Medizin und Nationalsozialismus Bilanz und Perspektiven der Forschung
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Medizin und Nationalsozialismus Bilanz und Perspektiven der Forschung
Medizin und Nationalsozialismus Bilanz und Perspektiven der Forschung Robert Jütte in Verbindung mit Wolfgang U. Eckart, Hans-Walter Schmuhl und Winfried Süß
WALLSTEIN VERLAG
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Bibliografische Information der deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2011 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf Druck: Hubert & Co, Göttingen ISBN 978-3-8353-0659-2
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Medizin und Nationalsozialismus . . . . . . . . . .
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2 Eugenik und Rassenanthropologie . . . . . . . . . .
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3 Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.1 Gesundheitspolitische Entscheidungsstrukturen, öffentlicher Gesundheitsdienst und Sozialversicherung . . . . . . . . . . 3.2 Standeswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Konfessionell gebundene Krankenversorgung . . . . . . . . 3.4 Komplementärmedizin und nichtärztliche Heilberufe . . . . 3.5 Die Vertreibung jüdischer und »staatsfeindlicher« Ärztinnen und Ärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Krankenpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4 Medizinische Forschung . . . . . . . . . . . . . . .
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4.1 Universitäten, Studierende, Medizinische Fakultäten . . . . . 106 4.2 Verbrecherische Humanexperimente . . . . . . . . . . . . . 124 4.3 Medizinische Forschungspolitik und Forschungsschwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
5 Medizinische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
Sozialgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medizin im Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwangssterilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Euthanasie« und Krankenmord . . . . . . . . . . . Jüdische Krankenhäuser, »Krankenbehandler«, Ärzte in Ghettos und im KZ . . . . . . . . . . . . . . . .
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6 Brüche und Kontinuitäten nach 1945 . . . . . . . . 6.1 Nürnberger Ärzteprozess und »Euthanasie«-Prozesse . . 6.2 Versuche der »Wiedergutmachung«. . . . . . . . . . . . 6.3 Traumatisierung durch körperliche und seelische Gewalt im Nationalsozialismus – Die Debatte um Schädigung und Entschädigung seit den 1950er Jahren . . . . . . . . 6.4 Rezeptions- und kontroverse Diskursgeschichte der NS-Medizin nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . 267 . . 283
. . 295 . . 311
Vorwort Die Forschungsliteratur zur Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus lässt sich inzwischen kaum noch überblicken. Wer bei Google Books das Stichwort »Medizin im Nationalsozialismus« eingibt, erhält über 62.000 Treffer (Stand: Oktober 2010). Selbst wenn darunter auch oft Doppelnennungen sind, so vermittelt doch diese schiere Zahl einen Eindruck davon, wie sehr sich die Forschung nach zögerlichen Anfängen, die bis in die 1960er Jahre reichen, auf diesem Gebiet inzwischen entwickelt hat. Ja, man kann sogar von einem Boom sprechen, denn nicht nur in der Zeitgeschichtsforschung, auch in der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte ist dieses Thema seit mehr als zwei Jahrzehnten sehr populär. Davon zeugen nicht nur zahlreiche Neuerscheinungen in den letzten Jahren, sondern auch eine schier unüberschaubare Zahl von Aufsätzen in Zeitschriften und Sammelbänden. Ja, man kann sogar sagen, dass es kein Thema in der Medizingeschichte gibt, das in den letzten 30 Jahren so intensiv erforscht worden ist wie die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus. Das hat durchaus einen politischen Hintergrund; denn auch die deutsche Ärzteschaft hat sich lange Zeit schwer damit getan, ihre jüngere Vergangenheit aufzuarbeiten. Dazu bedurfte es manchmal der Anstöße und auch des Drucks von innen und von außen. Die mittlerweile zu konstatierende Fülle an Literatur stellt gleichzeitig ein Problem dar, denn kaum jemand übersieht noch die gesamte Bandbreite der Forschung auf diesem Gebiet. Selbst ausgewiesene Experten und Kenner der Materie tun sich deswegen gelegentlich schwer, den Stellenwert ihrer eigenen Arbeit in diesem sich dynamisch entwickelnden Forschungsfeld richtig einzuschätzen. Angesichts des inzwischen hochdifferenzierten Forschungsstands ist ein aktueller Forschungsbericht zur Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus seit vielen Jahren überfällig. Hier wird erstmals der Versuch unternommen, die Wege der wissenschaftlichen Annäherung an diesen Themenkomplex in knappen Strichen nachzuzeichnen und Meilensteine, aber auch Desiderate der Forschung zu benennen. Der geographische Umfang schließt Österreich (nach 1938) mit ein. Es wurde nicht nur die deutsche, sondern auch die fremdsprachige Literatur – soweit es die Sprachkompetenz der Bearbeiter erlaubte – erfasst. Zentrale Themen sind die NS-Gesundheitspolitik und die ihr zugrundeliegende Weltanschauung, das Gesundheitswesen und die medizini7
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vorwort
sche Forschung im »Dritten Reich«, die medizinische Praxis in der Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs sowie die Brüche und Kontinuitäten nach 1945. Aber es wurden auch Forschungsfelder berücksichtigt, die erst jüngst oder die bislang wenig Aufmerksamkeit gefunden haben, wie z. B. die Geschichte der Komplementärmedizin oder der Krankenpflege im »Dritten Reich«. Auch sozialgeschichtlich orientierte Forschungen, beispielsweise zur Ernährungssituation oder zum medizinischen Alltag zwischen 1933 und 1945, sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Wer sich zunächst einen allgemeinen Überblick verschaffen will, der findet in dem einleitenden Kapitel die wichtigsten Gesamtdarstellungen und Forschungsberichte zusammengestellt. Auch Hilfsmittel (Nachschlagewerke, Quellensammlungen etc.) werden hier aufgeführt, so dass auch Leser, die mit der historischen Forschung nicht so gut vertraut sind, eine erste Orientierung an die Hand bekommen. Es folgt ein Kapitel, das die Erforschung der weltanschaulichen Grundlage der Medizin im Nationalsozialismus zum Thema hat. Denn nur vor diesem Hintergrund wird das Handeln von Ärztinnen und Ärzten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im »Dritten Reich« verständlich. Weitere Hauptkapitel zeigen, was man inzwischen über die Entwicklung in den Jahren zwischen 1933 und 1945 in Bezug auf einzelne Bereiche des Gesundheitswesens sowie der medizinischen Forschung weiß. Ein besonderes Augenmerk gilt der Erforschung der medizinischen Praxis in der Zeit des Nationalsozialismus – ein Feld, auf dem auch in Zukunft noch relativ viel Forschung notwendig ist. Abschließend wird der Blick auf die Erforschung der Brüche und Kontinuitäten nach 1945 gerichtet, wobei auch die historisch orientierte medizinethische Forschung Berücksichtigung findet. Da sich auf diesem Forschungsgebiet ebenfalls das Problem der Spezialisierung zeigt, war es nur im Team möglich, den Anspruch einzulösen, eine Gesamtübersicht über die Forschung der letzten 65 Jahre vorzulegen. Alle Autoren sind ausgewiesene Experten. Sie zeichnen für die von ihnen bearbeiteten jeweiligen Forschungsfelder verantwortlich. Ein Forschungsbericht, so wie er hier angestrebt wird, zielt naturgemäß nicht auf Vollständigkeit ab. Dennoch haben sich die Bearbeiter bemüht, einen möglichst ausgewogenen Überblick über die vorhandene Forschungsliteratur zu geben. Das schließt eine Wertung im Sinne einer bibliographie raisonée mit ein. Ein wesentliches Anliegen dieser gemeinsamen Unternehmung war es zudem, nicht nur das bisher Erreichte zu würdigen, sondern auch Desi8
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derate der Forschung zu benennen. Denn trotz der Anstrengungen, die insbesondere in den letzten drei Jahrzehnten zu verzeichnen sind, gibt es noch erstaunliche und bedauerliche Forschungslücken. So herrschen in einigen Bereichen noch biographisch oder institutionengeschichtlich orientierte Forschungen vor. Das trifft z. B. auf den Bereich der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik zu. Auch die sogenannte »Neue Deutsche Heilkunde« ist erst in Teilen erforscht. Die Patientengeschichte kommt immer noch zu kurz, wenngleich beispielsweise neuere Forschungen zur »Euthanasie« bzw. zum Krankenmord diese Perspektive inzwischen durchaus berücksichtigen. Andere Leitthemen der Sozialgeschichte der Medizin, wie z. B. Professionalisierung, Medikalisierung oder medikale Kultur, sind bislang nur unzureichend in der einschlägigen Forschung berücksichtigt worden. Am größten ist sicherlich die Forschungslücke hinsichtlich der nichtärztlichen Heilberufe. Während die Geschichte der Apothekerschaft und die der Krankenpflege im »Dritten Reich« inzwischen Fortschritte gemacht haben, existiert zu anderen Berufsgruppen, z. B. den auf dem Land beliebten Laienheilern, so gut wie keine Forschung. Doch selbst in Bereichen, die mit zu den bestuntersuchten gehören, wie beispielsweise die »T4-Aktion« oder die Humanexperimente in Konzentrationslagern, sind manche Fragen immer noch offen. Um ein Bild zu verwenden: Insgesamt kann man in Hinblick auf das bisher Erreichte von einem »Flickenteppich« sprechen, der in den letzten Jahren immer bunter und dichter geworden ist, dessen Gesamtmuster aber immer undeutlicher wird. Das heißt, die Spezialforschung nimmt zu, dafür fehlt es an Gesamtdarstellungen, die auf dem neuesten Stand der Forschung sind und ein möglichst breites Spektrum an Themen abdecken. Dazu möchte diese Orientierungshilfe einen Anstoß geben, denn sie macht den aktuellen Forschungsstand deutlich. Außerdem mag sie als Wegweiser für zukünftige Forschungen auf diesem Gebiet dienen. Doch wendet sich diese bibliographische Handreichung ausdrücklich nicht nur an Medizin- und Zeithistoriker, sondern an alle, die sich für das Thema Medizin und Nationalsozialismus interessieren, so auch an fortgeschrittene Studenten der Fächer Medizin, Pharmazie, Pflegewissenschaften und der Geschichtswissenschaft sowie der Nachbardisziplinen (z. B. Volkskunde, Ethnologie), zudem an Ärztinnen, Ärzte und Wissenschaftsjournalisten, die ihr Wissen auf diesem Gebiet vertiefen und eventuell selbst forschen wollen. Auch aus diesem Grund haben sich die Autoren bemüht, nicht einfach bibliographische Notizen aneinanderzureihen, wie es oft in Forschungsberichten der Fall ist. Sie 9
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führen den Leser in den Gegenstand ein, ohne dabei jedoch den Anspruch zu vertreten, die Inhalte so detailliert und miteinander verknüpft zu vermitteln, wie es in einem Sach- oder Fachbuch der Fall ist. Herausgeber und Autoren sind der Bundesärztekammer, insbesondere ihrem Präsidenten, Prof. Dr. med. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, dafür dankbar, nicht nur den Anstoß zu dieser Publikation gegeben, sondern auch finanzielle Mittel für den raschen und erfolgreichen Abschluss dieses Projekts zur Verfügung gestellt zu haben. Die wissenschaftliche Verantwortung dafür lag ausschließlich bei den Autoren, die bei der Erstellung des Forschungsberichts völlig freie Hand hatten. Dass ihre Auswahl und Wertungen bei den Lesern vielleicht nicht immer auf Zustimmung stoßen werden, liegt in der Natur der Sache.
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1 Medizin und Nationalsozialismus (Überblicksdarstellungen, Quellensammlungen, bibliographische und biographische Hilfsmittel) Winfried Süß
Überblicksdarstellungen Die Geschichte der Medizin im »Dritten Reich« umfasst ein breites Spektrum an Themenfeldern. Hierzu zählt die Geschichte der Biowissenschaften und der medizinischen Verbrechen ebenso wie die Geschichte der Gesundheitspolitik und die Sozialgeschichte von Ärzten, Pflegeberufen und Patienten. Für den ersten Einstieg in die Thematik eignen sich einige neuere Überblicksartikel, die den aktuellen Forschungsstand skizzieren.1 Allerdings existiert bis heute keine Darstellung, die die Erträge von mehr als sechs Jahrzehnten Forschung auf der Höhe des erreichten Wissensstandes zusammenführt. Insofern trifft die Feststellung des Kieler Medizinhistorikers Fridolf Kudlien aus dem Jahr 1993 weiterhin zu, dass »ein wirklich umfassendes Buch über das Themengebiet ›Medizin und Nationalsozialismus‹«2 bis heute fehlt. Eine solche Synthese ist daher ein dringendes Desideratum. Gleichwohl gibt es Annäherungen an dieses Ziel: Das 1986 erschienene Buch des US-amerikanischen Psychiaters Robert J. Lifton stellt die Erklärung ärztlichen Handelns bei den Medizinverbrechen des »Dritten Reiches« in den Mittelpunkt.3 Professionsgeschichtliche Fragen und die Erklärung ärztlichen Engagements für die Politik der Nationalsozialisten stehen sowohl in der populärwissenschaftlichen Darstellung von Renate Jäckle4 als auch in der 1989 erstmals veröffentlichten Monographie des Sozialhistorikers Michael H. Kater im Zentrum.5 Letztere ist bis heute die umfassendste Studie zur Geschichte von Ärzten im »Dritten Reich«. 1 Konzise Übersichtsdarstellungen auf dem aktuellen Forschungsstand finden sich z. B. bei Eckart, 2010, S. 211-240, und Forsbach, 2008, gut für den Einstieg eignet sich immer noch Rüther, 1997; vgl. auch Vasold, 1997 sowie in systemvergleichender Perspektive Süß, 1998. 2 Kudlien, 1993, S. 18. 3 Lifton, 1986. 4 Jäckle, 1988. 5 Kater, 1989.
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Robert Proctor setzt einen anderen Schwerpunkt und beschreibt die Geschichte der NS-Gesundheitspolitik als Durchsetzung des rassenhygienischen Paradigmas.6 Dem zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung (1988) an der New Yorker New School of Social Research lehrenden Historiker geht es um die Stellung der Wissenschaft in Politik und Gesellschaft des »Dritten Reiches«. Indem er nach dem aktiven Anteil biomedizinischer Wissensordnungen und ihrer Vertreter an der Gestaltung der nationalsozialistischen Rassenpolitik fragt, wendet er sich gegen die Vorstellung eines »schwachen«, auf politische Vorgaben lediglich reagierenden und durch die NS-Politik korrumpierten Wissenschaftssystems. Den Versuch einer Gesamtdarstellung für die Kriegsjahre, die politikund sozialgeschichtliche Fragestellungen integriert, hat Winfried Süß vorgelegt.7 Kaum Neues bringt die Darstellung des österreichischen Journalisten Hans-Henning Scharsach, die auf der selektiven Auswertung älterer Literatur basiert.8 Stärken hat das Buch dort, wo es die Verhältnisse in Österreich schildert, z. B. den Fall Heinrich Gross, der es zu einem der führenden psychiatrischen Gutachter der zweiten Republik brachte, obwohl seine Mitwirkung an der Kinder-»Euthanasie« gerichtsnotorisch war. Die Geschichte der Gesundheitspolitik im »Dritten Reich« war lange Zeit ein nahezu unvermessenes Forschungsfeld. Dies änderte sich erst in den 1980er Jahren, dann aber mit einer solchen Geschwindigkeit, dass der britische Historiker Paul Weindling nicht ohne Hintersinn von einer »Volksbewegung«9 medizin- und biologiegeschichtlicher Arbeiten gesprochen hat. Sein Diktum bezieht sich erstens auf die rasch steigende Zahl einschlägiger Veröffentlichungen. Nicht zuletzt eine Fülle von Sammelbänden spiegelt die rasche Ausdifferenzierung des Forschungsstandes. Weindlings Diktum spielt zweitens darauf an, dass wichtige Anregungen dazu nicht aus dem professionellen Feld der deutschen Medizingeschichte kamen, sondern von außen. Unter den Veröffentlichungen der frühen 1980er Jahre sind vor allem zwei Sammelbände wichtig: Ein 1985 vom Kieler Medizinhistoriker Fridolf Kudlien herausgegebener Band stellt den ersten, international stark beachteten und auch heute noch lesenswerten Versuch einer Gesamtdarstellung der Geschichte der Medizin im »Dritten Reich« dar. Die in Zusammenarbeit mit jüngeren 6 Proctor, 1988. 7 Süß, 2003. 8 Scharsach, 2000. So lehnt sich z. B. das Institutionenkapitel bis in die Gliederung an den Sammelband von Kudlien, 1985 an. 9 Paul Weindling in: Frei, 1988, S. 28.
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Medizinhistorikern verfasste Aufsatzsammlung fragt insbesondere nach der Rolle von Ärzten als Unterstützer und Kritiker des Nationalsozialismus. Weiterhin enthält sie Beiträge zu zentralen Institutionen, Organisationen und Programmen der NS-Gesundheitspolitik (z. B. zum NSÄrztebund, zu den »Gesundheitshäusern« und zur Leistungsmedizin), die seinerzeit schmerzliche Forschungslücken schließen halfen.10 Eine starke Initialwirkung ging 1980 von der Eröffnungsveranstaltung »Tabuisierte Vergangenheit – ungebrochene Tradition« des Berliner Gesundheitstags aus, der parallel zum 83. Deutschen Ärztetag stattfand. Der Gesundheitstag verknüpfte historische Fragestellungen mit dezidiert gegenwartskritischen Positionen und schlug damit eine Brücke zwischen einer kritischen Medizingeschichte und Teilen der neuen sozialen Bewegungen, die sich für mehr Patientenrechte und Transparenz im Gesundheitswesen engagierten. Die von Gerhard Baader und Ulrich Schultz herausgegebene Tagungsdokumentation setzt den Schwerpunkt auf die Geschichte medizinischer Verbrechen, entfaltet darüber hinaus jedoch ein breites Panorama ideen-, standes- und sozialgeschichtlicher Themen. Sie wurde mehrfach nachgedruckt und regte eine ganze Reihe akademischer Vortragsreihen an, die auf die zunehmende Nachfrage einer jüngeren Generation von Ärzten und Studierenden nach einer Neujustierung des professionellen Selbstverständnisses im Umgang mit dem eigenen Fach reagierten und daher ihren Fragekreis vorrangig auf die Geschichte der Hochschulmedizin an der eigenen Universität fokussierten.11 Bereits wenige Jahre nach diesen wegweisenden Veröffentlichungen war das Thema in der Medizingeschichte und in der Zeitgeschichte gleichermaßen »angekommen«.12 Es verlor seinen Charakter als »Oppositionswissenschaft« und wurde Teil eines außerordentlich produktiven Forschungstrends, der Gesundheitspolitik als zentrales Element nationalsozialistischer Gesellschaftspolitik begriff. Sammelwerke, die Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre erschienen, konnten sich daher bereits als Zwischenbilanzen des erreichten Forschungsstands verstehen, wie ein von Johanna Bleker und Norbert Jachertz herausgegebener Band, mit dem das »Deutsche Ärzteblatt« auf kontroverse Diskussionen innerhalb der Ärzteschaft reagierte.13 Zwei Sammelbände des Instituts 10 Kudlien, 1985. 11 Baader/Schultz, 1980; Hohendorf/Magull-Seltenreich, 1990 (Heidelberg); Friedrich/Matzow, 1992 (Göttingen); Heesch, 1993 (Kiel); Fachschaft Medizin, 1991 (Marburg); Peiffer, 1992 (Tübingen). 12 Als aktuelle medizinhistorische Positionsbestimmung vgl. Schlich, 2007. 13 Bleker/Jachertz, 1989. Vgl. Kapitel 6.4 zur Rezeptions- und Diskursgeschichte.
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für Zeitgeschichte markieren die Bruchlinie dieser Entwicklung und verweisen zugleich auf die rasche Karriere des Themas und seinen Weg von den Rändern ins Zentrum der zeithistorischen Forschung. Verstand sich die Dokumentation eines 1987 veranstalteten Kolloquiums noch als tastender Versuch des interdisziplinären Gesprächs und vorläufige Summe erster Ergebnisse nach 15 Jahren »wissenschaftlichen Schweigens«,14 präsentierte wenige Jahre später ein von Norbert Frei publizierter Band mit Beiträgen von Medizinern, Biowissenschaftlern, Theologen und Historikern eine eindrucksvolle Fülle empirisch dichter Forschungsarbeiten zur Politik-, Sozial- und Verbrechensgeschichte der Medizin im »Dritten Reich«, die eng mit zeithistorischen Leitdebatten verknüpft waren und z. B. nach der Bedeutung der polykratischen Herrschaftsordnung für die Radikalisierung der NS-Gesellschaftspolitik fragten.15 Für die Forschungssituation in der DDR hat der Sammelband von Achim Thom und Genadij I. Caregorodcev eine ähnliche Bedeutung.16 Ein von Christoph Meinel und Peter Voswinckel herausgegebener Band enthält Aufsätze zu Medizinischen Fakultäten, der biowissenschaftlichen Forschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten sowie zum Umgang mit behinderten Menschen und chronisch Kranken. Er dokumentiert Beiträge auf der 75. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik 1992 in Jena und versteht sich als »Zwischenbilanz« der Forschungsentwicklung seit der Coburger Jahrestagung 1978, auf der das Thema erstmals kontrovers diskutiert wurde.17 Klaus-Dietmar Henke hat für die Begleitvorträge zur Ausstellung »Tödliche Medizin«, die 2006/07 im Dresdener Hygiene-Museum zu sehen war, international ausgewiesene Experten gewonnen. Sein Band versammelt Beiträge zur Geschichte der »Euthanasie«, der juristischen Verfolgung von »Euthanasie«-Verbrechen und zur Geschichte der »Wiedergutmachung« und gibt die derzeit beste Einführung in den aktuellen Forschungsstand auf diesen Themenfeldern.18 14 15 16 17
So Martin Broszat in Frei, 1988, S. 10. Frei, 1991. Thom/Caregorodcev, 1989. Meinel/Voswinckel, 1994, S. 10. Vgl. auch Nicosia/Huehner, 2002; der für Studenten US-amerikanischer Universitäten konzipierte Band enthält Beiträge einschlägig ausgewiesener Forscher zur Präventionspolitik, zur Beteiligung von Ärzten an Medizinverbrechen und zur Vergangenheitspolitik, die überwiegend auf bereits veröffentlichten Forschungsergebnissen basieren. 18 Henke, 2008. Lediglich der Beitrag von Caris-Petra Heidel zur regionalen »Euthanasie« in Sachsen fällt hinter den erreichten Forschungsstand zurück.
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Quellensammlungen und Ausstellungskataloge Mehrere Quellensammlungen machen zentrale Dokumente für die Verwendung in Lehre und Studium verfügbar. Allerdings liegt ihr Akzent primär auf der Verbrechensgeschichte der NS-Medizin und ihren ideengeschichtlichen Wurzeln, während Quellen zur Sozial- und Standesgeschichte von Ärzten oder zur Patientengeschichte seltener zu finden sind. Dies gilt für die frühe und in hoher Auflage verbreitete Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke19 ebenso wie für Ernst Klees bekannte Dokumentation zur Geschichte der »Euthanasie«,20 die vor allem die strafrechtliche Aufarbeitung der »Euthanasie«-Morde in den Anstalten Eichberg und Grafeneck sowie das Gerichtsverfahren gegen Werner Heyde auswertet. Einen thematisch und zeitlich weiter gefassten Ansatz, der z. B. auch den Reaktionen auf die Krankenmorde breiten Raum gibt, verfolgt die Dokumentation von Jochen-Christoph Kaiser, Kurt Nowak und Michael Schwartz,21 während die regionalgeschichtlichen Quelleneditionen von Thomas Beddies und Kristina Hübener (Brandenburg)22 sowie von Franz-Werner Kersting und Hans-Walter Schmuhl (Westfalen)23 Sterilisation und »Euthanasie« in den längerfristigen Kontext psychiatrischer Praxis einbetten. Schlüsseltexte zur »Euthanasie«-Diskussion hat Gerd Grübler zusammengestellt.24 Das Defizit an Quellensammlungen, die die gesamte Bandbreite der Geschichte der Medizin im »Dritten Reich« abdecken, wird in gewissem Umfang durch Ausstellungskataloge kompensiert. Eine Pionierrolle kommt in diesem Zusammenhang zwei Veröffentlichungen zu, die unter der Federführung von Walter Wuttke-Groneberg im Umfeld des Instituts für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen entstanden. Wuttke entwickelte darin das breit rezipierte25 Paradigma der
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Mitscherlich/Mielke, 1960. Klee, 1985b. Kaiser/Nowak/Schwartz, 1992. Beddies/Hübener, 2003. Kersting/Schmuhl, 2004. Grübler, 2007. Sprachlich leicht abgewandelt (»Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg«, 1984), wurde dieses Begriffspaar von der Forschergruppe um Götz Aly, Angelika Ebbinghaus und Karl Heinz Roth popularisiert, die auch die ersten Bände der seit 1985 erscheinenden »Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits-
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dialektischen Komplementarität von »Vernichten und Heilen«26 in der Medizin des »Dritten Reiches« und hat 1980 selbst ein »Arbeitsbuch« zur NS-Medizingeschichte zusammengestellt, mit dem er zur Auseinandersetzung mit dieser vernachlässigten Thematik anregen wollte.27 Seine Dokumentation geht auf eine Ausstellung der Ulmer Volkshochschule im Jahr 1978 zurück. Sie enthält kommentierte Auszüge aus zeitgenössischen Texten, Abschriften und Faksimiles von Archivquellen sowie Bildmaterial, greift dabei allerdings recht unkritisch auf DDR-Publikationen zurück, so dass sich in diesem Arbeitsbuch auch Quellen finden, deren Echtheit umstritten ist, wie die berüchtigten Lampenschirme aus Menschenhaut aus dem Konzentrationslager Buchenwald. Wuttke-Groneberg zeichnete ebenfalls für die Ausstellung »Volk und Gesundheit« verantwortlich, die 1982 von einer studentischen Projektgruppe erarbeitet wurde und nach ihrer Präsentation in Tübingen in mehreren deutschen Städten zu sehen war. Der Katalog enthält neben kürzeren sachthematischen Beiträgen zahlreiche Faksimiles, Grafiken und statistische Zusammenstellungen zur Entwicklung der Gesundheitsverhältnisse und ist daher trotz des problematischen historiographischen Ansatzes, NS-Gesundheitspolitik als Teil eines ökonomisch letztbegründeten Verwertungszusammenhangs zu sehen, auch heute noch von einigem Wert.28 Einem medizinkritischen Ansatz verpflichtet, aber methodisch pluraler angelegt ist auch der Begleitband zu einer Ausstellung der Berliner Ärztekammer.29 Er enthält neben Auszügen aus zeitgenössischen Texten, Fotos und Faksimiles mehrere Originalbeiträge zur Geschichte der Gesundheitsversorgung, zur regionalen »Euthanasie« und zu den Verbrechen von Wehrmachtsärzten. Einem anderen Ansatz folgt die Ausstellung »Deadly Medicine: Creating the Master Race«,30 die 2004 im United States Holocaust Memorial Museum und 2006/07 im Dresdener
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und Sozialpolitik« verantworteten. Vgl. Maretzki, 1989, zur Wirkungsgeschichte Wuttkes vgl. Pfäfflin, 2001. Wuttke knüpfte hierbei an eine Formulierung des Heidelberger Mediziners Viktor von Weizsäcker an, der 1933 in einer Grundlagenvorlesung vor Studenten dafür eintrat, die als Erhaltungslehre konzipierte Heilkunde durch eine »Vernichtungslehre« zu ergänzen. Wuttke-Groneberg, 1980. Beutelspacher, 1982. Nach dem Vorbild dieser Ausstellung entstanden in den 1980er und frühen 1990er Jahren zahlreiche weitere Ausstellungen zur lokalen Gesundheits- und Sozialpolitik, vgl. z. B. Boland/Kowollik, 1991, zur Rezeptionsgeschichte Wolf, 1986. Pross/Aly, 1989. Kuntz, 2004.
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Hygiene-Museum zu sehen war. Sie erzählt die Geschichte der deutschen Medizin als Geschichte der Ausbreitung und Radikalisierung rassenhygienischer Ideen und akzentuiert auf diese Weise die Verbindungslinien zwischen dem medizinischen Rassismus und dem Mord an den europäischen Juden. Eine Stärke des Katalogs liegt im exzellent ausgewählten Bildmaterial. Statt textlastiger »Flachware« präsentieren die Ausstellungsmacher zahlreiche unbekannte Abbildungen, Fotografien und Objekte und veranschaulichen damit den anhaltenden Wandel in der musealen Präsentation der NS-Zeit.
Hilfsmittel: Bibliographien, Forschungsberichte, biographische Informationen Die Literatur zur Geschichte der Medizin in der NS-Zeit umfasst mehrere tausend Titel und ist auch für den Spezialisten kaum mehr zu überschauen. Bibliographien und Literaturberichten kommt daher eine wichtige Funktion bei der Erschließung dieses komplexen, multidisziplinären und dynamischen Forschungsfeldes zu. Die ältere Literatur zu den Themenfeldern Rassenhygiene, Sterilisation, »Wiedergutmachung« und »Euthanasie« einschließlich der gegenwartsnahen medizinethischen Diskussion ist über die von Gerhard Koch31 und Christoph Beck32 besorgten Bibliographien zugänglich. Beck verzeichnet zudem auch zeitgenössische Texte. Für die bis 1999 erschienenen Forschungsbeiträge stehen in der als CD-ROM verfügbaren Bibliographie zur Geschichte des Nationalsozialismus von Michael Ruck33 komfortable Suchmöglichkeiten zur Verfügung. Seither erschienene Bücher und Aufsätze lassen sich im Online-Katalog des Instituts für Zeitgeschichte recherchieren, der für die Geschichte des »Dritten Reiches« Referenzcharakter besitzt.34 Für den raschen Einstieg in die Thematik eignen sich außerdem die Auswahlbibliographien der einschlägigen Sammelbände von Norbert
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Koch, 1984. Beck, 1992. Ruck, 2000. http://www.ifz-muenchen.de, letzter Zugriff 4.11.2010. Einschlägig sind hier u. a. die Systematikstellen m 1-199 (Rassenpolitik, Bevölkerungspolitik, Gesundheitswesen), k 70 (»Euthanasie«), k 88 (medizinische Experimente an KZ-Häftlingen) und k 89 (psychische und gesundheitliche Folgen der Verfolgung).
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Frei (1991)35 und Klaus-Dietmar Henke (2008),36 deren Einleitungen den bis dahin erreichten Forschungsstand konzis zusammenfassen. Eine Reihe von Forschungsberichten dokumentiert das seit den 1980er Jahren rapide gewachsene Interesse an der Geschichte der Medizin im »Dritten Reich«. Der Literaturbericht des Wissenschaftshistorikers Paul Weindling stellt die Entwicklung in der NS-Zeit in einen weiteren Rahmen, indem er nach den Zusammenhängen zwischen der Rationalisierung sozialer Beziehungen, gesundheitspolitischer Modernisierung und der Durchsetzung des rassenhygienischen Paradigmas fragt.37 Einen ganz anderen Akzent setzen mehrere Beiträge des deutsch-kanadischen Historikers Michael H. Kater.38 Hier stehen professionsgeschichtliche Fragen und insbesondere die Mitwirkung von Ärzten an den nationalsozialistischen Verbrechen sowie deren unvollkommene und lange auch unwillkommene Aufarbeitung im Mittelpunkt. Titel wie »The burden of the past« und »Unbewältigte Medizingeschichte« unterstreichen die bisweilen von spekulativen Verschwörungstheorien nicht ganz freien gegenwartsnahen Bezüge seines Forschungsinteresses. Kater, der sich in den 1980er Jahren als Experte für die NS-Sozialgeschichte einen Namen gemacht hat, konnte mit seinen eigenen Arbeiten viel zum Boom der NSMedizingeschichte und zu deren Integration in die allgemeine Geschichte der NS-Zeit beitragen. Der defizitorientierte Ansatz seiner Literaturberichte hat angesichts des rasch voranschreitenden Forschungsstands indes bald einiges von seiner ursprünglichen Berechtigung verloren. Das unterstreicht nicht zuletzt ein Literaturbericht von Gisela Bock, der den Anfang der 1990er Jahre erreichten Forschungsstand zur Beteiligung der Medizin an rassistischer Verfolgung und Massenmord dokumentiert.39 Es gibt bis heute kein biographisches Lexikon sozialpolitischer und medizinischer Funktionseliten im 20. Jahrhundert, so dass sich der Leser mit verstreut vorliegenden Informationsquellen behelfen muss. Wissenschaftlich hervorragende Fachvertreter sind mit gründlich recherchierten Artikeln in der »Neuen Deutschen Biographie« sowie in einem von Peter Voswinckel herausgegebenen Lexikon vertreten.40 Über die Biogra35 36 37 38 39 40
Frei, 1991. Henke, 2008. Weindling, 1986. Kater, 1987a, 1993. Bock, 1990. Hockerts et al., 1953-2010; Voswinckel, 2002. Problematisch sind hingegen die Einträge in der 2002 erschienenen »Biographischen Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner«, da hier die NS-Zeit oft nicht angemessen berücksichtigt wird.
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phien ins Exil vertriebener Mediziner informiert das Standardwerk von Herbert A. Strauss und Werner Röder zuverlässig.41 Durch die Arbeiten von Alfons Labisch und Florian Tennstedt sind auch die Protagonisten des öffentlichen Gesundheitswesens vergleichsweise gut dokumentiert.42 Die biographischen Anhänge bei Vossen43 und Süß44 erfassen diesen Personenkreis ebenfalls. Sie sind insgesamt breiter angelegt und beziehen auch gesundheitspolitische Funktionseliten in der NSDAP und ihren Gliederungen, in der Wehrmacht und in der staatlichen Gesundheitsbürokratie mit ein, dafür fallen die Lemmata hier deutlich knapper aus. Ernst Klee hat die Summe seiner langjährigen Beschäftigung mit der NS-Medizin in mehreren biographisch angelegten Werken gezogen, die sich durch ihren Entlarvungsgestus und ihr dezidiertes moralisches Urteil markant vom betont nüchternen Stil der meisten wissenschaftlichen Veröffentlichungen zur Geschichte der NS-Zeit abheben. Sein 2001 erschienenes Buch über die Karrieren deutscher Ärzte »vor und nach 1945« ist eine Fundgrube biographischer Informationen und zugleich eine chronique scandaleuse ungeahndeter Verbrechen, vernichteter Akten und personeller Kontinuitäten im medizinischen Wissenschaftsbetrieb.45 Die mehr als 4300 Einträge seines 2007 erschienenen Personenlexikons zum »Dritten Reich« geben Auskunft über zahlreiche Mediziner. Neben den Lebensdaten enthalten sie unter anderem Informationen zu Berufsweg, Funktionen in nationalsozialistischen Organisationen sowie kurze Auszüge aus Veröffentlichungen und dienstlichen Beurteilungen. Klees Materialsammlung ist allerdings mit einiger Vorsicht zu benutzen, da die Artikel oftmals (nahezu unverändert) aus anderen Zusammenstellungen kompiliert wurden, in der historischen Einordnung nicht selten schief, im Informationsgehalt oft unbefriedigend und bisweilen auch tendenziös sind. Der Mainzer Bischof Albert Stohr wird zum Beispiel durch eine kritische Bemerkung zur Entnazifizierung kaum angemessen beschrieben, wenn dabei sein Protest gegen die nationalsozialistischen Krankenmorde unerwähnt bleibt.
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Strauss/Röder, 1980-1983. Labisch/Tennstedt, 1985. Vossen, 2001. Süß, 2003. Klee, 1985a, 2001, 2003.
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2 Eugenik und Rassenanthropologie Hans-Walter Schmuhl Der nationalsozialistische Staat verfolgte drei grundlegende Herrschaftsziele: Macht, Raum und Leben. Diese drei Ziele bauten aufeinander auf. Die Kumulierung und Konzentration von Macht diente der Mobilisierung aller wirtschaftlichen und sozialen Ressourcen, der Vorbereitung eines neuen Weltkrieges, der wiederum die Unterwerfung Europas, die Vernichtung der stalinistischen Sowjetunion und die rücksichtslose Ausbeutung des eroberten »Ostraums« als Rohstoff basis für den letzten Waffengang mit den Vereinigten Staaten von Amerika und die Erringung der Vorherrschaft in der Welt zum Ziel hatte. Doch waren selbst diese Pläne dem letzten Ziel nationalsozialistischer Herrschaft untergeordnet. Das »Großgermanische Reich«, von dem die braunen Machthaber träumten, war als »Lebensraum« eines »Neuen Menschen« gedacht. In letzter Konsequenz strebte das »Dritte Reich« nach der Beherrschung des Lebens an sich. Man kann den Nationalsozialismus mit guten Gründen – in Anlehnung an Michel Foucault1 – als eine biopolitische Entwicklungsdiktatur auffassen, die darauf abzielte, die Kontrolle über Geburt und Tod, Sexualität und Fortpflanzung, Körper und Keimbahn, Variabilität und Evolution an sich zu bringen, den Genpool der Bevölkerung von allen unerwünschten »Beimischungen« zu »reinigen« und auf diese Weise einen perfekten »Volkskörper« zu schaffen. Neuere Gesamtdarstellungen zum nationalsozialistischen Deutschland – hier ist vor allem die Arbeit von Ludolf Herbst hervorzuheben – räumen der Biopolitik endlich den Stellenwert ein, der ihr zukommt.2 Die biopolitische Entwicklungsdiktatur des Nationalsozialismus ruhte auf zwei Säulen: der Erbgesundheits- und der Rassenpolitik. Sie bildeten nicht nur eigenständige Politikfelder unter anderen, sondern sollten darüber hinaus als leitendes Prinzip auf allen Politikfeldern, nicht nur in der Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik, sondern auch in der Sozial-, Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Finanz- und Kulturpolitik zum Tragen kommen. Zwar gelang die Durchdringung all dieser Politikfelder letzt-
1 Foucault, 1983, 2004. Vgl. Stingelin, 2003; Dickinson, 2004; Muhle, 2008. 2 Herbst, 1996, S. 9-24, 37-62, 271-274. Enttäuschend in dieser Hinsicht: Wehler, 2003, S. 664-675. Vgl. auch Burleigh/Wippermann, 1991.
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lich nur in Ansätzen – dennoch: So konsequent war darin noch kein politisches System zu Werke gegangen. Erbgesundheits- und Rassenpolitik wurden als Voraussetzung für die Schaffung einer neuen, nach dem Erbwert geschichteten Gesellschaft gesehen, an deren Spitze eine sozial tendenziell egalitäre, biologisch homogene »Volksgemeinschaft« stehen sollte, in der die überkommenen Klassen-, Schichten- und Milieugrenzen überwunden werden sollten. Die Teilhabe an den Leistungen nationalsozialistischer Sozial- und Gesundheitspolitik stand immer unter einem »Rassenvorbehalt«. Von vornherein ausgeschlossen waren alle Bevölkerungsgruppen, die im Sinne der Erbgesundheits- und Rassenpolitik zum »biologischen Bodensatz« gehörten: Juden, Sinti und Roma, psychisch kranke und geistig behinderte Menschen, »Gemeinschaftsfremde« und »Fremdvölkische«. Fortschritt war mit Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung eng verschränkt. Erbgesundheits- und Rassenpolitik gründeten sich auf Konzepte aus der Eugenik und Rassenbiologie, die viel älter waren als der Nationalsozialismus.
Eugenik/Rassenhygiene »Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik?« lautete der Titel einer internationalen Tagung, die 2006 in Basel stattfand und Forschungsbefunde zur Geschichte der Eugenik in der Schweiz in eine komparatistische Perspektive stellte.3 Die Beiträge decken den Zeitraum von 1900 bis 1970 ab und behandeln die Schweiz, Österreich, Deutschland und Großbritannien – folgerichtig plädieren die Herausgeberinnen und Herausgeber dafür, die Geschichte der Eugenik nicht vorschnell auf den Fluchtpunkt der nationalsozialistischen Rassenhygiene hin zu verengen, sondern sie als internationales Phänomen zu betrachten, das in völlig verschiedenen politischen Systemen Gestalt annehmen konnte. Dies ist der allgemeine Tenor der Forschung, die in den letzten Jahren auf breiter Front vorangeschritten ist. In den drei Jahrzehnten von Mitte der 1880er Jahre bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Teilen Europas, in Nordamerika und mancherorts in Lateinamerika, Asien und Australien ein neuer Gedanke auf: die Eugenik oder – wie man im Deutschen sagte – die Rassenhygiene. Sie gehört in 3 Wecker et al., 2009.
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das äußerst facettenreiche Spektrum von Sozialtheorien, die im Umfeld des Darwinismus entstanden.4 Die Eugenik ging zwar nicht von der Gedankenfigur ab, dass sich die biologische Evolution der Menschheit nach Naturgesetzen vollzog, doch rückte es in den Bereich des Vorstellbaren, dass gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungen die biologische Evolution konterkarieren könnten. Daraus leitete die Eugenik ihren Anspruch ab, die gesellschaftlichen Verhältnisse so zu gestalten, dass soziale und biologische Entwicklung wieder im Einklang miteinander stünden. Andernfalls riskiere man die biologische Degeneration. Im 20. Jahrhundert setzte der Siegeszug der eugenischen Idee rund um den Erdball ein. Eugenische Bewegungen entstanden in Großbritannien, den Vereinigten Staaten, Kanada, Irland, Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich, Italien, den Niederlanden, der Tschechoslowakei, Schweden, Norwegen, Dänemark, Finnland, Island, dem Baltikum, der Sowjetunion, Japan, Australien und Lateinamerika.5 Am erfolgreichsten agierte zweifellos die US-amerikanische Eugenikbewegung. Aufgrund der eugenischen Politikberatung wurden seit 1907 in einer Reihe amerikanischer Bundesstaaten Sterilisierungsgesetze erlassen, zudem wurden prominente Eugeniker als Gutachter zu den Beratungen über ein neues Einwanderungsgesetz, den Immigration Restriction Act von 1924, hinzugezogen. Die deutsche Rassenhygiene, die in den 1890er Jahren unabhängig von der Eugenikbewegung im angelsächsischen Raum entstand, ist in den letzten Jahren zum Gegenstand intensiver Forschungen geworden.6 Zunächst kaum mehr als ein hermetischer Zirkel junger Akademiker im Dunstkreis der Lebensreformbewegung, begann die Gruppierung um den Arzt Alfred Ploetz im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts damit, sich eine festere Organisationsstruktur zu geben. Ein erster Schritt wurde mit der Gründung des »Archivs für Rassen- und Gesellschaftsbiologie« im Jahre 1904 vollzogen. Das Netzwerk der Rassenhygieniker, seit 4 Schmuhl, 2010. 5 Searle, 1976; Haller, 1984; Kevles, 1985; Jones, 1986, 1992; Byer, 1988; Rafter, 1988; Adams, 1990; McLaren, 1990; Noordman, 1990; Stepan, 1991; Mazumdar, 1992; Garton, 1994; Larson, 1995; Soloway, 1995; Broberg/Roll-Hansen, 1996; Pernick, 1996; Dowbiggin, 1997; Dikötter, 1998; Kaufmann, 1998; Janko, 1998; Selden, 1999; Weindling, 1999; Weingart, 1999; Schmuhl, 2000; Kline, 2001; Schweizer, 2002; Huonker, 2003; Trus, 2002; Black, 2003; Etzemüller, 2003; Spektorowski/ Mizrachi, 2004; Rosen, 2004; Turda/Weindling, 2007; Schwartz, 2008; Ritter, 2009; Turda, 2010; Bashford/Levine, 2010. 6 Schmuhl, 1987; Weingart/Kroll/Bayertz, 1988; Weindling, 1989.
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1910 in der »Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene« zusammengeschlossen, verstand sich nicht nur als Kristallisationskern einer im Entstehen begriffenen scientific community, sondern zugleich auch als eine auf Wissenschaft gegründete lebens- und sozialreformerische Bewegung.7 Der Erste Weltkrieg mit seinen ungeheuren Verlusten an Menschenleben brachte der Rassenhygiene den Durchbruch. In der Weimarer Republik erhielt sie weiter Auftrieb. Paradoxerweise hing dies ursächlich damit zusammen, dass das Sozialstaatsprinzip jetzt erstmals Verfassungsrang bekam und in den Grundrechtekatalog der Weimarer Reichsverfassung aufgenommen wurde. Damit hatte sich die junge Republik eine schwere Bürde aufgeladen. Von Anfang an blieb die sozialpolitische Realität hinter den hohen Zielvorgaben zurück, konnte die Kluft zwischen der staatlichen Garantie sozialer Sicherheit und der von Inflation und Depression geprägten Wirklichkeit kaum überbrückt werden. In dieser Situation traf die Rassenhygiene mit dem ihr eigenen Spannungsverhältnis zwischen apokalyptischer Endzeitvision und millenarischem Heilsversprechen, Zivilisationskritik und szientokratischem Machbarkeitswahn den Nerv der Zeit. In den 1920er Jahren rückten Eugenik und Rassenhygiene in die Mitte der Gesellschaft, stieg die rassenhygienische Bewegung zu einer einflussreichen pressure group auf, der es nach und nach gelang, Eugenik/ Rassenhygiene als Forschungsrichtung und Unterrichtsfach in den Wissenschaften vom Menschen zu verankern und eugenische Postulate und Programme auf die politische Agenda zu setzen. Da sie im Grenzbereich der verschiedenen Wissenschaften vom Menschen angesiedelt war, stand nicht von vornherein fest, welche dieser Disziplinen sich zu Referenzwissenschaften der Rassenhygiene/Eugenik entwickeln würden. Ploetz hatte zunächst damit geliebäugelt, die Rassenhygiene als »Metawissenschaft« im Umkreis der Soziologie zu etablieren. Doch bereits am Vorabend des Ersten Weltkriegs näherte sich die rassenhygienische Bewegung der Medizin an, eine Tendenz, die sich in der Weimarer Republik noch verstärkte. Im Laufe der 1920er Jahre fand die Rassenhygiene Eingang in die Lehrpläne aller deutschen Universitäten und fast aller technischen Hochschulen. Dabei war eine Tendenz zur Etablierung der Rassenhygiene als medizinische Subdisziplin unver-
7 Weindling, 1989, S. 145; Weingart/Kroll/Bayertz, 1988, S. 188-208.
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kennbar.8 Auch ihre Verortung innerhalb der Medizin unterlag einem Wandel. Anfang der 1920er Jahre galt sie gemeinhin noch als Spezialgebiet der (Sozial-)Hygiene, zunehmend jedoch orientierte sie sich an der Psychiatrie, die in Deutschland zu ihrer wichtigsten Referenzwissenschaft wurde. Die Psychiatrie sah im frühen 20. Jahrhundert in der Verbindung mit Humangenetik und Rassenhygiene einen Königsweg zur Etablierung als medizinische Disziplin, nachdem der im ausgehenden 19. Jahrhundert unternommene Versuch, sich an die (Neuro-)Pathologie und Physiologie sowie die experimentelle Psychologie anzulehnen, gescheitert war. Die psychiatrische Genetik der Zwischenkriegszeit war auf die Erforschung erblicher Einflüsse bei der Entstehung psychischer Krankheiten und geistiger Behinderungen ausgerichtet, die praktische Psychiatrie setzte auf die eugenische Prophylaxe, weil es an Therapiemöglichkeiten für psychische Krankheiten noch weithin fehlte. In diesem Zusammenhang übernahm die – 1924 in die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft aufgenommene – Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie, insbesondere das von Ernst Rüdin geleitete Institut für psychiatrische Erblichkeitsforschung (seit 1924: Institut für Genealogie und Demographie), eine wichtige Schrittmacherrolle. Die Rassenhygiene wiederum profitierte, indem sie sich mit der psychiatrischen Genetik und Statistik verband, vom Nimbus der Wissenschaftlichkeit, der diese Disziplinen umgab.9 Im Zuge ihrer fortschreitenden Verwissenschaftlichung veränderte sich die rassenhygienische Bewegung: Ihre soziale Basis weitete sich aus und verschob sich in Richtung auf die Universitäten, die Verwaltungen des Reiches, der Länder und Provinzen, der Kreise und Kommunen, die Parlamente, die Parteien, Verbände und Vereine. Rassenhygiene war nun nicht mehr nur die Sache einer Handvoll Intellektueller, sie konnte sich vielmehr auf eine breite Trägergruppe aus dem gehobenen Bildungsbürgertum stützen. Sie erfuhr wachsende Akzeptanz in konfessionell gebundenen Milieus,10 auch in der katholischen Kirche und im Zentrum (dazu liegt jetzt das Standardwerk von Ingrid Richter vor),11 mehr noch in der evangelischen Kirche und Diakonie.12 Ebenso zeigte sich die Sozi8 Günther, 1982. Vgl. auch Weindling, 1989, S. 339 (Tab. 6). Vgl. auch Peter, 2004; Dicke, 2004. Zum Standardlehrbuch der Rassenhygiene, dem »Baur-FischerLenz«: Fangerau, 2001. 9 Weber, 1991; Roelcke, 2002, 2003, 2007. 10 Schwartz, 1995b. 11 Richter, 2001. 12 Kaiser, 1986; Schleiermacher, 1998.
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aldemokratie – wie Michael Schwartz in seiner grundlegenden Studie herausgearbeitet hat – aufgeschlossen gegenüber der Eugenik.13 Und auch die Frauenbewegung liebäugelte mit eugenischen Konzepten.14 Es gab sogar, wie Veronika Lipphardt jüngst gezeigt hat, eine Gruppe von Biowissenschaftlern mit jüdischem Hintergrund, die sich mit Fragen der Eugenik beschäftigten – wenngleich man nicht von einer »jüdischen Eugenik« sprechen kann.15 Auch die »deutsch/deutsch-jüdische Avantgarde« der Sozialhygiene – allen voran Alfred Grotjahn – wies enge Affinitäten zur Eugenik/Rassenhygiene auf.16 Fest eingebunden war die deutsche Rassenhygiene in die internationalen Netzwerke der Eugenik, vor allem in die International Federation of Eugenic Organizations (IFEO) und die International Union for the Scientific Investigation of Population Problems (IUSIPP). Über diese Vernetzungen gibt das Standardwerk von Stefan Kühl Auskunft.17 Die Rassenhygiene hatte in der internationalen eugenischen Bewegung zwar großes Gewicht, bis 1933 galten den deutschen Rassenhygienikern jedoch die Vereinigten Staaten von Amerika wegen ihrer Vorreiterrolle bei der eugenischen Sterilisierung als gelobtes Land. Von einem »deutschen Sonderweg« der Eugenik kann bis 1933 – so der einhellige Tenor der neueren Forschung – keine Rede sein. Erst nach der Erhebung der Rassenhygiene zur Staatsdoktrin durch die Nationalsozialisten wurde NSDeutschland zum Modellstaat der internationalen eugenischen Bewegung. Zur organisierten Rassenhygiene im Nationalsozialismus liegt bezeichnenderweise kaum Spezialliteratur vor.18 Innerhalb von sechs Jahren konnte die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene ihre Mitgliederzahl zwar verdreifachen19 – politisch allerdings war sie in der Bedeutungslosigkeit versunken. Dies war der Preis des Erfolgs: Eugenik/ Rassenhygiene war zur Richtschnur des öffentlichen Gesundheitswesens und der parteiamtlichen Gesundheitsführung geworden, stand im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Propaganda zur Bevölkerungs-, Sozial- und Gesundheitspolitik und hatte sich an Hochschule und Schule
13 14 15 16 17 18 19
Schwartz, 1994, 1995a. Usborne, 1994; Herlitzius, 1995; Bleker/Ludwig, 2007. Lipphardt, 2008. Heinzelmann, 2009. Vgl. Schagen, 2005. Kühl, 1997. Vgl. noch immer: Lilienthal, 1979. Schmuhl, 2005, S. 164. Vgl. auch die Tab. in Weindling, 1989, S. 499.
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fest etabliert.20 Vor allem aber war ein wesentliches Instrument der negativen Eugenik in Form des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« in praktische Politik umgesetzt worden. Die humangenetische Forschung rückte, wie sich am Beispiel des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik zeigen lässt,21 in den 1930er Jahren im Zeichen eines »höheren Mendelismus« von allzu grobschlächtigen Vorstellungen über die Vererbung von Krankheiten und Behinderungen ab und versuchte, die Eugenik auf eine theoretisch und methodisch anspruchsvollere Ebene zu heben. Von großer Bedeutung blieb die Eugenik indessen für die Psychiatrie. Sie verband mit ihrem rassenhygienischen Engagement – bei der Umsetzung des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, in der Außenfürsorge und bei der »erbbiologischen Bestandsaufnahme«22 – den Anspruch auf den Status einer gesellschaftlichen Leitwissenschaft.23
Rassentheorien und Rassenanthropologie Im Grenzbereich von Rassentheorie und Sozialdarwinismus bildete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Rassenanthropologie heraus. Alle modernen Rassentheorien gehen auf den »Essai sur l’inégalité des races humaines« (1853/1855) von Joseph Arthur de Gobineau zurück. Der französische Aristokrat glaubte, mit dem Rassenprinzip das Bewegungsgesetz der Weltgeschichte entdeckt zu haben. Eine »weiße«, »arische« oder »germanische« »Rasse« sei kulturschöpfend, alle anderen kulturzerstörend. Der Prozess der Geschichte werde durch Rassenmischung in Gang gesetzt und laufe zwangsläufig auf eine epigonale und egalitäre »Mischrasse« zu. Gobinistische Rassentheorien überdauerten bis in das 20. Jahrhundert. Sie zeichneten sich durch ein lineares, deterministisches und pessimistisches Geschichtsbild aus. Zwischen Gobinismus und Sozialdarwinismus bestanden erhebliche innere Widersprüche, war doch Gobineaus Rassenlehre eine kulturpessimistische Interpretation des säkularen Modernisierungsprozesses vom Standpunkt des ancien
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Makowski, 1996; Harten, 2006; Weiss, 2010. Schmuhl, 2005. Zur weiteren Geschichte des Instituts: Kröner, 1997. Dazu noch immer: Roth, 1984. Kaufmann, 2003.
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régime aus, während der frühe Sozialdarwinismus das manchesterkapitalistische Gesellschaftsmodell widerspiegelte. Trotzdem verschmolzen gegen Ende des 19. Jahrhunderts gobinistische und sozialdarwinistische Ansätze zu synkretistischen Rassentheorien.24 Dabei brachte der Gedanke der »Rückzüchtung« der »arischen Rasse« ein dynamisches Element in die Rassendoktrin ein. Ging es der Rassenhygiene um »Aufartung«, so machten sich die Rassenanthropologen an die »Aufnordung«. Sie bemühten sich um eine Verwissenschaftlichung der Rassendoktrin. Bedeutendste Referenzwissenschaft war die physische Anthropologie, wichtigstes Hilfsmittel die Kraniometrie, die grob zwischen Kurzschädeln (Brachyzephalen) und Langschädeln (Dolichozephalen) unterschied, wobei Langschädeligkeit zum erblichen Merkmal der »nordischen Rasse« erklärt wurde. Als nach der Wende zum 20. Jahrhundert in den USA die Zahl der Immigranten aus Ost- und Südeuropa sprunghaft anstieg und bei den von Überfremdungsängsten umgetriebenen White Anglo-Saxon Protestants Rufe nach einem Einwanderungsstopp laut wurden, beauftragte die US-Einwanderungsbehörde den aus Deutschland stammenden Kulturanthropologen Franz Boas, eine Studie zur Assimilationsfähigkeit von Immigranten aus verschiedenen Teilen Europas zu erstellen.25 Er kam zu dem Ergebnis, dass sich körperliche Merkmale unter dem Einfluss von Umweltfaktoren bereits innerhalb einer Generation verändern konnten. Das galt sogar für die Schädelform, die in den älteren Rassentheorien als das unveränderliche Rassenmerkmal schlechthin figurierte. Damit hatte Boas bestimmte grobschlächtige Annahmen der frühen, konzeptionell und methodisch noch unausgereiften Rassenanthropologie widerlegt. Seine anthropometrischen Untersuchungen markierten indessen nicht das Ende, sondern ganz im Gegenteil den Ausgangspunkt einer neuen, konzeptionell und methodisch ungleich ambitionierteren Rassenforschung. Das 1927 gegründete Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik,26 so kündigte der Gründungsdirektor Eugen Fischer unter Berufung auf Boas’ Studie an, werde sich nicht mehr mit »Schädelmesserei« abgeben. Im Sinne der Öffnung der Anthropologie zur Humangenetik sollte der überkommene, statische, taxonomisch angelegte, von morphologischen Merkmalen ausgehende Rassenbegriff zugunsten eines dynamischen, evolutionsbio24 Dazu noch immer: Zur Mühlen, 1977. Vgl. Gondermann, 2007. 25 Schmuhl, 2009. 26 Schmuhl, 2005.
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logisch aufgefassten, populationsgenetisch begründeten Rassenbegriffs aufgegeben werden. Die Rassenpolitik des nationalsozialistischen Staates ging über weite Strecken von einem in der Anthropologie längst überholten Rassenkonzept aus, wie es etwa Hans Friedrich Karl Günther in seiner »Rassenkunde des Deutschen Volkes« nach wie vor vertrat.27 In strittigen politischen Fragen, vor allem im Hinblick auf die Behandlung der »jüdischen Mischlinge«, folgte das Regime nicht dem mainstream der anthropologischen Forschung. Allerdings vermied es die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik, der Forschung einen ideologisch vorgeformten Rassenbegriff zu oktroyieren. So findet sich in der anthropologisch-humangenetischen Forschung der NS-Zeit, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft bzw. den Reichsforschungsrat,28 ein breitgefächertes Spektrum von Rassenkonzepten.29 Vor dem Hintergrund der neuen Erkenntnisse der Humangenetik mussten die Rassegutachten, die das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik seit 1933 für das Reichssippenamt30 anfertigte und die im Wesentlichen noch auf den Methoden der klassischen Anthropometrie beruhten, völlig unzulänglich erscheinen, blieben sie doch an der Oberfläche des äußeren »Erscheinungsbildes«, ohne das »Erbbild« in den Blick zu nehmen. Spätestens 1943 trat das Institut unter Fischers Nachfolger, Otmar Freiherr von Verschuer, daher in den Wettlauf um die Entwicklung eines effizienten Rassentests jenseits der klassischen Anthropometrie ein. Die Ebene des Genoms war noch nicht greif bar. So geriet die Zwischenebene der Proteine, Enzyme und Hormone, die nach der Blaupause des Genoms die Auffaltung des Organismus steuern, in das Blickfeld. Vielleicht, so die Hypothese, wies jede Menschenrasse eine je eigene Zusammensetzung des Bluteiweißes auf, was die Möglichkeit eines serologischen Rassentests eröffnete. Seit 1940, als in den Kriegsgefangenenlagern der Zugriff auf Kolonialsoldaten möglich wurde, forschte man an anderer Stelle intensiv in dieser Richtung. 1943 begann Verschuer mit seinem eigenen Projekt »Spezifische Eiweißkörper«, für das er sich von seinem Schüler Josef Mengele 200 Blutproben von Menschen verschiedener »Rassen« aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz schicken ließ.31 Auch wenn sich der Traum 27 28 29 30 31
Hoßfeld, 1999, 2004. Cottebrune, 2008. Schmuhl, 2003. Schulle, 2001. Vgl. Lilienthal, 1987; Kröner, 1999. Trunk, 2003; Schmuhl, 2005, S. 502-522; Cottebrune, 2006, 2008, S. 193-196.
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von einem serologischen Rassentest nicht erfüllte, so fanden die Erträge der Rassenbiologie doch an vielen Stellen Eingang in die NS-Genozidpolitik, so etwa bei der Selektion der Sinti und Roma oder bei der »ethnischen Flurbereinigung« im besetzten Osteuropa.32
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3 Gesundheitswesen 3.1 Gesundheitspolitische Entscheidungsstrukturen, öffentlicher Gesundheitsdienst und Sozialversicherung Winfried Süß
Gesundheitspolitische Entscheidungsstrukturen Aufgrund der föderalen Prägung der politischen Institutionen, der Bedeutung parastaatlicher und freigemeinnütziger Akteure in der Sozialpolitik und der traditionell starken Stellung der Kommunen als Kristallisationspunkte sozialpolitischer Interventionen waren die gesundheitspolitischen Entscheidungsstrukturen des Deutschen Reiches stark fragmentiert. Seit dem späten 19. Jahrhundert hatte sich hier ein vielfältig miteinander verflochtenes System der medizinischen Versorgung herausgebildet, in dem Anbieter und Finanzierer von gesundheitsbezogenen Dienstleistungen über erhebliche Autonomie verfügten und in »antagonistischen Kooperationen«1 mit der Politik um Einflusspositionen rangen. Die gesundheitspolitischen Regulierungskompetenzen der Zentralebene waren hingegen vergleichsweise schwach ausgebildet, und die Tätigkeit der Reichsregierung beschränkte sich im Wesentlichen auf die Setzung und Kontrolle des gesundheitspolitischen Rahmens. Eine zusätzliche Fragmentierung der Entscheidungsstrukturen ergab sich dadurch, dass wichtige gesundheitspolitische Kompetenzen auf mehrere Reichsministerien verteilt waren. Den institutionellen Kern bildete die Gesundheitsabteilung des Reichsinnenministeriums (RMdI) mit den ihr nachgeordneten Mittel- und Unterbehörden. Sie war zuständig für den öffentlichen Gesundheitsdienst, die Bekämpfung ansteckender Krankheiten, die Aufsicht über das Personal und die Einrichtungen des Gesundheitswesens sowie für den seit 1933 expandierenden Bereich der »Erb- und Rassenpflege«. Allerdings ressortierte die Sozialversicherung und damit die Masse der wirtschaftlichen Belange beim Reichsarbeitsministerium, während Fragen der ärztlichen Ausbildung und die Angelegenheiten der Medizinischen Fakultäten im Reichserziehungsministerium bearbeitet wurden. 1 Süß, 2007; vgl. Webber, 1988, für die Zeit der Weimarer Republik Thomsen, 1996.
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gesundheitswesen
Die nationalsozialistische Machteroberung wirkte sich ambivalent auf diese komplexe Institutionenordnung aus. Auf der einen Seite erweiterten die neuen Machthaber die gesundheitspolitische Staatstätigkeit ganz erheblich und vergrößerten damit das Handlungsfeld der gesundheitsbezogenen Verwaltung. Zudem wurden die gesundheitspolitischen Entscheidungsstrukturen zentralisiert, indem sie »verreichlicht« und der Kontrolle der Reichsministerien unterworfen wurden. Davon profitierte besonders das Reichsinnenministerium, dessen Gesundheitsabteilung zu den wachstumsstärksten Bereichen der inneren Verwaltung gehörte.2 Gleichzeitig verloren die Krankenkassen wichtige Einflusspositionen gegenüber den institutionell aufgewerteten ärztlichen Standesorganisationen.3 Auf der anderen Seite schließlich betraten mit den gesundheitsbezogenen Ämtern der NSDAP (Hauptamt für Volksgesundheit), der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (Amt für Volksgesundheit) und der Deutschen Arbeitsfront (Amt Gesundheit und Volksschutz) neue Akteure das Spielfeld. Während das personell und materiell besonders in der Mittelebene der Gaue nur schwach ausgestattete Hauptamt weitgehend einflusslos blieb, gelang es der finanzstarken Deutschen Arbeitsfront (DAF), mit der produktionsorientierten Gesundheitspolitik (»Gesundheitsführung im Betrieb«) ein expandierendes Aufgabenfeld zu besetzen.4 Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) konzentrierte sich auf die Gesundheitsfürsorge für »erbgesunde« Mütter und Kinder und wurde hier zum direkten Konkurrenten des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Zudem konnte sie in der Krankenpflege und in einigen Bereichen der speziellen Gesundheitsfürsorge Einfluss gewinnen, in denen die Angebote des öffentlichen Gesundheitswesens und freigemeinnütziger Träger unzureichend waren (z. B. bei der ländlichen Armutsbevölkerung).5 Diese unübersichtliche Situation verschärfte sich in den Kriegsjahren, als die NS-Führung mehrere Kommissare einsetzte, die nur mit einem kleinen Verwaltungsstab, dafür aber mit umfassenden, zum Teil von Hitler selbst erlassenen Vollmachten agierten. Sie waren mit Koordinationsaufträgen und »Sonderaufgaben« vor allem in der Organisation der »Euthanasie« betraut, wie der Reichsbeauftragte für
2 Zur Gesundheitsabteilung (ab 1939 Staatssekretariat für das Gesundheitswesen) des RMdI vgl. Süß, 2003, S. 44-53, zum Personal: S. 96-110. 3 Vgl. Kapitel 3.2 zum Standeswesen. 4 Reeg, 1988; Höfler-Waag, 1994; vgl. Kapitel 5.2 zur Medizin im Krieg. 5 Vgl. Hansen, 1991, S. 156-169, 288-310.
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Heil- und Pflegeanstalten, Herbert Linden.6 Dem 1942 ernannten Beauftragten Hitlers (seit 1944 Reichskommissar) für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, Professor Karl Brandt, gelang es aufgrund seines direkten Zugangs zum nationalsozialistischen Diktator, größere Aufgabenfelder aus dem Verantwortungsbereich der inneren Verwaltung, des Reichsforschungsrates und des Wehrmachtssanitätswesens herauszulösen und seiner Befehlsgewalt zu unterstellen, so dass sich ein neues, zunehmend einflussreicheres gesundheitspolitisches Machtzentrum herausbildete. Dessen Kompetenzen bezogen sich sowohl auf die medizinische Versorgung unter den Bedingungen des Luftkriegs als auch auf die Organisation der Krankenmorde. Insofern steht die Person Brandts emblematisch für die Dialektik von Heilen und Vernichten im nationalsozialistischen Deutschland.7 Während die Geschichte der Gesundheitsabteilung des Reichsinnenministeriums und des Reichskommissars für das Sanitäts- und Gesundheitswesen inzwischen gut erforscht ist, bestehen erhebliche Forschungsdefizite im Blick auf die gesundheitspolitischen Aktivitäten des Reichsarbeitsministeriums, dessen Tätigkeit bisher vor allem in Bezug auf die Konflikte mit der Deutschen Arbeitsfront über die Neuordnung der Sozialversicherung dargestellt wurde.8 Nur wenig erforscht sind auch die gesundheitspolitischen Einrichtungen der NSDAP. Die vorhandenen Arbeiten konzentrieren sich auf frühe ärztliche Unterstützer des Nationalsozialismus.9 Für die Zeit ab 1933 verfügen wir über eine institutionengeschichtlich orientierte Darstellung. Zudem wurde das Thema im Rahmen umfassender Darstellungen zur Geschichte der NSV, der DAF und der NS-Gesundheitspolitik behandelt; insgesamt wissen wir aber immer noch wenig über die Arbeit dieser Dienststellen.10 Hier
6 Noakes, 1986; Aly, 1985, S. 22-31; mit abweichender Interpretation zur Rolle Lindens: Süß, 2003, S. 311-319. 7 Zum Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen vgl. Süß, 2002; Süß, 2003, S. 76-94, 160-168; Schmidt, 2007, S. 173-255, 297-325. 8 Recker, 1985, S. 98-128; Süß, 2003, S. 151-160. 9 Kater, 1987. 10 Zum Hauptamt für Volksgesundheit vgl. Süß, 2003, S. 53-69, zum Funktionspersonal des NSDAP-Gesundheitswesens S. 111-126, zum Gesundheitswesen der Deutschen Arbeitsfront S. 69-72 sowie Reeg, 1988; zum Gesundheitswesen der NSV vgl. Hansen, 1991, Hammerschmidt, 1999, S. 401-418, 449-464, und Süß, 2003, S. 72-76.
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schließt eine neuere Studie von Thomas Beddies zum Gesundheitsdienst der Hitlerjugend eine wichtige Forschungslücke.11 Der unbefriedigende Forschungsstand ist auch der Quellenlage geschuldet, die vor allem für die regionale Ebene ausgesprochen disparat ist. Daher ist eine Studie von Gisela Tascher, die am Beispiel des Gaues Westmark das Zusammenspiel regionaler gesundheitspolitischer Akteure untersucht, außerordentlich wertvoll.12 Ergänzungsbedürftig sind auch die biographischen Studien zu den gesundheitspolitisch Agierenden. Während für den ersten von den Nationalsozialisten eingesetzten Leiter der Gesundheitsabteilung des Reichsinnenministeriums, Arthur Gütt, und seinen Amtsnachfolger Leonardo Conti13 fundierte biographische Skizzen existieren und Ulf Schmidt eine grundlegende Biographie Karl Brandts14 erarbeitet hat, fehlen entsprechende Studien zu Vertretern des NSDAP-Gesundheitswesens weitgehend.15
Öffentlicher Gesundheitsdienst Die Erforschung des öffentlichen Gesundheitswesens in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur setzte Mitte der 1980er Jahre ein und begann damit deutlich später als die Forschungen zur Geschichte biologistischer Ideen und medizinischer Verbrechen.16 Obgleich sein Umbau zu einer Schlüsselinstanz nationalsozialistischer Gesellschaftspolitik noch in der Phase der Machtdurchsetzung begann, hat die Forschung das öffentliche Gesundheitswesen in dieser Funktion zunächst nicht wahrgenommen. Einen Wendepunkt markierten hier zwei wegweisende Studien, die beide aus interdisziplinär zusammengesetzten Forschergruppen hervorgingen: Die institutionengeschichtlich angelegte Monographie von Alfons Labisch und Florian Tennstedt zur Genese des »Gesetzes über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens« (GVG) erschien 1985 zum 50. Jah-
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Beddies, 2010. Tascher, 2010. Labisch/Tennstedt, 1985; Kater, 1985. Schmidt, 2007; vgl. auch Schmidt, 2001; Eckart, 1998. Für den »Reichsärzteführer« Gerhard Wagner, der bis zu seinem Tod 1939 die Zentralfigur des NS-Gesundheitswesens war, liegt mit Zunke, 1972 nur eine Übersichtsdarstellung auf schmaler Quellenbasis vor. 16 Vgl. dazu die Kapitel 2, 4.2 und 5.4 in diesem Band.
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restag des Inkrafttretens.17 Entgegen der bis dahin professionsintern vorherrschenden Lesart, bei diesem Gesetz habe es sich lediglich um eine Maßnahme zur Verwaltungsvereinfachung gehandelt,18 weisen die Autoren dessen zentrale Bedeutung beim Umbau des öffentlichen Gesundheitsdienstes in einen »Transmissionsriemen«19 rassistischer Gesellschaftspolitik nach. Das Gesetz schrieb nicht nur einen grundsätzlichen Vorrang des Reiches in der Gesundheitspolitik fest, sondern leitete auch eine umfassende Ausweitung der Staatstätigkeit auf diesem Feld ein. Allerdings endet die materialreiche Abhandlung, in der der Konflikt zwischen kommunalen Autonomiebestrebungen und den Zentralisierungsinteressen des Reichsinnenministeriums minutiös rekonstruiert wird, bereits im Jahr 1935 mit der Errichtung einheitlicher Gesundheitsämter im Deutschen Reich. Die Verfasser haben diese Perspektive später noch einmal erweitert und die Konflikte zwischen dem staatlichen Gesundheitsdienst und dem expandierenden Gesundheitswesen der NSDAP und ihrer Verbände untersucht.20 Diese vom Machtwechsel 1933 und seinen Folgen her konzipierte Forschungslinie wurde durch mehrere Lokalstudien vertieft und erweitert, die die Wende vom »autoritären« zum »völkischen« Wohlfahrtsstaat21 nachzeichnen und das gesundheitspolitische Handeln in das Gefüge kommunaler Sozialpolitik einordnen. Hier sind insbesondere die Arbeiten von Julia Paulus zu Leipzig und Uwe Lohalm zu Hamburg hervorzuheben, während vergleichbare Studien zu den nationalsozialistischen Kapitalen München und Berlin bisher fehlen.22 Etwa zeitgleich zu Labisch/Tennstedt erschien der von Angelika Ebbinghaus, Heidrun Kaupen-Haas und Karl Heinz Roth herausgegebene Sammelband »Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg«.23 Die Autoren des Sammelbands legten einen besonderen Akzent auf Elemen17 Labisch/Tennstedt, 1985. 18 Diese apologetische Sichtweise ist inzwischen weiträumig korrigiert worden. Exemplarisch für die vielerorts stattfindende professionelle Selbstaufklärung vgl. z. B. Donhauser, 2007. 19 Sachße/Tennstedt, 1992, S. 35. 20 Labisch/Tennstedt, 1991. Zu diesem Konflikt vgl. auch Roth, 1995. 21 Beide Begriffe bei Sachße/Tennstedt, 1992, S. 18, 198. 22 Paulus, 1998, 2002; Lohalm, 2010. Zwei Dissertationen zur kommunalen Sozialpolitik Münchens befinden sich derzeit in Bearbeitung, für erste Teilergebnisse zum Münchner Gesundheitsamt vgl. Christians, 2007 sowie die Projektskizze: http ://www.geschichte.uni-muenchen.de/forschung/lauf_promot/hockerts_ hans/christians_annemone/index.html, letzter Zugriff 5.11.2010. 23 Ebbinghaus/Kaupen-Haas/Roth, 1984.
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te der Kontinuität zur wohlfahrtsstaatlichen Austeritätspolitik im Zeichen der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre. Dabei analysierten sie die NS-Gesundheitspolitik nicht – wie ältere Arbeiten – als Abweichung von der Norm und atavistischen Rückfall in vormoderne Zivilisationsstandards, sondern als Bestandteil einer umfassenden sozialsanitären Gesellschaftspolitik, die bei großen Teilen der gesundheitspolitischen Akteure Zustimmung fand und aus zeitgenössischer Sicht mit zum Teil hochmodernen Konzepten und Instrumenten operierte. Auf diese Weise wurde das Gesundheitswesen als der Teil des nationalsozialistischen Verfolgungsapparats porträtiert, der sich besonders gegen schwache und sozial abweichende Klienten des Sozialstaats richtete. Über die Grundanlage und zentrale Postulate dieser Veröffentlichung sowie eine gewisse Spannung zwischen der Reichweite ihrer Thesen und deren empirischer Fundierung ließ sich mit guten Gründen streiten. So scheint fragwürdig, ob Gesundheitspolitik »in ihrem Kern immer Armutspolitik gewesen ist«. Weiterhin steht zu vermuten, dass eine Sichtweise, die die nationalsozialistische Sozialpolitik primär aus dem »Traditionsbewußtsein des Klassenkampfs von oben« zu erklären versucht, am Kern des Problems vorbeizielt, weil dadurch gerade das spezifisch Neue der nationalsozialistischen Gesellschaftspolitik überblendet wird.24 Zudem unterscheiden die Autoren des Sammelwerkes nicht immer genau genug zwischen den weitreichenden Plänen der Sozialverwaltung und der Praxis ihrer Umsetzung. Gleichwohl ist zu betonen, dass das thesenstarke Werk die Forschung in vieler Hinsicht angeregt hat, nicht zuletzt, weil es gelang, Brücken zu den Diskussionen in der zeithistorischen Forschung zu schlagen und medizinhistorische Fragestellungen auf die Kontroverse um das Verhältnis von Nationalsozialismus und Moderne sowie auf die von Detlev Peukert und Gisela Bock inspirierte Debatte um den Rassismus-Begriff als Kern nationalsozialistischer Gesellschaftskonzeptionen zu beziehen.25 Seit Mitte der 1980er Jahre richtete dann auch eine Reihe von Studien den Blick auf die rassenhygienische Praxis des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Karl Heinz Roth analysierte die erbbiologische Erfassung der Bevölkerung als wichtigen Arbeitsbestandteil der Gesundheitsämter,26 Gabriele Czarnowski arbeitete deren Bedeutung als »biologische Zen-
24 Ebbinghaus/Kaupen-Haas/Roth, 1984, S. 6, 15. 25 Peukert, 1982; Bock, 2010; Prinz/Zitelmann, 1991. 26 Roth, 1984.
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trale«27 im Rahmen nationalsozialistischer Familien- und Sexualpolitik heraus. Während ältere Arbeiten zu den Zwangssterilisationen vor allem die Tätigkeit der Erbgesundheitsgerichte untersucht hatten, konturierten Monika Daum und Hans-Ulrich Deppe erstmals umfassend die zentrale Rolle des Gesundheitsamts bei der Durchführung der Zwangssterilisationen.28 Insgesamt, so stellen Sachße/Tennstedt bilanzierend fest, dürfte die rassenhygienische »Filterfunktion mehr als die Hälfte der Amtsgeschäfte ausgemacht haben«.29 An diese Forschungen konnte eine Reihe von Studien zur Geschichte des öffentlichen Gesundheitswesens in einzelnen Ländern des Deutschen Reiches und den nach dem »Anschluss« Österreichs neu geschaffenen »Reichsgauen« anknüpfen. Hier verweist die Arbeit Herwig Czechs auf das enorme Adaptionstempo des Gesundheitswesens in den ehemaligen österreichischen Gebieten. Aufgrund des kriegsbedingten Ressourcenmangels, so jedoch Goldberger, erreichte die Politik der rassenhygienischen Selektion hier allerdings keine mit den Gebieten im »Altreich« vergleichbare Eindringtiefe.30 Für die besetzten Gebiete Osteuropas hat die Forschung die zentrale Bedeutung des öffentlichen Gesundheitsdienstes bei der Beschränkung der Lebenschancen der einheimischen Bevölkerung und der Radikalisierung der antijüdischen Verfolgung herausgearbeitet. So begründeten seuchenpolizeiliche Argumente Massenvertreibungen von Zivilisten im Hinterland der Front, die Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung und in mehreren Fällen auch die Ermordung von Infektionskranken.31 Während der Anteil des öffentlichen Gesundheitsdienstes an der rassistischen Kategorisierung, Selektion und Verfolgung seit den späten 1990er Jahren als vergleichsweise gut dokumentiert gelten kann, hat eine Studie, die nicht nur lokale Sterilisations- und Verfolgungspraxis rekonstruiert, sondern auch die ambivalente Praxis öffentlicher Gesundheitsfürsorge mit ihrer engen Verschränkung gesundheitsfördernder und eliminatorischer Maßnahmen analysiert, lange gefehlt. Diese Lücke schloss eine quellengesättigte Untersuchung zur Geschichte der Gesundheitsämter im Nationalsozialismus von Johannes Vossen.32 Sie kombiniert 27 28 29 30 31
Czarnowski, 1991, S. 136. Daum/Deppe, 1991, mit einem ähnlichen Ansatz auch Nitschke, 1999. Sachße/Tennstedt, 1992, S. 109. Weindling, 1991; Czech, 2003; Goldberger, 2004. Dreßen/Rieß, 1991; Weindling, 2000; Caumanns/Esch, 2002; Süß, 2003, S. 223241. 32 Vossen, 2001.
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wissenschafts-, verwaltungs- und sozialgeschichtliche Ansätze mit prosopographischen Studien zu einer umfassenden Praxisgeschichte gesundheitspolitischer Intervention, die auch die Alltags- und Erfahrungsperspektive von Ärzten und Klienten des öffentlichen Gesundheitsdienstes mit einbezieht. Der präzise argumentierenden Studie gelingen wichtige Differenzierungen. So kann Vossen erhebliche regionale und generationsbedingte Unterschiede in der gesundheitspolitischen Praxis nachweisen, die auf Handlungsspielräume der unteren Verwaltungsbehörden verweisen. Gleichwohl bestehen weiterhin Forschungsdefizite, u. a. im Blick auf den Wandel des Tätigkeitsprofils der Gesundheitsämter in den Kriegsjahren33 sowie für den öffentlichen Gesundheitsdienst in ländlichen Regionen,34 wo die These einer durch dessen Ausbau verbesserten medizinischen Versorgung der empirischen Fundierung bedürfte.35 Auch zentrale Institutionen des öffentlichen Gesundheitsdienstes sind bisher nur wenig erforscht, insbesondere das Reichsgesundheitsamt36 und die Staatsmedizinischen Akademien in Berlin und München.37
Sozialversicherung Generell wenig zufriedenstellend ist der Forschungsstand zur Geschichte der Sozialversicherung, die über die Gestaltung ihres Leistungsprofils entscheidenden Einfluss auf die gesundheitspolitische Praxis nehmen konnte. Die Sozialversicherung war auf vielfältige Weise in die Praxis rassistischer Verfolgung eingebunden, Krankenkassen etwa bei der Finanzierung der Zwangssterilisationen, bei der Exklusion von jüdischen Patienten38 und bei der Versorgung von Zwangsarbeitern, die zwar voll beitragspflichtig, aber nur eingeschränkt leistungsberechtigt waren. Als Verkörperung des Weimarer »Systems« war die Sozialversicherung intensiven Anfeindungen durch die Nationalsozialisten ausgesetzt und stand daher zunächst unter besonders großem Transformationsdruck.
33 Vgl. dazu die Ergebnisse eines laufenden Dissertationsprojekts bei Christians, 2007. 34 Dazu, allerdings mit Schwerpunkt auf der Sterilisationspraxis, Braß, 2004. 35 Vgl. Frei, 1991, S. 9. 36 Für die Vorgeschichte bis 1933 vgl. Hüntelmann, 2008. 37 Dazu auf eingeschränkter Quellengrundlage und mit Schwerpunkten auf den Lehrplänen und dem Leitungspersonal der Münchner Akademie: Lieb, 2003. 38 Böhle, 2003a, 2003b.
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Frühe Forschungen wie die von Karl Teppe,39 Florian Tennstedt/Stephan Leibfried40 und Marie-Luise Recker41 haben sich daher auf organisatorische Veränderungen, den gewaltsamen Austausch des Führungspersonals sowie die Neuordnungspläne der Deutschen Arbeitsfront konzentriert. Diese zielten langfristig auf die Aufhebung des gegliederten Systems der deutschen Sozialversicherung und deren Überführung in eine einheitliche Staatsbürgerversorgung, in der soziale Leistungen nicht mehr als Rechtsanspruch, sondern nach der Maßgabe rassischer »Wertigkeit« und politischer Opportunität vergeben werden sollten. Michael Hepp und Karl Heinz Roth haben die umfangreiche einschlägige Denkschriftenproduktion des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der Deutschen Arbeitsfront in einer Edition für die weiterführende Forschung erschlossen.42 Das »Gesetz zur Neuordnung der Sozialversicherung« vom Juli 1934 verknüpfte Elemente autoritärer Zentralisierungspolitik mit nationalsozialistischen Grundanliegen wie der Durchsetzung des »Führerprinzips«. Unmittelbar bedeutete es für die Krankenkassen einen tiefgreifenden Kontinuitätsbruch. An die Stelle der paritätischen Selbstverwaltungsorgane traten vom Reichsversicherungsamt berufene Kassenleiter, denen Beiräte zur Seite gestellt waren, deren Mitglieder von der Reichsärzteführung und der Deutschen Arbeitsfront vorgeschlagen wurden. Die Zerschlagung der Selbstverwaltung ging mit einem »massiven Funktionsverlust«43 einher, denn die Eigenbetriebe der Kassen wurden geschlossen44 und die meisten übergreifenden gesundheitspolitischen Aufgaben im Bereich der präventiven Gesundheitsfürsorge, der Heilbehandlung sowie des Vertrauensärztlichen Dienstes auf die Landesversicherungsanstalten übertragen.45 In der zeithistorischen Literatur finden sich nicht selten Aussagen über die gesundheitspolitische Bilanz der NS-Diktatur, die auf schmaler Quellenbasis und punktuellen Befunden argumentieren. Hier standen symbolische Maßnahmen wie die Reduzierung der Krankenschein- und Rezeptgebühr sowie partielle Leistungsausweitungen, etwa durch die Er39 40 41 42 43
Teppe, 1977. Leibfried/Tennstedt, 1979. Recker, 1985. Hepp/Roth, 1986-1992. Miquel, 2007, S. 21. Dieser Begleitband zu einer von den nordrhein-westfälischen Sozialversicherungsträgern initiierten Ausstellung bietet die aktuellste Einführung in die Thematik. 44 Hansen et al., 1981. 45 Die beste Darstellung dieser Entwicklung bei Schwoch, 2001, S. 164-224.
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weiterung der Familienhilfe und die Integration von Handwerkern, bestimmten freien Berufen (wie den Hebammen) sowie Rentnern in die Gesetzliche Krankenversicherung, neben der Fortführung der rigorosen Sparpolitik der Präsidialregime, vergrößerten Ermessensspielräumen in der Leistungsgewährung und politisch motivierten Leistungsausschlüssen. Daher gehören empirisch fundierte und historisch kontextualisierte Fallstudien zum Leistungsprofil der Krankenkassen zu den Desideraten der Forschung.46 Zu den Desideraten zählt auch eine Geschichte der Ersatzkassen, die einerseits durch die Ausweitung der Versicherungspflicht in erheblichem Umfang neue Mitglieder gewinnen konnten, andererseits, ebenso wie die privaten Krankenversicherer, durch die Politik der Deutschen Arbeitsfront von der Schließung bedroht waren.47
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3.2 Standeswesen Winfried Süß
Ärztliche Standesorganisationen In der Zeitgeschichte der Medizin gehört die Geschichte des ärztlichen Standeswesens in den Jahren der NS-Diktatur zu den intensiv und auch kontrovers verhandelten Themen. Die Diskussion kann sich hierbei auf eine Reihe von fundierten Überblicksdarstellungen stützen, von denen die Monographie des deutsch-kanadischen Zeithistorikers Michael H. Kater (1989) und der Beitrag Martin Rüthers in der von der Bundesärztekammer initiierten »Geschichte der deutschen Ärzteschaft« (1997) besonders hervorstechen.1 Grundlegend in diesem Zusammenhang ist auch die 2001 erschienene Dissertation von Rebecca Schwoch. Sie kombiniert einen institutionengeschichtlichen Ansatz mit der Biographie von zwei einflussreichen ärztlichen Verbandsfunktionären.2 Im Zentrum steht zum einen das Berufsleben von Julius Hadrich, der seit 1925 die statistische Abteilung des Hartmannbundes leitete und 1933 in gleicher Funktion in die neu gegründete Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands (KVD) wechselte. Zum anderen richtet Schwoch den Blick auf Karl Haedenkamp, der als Generalsekretär des Hartmannbundes und Schriftleiter der »Ärztlichen Mitteilungen« zu den wichtigsten Standespolitikern in der Weimarer Republik gehörte und sich in dieser Funktion als Brückenbauer zum NS-Ärztebund betätigte. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten fungierte er weiterhin als Schriftleiter des mit dem »Deutschen Ärzteblatt« fusionierten Verbandsorgans. Als Kommissar für die Neuregelung des Zulassungswesens und des Vertrauensärztlichen Dienstes sowie als Beauftragter des Reichsärzteführers im Reichsarbeitsministerium wirkte Haedenkamp in Schlüsselpositionen beim nationalsozialistischen Umbau des Gesundheitswesens im Sinne ärztlicher Standesinteressen mit. Obgleich beide Biographien nach 1933 keineswegs geradlinig verliefen, zeigen sie doch das hohe Ausmaß personeller Kontinuität ärztlicher
1 Kater, 1989/2000, Rüther, 1997a sowie Jäckle, 1988. 2 Schwoch, 2001.
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Interessenvertretung über die Epochenzäsuren 1933 und 1945 hinweg.3 Damit leistet Schwoch einen wichtigen Beitrag zu der strittig diskutierten Frage nach dem Charakter der sogenannten »Gleichschaltung« der ärztlichen Standesorganisationen. Während bundesdeutsche Standesvertreter in öffentlichen Stellungnahmen die Umgestaltung des Gesundheitswesens nach 1933 bis in die 1980er Jahre als verlorenen Kampf um die ärztliche Selbständigkeit deuteten, hat die zeithistorische Forschung die »opportunistische Haltung«4 vieler Funktionäre herausgearbeitet, aus der ein hoher Grad an personeller Kontinuität in der ärztlichen Interessenvertretung erwuchs.5 Vielerorts übten die Nationalsozialisten erheblichen Druck auf die Standesorganisationen aus, z. B. indem die SA während der Übergabeverhandlungen die Ärztehäuser besetzte. In Großstädten wie Berlin gingen die neuen Machthaber mit demonstrativer Brutalität gegen ihre gesundheitspolitischen Gegner vor, so dass solche Verhandlungen oft in einem Klima einschüchternder Gewalt stattfanden.6 Allerdings profitierten die ärztlichen Verbandsvertreter auch vom »ausgeprägten standespolitischen Desinteresse der NS-Ärztefunktionäre«.7 Die Nationalsozialisten verfügten weder über eine klare gesundheitspolitische Konzeption noch über eine einheitliche standespolitische Linie. Daher zielte ihre Politik nicht – wie etwa bei den Gewerkschaften und den politischen Parteien – auf die Zerschlagung der Ärzteverbände, sondern auf die Übernahme der Leitung und die Integration der verbandlichen Infrastruktur und ihrer professionellen Expertise in die neue Herrschaftsordnung. So konnten die alten Vorstände von Hartmannbund und Ärztevereinsbund nach der Geschäftsübergabe an den Leiter des NS-Ärztebundes, Gerhard Wagner, zunächst beratend im Amt verbleiben. In den regionalen Ärzteverbänden übernahmen in der Regel von den Innenministern der Länder ernannte Kommissare aus dem Kreis der 3 Dass diese Kontinuität kein Spezifikum der ärztlichen Standesorganisationen war, sondern sich auch für die Funktionseliten im öffentlichen Gesundheitsdienst und in der Universitätsmedizin beobachten lässt, zeigt eine neue Regionalstudie zu den saarländischen Ärzten; vgl. Tascher, 2010. 4 Kater, 1989/2000, S. 55. Zitiert wird nach der 2000 erschienenen deutschen Ausgabe. 5 Mit zahlreichen Beispielen Hubenstorf, 1989, S. 213. 6 Mehrere Fälle der im »wilden« SA-Konzentrationslager in der Berliner GeneralPape-Straße misshandelten und ermordeten sozialistischen und jüdischen Ärzte sind dokumentiert in Danckwortt/Freter, 1999. 7 Rüther, 1997a, S. 173.
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Gauobleute des NS-Ärztebunds die Vorstandsposten. Die Neubesetzung der Spitzenämter fand hier nicht nur durch Gewaltandrohung statt (wie in Berlin), sondern auch als Selbstgleichschaltung durch die Kooptierung von Nationalsozialisten in die Verbandsführung (so beispielsweise in Thüringen). Dieser Prozess, der inzwischen auch für den Bund Deutscher Ärztinnen untersucht ist,8 vollzog sich »nach dem Muster einer teilweise erzwungenen und teilweise freiwilligen Gleichschaltung«,9 bei dem die bürgerlichen Verbandsvertreter ein erhebliches Maß an vorauseilender Kooperationsbereitschaft zeigten, die Nationalsozialisten den Ärzten dafür im Gegenzug langgehegte standespolitische Forderungen erfüllten und den ärztlichen Standesorganisationen weitreichende gesundheitspolitische Mitwirkungsmöglichkeiten einräumten. Diese Handlungsspielräume wurden von den ärztlichen Standesvertretern bereitwillig genutzt, z. B. als es darum ging, die Reichsärzteordnung auszuarbeiten. Exemplarisch für diese keineswegs nur erzwungene Kooperation steht die Tätigkeit Karl Haedenkamps, der im Reichsarbeitsministerium an Verordnungen mitwirkte, die Frauen sowie demokratische und jüdische Ärzte von der Kassenpraxis ausschlossen. Die rasche, weitgehend reibungslose und umfassende Integration des Ärztestandes in die braune Diktatur wurde dadurch erleichtert, dass die Neuordnung des Gesundheitswesens unter nationalsozialistischen Vorzeichen standespolitische Konflikte mit den Krankenkassen im Sinne der Ärzte löste, indem sie die Verantwortlichkeit für die Zulassung in ihre Hände legte, alte Forderungen wie die Herauslösung des Arztberufs aus der Gewerbeordnung erfüllte und das durch die Präsidialregime implementierte Anbietermonopol in der ambulanten Versorgung bestätigte.10 Nicht zuletzt führte sie die Politik von Hartmannbund und Ärztevereinsbund teilweise direkt fort. So knüpfte die im August 1933 errichtete Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands direkt an die vom Hartmannbund seit den 1920er Jahren betriebene Zentralisierung der Vertretung niedergelassener Ärzte an. Gleichzeitig wertete sie die Berufsvertretung der Ärzteschaft durch ihre Institutionalisierung als öffentlichrechtliche Körperschaft entscheidend auf. Die rund 6000 regionalen Verwaltungsstellen der KVD setzten die Arbeit der 1932 eingerichteten ärztlichen Verrechnungsstellen des Hartmannbundes fort. Und auch die 8 Bleker/Eckelmann, 1989. 9 Kater, 1989/2000, S. 52. 10 Zur Zerschlagung der von den Krankenkassen betriebenen Ambulatorien vgl. Hansen et al., 1981.
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übliche Personalunion in der Leitung der KVD-Verwaltungsstellen, der regionalen Ärztekammern und des NS-Ärztebundes ließ sich als Verwirklichung des Wunsches nach einer einheitlichen Vertretung der Ärzte verstehen, der auch auf nicht nationalsozialistische Mediziner eine erhebliche Anziehungskraft ausübte. Loyalitätsstiftend dürfte auch der massive Anstieg der Durchschnittseinkommen gewirkt haben, der (bei teilweise erheblichen regionalen und fachspezifischen Differenzen) zwischen 1933 und 1938 mehr als 60 (bei Kassenärzten immerhin 37) betrug.11 Standespolitische Zugeständnisse gegenüber den nichtärztlichen Heilberufen und die Förderung der alternativmedizinischen »Neuen Deutschen Heilkunde« fielen demgegenüber weniger ins Gewicht.12 Das Tätigkeitsspektrum der regionalen KVD-Verwaltungsstellen ist seit 2009 durch eine in der Erschließung der komplexen Quellenüberlieferung Maßstäbe setzende Studie von Judith Hahn und Rebecca Schwoch zur Berliner KVD erstmals umfassend untersucht. Hier zeigt sich eine charakteristische Mischung von »Lockung und Zwang«, von wirtschaftlichen Dienstleistungen und politisch-rassistischer Kontrolle.13 Neben den Verhandlungen mit den Krankenkassen, der Honorarverteilung und der Organisation der ärztlichen Sozialversicherung zählte in den ersten Jahren der NS-Herrschaft die Durchführung des Entzugs der Kassenzulassung für politisch missliebige und jüdische Ärzte zu den zentralen Aufgaben der KVD. Dazu und zum Entzug der Approbation jüdischer Ärzte durch die 4. Verordnung zum Reichsbürgergesetz im September 1938 liegen mehrere Regional- und Lokalstudien vor.14 Während die Mehrheit der deutschen Ärzte es akzeptierte, dass die Ausschlusspraxis sich gegen ehemalige standespolitische Gegner, wie die Mitglieder des Vereins sozialistischer Ärzte, richtete, war der Umgang mit den jüdischen Kollegen keineswegs unumstritten. Er betraf fachlich hochangesehene Kollegen, mit denen man über viele Jahre hinweg gut zusammengearbeitet hatte und die ihr Berufsleben der Durchsetzung ärztlicher 11 Rüther, 1997a, S. 162f. 12 Für die Dentisten liegt bisher nur eine in der historischen Einordnung unbefriedigende Biographie des »Reichsdentistenführers« Fritz Blumenstein vor (Bauer, 2002), für den Apothekerstand hingegen eine materialreiche Monographie von Schlick, 2008. Zur »Neuen Deutschen Heilkunde« vgl. Haug, 1985 sowie die weitere, in Kapitel 3.4 genannte Literatur. 13 Vgl. Hahn/Schwoch, 2009 sowie Tascher, 2010. 14 Neben der zu diesem Themenfeld in Kapitel 3.5 genannten Literatur vgl. auch Niermann/Leibfried, 1988, Benzenhöfer, 2000, Heidel/Nitsche, 2005 sowie als Zeitzeugenbericht eines Verfolgten Ostrowski, 1963.
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Standesinteressen gewidmet hatten, wie Siegmund Vollmann, der Schriftleiter des »Deutschen Ärzteblatts«, den die neuen Machthaber zugunsten Haedenkamps aus seinem Amt vertrieben. Vor allem ältere Verbandsvertreter standen dem Ausschluss der jüdischen Kollegen teilweise distanziert gegenüber, wirkten aber, wie der Vorsitzende der ärztlichen Spitzenverbände, Alfons Stauder, daran mit. Die Forschungen von Axel Drecoll, Jan Schleusener, Tobias Winstel und Martin Rüther haben allerdings auch erwiesen, dass die örtlichen Kassenärztlichen Vereinigungen in dieser Frage über erheblichen Handlungsspielraum verfügten, den sie keineswegs zugunsten, sondern in der weit überwiegenden Zahl der Fälle zu Lasten verfolgter Berufskollegen nutzten.15 Hier machten »die Standesvertretungen ohne nachweisbaren Zwang rigoros von den staatlicherseits zur Verfügung stehenden Machtmitteln Gebrauch«. Während das Reichsarbeitsministerium an einer rechtskonformen Durchführung des Zulassungsentzugs interessiert war, erweiterten die Regionalstellen der KVD die oft unklar formulierten Ausschlusstatbestände (wie »kommunistische« Betätigung) zu Lasten der Betroffenen, während sie zulassungsbewahrende Ausnahmetatbestände (etwa die Frontkämpfereigenschaft im Ersten Weltkrieg) nur sehr restriktiv zubilligten. Beinahe immer waren in diesen Fällen die Vorstellungen der Standesorganisationen weitreichender als die der staatlichen Stellen, so dass das Reichsarbeitsministerium als Appellationsinstanz bis zum Frühjahr 1934 knapp ein Drittel der Beschwerden gegen den Zulassungsentzug aus rassischen Gründen und fast 70 der Beschwerden gegen einen Zulassungsentzug aus politischen Gründen wieder aufhob. Die Mischung aus Bindungsangeboten, Kontrolle und Repression charakterisiert auch die Arbeit der Reichsärztekammer (RÄK), die im April 1936 eingerichtet wurde, um Ärzte ohne Kassenpraxis zu erfassen. Die im Dezember 1935 erlassene Reichsärzteordnung ist bisher nur im Blick auf die Vorgeschichte untersucht, kaum aber in Bezug auf ihre berufspraktischen Auswirkungen.16 Sie wies den Ärzten als Experten für die »Erb- und Rassenpflege« einerseits eine Schlüsselstellung bei der Umgestaltung der deutschen Gesellschaft zu, brach allerdings auch mit berufsethischen Traditionen, indem sie beispielsweise die ärztliche Schweigepflicht lockerte und ihre Beachtung vom »gesunden Volksemp-
15 Drecoll/Schleusener/Winstel, 1998; Rüther, 1997a, S. 152, das Zitat ebenda. 16 Knüpling, 1965 sowie Rüther, 1997b und 1997c; kaum weiterführend dazu: Heyder, 1996.
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finden« abhängig machte.17 Zugleich etablierte sie eine starke Berufsgerichtsbarkeit, deren Sanktionsmöglichkeiten bis hin zum Approbationsentzug reichten. Insofern waren die Kassenärztliche Vereinigung und die Reichsärztekammer immer beides: wirksames Organ zur Vertretung berufsständischer Interessen unter den Bedingungen einer Diktatur und gleichzeitig »Instrument innerprofessioneller Kontrolle und Disziplinierung« durch diese Diktatur.18 Während man davon ausgehen kann, dass die in der Reichsärzteordnung angelegte Erweiterung des ärztlichen Aufgabenspektrums und die damit verbundene Politisierung des Arztberufs gerade bei jüngeren Ärzten populär waren, sind die Auswirkungen standesbezogener Propaganda und Kontrolle schwerer zu fassen. Ein Sammelband über die »Führerschule der Deutschen Ärzteschaft« in Alt Rehse, wo rund 10.000 Ärzte in teilweise mehrwöchigen Lehrgängen Vorträge der gesundheitspolitischen Prominenz des »Dritten Reiches« hörten, gibt hier erste Hinweise, leidet aber an einer insgesamt schmalen Quellenbasis.19 Zudem waren die Kursteilnehmer im Sinne der NS-Weltanschauung vorselektiert, so dass es hier weniger um die Überzeugung Fernstehender, sondern zumeist um eine Stärkung der Regimebindung überzeugter Gefolgsleute ging. Wünschenswert wäre daher eine Analyse der Urteilspraxis der 1937 errichteten ärztlichen Berufsgerichte, die 1939-1943 rund 1000 Urteile fällten. Diese Analyse könnte nicht nur Auskunft geben über das Ausmaß der politischen Nichtintegration von Ärzten in die NS-Herrschaft, sondern auch über die Akzeptanz einzelner Aspekte der NS-Gesundheitspolitik und eventuelle Grenzverschiebungen in den Arzt-Patienten-Beziehungen.20
Ärzte und Nationalsozialismus Es ist bekannt, dass der Prozentsatz der NSDAP-Mitglieder unter den deutschen Ärzten deutlich höher war als in den meisten anderen akademischen Berufen. Gestützt auf Stichproben aus der Zentralkartei der 17 Vgl. Schmiedebach, 1980. 18 Rüther, 1997a, S. 176. Wenig untersucht ist in diesem Zusammenhang die Gegnerschaft von Ärzten zum Nationalsozialismus, vgl. dazu Kudlien, 1985, S. 209245, Bromberger/Mausbach/Thomann, 1985 sowie die Beiträge in Bussche, 1990. 19 Stommer, 2008. 20 Eine Urteilssammlung der Berufungsinstanz befindet sich im Archiv der Deutschen Ärzteschaft in Köln. Erste Hinweise dazu bei Rüther, 1997c, S. A 512-515.
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NSDAP und dem Reichsärzteregister hat Kater bereits Ende der 1980er Jahre ermittelt, dass knapp 45 der zwischen 1933 und 1945 praktizierenden deutschen Ärzte der NSDAP angehörten.21 Mehr als sieben Prozent waren zudem Mitglieder der SS. Die Schätzungen für die Mitgliedschaft im NS-Ärztebund schwanken zwischen 31 (Kater) und knapp 40 (Lilienthal).22 Kater selbst wies darauf hin, dass dieser außerordentlich hohen Parteibindung von Medizinern signifikante zeitliche und generationelle Unterschiede zugrunde lagen. Jüngere Ärzte der Approbationsjahrgänge 1925-1932 wiesen beispielsweise die höchste Beitrittsquote zur NSDAP auf, während Mediziner, die ihre Ausbildung vor 1918 absolviert hatten, der Hitlerpartei deutlich seltener beitraten. Neuere Arbeiten haben Katers Forschungen in der Generaltendenz bestätigt, jedoch das Gesamtbild zum Teil erheblich differenziert und modifiziert.23 So zeigen sich deutliche Unterschiede in den regionalen Beitrittsquoten sowie im Hinblick auf die Fachzugehörigkeit und die hierarchische Stellung der Ärzte. Ärzte in leitenden Stellungen wiesen eine besonders starke Parteibindung auf. Chirurgen waren unter den SS-Mitgliedern, Allgemein- und Betriebsärzte bei den NSDAP-Mitgliedern deutlich überrepräsentiert, während Pädiater hier unterrepräsentiert waren. Mehrere regionale Vollerhebungen aus der Reichsärztekartei zeigen eine erklärungsbedürftige Varianz: In Niederschlesien waren mehr als 47 der Ärzte Mitglied der NSDAP, in Thüringen immerhin 50,4 und im Rheinland sogar 56. Diese Forschungsbefunde legen es nahe, dass die »bislang angenommenen Werte« für die NSDAP-Mitgliedschaft »offenbar nach oben korrigiert werden müssen«.24 Auch die mit Befunden der NS-Sozialgeschichte korrespondierende These Katers einer geringeren NS-Affinität katholischer Ärzte bedarf angesichts der hohen NS-Mitgliedsquote rheinischer Ärzte der weiteren Überprüfung und Differenzierung. Kein einheitlicher Forschungsbefund ergibt sich derzeit hinsichtlich des Zeitpunkts des Parteibeitritts. Katers Sample zeigt zwei Beitrittswellen 1933 und 1937, so dass er vermutete, ein Teil der Mediziner hätte zunächst die wirtschaftliche Stabilisierung und die weitgehende Ausschal21 Zum Folgenden Kater, 1989/2000, S. 103-134, 391-396. 22 Lilienthal, 1985, S. 117; Kater, 1989/2000, S. 118. 23 Zum Folgenden: Rüther, 2001; Methfessel/Scholz, 2006. Rüther stützt seine Ausführungen auf die unveröffentlichte Kölner Examensarbeit von Uwe Zimmermann: Organisierte Ärzte in der NS-Ära. Überblick mit Spezialstudien zu den Ärztekammern Köln-Aachen, Düsseldorf, Moselland, Univ. Köln 1999. 24 Rüther, 2001, S. A 3264.
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tung jüdischer Ärzte aus dem Berufsleben abgewartet, bevor er sich zum Beitritt entschloss. Hieraus folgerte Kater, dass für die Unterstützung der Diktatur durch die Ärzte seit 1933 primär wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend gewesen seien. Damit korrespondiert, dass der NS-Ärztebund zwar 1933 zunächst rasante Mitgliederzuwächse verzeichnete, aber nach 1935 mit einem »bemerkenswerte[n] Popularitätsverlust«25 kämpfen musste, der mit seinem Funktionsverlust durch die Errichtung von KVD und RÄK erklärt werden kann.26 Möglicherweise handelt es sich bei der Beitrittswelle von 1937 allerdings um ein statistisches Artefakt, das entstand, weil die NSDAP im April 1933 eine Beitrittssperre verfügt hatte und diese erst 1937 für Angehörige ihrer Gliederungen und Verbände wieder lockerte. Für Thüringen und die rheinländischen Ärztekammern deuten die Befunde jedenfalls auf einen insgesamt gleichmäßigeren und bereits vor 1937 einsetzenden Mitgliederzustrom hin, so dass die Frage der Motivlagen neu zu diskutieren wäre.27 Dies macht weitere Untersuchungen nötig, die die Beitrittsentwicklung in Beziehung setzen zu Faktoren wie Veränderungen des Tätigkeitsprofils von Medizinern, standespolitischen Entwicklungen und dem Funktionswandel nationalsozialistischer Organisationen.
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25 Kater, 1989/2000, S. 118. 26 Kater, 1989/2000, S. 150-153; ähnlich Rüther, 1997a, S. 166f. 27 Rüther, 2001, S. A 3264.
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3.3 Konfessionell gebundene Krankenversorgung Hans-Walter Schmuhl Bei ihrer Machtübernahme fanden die nationalsozialistischen Gesundheitspolitiker eine äußerst vielgestaltige Landschaft von allgemeinen Krankenhäusern und Kliniken sowie Heil- und Pflegeanstalten und offenen Einrichtungen für psychisch kranke, »nervöse«, »psychopathische«, alkoholkranke, epilepsiekranke, geistig und körperlich behinderte oder tuberkulosekranke Menschen in ganz unterschiedlicher Trägerschaft vor. Dabei spielten konfessionell gebundene Träger eine überaus wichtige Rolle, eine Folge der besonderen Signatur des Systems sozialer Sicherung in Deutschland, das im 19. Jahrhundert starke Impulse aus der Gesellschaft erfahren hatte – und diese Impulse gingen in der Hauptsache von christlichen Milieus aus. 1932/1934 waren unter dem Dach des Deutschen Caritasverbandes im Bereich der Gesundheitsfürsorge etwa 1600 geschlossene Einrichtungen mit knapp 150.000 Betten vereinigt (dazu etwa 5000 Pflegestationen). Die Innere Mission vertrat etwa 1750 geschlossene Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge mit etwa 115.000 Betten (und ebenfalls knapp 5000 Pflegestationen).1 Auf Fachverbandsebene waren die katholischen Einrichtungen seit 1910/1919 im Verband katholischer Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands organisiert. Ein Großteil der evangelischen Krankenhäuser hatte sich 1926/27 zum Deutschen Evangelischen Krankenhausverband zusammengeschlossen, als Fachverband der geschlossenen Gesundheitsfürsorge in evangelischer Trägerschaft fungierte seit 1928/29 der Gesamtverband der evangelischen Kranken- und Pflegeanstalten.2
1 Hammerschmidt, 1999, S. 572, 574, 582, 584. Auf der evangelischen Seite sind damit längst nicht alle Einrichtungen erfasst, da manche evangelischen Träger aus dem Bereich der Landeskirchen und des Verbandsprotestantismus dem CentralAusschuss für die Innere Mission nicht angeschlossen waren. 2 Schmuhl, 2002, 2003.
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Konfessionelle Krankenanstalten unter Druck Während die Konkurrenz zwischen der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), der Inneren Mission und dem Caritasverband – mithin die Ebene der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege – vor allem durch die grundlegenden Arbeiten von Jochen-Christoph Kaiser und Peter Hammerschmidt3 als gut erforscht gelten kann, gibt es auf der Ebene der Fachverbände nur eine einzige Arbeit zum Deutschen Evangelischen Krankenhausverband.4 Die Einrichtungsebene ist weitgehend unerforscht. 1933 kam es im Gefüge der freien Wohlfahrtspflege zu erheblichen Verschiebungen. Die Arbeiterwohlfahrt und der Zentralwohlfahrtsausschuss der christlichen Arbeiterschaft wurden aufgelöst; die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden verlor ihren Status als Spitzenverband, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband wurde – wie auch manch kleinerer Verband – der NSV einverleibt. Als Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege blieben neben der NSV nur die Caritas, die Innere Mission sowie, vorerst, das Deutsche Rote Kreuz (DRK) übrig. Die konfessionellen Spitzenverbände sahen sich dem Druck der NSV ausgesetzt, die sich mit der Zeit (nach der Deutschen Arbeitsfront) zur zweitgrößten Massenorganisation im nationalsozialistischen Deutschland entwickelte. Trotz des Monopolanspruchs der NSV spielte sich de facto eine Art Arbeitsteilung ein, in der die Kommunen die Basisversorgung und die konfessionellen Verbände die geschlossene Anstaltspflege (vor allem auch für die in den Augen der Nationalsozialisten »erblich Belasteten«, »Minderwertigen« und »Gemeinschaftsfremden«) übernahmen, während die NSV das Feld der »aufbauenden Volkspflege« besetzte. Auch deshalb konnten sich die konfessionellen Wohlfahrtsverbände im »Dritten Reich« zunächst gut behaupten. Tatsächlich hätte die NSV gar nicht die Fachkräfte gehabt, um Innere Mission und Caritas von ihren angestammten Arbeitsfeldern zu verdrängen. So standen 1938 etwa 7500 »braune Schwestern« etwa 90.000 katholischen, 35.000 evangelischen und 15.000 DRK-Schwestern gegenüber.5 Während die Einrichtungen der Caritas durch das Reichskonkordat einen gewissen Schutz genossen, nahm der Druck auf die Krankenanstalten der Inneren Mission unter den Vorzeichen der Entkonfessiona3 Kaiser, 1989; Hammerschmidt, 1999. Vgl. auch Vorländer, 1988. 4 Schmuhl, 2002. 5 Sachße/Tennstedt, 1992, S. 130.
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lisierungspolitik ab 1937 spürbar zu. Der NS-Staat drosselte den Zufluss öffentlicher Gelder, erschwerte das Sammeln von Spenden, benachteiligte die konfessionellen Einrichtungen in der Steuergesetzgebung und deckelte schließlich die Pflegesätze. Konfessionelle Krankenanstalten mussten sich in die Deutsche Arbeitsfront eingliedern, konnten hier aber eine gewisse Eigenständigkeit wahren. Dem Einfluss der »Treuhänder der Arbeit« konnten sie sich nur entziehen, indem sie sich dem öffentlichen Dienst zuordneten. Heftig umstritten waren neue Chefarztrichtlinien für konfessionelle Krankenanstalten, die diesen das Recht nehmen sollten, Chefärzten, die aus der Kirche ausgetreten (oder ausgeschlossen worden) waren, zu kündigen.6 Mit der Verschärfung der Entkonfessionalisierungspolitik erhob die NSV immer offener und entschiedener Anspruch auf Arbeitsgebiete, die bis dahin unumstritten von den konfessionellen Trägern besetzt worden waren, hatten sich Einrichtungen der Inneren Mission immer häufiger feindlicher Übernahmeversuche der NSV zu erwehren, so etwa 1938 in Pommern und 1939 – unmittelbar vor Kriegsbeginn – in Mecklenburg.7 Wohin die »Entkonfessionalisierung« einer Einrichtung führen konnte, zeigt das Beispiel der zur Inneren Mission gehörigen Heilerziehungsund Pflegeanstalt Scheuern in Hessen-Nassau, die sich 1937 der Führung des Landeshauptmanns in Wiesbaden unterstellte und 1941 zur Zwischenanstalt der T4-Anstalt Hadamar wurde.8 Wie die neuere Forschung zeigt, blieb der Druck, insbesondere auf die katholischen Einrichtungen, auch während des Zweiten Weltkriegs hoch.9
Konfessionelle Krankenanstalten, Eugenik und Sterilisierung Während eine umfassende Aufarbeitung der Geschichte konfessioneller Krankenanstalten im »Dritten Reich« ein Desiderat der Forschung darstellt, ist die Haltung der Kirchen, der konfessionellen Wohlfahrtsverbände und Einrichtungen zu Eugenik/Rassenhygiene, Sterilisierung und »Euthanasie« in den letzten Jahrzehnten sehr gründlich erforscht worden,10 wobei der Kontext der Entkonfessionalisierungspolitik bisher 6 7 8 9 10
Schmuhl, 2002, S. 76-110. Als neue Fallstudie: Becker, 2009. Schmuhl, 2005a, 2005b. Sandner, 2002. Vgl. z. B. Mertens, 2006. Zum Kontext: Hey, 2005; Hummel/Kösters, 2007. Nowak, 1978. Vgl. Schwartz, 1995.
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weitgehend ausgeblendet worden ist, was zu manchem Fehlurteil geführt hat.11 Die Erbgesundheitspolitik des nationalsozialistischen Staates wurde von den evangelischen Kirchen, der Inneren Mission und den ihr angeschlossenen evangelischen Krankenanstalten mitgetragen, von der katholischen Kirche, dem Caritasverband und den ihm unterstellten katholischen Einrichtungen zumindest hingenommen. Während katholischer Klerus und katholisches Kirchenvolk sich vor den Herausforderungen der Moderne im eigenen sozialmoralischen Milieu einkapselten, öffneten sich große Gruppen von evangelischen Theologen und Pfarrern und die geradezu überwältigende Mehrheit der evangelischen Laien der modernen Welt. Gerade gegenüber den Naturwissenschaften bestand auf evangelischer Seite eine Aufgeschlossenheit, die nicht selten an Selbstaufgabe grenzte. Als daher in Deutschland gegen Ende der 1920er Jahre die Eugenik/Rassenhygiene in den Wissenschaften vom Menschen wie auch in der praktischen Sozialpolitik immer mehr an Boden gewann, marschierte das protestantische Deutschland an vorderster Front mit. Zwar gewannen, wie die Arbeit von Ingrid Richter nachgewiesen hat, in der Weimarer Republik eugenische Postulate auch in der katholischen Kirche, der katholischen Wohlfahrtspflege und im Zentrum allmählich an Boden. Maßnahmen einer positiven Eugenik – etwa die Förderung der erbgesunden und kinderreichen Familien – stellten für das katholische Deutschland ohnehin kein Problem dar. Maßnahmen einer weichen negativen Eugenik wie der Austausch eugenischer Gesundheitszeugnisse, eine eugenische Eheberatung, Asylierung psychisch Kranker in Anstalten, aber auch die eugenische Sterilisierung gewannen auch auf katholischer Seite an Akzeptanz.12 Evangelische Theologen und die Verbände und Einrichtungen der evangelischen Diakonie ließen sich aber ungleich weiter auf die Eugenik ein. So sprach sich die vom Central-Ausschuss für die Innere Mission eingesetzte »Fachkonferenz für Eugenetik« unter der Leitung des Arztes und Nationalökonomen Dr. Hans Harmsen, des Leiters des Referats Gesundheitsfürsorge im Central-Ausschuss,13 im Mai 1931 klar für die eugenisch indizierte freiwillige Sterilisierung aus14 – zu einem Zeitpunkt, als katholischen Eugenikern durch die päpstliche Enzyklika »Casti conubii« bereits ein 11 12 13 14
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Vgl. z. B. Klee, 1983. Richter, 2001. Schleiermacher, 1998. Kaiser, 1986.
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deutliches Halt geboten worden war. Auf evangelischer Seite mehrten sich sogar schon die Stimmen, die Formen nichtfreiwilliger oder gar unfreiwilliger Sterilisierung befürworteten. Theologisch legitimiert wurden solche eugenischen Positionen durch die in den 1920er Jahren entstandene sogenannte »politische Theologie«, die das »Volk«, manchmal auch schon die »Rasse«, als überindividuelle Schöpfungseinheit begriff und den einzelnen Menschen dem Ganzen unterordnete. Eugenik erschien unter diesem Blickwinkel nicht als Eingriff in die Schöpfung Gottes, sondern im Gegenteil als Beitrag zu ihrer Bewahrung oder Vollendung. Die katholische Moraltheologie, die im Gegensatz zur evangelischen Ethik ein Naturrecht des Menschen auf körperliche Unversehrtheit postuliert, lehnte hingegen die Sterilisierung als unerlaubten Eingriff in die Schöpfung weitgehend geschlossen ab. Als die Nationalsozialisten im Jahre 1933 die Eugenik zur Staatsdoktrin erhoben und ihr Sterilisationsprogramm in atemberaubendem Tempo in Gang setzten, vertraten katholische Kirche und Caritas einen klar ablehnenden Standpunkt, wenn auch der praktische Widerstand mit Blick auf das Reichskonkordat, das in derselben Kabinettssitzung am 14.7.1933 von der Reichsregierung gebilligt wurde, in der auch das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« zur Verabschiedung kam, eher zaghaft blieb. Die evangelischen Kirchen und die evangelische Diakonie machten hingegen geradezu begeistert mit, entwickelten sich bisweilen gar zu Schrittmachern der eugenischen Zwangssterilisierungen und beteiligten sich sogar an Abtreibungen aus eugenischer Indikation.15
Konfessionelle Krankenanstalten und Krankenmord Mit dem Krankenmord war für beide christlichen Konfessionen der Punkt erreicht, an dem sie sich gegen die nationalsozialistische Biopolitik stellten. Auf evangelischer Seite sahen sich die einzelnen Einrichtungen zur Krankenversorgung weitgehend auf sich allein gestellt: Die Innere Mission war infolge des Dauerdrucks der nationalsozialistischen Entkonfessionalisierungspolitik nachhaltig geschwächt. Die 1933 begründete Deutsche Evangelische Kirche hatte die Zersplitterung in 28 Landes- und Provinzialkirchen nicht aufzuheben vermocht und war zudem durch den »Kirchenkampf« zutiefst gespalten. Es waren damit die 15 Vgl. z. B. Schmuhl, 1998, S. 32-44, 2001, S. 38-41.
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großen Einrichtungen der Diakonie – etwa die v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel oder die Diakonissenanstalt Neuendettelsau in Mittelfranken –, die den Widerstand gegen den Krankenmord, die drohende Verstaatlichung stets vor Augen, organisieren mussten.16 Folgerichtig beschränkte sich dieser Widerstand zumeist auf stille Diplomatie – man versuchte, durch vertrauliche Eingaben hinter den Kulissen auf die braunen Machthaber einzuwirken – und auf eine Hinhaltetaktik, die auf Zeitgewinn setzte. Man versuchte, die Vernichtungsaktion zu verschleppen, die eigene Einrichtung nach Möglichkeit herauszuhalten, möglichst viele der eigenen Kranken zu retten. Die erste Form des Widerstandes, die stille Diplomatie, erwies sich unter den Bedingungen des »Dritten Reiches« als nahezu wirkungslos, die zweite, der hinhaltende Widerstand der Anstalten und Heime, war unter ethischen Gesichtspunkten in doppelter Hinsicht bedenklich: Zum einen war diese Form partieller Resistenz stets mit einem gewissen Maß an partieller Kollaboration verbunden, zum anderen bedeutete dieses pro domo-Denken, dass man sich ganz auf die Rettung der eigenen Schützlinge konzentrierte und die Kranken und Behinderten, die anderswo, vor allem in den staatlichen Einrichtungen, untergebracht waren, ihrem Schicksal überließ. Bemerkenswert ist, dass die Ärzteschaft in konfessionellen Anstalten den hinhaltenden Widerstand gegen den Krankenmord mittrug – das gilt selbst für Ärzte, die als »Alte Kämpfer« galten.17 Anders lagen die Verhältnisse auf der katholischen Seite. Die Caritas und die ihr angeschlossenen Einrichtungen waren viel enger in die verfasste Kirche eingebunden, die im Gegensatz zur evangelischen Seite über intakte Strukturen verfügte. Zudem waren diese Strukturen hierarchisch aufgebaut. Widerspruch und Protest waren daher auf katholischer Seite nicht Sache der einzelnen Einrichtung, sondern des Episkopats und einzelner Bischöfe. Diese scheuten sich nicht, ihre Kritik an der »Euthanasie« von der Kanzel herab offen auszusprechen und damit eine Gegenöffentlichkeit zur NS-Propaganda herzustellen. Diese Form des 16 Zu den v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel: Hochmuth, 1997; Schmuhl, 1998, S. 44-56; Kaminsky, 2005b. Zur Diakonissenanstalt Neuendettelsau: Müller/Siemen, 1991. Zu anderen evangelischen Anstalten: Wunder/Genkel/Jenner, 1987 (Alsterdorfer Anstalten Hamburg); Kaminsky, 1995 (Rheinland); Krell, 1996 (Katharinenhof Großhennersdorf ); Scheuing, 1997 (Mosbach/Schwarzacher Hof ); Kalusche, 1997 (Stetten i. R.); Klieme, 1997 (Neuerkeröder Anstalten); Rose, 2005 (Naemi-Wilke-Stift Guben). Die Übersicht in Jenner/Klieme, 1997 ist leider nicht mehr aktuell. Vgl. allg. Kaminsky, 2005/06. 17 Thierfelder, 1990.
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Widerstandes erzielte durchaus Wirkung, weil der Krankenmord nicht durch ein Gesetz legalisiert worden war. Am konsequentesten ging hier der Bischof von Münster, Clemens August Graf v. Galen, mit seiner berühmten »Euthanasie«-Predigt am 3.8.1941 vor, die – darin ist sich die neuere Forschung einig – wesentlich zum Stopp der »Aktion T4« beigetragen hat.18 Der deutsche Episkopat verbot den katholischen Anstalten mehrmals jede Mitarbeit an dem Krankenmord. Dieses Verbot wurde aber nicht durchgehend eingehalten. Beispielsweise fand sich das Personal der St. Josephs-Anstalt in Herten (Baden), das dem Protektorat des Freiburger Erzbischofs unterstand, 1940, als zwei Fünftel aller Patienten abtransportiert wurden, zu »Veronika-Diensten« bereit (benannt nach der Frau, die Christus beim Tragen des Kreuzes ein Schweißtuch reichte).19 In anderen katholischen Anstalten wurde die Verweigerung konsequenter gehandhabt, wobei Anstaltsleiter, Ärzte und Ordensschwestern vom Deutschen Caritasverband unterstützt wurden.20 Insgesamt kann man mit Winfried Süß von »antagonistischen Kooperationen«21 sprechen. Ein abgewogenes Urteil hat die Zwangslagen und Bedrohungsszenarien, mit denen sich konfessionell gebundene Krankenanstalten konfrontiert sahen, ebenso zu berücksichtigen wie die Spielräume, die den Kirchen und den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden verblieben. Die neuere Forschung hat eine differenziertere Sichtweise im Hinblick auf die Rolle der Kirchen in der NS-»Euthanasie« ermöglicht, aber auch die Verstrickung der konfessionell gebundenen Krankenversorgung in die Erbgesundheitspolitik und das Sterilisierungsprogramm – und, auf evangelischer Seite, die Kontinuität eugenischen Denkens über die Epochenzäsur von 1945 hinaus22 – nachgewiesen.
18 Kuropka, 1992, 1998; Griech-Polelle, 2002 (mit grob verzerrten Urteilen, dazu: Süß, 2003); Süß, 2007a; Wolf, 2007. 19 Klee, 1983, S. 233-237. Vgl. Wollasch, 1981. Als Fallbeispiel für die konkrete Interessenabwägung einer katholischen Einrichtung zuungunsten ihrer Patienten vgl. Krischer, 2006. 20 Wollasch, 1978; Schmuhl, 2005/06. Zu einer Region: Frings, 1994 (Bistum Münster). 21 Süß, 2007b. 22 Kaminsky, 2005a, 2008.
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Zwangsarbeit in konfessionellen Krankenanstalten Unter den Bedingungen des Zweiten Weltkriegs, insbesondere vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Personalnot, sahen sich auch Einrichtungen der Kirchen, der Caritas und der Diakonie veranlasst, bei den Arbeitsämtern die Zuweisung von ausländischen Zwangsarbeitskräften – Kriegsgefangenen und ausländischen Zivilarbeiterinnen und -arbeitern – zu beantragen. In katholischen Einrichtungen arbeiteten reichsweit, so schätzt die neuere Forschung, etwa 6000, in evangelischen 15.000 ausländische Arbeitskräfte.23 In Einrichtungen mit land- und gartenwirtschaftlichen Betrieben konnte der Anteil der ausländischen Zwangsarbeitskräfte auf bis zu zwei Drittel ansteigen. Allein in den v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel arbeiteten zwischen 1942 und 1945 ständig etwa 340 ausländische Arbeitskräfte (10-15 der Belegschaft), insgesamt kamen hier weit über 1000 Ausländerinnen und Ausländer zum Einsatz.24 Neben dem im landwirtschaftlichen Nebenbetrieb beschäftigten »Polen« und »Ostarbeiter« stellte die junge, in der Hauswirtschaft eingesetzte »Ostarbeiterin« den Prototyp der ausländischen Zwangsarbeitskraft in konfessionellen Einrichtungen dar. Ihre Arbeitsund Lebensbedingungen waren in den meisten Fällen erträglich. Die verhältnismäßig gute Unterbringung und die auskömmliche Ernährung waren indes keine Besonderheit des kirchlichen Bereichs, sondern entsprachen den auf den Arbeitsfeldern der Hauswirtschaft, der Land- und Forstwirtschaft, des Handwerks und des Pflegedienstes allgemein herrschenden Verhältnissen. Auch bei den konfessionellen Trägern ist der mit dem NS-Zwangsarbeitssystem verbundene alltägliche Rassismus zu beobachten, der sich in einem minderen Rechtsstatus, eingeschränkter Freizügigkeit, minimalem, nach Nationalität gestaffeltem Nettolohn, Minderversorgung usw. ausdrückte. Unwürdige Behandlung, Lohnabzüge, körperliche Züchtigung, Überstellung an die Polizeibehörden und Verlegung in »Rückkehrersammellager« bei Arbeitsunfähigkeit – das alles kam, wenngleich wohl nicht häufig, auch in konfessionellen Einrichtungen vor. In manchen Fällen waren konfessionelle Krankenanstalten durch die Einrichtung von »Ostarbeiterbaracken« in das System eingeschränkter Gesundheitsfürsorge für ausländische Zwangsarbeitskräfte
23 Kaiser, 2005; Hummel/Kösters, 2008. 24 Benad/Mentner, 2002.
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eingebunden.25 In einzelnen Fällen wurden erkrankte Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter von konfessionellen Arbeitgebern auch dem NS»Euthanasie«-Apparat überantwortet.26
Literatur Becker, Alexa A., Die Münchener Vinzentinerinnen zur Zeit des Nationalsozialismus, München 2009. Benad, Matthias/Mentner, Regina (Hrsg.), Zwangsverpflichtet. Kriegsgefangene und zivile Zwangsarbeiter(innen) in Bethel und Lobetal, 1939-1945, Bielefeld 2002. Frewer, Andreas/Siedbürger, Günther (Hrsg.), Medizin und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Einsatz und Behandlung von »Ausländern« im Gesundheitswesen, Frankfurt/M., New York 2004. Frings, Bernhard, Zu melden sind sämtliche Patienten… NS-»Euthanasie« und Heil- und Pflegeanstalten im Bistum Münster, Münster 1994. Griech-Polelle, Beth A., Bishop von Galen: German catholicism and national socialism, New Haven, London 2002. Hammerschmidt, Peter, Die Wohlfahrtsverbände im NS-Staat. Die NSV und die konfessionellen Verbände Caritas und Innere Mission im Gefüge der Wohlfahrtspflege des Nationalsozialismus, Opladen 1999. Hey, Bernd (Hrsg.), Kirche in der Kriegszeit, 1939-1945, Bielefeld 2005. Hochmuth, Anneliese, Spurensuche. Eugenik, Sterilisation, Patientenmorde und die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel 1929-1945, Bielefeld 1997. Hummel, Karl-Joseph/Kösters, Christoph (Hrsg.), Kirchen im Krieg. Europa 1939-1945, Paderborn [u. a.] 2007. Hummel, Karl-Joseph/Kösters, Christoph (Hrsg.), Zwangsarbeit und katholische Kirche 1939-1945. Geschichte und Erinnerung, Entschädigung und Versöhnung. Eine Dokumentation, Paderborn [u. a.] 2008. Jenner, Harald/Klieme, Joachim (Hrsg.), Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen und die Einrichtungen der Inneren Mission. Eine Übersicht, Reutlingen 1997. Kaiser, Jochen-Christoph, Innere Mission und Rassenhygiene. Zur Diskussion im Centralausschuss für Innere Mission 1930-1938, in: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde 55 (1986), S. 197-217. Kaiser, Jochen-Christoph, Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Inneren Mission 1914-1945, München 1989.
25 In der »Ostarbeiterkrankenbaracke« der Diakonie-Anstalt Bad Kreuznach wurden 1943 sogar 21 Zwangsabtreibungen bei »Ostarbeiterinnen« durchgeführt. Winkler, 1995. 26 Kaminsky, 1995, S. 186-192. Vgl. allg. Frewer/Siedbürger, 2004.
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konfessionell gebundene krankenversorgung Dritten Reich. Zwischen Sittlichkeitsreform und Rassenhygiene, Paderborn 2001. Rose, Wolfgang, Das Naemi-Wilke-Stift im Dritten Reich, in: Süß, Stefan/Hain, Gottfried (Hrsg.), Das Naemi-Wilke-Stift in Guben. Eine Stiftung zwischen Tradition und Moderne, Berlin 2005, S. 91-108. Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Bd. 3: Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus, Stuttgart 1992. Sandner, Peter, Das Führerprinzip und die Anstalt Scheuern. Die Auseinandersetzung der Inneren Mission mit der »Entkonfessionalisierung« im Anstaltswesen von Hessen-Nassau und Hessen ab 1937, in: Oelschläger, Thomas (Bearb.), Psychiatrie im Dritten Reich – Schwerpunkt Hessen. Fachtagung vom 2. bis 4. November 2001 in Nassau-Scheuern, Ulm 2002, S. 45-61. Scheuing, Hans-Werner, »… als Menschenleben gegen Sachwerte gewogen wurden«. Die Geschichte der Erziehungs- und Pflegeanstalt für Geistesschwache Mosbach/Schwarzacher Hof und ihrer Bewohner 1933-1945, Heidelberg 1997 (2. Aufl. 2004). Schleiermacher, Sabine, Sozialethik im Spannungsfeld von Sozial- und Rassenhygiene. Der Mediziner Hans Harmsen im Centralausschuss für Innere Mission, Husum 1998. Schmuhl, Hans-Walter, Ärzte in der Anstalt Bethel 1870-1945, Bielefeld 1998. Schmuhl, Hans-Walter, Ärzte in der Westfälischen Diakonissenanstalt Sarepta 1890-1970, Bielefeld 2001. Schmuhl, Hans-Walter, Evangelische Krankenhäuser und die Herausforderung der Moderne. 75 Jahre Deutscher Evangelischer Krankenhausverband (19262001), Leipzig 2002 (2. Aufl. 2003). Schmuhl, Hans-Walter, Ärzte in konfessionellen Kranken- und Pflegeanstalten 1908-1957, in: Kuhlemann, Frank-Michael/Schmuhl, Hans-Walter (Hrsg.), Beruf und Religion im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2003, S. 176-194. Schmuhl, Hans-Walter, Mecklenburg, in: Kaiser, Jochen-Christoph (Hrsg.), Zwangsarbeit in Kirche und Diakonie, 1939-1945, Stuttgart 2005, S. 113-135 [Schmuhl, 2005a]. Schmuhl, Hans-Walter, Pommern, in: Kaiser, Jochen-Christoph (Hrsg.), Zwangsarbeit in Kirche und Diakonie, 1939-1945, Stuttgart 2005, S. 136-152 [Schmuhl, 2005b]. Schmuhl, Hans-Walter, Die katholische Kirche und die »Euthanasie«, in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 7 (2005/06), S. 55-63. Schwartz, Michael, Konfessionelle Milieus und Weimarer Eugenik, in: Historische Zeitschrift 261 (1995), S. 403-448. Süß, Winfried, Kein guter Hirte? Probleme einer Galen-Biographie, in: Historisches Jahrbuch 123 (2003), S. 511-526. Süß, Winfried, Ein Skandal im Sommer 1941. Reaktionen auf den EuthanasieProtest des Bischofs von Münster, in: Wolf, Hubert (Hrsg.), Clemens August von Galen. Ein Kirchenfürst im Nationalsozialismus, Darmstadt 2007, S. 181198 [Süß, 2007a].
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gesundheitswesen Süß, Winfried, Antagonistische Kooperationen. Katholische Kirche und nationalsozialistisches Gesundheitswesen in den Kriegsjahren 1939-1945, in: Hummel, Karl-Joseph/Kösters, Christoph (Hrsg.), Kirchen im Krieg. Europa 19391945, Paderborn [u. a.] 2007, S. 317-342 [Süß, 2007b]. Thierfelder, Jörg, Karsten Jaspersens Kampf gegen die NS-Krankenmorde, in: Strohm, Theodor/Thierfelder, Jörg (Hrsg.), Diakonie im »Dritten Reich«. Neuere Ergebnisse zeitgeschichtlicher Forschung, Heidelberg 1990, S. 226239. Vorländer, Herwart, Die NSV. Darstellung und Dokumentation einer nationalsozialistischen Organisation, Boppard 1988. Winkler, Ulrike, Die »Ostarbeiterkrankenbaracke« bei den Diakonieanstalten Bad Kreuznach 1943-1948, in: Kaminsky, Uwe, Zwangssterilisation und »Euthanasie« im Rheinland. Evangelische Erziehungsanstalten sowie Heil- und Pflegeanstalten 1933-1945, Köln 1995, S. 164-186. Wolf, Hubert (Hrsg.), Clemens August von Galen. Ein Kirchenfürst im Nationalsozialismus, Darmstadt 2007. Wollasch, Hans-Jürgen, Caritas und Euthanasie im Dritten Reich. Staatliche Lebensvernichtung in katholischen Heil- und Pflegeanstalten 1936 bis 1945, in: Wollasch, Hans-Jürgen, Beiträge zur Geschichte der Deutschen Caritas in der Zeit der Weltkriege, Freiburg/Brsg. 1978, S. 61-85. Wollasch, Hans-Jürgen, Geistig behinderte Menschen zwischen »Caritas« und Nationalsozialismus. Die St. Josephs-Anstalt Herten in Baden, in: Caritas. Jahrbuch des Deutschen Caritasverbandes (1981), S. 350-368. Wunder, Michael/Genkel, Ingrid/Jenner, Harald, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Hamburg 1987.
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3.4 Komplementärmedizin und nichtärztliche Heilberufe Robert Jütte
»Neue Deutsche Heilkunde« Bestimmten Richtungen in der Komplementärmedizin, z. B. der Homöopathie, wird gelegentlich bis heute von ihren Kritikern vorgeworfen, sie seien schon allein deswegen desavouiert, weil führende Vertreter des nationalsozialistischen Regimes sie gefördert hätten.1 Damit wird insinuiert, dass es auch ideologische Gemeinsamkeiten gegeben haben muss und die Anhänger einer solchen Therapie weiter in dieser Tradition stehen. Die wenigen ideologischen Berührungspunkte, die sich an den Begriffen »Natur« und »Ganzheit« festmachen lassen, erklären jedoch, wie bereits Walter Wuttke-Gronenberg 1983 ausgeführt hat, nicht hinreichend, warum die »Alternativmedizin« oder »Komplementärmedizin«, wie sie heute meist genannt wird, zunächst einen zentralen Stellenwert in der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik einnahm.2 Die Forschung ist daher der Frage nachgegangen, warum es trotz einiger Affinitäten gleichwohl der »Gleichschaltung« bedurfte, bevor die Ärzteverbände und Laienvereine, die sich damals unter dem Banner der »Neuen Deutschen Heilkunde« sammelten, die ihnen zugedachte Rolle als »politische Soldaten der Gesundheitsführung« (Ernst Günther Schenck) übernehmen konnten. Am Beispiel der Zeitschrift »Hippokrates«, die bereits 1928 mit dem Ziel gegründet wurde, den Streit zwischen den unterschiedlichen therapeutischen Richtungen in der Medizin zu beenden, hat Detlef Bothe gezeigt, wie schwierig sich die Integration der Außenseitermedizin in die »Neue Deutsche Heilkunde« gestaltete und welche weiteren Institutionen dabei noch eine Rolle spielten.3 Auch geht seine Studie, die zu Recht als Pionierarbeit auf diesem Gebiet bezeichnet werden kann, auf Schlüsselfiguren der »Neuen Deutschen Heilkunde« ein, so z. B. auf den zitierten Ernst Günther Schenck, zu dem inzwischen zwei biographische Studien vorliegen.4 1 2 3 4
Z. B. Ernst, 1995; Charisius, 2010. Wuttke-Gronenberg, 1983. Bothe, 1991, S. 298. Kopke, 2001; Elsner, 2010.
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Eine führende Rolle spielte in diesem Zusammenhang die 1935 gegründete »Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde«, die von Alfred Haug untersucht wurde.5 Folgende Verbände waren darin zusammengeschlossen: Deutsche Allgemeine Gesellschaft für Psychotherapie, Deutsche Gesellschaft für Bäder- und Klimakunde, Deutscher Zentralverein homöopathischer Ärzte, Kneippärzte-Bund, Reichsverband der Naturärzte, Reichsverband deutscher Privatkrankenanstalten sowie die Vereinigung anthroposophischer Ärzte. Leiter der »Reichsarbeitsgemeinschaft« war Karl Kötschau, zu dem leider immer noch keine ausführliche Biographie vorliegt. Auf das Schicksal und das frühe Ende dieser »Reichsarbeitsgemeinschaft« geht auch eine in der damaligen DDR entstandene medizinhistorische Dissertation von Doris und HansMichael Kratz ein, die 2004 fast unverändert in Buchform erschienen ist.6 Ähnlich wie die Kräfte, die hinter der »Reichsarbeitsgemeinschaft« standen, betrieben einzelne führende Mitglieder der Volks- und Naturheilbewegung die reibungslose Anpassung der Laienverbände an die neue politische Situation, wie Bertram Karrasch in seiner Tübinger Dissertation nachgewiesen hat.7 Der »Reichsarbeitsgemeinschaft der Verbände für naturgemäße Lebens- und Heilweise« schlossen sich 1935 an (in Klammern die Mitgliederzahlen von 1936): Biochemischer Bund Deutschland (180.000), Deutscher Bund der Vereine für naturgemäße Lebens- und Heilweise (Prießnitzbund) (120.000), Reichsbund für Homöopathie und Gesundheitspflege (Hahnemann-Bund) (48.000), Kneipp-Bund (48.000), Schüßler-Bund (32.000), Bund der Felke-Vereine (4000) sowie die Lambert-Cué-Gesellschaft (10.000). Wenig ergiebig und weiterführend ist dagegen eine Frankfurter medizinhistorische Dissertation, die anhand von Texten, die von führenden Vertretern der Naturheilkunde verfasst wurden, deren »impliziten und expliziten medizinethischen Gehalt« untersucht, um so eine Antwort darauf zu finden, warum die Naturheilbewegung in Deutschland von den Nationalsozialisten so leicht vereinnahmt und ein essentieller Bestandteil der sogenannten »Neuen Deutschen Heilkunde« werden konnte.8 Statt sich, wie im Titel angekündigt, einige Zentralbereiche der medizinischen Ethik (z. B. Krankheitsbegriff und Krankheitsverständnis, Beistands- und Therapiepflicht, Aufklärungs- und Schweigepflicht) her5 6 7 8
Haug, 1985. Kratz/Kratz, 1985/2004. Karrasch, 1998. Sievert, 1996.
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auszugreifen und ihre Deutung in naturheilkundlichen Schriften jener Zeit aufzuspüren, werden hier lediglich Vertreter der »Neuen Deutschen Heilkunde« und deren Äußerungen zur Medizin und medizinischen Ethik in willkürlicher Auswahl und Reihung knapp vorgestellt. Wenn auch methodisch nicht besonders originell, so doch materialreich ist dagegen eine weitere medizinhistorische Dissertation, die das Verhältnis der naturwissenschaftlichen Medizin zur Naturheilkunde und zu medizinischen Außenseitermethoden am Beispiel der Berichterstattung in führenden medizinischen Fachzeitschriften analysiert.9
Naturheilkunde Von den naturheilkundlichen Richtungen, die vom NS-Regime gefördert wurden, ist die Ernährungstherapie am gründlichsten untersucht worden. Jörg Melzer hat schlüssig nachgewiesen, welche Funktion die Vollwertkost für die nationalsozialistische Gesundheitspolitik spielte und welche Institutionen und Personen hinter dieser Bewegung für eine vegetarische Ernährung, die als zweckmäßig für Kriegszeiten angesehen wurde, standen.10 Vom selben Autor stammt auch eine Dokumentensammlung zu Leben und Werk eines der wichtigsten Protagonisten: Werner Kollath.11 Weitgehend unerforscht ist dagegen die Rolle, die andere Richtungen der Naturheilkunde (z. B. die Kneipp-Kur) in den nationalsozialistischen Integrationsbestrebungen spielten. Lediglich zu einem naturheilkundlichen »Vorzeigekrankenhaus«, dem Rudolf-HeßKrankenhaus in Dresden, liegt eine Fallstudie für die Zeit zwischen 1933 und 1945 vor.12 Zu den politisch bedingten organisatorischen Veränderungen im deutschen Heilbäderwesen (z. B. in den Bäderverbänden) existiert bisher nur eine Dokumentation, aber keine historisch-kritische Darstellung.13 Eine Ausnahme bilden die Forschungen zum sogenannten deutschen »Bäder-Antisemitismus«, die zeigen, wie Juden nach 1933, aber auch schon vorher, aus den Kurorten vertrieben wurden.14
9 10 11 12 13 14
Kies, 1996. Melzer, 2003. Melzer, 2002. Lienert, 2001. Hüfner, 1992, 1994. Bajohr, 2003; Kriechbaumer, 2002; Triendl-Zadoff, 2007.
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Homöopathie Im Falle der Homöopathie stellt sich die Forschungslage etwas besser dar.15 Zum einen ist der Aspekt der Forschungsförderung in dieser Zeit recht gut untersucht. So fanden zwischen 1936 und 1939 an verschiedenen homöopathischen Krankenhäusern im Auftrag des Reichsgesundheitsamtes Arzneimittelprüfungen statt. Es sollte »vor allem die Zuverlässigkeit früherer Arzneiprüfungen und somit auch die Wertigkeit der auf ihnen auf bauenden ›Arzneibilder‹ erforscht werden«.16 Zu dem damals bedeutendsten homöopathischen Krankenhaus, dem RobertBosch-Krankenhaus in Stuttgart, existiert eine vorbildliche Gesamtdarstellung, die auch auf die Jahre zwischen 1941 und 1945 ausführlich eingeht.17 Besonders gut untersucht ist vergleichsweise die homöopathische Laienbewegung. Neben der bereits genannten Arbeit von Karrasch zu den volksheilkundlichen Laienverbänden (darunter auch solche mit homöopathischer Ausrichtung) liegt eine Fallstudie zu einem einzelnen homöopathischen Laienverein vor.18 Dem Einfluss des Nationalsozialismus auf die Homöopathie und die Phytotherapie geht eine pharmaziehistorische Dissertation nach, die auf einer Zeitschriftenanalyse der führenden homöopathischen und pharmazeutischen Fachzeitschriften im Zeitraum 1927 bis 1952 beruht.19 Diese Studie enthält zudem ein Kapitel, in dem der Forschungsstand zur Anwendung komplementärmedizinischer Verfahren (»Biochemie« nach Schüßler, Phytotherapie) bei Menschenversuchen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern zusammengestellt ist. Die Opferperspektive beleuchtet die Edition eines autobiographischen Zeugnisses, das von einem KZ-Insassen stammt.20 Über die Heilpflanzenplantage in Dachau informiert eine neuere Monographie.21 Zu den biodynamischen Heilweisen zählen neben der Homöopathie auch die bereits erwähnte »Biochemie« nach Schüßler sowie die spagyrische Medizin. Zu Letzterer liegt eine interessante Fallstudie vor.22
15 16 17 18 19 20 21 22
Jütte, 2010. Walach, 1990. Faltin, 2002. Wolff, 1989. Haug, 2009. Eickmann, 2007. Seidl, 2008. Wegener, 2006.
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Anthroposophische Medizin Während die Steinersche Weltanschauung, aber auch die Bekämpfung der Theosophie als angeblich geheimbündlerische Bewegung durch die Nationalsozialisten recht gut erforscht sind,23 besteht für die anthroposophische Medizin, die neben der Waldorf-Pädagogik ein wichtiges Praxisfeld für Rudolf Steiner und seine Anhänger war, noch Forschungsbedarf für die Zeit zwischen 1933 und 1945. Es existieren lediglich biographische Skizzen zu führenden anthroposophischen Ärzten in jener Zeit.24 Zu den anthroposophischen Heilerziehungsheimen gibt es immerhin eine Fallstudie.25
Nichtärztliche Heilberufe Das Heilpraktikergesetz von 1939 gehört zu den wenigen nationalsozialistischen Gesetzen, die nach 1945 – mit einigen wenigen Änderungen – übernommen wurden.26 Dennoch ist die Geschichte der Heilpraktiker in der NS-Zeit immer noch ein weißer Fleck auf der Forschungslandkarte, sieht man von einem Überblicksartikel27 (leider ohne Quellennachweis) und einer Studie28 zur Praxis eines Laienheilers, die die Zeit bis 1937 umfasst, einmal ab. Von den nichtärztlichen Heilberufen ist (mit Ausnahme der Krankenpflege, der ein eigenes Kapitel gewidmet ist) nur der Hebammenstand gut untersucht, da er im »Dritten Reich« von den Nationalsozialisten aufgewertet und für die Rassen- und Bevölkerungspolitik instrumentalisiert wurde. Im Blickpunkt der Forschung standen bisher vor allem die berufspolitische Entwicklung nach 1933 sowie die geburtshilfliche bzw. säuglingsfürsorgerische Tätigkeit.29 Erst in jüngster Zeit intensiver erforscht sind dagegen der Berufsalltag, die Lebenswelt der Hebammen und deren Mitwirkung bei der Durchführung der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik.30 Zur Rolle der Hebammen im 23 24 25 26 27 28 29 30
Werner, 1999; Ravagli, 2004; Zander, 2007. Selg, 2000. Van der Locht, 2007. Wuttke-Gronenberg, 1982; Freder, 2003. Liebau, 2007. Faltin, 2000. Dill, 1997; Tiedemann, 2001. Moissl, 2005; Peters, 2005; Lisner, 2006.
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»Dritten Reich« liegt seit 2002 auch eine offizielle Stellungnahme des Bundes Deutscher Hebammen e. V. vor.31
Literatur Bajohr, Frank, »Unser Hotel ist judenfrei«. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2003. Bothe, Detlef, Neue Deutsche Heilkunde 1933-1945. Dargestellt anhand der Zeitschrift »Hippokrates« und der Entwicklung der volksheilkundlichen Laienbewegung, Husum 1991. Charisius, Hanno, Globuli für den Volkskörper. Unter dem Nazi-Regime blühte die Homöopathie kräftig auf. Doch trotz höchster Protegierung löste sie ihre Versprechen nicht ein, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 30 vom 1.8.2010, S. 54. Dill, Gregor, Nationalsozialistische Säuglingspflege. Eine frühe Erziehung zum Massenmenschen, Stuttgart 1997. Eickmann, Arnold, Der KZ-Gärtner. …vom gesundheitspolitischen Standpunkt ein Staatsfeind. Aufgezeichnet von Karl-Heinz Wegner, hrsg. und eingel. von Andreas Seeger, Bremen 2007. Elsner, Gine, Heilkräuter, »Volksernährung«, Menschenversuche. Ernst Günther Schenck (1904-1998): eine deutsche Arztkarriere, Hamburg 2010. Ernst, Edzard, Naturheilkunde im Dritten Reich. Außenseiter, Schulmedizin und nationalsozialistische Machtpolitik, in: Deutsches Ärzteblatt 92 (1995), S. A 104-107/B 80-83/C 71-74. Faltin, Thomas, Heil und Heilung. Geschichte der Laienheilkundigen und Struktur antimodernistischer Weltanschauungen in Kaiserreich und Weimarer Republik am Beispiel von Eugen Wenz (1856-1945), Stuttgart 2000. Faltin, Thomas, Homöopathie in der Klinik: die Geschichte der Homöopathie am Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhaus von 1940 bis 1973, Stuttgart 2002. Freder, Janine, Die Geschichte des Heilpraktikerberufs in Deutschland: unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in der DDR, Bonn 2003. Haug, Alfred, Die Reichsarbeitsgemeinschaft für eine neue deutsche Heilkunde (1935/36). Ein Beitrag zum Verhältnis von Schulmedizin, Naturheilkunde und Nationalsozialismus, Husum 1985. Haug, Roswitha, Die Auswirkungen der NS-Doktrin auf Homöopathie und Phytotherapie. Eine vergleichende Analyse von einer medizinischen und zwei pharmazeutischen Zeitschriften, Stuttgart 2009. Hüfner, Gerhard, Die deutschen Bäderverbände 1892-1992. Chronik der Verbandsarbeit, Gütersloh 1992.
31 http://www.hebammen-bw.de/fileadmin/user_upload/pdfs/Stellungnahmen__ Standpunkte/BDH_NS.pdf, letzter Zugriff 24.9.2010.
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komplementärmedizin und nichtärztliche heilberufe Hüfner, Gerhard, Die wissenschaftlichen Vereinigungen im Deutschen Bäderwesen 1878-1994, Gütersloh 1994. Jütte, Robert, Homöopathie und Nationalsozialismus – eine historische Expertise, in: Schattenblick. Geschichte/517 (7.9.2010) (http://pannwitzblick.com/ infopool/medizin/fakten/mz2gs517.html, letzter Zugriff 24.9.2010). Karrasch, Bertram, Volksheilkundliche Laienverbände im Dritten Reich, Stuttgart 1998. Kies, Heinrich, Das Verhältnis von Naturheilkunde und Außenseitermethoden zur naturwissenschaftlichen Medizin: »Schulmedizin« im Spiegel der Münchener Medizinischen Wochenschrift, Deutschen Medizinischen Wochenschrift, Medizinische Klinik, Medizinische Welt, Wiener Medizinische Wochenschrift und der Medizinischen Zeitschrift 1-5/1945, Jg. 1933-1945, Med. Diss., Universität Düsseldorf 1996. Kopke, Christoph, Der »Ernährungsinspekteur der Waffen-SS«. Zur Rolle des Mediziners Ernst Günther Schenck im Nationalsozialismus, in: Kopke, Christoph (Hrsg.), Medizin und Verbrechen: Festschrift zum 60. Geburtstag von Walter Wuttke, Ulm 2001, S. 208-220. Kratz, Doris/Kratz, Hans-Michael, »Neue Deutsche Medizin« und »Neue Deutsche Heilkunde« – Erscheinungsformen der Anpassung an ideologische und politische Zielsetzungen der faschistischen Diktatur von 1933 bis 1945, Med. Diss., Universität Leipzig 1985 [2004 unter dem Titel »Die Heilkunde in der Zeit der Weimarer Republik – Die ›angepaßte‹ Medizin in der Zeit der NSDiktatur« erschienen]. Kriechbaumer, Robert (Hrsg.), Der Geschmack der Vergänglichkeit. Jüdische Sommerfrische in Salzburg, Wien 2002. Liebau, Karl F., Zur Rechtsgeschichte der Heilpraktikerschaft. Teil 2: Das Dritte Reich, in: Naturheilpraxis 60 (2007), H. 2, S. 239f. Lienert, Maria, Das Stadtkrankenhaus Dresden-Johannstadt in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Scholz, Albrecht/Heidel, Caris-Petra/Lienert, Marina (Hrsg.), Vom Stadtkrankenhaus zum Universitätsklinikum. 100 Jahre Krankenhausgeschichte in Dresden, Köln, Wien 2001, S. 105-142. Lisner, Wiebke, »Hüterinnen der Nation«: Hebammen im Nationalsozialismus, Frankfurt/M., New York 2006. Melzer, Jörg, Werner Kollath 1933-1945: Dokumentensammlung und Kommentare, Bad Soden 2002. Melzer, Jörg, Vollwerternährung: Diätetik, Naturheilkunde, Nationalsozialismus, sozialer Anspruch, Stuttgart 2003. Moissl, Norbert, Aspekte der Geburtshilfe in der Zeit des Nationalsozialismus 1933 bis 1945 am Beispiel der I. Frauenklinik der Universität München. Eine retrospektive Studie über 1.950 Geburten von 1933 bis 1945 unter besonderer Berücksichtigung der Einflüsse der nationalsozialistischen Ideologie und des Zweiten Weltkrieges, Med. Diss., Ludwig-Maximilians-Universität München 2005. Peters, Anja, Der Geist von Alt-Rehse. Die Hebammenkurse an der Reichsärzteschule 1935-1941, Frankfurt/M. 2005.
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gesundheitswesen Ravagli, Lorenzo, Unter Hammer und Hakenkreuz: der völkisch-nationalsozialistische Kampf gegen die Anthroposophie, Stuttgart 2004. Seidl, Daniella, »Zwischen Himmel und Hölle«: das Kommando »Plantage« des Konzentrationslagers Dachau, München 2008. Selg, Peter (Hrsg.), Anthroposophische Ärzte. Lebens- und Arbeitswege im 20. Jahrhundert, Dornach 2000. Sievert, Lars Endrik, Naturheilkunde und Medizinethik im Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1996. Tiedemann, Kirsten, Hebammen im Dritten Reich. Über die Standesorganisationen für Hebammen und ihre Berufspolitik, Frankfurt/M. 2001. Triendl-Zadoff, Mirjam, Nächstes Jahr in Marienbad. Gegenwelten jüdischer Kulturen der Moderne, Göttingen 2007. Van der Locht, Volker, Das anthroposophische Heilerziehungsheim Lauenstein im Heeresgestüt Altefeld 1932-1941, in: Eschweger Geschichtsblätter 18 (2007), S. 27-45. Walach, Harald, Die Untersuchung der Homöopathie durch das Reichsgesundheitsamt 1936-1939, in: Zeitschrift für Klassische Homöopathie 34 (1990), S. 252-259. Wegener, Franz, Der Alchemist Franz Tausend: Alchemie und Nationalsozialismus, Gladbeck 2006. Werner, Uwe (unter Mitwirkung von Christoph Lindenberg), Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945), München 1999. Wolff, Eberhard, Gesundheitsverein und Medikalisierungsprozeß: der Homöopathische Verein Heidenheim/Brenz zwischen 1886 und 1945, Tübingen 1989. Wuttke-Gronenberg, Walter, Heilpraktiker im Nationalsozialismus, in: Brinkmann, Manfred/Franz, Michael (Hrsg.), Nachtschatten im weißen Land. Betrachtungen zu alten und neuen Heilsystemen, Berlin 1982, S. 127-148. Wuttke-Gronenberg, Walter, Volks- und Naturheilkunde auf »neuen Wegen«. Anmerkungen zum Einbau nicht- schulmedizinischer Heilmethoden in die Nationalsozialistische Medizin, in: Blumenstock, Jan (Mitverf.), Alternative Medizin, Berlin 1983, S. 27-50. Zander, Helmut, Anthroposophie in Deutschland: theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884-1945, 2 Bde., Göttingen 2007.
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3.5 Die Vertreibung jüdischer und »staatsfeindlicher« Ärztinnen und Ärzte Robert Jütte
Das Ausmaß der Vertreibung Der Anteil der Juden an den medizinischen Berufen war im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil hoch. 1933 gab es etwa 6000 jüdische Ärzte, zu denen noch circa 2000 hinzugerechnet werden müssen, die nach den nationalsozialistischen Rassengesetzen als »nicht arisch« angesehen wurden.1 Wenn man von einer Gesamtzahl von ungefähr 52.000 Ärzten im Jahre 1933 ausgeht, so betrug der Anteil jüdischer Ärzte mehr als 15 (zum Vergleich: der Bevölkerungsanteil der Juden lag damals bei weniger als einem Prozent). So ist es nicht verwunderlich, dass die Mediziner zusammen mit den Juristen den höchsten Anteil an der akademischen Emigration stellten. Einer der Ersten, der auf das Ausmaß der Vertreibung jüdischer Ärzte und ihre Notlage aufmerksam machte, war der jüdische Historiker Adler-Rudel.2 In seinem 1974 erschienenen Buch über die jüdische Selbsthilfe im »Dritten Reich« gibt es ein Kapitel, das sich mit der Wirtschaftshilfe für arbeitslos gewordene und in die Emigration getriebene jüdische Ärzte befasst. Nach Adler-Rudel hatte man bereits 1933 über 3000 Ärzten aufgrund ihrer angeblich nicht arischen Abstammung die Kassenarztpraxis entzogen. Entsprechend groß war die Nachfrage bei der Zentralstelle für jüdische Wirtschaftshilfe. Die erste größere Dokumentation dieses Massenschicksals verdanken wir zwei Sozialwissenschaftlern, die 1979 die Auswirkungen der nationalsozialistischen »Machtergreifung« auf die Ärzteschaft untersuchten und dabei vor allem die Kassenärzte in den Blick nahmen.3 Stephan Leibfried und Florian Tennstedt zeichnen minutiös nach, wie die Nationalsozialisten jüdische und sozialistisch gesinnte Ärzte systematisch aus ihrem Beruf drängten. Der Begriff »Berufsverbot«, den sie dabei verwenden, war der damaligen Diskussion um die Nichteinstellung von Kommunisten in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik geschuldet. 1 Strauss et al., 1988, 1991. 2 Adler-Rudel, 1974. 3 Leibfried/Tennstedt, 1979.
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Neben der Darstellung der Ereignisse geht es beiden Autoren aber auch darum, die Erinnerung an die Menschen, die damals ihre Kassenzulassung verloren und in die Emigration gezwungen wurden, wachzuhalten. Mitte der 1980er Jahre nahm sich die Medizingeschichtsschreibung ebenfalls dieses Themas an. Eine frühe Übersichtsarbeit stammt aus der Feder des Mainzer Medizinhistorikers Werner Friedrich Kümmel.4 Auch dort wird der schwierige Versuch unternommen, das Massenschicksal jüdischer Ärzte im »Dritten Reich« in Zahlen zu fassen. Durch das Forschungsprojekt zur Emigration von Wissenschaftlern nach 1933, das Herbert A. Strauss in den 1980er Jahren am Zentrum für Antisemitismusforschung durchführte und aus dem ein mehrbändiges Handbuch zur deutschsprachigen Emigration hervorging,5 richtete sich der Blick auf diejenigen Ärzte (die meisten von ihnen waren wissenschaftlich tätig), die in die Emigration gingen und somit dem Holocaust entkamen. Unter anderem kam bei diesen Recherchen heraus, dass im Unterschied zu anderen Berufsgruppen die meisten Mediziner frühzeitig emigrierten. Auch fiel auf, dass die Wellen der Emigration von Ärzten in einem engen Zusammenhang mit den zunehmenden Restriktionen der Nationalsozialisten gegenüber jüdischen Medizinern standen. Ein erster Höhepunkt lässt sich für das Jahr 1933 feststellen, und zwar nach dem Erlass des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«, ein zweiter nach dem Inkrafttreten der »Vierten Verordnung zum Reichsbürgergesetz« im September 1938, als allen verbliebenen jüdischen Ärzten die Approbation entzogen wurde. Den Anteil politischer Emigranten unter den Ärzten schätzen die Autoren des Handbuchs auf sechs Prozent. Außerdem wurde versucht, die Auswanderungsziele jüdischer Ärzte statistisch zu erfassen. Danach stellten die USA das Haupteinwanderungsland dar, gefolgt von Palästina, Großbritannien und den lateinamerikanischen Ländern. Für Österreich liegen ebenfalls relativ gut gesicherte Zahlen über die Verdrängung jüdischer Ärzte nach dem »Anschluss« im Jahre 1938 vor. In Wien waren 1938 65 der Ärzte gemäß den nationalsozialistischen Rassengesetzen »jüdischer« Herkunft, im gesamten österreichischen Gebiet betrug dieser Anteil etwa ein Drittel.6 Nach 1938 emigrierten rund 3000 Ärzte aus Österreich in rund ein Dutzend Länder. Der Großteil der Emigranten ging in die USA (über 2000). Andere bedeutende Auf4 Kümmel, 1985. 5 Röder/Strauss, 1980-1983. 6 Hubenstorf, 2004, S. 769.
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vertreibung jüdischer und »staatsfeindlicher« ärztinnen und ärzte
nahmeregionen waren Großbritannien (ca. 350), Palästina (ca. 70) und Shanghai (ca. 130). Nach Hubenstorf glückte 80 der jüdischen Ärzte die Flucht ins Ausland.7 Von über 220 Ärztinnen und Ärzten ist bekannt, dass sie deportiert wurden.8
Regionalstudien Nur für einige wenige Bundesländer liegen inzwischen Studien zur Verfolgung der jüdischen Ärzte vor. Im »Dritten Reich« sind 87 jüdische Ärzte in Thüringen enteignet und aus ihrem Beruf getrieben worden. Von ihnen überlebten 38 die Zeit des NS-Regimes, weil sie emigrieren konnten. Sechs Ärzte wurden Opfer des Holocaust. Weitere vier Ärzte begingen Selbstmord.9 In Bayern war die Zahl der jüdischen Ärzte erheblich größer. Allein 420 beziehungsweise 431 Schicksale (aus den Städten München, Nürnberg und Würzburg) wurden im Rahmen einer Magisterarbeit untersucht.10 Eine ältere Überblicksarbeit aus dem Jahre 1998, die anlässlich des 60. Jahrestages erschien, an dem des Entzugs der Approbation jüdischer Ärzte durch die Bayerische Ärztekammer gedacht wurde, geht lediglich auf die Rahmenbedingungen und auf Einzelschicksale ein.11 Für Sachsen konnten bislang 285 jüdische Ärzte als Verfolgte des NS-Regimes identifiziert werden.12 Besser ist die Forschungslage für einzelne deutsche Städte. Die erste Studie ist eine Mainzer medizinhistorische Doktorarbeit, die für Wiesbaden auf eine Gesamtzahl von 64 verfolgten jüdischen Ärzten kommt.13 Für München dokumentierte 1988 ein Arbeitskreis die Schicksale jüdischer und »staatsfeindlicher« Ärztinnen und Ärzte nach 1933. Insgesamt umfasste die damals erstellte Liste der Betroffenen 270 Namen, zu denen – soweit möglich – biographische Daten ermittelt wurden.14 Am Beispiel Münchens zeigen zwei neuere Arbeiten die Rolle der Finanzverwaltung bei der Entziehung, Verwaltung und Verwertung jüdischen
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Hubenstorf, 2001. Feikes, 1999. Grieser, 2003. Damskis, 2009. Drecoll/Schleusener/Winstel, 1998. Heidel, 2005. Blank, 1984, S. 77l. Jäckle, 1988.
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Vermögens.15 Eine Studie zu Bremen erschien im Jahr 1988.16 Eine aus Mitgliedern der Landesärztekammer Hessen bestehende Arbeitsgruppe legte 1990 ihre Nachforschungen zum Schicksal jüdischer Ärzte in Frankfurt am Main und in Offenbach in Buchform vor.17 Nach einer in dieser Publikation abgedruckten nationalsozialistischen Statistik vom Frühjahr 1934 gab es allein in Frankfurt am Main noch 177 »nicht arische« Kassenärzte, was einem Anteil an der Gesamtheit von 38,7 entspricht. Zum Schicksal einiger dieser jüdischen Ärzte haben die Autoren Spurensuche betrieben. Auch wird die Praxis der Ausgrenzung und Verfolgung durch zahlreiche Bild- und Textquellen dokumentiert. Inzwischen gibt es für die Mainmetropole eine neuere Untersuchung, die sich auf die Auswertung der Meldekartei der Ärztekammer Hessen-Nassau aus dem Jahre 1936 stützt. Darin werden 276 jüdische Ärzte namentlich genannt.18 Ihre Namen sind im Anhang als Liste ausgedruckt. Außerdem sind in diesem Band ausgewählte Einzelschicksale dokumentiert. Weitere Städtestudien, und zwar aus den Jahren bis 2000, existieren für Hannover19 sowie für die Kreishauptmannschaften Dresden-Bautzen, Chemnitz und Zwickau.20 Erst jüngst sind für drei weitere Städte einschlägige Monographien erschienen, die nicht nur den Anspruch haben, Gedenkbücher zu sein, sondern sich dem Thema umfassend und unter Einbeziehung neuer oder bisher wenig beachteter Quellen (z. B. »Wiedergutmachungsakten«, Meldebögen etc.) nähern. So liegt jetzt für Berlin, die Stadt mit der höchsten Anzahl jüdischer Ärzte zu Beginn der 1930er Jahre, eine Studie vor, die minutiös die Maßnahmen der Berliner ärztlichen Standesorganisationen bis zum Entzug der Approbationen jüdischer Ärzte nachzeichnet sowie den prekären Status als »Krankenbehandler« nach 1938 erstmals ausführlich dokumentiert.21 Für Stuttgart konnte jüngst Susanne Rueß nachweisen, dass von insgesamt 86 jüdischen Ärzten in dieser Stadt nur 18 sich entschieden, nicht zu emigrieren. Sieben von ihnen wurden deportiert und kamen im Holocaust um.22 Auch das Schicksal der wenigen Rückkehrer (drei an der Zahl) wird in dieser sorgfältigen 15 16 17 18 19 20 21 22
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Drecoll, 2003, 2004. Niermann/Leibfried, 1988. Drexler/Kalinski/Mausbach, 1990. Drexler-Gormann, 2009. Benzenhöfer, 2000. Herrlich, 1996. Hahn/Schwoch, 2009. Rueß, 2009.
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biographischen Arbeit thematisiert. Wie Anna von Villiez nachweist, wurde mehr als ein Fünftel der Hamburger Ärzteschaft durch die nationalsozialistische Gesetzgebung aufgrund ihrer jüdischen Herkunft entrechtet.23 In der Hansestadt konnte sich ebenfalls der Großteil ins Ausland retten, 38 Ärzte und sechs Ärztinnen wurden in den Vernichtungslagern ermordet.
Medizinische Fachrichtungen Auch zu einigen wenigen medizinischen Fachrichtungen liegen inzwischen Untersuchungen über den Ausschluss jüdischer Ärzte vor. Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde ist schon früh mit gutem Beispiel vorangegangen. Sie war die erste medizinische Fachgesellschaft, die sich ihrer Vergangenheit im »Dritten Reich« stellte. In seinem Buch, das inzwischen sogar in zweiter, überarbeiteter Auflage vorliegt, unternimmt Eduard Seidler den Versuch, das Schicksal von über 750 Kinderärzten (darunter übrigens ein Drittel Frauen) im »Dritten Reich« zu rekonstruieren. Außerdem geht er kurz darauf ein, warum gerade dieses Fach auf jüdische Mediziner eine so große Faszination ausübte.24 Gezeigt wird weiterhin, wie rasch und konsequent die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde damals ihre jüdischen Mitglieder auf Geheiß des nationalsozialistischen Regimes ausschloss und welchen Demütigungen die jüdischen Kinderärztinnen und Kinderärzte seit dem 1. April 1933 ausgesetzt waren. Die Folgen, die diese Verdrängung von engagierten Ärzten und führenden Fachvertretern wie Heinrich Finkelstein oder Gustav Tugendreich auf das Fach Kinderheilkunde hatte, werden nicht eigens betont, sie liegen auf der Hand: Die deutsche Kinderheilkunde geriet damals nicht nur in nationalsozialistisches Fahrwasser (Stichwort: Kinder-»Euthanasie«), sondern verlor auch ihre internationale Spitzenposition. Insbesondere zur weiteren Entwicklung der Pädiatrie in der NS-Zeit besteht, wie Seidler zu Recht betont, noch erheblicher Forschungsbedarf. Im Falle der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft ging die Initiative zu einem solchen Geschichtsprojekt von einem Professor für Augenheilkunde aus. Rohrbach hat eine beeindruckende Fülle von Ar-
23 Villiez, 2009. 24 Seidler, 2000.
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chivalien herangezogen und dazu noch Augenzeugen befragt.25 Im Vergleich zu anderen medizinischen Fächern weist die Ophthalmologie, wie der Autor schlüssig zeigt, eine geringere Systemnähe auf. Besonderes Augenmerk richtet Rohrbach auf diejenigen Augenärzte, die wegen ihrer jüdischen Abstammung verfolgt und ermordet wurden. In 60 der Fälle war es nicht möglich, das Schicksal der Betroffenen zu klären. Für die Dermatologie lässt sich gleichfalls ein hoher Prozentsatz an jüdischen Ärzten feststellen.26 Ausweislich des Reichsmedizinalkalenders gab es 1933 insgesamt 569 jüdische Dermatologen in Deutschland. 432 Schicksale konnten geklärt werden. 57 wurden in Konzentrationslagern ermordet, 13 verübten Selbstmord, 276 wanderten aus, 61 verstarben in Deutschland, 25 überlebten die Nazi-Herrschaft. Auch Sven Eppingers verdienstvolle Studie enthält neben Ausführungen zu den Rahmenbedingungen und dem berufspolitischen Hintergrund einen umfangreichen biographischen Teil mit Nennung der jüdischen Dermatologen, geordnet nach ihren Wirkungsstätten und ergänzt um Erkenntnisse zu ihrer beruflichen und wissenschaftlichen Tätigkeit. Zu Österreich gibt es dagegen nur eine Studie in Form eines ungedruckten Vortrages.27 Dieser kommt zu dem Ergebnis, dass es 1935 in Wien über 160 Dermatologen gab, darunter überwiegend Ärzte jüdischer Herkunft. Anfang 1938 lassen sich noch 125 Dermatologen nachweisen; 1940 waren es nur noch 48. Von 45 der im Jahr 1938 noch praktizierenden Hautärzte weiß man, dass sie emigriert sind. Es bleibt also eine »Dunkelziffer« von 32, deren Schicksal bislang noch nicht erforscht ist. Zur Emigration jüdischer Urologen läuft zur Zeit ein Forschungsprojekt am Lehrstuhl für Geschichte der Medizin der Universität Ulm.
Einzelschicksale Zu Einzelschicksalen jüdischer Ärzte, die in die Emigration getrieben wurden oder im Holocaust umkamen, liegt inzwischen neben zahlreichen Aufsätzen in Zeitschriften und Sammelbänden auch eine wachsende Anzahl an Biographien vor. So hat die in Wien lebende Historikerin Brigitte Hamann die Erinnerungen des Linzer Armenarztes Eduard Bloch, die dieser nach seiner Ausreise im Jahre 1940 in New York ver25 Rohrbach, 2007. 26 Eppinger, 2001. 27 Angetter/Feikes/Holubar, 1999.
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fasste und die seit kurzem im Holocaust Memorial Museum in Washington zugänglich sind, für ihre biographische Studie herangezogen.28 Das Buch geht weit über die Beziehung Hitlers zu Bloch hinaus. Es schildert sowohl Blochs ganzes Leben und die Schicksale seiner Familie als auch den zeithistorischen Hintergrund, von der Zeit der Kindheit noch während der Habsburgermonarchie über die Berufstätigkeit in der Republik Österreich, die Verfolgungen in der Nazizeit bis zum Tod im Exil in den USA. Andere Biographien haben dagegen nicht so große Aufmerksamkeit in den Feuilletons bekommen, da ihr Verfasser nicht prominent genug oder der persönliche Bezug des Opfers nationalsozialistischer Willkür zu Adolf Hitler nicht gegeben ist. Auch haben diese Dokumentationen von Schicksalen jüdischer Ärztinnen und Ärzte zumeist keinen literarischen Anspruch. Es geht ihnen um ein Stück »Wiedergutmachung« und darum, die Erinnerung an diese Menschen wachzuhalten. So sind diese Biographien meist in geringen Stückzahlen in kleinen Verlagen erschienen und haben damit den Nachteil, von einer breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen zu werden.29
Wissenschaftswandel und Wirkung in den Aufnahmeländern Die Unterscheidung zwischen medizinischen Wissenschaftlern und praktizierenden Ärzten, wie sie gelegentlich in der frühen Emigrationsforschung anzutreffen ist, gilt inzwischen als problematisch, da es infolge der Emigration häufig zu einem Wechsel des Betätigungsfeldes kam bzw. kommen musste, wenngleich im Unterschied zu anderen Berufsgruppen die Ärzte unter den Emigranten im Gesundheitswesen ihres Aufnahmelandes früher oder später meist wieder Fuß fassen konnten. Auch sind es längst nicht mehr die prominenten Einzelschicksale berühmter jüdischer Ärzte und Wissenschaftler, die das Interesse von Medizinhistorikern wecken. Im Gegenteil: Inzwischen geht es darum, wenigstens die Namen derjenigen Ärzte für die Nachwelt festzuhalten, die damals aus rassischen und politischen Gründen verfolgt wurden. Welche Folgen die Emigration jüdischer Mediziner für die weitere Entwicklung einzelner medizinischer Fächer hatte und welche Wirkung die Emigranten in den Aufnahmeländern entfalteten, ist bislang nur ansatzweise bekannt und erforscht. In diesem Zusammenhang ist das in 28 Hamann, 2008. 29 Beispielhaft seien genannt: Oechsle, 2004; Moltrecht, 2004; Hohmann, 2009.
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der Wissenschaftsgeschichte inzwischen vieldiskutierte Konzept des knowledge transfer von Bedeutung.30 Aussagen über die Medizin als Ganzes sind schwer möglich, ein detaillierteres Eingehen auf die verschiedenen medizinischen Spezialdisziplinen oder auch auf die diversen Aufnahmeländer würde den Rahmen dieses Forschungsüberblicks sprengen. Einzelne Beispiele mögen daher genügen. So existieren Studien zu Folgen der Vertreibung jüdischer Mediziner auf dem Gebiet der Neurowissenschaft.31 Zudem liegen einzelne Länderstudien vor, so z. B. für die Auswanderung jüdischer Ärzte und Wissenschaftler nach Palästina oder Großbritannien.32 Die NS-Verfolgung und Vertreibung, so machen diese Untersuchungen deutlich, bedeuteten größtenteils einen erheblichen Gewinn für die medizinische Wissenschaft in den Aufnahmeländern. In der Wissenschaftsgeschichte spricht man in diesem Kontext vom Modell des emigration-induced scientific change.33 In Hinblick auf Deutschland lässt sich dagegen auf dem Gebiet der Medizin nicht nur ein personeller, sondern auch ein gravierender Verlust an Internationalität erkennen.
Remigration In den letzten beiden Jahrzehnten ist der Remigration stärker als zuvor Aufmerksamkeit zuteilgeworden. Von den in die Emigration getriebenen Ärztinnen und Ärzten kehrten nach 1945 nur relativ wenige zurück. Hiermit setzte sich der Trend zur Provinzialisierung und zum Lokalismus endgültig durch. Nach den Berechnungen von Hans-Peter Kröner auf der Grundlage von über 3000 Einzelschicksalen betrug der Rückkehreranteil der Mediziner unter den Emigranten lediglich fünf Prozent.34 Diese relativ niedrige Zahl wird auch durch neuere Lokalstudien bestätigt.35 In der Forschung werden unterschiedliche Gründe für den Verbleib in den Aufnahmeländern genannt. Zum einen wurden die rückkehrwilligen Emigranten nicht mit offenen Armen empfangen, weil die Entnazifizierung gerade unter den Ärzten wegen der angeblichen Sicherstellung der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung in den Nachkriegsjahren sehr lasch gehandhabt wurde. Zum anderen scheuten viele 30 31 32 33 34 35
Ash, 2007. Peters, 1996. Decker, 2003; Scholz/Heidel, 2004; Müller, 2005. Fischer, 1995. Kröner, 1993, S. 84; Kröner, 1989. Vgl. z. B. Rueß, 2009; Villiez, 2009.
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Emigranten nach den von ihnen gemachten schrecklichen Erfahrungen von Boykott, Ausschluss aus der Ärzteschaft und Vertreibung sowie in Anbetracht der Tatsache, dass viele auch Angehörige im Holocaust verloren hatten, die Rückkehr in ein Land, das der israelische Journalist Amos Elon einmal treffend als »haunted« (von den Geistern der Vergangenheit heimgesucht) bezeichnet hat. Die schleppenden und zum Teil demütigenden »Wiedergutmachungs«-Verfahren gaben diesen Ärzten recht. Völlig unerforscht ist bislang die frühe Wiederbegründung jüdischer Ärztegesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg. So war bereits 1946 in Bayern eine Jewish Medical Society Munich aktiv, die ihre Korrespondenz teilweise auf Jiddisch führte.
Literatur Adler-Rudel, Scholem, Jüdische Selbsthilfe unter dem Naziregime 1933-1939 im Spiegel der Berichte der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, Tübingen 1974. Angetter, Daniela/Feikes, Renate/Holubar, Karl, Der Einfluss des Nationalsozialismus auf die Dermatologie in Österreich 1933-1955 (ungedruckter Vortrag von 1999) (http://sfhd.chez.com/ecrits/oster.htm, letzter Zugriff 24.9.2010). Ash, Mitchell G., Von Vielschichtigkeiten und Verschränkungen. »Kulturen der Wissenschaft – Wissenschaft in der Kultur«, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 30 (2007), S. 91-105. Benzenhöfer, Udo, Jüdische Ärzte in Hannover 1933 bis 1945, Wetzlar 2000. Blank, Dagmar, Die »Ausschaltung« jüdischer Ärzte und Zahnärzte in Wiesbaden durch den Nationalsozialismus, Med. Diss., Universität Mainz 1984. Damskis, Linda Lucia, Zerrissene Biografien. Jüdische Ärzte zwischen nationalsozialistischer Verfolgung, Emigration und Wiedergutmachung, München 2009. Decker, Karola, Divisions and diversity: The complexities of medical refuge in Britain, 1933-1948, in: Bulletin of the History of Medicine 77 (2003), S. 850-873. Drecoll, Axel, Finanzverwaltung und Judenverfolgung. Die Rolle des Fiskus bei der Entziehung, Verwaltung und Verwertung jüdischen Vermögens, dargestellt am Beispiel jüdischer Ärzte Münchens, in: Bar-Chen, Eli/Kauders, Anthony D. (Hrsg.), Jüdische Geschichte. Alte Herausforderungen, neue Ansätze, München 2003, S. 143-166. Drecoll, Axel, Die »Entjudung« der Münchner Ärzteschaft 1933-1941, in: Baumann, Angelika/Heusler, Andreas (Hrsg.), München arisiert. Entrechtung und Enteignung der Juden in der NS-Zeit, München 2004, S. 70-86. Drecoll, Axel/Schleusener, Jan/Winstel, Tobias, Nationalsozialistische Verfolgung der jüdischen Ärzte in Bayern. Die berufliche Entrechtung durch die Vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz von 1938, München 1998.
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gesundheitswesen Drexler, Siegmund/Kalinski, Siegmund/Mausbach, Hans, Ärztliches Schicksal unter der Verfolgung 1933-1945 in Frankfurt am Main und Offenbach, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1990. Drexler-Gormann, Birgit, Jüdische Ärzte in Frankfurt am Main 1933-1945. Isolation, Vertreibung, Ermordung, Frankfurt/M. 2009. Eppinger, Sven, Das Schicksal der jüdischen Dermatologen Deutschlands in der Zeit des Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 2001. Feikes, Renate, Emigration jüdischer Wiener Ärzte ab 1938 in die USA, speziell nach New York, 2 Bde., Phil. Diss., Universität Wien 1999. Fischer, Klaus, Identification of emigration-induced scientific change, in: Ash, Mitchell G. (Hrsg.), Forced migration and scientific change: German-speaking émigré scientists and scholars after 1933, Cambridge 1995, S. 23-47. Grieser, Thomas, Jüdische Ärzte in Thüringen während des Nationalsozialismus 1933-1945, Med. Diss., Universität Jena 2003. Hahn, Judith/Schwoch, Rebecca, Anpassung und Ausschaltung: die Berliner Kassenärztliche Vereinigung im Nationalsozialismus, Berlin 2009. Hamann, Brigitte, Hitlers Edeljude: Das Leben des Armenarztes Eduard Bloch, München 2008. Heidel, Caris-Petra (Hrsg.), Ärzte und Zahnärzte in Sachsen 1933-1945. Eine Dokumentation von Verfolgung, Vertreibung, Ermordung, Frankfurt/M. 2005. Herrlich, Mario, Jüdische Ärzte in den Kreishauptmannschaften Dresden-Bautzen, Chemnitz und Zwickau vor und nach 1933 in Deutschland, Med. Diss., Universität Leipzig 1996. Hohmann, Carmen Cornelia, Ein jüdisches Professorenschicksal zwischen Hamburg und London: der Zahnmediziner Hans Jacob Türkheim (1889-1955), Berlin, Münster 2009. Hubenstorf, Michael, Vertreibung und Verfolgung. Zur Geschichte der österreichischen Medizin im 20. Jahrhundert, in: Das jüdische Echo 50 (2001), S. 277-288. Hubenstorf, Michael, Vertriebene Medizin – Finale des Niedergangs der Wiener Medizinischen Schule, in: Stadler, Friedrich (Hrsg.), Vertriebene Vernunft, Band II: Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930-1940, 2. Aufl., Münster [u. a.] 2004, S. 766-793. Jäckle, Renate, Schicksale jüdischer und »staatsfeindlicher« Ärztinnen und Ärzte nach 1933 in München, München 1988. Kröner, Hans-Peter, Die Emigration deutschsprachiger Mediziner im Nationalsozialismus, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 12 (1989), S. 1-35. Kröner, Hans-Peter, Die Emigration von Medizinern unter dem Nationalsozialismus, in: Bleker, Johann/Jachertz, Norbert (Hrsg.), Medizin im »Dritten Reich«, 2., erw. Aufl., Köln 1993, S. 78-86. Kümmel,Werner Friedrich, Die Ausschaltung rassisch und politisch mißliebiger Ärzte, in: Kudlien, Fridolf (Hrsg.), Ärzte im Nationalsozialismus, Köln 1985, S. 56-81. Leibfried, Stephan/Tennstedt, Florian, Berufsverbote und Sozialpolitik 1933. Die
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vertreibung jüdischer und »staatsfeindlicher« ärztinnen und ärzte Auswirkungen der nationalsozialistischen Machtergreifung auf die Krankenkassenverwaltung und die Kassenärzte. Analyse, Materialien zu Angriff und Selbsthilfe, Erinnerungen, Bremen 1979. Moltrecht, Mirjam, Dr. med. Łucja Frey: eine Ärztin aus Lwów 1889-1942: Rekonstruktion eines Lebens: zur bleibenden Erinnerung, Konstanz 2004. Müller, Thomas, Medizinische Expertise – zionistische Visionen: Ärztinnen und Ärzte als Immigranten in Palästina/Israel, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 28 (2005), S. 321-336. Niermann, Charlotte/Leibfried, Stephan, Die Verfolgung jüdischer und sozialistischer Ärzte in Bremen in der »NS-Zeit«, Bremen 1988. Oechsle, Renate, Leben und Werk des jüdischen Wissenschaftlers und Arztes Erich Benjamin, München 2004. Peters, Uwe Henrik, Emigration deutscher Psychiater nach England (Teil 1): England als Exilland für Psychiater, in: Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete 64 (1996), S. 161-167. Röder, Werner/Strauss, Herbert A. (Hrsg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, 3 Bde., München [u. a.] 1980-1983. Rohrbach, Jens Martin, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, Stuttgart, New York 2007. Rueß, Susanne, Stuttgarter jüdische Ärzte während des Nationalsozialismus, Würzburg 2009. Scholz, Albrecht/Heidel, Caris-Petra (Hrsg.), Emigrantenschicksale: Einfluss der jüdischen Emigranten auf Sozialpolitik und Wissenschaft in den Aufnahmeländern, Frankfurt/M. 2004. Seidler, Eduard, Kinderärzte 1933-1945. Entrechtet – geflohen – ermordet, Bonn 2000. Strauss, Herbert A. et al., Wissenschaftstransfer durch Emigration nach 1933, in: Historical Social Research 13 (1988), S. 111-121. Strauss, Herbert A. et al. (Hrsg.), Die Emigration der Wissenschaften nach 1933. Disziplingeschichtliche Studien, München, London, New York, Paris 1991. Villiez, Anna von, Mit aller Kraft verdrängt: Entrechtung und Verfolgung »nicht arischer« Ärzte in Hamburg 1933 bis 1945, München 2009.
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3.6 Krankenpflege Robert Jütte
Anfänge der Forschung Die Geschichte der Krankenpflege in der NS-Zeit darf inzwischen als recht gut bearbeitet gelten, wenngleich noch einige große Lücken zu beklagen sind. Um die Untersuchung der Krankenpflege in der Zeit zwischen 1933 und 1945 hat sich vor allem die früh verstorbene Pflegeforscherin Hilde Steppe verdient gemacht. 1981, fast zeitgleich mit Bemühungen, die Geschichte der Ärzteschaft im »Dritten Reich« aufzuarbeiten, erschien die erste Auflage des von ihr herausgegebenen Sammelbandes zur Geschichte der Krankenpflege im Nationalsozialismus. Er liegt mittlerweile in neunter und stark überarbeiteter Auflage vor. Bereits in der dritten Auflage werden die wesentlichen, auch für die weitere Forschung relevanten Themenbereiche benannt: »Gleichschaltung« und Ideologisierung der Krankenpflegeverbände, Krankenpflegeausbildung, Kriegskrankenpflege sowie Beteiligung am Krankenmord.1
»Gleichschaltung« und Neuorganisation der Krankenpflege Die Neuorganisation der Krankenpflege nach 1933 ist von Hilde Steppe untersucht worden. In ihrem bahnbrechenden Aufsatz zur Entwicklung der Krankenpflege im »Dritten Reich« zeigte sie auf, dass es den Nationalsozialisten nicht nur um eine Vereinheitlichung und organisatorische Straffung der zahlreichen Berufsverbände von Krankenpflegerinnen ging, sondern auch um eine inhaltliche »Gleichschaltung« mit dem Ziel, den Einfluss der kirchlichen Verbände zurückzudrängen.2 Der 1936 eingerichtete und dem Innenministerium und der Partei unterstehende »Fachausschuss für Schwesternwesen« umfasste fünf große Schwesternverbände: 1. die NS-Schwesternschaft (»Braune« Schwestern), 2. den Reichsbund freier Schwestern und Pflegerinnen (»Blaue« Schwestern),
1 Steppe/Koch/Weisbrod-Frey, 1986; Steppe, 2001. 2 Steppe, 1989a.
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3. die Schwesternschaft des Roten Kreuzes, 4. die Diakoniegemeinschaft und 5. den Caritasverband.3 Von diesen fünf Verbänden sind die sogenannten »Braunen Schwestern« am besten erforscht. Die Freiburger geschichtswissenschaftliche Dissertation von Birgit Breiding weist auf einer breiten archivalischen Quellengrundlage nach, wie eine Schwesternschaft als nationalsozialistischer Orden konzipiert und entsprechend organisiert wurde.4 Deutlich wird in dieser Arbeit auch, welche Funktionen die »Braunen Schwestern«, wie sie nach ihrer Tracht im Volksmund genannt wurden, übernahmen, z. B. in der Gemeindepflege. Ein besonderes Augenmerk richtet diese Studie auf die vielfältige Zusammenarbeit mit der SS, sei es in deren Lazaretten oder in »Lebensborn«-Heimen. Auch die Beteiligung der NS-Schwesternschaft an den Krankenmorden in Heil- und Pflegeanstalten und in »Kinderfachabteilungen« sowie ihr Einsatz in Frauenkonzentrationslagern ist Gegenstand der Untersuchung. Ebenfalls gut erforscht ist die Geschichte des Evangelischen Diakonievereins im »Dritten Reich«. Liselotte Katscher zeichnet die organisatorischen Veränderungen nach 1933 nach und macht deutlich, in welchem Umfang die Nationalsozialisten die evangelischen Schwesternschaften aus der Krankenpflege zu verdrängen versuchten.5 Davon war insbesondere die bis dahin starke Position der Diakonie in der Gemeindepflege betroffen. Außerdem zeigt sich, welche Wirkung das Gesetz zur Ordnung der Krankenpflege vom 28. September 1938 auf die Ausbildung im Evangelischen Diakonieverein hatte und welche neuen Arbeitsfelder (z. B. bei Trägern nichtkonfessioneller Krankenhäuser) sich in der Zeit zwischen 1933 und 1939 ergaben. Auch auf die sich verschlechternden Arbeitsbedingungen in der Krankenpflege (Überlastung, schlechte Bezahlung) geht diese vorbildliche Studie kurz ein. Von derselben Autorin stammt eine Fortsetzung, die die Geschichte des Diakonievereins für die Zeit von 1939 bis Ende 1944 fortschreibt und dabei vor allem auf den Beitrag der evangelischen Schwesternschaft zur Krankenpflege unter Kriegsbedingungen eingeht.6 Kaum erforscht ist dagegen die Geschichte des Verbandes der freien Schwestern. Grundzüge seiner Geschichte sowie Hinweise auf einschlägige Quellen finden sich in den genannten Arbeiten zu den »Braunen Schwestern« und zum Evangelischen Diakonieverein. 3 4 5 6
Zur konfessionellen Krankenpflege vgl. Kapitel 3.3. Breiding, 1998. Katscher, 1990; Lauterer, 1994. Katscher, 1992.
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Zu einem der größten Schwesternverbände, den im Caritasverband zusammengeschlossenen katholischen Schwestern (1936: 80.000 Ordensschwestern und 40.000 hauptberufliche Laienkräfte), fehlt es ebenfalls noch an Forschung.7 Zum »Arbeitgeber«, dem Caritasverband, existiert eine vorzügliche und umfangreiche Studie von Peter Hammerschmidt, die die Geschichte der konfessionellen Wohlfahrtsverbände im Dritten Reich breit dokumentiert und dabei einen Vergleich zwischen Caritas und Innerer Mission zieht. Dabei geht es auch um das Konfliktfeld der Gemeinde(kranken)pflege, aus dem die konfessionellen Schwesternschaften verdrängt werden sollten. Hammerschmidt kommt zu dem Ergebnis, dass die nationalsozialistischen Entkonfessionalisierungsbestrebungen auf diesem Sektor gänzlich scheiterten und dass sich trotz der Konkurrenz auf dem Gebiet der Krankenpflege »zwischen der Inneren Mission und dem Caritasverband auf der einen Seite und der NSV [Nationalsozialistische Volkswohlfahrt] auf der anderen Seite eine überaus enge Kooperation«8 ergab. Wenngleich zur Geschichte des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) im »Dritten Reich« und insbesondere während des Zweiten Weltkriegs inzwischen einige neuere Studien vorliegen,9 so wird die Geschichte der Schwesternvereinigungen des DRK darin meist nur am Rande behandelt. Eine Ausnahme bildet die Überblicksdarstellung von Horst Seithe und Frauke Hagemann, die ein eigenes, wenn auch sehr knapp gehaltenes Kapitel dazu enthält.10 Aus dieser Studie geht hervor, dass 1933 über 9700 DRK-Schwestern in 57 Mutterhäusern organisiert waren. Auch in diesem Fall erfolgte eine organisatorische und funktionale Einbindung in das nationalsozialistische Gesundheitswesen, die kaum noch Raum für Eigenständigkeit ließ. Weiterhin weisen Seithe und Hagemann nach, wie sehr die DRK-Schwestern bereits ab 1934 in die indirekte und direkte Kriegsvorbereitung involviert waren und wie mit Kriegsbeginn die ideologische Vereinnahmung für das Regime forciert wurde. Stärker auf den Kriegseinsatz der DRK-Schwestern gehen Birgit Morgenbrod und Stephanie Merkenich in ihrer auf einer breiten Quellen- und Literaturbasis beruhenden Gesamtdarstellung der Geschichte des Deutschen Roten Kreuzes während der NS-Zeit ein.11 Aufgezeigt werden die neuen Rahmenbedingungen für die »freiwillige Krankenpflege« im Zweiten 7 8 9 10 11
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Otte, 2001. Hammerschmidt, 1999, S. 464. Riesenberger, 2002. Seithe/Hagemann, 2001. Morgenbrod/Merkenich, 2008.
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Weltkrieg sowie die Organisation und die Struktur des DRK-Einsatzes in der Kriegsverwundetenfürsorge. Aber auch der Einsatz von Krankenschwestern und Sanitätern an der »Heimatfront« wird thematisiert. Dazu gehört beispielsweise der Dienst in Fremd- und Zwangsarbeiterlagern.
Krankenpflegeausbildung Ein wichtiges Instrument nationalsozialistischer Indoktrinationsversuche war die Krankenpflegeausbildung. Die Grundlage schufen neue Gesetze und Verordnungen, eine stärkere staatliche Kontrolle der Krankenpflegeschulen, die Ausbildung an NS-Schwesternschulen, Veränderungen der Ausbildungsinhalte (Erweiterung um »Erb- und Rassenkunde«) sowie die Einflussnahme auf neue Lehrbücher, wie bereits Herbert Weisbrod-Frey in einem Übersichtsartikel gezeigt hat.12 Wie diese weltanschaulich geprägte Ausbildung aussah, belegt ein Quellenband, den Ulrike Gaida zusammengestellt und kommentiert hat.13 Deutlich wird unter anderem, welchen hohen Stellenwert rassenkundliche Inhalte in der Krankenpflegeausbildung nach 1933 bekamen. Was dieser veränderte Lehrplan in der Praxis, insbesondere in der Psychiatriepflege, bedeutete, zeigt eine amerikanische Studie, die Ausbildung und spätere Tätigkeit miteinander in Verbindung setzt.14 Wie der Unterricht in »Weltanschauung« und »Berufsehre und Berufskunde« in Österreich nach dem »Anschluss« im Jahre 1938 gestaltet wurde, dazu findet man zahlreiche Details in der Studie von Gerhard Fürstler und Peter Malina zur Geschichte der Krankenpflege in Österreich in der NS-Zeit.15
Arbeitsbedingungen jüdischer Krankenschwestern Mit der »Gleichschaltung« der Krankenpflegeverbände erfolgte auch die gezielte Ausgrenzung jüdischer Krankenschwestern. Es ist vor allem das Verdienst von Hilde Steppe, auf dieses dunkle Kapitel in der Geschichte der Krankenpflege aufmerksam gemacht zu haben. Der kurze Abschnitt in ihrer Gesamtdarstellung, der von der jüdischen Krankenpflege nach 12 13 14 15
Weisbrod-Frey, 1989. Gaida, 2006. McFarland-Icke, 1999. Fürstler/Malina, 2004.
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1933 handelt, ist bis heute ein Standardtext zu dieser Problematik.16 Darin wird auch auf Einzelschicksale eingegangen. In Studien zur Geschichte jüdischer Krankenhäuser bzw. Kinderheime in der NS-Zeit finden sich ebenfalls wichtige Bausteine zu einer Geschichte der jüdischen Krankenpflege unter dem NS-Regime.17 Vorbildlich ist in dieser Hinsicht eine Geschichte des Kölner jüdischen Krankenhauses.18 Was die Berufsgruppe der jüdischen Krankenschwestern gerade in der Zeit des Nationalsozialismus zu erdulden hatte und unter widrigsten Umständen an Dienstleistungen zu erbringen vermochte, wird in den Kapiteln, die von der Zeit zwischen 1933 und 1945 handeln, deutlich. Die Perspektive der Verfolgten und Ausgegrenzten lässt sich inzwischen auch anhand einiger weniger Quelleneditionen einnehmen. Es handelt sich dabei meist um Ego-Dokumente von einzelnen jüdischen Krankenschwestern.19 Zu den schwierigen Bedingungen, unter denen diese Berufsgruppe im KZ Theresienstadt arbeiten musste, liegt inzwischen eine Spezialstudie einer amerikanischen Pflegewissenschaftlerin vor.20 Inwieweit jüdische Krankenschwestern auch in anderen Konzentrationslagern oder in Ghettos pflegerisch tätig werden konnten, muss noch erforscht werden. Dazu gibt es bislang nur einen Übersichtsartikel21 und Hinweise in der Sekundärliteratur zur nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie.22
Widerstand des Pflegepersonals Der Widerstand des Pflegepersonals ist bislang, wie es Hilde Steppe im Untertitel ihres gleichnamigen Aufsatzes aus dem Jahre 1989 treffend gekennzeichnet hat, nur »fragmentarisch« erforscht worden.23 Beispiele für ein solches Verhalten finden sich insbesondere in einzelnen Fallstudien zur Geschichte der Krankenpflege in der NS-Zeit oder der Geschichte von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Doch fehlt weiterhin eine systematische Darstellung, die auf Handlungsoptionen und Rahmenbedingungen für einen Widerstand vergleichend eingeht. Ein erster 16 17 18 19 20 21 22 23
Steppe, 1997, S. 172-178. Hartung-von Doetinchem/Winau, 1989; Littmann-Hotopp, 1996. Becker-Jákli, 2004. Felgentreff, 1973; Weglein, 1988. Brush, 2004. Brush, 2002. Z. B. Roland, 1992. Steppe, 1989b.
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Versuch in dieser Richtung war eine nur schwer zugängliche Abschlussarbeit an der Fachhochschule für Pflege in Frankfurt.24 Diese Untersuchung, die sich auf Angaben von Zeitzeugen und Einzelpersonen sowie auf Kontakte mit Arbeitsgruppen stützt, gibt einen Überblick über Fälle, in denen Krankenschwestern und Krankenpfleger Widerstand leisteten, und versucht eine zusammenfassende Bewertung. Dass Widerstand eher ein Ausnahmeereignis war, dem Verdrängung und Sprachlosigkeit nach Ende des Krieges folgten, zeigen einschlägige Quellensammlungen25 sowie Arbeiten zur Geschichte der Behindertenfürsorge.26 Einzelbeispiele für Widerstand finden sich auch in der Zeitschriftenliteratur.27
Kriegskrankenpflege Die Geschichte der Kriegskrankenpflege ist bislang vor allem mit Blick auf das Deutsche Rote Kreuz behandelt worden.28 Dass andere Schwesternschaften am Kriegseinsatz gleichfalls beteiligt waren, macht ein Foto- und Quellenband deutlich, der eine Fülle von Texten und Bildern zum Zweiten Weltkrieg enthält. Neben gedruckten und ungedruckten Erinnerungen sind vor allem Tagebücher und Feldpostbriefe29 ergiebige Quellen.30 Während diese weitgehend unkommentiert präsentiert werden, finden sich in einem anderen Band zur Geschichte der Krankenpflege nicht nur Kommentare zu den relevanten Quellen, sondern auch weiterführende Literaturhinweise.31 Wichtige Einzelquellen, die als Edition vorliegen, sind die Briefe bzw. Aufzeichnungen von Krankenschwestern an der Ostfront32 und die Dokumentation der Verhandlungen des deutschen Episkopats mit der Reichsregierung über die Inanspruchnahme des Krankenpflegepersonals katholischer Ordensgenossenschaften im Kriegsfall.33 Die Bedeutung der zivilen Krankenpflege für die Kriegsgesellschaft ist ein Aspekt der Geschichte des Zweiten 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33
Kiel-Römer/Süß/Schmidt, 1989. Kuhn/Rothe, 1982. Wunder/Sierck, 1982. Benedict, 2006. Forrer, 1962; Duesterberg, 1989; Pfaff, 1997; Morgenbrod/Merkenich, 2008. Ochsenknecht, 2004. Panke-Kochinke/Schaidhammer-Placke, 2002. Hähner-Rombach, 2008. Penkert/Ebert, 2006. Borengässer/Hainbuch, 1987.
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Weltkriegs, der noch nicht ausreichend erforscht ist.34 Eine im Entstehen begriffene pflegegeschichtliche Dissertation von Klaus Brühne nimmt aus unterschiedlichen Perspektiven das Feld der Krankenpflege in den Blick, das noch von konfessionell gebundenen Mutterhausschwestern geprägt war. Es werden nicht nur die politisch- und militärisch-administrativen Rahmenbedingungen für die Kriegskrankenpflege untersucht. Im Blickpunkt steht insbesondere die Pflegepraxis unter wechselnden Kriegsbedingungen.35 Die Krankenpflege in Spitälern und Universitätskliniken unter Kriegsbedingungen ist ebenfalls bislang kaum erforscht worden.36
Beteiligung an der »Euthanasie« Die Beteiligung von Schwestern und Pflegern an der »Euthanasie«, die sich bekanntlich nicht nur auf die sogenannte »T4-Aktion« beschränkte, wurde ebenfalls noch nicht systematisch aufgearbeitet.37 Einen ersten Einstieg in die Literatur und in die Quellen (Prozessakten, Zeitzeugeninterviews) bietet Ulrike Gaida.38 Sie bringt neun Fallbeispiele, die nicht nur die Motive und Hintergründe für die Verstrickung in den Krankenmord aufzeigen, sondern durchaus auch Möglichkeiten des Widerstandes und des Helfens erkennen lassen (Fälle 8 und 9). Auch die Übersichtsdarstellung von Michael Burleigh geht an mehreren Stellen auf die Beteiligung von Pflegepersonal an den Tötungsaktionen ein, ohne aber dieser Berufsgruppe ein eigenes Kapitel zu widmen.39 Für einzelne Anstalten ist dagegen die Rolle der Krankenschwestern und -pfleger bei der Tötung von Patienten schon separat aufgearbeitet worden, so z. B. für die Heil- und Pflegeanstalten Hadamar und Galkhausen.40 Auch in zeitgeschichtlichen Dokumentationen finden sich entsprechende Quellen.41 Vereinzelt liegen biographische Untersuchungen vor, die verdeutlichen, dass es möglich war, sich der Beteiligung am Krankenmord zu entziehen 34 Süß, 2007. 35 http://www.igm-bosch.de/content/language1/html/11696.asp, letzter Zugriff 30.9. 2010. 36 Krähwinkel, 2001. 37 McFarland-Icke, 1999; Steppe/Ulmer, 2001. 38 Gaida, 2006, S. 39-52. 39 Burleigh, 2002. 40 Wettlaufer, 1986; Graf, 1987. 41 Hohmann, 1993.
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oder sogar Widerstand zu leisten. So hat beispielsweise Wolfgang Neugebauer die Gewissensgründe herausgearbeitet, die eine österreichische Ordensschwester, Anna Berta Königsegg, dazu veranlassten, Widerstand gegen den Massenmord an geistig und körperlich Behinderten zu leisten.42 Der Konflikt der Berufsethik, der sich in diesen Fällen widerspiegelt, ist vor dem Hintergrund der Ausbildung des psychiatrischen Pflegepersonals von Bronwyn McFarland-Icke untersucht worden.43 In den »Euthanasie«-Prozessen, in denen nach 1945 der Krankenmord gesühnt und Täter und Täterinnen zur Rechenschaft gezogen werden sollten, saßen vielfach auch Krankenpfleger und Krankenschwestern auf der Anklagebank.44 Die wenigen Studien, die ausschließlich die Beteiligung des Pflegepersonals in den Blickpunkt rücken, beschränken sich zumeist auf Österreich.45
»Entnazifizierung« Im Vergleich zu den NS- bzw. »Euthanasie«-Prozessen ist dagegen das Thema der »Entnazifizierung« des Pflegepersonals in der Forschung kaum präsent, obwohl Hilde Steppe bereits früh auf dieses Desiderat aufmerksam gemacht hat. Zu diesem »noch ungeschriebenen Kapitel der deutschen Pflege« 46 liegen bislang nur eine im Hilde-Steppe-Archiv zugängliche geschichtswissenschaftliche Hausarbeit sowie ein kurzer Übersichtsartikel vom selben Autor vor.47 Inzwischen existiert auch eine vorbildliche Fallstudie zu einer westfälischen Heilanstalt.48 Gleichwohl bedarf es noch mehr Forschung zu Kontinuitäten nach 1945, besonders in der Psychiatriepflege.
42 43 44 45 46 47 48
Neugebauer, 1999; Ruttensteiner-Poller, 2003. McFarland-Icke, 1997. Ebbinghaus, 1996, S. 273-376; Garscha, 2001; Mildt, 2009. Fürstler/Malina, 2004, S. 149-354; Walter, 2003. Steppe, 1989c. Wiedemann, 1995, 1999. Hanrath, 2002, S. 84-90.
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Literatur Becker-Jákli, Barbara, Das jüdische Krankenhaus in Köln. Die Geschichte des Israelitischen Asyls für Kranke und Altersschwache 1869-1945, Köln 2004. Benedict, Susan, Maria Stromberger. A nurse in the resistance in Auschwitz, in: Nursing History Review 14 (2006), S. 189-202. Borengässer, Norbert M./Hainbuch, Friedrich (Hrsg.), Krankenpflege im Kriegsfall. Die Verhandlungen des deutschen Episkopats mit der Reichsregierung 1936 bis 1940, Bonn 1987. Breiding, Birgit, Die Braunen Schwestern. Ideologie, Struktur, Funktion einer nationalsozialistischen Elite, Stuttgart 1998. Brush, Barbara L., Caring for life. Nursing during the Holocaust, in: Nursing History Review 10 (2002), S. 69-82. Brush, Barbara L., Nursing care and context in Theresienstadt, in: The Western Journal of Nursing Research 26 (2004), S. 860-871. Burleigh, Michael, Tod und Erlösung: Euthanasie in Deutschland 1900-1945. Aus dem Engl. von Christoph Münz, Zürich 2002. Duesterberg, Daniela, Pflege im 2. Weltkrieg, in: Steppe, Hilde (Hrsg.), Krankenpflege im Nationalsozialismus, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1989, S. 106-124. Ebbinghaus, Angelika (Hrsg.), Opfer und Täterinnen. Frauenbiographien des Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1996. Felgentreff, Ruth, Ist verpflichtet den Judenstern zu tragen: eine Dokumentation über die Diakonissen Johanne und Erna Aufricht; Kaiserswerth, Theresienstadt, Auschwitz, Wuppertal 1973. Forrer, Friedrich, Sieger ohne Waffen. Das Deutsche Rote Kreuz im Zweiten Weltkrieg, Hannover 1962. Fürstler, Gerhard/Malina, Peter, »Ich tat nur meinen Dienst«. Zur Geschichte der Krankenpflege in Österreich in der NS-Zeit, Wien 2004. Gaida, Ulrike, Zwischen Pflegen und Töten. Krankenschwestern im Nationalsozialismus. Einführung und Quellen für Unterricht und Studium, Frankfurt/M. 2006. Garscha, Winfried R., Euthanasie-Prozesse seit 1945 in Österreich und Deutschland. Gerichtsakten als Quelle zur Geschichte der NS-Euthanasie und zum Umgang der Nachkriegsgesellschaft mit Tätern und Opfern, in: Horn, Sonia/ Malina, Peter (Hrsg.), Sozialgeschichte der Medizin. Medizin im Nationalsozialismus, Wien 2001, S. 46-58. Graf, Hendrik, Die Situation der Patienten und des Pflegepersonals der rheinischen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Leipert, Matthias/Styrnal, Rudolf/Schwarzer, Winfried (Hrsg.), Verlegt nach unbekannt. Sterilisation und Euthanasie in Galkhausen, 1933-1945, Köln 1987, S. 39-52. Hähner-Rombach, Sylvelyn (Hrsg.), Quellen zur Geschichte der Krankenpflege: mit Einführungen und Kommentaren, unter Mitarb. von Christoph Schweikardt, Frankfurt/M. 2008. Hammerschmidt, Peter, Die Wohlfahrtsverbände im NS-Staat. Die NSV und
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krankenpflege die konfessionellen Verbände Caritas und Innere Mission im Gefüge der Wohlfahrtspflege des Nationalsozialismus, Opladen 1999. Hanrath, Sabine, Zwischen »Euthanasie« und Psychiatriereform: Anstaltspsychiatrie in Westfalen und Brandenburg; ein deutsch-deutscher Vergleich (19451964), Paderborn 2002. Hartung-von Doetinchem, Dagmar/Winau, Rolf, Zerstörte Fortschritte: das Jüdische Krankenhaus in Berlin 1756 – 1861 – 1914 – 1989, Berlin 1989. Hohmann, Joachim S. (Hrsg.), Der »Euthanasie«-Prozeß Dresden 1947. Eine zeitgeschichtliche Dokumentation, Frankfurt/M. 1993. Katscher, Liselotte, Krankenpflege und »Drittes Reich«. Der Weg der Schwesternschaft des Evangelischen Diakonievereins 1933-1939, Stuttgart 1990 (2. Aufl. 1994). Katscher, Liselotte, Krankenpflege und Zweiter Weltkrieg. Der Weg der Schwesternschaft des Evangelischen Diakonievereins Herbst 1939-Ende 1944, Stuttgart 1992. Kiel-Römer, Ursula/Süß, Martina/Schmidt, Renate, Widerstand der Krankenpflege im Nationalsozialismus, Diplomarbeit, Fachhochschule für Pflege Frankfurt/M. 1989. Krähwinkel, Esther, Das Pflegepersonal im Krieg, in: Aumüller, Gerhard et al. (Hrsg.), Die Marburger Medizinische Fakultät im »Dritten Reich«, München 2001, S. 583-586. Kuhn, Annette/Rothe, Valentine (Hrsg.), Frauenarbeit und Frauenwiderstand im NS-Staat: eine Quellensammlung mit fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Kommentaren, Düsseldorf 1982. Lauterer, Heide-Marie, Liebestätigkeit für die Volksgemeinschaft. Der Kaiserswerther Verband Deutscher Diakonissenmutterhäuser in den ersten Jahren des NS-Regimes, Göttingen 1994. Littmann-Hotopp, Ingrid, Bei Dir findet das verlassene Kind Erbarmen. Zur Geschichte des ersten jüdischen Säuglings- und Kleinkinderheims in Deutschland (1907-1942), Berlin 1996. McFarland-Icke, Bronwyn, Zur beruflichen Erziehung des psychiatrischen Pflegepersonals im Nationalsozialismus. Ethische und administrative Fragen, in: Hamann, Matthias/Asbeck, Hans (Hrsg.), Halbierte Vernunft und totale Medizin. Zu Grundlagen, Realgeschichte und Fortwirkungen der Psychiatrie im Nationalsozialismus, Berlin, Göttingen 1997, S. 131-148. McFarland-Icke, Bronwyn, Nurses in Nazi Germany. Moral choice in history, Princeton/N.J. [u. a.] 1999. Mildt, Dirk Welmoed de (Hrsg.), Tatkomplex NS-Euthanasie. Die ost- und westdeutschen Strafurteile seit 1945, Bd. 1, Amsterdam 2009. Morgenbrod, Birgit/Merkenich, Stephanie, Das Deutsche Rote Kreuz unter der NS-Diktatur 1933-1945, Paderborn 2008. Neugebauer, Wolfgang, »Unser Gewissen verbietet uns, in dieser Aktion mitzuwirken«. Der NS-Massenmord an geistig und körperlich Behinderten und der Widerstand der Schwester Anna Berta Königsegg, in: Jahrbuch des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) in Wien (1999), S. 71-79.
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gesundheitswesen Ochsenknecht, Ingeborg, »Als ob der Schnee alles zudeckte«. Eine Krankenschwester erinnert sich. Kriegseinsatz an der Ostfront. Aufgezeichnet von Fabienne Pakleppa, München 2004. Otte, Hans (Hrsg.), Caritas und Diakonie in der NS-Zeit. Beispiel aus Niedersachsen, Hildesheim 2001. Panke-Kochinke, Birgit/Schaidhammer-Placke, Monika, Frontschwestern und Friedensengel: Kriegskrankenpflege im Ersten und Zweiten Weltkrieg; ein Quellen- und Fotoband, Frankfurt/M. 2002. Penkert, Brigitte/Ebert, Jens (Hrsg.), Briefe einer Rotkreuzschwester von der Ostfront, Göttingen 2006. Pfaff, Anne Elisabeth, Krankenpflege im Nationalsozialismus – Die Kriegskrankenpflege und der Einsatz von Schwesternhelferinnen und Schwestern, Jahresarbeit, Krankenpflegehochschule des Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverbandes Marburg/Lahn 1997. Riesenberger, Dieter, Das Deutsche Rote Kreuz. Eine Geschichte 1864-1990, Paderborn [u. a.] 2002. Roland, Charles G., Courage under siege: starvation, disease, and death in the Warsaw Ghetto, New York 1992. Ruttensteiner-Poller, Bettina, »Denn unser Gewissen verbietet uns, in dieser Aktion mitzuwirken«. Widerstand am Beispiel von Anna Berta Königsegg, in: Keplinger, Brigitte (Hrsg.), Wert des Lebens. Gedenken – Lernen – Begreifen, Linz 2003, S. 116-123. Seithe, Horst/Hagemann, Frauke, Das Deutsche Rote Kreuz im Dritten Reich (1933-1939): mit einem Abriß seiner Geschichte in der Weimarer Republik, 2. Aufl., Frankfurt/M. 2001. Steppe, Hilde, Krankenpflege ab 1933, in: Steppe, Hilde (Hrsg.), Krankenpflege im Nationalsozialismus, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1989, S. 49-73 [Steppe, 1989a]. Steppe, Hilde, Widerstand des Pflegepersonals, in: Steppe, Hilde (Hrsg.), Krankenpflege im Nationalsozialismus, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1989, S. 180-183 [Steppe, 1989b]. Steppe, Hilde, Entnazifizierung, in: Steppe, Hilde (Hrsg.), Krankenpflege im Nationalsozialismus, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1989, S. 184-189 [Steppe, 1989c]. Steppe, Hilde, »…den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre…«. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland, Frankfurt/M. 1997. Steppe, Hilde (Hg.), Krankenpflege im Nationalsozialismus, 9. Aufl., Frankfurt/M. 2001. Steppe, Hilde/Koch, Franz/Weisbrod-Frey, Herbert, Krankenpflege im Nationalsozialismus, 3., überarb. und erw. Aufl., Frankfurt/M. 1986. Steppe, Hilde/Ulmer, Eva-Marie (Hrsg.), »Ich war von jeher mit Leib und Seele gerne Pflegerin«. Über die Beteiligung von Krankenschwestern an den »Euthanasie«-Aktionen in Meseritz-Obrawalde, 2. Aufl., Frankfurt/M. 2001. Süß, Winfried, Antagonistische Kooperationen. Katholische Kirche und nationalsozialistische Gesundheitspolitik, in: Hummel, Karl-Josef/Kösters, Christoph (Hrsg.), Kirchen im Krieg 1939-1945, Paderborn [u. a.] 2007, S. 317-342.
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krankenpflege Walter, Ilsemarie, Nachkriegsprozesse gegen PflegerInnen wegen Mitwirkung an der NS-Euthanasie: Vergleich Österreich-Deutschland, München 2003. Weglein, Resi, Als Krankenschwester im KZ Theresienstadt. Erinnerungen einer Ulmer Jüdin. Herausgegeben und mit einer Zeit- und Lebensbeschreibung versehen von Silvester Lechner und Alfred Moos, Stuttgart 1988. Weisbrod-Frey, Herbert, Krankenpflegeausbildung im 3. Reich, in: Steppe, Hilde (Hrsg.), Krankenpflege im Nationalsozialismus, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1989, S. 74-99. Wettlaufer, Antje, Die Beteiligung von Schwestern und Pflegern an den Morden in Hadamar, in: Roer, Dorothee/Henkel, Dieter (Hrsg.), Psychiatrie im Faschismus, Bonn 1986, S. 318-321. Wiedemann, Bernhard, Entnazifizierung in der Krankenpflege. Hausarbeit, Historisches Seminar, Universität Heidelberg 1995. Wiedemann, Bernhard, Entnazifizierung der deutschen Krankenpflege nach 1945: Die Vergangenheit wurde nur mühsam bewältigt, in: Pflegezeitschrift 3 (1999), S. 201-204. Wunder, Michael/Sierck, Udo (Hrsg.), Sie nennen es Fürsorge: Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand, Berlin 1982.
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4 Medizinische Forschung 4.1 Universitäten, Studierende, Medizinische Fakultäten Wolfgang U. Eckart Verglichen mit anderen öffentlichen Einrichtungen hat sich die Machtübernahme der nationalsozialistischen Diktatur an den Universitäten, vergleichbaren Hochschuleinrichtungen und Fakultäten des Reichs in verblüffender Geschwindigkeit vollzogen. Es ist auch vor diesem Hintergrund erstaunlich, wie spät die »braune Universität« und ihre Gliederungen im Nachkriegsdeutschland zum Gegenstand der öffentlichen universitären Debatte und auf deren Grundlage zum Gegenstand der Forschung wurden. So geriet die nationalsozialistische Hochschule auf breiterer Front erst seit Mitte der 1960er Jahre ins Blickfeld der historischen Forschung, die Gruppe der Professoren in den 1980er und die Studentenschaft – von wenigen Ausnahmen abgesehen – erst seit den 1990er Jahren.
Verspätete Anfänge Den vielfältigen Gründen für die späte Rezeption des politischen und wissenschaftlichen Alltags an Universitäten und Fakultäten kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Der schmerzhafte Prozess der von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs erzwungenen und halbherzig realisierten »Säuberung« und reeducation, der lange Weg hin zu einer restaurativen, eher auf das Kaiserreich als auf Weimar gerichteten ›neuen‹ Identität, zurück zu den abgeschlossenen Strukturen der autoritativen Ordinarienuniversität, mögen hierzu ebenso beigetragen haben wie Prozesse der unbewussten Verdrängung oder der bewussten Verleugnung einer dem NS-Staat willfährig subordinierten und vom Staat in Dienst genommenen Universität zwischen 1933 und 1945. Diese Situation änderte sich in der ersten Hälfte der 1960er Jahre mit dem Entstehen kritischer Positionen in der Studentenschaft, die auch sich selbst, wie etwa in Freiburg,1 oder das Schicksal jüdischer Studierender während der NS-Zeit2 in den Blick nahm. 1 Pringsheim, 1960. 2 Götz von Olenhusen, 1964.
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Dass diese Neuorientierung der Forschung bereits durch den allmählichen Rückzug der in die Ereignisse des »Dritten Reiches« unmittelbar involvierten Personen aus dem aktiven Berufsleben bedingt war, darf für die 1960er Jahre wohl noch nicht konstatiert werden. Auch bestanden durchaus noch Treueverhältnisse zwischen Hochschullehrern und -schülern, die bis weit in die 1990er Jahre fortwirken sollten. Zweifellos zu beobachten ist aber eine sich mit der allgemeinen Zunahme struktur- und personenkritischer Tendenzen in der Vor-68er-Zeit abzeichnende Veränderung des gesellschaftlichen Gesamtklimas an der westdeutschen Universität. Sie hat allmählich auch zu einer verstärkten Sensibilisierung insbesondere für den mörderischen Rassismus der NSIdeologie geführt, die den Blick auf weitergehende Fragen öffnete: Warum konnte die Institution Universität mit ihren Fakultäten hier so eklatant versagen, tradierte Wertmaßstäbe verleugnen, sich in Forschung und Lehre praktisch widerstandslos unter das Joch der Diktatur begeben und zu Handlangern von Mord, Verstümmelung oder Vertreibung machen lassen, sich nicht mit entrechteten und verjagten Kollegen solidarisieren? Den Anstoß für eine zunächst ausschließlich auf die Ordinarien gerichtete Inkriminierung NS-belasteter Hochschullehrer gab möglicherweise ein kritischer Aufsatz von Hermann L. Gremliza aus Tübingen, der 1964 unter dem Titel »Die braune Universität« in der Studentenzeitung »Notizen« erschien.3 Er führte zunächst zu heftigsten Gegenreaktionen seitens der Professorenschaft, im Wintersemester 1964/65 aber auch zur ersten Ringvorlesung deutscher Hochschullehrer über Antisemitismus, NS-Geschichtsklitterung, NS-Volksideologie und NS-Kunst sowie über die medizinisch relevanten Themen »Euthanasie« und Sterilisation; unter den Vortragenden befanden sich Hans Rothfels, Ralf Dahrendorf und Walter Jens, worüber der »Spiegel« in seiner Ausgabe vom 19.8.19644 berichtete. Das Vorbild der Universität Tübingen, die ihre Ringvorlesung 1965 publizierte,5 führte alsbald auch in Berlin,6 München7 und Heidelberg zu ähnlichen Vorlesungsreihen und Publi-
3 4 5 6 7
Vgl. Adam, 1977. Der Spiegel H. 34 vom 19.8.1964, S. 28f. Flitner/Diem, 1965. Abendroth, 1966. Kuhn, 1966; vgl. für die Professorenschaft am Vorabend der NS-»Machtergreifung« Bleuel, 1968.
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kationen,8 die allerdings auch bald bereits als Ausdruck eines »hilflosen Antifaschismus«9 in die Kritik gerieten. Nach diesem Auftakt folgten, wenngleich mit zum Teil erheblicher Verzögerung,10 an diesen und anderen Universitäten Ringvorlesungen, Einzelinitiativen oder Universitätsjubiläen, die zu vergleichbaren Veröffentlichungen führten, wie etwa im Umfeld des Universitätsjubiläums in Heidelberg 1986,11 wo es allerdings nach diesem zweiten schwierigen Anlauf, sich dem Schicksal der Universität und ihrer Fakultäten im Nationalsozialismus zu nähern, weitere 20 Jahre bis zu einer Gesamtdarstellung der Ruprecht-Karls-Universität im Nationalsozialismus12 dauern sollte. Die meisten dieser Studien zur Universität im Nationalsozialismus enthielten auch Kapitel zur Rolle der Rektorate, Studierenden, Fakultäten oder Vertriebenen, ohne dass diesen Gruppen oder Organisationseinheiten im Gesamtkontext eine besondere Stellung zuteilgeworden wäre. Sie fügten sich vielmehr als Teile in das allmählich wahrgenommene Ganze der »braunen Universität«. Dezidierte Studien wurden den Professoren13 und Studierenden14 der Universitäten unmittelbar vor oder während der NS-Diktatur erst seit 8 Allein die Vorlesungsreihe in Heidelberg fand keinen gemeinsamen Publikationsort. Einzelne Vorträge wurden anderenorts publiziert, etwa der von Alexander Mitscherlich über »Menschenversuche im Dritten Reich« im Hessischen Rundfunk (ausgestrahlt am 18.2.1966) und im Rahmen der Reihe »Mainzer Universitätsgespräche« 1966/67. Vgl. Mitscherlich, 1967; Mitscherlich, 2007, S. 283. 9 Haug, 1967. 10 Deutschland allg.: Bleuel, 1968; Bayer/Sparing/Woelk, 2004; Biographisches Lexikon: Grüttner, 2004; Gießen: Böhles, 1982; Göttingen: Heinrich Becker, 1987; Hamburg: Bussche/Bottin, 1989; Krause, 1991; Bonn: Höpfner, 1999; Thomas Becker, 2008; Marburg: Nagel, 2000; Halle: Eberle, 2002; Jena: Hoßfeld et al., 2003; Hoßfeld, 2005; Berlin: Jahr/Schaarschmidt, 2005; Graz: Höflechner, 2006; Heidelberg: Eckart/Sellin/Wolgast, 2006; München: Kraus, 2006/2008; Rostock: Buddrus/Fritzlar, 2007; Frankfurt/Main: Kobes, 2008; Kiel: Cornelißen/Mish, 2009; Tübingen: Wiesing, 2010; Leipzig: Hehl et al., 2010. 11 Vgl. Wolgast, 1985, 1987; Mußgnug, 1985; Buselmeier/Harth/Jansen, 1985; vgl. hier auch Vézina, 1982; Jansen, 1992. 12 Eckart/Sellin/Wolgast, 2006. 13 Deutschland allg.: Gallin, 1986; Olszewski, 1989; NS-Dozentenbund: Pengel, 1999; Remy, 2002; Köln: Golczewski, 1988; Leipzig: Kästner, 1993; Dresden: Heidel, 2005. 14 Vgl. etwa zu Deutschland allg.: Giles, 1985; Pabst, 1993; Grüttner, 1995; Scholtyseck, 2008; Freiburg/Brsg.: Kreutzberger, 1972; Würzburg: Spitznagel, 1974; Münster: Pöppinghege, 1994; Mattonet, 2008; Kiel: Wieben, 1994; Berlin: Jarausch, 1995; Jena: Bruhn, 2001; Frankfurt/Main: Maaser, 2008.
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den 1980er Jahren häufiger gewidmet. Zur organisierten Studentenschaft im Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund fehlen bis auf die Dissertation von Faust (1971/1973)15 überregionale oder lokale Studien. Gelegentlich wurde über korporierte Studenten16 oder über »waffenstudentische Verbindungen«17 im Nationalsozialismus gearbeitet. Unter den studentischen Einzelgruppen dürfte die der Studentinnen in der NS-Zeit die inzwischen am ausführlichsten behandelte sein.18 Eine Reihe zusammenfassender Studien liegt inzwischen auch für die rassistisch und politisch motivierte Vertreibung von Hochschullehrern vor.19
Medizinische Fakultäten im Nationalsozialismus Geschichten medizinischer Fakultäten gehörten in der frühen Nachkriegszeit eher zum selteneren Literaturtypus der Medizinhistoriographie. Eine der wenigen Fakultätsgeschichten, die überhaupt in jener Zeit in den Druck kamen, wurde 1957 von Karl Eduard Rothschuh für Münster vorgelegt. Über die Auswirkungen der NS-Diktatur findet sich dort nur ein Satz: »Der jungen Fakultät waren nur wenige Jahre ruhiger stetiger Entwicklung vergönnt, denn in den Jahren des Nationalsozialismus kam es im Zusammenhang mit der Verfolgung politisch Andersdenkender und der Judenverfolgung zu den ersten Erschütterungen innerhalb des Lehrkörpers.« Und über die Militarisierung der Fakultät nach dem Überfall auf Polen 1939 ist zu lesen: »Vielfach wurden die Instituts- und Klinikleiter zur Durchführung von Forschungsaufgaben und Sonderaufgaben abberufen.«20 Danach beschränkt sich die Darstellung auf die Beschreibung von Bombenschäden an Instituten und Kliniken der Fakultät. Man spürt sofort, dass hier der Blick zurück noch nicht geworfen werden kann und soll. Auch fehlten für eine solche Unternehmung noch ganz offensichtlich das sprachliche Rüstzeug und kritische Distanz. Für eine Behandlung der ja doch sehr wohl über Strecken mit15 16 17 18
Faust, 1971/1973. Koch, 2000. Grüttner, 2000. Vgl. hierzu Steffen-Korflür, 1991; Kohler, 1995; Manns, 1997; Stiefel, 2003; Harders, 2005; Umlauf, 2006; Happ 2009. 19 Allg.: Kröner, 1983; Heidelberg: Mußgnug, 1988; Kiel: Uhlig, 1991; Berlin: Jarausch, 1995; Frankfurt/Main: Heuer/Wolf, 1997; Österreich: Feichtinger, 2001; Leipzig: Lambrecht, 2006; Göttingen/Braunschweig/Hannover: Szabó, 2000. 20 Rothschuh, 1957, S. 55f.
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erlebten »Gleichschaltung« auch der Münsteraner Medizinischen Fakultät – nach Vertreibungen und Verschleppungen, nach Sterilisation und Krankenmord, nach der geradezu totalen Indienstnahme der Münsteraner Physiologie, zu deren Vertretern auch Rothschuh damals noch gehörte, für die militärische Forschung – war die Zeit offensichtlich noch nicht reif. Es sollte nach dieser »Kleinen Geschichte« noch 23 Jahre dauern, bis die 200-Jahr-Feier der Universität Münster 1980 den Anlass auch für eine neue Fakultätsgeschichte bot, in der ihr Verfasser Richard Toellner21 nun auch der NS-Zeit jener Fakultät einen Abschnitt unter dem Zwischentitel »Bewährungsprobe (1933-1945)«22 widmete. Auch er kam auf die äußeren Schäden des Krieges zu sprechen, die inneren Verwüstungen zwischen »Trümmerexistenz« und den »goldenen fünfziger« Jahren, die in nur 13 Jahren angerichtet worden waren, thematisierte er aber nicht, weil hierzu noch kein Forschungsstand vorlag und so die Vorstellung noch dominieren konnte, dass »der Einfluß des Nationalsozialismus in Münster besonders gering«23 gewesen sei. Strenggenommen beginnt die Zeit verstärkter Beschäftigung mit der Geschichte medizinischer Fakultäten erst nach Seminarveranstaltungen und vereinzelten Ringvorlesungen der späten 1970er und der 1980er Jahre und nach Michael Katers Skizze über »Medizinische Fakultäten und Ärzte« (1985)24 mit der ausführlichen Studie über die Hamburger Fakultät von Hendrik van den Bussche und Angela Bottin (1989);25 studentischerseits angeregt folgte zwei Jahre später eine erste Darstellung über Marburg.26 Damit war ein Reigen medizinischer Fakultätsgeschichten eröffnet, der bis heute fast ungebrochen andauert und besonders im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts überaus produktiv verlief.27 Man erinnert sich heute 21 22 23 24 25 26 27
Toellner, 1980. Toellner, 1980, S. 297-300. Toellner, 1980, S. 299, der Pascher, 1966, S. 64, zitiert. Kater, 1985. Bussche/Bottin, 1989. Fachschaft Medizin, 1991. Medizinerschaft allg.: Kratzsch, 2001; Straßburg: Wechsler, 1991; Marx, 2008; Marburg: Aumüller/Lauer/Remschmidt, 1997; Aumüller, 2001; Leipzig: Beckart, 1998 (Bibliographie); Riha, 2009; Prag, Biographisches Lexikon: Hlaváčková/Svobodný, 1999; Düsseldorf: Esch et al., 1997; Woelk et al., 2003; Halling/Vögele, 2007; Rostock: Hennighausen, 2001; Jena: Zimmermann, 2000; Freiburg/Brsg.: Grün/Hofer/Leven, 2002; Hofer/Leven, 2003; Seidler/Leven, 2007; Graz: Scheiblechner, 2002; Tübingen: Grün/Thran, 2004; Berlin: David, 2004; Schleiermacher/Schagen, 2008; Vossen, 2008; Bonn: Forsbach, 2006; Gießen: OehlerKlein, 2007a; Kiel: Ratschko, 2008; Lohff, 2009; Innsbruck: Huber, 2010.
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kaum mehr an die Widerstände, die noch in den 1990er Jahren aus den Dekanaten und dem Lehrkörper solchen Darstellungen entgegengesetzt wurden. Die Rede von »Nestbeschmutzung« war damals an der Tagesordnung. Insgesamt hat sich die Perspektive auf das Fach Medizingeschichte in den Fakultäten aufgrund der intensiven Beschäftigung mit der eigenen jüngeren Fachgeschichte erheblich verändert. War Medizingeschichte – auch ihrem Selbstverständnis nach – zuvor wesentlich als Instrument und als selbstdefiniert »unverzichtbarer« Beitrag zur Sozialisation junger Ärztinnen und Ärzte, zur historischen Selbstversicherung in ihrer von Fortschrittsgedanken beflügelten Disziplin gedeutet worden, so entpuppte sie sich nun erstmals als moralische Richterin über ihr Mutterfach, intra und extra muros. Der eben in den 1980er Jahren beginnende Prozess der anschwellenden Ethisierung des Faches dürfte maßgeblich der Beschäftigung mit der eigenen Fakultät und der Medizin im Nationalsozialismus generell geschuldet sein. Neben den dezidiert als Gesamtdarstellungen antretenden Fakultätsgeschichten zur NS-Zeit wurden allerdings auch weiterhin profunde Einzelstudien zu Detailproblemen der akademischen Medizin zwischen 1933 und 1945 verfasst. So war die erste Arbeit, die sich den Studierenden einer medizinischen Fakultät widmete, die bereits 1978 verteidigte Dissertation (erschienen 1982) von Bernward Vieten über die Westfälische Wilhelms-Universität Münster.28 Weitere Einzelstudien dieser Art folgten zwar nicht, dennoch wird in vielen medizinischen Fakultätsgeschichten der Gruppe der Medizinstudierenden weiterhin Aufmerksamkeit gezollt, so etwa in vorbildlicher Weise in der Gießener Gesamtdarstellung29 durch Daniela Siebe30 mit einem wichtigen Exkurs über »Ausländer an der Medizinischen Fakultät«. Den Problemen der medizinischen Promotion im Allgemeinen und Depromotion, also dem politisch motivierten, häufig aber forensisch (meist unterstellte Übergriffe auf Patientinnen oder Abtreibungen) begründeten Entzug der Doktorwürde in der NS-Zeit, haben sich bis heute allerdings nur zwei Einzelstudien gewidmet, von denen die eine der Rolle der Medizinischen Fakultät Bern als Ersatzpromotionsort für aus dem Reich vertriebene jüdische Medizinstudentinnen nachgeht31 und die andere Titelentzüge an der Medizinischen Fakultät der Universität 28 29 30 31
Vieten, 1978/1982. Oehler-Klein, 2007a. Siebe, 2007. Aebersold, 2000.
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Erlangen in den Blick nimmt.32 Insgesamt steht hier allerdings noch ein weites Feld für lokale oder überregionale Analysen offen. Vergleichsweise wenig Einzelstudien liegen auch für spezifische Veränderungen in der Lehre der medizinischen Fakultäten vor. Hier ist im Detail bislang einzig dem häufig an ihnen angesiedelten rassenkundlichen Unterricht (für Hörer aller Fakultäten) Rechnung getragen worden.33 Aber auch dieses Thema wird in den seit den 1990er Jahren in wachsender Zahl vorliegenden Geschichten der medizinischen Fakultäten in verschiedenen Kontexten regelmäßig angesprochen. Gleiches gilt für die Indienstnahme des medizinischen Forschungspotentials für Kriegsvorbereitung und Krieg (vgl. hierzu auch Kap. 5.2).34 Umfassende Studien zur antisemitisch und politisch motivierten Vertreibung medizinischer Hochschullehrer, aber auch zu an nichtuniversitären Institutionen tätigen und frei praktizierenden Ärzten haben bislang Gerhard Baader, Hans-Peter Kröner und Eduard Seidler (zu den Pädiatern) publiziert.35 So zahlreich die inzwischen vorliegenden separaten und in Universitätsgesamtdarstellungen verborgenen36 Fakultätsgeschichten sind, so vielfältig sind auch ihre Darstellungsansätze. In ihrer Systematik streng gliedern Oehler-Klein37 für Gießen und Forsbach38 für Bonn ihren Stoff. So bildet bei Forsbach nach einer umfassenden Einleitung die Darstellung von Instituten und Kliniken, überwiegend biographisch orientiert, einen ersten großen Block. Ihm folgen übergreifende Sachkapitel etwa zur Politik der »Säuberung« der Fakultät 1933, zur Verwaltung der Kliniken, zu Lehre und Forschung, zu Missbrauch, Krieg und Widerstand sowie zu Wiederaufbau und Neuorientierung nach 1945. Demgegenüber folgt die Darstellung der Medizinischen Fakultät Gießen einem ganz anderen Gliederungsschema; hier schließen sich einer Einführung Kapitel zum Lehrkörper, zu den Studierenden, zum Institut für Erb- und Rassenpflege und seiner gesamtuniversitären Bedeutung, zur 32 Wittern-Sterzel/Frewer/Schottner, 2008. Vgl. für Bonn allgemein Forsbach, 2003, für Wien Posch, 2010. 33 Götz von Olenhusen, 1964; Felbor, 1995; Hoßfeld, 2004. 34 Kästner, 1991. 35 Baader, 1984; Kröner, 1989; Seidler, 2000. 36 Systematisch nach Instituten und Kliniken etwa in Eckart/Sellin/Wolgast, 2006 zu Heidelberg oder auch in biographischen oder sachbezogenen Einzelbeiträgen wie etwa bei Vom Bruch/Schaarschmidt, 2005 zu Berlin, bei Hoßfeld et al., 2003 zu Jena oder bei Wiesing, 2010 zu Tübingen. 37 Oehler-Klein, 2007a. 38 Forsbach, 2006.
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Eugenik, zur Militarisierung und schließlich zu Entnazifizierung und Wiederauf bau an. Wiederum einem ganz anderen Gliederungsprinzip folgt die Darstellung zu Jena,39 die zunächst die Berufungspolitik 19331945 analysiert, sich dann Problemen der Politisierung, »Gleichschaltung« und antisemitischen »Arisierung« zuwendet, um im Anschluss daran weitere Einzelthemen zu beleuchten, darunter die Neugründung von Instituten, die medizinische Ausbildung, die klinische Versorgung und die Rolle der Fakultät bei der Durchsetzung rassenhygienischer Maßnahmen, von der Zwangssterilisation bis zum Krankenmord in der »Aktion T4«. Schließlich werden auch besondere Dienstleistungen der Fakultät, besonders für die im KZ Buchenwald tätige SS, Mitgliedschaften in der NSDAP oder in anderen politischen Organisationen sowie Opposition und Widerstand in ihrem breiten Spektrum thematisiert. Die von Grün, Hofer und Leven edierte Freiburger Fakultätsgeschichte zeigt an 20 ausgewählten Themenkreisen die komplexen Entwicklungen der Freiburger Universitätsmedizin im »Dritten Reich« und bettet sie in den zeitgeschichtlichen Kontext ein.40 In vieler Hinsicht interessant ist die von Ingrid Kästner und Achim Thom herausgegebene Geschichte der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig,41 in der von 340 Seiten der NS-Zeit 40, der Fakultätsgeschichte in der SBZ und DDR mehr als 100 Seiten gewidmet sind. Hier werden also drei politische Umbruchsituationen einer deutschen Medizinischen Fakultät im 20. Jahrhundert geschildert, der Übergang von der Republik in die Parteidiktatur 1933, Zusammenbruch und Sozialisierung nach 1945/1949 und das Schicksal der Fakultät nach dem »Entscheidungsjahr 1989«, also dem Zusammenbruch der DDR. Die Fakultätsgeschichte von Kästner und Thom ist 1990 noch ganz unter dem Eindruck der politischen Ereignisse geschrieben worden. Nachdem nun, 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, aus Anlass der 600-Jahr-Feier der Universität Leipzig innerhalb der fünf bändigen Universitätsgeschichte in den Teilbänden 3 und 4.2 erneut Geschichten der Medizinischen Fakultät verfasst wurden,42 dürfte der Vergleich mit der Fakultätsgeschichte des Jahres 1990 reizvoll sein. 39 40 41 42
Zimmermann, 2000. Grün/Hofer/Leven, 2002. Kästner/Thom, 1990. Hehl et al., 2009/2010; Riha, 2009. Bemerkenswert ist, dass der Epoche des Nationalsozialismus im zusammenfassenden Band 3 (Zwanzigstes Jahrhundert) unter dem Titel »,Kämpferische Wissenschaft‹ – Die Universität Leipzig im Dritten Reich 1933-1939«; vgl. Hoßfeld et al. (2003) zu Jena) von 969 Seiten ganze 112 und der Medizingeschichte knapp drei Seiten gewidmet wurden. In Band 4 wächst
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Andere Geschichten medizinischer Fakultäten in der ehemaligen DDR vermeiden den Blick auf das Problem des Umbruchs 194543 oder verlagern die Problematik des Nachkriegserinnerns erst in die Zeit um 2000.44 Einen blinden Fleck an der Stelle des Übergangs 1945 und bei der Frage des Umgangs mit der NS-Geschichte nach 1949 weist auch die zweibändige Geschichte der Berliner Universität zwischen 1933 und 194545 auf. Das Thema wird weder für die Medizinische noch für eine der anderen Fakultäten angeschnitten und allenfalls durch zwei Beiträge zur »Erinnerungs-« und »Gedenkkultur« an der Humboldt-Universität zwischen 1945 und 1989 berührt.46 Ausführlich setzt sich – nach einem langen Kapitel zur NS-Geschichte – der ehemalige Charité-Pathologe und DDR-Nationalpreisträger Heinz Werner David mit der Problematik von »Untergang«, »Übergang«, »Neuanfang« und Entnazifizierung in der Zeit von 1945 bis 1949 in seiner Charité-Geschichte auseinander.47 Erstaunlich viel zu medizinischen Fakultäten in der SBZ findet sich auch in der gedruckten Dissertation von Anna-Sabine Ernst über »Ärzte und medizinische Hochschullehrer in der SBZ/DDR 1945-1961«.48 Als einen Beitrag zur Geschichte der »Enthumanisierung der Medizin an der Charité im ›Dritten Reich‹« schließlich verstehen Sabine Schleiermacher und Udo Schagen ihre Aufsatzsammlung über »Die Charité im Dritten Reich«;49 auch hier wurde – anders übrigens als in den meisten westdeutschen Fakultätsgeschichten – auf eine Darstellung der Hochschulmedizin unmittelbar nach der Zerschlagung der NS-Diktatur verzichtet, nicht freilich auf den Blick über 1945 hinaus. In den bislang vorliegenden Gesamtdarstellungen medizinischer Fakultäten dominieren deutlich die Aspekte der Vertreibung jüdischer und regimekritischer Dozenten, die Implementierung von Rassenbiologie und praktischer negativer Eugenik (Sterilisation, Krankenmord), die Militarisierung und militärische Indienstnahme der medizinischen Fakultäten in der Vorbereitung und nach der Entfachung des Krieges sowie die direkte oder indirekte Teilnahme an verbrecherischer Expe-
43 44 45 46 47 48 49
dieser Anteil durch die von Ortrun Riha verfasste Geschichte der Medizinischen Fakultät auf immerhin 98 von 1641 Seiten. Zimmermann, 2000. Schrul/Thomas, 2003. Jahr/Schaarschmidt, 2005; Vom Bruch/Schaarschmidt, 2005. Vom Bruch, 2005, S. 227-234; Graubner, 2005, S. 235-248. David, 2004, Bd. 1; zur NS-Zeit S. 190-312; zur SBZ-Zeit S. 314-451. Ernst, 1997. Schleiermacher/Schagen, 2008.
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rimentalforschung. Auffallend ist bei fast allen die starke Tendenz, Sachthemen an Täter-Biographien zu knüpfen, und der nur zögerliche Blick auf den »Alltag« in den Fakultäten und Fakultätskliniken, der zwar gelegentlich als »Alltag« apostrophiert wird, sich dann aber bald doch als nicht so alltäglich, sondern eben auch als Ausdruck ideologischer, biopolitischer oder durch die Kriegsnot bedingter Prägung entpuppt. Über den »normalen« Pflegealltag auf den Stationen der Kliniken, über pharmakologische Forschung und Arzneimittelerprobung am »normalen« Patienten, über Versorgung und Versorgungsengpässe (Lebensmittel, Medikamente, Verbrauchsgüter, Wäschereinigung), über das soziale Gefüge auf den Krankenhausstationen oder in den Laboratorien, über nichtärztliche Angestellte, Handwerker und Hilfsarbeiter an den Universitätskliniken jener Zeit wissen wir insgesamt noch wenig.
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4.2 Verbrecherische Humanexperimente1 Wolfgang U. Eckart Die Forschungsgeschichte zu den verbrecherischen Humanexperimenten im Nationalsozialismus beginnt bereits unmittelbar nach dem Ende des Nürnberger Ärzteprozesses und dessen Dokumentation durch die beiden Prozessbeobachter Alexander Mitscherlich und Fred Mielke.2 Die Anklageschrift, die am 25.10.1946 im sogenannten »Ärzteprozess« vor dem 1. amerikanischen Militärtribunal (US Military Tribunal No. I) in Nürnberg vorgelegt wurde, umfasste vier Hauptanklagepunkte: Verschwörung, Kriegsverbrechen (insbesondere medizinische Menschenversuche), Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen. In der medizinhistorischen Forschung ist zunächst den Humanexperimenten nachgegangen worden, die laut Anklageschrift Hauptgegenstand des Ärzteprozesses waren. Bei diesen ausnahmslos militärisch bedeutsamen Experimenten handelte es sich um die Unterdruck- und Unterkühlungsversuche (KZ Dachau), um Versuche zur Trinkbarmachung von Meerwasser (KZ Dachau, KZ Buchenwald), um Fleckfieber-Impfstoffund Hepatitis epidemica-Virus-Versuche (KZ Buchenwald), um Sulfonamid-, Knochentransplantations- und Phlegmone-Versuche (Frauen-KZ Ravensbrück, Heilanstalt Hohenlychen, KZ Dachau) sowie um Lost- und Phosgenversuche (KZ Sachsenhausen, KZ Natzweiler-Struthof ). Dabei stand die Forschung zu diesen Versuchen zunächst vor dem Problem einer lückenhaften oder zumindest schwierigen Verfügbarkeit der Nürnberger Prozessakten, so dass sich viele der frühen Einzel- oder Sammeldarstellungen zunächst und wesentlich auf das von Mitscherlich und Mielke zusammengestellte Auszugs-Quellenmaterial aus diesen Akten gestützt haben. Die Publikation der vollständigen Dokumentation, der Wortprotokolle, des Anklage- und Verteidigungsmaterials erfolgte erst 1999 durch den Saur-Verlag in München,3 während eine – allerdings unvollständige – englische Dokumentation bereits kurz nach Prozess1 Angesichts der Vielzahl medizinischer Humanexperimente liegt es auf der Hand, dass hier nicht die Literatur zu jedem dieser Experimente erwähnt werden kann. Die am Ende des Beitrags aufgeführte Literatur ermöglicht aber das Auffinden auch solcher Versuche, die im Text unerwähnt bleiben. 2 Mitscherlich/Mielke, 1947, 1949, 1960 und folgende unveränderte Auflagen. 3 Ebbinghaus et al., 1999.
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Ende4 veröffentlicht wurde. Zu den Humanexperimenten in Konzentrationslagern finden sich darüber hinaus zahlreiche Hinweise in Förderungsakten der Deutschen Forschungsgemeinschaft in den Bundesarchiven Koblenz und Berlin-Lichterfelde. Weiterhin verfügt die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem (Israel) ebenso wie das United States Holocaust Memorial Museum in Washington über eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur- und Datensammlung zum Komplex des verbrecherischen Humanexperiments. Inzwischen ist aufgrund guter Quellenlage ein komplexeres Forschungsbild als noch in den 1980er und frühen 1990er Jahren entstanden. Vermutlich gehört das verbrecherische Humanexperiment inzwischen sogar zu den am besten erforschten Gegenständen der NS-Medizin, zumindest legt die kaum mehr zu überschauende Forschungsliteratur diese Vermutung nahe. Dieser Eindruck könnte allerdings auch täuschen, denn die Publikationen zu diesem Themenbereich weisen eine teilweise hohe Redundanz auf. Neben der konkreten Ereignisforschung zu den Experimenten, ihrer Durchführung, ihren Verantwortlichen und ihren Opfern wird die historische Erforschung dieses Themas bis heute von zentralen übergeordneten und erkenntnisleitenden Fragen bestimmt: – Vor welchem geistesgeschichtlichen und wissenschaftshistorischen Hintergrund waren die NS-Experimente an Gefangenen der Konzentrations- und Kriegsgefangenenlager oder an Patienten in Heil- und Pflegeanstalten möglich? – Welche wissenschaftliche Relevanz kommt diesen Versuchen zu? – Dürfen die Ergebnisse verbrecherischer Forschung weiterverwertet werden, und wenn ja, unter welchen Bedingungen? – Wie sind die Versuche im internationalen Vergleich zu bewerten? – Welche ethischen Konsequenzen für die aktuelle medizinische Forschung sind aus ihnen abzuleiten? Gerade der letzten Frage ist im Kontext der aktuellen Situation der medizinhistorischen Forschung in der Bundesrepublik, die starke Affinitäten gegenüber ethisch-moralischen Problemstellungen aufweist, in jüngster Zeit häufig nachgegangen worden. Beispielhaft hierfür sind etwa die Sammelbände von Kolb/Seithe, Wiesemann/Frewer, Roelcke/ Maio oder Frewer/Kolb/Krása und eine Vielzahl von Einzelbeiträgen der
4 United Nations War Crimes Commission, 1947-1949.
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letzten Jahre.5 Auf dem 92. Deutschen Ärztetag 1989 in Berlin bilanzierte der Medizinhistoriker Richard Toellner die moralische Katastrophe der NS-Medizin, die von der Ärzteschaft insgesamt nicht verhindert wurde.6 In Toellners Beitrag wurde auch die Frage nach dem geistesgeschichtlichen Hintergrund ohne exkulpierende Schnörkel thematisiert. Ein Zusammenhang zwischen der Vernaturwissenschaftlichung der Medizin und einer seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmenden Tendenz zur Vernachlässigung moralischer Bedenken bei der Instrumentalisierung unaufgeklärter, nicht entscheidungsfähiger, autoritätshöriger oder anders abhängiger Patienten mag zwar generell zulässig sein; eine die Profession entlastende Erklärung für die Forschungsverbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus liefert sie allerdings ebenso wenig wie der häufige Hinweis auf Befehlsnotstand oder die drängenden Forschungsprobleme der Kriegssituation oder die Spaltung der ärztlichen Persönlichkeiten.7 Heilen und Töten waren für die der NS-Diktatur hörigen Ärzte zwei unmittelbar und untrennbar miteinander verknüpfte Handlungsstrategien. Als Idealisten einer biopolitischen Diktatur verfolgten sie im Sinne einer jeder Moral entkleideten instrumentellen Modernität8 Heil- und Vernichtungsabsichten gleichermaßen. Ihr Machtstreben richtete sich auf das menschliche Leben in seiner ganzen Totalität. Ihre Bewertung des Lebens, insbesondere das rassisch, religiös oder politisch »Unterwertiger«, war vollkommen bar jeder Idee von Menschenwürde und eröffnete den totalen Zugriff auf die in den Sondersituationen der Lager und Heilanstalten zu ihrer Disposition stehenden Forschungsobjekte. Hinsichtlich der wissenschaftlichen Relevanz der Experimente stand lange Zeit die Frage im Raum, ob es sich bei den Versuchen um medizinische »Pseudo«-Wissenschaft oder um medizinisch-naturwissenschaftliche Experimentalforschung state of the art gehandelt habe. Dass hiermit auch die Frage der Zitierfähigkeit der Experimente oder ihrer Ergebnisse, sofern sie überhaupt zur Publikation kamen, unmittelbar tangiert ist, liegt auf der Hand.9 Während die Frage der Wissenschaftlichkeit von Fall zu Fall allein anhand der Methode entschieden werden muss, ist die der Zitierfähigkeit zugleich mit moralischen Problemen verbunden. Auf die ethischen Dilemmata, die daraus 5 Katz, 1972; Kolb/Seithe, 1988; Bleker, 1996; Wiesemann/Frewer, 1996; Weindling, 1996b; Eckart, 2001, 2002; Roelcke/Maio, 2004; Frewer/Kolb/Krása, 2009. 6 Toellner, 1989. 7 Lifton, 1988. 8 Eckart, 2010; Bavay, 2003. 9 Moe, 1984; Seidelman, 1988; Berger, 1990; Caplan, 1992; Cohen, 2010.
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erwachsen können, hat bereits 1988 William Seidelman10 hingewiesen. Klare Vorschläge für die Vorgehensweise im Falle eines Zitierens wurden jüngst von Baruch C. Cohen11 unterbreitet. Auch die Frage der internationalen Kontextualisierung der NS-Versuche – etwa mit den japanischen Humanexperimenten auf dem besetzten chinesischen Festland12 oder mit den Experimenten des Kalten Krieges – ist immer noch Desiderat der Forschung. Hier fehlt es an internationalen Symposien über die Rolle des menschlichen Körpers als Objekt medizinischer Forschung unter bestimmten politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen.13 Auch die Täter(innen)-Forschung bietet trotz wichtiger Arbeiten, die inzwischen hierzu vorgelegt wurden,14 durchaus noch Erweiterungsräume. Hervorgehoben werden müssen hier aber die neueren Forschungen zur Rolle Mengeles im KZ Auschwitz und in seinem Kooperationsverhältnis zu Otmar Freiherr von Verschuer bei Schmuhl (2005).15 Zwar ist den Hauptakteuren der Versuche inzwischen eine Reihe von Einzelstudien gewidmet und die lange Zeit beherrschende Dominanz der Figur des Josef Mengele relativiert worden.16 Die Frage nach der Motivation zur Beauftragung oder Durchführung der verbrecherischen Humanexperimente und den Menschenbildern im Hintergrund der Täter ist jedoch noch nicht hinreichend beantwortet. Gleiches gilt für die Institution Lager, die als komplexer Ort der verbrecherischen Versuche noch nicht zur Genüge in ihrer Topographie, ihren Organisations- und Verwaltungsstrukturen oder ihrer Personalsituation untersucht wurde. Eine Ausnahme stellen hier allenfalls Auschwitz und die dort dominante Rolle der IG Farben, Dachau oder Buchenwald dar.17 Hinsichtlich der ethischen Konsequenzen, die aus der Erfahrung der Humanexperimente während der NS-Zeit erwachsen, ist in der Vergangenheit immer wieder besonders der »Nürnberger Kodex« (1947) über »Zulässige medizinische Versuche« hervorgehoben worden. Zusammen mit den »Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen« des Reichsministeriums des Inneren aus dem Jahre 1931 gehört dieser sicherlich zu den bedeu10 11 12 13 14 15 16 17
Seidelman, 1988. Cohen, 2010. Bärnighausen, 2002, 2006. Eckart, 2006a. Longerich, 2010; Schmidt, 2009; Eckart, 1998a, 1998b, 1998c. Schmuhl, 2005. Posner/Ware, 1993; Völklein, 1999; Keller, 2003. Bogusz, 1987; Klee, 1997.
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tendsten Dokumenten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Regelung und moralischen Absicherung des Humanexperiments. Kodex und Richtlinien krankten jedoch beide daran, dass ihnen keine permanente Instanz zur Kontrolle und Überprüfung ärztlichen Versuchshandelns implementiert war. Der vielfache Bruch des Nürnberger Kodex gerade durch seine Verfasser, etwa in den militärischen Humanversuchen während des Kalten Krieges oder durch die bedenkenlose Übernahme und Auswertung japanischer Humanexperimente in China, hat dieses Versäumnis betont und die Neufestlegung internationaler ethischer Standards durch die Richtlinien von Helsinki und Tokio (1964/1975) begründet.18 In den folgenden Abschnitten soll nun versucht werden, aus der Fülle der vorliegenden Arbeiten zu den wesentlichen Experimentalkomplexen den Forschungsstand exemplarisch darzustellen.
Der Weg zum Humanexperiment im Nationalsozialismus Den ethischen und rechtlichen Diskursen um Bedingungen und Zulässigkeiten des Humanexperiments im Vorfeld der NS-Diktatur, während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, sind – trotz bemerkenswerter Versuche der anthologischen Erschließung19 – bislang nur erstaunlich wenige Forschungsarbeiten gewidmet worden. Dabei zeigen gerade diese Debatten einerseits, wie die Radikalisierung des naturwissenschaftlichen Denkens in der Medizin viel stärker die Methodik gegenüber der Moral des Humanexperiments begünstigte; andererseits verdeutlichen sie aber auch, wie sensibel bereits in den rechtlichen und philosophischen Diskursen mit der Frage der Patienten- und Probandenrechte umgegangen wurde, so dass am Vorabend der NS-Diktatur in Deutschland eine geschützte Rechtssituation für Patienten und Probanden entstanden war, die international als durchaus mustergültig bezeichnet werden darf. Wolfgang U. Eckart20 kann in seinen Studien zur Kolonialmedizin zeigen, wie erstmals in der Sondersituation kolonialer »Konzentrationslager« des deutschen Kaiserreichs an internierten afrikanischen Schlafkrankheitskranken ohne Rücksicht auf die Lebensbedrohlichkeit solcher Versuche gefährliche neue chemische Medikamente er18 Näheres hierzu in Kapitel 6.1. 19 Pethes, 2007; Pethes et al., 2008; Griesecke et al., 2009. 20 Eckart, 1990b, 1997, 2004.
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probt wurden. Barbara Elkeles geht in ihren Studien zum moralischen Diskurs um das Humanexperiment vor 1914 am Beispiel des Falles Neisser21 auf die Vorgeschichte der berühmten preußischen »Anweisung an die Vorsteher der Kliniken, Polikliniken und sonstigen Krankenanstalten« vom 29.12.1900 ein, die erstmals überhaupt Probandenrechte bei »Eingriffe[n] zu anderen als diagnostischen, Heil- und Immunisierungszwecken« festschrieben. Andreas Reuland22 analysiert in seiner Dissertation den dichten Komplex medizinischer Menschenversuche während der Zeit der Weimarer Republik und den Kampf des jüdischen Arztes und Reichstagsabgeordneten Julius Moses (SPD)23 gegen diese Missstände. Er führte schließlich vor dem Hintergrund des Lübecker Impfunglücks (1930) zu den per Rundschreiben vom 28.2.1931 an alle Ärzte des Reichsgebietes adressierten »Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen« des Reichsinnenministeriums. Mit diesen Richtlinien war erstmals ein umfassendes Regelwerk für die Durchführung von Heil- und reinen Forschungsversuchen entworfen, das paradoxerweise zwei Jahre vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten den für damalige Verhältnisse international denkbar besten Patienten- und Probandenschutz gewährleistete. Im Gegensatz zu der Fülle von Studien über verbrecherische Menschenversuche im Nationalsozialismus überrascht die Forschungslücke hinsichtlich der ›normalen‹ klinischen Forschung zwischen 1939 und 1945. Folgte wenigstens sie noch den Anweisungen des Reichsinnenministeriums von 1931? Man muss dies zumindest annehmen, denn diese Anweisungen wurden durchaus auch unter der NS-Diktatur weiter der ärztlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht, so etwa in dem populären »Ärzte-Knigge« des Leipziger Pathologen Carly Seyfahrt, der im Kitteltaschenformat junge Klinikärzte über den »Umgang mit Kranken und über Pflichten, Kunst und Dienst der Krankenhausärzte« aufklärte und in seinen Ausgaben der Jahre 1935, 1938, 1942 und 194624 eben die Anweisungen von 1931 wiedergab.
21 22 23 24
Elkeles, 1985, 1991. Reuland, 2004; Eckart/Reuland, 2006. Nadav, 1985. Seyfahrt, 1935, S. 92-95.
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Tierversuch und Tierschutz Besser ist der Forschungsstand inzwischen zu den rechtlichen Bedingungen von Tierversuch und Tierschutz im Nationalsozialismus. Daniel Jütte25 und Edeltraud Klueting26 zeigen in ihren Arbeiten, wie der Tierschutz seit den 1920er Jahren zum Propagandaobjekt der NSDAP wurde, die sich damit an die Spitze einer breiten Volksbewegung gegen die Vivisektion stellte, die nicht zuletzt starke antisemitische Tendenzen (etwa gegen das jüdische »Schächten«) aufwies. Das Reichstierschutzgesetz, auch »Lex Göring« genannt, weil Hermann Göring als preußischer Ministerpräsident ein scharfes Vivisektionsverbot für Preußen bereits am 16.8.1933 unter Androhung von KZ-Haft bei Zuwiderhandlung erlassen hatte, wurde am 24.11.1933 verabschiedet und trat am 1.2.1934 in Kraft. Mit ihm war zwar kein generelles Experimentierverbot an Tieren erlassen, doch immerhin ein starkes Regulativ als »Teil der NS-Weltanschauung«, als Element »antisemitischer Kulturkritik« geschaffen worden, das sich wissenschafts- und professionalitätsfeindlich auswirkte und Wissenschaftler systematisch einschüchterte. Jütte zeigt in seiner Studie den Entstehungsweg des Gesetzes und seine Auswirkungen am Beispiel der Universitäten Tübingen, Freiburg/Brsg. und Heidelberg. Futtermangel und illegale Versuchstierbeschaffung bestimmten fortan den Forschungsalltag und verstärkten die Neigung, auf Menschen als Versuchsobjekte auszuweichen.27 Wie auf diese Weise das moralische Koordinatensystem verschoben wurde und an die Stelle des nicht um seiner selbst willen, sondern als Teil der NS-Ideologie geschützten Tieres das »Menschentier« des KZ-Häftlings, des russischen Kriegsgefangenen oder der russischen Zwangsarbeiterin rückte, zeigt die berüchtigte Posener Rede Himmlers vom 4.10.1943: »Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10.000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird. […] Wir Deutsche, die wir als einzige auf der Welt eine anständige Einstellung zum Tier haben, werden ja auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung einnehmen […].«28 Wohin diese »Anständigkeit« bei den skrupellosen Menschenversuchen führen konnte, bei denen sich 25 26 27 28
Jütte, 2002. Klueting, 2003. Schmuhl, 2005. Zit. nach GHDI-Documents (http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/sub_document.cfm?document_id=1513&language=german, letzter Zugriff 26.11.2010).
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tatsächlich häufig eine enge Interaktion von Humanexperiment und Tierversuch ergab, etwa durch die Nähe der Tierställe zu den Gefangenenbaracken oder durch das Pendeln industrieller Forschungsakteure der IG Farben zwischen Lagerexperiment (etwa in Auschwitz oder Buchenwald) und Tierstall (etwa der IG Farben-Werke in Leverkusen oder Frankfurt), ist durch die Forschungen inzwischen hinlänglich bekannt.
Unterdruck- und Kälteversuche Zu den rücksichtslosesten Versuchen am Menschen, die während der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland durchgeführt wurden, gehörten die Versuche zur Rettung aus großer Höhe und die Versuche über lang andauernde Unterkühlung, die sämtlich im Konzentrationslager Dachau an Häftlingen vorgenommen wurden und ausschließlich dazu bestimmt waren, Erkenntnisdefizite in der medizinischen Kriegsführung zu schließen. Innerhalb beider Versuchsreihen nimmt der ehemalige Stabsarzt der Luftwaffe, Sigmund Rascher, eine Schlüsselstellung ein, weil er anfänglich zugleich als SS-Untersturmführer über direkte Beziehungen zu Himmler verfügte und von ihm die Erlaubnis zu Experimenten in Dachau erhielt. Soweit der dokumentarische Nachweis ein Urteil gestattet, scheint es sich bei den von Rascher angeregten und durchgeführten Dachauer Versuchen um die ersten Menschenexperimente einer besonderen Gattung gehandelt zu haben, bei welcher der »terminale Versuch« – wie Dr. Rascher dies nannte –, also die Tötung der Versuchsperson, zur unmittelbaren Absicht des Experimentes gehörte. Zu den Unterdruckversuchen Raschers, die als Element eines physiologischen Forschungsnetzwerkes gedeutet werden müssen, das sich über viele physiologische Forschungsinstitute des ganzen Reichsgebietes erstreckte, hat insbesondere Karl Heinz Roth umfassende Studien vorgelegt,29 die auch die wissenschaftliche Vorgeschichte der Versuche und die internationale Folgeforschung (insbesondere in der Bundesrepublik, aber auch in der DDR) einbeziehen. Seit dem 15.8.1942 wurden in Dachau auch Unterkühlungsversuche am Menschen durchgeführt, die zur Klärung von Fragen dienen sollten, die sich im Laufe des Krieges durch den Absturz von Fliegern ins Meer ergeben hatten. Man suchte für die Praxis eine zweckmäßige Schutzkleidung. Außerdem sollten die verschiedenen Wege der Wiederaufwärmung nachgeprüft werden. Be29 Roth, 2000, 2001, 2006.
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reits am 24.2.1942 hatte Prof. Dr. Holzlöhner, Kiel, vom Inspekteur des Sanitätswesens der Luftwaffe einen entsprechenden Forschungsauftrag erhalten, der darauf hinzielte, »die Wirkung der Abkühlung auf den Warmblüter« zu untersuchen. Federführend auch bei diesen Versuchen war der Stabsarzt Dr. Rascher. Archivmaterial, das über die Nürnberger Prozessunterlagen hinausgeht, hat insbesondere Hana Vondra ausgewertet.30
Fleckfieberversuche Die bereits aus dem Ersten Weltkrieg bekannte Fleckfiebergefahr, die besonders bei langen Liegezeiten der Soldaten und der damit verbundenen Verlausungsgefahr auftrat, womit besonders an der Ostfront gerechnet werden musste, führte Ende 1941 zu einer Reihe von Experimenten, in denen Fleckfieberimpfstoffe ausgetestet wurden. Diese Versuche sind wesentlich im Konzentrationslager Buchenwald, teilweise aber auch in Auschwitz sowie in Kriegsgefangenen- und Durchgangslagern im Hinterland der Ostfront durchgeführt worden. Die Kenntnisse über die Fleckfieber-Experimente im Konzentrationslager Buchenwald stützen sich im Wesentlichen auf das Stations-Tagebuch des im Lager arbeitenden SS-Hauptsturmführers Dr. med. Ding-Schuler. Die Probanden wurden systematisch artifiziell infiziert und dann experimentell mit unterschiedlichsten Impfstoffen behandelt, wobei als Referenzgruppe immer eine unbehandelte Anzahl von Patienten, die aber ebenfalls infiziert worden waren, zur Verfügung stand. Fleckfieber-Therapie-Versuche wurden aber auch mit den Substanzen Acridin, Methylen Blau, Rotenol und Acridin-Granulat durchgeführt. Wir kennen die genaue Anzahl der Todesopfer dieser Versuche nicht. Es kann jedoch sicher davon ausgegangen werden, dass es sich um Hunderte gehandelt haben muss, da die Versuchsgruppen immer relativ groß waren, wie ein tabellarisches Versuchsprotokoll belegt.31
30 Vondra, 1989; Eckart/Vondra, 2006. 31 Weindling, 1996b, 2000; Werther, 2001.
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Sulfonamid-, Knochentransplantationsund Phlegmoneversuche In die Reihe der für kriegswichtig erachteten Menschenexperimente in Konzentrationslagern gehörten auch Testreihen, die im Dienste der Infektionsbekämpfung stehen sollten. Hierzu wurden künstlich Wundinfektionen gesetzt und dann mit den verfügbaren Antiinfektionspräparaten behandelt, so etwa im Rahmen der Sulfonamid- und Phlegmone-Versuche im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Systematisch wurden dort vor allem polnischen Widerstandskämpferinnen Verletzungen im Muskelbereich zugefügt, mit Gasbranderregern, aber auch mit anderen Erregerkulturen infiziert und dann mit SulfonamidPräparaten der Bayer-Werke behandelt. Beteiligt war auch die Lagerärztin Herta Oberheuser, federführend bei den Versuchen war der SS-Arzt Dr. Schiedlausky. Der jüngste Forschungsstand zu diesen Versuchen wurde von Angelika Ebbinghaus und Karl Heinz Roth32 erarbeitet. Zur »Täterinnen«-Geschichte, hier insbesondere zur Rolle von Herta Oberheuser, aber auch zur Forschung über das Selbstverständnis von Frauen in Konzentrationslagern – Opfern wie Täterinnen – haben die Ravensbrück-Versuche Anlass gegeben:33 Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die von Loretta Walz geführten Gespräche mit Opfern des KZ Ravensbrück34 sowie die Berliner Dissertation von Silke Schäfer.35 Nach Abschluss der Versuche mit artifizieller Erregung von Gasbrand meldeten Prof. Gebhardt und Dr. Fischer für die »3. Arbeitstagung Ost der beratenden Fachärzte vom 24. bis 26. Mai 1943 in der Militärärztlichen Akademie Berlin« ein Referat an. Der Titel lautete »Besondere Versuche über Sulfonamid-Wirkungen«. An der Tagung nahmen etwa 200 Beratende Ärzte der Wehrmacht – unter ihnen auch Ferdinand Sauerbruch – teil. Das von Dr. Fischer gehaltene Referat wurde durch Prof. Gebhardt eingeleitet. Gebhardt erläuterte dabei – sachlich falsch –, dass die Versuche auf Befehl höchster staatlicher Stellen veranlasst worden waren, dass sich die Versuchspersonen aus zum Tode Verurteilten zusammengesetzt hatten, denen Begnadigung zugesichert worden sei. Bei der Diskussion des Vortrags wurde ein Widerspruch gegen die Art der Menschenversuche, wie sie Gebhardt und Fischer vorge32 33 34 35
Ebbinghaus/Roth, 2001. Ebbinghaus, 1987, 1996; Klier, 1994; Taake, 1998; Hix, 1999. Walz, 2001. Schäfer, 2002.
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nommen hatten, nicht laut, ein Umstand, der im Umfeld des Nürnberger Ärzteprozesses zu heftigen Kontroversen geführt hat.36 Eine weitere Gruppe von Experimenten, die im Konzentrationslager Ravensbrück an weiblichen Häftlingen vorgenommen wurden, sind Knochenregenerations- und Transplantationsversuche. Andere Infektionsexperimente wurden in Dachau durchgeführt. Bei ihnen handelte es sich um sog. Phlegmone-Versuche. Während der Jahre 1942 und 1943, also gleichzeitig mit den Versuchen im Konzentrationslager Ravensbrück, wurden in Dachau künstliche Phlegmonen erzeugt, um vergleichsweise die Wirksamkeit allopathischer und biochemischer Therapeutika beobachten zu können. Als Versuchspersonen wurden, nach Aussagen eines Zeugen beim Nürnberger Ärzteprozess, aus dem Geistlichen-Block des Lagers Dachau katholische Priester und Ordensbrüder missbraucht. Häufig kam es im Rahmen dieser Versuche zur Ausbildung einer schweren Sepsis, die mit den damals vorhandenen Sulfonamid-Präparaten nicht beherrscht werden konnte und daher sicher zum Tode führen musste. Der Komplex der Verletzungsversuche in Konzentrationslagern beschränkte sich keineswegs auf Ravensbrück und Dachau. Auch in anderen Lagern, so in Auschwitz und Mauthausen, wurden bewusst Verletzungen mit oder ohne anschließende Sulfonamidversorgung gesetzt. In Auschwitz etwa wurden Kindern Brandwunden am ganzen Körper zugefügt. Für den gesamten Bereich der künstlichen Verletzungs- und Wundversorgungsexperimente besteht noch erheblicher Forschungsbedarf.
Malaria-Versuche Kein Gegenstand der Verhandlungen des Nürnberger Ärzteprozesses waren die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Versuche mit synthetischen Antimalariapräparaten, die insbesondere in den Konzentrationslagern Dachau, Buchenwald und in der Heil- und Pflegeanstalt Pfaffenrode in Thüringen durchgeführt wurden. Die wesentliche Forschungsleistung zu diesem Versuchskomplex wurde von Hana Vondra37 erbracht; Marion Hulverscheidt und Wolfgang U. Eckart haben sich der Finanzierung der Versuche durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft in einer Reihe von Studien gewidmet.38 Diese Ver36 Peter, 1994. 37 Vondra, 1989; Eckart/Vondra, 2000. 38 Hulverscheidt, 2005, 2006a, 2006b; Eckart, 2010.
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suche dienten einerseits der Erprobung der mit erheblichen Nebenwirkungen behafteten Antimalariapräparate, sie dienten aber auch der Suche nach einem Impfstoff gegen Malaria. Hierzu wurden die Insassen der Lager – in Dachau vorzugsweise inhaftierte Priester, zynischerweise wegen ihrer überdurchschnittlich besseren Körperkonstitution – mit Malaria-Tertiana und Malaria-Tropica-Plasmodien infiziert und nach dem Einsetzen der Fieberschübe mit synthetischen Antimalariapräparaten behandelt. Verantwortlich für die Malaria-Experimente im Konzentrationslager Dachau war der Malariaforscher Claus Schilling, für die Versuche in Pfaffenrode der im Nürnberger Prozess wegen seiner Verwicklung in Fleckfieber-Versuche zu lebenslänglicher Haft verurteilte Tropenhygieniker Gerhard Rose. In Dachau fand Schilling ein geeignetes Terrain für seine Experimente. In 115 Versuchsreihen experimentierte er an 1200 KZ-Häftlingen, die auch während der Versuche zum Arbeitsdienst geschickt wurden. Diese Versuchsreihen schlossen alle Variationen der Schillingschen Ideen über die Malaria-Immunität und auch Experimente mit alten, z. B. den schon lange als unwirksam geltenden Medikamenten Neosalvarsan und Pyramidol, vor dem schon 1934 wegen der großen Gefahr der Agranulozytose gewarnt wurde, und neuen, noch weitgehend unerprobten Medikamenten aus Testreihen der synthetischen Antimalariapräparate (B 2516) mit ein. Auch Pyrifer und Stimolol als fiebererzeugende Mittel wurden von ihm getestet. Es kam bei diesen Experimenten zu etwa 300-400 Todesopfern. Die Versuchsreihen Roses in Pfaffenrode verliefen in ähnlicher Weise; hier ist die Anzahl der Todesopfer bis heute aufgrund der lückenhaften Aktenüberlieferung nicht bekannt. Weite Bereiche der Malariaforschung Roses sind durch die DFG in einem Gesamtvolumen von 13.600 RM gefördert worden, wobei neben der Heil- und Pflegeanstalt Pfaffenrode/Thüringen auch die Landesheilanstalten Görden/Brandenburg, Arnsdorf und Eberswalde mit ihren Patienten einbezogen waren.39 Alle Forschungen wurden in enger Kooperation mit der IG Farben AG (Leverkusen) durchgeführt und erstreckten sich in erster Linie auf die Erprobung der synthetischen Antimalariapräparate Atebrin, Plasmochin und Sontochin sowie auf das Chininderivat »Chinin. Hydrochloric«. Die Probanden der Pflegeanstalten sind meist mit Plasmodium vivax, aber auch mit dem eigens gezüchteten Tropica-Stamm »Pfaffenrode« künstlich infiziert worden.
39 Eckart, 2010.
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Zu Experimenten kam es allerdings auch im Bereich der Wehrmacht. Wenngleich die Malariamortalität in den Truppen relativ gering war, so führten die zahlreichen Malariafälle regelmäßig zu längeren krankheitsbedingten Dienstausfällen. Die volle Einsatzfähigkeit der erkrankten Soldaten war nicht zuletzt auch durch die Unberechenbarkeit der Rezidive eingeschränkt. Aus diesem Grunde wurden in einer Reihe von Militärlazaretten verschiedene Therapieexperimente durchgeführt, die in erster Linie der Rezidivverhütung dienen sollten. So kam es etwa 1941 zur Erprobung von Atebrin an 223 Fähnrichen der Militärärztlichen Akademie in Berlin (Rekrutierung der Probanden zum Teil durch Ferdinand Sauerbruch), um ideale Prophylaxedosen festzustellen. Im Jahre 1942 wurde im Lazarett Wiesbaden auch das von der Firma Böhringer und Söhne produzierte Präparat 2516 an Patienten getestet.40
Tuberkuloseversuche Im Zusammenhang mit infektiologischen Versuchen an Häftlingen von Konzentrationslagern müssen schließlich auch Tuberkulose-Experimente während der NS-Zeit erwähnt werden. Grundlegend zu den Versuchen ist die 2008 fertiggestellte Dissertation von Christine Wolters.41 Die Öffentlichkeit wurde bereits in den späten 1970er Jahren auf solche Versuche durch das Schicksal der »Kinder vom Bullenhuser Damm« und den mit ihm verbundenen Fall des SS-Arztes Kurt Heißmeyer42 aufmerksam. Josef Mengele hatte aus Berlin die Weisung erhalten, 20 jüdische Kinder für medizinische Experimente ins KZ Neuengamme zu schicken. Dort sollten sie Heißmeyer für Menschenversuche zur Entwicklung von Impfstoffen gegen Tuberkulose übergeben werden. Am 27.11.1944 wurden die Kinder aus dem Konzentrationslager Auschwitz zum Bahnhof gebracht, begleitet von drei polnischen Krankenschwestern und einer Ärztin. Im Hamburger Außenlager »Bullenhuser Damm« des KZ Neuengamme unterzog Heißmeyer die Kinder seinen TBC-Infektionsversuchen. Heißmeyer hatte bereits seit Juni 1944 zusammen mit dem Pathologen Hans Klein im KZ Neuengamme Tuberkulose-Experimente an sowjetischen Kriegsgefangenen vorgenommen. Als im April 1945 britische Truppen das Hamburger Stadtgebiet erreicht hatten, 40 Vondra, 1989. 41 Wolters, 2008. 42 Schwarberg, 1979/80; Schulz, 2002.
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kam der Befehl aus Berlin, die Kinder zu ermorden. Am späten Abend des 20.4.1945 wurde diese Mordanweisung durch den SS-Arzt Alfred Trzebinski und den SS-Unterscharführer Johann Frahm durch Morphiumspritzen und Erhängen ausgeführt.
Kampfstoff- und Giftgasversuche, Pervitin Die Erfahrungen des Gaskrieges der Jahre 1914 bis 1918 schließlich bildeten den Hintergrund für Kampfstoffversuche, die zwischen September 1939 und April 1945 in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Natzweiler-Struthof mit Lost, Levisit und Phosgen43 durchgeführt worden sind. Sinn dieser Versuche, denen Vorversuche in der Militärärztlichen Akademie vorausgegangen waren, war die Ermittlung der besten therapeutischen Maßnahmen gegen Lostwunden. Es wurden hierzu bei einer vergleichsweise geringen Anzahl von Häftlingen Ätzungen an beiden Armen vorgenommen. In diese Verätzungen wurden in ausgedehnten Versuchen verschiedene Infektionskeime eingebracht, um eine voraussehbare Verschmutzungssituation im Felde zu simulieren. Die Verätzungen wurden dann mit Sulfonamid-Präparaten und anderen Medikamenten behandelt. Über die Anzahl der Todesopfer bei diesen Versuchen ist nichts bekannt. Wir wissen aber, dass es sich insgesamt um außerordentlich schmerzhafte Versuche gehandelt hat, die noch dazu wegen der bewussten Zurückhaltung beim Einsatz von Kampfstoffen im Zweiten Weltkrieg ohne jeden Sinn waren. Neben der von Gerhard Baader vorgelegten Studie sind im Hinblick auf die Verwicklung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (Richard Kuhn, Otto Bickenbach) in die Chemiewaffen-Versuche (Lost, Levisit, Giftgase) in jüngster Zeit besonders die Arbeiten von Florian Schmaltz44 hervorzuheben. Nicht als kampf-, sondern als aufputschende und leistungssteigernde Substanz ist das 1893 erstmals durch den japanischen Chemiker Nagayoshi Nagai in flüssiger Form synthetisierte Methamphetamin »Pervitin« zwischen 1938 und 1945 in der deutschen Wehrmacht erprobt worden und zum Einsatz gekommen. In Deutschland war die Substanz seit 1934 in den Berliner Temmler-Werken weiter beforscht, im Oktober 1937 patentiert und 1938 unter dem Warenzeichen »Pervitin« in den Handel gebracht worden. Pervitin-Forschungen fanden sowohl an Wehrmachts43 Baader, 2002. 44 Schmaltz, 2005, 2006, 2007.
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fähnrichen in der Berliner Militärärztlichen Akademie als auch vereinzelt an Lagerhäftlingen statt. Insbesondere während der schnellen Bewegungskriege gegen Polen und Frankreich 1939/40 und die Benelux-Länder kam Pervitin (Spitznamen: »Panzerschokolade«, »Stuka-Tabletten«, »Fliegersalz« und »Hermann-Göring-Pille«) millionenfach bei Panzerführern, Lastwagenfahrern und Piloten zum Einsatz. Allein von April bis Juni 1940 bezogen Wehrmacht und Luftwaffe mehr als 35 Millionen Tabletten Pervitin. Seit 1940 wurde jedoch wegen der Suchtwirkung des Präparates zunehmend Kritik laut, die schließlich zum Verbot des aber weiterhin unter der Hand verwendeten Mittels führte. Die Forschungsliteratur zum Pervitin ist umfangreich; maßgeblich unter den vielen Studien sind die Arbeiten von Baader, Roth und Steinkamp.45 Hungerversuche sind in vielen Konzentrations- und Kriegsgefangenenlagern durchgeführt worden. Bei diesen Versuchen bekamen die Probanden noch weniger Nahrungsmittel oder minderwertigere Kost (Rübenkost) als die ohnehin bereits am Existenzminimum veranschlagten ›Normal‹-Rationen der übrigen Lagerinsassen. Zu den bekanntesten Hungerversuchen dieser Art gehören die des Stabsarztes Heinrich Brühning im Reservelazarett V in Hamburg-Wandsbek an sowjetischen Kriegsgefangenen.46 Im KZ Mauthausen unterzog 1943 Ernst Günther Schenck 370 Häftlinge seinen Hungerexperimenten.47 Viele starben. Ziel des Privatdozenten war ein ordentlicher Lehrstuhl.48 Schenck war 1940 zum Ernährungsinspekteur der Waffen-SS ernannt worden, später übernahm er diese Funktion auch für die Wehrmacht. Federführend war Schenck bei der sogenannten Plantage im KZ Dachau, einer Großanbaufläche für über 200.000 Heilpflanzen, mit denen unter anderem Vitaminpulver für die Waffen-SS hergestellt wurde, nachdem zuvor damit in Dachau experimentiert worden war. Auf Schencks VersuchsPlantage starben allein 1938 mehr als 100 Häftlinge an Entkräftung und Zwangsarbeit. Für Schenck war die Dachau-Plantage Plattform seiner SS-Karriere. Dort brachte er es 1944 bis zum Obersturmbannführer, 1945 zum SS-Standartenführer. 1943 entwickelte er eine Proteinwurst, die für die SS-Fronttruppen gedacht war. Eben diese Wurst, die aus Abfällen bestand, testete Schenck mit tödlichem Ausgang im KZ Mauthausen. Fast alle Hungerversuche dienten Zwecken der militärischen 45 Roth, 1982; Baader, 1990; Steinkamp, 2006, 2008. 46 Ebbinghaus/Kaupen-Haas/Roth, 1984; Jureit, 2002; Nussbaumer/Exenberger, 2008. 47 Kopke, 2004. 48 Kater, 1999.
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Nahrungsmittelforschung und standen damit im unmittelbaren Interesse der Wehrmacht und der SS. Sie wurden besonders nach der Katastrophe von Stalingrad mit großem Nachdruck betrieben. Dass die Wehrmacht dort – wider Willen – »ein Hungerexperiment großen Stils« durchlebt habe, bemerkte zynisch der dortige Generalstabsarzt Dr. Otto Karl Renoldi noch aus dem Kessel am 6.1.1943.49 In der militärischen Führung erachtete man das Hungerexperiment vor diesem Hintergrund für ebenso wichtig wie die Schusswaffenversuche des Wehrmachtsoberstabsarztes Dr. Gerhart Panning an »russisch-jüdischen« Kriegsgefangenen.50
Entschädigung Zur Entschädigung der Opfer nationalsozialistischer Menschenversuche gibt es seit kurzer Zeit eine umfassende Dissertation von Stefanie Michaela Baumann.51 Baumann analysiert in ihrer Studie das geistige Umfeld, die konkreten Handlungsabläufe und die Reaktionen Betroffener auf die Entschädigungspraxis der Bonner Behörden besonders in den 1950er Jahren. Ihr Versuch, dem Eindruck entgegenzuwirken, die Geschichte der ›wiedergutmachenden‹ Entschädigungsbemühungen Bonns sei nur eine chronique scandaleuse und ein»Kleinkrieg gegen die Opfer«,52 stößt jedoch an Grenzen.53
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Eckart, 1992. Kudlien, 1989. Baumann, 2009. Pross, 1988. Vgl. hierzu auch Kapitel 6.3 über Traumatisierung in diesem Band.
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medizinische forschung August, Jochen (Bearb.), Die Auschwitz-Hefte. Texte der polnischen Zeitschrift »Przeglad Lekarski« über historische, psychische und medizinische Aspekte des Lebens und Sterbens in Auschwitz. Aus d. Poln. übers. von Jochen August, 2 Bde., Weinheim, Basel 1987. Baader, Gerhard, Menschenversuche in der Wehrmacht. Pervitin als Beispiel, in: Tschirner, Martina/Göbel, Heinz-Werner (Hrsg.), Wissenschaft im Krieg – Krieg in der Wissenschaft, Marburg 1990, S. 258-266. Baader, Gerhard, 50 Jahre Nürnberger Ärzteprozeß, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 11 (1996), H. 4, S. 7-14. Baader, Gerhard, Lost-Levisit-Kampfstoffversuche in der deutschen Militärmedizin, 1939-1945, in: Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin 3 (2002), S. 12-28. Baader, Gerhard/Schultz, Ulrich (Hrsg.), Medizin und Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit – Ungebrochene Tradition? Dokumentation des Gesundheitstages Berlin 1980, Berlin 1980. Bärnighausen, Till, Medizinische Humanexperimente der japanischen Truppen für biologische Kriegsführung in China, 1932-1945, Frankfurt/M. [u. a.] 2002. Bärnighausen, Till, Barbaric research – Japanese human experiments in occupied China: relevance, alternatives, ethics, in: Eckart, Wolfgang U. (Hrsg.), Man, medicine, and the state – The human body as an object of government sponsored medical research in the 20th century, Stuttgart 2006, S. 167-196. Bastian, Till, Furchtbare Ärzte. Medizinische Verbrechen im Dritten Reich, 3. Aufl., München 2001. Baumann, Stefanie Michaela, Menschenversuche und Wiedergutmachung – Der lange Streit um Entschädigung und Anerkennung der Opfer nationalsozialistischer Humanexperimente, München 2009. Bavay, Riccardo, Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus – Eine Bilanz der Forschung, München 2003. Bayle, François, Croix gammée contre Caducée. Les expériences humaines en Allemagne pendant la Deuxième Guerre Mondiale, Berlin 1950. Benz, Wolfgang (Hrsg.), Überleben und Spätfolgen, München 1996. Benz, Wolfgang/Distel, Barbara (Hrsg.), Medizin im NS-Staat – Täter, Opfer, Handlanger, München 1988. Berger, Robert L., Nazi science: The Dachau hypothermia experiments, in: The New England Journal of Medicine 322 (1990), H. 20, S. 1435-1440. Bleker, Johanna, 50 Jahre Nürnberger Ärzteprozeß. Medizin, Wissenschaft und Menschenwürde, in: Berliner Ärzte 33 (1996), H. 6, S. 11-15. Bogusz, Josef, Der Einfluß des Nürnberger Ärzteprozesses auf die Begriffsbildung bei Experimenten an Menschen, in: August, Jochen (Bearb.), Die AuschwitzHefte. Texte der polnischen Zeitschrift »Przeglad Lekarski« über historische, psychische und medizinische Aspekte des Lebens und Sterbens in Auschwitz. Aus d. Poln. übers. von Jochen August. Bd. 2, Weinheim, Basel 1987, S. 15-24. Burman, W. Paul (Hrsg.), The first German war crimes trial. Chief Judge Walter B. Beals’ desk notebook of the doctors’ trial, held in Nürnberg, Germany, December 1945 to August 1947, Chapel Hill/N.C. 1985.
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4.3 Medizinische Forschungspolitik und Forschungsschwerpunkte Wolfgang U. Eckart Zur allgemeinen medizinischen Forschungsgeschichte (vgl. hierzu auch Kapitel 4.2 zur verbrecherischen Experimentalforschung) während des Nationalsozialismus liegen inzwischen zahlreiche Studien vor, die sich im Wesentlichen auf die Aspekte der Vererbungswissenschaft (Rassenhygiene/Eugenik) und Bevölkerungswissenschaften, Physiologie/Leistungsmedizin und Anatomie, Hygiene und Infektiologie sowie auf die Krebsforschung erstrecken. Auch zur wissenschaftspolitischen Forschungskoordination und -förderung (Deutsche Forschungsgemeinschaft, Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft) sowie zu den zentralen Forschungsinstitutionen im Nationalsozialismus darf unser Wissen, verglichen mit anderen medizinhistorischen Themengebieten, inzwischen als durchaus herausragend charakterisiert werden. In den folgenden Abschnitten soll zunächst auf die zentrale Forschungskoordination, sodann auf bedeutende Forschungsinstitutionen und abschließend exemplarisch auf einzelne Forschungsschwerpunktfelder eingegangen werden.
Zentrale Forschungssteuerung Studien zur zentralen Forschungssteuerung in der Medizin des Nationalsozialismus fehlen bislang weitgehend, während Beiträge zu Einzelforschungsbereichen oder Forschungsinstitutionen in großer Zahl vorliegen. Einzig die Studie »Von der Notgemeinschaft zum Reichsforschungsrat«1 (2008) von Sören Flachowsky präsentiert auch die medizinische Forschungsförderung sowie die Versuche ihrer zentralen Koordination im Kontext von »Autarkie, Aufrüstung und Krieg«. Dass zu diesem Themenkomplex bislang noch keine zusammenfassende Darstellung vorliegt, ist möglicherweise der nur in Ansätzen erfolgten Umsetzung solcher Steuerungsansprüche geschuldet, mag aber auch dadurch begründet sein, dass zunächst die verbrecherischen Fakten dieser Forschung im Vordergrund des Interesses gestanden haben. Der in einem biodiktatorischen System (im Sinne der »Biopolitik« nach Foucault) wie 1
Flachowsky, 2008.
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dem Nationalsozialismus zu erwartende Anspruch einer zentralen Konzentration und Steuerung gerade der medizinischen Forschung darf nach dem bisherigen Forschungsstand, wenn überhaupt, nur als bedingt eingelöst betrachtet werden. Als Reichsstelle für eine solche Forschungssteuerung wäre im Prinzip das preußische Ministerium (später Reichsministerium) für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (Ministerium Rust) in Frage gekommen. Diese Institution hat sich allerdings in den Jahren 1933/34 in ihrer »Universitätsabteilung« (später »Amt für Wissenschaft«) wesentlich mit der Gleichschaltung der Universitäten und ihren Fakultäten sowie mit ihrer »Entjudung« befasst, die zwischen März 1933 und bis zu seiner Berufung auf den Heidelberger Lehrstuhl für Physiologie (1934) Ministerialrat Johann Daniel Achelis in seiner Funktion als Personalreferent der Universitätsabteilung, quasi als »Architekt der Säuberung«,2 verantwortlich koordinierte. Ansonsten beobachtete und dokumentierte das Ministerium lediglich Forschungen an den Medizinischen Fakultäten, übernahm aber die zentrale Personalführung (Berufungsfragen, Reiseund Auslandstätigkeit etc.) der Universitäten des Reichs. Achelis wurde erst 1944 als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Bevollmächtigten für das Gesundheitswesen, Karl Brandt, wieder in eine zentrale Funktion berufen. Anders als in der allgemeinen Rüstungsforschung, die vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Vierjahresplanes 1937 durch die Gründung des Reichsforschungsrates und seit 1939 unter dem Eindruck des Krieges zentral koordiniert und staatlich gezielt gefördert wurde, hat sich die Disziplinvielfalt der Medizin insgesamt nur sperrig zentralistischen Beeinflussungen beugen lassen. Das schließt keineswegs aus, dass sich besondere Forschungsschwerpunktfelder wie etwa die Vererbungswissenschaften in der Friedensphase oder die der Krebsforschung als Reaktion auf den sich bereits seit der Jahrhundertwende abzeichnenden epidemiologischen Wandel oder die stark militärisch ausgerichtete Leistungsphysiologie und Infektiologie herauskristallisieren konnten. Personale oder institutionelle Interessenkonkurrenzen und -konflike standen, gemessen an der vergleichsweise kurzen NS-Herrschaft und beeinträchtigt durch das Diktat der Sondersituation Krieg, einer tatsächlichen Zentralsteuerung der medizinischen Forschung bis zum Zusammenbruch des Regimes entgegen. Unbestreitbar
2 Heiber, 1991, S. 392. Vgl. zur Säuberungsfunktion des Reichsministeriums exemplarisch besonders Jasch, 2005.
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entsprach aber die Konzentration auch der medizinischen Forschung den Intentionen des NS-Führungsapparates und seiner Funktionsträger. Zentrale Koordinationsstelle der wissenschaftlichen Forschung war der 1937 gegründete Reichsforschungsrat (RFR). Zugeordnet dem Reichserziehungsministerium unter Bernhard Rust, sollte im RFR, mit Ausnahme der Aeronautik, die zentralistische Planung der gesamten Grundlagen- und angewandten Forschung, also auch der medizinischen Forschung, koordiniert werden. Im Jahr 1942 wurde der Rat reorganisiert und dem Reichsministerium für Bewaffnung und Munition unter Fritz Todt unterstellt. Als erster Präsident stand dem Reichsforschungsrat von 1937 bis zu seinem Tod (1940) Karl Heinrich Emil Becker vor. Danach ging die Präsidentschaft auf den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, über, obwohl dessen Ministerium eigentlich nicht mehr zuständig war. Die tatsächliche Führung oblag allerdings Rudolf Mentzel, 1936 bis 1945 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und 1937 bis 1945 Geschäftsführer des RFR. Die Unterstützung von Forschungsvorhaben wurde durch die Leiter der 13 Fachsparten entschieden, von denen immerhin drei der medizinischen Forschung im engeren Sinn gewidmet waren. Fachspartenleiter für allgemeine Medizin im ersten und zweiten Reichsforschungsrat war von 1937 bis 1945 der Berliner Chirurg Ferdinand Sauerbruch, während Kurt Blome seit 1939 der Fachsparte Bevölkerungspolitik, Erbbiologie und Rassenpflege vorstand und seit 1942 (Ernennungsschreiben Hermann Görings vom 30.4.1942) zugleich als Bevollmächtigter für Krebsforschung im RFR und Verantwortlicher für die Koordination der biologischen Kriegsführung verantwortlich zeichnete. Richard Kuhn wirkte im RFR von 1939 bis 1945 als Fachspartenleiter für Organische Chemie und Biochemie, leitete seit 1937 das KaiserWilhelm-Institut für Medizinische Forschung in Heidelberg und war seit 1944 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Bevollmächtigten für das Gesundheitswesen, Karl Brandt. Wilhelm Richter schließlich stand von 1937 bis 1943 der Fachsparte Wehrmedizin vor, während Walther Schreiber von 1943 bis 1945 dem RFR als Bevollmächtigter für Seuchenforschung diente und wie Kuhn seit 1944 dem Wissenschaftlichen Beirat Karl Brandts angehörte. Sowohl der Krebsforschung als auch der biologischen Kriegsführung sollte das Reichsinstitut für Krebsforschung in Posen gewidmet sein, dessen Aufbau und Leitung ebenfalls Blome oblag. Dem Reichsforschungsrat zugeordnet war das 1944/45 von Matthias Heinrich Göring geleitete Reichsinstitut für psychologische Forschung und Psychotherapie in Berlin. Ebenfalls unmittelbar dem RFR 151
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zugeordnet war schließlich auch das Reichsinstitut für Erforschung und Verhütung der Staublungenerkrankungen in Essen/Münster, dem 1944/45 Karl Wilhelm Jötten vorstand. Auf der politischen und militärischen Führungsebene des Nationalsozialismus konturierten sich in der Mitte der 1930er Jahre im Hinblick auf die medizinische Forschung Weisungshierarchien, die allerdings nicht durchgehend verbindlich waren und gelegentlich missachtet oder umgangen werden konnten. Sie liefern allerdings Anhaltspunkte zumindest für die prinzipiellen Weisungsbefugnisse und Befehlsverantwortlichkeiten. Unmittelbar Hitler zugeordnet war Karl Brandt,3 Generalkommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, verantwortlich für die gesamte Koordination zwischen zivilem und militärischem Gesundheitswesen, selbst auch Initiator und Förderer verbrecherischer Experimentalforschung. Brandt befand sich in wachsender Rivalität zu den Reichsärzteführern Gerhard Wagner und besonders Leonardo Conti,4 die allerdings in die Forschungskoordination nicht unmittelbar involviert waren. Direkt weisungsabhängig war Brandt der Chirurg Paul Rostock als »Beauftragter für medizinische Wissenschaft und Forschung« seit 1943 zugeordnet. Rostock koordinierte Planung und Durchführung einer Vielzahl medizinischer Versuchsreihen an Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen. Auf der militärischen Seite standen Brandt als Initiatoren und Koordinatoren verbrecherischer Forschung Siegfried Handloser,5 Generaloberstabsarzt und Chef des Wehrmachtssanitätswesens, Erich Hippke und Oskar Schröder, als Inspekteure des Luftwaffensanitätswesens, sowie Karl Genzken als Chef des Sanitätsamtes der Waffen-SS gegenüber. Für die SS kam Heinrich Himmler als »Reichsführer-SS und Polizei« und seit 1943 in seiner Funktion als Reichsinnenminister und damit oberster Dienstherr des Reichsgesundheitsamtes eine nahezu uneingeschränkte Weisungsbefugnis auch in Forschungsfragen zu, die er innerhalb der Lagerforschung auch nutzte. Himmlers Kommando unterstand unmittelbar Ernst-Robert Grawitz als »Reichsarzt-SS und Polizei«6. Wo nicht Himmler selbst forschungsinitiativ wurde, war es Grawitz, der insbesondere die Lagerforschung durch ein verzweigtes Netz von SS-Ärzten verantwortlich koordinierte und überwachte. Zu den wichtigsten medizinischen Forschungs- und Dienstleistungsinstitu3 4 5 6
Schmidt, 2009. Leyh, 2002. Eckart, 1998b; Person, 2005. Eckart, 1998c.
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ten der SS gehörte das Hygiene-Institut der Waffen-SS, das seit 1941 SSObersturmführer Joachim Mrugowsky unterstand.
Zentrale Institutionen der medizinischen »Forschung« und Biopolitik Die Geschichte des Reichsgesundheitsamtes (RGA)7 und (in Übersicht) der Gesundheitsämter (1870-1950)8 ist bis 1933 durch die Arbeiten von Axel Hüntelmann ausführlich erschlossen. Der Situation des RGA im Nationalsozialismus widmet Hüntelmann in seiner Studie verständlicherweise allerdings nur einen »Ausblick«. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten vollzieht sich ein radikaler Wandel der Funktion dieser Institution in Richtung Rassenpolitik und Bevölkerungswissenschaften,9 für den der Bakteriologe und Hygieniker Hans Reiter steht, Mitglied im Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik des Reichsinnenministeriums. Als Präsident des Reichsgesundheitsamtes vertrat Reiter, über den Robin Maitra 2001 eine detailreiche Studie vorgelegt hat,10 uneingeschränkt die rassenhygienische Ideologie und leistungsmedizinische Ausrichtung des Nationalsozialismus. Daneben leitete Reiter die Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung und gehörte zugleich dem Reichsausschuss für Volksgesundheit an. Am 18.8.1942 ernannte ihn Adolf Hitler zum außerordentlichen Mitglied des Wissenschaftlichen Senats des Heeressanitätswesens, und Karl Brandt berief ihn 1944 in seinen Wissenschaftlichen Beirat. Neben Bevölkerungsmedizin, Rassenhygiene und Leistungsmedizin widmete sich das Reichsgesundheitsamt in einem weiteren »Forschungs«- und Arbeitsschwerpunkt der sog. »Zigeunerforschung«.11 Die hierzu 1936 auf Veranlassung des Leiters der Abteilung Volksgesundheit im Reichsministerium des Innern, Arthur Gütt, als Institut des Reichsgesundheitsamtes gegründete Rassenhygienische Forschungsstelle am Reichsgesundheitsamt (RHF) stand unter der Leitung des ärztlichen Rassentheoretikers Robert Ritter12 und betrieb in enger Zusammenarbeit mit der Polizei die Begutachtungen von etwa 30.000 »Zigeunern«. 7 8 9 10 11 12
Hüntelmann, 2006a, 2008a, 2008b. Hüntelmann, 200b; Donhauser, 2007. Vgl. hierzu Kröner, 2005. Maitra, 2001. Vgl. hierzu Winter, 1988; Zimmermann, 1996, 2007. Hohmann, 1991, 1994.
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Durch diese Begutachtungsarbeit lieferte die RHF die pseudowissenschaftliche Grundlage für die Erfassung, Zwangssterilisation und Ermordung Zehntausender Sinti und Roma in Ghettos und Vernichtungslagern (von ca. 40.000 erfassten etwa 25.000), wobei die Gesamtzahl der unter der NS-Diktatur umgekommenen Sinti und Roma wesentlich höher lag. Daneben wurden Häftlinge in Konzentrationslagern begutachtet. Sitz der RHF war zunächst Tübingen, dann Berlin. Vor Kriegsende erfolgte die Auslagerung nach Fürstenberg/Havel. Die RHF war im Grunde kein theoretisches Forschungsinstitut, sondern verfolgte die ihm zugedachte Aufgabe, ihre als »Forschung« deklarierte Begutachtungstätigkeit in die »erbpflegerische Praxis« überzuleiten. Zur Geschichte des Robert Koch-Instituts (RKI) im Nationalsozialismus hat Annette Hinz-Wessels 200813 eine profunde Studie vorgelegt. Sie zeigt, dass diese bedeutende infektiologische Institution zwischen 1933 und 1945 als staatliche Forschungseinrichtung des öffentlichen Gesundheitswesens eng in das nationalsozialistische Gesundheitssystem eingebunden war. Die Verfasserin geht in ihrer Studie besonders dem personellen und organisatorischen Umbau nach, dem das Institut während der NS-Diktatur unterworfen war, beleuchtet mehrere Forschungsund Arbeitsfelder und belegt die Beteiligung einzelner Mitarbeiter des Instituts an den nationalsozialistischen Medizinverbrechen. Der infektiologischen Forschung des Instituts ist auch ein 2009 erschienener und von Marion Hulverscheidt und Anja Laukötter herausgegebener Sammelband zur »Wissenschaftsgeschichte des Robert Koch-Instituts«14 gewidmet. Besonders werden in diesem Band die multiplen Aufgabenfelder sowie die nationalen und internationalen Beziehungsgeflechte des RKI in der Zeit des NS-Systems analysiert. Einer Auflage des Versailler Vertrages entsprechend war die aus der 1795 gegründeten Pépinière (1818 »Medicinisch-chirurgisches FriedrichWilhelm-Institut«) hervorgegangene »Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen« (1895) im Jahre 1919 aufgelöst worden. Sie wurde am 1.10.1934 als Militärärztliche Akademie im alten Gebäude der Kaiser-Wilhelm-Akademie wiedereröffnet, unterstand bis zur Verlegung nach Breslau (1944) direkt dem Heeressanitätsinspekteur (19341940: Generaloberstabsarzt Anton Waldmann; 1940-1944: Generaloberstabsarzt Siegfried Handloser;15 1944/45: Generalleutnant Paul Walter) 13 Hinz-Wessels, 2008. 14 Hulverscheidt/Laukötter, 2009. 15 Person, 2005.
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und gliederte sich in drei Lehrgruppen. In den Lehrgruppen A und B erfolgte die Ausbildung der Sanitätsoffiziersanwärter, wobei in der Lehrgruppe A die Ausbildung der Vorkliniker und in der Lehrgruppe B diejenige der Kliniker stattfand. In der Lehrgruppe C waren ab 1938 die medizinischen Forschungsinstitute der Akademie zusammengefasst. Kommandeure der Akademie waren von 1934 bis 1939 Generalarzt Rudolf Gunderloch, von 1939 bis 1944 Generalstabsarzt Richard Hamann und von 1944 bis März 1945 Generalstabsarzt Walter Asal. Neben der permanenten wissenschaftlichen Betreuung der Beratenden Ärzte der Wehrmacht hat die Akademie in vielfältiger Weise militärmedizinisch relevante Forschungen besonders im Bereich der Wehrpharmazie (Pervitinstudien an Fähnrichen), der Kampfstoffforschung (Lost-Levisit-Versuche an Fähnrichen) sowie in der allgemeinen Militär- und »Leistungs«Physiologie (Gebirgsphysiologie, Kälteforschung, Detonationsforschung, Ernährungsphysiologie) vorangetrieben. Eng verbunden mit der Akademie war auch das Amt des Beratenden Wehrphysiologen. Daneben war sie in die verbrecherische Serumforschung im KZ Buchenwald (ErwinOskar Ding-Schuler)16 sowie in zahlreiche Ernährungsversuche in Kriegsgefangenenlagern involviert, mit vielen physiologischen Universitätsinstituten (Frankfurt, Göttingen, Heidelberg, Leipzig, München, Münster) engmaschig vernetzt und bei den Kriegstagungen der Beratenden Ärzte immer vertreten. Eine ausführliche zusammenfassende Studie zur Militärärztlichen Akademie hat – nach der knappen und unkritischen Darstellung von Hubert Fischer17 – Alexander Neumann18 vorgelegt. Einzelstudien, so zum Institut für Allgemeine und Wehrphysiologie und zur Tätigkeit der Beratenden Internisten, hatten bereits Frank Unger19 und Yvonne Kupplich20 erstellt. Als SS-eigenes medizinisches Forschungsinstitut wurde 1939 die Bakteriologische Untersuchungsstelle der SS mit Sitz in Berlin gegründet. Aus ihr ging 1940 das Hygiene-Institut der Waffen-SS hervor. Es war u. a. für die Experimente an Menschen in Konzentrationslagern, aber auch für zahlreiche weitere inhumane Untersuchungen verantwortlich. Die Leitung des Hygiene-Instituts der Waffen-SS hatte seit 1941 SS16 Vgl. zu Ding-Schuler die detaillierten Hinweise bei Kogon, 2000, Klimpel, 2005 sowie Hackett, 2002. 17 Hubert Fischer, 1985. 18 Neumann, 2005a; vgl. auch Neumann, 2009. 19 Unger, 1991. 20 Kupplich, 1996.
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Obersturmführer Joachim Mrugowsky21 inne. Heinrich Himmler beauftragte ihn 1937 mit der Leitung (Amtschef III) des im Auf bau befindlichen Hygiene-Instituts der Verfügungstruppe der SS (später Waffen-SS) im Dienstrang eines SS-Sturmbannführers. Zugleich war Mrugowsky Standartenarzt der Leibstandarte Adolf Hitler. Er unterstand in seiner Funktion als Chef des Hygiene-Instituts der Waffen-SS unmittelbar dem »Reichsarzt-SS und Polizei«, Ernst-Robert Grawitz,22 erhielt allerdings Befehle auch direkt von Himmler. Ab 1943 fungierte er als Oberster Hygieniker beim »Reichsarzt-SS und Polizei« und war an zahlreichen Humanexperimenten an Häftlingen in den verschiedenen nationalsozialistischen Konzentrationslagern beteiligt. Unter anderem leitete Mrugowsky Versuche im KZ Sachsenhausen, bei denen Häftlinge mit vergifteter Munition (Akonitinnitrat) beschossen wurden. Seit Dezember 1941 unterhielt das Institut im Isolierblock 46 des Konzentrationslagers Buchenwald in enger Kooperation mit dem Berliner Robert Koch-Institut (Eugen Gildemeister) und den Marburger Behring-Werken (Albert Demnitz) ein Versuchslabor für Serumforschung, das insbesondere der Fleckfieberforschung gewidmet war.23 Vergleichbare Laboratorien existierten auch in anderen Konzentrationslagern, so etwa in Auschwitz, wo man mit dem dortigen Lagerarzt Josef Mengele kooperierte. Das Auschwitzer Versuchslabor stand unter der Leitung von Bruno Weber. Auch hier fand eine enge Kooperation mit der Industrie statt, so etwa mit den Bayer-Werken in Leverkusen. Auch das KZ Mauthausen war Schauplatz von medizinischen Versuchen im Auftrag des Hygiene-Instituts der Waffen-SS. 1943 wurden hier an fast 2000 Lagerinsassen Impfstoffe gegen Paratyphus und Tetanus getestet.24 Beteiligt an den Humanexperimenten der SS in Konzentrationslagern war auch der Mediziner, SS-Gruppenführer und Chef des Sanitätsamtes der Waffen-SS, Karl Edmund August Genzken. Unter den medizinisch relevanten Forschungseinrichtungen der SS muss hier auch das 1942 unter dem Dach des Ahnenerbes (1935: Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e. V.)25 mit Mitteln der Waffen-SS gegründete Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung genannt werden. Dieses Institut, dem Michael Kater 1998 ein 21 Zu Mrugowsky finden sich zahlreiche Einzelberichte bei Geißler, 1998 und Weindling, 2003; vgl. auch die jüngst vorgelegte Studie von Bruns, 2007. 22 Eckart, 1998c; Hahn, 2007/2008. 23 Werther, 2004. 24 Vgl. hierzu Langbein, 1980 sowie Kieta, 1994. 25 Vgl. zum Ahnenerbe Kater, 1998.
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eigenes Kapitel in seiner Studie über das Ahnenerbe26 gewidmet hat, verantwortete auf persönliche Weisung Heinrich Himmlers27 tödliche Menschenversuche an Gefangenen des KZ Dachau und des KZ Natzweiler; berüchtigt unter den beteiligten Ärzten, meist Mitgliedern der Waffen-SS, war besonders Sigmund Rascher,28 der in Dachau tödliche Unterdruck- und Kälteexperimente vornahm, während der Heidelberger Anatom August Hirt, der dem Persönlichen Stab des »Reichsführers-SS« angehörte, im Konzentrationslager Natzweiler-Struthof an Gefangenen Versuche mit dem Kampfstoff Senfgas (Lost) durchführte; er war dort auch an der Ermordung von 86 jüdischen Häftlingen aus dem KZ Auschwitz beteiligt. Ihre Körper sollten zum Auf bau einer Skelettsammlung am Anatomischen Institut in Straßburg dienen (»Sicherstellung der Schädel von jüdisch-bolschewistischen Kommissaren zu wissenschaftlichen Forschungen«, Hirt an Himmler, 9.2.1942). Hierzu wählten die Anthropologen und SS-Hauptsturmführer Bruno Beger und Hans Fleischhacker im Juni 1943 in Auschwitz jüdische Gefangene aus und ließen sie ins KZ Natzweiler-Struthof verschleppen, wo sie bald nach Eintreffen ermordet wurden. Nur im weitesten Sinne der Forschung, allenfalls der angewandten Rassenforschung gewidmet, verfügte das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS (RuSHA) über nur wenige Mediziner, die Isabel Heinemann in den biographischen Anhang ihrer umfassenden Studie über das RuSHA (2003)29 aufgenommen hat. Unter ihnen befand sich immerhin Josef Mengele, der vor seiner Kommandierung als Standortarzt nach Auschwitz (1943) von 1940 bis 1942 Erbgesundheitsuntersuchungen in der Abteilung »Erbgesundheit« des RuSHA vornahm. Als mustergültig kann inzwischen30 der historische Forschungsstand zu den medizinischen Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) im Nationalsozialismus bezeichnet werden. Im Einzelnen handelte es sich um das Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem, die 1917 gegrün26 Kater, 1998, S. 227-264. 27 Wenig ergiebig zum ganzen Komplex der SS-Medizinforschung ist die Biographie Himmlers von Longerich, 2008. 28 Vgl. zu Rascher Benz, 1988; Hans Pfeiffer, 2006. 29 Heinemann, 2003. 30 Vgl. zum früheren Forschungsstand den für die Gründungs- und Frühgeschichte der KWG und ihrer Institute sehr verdienstvollen, hinsichtlich der NS-Verbindungen der KWG stellenweise allerdings wenig ergiebigen Band von Vierhaus/ Vom Brocke, 1990.
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dete und 1924 als KWI der KWG angegliederte Deutsche Forschungsanstalt (DFA) für Psychiatrie in München und das KWI für Hirnforschung in Berlin-Buch. In den Blickpunkt des historischen Interesses geriet schließlich auch das KWI für Biochemie in Berlin-Dahlem, das von dem Nobelpreisträger und späteren Präsidenten der Max-PlanckGesellschaft, Adolf Butenandt, geleitet wurde. Auf Anregung der 1999 vom Präsidium der Max-Planck-Gesellschaft eingerichteten Präsidentenkommission »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus« konnten im vergangenen Jahrzehnt bedeutende Studien zum Verhältnis der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zum NS-System, zum wissenschaftlichen, politischen und wissenschaftspolitischen Handeln ihrer Repräsentanten und Wissenschaftler während der Zeit des Nationalsozialismus sowie zu den Folgewirkungen dieses Handelns auf die Max-Planck-Gesellschaft publiziert werden. Von den inzwischen erschienenen 17 Bänden einer eigens für diesen Zweck begründeten Forschungsreihe sind hier, neben der umfassenden, von Doris Kaufmann (2000)31 herausgegebenen Gesamtdarstellung, für die medizinische Forschung besonders der von Hans-Walter Schmuhl 2003 veröffentlichte Band zur Rassenforschung an den KWIs,32 der von Carola Sachse 2003 besorgte Band über die »Verbindung« der KWG nach »Auschwitz. Biowissenschaften und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten«,33 Hans-Walter Schmuhls Studie über das KWI für »Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927-1945«,34 Alexander von Schwerins Buch über den »Genetiker Hans Nachtsheim und die vergleichende Erbpathologie 1920-1945«35 sowie die Untersuchung zur »KampfstoffForschung« im Nationalsozialismus und damit zum medizinwissenschaftlich-industriell-militärischen Forschungskomplex im Nationalsozialismus von Florian Schmaltz (2005)36 zu nennen. Den vertriebenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft haben Michael Schüring (2006)37 und Reinhard Rürup (2008)38 eigene Studien gewidmet.
31 32 33 34 35 36 37 38
Kaufmann, 2000. Schmuhl, 2003. Sachse, 2003. Schmuhl, 2005. Schwerin, 2004. Schmaltz, 2005. Schüring, 2006. Rürup, 2008.
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Mit Ausnahme der »Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde«39 und der »Reichsarbeitsgemeinschaft für Mutter und Kind«40 ist der wissenschaftlichen und wissensvermittelnden Tätigkeit medizinischer oder medizinnaher Interessensverbände im Nationalsozialismus bislang in der Forschung noch zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. So fehlen derzeit noch eingehende Studien zur Tätigkeit etwa der »Reichsfachschaft deutscher Hebammen«, zur »Reichsarbeitsgemeinschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums«, zur »Reichsarbeitsgemeinschaft zur Bekämpfung des Krüppeltums«,41 zur »Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung« (Studien zu Fragen der Volksernährung im Kontext des »Reichsnährstandes« liegen vor)42 oder zur »Reichsarbeitsgemeinschaft für Heilpflanzenkunde und Heilpflanzenbeschaffung«.
Menschliche Vererbungswissenschaft, 1920-1970 Der Durchbruch der menschlichen Erblehre in ihrer mendelistischen Ausrichtung vollzog sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts langsam über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren und darf als gut aufgearbeitet betrachtet werden.43 Die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft hat in den 1920er Jahren nur wenige Forschungsvorhaben gefördert, die auf eine unmittelbare Anwendung der mendelistischen Genetik – im Sinne der Arbeiten von Eugen Fischer44 über die »Rehobother Bastards« (1913)45 oder Ernst Rodenwaldt46 über die »Mestizen auf Kisar« (1927)47 – auf den Menschen abzielten. Die ersten Forschungen über die Vererbungsfrage, die im Kontext der Medizin entstanden, näherten sich der Rolle erblicher Faktoren aus einer gänzlich anderen Perspektive an. In 39 40 41 42 43 44 45 46 47
Haug, 1985; Bothe, 1991; Karrasch, 1998. Krah, 2000. Vgl. hierzu bis 1933 Osten, 2004. Jensen, 2007; Gies, 1981; Oberkrome, 2009. Vgl. vor allem Henke, 2008; Weingart, 2006; Harten, 2006; Satzinger, 2004; Bacharach, 2004; Peter, 2004; Schmuhl, 2003. Vgl. zur Rolle Fischers im Nationalsozialismus besonders Loesch, 2000; Weiss, 2004. Eugen Fischer, 1913. Zur Rolle Rodenwaldts im Nationalsozialismus besonders Eckart, 1998a; Kiminus, 2002. Rodenwaldt, 1927.
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der frühen Weimarer Republik stiegen Vererbungsstudien vor allem zum Randgebiet der modernen Bakteriologie und Ernährungsphysiologie auf. Anders die Situation in der KWG, in der durch die Gründung des »Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik«48 1927 stärkere Akzente gesetzt wurden. Bedeutend ist allerdings im Kontext der Notgemeinschaftsförderung der Bereich der Rassenforschung. Unter dem in der Weimarer Republik noch außerordentlich flexiblen Begriff »Rassenforschung« wurden ab Mitte der zwanziger Jahre vielfältige Projekte gefördert, bei denen die Kategorie der »Rasse« als eine von zahlreichen Einflussgrößen herangezogen wurde. Hierbei ging es allerdings noch nicht dominant um Fragen des Zusammenhangs von »Rasse« und pathogenetischen Aspekten. Im Gegenteil, nicht selten, so etwa bei den geförderten Forschungsvorhaben im Bereich »vergleichende Völker- und Rassenpathologie« – wie sie wesentlich vom Freiburger Pathologen Ludwig Aschoff initiiert wurden –, sollten die beteiligten Forscher die Abhängigkeit pathologischer Prozesse von »Rassen«-Faktoren gerade nicht verifizieren, sondern in Frage stellen. Stattdessen richtete sich die Aufmerksamkeit auf Umwelt- oder habituelle Einflüsse auf den Erbgang, so etwa Fragen der Ernährung. Erst im Rahmen der sog. Gemeinschaftsarbeiten für Rassenforschung, die ab 1928 von der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft (1920-1929 Vorgängerorganisation der Deutschen Forschungsgemeinschaft) unterstützt wurden, vollzog sich der Übergang zur Förderung von erbbiologischen Paradigmen. Die Akzentverschiebung zur Förderung erbpathologischer Forschung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) erfolgte im Grunde erst 1930 und war wesentlich mit der Person des Psychiaters und Erbforschers Ernst Rüdin49 verknüpft. Rüdin fungierte neben Eugen Fischer am KWI für »Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik« als Mentor für das um diese Zeit eingeleitete Langzeitprojekt der Notgemeinschaft/DFG. Mit Rüdins Einbeziehung in diese Gemeinschaftsarbeiten erhielten nun interessanterweise auch Untersuchungen erbpathologischer Merkmale Vorrang gegenüber der zuvor eher anthropologisch geleiteten Erforschung der Bevölkerung. Diese bereits in den letzten Jahren der Weimarer Republik deutlich sich abzeichnende Akzentverschiebung auf rassenhygienisch-erbpathologische Fragestellungen wurde mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten konsequent fortgesetzt. Die Begutachtungs- und Bewilligungspraktiken änderten sich 48 Schmuhl, 2005; Kröner, 1998. 49 Vgl. hierzu Weber, 1993; Roelcke, 2006.
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allerdings kaum, da Eugen Fischer und Ernst Rüdin als privilegierte Fachgutachter für Erb- und Rassenforschung auch über den politischen Einschnitt des Jahres 1933 hinaus die Erbforschungsförderung nachhaltig prägten. Die DFG beeinflusste im Nationalsozialismus in ganz erheblichem Maße die Forschungspolitik auf dem Gebiet der Erb- und Rassenforschung, und sie war gerade durch ihren Schwenk auf Fragen der Erbpathologie auch maßgeblich an ihrer Radikalisierung und programmatischen biopolitischen Umsetzung im Kontext des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (14.7.1933) beteiligt. Auch wenn, so hat Anne Cottebrune50 herausgearbeitet, die im Nationalsozialismus geförderten Erbforscher aktiv an der Ausweitung der NS-Erbgesetzgebung beziehungsweise an deren Radikalisierung beteiligt waren, brachte ihre Forschung doch nicht immer einen unmittelbar politisch umsetzbaren Ertrag für die NS-Politik der »Erb- und Rassenpflege«. Die rassenhygienisch motivierte Forschung konnte auch letztlich Grundlagenforschung sein und damit in keinem politisch eindeutig kalkulierbaren Verhältnis zur Verwertbarkeit für die rassenhygienischen Maßnahmen des Regimes stehen. Menschenverachtend im moralischen Kontext blieb sie allemal. Ein tiefer Einschnitt in die Förderung der Erb- und Rassenforschung erfolgte mit Kriegsbeginn 1939. Dieser Einschnitt war in seinen Förderungsauswirkungen sogar deutlich markanter als die Radikalisierung und Verengung zugunsten der Förderung rassenhygienischerbpathologischer Forschung des Jahres 1933. Mit der Einrichtung des Reichsforschungsrates, der die Forschungsförderung auf die Ziele des Vierjahresplanes auszurichten hatte, wurde nämlich eine Umverteilung der Forschungsbudgets vorgenommen, die einen im Laufe des Krieges immer deutlicher werdenden Abbau der Erb- und Rassenforschung zur Folge hatte. Homogen war diese Minderung der Forschungsförderung freilich nicht, denn nun erfreuten sich Bereiche, die im unmittelbaren Zusammenhang mit der Selektions- und Vertreibungspolitik des NSRegimes standen, erkennbar größerer Zuwendung. Zu nennen ist hier insbesondere die durch den RFR erfolgte Förderung der »Asozialen«Forschung (einschließlich der »Zigeuner«-Forschung).51
50 Cottebrune, 2008. 51 Vgl. hierzu Cottebrune, 2007.
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Anatomie und Physiologie In der anatomischen Forschung während der Zeit des Nationalsozialismus ist in den vergangenen Jahren insbesondere die moralisch fragwürdige Ausbeutung des Körpers ermordeter »Euthanasie«-Opfer und hingerichteter politischer Gegner des NS-Regimes in einer Vielzahl von Studien untersucht worden. Insbesondere Leichen des politischen Hinrichtungsterrors wurden unmittelbar von den über das ganze Reich verteilten Richtstätten an die anatomischen Institute der Universitäten zu Unterrichts- oder Forschungszwecken überführt. Exemplarisch kann hier auf das Beispiel der Universität Heidelberg verwiesen werden.52 Eine noch andauernde Kontroverse hat sich vor dem Hintergrund der anatomisch-physiologischen Studien des Berliner Anatomen Hermann Stieve an den Gebärmüttern hingerichteter Frauen ergeben. Sie zeigt auch, wie sehr im Fluss hier die Debatte um die moralische Rechtfertigung der Jagd nach »begehrten Leichen« und die leichenverwertende Forschung im Nationalsozialismus derzeit noch ist.53 Intensiv hat sich die Geschichtswissenschaft in jüngster Zeit auch der »Verwertung« hirnanatomischer Präparate von Opfern des nationalsozialistischen Krankenmordes zugewandt. Hierbei stand die Person des Julius Hallervorden lange Zeit im Mittelpunkt des Interesses. Der Arzt und Hirnforscher Hallervorden arbeitete in der Zeit des Nationalsozialismus am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch, forschte dort vor allem zusammen mit dem Neuropathologen Hugo Spatz an Gehirnen Ermordeter. Nach Kriegsende waren beide weiter an Instituten der MaxPlanck-Gesellschaft tätig. Aus der Fülle der Literatur kann hier nur exemplarisch auf die Arbeiten von Hans-Peter Kröner, Carola Sachse und Benoit Massin, Jürgen Peiffer und Hans-Walter Schmuhl verwiesen werden.54 Auf die Entwicklung der Physiologie (vgl. hierzu besonders die neueren Forschungen von Alexander Neumann)55 im Förderungshorizont der Notgemeinschaft bzw. der DFG kann an dieser Stelle nur kursorisch eingegangen werden. So war etwa die starke Ausprägung und Förderung der Ernährungsphysiologie (einschließlich der Vitaminforschung)56 52 Sommer, 2006. Vgl. allgemein auch Lampert, 1991; für Wien Spann, 1998; für Berlin Prüll, 2003. 53 Vgl. hierzu Noack, 2007; Hildebrandt, 2009; Schagen, 2005. 54 Jürgen Peiffer, 1997, 2000; Kröner, 1998; Schmuhl, 2000; Sachse/Massin, 2000. 55 Neumann, 2005b, 2006a, 2006b, 2010. 56 Vgl. hierzu Straub, 1931; Stoff, 2010.
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während der 1920er und frühen 1930er Jahre in ihrem motivierenden Impetus deutlich rückwärtsgewandt auf die konkreten Erfahrungen der zivilen und militärischen Hungerkatastrophe des Ersten Weltkriegs orientiert. Der Schwenk der physiologischen Forschung auf das neue Paradigma der Leistungssteigerung im totalitären Staat nach 1933, der auch durch die DFG gefördert wurde, vollzog sich nicht abrupt, sondern allmählich. Ebenso wenig wie die Vertreibung jüdischer Wissenschaftler aus der Physiologie einen dramatischen Einbruch in laufende Forschungsprojekte bedeutete, markierte auch die Machtübernahme der Nationalsozialisten zunächst keinen deutlich erkennbaren Richtungswechsel in der physiologischen Forschungsthematik, denn innerhalb der physiologischen Forschungsförderung der DFG spielte die Ernährungsforschung zunächst weiter eine zentrale Rolle, wenngleich im neuen ideologischen Gewande, da im Rahmen der Autarkiepolitik und der NS-Ideologie nun der Ernährung des »gesunden Volkskörpers«57 eine besondere Bedeutung zukam. Eine klare Neuorientierung in der durch die DFG und den Reichsforschungsrat geförderten Physiologie wird durch den Beginn des Zweiten Weltkriegs markiert. Neben ernährungsphysiologische Arbeiten, die wiederum in Rückbezug auf den Ersten Weltkrieg auf eine Vermeidung bzw. Kompensation der drohenden »Eiweiß- und Fettlücke« sowie auf die Hefeforschung orientiert waren, traten nun militärisch notwendige Forschungen auf dem Gebiet der bewegungs-, ernährungs- und psychopharmakologischen Leistungssteigerung durch Amphetamine oder auf dem der Luftfahrt unter den Bedingungen großer Höhen und großer Geschwindigkeiten.
Infektiologie und Tropenmedizin Die infektiologische Forschung während des Nationalsozialismus konzentriert sich deutlich auf zwei Schwerpunkte, den der Bekämpfung der infektiösen Volkskrankheiten und hier insbesondere der Tuberkulose sowie den unter den Vorzeichen des Krieges bedeutenden Zweig der Wundinfektions- und Kriegsseuchenbekämpfung, hier besonders der Sulfonamid- und Fleckfieberforschung. Während durch Silvia Bergers Studie über »Bakterien in Krieg und Frieden« inzwischen eine umfassende neuere Studie zur »Geschichte der medizinischen Bakteriologie in
57 Süß, 2003.
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Deutschland 1890-1933«58 vorliegt, fehlt eine zusammenfassende Darstellung für die Zeit der NS-Diktatur derzeit noch vollständig. Dies mag vor allem der stark verzweigten Forschungslandschaft von der rein industriellen bis hin zur wesentlich von der SS betriebenen verbrecherischen Lagerforschung geschuldet sein (vgl. hierzu das Kapitel 4.2). Immerhin legt Janis Schmelzer mit seiner Studie über die IG Farben (2006)59 eine Arbeit über die Verwicklungen insbesondere der BayerWerke bei der Verstrickung der Industrie in die infektiologische NSForschung vor. Unter den Detailstudien ist insbesondere die von Thomas Werther zur Fleckfieberforschung unter Berücksichtigung der IG Farben60 zu nennen. Vor allem auf die verbrecherische Fleckfieberforschung im besetzten Osteuropa geht Paul Julian Weindling (2003)61 ein. Unter den neueren Arbeiten zur Tuberkuloseforschung und -bekämpfung ragen die Analysen von Matthias Dahl über Tuberkulose-Versuche an behinderten Kindern während der NS-Zeit62 und von Sylvelyn Hähner-Rombach über die »Sozialgeschichte der Tuberkulose« (darin ein ausführliches Kapitel über »Tuberkulose in der Zeit des Nationalsozialismus«)63 heraus. Der Einsatz des SS-Röntgen-Sturmbanns 1942 zur Erfassung tuberkulöser Polen im besetzten Warthegau und die Rolle des Gauleiters der NSDAP im »Reichsgau Wartheland«, Arthur Karl Greiser, wurde jüngst von Catherine Epstein64 detailliert dargestellt. Am 1.5.1942 hatte sich Greiser an Himmler mit dem Vorschlag gewandt, 35.000 an offener Tuberkulose erkrankte Polen »sonderbehandeln«, also ermorden zu lassen. Dieser Plan kam jedoch nicht zur Ausführung. Besser als zur allgemeinen NS-Infektiologie ist inzwischen der Forschungsstand zur tropenmedizinischen Forschung – besonders durch die Arbeiten von Marion Hulverscheidt,65 die die frühe und detailreiche Studie von Hana Vondra (1989)66 zur verbrecherischen Malariafor58 Berger, 2009. 59 Schmelzer, 2006. Die Arbeit fußt wesentlich auf der bereits 1964 vorgelegten Darstellung des gleichen Verfassers: Schmelzer, 1964. – Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang immer noch die Werkgeschichte von Pinnow, 1938. Vgl. auch die jüngst vorgelegte umfassende Darstellung von Jeffreys, 2008. 60 Werther, 2004. 61 Weindling, 2003. 62 Dahl, 2002. 63 Hähner-Rombach, 2000, S. 264-288. 64 Epstein, 2010. 65 Hulverscheidt, 2005a, 2005b, 2006a, 2006b. 66 Vondra, 1989.
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schung ergänzen. Die deutsche tropenmedizinische Forschung der 1920er Jahre war insgesamt wesentlich durch kolonialrevisionistische Ideologeme überformt. Der als tiefes Unrecht empfundene definitive Verlust der Kolonialgebiete, dem zweifellos entscheidende Erfolge in der Schlafkrankheitsforschung der letzten Kriegs- und frühen Nachkriegsjahre gegenüberstanden, hat gleichwohl nicht zu einer deutlichen Entwicklung der Forschungsförderung durch die Notgemeinschaft geführt. Dies änderte sich allerdings nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 auffällig, insbesondere auf dem Gebiet der Malariaforschung und im Hinblick auf die vorbereitende Ausformung der verlorenen und wieder in Besitz zu nehmenden alten/neuen Kolonialgebiete unter NS-Herrschaft, besonders in Afrika. Diente die Malariaforschung in den 1920er Jahren noch wesentlich einer Instrumentalisierung der Krankheit im Sinne der Wagner-Jaureggschen (Malaria-) Fiebertherapie (Therapeutische Malaria), lässt sich unmittelbar nach der Machtübernahme eine auf malaria-prophylaktische und -therapeutische Ziele gerichtete Forschungskonzentration konstatieren. So wurden die ersten synthetischen, also nicht vom Chinin abstammenden Pharmazeutika zwar von der Pharmaindustrie entwickelt, in DFG-geförderten Projekten dann aber in der Konzentrationslagerforschung etwa eines Claus Schilling oder in Heil- und Pflegeanstalten durch Gerhard Rose oder an Wehrmachtsangehörigen getestet. Hier zeigt sich die eng verzahnte Zusammenarbeit von Industrie, Militär und staatlicher Forschungsförderung. Malariaforschung lag in den 1930er Jahren durchaus im modernen Trend einer auf gesundheitliche Absicherung des Kolonialbesitzes bedachten, aber auch an konkret militärischen Optionen für den Kampf in endemischen Malariagebieten orientierten internationalen malariologischen scientific community. Der klare Unterschied zur internationalen Situation, der die deutschen DFG-geförderten Forschungsanstrengungen charakterisierte, war allerdings die in den Anträgen bereits klar erkennbare Inkaufnahme menschenverachtender Humanexperimente in Konzentrationslagern (für Schilling in Dachau über den »Geräteausschuss« der DFG, für Rose in Pfaffenrode im Bewilligungs-Normalverfahren) an hilflosen, unfreiwilligen Gefangenen, wobei auch der Tod der Probanden durch Überdosierungen synthetischer Antimalariamedikamente oder Experimente mit malaria tropica-Stämmen billigend in Kauf genommen wurde. Zwar lagen auch diese Versuche auf der lange vor 1933 zu registrierenden Linie des illegitimen klinischen Humanexperiments, erreichten aber durch sprunghaft ansteigende Opferzahlen eine durchaus neue verbrecherische Qualität. 165
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Im Kontext neokolonialer Rassenfragen kam es neben der Malariaforschung durch die DFG zur Auflage eines durchaus forschungsfernen, dafür aber entschieden kolonialpolitisch ambitionierten Kolonialstipendiaten-Programms. Dies war eine finanzielle Unterstützung für Ärzte, die sich zum Kolonial- und Tropenarzt weiterbilden wollten. Die Karrieren solcher Ärzte sollten durch die parteipolitische Planung des kolonialpolitischen Amtes der NSDAP mit dem Vehikel eines DFG-Stipendiums geregelt werden. Es handelte sich hierbei klar um den Versuch einer Usurpierung der organisatorischen und finanziellen Möglichkeiten der DFG durch das Expansionsstreben und die Planungsarbeiten der NSDAP.67
Krebsforschung Die Krebsforschung während der NS-Zeit, zu der soeben Gabriele Moser eine ausführliche Studie vorgelegt hat,68 die weit über den von Robert N. Proctor 1999 (dt. 2002) vorgelegten Forschungsstand69 hinausgeht und die Aussagen Proctors zum Teil auch relativiert, nimmt im Rahmen der Forschungsförderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft in verschiedener Hinsicht eine bedeutende Rolle ein. In den 1920er und frühen 1930er Jahren eher Stiefkind der Förderung, avanciert sie während der nationalsozialistischen Diktatur zur Spitzenreiterin unter den medizinischen Förderprojekten der DFG. Die immer wieder beklagte Zersplitterung der deutschen Krebsforschung, eines medizinischen Forschungszweiges, der wie kein anderer geschwächt war durch den (im Nationalsozialismus nicht thematisierten) empfindlich fühlbaren Aderlass, den dieses Gebiet durch die Entlassung und Vertreibung jüdischer Krebsforscher hatte hinnehmen müssen, führte zu einer einmaligen Zentralisierung (»Reichsausschuss für Krebsbekämpfung«) und Anschubförderung der Krebsforschung in den Jahren 1936-1945. Die Krebsforschung wurde so quasi zur Leitwissenschaft der DFG-geförderten medizinischen Forschung. Kriegsverlauf und Zusammenbruch der NS-Diktatur, aber auch eine erheblich zu hoch angesetzte Erwartungshaltung gegenüber der staatlich zentralisierten Krebsforschung ließen den »Reichsausschuss für Krebsbekämpfung« scheitern. Als Koordinator 67 Hulverscheidt, 2010. 68 Moser, 2011. 69 Proctor, 2002.
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der deutschen Krebsforschung wurde der Münchner Pathologe und Vorsitzende des Reichsausschusses, Maximilian Borst, eingesetzt. Borst entwickelte in enger Abstimmung mit der DFG ein ehrgeiziges Forschungsprogramm. Man dachte, dieses in der internationalen Forschungslandschaft jener Zeit zweifellos einzigartige Projekt zentralistischer Forschungssteuerung und -förderung auf dem Gebiet der Krebsbekämpfung vollkommen neu als »Gemeinschaftsarbeit mehrerer Disziplinen« durch Einrichtung von überregionalen wissenschaftlichen Arbeitskreisen und beigeordneten Arbeitsgemeinschaften mit zentralen Fragestellungen und unterschiedlichen, je nach Bedeutung bemessenen Budgetierungen realisieren zu können, wobei ganz offensichtlich auf sich quasi automatisch ergebende Synergieeffekte gesetzt wurde. Im ideologischen Rahmen der NS-Gesundheitsführung war sogar eine spezielle Krebs-»Schulung« in führenden ärztlichen Verbänden angedacht. Sicher muss insgesamt konstatiert werden, dass die Krebsforschung im Nationalsozialismus – sowohl aus forschungsstrategischen als auch aus ideologischen, auf die Gesundheit des »Volkskörpers« gerichteten Gründen – eine enorme Förderung erfahren hat und exemplarisch für die mit staatlichen Geldern finanzierte »Normalforschung« (Moser) medizinischer Forschungsschwerpunkte im »Dritten Reich« steht. Begleitet war sie indes auch von ganz erheblichen internen Schwierigkeiten und Konkurrenzen, denen sich das ehrgeizige »Krebsprogramm« der DFG und des Reichsforschungsrates seit seiner Gründung ausgesetzt sah.
Medizingeschichte Es erstaunt nicht, dass auch die medizinhistorische Forschung während des Nationalsozialismus dem Sog der menschenverachtenden Ideologie des diktatorischen Systems erlag und sich willfährig in den Dienst nehmen ließ, was u. a. in zahlreichen medizinhistorischen Dissertationen der Zeit nachweisbar ist, die von Wolfgang Gudehus in seiner Dissertation (1993)70 untersucht wurden. In der neueren Forschungsliteratur zur Bedeutung der Medizingeschichte sind besonders die Studien von Werner Kümmel hervorzuheben.71 Kümmel ist vor allem der Rolle des Medizinhistorikers im Rahmen der nationalsozialistischen Erziehungspropaganda (»nationalpolitische Erziehung«) nachgegangen. Einem der 70 Gudehus, 1993. 71 Kümmel, 1994, 1997, 2001a, 2001b.
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Protagonisten der NS-Medizinhistoriographie, dem Medizinhistoriker Paul Diepgen, hatte bereits Thomas Jaehn seine Dissertation (1991)72 gewidmet. Die Heroisierung des »deutschen« Arztes Theophrast von Hohenheim (Paracelsus) (Gründung des Paracelsus-Instituts in Nürnberg, 1935) hat Udo Benzenhöfer in seiner Paracelsus-Biographie73 studiert, und Analysen zur besonderen Funktion medizinhistorischer Themen im NS-Spielfilm im Sinne der heroisierenden Überhöhung (»Paracelsus«, »Robert Koch«) bis hin zur unverhohlenen Geschichtsklitterung (»Germanin«) haben Udo Benzenhöfer, Wolfgang U. Eckart, Sabine Gottgetreu, Ulrike Reim und Lutz Schmökel vorgelegt.74
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5 Medizinische Praxis 5.1 Sozialgeschichte Winfried Süß
Berufschancen und Sozialstruktur von Ärzten Kaum eine andere akademische Berufsgruppe hat von der nationalsozialistischen Machteroberung so profitiert wie die deutschen Ärzte. War in den 1920er Jahren oft von der »Überfüllung« des Arztberufs die Rede, ergaben sich seit 1933 durch die Vertreibung der jüdischen Kollegen und die expandierenden Gesundheitsdienste von Staat, Wehrmacht und Parteiorganisationen allenthalben neue Berufschancen, die den Anteil der Medizinstudenten an der Gesamtzahl der Studierenden von rund 25 im Jahr 1932 auf 53 im Sommersemester 1939 in die Höhe schießen ließen. Ambivalent gestalteten sich die Berufschancen von Ärztinnen. Obwohl sie gerade in den Anfangsjahren der NS-Herrschaft massiven Berufsbeschränkungen ausgesetzt waren (z. B. Behinderungen bei der Kassenzulassung und der Facharztausbildung) und ihnen Aufgaben mit Leitungsverantwortung weitgehend verwehrt wurden, erhöhte sich ihr Anteil kontinuierlich von 6,5 (1932) bis auf 12,7 (1942). Bei den für die zivile Versorgung zur Verfügung stehenden Medizinern betrug der Anteil der Ärztinnen 1944 bereits mehr als ein Fünftel. In bestimmten Tätigkeitsfeldern lag er sogar noch höher. Während die Zahl weiblicher Kassenärzte und Fachärzte in freier Praxis zurückging, gab es seit 1942 in den Krankenhäusern bereits mehr weibliche als männliche Stationsärzte. Hier bewirkten die hohen Einberufungsquoten der Wehrmacht in den Kriegsjahren eine Feminisierung des Arztberufs und ermöglichten Ärztinnen erstmals auch den Zugang zu Fortbildungsstellen in Fächern wie der Chirurgie, die ihnen bisher verschlossen gewesen waren. Nicht nur in dieser Hinsicht veränderte der Krieg die Sozialstruktur der Ärzteschaft. Da die Wehrmacht bevorzugt berufserfahrene jüngere Ärzte einzog, verdoppelte sich bis 1944 der Anteil der Zivilärzte, die älter als 50 Jahre waren. Sozialstruktur und soziale Verhältnisse der Ärzte sind seit dem Grundlagenwerk Michael H. Katers in den Grundzügen erforscht. Es enthält Kapitel zur Einkommenssituation, zu den Berufs179
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chancen und Berufsverhältnissen vor allem jüngerer Mediziner sowie zur Geschichte von Ärztinnen.1 Seine 1989 erstmals erschienene und 2000 auf Deutsch veröffentlichte Studie birgt aufgrund ihres selektiven Quellenzugriffs, der bisweilen impressionistischen Herangehensweise und der Nichtbeachtung einer Dekade neuerer Forschungen in der deutschen Ausgabe einige Probleme und bleibt auch im theoretischen Zugriff hinter der elaborierten Professionalisierungsforschung zum Arztberuf im 19. Jahrhundert zurück.2 Auch wenn Katers Befunde erweitert, differenziert und teilweise modifiziert wurden (für die Wirtschafts- und Berufsverhältnisse z. B. durch Martin Rüther,3 für Ärztinnen u. a. durch Johanna Bleker, Christine Eckelmann und Kristin Hoesch),4 bleibt seine Gesamtdarstellung forschungsgeschichtlich bedeutend und ist für die Beschäftigung mit diesen Themen auch heute noch unverzichtbar. Weniger gut erforscht als die generellen Berufsverhältnisse sind die Auswirkungen der NS-Herrschaft auf Lebensmuster und Karriereverläufe von Medizinern. Hier fehlt es an Biographien »ganz normaler Ärzte«, die die Zäsuren 1933 und 1945 überwölben. Die wenigen einschlägigen Studien widmen sich Krankenhausärzten in hervorgehobener Position, wie Thorsten Doneiths Lebensbild des Direktors der Tübinger Frauenklinik, August Mayer.5 Interessant und weiterführend ist in diesem Zusammenhang ein von Richard Kühl, Tim Ohnhäuser und Gereon Schäfer verantworteter Sammelband, der Lebensläufe von ärztlichen Verfolgern und Verfolgten gegenüberstellt.6 Er enthält neben Biographien einschlägig bekannter Akteure und Profiteure nationalsozialistischer Medizinverbrechen auch Lebensbilder wenig bekannter NS-Verfolgter wie des Entdeckers des Tetanus-Erregers, Arthur Nicolaier, der 1942 vor der Deportation Selbstmord beging, und des im KZ inhaftierten Chirurgen Eduard Borchers, der sich nach dem Ende der NS-Herrschaft für die Refertilisierung von Zwangssterilisierten engagierte. Eine Gruppenbiographie von 32 Hamburger Krankenhausärzten aus der Feder von Christine Pieper leidet hingegen trotz ihres Materialreichtums
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Kater, 1989; zur Sozial- und Altersstruktur der Ärzte vgl. auch Süß, 2003. Z. B. Huerkamp, 1985. Rüther, 1997. Bleker, 1993; Eckelmann/Hoesch, 1987; Süß, 2003, S. 201-204. Doneith, 2008; vgl. auch Ratschko, 2009 und Freimüller, 2001. Kühl/Ohnhäuser/Schäfer, 2010.
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darunter, dass die Verfasserin generalisierende Aussagen scheut und die Zeit der NS-Herrschaft insgesamt sehr verkürzt behandelt.7 Deutlich besser ist der Forschungsstand für die in den Heil- und Pflegeanstalten beschäftigten Mediziner. Franz-Werner Kerstings Habilitationsschrift kombiniert individual- und gruppenbiographische Ansätze, um die soziale Herkunft, Karriereprofile und Verhaltensmuster westfälischer Anstaltsärzte zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik zu untersuchen. Damit erlangt dieses Grundlagenwerk über den engeren regionalgeschichtlichen Bezug auch in systematischer Hinsicht Bedeutung, denn das ärztliche Berufsfeld veränderte sich seit 1933 tiefgreifend.8 Während die Zahl der in freier Praxis tätigen Ärzte rückläufig war, stieg der Anteil der Krankenhaus- und Anstaltsärzte von 5,6 (1930) bis 1942 auf über 30.
Ärztliches Handeln Kersting entwickelt in seiner Studie eine Typologie ärztlicher Verhaltensprofile unter den Bedingungen der Diktatur und unterscheidet zwischen aktiver Mitwirkung an den Krankenmorden, der Zuarbeit per dienstlicher Verpflichtung, Nichtbeteiligung bei Mitwisserschaft und lebensrettenden Aktivitäten zugunsten der Anstaltspatienten. Diese Typologie bezieht sich zwar auf die Sondersituation einer »totalen Institution« wie der geschlossenen Psychiatrie, sie lenkt gleichwohl den Blick auf die Frage nach der »ärztlichen Normaltätigkeit« zwischen »Fürsorge und Rigorismus«.9 Das ärztliche Alltagshandeln wurde von Fridolf Kudlien bereits Anfang der 1990er Jahre als dringendes Forschungsdesiderat benannt und ist bis heute immer noch unzureichend erforscht. Mehrere Arbeiten untersuchen den Umgang mit jüdischen Patienten,10 mit Zwangsarbeitern,11 mit chronisch Kranken und geriatrischen Patienten,12 Körperbehinderten,13
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Pieper, 2003. Kersting, 1993, 1996; Schmuhl, 2001. Hinweise dazu bei Kudlien, 1991. Grenville, 1992. Vgl. die in Kapitel 5.2 genannte Literatur. Hahn, 1989. Thomann, 1992, 1994; in kulturgeschichtlicher Perspektive Poore, 2007.
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Blinden,14 abweichendem Sexualverhalten15 sowie generell den Stand der medizinischen Versorgung.16 Auch einzelne Krankheiten sind Gegenstand zeit- und medizinhistorischer Studien geworden. Insbesondere die Tuberkulose hat als kulturell stark codierte »Signalkrankheit«17 früh das Interesse der Forschung auf sich gezogen.18 Der Wissenschaftshistoriker Robert Proctor kombiniert auf innovative Weise kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Ansätze zu einer Geschichte der Krebsbekämpfung im nationalsozialistischen Deutschland, die auf verstörende Weise veranschaulicht, dass aus zeitgenössischer Sicht moderne Präventionsstrategien gegen Lungen- und Brustkrebs keinen Gegensatz zu den verbrecherischen Elementen der NS-Gesundheitspolitik bilden, sondern auf den gleichen ideologischen Prämissen und den gleichen Praktiken der Klassifizierung, Hierarchisierung und Selektion von Kranken basieren wie diese.19 Insgesamt dominiert in vielen Arbeiten allerdings eine Betrachtungsweise, die vorrangig nach den Normen der Krankenbehandlung fragt oder sich dem Thema in einer verwaltungsgeschichtlichen Perspektive nähert.20 Studien, die den Blick auf krankheitsspezifische Praktiken des Umgangs mit den Kranken, also den ärztlichen »Alltag« in den Jahren der NS-Herrschaft und seine Veränderung richten, wie die Arbeiten von Ulrich Knödler21 zur Insulinversorgung, von Herwig Czech22 zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten und von Winfried Süß23 zum Umgang mit Infektionskrankheiten, sind noch selten.24 Begriffe wie »Alltagshandeln« und »Normaltätigkeit« werfen jenseits ihrer umgangssprachlichen Bedeutung generelle Fragen auf, geht es doch um ein professionelles Umfeld, das in wachsendem Ausmaß durch patientenfeindliche Praktiken und politisch gesetzte Außeralltäglichkeit geprägt war und in dem 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
Malmanesh, 2002. Zur Nieden, 2005. Schwoch, 2002; Süß, 2003, S. 181-212. Blasius, 1996. Kelting, 1974; Stahl, 1988; Vossen, 1995; Bender, 1997; Hähner-Rombach, 2000; zum Zusammenhang von Tuberkulose und »Euthanasie« Aly, 1992. Proctor, 1999; dazu jetzt auch Briesen, 2010. Exemplarisch für die zahlreichen Neuerscheinungen zur Entwicklung der ärztlichen Ethik vgl. Bruns, 2009 und Frewer, 2008. Knödler, 1989, 1993. Czech, 2007. Süß, 2003, S. 213-241. Wenig hilfreich, da ganz auf den Bereich medizinischer Verbrechen fokussiert, ist Lifton, 1986.
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»Normalität« und Verbrechen nicht zwei entgegengesetzte Seiten einer Medaille waren, sondern ineinander verflochtene und aufeinander bezogene Ausprägungen derselben medikalen Kultur. Die Vertreibung der jüdischen Mediziner und der Krieg verursachten gravierende Verschlechterungen in der ambulanten und der stationären Versorgung. Der Sanitätsdienst der Wehrmacht genoss absoluten Vorrang vor dem zivilen Sektor. Einberufungen verminderten hier die Zahl der für die Zivilbevölkerung zur Verfügung stehenden Ärzte auf knapp 60 des Vorkriegsstands und machten medizinische Betreuung zu einem immer knapperen Mangelgut. Dadurch verschärfte sich die Tendenz, gesundheitsbezogene Güter und Ressourcen nach rassistischen Wertigkeitskriterien und gesellschaftlichen Nützlichkeitskalkülen zuzuteilen. Insofern basierte die medikale Kultur im nationalsozialistischen Deutschland auch im Alltagshandeln auf einer Medizin der Ungleichheit, in deren Rahmen das ärztliche Urteil etwa durch Gutachten für Lebensmittelzulagen und Testate über die Arbeitsfähigkeit zunehmend größere Lebensbereiche bestimmte. Ohne eine Analyse der Alltagspraktiken medizinischen Handelns muss das Bild der medikalen Kultur im »Dritten Reich« daher unvollständig bleiben. Die bisherigen, freilich noch sehr tentativen Forschungsbefunde zeigen einerseits, dass die Eindringtiefe nationalsozialistischer Gesundheitsideologien wie der »Neuen Deutschen Heilkunde« in die ärztliche Praxis recht begrenzt war.25 So lassen sich die andauernden Versuche der Gesundheitsbehörden, das Ausstellen von Testaten seitens in freier Praxis tätiger Ärzte zu reglementieren, dahin deuten, dass die Mehrzahl der Ärzte im »Dritten Reich« im Zweifelsfall weiterhin im Sinne ihrer kranken Patienten und nicht im Sinne eines imaginären »Volkskörpers« und der Vorgaben der NS-»Gesundheitsführung« behandelte. Hier bildeten erstens eingeschliffene Muster professioneller Sozialisation, die ein großer Teil der Ärzte lange vor 1933 abgeschlossen hatte, zweitens die Vorstellung einer zwar hierarchisch geprägten, aber gegenüber politischen Vorgaben autonomen Arzt-Patienten-Beziehung sowie drittens die zentrale Bedeutung, die dem Patientenvertrauen in einem Gesundheitssystem zukam, das auf dem (im Krieg zwar eingeschränkten, aber nie ganz aufgehobenen) Prinzip der freien Arztwahl beruhte, Sperrriegel gegen patientenfeindliche Praktiken. Eine Mehrheit der Ärzte behandelte Patienten auch dann, wenn sie wie Juden und Zwangsarbeiter am unteren Ende der von den Nationalsozialisten aufgestellten 25 Kudlien, 1991; Süß, 2003, S. 370-380.
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Wertigkeitshierarchie standen, weiterhin nach den traditionellen Regeln ärztlicher Heilkunst, so dass Normalität unter den eingeschränkten Bedingungen von Diktatur und Krieg die meisten Arzt-Patienten-Kontakte prägte. Andererseits ist auch in Rechnung zu stellen, dass der öffentliche Gesundheitsdienst und das in den Kriegsjahren stark ausgebaute Betriebsgesundheitswesen – zwei Bereiche also, in denen der Anteil jüngerer und NS-affiner Mediziner besonders hoch war – Einfallstore für patientenfeindliche Praktiken öffneten. Zudem waren zumindest in den letzten Kriegsjahren immer mehr Patienten, vor allem produktionsferne Gruppen wie Alte und chronisch Kranke, von Beschränkungen im Zugang zur Krankenhaus- und Arzneimittelversorgung betroffen, die von Ärzten umgesetzt und teilweise auch eigenständig verschärft wurden. So entsteht ein widersprüchliches Gesamtbild, das weitere Untersuchungen, vor allem in regionaler und lokaler Vertiefung, wünschenswert erscheinen lässt.
Gesundheitsverhältnisse und Ernährung Die Ungleichheit vor Krankheit und Tod zählt zu den wichtigsten Determinanten sozialer Stratifikation.26 Es ist daher erstaunlich, dass das Thema in Gesamtdarstellungen zur Geschichte des »Dritten Reiches« nur selten aufgegriffen wird, auch wenn diese explizit sozialhistorisch angelegt sind.27 Obwohl Tod und Gewalt als ubiquitäre Phänomene der NS-Gesellschaft in jüngster Zeit verstärkt in den Fokus der Forschung gerückt wurden und Christian Goeschel eine instruktive Studie zu den Selbstmorden im »Dritten Reich« vorgelegt hat, fehlen fundierte sozialhistorische Studien zur Veränderung von Mortalität und Morbidität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.28 Dabei zeigen die Ergebnisse der quantifizierenden Lebensstandardforschung eindrucksvoll, dass die Integration medizinhistorischer Zugänge in eine Gesellschaftsgeschichte des »Dritten Reiches« weiterführend sein kann. Jörg Baten und Andrea Wagner kombinieren anthropometrische Indikatoren mit der Morta26 Methodisch wegweisend: Spree, 1981. 27 Exemplarisch: Wehler, 2003. Punktuelle Beobachtungen finden sich bei Grunberger, 1971, systematisch wird dieses Thema in einer grundlegenden, aber von der Forschung wenig rezipierten sozialhistorischen Dissertation über Arbeiter in der NS-Kriegswirtschaft behandelt, vgl. Werner, 1983. 28 Bessel, 2009; Goeschel, 2009.
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litäts- und Morbiditätsstatistik und können auf dieser methodischen Grundlage nachweisen, dass der Rüstungsaufschwung – anders als dies bisweilen zu lesen ist – kaum positive Effekte auf den Lebensstandard der deutschen Bevölkerung hatte.29 Im Gegenteil: Ernährungsbedingte Krankheiten nahmen zu, und die Sterblichkeit schoss in die Höhe, während sie im übrigen Europa sank. Als Ursache dieser Entwicklung identifizieren Baten und Wagner die erhöhte Arbeitsbelastung und den damit einhergehenden Gesundheitsverschleiß in der Rüstungsproduktion, vor allem aber regionale Mangelsituationen in der Proteinversorgung der Bevölkerung aufgrund der wirtschaftlichen Autarkiepolitik des »Dritten Reiches«.30 In den Kriegsjahren wurde der Gesundheitszustand der Zivilbevölkerung vor allem durch mangel- und erschöpfungsbedingte Krankheiten bestimmt.31 Erkältungskrankheiten, Erkrankungen des Verdauungsapparats, Hautleiden, aber auch in wachsendem Ausmaß psychosomatische Erkrankungen prägten das Morbiditätspanorama. Ursächlich hierfür waren die seit 1942 deutlich verschlechterte Ernährungssituation, die zunehmende Arbeitsbelastung in allen Wirtschaftssektoren und der Mangel an Mitteln zur Körperpflege. Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg spielten Infektionskrankheiten wie Typhus und Ruhr bis in den Winter 1944/45 hinein nur eine nachrangige Rolle. Sie traten vor allem in Massenunterkünften auf und betrafen zunächst primär Zwangsarbeiter, später zunehmend auch Flüchtlinge und Evakuierte. Die Veränderungen in der Morbidität weisen charakteristische gruppenspezifische Unterschiede auf: 1939-1941 hatte der Großteil der deutschen Bevölkerung nur geringfügig unter Gesundheitsverschlechterungen zu leiden. Hier verschärfte sich der gesundheitliche Allgemeinzustand vor allem bei alten Menschen und Frauen, Gruppen also, die durch die Kriegsumstände besonders belastet waren und aufgrund ihrer Randstellung im Erwerbsleben als »Normalverbraucher« bei der Lebensmittelzuteilung benachteiligt wurden. Generell nahm das Risiko, krank zu werden, für alte Menschen im Laufe des Krieges schneller zu als für die Gesamtheit der Bevölkerung, und es war für Frauen höher als für Männer. In den Jahren 1942 und 1943 scherten einzelne Morbiditätsindikatoren aus dem 29 Unkritisch wird Goebbels’ Legende von der gut versorgten und durch Massenkonsum integrierten deutschen »Volksgemeinschaft« reproduziert bei Aly, 2005. Dazu kritisch Buchheim, 2010. 30 Baten, 2003; Wagner, 2003, 2008. Zur Ernährungspolitik vgl. Erker, 1990; Corni/ Gies, 1997; Melzer/Kellermann/Saller, 2006. 31 Zum Folgenden Süß, 2003, S. 381-404, Zitat S. 406.
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generellen Trend der Morbiditätsentwicklung aus. So nahm zum Beispiel die Zahl neuer Tuberkulosefälle stark zu. Gleichzeitig differenzierte sich das Krankheitsrisiko zunehmend nach Alter, Geschlecht und der Exposition des Wohnorts im Luftkrieg. Im Laufe des Jahres 1942 verschlechterte sich der Gesundheitszustand der körperlich besonders belasteten Arbeitnehmergruppen, etwas zeitversetzt auch der Gesundheitszustand von Jugendlichen und schulpflichtigen Kindern. Zuletzt erreichte die Verschlechterung Kleinkinder und Säuglinge. Als im Herbst/Winter 1942/43 die bislang umfangreichste Kürzung der Lebensmittelrationen mit einer akuten Verknappung der medizinischen Versorgung zusammenfiel, »verdichteten sich gruppen- und regionalspezifische Gesundheitsbeeinträchtigungen zu einer Morbiditätskrise, die weite Bevölkerungskreise erfasste«. Sie spitzte sich in den letzten Kriegsmonaten weiter zu. Vor allem die Bevölkerung der durch den Luftkrieg zerstörten Städte und die wachsende Zahl der in kargen Behelfsunterkünften untergebrachten Evakuierten und Flüchtlinge waren vom Anstieg der Morbiditäts- und Mortalitätsraten betroffen.
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5.2 Medizin im Krieg Winfried Süß
Mobilisierung und medikale Kultur Der Nationalsozialismus kam aus einem verlorenen Krieg, war auf einen neuen Krieg hin ausgerichtet und fand schließlich »im Krieg seine eigentliche Bestimmung«.1 Daher berührt die Frage nach dem Verhältnis von Krieg und Gesundheitspolitik im nationalsozialistischen Deutschland ein zentrales Thema. Man kann diese Frage in mehrere Richtungen stellen. Erstens geht es um den Beitrag der ärztlichen Profession zur Kriegsvorbereitung und Kriegsführung der NS-Diktatur.2 Eine ähnliche, aber sozialhistorisch orientierte und stärker auf die Kriegsjahre ausgerichtete Perspektive nehmen die Arbeiten des Leipziger Medizinhistorikers Achim Thom und seiner Schüler ein.3 Die bisherigen, allerdings noch nicht in die Tiefe gehenden Forschungen ergeben ein widersprüchliches Bild: Der umfassenden Militarisierung des Arztberufs seit 1933, wie sie z. B. in der zunehmenden Bedeutung wehrmedizinischer Themen in der ärztlichen Ausbildung und der Mitwirkung von Ärzten an kriegsrelevanten Tätigkeiten wie dem Luftschutzsanitätsdienst zum Ausdruck kam, steht der Befund entgegen, dass das deutsche Gesundheitswesen 1939 überraschend schlecht auf einen längeren Krieg vorbereitet war und seine Mobilisierung eher schleppend verlief. In diesem Zusammenhang ist indes nicht nur nach dem Beitrag von Ärzten zum nationalsozialistischen Krieg zu fragen, sondern auch nach der Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure. Für das Deutsche Rote Kreuz liegen inzwischen einschlägige Arbeiten vor.4 Näher auszuleuchten bleibt noch die Rolle der Kirchen, denn ohne die Mitwirkung ihrer Pflegekräfte in der Kran-
1 Herbst, 1996, S. 9. 2 Vgl. Schmiedebach, 1987. 3 Vgl. die Beiträge in Fahrenbach/Thom, 1991. Der Band geht zurück auf eine Tagung der Akademie für ärztliche Fortbildung der DDR und des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität Leipzig im August/September 1989. Die »Nachbetrachtungen« Achim Thoms (S. 173-195) sind lesenswert als kritische Reflexionen über den bisherigen Forschungsertrag und die methodischen Grenzen des Faschismus-Paradigmas bei der Erforschung der NS-Medizingeschichte. 4 Biege, 2000; Riesenberger, 2002; Morgenbrod/Merkenich, 2008.
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ken- und Verwundetenversorgung war eine lang andauernde militärische Auseinandersetzung nicht zu führen.5 Die Frage nach dem Beitrag der ärztlichen Profession ist eine Möglichkeit, das Verhältnis von Krieg und Gesundheitspolitik zu untersuchen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, den Blick auf die Gesamtheit des Gesundheitssystems zu richten und danach zu fragen, inwiefern der Krieg die medikale Kultur veränderte, indem er einen Wandel in den Rahmenbedingungen gesundheitsbezogenen Handelns bewirkte, neue Handlungsfelder hervorbrachte, die unmittelbar auf den Krieg bezogen waren, eine Neujustierung gesundheitspolitischer Prioritäten bewirkte, medizinische Praktiken veränderte6 und Denkfiguren bereitstellte, die zur Radikalisierung hierarchisierender, selektierender und ausgrenzender Handlungsmuster im Umgang mit Patienten beitrugen.7 Die Forschung hat inzwischen klar herausgearbeitet, wie sehr die Krankenmorde unter dem Diktat kriegswirtschaftlicher Nützlichkeitskalküle standen, die in psychisch Kranken lediglich unproduktive »Ballastexistenzen« sahen.8 Erst seit einigen Jahren ist indes deutlich geworden, dass solche Ausgrenzungsprozesse in zunehmendem Umfang auch körperlich Kranke betrafen, insbesondere alte Menschen, evakuierte Patienten sowie chronisch Kranke, wie Ulrich Knödler am Beispiel einer instruktiven Studie zur Insulinversorgung gezeigt hat.9 Der Wehrmachtsbedarf und seit 1942 immer häufiger auch Luftkriegsschäden schränkten die für die Zivilbevölkerung verfügbaren Gesundheitsressourcen zunehmend ein. Besonders die Infrastruktur der stationären Versorgung erwies sich als äußerst verletzlich, und die Bewältigung der medizinischen Luftkriegsfolgen brachte das »Dritte Reich« rasch an die Grenzen seiner Möglichkeiten. In den vom Luftkrieg bedrohten Städten fand gesundheitsbezogenes Handeln daher oft nur noch als mehr oder weniger koordinierte Abfolge von Improvisationen, katastrophenmedizinischen Notbehelfen und Evakuierungen statt. In diesem Zusammenhang hat Götz Aly als Erster auf die Bedeutung des Luftkriegs als 5 Borengässer/Hainbuch, 1987; Süß, 2007; vgl. Kapitel 3.6 zur Krankenpflege. 6 Gerade in diesem Bereich ist die Forschung bisher ausgesprochen defizitär, insbesondere im Blick auf somatische Krankheiten. Erste, über die Auswertung der zeitgenössischen Sekundärliteratur hinausgehende Ansätze gibt es für den Bereich der psychiatrischen Behandlungspraxis. Vgl. Quinkert/Rauh/Winkler, 2010, S. 20-23, sowie den Beitrag von Tümmers, 2010. 7 Diesen Ansatz verfolgt Süß, 2003. 8 Vgl. hierzu die in Kapitel 5.4 genannte Literatur. 9 Knödler, 1989a. Für den Umgang mit betagten Patienten vgl. Irmak, 2002.
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Legitimationsfigur bei der Radikalisierung gesundheitspolitischer Exklusionsprozesse hingewiesen.10 Beim Zugang zur Krankenhausversorgung entwickelte sich ein regelrechter »Verdrängungswettbewerb«11 zwischen den verschiedenen Patientengruppen, der vor allem zu Lasten der psychisch Kranken ging.12 Sehr deutlich lässt sich die veränderte gesundheitspolitische Schwerpunktsetzung am Beispiel der Betriebsgesundheitsfürsorge greifen. Ihr Ausbau setzte 1936 im Gefolge des Vierjahresplans ein, mit dem die deutsche Wirtschaft »kriegsfähig« gemacht werden sollte, war aber im Wesentlichen ein Phänomen der Jahre 1939-1945, als man die knappen medizinischen Ressourcen bevorzugt in den Ausbau der produktionsbezogenen Gesundheitspflege lenkte, um die Arbeitskraft der Betriebsbelegschaften möglichst umfassend für die Rüstungsproduktion verfügbar zu machen. 1944 praktizierten bereits rund 8000 Ärzte haupt- oder nebenamtlich als Betriebsärzte, mehr als 1300 waren im Vertrauensärztlichen Dienst mit der Kontrolle der Krankenstände beschäftigt. Unter Schlagworten wie »Gesundheitsführung im Betrieb« und »Leistungsmedizin« trat hier eine weitere Ordnungsidee neben das Leitprinzip rassenhygienischer Gesellschaftsformung, die Gesundheitspolitik zur abgeleiteten Größe der Arbeitseinsatzpolitik werden ließ. Realisiert wurden vor allem Praktiken, die der kurzfristigen Leistungssteigerung von Rüstungsarbeitern und der Verschärfung der Krankenstandskontrolle dienten, kaum hingegen die in den Vorkriegsjahren teilweise mit großem Propagandaaufwand angekündigten präventivmedizinischen Aspekte der Betriebsmedizin. Die Effizienz kontrollmedizinischer Praktiken blieb aufgrund von herrschaftsinternen Machtkonflikten und der eng limitierten personellen Ressourcen letztlich begrenzt.13 Gleichwohl wird hier deutlich, wie sehr das für ärztliches Handeln grundlegende Nicht-SchadenPrinzip unter dem Primat der Kriegswirtschaft ausgehöhlt wurde. Die
10 Aly, 1985. 11 Süß, 2003, S. 409. 12 Als exemplarische Fallstudie vgl. Hahn/Lilienthal, 1992; zur immer noch nicht umfassend aufgearbeiteten Geschichte der Ausweichkrankenhäuser der »Aktion Brandt«, die vielfach die Infrastruktur geräumter Heil- und Pflegeanstalten nutzten, vgl. Harms, 1997 und Leuchtweis-Gerlach, 2001. Ebenfalls Seltenheitswert haben Arbeiten zur Krankenhausgeschichte der NS-Zeit, Ausnahmen bilden Vasold, 1998 und Grün, 2002. 13 Zu den Konflikten um die gesundheitspolitischen Pläne der Deutschen Arbeitsfront vgl. Recker, 1985 sowie Roth, 1995.
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Forschung hat diese Entwicklung daher zu Recht als Weg »von der Reform zum Raubbau«14 charakterisiert. Als spezifische Form einer zur Herrschaftstechnik verkommenen Medizin stand die produktionsbezogene Gesundheitsfürsorge bereits früh im Fokus der medizinhistorischen Forschung. Empirisch fundierte Überblicksdarstellungen zu den Betriebsärzten und zur Entwicklung des Gewerbeärztlichen Dienstes hat Karl-Heinz Karbe vorgelegt.15 Die zugrundeliegenden Konzeptionen sind von Karl-Peter Reeg und Martin Höfler-Waag dargestellt worden.16 Zudem existiert eine instruktive Spezialstudie von Hans-Christoph Seidel über den Bergbau, wo die betriebsmedizinische Kontrolle der Belegschaften besonders intensiv war.17
Zwangsarbeit Zwischen 1939 und 1945 waren bis zu elf Millionen ausländische Arbeitskräfte für die deutsche Kriegswirtschaft tätig. Nur ein geringer Teil davon (darunter auch einige Ärzte und Pflegekräfte) ist freiwillig in den Dienst des Deutschen Reiches getreten. Die ganz überwiegende Mehrheit setzte sich aus zwangsweise nach Deutschland Verschleppten, Kriegsgefangenen sowie den Insassen von Konzentrations- und Vernichtungslagern zusammen. Die Gesundheitsverhältnisse der in der Rüstungsindustrie beschäftigten Zwangsarbeiter sind vergleichsweise gut untersucht, während bei den in der Landwirtschaft Eingesetzten derzeit noch gewisse Forschungsdefizite bestehen. Umfassend wurde die medizinische Versorgung von Zwangsarbeitern erstmals 1996 in einer Münchner Lokalstudie von Andreas Heusler dargestellt.18 Eine Lokalstudie zu Göttingen sowie ein breiter angelegtes Forschungsprojekt zur Zwangsarbeit in Schleswig-Holstein, dessen Teilstudien die medizinische Versorgung aus der Perspektive der Arbeitsverwaltung, des öffentlichen Gesundheitsdienstes, der Krankenkassen und der Zwangsarbeiter darstellen und dazu selten genutzte Überlieferungen wie Akten von Ortskrankenkassen und Materialien des Internationalen Suchdienstes in Arolsen heranziehen, ergänzen Heuslers Befunde. In den vergangenen Jahren ist 14 15 16 17 18
Knödler, 1991. Karbe, 1989, 1996. Reeg, 1988; Höfler-Waag, 1994. Seidel, 2003. Heusler, 1996.
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zudem die Zwangsarbeit bei kirchlichen Trägern eingehend untersucht worden, wo besonders im Hauswirtschaftsbereich von Einrichtungen des Gesundheitswesens zahlreiche Ausländer beschäftigt wurden.19 Trotz einer schwierigen Überlieferungslage konnte auf diese Weise ein differenziertes Bild gezeichnet werden, das deutlich macht, wie sehr die medizinische Versorgung der Zwangsarbeiter unter den Vorgaben des Arbeitseinsatzes und der rassistischen Kategorisierung stand.20 Das schloss – vor allem in Fällen leichterer Erkrankungen – eine sachgerechte medizinische Behandlung nicht aus. Oftmals erfolgte die Behandlung indes spät oder nur mit eingeschränkten medizinischen Mitteln durch sogenannte »Ostärzte« in speziell eingerichteten »Ausländer-Krankenbaracken«, so dass auch überlebende Zwangsarbeiter nach dem Ende der NS-Herrschaft vielfach mit gesundheitlichen Spätfolgen zu kämpfen hatten. Stand die rasche Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft nicht zu erwarten, mussten Zwangsarbeiter damit rechnen, unbehandelt in ihre Heimatregionen abgeschoben zu werden, in eigens eingerichteten Sterbelagern mit minimalster medizinischer Betreuung weitgehend sich selbst überlassen zu bleiben und auch ermordet zu werden, wie dies insbesondere für Tuberkulosekranke und psychisch kranke Zwangsarbeiter dokumentiert ist. In solchen Einrichtungen wurden zudem Zwangsabtreibungen an schwangeren »Ostarbeiterinnen« durchgeführt.21 Während die pseudomedizinischen Menschenversuche inzwischen als gut untersucht gelten können, ist die medizinische Behandlung in Konzentrationslagern bisher nur ansatzweise erforscht.22
Wehrmedizin Auch wenn der Umgang mit den mehr als 19 Millionen Verwundeten und Kranken der Wehrmacht einen sozialhistorischen Untersuchungsgegenstand ersten Ranges darstellt, war dieses Thema lange ein Stiefkind der medizinhistorischen Forschung. In der Geschichtsschreibung zum Sanitätswesen der Streitkräfte dominierte bis Anfang der 1990er Jahre eine introspektive Herangehensweise, die den Gegenstand ohne An19 Kaminsky, 2000; Kaiser, 2005; Hummel/Kösters, 2008. 20 Danker/Greve/Köhler, 2001; Frewer/Siedbürger, 2004; Zimmermann, 2007; Frewer, 2009; zur psychiatrischen Versorgung vgl. Peschke, 2005. 21 Hohlmann, 1984; Hamann, 1985; Reiter, 1993. 22 Vgl. Kopke/Hahn/Kavcic, 2005; Ley/Morsch, 2007.
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schluss an allgemeinhistorische Leitperspektiven und nicht selten auch unter Ausblendung ihres terroristischen Kontexts gleichsam als historische Sanitätstechnik behandelte. Franz Seidler etwa konnte noch Mitte der 1970er Jahre weitgehend ohne historisch-kritische Reflexion nach »den Bemühungen der Militärmedizin zur Aufrechterhaltung der Truppenmoral« fragen und seinen Blick auf die Anstrengungen von Medizin und Justiz, den »Außenseitern [sic] in der Wehrmacht […] Herr zu werden«, richten. Zu ihnen zählte er – mit bemerkenswert geringer Distanz zur Sprache und zu den Werturteilen der nationalsozialistischen Machthaber – Homosexuelle, Geschlechtskranke, »Selbstverstümmler« und andere »Drückeberger«.23 Beispielhaft für eine Forschungsrichtung, die sich in organisationsgeschichtlicher Selbstbescheidung übte und dabei ein historisch entkontextualisiertes, geradezu »klinisch« rein anmutendes Bild ihres Untersuchungsgegenstands entwarf, steht Hubert Fischers Geschichte des deutschen Sanitätsdienstes, die von 1982 bis 1999 in mehreren Bänden erschien. Egal, ob man Details zu den Leichtverwundetensammelplätzen im Frankreichfeldzug nachschlagen oder sich über den Sanitätsdienst bei den kalmückischen Freiwilligenverbänden der Waffen-SS informieren möchte: In diesem mit immensem Sammelfleiß zusammengetragenen, aber in der historischen Einordnung sparsamen Werk eines ehemaligen Sanitätsoffiziers wird man mit einiger Sicherheit fündig. Keine Antwort erhält der Leser indes auf die entscheidende Frage, wie sich das für den Sanitätsdienst charakteristische Spannungsverhältnis zwischen ärztlicher und militärischer Räson unter den Bedingungen einer menschenfeindlichen Diktatur und des von ihr entfesselten Vernichtungskriegs entwickelte. Denn es geht dem Autor vor allem darum, ärztliches Organisationsgeschick bei der »Bewältigung unvorhersehbarer Aufgaben und Schwierigkeiten«, die »Beherrschung von Kriegschirurgie und Wehrmedizin« sowie den »selbstlosen persönlichen Einsatz« im Dienste kranker Soldaten darzustellen und der Nachwelt »die in jahrelanger militärärztlicher Praxis gewonnenen Erkenntnisse und in extremen Lebensumständen angesammelten Erfahrungen« zu erhalten.24 Auch von einer militärtechnischen Innenperspektive geprägt, allerdings historiographisch weitaus reflektierter und stärker mit übergreifenden Fragen verkoppelt sind die Arbeiten von Ekkehart Guth, dem Anfang der 1990er 23 Seidler, 1977, alle Zitate S. 10. 24 Fischer, 1982-1999, hier Bd. 1, S. III; zur Arzneimittelversorgung vgl. auch Deckenbrock, 1984.
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Jahre auch der Brückenschlag zur allgemeinen Zeitgeschichte gelang.25 Wie fruchtbar die Verbindung medizinhistorischer Fragestellungen mit einer modernen Militärgeschichte sein kann, hat Wolfgang U. Eckart in einer Spezialstudie zur Krankenversorgung der bei Stalingrad eingekesselten deutschen Soldaten gezeigt, die das von Fischer entworfene Bild einer effizienten und leistungsfähigen Verwundetenversorgung nüchtern dekonstruiert.26 Entscheidende Fortschritte kamen in den letzten Jahren durch zwei drittmittelfinanzierte Forschungsprojekte zustande. Eine Heidelberger Arbeitsgruppe hat erstmals die umfangreiche wehrmedizinische Forschung aufgearbeitet.27 Alexander Neumann konnte auf der Basis neu verzeichneter Akten der Heeressanitätsinspektion eine Gesamtdarstellung des Wehrmachtssanitätswesens im Zweiten Weltkrieg vorlegen.28 Diese grundlegende Studie fragt erstens nach Wandlungsprozessen im Selbstverständnis von Sanitätsoffizieren im Spannungsfeld medizinischer und militärischer Tätigkeit. Sie zeichnet zweitens die Organisation des expandierenden Wehrmachtssanitätswesens nach. Drittens durchmustert sie »Problemfelder der militärärztlichen Tätigkeit« (u. a. die Bekämpfung von Infektionskrankheiten, wehrmedizinische Forschungen, Musterungen, Konflikte mit dem zivilen Gesundheitswesen um Lazarettraum) und untersucht viertens die vergangenheitsbezogene Identitätskonstruktion im Sanitätsdienst der Bundeswehr. Zu den Stärken dieser Studie zählt eine doppelte Integrationsleistung. Neumann gelingt es, seine Fragestellungen sowohl mit aktuellen Debatten der NSGeschichte zu verknüpfen (etwa dort, wo er die Rolle der Militärärzte beim Umgang mit Kriegsgefangenen thematisiert) als auch mit neueren Forschungsperspektiven einer Gesellschaftsgeschichte militärischer Konflikte, die eine zunehmende Auflösung der herkömmlichen Trennung zwischen Zivil und Militär im Zeichen »total« geführter Kriege herausgearbeitet haben. Neumanns Grundlagenwerk wird durch mehrere Spezialstudien zu einzelnen Aspekten der militärmedizinischen Praxis ergänzt, die die Regulierung der Prostitution (Insa Meinen), den Alko-
25 Guth, 1990, 1991. 26 Eckart, 1992. In einer zeitlich übergreifenden Perspektive wurde das Thema auf instruktive Weise behandelt in einer Ausstellung der Londoner Wellcome Collection, die 2009 auch im Dresdener Hygiene-Museum zu sehen war. Vgl. Larner, 2008. 27 Eckart/Neumann, 2006. 28 Neumann, 2005; vgl. auch Schmidt, 2007.
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hol- und Rauschmittelmissbrauch von Soldaten (Peter Steinkamp) sowie die Heilfürsorge der Wehrmacht (Friedrich Dreves) behandeln.29
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5.3 Zwangssterilisation Hans-Walter Schmuhl Eugenik und Rassenhygiene verstanden sich von Anfang an als angewandte Wissenschaft.1 Sie erhoben nicht nur den Anspruch, den Einfluss sozialer Faktoren auf den Genpool einer Bevölkerung zu erforschen, sie traten auch mit dem Versprechen an, der Gesellschaft und dem Staat Mittel und Wege aufzuzeigen, um der menschlichen Evolution Richtung und Ziel zu weisen, ihr Tempo zu erhöhen, ihre Effizienz zu steigern. Zu diesem Zweck entwickelten Eugeniker in aller Welt ein Bündel von Maßnahmen zur Förderung »erblich hochwertigen« und zur Verhütung »erblich minderwertigen« Nachwuchses. Als wichtigstes Instrument negativer Eugenik galt der internationalen eugenischen Bewegung die Sterilisierung von Menschen mit »unerwünschtem Erbgut«. Eine Vorreiterrolle nahmen hierbei die Vereinigten Staaten von Amerika ein. Den Anfang machte ein Gesetz des Bundesstaates Indiana aus dem Jahre 1907, das die Unfruchtbarmachung von in Anstalten untergebrachten »Gewohnheitsverbrechern«, »Idioten«, »Imbezillen« und Sexualstraftätern aus eugenischen Gründen legalisierte. Am Ende des Ersten Weltkriegs hatten bereits 16 US-Bundesstaaten Sterilisierungsgesetze. Weitere folgten in den 1920er Jahren. Auch in anderen Ländern wurden zu dieser Zeit Sterilisierungsgesetze verabschiedet: im Schweizer Kanton Waadt (1928), in Dänemark (1929), in den kanadischen Provinzen Alberta (1928) und British Columbia (1933) sowie im mexikanischen Bundesstaat Vera Cruz (1932).2 In Großbritannien scheiterte ein 1930/31 unternommener Vorstoß zur Legalisierung der eugenischen Sterilisation im britischen Unterhaus. Anderswo wurden zwar keine Sterilisierungsgesetze verabschiedet, wohl aber eugenisch motivierte Eheverbote gesetzlich verankert, so etwa in den Niederlanden. Die Entwicklung im Ausland wurde in Deutschland aufmerksam verfolgt. In den 1920er Jahren mehrten sich Initiativen zur Legalisierung der eugenischen Sterilisierung. 1929 sahen die Rassenhygieniker – angesichts der sich zuspitzenden Krise des Weimarer Wohlfahrtsstaates – die Chance gekommen, dieses Ziel im Kontext der anstehenden Strafrechts1 Vgl. Kapitel 2. 2 Dazu die in Anm. 5 von Kapitel 2 genannte Literatur. Zudem: Trombley, 1988; Reilly, 1991; Kesper-Biermann, 2008.
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reform politisch durchzusetzen. Zwar scheiterte dieser Vorstoß, doch formulierte der Ausschuss für Bevölkerungswesen und Eugenik des Preußischen Landesgesundheitsrates im Juli 1932 den Entwurf eines Gesetzes zur freiwilligen Unfruchtbarmachung, der auf breite Zustimmung stieß.3 Mit dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (GzVeN) löste das nationalsozialistische Deutschland die USA in der internationalen eugenischen Szene als »Modellstaat« ab. Eugeniker in aller Welt forderten nun unter Verweis auf das Deutsche Reich die gesetzliche Regelung der eugenischen Sterilisierung. Tatsächlich wurden in den 1930er Jahren – nicht zuletzt unter dem Eindruck der massenhaften Zwangssterilisierungen im NS-Staat – in mehreren europäischen Staaten Sterilisierungsgesetze verabschiedet: in Norwegen (1934), Finnland (1935), Schweden (1935), Estland (1936), Lettland (1937) und Island (1938). 1940 folgte – als wichtiges überseeisches Schwellenland – Japan. Zudem stieg nach dem Erlass des GzVeN die Zahl der Sterilisierungen in den USA sprunghaft an. Waren dort bis 1933 insgesamt etwa 16.000 Menschen unfruchtbar gemacht worden, so erhöhte sich diese Zahl bis 1941 auf über 38.000.4 Die Zahl der US-Bundesstaaten, die über ein Sterilisierungsgesetz verfügten, erreichte 1937 mit 32 ihren Höhepunkt.
Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« Die NS-Erbgesundheitspolitik begann mit einem Paukenschlag. Am 14.7.1933 verabschiedete das Kabinett Hitler das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, das sich über weite Strecken an den preußischen Gesetzentwurf von 1932 anlehnte, dem Staat aber Möglichkeiten zur Anwendung von Zwang eröffnete, die noch unter den Präsidialregierungen am Ende der Weimarer Republik politisch nicht durchsetzbar gewesen wären. Das NS-Sterilisationsprogramm sprengte dadurch, dass es offene Gewalt – anders als in der Sterilisationsgesetzgebung anderer Staaten – über den Kreis der Patienten aus der Anstaltspsychiatrie hinaus legalisierte, alle bis dahin bekannten Dimensionen. Zwischen dem 1.1.1934, als das Gesetz in Kraft trat, und dem 8.5.1945 wurden auf dem Gebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 etwa 360.000 Menschen nach dem GzVeN zumeist zwangsweise unfruchtbar ge3 Dazu die in Kapitel 2 genannte Literatur sowie: Müller, 1985; Benzenhöfer, 2006. 4 Müller, 1985, S. 35-37.
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macht – fast ein Prozent der Bevölkerung im Alter von 16 bis 50 Jahren. Bezieht man die nach 1937 annektierten Gebiete in die Betrachtung mit ein (allein in der »Ostmark« wurden zwischen 1940 und 1945 etwa 6000 Menschen sterilisiert),5 so dürfte sich die Gesamtzahl der rassenhygienischen Sterilisationen im nationalsozialistischen Deutschland auf etwa 400.000 belaufen.6 Wegen des massiven Zwangs hatte die nationalsozialistische Erbgesundheitspolitik von Anfang an ein erhöhtes Sterberisiko ins Kalkül gezogen. Nach einer Schätzung von Gisela Bock kamen bei den Sterilisierungen nach dem GzVeN etwa 4500 Frauen und etwa 500 Männer ums Leben.7 Dies entspräche einer Mortalitätsrate von etwa 1,4. Neuere Regionalstudien haben zwar für ihre Untersuchungsgebiete niedrigere Mortalitätsraten von 0,4-0,6 ermittelt,8 doch kann die Frage nach der Repräsentativität dieser Regionalstudien auf dem gegenwärtigen Forschungsstand noch nicht abschließend beurteilt werden. Mit ihrem Standardwerk »Zwangssterilisation im Nationalsozialismus« (1986), der ersten und bis heute unübertroffenen Gesamtdarstellung des Themas, hat Gisela Bock Maßstäbe gesetzt. Zugleich hat sie ein überaus wirkmächtiges Interpretationsmuster geliefert, welches das NSSterilisierungsprogramm auf den beiden Feldern »Rassenpolitik« und »Frauenpolitik« verortet. Im Windschatten dieser Pionierarbeit sind in den letzten Jahren zahlreiche Regional- und Lokalstudien erschienen.9 Hinzu kommen Spezialstudien zu den Entscheidungsprozessen im unmittelbaren Vorfeld des GzVeN10 und zu verschiedenen für die Umsetzung des Gesetzes wichtigen Funktionseliten. Nach dem GzVeN konnte ein Mensch unfruchtbar gemacht werden, »wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten« war, »dass seine Nachkommen an 5 6 7 8 9
Neugebauer, 1992. Bock, 1986, S. 237f. Bock, 1986, S. 380. Koch, 1994, S. 47; Hilder, 1996, S. 92; Braß, 2004, S. 144f. Fuchs, 1988 (Bremen); Daum/Deppe, 1991 (Frankfurt/M.); Rothmaler, 1991 (Hamburg); Koch, 1994 (Universitätsfrauenklinik Göttingen); Kaminsky, 1995 (Rheinland); Hilder, 1996 (Landesheilanstalt Marburg); Angerstorfer/Dengg, 1999 (Regensburg/Oberpfalz/Niederbayern); Link, 1999 (Universitätsfrauenklinik Freiburg/Brsg.); Braß, 2004 (Saarland); Birk, 2005, 2008 (bayerisches Schwaben); Heitzer, 2005 (Passau); Einhaus, 2006 (Bonn); Regenspurger, 2006 (Universitätsfrauenklinik Jena); Oehler-Klein, 2007 (Universitätsklinik Gießen); Spring, 2009 (Wien). Vgl. auch die Literatur in Kapitel 5.4. 10 Ganssmüller, 1987; Benzenhöfer, 2006.
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schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden« würden.11 In dieser Kautschukformel kam das Dilemma der Erbdiagnostik zum Ausdruck. Die psychiatrische Erbforschung war sich zwar sicher, dass bei der Entstehung der im Gesetz genannten Krankheiten und Behinderungen der Erbfaktor eine entscheidende Rolle spielte, über den genauen Erbgang bestand jedoch in den seltensten Fällen Klarheit. Meist war man auf indirekte Methoden angewiesen wie die Zwillingsforschung, die Familienforschung oder die von Ernst Rüdin und seinen Mitarbeitern in der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München entwickelte »empirische Erbprognose«, die mit statistischen Wahrscheinlichkeiten arbeitete. Als »Erbkrankheiten« im Sinne des Gesetzes galten »angeborener Schwachsinn«, Schizophrenie, »manisch-depressives Irresein«, erbliche Epilepsie, »erblicher Veitstanz« (Chorea Huntington), erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, »schwere erbliche körperliche Missbildungen« sowie »schwerer Alkoholismus«. Von besonderer Bedeutung war die Gruppe der »Schwachsinnigen«, die etwa zwei Drittel der Sterilisierten ausmachten. Da die Erblichkeit der verschiedenen Formen und Grade des »Schwachsinns« im Einzelfall schwer nachweisbar war, ersetzte der Gesetzgeber den Begriff des »erblichen« durch den des »angeborenen« Schwachsinns, der alle Fälle umfasste, bei denen keine exogene Ursache nachgewiesen werden konnte. Die Beweislast wurde mithin dem Sterilisanden aufgebürdet. Ähnlich verhielt es sich bei der Schizophrenie und der Epilepsie. Im Sterilisierungsverfahren mischten sich medizinische und soziale Diagnostik. Neben »schwerem Alkoholismus« bot vor allem die Diagnose »angeborener Schwachsinn« eine Zugriffsmöglichkeit auf »asoziale Psychopathen«, denen – unabhängig von ihrer Intelligenzleistung – »moralischer Schwachsinn« unterstellt wurde. Auf diese Weise liefen Menschen Gefahr, sterilisiert zu werden, weil sie den Volksschulabschluss nicht geschafft hatten, ein uneheliches Kind besaßen, keiner geregelten Arbeit nachgingen, keinen festen Wohnsitz vorweisen konnten oder wegen Bagatelldelikten mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. In der Praxis ist diese Dimension sozialer Diagnostik mit Händen greifbar. In vielen Sterilisierungsverfahren prallten völlig unterschiedliche Normen und Werte, Umgangsformen und Sprachstile unvermittelt aufeinander: Richter und Ärzte wurden mit den ihnen gänzlich fremden 11 GzVeN, § 1, zit. nach Kersting/Schmuhl, 2004, S. 444. Zum Verfahren zuletzt zusammenfassend: Ley, 2008.
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Lebenswelten von Bauern und Knechten, Fabrikarbeiterinnen und Hausmädchen und kleinen Angestellten konfrontiert – und weil die Bildungsbürger, die hier über »einfache Leute« zu Gericht saßen, deren Werte- und Normensystem nicht verstanden, sprachen sie ihnen kurzerhand die »höheren Verstandeskräfte« ab. Was die Sterilisanden, ihre Angehörigen und Vormünder vorbrachten, folgte dem »gesunden Menschenverstand«, hielt sich nicht an die streng wissenschaftliche Logik der Psychiatrie und wurde vor Gericht oftmals als unerheblich abgetan.12 Gisela Bock hat die geschlechtergeschichtlichen Aspekte des NS-Sterilisationsprogramms klar herausgearbeitet. Die soziale Diagnostik folgte geschlechtsspezifischen Kriterien. Um »weibliche Minderwertigkeit« festzustellen, wurde – anders als bei Männern – regelmäßig das Sexualverhalten überprüft. Alles, was von der herrschenden weiblichen Geschlechtsrolle abwich, namentlich jede Form von Promiskuität, wurde gegen die Sterilisandin verwendet. Vor allem unverheiratete Mütter standen, zumal wenn der Kindsvater unbekannt war, unter dem Generalverdacht des »moralischen Schwachsinns«. »Lebensbewährung« wurde bei Frauen an der Fähigkeit und Neigung zu Hausarbeit und Kindererziehung bemessen, während bei Männern die Stellung im Berufsleben im Vordergrund stand. Bei der Beurteilung der »Fortpflanzungsgefährlichkeit« von »schwachsinnigen« Frauen wurde die Möglichkeit einer Vergewaltigung mit ins Kalkül gezogen. Auch hatte die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung für Frauen eine höhere Bedeutung als für Männer. Eine große Zahl von Sterilisandinnen litt unter der Vorstellung, kinderlos bleiben zu müssen, und protestierte dagegen – auch indem sie versuchten, vor der Operation schwanger zu werden. Nicht zuletzt um solche »Trotzschwangerschaften« zu unterbinden, wurde in einem Änderungsgesetz zum GzVeN vom 26.6.1935 die Abtreibung aus eugenischer Indikation freigegeben. Gisela Bock hat das dem NS-Sterilisationsprogramm zugrundeliegende Konzept als »hygienischen Rassismus« beschrieben, der mit dem »anthropologischen Rassismus« eng verschränkt war. Sie hat auch als Erste nachgewiesen, dass es zwischen Erbgesundheits- und Rassenpolitik fließende Grenzen gab. Unter den Opfern des GzVeN finden sich auch Juden, Sinti und Roma – und im Einzelfall lässt sich zeigen, dass rassenanthropologische Kriterien im Sterilisierungsverfahren neben rassenhygienischen durchaus eine Rolle spielen konnten. Erst am 19.3.1942 – im Zeichen der »Endlösung der Judenfrage« – ordnete ein Erlass des 12 Bock, 1986, S. 210-230. Dazu die Quellen in Kersting/Schmuhl, 2004, S. 467-483.
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Reichsinnenministeriums an, dass Anträge auf Unfruchtbarmachung von Juden nicht mehr zu stellen seien. Pläne zur Massensterilisierung von Millionen von Juden und Slawen im besetzten Osteuropa kamen nicht mehr zur Ausführung. Wohl aber wurden Hunderte von KZHäftlingen, vor allem in Ravensbrück und Auschwitz, verbrecherischen Menschenversuchen zur Röntgenkastration ausgesetzt.13 Durch das GzVeN nicht gedeckt war die 1937 unter maßgeblicher Beteiligung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik heimlich durchgeführte Zwangssterilisierung von 385 Jugendlichen, die als »Rheinlandbastarde« galten – so die damals gängige abfällige Bezeichnung von Kindern, die nach dem Ersten Weltkrieg von farbigen Soldaten der französischen, belgischen und amerikanischen Besatzungstruppen mit deutschen Frauen gezeugt worden waren. Auch in diesem Fall verflossen die Grenzen zwischen hygienischem und anthropologischem Rassismus.14 Ebenfalls nicht in den Bereich des GzVeN gehört die Kastration von »gefährlichen Sittlichkeitsverbrechern« (darunter konnten auch Homosexuelle fallen) nach dem »Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung« vom 24.11.1933. Das erste Gesetz zur Änderung des GzVeN eröffnete 1935 jedoch die Möglichkeit einer Kastration von Männern mit »entartetem Geschlechtstrieb« mit Einwilligung der Betroffenen – wobei in der Praxis von Freiwilligkeit kaum die Rede sein konnte.15 Als Indikatoren galten Neigung oder Verurteilung wegen Homosexualität, sexueller Nötigung, Kindesmissbrauchs, Vergewaltigung oder Exhibitionismus.
Biowissenschaftler, Ärzte, Juristen Drei Funktionseliten waren für die Umsetzung des GzVeN von strategischer Bedeutung: Experten aus den Wissenschaften vom Menschen, Ärzte und Juristen. Diese Gruppen sind in den letzten Jahren verstärkt Gegenstand der Forschung geworden. Die Durchsetzung des NS-Sterilisationsprogramms hing gleich in sechsfacher Hinsicht entscheidend von der Mitwirkung von Biowissenschaftlern ab: Erstens war das NS-Regime darauf angewiesen, dass diese 13 Bock, 1986. Vgl. auch Zimmermann, 1996, S. 86-92; Marnau, 2003. 14 Pommerin, 1979; Schmuhl, 2005, S. 291-299. 15 Sparing, 1997. Vgl. Simon, 2001; Zur Nieden, 2005; Kompisch, 2008.
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im Rahmen wissenschaftlicher Politikberatung ihre Expertise in die Gesetzgebung einbrachten. Zweitens war es im Hinblick auf das weitverbreitete und tiefsitzende Misstrauen der deutschen Bevölkerung für die Politik wichtig, dass renommierte Wissenschaftler ihre fachliche Autorität in die Waagschale warfen, um der rassenhygienischen Propaganda, die den Boden für die Massensterilisierungen bereiten sollte, den Anschein wissenschaftlicher Seriosität zu geben. Drittens war es außenpolitisch von Bedeutung, dass hochrangige deutsche Wissenschaftler auf internationaler Bühne der Kritik an der NS-Erbgesundheitspolitik aus dem Ausland entgegentraten. Viertens mussten, wenn die Sterilisierungsgesetzgebung effektiv in die Praxis umgesetzt werden sollte, die Amtsärzte, die an die Erbgesundheitsgerichte (EGG) abgeordneten Richter, die Ärzte in Heil- und Pflegeanstalten, Krankenhäusern und Gefängnissen, die in der psychiatrischen Außenfürsorge tätigen Wohlfahrtspflegerinnen usw. erbbiologisch-rassenhygienisch geschult werden – auch dafür bedurfte es Expertenwissens.16 Fünftens waren Erbpathologie und -psychiatrie aufgerufen, die noch schwankenden wissenschaftlichen Grundlagen der Erbgesundheitspolitik durch vermehrte Forschungsanstrengungen zur Aufklärung des Erbgangs von Krankheiten und Behinderungen zu festigen. Dabei setzte man auf einen Rückkopplungseffekt: Die Akten der Sterilisierungsverfahren sollten wissenschaftlich ausgewertet werden, um nähere Aufschlüsse über die Erbunterlage der in Frage stehenden Krankheiten und Behinderungen zu erlangen.17 Sechstens schließlich war die aktive Mitarbeit von Vererbungswissenschaftlern als Gutachter oder ärztliche Beisitzer in den EGG und insbesondere in den Erbgesundheitsobergerichten (EGOG), wo in der zweiten Instanz oftmals Fragen von grundsätzlicher Bedeutung behandelt wurden, von strategischem Interesse. Ärzte waren in verschiedenen Funktionen – als Amtsärzte, niedergelassene Ärzte und Fachärzte, Fürsorgeärzte oder klinische Psychiater – an den Verfahren vor den EGG beteiligt: Erstens waren alle Ärzte anzeigepflichtig, die Amts- und Gerichtsärzte antragsberechtigt. Zweitens wirkten Ärzte als Beisitzer oder Gutachter an den Entscheidungen der EGG mit. Drittens war die Durchführung der Sterilisation einem Arzt vorbehalten. Die Haltung der Ärzteschaft zum GzVeN hat Astrid Ley in ihrer grundlegenden Studie »Zwangssterilisation und Ärzteschaft« (2004) am Beispiel der Region Franken untersucht. Für die niedergelassenen Allge16 Schmuhl, 2005, S. 264-269, 2008. 17 Schmuhl, 2009.
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meinärzte kommt sie zu dem Schluss, dass diese sich (auch aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus) der Meldepflicht in einem Ausmaß entzogen, dass man nachgerade von einer »Verweigerungshaltung« sprechen könne. Dies zeuge »von der Möglichkeit, individuelle Handlungsfreiheiten trotz totalitärer Handlungsvorgaben zu bewahren«.18 Im Bezirk Schwabach etwa erstatteten zwei Drittel der niedergelassenen Ärzte bis 1945 keine einzige Sterilisierungsanzeige, ein umso erstaunlicherer Befund, als der Organisationsgrad der Ärzteschaft in der NSDAP, SS und SA hier mit 75 weit über dem Reichsdurchschnitt lag. Dem stand das große Engagement der Fürsorgeärzte bei der Umsetzung des GzVeN gegenüber. Die »offene Fürsorge« nach dem »Erlanger Modell«, eines der großen Projekte der Weimarer Reformpsychiatrie, hatte sich rassenhygienische Konzepte angeeignet – negative Eugenik und Öffnung der geschlossenen Geisteskrankenfürsorge galten als komplementäre Elemente der Reform. Für die klinischen Psychiater stellt Ley eine eher ambivalente Haltung zum NS-Sterilisationsprogramm fest, die sich in einer schwächer ausgeprägten Anzeigepraxis niederschlug. Sie erklärt dies mit professionspolitischen Motiven – die Angst vor dem Verlust des Definitionsmonopols der Psychiater im Hinblick auf psychische Krankheit führte demnach zu einer gewissen Zurückhaltung. Freilich liefern jüngere psychiatriegeschichtliche Studien zur Zeit des »Dritten Reiches« ein uneinheitliches Bild. Manche klinischen Psychiater, manche psychiatrischen Einrichtungen, manche ihrer Träger wirkten sehr aktiv, manchmal sogar in vorauseilendem Gehorsam, bei der Umsetzung des Sterilisationsprogramms mit.19 Gegen die Obstruktion der Mehrheit der Psychiater hätten Sterilisierungen von Anstaltspatienten in derart großem Stil schwerlich durchgeführt werden können. Die Schlüsselstellung der Amtsärzte im NS-Sterilisationsprogramm ist durch die grundlegende Studie von Johannes Vossen deutlich herausgearbeitet worden.20 Auf den ersten Blick ist es erstaunlich, dass die braunen Machthaber ihr Sterilisierungsprogramm noch in der Sphäre des durch Recht und Gesetz eingehegten »Normenstaates« ansiedelten und nicht schon in die Sphäre des »Maßnahmenstaates« (Ernst Fraenkel), des Reiches der unbeschränkten Willkür und Gewalt, verlagerten. Eine der wichtigsten Maßnahmen im Rahmen der Erbgesundheits- und Rassenpolitik wurde 18 Ley, 2004, S. 133. 19 Vgl. die Literatur in den Kapiteln 5.4 (zu »Euthanasie« und Krankenmord) und 3.3 (zur konfessionell gebundenen Krankenversorgung). 20 Vossen, 2001; Czech, 2003. Vgl. das Kapitel 3.1 zu gesundheitspolitischen Entscheidungsstrukturen, öffentlichem Gesundheitsdienst und Sozialversicherung.
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damit in die Hände der Justiz gelegt, die 1933/34 noch keineswegs als völlig »gleichgeschaltet« gelten konnte. Dies hatte im Wesentlichen drei Gründe: Hitler und seine Satrapen hielten die Macht noch nicht völlig in ihren Händen – sie mussten vorerst noch Rücksicht auf ihre rechtskonservativen Koalitionspartner in der »Regierung der nationalen Konzentration« nehmen. Des Weiteren konnte man, indem man die Justiz mit dem eugenischen Sterilisierungsprogramm betraute, bei den Betroffenen und ihren Angehörigen, in der deutschen Öffentlichkeit, bei den noch immer starken alten Eliten in Bürokratie und Militär, vor allem aber auch im Ausland dem Verdacht begegnen, dass hier regellos, willkürlich oder missbräuchlich verfahren werde. Aus dem Blickwinkel Hitlers und der Nationalsozialisten hatte die Anbindung des Sterilisierungsprogramms an die Justiz zwar den Nachteil, dass man allgemeine Rechtsgrundsätze beachten, Verfahrensregeln einhalten, dem Instanzenweg folgen und Letztentscheidungen respektieren musste und den im Gesetz festgeschriebenen Indikationenkatalog nicht willkürlich ausweiten konnte. Dies wurde dadurch jedoch weitgehend ausgeglichen, dass man die Sterilisationsjustiz der freiwilligen Gerichtsbarkeit zuwies.21 Hier war das Verfahren viel formloser als in der Straf- und Zivilgerichtsbarkeit, eröffneten sich den Richtern größere Ermessensspielräume, wurde ihnen die Möglichkeit der Ermittlung von Amts wegen eingeräumt und bedurfte es keiner mündlichen Verhandlung. Wenn es gelang, die an den Sterilisationsverfahren beteiligten Juristen und Mediziner auf eugenischen Kurs zu bringen, dann konnte man die neu zu konstituierenden Erbgesundheitsgerichte leicht zu »Sondergerichten« im Sinne nationalsozialistischer Rechtsauffassung umgestalten. Hier zeichnet sich ein weiterer wesentlicher Grund dafür ab, das Sterilisationsprogramm der Justiz zu übertragen. Die aufgrund des GzVeN errichtete Sondergerichtsbarkeit stellte ein Einfallstor dar, durch das rassenhygienisches Gedankengut in den Justizapparat einsickern konnte. 500 von rund 10.000 Richtern und Staatsanwälten waren – nach einer Schätzung von Gisela Bock22 – bis 1939 an einem der EGG oder EGOG mit Sterilisationssachen befasst. Sie sollten als Avantgarde einer neuen Rechtsauffassung dazu beitragen, in der Justiz das Bewusstsein für die »biologische
21 Bock, 1986, S. 195f. 22 Bock, 1986, S. 198.
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Funktion« des Rechts zu schärfen. Wie die neuere Forschung zur Praxis der EGG zeigt, ging dieses Kalkül durchaus auf.23
Kontinuitäten und internationale Dimensionen Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschlands wurde das GzVeN in den westlichen Besatzungszonen ausgesetzt, aber nicht aufgehoben. Erst seit 1980 war eine Entschädigung von Zwangssterilisierten möglich, erst 1998 wurden die Beschlüsse der EGG formal aufgehoben. Bis Anfang der 1960er Jahre berieten Expertenstäbe in der Bundesrepublik Deutschland über ein modifiziertes Sterilisierungsgesetz. Und auch in der DDR floss eine »erbmedizinische Indikation« in die Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch und zur Sterilisation ein.24 Global betrachtet, bedeutete die Epochenzäsur von 1945 keineswegs ein Ende der eugenischen Sterilisierung. Paul Weindling hat aus internationaler Perspektive vier Phasen der Sterilisationspraxis unterschieden: Auf eine »amerikanische Phase« bis Anfang der 1930er Jahre mit regionaler Gesetzgebung und komplexen Begründungszusammenhängen in den USA und Kanada und eine »europäische Phase« von 1934 bis 1940, in der sich Staaten vom NS-Sterilisationsprogramm inspirieren ließen (oder sich dezidiert davon abgrenzten), folgte ebenfalls ab Mitte der 1930er Jahre eine »skandinavische Phase« mit steigenden Sterilisationsraten aufgrund »sozialer Indikation« nach 1945 und schließlich eine vierte Phase mit Zwangssterilisationsprogrammen in Ländern der »Dritten Welt« – vor allem in China, Singapur, Indien und Puerto Rico – mit einem Höhepunkt in den 1970er Jahren. Diese letzte Phase dauert bis in die Gegenwart an.25
23 Simon, 1993 (EGOG Hamm); Ehlers, 1994 (EGG Duisburg/Wuppertal); Kramer, 1999 (EGOG Celle); Bernd, 2008 (EGG Mannheim); Drecktrah, 2008 (EGG Stade/Verden); Spring, 2009 (Wien); Vossen, 2008 (EGG Wuppertal-Elberfeld). 24 Hahn, 2000. Vgl. auch die Kapitel 6.3 und 3.3. 25 Weindling, 1999.
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medizinische praxis Kaminsky, Uwe, Zwangssterilisation und »Euthanasie« im Rheinland. Evangelische Erziehungsanstalten sowie Heil- und Pflegeanstalten 1933-1945, Köln 1995. Kersting, Franz-Werner/Schmuhl, Hans-Walter (Hrsg.), Quellen zur Geschichte der Anstaltspsychiatrie in Westfalen. Bd. 2: 1914-1955, Paderborn 2004. Kesper-Biermann, Sylvia, »Deutschland, Europa und die übrige Welt«. Zur Vorgeschichte des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in transnationaler Perspektive, in: Juristische Zeitgeschichte Nordrhein-Westfalen 17 (2008), S. 7-25. Koch, Thomas, Zwangssterilisation im Dritten Reich. Das Beispiel der Universitätsklinik Göttingen, Frankfurt/M. 1994. Kompisch, Kathrin, »Zur Verhinderung schwerster Sexualverbrechen«. Sterilisations- bzw. Kastrationsdiskurse in bezug auf Kriminelle in der Massenpresse der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, in: Juristische Zeitgeschichte Nordrhein-Westfalen 17 (2008), S. 27-38. Kramer, Sabine, »Ein ehrenhafter Verzicht auf Nachkommenschaft«. Theoretische Grundlagen und Praxis der Zwangssterilisation im Dritten Reich am Beispiel der Rechtsprechung des Erbgesundheitsobergerichts Celle, Baden-Baden 1999. Ley, Astrid, Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Handelns, 1934-1945, Frankfurt/M. 2004. Ley, Astrid, Das Erbgesundheitsverfahren nach dem NS-Sterilisationsgesetz. Eine Einführung, in: Juristische Zeitgeschichte Nordrhein-Westfalen 17 (2008), S. 39-63. Link, Gunther, Eugenische Zwangssterilisationen und Schwangerschaftsabbrüche im Nationalsozialismus, dargestellt am Beispiel der Universitätsfrauenklinik Freiburg, Frankfurt/M. 1999. Marnau, Björn, Steril und rasserein. Zwangssterilisation als Teil der nationalsozialistischen Rassenpolitik 1934 bis 1945. Der Kreis Steinburg als Beispiel, Frankfurt/M. 2003. Müller, Joachim, Sterilisation und Gesetzgebung bis 1933, Husum 1985. Neugebauer, Wolfgang, Zwangssterilisierung und »Euthanasie« in Österreich 1940-1945, in: Zeitgeschichte 19 (1992), S. 17-28. Oehler-Klein, Sigrid, »… als gesunder Mensch kam ich nach Gießen, krank kam ich wieder nach Hause …«. Zwangssterilisationen in Gießen, in: OehlerKlein, Sigrid (Hrsg.), Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit. Personen und Institutionen, Umbrüche und Kontinuitäten, Stuttgart 2007, S. 279-322. Pommerin, Reiner, »Sterilisierung der Rheinlandbastarde«. Das Schicksal einer farbigen deutschen Minderheit 1918-1937, Düsseldorf 1979. Regenspurger, Katja, Ein Opfer im Dienst der Volksgesundheit. Zwangssterilisationen nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses an der Universitäts-Frauenklinik Jena 1934-1945, in: Preuß, Dirk (Hrsg.), Anthropologie nach Haeckel, Stuttgart 2006, S. 125-148. Reilly, Philip R., The surgical solution: A history of involuntary sterilization in the United States, Baltimore 1991.
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zwangssterilisation Rothmaler, Christiane, Sterilisationen nach dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom 14. Juli 1933. Eine Untersuchung zur Tätigkeit des Erbgesundheitsgerichtes und zur Durchführung des Gesetzes in Hamburg in der Zeit zwischen 1934 und 1944, Husum 1991. Schmuhl, Hans-Walter, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, 1927-1945, Göttingen 2005. Schmuhl, Hans-Walter, Erbgesundheitswissenschaftliches »Briefing« der Juristen: Die Rolle des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, in: Juristische Zeitgeschichte Nordrhein-Westfalen 17 (2008), S. 83-92. Schmuhl, Hans-Walter, Die Begleitforschung zum NS-Sterilisationsprogramm. Das Beispiel des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, in: Wecker, Regina et al. (Hrsg.), Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik? Internationale Debatten zur Geschichte der Eugenik im 20. Jahrhundert, Köln [u. a.] 2009, S. 107-118. Simon, Jürgen, Die Erbgesundheitsgerichtsbarkeit im OLG-Bezirk Hamm. Rechtsprechung zwischen juristischen Vorgaben und ideologischen Anforderungen, in: Busse Peter (Bearb.), Justiz und Nationalsozialismus, Düsseldorf 1993, S. 131-167. Simon, Jürgen, Kriminalbiologie und Zwangssterilisation. Eugenischer Rassismus 1920-1945, München [u. a.] 2001. Sparing, Frank, Zwangskastrationen im Nationalsozialismus, in: Juristische Zeitgeschichte Nordrhein-Westfalen 6 (1997), S. 169-212. Spring, Claudia Andrea, Zwischen Krieg und Euthanasie. Zwangssterilisation in Wien 1940-1945, Wien [u. a.] 2009. Trombley, Stephen, The right to reproduce. A history of coercive sterilization, London 1988. Vossen, Johannes, Gesundheitsämter im Nationalsozialismus. Rassenhygiene und offene Gesundheitsfürsorge in Westfalen 1900-1950, Essen 2001. Vossen, Johannes, Das Erbgesundheitsgericht Wuppertal-Elberfeld, in: Juristische Zeitgeschichte Nordrhein-Westfalen 17 (2008), S. 113-131. Weindling, Paul J., International eugenics. Swedish sterilization in context, in: Scandinavian Journal of History 24 (1999), S. 179-197. Zimmermann, Michael, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische »Lösung der Zigeunerfrage«, Hamburg 1996. Zur Nieden, Susanne, Homosexualität und Staatsräson. Männlichkeit, Homophobie und Politik in Deutschland, 1900-1945, Frankfurt/M., New York 2005.
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5.4 »Euthanasie« und Krankenmord Hans-Walter Schmuhl Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges wurden die Heil- und Pflegeanstalten im deutschen Machtbereich zum Schauplatz eines in der Weltgeschichte einzigartigen Massenmordes. Die genaue Zahl der Opfer wird sich vermutlich nie ermitteln lassen – je weiter die Forschung in der Breite und Tiefe vorangeschritten ist, desto weiter mussten die Schätzungen in den letzten Jahren nach oben korrigiert werden. Auf dem gegenwärtigen Forschungsstand muss man davon ausgehen, dass in den Jahren von 1939 bis 1945 in den Grenzen des Deutschen Reiches – einschließlich der annektierten Gebiete – mindestens 196.000 psychisch kranke und geistig behinderte Menschen, überwiegend Patienten psychiatrischer Einrichtungen, ermordet wurden. Rechnet man die etwa 80.000 Toten in Anstalten der besetzten polnischen, sowjetischen und französischen Gebiete sowie die etwa 20.000 in den »Euthanasie«-Anstalten ermordeten KZ-Häftlinge hinzu, erhöht sich die Opferzahl auf fast 300.000 – und es steht zu erwarten, dass diese Zahl im Zuge künftiger Forschungen noch weiter heraufgesetzt werden muss.1 Die NS»Euthanasie« war eine von einem Herrschaftsapparat bewusst und absichtlich ins Werk gesetzte, planrational durchgeführte, tendenziell vollständige Vernichtung einer fest umrissenen Gruppe von Menschen – sie erfüllt damit alle Kriterien eines Genozids und steht kategorial auf einer Stufe mit dem Holocaust und anderen Genoziden des 20. Jahrhunderts.2 Mehr noch: In der Geschichte des »Dritten Reiches« markierte die »Euthanasie« den Umschlagspunkt von der Verfolgung zur Vernichtung. Bis 1939 hatte der nationalsozialistische Staat seine »inneren Feinde« zwar entrechtet und entwürdigt, verfolgt und vertrieben, in Lager verschleppt, in vielen Fällen auch ermordet. Eine systematische Vernichtung ganzer Menschengruppen hatte es jedoch nicht gegeben, bis sich das Regime anschickte, große Gruppen geistig behinderter und psychisch erkrankter Menschen zu ermorden. In der Genesis des Holocaust kam der »Euthanasie« die Rolle eines Katalysators zu – zwischen dem Krankenmord und den Morden an den europäischen Juden, Sinti und Roma, »Fremdvölkischen« und »Gemeinschaftsfremden« bestanden 1 Faulstich, 2000. 2 Schmuhl, 2010b.
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vielfältige Verbindungslinien.3 Die »Euthanasie« prägte, wie die neuere Forschung herausgearbeitet hat, der NS-Genozidpolitik überdies eine ganz eigene Signatur auf: Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens« fungierte als Instrument einer Optimierung des »Volkskörpers« – wohl kein anderer Genozid gründete sich in so hohem Maße auf den Sachverstand von Experten aus der Medizin und den Biowissenschaften.4 Seit 65 Jahren ist dieser Massenmord Gegenstand zeitgeschichtlicher Untersuchungen – die Forschung zur NS-»Euthanasie« ist selbst schon ein Stück deutscher Zeitgeschichte geworden.5 Seit den 1980er Jahren ist eine regelrechte Flut neuer Arbeiten zur NS-»Euthanasie« erschienen. Auf kaum einem anderen Feld der Zeitgeschichte ist in den letzten drei Jahrzehnten so intensiv geforscht worden, die Literatur ist selbst für Fachleute kaum noch zu überblicken. Neben älteren Gesamtdarstellungen6 geben mehrere Forschungsberichte und Sammelbände einen ungefähren Überblick zum Stand der Forschung.7 Die Literatur bis 1995 ist weitgehend erfasst in der 2. Auflage der Bibliographie von Christoph Beck.8
Vom Gedanken zur Tat Die Vorgeschichte des Massenmordes an Menschen mit geistigen Behinderungen und psychischen Krankheiten reicht bis in die Sattelzeit das ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zurück, als der aus dem Altertum stammende Begriff »Euthanasie« einen grundlegenden Bedeutungswandel erfuhr.9 Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bekam der Begriff der euthanasia medica eine spezifisch ärztliche Ausrichtung. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeutete er Sterbebegleitung ohne Lebensverkürzung und umfasste ärztliche und 3 4 5 6 7
Friedlander, 1997; Schmuhl, 1999, 2001; Böhm, 2001d. Schmuhl, 2009. Kersting, 2003; Peiffer, 2007; Schmuhl, 2008a, 2010a; Hohendorf, 2009b. Klee, 1983; Schmuhl, 1987; Burleigh, 1994; Friedlander, 1997. Süß, 2000; Baader, 2002; Kaminsky, 2008; Schmuhl, 2008a; Kersting/Teppe/Walter, 1993; Mundt/Hohendorf/Rotzoll, 2001; Böhm, 2001c; Oelschläger, 2002, 2003b; Manukjan, 2007; Elsner, 2009; Fuchs et al., 2007; Henke, 2008; Kampmeyer, 2009; Rotzoll et al., 2010. 8 Beck, 1995. Dazu auch die aktualisierte Auswahlbibliographie von Christoph Beck in Hübener, 2002, S. 403-475. 9 Benzenhöfer, 1999.
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pflegerische Tätigkeiten am Sterbebett.10 Der Gedanke der Sterbehilfe wurde zu dieser Zeit in Schriften zur ärztlichen Berufsethik ausdrücklich zurückgewiesen – in scharfer Abgrenzung zu einzelnen Vertretern der Ärzteschaft, die damals bereits für eine Sterbehilfe bei unheilbar kranken Menschen plädierten.11 Doch erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verschob sich das Bedeutungsfeld des Begriffs »Euthanasie« so weit, dass es – was das Recht des Arztes über Leben und Tod anging – geradezu zu einer Bedeutungsumkehrung kam. Gegen Ende der 1920er Jahre war das Wort bereits zu einem Synonym für schmerzlose Tötung geworden. Dies war eine unmittelbare Folge der juristischen, medizinischen und philosophischen Diskussionen um Sterbehilfe und Tötung auf Verlangen, die in Deutschland mit der Schrift »Das Recht auf den Tod« (1895) von Adolf Jost12 einsetzte. Diese Diskussionen sind inzwischen durch Quellensammlungen erschlossen13 und durch eine wachsende Sekundärliteratur aufgearbeitet worden.14 Dass der Erste Weltkrieg als erster industrieller Krieg der Weltgeschichte, nicht nur durch das Massensterben in den Schützengräben, sondern vor allem auch durch die Hungerkatastrophe, die sich aufgrund der alliierten Blockade in den Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reiches ereignete – allein in Preußen verhungerten schätzungsweise 70.000 Patienten15 –, im Hinblick auf die Anschauungen zur Sterbehilfe eine Umwertung der überkommenen Werte nach sich zog, ist durch die Forschung klar herausgearbeitet worden. Einig ist man sich hinsichtlich der überragenden Bedeutung der Schrift von Karl Binding und Alfred Hoche über »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« (1920), die nunmehr in einer Neuausgabe vorliegt.16 Die Schrift, ihre Autoren und die durch sie ausgelösten juristischen, medizinischen, theologischen Debatten sind in den letzten Jahren vertiefend erforscht worden.17 Umstritten ist das Verhältnis zwischen der »Euthanasie«-Debatte und der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aufkommenden Eugenik. 10 11 12 13 14
Roelcke, 2006. Stolberg, 2008. Benzenhöfer, 1998b. Kaiser/Nowak/Schwartz, 1992; Grübler, 2007. Schwartz, 1998, 2000/01, 2008; Benzenhöfer, 1999; Linder/Ort, 2000; GroßeVehne, 2005; Merkel, 2006. 15 Faulstich, 1998, S. 25-68. 16 Binding/Hoche, 2006. 17 Lampe, 1998; Müller-Seidel, 1999; Funke, 2002; Große-Vehne, 2005; Riha, 2005.
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Lange Zeit hat die Forschung umstandslos einen engen Zusammenhang unterstellt. Das Aufkommen der Rassenhygiene seit den 1890er Jahren und ihr Siegeszug in Wissenschaft, Gesellschaft und Staat zur Zeit der Weimarer Republik, schließlich ihre Erhebung zur Staatsdoktrin im Jahre 1933 bildeten in dieser Sichtweise wie selbstverständlich die weitere Vorgeschichte der NS-»Euthanasie«. In der Abfolge Zwangssterilisierung – Freigabe der Abtreibung aus eugenischer Indikation – Kinder»Euthanasie« kommt diese Verbindung scheinbar ganz handfest zum Ausdruck. Hans-Walter Schmuhl hat die These vertreten, dass die NS»Euthanasie« mit einer gewissen Notwendigkeit aus einem »kumulativen Radikalisierungsprozess« (Hans Mommsen) resultierte, der dadurch ausgelöst wurde, dass ein polykratisches Herrschaftssystem mit charismatischem Legitimitätsanspruch die Eugenik, der eine Radikalisierungstendenz immanent sei, zur Grundlage einer biopolitischen Entwicklungsdiktatur machte. Diese Position ist von Michael Schwartz und anderen scharf kritisiert worden. Sie betonen zu Recht, dass die Eugenik politisch polyvalent war und von allen Seiten des politischen Spektrums aufgegriffen wurde – und dass es sich um eine internationale Bewegung handelte.18 Dagegen ist einzuwenden, dass dieser Sichtweise einerseits eine Tendenz zugrunde liegt, die Eugenik so zuzuschneiden, dass mögliche Verbindungslinien ausgeblendet werden. Die eugenische Bewegung war außerordentlich heterogen, ihre Außengrenzen fließend – die vom Zentrum und der Sozialdemokratie getragene »Weimarer Eugenik«, die sich eindeutig gegen die Idee der »Euthanasie« abgrenzte, bildete nur einen Ausschnitt dieses Spektrums. Zudem gibt es auf der diskursiven Ebene durchaus Berührungspunkte und Schnittflächen zwischen Eugenik und »Euthanasie«. Hier zeigt sich nun, dass die Diskussionen über die Eugenik und die »Vernichtung lebensunwerten Lebens« seit den 1890er Jahren über weite Strecken von gemeinsamen Prämissen ausgingen: der Kategorisierung von Menschen und Menschengruppen nach ihrem »Lebenswert«, der »Biologisierung des Sozialen«, der Verabsolutierung der überindividuellen Abstammungsgemeinschaft, dem Verwerfen der Vorstellung von naturrechtlich verankerten Grund- und Menschenrechten, dem Ausklammern von Krankheit, Behinderung, Schwäche, Alter, Schmerz und Tod aus der conditio humana. Auch wenn viele Eugeniker ihr Programm als humane Alternative zur »Vernichtung lebensunwerten Lebens« verstanden und darstellten, bleiben doch die 18 Schwartz, 1996, 2008; Schmuhl, 1997; Trus, 2002; Kaminsky, 2008. Vgl. auch Kapitel 2 zu »Eugenik und Rassenanthropologie« in diesem Band.
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gemeinsamen Dispositive. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es interessant, die verschiedenen Stränge der Diskussion um (psychische) Krankheit und (geistige) Behinderung mit den Methoden der Diskursgeschichte zu untersuchen und die »herrschende Redeweise« zu analysieren, die darüber bestimmte, worüber in welcher Sprache gesprochen werden konnte – und worüber geschwiegen werden musste. Als äußerst anregend hat sich der Versuch erwiesen, die Genesis der NS-»Euthanasie« in den Kontext der deutschen Psychiatriegeschichte einzubetten. Hier sind Verbindungslinien zwischen der Reformpsychiatrie der 1920er Jahre, dem Vordringen eugenischer Konzepte in der psychiatrischen Praxis und dem Gedanken der »Euthanasie« deutlich geworden.19 Mit der zunehmenden Öffnung der Heil- und Pflegeanstalten im Zuge der »Aktiveren Krankenbehandlung« (Hermann Simon) und der offenen Fürsorge (Gustav Kolb) büßte die geschlossene Geisteskrankenfürsorge ihre Asylierungsfunktion ein. Im Sinne der Prävention schien es eine logische Konsequenz zu sein, die offene Geisteskrankenfürsorge mit der eugenischen Sterilisierung zu kombinieren. Und während sich die Rahmenbedingungen der geschlossenen Geisteskrankenfürsorge seit der Weltwirtschaftskrise dramatisch verschlechterten, schienen sich die Behandlungsmöglichkeiten durch die Einführung neuartiger Therapiemethoden, namentlich der Insulinkoma- und Cardiazolschock- sowie der Elektrokrampftherapie, seit den 1930er Jahren beträchtlich auszuweiten. Renommierte Psychiater kamen zu der Überzeugung, dass die Verwahrung der Unheilbaren auf Kosten der Behandlung der Heilbaren ging. Für sie war die »Euthanasie« gleichsam eine Art »Befreiungsschlag«, um den Weg zu einer ambitionierten Psychiatriereform freizumachen. Interessant ist, dass die Diskussion um Sterbehilfe, Tötung auf Verlangen und »Vernichtung lebensunwerten Lebens« mit der Epochenzäsur von 1933 keineswegs abbrach20 und von den an der NS-»Euthanasie« beteiligten Medizinern nachweislich rezipiert wurde.21 Die unmittelbare Vorgeschichte der »Euthanasie« in den Jahren 1938/39 liegt noch immer weitgehend im Dunkeln. Die vom Planungsstab des »Euthanasie«-Programms mitunter als »wilde Euthanasie« bezeichneten Morde an Patienten psychiatrischer Anstalten, die von den 19 Siemen, 1987, 1993; Schmuhl, 1991, 2007; Walter, 1996; Beddies/Hübener, 2003; Kersting/Schmuhl, 2004. 20 Frewer, 2000. 21 Große-Vehne, 2005/06, 2007.
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Ärzten vor Ort in eigener Regie durchgeführt wurden, setzten, wie neuere Forschungen zeigen konnten, bereits vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs ein, so in Hessen22 und in Sachsen.23 Zu analytischen Zwecken sind verschiedene Phasen und Formen der »Euthanasie« zu unterscheiden, wobei zu berücksichtigen ist, dass es zwischen den einzelnen Komplexen Querverbindungen und Überschneidungen gab, so dass sie sich zu einem lose zusammengefügten »Programm« formten.
Der Krankenmord in den besetzten Gebieten Polens und den östlichen Provinzen Preußens zu Beginn des Zweiten Weltkriegs Die ältere Forschung hat kaum zur Kenntnis genommen, dass die ersten Morde an Psychiatriepatienten – noch vor dem Beginn des systematischen Krankenmordes im »Altreich« – in den von der Wehrmacht besetzten und bald darauf vom Deutschen Reich annektierten Gebieten Polens stattfanden, ab Ende September 1939 im späteren »Reichsgau Danzig-Westpreußen«, von Anfang November 1939 an auch auf dem Gebiet des neuen »Reichsgaus Posen« (dem späteren »Reichsgau Wartheland«).24 Hier kam die erste stationäre Gaskammer zum Einsatz. Auch in Pommern25 und Ostpreußen26 fanden zu Beginn des Zweiten Weltkriegs Massaker an Psychiatriepatienten statt. Diese Mordaktionen wurden von SS-Kommandos durchgeführt. Die Initiative lag bei den Gauleitern und Höheren SS- und Polizeiführern vor Ort, doch zeigt die neuere Forschung zu Ostpreußen ein Ineinandergreifen der Interessen verschiedener Akteure auf Reichs-, Provinzial- und Anstaltsebene. Die Auswertung von Krankenakten aus der »Aktion Lange« belegt ferner, dass auch in dieser frühesten Phase des Krankenmordes kein »willkürliches und wahlloses Leermorden der Anstalten«27 stattfand. Welche Beziehungen zwischen diesen dezentralen Mordaktionen an der östlichen Peripherie des Großdeutschen Reiches und der ab Oktober 1939 auf 22 23 24 25 26 27
Sandner, 2003. Faulstich, 2001; Böhm, 2001b, 2004; Oeser, 2006. Rieß, 1995, 2004. Bernhardt, 1994. Topp et al., 2008; Topp, 2010. Topp, 2010, S. 170.
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Reichsebene anlaufenden systematischen »Aktion T4« bestanden, ist noch nicht abschließend geklärt. Die Ermordung von Psychiatriepatienten im besetzten Europa in den späteren Phasen des Zweiten Weltkriegs ist ebenfalls noch immer weitgehend terra incognita. Wenige, zumeist ältere Arbeiten beschäftigen sich mit dem Krankenmord im »Generalgouvernement« und in den besetzten Gebieten der Sowjetunion sowie mit dem Massensterben in französischen Anstalten unter dem Vichy-Regime.28 Für andere besetzte Gebiete, etwa Belgien, die Niederlande oder die Länder Südosteuropas, liegen noch keine gesicherten Erkenntnisse vor. Mit den Krankenmorden im weißrussischen Mogilew befasst sich neuerdings ein auf neuem Quellenmaterial basierender Aufsatz, der das Beziehungsgeflecht zwischen den deutschen Militärbehörden, der Stadtverwaltung, der Klinikleitung und der Einsatzgruppe B sowie die Hierarchisierung der Anstaltspatienten nach ökonomischer Brauchbarkeit beleuchtet.29
Kinder-»Euthanasie« Die Kinder-»Euthanasie« ist in den letzten Jahren zunehmend zum Gegenstand eigenständiger Untersuchungen geworden.30 Ihre Anfänge sind nach wie vor ungeklärt. Aufgrund der späteren Aussagen von Tatbeteiligten geht die Forschung davon aus, dass die Initialzündung zu diesem Mordprogramm von einem Einzelfall ausging: Danach richtete die Familie eines schwerstbehinderten Kleinkindes – das unter dem Namen »Kind Knauer« in die Literatur eingegangen ist – 1938/39, wohl auf Veranlassung von Prof. Werner Catel, dem Direktor der Leipziger Universitätskinderklinik, ein Gesuch an Hitler, um die nach geltendem Recht strafbare Tötung ihres Kindes zu erwirken. Hitler, dem die Eingabe von der Kanzlei des Führers vorgelegt wurde, habe seinen »Begleitarzt« Karl Brandt mit der Untersuchung des Falles beauftragt, und dieser habe daraufhin die Tötung des Kindes veranlasst. Dieser Fall habe zur Folge gehabt, dass Hitler Karl Brandt und den Chef der Kanzlei des Führers, Reichsleiter Philipp Bouhler, mündlich angewiesen habe, in ähnlichen 28 Ebbinghaus/Preissler, 1985; Jaroszewski, 1993; Kulesza, 2010; Lafont, 1987; Bueltzingsloewen, 2007. 29 Winkler/Hohendorf, 2010. 30 Benzenhöfer, 2000, 2003a, 2008; Dahl, 2001; Topp, 2004; Beddies/Hübener, 2004.
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Fällen ebenso zu verfahren. Udo Benzenhöfer und Ulf Schmidt meinten, das Kind identifizieren und seinen Tod auf den Juli 1939 datieren zu können.31 Dies hätte den »Zeithorizont« der Planung der »Euthanasie« erheblich zusammengestaucht.32 Doch haben sich die Identifizierung des Kindes und die Datierung seines Todes nicht aufrechterhalten lassen.33 Die »Gründung« des »Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden«, der in der Folge die Organisation der Kinder-»Euthanasie« übernahm,34 wird von den Zeitzeugen auf den Mai 1939 datiert – was durchaus möglich sein kann. Vielleicht ging der Reichsausschuss aus einem schon bestehenden informellen Expertenstab hervor, wurden Vorüberlegungen bereits seit 1938 angestellt.35 Sicher ist, dass die Kinder-»Euthanasie« im August 1939 Gestalt annahm, als das Reichsinnenministerium eine Meldepflicht für behinderte Neugeborene und Kleinkinder einführte. Die gemeldeten und von den Gutachtern des Reichsausschusses zur Ermordung freigegebenen Kinder wurden in eine der »Kinderfachabteilungen« eingewiesen, die – so der gegenwärtige Kenntnisstand – in mindestens 31 Heil- und Pflegeanstalten eingerichtet wurden, deren Leiter mit dem Reichsausschuss zusammenarbeiteten. Dieses Netz von »Kinderfachabteilungen« wurde nach dem Stopp der »Aktion T4« im August 1941 immer dichter geknüpft – eine Folge der Ausweitung des »Reichsausschussverfahrens« auf Jugendliche bis zu 16 Jahren.36 31 32 33 34
Benzenhöfer, 1998a; Ulf Schmidt, 2000. Kaminsky, 2008, S. 276f. Benzenhöfer, 2008. Der Ausschuss war auch zuständig für Schwangerschaftsunterbrechungen außerhalb des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«: Oelschläger, 2001b. 35 Benzenhöfer/Finsterbusch, 1998. 36 Benzenhöfer, 2000, 2001, 2008; Dahl, 2000; Topp, 2004. Literatur zu einzelnen »Kinderfachabteilungen«: Ansbach: Nedoschill/Castell, 2001. Berlin, »Wiesengrund«: Krüger, 2002. Brandenburg-Görden: Beddies, 2002a; Falk/Hauer, 2007. Dortmund-Aplerbeck: Walter, 1996, 2001; Bitzel, 1995. Eglfing-Haar: Gerhard Schmidt, 1965; Richarz, 1987. Eichberg: Hohendorf et al., 1999. Graz, »Am Feldhof«: Oelschläger, 2001a, 2003a. Hamburg-Langenhorn bzw. -Rothenburgsort: Burlon, 2009. Kalmenhof: Oelschläger, 1988. Kauf beuren: Pötzl, 1995. Leipzig: Roick, 1997; Lahm, 2008. Loben (Lubliniec): Dahl, 2003. Lüneburg: Sueße/Meyer, 1993; Reiter, 1996. Niedermarsberg: Walter, 1996, 2001. Schleswig-Stadtfeld: Bästlein, 1991. Uchtspringe: Snyder, 2001. Ueckermünde: Bernhardt, 1993, 1994. Wien, »Am Spiegelgrund«: Neugebauer, 1996/97; Dahl, 1998; Czech, 2000a; Häupl, 2006. Wiesloch: Peschke, 1993.
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Die Haltung der Eltern ist von Petra Lutz untersucht worden.37 Dabei zeigt sich ein breites Spektrum von Einstellungen und Verhaltensweisen – von grundsätzlicher Ablehnung der »Euthanasie« (insbesondere im katholischen Milieu und im ländlichen Raum) und aktiven Rettungsversuchen bis hin zur ausdrücklichen Befürwortung, ja offenen Einforderung der Kindstötung. Es überwog freilich eine ambivalente Haltung: Viele Eltern betrachteten den Tod ihres Kindes zwar als »Erlösung«, wollten aber in den Entscheidungsprozess nicht eingebunden werden. Die verdeckte, schrittweise Vorgehensweise kam dem entgegen. Die Psychiatrisierung eines Menschen unter den Bedingungen des »Dritten Reiches« generierte, so Lutz, »ein System von Heimlichkeiten«38 innerhalb der Familien und im Umgang der Familien mit der Anstalt. In einer Reihe von »Kinderfachabteilungen« wurden mit den zur Tötung bestimmten Kindern medizinische Versuche angestellt, so etwa Tuberkulose-Impfexperimente (in Kauf beuren, Wien und Berlin).39 Die Kinder-»Euthanasie« wurde aber auch zur psychiatrisch-neurologischen und neuropathologischen Grundlagenforschung genutzt: In zwei Forschungsabteilungen – die eine in der Heil- und Pflegeanstalt Brandenburg-Görden unter Leitung von Hans Heinze, die andere in der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg unter Leitung von Carl Schneider – wurden geistig behinderte Kinder, die man von überallher zusammengezogen hatte, gründlich untersucht, ehe man sie in die »Euthanasie«-Anstalten abschob, wo man ihnen nach der Vergasung die Gehirne entnahm. Diese wurden in verschiedenen pathologischen Instituten des Deutschen Reiches untersucht.40 In letzter Zeit konnte auch die Beteiligung führender Universitätskinderkliniken – so der Heidelberger Klinik unter Johann Duken und der Jenaer Klinik unter Jussuf Ibrahim41 – an der Kinder-»Euthanasie« nachgewiesen werden. Die Zahl der im Rahmen des »Reichsausschussverfahrens« ermordeten Kinder und Jugendlichen wird mittlerweile auf 5000 bis 10.000 geschätzt. Die Schätzung wird dadurch erschwert, dass nicht alle in den »Kinderfachabteilungen« umgebrachten Kinder dem Reichsausschuss gemeldet wurden. Die neuere Forschung hat auch die Kinder37 38 39 40
Lutz, 2001, 2006a, 2006b. Lutz, 2006b, S. 297. Steger, 2004; Dahl, 2002; Czech, 2002b; Schweizer-Martinschek, 2004. Roelcke/Hohendorf/Rotzoll, 1994, 1998, 2000; Hohendorf/Roelcke/Rotzoll, 1996, 1997; Peiffer, 1997, 1998, 1999, 2000; Roelcke, 2000, 2003; Weber, 2000; Schmuhl, 2002a; Hohendorf/Rotzoll, 2004; Falk/Hauer, 2007; Reicherdt, 2010. 41 Renner/Zimmermann, 2003; Hohendorf/Oehler-Klein/Rotzoll, 2007.
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»Euthanasie« im Sudetenland und im »Protektorat Böhmen und Mähren« in den Blick genommen.42 Unabhängig vom »Reichsausschussverfahren« sind schätzungsweise etwa 4100 bis 4200 Kinder und Jugendliche in den Gaskammern der »T4«-Anstalten umgekommen.43
Die »Aktion T4« Die »Aktion T4« kann als der am besten erforschte Teilbereich der NS»Euthanasie« gelten. Was allerdings die Entscheidungsprozesse im Vorfeld der »Aktion T4« angeht, so liegt auf dem gegenwärtigen Forschungsstand noch vieles im Dunkeln. Als hinreichend gesichert kann gelten, dass die Planungen leicht zeitversetzt zur Organisation der Kinder-»Euthanasie« im Frühsommer 1939 einsetzten.44 Es ist sehr wahrscheinlich, dass im Vorfeld der »Aktion T4« ein Kompetenzkonflikt stattfand: Hatte wohl zunächst »Reichsgesundheitsführer« Leonardo Conti den Auftrag zur Erwachsenen-»Euthanasie« erhalten, so wurde ihm dieser sehr bald entzogen und den beiden mit der Durchführung der Kinder-»Euthanasie« Beauftragten, Karl Brandt und Reichsleiter Philipp Bouhler, übertragen. Wann genau der ärztliche Expertenstab eingesetzt wurde, der die Vernichtungsaktion planen und organisieren sollte – Ende Juli, Anfang oder doch erst Ende August 1939 –, muss auf dem gegenwärtigen Kenntnisstand ebenso offenbleiben wie seine genaue Zusammensetzung. Ein an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg angesiedeltes DFG-Projekt zur stichprobenartigen Auswertung der etwa 30.000 Krankenakten aus der Erwachsenen-»Euthanasie«, die nach der Wende in den Aktenbeständen des Ministeriums für Staatssicherheit wiederaufgetaucht sind und heute als Bestand R 179 im Bundesarchiv Berlin lagern, hat neue Aufschlüsse zur Organisation dieser Mordaktion geliefert.45 Mit Hilfe der (mehrfach modifizierten)46 Meldebögen wurden etwa 200.000 Patienten aus Deutschland, Österreich47 und den »Reichsgau-
42 43 44 45 46 47
Benzenhöfer et al., 2006. Roer, 1997; Fuchs et al., 2004; Fuchs, 2010. Benzenhöfer, 2001. Hinz-Wessels et al., 2005; Hinz-Wessels, 2010a. Rauh, 2005. Neugebauer, 1992; Mende, 2000; Neugebauer/Czech, 2010.
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en« Sudetenland,48 Danzig-Westpreußen und Untersteiermark49 (heute ein Teil Sloweniens) erfasst.50 In einzelnen Regionen wurden die Meldebögen nicht von den Anstaltsärzten ausgefüllt, sondern von Ärztekommissionen der »T4«-Zentrale – so etwa in Österreich, wo über 60 der Patienten der größeren Anstalten nach Hartheim verlegt und ermordet wurden.51 Im Rahmen der »Aktion T4« (wie sie intern nach dem Sitz der »Euthanasie«-Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 genannt wurde) starben – der »Hartheimer Statistik« zufolge52 – in den sechs eigens mit Gaskammern ausgerüsteten Vernichtungsanstalten bis August 1941 genau 70.273 Patienten. Ausgehend von der Arbeit der Gedenkstätten an den Schauplätzen des Massenmordes sind die einzelnen »T4«-Anstalten – Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Sonnenstein, Bernburg und Hadamar53 – untersucht worden, wobei die je eigenen Besonderheiten im Hinblick auf die vormaligen Träger, die zuständigen Landes- und Provinzialbehörden, die räumlichen Verhältnisse usw. herausgearbeitet werden. Dabei zeigt sich, »dass die Träger der Heil- und Pflegeanstalten im Nationalsozialismus einen erheblich größeren Einfluss auf das Schicksal der Einrichtungen hatten als früher angenommen«.54 Wurden zu Beginn der »Aktion T4« die selektierten Patienten von der eigens geschaffenen »Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft« unmittelbar in die Vernichtungsanstalten transportiert, so entstand nach und nach ein Netz von Zwischenanstalten55 zur Verschleierung der Transportwege und zur effektiven Nutzung der Gaskammern und Krematorien der 48 49 50 51 52
Schmitt, 2006; Schmitt et al., 2008. Himmelreich, 2010. Böhm, 2008b. Neugebauer/Czech, 2010. Die neueren Arbeiten zu den einzelnen »T4«-Tötungsanstalten legen den Schluss nahe, dass die »Hartheimer Statistik« nicht alle Opfer der »Aktion T4« erfasst. 53 Kepplinger, 2005. Zu Grafeneck: Pretsch, 1996; Stöckle, 2002. Brandenburg: Falk/Hauer, 2004; Ley, 2010. Hartheim: Kepplinger, 2003a, 2003b; Oberösterreichisches Landesarchiv, 2005; Kepplinger/Marckgott/Reese, 2008; Kepplinger/ Reese, 2010. Sonnenstein: Böhm, 2001a, 2004, 2008a; Schilter, 1999. Bernburg: Hoffmann, 1996; Schulze, 1999. Hadamar: Roer/Henkel, 1986; Chroust/Groß/ Hamann, 1989; Vanja/Blasius, 1991; Winter, 1991; George et al., 2006. 54 Sandner, 2006a, S. 136. 55 Vgl. z. B. Hirschinger, 2001 (Altscherbitz); Hölzer, 2000 (Zschadraß); Sandner, 1997 (Weilmünster), 1999 (Eichberg); Schulze, 2002 (Teupitz), 2004 (Neuruppin); Oeser, 2006 (Arnsdorf ); Krumpolt, 1995 (Großschweidnitz); Lilienthal, 2009 (Andernach).
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Tötungsanstalten. Auch in den Zwischen- und selbst in den Tötungsanstalten gab es die Möglichkeit der Zurückstellung einzelner Patienten.56 Das Heidelberger Projekt eröffnet neue Einblicke auch in die Selektionspraxis.57 Konnte man bislang – anhand der von Philipp Bouhler und Karl Brandt ausgegebenen Richtlinien für die Gutachter der »Aktion T4«58 – Aussagen nur über die normative Ebene machen, so sind nun statistisch unterbaute Aussagen über die bei der »Aktion T4« tatsächlich zur Anwendung gekommenen Selektionskriterien möglich. Bei der Auswertung einer zufallsgenerierten Stichprobe von 3002 der insgesamt 29.320 erhalten gebliebenen Krankenakten von Patienten, die im Zuge der »Aktion T4« ermordet wurden, sowie einer Vergleichsstichprobe von 563 Akten aus elf repräsentativ ausgesuchten Anstalten des Deutschen Reiches hat sich manch überraschender Befund ergeben: Was die soziale Herkunft angeht, so findet sich unter den ermordeten Psychiatriepatienten – im Vergleich zur Gruppe der Überlebenden – ein deutlich höherer Anteil von Angehörigen der Mittelschicht (insbesondere von Angestellten) und ein deutlich niedrigerer Anteil von Unterschichtangehörigen. Eine mögliche Erklärung für diesen auf den ersten Blick erstaunlichen Befund – der so gar nicht zu der Vorstellung einer »Endlösung der Sozialen Frage« passen will59 – könnte darin liegen, dass bei Patienten aus unteren sozialen Schichten verhältnismäßig häufiger als Diagnose »Schwachsinn« angegeben ist, während Patienten aus der Mittelschicht häufiger als »schizophren« eingestuft wurden. Die Diagnose »Schwachsinn«, die auch leichtere Formen und Grade geistiger Behinderung umfasste, eröffnete eine größere Überlebenschance als die Diagnose »Schizophrenie«. Ausschlaggebendes Kriterium war die ökonomische Brauchbarkeit – Patienten, die als »produktiv« galten, hatten eine ungleich höhere Überlebenschance als Patienten, die für »unproduktiv« befunden wurden. Bei den Kindern und Jugendlichen war das Kriterium der »Bildungsfä56 Rüdenburg, 2010. 57 Hohendorf et al., 2002, 2006; Fuchs et al., 2005, 2005/06; Rauh, 2005, 2010a; Fuchs, 2007; Hohendorf, 2009a, 2010; Rotzoll, 2010. Eine Monographie mit den Ergebnissen der kollektivbiographischen Studie im Rahmen des Heidelberger Projekts ist für 2011 angekündigt. Vgl. auch: Beddies/Dörries, 1999; Binder/Cording, 2010. 58 Dass diese Richtlinien keineswegs immer eingehalten wurden, zeigt Philipp Rauh am Beispiel der Veteranen des Ersten Weltkriegs auf. Rauh, 2010b. 59 Dörner, 1988.
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higkeit« das ausschlaggebende Kriterium der Selektion.60 Wichtig waren ferner das Verhalten eines Patienten und der Pflege- und Überwachungsaufwand, den er verursachte. Störende, unruhige, renitente, auch politisch unangepasste, als gefährlich geltende oder aber »stumpfe«, unselbständige, unsaubere, bettlägerige Patienten liefen ein deutlich höheres Risiko, bei der Selektion zur Ermordung bestimmt zu werden, als angepasste, unauffällige, »angenehme« und »reinliche« Patienten.61 Die Ausdifferenzierung der statistischen Befunde nach Geschlecht fördert einen weiteren hochinteressanten Aspekt zutage: Zum einen wurde die Arbeitsleistung von Frauen von den Gutachtern offenbar tendenziell weniger wertgeschätzt als die von Männern – bei der Selektion nach ökonomischer Brauchbarkeit kam mithin auch ein geschlechtsspezifischer Faktor zum Tragen. Und auch bei der Beurteilung des Verhaltens der Kranken floss offenbar die geschlechtsspezifische Wahrnehmung der Ärzte und des Pflegepersonals mit ein. So werden in der Stichprobe der »T4«-Opfer fast doppelt so viele Frauen und Mädchen wie Männer und Jungen als »störend« und »unruhig« charakterisiert wie in der Vergleichsstichprobe. Die Überlebenschancen männlicher Psychiatriepatienten waren deutlich besser als die weiblicher.62 Der Faktor »Erblichkeit des Leidens« fiel bei der Selektion überraschenderweise gar nicht ins Gewicht – bislang hatte man angenommen, dass eugenische Motive in der ersten Phase der NS-»Euthanasie« eine größere Rolle spielten, während man für die Morde nach 1941 schon wusste, dass geringe Arbeitsfähigkeit und hoher Pflegeaufwand die entscheidenden Auswahlkriterien darstellten.63 Der Anteil der »T4«-Opfer, die zuvor im Rahmen des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« zwangssterilisiert worden waren, lag mit 18 deutlich niedriger als in der Vergleichsstichprobe mit 30,5. Hier zeigt sich, dass Sterilisation und »Euthanasie« unterschiedliche Zielgruppen hatten: Das Sterilisierungsprogramm richtete sich vor allem gegen die als ökonomisch produktiv, lebenstüchtig und besserungsfähig eingestuften unter den als »erbkrank« geltenden Patienten, während durch die »Euthanasie« – unabhängig von der Erblichkeit des Leidens – die »abgelaufenen« Fälle, die »Endzustände«, die nur noch als »Ballastexistenzen« betrachtet wurden, beseitigt werden sollten. 60 61 62 63
Fuchs, 2010. Zu den forensischen Patienten jetzt: Roebel, 2010. Rotzoll et al., 2004. Wunder, 1992; Böhme/Lohalm, 1993.
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Soziale Bindungen – auch das zeigt das Heidelberger Projekt eindrucksvoll – konnten von lebenswichtiger Bedeutung sein. Bei etwa doppelt so vielen Überlebenden (39,4) wie Ermordeten (19,2) entsteht aus der Krankenakte der Eindruck eines engen Familienzusammenhalts. Ebenso liefen Patienten, die im Zuge großräumiger Verlegungen in eine andere Heil- und Pflegeanstalt gelangt waren, ein höheres Risiko, aussortiert zu werden, als Patienten, die sich seit langem in einer Anstalt befanden. Die Fülle der Lokalstudien zur Durchführung der »Aktion T4« in einzelnen Heil- und Pflegeanstalten ist inzwischen kaum noch zu überschauen.64 Eine Reihe vorzüglicher Arbeiten untersucht die Durchführung der »Aktion T4« in einzelnen Regionen des Deutschen Reiches. Als sehr gut oder gut erforscht können das Rheinland, Westfalen, Hannover, Hamburg, Brandenburg, der Freistaat Sachsen, der Freistaat Anhalt und die Provinz Sachsen, Hessen-Nassau, das Saarland, Bayern, Baden, Württemberg, Wien und die »Ostmark«65 gelten. Im Hinblick auf andere Regionen – etwa Oberschlesien66 – besteht hingegen noch Forschungsbedarf. Warum die »Aktion T4« in manchen Regionen früher und radikaler durchgeführt wurde als in anderen, ist noch nicht abschließend geklärt. Die Vermutung, dass grenznahe Gebiete stärker betroffen waren, hält der empirischen Forschung letztlich nicht stand. Ausschlaggebender Faktor scheint vielmehr die Haltung der betreffenden Landes- und Provinzialbehörden gewesen zu sein. Ohne die aktive Mitwirkung oder zumindest die passive Hinnahme des Krankenmordes durch einen Großteil der Anstaltsärzte hätte die NS-»Euthanasie« nicht so reibungslos ins Werk gesetzt werden können – ungeachtet einzelner Fälle von Verweigerung und Protest, z. B. durch den Göttinger Psychiater Gottfried Ewald.67 Einen Erklärungsversuch 64 Als gelungene Beispiele seien genannt: Schröter, 1994 (Waldheim/Sachsen); Engelbracht, 1997 (Bremer Nervenklinik); Bott, 2001 (Lindenhaus/Lippe); Lehle, 2001 (Hohenweitzschen); Wagner, 2002 (Untergöltzsch). 65 Rheinland: Kaminsky, 1995; Elsner, 2009. Westfalen: Walter, 1996. Hannover: Sueße/Meyer, 1988. Hamburg: Böhme/Lohalm, 1993; Wunder, 1992. Brandenburg: Hübener, 2002. Freistaat Sachsen: Böhm, 2001c, 2002, 2004; Heidel, 2008. Freistaat Anhalt und Provinz Sachsen: Hoffmann, 2001. Hessen-Nassau: Sandner, 2003. Saarland: Braß, 2004. Bayern: Cranach/Siemen, 1999. Baden und Württemberg: Faulstich, 1993; Roland Müller, 2001; Königstein, 2004. Wien und »Ostmark«: Gabriel/Neugebauer, 2002. 66 Schulze, 2010. 67 Stobäus, 2000.
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zum Verhalten der an der »Aktion T4« unmittelbar beteiligten Ärzte hat Robert Jay Lifton mit seinem Konzept der »Dopplung« angeboten. Damit ist die Herausbildung zweier verschiedener Persönlichkeiten, eines »Heiler-Selbst« und eines »Mörder-Selbst« gemeint, die sich zu einer »Dr. Jekyll-und-Mr. Hyde«-Persönlichkeit ergänzten. Diese Deutung übersieht freilich, dass bei den »Euthanasie«-Ärzten das Vernichten zum integralen Bestandteil des Heilens geworden war – auf eine Spaltung oder Dopplung ihrer Persönlichkeit deutet in ihrem Fall – im Unterschied zu anderen NS-Tätertypen – wenig hin.68 Erfreulicherweise mehren sich die Monographien und Aufsätze, die sich mit der Biographie einzelner Beteiligter an der Kinder-»Euthanasie« und der »Aktion T4« befassen.69 Rebecca Schwoch hat sich am Beispiel der Landesanstalt Görden unter geschlechtergeschichtlichen Gesichtspunkten mit Ärztinnen als Täterinnen befasst.70 Die kollektivbiographische Studie von Franz-Werner Kersting zeichnet die Lebenswege der mittelbar oder unmittelbar an der »Euthanasie« beteiligten Psychiater in der Provinz Westfalen auch über die Zäsur von 1945 hinaus nach.71 Neuere kollektivbiographische Arbeiten befassen sich auch mit den Pflegekräften, Büroangestellten, Handwerkern, Fahrern, Fotografen und »Brennern«, die – dienstverpflichtet oder auf eigenen Wunsch – in den »T4«-Anstalten arbeiteten. Es handelte sich ganz überwiegend nicht um »Überzeugungstäter« – pragmatische Motive (gute Bezahlung, Zurückstellung vom Wehrdienst oder von der Arbeitsdienstpflicht in der Rüstungsindustrie) standen hier im Vordergrund.72
68 Lifton, 1988; Schmuhl, 1990; Cranach, 2007. 69 Karl Brandt: Süß, 2002; Ulf Schmidt, 2009. Philipp Bouhler: Schmuhl, 1993. Werner Catel: Schultz, 1985; Petersen/Zankel, 2008. Leonardo Conti: Schmuhl, 2008b. Maximinian de Crinis: Jasper, 1991. Irmfried Eberl: Grabher, 2006. Valentin Faltlhauser: Pötzl, 1995. Hans Heinze: Benzenhöfer, 2003b. Werner Heyde: Godau-Schüttke, 1998. Friedrich Mennecke: Chroust, 1987. Hermann Paul Nitsche: Mäckel, 1993; Böhm/Markwardt, 2004. Georg Renno: Kohl, 2000. Ernst Rüdin: Weber, 1993. Carl Schneider: Teller, 1990. Horst Schumann: Schilter, 2001; Böhm, 2007. Hellmuth Unger: Kiessling, 1999. Werner Villinger: Schäfer, 1991; Schmuhl, 2002b; Holtkamp, 2002. Kurzbiographien der »T4«-Gutachter: Rotzoll et al., 2010, S. 406-420. 70 Schwoch, 2004. 71 Kersting, 1996. 72 Steppe/Ulmer, 2001; Böhm/Fiebrandt, 2004; Lilienthal, 2006; Hoffmann, 2010; Kepplinger/Reese, 2010. »Brenner« wurden in den »T4«-Anstalten die Männer genannt, die das Verbrennen der Leichen in den Krematorien besorgten.
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Obwohl die »Euthanasie« als »geheime Reichssache« behandelt wurde, war der Krankenmord auf dem Höhepunkt der »Aktion T4« ein offenes Geheimnis. Das Verhalten der Bevölkerung hat Kurt Nowak auf die Formel »Widerstand, Zustimmung, Hinnahme«73 gebracht, wobei es schwerfällt, verallgemeinernde Aussagen zu treffen.74 Die ältere, aus der Makroperspektive argumentierende Forschung hat das vergleichsweise hohe Maß an Resistenz, Verweigerung und Widerstand gegen die »Euthanasie« in der Bevölkerung und gerade auch im Kreis der Angehörigen der Opfer hervorgehoben.75 Neuere regional- und lokalgeschichtliche Arbeiten verweisen demgegenüber aus einem mikrohistorischen Blickwinkel eher auf das breite Spektrum von Reaktionen von Seiten der Familien – von Zorn, Empörung, Trauer und Schmerz über Ergebenheit und Dankbarkeit bis hin zur geschäftsmäßig kühlen Abwicklung der Formalitäten – und betonen eine weitverbreitete passiv duldende Hinnahme des Krankenmordes. Offene Zustimmung der Familien oder gar die Forderung, einen kranken Angehörigen in das »Euthanasie«-Programm einzubeziehen, waren – darin ist sich die Forschung einig – eher selten.76 Am 21.8.1941 erteilte Hitler seinem Begleitarzt Brandt den mündlichen Befehl, die »Aktion T4« abzubrechen. Die in Betracht kommenden Gründe für die zumindest vorläufige Einstellung der Massenvergasungen sind schwer zu gewichten. Öffentliche Unmutsäußerungen in der Bevölkerung, Proteste von kirchlicher Seite – hier hebt die Forschung die besondere Bedeutung der berühmten »Euthanasie«-Predigt des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, hervor –,77 die Berichterstattung über die Patientenmorde im Ausland, Verschiebungen im Machtgefüge des NS-Regimes, der Überfall auf die Sowjetunion – alle diese Faktoren haben sicherlich eine Rolle gespielt.78 Die These, die »Aktion T4« sei planmäßig beendet worden, weil mit 70.000 Opfern das Plansoll erreicht war, hält der empirischen Forschung nicht stand. Nicht nur traf der Stopp die »T4«-Organisation völlig unvorbereitet und im laufenden Betrieb.79 In Nordwestdeutschland hatten die Verlegungen im Rahmen der »Aktion T4« gerade erst begonnen. Die Ausweitung 73 74 75 76 77 78 79
Nowak, 1991. Stöckle, 2010. Schmuhl, 1987; Friedlander, 1997; Rauh, 2007a; Kaiser, 2008. Als besonders eindrucksvolles Beispiel: Lang, 2001. Vgl. Kapitel 3.3 zur konfessionell gebundenen Krankenversorgung. Faulstich, 1998, S. 271-288. Faulstich, 1998, S. 273-288; Süß, 2003, S. 127-151.
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der Meldebogenaktion auf das »Protektorat Böhmen und Mähren« wurde aufgrund des Stopps der Aktion abgebrochen.80
Die »Sonderaktion« gegen jüdische Patienten im Jahre 1940 Die neuere Forschung hat ergeben, dass im Rahmen der »Aktion T4« – entgegen den Aussagen der Tatbeteiligten – auch Psychiatriepatienten jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft umgebracht wurden,81 noch bevor im Zuge der »Sonderaktion« im Sommer 1940 über 1000 jüdische Patienten in den Tod geschickt wurden. Nach dem Beginn der Deportationen deutscher Juden im Oktober 1941 wurden dann auch die jüdischen Psychiatriepatienten zusammen mit allen anderen deutschen Juden zu den Vernichtungsstätten im Osten deportiert. Die Ermordung der jüdischen Anstaltsbewohner war der erste systematische Massenmord an deutschen Juden unter dem NS-Regime und bildete damit in gewisser Weise den Auftakt zur »Endlösung der Judenfrage«. Dieser Komplex der NS-»Euthanasie« ist in dem grundlegenden Werk von Henry Friedlander ausführlich dargelegt worden, Beiträge aus jüngerer Zeit nehmen regionale oder lokale Aspekte des Geschehens in den Blick.82 Die »Sonderbehandlung 14f13«, bei der mindestens 20.000 KZ-Häftlinge in die Gaskammern der »Aktion T4« geschickt wurden, markierte den Übergang vom Konzentrations- zum Vernichtungslagersystem. Bei dieser Aktion wurden erstmals auch jüdische KZ-Häftlinge systematisch vernichtet – und zwar zu einem Zeitpunkt, als die NS-Judenpolitik noch auf territoriale Lösungen der »Judenfrage« abzielte. Hier zeigt sich noch einmal, dass es im Zeitraum von 1939 bis 1941 fließende Übergänge zur »Endlösung der Judenfrage« gab, wobei die »Euthanasie«-Aktion als radikalisierendes Element fungierte. Für die »Sonderbehandlung 14f13« ist nach wie vor die Arbeit von Walter Grode – trotz ihres problematischen theoretischen Bezugsrahmens – einschlägig. Neuere Studien befassen sich zudem eingehender mit der Vergasung von Häftlingen der KZ Mauthausen, Buchenwald und Sachsenhausen.83 80 Šimůnek/Schulze, 2008; Šimůnek, 2010. 81 Hinz-Wessels, 2010b. 82 Friedlander, 1997; Fedorovič, 2008 (»Protektorat Böhmen und Mähren«); Neugebauer, 2000 (Wien); Hinz-Wessels, 2002 (Brandenburg); Kingreen, 2006 (Hadamar). 83 Grode, 1987; Baumgartner, 2003; Diezmann, 2005; Hoffmann, 2005; Ley, 2009.
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Die »regionale Euthanasie« Die »Euthanasie«-Morde nach dem Abbruch der »Aktion T4« sind in der älteren Forschung nur am Rande behandelt worden, obwohl sie – wie wir heute wissen – deutlich mehr Todesopfer forderten als die erste Phase der »Euthanasie«. Erst die auf breiter Front einsetzende regionalgeschichtliche Forschung der letzten zwei Jahrzehnte schuf die Grundlagen dafür, die Endphase des Krankenmordes eingehender zu untersuchen. Die ältere Forschung hat die Bedeutung des Zweiten Weltkrieges als Hintergrundfolie des Massenmordes an psychisch kranken und geistig behinderten Menschen unterschätzt. Erst Winfried Süß hat überzeugend dargelegt, wie schlecht das deutsche Gesundheitswesen auf einen langen Krieg vorbereitet war. Die Verteilung der knappen medizinischen Ressourcen, vor allem zwischen dem militärischen und dem zivilen Sektor, wurde so zum Schlüsselproblem nationalsozialistischer Gesundheitspolitik im Krieg, zumal die Intensivierung des Luftkrieges seit 1943 die medizinische Infrastruktur in den Städten zunehmend zerstörte.84 In diesem Kontext ist die »Aktion Brandt«, die Schaffung von Ausweichkrankenhäusern für die luftkrieggefährdeten Städte, zu sehen, bei der es zur Räumung von zahlreichen Heil- und Pflegeanstalten kam, deren Bewohner in vielen Fällen in einem der Zentren der »dezentralen Euthanasie« umkamen. In der Forschung hat sich mehr und mehr die Einsicht durchgesetzt, dass die »Aktion Brandt« ursprünglich nicht als gezielte Vernichtungsaktion angelegt war.85 Es entstand aber eine gefährliche Sogwirkung: Da in Heil- und Pflegeanstalten, in denen weiter gemordet wurde, am ehesten Plätze frei wurden, entwickelten sie sich zu bevorzugten Zielen der Krankentransporte im Rahmen der »Aktion Brandt«. Uwe Kaminsky spricht treffend von »Push- und Pull-Effekten, ohne dass es dazu eines zentralen dirigistischen Mordplanes bedurfte«.86 Infolgedessen bildeten sich typische Verlegungswege heraus: Hauptabgaberegionen waren die Länder und preußischen Provinzen im Norden (Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen) und im Westen des Deutschen Reiches (Westfalen, Rheinland), als Hauptaufnahmeregionen kristallisierten sich Mitteldeutschland (Thüringen, Sachsen, die preußische Provinz Sachsen und Hessen), Nordostdeutsch84 Süß, 2003. 85 Faulstich, 1998, S. 587-633; Walter, 1996, S. 762. 86 Kaminsky, 2000, S. 81.
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land (Pommern), Süddeutschland (Bayern) sowie die angegliederten und besetzten Gebiete (Österreich, Warthegau, Generalgouvernement) heraus.87 Mit Blick auf die Tötungsanstalt Hadamar, die 1942 an den Provinzialverband Hessen-Nassau zurückgegeben wurde und in der die Krankenmorde nach Maßgabe des Provinzialverbandes unter der Verantwortung des Anstaltsleiters Adolf Wahlmann wiederaufgenommen wurden,88 hat Georg Lilienthal für diese Form des dezentralen und regionalen Mordens den Begriff der »kooperativen Euthanasie« vorgeschlagen, um das Zusammenspiel zwischen dem Provinzialverband und den beteiligten Berliner Behörden hervorzuheben.89 Im Sommer 1943 versuchte die »Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten«, Kern der alten »T4«-Zentrale, die »Aktion Brandt« zu nutzen, um die dadurch notwendig gewordenen großräumigen Verlegungen von Psychiatriepatienten in die noch bestehenden »Euthanasie«Zentren zu lenken und damit den weiter andauernden Massenmord wieder zentraler Kontrolle zu unterwerfen. In diesem Zusammenhang entstand 1943 auch die bemerkenswerte Denkschrift einer Gruppe führender Psychiater »zur künftigen Entwicklung der Psychiatrie«, die Überlegungen des ärztlichen Planungsstabes seit 1941 bündelte.90 Die Bedeutung dieser Planungen ist in der Forschung umstritten. Während Dirk Blasius darin nur eine defensive Reaktion auf den mit der »Euthanasie« verbundenen Legitimitätsverlust sieht,91 werten andere Autoren die Denkschrift als Ausdruck einer engen Verschränkung von Heilen und Vernichten im Ideenhaushalt des ärztlichen Stabes der »Euthanasie«.92 Der Versuch, die »Euthanasie« zu reinstitutionalisieren, eine zentrale Steuerung der Verlegungen und überdosierte Medikamentengaben als Mittel der Wahl bei den Krankenmorden wieder durchzusetzen, dürfte indessen angesichts der chaotischen Situation in der Endphase des Krieges nur noch in sehr begrenztem Maße gelungen sein. Dennoch kam es 1943/44 zu einer erneuten Intensivierung der Patientenmorde. Beteiligt waren etwa 15 Anstalten, von denen Hadamar, Großschweidnitz, Meseritz-Obrawalde (unter pommerscher Verwaltung)93
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Kaminsky, 2000; Faulstich, 1998, S. 615ff. Sandner, 2003, S. 607-653. Lilienthal, 2010. Vollständiger Abdruck in Kersting/Schmuhl, 2004, S. 619-625. Blasius, 1994, S. 185-187. Vgl. Sandner, 2006b. Schmuhl, 1987. Beddies, 2002b.
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und Kosmanos im Protektorat Böhmen und Mähren94 besonders berüchtigt waren. In den späten Phasen der »Euthanasie« weitete sich der Kreis der Opfer zunehmend aus, u. a. auf tuberkulöse und psychisch erkrankte Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion.95 Heinz Faulstich hat in seiner grundlegenden Studie über das Hungersterben in den Heil- und Pflegeanstalten herausgearbeitet, dass das Aushungern gegen Ende des Zweiten Weltkrieges eine immer größere Bedeutung bekam.96 Gerade in Einrichtungen wie der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen, die von Abtransporten im Zuge der »Euthanasie« nicht betroffen waren, schnellten die Sterberaten in die Höhe.97 Das Massensterben in den Anstalten ging auch nach Kriegsende zunächst weiter – als Folge der Unterernährung der Patienten, aber auch aufgrund der Gleichgültigkeit der Besatzungsbehörden und personeller Kontinuitäten in den Direktionen und beim Personal der Anstalten. Eine grobe Schätzung geht von etwa 20.000 Opfern des Nachkriegssterbens in den Anstalten aus.98
Die Opfer bekommen ein Gesicht In den letzten Jahren hat sich die Forschung verstärkt bemüht, den Opfern der NS-»Euthanasie« ein Gesicht zu geben. Verschiedene Publikationen zeichnen die Lebensgeschichten von Männern, Frauen und Kindern nach, die der NS-»Euthanasie« zum Opfer fielen.99 Neue Maßstäbe hat auch auf diesem Gebiet das Heidelberger Projekt gesetzt, indem es exemplarische Lebensläufe von »T4«-Opfern mit Hilfe der Methodik einer interdisziplinär angelegten qualitativen Biographieforschung rekonstruiert. Dabei sind sich die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Problems bewusst, dass diese Rekonstruktion auf Verwaltungsakten und Krankengeschichten gründet, Quellen, die primär den Blickwinkel der Ärzte, des Pflegepersonals und der Verwaltung widerspiegeln.100 Gleichwohl ist es möglich, in den Patientenakten »Fragmenten des Lebens« nachzuspüren und diese erzählend zu »Le94 95 96 97 98 99 100
Schulze, 2003. George, 2004. Faulstich, 1998, S. 633-660. Harms, 1996, 2010. Faulstich, 1998, S. 661-717; Hanrath, 2002. Vgl. z. B. Böhm/Schulze, 2003. Ulrich Müller, 2007; Böhm, 2009; Beddies, 2010.
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bensgeschichten aus Bruchstücken«101 zusammenzufügen. In der Tat finden sich in den Patientenakten auch ganz einzigartige Egodokumente – auch Zeichnungen und Kunstobjekte –, die es erlauben, die Perspektive der Betroffenen einzunehmen und Zeitgeschichte im Spiegel der Innenwelt psychisch Kranker zu betrachten.102
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medizinische praxis Süß, Winfried, Der beinahe unaufhaltsame Aufstieg des Karl Brandt. Zur Stellung des »Reichskommissars für das Sanitäts- und Gesundheitswesen« im Herrschaftsgefüge des »Dritten Reiches«, in: Woelk, Wolfgang/Vögele, Jörg (Hrsg.), Geschichte der Gesundheitspolitik in Deutschland. Von der Weimarer Republik bis in die Frühgeschichte der »doppelten Staatsgründung«, Berlin 2002, S. 197-224. Süß, Winfried, Der »Volkskörper« im Krieg. Gesundheitspolitik, medizinische Versorgung und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 19391945, München 2003. Teller, Christine, Carl Schneider. Zur Biographie eines deutschen Wissenschaftlers, in: Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S. 464-478. Topp, Sascha, Der »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden«. Zur Organisation der Ermordung minderjähriger Kranker im Nationalsozialismus 1939-1945, in: Beddies, Thomas/Hübener, Kristina (Hrsg.), Kinder in der NS-Psychiatrie, Berlin 2004, S. 17-54. Topp, Sascha et al., Die Provinz Ostpreußen und die nationalsozialistische »Euthanasie«: SS-»Aktion Lange« und »Aktion T4«, in: Medizinhistorisches Journal 43 (2008), S. 20-55. Topp, Sascha, Krankentötungen in Ostpreußen. Ein Vergleich der »Aktion Lange« und der »Aktion T4«, in: Rotzoll, Maike et al. (Hrsg.), Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4«. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn [u. a.] 2010, S. 169-174. Trus, Armin, Der »Heilige Krieg« der Eugeniker, in: Freiling, Gerhard/SchärerPohlmann, Günter (Hrsg.), Geschichte und Kritik. Beiträge zu Gesellschaft, Politik und Ideologie in Deutschland. Heinrich Brinkmann zum 60. Geburtstag, Gießen 2002, S. 245-286. Vanja, Christina/Blasius, Dirk (Bearb.), Euthanasie in Hadamar. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in hessischen Anstalten, Kassel 1991. Wagner, Christine, Psychiatrie und Nationalsozialismus in der Sächsischen Landesheil- und Pflegeanstalt Untergöltzsch, Med. Diss., Univ. Dresden 2002. Walter, Bernd, Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn 1996. Walter, Bernd, Die NS-»Kinder-Euthanasie«-Aktion in der Provinz Westfalen (1940-1945), in: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 50 (2001), S. 211-227. Weber, Matthias M., Ernst Rüdin. Eine kritische Biographie, Berlin [u. a.] 1993. Weber, Matthias M., Rassenhygienische und genetische Forschungen an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie/Kaiser-Wilhelm-Institut in München vor und nach 1933, in: Kaufmann, Doris (Hrsg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung. Bd. 1, Göttingen 2000, S. 95-111. Winkler, Ulrike/Hohendorf, Gerrit, »Nun ist Mogiljow frei von Verrückten«. Die Ermordung der PsychiatriepatientInnen in Mogilew 1941/42, in: Quin-
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»euthanasie« und krankenmord kert, Babette/Rauh, Philipp/Winkler, Ulrike (Hrsg.), Krieg und Psychiatrie 1914-1950, Göttingen 2010, S. 75-103. Winter, Bettina (Bearb.), Verlegt nach Hadamar. Die Geschichte einer NS»Euthanasie«-Anstalt. Begleitband, Kassel 1991. Wunder, Michael, Euthanasie in den letzten Kriegsjahren. Die Jahre 1944 und 1945 in der Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn, Husum 1992.
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5.5 Jüdische Krankenhäuser, »Krankenbehandler«, Ärzte in Ghettos und im KZ Robert Jütte
Jüdische Krankenhäuser Um 1918 gab es in Deutschland (einschließlich Elsass-Lothringen) 18 jüdische Krankenhäuser, denen zum Teil auch Altersheime bzw. Pfründneranstalten angeschlossen waren.1 Die meisten von ihnen befanden sich in Großstädten (Berlin, Frankfurt am Main, Breslau, Hannover, Köln), nur in einem Fall (Gailingen) leistete sich eine ländliche Judengemeinde ein eigenes Krankenhaus. Viele dieser israelitischen Krankenanstalten, die auch bei nichtjüdischen Patienten einen guten Ruf genossen, wurden bereits im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert gegründet. Lediglich ein jüdisches Krankenhaus stammt aus der Spätzeit der Weimarer Republik (Leipzig, gegründet 1928). Nur drei dieser israelitischen Krankenanstalten (beide Berliner Spitäler und das in Gailingen) überstanden das nationalsozialistische Terrorregime mehr oder weniger unbeschadet, allerdings nur in baulicher Hinsicht. Ihre Funktionsfähigkeit war zumeist schon gegen Ende des »Dritten Reichs« fast ganz erloschen, weil sowohl Ärzte als auch Patienten deportiert worden waren. Die beiden Berliner jüdischen Krankenhäuser in der Exercierstraße (heute Iranische Straße) und der Elsässer Straße wurden unter anderem deswegen baulich nicht angetastet, weil sie zu Sammelstellen zum Abtransport von Berliner Juden in die Konzentrationslager und zu einer Art Ghetto umfunktioniert worden waren. Gleichwohl fanden hier viele Berliner Juden, die z. T. in Mischehen lebten, Zuflucht und Rettung. Am besten erforscht von allen jüdischen Krankenhäusern, was die NS-Zeit anbetrifft, ist zweifellos das bereits erwähnte Jüdische Krankenhaus in der Exercierstraße im Berliner Arbeiterbezirk Wedding, das seit dem 9. Dezember 1938 nur noch nichtarische Patienten im Sinne der nationalsozialistischen Rassengesetze aufnehmen durfte. Bereits 1987 erschien in einem Sammelband der Berliner Geschichtswerkstatt ein Aufsatz von Dagmar Hartung-von Doetinchem, in dem erstmals die Geschichte des bedeutendsten der Berliner jüdischen Krankenhäuser mit
1 Murken, 1993/94, S. 134.
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besonderem Fokus auf die NS-Zeit aufgearbeitet wurde.2 Aus Anlass des 75-jährigen Bestehens am Standort Iranische Straße ging eine Ausstellung mit dem bezeichnenden Titel »Zerstörte Fortschritte« der Geschichte dieser Krankenanstalt nach. In diesem Zusammenhang wurden von Dagmar Hartung-von Doetinchem, die für die Konzeption und Realisation verantwortlich war, und ihren Mitarbeitern auch Zeitzeugeninterviews durchgeführt, die angesichts der lückenhaften archivalischen Überlieferung wichtige Quellen darstellen. Zu der Ausstellung erschien auch ein Katalogband, der den damaligen Forschungsstand zusammenfasst und auch heute noch als ein Standardwerk gelten kann, wenngleich inzwischen weitere Monographien zur Geschichte dieses Jüdischen Krankenhauses, das auch heute noch existiert und sich eines sehr guten Rufes erfreut, erschienen sind.3 1993 folgte die Studie von Rivka Elkin, die ursprünglich auf Hebräisch verfasst wurde und sich auf die Zeit des Nationalsozialismus konzentriert.4 Geschildert werden die Veränderungen in der Verwaltung und Organisation, die Probleme im Krankenhausalltag, aber vor allem der schwierige Kampf um den Erhalt des Krankenhauses, insbesondere in den Jahren 1938 bis 1945. Den Anhang bilden eine Liste mit Kurzbiographien der Ärztinnen und Ärzte, die zwischen 1938 und 1945 am Jüdischen Krankenhaus tätig waren, und mehrere Organigramme, welche die rasch aufeinanderfolgenden Veränderungen in der Organisationsstruktur seit der Reichspogromnacht deutlich machen. Das Thema Krankenpflege wird in dieser ansonsten sehr verdienstvollen und materialreichen Arbeit leider ausgeklammert, vermutlich weil die Quellenlage in der Tat sehr schlecht ist. 1997 veröffentlichte Ragnhild Münch mit Unterstützung des Fördervereins der »Freunde des Jüdischen Krankenhauses Berlin e. V.« ein Buch über die Geschichte des Jüdischen Krankenhauses nach 1945, das auch ausführlich auf die unmittelbare Nachkriegszeit eingeht und dabei insbesondere auch auf die medizinische Versorgung der sogenannten Displaced Persons (DP) eingeht.5 Im Anhang findet man eine Auflistung des Krankenhauspersonals in den Jahren 1946/47, das nicht nur Namen von Ärztinnen und Ärzten, sondern auch die von anderen im Krankenhaus tätigen Berufsgruppen umfasst. Des Weiteren ist dort eine Liste mit Namen der Bewohner abgedruckt, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf dem 2 3 4 5
Hartung-von Doetinchem, 1987. Hartung-von Doetinchem/Winau, 1989. Elkin, 1993. Münch, 1997.
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Gelände des Jüdischen Krankenhauses und des daran angeschlossenen Altenheimes lebten. 2006 erschien auf Deutsch die letzte größere Veröffentlichung zur Geschichte des Jüdischen Krankenhauses in der NSZeit, die drei Jahre zuvor in den USA herausgekommen war.6 Diese < -populärwissenschaftliche Darstellung ist eher für ein breiteres Publikum gedacht, stützt sich aber gleichwohl auf bis dato nicht bekannte oder ausgewertete Quellen, darunter insbesondere Zeitzeugeninterviews, die aufgrund von Suchanzeigen in Emigranten-Zeitschriften und Internetforen zustande kamen. Sehr viel weniger bekannt ist dagegen über das Schicksal des zweiten Berliner jüdischen Krankenhauses, das sich in der Elsässer Str. 85 (heute Torstr. 146) befand.7 Das Israelitische Krankenheim, das zur orthodoxen jüdischen Gemeinde (Adass Jisroel) gehörte, wurde vermutlich Ende September 1941 geschlossen. In welcher Form die Schließung geschah, wohin Patienten, Personal und Geräte kamen, ist nicht bekannt. Von den Ärzten des Israelitischen Krankenheims sind mit einer Ausnahme alle getötet bzw. in die Emigration getrieben worden. Bis zum Ende des Krieges wurde das Gebäude als HJ-Heim und Sitz eines Büros der »Reichsvereinigung der Juden in Deutschland«, die dem Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg (»Vermögensverwertungsstelle«) bei der Liquidation von jüdischem Vermögen zuzuarbeiten hatte, genutzt. Nach dem 8. Mai 1945 wurde das Polizeipräsidium Berlin dort untergebracht, dann die Reichsbahndirektion. Das zweitgrößte jüdische Krankenhaus stand in Köln. Es war 1869 gegründet worden. 1942 wurde es von den Nationalsozialisten geschlossen. Angesichts der schlechten Quellenüberlieferung wundert es nicht, dass erst 2004 das lange Zeit für unmöglich Gehaltene möglich gemacht wurde, nämlich die Geschichte dieses jüdischen Krankenhauses aus einer bruchstückhaften Parallelüberlieferung und aus Zeitzeugenberichten zu rekonstruieren.8 Becker-Jákli beschreibt nicht nur die Baugeschichte, sondern sie schildert auch die Geschichte der Menschen, die in beiden Häusern als Ärzte oder Krankenschwestern tätig waren. Besonders verdienstvoll ist der biographische Teil im Anhang, in dem die Lebensläufe des Personals – soweit unter den schwierigen Überlieferungsbedingungen überhaupt möglich – minutiös rekonstruiert werden. Da 6 Silver, 2006. 7 Offenberg, 1986; http://www.adassjisroel.de/das-krankenheim-der-adass-jisroel, letzter Zugriff 5.10.2010. 8 Becker-Jákli, 2004.
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auch die Schwestern mit einbezogen wurden, ist dieses Buch auch ein wichtiger Beitrag zur Pflegegeschichte. Die Kapitel, die von der Zeit des Nationalsozialismus handeln, zeigen deutlich auf, dass die Krankenschwestern vieles erdulden und unter widrigsten Umständen Dienstleistungen erbringen mussten. Die »dunklen Jahre« des Israelitischen Krankenhauses in Hamburg sind in einer Festschrift aufgearbeitet, die 1981 zum 140-jährigen Gründungsjubiläum erschien.9 Leider fehlen detaillierte Quellennachweise, was der Form dieser Publikation geschuldet ist. Eine spezielle Studie, die sich mit der Zeit zwischen 1933 und 1945 befasst, ist weiterhin ein Desiderat. Als vorbildlich kann man dagegen die Gesamtdarstellung der Geschichte des jüdischen Krankenhauses in Breslau bezeichnen, die Andreas Reinke 1999 vorgelegt hat.10 Das fünfte und letzte Kapitel behandelt die schrittweise erfolgte Zerstörung des traditionsreichen jüdischen Krankenhauswesens in Breslau. Gleichzeitig mit den 1941 einsetzenden Deportationen der deutschen Juden wurden auch in Breslau die jüdischen Fürsorgeeinrichtungen aufgelöst. Das jüdische Krankenhaus durfte allerdings für eine gewisse Zeit noch notdürftig seinen Betrieb aufrechterhalten. Die endgültige Schließung erfolgte im Juni 1943. Dann existierte bis Ende 1944 noch eine kleine Krankenstation auf dem jüdischen Friedhof. Nur wenige der verbliebenen Ärzte, Pfleger und Patienten erlebten die Befreiung Breslaus am 6. Mai 1945. Bedauerlich ist, dass für alle anderen jüdischen Krankenhäuser, die aus der Zeit der Weimarer Republik bekannt sind, keine speziellen Studien existieren. Das betrifft auch relativ große Krankenanstalten wie das Israelitische Krankenhaus in Hannover mit 75 Betten oder das Israelitische Gemeindehospital in Frankfurt am Main mit 49 Betten. Zu Gailingen, dem einzigen jüdischen Krankenhaus, das von einer Landgemeinde unterhalten wurde, gibt es leider nur eine völlig unzureichende medizinhistorische Dissertation, in der diese Einrichtung auf einer Seite abgehandelt wird.11 Das 1869 gegründete Rothschild-Spital war nach dem Anschluss Österreichs das einzige Krankenhaus in Wien, das jüdische Patienten aufnehmen durfte.12 Ärzte, die konnten oder wollten, emigrierten ins 9 10 11 12
Lindemann, 1981. Reinke, 1999. Bolzenius, 1994. Stern, 1974.
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Ausland. Nachdem der Chef der neurologischen Abteilung nach Großbritannien ausgewandert war, wurde Dr. Viktor Frankl, der bekannte Neurologe und Psychiater, zum Leiter ernannt. Er übte diese Tätigkeit von 1940 bis zu seiner Deportation nach Theresienstadt im Jahr 1942 aus. So gut wie gar nicht erforscht ist die Geschichte der jüdischen Heilund Pflegeanstalten in der Zeit des Nationalsozialismus. Die bedeutendste war die 1869 von Meyer Jacoby gegründete »Jacobysche Heilund Pflegeanstalt« in Bendorf-Sayn am Rhein.13 1940 verfügte das nationalsozialistische Regime, dass alle krankenhausbedürftigen jüdischen Geisteskranken aus ganz Deutschland in die jüdische Anstalt nach Bendorf-Sayn zu verlegen seien. Die Patienten – es waren damals ca. 500 – wurden von dem jüdischen Arzt Dr. Wilhelm Rosenau betreut. Alle wurden 1942 in die Vernichtungslager des Ostens deportiert und getötet. Das Krankenhaus wurde Ausweichlazarett und später Ausweichkrankenhaus von Koblenz. Eine ähnliche Forschungslücke gilt es in Hinblick auf die Geschichte der jüdischen Sanatorien zu beklagen. Das ist umso erstaunlicher, als der auch international bekannte israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld bereits 1979 eine vielbeachtete Novelle mit dem Titel »Badenheim« schrieb, die in einem fiktiven Sanatorium eines österreichischen Kurorts spielt, der ab 1939 zu einem jüdischen Ghetto mutiert.14 Eine der wenigen Ausnahmen ist eine Dokumentation von Uwe Schellinger, Rolf Oswald und Egbert Hoferer, die, soweit es die Quellen und Zeitzeugenberichte ermöglichen, das Schicksal der Patientinnen eines jüdischen Lungensanatoriums in Nordrach im Schwarzwald aufklärt, das 1942 von der Gestapo geschlossen wurde.15 Der Band, in dem diese Studie erschienen ist, enthält auch Kurzbiographien von 34 Personen (darunter Patientinnen, aber auch Angestellte), die nach der Schließung des Sanatoriums deportiert und umgebracht wurden. Nach 1942 wurde aus dem Sanatorium ein SS-Mütterheim des Vereins »Lebensborn e. V.« für schwangere Frauen vor und nach der Entbindung. Dieses Heim bestand bis zum 15. April 1945. Auch in anderen Kurorten, so z. B. in Bad Soden im Taunus, gab es jüdische Sanatorien, deren Geschichte bislang weder lokalgeschichtlich erforscht noch zusammenhängend dargestellt wurde.16 13 14 15 16
George et al., 2003. Appelfeld, 2001. Schellinger/Oswald/Hoferer, 2010. Gohl, 1997.
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Jüdische »Krankenbehandler« Die Geschichte der »Krankenbehandler«, wie sich die jüdischen Ärzte nennen mussten, denen man aufgrund der Vierten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. Juli 1938 zwar die Approbation entzogen, aber im Einzelfall die Erlaubnis zur ausschließlichen Behandlung jüdischer Patienten erteilt hatte, ist erst jüngst in das Blickfeld der Zeit- und Medizingeschichte geraten. Dabei haben bereits Anfang der 1980er Jahre die Sozialwissenschaftler Stephan Leibfried und Florian Tennstedt auf Dokumente aufmerksam gemacht, die die Größenordnung dieser Gruppe jüdischer Ärzte erkennen lassen, die bis zuletzt medizinisch – wenn auch unter z. T. unmenschlichen Bedingungen – tätig sein durften.17 Laut den Arbeitsberichten der Reichsvertretung der Juden in Deutschland für das Jahr 1938 gab es damals im Deutschen Reich 709 solcher »Krankenbehandler«, davon allein 424 in Berlin. An zweiter Stelle folgen mit großem Abstand das Rheinland (46) und Hessen-Nassau (42), wobei die meisten dieser hier statistisch erfassten »Krankenbehandler« vermutlich in Köln bzw. Frankfurt am Main tätig gewesen sein dürften. Die bislang umfang- und detailreichste Studie zu dieser Schicksalsgemeinschaft von Ärzten liefern Judith Hahn und Rebecca Schwoch in ihrem Buch über die Geschichte der Berliner Kassenärztlichen Vereinigung im Nationalsozialismus.18 Darin werden die zeitgenössischen Statistiken über die Anzahl der jüdischen »Krankenbehandler« in Berlin anhand der heute noch existierenden archivalischen Quellen hinterfragt und niedrigere Werte angenommen, die auf einen noch sehr viel schlechteren Versorgungsschlüssel als bislang bekannt hindeuten. Auch erfahren wir aus dem betreffenden Kapitel unbekannte Details über die Schikanen, die diese Ärzte über sich ergehen lassen mussten, einschließlich der genauen Vorschriften, wie z. B. das Praxisschild der »Jüdischen Krankenbehandler« auszusehen hatte. In neueren Biographien zu Berliner Ärzten, die von den Nationalsozialisten vertrieben wurden, findet man ebenfalls Berichte darüber, wie es dieser Sondergruppe unter den jüdischen Ärzten ergangen ist.19 Über Namen und teilweise auch das Schicksal der »Krankenbehandler« in anderen Teilen Deutschlands erfährt man gelegentlich in Darstellungen zur Verfolgung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Ärzte, die für einige Großstädte vorliegen, so z. B. für 17 Leibfried/Tennstedt, 1981, S. 301f. 18 Hahn/Schwoch, 2009. 19 Simmer, 2000, S. 321ff.
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Bremen,20 Hamburg,21 Hannover,22 München23 und Stuttgart.24 Eine zusammenfassende Abhandlung zu dieser Thematik, die auch die Provinz mit in den Blick nimmt, fehlt.
Jüdische Ärzte im Ghetto und im Konzentrationslager Bis heute gibt es keine systematische Darstellung der Tätigkeit und der Rolle jüdischer Ärzte in den Konzentrationslagern. Das Gleiche gilt für die medizinische Versorgung durch jüdische Ärzte im Ghetto. Veröffentlichungen zu diesem Thema finden sich, wie auch die Herausgeber eines neuen, einschlägigen Sammelbandes25 betonen, häufig sehr verstreut in Abhandlungen zu einzelnen Konzentrationslagern26 sowie als Aufsätze in den unterschiedlichsten Zeitschriften27 oder auch als »graue Literatur« in den Bibliotheken und Archiven von Gedenkstätten. Eine der wenigen systematischen Überblicksarbeiten, die sich allerdings im Wesentlichen auf hebräische Sekundär- und Primärliteratur stützt, findet sich in einem Tel Aviver Ausstellungsband über Juden und Medizin28 sowie in einer neueren Monographie vom selben Autor.29 Eine wichtige Quelle sind immer noch die Berichte überlebender Häftlingsärzte, die bereits z. T. in der unmittelbaren Nachkriegszeit erschienen. So veröffentlichte der jüdische Pathologe Miklós Nyiszli bereits 1947 auf Ungarisch seine Erlebnisse als Prosektor von Dr. Josef Mengele. Die deutsche Übersetzung kam allerdings erst 45 Jahre später auf den Buchmarkt.30 1956 erschien der Bericht einer Berliner jüdischen Ärztin, Lucie Adelsberger, die im Mai 1943 nach Auschwitz deportiert worden war und dort als Häftlingsärztin eingesetzt wurde. Darin werden nicht nur die katastrophalen sanitären Verhältnisse geschildert, sondern auch die Versuche, in nicht ungefährlichen »Verhandlungen« mit den SS-Ärzten 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30
Niermann/Leibfried, 1988, S. 16f. Villiez, 2009, S. 131ff. Benzenhöfer, 2000, S. 32ff. Jäckle, 1988, S. 32ff. Rueß, 2009, S. 80, 212. Hahn/Kavcic/Kopke, 2005. Benz/Distel, 2009. August, 1994. Nadav, 1995. Nadav, 2009. Nyiszli, 1992.
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das Leben von Mithäftlingen zu retten.31 Zu den Häftlingsärzten zählte auch der polnisch-jüdische Bakteriologe Ludwik Fleck, der nach dem Krieg durch sein wissenschaftsgeschichtliches Werk »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache« berühmt wurde, in Auschwitz in der Impfstoffforschung eingesetzt war und in dieser »privilegierten« Position nicht nur sein eigenes, sondern auch das Leben anderer Insassen rettete, wie man in einer bereits älteren Biographie über ihn, die auch polnische Quellen heranzieht, nachlesen kann.32 Zum Alltag und der Rolle jüdischer Ärzte in den Häftlingslazaretten von Auschwitz existieren mehrere Aufsätze, die 1994 in den vom Hamburger Institut für Sozialforschung herausgegebenen Auschwitz-Heften auf Deutsch erschienen sind.33 Wesentlich geringer ist die Forschungsliteratur zur Rolle jüdischer Ärztinnen und Ärzte bei der medizinischen Versorgung in den Ghettos. Eine wichtige Quelle ist der Bericht der jüdischen Ärztin Adina Blady Szwajgier über ihre Tätigkeit im Kinderkrankenhaus des Warschauer Ghettos.34 Das hebräische Tagebuch eines ebenfalls im Ghetto Warschau tätigen Arztes, Aaron Pick, wurde Anfang der 1990er Jahre in Israel entdeckt und 1994 auszugsweise in einer israelischen Tageszeitung veröffentlicht.35 Aus den Erinnerungen des nichtjüdischen Apothekers Tadeusz Pankiewicz erfährt man die Namen und das Schicksal zahlreicher jüdischer Ärzte, die bei der gewaltsamen Auflösung des Ghettos von Krakau ihr Leben lassen mussten.36 Zur medizinischen Versorgung der polnischen und jüdischen Bevölkerung Warschaus in den Jahren 1939 bis 1945 gibt es eine Studie des polnischen Medizinhistorikers Tadeusz Brzezinski, die sich als Vortragsmanuskript in der Bibliothek des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart befindet.37
Medizinische Versorgung in DP-Lagern Über die medizinische Versorgung der Überlebenden der Shoah in den DP-Lagern der unmittelbaren Nachkriegszeit war bislang wenig be31 32 33 34 35 36 37
Adelsberger, 1956. Schnelle, 1982. August, 1994. Blady Szwajgier, 1993. Wiederabgedruckt in Nadav, 1995, S. 215. Pankiewicz, 1995. Brzezinski, 1996.
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kannt. Die meisten historischen Studien zu diesem Thema erwähnen dieses Problem nur am Rande.38 Erst in jüngster Zeit rückt die Arbeit internationaler Hilfsorganisationen, insbesondere der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA),39 bei der Versorgung dieser Flüchtlinge in den Blickpunkt.40
Literatur Adelsberger, Lucie, Auschwitz: Das Vermächtnis der Opfer für uns Juden und für alle Menschen. Ein Tatsachenbericht, Berlin 1956. Appelfeld, Aharon, Badenheim. Novelle. Aus dem Englischen von Martin Kluger, München 2001. August, Jochen (Bearb.), Die Auschwitz-Hefte. Texte der polnischen Zeitschrift »Przeglad Lekarski« über historische, psychische und medizinische Aspekte des Lebens und Sterbens in Auschwitz. Aus d. Poln. übers. von Jochen August, 2. Aufl. der erw. Neuausgabe, Hamburg 1994. Becker-Jákli, Barbara, Das jüdische Krankenhaus in Köln. Die Geschichte des Israelitischen Asyls für Kranke und Altersschwache 1869-1945, Köln 2004. Benz, Wolfgang/Distel, Barbara (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 9 Bde., München 2009. Benzenhöfer, Udo, Jüdische Ärzte in Hannover 1933 bis 1945, Wetzlar 2000. Blady Szwajgier, Adina, Die Erinnerung verläßt mich nie. Das Kinderkrankenhaus im Warschauer Ghetto und der jüdische Widerstand. Aus dem Engl. von Joachim Rehork, München 1993. Bolzenius, Rupert, Beispielhafte Entwicklungsgeschichte jüdischer Krankenhäuser in Deutschland: das Hekdesch der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main und seine Nachfolgeeinrichtungen, das Israelitische Asyl für Kranke und Altersschwache in Köln, das Jüdische Krankenhaus in Gailingen, das Israelitische Altenheim in Aachen, Aachen 1994. Brzezinski, Tadeusz, Die medizinische Versorgung der polnischen und jüdischen Bevölkerung Warschaus zu der Zeit der deutschen Besatzung in den Jahren 1939-1945 (unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart 1996). Elkin, Rivka, Das jüdische Krankenhaus in Berlin zwischen 1938 und 1945, hrsg. vom Förderverein »Freunde des Jüdischen Krankenhauses Berlin e. V.«. Aus d. Hebr. von Andrea Schatz, Berlin 1993. George, Uta et al. (Hrsg.), Psychiatrie in Gießen. Facetten ihrer Geschichte zwischen Fürsorge und Ausgrenzung, Forschung und Heilung, Gießen 2003.
38 Z. B. die bis heute maßgebliche Studie von Jacobmeyer, 1985. 39 Goodman, 1971. 40 Z. B. Haushofer, 2010.
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krankenhäuser, »krankenbehandler«, ärzte in ghettos und im kz Gohl, Beate, Jüdische Wohlfahrtspflege im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1933-1943, Frankfurt/M. 1997. Goodman, Neville, International health organizations and their work, 2. Aufl., Edinburgh, London 1971. Hahn, Judith/Kavcic, Silvija/Kopke, Christoph, Medizin und Konzentrationslager – eine Annäherung, in: Hahn, Judith/Kavcic, Silvija/Kopke, Christoph (Hrsg.), Medizin im Nationalsozialismus und das System der Konzentrationslager: Beiträge eines interdisziplinären Symposiums, Frankfurt/M. 2005, S. 9-25. Hahn, Judith/Schwoch, Rebecca, Anpassung und Ausschaltung: die Berliner Kassenärztliche Vereinigung im Nationalsozialismus, Berlin 2009. Hartung-von Doetinchem, Dagmar, Es geschah im Wedding. Das Jüdische Krankenhaus, in: Schwarz, Roland (Bearb.), Der Wedding – hart an der Grenze. Weiterleben in Berlin nach dem Krieg, Berlin 1987, S. 73-91. Hartung-von Doetinchem, Dagmar/Winau, Rolf (Hrsg.), Zerstörte Fortschritte: das Jüdische Krankenhaus in Berlin 1756 – 1861 – 1914 – 1989, Berlin 1989. Haushofer, Lisa, The »contaminating agent« UNRRA, displaced persons, and venereal disease in Germany, 1945-1947, in: American Journal of Public Health 100 (2010), S. 993-1003. Jäckle, Renate, Schicksale jüdischer und »staatsfeindlicher« Ärztinnen und Ärzte nach 1933 in München: Ergebnisse des Arbeitskreises »Faschismus in München« – aufgezeigt am Schicksal der aus ›rassischen‹ und/oder politischen Gründen verfolgten Opfer in der Münchner Ärzteschaft, München 1988. Jacobmeyer, Wolfgang, Vom Zwangsarbeiter zum heimatlosen Ausländer. Die Displaced persons in Westdeutschland 1945-1951, Göttingen 1985. Leibfried, Stephan/Tennstedt, Florian, Berufsverbote und Sozialpolitik 1933. Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Machtergreifung auf die Kassenverwaltung und die Kassenärzte, Bremen 1981. Lindemann, Mary, 140 Jahre Israelitisches Krankenhaus in Hamburg. Vorgeschichte und Entwicklung, Hamburg 1981. Münch, Ragnhild, Das Jüdische Krankenhaus in Berlin 1945-1965, Berlin 1997. Murken, Axel Heinrich, Vom Hekdesch zum Allgemeinen Krankenhaus. Jüdische Krankenhäuser in Deutschland im Wandel ihrer 800jährigen Geschichte vom 13. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Historia Hospitalium 19 (1993/94), S. 115-142. Nadav, Daniel S., Jewish medicine during the Holocaust, in: Berger, Natalia (Hrsg.), Jews and medicine. Religion, culture, science, Tel Aviv 1995, S. 205-220. Nadav, Daniel S., Medicine and Nazism, Jerusalem 2009. Niermann, Charlotte/Leibfried, Stephan, Die Verfolgung jüdischer und sozialistischer Ärzte in Bremen in der »NS«-Zeit, Bremen 1988. Nyiszli, Miklós, Im Jenseits der Menschlichkeit: eine Gerichtsmedizin in Auschwitz, Berlin 1992. Offenberg, Mario, Das orthodoxe jüdische Krankenhaus von Berlin, in: Offenberg, Mario (Hrsg.), ADASS JISROEL. Die jüdische Gemeinde in Berlin, Berlin 1986, S. 166-179.
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medizinische praxis Pankiewicz, Tadeusz, Die Apotheke im Krakauer Ghetto. Aus dem Poln. von Manuela Freudenfeld, Essen 1995. Reinke, Andreas, Judentum und Wohlfahrtspflege in Deutschland. Das jüdische Krankenhaus in Breslau 1726-1944, Hannover 1999. Rueß, Susanne, Stuttgarter jüdische Ärzte während des Nationalsozialismus, Würzburg 2009. Schellinger, Uwe/Oswald, Rolf/Hoferer, Egbert, Deportiert aus Nordrach. Das Schicksal der letzten jüdischen Patientinnen und Angestellten des RothschildSanatoriums, Nordrach 2010. Schnelle, Thomas, Ludwik Fleck – Leben und Denken: zur Entstehung und Entwicklung des soziologischen Denkstils in der Wissenschaftsphilosophie, Freiburg/Brsg. 1982. Silver, Daniel B., Überleben in der Hölle: das Berliner Jüdische Krankenhaus im »Dritten Reich«. Aus dem Amerikan. von Hellmut Roemer, Berlin 2006. Simmer, Hans H., Der Berliner Pathologe Ludwig Pick (1868-1944): Leben und Werk eines jüdischen Deutschen, Husum 2000. Stern, Erich, Die letzten zwölf Jahre Rothschild-Spital Wien 1931-1943, Wien 1974. Villiez, Anna von, Mit aller Kraft verdrängt. Entrechtung und Verfolgung »nicht arischer« Ärzte in Hamburg 1933 bis 1945, München 2009.
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6 Brüche und Kontinuitäten nach 1945 6.1 Nürnberger Ärzteprozess und »Euthanasie«-Prozesse Hans-Walter Schmuhl Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs standen das internationale Völkerrecht und die Rechtsprechung der Nachfolgerstaaten des Deutschen Reiches vor der Aufgabe, die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes – auch und gerade seine Medizinverbrechen – strafrechtlich zu ahnden. Im Rückblick sind der Nürnberger Ärzteprozess und insbesondere die »Euthanasie«-Prozesse vor bundesdeutschen Gerichten aus unterschiedlichen Perspektiven kritisch betrachtet worden. Ein abgewogenes Urteil hat jedoch zu berücksichtigen, dass die Herausforderung, vor die sich die Rechtsprechung gestellt sah, gewaltig war: Sie hatte Verbrechen rechtlich zu würdigen, die die Grenzen des herkömmlichen Strafrechts sprengten. Dass ein Staatswesen, das bereits auf der Stufe eines demokratisch verfassten Rechts- und Verfassungsstaates angekommen war, sich über alle Grundwerte der okzidentalen Zivilisation hinweggesetzt und – eingebettet in den »Normalbetrieb« medizinischer Versorgung, Behandlung und Forschung – Massenverbrechen von bis dahin kaum vorstellbaren Ausmaßen begangen hatte, war eine neue Erfahrung, auf die sich das Völkerrecht wie die Gesetzgebung und Rechtsprechung der Nationalstaaten erst einstellen mussten. Dabei wurde die grundsätzliche Frage nach den naturrechtlichen Grundlagen und Grenzen von Recht und Gesetz und damit nach dem ethischen Fundament der Medizin aufgeworfen. Der Nürnberger Ärzteprozess und die nachfolgenden »Euthanasie«Prozesse sind in den letzten Jahren zum Gegenstand einer wachsenden Zahl von Dokumentationen und Studien geworden. Die Protokolle und Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses liegen mittlerweile vollständig als Mikrofiche-Edition vor,1 ebenso eine Dokumentation des Prozesses gegen Generalfeldmarschall Erhard Milch, in dem ebenfalls Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandelt wurden.2 Die Urteile west- und ostdeutscher Gerichte in »Euthanasie«-Prozessen sind in einer neuen 1 Dörner/Ebbinghaus/Linne, 2000/01. Dazu: Ebbinghaus/Dörner, 2001. 2 Oppitz, 1999.
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Edition zusammengestellt.3 Schließlich steht der Forschung mittlerweile eine gedruckte Fassung der Anklageschrift des Generalstaatsanwalts beim Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Fritz Bauer, gegen Werner Heyde zur Verfügung.4 Studien zu einzelnen Prozessen werden durch erste übergreifende Darstellungen ergänzt.5 Die Erforschung der strafrechtlichen Verfolgung der nationalsozialistischen Medizinverbrechen ist in dreifacher Hinsicht von Interesse. Erstens kommt die Forschung zur NS-»Euthanasie« und zu den Menschenversuchen in Konzentrationslagern nicht ohne den Rückgriff auf die im Zuge der Prozesse gesammelten Zeugenaussagen und Dokumente aus – wobei man, was nicht immer mit der gebotenen Sorgfalt geschieht, bei der Auswertung dieses Materials quellenkritisch nach dem Kontext seiner Entstehung fragen muss. Mehr noch: Weil die Gerichte nicht auf historische Forschungen zurückgreifen konnten, mussten sie in den Verfahren im Zuge der »Sachverhaltsarbeit« das Faktengerüst akribisch (re-) konstruieren. Die historische Forschung hat über lange Zeiträume umstandslos auf dieses von Juristen geschaffene Faktengerüst zurückgegriffen, ohne dessen perspektivische Ausrichtung auf genuin juristische Fragestellungen angemessen zu reflektieren.6 Indem die Prozesse selbst zum Gegenstand historischer Betrachtung werden, können diese blinden Flecken der zeitgeschichtlichen Forschung gefüllt werden. Zweitens sind die Strafprozesse, in denen NS-Medizinverbrechen verhandelt wurden, von rechtshistorischem Interesse, kann man an ihrem Beispiel doch die Wandlungen der Rechtsauffassungen studieren – und da diese nicht im luftleeren Raum stehen, gewinnt man zugleich Rückschlüsse auf gesellschaftliche Diskurse über Medizin, Mediziner und ihre Berufsethik. Drittens schließlich ordnen sich diese Prozesse in die »transnationale Vergangenheitspolitik«7 ein – sie sind Teil nicht nur der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, sondern auch der nach 1945 entstehenden Staatensysteme und ihrer Kulturen.
3 Mildt, 2009. Dazu auch: Bauer, 1968-1981. 4 Vormbaum, 2005. 5 Loewy/Winter, 1996; Benzler, 1998; Weindling, 2004; Ebbinghaus, 2008; Hirschinger, 2008. 6 Vgl. dazu erste Überlegungen bei Vormbaum, 2005, S. XV-XVII. 7 Frei, 2006.
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Der Nürnberger Ärzteprozess Schon 1942/43 hatten die Alliierten die Bestrafung der für die Staatsverbrechen des nationalsozialistischen Deutschland Verantwortlichen zum Kriegsziel erklärt. Rechtliche Grundlage für die Einsetzung alliierter Militärgerichte war das von den vier Besatzungsmächten am 20.12.1945 verabschiedete Kontrollratsgesetz Nr. 10, das auf der Basis der Moskauer Deklaration von 1943 und des Londoner Vier-Mächte-Abkommens vom 8.8.1945 die Strafverfolgung von »Kriegsverbrechen« sowie »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« regelte. Die alliierten Regierungen hatten bereits während des Krieges Kenntnis von den Medizinverbrechen – sowohl von den Menschenversuchen in den Konzentrationslagern als auch von den »Euthanasie«-Aktionen – erhalten.8 Komitees von Häftlingen aus den befreiten Konzentrationslagern forderten in Aufrufen, die Verantwortlichen für die Menschenversuche zur Rechenschaft zu ziehen. Die alliierten Expertenteams,9 die mit den Besatzungstruppen nach Deutschland kamen und deutsche Wissenschaftler und Techniker verhörten, um die Ergebnisse der deutschen Kriegsforschung zu sichern, trugen in ihren Berichten auch umfangreiches Material zu den Medizinverbrechen zusammen, so dass sich das Bild der Alliierten von diesem Verbrechenskomplex allmählich verdichtete. Alliierte Experten arbeiteten seit Ende 1945 auf einen Ärzteprozess hin. Die International Scientific Commission for the Investigation of Medical War Crimes leistete bei ihren Beratungen zwischen Juli 1946 und Januar 1947 ebenfalls wichtige Beiträge zur Vorbereitung eines solchen Prozesses.10 Schon in den Jahren von 1945 bis 1947 musste sich eine Reihe von Medizinern wegen ihrer Beteiligung an Menschenversuchen in Konzentrationslagern vor amerikanischen, britischen, französischen, polnischen und sowjetischen Gerichten verantworten. In diesen Verfahren wurden einige Todesstrafen verhängt und anfangs auch zumeist vollstreckt. Einen frühen Versuch, die NS-»Euthanasie« strafrechtlich zu ahnden, stellt der Hadamar-Prozess vor einem US-amerikanischen Militärgericht im Oktober 1945 dar.11 Im Juli 1946 entschied US-Präsident Harry Spen8 Weindling, 2001a. 9 BIOS (British Intelligence Operation Services) und FIAT (Field Information Agencies/Technical), die dann in den britisch-amerikanischen CIOS (Combined Intelligence Operations Services) aufgingen. 10 Weindling, 2001b, 2001c. 11 Zur strafrechtlichen Verfolgung der Krankenmorde in Hadamar: Boberach, 1991; Meusch, 1997, 2006.
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cer Truman, dass es nach dem Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärtribunal keinen weiteren internationalen Prozess mehr geben würde – der Kalte Krieg warf bereits seine Schatten voraus. Stattdessen plante die US-Regierung eine Serie von Prozessen gegen verschiedene Funktionseliten des NS-Regimes vor amerikanischen Militärgerichten, wobei man ursprünglich mit einer Gruppe Industrieller beginnen wollte. Aus politischen Rücksichten entschied man jedoch im August 1946, mit einem Ärzteprozess den Anfang zu machen. Die Briten, die ein eigenes Verfahren gegen Mediziner vorbereiteten, unterstützten das Team des amerikanischen Hauptanklägers Telford Taylor. Die Liste der Mediziner, die schließlich unter Anklage gestellt wurden, spiegelt den Stand der amerikanisch-britischen Ermittlungen wider. Sie enthielt längst nicht alle Verantwortlichen für die Medizinverbrechen.12 Am 9.12.1946 begann vor dem Amerikanischen Militärgerichtshof I in Nürnberg der Prozess gegen 23 deutsche Wissenschaftler, Ärzte und NSFunktionäre, die an NS-Medizinverbrechen beteiligt gewesen waren.13 Die Anklageschrift umfasste vier Punkte: »Verschwörung«, »Kriegsverbrechen«, »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 und »Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation«. Konkret ging es um eine Reihe von Menschenversuchen in den Konzentrationslagern,14 um die Anlage einer »jüdischen Skelettsammlung« in der Reichsuniversität Straßburg, die Ermordung tuberkulosekranker Polen 1942/43 sowie das NS-»Euthanasie«-Programm. Während des Prozesses traten 32 Zeugen der Anklage und 53 Zeugen der Verteidigung (einschließlich der Angeklagten) auf. 570 eidesstattliche Erklärungen, Berichte und Dokumente wurden von der Anklage, 901 von der Verteidigung als Beweisstücke eingeführt. Nach 139 Verhandlungstagen endete der Nürnberger Ärzteprozess am 20.8.1947 mit der Verkündung der Urteile durch Richter Walter B. Beals. Sieben Angeklagte wurden zum Tod durch den Strang verurteilt – die Todesurteile wurden am 2.6.1948 vollstreckt –, fünf erhielten lebenslange Haft, vier Haftstrafen von zehn bis 20 Jahren. Sieben Angeklagte wurden freigesprochen. Die Strategien der Verteidigung15 zielten – im Fall der Menschenversuche – darauf ab, die Bedeutung der Versuche im Hinblick auf die 12 13 14 15
Weindling, 2001b. Eckart, 1999; Weindling, 2001d, 2004. Vgl. Kap. 4.2 über »Verbrecherische Humanexperimente« in diesem Band. Ebbinghaus, 2001, 2008.
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Kriegslage herauszuarbeiten, die Einhaltung wissenschaftlicher Standards bei den Experimenten an Konzentrationslagerhäftlingen zu betonen und sie in die Praxis von Menschenversuchen an Strafgefangenen einzuordnen, wie sie ebenfalls in anderen Staaten, auch in den USA, praktiziert worden waren.16 Telford Taylor hatte bereits in seiner Eröffnungsrede betont, dass der Nürnberger Ärzteprozess kein reiner Mordprozess sei, weil hier Ärzte in Ausübung ihres Berufs zu Mördern geworden seien. Mit dem »Nürnberger Kodex« schuf sich das Gericht eine Beurteilungsgrundlage für solche Verbrechen. Die von den beiden sachverständigen Gutachtern Andrew C. Ivy und Leo Alexander17 entwickelten, im Dezember 1946 dem Gericht vorgelegten »Principles of Ethics Concerning Experimentation with Human Beings«, die verantwortliches ärztliches Handeln auf der Grundlage der hippokratischen Ethik umschrieben, wurden von den Richtern um zwei fundamentale Punkte ergänzt, die auf die Menschenrechte der Versuchspersonen abhoben: das Prinzip des informed consent und das Recht, einen Versuch jederzeit abbrechen zu dürfen.18 Noch während der Nürnberger Ärzteprozess im Gang war, hatten die alliierten Ermittlerteams weitere Verantwortliche für NS-Medizinverbrechen ausfindig gemacht. Es erhoben sich daher Stimmen, die für einen zweiten Ärzteprozess plädierten. Insbesondere Leo Alexander drängte auf einen zweiten Prozess, weil er Otmar Freiherr von Verschuer, ab 1942 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, wegen seiner Verbindungen nach Auschwitz zu Josef Mengele vor Gericht gestellt sehen wollte.19 Nachdem aber mehrere Angeklagte im Nürnberger Ärzteprozess freigesprochen worden waren, weil man ihnen ihre Schuld nicht zweifelsfrei hatte nachweisen können, und zudem auch Feldmarschall Milch von dem Vorwurf der Anstiftung zu Menschenversuchen freigesprochen worden war, verliefen alle Vorstöße zu einem zweiten Ärzteprozess im Sande.
16 Problematisch war auch, dass die von den japanischen Besatzungstruppen auf dem chinesischen Festland durchgeführten Menschenversuche, die in ihren Dimensionen mit den in Nürnberg verhandelten deutschen Medizinverbrechen durchaus vergleichbar waren, im Gegenzug zur Übergabe der Versuchsprotokolle nicht verfolgt wurden. Vgl. Bärnighausen, 2002. 17 Schmidt, 2004. 18 Schmidt, 2001. 19 Weindling, 2000.
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»Euthanasie«-Prozesse in Westdeutschland Da sich die Alliierten auf die Verfolgung von Verbrechen beschränkten, die von Deutschen an Bürgern anderer Staaten begangen worden waren, und Verbrechen von Deutschen an Deutschen weitgehend ausklammerten, wurde die weitere Ahndung der Krankenmorde deutschen und österreichischen Gerichten überlassen.20 Die meisten Prozesse fanden in den Jahren von 1946 bis 1951 vor deutschen Gerichten in den Westzonen und in Berlin statt. Dabei wurden 15 Ärzte und Ärztinnen wegen ihrer Beteiligung an der NS-»Euthanasie« in den Anstalten Meseritz-Obrawalde, Eichberg, Kalmenhof, Hadamar, Waldniel, Grafeneck, Vilbiburg, Kaufbeuren-Irsee, Eglfing-Haar und in badischen Anstalten angeklagt und verurteilt. Fünfmal wurde die Todesstrafe verhängt und in einem Fall – gegen die Ärztin Hilde Wernicke – auch vollstreckt. In den anderen Fällen wurden Haftstrafen verhängt, die in der Regel nicht vollständig verbüßt werden mussten. In Österreich fanden bis 1949 vier Prozesse wegen der Ermordung von Patienten in den Anstalten Klagenfurt, Steinhof und Hartheim statt.21 In den 1960er Jahren gab es in Westdeutschland noch zwei »Euthanasie«-Verfahren, 1988 fand der letzte solche Prozess – gegen die »T4«-Ärzte Heinrich Bunke und Aquillin Ullrich – mit einem Urteil des Bundesgerichtshofs seinen Abschluss.22 Im Jahr 2000 wurde in Österreich ein Prozess gegen den Psychiater Heinrich Gross, der als Arzt der Wiener Jugendfürsorgeanstalt Am Spiegelgrund an der »Euthanasie« beteiligt war, eröffnet und wegen Verhandlungsunfähigkeit gleich wieder eingestellt. Es dürfte das letzte Verfahren im Zusammenhang mit der NS-»Euthanasie« gewesen sein. Die frühen Verfahren vor westdeutschen Gerichten zeichneten sich dadurch aus, dass keinerlei Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe anerkannt wurden. Wieder hatten sich die Gerichte mit dem Argument der Verteidigung auseinanderzusetzen, dass die Angeklagten den auf den 1.9.1939 datierten »Euthanasie«-Erlass Hitlers als geltendes Recht angesehen und sich deshalb im Verbotsirrtum befunden hätten. Das Landgericht Frankfurt am Main sprach in seiner Urteilsbegründung vom 21.12.1946 aber dem Erlass jede formelle Gesetzeskraft ab, weil er weder veröffentlicht noch von den zuständigen Fachministern gegenge20 Das Folgende nach Ebbinghaus, 2008, S. 211-217. Vgl. auch Göpel, 1999; Bryant, 2005. 21 Garscha, 2001. 22 Grewe, 1998.
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zeichnet worden war. Damit folgte das Gericht der Argumentation der Staatsanwaltschaft, es ging aber noch weiter, indem es auf das Naturrecht zurückgriff: Der Staat könne »nicht willkürlich bestimmen […], was Recht oder Unrecht« sei, sondern sei »an die ewigen Normen des natürlichen Sittengesetzes gebunden«.23 Der »Euthanasie«-Erlass sei daher rechtsunwirksam gewesen, die »Euthanasie« de jure straf bar (auch wenn sie im »Dritten Reich« straffrei gewesen sei), das Befolgen eines rechtswidrigen Befehls enthebe die Angeklagten nicht der strafrechtlichen Verantwortung. Ein Verbotsirrtum wurde in den frühen NS-Verfahren als Entschuldigungsgrund ausgeschlossen – die Täter hätten durchweg ein Unrechtsbewusstsein gehabt. Mit dieser Argumentation wurde zugleich das schwierige Problem des Rückwirkungsverbots scheinbar gelöst.24 Das Argument der Verteidiger, die Angeklagten hätten erhebliche Nachteile zu befürchten gehabt, wenn sie sich verweigert hätten, ließen die Gerichte in den frühen NS-Verfahren ebenfalls nicht gelten, indem sie nachwiesen, dass die Teilnahme an den »Euthanasie«-Verbrechen grundsätzlich freiwillig war. Und auch das Argument der Ersetzbarkeit der Täter – wenn die Angeklagten sich geweigert hätten, wäre das Regime in der Lage gewesen, auf andere zurückzugreifen– ließen die Richter anfangs nicht gelten. In den späteren »Euthanasie«-Prozessen änderte sich jedoch die Rechtsprechung erheblich zugunsten der Täter.25 Das betraf zum einen die rechtliche Würdigung des Tatbestandes: Die Krankenmorde wurden mitunter nicht mehr als Mord, sondern nur noch als Totschlag qualifiziert, obwohl die Mordmerkmale Planmäßigkeit, Heimtücke und niedere Beweggründe von den meisten Gerichten als gegeben angesehen wurden – selbst freisprechende Urteile bestätigten dies ausdrücklich. Die Verantwortlichkeit wurde in der Befehlskette immer weiter nach oben verlagert, bis schließlich als »Täter« nur noch Adolf Hitler, Philipp Bouhler, Karl Brandt, Werner Heyde und Hermann Paul Nitsche übrigblieben. Während im ersten Verfahren vor dem Landgericht Berlin die angeklagte Ärztin Hilde Wernicke ebenso wie die angeklagte Krankenschwester wegen Mordes verurteilt worden waren, befand das Gericht in einem der bald darauf folgenden Prozesse nur noch den anordnenden Arzt für des Mordes schuldig, während die ausführende Krankenschwes23 Zit. n. Benzler, 1998, S. 386. 24 Kritisch zur »verdeckten Rückwirkung«: Dencker, 2005/06, S. 119-124. 25 Dreßen, 1997.
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ter als Gehilfin eingestuft wurde. Das Landgericht Frankfurt am Main kam schließlich 1967 in seinem Urteil gegen den »T4«-Arzt Heinrich Bunke, der die Gaskammern in Brandenburg und Bernburg bedient hatte, zu dem Schluss, die Ärzte in den T4-Vernichtungsanstalten seien lediglich die Vollstrecker gewesen. Das Urteil gegen Aquillin Ullrich 20 Jahre später folgte dieser Linie. In Abkehr von der bis dahin gängigen Teilnahmekonzeption, die Anstifter, Täter, Mittäter und Gehilfen nach dem Kriterium der »realen Tatnähe« einstufte, griffen die Gerichte ab Ende der 1940er Jahre auf eine extrem subjektive Teilnahmelehre zurück, die – ausgehend von den Motiven der Tatbeteiligten – als Täter nur qualifizierte, wer die Tat als eigene wollte, als Gehilfe hingegen jeden, der nicht aus eigenem Antrieb und in eigener Initiative an der Tat beteiligt war. Bei der Bewertung der Motive ging die naturrechtliche Argumentationslinie der frühen Prozesse verloren, wurde doch nunmehr die Berufung auf einen Verbotsirrtum hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der »Euthanasie« mit Hinweis auf die jahrzehntelange Diskussion der »Sterbehilfe« und der »Erlösung aus Mitleid« anerkannt. Und schließlich machten Angeklagte nun einen »rechtfertigenden Notstand« für sich geltend – sie hätten lediglich mitgemacht, »um Schlimmeres zu verhüten«. In fast jedem Urteil spielten Rechtfertigungs- und Schuld- und Strafausschließungsgründe eine Rolle: Notstand und Nötigung, fehlendes Unrechtsbewusstsein und Verbotsirrtum sowie – vor allem bei leitenden Ärzten und Verwaltungsbeamten der »T4«-Zwischenanstalten – eine angebliche Pflichtenkollision.26 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass den Tätern mit der Zeit goldene Brücken gebaut wurden. Das gilt auch für die »Tatsachenfeststellung«: »Wenige Angeklagte haben oder hatten jemals vor deutschen Gerichten die Chance, dass ihnen so viel geglaubt wird oder dass ihre Einlassungen in einem solchen Maße als jedenfalls nicht mit letzter Sicherheit widerlegt angesehen werden.«27 Noch schwerer wog, dass manche der an der »Euthanasie« unmittelbar beteiligten Mediziner lange Zeit überhaupt nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Für Aufsehen sorgte der Fall des ersten ärztlichen Leiters der »Aktion T4«, Werner Heyde, der nach seiner Flucht aus amerikanischer Untersuchungshaft, mit Wissen und gedeckt von zahlreichen Medizinern und Juristen, unter falschem Namen unbehelligt in Kiel lebte, als Arzt praktizierte und sogar Tausende psychiatrische Gutachten 26 Benzler/Perels, 1996, S. 27f. 27 Dencker, 2005/06, S. 114.
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für Gerichte und Versicherungen anfertigte. Erst 1959 wurde er »enttarnt« und in Untersuchungshaft genommen, er nahm sich 1964 – kurz vor dem Beginn der Hauptverhandlung gegen ihn – das Leben.28
»Euthanasie«-Prozesse in der SBZ/DDR Die DDR nutzte den »Fall Heyde«, um die Bundesrepublik Deutschland moralisch zu diskreditieren.29 Sie rühmte sich selbst, die Strafverfolgung der nationalsozialistischen Medizinverbrechen konsequent zu Ende geführt zu haben, und stellte sich als das »bessere Deutschland« dar. Doch kamen, nachdem die Sowjetische Militäradministration 1948 einen Schlussstrich unter die Entnazifizierung gezogen hatte, nicht wenige Ärzte und Pfleger, die an der »Euthanasie« beteiligt gewesen waren, im Gesundheitswesen der SBZ/DDR unter. Da nach offizieller Lesart der »Nazismus« in der DDR »ausgerottet« war, hatten die Behörden bald kein Interesse mehr an einer Strafverfolgung. Nachdem zwei der Mittäter bei der Kinder-»Euthanasie«, Ernst Hefter, »T4«-Gutachter und Leiter der »Kinderfachabteilung« in BerlinReinickendorf, und Hans Heinze, der frühere Direktor der Anstalt Brandenburg-Görden, 1946 von Sowjetischen Militärtribunalen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren, übertrug die sowjetische Besatzungsmacht die weitere strafrechtliche Verfolgung von Medizinverbrechen an deutsche Gerichte. Von 1946 bis 1952 fand dort eine Reihe von Prozessen statt. Von besonderer Bedeutung war dabei das Schwurgerichtsverfahren vor dem Landgericht Dresden im Sommer 1947, bei dem 15 Ärzte und Pfleger angeklagt waren, die an den Krankenmorden in den Anstalten Pirna-Sonnenstein, Arnsdorf, Leipzig-Dösen und Großschweidnitz mitgewirkt hatten, allen voran Hermann Paul Nitsche, der ärztliche Leiter der »Aktion T4«. Nitsche, ein weiterer Arzt und zwei Pfleger wurden am 7.7.1947 wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 zum Tode verurteilt – Nitsche wurde am 25.3.1948 hingerichtet.30 Bei den »Waldheimer Prozessen« im Jahre 1950, bei denen knapp 3500 Häftlinge aus den aufgelösten sowjetischen Speziallagern im Schnellverfahren abgeurteilt
28 Godau-Schüttke, 1998. 29 Das Folgende nach Hirschinger, 2008. 30 Hohmann, 1993; Böhm/Hacke, 2008.
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wurden,31 erging ein weiteres Todesurteil gegen Gerhard Wischer, den Direktor der Anstalt Waldheim; Harald Krüger, Direktor der Anstalt Altscherbitz, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Anfang der 1950er Jahre kam die Verfolgung der »Euthanasie«-Verbrechen in der DDR zum Erliegen. Die von der sowjetischen Besatzungsmacht verschleppten Ermittlungen zum Krankenmord in der »T4«-Anstalt Bernburg führten noch zur Verhaftung des nach Westdeutschland geflohenen Irmfried Eberl (der in der Haft Suizid beging), verliefen dann aber im Sande. Bis dahin waren nur untergeordnete Tatbeteiligte aus dem Kreis des Bernburger Personals abgeurteilt worden. Es dauerte bis 1965, ehe mit dem »T4«-Gutachter Otto Hebold, der zeitweilig als Tötungsarzt in Bernburg gearbeitet hatte, ein ärztlicher Mittäter vor Gericht gestellt und verurteilt wurde – und in diesem Fall sah sich die DDR unter Zugzwang gesetzt, da Hebolds Name 1962 in der Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main gegen Werner Heyde aufgetaucht war.32 Andere Ärzte und Ärztinnen, die an der »Euthanasie« beteiligt waren, lebten weiterhin unbehelligt in der DDR, ohne jemals strafrechtlich belangt zu werden. Das hinderte die DDR-Propaganda nicht daran, in ihrem 1965 veröffentlichten »Braunbuch« über »Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik« auf Werner Heyde, Werner Catel und Otmar Freiherr von Verschuer hinzuweisen, und auch die Publikation des Ostberliner Anwalts Friedrich Karl Kaul nahm explizit auf den »Fall Heyde« Bezug.33
Die juristische Aufarbeitung der NS-Medizinverbrechen und die Medizinethik Erst seit Mitte der 1990er Jahre, nicht zuletzt aufgrund des 50. Jahrestages des Urteils im Nürnberger Ärzteprozess, ist der Nürnberger Kodex in den Vordergrund der Medizingeschichte gerückt.34 Trotz verstärkter Forschung gibt es jedoch bis heute keine umfassende Studie über die Auswirkungen des Nürnberger Ärzteprozesses auf die Kodifizierung der Ethik in der Medizin. Dabei stellt der Nürnberger Kodex, auch wenn er in Teilen auf Richtlinien aufbaute, die seit Ausgang des 19. Jahrhunderts 31 32 33 34
Otto, 1993. Hohmann/Wieland, 1996. Kaul, 1979. Annas/Grodin, 1992; Wiesemann/Frewer, 1996; Tröhler/Reiter-Theil, 1997.
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insbesondere in Deutschland entwickelt worden waren,35 zweifelsohne einen Meilenstein dar. Aus der Erfahrung des Nationalsozialismus räumte er dem Recht des einzelnen Probanden auf Leben und körperliche Unversehrtheit oberste Priorität in der medizinischen Forschung ein – der wissenschaftliche Fortschritt und auch das Gemeinwohl wurden diesem Recht eindeutig untergeordnet. Die eigentümliche Verschränkung von im Völkerrecht verankerten Menschenrechten und hippokratischer Ethik hat zur Folge, dass dem Probanden Rechte eingeräumt werden, ohne den Arzt von seinen Pflichten zu entbinden. Das Prinzip des informed consent konstituiert einen »Dialog zwischen zwei Subjekten«.36 Damit waren zukunftsweisende Leitlinien für Experimente am Menschen geschaffen. Gleichwohl wurde der Nürnberger Kodex, wie der deutsch-amerikanische Medizinhistoriker Jay Katz dezidiert urteilt, »missachtet […], sowie er bekannt wurde«.37 Er wurde auch bis 1975 von nationalen und internationalen medizinischen Organisationen kaum beachtet.38 Die 1947 mit dem Ziel, ein offenes Forum für Fragen der ärztlichen Ethik und Ausbildung zu eröffnen, gegründete World Medical Association zögerte lange mit der Herausgabe von Empfehlungen auf dem Gebiet der medizinischen Forschung. Erst 1964 verabschiedete sie die Deklaration von Helsinki, die die bis heute gültige Unterscheidung zwischen »clinical research« im Sinne eines individuellen Heilversuchs und »non-therapeutic clinical research« im Sinne fremdnütziger Forschung eingeführt hat. Sie wurde 1975 in Tokio grundlegend überarbeitet (Helsinki II) – hier flossen die Prinzipien des Nürnberger Kodex stärker mit ein – und mehrmals, zuletzt 2008 in Seoul, abgeändert. Dabei zeichnet sich tendenziell eine Aufweichung des Prinzips des informed consent ab. Der Prüfstein ist die fremdnützige Forschung an nicht einwilligungsfähigen Personen.39 Die völkerrechtliche Verbindlichkeit des Nürnberger Kodex ist umstritten. Seine Prinzipien sind in internationales Recht eingegangen, so etwa in die IV. Genfer Rotkreuz-Konvention von 1949 und in den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966. Zudem haben zahlreiche Staaten die Prinzipien des Nürnberger Kodex in ihre nationale Gesetzgebung übernommen und damit deren Rechtscharakter bestätigt. Es wird deshalb die Meinung vertreten, dass die Grund35 36 37 38 39
Vgl. Kap. 4.2. Wunder, 2001, S. 486. Katz, 1992, S. 230. Herranz, 1997. Kolb, 1998; Wunder, 2001; Noack, 2004; Frewer, 2008.
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prinzipien des Nürnberger Kodex durch dauernde Übung und allgemeines Rechtsbewusstsein zum (zwingenden) Völkergewohnheitsrecht geworden seien.40 Im Hinblick auf die aktive Sterbehilfe hat die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-»Euthanasie« kein dem Nürnberger Kodex vergleichbares Dokument hervorgebracht. Doch dürften die »Euthanasie«-Prozesse dazu beigetragen haben, dass die aktive Sterbehilfe in Deutschland lange Zeit ein Tabu gewesen und dass die aktuellen Debatten um eine Lockerung der Zulässigkeitsregeln von großer Sensibilität geprägt sind.41 Viel nachdrücklicher als anderswo wird hierzulande – vorzugsweise von Medizinhistorikern, Historikern und Sozialwissenschaftlern – das Argument der schiefen Ebene ins Feld geführt, das sich explizit auf die NS»Euthanasie« und ihre tiefgestaffelte Vorgeschichte beruft.42 Im Übrigen führte die Konfrontation mit den nationalsozialistischen Medizinverbrechen – sei es im Rahmen des Nürnberger Ärzteprozesses wie im Falle von John Thompson, sei es durch den Umgang mit Überlebenden der NS-Genozidpolitik wie im Falle von Cecily Saunders, Sue Ryder oder Elisabeth Kübler-Ross – zu vielfältigen Impulsen auch auf dem Gebiet der Pflegeethik, insbesondere im Hinblick auf den Umgang mit Sterbenden.43
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Arnold/Sprumont, 2001, S. 122. Frewer/Eickhoff, 2000. Zuletzt: Hohendorf, 2009. Weindling, 2008, 2010.
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6.2 Versuche der »Wiedergutmachung« Winfried Süß Die »Wiedergutmachung« nationalsozialistischen Unrechts ist in der jüngsten Zeit verstärkt in das Blickfeld der zeithistorischen Forschung getreten.1 Der Begriff umfasst die juristische Rehabilitierung von NSOpfern, die Rückerstattung geraubten Eigentums, Entschädigungen für verfolgungsbedingte Leiden durch Gefangenschaft, Nachteile im beruflichen Fortkommen, Gesundheitsschäden sowie eine Reihe von Abkommen zwischen der Bundesrepublik, Israel, vormals besetzten Staaten in Europa und Repräsentanten der Verfolgten. Ärzte waren in unterschiedlichen Rollen daran beteiligt: als ehemalige Täter und Profiteure, als Verfolgte und als Sachverständige im »Wiedergutmachungs«-Verfahren. Nationalsozialistisches Unrecht konnte durch solche Maßnahmen nicht ausgeglichen werden, nicht im Sinne einer umfassenden Kompensation für materielle Verluste und schon gar nicht im Blick auf die verletzten Biographien und die zerstörten Lebensentwürfe von NS-Verfolgten. Dazu waren die Anspruchsgrundlagen der »Wiedergutmachung« zu lückenhaft, ihre Leistungen zu knapp bemessen und die Auszahlung oftmals zu schleppend. Vieles ließ sich kaum entschädigen, wie – im Fall von verfolgten Ärzten – der Verlust einer in jahrelanger Arbeit aufgebauten Praxis und gewachsene Arzt-Patienten-Bindungen, zumal die Rückerstattungs- und Entschädigungsverfahren »von einer fundamentalen Spannung zwischen bürokratisch-rechtlicher Abstraktion einerseits und den individuellen Erfahrungen der Opfer andererseits geprägt«2 waren. Bereits eine frühe Studie hat die Rolle von Ärzten im Prozess der »Wiedergutmachung« untersucht. Christian Pross skandalisierte mit der polemischen Formel vom »Kleinkrieg gegen die Opfer« die medizinische Gutachterpraxis bei der Anerkennung von Gesundheitsschäden, konnte sich dabei allerdings nur auf eine sehr lückenhafte Quellenüberlieferung stützen. Er konnte gleichwohl zeigen, dass beispielsweise bei der Anerkennung von Erwerbsminderungen ausgesprochen restriktiv 1 Zusammenfassend Goschler, 2005 sowie als Bilanz international-vergleichender Forschungsprojekte Hockerts/Moisel/Winstel, 2006 und Frei/Brunner/Goschler, 2009. 2 Goschler, 2004, S. 8.
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verfahren wurde.3 Die restriktive Gutachterpraxis resultierte teils aus personellen Kontinuitäten aus der Zeit der Verfolgung und fortwirkenden Vorurteilen, vor allem aber aus dem starren Festhalten an veralteten medizinischen Konzeptionen, die bereits in der Zwischenkriegszeit etabliert waren und eine kriegs- oder verfolgungsbedingte »Traumatisierung« strikt ablehnten.4 So galten psychische Traumatisierungen, etwa als Folge von Lagerhaft, lange als nicht entschädigungsfähig. Neuere Studien haben dieses Bild differenziert, aber im Kern bestätigt und eine »ignorante Haltung der deutschen Mediziner gegenüber den Leiden der Verfolgten«5 konstatiert. Insofern kann der zeitgenössisch zunächst durchaus positiv konnotierte Begriff der »Wiedergutmachung« heute irritieren.6 Gleichwohl ist die Bedeutung der materiellen »Wiedergutmachung« für den Lebenszusammenhang der Verfolgten trotz aller Unzulänglichkeiten keineswegs gering zu veranschlagen; dass sie nicht selten eine »elementare Rolle«7 spielte, hat Linda Damskis in einer Regionalstudie zu verfolgten jüdischen Ärzten in Bayern herausgearbeitet. Oft ging es darum, unmittelbare Notsituationen zu überwinden, wie sie sich etwa aus dem gescheiterten beruflichen Neuanfang im Exil oder dem Verlust der Altersversorgung ergeben hatten. Neuere Studien betonen zudem die zentrale Bedeutung der immateriellen und symbolischen Dimensionen der »Wiedergutmachung«. Hier ging es um die »Anerkennung des erlittenen Leids«8 und die Wiedererlangung des »Vertrauens in Recht und Gerechtigkeit« durch die Heilung des verletzten Rechtszustands sowie einen entscheidenden Rollentausch. Denn das »Wiedergutmachungs«Verfahren verwandelte ehemalige Verfolgte in Berechtigte, während der Staat und private Profiteure der Verfolgung zu Leistungspflichtigen wurden.9 Ist die »Wiedergutmachung« an NS-verfolgten Ärzten zumindest in den Umrissen aufgearbeitet, besteht im Blick auf die Entschädigung der nichtärztlichen Heilberufe, des Pflegepersonals und der
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Pross, 1988. Goltermann, 2009. Vgl. dazu auch Kapitel 6.3. Baumann, 2009, S. 95. Zur Geschichte dieses mit Deutungskämpfen aufgeladenen Begriffs Hockerts, 2002, S. 167-170. 7 Damskis, 2009, S. 177. 8 Baumann, 2009, S. 9. 9 In Anlehnung an Winstel, 2006, S. 12.
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im Gesundheitswesen eingesetzten Zwangsarbeiter weiterer Forschungsbedarf.10
Pseudomedizinische Versuche Während die allgemeine Geschichte der »Wiedergutmachung« inzwischen als gut untersucht gelten kann, ist über die Entschädigung für medizinisches NS-Unrecht bislang vergleichsweise wenig bekannt. Bereits im Nürnberger Ärzteprozess wurde der Unrechtscharakter der pseudomedizinischen Versuche klar benannt, und mit der Verurteilung von Verantwortlichen für die schmerzhaften Sterilisierungsexperimente mittels Röntgenstrahlen hat der Gerichtshof eine Verbindungslinie zwischen rassistischer Verfolgung und der Praxis der Zwangssterilisationen markiert.11 Aufgrund des oft besonders grausamen Charakters solcher Experimente galten deren Opfer als vordringlich entschädigungsbedürftig. Auf Drängen der westlichen Alliierten sagte die Bundesregierung daher noch vor dem Zustandekommen einer allgemeinen Entschädigungsgesetzgebung Hilfen für diesen Personenkreis zu. Aus einem Fonds, den das Bundesfinanzministerium verwaltete, konnten diese seit 1951 Leistungen zur Wiederherstellung der Gesundheit sowie Einmalzahlungen beantragen (im Durchschnitt ca. 5800 DM). Freilich blieb die Reichweite dieser Maßnahmen in mehrfacher Hinsicht begrenzt. Eine erste Begrenzung bestand im Antragsverfahren selbst, das die oft schwer traumatisierten Opfer zwang, ihre Körperschäden peinlich genau darzulegen. Nicht wenige verzichteten daher aus Scham auf eine »Wiedergutmachung«, gerade Opfer von Kastrationsexperimenten. Zweitens ließ sich der Nachweis, dass Gesundheitsschäden eine Folge pseudomedizinischer Versuche waren, in der Praxis oft nur schwer erbringen, so dass von den rund 1700 Anträgen (bis 1960) nur etwa jeder zweite positiv entschieden wurde. Drittens schließlich schrieb ein Kabinettsbeschluss aus dem Jahr 1951 fest, dass etwaige Leistungen lediglich ex caritate ohne Anerkennung eines Rechtsanspruchs gewährt werden sollten. Rentenzahlungen waren, anders als im Bundesentschädigungsgesetz von 1956, nicht vorgesehen; 10 Für die Zwangsarbeiter in katholischen Einrichtungen des Gesundheitswesens vgl. als ersten Überblick Hummel/Kösters, 2008; vgl. zudem die in Kapitel 5.2 genannte Literatur. 11 Grundlegend: Baumann, 2009 sowie Weindling, 2008.
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Leistungen zum Lebensunterhalt wurden nur in Ausnahmefällen nach strengen Bedürftigkeitsprüfungen gewährt, da das Bundesfinanzministerium eine Ausweitung von Leistungsansprüchen befürchtete und daher strikt am subsidiären Charakter dieser »Wiedergutmachungs«-Leistungen festhielt. Eine vierte, ganz entscheidende Begrenzung ergab sich durch die Konstellation des Kalten Krieges. Während sich die Westintegration der Bundesrepublik positiv auf den Ausbau der Entschädigungen auswirkte, führte die Ost-West-Konfrontation bis 1989/90 zum weitgehenden Ausschluss osteuropäischer Verfolgter aus der »Wiedergutmachung«, da nach der sogenannten »diplomatischen Klausel« des BEG keine Gelder in Länder des kommunistischen Machtbereichs fließen sollten.12 Rund ein Drittel der Antragsteller auf Entschädigungen für pseudomedizinische Experimente blieb daher zunächst von Zahlungen ausgeschlossen. Für die Opfer von Menschenversuchen gelang es, eine wichtige Durchbrechung dieser Regel durchzusetzen, die langfristig richtungweisend wirkte. Ihr Entstehungszusammenhang verweist zugleich auf einen Paradigmenwechsel in der »Wiedergutmachungs«-Politik. Während die bundesdeutschen Entschädigungsleistungen der 1950er und 1960er Jahre zumeist hinter verschlossenen Türen ausgehandelt wurden, entstand hier durch den Druck der öffentlichen Meinung im Ausland ein neuer entscheidender Faktor bei der Fortentwicklung des »Wiedergutmachungs«-Rechts. Dieser Vorgang lässt sich als besonders frühes Beispiel einer »Politik der Viktimisierung«13 analysieren, in der der Opferstatus seit den 1970er Jahren eine wachsende Bedeutung als Ressource im Kampf um gesellschaftliche Anerkennung und politische Legitimation erhielt. Stefanie Baumann konnte zeigen, dass die mediale Inszenierung einer Gruppe polnischer Frauen, die im Konzentrationslager Ravensbrück Opfer von Phlegmone- und Transplantationsexperimenten geworden waren und die 1959/60 auf Einladung der Zeitschrift »Saturday Review« mehrere Monate die USA bereisten, eine entscheidende Erfolgsbedingung der Anerkennung ihrer »Wiedergutmachungs«Forderungen war. Nachdem französische Initiativen zuvor gescheitert waren, schuf das »Ravensbrueck Lapins Project« einen öffentlichen Resonanzraum, der den Entschädigungsforderungen breiten gesellschaft12 Die sogenannten »Globalabkommen«, mit denen sich die Bundesrepublik 19591964 gegenüber elf west- und nordeuropäischen Ländern zu »Wiedergutmachungs«Leistungen in Höhe von ca. 880 Mio. DM verpflichtete, sind umfassend dargestellt in Hockerts/Moisel/Winstel, 2006. 13 Goschler, 2005, S. 301.
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lichen Rückhalt und das Interesse politischer Eliten verschaffte. Um eine anhaltende Diskussion der deutschen »Wiedergutmachungs«-Praxis in den USA zu vermeiden, stimmte das Bundeskabinett im Juni 1960 einer Entschädigungslösung zu, die diesmal auch osteuropäische Opfer mit einbezog.14 Bis 1972 schloss die Bundesrepublik für diese Opfergruppe Globalabkommen mit Jugoslawien, der ČSSR, Ungarn und Polen, um diese Frage abschließend zu regeln. Insgesamt wurden so bis 2000 rund 186 Mio. DM für »Wiedergutmachungs«-Leistungen an Opfer pseudomedizinischer Versuche bereitgestellt. Dass dieses Kapitel der »Wiedergutmachung« damit keineswegs abgeschlossen war, zeigt die Arbeit der Stiftung »Erinnerung, Versöhnung, Zukunft«, die 2001 bis 2004 zusätzlich Zahlungen an rund 6400 Geschädigte leistete.
Zwangssterilisationen Anders als bei den pseudomedizinischen Versuchen blieb der Unrechtscharakter der Zwangssterilisationen noch lange nach dem Ende der NSHerrschaft strittig. Wegen der engen Bezüge zur rassistischen Utopie einer genetisch durchgeformten Gesellschaft gingen auch alliierte Überlegungen ursprünglich vom Unrechtscharakter dieser Maßnahme aus (so z. B. der Jurist Raphael Lemkin), doch zählte das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (GzVeN) nicht zu den Gesetzen, die der Alliierte Kontrollrat im September 1945 als spezifisches NS-Unrecht aufhob.15 Stattdessen differenzierten die Besatzungsbehörden zwischen »legalen« Maßnahmen im Rahmen einer psychiatrischen Genetik (wie sie auch in Schweden und mehreren Bundesstaaten der USA praktiziert wurden) und illegalen, rassistisch motivierten Sterilisierungen, wie sie an den Nachkommen farbiger Besatzungssoldaten (den sogenannten »Rheinlandbastarden«) sowie an Angehörigen der Sinti und Roma vorgenommen worden waren.16 So kam es zu der paradoxen Situ14 Baumann, 2009. 15 Lediglich in der Sowjetischen Besatzungszone wurde das Gesetz im Januar 1946 außer Kraft gesetzt, allerdings wurden Zwangssterilisierte dort nicht als »Opfer des Faschismus« anerkannt. 16 Schweden verabschiedete 1935 ein Gesetz, das mit dem dezidierten Anspruch auftrat, soziale Probleme eugenisch zu »lösen«. Auf der Basis dieses 1941 weiter verschärften Gesetzes wurden zwischen 1935 und 1975 rund 63.000 Menschen (zumeist Frauen) zwangssterilisiert. Erst seit 1999 steht den Sterilisationsopfern eine Entschädigung von etwa 20.000 Euro zu, sofern sie nachweisen können, dass die
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ation, dass zwar die Erbgesundheitsgerichte abgeschafft wurden, deren gesetzliche Grundlagen aber lediglich sistiert waren und darauf basierende Urteile fortgalten. Auf dieser Grundlage hielt die Justiz bis in die 1960er Jahre an der Rechtmäßigkeit der Erbgesundheitsverfahren fest, da die Urteile in einem rechtsstaatlichen Verfahren durch unabhängige Gerichte ergangen seien.17 Bei dieser Rechtslage konnten Sterilisierte nur bei nachgewiesenen Verfahrensfehlern oder einem signifikant veränderten medizinischen Wissensstand die Aufhebung ihrer Urteile erreichen, was immerhin in etwa einem Viertel der rund 4000 zwischen 1947 und 1965 angestrengten Wiederaufnahmeverfahren gelang.18 Auch in der »Wiedergutmachungs«-Debatte stand der Unrechtsgehalt der Zwangssterilisationen lange in Frage.19 Das Bundesergänzungsgesetz (1953) unterschied zwischen einem nicht entschädigungsfähigen »allgemeinen Staatsunrecht« und dem NS-spezifischen »Verfolgungsunrecht«, das entschädigt werden konnte. Bezogen auf die Opfer von Zwangssterilisationen entwickelte es eine enge Definition, die Entschädigungsanträge nur dann zuließ, wenn »politische, rassische, religiöse oder weltanschauliche«20 Gründe ausschlaggebend für die Verfolgung waren. Damit unterschied sich die Situation der Zwangssterilisierten grundlegend von der anderer Verfolgter im Geltungsbereich des Grundgesetzes, denn die meisten Geschädigten wurden dadurch von einer »Wiedergutmachung« ausgeschlossen. Auch das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) von 1956, das »Kernstück der westdeutschen Wiedergutmachung«,21 enthielt keine Regelungen für Zwangssterilisierte. Lediglich das Allgemeine Kriegsfolgengesetz von 1957 ermöglichte unter bestimmten Umständen »Wiedergutmachungs«-Leistungen für Opfer von »allgemeinem Staatsunrecht«, doch waren die Eingangshürden dafür sehr hoch. In der
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Sterilisation ohne ihre Einwilligung oder unter Druck zustande kam. Vgl. Runcis, 1998. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 19.2.1962, III ZR 23/60, in: Neue Juristische Wochenschrift 15 (1962), S. 1500-1505. 1958 wurde im Rahmen einer Rechtsbereinigung die Nichtfortgeltung des GzVeN festgestellt, 1974 wurde das Gesetz formell außer Kraft gesetzt. Erst 1998 erkannte der Bundestag die Zwangssterilisationen formell als NS-Unrecht an und hob die Urteile der Erbgesundheitsgerichte auf. Hinz-Wessels, 2004, S. 217. Als frühe Sammlung einschlägiger Dokumente: Dörner et al., 1980; grundlegend zu diesem Komplex: Neppert, 1997; Weindling, 2008; Tümmers, 2009. Bundesgesetzblatt I 1953, Nr. 62, S. 1387ff., online unter http://www2.bgbl.de/ Xaver/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl, letzter Zugriff 16.11.2010. Hockerts, 2002, S. 184.
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Praxis konnten auf dieser Grundlage nur wenige Opfer eine Entschädigung erlangen. Eine Auswertung von »Wiedergutmachungs«-Verfahren der Regierung Aachen durch Henning Tümmers ergab, dass sich die Verfahren oft über mehrere Jahre hinzogen und die Ablehnungsquote über 99 betrug, so dass die Forschung hier mit Recht von einer »Kontinuität der Ausgrenzung«22 gesprochen hat. Ursächlich für diese Entwicklung war ein komplexes Bündel von Faktoren, zuvorderst »das ungebrochene Fortbestehen des Paradigmas der Erblichkeit und der bevölkerungspolitischen Aufgabe der Medizin«.23 Die Diskussion um die »Wiedergutmachung« für Zwangssterilisierte blieb bis in die 1960er Jahre durch Mediziner und Juristen geprägt, die oft selbst an den Verfahren vor den Erbgesundheitsgerichten mitgewirkt hatten und die weiter an der Notwendigkeit eugenischer Sterilisierungen festhielten. Die ambivalente Haltung der Alliierten ermöglichte es diesen Experten, vom »Missbrauch« des Gesetzes durch dessen extensive Auslegung und Politisierung zu sprechen, ohne dass damit dessen Grundanliegen in Frage gestellt wurde, und den rassistischen Charakter der Sterilisierungen auszublenden, indem sie an den Eugenikdiskurs der Weimarer Republik anknüpften. Nicht zu unterschätzen ist zudem die Bedeutung fortdauernder Ressentiments gegenüber gesellschaftlichen Randgruppen. Die enge Fassung des Schadensbegriffs war auch unter Mitwirkung von Verfolgtenvertretern zustande gekommen, die durch das »Wiedergutmachungs«-Recht nicht in die Nähe von geistig Behinderten und sozialen Außenseitern gestellt werden wollten. Und noch Mitte der 1960er Jahre votierte das Bundesfinanzministerium gegen eine Neuregelung mit dem Argument, dass zusätzliche Leistungen vor allem an »Geisteskranke, Schwachsinnige und schwere Alkoholiker«24 fließen würden. Der Begriff der »vergessenen Opfer«,25 mit dem die Geschädigten in den 1980er Jahren um die Anerkennung ihrer Entschädigungsansprüche kämpften, führt daher strenggenommen am Kern des Problems vorbei, denn die Zwangssterilisierten wurden bewusst aus der »Wiedergutmachung« ausgeschlossen. Insofern ist deren Geschichte »auch eine Geschichte des Unterscheidens […] zwischen dem, was die westdeut-
22 Neppert, 2007. Vgl. dazu und zum Folgenden auch Kapitel 6.3. 23 Neppert, 1997, S. 199. 24 Protokoll der 27. Sitzung des Wiedergutmachungsausschusses, 21.1.1965, zit. nach Tümmers, 2009, S. 513. 25 Vgl. z. B. Frahm, 1986.
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sche Gesellschaft als nationalsozialistisches Unrecht begriff, und dem, was sie als zustimmungsfähigen Traditionsbestand weiterführte«.26 Die neuere Forschung hat indes auch herausgearbeitet, dass seit den 1960er Jahren weitreichende Veränderungen in der Bewertung dieses Traditionsbestands stattfanden. Darauf verweisen semantische Verschiebungen bei den zentralen Begriffen. Zunächst gegen die Terminologie der Finanzverwaltung und der medizinischen Experten bürgerte sich in den Debatten des Bundestagsausschusses für Wiedergutmachung der Begriff der »Zwangssterilisierungen« ein, um den Unrechtscharakter dieser Maßnahme zu bezeichnen. Auch der mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarende Charakter der Erbgesundheitsgerichte wurde zunehmend deutlich. Im Zuge dieser Debatte fand allmählich eine Neubewertung der Zwangssterilisationen als NS-Unrecht statt, ohne dass dies zunächst Auswirkungen auf die Gesetzgebung hatte. Solche Veränderungen im Meinungsklima sind im Kontext von drei teilweise miteinander verschränkten Entwicklungen zu sehen, die im Verlauf der 1980er Jahre zu einer intensivierten öffentlichen Debatte und schließlich auch in mehreren Teilschritten zu einer Entschädigungsregelung für die Opfer von Zwangssterilisationen führten. Erstens stellte eine Reihe von Pionierstudien das Wissen über Ausmaß und Praxis sozialrassistischer Verfolgung auf eine neue Grundlage.27 Vor diesem Hintergrund gewann zweitens eine kritischere Sicht auf die auch aus Perspektive der großen Opferverbände bislang eher positive Bilanz der »Wiedergutmachung« die Oberhand.28 Vor allem die neu im Bundestag vertretene Partei der Grünen engagierte sich in ihrer parlamentarischen Arbeit für die Einbeziehung bislang benachteiligter Opfergruppen in die Entschädigung.29 Drittens verbanden zivilgesellschaftliche Initiativen wie Selbsthilfegruppen30 und die Psychiatriereformbewegung ihre 26 So Hockerts, 2002, S. 189. 27 Einflussreich waren hier Bock, 1986 und Schmuhl, 1987. 28 So leitete Roth, 1984 sein breit rezipiertes Buch »Erfassung zur Vernichtung« mit dem Fall eines Zwangssterilisierten ein, der vergeblich versuchte, eine »Wiedergutmachung« zu erhalten. 29 Vgl. z. B. den Antrag des Abgeordneten Ströbele und der Fraktion der Grünen, betr. Gesetzentwurf zur Regelung einer angemessenen Versorgung für alle Opfer nationalsozialistischer Verfolgung in der Zeit von 1933-1945, Bundestagsdrucksache 10/4040, 17.10.1985, online unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/10/ 040/1004040.pdf, letzter Zugriff 16.11.2010. 30 Für den 1987 gegründeten Bund der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V. (seit 2009 Arbeitsgemeinschaft Bund der »Euthanasie«-Geschädig-
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Kritik am medizinischen Expertentum mit einem neuen Selbstverständnis, das nicht mehr die Gesellschaft, sondern Angehörige hilfsbedürftiger Gruppen zum Bezugspunkt professionellen Handelns machte und die historische Selbstaufklärung des eigenen Berufsstands als Voraussetzung der eigenen Arbeit begriff.31 Zivilgesellschaftlichem Engagement verdanken sich auch erste konkrete Schritte zu einer Neuregelung der Entschädigungsfrage. Eine Initiative des Bremer Gehörlosenlehrers Manfred Biesold, dem es gelang, den Bundestagsabgeordneten Ernst Wandelmathe und den SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner für sein Anliegen zu gewinnen, führte 1980 zur Einrichtung eines Härtefonds, aus dem Zwangssterilisierte eine einmalige Entschädigungszahlung von 5000 DM erhalten konnten.32 Seit 1988 sind neben Einmalzahlungen in begrenztem Rahmen auch laufende Unterstützungen möglich, sofern die Antragsteller keine anderen »Wiedergutmachungs«-Leistungen erhalten. Auf dieser Basis wurden bisher etwa 14.000 Personen entschädigt.33 Diese Zahl entspricht nicht einmal fünf Prozent der 1933-1945 zwangssterilisierten Personen. Zudem blieben die Leistungen deutlich hinter denen des BEG zurück. Insofern stellt die »Wiedergutmachung« für die Opfer nationalsozialistischer Zwangssterilisationen bis heute eine »Entschädigung zweiter Klasse«34 dar.
31
32 33
34
ten und Zwangssterilisierten (BEZ)) vgl. Bund der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten, 1989; Hamm, 2005. Exemplarisch für die Verbindung von zeithistorischer Aufklärung und aktuellen Reformimpulsen steht die 1979 von Klaus Dörner initiierte Denkschrift der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie, »Holocaust und die Psychiatrie – oder der Versuch, das Schweigen in der Bundesrepublik zu brechen«, abgedruckt in: Dörner, 1980, S. 206-215. Tümmers, 2009, S. 520f. Bundesministerium der Finanzen: Entschädigung von NS-Unrecht. Regelungen zur Wiedergutmachung, Dezember 2009, Anlage 7 (1) und Anlage 7 (2), S. 45f., online unter http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_4394/DE/BMF__ Startseite/Service/Broschueren__Bestellservice/Das__Ministerium/40144,templat eId=raw,property=publicationFile.pdf, letzter Zugriff 16.11.2010. Goschler, 2005, S. 214.
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versuche der »wiedergutmachung« Hinz-Wessels, Annette, NS-Erbgesundheitsgerichte und Zwangssterilisation in der Provinz Brandenburg, Berlin 2004. Hockerts, Hans Günter, Wiedergutmachung in Deutschland. Eine historische Bilanz 1945-2000, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49 (2002), S. 167214. Hockerts, Hans Günter/Moisel, Claudia/Winstel, Tobias (Hrsg.), Grenzen der Wiedergutmachung. Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa 1945-2000, Göttingen 2006. Hölscher, Christoph, NS-Verfolgte im »antifaschistischen Staat«. Vereinnahmung und Ausgrenzung in der ostdeutschen Wiedergutmachung (1945-1989), Berlin 2002. Hummel, Karl-Joseph/Kösters, Christoph (Hrsg.), Zwangsarbeit und katholische Kirche 1939-1945. Geschichte und Erinnerung, Entschädigung und Versöhnung. Eine Dokumentation, Paderborn [u. a.] 2008. Neppert, Katja, Warum sind die NS-Zwangssterilisierten nicht entschädigt worden?, in: Hamann, Matthias/Heinz, Andreas (Hrsg.), Halbierte Vernunft und totale Medizin. Zu Grundlagen, Realgeschichte und Fortwirkungen der Psychiatrie im Nationalsozialismus, Berlin 1997, S. 199-226. Neppert, Katja, Die Kontinuität der Ausgrenzung, in: Kenkmann, Alfons (Hrsg.), Wiedergutmachung als Auftrag. Begleitband zur gleichnamigen Dauerausstellung – Geschichtsort Villa ten Hompel, Essen 2007, S. 247-264. Pross, Christian, Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer, Frankfurt/M. 1988. Roth, Karl Heinz (Hrsg.), Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum »Gesetz über Sterbehilfe«, Berlin 1984. Runcis, Maija, Steriliseringar i folkhemmet, Stockholm 1998. Schmuhl, Hans-Walter, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung »lebensunwerten Lebens« 1890-1945, Göttingen 1987. Surmann, Rolf, Was ist typisches NS-Unrecht? Die verweigerte Entschädigung für Zwangssterilisierte und »Euthanasie«-Geschädigte, in: Hamm, Margret (Hrsg.), Lebensunwert – zerstörte Leben. Zwangssterilisation und »Euthanasie«, Frankfurt/M. 2005 (2. Aufl. 2006), S. 198-211. Tümmers, Henning, Wiederaufnahmeverfahren und der Umgang deutscher Juristen mit der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik nach 1945, in: Daubach, Helia-Verena (Bearb.), Justiz und Erbgesundheit: Zwangssterilisation, Stigmatisierung, Entrechtung. Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« in der Rechtsprechung der Erbgesundheitsgerichte 1934-1945 und seine Folgen für die Betroffenen bis in die Gegenwart, Geldern 2008, S. 173-193. Tümmers, Henning, Über den Umgang mit den Opfern der NS-Erbgesundheitspolitik, in: Frei, Norbert/Brunner, José/Goschler, Constantin (Hrsg.), Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel, Göttingen 2009, S. 494-530. Weindling, Paul, Entschädigung der Sterilisierungs- und »Euthanasie«-Opfer
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brüche und kontinuitäten nach nach 1945?, in: Henke, Klaus-Dietmar (Hrsg.), Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord, Köln 2008, S. 247258. Westermann, Stefanie, Verschwiegenes Leid. Der Umgang mit den NS-Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik Deutschland, Köln [u. a.] 2010. Westermann, Stefanie/Kühl, Richard, »Entsterilisierung«. Medizinische Diskussion und Praxis der Refertilisierung von Zwangssterilisierten nach 1945, in: Daubach, Helia-Verena (Bearb.), Justiz und Erbgesundheit: Zwangssterilisation, Stigmatisierung, Entrechtung. Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« in der Rechtsprechung der Erbgesundheitsgerichte 1934-1945 und seine Folgen für die Betroffenen bis in die Gegenwart, Geldern 2008, S. 201-214. Wilkes, Johannes, Wie erlebten Jugendliche ihre Zwangssterilisation in der Zeit des Nationalsozialismus? Aus dem Bericht eines verantwortlichen Arztes, in: Der Nervenarzt 73 (2002), S. 1055-1057. Winstel, Tobias, Verhandelte Gerechtigkeit. Rückerstattung und Entschädigung für jüdische NS-Opfer in Bayern und Westdeutschland, München 2006.
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6.3 Traumatisierung durch körperliche und seelische Gewalt im Nationalsozialismus – Die Debatte um Schädigung und Entschädigung seit den 1950er Jahren Wolfgang U. Eckart Die Geschichte der Entschädigungs- und »Wiedergutmachungs«-Debatte und der aus ihr hervorgehenden gesetzlichen Regelung der Entschädigungsfragen darf in den Ansätzen als gut erforscht betrachtet werden. Die Arbeiten von Walter Schwarz,1 Christian Pross,2 Constantin Goschler und Ludolf Herbst,3 Klaus Barwig, Günter Saathoff und Nicole Weyde,4 Hermann-Josef Brodesser5 sowie Hans Günter Hockerts6 sind hier grundlegend. Medizinhistorischer Forschungsbedarf besteht allerdings durchaus noch hinsichtlich der Geschichte des Diskurses über und des Umgangs mit posttraumatischen Belastungsschäden von Verfolgten des NS-Regimes und hinsichtlich der mit dieser spezifischen Schädigung verbundenen Regelung von »Entschädigungsleistungen« durch die Bundesrepublik Deutschland. Vereinzelte Anmerkungen, so bei Pross oder bei Stoffels,7 und zusammenfassende Überblicksbeiträge, so etwa die Studien von Harald und Helmuth Freyberger8 und von Seidler,9 liegen aber bereits vor. Der Frage der Begutachtung verfolgungsbedingter Störungen hat sich jüngst auch Martina Vees in ihrer Dissertation mit einigen Vorbemerkungen zur Verlaufsgeschichte gewidmet.10 Eine Durchmusterung der Forschungsliteratur zeigt allerdings bald die bereits angemerkte Zurückhaltung der deutschen Medizinhistoriographie gegenüber diesem Thema auf. Dies mag vor allem damit zusammenhängen, dass die historische Traumaforschung im deutschen Sprachraum noch in den Anfängen ihrer Entwicklung steckt und erst in den 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Schwarz, 1973. Pross, 1988. Goschler/Herbst, 1989. Barwig/Saathoff/Weyde, 1998. Brodesser, 2000. Hockerts, 2001. Stoffels, 1991. Freyberger/Freyberger, 2007a, 2007b. Seidler, 2009. Vees, 2010.
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letzten Jahren »entdeckt« wurde,11 die Erforschung des individuellen Durchleidens des Holocaust lange durch ein »kollektives Schweigen«12 und »gebrochene Identitäten«13 behindert war und generell die psychoanalytische Biographieforschung ein in der deutschen Medizinhistoriographie eher ungeliebtes Kind ist.14 Von einem guten Forschungsstand kann man allerdings in den Bereichen der Psychotherapie sprechen, die sich unmittelbar mit den psychosozialen Problemen der Spätbelastung von Holocaust-Überlebenden in der Altenhilfe und Altenpflege der Generation der Kinder-Überlebenden des Holocaust15 oder mit inzwischen auf brechenden transgenerationellen Problemen der Traumatisierungsbewältigung in der zweiten und sogar bereits dritten Generation der Opfer-Nachkommen befasst.16
Frühe Forschungen Von einer »fehlenden Diskussion um die deutschen Kriegstraumatisierten des 2. Weltkriegs«, wie sie Günter Seidler 2009 konstatiert hat,17 kann zwar nach der Arbeit von Svenja Goltermann über die »Gewalterfahrungen« deutscher Kriegsheimkehrer (2009)18 nicht mehr die Rede sein, allerdings verläuft die Forschungsdebatte über die Traumatisierung der Holocaustüberlebenden zumindest in Deutschland heute immer noch eher schleppend, wenngleich sie andererseits gerade in Deutschland vergleichsweise früh angestoßen wurde, wofür insbesondere die Arbeiten des Göttinger Psychiaters Ulrich Venzlaff sprechen, der den Begriff »erlebnisbedingte Persönlichkeitsveränderung« prägte. Venzlaff griff früh nach 1945 in die Frage der Begutachtung psychisch geschädigter Überlebender nach rassisch oder politisch begründeter Verfolgung durch das System der NS-Gewaltherrschaft ein. Zu nennen sind hier insbesondere seine Arbeiten über die »Entschädigungspflicht von Neurosen« 11 Bohleber, 2000; Straub/Rüsen, 2001; Özkan/Streeck-Fischer/Sachsse, 2002; Seidler/Eckart, 2005. 12 Rothe, 2009. 13 Heimannsberg/Schmidt, 1992. 14 Bruder, 2003. 15 Leonhard, 2005; Schlegel et al., 2006. 16 Benz/Distel, 1996; Rosenthal, 1997; Bergmann/Jucovy/Kestenberg, 1998; Grünberg/Straub, 2001; Leuzinger-Bohleber/Zwiebel, 2001; Kogan, 2007. 17 Seidler, 2009, S. 8. 18 Goltermann, 2009; vgl. hier auch Baeyer/Häfner/Kisker, 1964, S. 38-49.
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(1957), über »psychoreaktive Störungen nach entschädigungspflichtigen Ereignissen« (1958), über die »Begutachtung erlebnisbedingter seelischer Störungen nach rassischer und politischer Verfolgung« (1959) oder über »Schizophrenie und Verfolgung« (1961).19 Venzlaff ist dabei nur Teil einer psychiatrischen Publikationswelle jener Zeit, die durch die Vielzahl der Falldiskussionen und Experten-Stellungnahmen zu Fragen der Begutachtung, Entschädigung und »Wiedergutmachung« der letztendlichen Anerkennung von Rentenansprüchen vorausging. Dabei schien die deutsche Debatte zunächst in ihren seit dem Ersten Weltkrieg festgefahrenen Bahnen zu verharren. Zunächst galt nämlich als gesichert, dass der im Krieg strapazierte Mensch, sofern er keine ererbten negativen Anlagen in sich trage, selbst schwerste seelische Belastungen ohne bleibende Neurosen überstehen könne. Diese Auffassung ging noch zurück auf die Kriegsneurotiker-Debatte im Ersten Weltkrieg (Hermann Oppenheimer, Max Nonne, Robert Eugen Gaupp, Karl Bonhoefer, Wilhelm His)20 und mündete in die Unterstellung, dass der traumatischen Kriegsneurose eigentlich kein Krankheitswert beizumessen sei, weil in ihr eher Begehrungs-Vorstellungen und gewachsene Rentenwünsche zum Ausdruck kämen. Festgeschrieben waren solche Auffassungen auch in der Grundsatzentscheidung des Reichsversicherungsamtes über die »medizinische und rechtliche Bedeutung traumatischer Neurosen« vom 24.9.1926. Damit konnten Rentenansprüche aufgrund psychischer Störungen auf dem Boden kriegs- oder unfallbedingter Neurosen verbindlich zurückgewiesen werden. An dieser Auffassung und der aus ihr erwachsenden Begutachtungspraxis änderte sich selbstverständlich während der NS-Zeit nichts. Fatal allerdings sollte sich für diese Frage nach 1945 der Umstand auswirken, dass das alte Paradigma, wie es maßgeblich 1939 von Friedrich Dansauer und Walther Schellworth (»Neurosenfrage, Ursachenbegriff und Rechtsprechung«) festgeschrieben worden war, in der titelgleichen Neuauflage dieses Buchs von 1953 unverändert bestehen blieb.21 Dies entsprach auch der gängigen Auffassung führender Psychiater in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Einzig eine »prämorbide Organminderwertigkeit«22 könne als Voraussetzung für »psychische Störungen nach Schwerstbelastung« gel19 20 21 22
Venzlaff, 1957, 1958, 1959, 1961. Fischer-Homberger, 2004; Riedesser/Verderber, 1985, 1996; Seidler, 2009. Dansauer/Schellworth, 1939/1953. Vees, 2000, S. 5. Der Begriff der »Organminderwertigkeit« rekurriert auf Alfred Adlers gleichnamige Theorie (1907). Vgl Adler (1922).
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ten.23 Dass sich die westdeutsche Nachkriegspsychiatrie mit solchen Positionen auf politisch »bewährte« Abwehrstrategien gegenüber Rentenansprüchen berief, ist nicht verwunderlich, denn deren Protagonisten hatten bereits vor 1945 unter anderem auch als »Euthanasie«-Gutachter gewirkt und setzten nun unbehelligt ihren Dienst mit der Zurückweisung von Rentenbegehren aufgrund seelischer Veränderungen durch Kriegsgewalterfahrung fort. So verbanden sich hier ungebrochen Traditionen staatspolitisch orientierter Diagnostik mit neuen vergangenheitspolitischen Interessen und Positionen. Wie ein Verzweiflungsruf wirkt daher der Aufsatz des Psychoanalytikers Kurt R. Eissler in der Zeitschrift »Psyche« im Jahre 1963 mit dem Titel »Die Ermordung wie vieler seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei ertragen, um eine normale Konstitution zu haben?«.24 Eissler hatte zunächst 1933 nach Österreich und dann 1938 in die USA flüchten müssen, sein Bruder Erich wurde in Auschwitz ermordet. Er starb 1999 vereinsamt in New York. Dieser fatale Befund ist auch deshalb bemerkenswert, weil in den Nachbarländern Deutschlands und in den USA psychische Schäden besonders infolge der KZ-Haft durchaus beschrieben und uneingeschränkt gewürdigt wurden, wenn auch häufig von Psychiatern und Psychoanalytikern, die selbst die Konzentrationslager überlebt hatten, wie etwa Jacques Tas (1951),25 Eddy de Wind (1949)26 und Elie Cohen (1952, 1954)27 in Holland, der ursprünglich österreichische Psychoanalytiker und Kinderpsychologe Bruno Bettelheim noch während des Krieges 194328 aus dem amerikanischen Exil, nachdem er 1939 aus Dachau freigekommen war, Leo Eitinger (1959)29 in Norwegen, René Targowla (1955),30 der von einer »Asthenie der Deportierten« sprach, und Eugène Minkowski (1948)31 in Frankreich. Die ersten großen internationalen Kongresse hierzu fanden in den frühen 1950er Jahren statt, so etwa im Juni 1954 in Kopenhagen.32 Diese lebhafte Debatte wurde aber nicht nur in Däne23 24 25 26 27 28 29 30 31 32
Vgl. hierzu auch Freyberger/Freyberger, 2002, 2007a, 2007b. Eissler, 1963. Tas, 1951. Wind, 1949. Cohen, 1952, 1954. Bettelheim, 1943. Eitinger, 1959. Targowla, 1955. Minkowski, 1948. Michel, 1955.
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mark, den Niederlanden,33 Norwegen, Frankreich und Großbritannien oder den USA, sondern früh auch in Israel34 geführt. So machte die israelische Staatsanwaltschaft bereits im August 1949 das Justizministerium auf den beunruhigenden Anstieg von Selbstmorden unter neu angekommenen Einwanderern, insbesondere bei Holocaust-Überlebenden, aufmerksam.35 Vermutlich auch unter dem Druck dieser im Ausland ganz anders verlaufenden Debatte kam es in Deutschland mit Beginn der 1950er Jahre – wenngleich zögerlich – zu einer wissenschaftlichen Einstellungsänderung, die mit dem politischen Prozess der sogenannten »Wiedergutmachung« einherging. Auf psychiatrischer Seite haben hierzu entscheidend die Arbeiten von Ulrich Venzlaff, Walter Ritter von Baeyer, Hans Strauss, Kurt Kolle und Werner Mende beigetragen, die auf die »Besonderheiten der nichtpsychotischen Störungen«36 bei Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung hinwiesen und damit eine radikale Korrektur der Begutachtungspraxis im Sinne der internationalen Diskussion anstrebten.37
Der Weg zum Bundesentschädigungsgesetz Anstoß für eine Tendenzwende in der bundesdeutschen Begutachtungspraxis war schließlich ein Urteil des Landgerichts Bremen, das 1952 auf der Grundlage eines Gutachtens von Ulrich Venzlaff zum Fall eines stark depressiven Holocaust-Überlebenden, dem Venzlaff eine »verfolgungsbedingte Neurose« bescheinigte, im Sinne einer Entschädigungsberechtigung entschied. Ein Gegengutachten des Tübinger Psychiaters Ernst Kretschmer, der die traditionelle These von der grenzenlosen seelischen Belastbarkeit des gesunden Menschen gegenüber Gewalttraumatisierung vertrat, ohne den Patienten in diesem Fall auch nur gesehen zu haben, hielt das Gericht für nicht plausibel. Man muss die Entscheidung des Gerichts wohl auch im politischen Kontext der Zeit deuten. Im gleichen Jahr nämlich führten die Verhandlungen zwischen Konrad Adenauer und dem israelischen Außenminister Moshe Sharett zur Unterzeichnung einer Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland, Israel 33 34 35 36 37
Vgl. Bastiaans, 1957. Davidovitch/Zalashik, 2007. Segev, 1995, S. 160. Strauss, 1957. Vees, 2010, S. 7.
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und der Jewish Claims Conference (JCC) über materielle Entschädigungsleistungen für NS-Geschädigte in Luxemburg. Inhalt des Abkommens waren Zahlungen, Exportgüter und Dienstleistungen im Gesamtwert von 3,5 Milliarden DM, um die Eingliederung mittelloser jüdischer Flüchtlinge zu unterstützen, sowie die Selbstverpflichtung der Bundesrepublik zur Rückerstattung von Vermögenswerten. Die Ausführung der dabei übernommenen Verpflichtungen regelte das am 18.9.1953 verabschiedete Bundesergänzungsgesetz (BErgG), welches schließlich am 29.6.1956 durch das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) abgelöst wurde. Die Verabschiedung des BEG war nahezu ausschließlich dem Druck der Alliierten geschuldet. Sie kann aber auch als taktische Meisterleistung Konrad Adenauers verstanden werden, dem es »entgegen der Stimmung im eigenen Land dringend daran gelegen [war], eine gesetzliche Grundlage für die Entschädigung der Nazi-Opfer zu schaffen, da er die Westintegration und die Wiederbewaffnung der BRD nicht gefährden wollte«.38 Als am 29.6.1956, rückwirkend zum 1.10.1952, der Deutsche Bundestag das Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG) verabschiedet hatte, schien der Weg zum Versuch einer wie auch immer gearteten, auf jeden Fall nicht mehr als symbolhaften »Entschädigung« der Opfer des nationalsozialistischen Terrorregimes gewiesen. Im Einzelnen waren die zahlreichen Bestimmungen allerdings hochkompliziert und so komplex wie die kontroverse parlamentarische und öffentliche Debatte im Vorfeld der Verabschiedung des Gesetzes. Mit der Einschränkung, dass antragsberechtigt nur solche Verfolgte sein dürften, die bis zum 31.12.1952 ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland oder West-Berlin hatten oder die vor ihrem Tod oder ihrer Auswanderung dort gelebt hatten, sollte wohl auch der Kreis möglicher Antragsteller von vornherein kleingehalten werden. Dem gleichen Zweck diente sicher auch die höchst problematische Antragsfrist, die bereits am 1.10.1957, also nur 15 Monate nach Verabschiedung des Gesetzes, verstrichen sein sollte.39 Die verfolgten Opfer des NS-Regimes waren weltweit verstreut, und es war für die meisten von 38 Vgl. Vees, 2010, S. 8; Leonhardt, 2002. Fast gleichzeitig liefen 1952 die Verhandlungen zum Londoner Schuldenabkommen, das am 24.8.1953 ratifiziert werden sollte. Der Abschluss beider Verträge war die politische Vorbedingung, um den Besatzungsstatus aufzuheben und die volle Souveränität der Bundesrepublik herbeizuführen. 39 Im Jahre 1965 wurde das BEG zum BEG-Schlussgesetz erweitert. Wer ohne eigenes Verschulden die Frist zum 1.4.1958 nicht einhalten konnte, sollte nun weiter
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ihnen schwierig, in der Kürze der Zeit die notwendigen Unterlagen zu beschaffen. Hinzu traten andere Erschwernisse für die Antragsteller, denn viele der Verfolgungsopfer verzichteten, was sicher absehbar gewesen war, auf einen Entschädigungsantrag aus der Angst heraus, mit dem Eintritt ins Entschädigungsverfahren und den damit verbundenen Erinnerungen die in Konzentrationslagern oder an anderen Orten des Grauens durchlittenen Qualen erneut durchleben zu müssen.40 Wieder andere Verfolgte, die den Kriterien des BEG wohl entsprochen hätten, lehnten es ab, der deutschen Bürokratie als Bittsteller gegenüberzutreten oder überhaupt wieder zu deutschen Behörden und damit zu den ehemaligen Verfolgern Kontakt aufzunehmen. Das Gesetz barg aber auch andere Schwierigkeiten, die besonders damit zusammenhingen, dass hier möglichst präzise der Kreis potentieller Verfolgter und die entschädigungsfähige Schädigung definiert werden mussten. Verfolgt und geschädigt worden waren viele, wer aber war »Opfer« im Sinne des Gesetzes, und welche erlittenen Schäden sollten nun geltend gemacht werden können? In § 1, Abs. 1 des Gesetzes wurde zunächst die Opfergruppe definiert: »Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung ist, wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen, in seinem beruflichen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat (Verfolgter).« Während sich Einschluss- und Bemessungskriterien für einen erlittenen Schaden am »Leben« auf Rentenzahlungen an Angehörige erstreckten und eingebüßte Freiheit, Eigentum, Vermögen und selbst Karrierehindernisse sich pauschal und in – auch aus damaliger Perspektive – äußerst schmalem Rahmen einigermaßen nachvollziehbar kalkulieren ließen, verhielt es sich mit Schäden an Körper und Gesundheit komplizierter. Was war unter solchen Beschädigungen zu verstehen, und wie sollte entschädigt werden? Als entschädigungsfähig im Sinne des Gesetzes (§ 28, Abs. 1) galt, wer »an seinem Körper oder an seiner Gesundheit nicht unerheblich geschädigt worden« sei, wobei bereits ein wahrscheinlich urseine Ansprüche anmelden dürfen, allerdings lediglich bis zum 31.12.1969. Danach sollten keine Anträge mehr angenommen werden können. 40 Fischer-Hübner/Fischer-Hübner, 1990.
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sächlicher Zusammenhang zwischen körperlicher Beeinträchtigung und Verfolgung hinreichend war. Der Schädigungs- und damit auch der Krankheits-Begriff des Gesetzes erstreckte sich – wenngleich nicht explizit – auf Beeinträchtigungen der geistigen und körperlichen »Leistungsfähigkeit«. Die Minderung der Leistungsfähigkeit wurde analog zur allgemeinen Minderung der Erwerbsfähigkeit prozentual gestuft und sah monatliche Mindestrenten in Höhe von 100 bis 365 DM vor.41
Neubewertung der Belastungsschäden Zweifellos stellte die Verabschiedung des Bundesentschädigungsgesetzes eine historische Scheidemarke dar, wenngleich die Praxis der Begutachtung und Entschädigung ganz anders aussah. Wurde doch die Ausführung der Entschädigung Versorgungsämtern übergeben, in denen – wie bereits angedeutet – »vor allem Beamte saßen, die dort schon während der ganzen Nazizeit gearbeitet hatten und daher, sehr vorsichtig ausgedrückt, nicht die richtige Einstellung mitbrachten«.42 Trotz der insgesamt geringen Entschädigungssummen und Renten war die »Wiedergutmachung« in der westdeutschen Bevölkerung durchaus unpopulär. Viele Deutsche begannen in jenen Jahren damit, sich selbst mehr und mehr als Opfer des Nationalsozialismus zu sehen, den Terror des NS-Regimes aber gleichwohl sukzessive zu verdrängen und die eigentlichen Opfer für inzwischen »wohlversorgt« zu halten. Hinzu kamen politische Gegner der Entschädigung, unter ihnen etwa der ehemalige Bundesfinanzminister Fritz Schäffer (CSU), der sich bei einer Wahlkreisrede im Dezember 1957 zu der Behauptung verstieg, die »Wiedergutmachung« schädige die Stabilität der Deutschen Mark. Hinzu kam eine in Politik und Öffentlichkeit denkbar inhomogene Sicht auf die Verfolgten selbst. So war die Wiedergutmachungsakzeptanz gegenüber Sinti und Roma (»Zigeunern«) und Zwangssterilisierten deutlich geringer als gegenüber Juden und politisch Verfolgten des eher konservativen Widerstands; kommunistisch Verfolgte blieben politisch suspekt und wurden gar bei einer Mitgliedschaft in der KPD nach 1945 von der Entschädigung ausgeschlossen. Besonderen Schwierigkeiten stand auch eine Opfergruppe gegenüber, für deren Schädigungsgrad nach 1945 gar keine verlässlichen Beurtei41 http://bundesrecht.juris.de/bundesrecht/beg/gesamt.pdf, letzter Zugriff 3.11.2010. 42 Peters, 1989, S. 174.
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lungskriterien mehr vorlagen, die Gruppe der Verfolgten, die schwere seelische Störungen aus den ihnen zugemuteten Gewaltakten des NSRegimes in Gefangenschaft, unter den Bedingungen der Folter sowie unter permanenter Todesbedrohung davongetragen hatten. Wäre die knapp bemessene Auslauffrist des BEG nicht 1965 durch das BEGSchlussgesetz bis zum 31.12.1969 verlängert worden, dann wäre diese Gruppe damals überhaupt nicht in den Blick geraten oder unter das Verdikt alter Vorstellungen der Sozial- und Rentenneurosen gefallen, wie es seit Bonhoefer (»durchscheinende inhaltlich bestimmte Willensrichtung«) und auf psychoanalytischer Seite seit Freud (»selbstsüchtiges, nach Schutz und Nutzen strebendes Ich-Motiv«) in Deutschland das Diskursfeld der »traumatischen Neurose« beherrschte. Vor dem Hintergrund der in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren wieder intensiv geführten Debatte um eine Fristverlängerung des BEG konnte nun auch der Frage nach den seelischen Schädigungen aufgrund der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft grundlegend nachgegangen werden. Zu nennen sind hier insbesondere die Arbeiten von Strauss über »nichtpsychotische Störungen« (1957),43 von Baeyer über »erlebnisreaktive Störungen« (1958),44 Venzlaff über »psychoreaktive« und »erlebnisbedingte seelische Störungen« (1958, 1959)45 und Kluge über »Folgen schwerer Haftzeiten« (1958).46 In dieser Situation beschloss die vom 23. bis 24. April 1958 in München tagende »Medizinische Hauptkonferenz« der an Entschädigungsbehörden tätigen Ärzte zunächst eine umschreibende Erweiterung der entschädigungspflichtigen Diagnosen um die »chronische Depression mit organischen Zügen« und die sogenannten »Entwurzelungsdepressionen«, die zusammen, wenngleich zunächst deskriptiv, auf das Syndrom vieler Überlebender der Inhaftierung in Konzentrationslagern abhob. Eine erneute Kontroverse um die Frage der Entschädigung psychisch traumatisierter Holocaust-Überlebender, fast zehn Jahre nach der Venzlaff-Kretschmer-Kontroverse, nun zwischen den Psychiatern Walter von Baeyer und Hermann Witter, führte schließlich dazu, dass 1961 auf der Baden-Badener Wanderversammlung Südwestdeutscher Neurologen und Psychiater Ulrich Venzlaffs zuerst 1959 publiziertes Konzept des »erlebnisbedingten Persönlichkeitswandels« prinzipiell akzeptiert wurde. 43 44 45 46
Strauss, 1957. Baeyer, 1958. Venzlaff, 1958, 1959. Kluge, 1958.
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Von einem Durchbruch in der Entwicklung hin zu einer neuen Praxis der Begutachtung kann man allerdings erst im Zusammenhang mit der 1964 von Walter Ritter von Baeyer, Heinz Häfner und Karl Peter Kisker veröffentlichten Monographie »Psychiatrie der Verfolgten – Psychopathologische und gutachterliche Erfahrungen an Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung und vergleichbaren Extrembelastungen« sprechen. In der Einleitung des Buches, das auch erstmals die Gewalterfahrungen deutscher Kriegsheimkehrer und den bis dahin spärlichen deutschen Forschungsstand zusammenfassend würdigte, hieß es: »Diese Arbeit ist aus dem praktischen Bedürfnis entstanden, für die entschädigungsrechtliche Begutachtung von überlebenden Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung mit seelisch-nervösen Störungen verläßliche Grundlagen zu finden. Seit etwa 1950 und in stets steigendem Ausmaß seit dem Erlaß des Bundesentschädigungsgesetzes in seiner jetzigen Form (1956) tritt die Frage an den psychiatrischneurologischen Gutachter heran, ob, in welchem Umfang und in welcher Weise psychisch-nervöse Normabweichungen und Krankheitszustände bei Verfolgten des NS-Regimes mit den seinerzeit innerhalb und außerhalb der Konzentrationslager erlittenen Beeinträchtigungen der seelischen und körperlichen Integrität zusammenhängen. Dabei wurde es immer deutlicher, daß die in der neuropsychiatrischen Wissenschaft bisher erarbeiteten Beurteilungsmaßstäbe und gutachtlichen Richtlinien nicht voll ausreichen, um die Entstehungsweise und Tragweite der in diesem Fachgebiet liegenden Gesundheitsschäden der Verfolgten zu erfassen.«47 Mit einer Fülle von Informationen auf der Grundlage einer reichen internationalen Erfahrungsdokumentation war es den Autoren gelungen, ein neues Bild des psychischen Störungskomplexes nach den nationalsozialistischen Gewalterfahrungen zu schaffen: »Chronische, äußerst hartnäckige, therapeutisch wenig beeinflußbare Beschwerden, Leistungsmängel, Veränderungen der sozialen Persönlichkeit, die sich bei fehlendem oder gering ausgeprägtem Organbefund, hirnpathologisch nicht erklärbar, in biographischer Kontinuität aus den furchtbaren, leiblich-seelisch-sozialen Schicksalen der Verfolgung entwickelt haben und nur in den wenigsten Fällen den Eindruck einer tendenziösen, rentenneurotischen, übertreibenden, ganz oder halbwegs gewollten Fehleinstellung hinterlassen. Nicht schlechthin, 47 Baeyer/Häfner/Kisker, 1964, S. III.
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aber relativ neu: das chronische, meist in dieser oder jener Weise depressiv gefärbte Störungsbild derartiger Fälle, die Herkunft aus einer extremen Belastungssituation, die durch ihre lange Dauer, mehr noch durch ihre alle menschlichen Daseinsbereiche einschließende Totalität den Menschen aller Existenzsicherheit beraubte, neu aber auch die Notwendigkeit, eine echte und unmittelbare Psycho- und Soziogenese, eine nicht nachträglich ausgebaute oder psychopathisch vorgebahnte, sondern zwingend von der Belastungssituation zur Störung sich hinentwickelnde Erlebnisreaktivität bei Erwachsenen ernstlich ins Auge zu fassen.«48 Allerdings war hier mit dem beschriebenen Symptomenkomplex keineswegs »etwas Neues in Erscheinung getreten«; vielmehr markierte die Monographie lediglich an einem neuen Beispiel, an den Gewalterfahrungen der Holocaust-Überlebenden, den prinzipiellen Abschied von der alten Bewertung der »posttraumatischen Neurose«. Dem Kern der neu beschriebenen und gewerteten Symptomatik verliehen die Verfasser der Studie den Ausdruck »KZ-Syndrom« und schrieben damit dessen Verursachung eindeutig der Verfolgung und Gewalterfahrung im Konzentrationslager zu. Während Baeyer, Häfner und Kisker also vom »KZSyndrom« sprachen, nannte es der 1939 aus Deutschland in die USA geflohene Psychoanalytiker William G. Niederland seit 1961 »SurvivorSyndrome« (»Überlebenden-Syndrom«).49 Trotz des – insbesondere nach den Erfahrungen des Vietnamkrieges – gemehrten Wissens über die Entstehungsursachen des inzwischen unter der Bezeichnung PTSD (»Posttraumatic Stress Disorder«) gefassten Symptomenkomplexes stellt die von Niederland gewählte Bezeichnung bis heute immer noch eine gebräuchliche und zutreffende Beschreibung für die besonderen Verfolgungserlebnisse unter der NS-Diktatur und die oft lebenslang durchlittenen psychischen Folgen der Holocaust-Überlebenden dar. Für Niederland bestand das Überlebenden-Syndrom überwiegend aus den folgenden Einzelerscheinungen: Angst im Sinne einer Lebensangst, Kampf gegen die Erinnerung, innere Spannung, Grübelzwang, Überlebensschuld, Verstimmbarkeit, Affektlähmung, Initiativlosigkeit, apathische Zurückgezogenheit, Ruhelosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und Leistungsmängel, Unfähigkeit zu Frohsinn und Genuss, Sinnent-
48 Baeyer/Häfner/Kisker, 1964, S. III. 49 Niederland, 1961, 1968.
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nahme des Daseins, Verlust des Selbstwertgefühls und der Selbstsicherheit, soziale Beziehungsstörungen sowie psychosomatische Störungen.50 Trotz der grundsätzlichen Richtungsänderung in der Begutachtung psychischer Störungen von Holocaust-Überlebenden sollte es noch mehr als zehn Jahre dauern, bis der Deutsche Bundestag am 11.5.1976 ein Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten verabschiedete, nach dem nun grundsätzlich auch psychische Folgen von Gewalttaten entschädigungsfähig sind. Die von Venzlaff und Baeyer, aber auch anderen Psychiatern erarbeiteten pathopsychologischen Befunde infolge traumatischer Ereignisse wurden 1989 als »andauernde Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung« zusammengefasst und in die internationale Klassifikation psychischer Störungen aufgenommen (ICD-10 F62.0).
Entschädigung anderer ›medizinischer‹ Opfergruppen Während die Geschichte der Vorbereitung und Praxis des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (GzVeN) vom 14.7.1933 (Inkrafttreten am 1.1.1934) und der nationalsozialistischen Krankenmord-Aktion (sog. »Euthanasie«) inzwischen gut aufgearbeitet ist, muss der Forschungsstand zur Frage der Entschädigung dieser und einer Reihe anderer Opfergruppen der NS-Gewaltherrschaft trotz guter Quellenlage immer noch als unzureichend bezeichnet werden.51
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6.4 Rezeptions- und kontroverse Diskursgeschichte der NS-Medizin nach 1945 Robert Jütte
Erste Phase (1946-1948) Die »Vergangenheitsbewältigung« setzte mit dem Nürnberger Ärzteprozess ein, der am 9.12.1946 begann.1 1947 erschien die erste Dokumentation, mit der die Arbeitsgemeinschaft der Ärztekammern, aus der später die Bundesärztekammer hervorging, Alexander Mitscherlich und Fred Mielke beauftragt hatte.2 Diese Publikation wurde gleich nach Erscheinen in der Ärzteschaft heftig diskutiert, wie man im Anhang zum erweiterten Abschlussbericht, den die genannten Autoren 1949 unter dem Titel »Wissenschaft ohne Menschlichkeit« veröffentlichten, nachlesen kann.3 Wenngleich Mitscherlichs und Mielkes erste Dokumentation von 1947 (mit leicht geändertem Titel) mehrfach wiederaufgelegt wurde, war das Interesse der Ärzteschaft an dieser Veröffentlichung unmittelbar nach dem Erscheinen – sieht man von einer weiteren Publikation zu dem Krankenmord einmal ab4 – offenbar gering. Der Vorwurf, die Ärztekammern hätten damals bewusst die Verbreitung verhindert, ist inzwischen von der Forschung widerlegt worden.5 Die Dokumentation von Mitscherlich und Mielke, die nur eine Auswahl der umfangreichen Prozessakten darstellt, wurde seit den 1980er Jahren immer mehr als unzureichend empfunden. Mit Unterstützung der Bundesärztekammer und der Landesärztekammern wurden in den Jahren zwischen 1994 und 1998 sämtliche Ärztinnen und Ärzte in Deutschland vom damaligen Leiter der Westfälischen Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Neurologie, Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus Dörner, persönlich angeschrieben und um Mitfinanzierung einer vollständigen Edition gebeten. Angesichts des überraschend hohen Spendenaufkommens konnte alsbald die Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, die bereits 1 2 3 4 5
Schweitzer, 1997. Mitscherlich/Mielke, 1947. Mitscherlich/Mielke, 1949. Platen-Hallermund, 1948. Gerst, 1994; Peter, 1994.
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über Erfahrung aus ähnlichen Projekten verfügte, mit dem Editionsprojekt zum Nürnberger Ärzteprozess beauftragt werden. Die große Spendenbereitschaft ermöglichte nicht nur eine vollständige, wegen des hohen Preises allerdings nur in wenigen Bibliotheken vorhandene Mikrofiche-Edition,6 sondern auch die Recherche nach Quellenmaterial zur Vorgeschichte, zu den Hintergründen und den Auswirkungen des Prozesses. Der Erschließungsband enthält zudem eine Dokumentation der Berichterstattung der Medien und der Fachpresse über den Nürnberger Ärzteprozess, aus der hervorgeht, dass eine breite Öffentlichkeit damals über den Prozessverlauf und die Anklagepunkte informiert wurde. Ergänzt wurde dieses verdienstvolle publizistische Großprojekt durch einen wissenschaftlichen Begleitband mit verschiedenen Einzeldarstellungen zum Ablauf und zur Rezeption des Nürnberger Ärzteprozesses.7 Weniger Diskussionen löste dagegen der zweite von zwölf Nachfolgeprozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher des »Dritten Reiches« aus: das Verfahren gegen den ehemaligen Generalfeldmarschall Erhard Milch, das vom 2. Januar bis 17. April 1947 vor dem amerikanischen Militärgerichtshof in Nürnberg stattfand und ebenfalls Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Gegenstand hatte. Eine Dokumentation dieses Prozesses, die auch auf die ethische Problematik der weiteren Verwendung experimenteller Daten aus den damaligen Menschenversuchen eingeht, wurde in den 1990er Jahren von der Robert Bosch Stiftung gefördert.8
Zweite Phase (1948 bis Mitte der 1960er Jahre) Nachdem der 51. Deutsche Ärztetag 1948 den Abschlussbericht von Mitscherlich und Mielke gebilligt und die Tätigkeit der Kommission für beendet erklärt hatte, begann eine zweite Phase der »Vergangenheitsbewältigung«, die bis Mitte der 1960er Jahre dauerte. Doch waren dies eher »Jahre der beiläufigen Beschäftigung«,9 wie Norbert Jachertz es genannt hat. Medizinhistoriker zeigten damals noch kaum Interesse an dieser Thematik, waren sie doch zum Teil selbst belastet. Bezeichnenderweise war es ein Journalist, Berndt Honolka, der 1961 das Schweigen durch6 7 8 9
Dörner/Ebbinghaus/Linne, 2000/01. Ebbinghaus/Dörner, 2001. Oppitz, 1999. Jachertz, 1997.
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rezeptions- und kontroverse diskursgeschichte
brach und über die Beteiligung von Ärzten am »Euthanasieprogramm« der Nationalsozialisten ein Buch schrieb.10 Es beruhte auf einer Serie im Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« und fand somit vorübergehend eine gewisse Aufmerksamkeit.
Dritte Phase (Mitte der 1960er bis Ende der 1970er Jahre) Die dritte Phase setzte in der Mitte der 1960er Jahre ein und dauerte bis zum Ende der 1970er Jahre. Auch in dieser Zeit stand, wenn überhaupt, der Krankenmord im Zentrum des Interesses von Medizin- und Zeithistorikern. Damals begann die Dokumentation der Strafurteile wegen Tötungsverbrechen in der NS-Zeit, und zwar unter der Leitung der Zeithistoriker Fritz Bauer und Karl Dietrich Bracher. Zu den wenigen Medizinhistorikern, die sich damals für diese Thematik interessierten, gehören Rolf Winau11 und Gerhard Fichtner.12
Vierte Phase (1980 bis ca. 1990) Erst durch den Gesundheitstag, der 1980 in Berlin als Gegenveranstaltung zum 83. Deutschen Ärztetag stattfand, wurde der Fokus erweitert und rückte die ganze Ärzteschaft in das Blickfeld. Damit begann die vierte Phase, die knapp ein Jahrzehnt dauerte und in der es nicht gerade selten vorkam, dass politisch sensibilisierte Medizinhistoriker gleichsam die Rolle des Ersatzanklägers übernahmen. Eine Dokumentation, die noch im selben Jahr erschien, kann als Meilenstein in der Erforschung der Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus gelten. Unterschiedliche Aspekte dieser Thematik wurden darin beleuchtet: Standesethik, Berufsverbote, Psychiatrie und »Euthanasie«, Gesundheits- und Bevölkerungspolitik, Menschenversuche sowie Widerstand unter Ärzten.13 Aus einer Ausstellung zu einem Seminar an der Volkshochschule Ulm im gleichen Jahr ging ein »Arbeitsbuch« hervor, das die bis dahin umfangreichste Quellensammlung zu dieser Thematik darstellte. Sie greift nicht nur auf Prozessakten zurück, sondern enthält auch andere ein10 11 12 13
Honolka, 1961. Winau/Hafner, 1974. Fichtner, 1976. Baader/Schultz, 1980.
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schlägige Dokumente (Bilder, Zeitungsartikel etc.).14 Zwei Jahre später kam ein Katalog zu einer Wanderausstellung mit dem Titel »Volk und Gesundheit. Heilen und Vernichten im Nationalsozialismus« heraus, die eine Tübinger Projektgruppe konzipiert hatte.15 Anfang der 1980er Jahre sorgte Ernst Klee mit seinen auflagenstarken Veröffentlichungen zur »Euthanasie« im »Dritten Reich« dafür, dass der Krankenmord in das Bewusstsein der Öffentlichkeit kam.16 1983 nahmen in Ostberlin über 100 Mediziner, Historiker, Philosophen und Juristen an einem Symposium über das »Schicksal der Medizin in der Zeit des Faschismus« teil, darunter auch einige Forscher aus der Bundesrepublik. Die Publikation der dort gehaltenen Referate markiert den Beginn der systematischen Auseinandersetzung mit dieser Thematik in der damaligen DDR.17 Ein weiterer wichtiger Meilenstein der Forschung war die Veröffentlichung zweier Aufsatzbände zur Medizin in der NS-Zeit im Jahre 1989, also kurz vor der Wende.18 Auf westdeutscher Seite ist für die Mitte der achtziger Jahre noch ein Sammelband zu erwähnen, der bezeichnenderweise in einem Verlag erschienen ist, der damals der DKP nahestand. Die drei Beiträge behandeln den »Weg in den Faschismus«, die »Tätigkeit von Ärzten in der SS und in Konzentrationslagern« und »Ärzte im Widerstand«.19 Ein Jahr zuvor, 1984, brachte eine Hamburger Forschergruppe um Angelika Ebbinghaus, Heidrun Kaupen-Haas und Karl Heinz Roth die erste größere Regionalstudie heraus, in der die Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik im »Dritten Reich« am Beispiel des »Mustergaus« Hamburg analysiert wurde. Darin schenkten die Wissenschaftler unter anderem dem Thema »Zwangssterilisation und Zwangsabtreibung«, zu dem im selben Jahr auch eine erste Fallstudie,20 und zwar zu Bremen, erschien, verstärkt Beachtung.21 Zu einem Standardwerk wurde auch ein vielzitierter Aufsatzband, den bezeichnenderweise ein Spezialist für die Medizingeschichte der Antike herausbrachte.22 Auf die Initiative eines lockeren Arbeitskreises, dem damals 25 Historiker, Mediziner und Sozialwissenschaftler angehörten, geht eine Publikations14 15 16 17 18 19 20 21 22
Wuttke-Groneberg, 1980. Beutelspacher, 1982. Klee, 1983. Thom/Spaar, 1983. Thom/Rapoport, 1989; Thom/Caregorodcev, 1989. Bromberger/Mausbach/Thomann, 1985. Schmacke, 1984. Ebbinghaus/Kaupen-Haas/Roth, 1984. Kudlien, 1985.
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reihe zurück, die sich »Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheitsund Sozialpolitik« nannte. Der erste Band erschien 1985 im Rotbuch Verlag in Berlin.23 Bereits 1983 fanden sich in der Bundesrepublik hauptund nebenamtliche Forscherinnen und Forscher unterschiedlicher Fachrichtungen zusammen, um am Beispiel der Institutionen des Gesundheitswesens, in denen sie arbeiteten, die Geschichte der NS-Verbrechen an den als »minderwertig« Erachteten aufzuarbeiten. Der von ihnen gegründete »Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen ›Euthanasie‹ und Zwangssterilisation« hat bis heute wesentlich zum Erkenntnisfortschritt auf diesem Gebiet beigetragen, unter anderem auch durch einschlägige Tagungsbände.24 Ende der 1980er Jahre erreichte die Publikationswelle zum Thema »Medizin und Nationalsozialismus« ihren Höhepunkt, da fast gleichzeitig mehrere Landesärztekammern Projekte in Auftrag gegeben hatten, dieses dunkle Kapitel ihrer Geschichte aufzuarbeiten. Bis heute stellen die daraus hervorgegangenen Publikationen wichtige Bausteine zu einer Gesamtgeschichte der Medizin zwischen 1933 und 1945 dar.25 Im Jahr 1988 nahm sich auch erstmals eine KZ-Gedenkstätte in der von ihr herausgegebenen Zeitschrift (»Dachauer Hefte«) dieses Themas an und lenkte den Blick vor allem auf Menschenversuche im KZ und auf die medizinische Versorgung in einem Ghetto.26 Die mit Abstand wirkmächtigste Publikation in Hinblick auf die Diskussion um die »Vergangenheitsbewältigung« in der Ärzteschaft war eine Serie über die Medizin im »Deutschen Ärzteblatt«, die 1988 begann und 1989 zu einer Buchpublikation führte, die sogar eine zweite Auflage erlebte. Vorausgegangen war eine in den Medien ausgetragene Kontroverse.27 Unter den Autoren der Buchpublikation befinden sich viele, die bereits in anderem Zusammenhang als Pioniere auf diesem Forschungsgebiet erwähnt wurden.28 International, aber auch in Deutschland sehr beachtet und immer wieder zitiert wurde das Buch des amerikanischen Psychiaters und Autors Robert Jay Lifton, das 1988 auch auf Deutsch erschien.29 Im selben Jahr nahm sich das renommierte Institut für Zeitgeschichte in München ebenfalls des Themas »Medizin im Nationalsozialismus« auf einer Tagung an. Der Referatsband enthält zudem einen 23 24 25 26 27 28 29
Aly, 1985. Böhm, 2001. Jäckle, 1988; Pross/Aly, 1989; Drexler/Kalinski/Mausbach, 1990. Benz/Distel, 1988. Hanauske-Abel, 1987; Vilmar, 1987. Bleker/Jachertz, 1989. Lifton, 1988.
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Diskussionsteil, der den damaligen Forschungsdiskurs recht gut widerspiegelt.30 1989 veröffentlichte der kanadische Medizinhistoriker Michael H. Kater sein vielbeachtetes Buch über Ärzte im »Dritten Reich«, das seit einigen Jahren auch auf Deutsch vorliegt.31
Fünfte Phase (ab 1990) Die fünfte Phase begann Anfang der 1990er Jahre und dauert bis heute an. Dass die deutsche Ärzteschaft spätestens seit dieser Zeit ernsthaft bemüht ist (sieht man von einigen Stimmen »Ewiggestriger« im »Deutschen Ärzteblatt« einmal ab), ihr dunkles Kapitel aufzuarbeiten, belegt nicht nur die Festschrift zum 100. Deutschen Ärztetag. Diese wurde von einem unabhängigen Historikerteam erarbeitet und enthält ein eigenes Kapitel über den schwierigen Umgang der deutschen Ärzteschaft mit ihrer Vergangenheit.32 Außerdem vergibt die Bundesärztekammer zusammen mit dem Bundesministerium für Gesundheit und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung seit 2006 einen Forschungspreis. Damit werden wissenschaftliche Arbeiten ausgezeichnet, die sich mit der Rolle der Ärzteschaft im »Dritten Reich« auseinandersetzen. Allerdings haben sich im Unterschied zur Bundesärztekammer noch längst nicht alle Landesärztekammern ihrer Verantwortung gestellt. Nachdem Ende der 1980er Jahre die Landesärztekammern in Hessen und Bayern auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet hatten, sind in den letzten beiden Jahrzehnten nur einige wenige Kammern diesem Beispiel gefolgt und haben entsprechende Forschungsarbeiten entweder in Auftrag gegeben oder gefördert. Ziel eines vom Deutschen Ärzteverlag, der Bundesärztekammer, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin sowie durch Privatspenden Berliner und Nichtberliner Ärzte finanzierten Forschungsprojekts ist es, eine Kollektivbiographie Berliner jüdischer Kassenärzte zu erstellen.33 Als Grundlage für dieses Projekt dient das Reichsarztregister (RAR), das 2004 mit Hilfe der Ludwig-Sievers-Stiftung und der Hans-Neuffer-Stiftung auf DVDs digitalisiert worden ist und aus fast 100.000 Karteikarten besteht. Die Sächsi30 31 32 33
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Frei, 1988. Kater, 1989. Jütte, 1997. http://www.uke.de/institute/geschichte-medizin/index_33893.php, letzter Zugriff 16.9.2010.
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sche Landesärztekammer brachte 2005 ein Sonderheft zum Thema »Ärzte und Medizin im Nationalsozialismus« heraus, das einen regionalen Schwerpunkt hat.34 Seit den 1990er Jahren haben auch einige medizinische Fachgesellschaften damit begonnen, die Zeit zwischen 1933 und 1945 aufzuarbeiten. Vorreiter war die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde, die sogar eine eigene Historische Kommission unterhält. In deren Auftrag untersuchte Eduard Seidler die Geschichte der Gesellschaft in der NSZeit und rekonstruierte das Schicksal der nach 1933 verfolgten deutschen Kinderärzte, von denen sehr viele jüdisch waren.35 Die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft brachte ein solches Geschichtsprojekt auf Initiative eines Tübinger Professors für Augenheilkunde auf den Weg.36 Die medizinhistorischen Fachgesellschaften haben sich dagegen aus eigenem Antrieb bislang ihrem nationalsozialistischen Erbe nicht gestellt, sieht man von einigen wenigen einschlägigen Aufsätzen zu dieser Thematik einmal ab.37 In die noch laufende Phase, die stark von wissenschaftshistorischen Interessen geprägt ist, fallen auch die ersten größeren Forschungsprojekte zur Geschichte der medizinischen Fakultäten im »Dritten Reich«. Den Anfang machte 1991 die Universität Freiburg im Breisgau.38 2002 setzte man die Aufarbeitung der Vergangenheit mit einer Ausstellung über die Medizinische Fakultät und das Universitätsklinikum in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus fort. Aus diesem Anlass erschien damals ein Begleitband, der zu einem neuen Gesamtbild dieser Epoche beigetragen hat.39 Freiburg ist bislang zudem die einzige medizinische Fakultät, für die Formen einer Erinnerungskultur, wie sie sich z. B. in Stationsbenennungen äußert, für die Zeit nach 1945 aufgearbeitet wurden. Eine Freiburger medizinhistorische Doktorarbeit richtet ein besonderes Augenmerk auf den Umgang mit Namen, deren Träger durch ihr Verhalten während des Nationalsozialismus belastet sind.40 Spezielle Monographien zur Geschichte medizinischer Fakultäten liegen
34 35 36 37 38 39 40
Schulze, 2005. Seidler, 2007. Rohrbach, 2007. Kümmel, 1994, 2001; Mörgeli/Jobmann, 1997. Seidler, 1991. Grün/Hofer/Leven, 2002. Mattes, 2008.
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inzwischen für folgende Universitäten vor: Marburg,41 Bonn42 und Gießen.43 Daneben gibt es eine Reihe von Gesamtdarstellungen zur Geschichte einzelner Universitäten in der NS-Zeit, die auch ein längeres Kapitel über die Medizinische Fakultät enthalten, so z. B. für die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.44 Auch für eines der bedeutendsten Universitätsklinika existiert inzwischen ein spezieller Aufsatzband.45 Von den Angeklagten, denen im Nürnberger Ärzteprozess »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« vorgeworfen wurden, gehörten sieben der Berliner Medizinischen Fakultät und der Charité an, zwei weitere hatten sich der Verantwortung durch Suizid entzogen. Insgesamt 160 Mitgliedern des Lehrkörpers der Medizinischen Fakultät wurde 1933 und in den Folgejahren die Lehrbefugnis entzogen, oder sie wurden aus dem Arbeitsverhältnis entlassen. Ihre Kurzviten finden sich in diesem Band. Auch andere Einrichtungen des deutschen Gesundheitswesens haben inzwischen damit begonnen, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Dazu zählen z. B. die Max-Planck-Institute, deren Vorgänger, die Kaiser-Wilhelm-Institute, zum Teil in die nationalsozialistische Rassen- und Gesundheitspolitik eingebunden waren.46 Für das Robert-Koch-Institut liegt seit kurzem ebenfalls eine entsprechende Studie vor.47 Außerdem sind die staatlichen Gesundheitsämter inzwischen in den Blick der zeithistorischen Forschung geraten.48 Insbesondere erhielt in dieser fünften Phase die Erforschung des Krankenmordes durch das Auffinden der sogenannten »T4-Akten« einen Schub.49 Anfang der 1990er Jahre wurden im ehemaligen Zentralarchiv des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR bisher unbekannte Dokumente aus der NS-Zeit gefunden, darunter ca. 30.000 Krankenakten. Sie konnten als Teil der bis dahin als verschollen geltenden Akten von Patientinnen und Patienten identifiziert werden, die in den Jahren 1940/41 der ersten zentral organisierten Massenvernichtungsaktion im Nationalsozialismus, der sog. »Aktion T4«, zum Opfer fielen. 41 42 43 44 45 46 47 48 49
Aumüller et al., 2001. Forsbach, 2006. Oehler-Klein, 2007. Eberle, 2002. Schleiermacher/Schagen, 2008. Sachse, 2000; Zur Nieden, 2005; Schmuhl, 2008; Rürup, 2008. Hinz-Wessels, 2008; Hulverscheidt/Laukötter, 2009. Donhauser, 2007. Roelcke/Hohendorf, 1993.
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Dieser Fund war Anlass, eine Archivdatenbank am Bundesarchiv einzurichten, in der Quellenbestände zur Geschichte der »Euthanasie« in einer Vielzahl von Archiven, überwiegend im deutschsprachigen Raum gelegen, dokumentiert sind.50 Ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes wissenschaftliches Arbeitsvorhaben befasste sich mit der Auswertung des einmaligen Aktenbestands zur »Aktion T4« auf der Basis einer größeren Stichprobe (3000 Krankenakten). Ein Anliegen dieses Projekts war es, die Opfer der NS-»Euthanasie« als Individuen zu würdigen und ihre Schicksale zu dokumentieren.51 Ein noch laufendes Forschungsvorhaben an der Universität Gießen steht ebenfalls in diesem Zusammenhang und hat die »Vergegenwärtigungen der nationalsozialistischen ›Euthanasie‹ zwischen Politisierung und Historiographie, ca. 1945-2000« zum Thema.52 Ein wichtiger Teil der Rezeptionsgeschichte sind nicht zuletzt Ausstellungen, die sowohl im Vorfeld durch Recherchen weitere Forschung befördern als auch durch mediale Vermittlung für Publizität über Fachkreise hinaus sorgen.53 In diesem Zusammenhang ist neben vielen kleineren regionalen Ausstellungen, die meist an Medizinischen Fakultäten gezeigt wurden, ein mediales Großereignis zu nennen: die Ausstellung »Deadly Medicine« (Tödliche Medizin), die 2004 vom Holocaust Museum in Washington/D.C. konzipiert und 2006/07 vom Deutschen Hygiene-Museum in Dresden übernommen wurde.54 Anhand von sorgfältig ausgewählten Exponaten sowie eindringlichen Bild-, Text- und Filmdokumenten zeigt diese Ausstellung die im Namen der NS-Rassenideologie begangenen Verbrechen auf. Sie macht deutlich, wie mit der Hilfe von Ärzten, Medizinern und Anthropologen eine Gesundheitspolitik entwickelt wurde, die mit der Sterilisation von vermeintlich »erblich minderwertigen« Menschen begann, zum Massenmord an »lebensunwertem Leben« führte und zugleich die Voraussetzungen für die Ermordung der europäischen Juden schuf. Auch das Medium Film ist aus der Rezeptionsgeschichte nicht wegzudenken. Eine dreiteilige Fernsehdokumentation von Ulrich Knödler und Christian Feyerabend, die 2004 im ZDF gezeigt wurde, themati50 http://www.bundesarchiv.de/geschichte_euthanasie/Inventar_euth_doe.pdf, letzter Zugriff 29.9.2010. 51 Hohendorf et al., 2008; Fuchs et al., 2007. 52 http://www.uni-giessen.de/erinnerungskulturen/home/teilprojekt-18.html, letzter Zugriff 16.9.2010. 53 Ankerstein et al., 1985. 54 Henke, 2008.
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siert die kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründe der Medizin im Nationalsozialismus. Im Zentrum dieses Films standen die unveröffentlichten Briefe und Tagebücher von Karl Brandt, Begleitarzt von Hitler und Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen. An seiner Biographie55 verdeutlicht die Fernsehdokumentation beispielhaft die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus.
Literatur Aly, Götz (Hrsg.), Aussonderung und Tod: die klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren, Berlin 1985. Ankerstein, Hilmar S. et al. (Bearb.), Heilen und Vernichten im Nationalsozialismus. Köln und das Rheinland (Ausstellungskatalog), Köln 1985. Aumüller, Gerhard et al. (Hrsg.), Die Marburger Medizinische Fakultät im »Dritten Reich«, München 2001. Baader, Gerhard/Schultz, Ulrich (Hrsg.), Medizin und Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit – Ungebrochene Tradition, Berlin 1980. Benz, Wolfgang/Distel, Barbara (Hrsg.), Medizin im NS-Staat: Täter, Opfer, Handlanger, Dachau 1988. Beutelspacher, Martin (Bearb.), Volk und Gesundheit. Heilen und Vernichten im Nationalsozialismus; Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen, Tübingen 1982. Bleker, Johanna/Jachertz, Norbert (Hrsg.), Medizin im Dritten Reich, Köln 1989. Böhm, Boris (Bearb.), Der sächsische Sonderweg bei der NS-»Euthanasie«, Ulm 2001. Bromberger, Barbara/Mausbach, Hans/Thomann, Klaus-Dieter, Medizin, Faschismus und Widerstand: drei Beiträge, Köln 1985. Donhauser, Johannes, Das Gesundheitsamt im Nationalsozialismus: der Wahn vom »gesunden Volkskörper« und seine tödlichen Folgen, Stuttgart 2007. Dörner, Klaus/Ebbinghaus, Angelika/Linne, Karsten (Hrsg.), Der Nürnberger Ärzteprozess 1946/47. Wortprotokolle, Anklage- und Verteidigungsmaterial, Quellen zum Umfeld. Deutsche und englische Ausgabe, im Auftrag der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. Mikrofiche-Edition und Erschließungsband, München 2000/01. Drexler, Siegmund/Kalinski, Siegmund/Mausbach, Hans, Ärztliches Schicksal unter der Verfolgung 1933-1945 in Frankfurt am Main und Offenbach. Eine Denkschrift, erstellt im Auftrag der Landesärztekammer Hessen, Frankfurt/M. 1990. Ebbinghaus, Angelika/Dörner, Klaus (Hrsg.), Vernichten und Heilen: der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen, Berlin 2001. 55 Schmidt, 2007.
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rezeptions- und kontroverse diskursgeschichte Ebbinghaus, Angelika/Kaupen-Haas, Heidrun/Roth, Karl Heinz (Hrsg.), Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg: Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik im Dritten Reich, Hamburg 1984. Eberle, Hendrik, Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, 1933-1945, Halle 2002. Fichtner, Gerhard, Die Euthanasiediskussion in der Zeit der Weimarer Republik, in: Eser, Albin (Hrsg.), Suizid und Euthanasie als human- und sozialwissenschaftliches Problem, Stuttgart 1976, S. 24-40. Forsbach, Ralf, Die Medizinische Fakultät der Universität Bonn im »Dritten Reich«, München 2006. Frei, Norbert (Hrsg.), Medizin im Nationalsozialismus, München 1988. Fuchs, Petra et al. (Hrsg.), »Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst« – Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen »Euthanasie«, Göttingen 2007. Gerst, Thomas, Der Auftrag der Ärztekammern an Alexander Mitscherlich zur Beobachtung und Dokumentation des Prozeßverlaufs. Nürnberger Ärzteprozeß und ärztliche Standespolitik, in: Deutsches Ärzteblatt 91 (1994), S. A 1606-1622/B 1200-1210/C 1037-1046. Grün, Bernd/Hofer, Hans-Georg/Leven, Karl-Heinz (Hrsg.), Medizin und Nationalsozialismus: die Freiburger Medizinische Klinik und das Klinikum in der Weimarer Republik und im »Dritten Reich«, Frankfurt/M. 2002. Hanauske-Abel, Hartmut, Medizin als Politik. Vom Nazi-Holocaust zum Nuklearen Holocaust – sind Lehren zu ziehen?, in: Die Zeit Nr. 46 vom 6.11.1987, S. 45f. Henke, Klaus-Dietmar (Hrsg.), Tödliche Medizin im Nationalsozialismus: von der Rassenhygiene zum Massenmord, Köln 2008. Hinz-Wessels, Annette, Das Robert-Koch-Institut im Nationalsozialismus, Berlin 2008. Hohendorf, Gerrit et al., Die nationalsozialistische »Aktion T4« und ihre Opfer: historische Bedingungen und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2008. Honolka, Berndt, Die Kreuzelschreiber. Ärzte ohne Gewissen. Euthanasie im Dritten Reich, Hamburg 1961. Hulverscheidt, Marion/Laukötter, Anja (Hrsg.), Infektion und Institution. Zur Wissenschaftsgeschichte des Robert-Koch-Instituts im Nationalsozialismus, Göttingen 2009. Jachertz, Norbert, Phasen der »Vergangenheitsbewältigung« in der deutschen Ärzteschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Jütte, Robert (Hrsg.), Geschichte der deutschen Ärzteschaft: organisierte Berufs- und Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1997, S. 275-288. Jäckle, Renate, Schicksale jüdischer und »staatsfeindlicher« Ärztinnen und Ärzte nach 1933 in München: Ergebnisse des Arbeitskreises »Faschismus in München – aufgezeigt am Schicksal der aus ›rassischen‹ und/oder politischen Gründen verfolgten Opfer in der Münchner Ärzteschaft«, München 1988.
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rezeptions- und kontroverse diskursgeschichte Rürup, Reinhard (Hrsg.), Gedenkbuch für die von den Nationalsozialisten aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vertriebenen Forscherinnen und Forscher, Göttingen 2008. Sachse, Carola, Biowissenschaftliche Forschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten und die Verbrechen des NS-Regimes: Informationen über den gegenwärtigen Wissensstand, Berlin 2000. Schleiermacher, Sabine/Schagen, Udo (Hrsg.), Die Charité im Dritten Reich. Zur Dienstbarkeit medizinischer Wissenschaft im Nationalsozialismus, Paderborn 2008. Schmacke, Norbert, Zwangssterilisiert, verleugnet, vergessen: zur Geschichte der nationalsozialistischen Rassenhygiene am Beispiel Bremen, Bremen 1984. Schmidt, Ulf, Karl Brandt: the Nazi doctor; medicine and power in the Third Reich, London 2007 (dt. Übersetzung Berlin 2009). Schmuhl, Hans-Walter, The Kaiser Wilhelm Institute for Anthropology, Human Heredity, and Eugenics, 1927-1945: crossing boundaries, Dordrecht 2008. Schulze, Jan (Hrsg.), Sonderheft »Ärzte und Medizin im Nationalsozialismus«, in: Ärzteblatt Sachsen 16 (2005), H. 4. Schweitzer, Arnd, Sadistische Einzeltäter oder Kollektivschuld eines ganzen Standes? 50 Jahre Berichterstattung über NS-Verbrechen von Ärzten in SPIEGEL und ZEIT, Diplomarbeit, Hochschule für Musik und Theater Hannover 1997. Seidler, Eduard, Die Medizinische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau: Grundlagen und Entwicklungen, Berlin 1991. Seidler, Eduard, Jüdische Kinderärzte 1933-1945: entrechtet, geflohen, ermordet. 2., erw. Aufl., Basel [u. a.] 2007. Thom, Achim/Caregorodcev, Genadij Ivanovic (Hrsg.), Medizin unterm Hakenkreuz, Berlin (Ost) 1989. Thom, Achim/Rapoport, Samuel Mitja (Hrsg.), Das Schicksal der Medizin im Faschismus. Auftrag und Verpflichtung zur Bewahrung von Humanismus und Frieden; internationales wissenschaftliches Symposium europäischer Sektionen der IPPNW (17.-20. November 1988, Erfurt/Weimar – DDR), Berlin (Ost) 1989. Thom, Achim/Spaar, Horst (Hrsg.), Medizin im Faschismus: Symposium über das Schicksal der Medizin in der Zeit des Faschismus in Deutschland 19331945, Berlin (Ost) 1983. Vilmar, Karsten, Die »Vergangenheitsbewältigung« darf nicht kollektiv die Ärzte diffamieren, in: Deutsches Ärzteblatt 84 (1987), S. A 1185-1197/B 847-859/C 1451-1456. Winau, Rolf/Hafner, Karl Heinz, »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens«. Eine Untersuchung zu der Schrift von Karl Binding und Alfred Hoche, in: Medizinhistorisches Journal 9 (1974), S. 227-254. Wuttke-Groneberg, Walter, Medizin im Nationalsozialismus: ein Arbeitsbuch, Tübingen 1980. Zur Nieden, Susanne, Erbbiologische Forschungen zur Homosexualität an der deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie während der Jahre des Nationalsozialismus, Berlin 2005.
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