dilthey 74,236 Durkheim 45,238,278-280,282
Parsons 101,280,282 Polanyi 84,153,224,238-245,302
Fleck 45, 76,188f., 192,212,238,252, 255,262,306 Foucault 27,45,53, 79,80-83,88,101 GalHe 164f. Cans 60,63 Geertz 42, 77f., 81 Gramsci 48,54,66,68,283,300,306 Groys 195,202f., 272 Habermas 167,173,182,311,316,324 Hegel 28,43,138,277 Heidegger 40,83, 86,129,135,152-154, 238,281 Heinrichs 108,118 Husserl 25, 87,212,228 Janik 243,246,300,322f.
Rawls 287,343 Roiisseau 23,26 Ryle 231f., 237,238 Sartre 124,306 SchiUer 26,110,129,191 Schon 238,313,336 Searle 86,216,287 Sen 110,334,345 Taylor 38,45,152,299,302,308 Throsby 19,106 Weber 29,52,77,101,139,227-229,257, 265,280,308,329 WilHams 19,51,61,68 Winch 234,236,285,308 Wittgenstein 30,41f., 64,73,83, 85-87, 136,147,151,193,208,223,238,243, 291-295,298f., 301-303,306,311 Wright, von 234,236,309,323