Gabriela Stoppe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz (Hrsg.)
Volkskrankheit Depression?
Gabriela Stoppe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz (Hrsg.)
Volkskrankheit Depression? Bestandsaufnahme und Perspektiven
Mit 32 Abbildungen und 45 Tabellen
Springer
PROF. DR. GABRIELA STOPPE
DR. ANKE BRAMESFELD
Universitare Psychiatrische Kliniken Wilhelm Klein-Strasse 27 CH-4025 Basel Schweiz
ISBN-10 ISBN-13
PROF. DR. FRIEDRICH-WILHELM SCHWARTZ
Abteilung fur Epidemiologic, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg Strasse 1 30625 Hannover
3-540-31749-X Springer Medizin Verlag Heidelberg 978-3-540-31749-4 Springer Medizin Verlag Heidelberg
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Gedrucktauf saurefreiemPapier
SPIN 11662389
19/2119 w i - 5 4 3 2 1 0
Vorwort Depressionen als Volkskrankheit zu bezeichnen mag die einen befremden, die anderen mit Genugtuung denken lassen: „endlich". Diejenigen, die befremdet sind, werden denken, dass heutzutage viele Krankheiten beanspruchen „Volkskrankheiten" zu sein, so dass der Eindruck eines Modewortes entsteht. Wer oder was bestimmt, was eine Volkskrankheit ist? Diejenigen, die sich liber den Titel freuen, werden sagen, dass es an der Zeit ist, dass endlich einer psychischen Erkrankung dieser Stellenwert zuerkannt wird. Wenn auch bereits die weite Verbreitung von Depressionen in Verbindung mit ihren Auswirkungen fiir das Individuum und sein direktes Umfeld den Anspruch auf die Bezeichnung Volkskrankheit rechtfertigen, so ist spatestens seit der Global-Burden-of-Disease-Studie der WHO die immense Bedeutung von Depressionen fur Gesellschaft und Volkswirtschaft deutlich. Depressionen (hier wurde nur die so genannte „Major Depression" in die Auswertung einbezogen) sind in den Industrienationen schon heute nach ischamischen Herzerkrankungen fiir die meisten durch Behinderung beeintrachtigten Lebensjahre verantwortlich. Modellrechnungen fiir das Jahr 2020 prognostizieren, dass Depressionen eine der wichtigsten und in Zukunft mindestens die zweitwichtigste bzw. - schwerste Erkrankung weltweit ist, wenn man die damit verbundene Belastung untersucht. Der Begriff meint hier nicht nur die Beeintrachtigung der Lebensqualitat bzw. auch Lebenserwartung der betroffenen Individuen, sondern auch z.B. den Ausfall an Produktivkraft, die Belastung der Angehorigen, die Folgeschaden fur Familie und soziales Umfeld. Die Depression als eine Erkrankung, die vorwiegend das mittlere und hohere Lebensalter betrifft, fallt in einen Lebensabschnitt grofiter Produktivitat. Inzwischen haben eine Reihe von weiteren Befunden, wie der in den EU Staaten zu verzeichnende kontinuierliche Anstieg der durch Depression bedingten Arbeitsunfahigkeit, bestatigt, dass die Depression, erst Recht wenn man affektive Erkrankungen insgesamt betrachtet, nicht nur ein zentrales Thema der Gesundheitspolitik und -versorgung sein muss son-
VI dern auch von nicht zu unterschatzender Bedeutung fur andere Politikbereiche wie Arbeitsmarktpolitik oder Familienpolitik ist. Aber betrifft die Depression das ganze Volk gleichmafiig? Betrifft sie gleichermafien Kinder, Frauen, Manner, Alte, sozial Bessergestellte und Rentner? Oder ist sie eine Erkrankung die mit bestimmten Lebensumstanden allein zusammenhangt? Ist die Depression auch insofern eine Volkskrankheit, als gesellschaftliche und kulturelle Faktoren an ihrer Entstehung und ihrem Verlauf wesentlich beteiligt sind? Wie relevant sind z.B. Rollenbilder in Familie, Beruf und Alter? Wie stark wirken Arbeitsmarkt und gesellschafflich vermittelte Lebenskonzepte? Wie reagiert die Gesellschaft auf diese Krankheit? Gibt es Moglichkeiten, dieser Erkrankung vorzubeugen und werden diese wahrgenommen? Reagiert das Gesundheitssystem angemessen mit seinen Facetten, wie allgemeine und fachspezifische Therapie in Praxis und Krankenhausern, in der medizinischen Aus-, Fort- und Weiterbildung? Diesen Fragen widmet sich dieses Buch. Es soil eine Bestandserhebung sein, in der der gegenwartige - durchaus in vielen Bereichen noch liickenhafte - Wissensstand zu diesen Themen zusammengetragen wird und die Situation in Deutschland an Hand aktueller Versorgungsdaten abgebildet wird: Ausgehend vom bevolkerungsrelevanten Datenstand in Bezug auf Epidemiologic der Depressionen, Versorgungsgeschehen, Psychopharmakaverbrauch und die volkswirtschaftlichen Konsequenzen, werden fur das Verstandnis von Depressionen relevante gesellschaftliche und kulturelle Aspekte sowie die Bedeutung der Arbeitslosigkeit diskutiert. Ferner werden die Besonderheiten der Depression bei Mannern und Frauen sowie bei Alten und Kindern dargestellt. Der Zusammenhang depressiver Erkrankungen mit sowohl korperlicher als auch psychischer Komorbiditat und die fatalste Folge depressiver Erkrankung, die Selbsttotung, kommen zur Sprache. Weitere Beitrage widmen sich der Frage, was getan werden kann, um den Burden of Disease depressiver Erkrankungen zu verringern. Damit Mafinahmen diesbezuglich effektiv sind, mussen ethische Uberlegungen beriicksichtigt werden. Welche Perspektiven Gesundheitsforderung und Prevention bieten und wie Modellrechnungen aussehen, wird in weiteren Kapiteln ausgefuhrt. Schliefilich werden konkrete Perspektiven zur Verbes-
Vorwort
VII
serung der Versorgung durch Friiherkennung and Awareness, im allgemeinarztlichen und fachspezifischen Setting sowie durch Leitlinien und in der Rehabilitation aufgezeigt. Die Beitrage der Autorlnnen zeigen, dass viel getan werden muss und viel getan werden kann! Die Herausgeber danken alien Autorlnnen, die unter hohem Zeitdruck mit grofiem Engagement und sehr konstruktiv an der Entstehung dieses Buches mitgeholfen haben. Wir danken insbesondere der Gmiinder Ersatzkasse und ihrem Vorstandsvorsitzenden Dieter Hebel. Durch das nachhaltige Interesse an und Engagement fur das Thema Depression, das Bereitstellen der pseudonymisierten GEK-Datenbestande fur Analyse und Veroffentlichung und die logistische und ideelle Unterstutzung ist dieses Buch ermoglicht worden. Und wir danken jetzt schon alien, die nach Lektiire dieses Buches mit neuem Interesse, neuen Ideen und Kraft an die Versorgung depressiver Menschen in Deutschland herangehen.
Hannover und Basel im Dezember 2005
G. STOPPE A. BRAMESFELD F.-W. SCHWARTZ
Inhaltsverzeichnis 1
Einfiihrung A. BRAMESFELD, G. STOPPE
l
Daten 2
3
4
5
Epidemiologie H.-U. WlTTCHEN, F. J. JACOBI
15
Versorgungsgeschehen T.G. GROBE, A. BRAMESFELD, F.-W. SCHWARTZ
39
Psychopharmaka G.GLAESKE
99
Volkswirtschaftliche Konsequenzen K. STAMM, H.-J. SALIZE
109
Hintergrunde und Zusammenhange 6
Gesellschaftlicher Kontext A. EHRENBERG
7
Kultur M. KRAUS, E. KOCH
8
9
10
123
139
Arbeitslosigkeit H.BRENNER
163
Frauen C.KUHNER
191
Manner A. M. MOLLER-LEIMKUHLER
215
X 11
12
13
14
15
Inhaltsverzeichnis Kinder K. VON KLITZING
229
Alte G. STOPPE
245
Korperliche Komorbiditat F. LEDERBOGEN
257
Depression und Komorbiditat M.GASTPAR
277
Suizidalitat M. WOLFERSDORF
287
MaBnahmen 16
Interventionen und ethischer Kontext S. H O L M , H. BURGESS
17
18
19
20
21
22
305
Gesundheitsforderung A. BRAMESFELD
327
Prevention P. CUIJPERS, E. BOHLMEIJER, H. RIPER, F. SMIT
341
Interventionspotenziale G. ANDREWS, K. SANDERSON, R. H U D S O N
359
Friiherkennung und Awareness U. HEGERL, D. ALTHAUS, T. PFEIFFER-GERSCHEL
371
Leitlinien M. HARTER, I. BERMEJO
387
Behandlungspotenziale in der allgemeinarztlichen Versorgung J. GENSICHEN, M. PEITZ
405
Inhaltsverzeichnis 23
Behandlungspotenziale in der psychiatrischpsychotherapeutischen Versorgung M. LINDEN
24
XI
423
Rehabilitation M. LINDEN
447
Perspektiven 25
Nachwort A. BRAMESFELD, G. STOPPE, F.-W. SCHWARTZ
465
Autorenverzeichnis Dr. David Althaus Kompetenznetz Depression Klinik fiir Psychiatrie und Psychotherapie der LMU Munchen Nufibaumstrafie 7 80336 Munchen Prof. Dr. Gavin Andrews, MD School of Psychiatry University of New South Wales at St Vincent's Hospital Sydney Australien Dr. Isaac Bermejo Universitatsklinikum Freiburg Abteilung fur Psychiatrie und Psychotherapie Sektion Klinische Epidemiologic und Versorgungsforschung Hauptstrafie 5 79104 Freiburg Dr. Ernst Bohlmeijer Trimbos Institute, Netherlands Institute of Mental Health and Addiction, Da Costakade 45 Postbus 725 3500 AS Utrecht, Niederlande Dr. Anke Bramesfeld, MD Abteilung fur Epidemiologic, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg Strafie 1 30625 Hannover Prof. Dr. Harvey Brenner Department of Social and Behavioral Sciences School of Public Health University of North Texas Health Sciences Center 3500 Camp Bowie Blvd Fort Worth, Texas 76107-2699 USA
Institut fur Gesundheitswissenschaften Technische Universitat Berlin Ernst-Reuter-Platz 7 105787 Berlin Stephen Burgess Cardiff Institute of Society, Health and Ethics Cardiff University 53 Park Place Cardiff CF10 3AT Wales Grofibritannien Prof. Dr. Pirn Cuijpers Department of Clinical Psychology Vrije Universiteit Amsterdam V. d. Boechorststraat 1-3 1081 BT Amsterdam Niederlande Trimbos Institute, Netherlands Institute of Mental Health and Addiction, Da Costakade 45 Postbus 725 3500 AS Utrecht Niederlande Prof. Dr. Alain Ehrenberg Centre de Recherches Psychotropes, Sante Mentale, Societe UMR 8136 CNRS-Universite Rene Descartes Paris 5, U. 611 INSERM 45 rue des Saints-Peres 75270 Paris Cedex 06, Frankreich Prof. Dr. Markus Theodor Gastpar, MD Klinik fur Psychiatrie und Psychotherapie Klinik der Universitat Duisburg-Essen Virchowstrafie 174 45147 Essen
XIV Dr. Jochen Gensichen, MD Institut fur Allgemeinmedizin Johann Wolfgang Goethe-Universitat Frankfurt a. M. Theodor-Stern-Kai 7 D-60590 Frankfurt Prof. Dr. Gerd Glaeske Zentrum fur Sozialpolitik (ZeS) Universitat Bremen Parkallee 39 28209 Bremen Dr. Thomas G Grobe, MD Institut fur Epidemiologie Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung Lavesstrafie 80 30159 Hannover Prof. Dr. Martin Harter, MD Universitatsklinikum Freiburg Abteilung fur Psychiatrie und Psychotherapie Sektion Klinische Epidemiologie und Versorgungsforschung Hauptstrafie 5 79104 Freiburg Prof. Dr. Ulrich Hegerl, MD Psychiatrische Klinik der LMU Munchen Neurophysiologie Nufibaumstrafie 7 80336 Munchen Prof. Dr. Soren Holm, MD Cardiff Law School Cardiff University Law Building Museum Avenue Cardiff CF10 3XJ Wales Grofibritannien Dr. Richard Hudson School of Psychiatry University of New South Wales at St Vincent's Hospital Sydney Australien Dr. Frank Jacobi Institut fur Klinische Psychologic und Psychotherapie Technische Universitat Dresden Chemnitzer Strafie 46, 01187 Dresden
Autorenverzeichnis Dr. Fxkehard Koch, MD Klinik fur Psychiatrie und Psychotherapie Marburg Slid Cappeler Strafie 98 35039 Marburg Dr. Michael Kraus, MD Klinik fur Psychiatrie und Psychotherapie Marburg Slid Cappeler Str. 98 35039 Marburg PD Dr. Christine Kiihner Abteilung Genetische Epidemiologie in der Psychiatrie Zentralinstitut fur Seelische Gesundheit J5 D-68159 Mannheim Dr. Florian Lederbogen, MD Klinik fur Psychiatrie und Psychotherapie Zentralinstitut fur Seelische Gesundheit J5 D-68159 Mannheim Prof. Dr. Michael Linden, MD Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation an der Charite und dem Rehabilitationszentrum Seehof Lichterfelder Allee 55 14513 Teltow/Berlin PD Dr. Anne Maria Moller-Leimkuhler Psychiatrische Klinik der Ludwig-MaximiliansUniversitat Nufibaumstrafie 7 80366 Munchen Dr. Monika Peitz, MD Institut fur Allgemeinmedizin Johann Wolfgang Goethe-Universitat Frankfurt a. M. Theodor-Stern-Kai 7 D-60590 Frankfurt a. M. Tim Pfeiffer-Gerschel Kompetenznetz "Depression, Suizidalitat" European Alliance Against Depression (EAAD) Klinik fur Psychiatrie und Psychotherapie der LMU Munchen Nufibaumstrafie 7 D-80336 Munchen
Autorenverzeichnis Dr. Helen Riper Trimbos Institute, Netherlands Institute of Mental Health and Addiction Da Costakade 45 Postbus 725 3500 AS Utrecht Niederlande PD Dr. Hans Joachim Salize Versorgungsforschung Zentralinstitut fur Seelische Gesundheit, J 5 D-68159 Mannheim Dr. Kristy Sanderson School of Public Health Queensland University of Technology Brisbane, Australien Prof. Dr. Friedrich-Wilhelni Schwartz, MD Abteilung fur Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg Strafie 1 30625 Hannover Dr. Filip Smit Department of Clinical Psychology Vrije Universiteit Amsterdam V.d.Boechorststraat 1-3 1081 BT Amsterdam Niederlande Trimbos Institute, Netherlands Institute of Mental Health and Addiction Da Costakade 45 Postbus 725 3500 AS Utrecht Niederlande Klaus Stamm Versorgungsforschung Zentralinstitut fur Seelische Gesundheit J5 D-68159 Mannheim Prof. Dr. Gabriela Stoppe, MD Universitare Psychiatrische Kliniken Wilhelm Klein-Strafie 27 CH-4025 Basel Schweiz
XV Prof. Dr. Kai von Klitzing, MD Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik Basel (KJPK) Schaffhauserrheinweg 55 CH - 4058 Basel Schweiz Prof. Dr. Hans-Ulrich Wittchen Institut fur Klinische Psychologie und Psychotherapie Technische Universitat Dresden Chemnitzer Strafie 46, 01187 Dresden Prof. Dr. Manfred Wolfersdorf, MD Bezirkskrankenhaus Bayreuth Klinik fur Psychiatrie und Psychotherapie Nordring 2 95445 Bayreuth
Kapitel 1
1
Einfuhrung
Anke Bramesfeld, Hannover, Gabriela Stoppe, Basel Depressionen sind die haufigste psychische Stoning im erwachsenen Alter. Im Jahr 2003 waren Depressionen die haufigste Ursache fur Berentung wegen verminderter Erwerbsfahigkeit, direkt gefolgt von sonstigen Krankheiten der Wirbelsaule und des Riickens (VDR-Verband Deutscher Rentenversicherungstrager 2004). Nach Schatzungen der Weltgesundheitsorganisation gehoren Depressionen zu den Hauptursachen fur durch Behinderung verlorene Lebensjahre (WHO-OMS 2001). In Deutschland konnte in den letzten Jahren ein stetiger Zuwachs der Diagnose Depression als Grund fur Arbeitsunfahigkeit und als Diagnose wahrend einer stationaren Behandlung beobachtet werden (Grobe und Doming 2003). Damit sind Depressionen eine der wichtigsten Erkrankungen unserer Zeit mit erheblichem Einfluss auf Gesellschaft und Gesundheitswesen. 1.1
Entstehung
Obwohl affektive Erkrankungen in den letzten Jahren im Fokus der empirisch-psychiatrischen Forschung gestanden haben, ist das Wissen iiber die Ursachen der Entstehung und des Verlaufs luckenhaft (Berger 1999). Sicher ist, dass es sich bei der Entwicklung von depressiven Storungen um ein multikausales Geschehen handelt, wobei - wie im integrativen pathogenethischen Model von Akiskal, Whybrow und McKinney dargestellt von einer gegenseitigen Beeinflussung der beteiligten Faktoren ausgegangen wird. Wichtige Faktoren fur die Entstehung einer Depression umfassen demnach (siehe Abbildung 1.1): •
Genetik: Die Bedeutung von genetischen Faktoren als pradisponierend fur eine depressive Erkrankung ist mittlerweile relativ gut nachgewiesen. Fur Angehorige ersten Gerades eines depressiv Erkrankten wird das Erkrankungsrisiko als etwa eineinhalb bis doppelt so hoch eingeschatzt wie in der nicht belasteten Bevolkerung (Berger 1999).
Anke Bramesfeld, Hannover, Gabriela Stoppe, Basel •
Kindliche Entwicklung: Die Lebenssituation von depressiven Menschen ist haufig von vermehrten Konflikten, Scheidung, Verlusten, Suizid und anderen Schwierigkeiten gepragt. Diese Umstande mogen dazu beitragen, dass das Risiko, depressiv zu erkranken, fur Kinder depressiver Eltern, die in ihrer kindlichen Entwicklung den erschwerten Lebensbedingungen der Eltern ausgesetzt sind, ebenfalls erhoht ist (Akiskal 1995). Ebenso sei an dieser Stelle auf die nicht unerhebliche Bedeutung von Gewalterfahrung und sexuellen Missbrauch in Kindheit und Jugend fur das Depressionsrisiko hingewiesen (Kuehner 2003) Temperament: Viele Menschen, die eine Depression entwickeln, leiden vorher an einem melancholischen Temperament. Dieses Temperament kann als Teil der allgemeinen genetisch determinierten Vulnerabilitat verstanden werden. Gleichzeitig erleben melancholische Menschen haufiger interpersonelle Spannungen, Aufregung, Krankung sowie auch Schlafstorungen und sind so Stressoren, welche das Auftreten depressiver Storungen fordern, vermehrt ausgesetzt (Akiskal 1995). Lebensereignisse: Wahrend die meisten Menschen auch unter schweren Lebensereignissen nicht klinisch depressiv werden, ist das Risiko hierfur bei Personen mit genetischer Vulnerabilitat erhoht. Belastende Lebensereignisse fungieren, zumindest am Anfang einer depressiven Erkrankung, als Ausloser. Eine besondere Rolle spielt hierbei das Thema Verlust. Biologische Stressoren: Sowohl physische Erkrankungen, wie z.B. eine Schilddrusenunterfunktion, als auch pharmakologische Substanzen konnen bei bestehender Disposition Depressionen auslosen. Von besonderer Relevanz ist in diesem Zusammenhang die hohe Komorbiditat depressiver Erkrankungen mit sowohl anderen psychischen Storungen, insbesondere Angsterkrankungen, als auch somatischen, z.B. kardiovaskularen Erkrankungen. Geschlecht: Frauen sind in etwa doppelt so haufig von einer Depression betroffen wie Manner. Mogliche Ursachen hierfiir sind vielschichtig und werden z.B. auf hormonelle Einflusse und einen anderen Umgang mit Emotionen sowie die Lebensumstande von Frauen zuruckgefuhrt (Kuehner 2003). Neurobiologie: Auf der Basis der Ergebnisse der neurobiologischen Forschung der letzten Jahrzehnte ist heute davon auszugehen, dass neurochemische Storungen der Reizubertragung im Gehirn von rele-
Einfuhrung
3
vanter Bedeutung fur das Auftreten des Krankheitsbildes der Depression sind. Als ausschlaggebend werden dabei vor allem Imbalancen zwischen aminergen und cholinergen Transmittern gesehen. In wieweit diese Transmitter-Imbalancen, Korrelat oder Folge emotionaler, kognitiver und korperlicher Vorgange sind oder aber ihre Ursache, ist dabei nicht geklart; vielmehr wird von einer gegenseitigen Beeinflussung zwischen Neurochemie und depressiver Symptomatik ausgegangen, stellt doch Depressivitat selbst einen massiven zentralnervosen Stressor dar (Berger 1999). Genetische Prddisposition
Kindheitsereignisse
Geschlecht
Stressoren
Temperament
Neurobiologische Storung
i
Depressive Erkrankung
Abb. 1.1:
Integratives pathogenetisches Model nach Akiskal, Whybrow und McKinney (Akiskal 1995)
1.2
Symptomatik
Grundsatzlich kennt jeder Mensch depressive Gefuhlsstimmungen und depressive Symptome. Sie gehoren in einem gewissen Mafi zum normalen Gefiihlsleben dazu. Eine depressive Erkrankung unterscheidet sich jedoch von diesen als normal zu bezeichnenden Stimmungstiefs durch Anzahl, Intensitat, Qualitat und Dauer der depressiven Symptome sowie durch
Anke Bramesfeld, Hannover, Gabriela Stoppe, Basel
4
daraus resultierende Einschrankungen im Vermogen den taglichen Verrichtungen des Alltags nachzugehen. Wahrend es auf der einen Seite depressive Zustande gibt, die auf Grund ihrer Symptomatik und Funktionseinschrankung eindeutigen Krankheitswert haben und auf der anderen Seite depressiv getonte Stimmungslagen, die eindeutig zum Gesunden gehoren, existiert dazwischen ein breites Gebiet, in dem die Abgrenzung krank und gesund fiiefiend ist und letztendlich Definitionssache (Abbildung 1.2). hoch Normale Stimmungsschwankungen I Anhaltende Stimmungsveranderung I Anhaltende Stimmungsveranderung I Beeintrachtigung der Aktivitaten I des taglichen Lebens
I I
tief Stimmung
Depressive Episode
Schwere der Symptome
Abb. 1.2:
Kontinuum depressiver Symptomatik in der Bevolkerung (WHOOMS 2001)
So unterscheiden sich die Definitionen fur Depression des derzeit gultigen Klassifikationssystems der American Psychiatric Association (Diagnostical and Statistical Manual of Mental Diseases, DSM-IV) und die von der Weltgesundheitsorganisation entwickelte, und in Deutschland gebrauchliche Internationale Klassifikation psychischer Storungen (ICD-10, Kapitel V) hinsichtlich ihrer Betonung der somatischen Beschwerden. Obgleich ansonsten beide Diagnosesysteme auf der Bewertung von qualitativen und quantitativen Aspekten der Symptomreprasentation basieren und dabei atiologische Konzepte (z.B. neurotisch, reaktiv, endogen) nicht mehr beriicksichtigen, fuhrt dies im Grenzgebiet gesund/krank zu unterschiedli-
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5
chen Ergebnissen. So kornmen z.B. Pravalenzerhebungen mit beiden Klassifikationssystemen fiir Depressionen im Alter, bei denen die somatischen Beschwerden besonders prominent sind, zu unterschiedlichen Ergebnissen (Henderson et al. 1993). Auch wenn depressive Erkrankungen in erster Linie als Erkrankung des Gefuhlslebens beschrieben werden, gehen sie auch mit erheblichen Storungen im Denken und im korperlichen Bereich einher (siehe auch Abbildung 1.3). Die Beschwerden des Gefuhlsleben umfassen Niedergeschlagenheit, Angst, Gefuhle der Hoffungs- und Sinnlosigkeit, Verlust der Freud- und Erlebnisfahigkeit. Depressive Menschen leiden an Lust- und Antriebslosigkeit (einschliefilich Verlust der Libido) mit nachfolgendem sozialen Riickzug. Gleichzeitig konnen aber auch Agitiertheit und innere Unruhe bestehen. Im Extremfall kommt es zum Verlust des Lebenswillens und zu Selbsttotungsversuchen. Dariiber hinaus gehen depressive Erkrankungen auch mit Veranderungen im kognitiven Bereich, wie Konzentrationsstorungen, Gedankenkreisen und negativen Selbstattribuierungen einher. In schweren Erkrankungsfallen kann es auch zu wahnhaftem Erleben kommen, dessen Inhalte typischerweise nicht paranoide sondern selbstbezichtigende Gedanken oder Sorgen um den eigenen Untergang (z.B. Verarmungswahn) sind. Auf der korperlichen Ebene konnen Beschwerden gegensatzlicher Art auftreten. So leiden depressive Menschen haufig unter Storungen des Schlafrhythmus, was sowohl zu Schlaflosigkeit und Fruherwachen als auch zu einem vermehrten Schlafbedurfnis fuhren kann. Der Appetit ist meist vermindert, in einigen Fallen jedoch ist das Essbediirfnisses gesteigert. Dariiber hinaus konnen eine Vielzahl von korperlichen Missempfindungen beklagt werden, unter anderem Klofigefuhl im Hals, Herzrasen, Druckgefuhl liber der Brust. Sie sind haufig schwierig von somatischen Erkrankungen abzugrenzen.
Anke Bramesfeld, Hannover, Gabriela Stoppe, Basel
Abb. 1.3:
Das Konzept der depressiven Episode nach ICD-10 (Laux 2002)
1.3
Krankheitsformen
In die heute gebrauchlichen Krankheitsdiagnosen nach ICD-10 und DSM IV geht kein atiologisches Konzept mehr ein, sondern sie definieren sich ausschliefilich syndromal anhand der Symptomatik. Das bedeutet, dass friiher ubliche Kategorien wie endogen, neurotisch oder reaktiv aufgegeben wurden. Die wichtigsten Diagnosen, die zu den depressiven Syndromen gezahlt werden, sind folgende: •
depressive Episode (ICD-10) bzw. Major Depression (DSM-IV),
•
rezidivierende depressive Storungen
•
Dysthymia
•
depressive Anpassungsstorungen
Eine depressive Episode ist in der Regel durch eine Mindestdauer der Beschwerden von zwei Wochen gekennzeichnet. Sie werden in leichte, mittelgradige und schwere Episoden unterschieden. Wahrend die Starke der
Einfuhrung
7
einzelnen Symptome bei einer leichten depressiven Episode zwar zu einem Leidensdruck und Beschwernis im Alltag, nicht jedoch zum vollstandigen Aufgeben der Alltagsaktivitaten fuhrt, sind die Symptome bei einer schweren Episode vermehrt, starker und bedrohlicher (z.B. Suizidgedanken oder Wahnerleben). Ein Fortfuhren der sozialen, beruflichen und privaten Alltagsaktivitaten ist sehr unwahrscheinlich (Dilling et al. 1991). Unbehandelt betragt die Dauer einer depressiven Episode mehrere Monate, kann aber in der Mehrzahl der Falle durch adaquate Therapie verkiirzt werden. Nur bei ca. 15 bis 20 % dauert eine depressive Episode langer als 12 Monate und neigt damit zur Chronifizierung (Berger 1999). Bei den meisten Betroffenen wiederholen sich depressive Episoden. Fiinf Jahre nach einer ersten depressiven Episode haben ca. 75% der Betroffenen bereits eine zweite durchlitten (Statistisches Bundesamt 1998). Patienten, die wiederholt depressiv erkranken, weisen meist einen Krankheitsbeginn im jungeren Alter auf, haben Familienangehorige, die ebenfalls depressiv erkrankt waren oder sind und berichten von einem melancholischen Temperament oder einer Dysthymia in der Vorgeschichte (Akiskal 1995). Die mittlere Dauer der krankheitsfreien Intervalle zwischen einzelnen depressiven Episoden betragt ca. vier bis fiinf Jahre. Mit Zunahme der Episodenanzahl verkiirzen sich jedoch diese Intervalle. Diese rezidivierenden depressiven Storungen sind besonders im Alter haufig, was auf ein Fortbestehen depressionsunterhaltender Faktoren und ungeniigende Erkennung und Behandlung zuriickgefuhrt wird. Dysthymien sind chronische depressive Verstimmungen leichterer Art, die niemals oder nur selten ausgepragt genug sind, um sie als depressive Episode zu klassifizieren. Sie dauern mindestens zwei Jahre lang, und beginnen in der Regel im fruhen Erwachsenenalter (Dilling et al. 1991). In 10-25 % kommt es dariiber hinaus im Verlauf auch zu wiederholten depressiven Episoden. Man spricht dann auch von einer Doppeldepression. Aufgrund ihres fruhen Beginns und ihrer Chronizitat gehen Dysthymien mit einer ungiinstigen Sozialprognose einher (Berger 1999). Als Anpassungsstorung wird eine voriibergehende Reaktion auf eine konkrete psychosoziale Belastung verstanden, die u.a. in Form leichterer depressiver Zustande erfolgen kann. Die Storung beginnt meist innerhalb eines Monats nach dem belastenden Ereignis und halt nicht langer als sechs Monate, in Extremfallen bis maximal zwei Jahre an (Dilling et al. 1991).
8
Anke Bramesfeld, Hannover, Gabriela Stoppe, Basel
Rezidivierende kurze depressive Storungen sind kurze aber intensive depressive Zustande, die typischerweise nur wenige Tage anhalten und im vorangegangenem Jahr ca. einmal im Monat auftraten (Dilling et al. 1991). Sie sind eine relativ neue diagnostische Kategorie und werden entsprechend diskutiert. Wir erwahnen sie vor allem wegen ihrer hohen Rate von Suizidversuchen. Weitere Auftretensformen: Dariiber hinaus kommen depressive Syndrome als Teil anderer psychiatrischer Krankheitsdiagnosen vor. Dies betrifft unter anderem die bipolar affektiven Storungen, die durch ein Abwechseln von manischen und depressiven Phasen gekennzeichnet sind. Treten ausschliefilich depressive Phasen mit nur geringen maniformen Abschnitten auf, werden diese auch als Bipolar-II-Storungen in der Wissenschaft bezeichnet. Depressionen treten auch im Rahmen organischer Hirnerkrankungen auf, insbesondere bei Demenzen, nach Schlaganfallen oder aufgrund von anderen Schadigungen oder Funktionsstorungen des Gehirns. Depressive Storungen konnen gemeinsam mit Angstsymptomen auftreten, als Angst und depressive Storung gemischt oder aber auch im Rahmen von wahnhaften Storungen als schizodepressive Storung.
1.4
Verlauf und Krankheitsausgang
Vor der Adoleszenz treten depressive Erkrankungen nur sehr selten auf (Schuster 2001), wenngleich auch depressive Symptome haufig sind (siehe v. Klitzing, Kapitel 11, Kinder). Mit der Pubertat steigen dann die Erkrankungsraten stetig an und erreichen Ihr Maximum etwa Mitte Dreifiig. Ca. 50 % aller Erstmanifestationen treten vor dem 40. Lebensjahr auf, wahrend im hoheren Lebensalter die Wahrscheinlichkeit einer Erstmanifestation wieder sinkt (Berger 1999). Depressive Storungen gehen mit erheblichen Behinderungen einher: Sowohl klinisch depressive Menschen als auch Menschen mit lediglich erhohter depressiver Symptomatik leiden unter einer verringerten Leistungsfahigkeit, einem zumindest subjektiv schlechteren Gesundheitszustand und mehr Schmerzen. Menschen mit einer manifesten depressiven Erkrankung hatten in amerikanischen Studien ein funffach erhohtes Risiko, erwerbsunfahig zu werden, wahrend Menschen mit subklinischer depressiver Symptomatik immer noch ein ein-einhalbfach erhohtes Risiko aufwiesen (Akiskal 1995,Blazer 1995). Dies weist auf die Bedeutung des gesamten depressiven Spektrums inklusive formal subklinischer Falle hin. Bei der gegenwartigen Operationalisierung von Depressionen unter Einbe-
Einfuhrung
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ziehung von Schwellenwerten verdient dies besondere Beachtung (siehe Wittchen und Jacobi, Kapitel 2, Epidemiologie). Insgesamt weisen depressive Menschen eine hohere Sterblichkeit auf. Diese wird nicht nur durch Suizide verursacht, sondern auch durch ein vermehrtes Sterben sowohl an anderen unnaturlichen Ursachen wie Unfallen, als auch an korperlichen Ursachen (Joukamaa et al. 2001). Es wird angenommen, dass ca. drei bis vier Prozent der depressiv erkrankten Menschen sich im Verlauf das Leben nehmen und dass ein Grofiteil der Suizidopfer depressiv erkrankt war (Statistisches Bundesamt 1998). Bei den korperlichen Todesursachen ist insbesondere die erhohte Mortalitat depressiver Menschen durch kardiovaskulare Erkrankungen von Bedeutung (Wulsin et al. 1999). 1.5
Versorgung
Depressionen konnen in den meisten Fallen ambulant behandelt werden. Die wichtigste Quelle zur Fruherkennung und Einleiten einer Behandlung ist der Hausarzt. Im Vergleich zur spezialisierten psychiatrischpsychotherapeutischen Behandlung befinden sich weit mehr depressive Patienten in hausarztlicher als in nervenarztlicher Betreuung und die Pravalenz krankheitswertiger depressiver Syndrome in den Hausarztpraxen betragt ca. 11 % (Wittchen et al. 2001). Der psychiatrisch-psychotherapeutische Fachbereich sieht letztendlich nur eine Minderzahl an Depressionskranken. An Behandlungsmafinamen werden im ambulanten und stationaren Bereich gegenwartig vor allem medikamentose Therapien mit Antidepressiva sowie Psychotherapien als angemessen bewertet. In bestimmten psychiatrischen Zentren besteht dariiber hinaus auch die Moglichkeiten fur bestimmte Indikationen Elektrokrampftherapie und Schlafentzugstherapie einzusetzen. Insgesamt wird nur eine Minderzahl der durch Depression betroffenen Personen medizinisch erreicht. In einer deutschen Bevolkerungsuntersuchung gaben 45 % der als depressiv Diagnostizierten an, niemals irgendwelche Gesundheitsleistungen fur ihre Depression in Anspruch genommen zu haben (Friemel et al. 2005). In hausarztlichen Praxen werden viele depressive Erkrankungen nicht als solche erkannt. Insbesondere Depressionen auf der Schwelle zwischen gesund und krank und bei Auftreten im Zusammenhang mit korperlichen Erkrankungen erweisen sich hierbei als problematisch (Wittchen et al. 2001). Das Potenzial fur eine Verbesserung
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10
der Versorgung depressiver kranker Menschen muss daher als erheblich eingeschatzt werden (Abbildung 1.4). Behandlungsbedürftige Behandlungsbedürftige Depressionen Depressionen Gesamtzahl Gesamtzahl ca 4 Mio. ca.
In hausärztlicher hausärztlicher In Behandlung Behandlung
Als Depression Depression
2,4 --2,SMio. 2,4 2,8 Mio.
diagnostiziert diagnostiziert 1,2 --1,4 1,2 1,4 Mio.
60-70%
t t Abb. 1.4:
30-35%
Suffizient Suffizient behandelt behandelt 240 --360 240 360
Tausend
6-9%
Monaten Nach 3 Monaten Behandlung compliant compliant Behandlung 100 --160 100 160
Tausend
2,5-4%
Hausärzten Optimierungsspielraum durch Fortbildung und Kooperation Kooperation mit mit Hausärzten Optimierungsspielraum
Optimierungsspielraum durch bundesweite Awareness-Programme Awareness-Programme Optimierungsspielraum Kompetenznetz “Depression, “Depression © Kompetenznetz Suizidalität” Suizidalität”
Optimierungsspielraum in den Bereichen Diagnose und Behandlung depressiver Erkrankungen, Kompetenznetz "Depression, Suizidalitat"
Einfuhrung
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Depressionen werden heute als Ergebnis komplexer Wechselwirkungen aus Veranlagung, (biographischen) Erfahrungen, korperlicher Gesundheit und sozialer Situation verstanden. In der Psychiatrie werden, aus Forschungs- und Behandlungsgrunden verschiedene Formen depressiver Krankheit unterschieden. Depressive Erkrankungen gehen mit einer hohen Wiedererkrankungsrate und einem Risiko zur Chronifizierung einher sowie mit einer erhohten Sterblichkeit, unter anderem aufgrund von Selbsttotungen aber auch vor dem Hintergrund einer insgesamt erhohten Mortalitat. •
Offensichtlich ist es entscheidend, dass das Entwickeln von depressiven Erkrankungen vermieden wird oder aber Depressionen bereits fruhzeitig effektiv und suffizient behandelt werden.
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Daten
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Kapitel 2
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Epidemiologie
Hans-Ulrich Wittchen, Frank Jacobi, Dresden
2.1
Einleitung
Nur wenige diagnostische Begriffe sind potenziell in der Lage so viel Konfusion zu stiften wie das Wort Depression. Dies liegt weniger an den durchaus zuverlassigen und trennscharfen diagnostischen Kriterien fur depressive Erkrankungen, wie sie international seit den 90er Jahren in der klinischen, epidemiologischen und Public-Health Forschung verwendet werden (Wittchen et al., 2000), sondern daran, dass diese Definitionen und Kriterien noch keinen breiteren Eingang in die klinische Praxis und Offentlichkeit gefunden haben. Begriffe wie „depressiv" und „Depression" sind somit kein verlasslicher Ausdruck fur eine „behandlungsbedurftige psychische Stoning", sondern lediglich „Platzhalter" fur viele Formen von negativen Befindlichkeiten, sei es im Zusammenhang mit sozialen Stressereignissen und Belastungssituationen, Konflikten oder akuten bzw. chronischen medizinischen Leiden. Hinzu kommt erschwerend, dass in den 80er und 90er Jahren die traditionellen Begrifflichkeiten wie „Neurotische, bzw. Endogene Depression" aus inhaltlichen Griinden durch die neutralere deskriptive Terminologie „depressive Storung" abgelost wurde. Der damit verbundene konzeptuelle und prozedurale Wechsel ist aber bis heute in Deutschland bislang nur zogerlich vollzogen worden. Vor diesem Hintergrund begrifflicher Konfusion ist es fur das Verstandnis der folgenden epidemiologischen Daten essenziell, zu erlautern, was die neueren nationalen und internationalen Studien unter Depression verstehen (vergleiche auch Kapitel 1, Einfuhrung). In der epidemiologischen Forschung werden depressive Storungen seit den 80er Jahren nach den Kriterien des DSM-III, DSM-III-R bzw. DSM-IV (APA, 1980, 1987, 1994; Safi et al., 1996) sowie der ICD-10 (WHO, 1993) als „Major Depression" (bzw. in der ICD-10 Terminologie „typische depressive Episode") sowie „Dysthymie" klassifiziert. Bei der Major Depres-
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Hans-Ulrich Wittchen, Frank Jacobi, Dresden
sion wird oftmals eine feingliedrigere Unterteilung nach Schweregraden (leicht, mittel, schwer), Verlauf (einzelne Episode versus, rezidivierend) sowie bestimmten Merkmalen (Melancholie) vorgenommen. Die reliable und valide Beurteilung depressiver Storungen erfordert in der Regel den Einsatz strukturierter und standardisierter diagnostischer Interviews (Wittchen, 2001a). Der alleinige Einsatz von Fragebogen oder klinischen Fremdbeurteilungsskalen wird ebenso wie die klinische RoutineDiagnostik wegen der mangelhaften Zuverlassigkeit abgelehnt. Fragebogen fuhren zumeist zu einer Uberschatzung der wahren Pravalenz, wahrend ftir die arztliche Routinediagnostik sowohl Uber- wie auch Unterschatzungen dokumentiert sind. Fragebogen bilden zwar gut das aktuelle, vom Patienten erlebte Ausmafi an Depressivitat ab; diese ist jedoch diagnostisch unspezifisch und spiegelt in erster Linie „Befindlichkeit" wider. Diagnostische Interviews hingegen bilden in einem einfachen strukturierten Befragungs- und Beurteilungsprozess schrittweise die komplexere algorithmische diagnostische Struktur mit den wichtigsten differentialdiagnostischen Erwagungen sowohl auf der Symptom- wie auch der Diagnoseebene ab. Dabei wird z.B. die erforderliche Zeitdauer und Persistenz diagnostischer Merkmale ebenso uberpriift wie das Vorliegen von differentialdiagnostischen Ausschlussgriinden. Beispiele hierfur sind, dass die Diagnose einer Major Depression oder Dysthymic zwingend erfordert, dass ausgeschlossen wurde, dass es sich um eine Trauerreaktion, die pathophysiologische Folge somatischer Erkrankungen oder Faktoren bzw. von Substanzen oder Medikamenten handelt. Daruber hinaus ist zu beachten, dass Depressionen im Rahmen bipolarer (friiher manisch-depressiver) Erkrankungen nicht als Depression, sondern als Bipolare Stoning klassifiziert werden. Die Abbildung 2.1 zeigt zur Verdeutlichung, dass unterschiedlichen Erhebungsstrategien und Definitionen substanzielle Auswirkungen auf die Pravalenzschatzung haben. Depressive Symptome oder voriibergehende Depressivitat (untere Ebene Abb. 2.1), wie sie zum Beispiel als konstituierende Merkmale des depressiven Syndroms iiber Fragebogen bzw. einer depressiven Erkrankung erfasst werden, sind mit iiber 26% viermal haufiger wie der Anteil der Personen, der die strikten DSMIV Kriterien einer Major Depression mit alien Kriterien erfullt (8%).
Epidemiologie
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• Depressive Erkrankung (DSM-IV) • Depressive Syndrome • Depressive Symptome
Abb. 2.1:
Die Pyramide depressiver Beschwerden: Von depressiven Symptomen zur klinischen Depression.
Der Einsatz strukturierter klinisch-diagnostischer Interviews ist iibrigens nicht nur auf epidemiologische Bevolkerungs-Untersuchungen begrenzt, sondern wird wegen der dokumentierten Unzuverlassigkeit klinischer Routinediagnosen auch im klinischen Kontext zumindest im Rahmen von Stichproben empfohlen, zum Beispiel bei der Abschatzung der administrativen Pravalenz im hausarztlichen Bereich bzw. der Pravalenz im spezialisierten ambulanten und stationaren Versorgungssektor 2.2
Wie haufig sind depressive Erkrankungen?
Da in alien Bereichen der Versorgung davon ausgegangen werden kann, dass Depressionen haufig weder erkannt, noch diagnostiziert und behandelt werden, sind Stichprobenuntersuchungen in der Allgemeinbevolkerung als aussagekraftigste Studienform anzusehen. Seit 1980, dem Jahr der Einfuhrung von expliziten diagnostischen Kriterien in die Klassifikationssysteme, wurden liber 30 derartige representative Bevolkerungs-Studien durchgefuhrt, die auf expliziten diagnostischen Kriterien aufbauen. Tabelle 2.1 gibt einen Uberblick tiber die Studienlage nach Autor, Ort und Methode. Diese Untersuchungen umfassen nationale und regionale Quer-
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schnitts-Untersuchungen in der Allgemeinbevolkerung zur Feststellung der Lifetime- und Querschnittspravalenz. Die sog. Lifetime-Pravalenz gibt an, welcher Bevolkerungsanteil bis zum Untersuchungszeitraum jemals von einer Depression betroffen war; als Querschnittsmafi wird zumeist die 12-Monats-Pravalenz (Prozentsatz derer, die in den vergangenen 12 Monaten betroffen waren), seltener die 4 oder 2 Wochen Pravalenz berechnet. Ungeachtet einer, zumeist durch methodische Unterschiede (Altersspektrum, Sampling, Statistik etc.) zwischen den einzelnen Untersuchungen bedingten Variationsbreite (siehe hierzu Wittchen und Jacobi 2005, Jacobi et al., 2005), ergibt sich liber alle Studien hinweg ein recht konsistentes Bild fur depressive Storungen insgesamt sowie fur die Major Depression im Besonderen. Bezogen auf die erwachsene Durchschnittsbevolkerung (Alter 18-65) berechneten Wittchen und Jacobi (2005) fur die europaischen Lander eine 12-Monatspravalenz der Major Depression von 6,9% (Median; Interquartilsbereich: 4,8-8,0), die 2-4 Wochen Querschnittspravalenz kann auf 3% geschatzt werden. Das angenaherte Lebenszeitrisiko an einer Depression zu erkranken, wird aufgrund der Lifetime-Daten konservativ auf mindestens 14 Prozent geschatzt. Die Pravalenzschatzungen fur die Dysthymie erscheinen variabler mit 12-Monatspravalenzen von 0,8-4,5%. Fiir Deutschland kann somit davon ausgegangen werden, dass ca. 5-6 Millionen Bundesblirger pro Jahr von einer Depression betroffen sind, bezogen auf Europa konnen wir aufgrund dieser Analyse von ca. 20 Millionen betroffenen EU-Biirgern ausgehen.
Voll- strukturierte Interviews Regier et al., 1988; Weissman et al., 1991 Bland et al., 1988a, b Wells etal., 1989; Oakley-Browne et al., 1989 Wittchen et al., 1992 Szadoczky et al., 1998 Kessler etal., 1994b; Blazer et al., 1994 Tabelle wirtl fortgesetzt
Halb-strukturierte Interviews Weissmand and Myers, 1978 Faravelli et al., 1990 Angst, 1996 Faravelli et al., 2004a, b Bebbington et al., 1981 Mavreas et al., 1986 Hodiamont et al., 1987 Vazquez-Barquero et al., 1987 Lehtinen et al., 1990 Roca et al., 1999 Ayuso-Mateos et al., 2001
-
2.6 4.9
2.5
3.9 4.5 6.4
3.0 7.1 10.3
DIS/DSM-III DIS/DSM-IIIR CIDI/DSM-IIIR
9.0 15.1 17.1
Former West Germany Hungary USA (NCS)
3.7 6.4 2.3 3.2 5.3
8.6 12.6
DIS/DSM-III Edmonton, Canada Christchurch, New Zealand DIS/DSM-III
-
-
3.1 0.3-1.1 0.5-2.9 0.9-1.5 0.5 0.2-0.3
-
-
-
0.8a
0.9
1.5
-
1.0a
3.3
16.1 9.5
3.0
-
2.2
-
-
3.7a 2.8a 1.5 2.7a 7.0b 7.4b 5.4b 6.2b 4.6b 1.6 4.1-4.7 6.2-8.9 7.0-8.4 1.8 4.8-15.0
3.0
6.3 7.3 3.4
18.0
1-Monat
5.8
SADS/RDC SADS/DSM-III SPIKE/DSM-III FPI/DSM-IV PSE/ICD-9 PSE/ICD-9 PSE/ICD-9 PSE/ICD-9 PSE/ICD-9 SCAN/ICD-10 SCAN/ICD-10
Pravalenz Dysthymie 6-12 Monate Lifetime
DIS/DSM-III
USA (ECA; 5 samples)
Naw Haven, USA Florence, Italy Zurich, Switzerland Florence, Italy Camberwell, UK Athens, Greece Nijmegen, the Netherlands Santander, Spain Finland (2 samples) Formentera, Spain Finland (2 samples) Ireland (2 samples) Norway (2 samples) Santander, Spain UK (2 samples)
Tab. 2.1: Uberblick uber die Pravalenzbefunde depressiver Storungen (adaptiert aus Jacobi et al., 2005) Pravalenz Major• depression Lifetime 6-12 Monate 1-Monat
Pravalenz >ysthymie 6-12 Monate Lifetime 0.8 2.3 6.3
Parikh et al., 1996 BijletaL, 1998 Wang et al., 2000 Kringlen et al, 2001 Sandanger et al., 1999 Abou-Salehetal.,2001
1-Monat CIDI/DSM-IIIR Ontario, Canada 1.6 CIDI/DSM-IIIR The Netherlands CIDI/DSM-IIIR USA (MIDUS) 3.8 10.0 CIDI/DSM-IIIR Oslo (Norway) CIDI/ICD-10 Norway (2 samples) CIDI/ICD-10 Al Ain (United Arab. Emirates) 1.4 1.1 4.3 4.5 7.1 16.8 Andradeetal.,2002 CIDI/ICD-10 Sao Paulo, Brazil 0.9 1.1 3.2 6.3 CIDI/DSM-IV Australia Andrews etal., 2001 16.2 6.6 CIDI/DSM-IV USA (NCS-R) Kessleretal., 2003 2.3a CIS-R/ICD-10 Great Britain Jenkins et al., 1997 5.5a CIS-R/ICD-10 Santiago, Chile Araya et al., 2001 3.6 4.5 4.5 3.4 8.3 14.8 M-CIDI/DSM-IV Germany Jacobi et al., 2004a,b 4.1 1.1 Belgium, France, Germany WMH-CIDI/ 3.9 12.8 The ESEMeD-MHEDEA 2000 DSM-IV Italy, The Netherlands, Investigators, 2004a Spain ECA: Epidemiologic Catchment Area Study; NCS: National Comorbidity Survey; MIDUS: Midlife Development in the United States survey; SADS: Schedule for Affective Disorders and Schizophrenia (Endicott and Spitzer, 1978); SPIKE: Structured Psychopathological Interview and Rating of the Social Consequences for Epidemiology (Angst et al., 1984); FPI: Florence Psychiatric Interview (Faravelli et al., 2001); PSE: Present State Examination (Wing et al., 1974); SCAN: Schedules for Clinical Assessment in Neuropsychiatry (Wing et al., 1990); DIS: Diagnostic Interview Schedule (Robins et al., 1981); CIDI: Composite International Diagnostic Interview (Robins et al., 1988); CIS-R: Revised Clinical Interview Schedule (Lewis et al., 1992). a 1-2-week prevalence; b PSE/CATEGO/ICD-9 depressive disorders; c Major depressive episode and dysthymia.a
Pravalenz Vlajor depression Lifetime 6-12 Monate 1-Monat 4.1 2.7 5.8 15.4 14.1 7.3 17.8 2.6" 3.4 -
Epidemiologic
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Zur Variabilitat der vorliegenden Befunde lassen sich - neben Unterschieden in der diagnostischen Erfassungsstrategie, der Stichprobenziehung und -zusammensetzung sowie Auswertung - folgende Besonderheiten feststellen: a) iiber alle Untersuchungen ergeben sich nur wenig Hinweise auf ausgepragte kulturelle oder regionale Unterschiede in der Pravalenz depressiver Erkrankungen, b) die zum Teil ausgepragten Unterschiede zwischen 1-, 6-, bzw. 12-Monats und Lifetime-Raten unterstreichen den haufig episodischen Charakter depressiver Storungen, c) altere Untersuchungen berichten eher niedrigere Pravalenzen als die neueren Untersuchungen, und d) Studien, die auch Altere einschliefien (>65), weisen relativ konsistent niedrigere Gesamtschatzungen auf als Studien, die 60-65 Jahre als obere Einschlussgrenze angeben. Die offensichtlich markant niedrigeren Raten in alteren Studien sowie im hoheren Alter werden von einigen Autoren als Hinweis auf eine Zunahme depressiver Erkrankungen gewertet (siehe Abschnitt 4). Obwohl die Pravalenzbefunde epidemiologischer Studien aufgrund von methodischen Unterschieden variieren konnen, sind die wesentlichen Risikofaktorenbefunde weitgehend stabil (Paykel et al 2005). •
Alter: Die Depressionspravalenz variiert iiber die Lebensspanne. Voll ausgepragte Depressionen im Kindesalter sind relativ selten; einen ersten starken Anstieg des Erkrankungsrisikos findet sich zumeist bei Adoleszenten jenseits des 15. Lebensjahres und im friihen Erwachsenenalter. Das kumulierte Erkrankungsrisiko steigt bis zur 5. Lebensdekade an, um dann deutlich abzufallen. Die abfallenden Raten der Depression im hoheren Alter sind bislang noch unzureichend erklart. Zur Diskussion stehen fur diese Alterseffekte Zeit- und Alterskohorteneffekte (s. Abschnitt 4).
•
Geschlecht: Verschiedene Meta-Analysen haben ferner bestatigt, dass Frauen ungefahr ein zweifach erhohtes Risiko gegeniiber Mannern zeigen, eine depressive Episode zu erleben. Die Griinde hierfur sind nicht hinreichend geklart, diskutiert werden soziale und biologische Faktoren sowie geschlechtsspezifische Unterschiede in der Bereitschaft, iiber psychische Symptome zu kommunizieren. Bei Frauen finden sich in der Regel hohere Raten bei verheirateten gegeniiber ledigen Frauen; in beiden Geschlechtern finden sich die hochsten Raten bei den Getrennten, Geschiedenen und Verwitweten. Depressionsraten sind ferner bei jungen Frauen mit Kindern erhoht.
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•
Familienstand: In Interaktion mit dem Geschlecht und dem beruflichen Status sowie der Anzahl von Kindern im Haushalt findet sich in der Regel fur verheiratete Manner das niedrigste Erkrankungsrisiko, fur verheirate Frauen mit Kindern ohne Berufstatigkeit die hochsten Raten.
•
Soziookonomische Marker. Ubereinstimmend haben ferner verschiedene Meta-Analysen und Einzelbefunde darauf hingewiesen, dass eine etwas hohere Pravalenz depressiver Erkrankungen in denjenigen Bevolkerungsgruppen zu beobachten ist, die einen weniger privilegierten sozialen Status aufweisen. Indikatoren wie niedriges Einkommen, Arbeitslosigkeit, wenige materielle Ressourcen und geringerer Ausbildungsstand zeigen alle unabhangige Assoziationen mit erhohten Raten depressiver Erkrankungen.
•
Stadt-Land-Unterschied: Weniger konsistent sind die Befunde zu StadtLand-Unterschieden. Die meisten Studien finden keine Stadt-LandUnterschiede in Depressionsraten, wenn beziiglich soziookonomischer Indikatoren kontrolliert wird. Ebenfalls ist darauf zu achten, dass Stadt-Land-Sektoren in der Regel beziiglich der Teilnehmerrate von Probanden Unterschiede aufweisen, sodass hier eine Fehlschlussgefahr grofi ist.
•
Lebensbedingungen und Lebensereignisse: Belastende Lebensbelastung und Lebensereignisse, insbesondere in Interaktion mit schlechteren sozialen Unterstutzungsressourcen, haben sich ebenfalls als bedeutsame Pradiktoren fur erhohte Raten depressiver Episoden erwiesen.
Weitere Zusammenhange ergeben sich mit korperlicher Morbiditat, psychischer Multimorbiditat, insbesondere bei vorbestehenden Angsterkrankungen, Substanzstorungen sowie somatoformen Erkrankungen (Wittchen, 2001b). 2.3
Wie haufig sind depressive Storungen in Deutschland?
2.3.1 12-Monatspravalenz in der Allgemeinbevolkerung Nach den Ergebnissen des Bundesgesundheitssurvey 1998 (Zusatzsurvey „Psychische Storungen", Wittchen und Jacobi 2005, Jacobi et al. 2004 a,b; das Public Use File kann bei FJ bestellt werden) liegt die Pravalenz depressiver Storungen in Deutschland ahnlich hoch wie in den meisten anderen
Epidemiologic
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vergleichbaren Studien im EU-Raum aus den letzten Jahren. Tabelle 2.2 informiert detailliert iiber die 12-Monatspravalenz depressiver Storungen nach Altersgruppe und Geschlecht. Tabelle 2.2:12-Monats-Pravalenz depressiver Storungen (DSM-IV) in Deutschland (Bundesgesundheitssurvey 1998/99)1 Irgendeine Major MD, depressive Depression einzelne MD, Dysthyme Stoning2 (MD) Episode wiederkehrend Stoning 10.9 gesamt 8.3 4.0 4.3 4.5 9.5 18-29 8.0 4.7 3.4 2.7 4.4 30-39 9.7 7.5 3.1 3.8 12.4 5.4 4.4 40-49 9.8 5.3 50-65 11.6 8.1 4.2 3.9 5.7 Frauen 14.2 11.2 5.1 6.1 5.8 18-29 11.5 9.5 4.6 4.9 3.5 12.4 30-39 6.5 10.0 3.5 4.7 40-49 16.6 7.2 6.9 14.0 6.4 5.4 50-65 15.6 5.9 11.3 7.6 Manner 7.6 3.4 2.0 5.5 3.2 18-29 7.5 6.6 4.8 1.9 1.8 30-39 2.8 2.3 7.2 5.1 3.0 4.1 40-49 8.3 3.7 5.7 2.0 7.4 50-65 4.8 2.9 1.9 3.8 1: zugehorige KonfidenzintervaUe auf Anfrage erhaltlich 2: Major Depression (einzelne Episode oder wiederkehrend) und/oder Dysthyme Stoning
Wie die Tabelle 2.2 zeigt, betragt die 12-Monats-Querschnittspravalenz depressiver Storungen (unter Ausschluss depressiver Episoden im Rahmen bipolarer Erkrankungen) bei 18-65-jahrigen Personen in der Allgemeinbevolkerung 10,9% (95% Konfidenzintervall 9,9-11,9). D.h. in Deutschland sind oder war en in den letzten 12 Monaten zwischen 5 und 6 Millionen Menschen in diesem Altersbereich an Depressionen erkrankt. Frauen sind mit 14,2% in alien Altersgruppen ungefahr doppelt so haufig wie Manner (7,6%) betroffen, der Geschlechtsunterschied fallt allerdings in der jungsten Altersgruppe deutlich geringer aus (11,5 : 7,5%) als in den hoheren Altersgruppen. Die hochsten Werte ergeben sich fur der Gruppe 40-65 jahriger Frauen (16,6%, bzw. 15,6%). Der Anteil rezidivierender Depressionen ist bei Frauen aller Altersgruppen grofier (6,1%) als der Anteil derer mit einzelnen depressiven Episoden (5,1%); dieses Verhaltnis ist bei Mannern genau umgekehrt (3,4 : 2,0%). Zusammen mit der hoheren
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Pravalenz fur die Dysthymic bei Frauen konnen wir aufgrund dieser Daten also zusammenfassen, dass Frauen nicht nur haufiger iiberhaupt einmal an Depressionen erkranken, sondern auch haufiger wiederholte Episoden sowie chronische depressive Syndrome durchmachen. Diese Zahlen sind als konservative Schatzung anzusehen, da weder Kinder und Jugendliche, noch Personen hoheren Alters berucksichtigt wurden. Wahrend das Erkrankungsrisiko fur Depression bei Kindern und Jugendlichen bis zum 14. Lebensjahr recht niedrig liegt (2-3%), ist bei Jugendlichen (Alter 15-17) nach neueren Befunden in Deutschland von einer nahezu ahnlich hohen Querschnittspravalenz wie bei jungen Erwachsenen auszugehen (Wittchen et al., 1998). Demgegenuber ist die Pravalenz der Depression jenseits des 60. Lebensjahres deutlich niedriger (siehe Abschnitt 4). Die Ergebnisse bestatigen ferner, dass Depressionen in der Mehrzahl episodische Erkrankungen mit einem rezidivierenden Verlauf sind; bei 6075% aller Betroffenen ist davon auszugehen, dass nach einer ersten depressiven Episode mindestens eine weitere Episode folgt; im Mittel werden bei rezidivierenden Depressionen 6 Episoden uber die Lebensdauer berichtet. Die Episodendauer ist hochst variabel und liegt bei der Halfte aller Betroffenen unter 12 Wochen, in 25% bei 3-6 Monaten und bei 22% bei mehr als einem Jahr. Letzteres entspricht ungefahr der Schatzung chronischer Depressionen im Gesamtkollektiv. Die 12-Monats Pravalenz rezidivierender Depressionen betragt 6%, die der chronischen Depressionen mit einer Dauer von liber 12 Monaten 3%. Die Schwere der depressiven Phasen ist variabel, in der iiberwiegenden Mehrzahl werden die Episoden aufgrund der Symptomanzahl und Schwere als mittelschwer bis schwer klassifiziert. Das mittlere Ersterkrankungsalter liegt bei 31 Jahren. 2.3.2
Arbeitsausfalltage, Behinderungen und Suizid
Depressionen sind in der Regel mit massiven Einschrankungen der Funktionstuchtigkeit im Alltag und der Arbeitsproduktivitat verbunden und gehen somit mit grofien gesellschaftlichen Kosten einher (ESEMeD/MHEDEA 2000 Investigators, 2004b; Greenberg et al., 1996; Kessler und Frank, 1997; Spijker et al., 2004; Wang et al., 2003). Hinsichtlich der im Bundesgesundheitssurvey erhobenen Ausfalltage („Wie viele Tage waren Sie in den vergangenen 12 Monaten so krank, dass Sie Ihrer ublichen Tatigkeit nicht nachgehen konnten?") liegen Personen mit Depressionen deutlich iiber denjenigen ohne Diagnose (24,9 vs. 11,5 Ausfalltage, Abb. 2.2). Beziiglich der spezifisch durch seelische Probleme bedingten Ausfall-
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tage liegen nur jeweils fur die vergangenen 4 Wochen Daten vor; hier zeigt sich, dass Personen mit einer Major Depression in den letzten 4 Wochen im Mittel 5,2 Arbeitstage ausfielen, Personen mit einer Dysthymic 4,6 Tage. Im Vergleich zu Personen ohne eine Diagnose psychischer Storungen in den letzten 12 Monaten ist dies eine 12-fache (Mean Ratio: 12,1), bzw. fur die Dystyhmie 16-fach (Mean Ratio: 15,8) erhohte Zahl von Ausfalltagen.
45 38,4
40 35 30
24,9
25 18,4
20 15
x x,^
10 5 Irgendeine Depression
Abb. 2.2:
Major Depression Dysthyme Stoning Keine Depression
Anzahl der Ausfalltage im vergangenen Jahr bei Personen mit und ohne depressiver Stoning (Bundesgesundheitssurvey)
Bei psychischen Storungen im Allgemeinen und bei Depressionen im Besonderen ist zu beachten, dass nicht nur vermehrte berufliche Krankheitstage, sondern auch Produktivitatsminderungen bzw. Funktionseinschrankungen an normalen Tagen und in alien Lebensbereichen zur Krankheitslast beitragen (Kessler et al. 2005a). Zu den Krankheitskosten der Depression zahlen auch weitere Risiken wie zum Beispiel Suizid und suizidale Handlungen. Suizidalitat ist weder notwendig noch hinreichend fur die Diagnose einer Depression, doch die iiberwiegende Mehrzahl derjenigen erwachsenen Personen mit Suizidgedanken und -handlungen hatte im entsprechenden Zeitraum eine Major Depression (80-90%; Kessler et al., 2005b); bei Jugendlichen und jungen
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Erwachsenen liegt diese Rate etwas niedriger (50-60%; Wunderlich et al, 1998). Auch wenn es schwierig ist, die Raten von Depressionen bei vollendeten Suiziden zu ermitteln, darf davon ausgegangen werden, dass die Diagnose einer depressiven Storung - insbesondere bei Komorbiditat, z.B. mit Panikstorungen - einen erheblichen Risikofaktor darstellt (Bronisch und Wittchen 1994). 2.3.3
Behandelte und unbehandelte Pravalenz
Der Anteil behandelter Depressionen ist aufgrund dieser Bevolkerungsstudien nur annahernd zu bestimmen, da aufgrund der hohen Komorbiditat zumeist nicht mit Sicherheit zu beurteilen ist, ob die betroffene Person wegen depressiver Beschwerden oder anderen psychischer Leiden bei Arzt und Psychotherapeuten in Behandlung war. Ferner weisen die subjektiven Angaben Betroffener zur Therapie in der Regel erhebliche Unscharfen auf, z.B. wenn es um die Differenzierung psychiatrischer und psychotherapeutischer Therapien geht. Nach Schatzungen von Wittchen und Jacobi (2001) geben im Bundessurvey 50% aller Personen mit einer Depression an, eine professionelle Behandlung aufgrund psychischer Probleme aufgesucht bzw. erhalten zu haben. Von den Versorgungssektoren (teil-) stationary nervenarztliche, psychotherapeutische, hausarztliche und sonstige (z.B. Beratungsstellen) Behandlung wurden dabei in 57% nur jeweils einer in Anspruch genommen; 28% der behandelten Falle suchten Behandlung in zwei und 15% in drei oder mehr dieser Sektoren auf. Dabei handelt es sich um Kontaktraten ungeachtet der Intensitat (auch einmalige Kontakte zahlen) oder der Adaquatheit der Therapie. Fast jeder vierte behandelte depressive Fall hatten eine stationare Behandlung in der Vergangenheit (24%), etwa jeder dritte (36%) war oder ist in nervenarztlicher Behandlung, und etwa 45% berichten eine psychologische oder arztliche Psychotherapie, wobei hier psychologische Psychotherapeuten uberwiegen. Die Halfte der Falle hatte auch den Hausarzt aufgrund psychischer Probleme konsultiert (49%); ausschliefilich beim Hausarzt waren 16% der Behandelten. Ausschliefilich in anderen Behandlungseinrichtungen (z.B. Beratungsstellen) waren 14%. 2.3.4
Pravalenz der Depression in der primararztlichen Versorgung Angesichts der gesundheitspolitischen Tendenz dem primararztlichen Sektor zunehmend starker die Aufgabe als „gatekeeper" fur Erkennen,
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Diagnose und Therapie zuzuweisen, ist die Frage der Haufigkeit depressiver Syndrome im primararztlichen Sektor besonders relevant (Wittchen et al., 2001). Hier ist zunachst darauf hinzuweisen, dass es keine grofiere Studie im deutschen Versorgungssystem gibt, die mit differenzierten diagnostischen Interviews die Pravalenz spezifischer depressiver Storungen und ihre Behandlungssituation evaluiert hat. Als Approximation hat aber die Studie „Depression 2000" (Wittchen und Pittrow, 2002) folgendes herausgearbeitet: (a) nahezu 11% aller unausgelesenen Hausarztpatienten erfullten an einem Stichtag die Kriterien eines „major depressiven Syndroms"; (b) drei Viertel (74,1%) dieser Patienten wurden zwar von ihren behandelnden Arzten auch als „psychisch krank" klassifiziert, aber nur bei knapp jedem zweiten Patient wurde auch die Diagnose „Depression" gestellt; (c) die offensichtlich weit verbreitete diagnostische Unsicherheit hatte einen deutlichen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit des Patienten, auch eine formal adaquate Therapie zu erhalten. Obwohl diese Studie im Vergleich zu Arbeiten in den 90er Jahren eine deutliche Verbesserung der Versorgungssituation konstatiert, erscheint der Anteil vor allem nicht erkannter und unbehandelter depressiver Patienten jiingeren Alters, ebenso wie die niedrigen Uberweisungsraten zu Psychotherapeuten und die sehr haufige Verschreibung sedierender Medikamente anstelle von Antidepressiva, kritisch zu sein. 2.4
Nehmen depressive Erkrankungen zu?
Eine umstrittene und nach wie vor kontrovers diskutierte Frage ist, ob wie dies die Studieniibersicht (Tabelle 2.1) nahe legt - Depressionen zugenommen haben oder gar noch zunehmen. Klerman et al. (1985) wiesen erstmals Ende der 80er lahre in sorgfaltigen Geburtskohorten-Analysen darauf hin, dass das Erkrankungsrisiko offensichtlich seit 1935 angestiegen ist. Erganzende epidemiologische Analysen unserer Arbeitsgruppe mit der Cross National Collaborative Group (1992) legten ferner nahe, dass dieser Effekt in alien Industrielandern zu beobachten ist und zwar bei einigen, nicht aber alien Formen psychischer Storungen nachweisbar ist. So finden sich derartige Geburtskohorten-Zunahmeeffekte konsistent auch fur Substanzstorungen, nicht aber fur Angststorungen. Dariiber hinaus wurde in diesen Analysen festgestellt, dass das Ersterkrankungsalter in jiingeren Geburtskohorten absinkt („haufiger und fruher!"). Dieser Befund wird seitdem in der Literatur u. a. unter dem Begriff „Alters-Kohorten-Effekt" diskutiert und immer wieder auch mit unter-
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schiedlichen diagnostischen Beurteilungsverfahren bestatigt (z.B. Burke et al., 1991; Cross-National Collaborative Group, 1992; Wittchen et al., 2000, siehe Abb. 2.3; Kessler et al., 1994, Kessler et al, 2005a).
-Alter bei Interview: 17-34 -Alter bei Interview: 35-49 -Alter bei Interview: 50-65
9
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Alter bei Erstauftreten einer Major Depression
Abb.2.3:
Kumulierte Lebenszeit-Inzidenz bei der Major Depression: KohortenEffekte bei drei Altersgruppen (Bundesgesundheitssurvey 1998/99, N=4181; Wittchen et al. 2000)
Die Validitat dieses Alters- oder Kohorten-Effektes wird seit Jahren in der epidemiologischen Forschung kontrovers diskutiert (z.B. Klerman, 1988; Klerman und Weissman, 1989; Robins, Locke und Regier, 1991). Zum Einen wurde eine Anzahl moglicher Ursachen benannt, die fur den Anstieg depressiver Storungen in jiingeren Geburtskohorten verantwortlich sein konnten. Hierbei werden u. a. soziale Faktoren wie die zunehmende Urbanisierung, grofiere geographische Mobilitat und schnellere Veranderungen der Lebensbedingungen oder die sinkende soziale Unterstiitzung durch Veranderungen in den Familienstrukturen angefuhrt (Easterlin 1980; Hagnell, Lanke, Rorsman und Ojesjo, 1982; Kessler und McRae, 1981, 1982; Klerman, 1988; Klerman und Weissman, 1989). Andererseits wird die Ansicht vertreten, dass es sich bei den beobachteten zeitlichen Trends nicht um wahre Effekte, sondern um einen Artefakt der Forschungsmethodologie handelt (Klerman et al., 1985). Als mogliche Artefakt-Hypothesen wurde u. a. angenommen, dass Personen aus jiingeren Geburtskohorten starker als altere Personen dazu neigen, sich als depressiv zu bezeichnen und depressive Symptome und Episoden zu berichten (z. B.
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Hasin und Link, 1988). Lewinsohn und Mitarbeiter (Lewinsohn et al., 1993) konnten allerdings auch unter Kontrolle mehrerer moglicher Einflussfaktoren („Labeling", Zeitintervall zwischen Erkrankung und Interview, Soziale Erwunschtheit, aktuelle Stimmung) in alien vier von ihnen analysierten Datensatzen den Alters-Kohorten-Effekt und das sinkende Ersterkrankungsalter nachweisen. Bis auf die Variable „Labeling" zeigte sich zwar fur alle untersuchten Einflussfaktoren eine signifikante Assoziation mit dem Berichten vergangener depressiver Episoden und der Geburtskohorte, jedoch ftihrte eine statistische Kontrolle des Einflusses nicht zur Aufhebung des Alters-Kohorten-Effekts. Zusammenfassend konnen temporale Trends der Major Depression als empirisch gut bestatigt gelten. In einer grofien Anzahl epidemiologischer und familiengenetischer Studien in verschiedenen Landern, in denen die Fallidentifikation nach operationalisierten diagnostischen Kriterien und unter Verwendung strukturierter und standardisierter Befragungsinstrumente erfolgte, wurde konsistent ein zunehmendes Erkrankungsrisiko in jiingeren Geburtskohorten und ein sinkendes Ersterkrankungsalter gefunden. Die statistische Bedeutsamkeit dieser Beobachtungen konnte durch die Verwendung differenzierter Methoden vielfach bestatigt werden (s. Lavori et al., 1993). Da ein allgemeiner Alters-Kohorten-Effekt methodisch nicht von einer Interaktion zwischen Alters- und Perioden-Effekten unterschieden werden kann, ist eine eindeutige und endgultige Interpretation der Befunde als „wahrer" Alters-Kohorten-Effekt jedoch nicht moglich. Die Trennung der verschiedenen zeitlichen Effekte erfolgt mit den derzeit verwendeten statistischen Methoden auf der Basis mehrerer Zusatzannahmen, deren Richtigkeit nicht nachgewiesen ist (s. Holford, 1983). Da die Geburtskohorte in Querschnittstudien mit retrospektiven Designs vollstandig mit dem chronologischen Alter korreliert ist, kann beispielsweise ein altersabhangiger Methoden-Artefakt (d. h. ein selteneres Berichten oder Erinnern depressiver Episoden mit zunehmendem Alter) als mogliche Interpretation der Befunde nicht ausgeschlossen werden. Diese ArtefaktMoglichkeit kann nur in prospektiv angelegten multiplen Kohortenstudien uberpruft bzw. kontrolliert werden. Hierzu haben wir kurzlich mit der EDSP Studie (Lieb et al., 2000) in einer 10-Jahres Inzidenzanalyse erste Evidenz vorlegen konnen (Wittchen et al., in Vorbereitung), die daftir spricht, dass sich der Zunahmeeffekt depressiver Erkrankungen vermutlich bis in die jiingere Gegenwart fortgesetzt hat. (Kessler et al., 2005a).
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2.5
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Ausblick
Die Grofienordnung und Vielschichtigkeit depressiver Storungen, ihre mannigfaltigen Public Health und gesundheitsokonomischen Implikationen (Andlin-Sobocki et al., 2005) sowie das Ausmafi des mit dieser Erkrankungsform assoziierten Leidens erfordert in der Zukunft eine verstarkte epidemiologische Zuwendung. Die Datenlage ist, wie dieser Aufsatz gezeigt hat, unvollstandig und ermoglichst es aufgrund des Fehlens kontinuierlicher Monitoring-Systeme nicht, gesicherte Aussagen iiber Morbiditatsveranderungen und ihre Determinanten zu machen. Zudem ist die Kluft zwischen differenzierten bevolkerungsbezogenen epidemiologischen Daten und Erkenntnissen sowie routinemafiig erhobenen administrativen Datensammlungen bedauerlicherweise immer noch zu grofi. In dieser Situation ware es aufierordentlich wiinschenswert, wenn regelmafiige bundesweite Surveys - nach dem Modell des Bundesgesundheitssurveys-1998 - implementiert wiirden. In Verbindung mit qualitatssichernden Stichprobenuntersuchungen zur Diagnosepraxis in der Routineversorgung konnten so administrative epidemiologische Daten mit Survey-Daten besser verkniipft werden, um in kostenefrlzienten Kohortenstudien detailliert die Morbiditats- und Versorgungsentwicklung kontinuierlich zu beschreiben.
Die 12 Monats-Pravalenz der Major Depression in der europaischen Durchschnittsbevolkerung (18-65 Jahre) wird auf ca. 6,9 % geschatzt. Hierbei gibt es weder ausgepragte kulturelle noch regionale Unterschiede. Die Pravalenzen bei Kindern und Jugendlichen liegen je nach Altersgruppe ansteigend bei 1-5%. •
Depressive Menschen berichten iiber erheblich mehr Ausfalltage als Menschen ohne Depression.
•
50 % aller Personen, bei denen im Bundesgesundheitssurvey eine Depression festgestellt wurde, gaben an, professionelle Behandlung aufgrund psychischer Stoning aufgesucht zu haben.
•
11 % der unausgelesenen Hausarztpatienten erfullen an einem Stichtag die Kriterien fur ein Major Depression. Dreiviertel dieser Personen wurden von den Hausarzten als psychisch krank diagnostiziert, aber nur bei jedem Zweiten die Diagnose Depression gestellt.
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•
Die Haufigkeit der Major Depression in der Bevolkerung unterliegt zeitlichen Trends. Neuere Ergebnisse aus prospektiven Inzidenzstudien sprechen dafur, dass depressive Erkrankungen gegenwartig zunehmen.
•
Auf Grund des Fehlens kontinuierlicher Monitoringsysteme sind gesicherte Aussagen fiber Morbiditatsverschiebungen und ihre Determinanten nicht zu machen. Das Implementieren regelmafiiger epidemiologischer Bevolkerungssurveys konnte hier wertvolle Informationen liefern.
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Kapitel 3
3
Versorgungsgeschehen Analyse von Krankenkassendaten
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
3.1
Methodischer Hintergrund
Ziel dieses Kapitels ist es, Informationen zum Thema Depressionen zu liefern, die aus administrativen Daten einer Krankenkasse gewonnen werden konnen. Entsprechende Daten erlauben relativ differenzierte Aussagen zur Haufigkeit und Bedeutung von Depressionsdiagnosen im Rahmen der routinemafiigen gesundheitlichen Versorgung in unterschiedlichen Versorgungsbereichen. 3.1.1 Methodische Einschrankungen Hinweise auf Depressionen ergeben sich in den Daten einer Krankenkasse primar, sofern im Rahmen der Dokumentation zur medizinischen Versorgung bei Versicherten explizit die Diagnose einer Depression erfasst wurde oder spezifische Medikamente zur Behandlung von Depressionen zu Lasten der Krankenkasse verordnet wurden. Daten von Krankenkassen beinhalten erkrankungsbezogene Informationen regelmafiig also nur dann, wenn Erkrankungen zur Inanspruchnahme von Leistungen, also zu bestimmten Ereignissen, gefuhrt haben. Damit sind Informationen zu ausgewahlten Aspekten der gesundheitlichen Situation zu einem defmierten Erhebungszeitpunkt, wie sie im Rahmen von epidemiologischen Primarstudien erhoben werden konnen, auf der Basis von administrativen Daten in der Regel nicht verfugbar. Gleichzeitig beruhen die kassenseitig verfiigbaren Daten auf Angaben aus sehr unterschiedlichen Quellen. So kann beispielsweise bei der Vergabe von Diagnosen durch viele Tausend unterschiedliche Arzte im Gegensatz zur Situation bei adaquat konzipierten epidemiologischen Studien kaum von einer standardisierten Anwendung einheitlich definierter Diagnosekriterien ausgegangen werden. Als dritte Ein-
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Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
schrankung bei der Auswertung von administrativen Daten muss angefuhrt werden, dass zumindest die verfugbaren Daten einzelner Krankenkassen aufgrund einer gewachsenen spezifischen Versichertenstruktur ublicherweise per se keine reprasentativen Stichproben der Bevolkerung darstellen. 3.1.2
Methodische VorzCige
Neben den genannten Einschrankungen besitzen Datenbestande von Krankenkassen im Vergleich zu epidemiologischen Primarerhebungen in der Praxis jedoch auch eine Reihe von Vorziigen, von denen die Wesentlichsten nachfolgend kurz aufgefiihrt werden sollen: • Wahrend in epidemiologischen Primarerhebungen in Deutschland selten Studienbeteiligungen von mehr als 75% der primar selektierten Population erreicht werden, lassen sich anonvmisierte Daten zu alien Versicherten einer Krankenkasse auswerten. Verzerrungen durch systematische Ausfalle bei der Studienbeteiligung sind damit auszuschliefien. • Die Erhebung von administrativen Daten erfolgt in der Regel unabhangig von Praferenzen des einzelnen Versicherten. Sofern Ereignisse in den administrativen Daten regular erfasst werden und insbesondere wenn sie gleichzeitig kassenseitig ausgabenrelevant sind (wie z.B. Krankenhausaufenthalte), ist davon auszugehen, dass die Dokumentation nahezu vollstandig erfolgt und anderen Datenquellen in der Validitat iiberlegen sein durfte. • Daten von Krankenkassen umfassen in der Regel Informationen zu ausgesprochen grofien Populationen. Epidemiologische Primarerhebungen mussen sich in Anbetracht des Erhebungsaufwandes demgegeniiber iiblicherweise auf Stichproben beschranken, die vom Urnfang her Versichertenzahlen von Krankenkassen und damit Populationsgrofien in administrativen Datenbestanden um mehrere Zehnerpotenzen unterschreiten. Ereignisse, die in epidemiologischen Studien nur noch sporadisch erfasst werden, konnen in administrativen Datenbestanden daher zum Teil noch systematisch und differenziert betrachtet werden.
Versorgungsgeschehen
41
• Daten von Krankenkassen werden fortlaufend erhoben und stehen damit fur unterschiedlich und insbesondere auch aktuelle Zeitraume regelmafiig zur Verfugung. Umfang und Verfugbarkeit entsprechender Daten haben innerhalb der vergangenen zehn Jahre dabei erheblich zugenommen. • Daten von Krankenkassen sind in der Regel langsschnittlich verfiigbar, d.h. Informationen zu einzelnen Versicherten konnen im zeitlichen Verlauf betrachtet werden, was vergleichbar bei epidemiologischen Erhebungen nur in Kohortenstudien moglich ist, welche im Verhaltnis zu querschnittlichen Untersuchungen noch sehr viel mehr Erhebungsaufwand erfordern. 3.1.3 Untersuchungspopulation - verwendete Daten Im Rahmen dieses Kapitels werden Ergebnisse prasentiert, die auf der Basis von Daten der Gmunder Ersatzkasse (GEK) ermittelt wurden. In der GEK waren bundesweit im Jahr 2004 ca. 1,4 Mio. Personen und damit etwa 1,7% der deutschen Bevolkerung versichert. Der in der GEK versicherte Bevolkerungsanteil lag auch in den Vorjahren seit 2000 mit 1,3 Mio. Versicherten nur geringfugig niedriger bei etwa 1,6%. Die GEK zahlt entsprechend der Zuordnung von Kassen innerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung zu den Arbeiterersatzkassen. Relativ stark vertreten waren und sind in der GEK handwerkliche sowie metallverarbeitende Berufe. Hieraus resultiert ein verhaltnismafiig hoher Anteil mannlicher Versicherter insbesondere im Erwerbsalter. Obwohl die Population im Hinblick auf die Zusammensetzung von Berufsgruppen nicht als reprasentativ gelten kann, boten gesundheitsbezogene Auswertungen bislang nur wenig Anlasse, eine weitgehende Ubertragbarkeit von - ggf. geschlechts- und altersadjustierten Ergebnissen - auf die bundesdeutsche Bevolkerung bzw. auf die im Rahmen einer Auswertung explizit eingegrenzten Subpopulationen in Zweifel zu Ziehen. So weisen beispielsweise diagnosebezogene Auswertungsergebnisse zu Krankenhausaufenthalten bei GEK-Versicherten in der Regel eine gute Ubereinstimmung mit Ergebnissen aus der Krankenhausdiagnosestatistik, einer gesetzlich vorgeschriebenen Erhebung aller Entlassungen aus vollstationarer Krankenhausbehandlung in Deutschland, auf (Grobe et al 2004). Im Hinblick auf erkrankungsspezifische Auswertungen stehen aktuell Daten aus einer Reihe unterschiedlicher Leistungsbereiche zu unterschiedlichen Erhebungszeitraumen zur Verfugung. Nachfolgend naher betrachtet
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Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
werden sollen insbesondere Ergebnisse zu Krankenhausbehandlungen, Arzneiverordnungen, Arbeitsunfahigkeiten sowie zur ambulanten arztlichen Versorgung. 3.1.4 Erfassung von Depressionen in Kassendaten Diagnosen von Erkrankungen werden in den Daten von Krankenkassen zu Krankenhausbehandlungen, Arbeitsunfahigkeiten sowie zu Behandlungen im Rahmen der kassenarztlichen Versorgung erfasst. Seit dem Jahr 2000 wird in Deutschland verpflichtend die "Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme" in der 10. Revision (ICD 10) zur Kodierung von Diagnosen benutzt. Der Wechsel von der ICD9 auf die ICD10 stellt in Bezug auf die Kodierung von Depressionen eine erhebliche Veranderung dar: Im aktuell gultigen ICD 10 werden Depressionen vorrangig Symptom-orientiert zwei 3stelligen Diagnoseschlusseln zugeordnet (F32: "Depressive Episode" sowie F33: "Rezidivierende depressive Stoning"). Beide Diagnoseschliissel konnen auf der 4stelligen Kodierungsebene weiter im Hinblick auf den Schweregrad differenziert werden. Demgegeniiber unterschied der ICD9 explizit zwischen Depressionen, die Psychosen, Neurosen oder keiner der beiden Erkrankungsgruppen zuzuordnen sind. Depressionen bilden in der ICD9Systematik so Subgruppen von unterschiedlichen Erkrankungskategorien, die zum Teil erst in der 4stelligen Kodierung der ICD9 als Depressionen identifiziert werden konnen. Damit sind die vor 2000 erfassten Diagnosen einer Depression in administrativen Datenbestanden der Gesetzlichen Krankenverscherung nur sehr eingeschrankt mit den aktuell erfassten Diagnosen vergleichbar. Diagnosebezogene Auswertungen beschranken sich vor diesem Hintergrund vorrangig auf Daten ab dem Jahr 2000. Weitere Hinweise auf das Vorliegen einer Erkrankung konnen in den Daten von Krankenkassen erkrankungsspezifische Arzneiverordnungen liefern, im Falle von Depressionen also Verordnungen von Antidepressiva. Zur Klassifikation von Arzneimitteln in grofieren Datenbestanden wird international - vergleichbar mit dem ICD im Hinblick auf Diagnosen - der ATC verwendet. ATC steht dabei fur "Anatomisch-therapeutischchemisches Klassifikationssystem" bzw. Index. Innerhalb des ATC finden sich alle Antidepressiva auf der 4stelligen Klassifikationsebene unter dem Kode "N06A" und sind insofern in Verordnungsdaten mit ATC-Angaben leicht zu identifizieren. Von den entsprechenden Arzneimitteln mit dem Kode "N06A" nicht beriicksichtigt wurden bei den vorliegenden Auswertungen lediglich Verordnungen pflanzlicher Antidepressiva, wobei es sich
Versorgungsgeschehen
43
nahezu ausschliefilich um Johanniskrautpraparate handelt. Entsprechende Praparate werden in der deutschen Adaptation des ATC, jedoch nicht in der WHO-Fassung als Antidepressiva gefuhrt. Zudem wurden entsprechende Verordnungen als nicht rezeptpflichtige Medikamente im Jahr 2004 nur noch partiell von den Krankenkassen erstattet und in den Daten erfasst, weshalb Verordnungszahlen zu Antidepressiva unter Einbeziehung dieser Arzneimittelgruppe zwischen 2003 und 2004 nicht vergleichbar gewesen waren. 3.2
Depression als Diagnose in der stationaren Versorgung und bei Arbeitsunfahigkeit
3.2.1 Allgemeine Kennziffern Diagnoseangaben werden in GKV-Daten bereits seit vielen Jahren zu Krankenhausbehandlungen sowie zu Arbeitsunfahigkeiten erfasst. Die nachfolgende Tabelle 3.1 gibt erste Hinweise zur Bedeutung unterschiedlich abgegrenzter Diagnosen im Hinblick auf Krankenhausbehandlungen sowie Arbeitsunfahigkeiten. Wahrend Krankenhausaufenthalte potenziell alle Versicherten einer Krankenkasse betreffen konnen, werden Arbeitsunfahigkeitszeiten ausschliefilich bei Erwerbspersonen erfasst, womit an dieser Stelle Berufstatige sowie Arbeitslose mit eigenstandiger Mitgliedschaft bei einer Krankenkasse gemeint sind. Um eine adaquate Gegentiberstellung von Arbeitsunfahigkeiten und Krankenhausaufenthalten zu ermoglichen, werden neben versichertenbezogenen Resultaten auch Mafizahlen zu Krankenhausaufenthalten ausschliefilich in Bezug auf die Gruppe der Erwerbspersonen angegeben.
1,4%
0,3%
40,7
33,5
23,4
0,4%
0,52
8,92
1,9%
21
33 2,9%
16,9%
192
1135 100%
41,6
35,9
21,5
8,6
0,2%
1,71
10,84 1,0%
4,0%
44,06
1112,71 100%
0,7%
112
490 3,2%
65,5
45,2
36,8 1620 10,7%
13,7 15191 100%
AU-Tage je Fall
602 54 F32 oder F33 36,4 1,44 48,0 37,9 12,55 1,63 59 4,0% 4,8% Anteil an gesamt (%) 0,9% 3,1% 1,1% 1,1% § Bezugspopulation: alle Versicherten; geschlechts- und altersstandardisierte Werte je 1.000 Versicherungsjahre, Standard: Bevolkerung in Deutschland am 31.12.2003. §§ Bezugspopulation: Erwerbspersonen im Alter 15-64 Jahre (Arbeitslose und Berufstatige); geschlechts- und altersstandardisierte Werte; Standard: Erwerbspersonen in Deutschland im Mai 2003.
27
32 1,7%
0,97 0,5%
F32 "Depressive Episode" Anteil an gesamt (%)
0,66
0,92 0,7%
11,7%
5,0%
F33 "Rezidivierende depressive Storung" Anteil an gesamt (%)
6,8%
223
9,53
ICDIO-Kapitel V "Psychische Storungen" Anteil an gesamt (%)
132,07 100%
beliebige Diagnosen Anteil an gesamt (%)
10,0
1911 100%
191,05 100%
Haupt- bzw. Erstdiagnosen
Erwerbspersonen im Alter 15 bis unter 65 Jahre Arbeitsunfahigkeiten Krankenhausbehandlungen AU-Fiilleje AU-Tage je KH-Fiilleje KH-Tage je Behand1.000 VJ» 1.000 VJ» lungstage 1.000 VJ* 1.000 VJ* jeFall
Behandlungsfalle in Krankenhausern sowie Arbeitsunfahigkeiten (GEK 2002-2004)
Versicherte Krankenhausbehandlungen KH-Fiilleje KH-Tage je Behand1.000 VJ* 1.000 V f lungstage jeFall
Tab. 3.1:
Versorgungsgeschehen
45
3.2.2 Stationare Versorgung Unter tausend Versicherten sind in den Jahren 2002 bis 2004 im Mittel je Jahr diagnoseiibergreifend durchschnittlich insgesamt knapp 200 vollstationare Behandlungsfalle in Krankenhausern mit insgesamt knapp 2.000 Behandlungstagen erfasst (191 Falle mit 1911 Behandlungstagen je 1.000 Versicherungsjahre). Darunter befmden sich knapp 10 Falle mit gut 200 Behandlungstagen, die als Hauptdiagnose die Diagnose einer psychischen Storung aufweisen. Insgesamt 1,6 Falle und 59 Behandlungstage je 1.000 Versicherungsjahre sind unter einer der beiden Diagnosen F32 (Depressive Episode) oder F33 (Rezidivierende depressive Storung) erfasst. Unter der Hauptdiagnose einer Depression im Sinne einer der beiden genannten Diagnosen sind damit lediglich 0,9% aller Behandlungsfalle, jedoch 3,1% aller Behandlungstage in Krankenhausern registriert. Werden die Auswertungen auf Erwerbspersonen beschrankt, zeigen sich grundsatzlich vergleichbare Ergebnisse zur Haufigkeit und Dauer von Krankenhausaufenthalten unter der Diagnose von psychischen Storungen sowie fur die Subgruppe der Depressionen. Da Aufenthalte unter somatischen Diagnosen unter Erwerbspersonen seltener als in der Gesamtversichertenpopulation sind, kommt den psychischen Storungen allerdings eine anteilig hohere Bedeutung zu. So entfallen insgesamt 4,8% aller Krankenhaustage bei Erwerbspersonen auf eine der beiden Diagnosen F32 bzw. F33. 3.2.3 Arbeitsunfahigkeit Einen ahnlichen anteiligen Stellenwert wie im Hinblick auf Krankenhausaufenthalte besitzen psychische Storungen bzw. Depressionen auch im Hinblick auf Arbeitsunfahigkeiten. 10,7% aller Arbeitsunfahigkeitstage entfallen im Auswertungszeitraum auf Falle mit der Diagnose einer psychischen Storung, darunter 4% aller Fehltage auf die Subgruppe der Depressionen. Sowohl Behandlungsfalle in Krankenhausern als auch Arbeitsunfahigkeiten mit der Diagnose einer psychischen Storung sowie insbesondere auch im Falle von depressiven Erkrankungen weisen eine hohe Falldauer auf. Wahrend die durchschnittliche fallbezogene Verweildauer im Beobachtungszeitraum diagnoseiibergreifend 10,0 Tage betragt, liegt sie im Falle von Krankenhausaufenthalten mit der Hauptdiagnose einer Depression (F32, F33) bei 36,4 Tagen. Arbeitsunfahigkeiten unter entsprechenden
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Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
Diagnosen dauerten durchschnittlich 48,0 Tage, die diagnoseiibergreifend ermittelte fallbezogene Arbeitsunfahigkeitsdauer liegt demgegeniiber unter Erwerbspersonen in der GEK bei 13,7 Tagen.
Unter der Hauptdiagnose einer Depression (ICDIO-Kode F32, F33) wurden in den Jahren 2002 bis 2004 etwa 1% aller BehandlungsfaUe und 3% aller Behandlungstage in Krankenhausern abgerechnet. Die anteilige Bedeutung bei Arbeitsunfahigkeitszeiten lag in der betrachteten Population mit 4% etwas hoher. Im Durchschnitt war jede Erwerbsperson innerhalb eines Jahres etwa 0,6 Tage primar wegen Depressionen krankgeschrieben. 3.3
Diagnose- und Behandlungsraten in der allgemeinen Bevolkerung
Die zuvor dargestellten Ergebnisse zur Behandlungsfallhaufigkeit und Behandlungsdauer erlauben nur eingeschrankte Ruckschliisse auf die von bestimmten Diagnosen bzw. Erkrankungsereignissen betroffenen Bevolkerungsanteile. Dies resultiert daraus, dass mehrfache Behandlungen derselben Person wie auch einfache Behandlungen mehrerer Personen bei entsprechenden Routinedarstellungen zu denselben Resultaten fuhren konnen. Die Bestimmung der innerhalb definierter Zeitraume von ausgewahlten Diagnosestellungen betroffenen Bevolkerungsanteile bildet die Grundlage fur die nachfolgenden Darstellungen. Eine notwendige Voraussetzung fur entsprechende Auswertungen sind personenbezogen und langsschnittlich erfasste Daten, die bei der Auswertung von Datenbestanden aus dem Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung jedoch regelmafiig erfullt ist. 3.3.1 Stationare Versorgung Stationar bzw. im Krankenhaus werden in der Regel lediglich schwerere Erkrankungsfalle behandelt. Krankenhausaufenthalte stellen insofern relativ seltene Ereignisse dar. Innerhalb eines Kalenderjahres waren nach geschlechts- und altersstandardisierten Auswertungen von GEK-Daten (unter Ausnahme von Neugeborenen) 12,6% aller Versicherten von mindestens einem Krankenhausaufenthalt unter einer beliebigen Diagnose betroffen (vgl. Tabelle 3.2, erste 7 Ergebnisspalten). Also wurde lediglich etwa jeder achte Versicherte innerhalb eines Jahres uberhaupt zur stationaren
Versorgungsgeschehen
47
Versorgung in ein Krankenhaus aufgenommen. Nur 0,7% aller Versicherten wurden innerhalb eines Jahres unter der Hauptdiagnose einer psychischen Storung im Krankenhaus behandelt. Unter der Hauptdiagnose einer Depression befanden sich lediglich 0,14%, also 14 von 10.000 Versicherten, im Krankenhaus.
Tab. 3.2:
Diagnose
Anteil Versicherte mit Diagnosestellung innerhalb definierter Zeitraume Anteil Versicherte mit Krankenhausbehandlung innerhalb eines Kalenderjahres (Daten 2002 - 2004) mit Haupt- mit Hauptoder Nediagnose bendiagnose
Anteil Versicherte mit ambulanter arztUcher Behandlung und Nennung einer Diagnose (Daten 2004) im 1.
im2.
im3.
Quartal
Quartal
Quartal
im 1. Halbjahr gesamt
o /o §§ %li ~%* %* ~§ %* 12,63% 69,32% 69,55% beliebige Diagnosen 68,67% 82,51% 12,63% ICDIO-KapitelV 0,69% 15,35% 13,58% 20,83% 1,92% 15,48% "Psychische Storungen" F32 "Depressive Epi- 0,09% 4,32% 3,72% 5,74% 0,34% 4,23% sode" 1,10% 0,91% 1,39% F33 "Rezidivierende 0,06% 0,13% 1,08% depressive Storung" F32 und/oder F33 5,11% 4,38% 6,63% 0,14% 0,43% 5,00% Bezugspopulation: alle Versicherten mit Versicherung am 1. Januar eines Jahres und mehr als 182 Versicherungstagen; geschlechts- und altersstandardisierte Werte, Standard: Bevolkerung in Deutschland am 31.12.2003. 5 Bezugspopulation: alle Versicherten mit Versicherung am 1. Januar eines Jahres in durchgangig meldenden KVen (hier ohne Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Sudwiirttemberg, Sachsen); geschlechts- und altersstandardisierte Werte, Standard: Bevolkerung in Deutschland am 31.12.2003.
Entsprechende diagnosespezifische Behandlungsraten liegen merkhch hotter, sofern auch Nennungen als Nebendiagnosen beriicksichtigt werden (vgl. 2. Ergebnisspalte der Tabelle 3.2). Von der ausschliefilichen Nennung einer Depression als Nebendiagnose waren im Auswertungszeitraum etwa doppelt so viele Versicherte betroffen wie von der Behandlung einer Depression mit Nennung als Hauptdiagnose. Die inhaltliche Interpretation von quantitativen Ergebnissen unter Einbeziehung von Nebendiagnosen zu Krankenhausaufenthalten ist allerdings nur eingeschrankt moglich, da bislang keine verbindlichen Kriterien fur die Nennung einer Nebendiagnose existieren. Im Zuge der Einfuhrung von Diagnosis Related Groups (DRGs) hat innerhalb der letzten Jahre die Zahl der erfassten Nebendiag-
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Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
nosen je Behandlungsfall erheblich zugenommen, so dass Auswertungsergebnisse aus langer zuriickliegenden Zeitraumen mit aktuellen Ergebnissen nicht mehr vergleichbar sind. 3.3.2 Ambulante Versorgung Diagnoseangaben aus der ambulanten kassenarztlichen Versorgung wurden bzw. werden den Gesetzlichen Krankenversicherungen in EDVlesbarer Form erstmals fur das Jahr 2004 personenbezogen ubermittelt. Obwohl die entsprechenden Daten zum Jahr 2004 fur die hier prasentierten Auswertungen im Juni 2005 noch nicht vollstandig von alien Kassenarztlichen Vereinigungen zu alien Quartalen vorlagen, sollen an dieser Stelle erste Ergebnisse zu Daten aus diesem relevanten Versorgungsbereich prasentiert werden. Im Gegensatz zu Krankenhausbehandlungen stellen ambulante arztliche Behandlungen ausgesprochen haufige Ereignisse dar. Innerhalb eines Quartals kontaktierten nach den vorliegenden Ergebnissen 2004 etwa 70% aller Versicherten einen Arzt, innerhalb der ersten beiden Quartale 2004 waren insgesamt mehr als 80% aller Versicherten mindestens einmalig in arztlicher Behandlung (vgl. Tabelle 3.2). Alle Behandlungen eines Patienten innerhalb eines Quartals bei einem Arzt bilden einen Abrechnungsfall. Zu jedem Abrechnungsfall mussen, abgesehen von wenigen Ausnahmen (z.B. Abrechnungen von Laborarzten), Angaben zu Erkrankungsdiagnosen in der jeweils aktuell giiltigen ICD-Diagnosekodierung gemacht werden, wobei die Anzahl der Diagnoseangaben nach oben nicht begrenzt ist. Von dieser Moglichkeit wird in nicht unerheblichem Umfang gebrauch gemacht: Bezogen auf alle Versicherten (inklusive Versicherte ohne Arztkontakte) wurden im ersten Quartal 2004 durchschnittlich mehr als vier unterschiedliche ICDIO-Diagnosen je Person im Rahmen der ambulanten arztlichen Versorgung vergeben (bei Differenzierung auf dreistelliger I CD 10Ebene). Im Gegensatz zur Situation bei Krankenhausbehandlungen werden Hauptdiagnosen bzw. Hauptbehandlungsanlasse in den Daten zur ambulanten Versorgung bislang nicht gesondert gekennzeichnet. Da Diagnosen behandlungsfallbezogen erfasst werden, ist zudem eine genauere zeitliche Zuordnung der Diagnosestellung innerhalb eines Behandlungsintervalls (welches sich iiber maximal ein Quartal erstreckt) nicht moglich. Zu mehr als 15% aller Versicherten wurde innerhalb des ersten sowie des zweiten Quartals 2004 eine Diagnose aus dem ICDIO-Kapitel V "Psychische Storungen" erfasst, innerhalb des ersten halben Jahres waren mit
Versorgungsgeschehen
49
20,8% etwa ein Funftel aller Versicherten von einer entsprechenden Diagnose betroffen. Die Diagnose "Depressive Episode" (F32) und/oder "Rezidivierende depressive Storung" (F33) erhielten im 1. Quartal 2004 5,0% aller Versicherten, in den ersten beiden Quartalen waren insgesamt 6,6%, also etwa einer unter 15 Versicherten, von Depressionen betroffen. Die ambulant gestellte Diagnose einer Depression betrifft innerhalb eines halben Jahres demnach einen mehr als lOfach grofieren Personenkreis als denjenigen, der innerhalb eines Jahres von einer entsprechenden Diagnosestellung im Rahmen eines Krankenhausaufenthaltes (unter Einbeziehung von Nebendiagnosen) betroffen ist. 3.3.3 Behandlung mit Antidepressiva Indirekte Hinweise auf die Erkrankungshaufigkeit sowie auf die Haufigkeit der medikamentosen Behandlung von Depressionen erlauben Auswertungen zu Arzneiverordnungen. Daten von Krankenkassen umfassen dabei zwangslaufig ausschliefilich Arzneiverordnungen, die zu Lasten der Krankenkasse abgerechnet wurden. Ein Antidepressivum auf Rezept und mit Abrechnung zu Lasten der Krankenkasse erhielten im Jahr 2003 gut 5% der Bevolkerung bzw. Versichertenpopulation (vgl. Tabelle 3.3), fur das Jahr 2004 waren Daten nur bis November und damit nicht vollstandig verfugbar. Innerhalb der ersten Quartale des Jahres 2004 lagen die Behandlungsraten mit Antidepressiva merklich unter den bereits genannten Diagnoseraten im Rahmen der ambulanten arztlichen Versorgung. Innerhalb eines Quartals erhielten etwa 2,7% aller Versicherten ein Antidepressivum, in Bezug auf das erste Halbjahr 2004 lasst sich eine kumulative Behandlungsrate von 3,7% angeben, die der entsprechenden Diagnoserate von 6,6% (F32, F33 im Rahmen der ambulanten arztlichen Versorgung) gegeniibergestellt werden kann.
Innerhalb eines Jahres werden lediglich etwa 0,15% der Bevolkerung in einem Akutkrankenhaus unter der Hauptdiagnose einer Depression behandelt. Demgegenuber wird in Daten zur ambulanten arztlichen Versorgung bereits innerhalb eines Quartals bei etwa 5% der Gesamtbevolkerung die Diagnose einer Depression erfasst. Von der Verordnung eines Antidepressivums sind innerhalb desselben Zeitraums etwa 2,7% der Bevolkerung betroffen, innerhalb eines Jahres erhalten etwa 5% der Bevolkerung mindestens einmalig ein rezeptpflichtiges Antidepressivum.
50
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
Tab. 3.3:
Anteil Versicherte mit Arzneiverordnungen innerhalb definierter Zeitraume
Arzneimittelgruppe
in 2003
AlleArzneimittel
83,73%
%*
Anteil Versicherte mit Arzneimittelverordnung (Ergebnisse zu Quartalen aus 2004) imersten imzweiten imdritten iml.HalbQuartal Quartal Quartal jahrgesamt
%*
%*
%*
51,93% 11,91%
50,65% 10,83%
49,18% 10,82%
%*
65,53% 16,66% Anatomische ATC-Gruppe N 30,97% "Nervensystem" N06A "Antidepressiva" 5,04% 2,67% 2,73% 2,80% 3,72% (ohne pflanzliche Praparate) 5 Bezugspopulation: alle Versicherten mit Versicherung am 1. Januar eines Jahres (jeweils zwischen 1,2 und 1,3 Mio. Versicherte in den genannten Jahren); geschlechts- und altersstandardisierte Werte, Standard: Bevolkerung in Deutschland am 31.12.2003.
3.4
Diagnose- und Behandlungsraten nach Alter und Geschlecht
3.4.1 Stationare Versorgung Diagnose- und Behandlungsraten variieren bezuglich der meisten Erkrankungen erheblich in Abhangigkeit vom Alter und Geschlecht. Die nachfolgende Abbildung 3.1 zeigt den Anteil der Versicherten, die innerhalb eines Jahres unter der Hauptdiagnose einer Depression in einem Krankenhaus behandelt wurden in 5jahres-Altersgruppen getrennt fur Manner und Frauen. Vor Vollendung des 15. Lebensjahres sind Krankenhausaufenthalte unter einer entsprechenden Diagnose ausgesprochen selten. Ab dem 21. Lebensjahr variieren die Behandlungsraten unter Mannern mafiig zwischen 0,08% und 0,16%, wobei sich zwei Altersgipfel im Alter zwischen 45-49 Jahren sowie zwischen 75-79 Jahren andeuten. Auffallig sind in jedem Fall verhaltnismafiig geringe Diagnoseraten im Alter zwischen 60 bis unter 70 Jahren. Nach Vollendung des 25. Lebensjahres, insbesondere jedoch in den hoheren Altersgruppen liegen die Diagnoseraten unter Frauen deutlich iiber denen unter Mannern. Der Riickgang der Behandlungsraten um das 60. Lebensjahr herum erscheint unter Frauen weniger deutlich, gleichfalls ist aber auch unter Frauen keine wesentliche Zunahme der Diagnoserate in den hoheren Altersgruppen zu erkennen.
Versorgungsgeschehen
51
Nach altersstandardisierten Auswertungen wurden innerhalb eines Jahres 0,10% der mannlichen und 0,19% der weiblichen Bevolkerung mindestens einmalig unter der Hauptdiagnose einer Depression im Krankenhaus behandelt.
Anteil Versicherte mit Krankenhausaufenthalt im Kalendejahr
0,30% 0,30% Männer 0,25% 0,25%
Frauen
0,20% 0,20%
0,15% 0,1 5%
0,10%
0,1 0%
0,05% 0,05%
0,00% 0,00% 11
55
10 10
15 15
20 20
25 25
30 30
35 35
40 40
45 45
50 50
55 55
60 60
65 65
70 70
75 75
80 80
Altersgruppe Altersgruppe
Abb. 3.1:
Anteil Versicherte mit Krankenhausbehandlung unter der Hauptdiagnose einer Depression innerhalb eines Kalenderjahres nach Geschlecht und Alter (ICD10 F32, F33; GEK 2002 bis 2004)
Eine Einbeziehung von Nebendiagnosen zur Identifikation von Personen mit Krankenhausbehandlungen bei Depressionen fuhrt zu deutlich hoheren Behandlungsraten (vgl. nachfolgende Abbildung 3.2). Dies gilt insbesondere fur Personen nach Vollendung des 75. Lebensjahres, die sehr haufig primar unter anderen Diagnosen im Krankenhaus behandelt werden, wodurch auch die Chance der Erfassung einer an sich nicht stationar behandlungsbedurftigen Depression als Nebendiagnose starker als in anderen Altersgruppen erhoht wird.
52
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
Anteil Versicherte mit Krankenhausaufenthalt im Kalendejahr
1,6% Männer 1,4% Frauen 1,2%
1,0%
0,8%
0,6%
0,4%
0,2%
0,0% 1
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
55
60
65
70
75
80
Altersgruppe
Abb. 3.2:
Anteil Versicherte mit Krankenhausbehandlung und Haupt- oder Nebendiagnose einer Depression innerhalb eines Kalenderjahres nach Geschlecht und Alter (ICD10 F32, F33; GEK-Daten 2002 bis 2004)
3.4.2 Ambulante Versorgung Ambulante Diagnoseraten zu Depressionen innerhalb der ersten beiden Quartale 2004 nach Alter und Geschlecht zeigt die nachfolgende Abbildung 3.3. In alien relevanten Altersgruppen sind Frauen etwa doppelt so haufig wie Manner betroffen. Nach altersstandardisierten Auswertungen wurde innerhalb eines halben Jahres bei 3,7% aller Manner und bei 9,5% aller Frauen die Diagnose einer Depression erfasst. Nach Vollendung des 55. Lebensjahres sind es in den einzelnen Altersgruppen mindestens 14,9% der Frauen, welche die Diagnose einer Depression in den Behandlungsdaten zum ersten Halbjahr 2004 aufweisen. Unter Mannern variieren die Diagnosehaufigkeiten nach Vollendung des 55. Lebensjahres zwischen 6,2% und 9,4%. Auffallig erscheint insbesondere unter Mannern, dass bei Erreichen des regularen Renteneintrittsalters auch im Hinblick auf die hier betrachteten ambulant vergebenen Diagnosen relativ niedrige Diagnoseraten feststellbar sind.
Versorgungsgeschehen
53
1
o
Anteil Versicherte mit ambulanter Diagnose im 1. Halbjahr 2004
22% 22°/ 20%20%
Männer
18%
Frauen
16%16% 14%14%
—
12%12%
«J
10%10%
e
a
>
<
8%8% 6%6%
•
4%4% 2%2% 0% 11
55
. . U. Ill 10 10
15 15
2020
2525
3030
3535
4040
4545
5050
5555
6060
65 65
7070
75 75
80 80
Altersgruppe Alters gruppe
Abb. 3.3:
Anteil Versicherte mit der Diagnose einer Depression innerhalb des ersten Halbjahres (Im Rahmen der ambulanten kassenarztlichen Versorgung nach Geschlecht und Alter (ICD10 F32 und/oder F33; GEK-Versicherte im ersten Halbjahr 2004, ohne Versicherte mit Wohnort im KV-Bereich Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Sudwiirttemberg oder Sachsen).
3.4.3 Behandlung mit Antidepressiva Alters- und geschlechtsspezifische Behandlungsraten mit verschreibungspflichtigen Antidepressiva gleichen den Haufigkeiten von ambulant diagnostizierten Depressionen, bei vergleichbaren Auswertungszeitraumen allerdings auf niedrigerem Niveau angesiedelt. Behandlungsraten, die in Bezug auf Daten eines kompletten Jahres (2003) ermittelt wurden, liegen merklich hoher (vgl. offene Balken in Abbildung 3.4), ohne jedoch die Diagnoseraten aus dem ersten Halbjahr 2004 zu uberschreiten (vgl. auch Abbildung 3.3).
54
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover 17% 7%
Anteil Versicherte mit Antidepressiva-Verordnung im 1. Halbjahres 2004
16% 16%
• Männer Männer Gesamtjahr 2003
15% 5% 14% 14%
• Frauen Frauen Gesamtjahr Gesamtjahr 2003 2003
PI
13% 3%
Männer 1.HJ 2004
12% 12% 11% 1%
• Frauen Frauen 1.HJ 1 .HJ2004 2004 10% 10% 9% 3% 8% 7% 6% 5% 4% 3% 2% 2% 1% 1% 0% 0%
1
_ _ = E1 55
10 10
15 15
20 20
25 25
30 30
35
40
45
50 50
55 55
60 11
65 D5
70 70
75 75
80 30
Altersgruppe Altersgruppe
Abb. 3.4:
Anteil Versicherte mit Antidepressiva-Verordnung innerhalb des ersten Halbjahres 2004 sowie im Jahr 2003 nach Geschlecht und Alter (ATC-Kode N06A, ohne pflanzliche Praparate; Berechnung auf Basis von Daten der GEK)
Nach altersstandardisierten Auswertungen erhielten 2003 insgesamt 3,0% aller Manner sowie 7,0% aller Frauen mindestens einmalig ein Antidepressivum. In Bezug auf das erste Halbjahr 2004 ergeben sich entsprechende Verordnungsraten von 2,2% bei Mannern sowie 5,2% bei Frauen. Uber die Verordnung von nicht-verschreibungspflichtigen Medikamenten wie z.B. Johanniskraut oder anderer als alternativ zu betrachtenden DepressionsBehandlungen geben die Krankenkassendaten keine Auskunft. Frauen sind nach den vorliegenden Ergebnissen insgesamt etwa doppelt so haufig von der Diagnose Depressionen sowie von Antidepressivaverordnungen betroffen wie Manner. Daten aus der ambulanten Versorgung zeigen eine diskontinuierlich zunehmende Haufigkeit der Diagnose und medikamentosen Behandlung von Depressionen mit ansteigendem Lebensalter. Insbesondere unter Mannern finden sich um das 65. Lebensjahr herum verhaltnismafiig niedrige Diagnose- und Behandlungsraten. Bei Frauen wie bei Mannern fallen die hochsten Behandlungs- und Diagnoseraten in der Altersgruppe nach Vollendung des 80. Lebensjahres an.
Versorgungsgeschehen 3.5
55
Zeitliche Trends der Behandlungsraten
Mittelfristige Trends der Erkrankungshaufigkeit sind im Hinblick auf Depressionen auf der Basis von administrativen Daten nur mit bestimmten Einschrankungen darstellbar, obwohl Daten zu Arbeitsunfahigkeiten sowie zu Krankenhausaufenthalten mit Diagnoseangaben bereits seit Beginn der 90er Jahre verfugbar sind. Schwierigkeiten resultieren aus der Umstellung der Diagnosekodierung von ICD9 auf ICD10 ab dem Jahr 2000, die insbesondere in Bezug auf die Erfassung von Depressionen eine weitgehende Umstrukturierung und Veranderung der Systematik der Diagnosezuordnung bedeutet (vgl. Abschnitt Erfassung von Depressionen in Kassendaten am Anfang des Kapitels). Aus diesem Grand wird auf eine Darstellung von Diagnosehaufigkeiten aus den Jahren vor 2000 verzichtet. 3.5.1 Stationa re Versorgung 2000 versus 2004 Krankenhausaufenthalte mit dem Hauptbehandlungsanlass Depressionen eignen sich aufgrund der Seltenheit entsprechender Ereignisse selbst bei Verfugbarkeit von Daten aus relativ grofien Populationen nur zu einer iibergreifenden Darstellung von zeitlichen Trends. Nach altersstandardisierten Auswertungen stieg zwischen 2000 und 2004 der Anteil Versicherter mit Krankenhausbehandlungen innerhalb eines Kalenderjahres primar wegen Depressionen (ICDIO-Kode F32, F33) unter Mannern von 0,07% auf 0,10%, unter Frauen von 0,14% auf 0,20%. Dies entspricht bei beiden Geschlechtern einer relativen Zunahme der Behandlungsrate von 39% bei einem zeitlichen Abstand der Erhebungszeitraume von 4 Jahren.
Tab. 3.4:
5
Anteil Versicherte mit Krankenhausbehandlung unter der Hauptdiagnose einer Depression (stand.) 2000
2001
2002
2003
2004
Manner
0,07%
0,08%
0,10%
0,10%
0,10%
Frauen
0,14%
0,17%
0,18%
0,19%
0,20%
Gesamt
0,11%
0,12%
0,14%
0,14%
0,15%
Bezugspopulation: alle Versicherten mit Versicherung am 1. Januar eines Jahres (jeweils zwischen 1,2 und 1,3 Mio. Versicherte in den genannten Jahren); geschlechts- und altersstandardisierte Werte, Standard: Bevolkerung in Deutschland am 31.12.2003.
3.5.2 Behandlung mit Antidepressiva 1998 versus 2003 Auswertungen zu Trends mit Differenzierungen nach Geschlechts und Altersgruppen bieten sich hinsichtlich der Verordnung von Antidepressiva
56
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
an. Zwangslaufig werden damit primar Ergebnisse zu medikamentosen Behandlungen berichtet, die sich, z.B. verlaufsabhangig, auch unabhangig von Diagnoseraten verandern konnen. Abbildung 3.5 stellt die Anteile der mannlichen Versicherten in 5JahresAltersgruppen mit Verordnung eines Antidepressivums innerhalb des Jahres 1998 sowie funf Jahre spater, im Jahr 2003, dar. Entsprechende Werte zu weiblichen Versicherten finden sich in Abbildung 3.6.
Anteil Versicherte mit Antidepressiva-Verordnung im Kalenderjahr
9%
7,8%
8% 7,0% 2003 7% 1998 5,9%
5,6%
6% 4,9%
4,9%
5,8%
4,6%
5% 5,0% 3,7% 4%
4,6% 4,1%
3,0%
3,6% 3%
2,4%
3,3%
3,4%
1,9% 2,6%
1,7%
2% 1,1%
2,1% 1,5%
1%
0,4% 0,1%
0,2%
5
10
1,2% 0,8% 0,7%
0% 15
20
25
30
35
40
45
50
55
60
65
70
75
80
Altersgruppe (Männer)
Abb. 3.5:
Anteil mannliche Versicherte mit Antidepressiva-Verordnung im Jahr 1998 und 2003 nach Alter (ATC-Kode N06A, ohne pflanzliche Praparate; Berechnung auf Basis von Daten der GEK)
Offensichtlich wird bei der Darstellung zu Verordnungsraten unter Mannern, dass eine grundsatzlich vergleichbare Altersabhangigkeit der Verordnungsraten mit einem ersten Gipfel vor Vollendung des 60. Lebensjahres und relativ hohen und weiter ansteigenden Raten nach Vollendung des 75. Lebensjahres in beiden Jahren nachweisbar ist. Dabei liegen die Behandlungsraten in alien relevanten Altersgruppen 1998 auf einem merldich
Versorgungsgeschehen
57
!
Anteil Versicherte mit Antidepressiva-Verordnung im Kalenderjah
niedrigerem Niveau. Nach altersstandardisierten Auswertungen wurden 1998 2,08% aller Manner im Alter iiber einem Jahr mit Antidepressiva behandelt, 2003 waren es demgegenuber bereits 2,98%. Dies entspricht einem Anstieg der Behandlungsrate fur Manner um 43%. Die starksten absoluten Differenzen der Behandlungsraten zwischen 1998 und 2003 (in Prozentpunkten) finden sich in den bereits 1998 haufig behandelten oberen Altersgruppen, hohe relative Unterschiede hinsichtlich der Behandlungsraten finden sich demgegenuber insbesondere in den jiingeren Altersgruppen. 17% 16% 16% 15% 15% 14% 14% 13% 13% 12% 12% 11% 11% 10% 10% 9% 9% 8% 8% 7% 7% 6% 6% 5% 5% 4% 4% 3% 3% 2% 2% 1% 1% 0,0% 0,0% 0%
5
5
16,1% 16,1% 14,4% f 14,4% Jf
13,5% 13,5%
^^^2003 2003
11,9% f 11,9% 11,4% S 11,4% JL 10,2% X 10,2% 1 10,0% 0 , 0 % / > v /
^^—1998 1998
M. 8,1% f 8,1% JL 6,3% / 6,3% f
2,4% 2,4%
4,8%^/^ 4,8% 4,0% jf 4,0% ^ ^ ^ £f
3,1% 3,1% .^r
j f ^^r
0,9% ^ r 0,9%
0,1% ^Cs*?Z 0,1% ^^^^
10 10
15 15
1,7 % 1,7%
Jf ^J^T
^^ /
JS^ 5,3% 5,3%
> *
Jr
.**^8,0% 8,0% 7,5% 7,5%
11,8% 11,8%
10,9% 10,9%
10,0% 10,0%
8,9% 8,9%
6 7% 6,7%
4,4% 4,4%
3,2% 3,2%
2,5% 2,5%
1,1% 1,1% 20 20
25 25
30 30
35 35
40 40
45 45
50 50
55 55
60 60
65 65
70 70
75 75
80 80
Altersgruppe (Frauen) Altersgruppe (Frauen)
Abb. 3.6:
Anteil weibliche Versicherte mit Antidepressiva-Verordnung im Jahr 1998 und 2003 nach Alter (ATC-Kode N06A, ohne pflanzliche Praparate; Berechnung auf Basis von Daten der GEK)
Auffallig beim Vergleich der altersabhangigen Behandlungsraten 1998 und 2003 bei Frauen ist, neben einem allgemeinen Anstieg der Behandlungsraten in nahezu alien relevanten Altersgruppen, eine relativ geringe Behandlungsrate in der Altersgruppe der 60 bis unter 65Jahrigen Frauen im Jahr 2003, die 1998 in der entsprechenden Altersgruppe noch nicht nachweisbar war und die nach bereits dargestellten Ergebnissen auch in den Diagnoseraten aus der ambulanten Versorgung zum ersten Halbjahr 2004 eine
58
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
Entsprechung finden. Insgesamt ist nach altersstandardisierten Auswertungen die Behandlungsrate unter Frauen von 4,91% im Jahr 1998 auf 7,01% im Jahr 2003 angestiegen. Die Behandlungsrate ist damit bei Frauen insgesamt in den 5 Jahren wie bei den Mannern um 43% gestiegen.
Sowohl von Krankenhausbehandlungen unter der Hauptdiagnose einer Depression als auch von Behandlungen mit Antidepressiva ist innerhalb der vergangenen Jahre ein zunehmender Anteil der Bevolkerung betroffen. Wahrend 1998 erst 3,5% der Bevolkerung ein Antidepressivum erhielten, waren es 2003 5,0%, was einer relativen Zunahme von 43% nach funf Jahren entspricht. Die hier gefundenen Steigerungsraten hinsichtlich der stationaren Behandlung seit 2000 bewegen sich in einer vergleichbaren Grofienordung. Die Zunahmen betreffen beide Geschlechter in gleichem Mafie sowie auch alle relevanten Altersgruppen.
3.6
Diagnose- und Behandlungsraten in den Bundeslandern
Antidepressiva-Verordnungen und insbesondere die Diagnose einer Depression im Rahmen der ambulanten Versorgung betreffen relativ grofie Personenkreise, was Auswertungen zu entsprechenden Ereignissen auch auf regionaler Ebene ermoglicht (sofern Angaben aus den betreffenden Regionen vorliegen). Nachfolgend dargestellt werden Unterschiede auf Bundeslandebene zu Bevolkerungsanteilen mit der Diagnose einer Depression sowie Unterschiede bei den bevolkerungsbezogenen Behandlungsraten mit Antidepressiva (vgl. Abbildung 3.7 und 3.8). Um Einflusse von Unterschieden hinsichtlich der Alters- und Geschlechtsstruktur zwischen einzelnen Bundeslandern unter Versicherten der GEK auf die Ergebnisse zu minimieren, wurden indirekt standardisierte Raten ermittelt. Dargestellt werden als Ergebnisse die prozentualen Abweichungen der beobachteten Diagnose- bzw. Behandlungsraten von den auf der Basis von bundesweit ermittelten Ergebnissen erwarteten Raten. Der Anteil an Versicherten mit einer innerhalb des ersten Quartals ambulant gestellten Diagnose einer Depression variiert von Bundesland zu Bundesland erheblich. Wahrend in Sachsen-Anhalt die Diagnoserate um 41% unter dem Erwartungswert liegt, iibersteigt sie den Erwartungswert in Berlin um 29%. Abgesehen von diesen Extremwerten lasst sich feststellen,
Versorgungsgeschehen
59
dass in alien Neuen Bundeslandern die Erwartungswerte regelmaCig um mehr als 20% unterschritten werden. Erhohte Diagnoseraten finden sich demgegenuber aufier in Berlin insbesondere im Saarland (+16%), aber auch in Hessen (+14%) sowie in Bayern (+10%).
Abb. 3.7:
Abweichung der beobachteten von der erwarteten Diagnoserate Depressionen in Bundeslandern (GEK 1. Quartal 2004, ohne Schleswig-Holstein, indirekte Alters- und Geschlechtsstandardisierung Werte; n= 1.223.557)
Auswertungen zu Verordnungen von Antidepressiva ergeben ein partiell abweichendes Bild. In Analogie zu den diagnosebezogenen Ergebnissen finden sich in den Neuen Bundeslandern durchgangig auch geringe Behandlungsraten mit Antidepressiva, die jeweils um mehr als 20% niedriger liegen, als aufgrund der Alters- und Geschlechtsstruktur der Bevolkerung zu erwarten ware. Hohe Verordnungsraten finden sich in den westlichen Bundeslandern Nordrhein-Westfahlen (+10%), dem Saarland (+25%) sowie in Rheinland-Pfalz (+26%). Auffallig ist die um 10% hinter dem Erwartungswert zuriickbleibende Behandlungsrate mit Antidepressiva in Berlin. Obwohl in Berlin im Rahmen der ambulanten arztlichen Versorgung ein
60
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
um fast ein Drittel hoherer Bevolkerungsanteil die Diagnose einer Depression erhalt, liegen die Behandlungsraten mit Antidepressiva also noch unter dem Erwartungswert
Abb. 3.8:
Abweichung der beobachteten von der erwarteten Verordnungsrate Antidepressiva in Bundeslandern (GEK 1. Quartal 2004, indirekte Alters- und Geschlechtsstandardisierung; n= 1.299.154)
Diagnosehaufigkeiten und medikamentosen Behandlungsraten variieren im Hinblick auf Depressionen auf Bundeslandebene um etwa 50%. In den Neuen Bundeslandern finden sich durchgangig sowohl Diagnoseals auch Behandlungsraten, die um mehr als 20% unter den Werten liegen, welche aufgrund der spezifischen Alters- und Geschlechtsstruktur in diesen Bundeslandern nach bundesweit ermittelten Ergebnissen zu erwarten waren. Die gleichgerichteten Ergebnisse zu beiden Erhebungsparametern sprechen primar fur die Annahme eines reduzierten Erkrankungsrisikos im Hinblick auf Depressionen in den Neuen Bundeslandern. Alternativ kann jedoch auch eine andere Diagnose- und Behandlungskultur als Ursache nicht ausgeschlossen werden.
Versorgungsgeschehen
61
Die Diagnoseraten in Berlin liegen deutlich iiber den Erwartungswerten. Trotz der hohen Diagnoseraten finden sich in Berlin aber nur unterdurchschnittliche Verordnungshaufigkeiten an Antidepressiva. Dieses Ergebnis konnte auf eine Praferenz nichtmedikamentoser Therapien bei Depressionen in Berlin hindeuten. Relativ hohe Diagnose- und Behandlungsraten finden sich insbesondere im Saarland, mit unterschiedlichen Auspragungen auch in RheinlandPfalz, Hessen und Bayern. Auf die Ergebnisse zu regionalen Unterschieden wird am Ende dieses Kapitels zum Versorgungsgeschehen im Rahmen der Diskussion noch weiter eingegangen.
3.7
Risikofaktoren fur die Diagnose Depression
In den vorausgehenden Abschnitten wurden neben regionalen Variationen bereits Einflusse von Alter und Geschlecht auf die Diagnose- und Behandlungshaufigkeiten von Depressionen dargestellt. In den Daten von Krankenkassen werden weitere Merkmale erfasst, fur die Zusammenhange mit der Haufigkeit von depressiven Storungen angenommen oder vermutet werden konnen. Hierzu zahlen die Merkmale Familienstand, berufliche Stellung und Arbeitslosigkeit sowie Stadt-Land-Unterschiede. Allerdings sind nicht all diese Merkmale zu alien Versicherten gleichermafien verfugbar. Naturgemafi existieren aktuelle Informationen zur beruflichen Stellung nur zu Erwerbspersonen. Bei berenteten Mitgliedern liefien sich Informationen zur vorausgehenden Berufstatigkeit partiell aus historischen Daten rekonstruieren, bei Familienversicherten konnen entsprechende Informationen iiber das zugehorige Mitglied in den verfugbaren Daten nicht eruiert werden. Die nachfolgend dargestellte Auswertung beschrankt sich vor diesem Hintergrund auf Personen, die am 1. Januar 2004 als Erwerbspersonen bei der GEK versichert waren, wobei als Erwerbspersonen hier Arbeiter und Angestellte (unter oder iiber der Beitragsbemessungsgrenze) sowie Arbeitslose (mit Beitragszahlungen zur Krankenversicherung durch die Arbeitslosenversicherung) verstanden werden sollen.
62
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
3.7.1 Logistische Regressionsmodelle In den Modellrechnungen werden zunachst Einflusse von Pradiktoren auf das Risiko, im Rahmen der ambulanten arztlichen Versorgung innerhalb des ersten Quartals 2004 die Diagnose einer Depression (ICD10 F32 und/oder F33) zu erhalten, ermittelt. Als potenzielle Pradiktoren werden neben Alter und Geschlecht der Erwerbsstatus am 1. Januar 2004, der Familienstand sowie die Wohnregion beriicksichtigt. Zwei Varianten dieser Modellrechnungen sind in Tabelle 3.5 dargestellt. Zusatzlich finden sich in der Tabelle Ergebnisse einer dritten Modellrechnung zum Risiko der Verordnung von Antidepressiva innerhalb des ersten Halbjahres 2004. Als Ergebnisparameter aus den Berechnungen von logistischen Regressionsmodellen werden Odds Ratios (OR) fur einzelne Kategorien von Merkmalauspragungen mit 95%-Vertrauensbereichen angegeben (95%KI). Die Odds Ratios entsprechen in den vorliegenden Auswertungsergebnissen relativen Risiken. Berichtet werden also sinngemafi Quotienten aus dem Risiko in einer Gruppe von Personen mit einer bestimmten Merkmalsauspragung und dem Risiko von Personen mit Merkmalsauspragungen aus einer festgelegten Referenzkategorie (eine OR von 1 wurde bei gleichem Risiko in beiden Gruppen resultieren, ein Wert von 0,5 entspricht etwa der Halbierung des Risikos in der Gruppe mit einer bestimmten Merkmalsauspragung im Vergleich zur Referenzgruppe, ein Wert von 2 entsprache einer Verdoppelung des Risikos). Insgesamt konnten jeweils 606.056 Erwerbspersonen in die drei dargestellten Modellrechnungen einbezogen werden. Von diesen Personen erhielten im Rahmen der ambulanten Versorgung innerhalb des ersten Quartals 2004 20.589 (3,4%) die Diagnose einer Depression. Innerhalb des ersten Halbjahres 2004 wurden bei 15.468 Personen aus der Gesamtgruppe entsprechend einem Anteil von 2,55% rezeptpflichtige Antidepressiva verordnet.
Versorgungsgeschehen Tab. 3.5:
63
Risikofaktoren fur Depressionen (logistische Regressionsmodelle)
Abhangiges Merkmal (Zielereignis) Population darunter mit Zielereignis
Geschlecht mannlich weiblich Alter in 2004 15-19lahre 20-24 Jahre 25-29 lahre 30-34 Jahre 35-39 Jahre 40-44 Jahre 45-49 Jahre 50-54 Jahre 55-59 Jahre 60-64 Jahre Familienstand ledig verheiratet verwitwet geschieden Berufsstatus am 1.1.2004 Arbeiter Angestellter Arbeitslos Arbeiter, freiw. vers. Angestellter, freiw. vers. W onnort Alte Bundeslander Berlin Neue Bundeslander Arbeitslos (regionale XLiiejviiiiituiiijutiioiiy
Modell 1 ambulante Diagnose F32/F33 im l.Quartal2004 n = 606.056* n = 20.589 Odds Ratic (95% KI)**
Modell 2 ambulante Diagnose F32/F33 im l.Quartal2004 n = 606.056* n = 20.589 Odds Ratio (95% KI)**
Modell 3 AntidepressivaVerordnung 1. Halbjahr2004(ATCN06A) n = 606.056* n = 15.468 Odds Ratio (95% KI)**
1 (Ref.) 2,57 (2,49 -• 2,64)
1 (Ref.) 2,56 (2,48 - 2,64)
1 (Ref.) 2,08 (2,00 - 2,15)
0,22 (0,18 - 0,27) 0,43 (0,40 - 0,47) 0,65 (0,61 - 0,70) 0,80 (0,75 - 0,85) 1 (Ref.) 1,24(1,18- 1,30) 1,47 (1,39 - 1,55) 1,92 (1,82 - 2,02) 2,30(2,17- 2,43) 1,94 (1,80 - 2,09)
0,22 (0,18 - 0,27) 0,43 (0,40 - 0,47) 0,65 (0,61 - 0,70) 0,80 (0,75 - 0,85) 1 (Ref.) 1,24(1,18-1,31) 1,47 (1,40 - 1,55) 1,92 (1,82 - 2,02) 2,29(2,17-2,42) 1,93 (1,80 - 2,08)
0,23 (0,18 - 0,29) 0,38 (0,34 - 0,43) 0,60 (0,55 - 0,65) 0,78 (0,73 - 0,84) 1 (Ref.) 1,27(1,20- 1,35) 1,56(1,47-1,65) 2,02 (1,91 - 2,15) 2,28 (2,14 - 2,43) 1,63(1,49-1,78)
1,13 (1,09 - 1,17) 1 (Ref.) 1,57 (1,39 - 1,78) 1,52 (1,46 - 1,59)
1,13 (1,09 - 1,17) 1 (Ref.) 1,58 (1,40 - 1,78) 1,52 (1,45 - 1,59)
1,09(1,04-1,14) 1 (Ref.) 1,37(1,18-1,58) 1,34(1,27- 1,41)
1 (Ref.) 1,05 (1,01 - 1,09) 1,97 (1,89 - 2,05) 0,72 (0,59 - 0,88) 0,79 (0,73 - 0,85)
1 (Ref.) 1,05 (1,01 - 1,09) 2,21(2,11-2,31) 0,73 (0,60 - 0,89) 0,80 (0,74 - 0,86)
1 (Ref.) 1,00 (0,96 - 1,04) 2,10(2,00-2,21) 0,75 (0,61 - 0,93) 0,80 (0,73 - 0,86)
1 (Ref.) 1,08 (1,02 - 1,14) 0,57 (0,55 - 0,60)
1 (Ref.) 1,19(1,12-1,27) 0,64 (0,61 - 0,67)
1 (Ref.) 0,80 (0,74 - 0,88) 0,69 (0,66 - 0,73)
0,70 (0,62 - 0,80) 0,86 (0,73 - 1,00) in Berlin in Neuen Bundeslandern 0,68 (0,62 - 0,74) 0,72 (0,65 - 0,80) Erwerbspersonen am 1. Januar 2004; Alter zwischen 15 bis unter 65 Jahren; versichert als Arbeitslose, Arbeiter oder Angestellte; dokumentierte Versicherungszeit liber nachfolgend mindestens 183 Tage in 2004; ohne Versicherte mit Wohnort in Schleswig-Holstein. ' Odds Ratios mit Angabe von 95%-Vertrauensbereichen bzw. Konfidenzintervallen.
64 •
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover Geschlecht und Alter: Geschlecht und Alter zeigen auch in den multivariaten Modellen die bereits deskriptiv dargestellten Zusammenhange mit Depressionen. Das Risiko fur eine entsprechende Diagnose (Modell 1 und 2) liegt unter Frauen etwa 2,5fach hoher als bei Mannern, die geschlechtsabhangigen Unterschiede sind im Hinblick auf die Antidepressiva-Behandlung bei einer OR von 2,1 fur Frauen vs. Manner nicht ganz so ausgepragt. Bis zum 60. Lebensjahr steigt das Risiko fur Depressionen in alien Modellvarianten. Im Vergleich zu den 55 bis unter 60Jahrigen zeigt die alteste hier beriicksichtigte Altersgruppe der 60 bis unter 65Jahrigen ein merklich reduziertes Risiko. Familienstand: Im Vergleich zur Referenzgruppe der Verheirateten weisen Ledige ein statistisch abgesichertes, aber nur leicht erhohtes Risiko fur Depressionen auf (OR: 1,13). Das Risiko fur die Diagnose einer Depression von verwitweten und geschiedenen Erwerbspersonen liegt im multivariaten Modell in den hier beriicksichtigten Altersgruppen bis unter 65 Jahre etwa 50% iiber dem von Verheirateten. Etwas geringer ausgepragte, jedoch grundsatzlich gleichgerichtete Einflusse zeigt der Familienstand im Hinblick auf die Verordnung von Antidepressiva. Berufsstatus: Die Zuordnung von Berufstatigen zur Arbeitern oder Angestellten (kassenseitig bislang relevant im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit entsprechenden Rentenversicherungstragern) zeigt in der untersuchten Population nur einen marginalen Einfluss auf das Risiko von Depressionen, wobei Angestellte im Vergleich zu Arbeitern nach den vorliegenden Ergebnissen tendenziell eher haufiger betroffen sind. Deutlich sichtbar ist in den Modellrechnungen demgegenuber ein um etwa ein Viertel reduziertes Risiko von Versicherten mit Einkommen liber der Beitragsbemessungsgrenze im Vergleich zu Personen mit geringeren Einkunften. Personen mit Finanzierung der Kassenbeitrage durch die Arbeitslosenversicherung, also die Gruppe der Arbeitslosen im Sinne der Auswertung, weisen demgegenuber im Vergleich zu Arbeitern (mit Einkommen unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze) ein knapp 2fach erhohtes Risiko auf. Wohnregion: In der Modellvariante 1 zeigen sich bei gleichzeitiger Kontrolle fur die bereits aufgefuhrten Einflussfaktoren in Berlin im Vergleich zu den iibrigen Alten Bundeslandern nur leicht erhohte Diagnoserisiken. Erwerbspersonen aus den Neuen Bundeslandern weisen nach einer Kontrolle fur die iibrigen genannten Einflussgrofien ein er-
Versorgungsgeschehen
65
heblich reduziertes Diagnoserisiko auf, welches um etwa 40% unter dem Risiko in den Alten Bundeslandern liegt. •
Regionale Effektmodifikation: In Modell 2 (sowie in Modell 3) wurde zusatzlich zu den Merkmalen in Modell 1 ein abgeleitetes Merkmal "Arbeitslos in ..." beriicksichtigt, um regionale Unterschiede hinsichtlich der Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf das Risiko von Depressionen, also eine Modifikation der Effekte der Arbeitslosigkeit in Abhangigkeit vom Wohnort, aufdecken zu konnen. Durch diese zusatzliche Beriicksichtigung andert sich die Interpretation auch anderer Modellparameter: Die zu der (Grand-) Merkmalsauspragung "Arbeitslos" angegebene Odds Ratio reprasentiert in Modell 2 das Risiko von Arbeitslosen (im Vergleich zu Arbeitern) in den Alten Bundeslandern. Die Odds Ratios fur die regulare Wohnortzuordnung reprasentieren die regionalen Abweichungen der Risiken fur Depressionen im Vergleich zu den Alten Bundeslandern ausschliefilich im Hinblick auf Berafstatige, wahrend die Odds Ratios fur das zusatzlich eingefuhrte Merkmal "Arbeitslos in ...." die regionalen Abweichungen der Risiken bei Arbeitslosigkeit von den Risiken bei Arbeitslosigkeit in den Alten Bundeslandern im Sinne einer Effektmodifikation bzw. Interaktion reprasentieren. Die mit Arbeitslosigkeit verbundenen Odds Ratios aufierhalb der Alten Bundeslander ergeben sich dabei erst aus dem Produkt der Odds Ratio fur Arbeitslosigkeit in den Alten Bundeslandern und der im Sinne eines Effektmodifikators berechneten Odds Ratio fur regionale Arbeitslosigkeit.
Inhaltlich erlaubt Modell 2 folgende erganzende Interpretationen: •
Die Odds Ratio bzw. das relative Risiko fur die Diagnose einer Depression betragt bei Arbeitslosen im Vergleich zu berufstatigen Arbeitern in den Alten Bundeslandern 2,2. Arbeitslose weisen im Vergleich zu Berufstatigen in den Alten Bundeslandern also ein mehr als zweifach erhohtes Risiko fur Depressionen auf.
•
Unter Berufstatigen ist das Risiko fur eine Depressionsdiagnose in Berlin im Vergleich zum Risiko bei Berufstatigen in den Alten Bundeslandern um knapp 20% erhoht (OR: 1,19), unter Berufstatigen in den Neuen Bundeslandern liegt es um etwa 35% niedriger als in den Alten Bundeslandern (OR: 0,64).
•
Die Unterschiede der Risiken von Arbeitslosen im Vergleich zu Berufstatigen sind sowohl in Berlin als auch in den Neuen Bundeslandern
66
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover deutlich geringer ausgepragt als in den Alten Bundeslandern. So betragt die entsprechende Odds Ratio rechnerisch in Berlin 2,21* 0,70=1,55 und in den Neuen Bundeslandern 2,21*0,68=1,50. Sowohl in Berlin als auch in den Neuen Bundeslandern sind Arbeitslose also nur etwa anderthalb mal so haufig von Depressionen betroffen wie Berufstatige, wahrend sich die Raten in den Alten Bundeslandern zwischen Arbeitslosen und Berufstatigen um mehr als den Faktor 2 unterscheiden.
In Modell 3 werden entsprechende Einfufigrofien auf die Verordnungshaufigkeit von Antidepressiva innerhalb des ersten Halbjahres 2004 ermittelt, wobei ein grundsatzlich vergleichbares Bild hinsichtlich der Einflussfaktoren wie bei der Betrachtung zur Diagnosehaufigkeit im ersten Quartal 2004 resultiert. Eine Ausnahme resultiert aus den bereits deskriptiv dargestellten relativ geringen Verordnungsraten an Antidepressiva trotz hoher Diagnoseraten in Berlin. Auch in den Ergebnissen der multivariaten Modellrechnung kommt eine reduzierte Verordnungshaufigkeit in Berlin zum Ausdruck, wahrend die Modellrechnungen zur Diagnosehaufigkeit ein erhohtes Risiko in Berlin aufzeigen. Multivariate Modellrechnungen auf der Basis von Krankenkassendaten zu Erwerbspersonen bestatigen damit zunachst die auch in epidemiologischen Studien nachweisbaren erhohten Risiken fur Depressionen bei weiblichem Geschlecht, bei einem Alter um 55 Jahre sowie bei Verwitweten und Geschiedenen im Vergleich zu Verheirateten. Bei Berufstatigen mit hoheren Einkiinften zeigen sich reduzierte Risiken, was einen ebenfalls haufiger beschriebenen negativen Zusammenhang zwischen Sozialschicht und Depressionshaufigkeit vermuten lasst (mit geringeren Erkrankungsrisiken bei hoherer Schichten).
Merklich erhoht ist das Risiko fur eine Depressionsdiagnose nach den vorliegenden Ergebnissen bei Arbeitslosen. Die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit sind dabei nach weiterfuhrenden Modellrechnungen allerdings regional unterschiedlich stark ausgepragt. Im Vergleich zu Ergebnissen aus den Alten Bundeslandern ist der mit Arbeitslosigkeit verbundene Risikoanstieg in Berlin und den Neuen Bundeslandern geringer. In den Neuen Bundeslandern findet sich zugleich auch fur die Gruppe der Berufstatigen im Vergleich zu Berufstatigen in den Alten Bundeslandern ein deutlich reduziertes Diagnoserisiko.
Versorgungsgeschehen
67
Die Interpretation von regional unterschiedlichen Ergebnissen erscheint nicht einfach. Nicht auszuschliefien sind als potenzielle Einfiiisse bei der Auswertung von Routinedaten regional differierende Diagnose- und Verordnungsgewohnheiten der Arzte sowie auch Unterschiede im Krankheitsempfmden und bei der Symptomdarstellung von Patienten. Gleichgerichtete Ergebnisse sowohl im Hinblick auf die Diagnoseraten als auch im Hinblick auf Antidepressiva-Verordnungen sprechen allerdings zumindest primar fur die Annahme einer geringeren Haufigkeit von depressiven Erkrankungen im Sinne einer reduzierten "wahren" Erkrankungspravalenz in den Neuen Bundeslandern. Sowohl in Berlin als auch in den Neuen Bundeslandern finden sich geringere Arbeitslosigkeits-assoziierte Risiken fur Depressionen als in den Alten Bundeslandern - in den beiden Regionen findet sich gleichzeitig auch hohere Arbeitslosigkeitsquoten als in den Alten Bundeslandern. Moglicherweise tragt dies zu einer geringeren Stigmatisierung bzw. Ausgrenzung von Arbeitslosen bei. Gleichzeitig kamen bei einer hohen Arbeitslosigkeitsquote alternativ anzunehmende Selektionseffekte nicht in dem Ausmafi zum Tragen: Wahrend gemafi der Selektionshypothese bei geringer Arbeitslosigkeit tendenziell vorwiegend kranke Arbeitnehmer in die Arbeitslosigkeit entlassen werden, sind bei hoher, strukturbedingter Arbeitslosigkeit zunehmend auch gesundheitlich nicht eingeschrankte Arbeitnehmer betroffen. Allerdings lassen sich als Ursache der regionalen Unterschiede hinsichtlich der Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auch grundsatzlichere Unterschiede in der Sozialisation in den betrachteten Regionen vermuten, die nicht in einfachen Mafizahlen wie Arbeitslosigkeitsquoten erfasst werden konnen. Hierfur durfte sprechen, dass an dieser Stelle nicht weiter dokumentierte Modellrechnungen bei einer Beschrankung ausschliefilich auf die Alten Bundeslander keine Hinweise auf eine Effektmodifikation durch unterschiedlich hohe Arbeitslosigkeitsquoten auf Kreisebene ergaben, also in den Alten Bundeslandern die Auswirkungen der individuellen Arbeitslosigkeit auf das Risiko von Depressionen in Kreisen mit hoher Arbeitslosigkeit nicht geringer waren als in Kreisen mit niedriger Arbeitslosigkeit. Auf die Ergebnisse zu regionalen Unterschieden wird am Ende dieses Kapitels zum Versorgungsgeschehen im Rahmen der Diskussion noch weiter eingegangen.
68
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
3.7.2 Bevolkerungsdichte und Depressionen Die relativ hohen Diagnoseraten in Berlin lassen Stadt-Land-Unterschiede bei der Haufigkeit von Depressionen mit allgemein hoheren Raten in Grofistadten vermuten. Grundsatzlich lassen sich entsprechende Unterschiede auch in den vorliegenden Daten in Modellrechnungen mit Kontrolle fiir Geschlecht und Alter, Familienstand sowie Berufsstaus nachweisen, wenn als Pradiktoren in den Modellrechnungen zusatzlich sechs unterschiedliche Kategorien der Bevolkerungsdichte der Wohngemeinde der Versicherten berucksichtigt werden1. Dies gelingt nicht nur in Bezug auf die Gesamtpopulation, sondern auch bei einer Beschrankung der Auswertung auf die Alten Bundeslander, womit der Effekt unabhangig von moglichen regionalen Besonderheiten in Berlin und den Neuen Bundeslandern nachweisbar ist. Die tendenziell geringsten Diagnoserisiken fmden sich in entsprechenden Auswertungen bei Erwerbspersonen in Gemeinden mit einer Bevolkerungsdichte von 250 bis unter 550 Einwohnern je Quadratkilometer (was relativ typisch fiir Kleinstadte sein diirfte), eine noch geringere Dichte ist mit weitgehend ubereinstimmenden Risiken assoziiert. Demgegenuber weisen Personen aus Gemeinden mit einer Bevolkerungsdichte von 2500 Einwohnern je Quadratkilometer oder mehr ein etwa 20% erhohtes Diagnoserisiko auf (OR: 1,21; 95%KI: 1,13 - 1,29). Bei einer Bevolkerungsdichte auf Gemeindeebene zwischen 1000 bis unter 2500 Einwohnern je Quadratkilometer ist das Risiko im Vergleich zur Referenzgruppe um lediglich etwa 10% erhoht (OR: 1,11; 95%KI: 1,06 - 1,16). Insgesamt lassen sich auf Basis der vorliegenden Daten also gewisse Stadt-Land-Unterschiede bei der Diagnose von Depressionen im Rahmen der ambulanten arztlichen Versorgung statistisch absichern, die quantitativen Unterschiede bleiben bei dem hier gewahlten Vorgehen jedoch verhaltnismafiig gering. Bei gleichartig durchgefuhrten Modellrechnungen zur Verordnungshaufigkeit von Antidepressiva in den Alten Bundeslandern zeigen sich demgegenuber keinerlei signifikante Unterschiede in Abhangigkeit von der Bevolkerungsdichte des Wohnortes. Moglicherweise konnen hierfur Praferenzen nichtmedikamentoser Therapien im grofistadtischen Umfeld ver-
1
Als Information zur Bevolkerungsdichte zum Wohnort eines Versicherten standen Angaben zur Bevolkerungsdichte auf Gemeindeebene vom Statistischen Bundesamt (Stand: 12/2004) zur Verfugung, nachdem zunachst auf Basis der kassenseitig primar verfugbaren Postleitzahlen die Wohngemeinde der Versicherten ermittelt werden konnte.
Versorgungsgeschehen
69
antwortlich sein, was in einem spateren Abschnitt noch naher betrachtet werden soil. Grundsatzlich ist zu den hier durchgefuhrten Auswertungen anzumerken, dass eine Ermittlung der Bevolkerungsdichte auf Gemeindeebene zum Teil nur relativ unscharfe Anhaltspunkte fur die Wohnsituation der zugeordneten Versicherten liefert, da Gebiete einzelner Gemeinden recht grofi sind und in sich heterogene Strukturen aufweisen konnen. Insofern konnten sich bei kleinraumigeren regionalen Zuordnungen noch deutlichere Zusammenhange zwischen der Bevolkerungsdichte und der Haufigkeit von Depressionen zeigen, was auf Basis der hier verfugbaren Daten jedoch nicht verifiziert werden konnte. 3.8
Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen bei Depressionen
Wahrend sich die vorausgehenden Abschnitte mit der Bedeutung von Depressionen und Risikofaktoren fur Depressionen in Populationen befassen, fokussieren die nachfolgenden Ausfuhrungen auf Auswirkungen von Depressionen. Wie bereits in vorausgehenden Abschnitten betont wurde, kann die Erfassung einer Diagnose "Depression" im Rahmen der Routineversorgung nicht mit der Erfassung einer Depression nach einheitlich festgelegten Kriterien im Rahmen einer standardisierten Untersuchung gleichgesetzt werden. Dennoch sollten auch Diagnosen aus der Routineversorgung Ruckschlusse auf den Gesundheitszustand erlauben. Die nachfolgenden Auswertungen beschaftigen sich mit der Frage, welche Inanspruchnahmen gesundheitsbezogener Leistungen innerhalb unterschiedlicher Zeitraume in 2004 mit einer ambulanten Diagnose einer Depression im ersten Quartal 2004 assoziiert sind. 3.8.1
Inanspruchnahme in Abhangigkeit von ambulanten Diagnosen Tabelle 3.6 zeigt eine Gegenuberstellung zur Inanspruchnahme gesundheitsbezogener Leistungen in Abhangigkeit von ambulant im ersten Quartal 2004 vergebenen Diagnosen. Verglichen werden vier Gruppen mit ubereinstimmender Alters- und Geschlechtsstruktur, die liber ein 1:1 Matching von Versicherten aus den drei zunachst genannten Gruppen mit 34.134 Versicherten aus der letztgenannten Gruppe sichergestellt wurde. Der Vergleich beschrankt sich auf Versicherte vor Vollendung des 75. Lebensjahres:
70
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
•
Zu den Versicherten der ersten Gruppe waren keinerlei ambulante Behandlungen im ersten Quartal erfasst.
•
Die zweite Gruppe bilden Versicherte mit dokumentierter ambulanter Behandlung im ersten Quartal, bei denen innerhalb des Quartals jedoch keine Diagnose aus dem ICDIO-Diagnosekapitel V (Psychische Storungen) identifiziert wurde.
•
Die dritte Gruppe umfasst Personen, bei denen psychische Storungen, jedoch explizit keine Depressionen im Sinne einer Diagnose F32 oder F33 im ersten Quartal dokumentiert wurden.
•
In der vierten Gruppe finden sich schliefilich die Personen, bei denen im ersten Quartal 2004 Depressionen im Sinne einer Diagnose F32 und/oder F33 diagnostiziert wurden.
Tab.3.6:
Inanspruchnahme von Leistungen bei Versicherten mit/ohne Diagnose von Depressionen
Ambulante Behandlung bzw. Diagnose i m ersten Quartal 2004
kein ambulanter Kontakt
mit Kontakt, ohne psych. Diagnosen
Kontakt mit psych. Diagnose, keine Depressionen
Kontakt mit Diagnose Depression
Anzahl Versicherte
n=34.134
n=34.134
n=34.134
n=34.134
Anteil Frauen
61,5%>
61,5%
61,5%
61,5%
Alter (Mittelwert)
48,6
48,6
48,6
48,7
Anteile an o.g. Versicherten:
Anteile an o.g. Versicherten:
Anteile an o.g. Versicherten:
Anteile an o.g. Versicherten:
- beliebige Verordnung
3,0% / 30,7% / 43,0%
70,0% / 79,7% / 84,2%
76,1% / 85,1% / 89,0%
82,0% / 89,6% / 92,6%
- Verordnung aus der ATCGruppe N (Nervensystem)
0,7% / 3,9% / 6,4%
9,2% / 13,7% /17,2%>
24,4% / 30,9% 35,2%
44,8% / 52,8% /57,1%
- Verordnung von Antidepressiva (ATC N06A)
0,07%> / 0,8% 1 1,3%
1,1% / 1,9% / 2,7%
8,3%/11,1% /12,9%
29,3% / 35,5% / 38,6%
-/45,9% / 62,7%
100% / 1 0 0 % /100%
100% / 1 0 0 % /100%
100% / 1 0 0 % /100%
Medikamentose Therapie i m 1., 1.-2. sowie 1.-3. Quartal 2004
Beliebiger Arztkontakt
Tabelle wird fortgesetzt
Versorgungsgeschehen Ambulante Behandlung bzw. Diagnose im ersten Quartal 2004
71
kein ambulan- mit Kontakt, terKontakt ohne psych. Diagnosen
Kontakt mit Kontakt mit psych. Diagno- Diagnose Dese, keine Depression pressionen
Facharztliche Versorgung im 1., 1.-2. sowie 1.-3. Quartal 2004 - Behandlung bei Nervenarzten oder Kinder- und Jugendpsychiatern
- / 1,1% / 2,0%
2,4% / 4,4% 6,2%
15,6%/18,8% / 21,3%
33,4% / 37,7% /40,5%
- Facharzt fur psychotherapeutische Medizin
- / 0,0% / 0,0%
0,0% / 0,1% / 0,2%
1,3% / 1,6% /1,7%
3,3% / 3,8% / 4,2%
Behandlung durch Psychologen im 1., 1.-2. sowie 1.-3. Quartal 2004
- / 0,1% / 0,2%
0,2% / 0,4% / 0,5%
4,3% / 5,0% / 5,4%
10,1% / 11,6% / 10,9%
Behandlung im (Akut-) Krankenhaus 2004 nach Hauptdiagnose - unter beliebiger Diagnose
12,88%
18,97%
20,79%
- wegen psychischer Storung 0,39%
0,27%
2,55%
4,87%
0,08%
0,05%
0,30%
2,02%
0,59%
2,72%
4,36%
6,51%
0,08%
0,08%
0,94%
2,46%
0,01%
0,02%
0,11%
1,05%
- wegen Depressionen
4,95%
Behandlung in vollstat. REHA oder stat. Anschlussheilbehandlung 2004 nach Hauptdiagnose - unter beliebiger Diagnose - wegen psychischer Storung - wegen Depressionen
Versicherte der GEK am 1. Januar 2004 mit nachfolgend mehr als 182 dokumentierten Versicherungstagen; ohne Versicherte mit Wohnort im KV-Bereich Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Sudwiirttemberg oder Sachsen; Alter unter 70 Jahre; 1:1 Matching nach Geschlecht und 5JahresAltersgruppen jeweils zur Gruppe mit Diagnose von Depressionen im ersten Quartal (vgl. 4. Ergebnisspalte)
Versicherte ohne ambulante Arztkontakte im ersten Quartal 2004 wurden auch iiber den maximal beriicksichtigten Gesamtzeitraum von drei Quartalen im Jahr 2004 nur zu einem verhaltnismafiig geringen Anteil ambulant behandelt (vgl. erste Ergebnisspalte in Tabelle 3.6). Versicherte mit ausschliefilich somatischen Diagnosen im Rahmen einer Behandlung innerhalb des ersten Quartals 2004 zeigen demgegeniiber i.d.R. deutlich hohere Mafizahlen zu Inanspruchnahmen innerhalb der ersten drei Quartale 2004 (vgl. zweite Ergebnisspalte). Diese Mafizahlen liegen in der Gruppe von Versicherten mit psychischen Diagnosen (jedoch ohne Diagnose einer
72
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
Depression) im ersten Quartal nochmals deutlich hoher (vgl. dritte Ergebnisspalte). Die hochsten Werte finden sich schliefilich in der Gruppe mit Diagnose einer Depression (vgl. vierte Ergebnisspalte). Innerhalb des Quartals der Diagnose einer Depression (1/2004) losten 82% der Versicherten eine rezeptpflichtige Verordnung in der Apotheke ein, 29% erhielten dabei (ggf. neben anderen Medikamenten) ein rezeptpflichtiges, nicht-pflanzliches Antidepressivum. Werden Informationen zu den folgenden beiden Quartalen einbezogen, ergibt sich in der Gruppe eine Behandlungsrate mit Antidepressiva von knapp 39%. Zu einem geringeren Anteil sind auch Versicherte ohne Diagnose einer Depression von Antidepressiva-Verordnungen im ersten Quartal 2004 betroffen. 3,0% aller Versicherten ohne dokumentierte Arztkontakte im ersten Quartal erhielten im selben Zeitraum ein Arzneimittel aus der Apotheke, darunter 0,07% ein Antidepressivum1. Versicherte mit ambulanter Behandlung, jedoch ohne explizite Diagnose einer psychischen Stoning im ersten Quartal erhielten im selben Zeitraum zu 1,1% ein Antidepressivum. Beim Vorliegen von psychischen Storungen ohne ausdruckliche Nennung von Depressionen waren es bereits 8,3% aller Patienten, die ein Antidepressivum verordnet bekamen. Von den Versicherten mit der Diagnose einer Depression innerhalb des ersten Quartals kontaktierten innerhalb von drei Quartalen 41% einen Nervenarzt bzw. Psychiater. Ein Anteil von 39% erhielt ein Antidepressivum. 10,9% wurden innerhalb von drei Quartalen von einem psychologischen Psychotherapeuten bzw. Psychologen behandelt. 4,2% befanden sich mindestens einmalig in Behandlung bei einem Facharzt fur psychotherapeutische Medizin (psychotherapeutische Behandlungen anderweitig niedergelassener Arzte, z.B. von Allgemeinmedizinern, sind hier explizit nicht beriicksichtigt). Knapp 21% der Patienten mit Depressions-Diagnose im ersten Quartal wurden innerhalb des Jahres 2004 im Krankenhaus behandelt, insgesamt 6,5% der Patienten erhielten aus unterschiedlichen Griinden eine stationare Rehabilitationsbehandlung oder eine stationare Anschlussheilbehand1
Ein wesentlicher Teil dieser Verordnungen ohne gleichzeitig erfasste ambulante Arztkontakte dilrfte iiber Zahnarzte erfolgt sein, deren Leistungen in den ausgewerteten Daten der Kassenarztlichen Vereinigungen nicht enthalten sind. Gleichfalls nicht in den Datenlieferungen erfasst sind ambulante arztliche Behandlungen, die von Berufsgenossenschaften vergiitet werden, weshalb die Verordnungszahlen keinesfalls grundsatzlich inplausibel sind, auch wenn geringe Fehlerfassungsraten nicht ausgeschlossen werden konnen.
Versorgungsgeschehen
73
lung. Explizit unter der Hauptdiagnose einer Depression wurden dabei in Akutkrankenhausern allerdings lediglich 2,0% und in Rehabilitationseinrichtung bzw. im Rahmen einer Anschlussheilbehandlung 1,1% der Patienten behandelt. Auswertungen lassen sich auch in Abhangigkeit von Informationen zu Arzneiverordnungen durchfuhren: Mit 83% der weit iiberwiegende Teil der Versicherten mit Antidepressiva-Verordnungen innerhalb des ersten Quartals 2004 fallt nach hier nicht naher dokumentierten Auswertungen auf Versicherte, bei denen im selben Zeitraum die Diagnose einer psychischen Stoning erfasst wurde. Zu mehr als der Halfte der Patienten mit Antidepressiva-Verordnung (54%) fmden sich explizit Angaben zu Depressionen im Sinne einer Diagnose F32 oder F33.
Von den Versicherten mit der Diagnose einer Depression erhalten im selben Quartal knapp 30% ein Antidepressivum, mittelfristig (uber 3 Quartale) werden knapp 40% mit einem Antidepressivum behandelt. Bei umgekehrter Betrachtungsweise lasst sich feststelle, dass 83% der Versicherten mit einer Antidepressiva-Verordnungen im ersten Quartal 2004 im selben Zeitraum auch die ambulante Diagnose einer psychischen Storung erhalten. Zu mehr als der Halfte der Patienten mit Antidepressiva-Verordnung (54%) finden sich in den ambulanten Daten explizit die Angaben einer Depressionen im Sinne einer Diagnose F32 oder F33. Von den Versicherten mit der ambulanten Diagnose einer Depression im ersten Quartal eines Jahres werden innerhalb des Jahres 4,9% unter der Hauptdiagnose einer psychischen Storung im Krankenhaus behandelt, 2,5% nehmen an einer Anschlussheilbehandlung oder einer vollstationaren Rehabilitationsmafinahme unter entsprechenden Hauptdiagnosen teil.
3.9
Behandlungsformen
Der nachfolgende Abschnitt befasst sich mit der naheren Betrachtung von Behandlungsformen bei Versicherten, die innerhalb des ersten Quartals 2004 in den Daten zur ambulanten Versorgung die Diagnose einer Depression aufweisen.
74
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
3.9.1
Behandlungsformen in Abhangigkeit von Geschlecht und Alter In Abhangigkeit vom Geschlecht und Alter des Patienten lassen sich in den Daten Behandlungsformen bei Patienten mit der Diagnose von Depressionen in unterschiedlicher Haufigkeit nachweisen. Dargestellt werden in Abbildung 3.9 und Abbildung 3.10 getrennt fur beide Geschlechter die Anteile der Patienten mit der Diagnose einer Depression im ersten Quartal 2004, die in der Zeit zwischen dem ersten und dritten Quartal 2004 •
einen als Psychotherapeut niedergelassenen Arzt (Arzt fur Psychofherapeutische Medizin) oder einen Psychologen kontaktierten,
•
die Antidepressiva verordnet bekamen,
•
die sowohl Antidepressiva verordnet bekamen als auch einen psychotherapeutisch tatigen Facharzt oder Psychologen kontaktierten (eine Subgruppe der beiden erstgenannten Gruppen),
•
die Antidepressiva verordnet bekamen und/oder einen psychotherapeutisch tatigen Arzt oder Psychologen kontaktierten (Gesamtgruppe der ambulant Behandelten im Sinne der beiden erstgenannten Gruppen).
Erganzend ausgewiesen ist der Anteil der Patienten mit mindestens einer beliebigen Behandlung im oben genannten Sinn unter zusatzlicher Beriicksichtigung von stationaren Aufenthalten in Krankenhausern oder Rehabilitationseinrichtungen als weitere Behandlungsformen, sofern diese im Jahr 2004 unter der Hauptdiagnose einer psychischen Stoning (Diagnosekapitel V gemafi ICD10) erfasst wurden. Als Einschrankung gilt bei der Interpretation der Ergebnisse, dass insbesondere hinsichtlich der erfassten Kontakte zu Psychotherapeuten sowie bei den stationaren Behandlungen nicht davon ausgegangen werden kann, dass diese ausschliefilich im Kontext mit der ambulant diagnostizierten Depression stattgefunden haben. Dies gilt auch, da in den Daten zur ambulanten Versorgung je Patient bereits innerhalb eines Abrechnungsfalles regelmafiig mehrere Diagnosen erfasst werden, die zunachst alle als potenzielle Behandlungsanlasse gelten mussen. Gleichzeitig ist darauf hinzuweisen, dass hier im Hinblick auf die arztliche psychotherapeutische Behandlung nur Kontakte zu den primar als Psychotherapeuten niedergelassenen Medizinern beriicksichtigt wurden, also z.B. psychotherapeutische Behandlungen durch Allgemeinarzte unberiicksichtigt bleiben.
Versorgungsgeschehen
75
60%
50%
Anteil mit Behandlung
40%
30% Med. o. Psycho. o. stat. mit psych. Diag. Med. oder Psycho. Medikamente
20%
Psychotherapeuten Med. und Psycho. 10%
0% 10-
15-
20-
25-
30-
35-
40-
45-
50-
55-
60-
65-
70-
75-
80-
Altersgruppe (Männer)
Abb. 3.9:
Anteile mannlicher Versicherter mit ausgewahlten Behandlungsformen bei ambulanter Diagnose von Depressionen im ersten Quartal 2004 nach Alter (vgl. Text)
Die anteilig relevanteste Therapie bei Versicherten mit der Diagnose einer Depression bilden nach den vorliegenden Ergebnissen Verordnungen von Antidepressiva. Nach Vollendung des 20. Lebensjahres bei Mannern sowie nach Vollendung des 30. Lebensjahres bei Frauen erhalten in alien Altersgruppen mehr als 30% der Patienten innerhalb von 9 Monaten mindestens einmalig eine entsprechende Verordnung. Wahrend unter Frauen nach Vollendung des 40. Lebensjahres relativ konstant Verordnungsraten von iiber 40% registriert werden, liegen die Verordnungsraten bei Mannern nach Vollendung des 60. Lebensjahres deutlich niedriger bei etwa 35%. Von psychotherapeutischen Behandlungen sind jtingere Patienten relativ haufig betroffen. Bei den unter 20Jahrigen spielen sie eine starkere Rolle als die in diesen Altersgruppen noch relativ selten verordneten Antidepressiva. Die hochsten psychotherapeutischen Behandlungsraten finden sich bei Mannern im Alter zwischen 20 bis unter 25 Jahren (26,2%) und bei Frauen im Alter zwischen 25 bis unter 30 Jahren (31,5%). Bei Frauen fallen die Behandlungsraten mit weiter steigendem Alter kontinuierlich, unter Mannern finden sich merklich geringere Behandlungsraten ab einem Alter von
76
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
40 Jahren. Bei Patienten im Rentenalter sind psychotherapeutische Behandlungen eher selten. 60%
50%
Anteil mit Behandlung
40%
Med. o. Psycho. o. stat. mit psych. Diag. Med. oder Psycho.
30%
Medikamente Psychotherapeuten Med. und Psycho.
20%
10%
0% 10-
15-
20-
25-
30-
35-
40455055Altersgruppe (Frauen)
60-
65-
70-
75-
80-
Abb. 3.10: Anteile weiblicher Versicherter mit ausgewahlten Behandlungsformen bei ambulanter Diagnose von Depressionen im ersten Quartal 2004 nach Alter (vgl. Text) Sowohl eine psychotherapeutische Behandlung als auch Antidepressiva erhalten innerhalb des Beobachtungszeitraumes vorrangig Patienten im Erwerbspersonenalter. In entsprechenden Altersgruppen sind etwa 10% von beiden Therapieformen betroffen. Wenigstens eine der beiden Therapieformen ist in den mittleren Altersgruppen bei etwa 50% aller Patienten mit ambulanter Diagnose einer Depression dokumentiert. Die so ermittelten Behandlungsraten andern sich nur geringfugig, sofern man zusatzlich auch stationare Behandlungen wegen psychischer Storungen im Sinne einer weiteren Therapieoption berucksichtigt.
Versorgungsgeschehen
77
Die hochsten Behandlungsraten bei Patienten mit der Diagnose einer Depression zeigen sich im Erwerbspersonenalter. In entsprechenden Altersgruppen finden sich bei etwa der Halfte aller Patienten in den Daten Hinweise auf die Verordnung von Antidepressiva und/oder eine Behandlung durch einen niedergelassenen Psychotherapeuten. Wahrend der psychotherapeutischen Behandlung in jiingeren Altersgruppen eine relativ grofie Bedeutung zukommt, dominieren im Rentenalter Antidepressiva- Verordnungen eindeutig das in den Daten erfasste Behandlungsgeschehen bei Depressionen. 3.9.2
Behandlungsformen in Abhangigkeit von der Bevolkerungsdichte Bei bereits zuvor dargestellten Auswertungen zur Haufigkeit von Depressionen waren mafiig erhohte Diagnoseraten bei Versicherten aus Wohnregionen mit hoher Bevolkerungsdichte aufgefallen. Im Hinblick auf die Verordnungshaufigkeit von Antidepressiva waren jedoch keine Unterschiede in Abhangigkeit von der Bevolkerungsdichte nachweisbar, woraus sich die Vermutung ergibt, dass sich Verordnungsraten zwischen landlichen und grofistadtischen Regionen bei Patienten mit der Diagnose einer Depression unterscheiden.
Zur Klarung dieser Frage wurden Antidepressiva-Verordnungsraten in Subgruppen von Patienten mit Depressionen in Abhangigkeit von der Bevolkerungsdichte der Wohnregion ermittelt. Erganzend wurden auch die Anteile der Patienten mit Behandlungen bei Psychotherapeuten bestimmt (vgl. Abbildung 3.11). Die Verordnungs- bzw. Behandlungsraten wurden iiber einen Zeitraum von drei Quartalen ermittelt, weshalb sich die Auswertungen auf Versicherte aus KV-Bereichen mit entsprechend vollstandigen Datenlieferungen beschranken. Um homogenere Gruppen in den Wohnregionen zu erhalten, wurden ausschliefilich Versicherte im Alter zwischen 15 bis unter 65 Jahre berucksichtigt (n=30.073). Wahrend Patienten aus diinn besiedelten Regionen mit weniger als 100 Einwohnern je Quadratkilometer Gemeindeflache innerhalb von drei Quartalen zu 42,3% ein Antidepressivum verordnet bekamen, waren es in den Regionen mit der hochsten Bevolkerungsdichte lediglich 34,7%. Demgegemiber werden Patienten aus einem grofistadtischen Raum allerdings mit einem Anteil von 19,8% merklich haufiger von einem Psychotherapeuten betreut. Die entsprechend ermittelte Behandlungsrate liegt in den diinn besiedelten Regionen bei 13,8%. An dieser Stelle liegt die Vermutung nahe,
78
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
dass die Nutzung psychotherapeutischer Angebote mafigeblich auch durch die regionale Verfugbarkeit bestimmt wird, die in grofistadtischen Raumen in hoherem Umfang gegeben sein durfte. 50% Med. Psycho.
42,3% 40,0%
39,8%
40%
38,9%
38,2%
Anteil mit Behandlung
34,7%
30%
20%
18,1%
18,3%
19,0%
19,8%
16,5% 13,8%
10%
0% <100
100-
250-
550-
1000-
2500-
Bevölkerungsdichte (Einw. je km2)
Abb. 3.11: Anteil medikamentos sowie psychotherapeutisch behandelte Versicherte (15 bis unter 65 Jahre) bei Depressionen nach Bevolkerungsdichte des Wohnortes (vgl. Text) Hier nicht naher dargestellte Berechnungen zeigen, dass in den gewahlten Regionsklassen nach Bevolkerungsdichte zwischen 46% und 50% der Patienten zumindest eine der beiden Therapieformen erhalten, wobei die geringste derart ermittelte Gesamttherapierate auf die Regionen mit der hochsten Bevolkerungsdichte entfaUt, wahrend alle Regionsklassen mit weniger als 2.500 Einwohnern je Quadratkilometer Therapieraten von mindestens 48% aufweisen. Werden die Auswertungen weiter auf Patienten ausschliefilich aus den Alten Bundeslandern (ohne Berlin) beschrankt, zeigen sich allerdings auch fur Grofistadtregionen Gesamttherapieraten von 49%. Die zunachst auffallig geringe Gesamttherapierate resultiert aus entsprechend niedrigen Werten vorrangig in Berlin.
Versorgungsgeschehen 3.10
79
Komor biditat
Nach den Ergebnissen vieler Studien finden sich bei Personen mit Depressionen haufig sowohl andere psychische als auch bestimmte somatische Erkrankungen. Bei Patienten mit Depressionen ist demnach eine Komorbiditat im Sinne einer gleichzeitigen Existenz weiterer gesundheitlicher Probleme und Krankheiten zu erwarten. Die Verwendung des Begriffs Komorbiditat setzt an sich zunachst keinerlei Belege fur plausible Ursachen eines gleichzeitigen Vorliegens von Krankheiten voraus, obwohl diese fur ein Verstandnis des Erkrankungsgeschehens sicher hilfreich waren. Grundsatzlich konnen fur das gleichzeitige Vorliegen von Depressionen und anderen Erkrankungen neben dem Zufall unterschiedliche Faktoren verantworthch sein: Depressionen konnen das Auftreten und den Verlauf von anderen Erkrankungen beeinflussen. Gleichfalls konnen jedoch auch andere Erkrankungen Einllusse auf das Risiko fur sowie den Verlauf von Depressionen haben. Zudem konnen gemeinsame Risikofaktoren, also Risikofaktoren, die sowohl Auswirkungen auf Depressionen als auch auf andere Erkrankungen zeigen, zu einem gleichzeitigen Vorliegen entsprechenden Krankheiten und Depressionen fuhren. Auf der Basis von Datenbestanden einer Krankenkasse lassen sich ohne grofieren Aufwand Diagnosehaufigkeiten fur unterschiedliche Subpopulationen von Versicherten innerhalb von definierten Beobachtungszeitraumen bestimmen und vergleichen. Werden allgemeine Diagnosehaufigkeiten fur eine Population von Versicherten mit Depressionen bestimmt, lassen sich auf diese Weise also bereits wesentliche Ergebnisse zur Komorbiditat bei Depressionen bestimmen. Beantwortet werden konnen nach einem entsprechenden Auswertungsschritt z.B. Fragen nach der Haufigkeit einer (diagnostizierten) Hypertonic oder nach beliebigen anderen Erkrankungen in entsprechenden Versichertengruppen, sofern diese Diagnosen in den Daten erfasst werden. Eine iiber die einfache Feststellung von Komorbiditaten hinausgehende Frage ist, ob eine spezifische Erkrankungshaufigkeit im Sinne einer Komorbiditat unter Versicherten mit Depressionen von der entsprechenden Erkrankungshaufigkeit unter nicht-depressiven Versicherten abweicht, also umgangssprachlich z.B., ob Patienten mit Depressionen haufiger unter Bluthochdruck leiden als nicht-depressive Versicherte.
80
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
Die sinnhafte Beantwortung dieser Frage ist an sich nicht ganz trivial und wird durch die Art der Datenerhebung bei Kassendaten (im Vergleich zu epidemiologischen Primarerhebungen) zusatzlich erschwert: Eine Gegenuberstellung von allgemeinen Diagnosehaufigkeiten in Gruppen von Versicherten mit bzw. ohne Diagnose einer Depression liefie sich einfach realisieren, ware jedoch inhaltlich kaum zielfiihrend, da unter Versicherten mit der Diagnose einer Depression Frauen und altere Versicherte erheblich iiberreprasentiert sind (vgl. Tabelle 3.6). Wesentliche Differenzen der Diagnosehaufigkeit zwischen den beiden Gruppen waren bereits aufgrund dieser unterschiedlichen soziodemographischen Zusammensetzung der Gruppen zu erwarten. Die Feststellung, dass Versicherte mit Depressionen bei einem Durchschnittsalter von 53 Jahren haufiger an Bluthochdruck als Versicherte ohne Depressionen mit einem Durchschnittsalter von 38 Jahren leiden, wiirde im Hinblick auf das Erkrankungsgeschehen bei Depressionen keinen relevanten Informationsgewinn darstellen. Vor diesem Hintergrund wurde fur eine vergleichende Gegenuberstellung von Diagnosehaufigkeiten ein Matching von Versicherten nach Geschlecht und 5-Jahres-Altersgruppen durchgefuhrt, wobei jedem der bereits in Tabelle 3.6 genannten 40.047 Versicherten mit der Diagnose einer Depression im Rahmen der ambulanten Versorgung im ersten Quartal 2004 eine konstante Zahl von 4 zufallig ausgewahlten Versicherten ohne die Diagnose einer Depression im ersten Quartal 2004 aus einer ubereinstimmenden Geschlechts- und Altersgruppe zugeordnet wurden. Aus dem Vorgehen resultieren Vergleichsgruppen, welche die selbe Geschlechts- und Altersgruppenzusammensetzung aufweisen. Ausgewahlt wurden fur die Gegenuberstellung Versicherte mit Wohnsitz in KV-Bereichen, fur die komplette Daten zur ambulanten Versorgung in den ersten drei Quartalen verfugbar waren. Es wurden ausschliefilich Versicherte berucksichtigt, die bereits Anfang 2004 und nachweislich iiber mindestens ein halbes Jahr in 2004 versichert waren und bei denen mindestens ein Arztkontakt innerhalb der drei Quartale erfasst war, wobei die letztgenannte Bedingung fur mehr als 85% aller Versicherten erfullt ist. Durch die Beschrankung der Vergleiche auf Versicherte mit mindestens einem Arztkontakt sollte gewahrleistet sein, dass bei Versicherten aus der Kontrollgruppe, entsprechend der Situation von Versicherten mit dem Hauptbehandlungsanlass Depressionen, "Nebendiagnosen" erfasst sein konnen, die im Rahmen eines Arztkontaktes routinemafiig haufig doku-
Versorgungsgeschehen
81
I II III
Krankheiten Blutes... Krankheiten desdes Blutes..
IV
Endokrine, Ernährungsu. Stoffw echselkrankheiten Ehdokrine, Ernährungsu. Stoffw echselkrankheiten Psychische u. Verhaltensstörungen Psychlsche u. Verhaltensstörungen
Krankheiten Auges Krankheiten desdes Auges
Krankh. d. Atmungssystems Krankh. d. Atmungssystems Krankh. d. Verdauungssystems Krankh. d. Verdauungssysterns Krankh. d. Haut d. Unterhaut u. d.u.Unterhaul Krankh. d. Haut
22,3%
22,3%
30,7%
30, r/o
22,9% 22,9% 29,3% 29,3% 8,6% | 8,6% 12,7% 12,7% 50,0%
50,0%
100,0%
yyyyyyyyyy 19,8% 19,8%
40,6%
40,6% 26,9% | 26,9% 32,0% 32,0%
ohne Depressionsdiagnosen I ohne Depress ions diagnosen Depressionen (F32/F33) mit mit Depressionen (F32/F33)
14,7% 14, /% 21,6%
21,6%
52,5% a2,5%
38,8%
49,0% 49,0%
33,6%
33,6%
49,1% 49,1%
25,0%
25,0%
33,0%
33,0%
57,0% a7,0%
XIV XVIII XVII XIX XXI
Verletzungen, Vergif tungen Verletzungen, Vergiftungen . ...
Faktoren, Gesundheitszustand beeinflussen Faktoren, die die denden Gesundheitszustand beeinflussen ... ...
70,7%
70,7% 46,3%
46,3%
Krankh. d. Urogenitalsystems Krankh. d. Urogenitalsysterns
Symptome u. abnorme klinische Laborbefunde Symptome u. abnorme klinische undund Laborbefunde
63,1%
o3,1% 38,8%
Krankh. d. Muskel-Skelett-Systems d. Bindegew ebes Krankh. d. Muskel-Skelett-Systerns u. d.u.Bindegewebes
Angeborene Fehlbildungen... Angeborene Fehlbildungen..
60,3%
25,4% 25,4%
XII I
X
Krankh. d. Kreislaufsystems Krankh. d. Kreislaufsystems
XI
Krankheiten Ohres.. Krankheiten desdes Ohres.
XII
VII I
Krankh. Nervensystems Krankh. desdes Nervensys terns
IX
VI
Neubildungen Neubildungen
VII
Bestimmte inf ektiöse parasitäre Krankheiten Bestitrmte infektiöse undund parasitäre Krankheiten
V
mentiert werden, die jedoch keinen primaren Anlass fur einen Arztkontakt darstellen1. Zu den ausgewahlten Versicherten wurden alle im Rahmen der ambulanten Versorgung innerhalb der ersten drei Quartale 2004 vergebenen gultigen Diagnosen beriicksichtigt. Fiir die Vergleichsgruppen wurde jeweils ermittelt, welche Anteile der Population von Diagnosen auf unterschiedlichen Aggregationsebenen betroffen waren.
55,6%
55,6% 8,5% | 8,5% 11,7% 11,7% 38,4%
D / , 157,1% %
25,4% 32,4% 50,0% | 50,0% 54,9% 54,9%
10% 20% 20% 30% 30% 40% 40% 50% 50% 60% 60% 70% 70% 80% 80% 90% 90% 100% 100% 0%0% 10%
Abb. 3.12: Versicherte mit und ohne Diagnose einer Depression: Anteile der Versicherten mit Diagnosen aus relevanten ICDIO-Kapiteln innerhalb von drei Quartalen (vgl. Text)
Kontaktiert ein Patient wegen seiner Depressionen einen Arzt, ist davon auszugehen, dass zu diesem Behandlungsfall ggf, audi eine Reihe von Begleiterkrankungen dokumentiert werden, die im Einzelfall keinen Anlass fiir einen Arztkontakt dargestellt hatten. Diese Begleiterkrankungen konnten auch bei Versicherten ohne Arztkontakt im Beobachtungszeitraum vorliegen und wurden aufgrund des fehlenden Kontaktes zwangslaufig jedoch nicht dokumentiert, woraus sich im Endeffekt artiiiziell erhohte Raten von Begleiterkrankungen in der Patientengruppe mit Depressionen im Vergleich zu Versicherten ohne Arztkontakte ergeben wurden,
82
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
Abbildung 3.12 zeigt Diagnoseraten innerhalb von drei Quartalen in den beiden Vergleichsgruppen auf der Ebene von ICDIO-Diagnosekapiteln. Auffallig ist zunachst, dass beide Versichertengruppen zu erheblichen Anteilen von Erkrankungsdiagnosen aus einer Vielzahl von Diagnosekapiteln betroffen sind. So erhalten innerhalb von drei Quartalen mindestens die Halfte aller Versicherten aus beiden Gruppen eine Diagnose aus den ICDIO-Kapiteln IV (Stoffwechselkrankheiten), IX (Krankheiten des Kreislaufsystems), XIII (Muskel-Skelett-System) sowie XXI (Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen; vgl. Abbildung). Selektionsbedingt bzw. definitionsgemafi sind 100% der Versicherten mit Depressionen von einer Diagnose aus dem ICDIO-Diagnosekapitel V "Psychische Storungen" betroffen. Versicherte mit Depressionen weisen jedoch auch in alien iibrigen Diagnosekapiteln hohere Diagnoseraten als Versicherte aus der Vergleichsgruppe auf. Stark ausgepragte Differenzen zeigen sich bei einer Betrachtung auf dieser Diagnoseebene insbesondere im Hinblick auf Krankheiten des Nervensystems. Differenziertere Informationen liefern Gegemiberstellungen von Diagnoseraten in den beiden Gruppen auf 3stelliger ICDIO-Ebene. Da eine Darstellung von Ergebnissen zu alien verwendeten Diagnoseschliisseln an dieser Stelle nicht moglich ist, beschrankt sich die nachfolgende Tabelle 3.7 auf die 50 Diagnosen, von denen Versicherte mit Depressionen am haufigsten betroffen sind. Angegeben werden neben dem Diagnoseschlussel (mit zum Teil leicht verkurztem Diagnosetext) •
die Anteile der von einer Diagnose innerhalb von drei Quartalen betroffenen Versicherten aus der Vergleichsgruppe mit ubereinstimmender Alters- und Geschlechtsstruktur,
•
die entsprechenden Anteile unter Versicherten mit einer Depressionsdiagnose innerhalb des ersten Quartals,
•
sowie der Faktor, um den sich die Ergebnisse bei Versicherten mit Depressionen von denen in der Vergleichsgruppe unterscheiden.
Durch eine Kennzeichnung in der letzten Spalte werden starkere relative Unterschiede zwischen den Gruppen graphisch hervorgehoben.
Versorgungsgeschehen Tab. 3.7:
1 2 3
83
Versicherte mit und ohne Diagnose einer Depression: Anteile der Versicherten mit relevanten 3stelligen ICDIO-Diagnosen innerhalb von drei Quartalen (vgl. Text)
Gruppe: Gruppe:
Referenz F32/F33 Referenz F32lF33 n=160.188 n=160.188 n=40.047 n=40.047
Diagnose Diagnose F32. Depressive Episode F32. Depressive Episode
Anteil Anted 4,3%
Anteil Anted 87,4%
Diff.** Faktor* Fakto$ Diff.s
M54 M54.Ruckenschmerzen Ruckenschmerzen Essentielle (primare) 110. 110. Essentielle (prim%re)Hypertonie Hypertonie
29,2%
42,6%
1,46
**** *
30,7%
34,7%
1,13
E78. d.d.Lipoproteinstoffwechsels E78. Storungen Storungen Lipoproteinstoffwechselsu.u.sonst sonst.24,3% Lipidamien Lipid%mien 9,1% F45. F45. Somatoforme SomatoformeStorungen Storungen 23,4% Z12. Screening auf 212. Spezielles Spezielles Screening aufNeubildungen Neubildungen
29,9%
1,23
25,3%
2,78
25,2%
1,08
0,6% F33. depressive F33. Rezidivierende Rezidivierende depressiveStorung Storung H52. Akkommodationsstorungen und Refraktions8 8 H52. Akkommodationsstorungenund Refraktions- 19,0% fehler fehler 9 9 M53 M53.Sonst. Sonst.Krankh. Krankh.d.d.Wirbelsaule Wirbelsauleu.u.d.d.Rtickens Riidcens 11,4% 1010N95. Klimakterische Storungen 12,9% N95. Klimakterische Storungen
24,2%
11 E04. Sonstige nichttoxische Struma 12,2% 11 E04. Sonstige nichttoxische Struma 12 F43. Reaktionen auf senwere Belastungen u. Anpas- 3,5% 12 F43. Reaktionen auf schwere Belastungen u. Anpassungsstorungen sungsstorungen 1313K29. und 7,4% K29.Gastritis Gastritis undDuodenitis Duodenitis
15,6%
1,28
15,0%
4,23
14,9%
2,01
1414RIO. R10. BauchBauch-und undBeckenschmerzen Beckenschmerzen F41. Andere Angststorungen 15 115 F41. Andere Angststorungen 1616N89. nichtentziindliche Krankheiten N89.Sonstige Sonstige nichtentziindliche Krankheitender der Vagina Vagina 1717Z30. 230. Kontrazeptive KontrazeptiveMafinahmen MaDnahmen
9,3%
14,7%
1,57
2,9%
14,3%
5,00
12,8%
13,9%
1,08
13,0%
12,6%
0,97
1818M51 M51.Sonstige SonstigeBandscheibenschaden Bandscheibensch'aden 1919E66. Adipositas E66. Adipositas
7,1%
12,6%
1,79
^f>f
9,3%
12,6%
1,36
5f
2020 M47 M47.Spondylose Spondylose 21 125. ischamische 121 125. Chronische Chronische isch'5mischeHerzkrankheit Herzkrankheit
7,4%
12,4%
1,69
5f*
9,1%
12,4%
1,36
22 Krankheiten 122K76. K76.Sonstige Sonstige Krankheitender derLeber Leber Biomechanische Funktionsstorungen 23 M99 123 M99. Biomechanische Funktionsstorungen 24 G47. Schlafstorungen
8,4%
12,2%
1,44
8,0%
12,0%
1,51
* * **
3,8%
11,7%
3,09
25 125183. 183. Varizen Varizender derunteren unterenExtremitaten ExtrerniCiten N39. Sonstige Krankheiten 26 126 N39. Sonstige Krankheitendes desHarnsystems Harnsystems
9,1%
11,3%
1,24
7,0%
10,7%
1,53
27 127H50. H50.Sonstiger SonstigerStrabismus Strabismus Gonarthrose des 28 M17 128 M17. Gonarthrose(Arthrose (Arthrose desKniegelenkes) Kniegelenkes)
9,0%
10,5%
1,17
7,5%
10,4%
1,37
29 N76. Sons, entztindl. Krankheit der Vagina & Vulva 8,2% 129 N76. Sons. entziindl. Krankheit der Vagina &Vulva Tabelle wird fortgesetzt.
10,2%
1,25
4 5 6 7
*** ****
22,3%
1,17
19,2%
1,69
17,9%
1,39
** * * **** *** ** ****
)f*5f*
^f>f
* ^
84
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover Gruppe:
Referenz
Diagnose
Anteil
Anteil
Faktor*
8,3%
10,1%
1,21
F32/F33
n=160.188 n=40.047
30 Ell
Nicht primar insulinabh. Diabetes mellitus (Typ-II-Diabetes)
31 L30. Sonstige Dermatitis
7,0%
32 J06. Akute Infekt. an n.n. bez. Lokalisationen d. obe - 7,7%
10,0%
1,43
9,9%
1,28
Diff.**
* *
ren Atemwege
33 H40. Glaukom
8,0%
9,7%
1,20
34 M79 Sonst. Krankh. d. Weichteilgewebes
5,1%
9,6%
1,89
35 184. Hamorrhoiden
6,0%
9,5%
1,60
36 J30. Vasomotorische u n d allergische Rhinopathie
7,3%
9,4%
1,29
37 H53. Sehstorungen
7,4%
9,4%
1,28
38 K21. Gastroosophageale Relluxkrankheit
5,0%
9,2%
1,85
39 E79. Storungen d. Purin- und Pyrimidinstoffwech-
7,5%
9,2%
1,22
40 ZOO. Allgemeinuntersuchung u n d Abklarung
8,3%
9,0%
1,08
41 149. Sonstige kardiale Arrhythmien
5,8%
8,8%
1,52
42 G43. Migrane
4,6%
8,7%
1,88
43 J20. Akute Bronchitis
6,2%
8,3%
1,35
44 T78. Unerwiinschte Nebenwirkungen, anderenorts
5,7%
8,1%
1,43
45 H35. Sonstige Affektionen der Netzhaut
6,6%
8,0%
1,22
46 M75 Schulterlasionen
5,5%
7,9%
1,44
47 R42 Schwindel und Taumel
3,7%
7,8%
2,09
48 T14. Verletzung an einer nicht naher bezeichneten
6,3%
7,7%
1,23
49 M77 Sonstige Enthesopathien
5,7%
7,7%
1,35
50 E14. Nicht naher bezeichneter Diabetes mellitus
5,8%
7,6%
1,30
** ** * * **
sels
** ** * *
nicht klassiliziert
* ***
Korperregion
* *
Versicherte mit und ohne Diagnose einer Depression im ersten Quartal 2004; geschlechts- und altersgematchte Gruppen, 1:4 Matching, angegeben werden Anteile der Versicherten mit 3stelligen ICDIO-Diagnosen innerhalb von drei Quartalen in 2004, absteigende Sortierung nach Diagnosehauligkeit unter Versicherten mit Depressionen. $ Faktor: Quotient aus Anteil der Versicherte mit angegebener Diagnose in der Gruppe mit Depressionen und Anteil in Gruppe ohne Depressionen; $$ Kennzeichnung relativer Unterschiede: * Faktor >1,25; ** Faktor >1,5; *** Faktor >2,0; **** Faktor >3,0.
Entsprechend der Gruppenselektion weisen alle Versicherten aus der Gruppe mit Depressionen bereits im ersten Quartal eine Diagnose F32 und/oder eine Diagnose F33 auf. Bei separater Betrachtung der Diagnosen zeigt sich, dass zu 87,4% dieser Versichertengruppe innerhalb von drei Quartalen die Diagnose F32 "Depressive Episode" und zu 24,2% die Diag-
Versorgungsgeschehen
85
nose F33 "Rezidivierende depressive Stoning" erfasst wurde. Zu einem geringen Teil sind auch Personen aus der Vergleichsgruppe von diesen Diagnosen (ausschliefilich in Quartal II und III) betroffen, wobei insbesondere die Diagnose einer rezidivierenden depressiven Storung (F33) bei Personen ohne Diagnose einer Depression im ersten Quartal ausgesprochen selten ist. Ausgepragte Unterschiede mit mehr als 2fach hoheren Diagnoseraten unter Personen mit Depressionen finden sich vorrangig, aber nicht ausschliefilich, im Hinblick auf weitere Diagnosen aus dem Kapitel "Psychische Storungen" (alle Kodes beginnend mit dem Buchstaben F). Hierzu zahlen als haufigste Vertreter die Diagnosen "Somatoforme Storungen" (F45), "Reaktionen auf schwere Belastungen" (F43) sowie "Andere Angststorungen" (F41). Nicht zu den psychischen Storungen zahlen die Diagnosen "Gastritis und Duodenitis" (K29), "Schlafstorungen" (G47), "Schwindel und Taumel" (R42) sowie auch die seltener erfassten Diagnosen "Schmerz" (R52), "Kopfschmerz" (R51) und "Sonstige Kopfschmerzsyndrome" (G44), die gleichfalls deutlich gehauft bei Patienten mit Depressionen auftreten. Leicht bis mafiig erhohte Risiken lassen sich bei Patienten mit Depressionen fur eine grofie Zahl unterschiedlicher Erkrankungen feststellen. Hierzu zahlen u.a. Erkrankungen und Beschwerden im Bereich der Wirbelsaule sowie der Verdauungsorgane. Kaum eine der relevanten Diagnosen ist in der Versichertengruppe mit Depressionen seltener als in der Vergleichsgruppe zu beobachten - eine eher formale denn inhaltlich relevante Ausnahme bildet unter den haufiger gestellten Diagnosen lediglich der Diagnoseschliissel Z30 ("Kontrazeptive Mafinahmen"). Nahezu alle relevanten Diagnosen werden tendenziell haufiger bei Patienten mit Depressionen diagnostiziert als in einer Vergleichspopulation mit derselben Geschlechts- und Altersstruktur. Stark ausgepragte Unterschiede zeigen sich zunachst im Hinblick auf psychische Diagnosen, die grundsatzlich ahnliche Symptome wie Depressionen aufweisen konnen. So werden bei Patienten mit Depressionen deutlich haufiger somatoforme Storungen, Belastungsreaktionen oder Angsstorungen als in einer Vergleichsgruppe diagnostiziert. Gleichfalls merkiich haufiger bei Patienten mit Depressionen erfasst werden aber auch insbesondere bestimmte Magen-Darm-Beschwerden, Schlafstorungen, Kopfschmerzen, Schwindel und Beschwerden im Bereich der Wirbelsaule.
86
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
3.11
Diskussion
3.11.1
Haufigkeiten von Depressionsdiagnosen und Antidepressivaverordnungen Die Ergebnisse der vorliegenden Analyse von Krankenkassendaten sind methodisch nur bedingt mit Ergebnissen aus epidemiologischen Bevolkerungsstudien vergleichbar. Dies resultiert vorrangig aus Unterschieden bei der Datenerhebung. Als wesentliche Erhebungsunterschiede sind bei einer Gegenuberstellung folgende Punkte zu bedenken:
•
Epidemiologische Studien verwenden standardisierte Diagnoseinstrumente mit definierten Grenzen zwischen krank und gesund. Demgegeniiber werden die Diagnosen in den Daten von Krankenkassen von klinisch tatigen Arzt auf der Basis ihres Wissens und ihrer Erfahrung sowie unter Beriicksichtigung der gangigen Klassifikationssysteme kontextabhangig vergeben.
•
Epidemiologische Studien konnen Informationen zu Erkrankungen unabhangig von der Inanspruchnahme des Gesundheitssystems beriicksichtigen, die in Routinedaten von Krankenkassen zwangslaufig nicht enthalten sind. Daten der Krankenkassen umfassen Informationen zu Bevolkerungsgruppen, die im Rahmen epidemiologischer Erhebungen in vielen Fallen bereits a priori nicht beriicksichtigt werden. Dies betrifft zumeist bestimmte Altersgruppen sowie auch Personen, die institutionell betreut werden, also z.B. in Pflegeheimen leben.
•
Epidemiologische Studien ermitteln Pravalenzen als Monats-, 2-4 Wochen Querschnitts- oder Lebenszeitpravalenz (vgl. Wittchen und Jacobi, Kapitel 2, Epidemiologic), die auf der Basis von Kassendaten nur teilweise nachgebildet werden konnen. So lassen sich beispielsweise die Diagnosen zur ambulanten Versorgung in Krankenkassendaten nur quartalsweise zuordnen.
•
Trotz all dieser Unterschiede finden sich erstaunliche Parallelen in den Ergebnissen der Analyse der Krankenkassendaten mit den Erkenntnissen aus epidemiologischen Bevolkerungsstudien: • Haufigkeit: Die Haufigkeit der Diagnose Depression in Krankenkassendaten liegt mit 5 % fur ein Quartal und 6,6% fur ein halbes Jahre innerhalb der von Wittchen und Jacobi ermittelten durch-
Versorgungsgeschehen
87
schnittliche Depressionspravalenz in den europaischen Landern (vgl. Wittchen und Jacobi, Kapitel 2, Epidemiologic). Nach Hochrechnungen der GEK-Ergebnisse wurde im ersten Halbjahr 2004 in Deutschland bei 1,47 Mio. Mannern und 3,96 Mio. Frauen im Rahmen der ambulanten Versorgung die Diagnose einer Depression gestellt. • Geschlecht: Epidemiologische Studien weisen wiederholt auf eine etwa doppelt so hohe Haufigkeit von Depressionen bei Frauen wie bei Mannern hin (vgl. Wittchen und Jacobi, Kapitel 2, Epidemiologic). Dieser Befund stellt sich identisch in den Krankenkassendaten dar, sowohl was die ambulanten, stationaren oder pharmakologischen Daten betrifft. Allerdings ist nicht auszuschliefien, dass die geringere Haufigkeit der Depressionsdiagnose bei Mannern partiell die Folge einer Maskierung der depressiven Symptomatik durch Alkoholerkrankungen ist. Die im Vergleich zu Frauen deutlich hohere Pravalenz von Alkoholerkrankungen bei Mannern, die mehr als doppelt so haufige Inanspruchnahme von stationaren Gesundheitsleistungen mit Alkoholproblemen durch Manner im Vergleich zu Frauen sowie die starke Assoziation von Alkoholproblemen mit depressiven Storungen sind bekannt (vgl. Gastpar, Kapitel 14, Psychische Komorbiditat, Grobe et al. 2004). Inwieweit dies allerdings durch die Maskierung von Depressionen durch bei Frauen haufigere komorbide Angst- und somatoforme Storungen wieder ausgeglichen wird, oder ob die verwendeten Diagnosekonzepte Depressionen bei Mannern unterdiagnostizieren, wird an anderer Stelle diskutiert (vgl. Moller-Leimkuhler, Kapitel 10, Manner und Kiihner, Kapitel 9, Frauen). Alter. Ahnlich wie in epidemiologischen Bevolkerungsuntersuchungen findet sich auch in den Krankenkassendaten die geringste Haufigkeit der Diagnose Depression bei den Kindern und Jugendlichen und steigt dann bis zur 5. Lebensdekade kontinuierlich an. Auch der in epidemiologischen Studien beschriebene Pravalenzabfall um das 60 Lebensjahr zeigt sich fast durchgangig in den ambulanten, stationaren und psychopharmakologischen Krankenkassendaten. Ab dem 70. Lebensjahr steigen diese Krankenkassenparameter wieder an, um schliefilich ihre hochsten Werte zu ereichen. Dies steht im Kontrast zu epidemiologischen Befunden, an denen jedoch vielfach kritisiert wurde, dass systematische Verzerrungen durch die verwendete Methodik entstehen konnen. Die Befunde decken sich
88
Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover mit der Vermutung, dass Depressionen in ihrer Bedeutung mit dem Alter weiter zunehmen. Hierauf wird im folgenden Abschnitt sowie im Kapitel 12, Alte (Stoppe) detaillierter eingegangen werden. • Familienstand: Ubereinstimmend mit anderen Untersuchungen (Klose und Jacobi, 2004) fmdet sich auch in Krankenkassendaten ein erhohtes Depressionsrisiko fur verwitwete oder geschiedene Menschen. • Soziookonomische Parameter. Auch die Ergebnisse, dass Arbeitslose ein erhohtes Risiko fur eine depressive Erkrankung aufweisen (vgl. Brenner, Kapitel 8, Arbeitslosigkeit) und dass ein hoherer soziookonomischer Status vor Depression schutzt, konnen in den Krankenkassen repliziert werden (Fryers, 2005). • Ost/West: Kongruent mit den Befunden des Bundesgesundheitssurveys (Wittchen, 1999) findet sich auch in den Krankenkassendaten ein erheblicher Ost-West Unterschied. In den neuen Bundeslandern wird die Diagnose Depression ambulant seltener vergeben, auch die Antidepressiva-Verordnungshaufigkeit ist geringer. Es wird im Folgenden noch naher auf diesen Behind eingegangen werden. • Komorbiditat: Das Muster an somatischen und psychischen Komorbiditaten, wie es sich in der Analyse der Krankenkassendaten darstellt, entspricht den Erkenntnissen, die aus Studien hierzu gewonnen werden konnten (vgl. Lederbogen, Kapitel 13, Korperliche Komorbiditat und Gastpar Kapitel 14, Psychische Komorbiditat). Die Krankenkassendaten bestatigen, dass depressive Menschen vermehrt an somatischen Erkrankungen leiden, insbesondere kardiovaskularen Erkrankungen und gastrointestinalen sowie muskeloskeletaren Beschwerden. Auch werden bei Menschen mit einer Depressions-Diagnose haufiger weitere psychische Erkrankungen diagnostiziert, insbesondere syndromal iiberlappende Krankheitsbilder wie z.B. somatoforme Storungen oder Angststorungen.
Aufgrund der grofien Kongruenz der Krankenkassendatenanalyse sowohl hinsichtlich der verschiedenen Datensatze (stationary ambulante Diagnose und Arzneimittelverordnungen) als auch ihrer Ubereinstimmung mit Erkenntnissen aus grofien epidemiologischen Bevolkerungsstudien, kann davon ausgegangen werden, dass Krankenkassendaten, trotz einer gewissen
Versorgungsgeschehen
89
Ungenauigkeit in ihrer Erhebung, geeignet sind, epidemiologische Gegebenheiten in einer Bevolkerung wiederzugeben. Im Folgenden sollen einige der Ergebnisse detaillierter diskutiert werden. 3.11.2 Alter und Depression Das kontinuierliche Ansteigen der Depressionspravalenz mit einem Peak um das 60. Lebensjahr und nachfolgendem Absinken wurde in mehreren epidemiologischen Surveys beschreiben (vgl. Wittchen und Jacobi, Kapitel 2, Epidemiologie und Stoppe, Kapitel 12, Alte). Das Absinken der Pravalenzen nach dem 60. Lebensjahr wird unter anderem mit dem Eintritt der Berentung und einer dadurch stattfindenden Entlastung in Zusammenhang gebracht (Butterworth et al. 2005, Melzer et al. 2004, Skoog et al. 2005). Auch in den Krankenkassendaten wird hinsichtlich der stationaren Depressionsdiagnosen sowie der Antidepressivaverordnungen ein ahnliches Absinken beobachtet. Ein Zusammenhang mit der Berentung, die in Deutschland durchschnittlich mit 60,5 Jahren eintritt (Verband Deutscher Rentenversicherer, 2005), ist wahrscheinlich. Dass sich dieses Absinken der Haurlgkeiten bei Frauen in den 1998er Daten nicht zeigt, kann moglicherweise auf eine noch geringere Erwerbsbeteiligung von Frauen im rentenrelevanten Alter dieser Jahre zuriick gefuhrt werden. Dies hat sich inzwischen geandert und in den Datensatzen ab dem Jahr 2000 findet sich bei Frauen das selbe Absinken der Haufigkeit um das 60. Lebensjahr wie bei Mannern. Im Gegensatz zu den meisten epidemiologischen Querschnittsuntersuchungen sowohl an der Bevolkerung bis 65 Jahre (Ernst & Angst 1995, Regier et al. 1993) als auch an Hochbetagten (Henderson et al. 1998, Lethinen et a. 1990) steigt in den Krankenkassendaten die Haufigkeit der Diagnose Depression und der Anteil der Personen, die Antidepressiva verschrieben bekommen, ab dem 7. Lebensjahrzehnt wieder an und erreicht ihre hochsten Werte bei den iiber 80jahrigen. Jedoch kommen einige wenige epidemiologische Studien, unter anderem eine longitudinale Untersuchung, zu ahnlichen Ergebnissen (Roberts et al., 1997, Stordal et al. 2003). Bestimmte methodische Unterschiede konnen den Unterschied in der Altersabhangigkeit der Depressionspravalenz bedingen: •
Institutionalisierte Personen werden in der Regel nicht in epidemiologischen Querschnittserhebungen einbezogen. Die Pravalenz der Depression ist jedoch insbesondere in Altenheimen hoch (Riedel-Heller et al. 2001) Wahrend Institutionalisierung fur die 60-70 Jahrigen wenig
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Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover relevant ist, gewinnt sie in der Gruppe der Hochbetagten zunehmend an Bedeutung (Henderson et al. 1993). So zeigte sich in der Miinchener-Hochbetagten Studie, dass unter den 80 und 90ig Jahrigen mehr Depressive in als aufierhalb von Altenheimen wohnen (Meller et al 1997). Studien an Hochbetagten, die die Altenheimbevolkerang ausschliefien, konnen daher die Haufigkeit von Depressionen im hohen Alter unterschatzen. Im Gegensatz hierzu schliefien longitudinale Erhebungen sowie die Diagnosen der ambulanten Arzte in den Krankenkassendaten auch die institutionalisierte Bevolkerung mit ein.
•
Das Ablehnen der Teilnahme an einer epidemiologischen Untersuchung ist bei alten Menschen mit Depressivitat assoziiert (Palsson et al., 2001). Dies kann zur Unterschatzung der „wahren Pravalenz" fuhren. Fiir das Erheben der Diagnosen der Krankenkassen ist das Einverstandnis der Patienten nicht notwendig.
•
Da alte Menschen auf Grand einer allgemein hoheren Morbiditat haufiger ambulante Arzte aufsuchen und stationare Behandlung erhalten, ist die Wahrscheinlichkeit als depressiv diagnostiziert zu werden, grower als bei jungen Menschen, die auf Grund einer grofieren korperlichen Gesundheit weniger Kontakt mit dem Gesundheitssystem haben.
•
In vielen epidemiologischen Studien werden die Personen, die alter als 65 Jahre, sind in einer Gruppe zusammengefasst. Dies kann hohe Pravalenzen insbesondere bei den Hochbetagten maskieren (Snowdon, 2001). Demgegenuber weisen die Krankenkassendaten die Haufigkeiten in funf Jahresschritten bis ins 85. Lebensjahr aus.
•
Wahrend die meisten epidemiologischen Querschnittserhebungen Depression nach DSM/ICD Kriterien fiir Major Depression und/oder Dysthymia erheben, schlossen zuletzt Palsson und Mitarbeiter (2001) sowie Stordal und Mitarbeiter (2003) auch leichtere, subklinische Falle in ihre Untersuchung mit ein. Es ist davon auszugehen, dass niedergelassene Arzte ebenfalls leichtere, subklinische und untypische depressive Syndrome ihrer Patienten als Depression klassifizieren. Eine Verschiebung des Spektrums depressiver Syndrome im Alter hin zu den subklinischen und eher somatischen Syndromen, im Sinne eines Sinkens erster und einer Zunahme letzterer, ist bekannt (Ernst und Angst, 1995). Die hier vorgestellten Daten belegen eindrucksvoll, dass auch formal subklinische Depressionen ein relevantes Gesundheitsproblem darstellen.
Versorgungsgeschehen •
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Als Ursache der Zunahme depressiver Syndrome in der hochbetagten Bevolkerung konnten als relevante Faktoren insbesondere korperliche Erkrankungen und Beschwerden sowie Behinderung der Bewegung, des Sehens und Horens identifiziert werden. Diese verursachen insbesondere leichtere und subklinische depressive Beschwerden (Stordal et al. 2003). Wenn fur korperliche Erkrankungen statistisch kontrolliert wurde, fand sich in den hoheren Altersgruppen kein erhohtes Depressionsrisiko und auch keine schlechtere Prognose mehr (Roberts et al. 1997). Gleichzeitig weist die als ursachlich zu verstehende Verbindung zwischen korperlicher Morbiditat, insbesondere solcher, die zur Einschrankung der Mobilitat fuhrt (Prince et al. 1998) und Depressivitat im Alter auf weitere Moglichkeiten zur Depressionspravention im hoheren Lebensalter hin (siehe Stoppe, Kapitel 12, Alte).
3.11.3 Ost/West Unterschiede Unterschiede in der Depressionshaufigkeit zwischen Ost und WestDeutschland sind vorbeschrieben (Wittchen, 1994, Wittchenet al. 1999). Aufgrund dieser Vorbefunde und der Durchgangigkeit der Ost-West Unterschiede in den Krankenkassendaten sowohl in Diagnosen als auch Verordnungen, bei Mannern als auch Frauen, bei arbeitslosen wie erwerbstatigen Personen, kann davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei eher um ein reales epidemiologisches Phanomen handelt, und nicht um mogliche regionale Unterschiede im Diagnose- und Verordnungsverhalten. Moglich ware, dass dem Ost und West Unterschied in den Depressionsdiagnosehaufigkeiten ein hoheres Vorkommen von Alkoholdiagnosen in den Neuen Bundeslandern mit einer Maskierung von depressiven Erkrankungen zu Grande liegt. Eine zusatzliche geschlechts- und altersadjustierte Analyse der ambulanten Krankenkassendaten ergab, dass Alkoholdiagnosen in den Neuen Bundeslandern insgesamt etwa 11,5 % haufiger als im Bundesdurchschnitt vergeben werden. Dieser Unterschied ist allerdings ausschliefilich auf eine hohere Diagnoserate von Alkoholerkrankungen in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg zuriick zufuhren, wahrend in den ubrigen Neuen Bundeslandern sowohl die Alkoholdiagnoseraten als auch die Depressionsraten unter dem Bundesdurchschnitt liegen. Parallel dazu lassen sich in Berlin erhohte Diagnoseraten sowohl im Hinblick auf Depressionen aus auch im Hinblick auf Alkoholmissbrauch finden. Wiirden alle Alkoholerkrankungsdiagnosen der neuen Bundeslander als verkannte Depressionen gewertet werden, so gliche sich der Ost-West Unterschied in etwa aus. Es wiirde dabei aber nicht beriicksichtigt, dass auch in
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den alten Bundeslandern Depressionen beim Vorliegen einer Alkoholdiagnose verkannt werden konnen. Es ist daher unwahrscheinlich, dass Depressionen in den ostlichen Bundeslandern beim Vorliegen einer Alkoholerkrankung in dem Ausmafi unterdiagnostiziert werden, dass sich der OstWest Unterschied damit erklaren wiirde. Fur die auffallig geringere Haufigkeit von Depression in den neuen Bundeslandern bei Arbeitslosen kann die Selektionshypothese als Erklarung dienen (Elkeles und Seifert, 1992). Demnach sind von Arbeitslosigkeit zuallererst eher kranke und vulnerable Personen betroffen, bei grofier und langer andauernder Arbeitslosigkeit, wie sie in vielen Regionen OstDeutschlands besteht, relativiert sich aber dieser Effekt. Auch zunehmend gesiindere Individuen verlieren dann ihre Arbeit. Hinzu kommt, dass angenommen werden kann, dass Arbeitslosigkeit bei weiter Verbreitung in der Bevolkerung einen weniger stigmatisierenden Effekt hat und auf das Individuum vergleichsweise weniger belastend wirkt (Hafner, 1990). Warum aber insgesamt die Haufigkeit der Diagnose Depression in den neuen Bundeslandern geringer ist als in den alten, ist hiermit nicht zu erklaren. Anzunehmen ware, dass fur die geringere Bedeutung der Depression in den neuen Bundeslandern soziologische Faktoren verantwortlich gemacht werden konnen, wie sie z.B. Ehrenberg beschreibt (vgl. Ehrenberg, Kapitel 6, Gesellschaftlicher Kontext). Demnach ist die Zunahme der Relevanz der Depression Ausdruck fur einen gesellschaftlichen Wandel, von einer Gesellschaft, deren Regelwerk auf Disziplin und Gehorsam gegriindet ist, hin zu einer, die sich auf die Freiheit und Autonomic beruft, die sich auf die personliche Initiative stiitzt und deren Ideal die Selbstverwirklichung ist (Ehrenberg, Kapitel 6, Gesellschaftlicher Kontext). Mit der mangelnden Initiative, Motivation und der mangelnden Kommunikation stellt der Depressive das genaue Negativ zu den Normen der Sozialisation im letzteren Gesellschaftsmodell dar (Ehrenberg, 2004). Die DDR-Gesellschaft entsprach eher dem ersten Modell: Sie war kollektivistisch ausgerichtet und traditionelle Werte wie Gehorsam, Disziplin, Anpassung und Unterordnung, Verantwortungsbewusstsein und Hilfsbereitschaft wurden in ihr hoch bewertet (Kriiger und andere, 1993 zitiert nach (Ulmer, 2003). Im Gegensatz hierzu ist das Gesellschaftsmodell der Bundesrepublik individualistisch gepragt und stellt das selbstbestimmte Individuum in den Mittelpunkt. Das Wertesystem ist dabei deutlich heterogener, wobei Selbstentfaltungswerte wie Postmaterialismus oder Autonomic gegeniiber Pflichtwerten wie Gehorsam oder Disziplin an Bedeutung gewinnen (Hammer, 2001
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zitiert nach Ulmer, 2003). Dieses west-deutsche Sozialisationsmodell konnte die Unterschiede erklaren. Mit der Wiedervereinigung vollzieht sich in den neuen Bundeslandern ein Wandel der Sozialisation, der zu einer Anpassung an die Gegebenheiten im Westen fuhrt (Ulmer, 2003). Der Ehrenbergschen Theorie folgend ist mit einem Angleichen der Depressionspravalenzen in Ost und West erst zu rechnen, wenn die jiingeren inzwischen individualistischer sozialisierten Alterskohorten der neuen Bundeslander das Alter des erhohten Depressionsriskos erreichen, also fruhestens ca. 20 bis 30 Jahre nach der Wiedervereinigung. Hierzu bieten sich Langsschnittstudien an. 3.11.4 Inanspruchnahme von Leistungen Sowohl die Haufigkeit der Pharmakotherapie als auch die der Krankenhausbehandlungen ist in den letzten Jahren angestiegen. Es ist davon auszugehen, dass dies auf eine grofiere Sensibilitat fur die Erkrankung und Bereitschaft, diese zu behandeln, zuruckzuruhren ist. Auch Jacobi und Mitarbeiter (2002) konnten in einer Untersuchung an Hausarzten im Vergleich zu friiheren Jahren eine verbesserte Kompetenz im Diagnostizieren und Behandeln von Depressionen feststellen, gleichzeitig aber auch eine nicht unerhebliche Rate an falsch positiven Diagnosen (Jacobi et al., 2002). Eine Zunahme der Antidepressiva Verordnungen wird auch aus anderen Landern berichtet, so z.B. aus Italien (Guaniana et al., 2005) und Finnland (Maljanen, 2005). In den GEK-Daten liegt die durchschnittliche Rate der Antidepressiva Verordnung fur erwachsene Versicherte mit der Diagnose einer Depression bei liber 30 %. Diese Rate ist damit etwas hoher als die, im Jahr 2000 durch die European Study of the Epidemiology of Mental Disorders (ESEMeD) ermittelte durchschnittliche Behandlungsrate in sechs europaischen Landern (fur Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande, Spanien) von ca. 20 % (Alonso et al., 2000). Unter Beriicksichtigung der Personen, die eine Psychotherapie erhalten, werden nach den vorliegenden Ergebnissen immerhin 40-50 % aller als depressiv diagnostizierten Personen im Verlauf von drei Quartalen pharmako- und/oder psychotherapeutisch behandelt. Dies trifft bundesweit zu, unabhangig von der Bevorkerungsdichte, wobei jedoch in dichter besiedelten Gebieten der Anteil der Personen, die Psychotherapie erhalten, zu ungunsten der medikamentos antidepressiv Behandelten grofier ist, wahrend es in dtinner besiedelten Regionen umgekehrt ist. Inwieweit die Wahl der
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Therapie Evidenzkriterien entspricht sowie iiber Dosierung, Behandlungsdauer und den Erfolg der Therapie konnen mit der vorliegenden Datenanalyse keine Aussagen gemacht werden. Wahrend die Chance, mit Antidepressiva und/oder Psychotherapie behandelt zu werden, bei den 40 jahrigen Mannern und Frauen mit iiber 50 % am hochsten liegt, sinkt sie fur die Altersgruppen ab 60 insbesondere bei Mannern massiv ab. Bei der Frage nach Unterversorgung der Depression sollte daher die Personengruppe der Hochbetagten von besonderem Interesse sein (vgl. Stoppe, Kapitel 12, Alte). Ebenso wie die aktuellen Auswertungen von Krankenkassendaten unter Einbeziehung der ambulant vergebenen Diagnosen bislang noch keine Aussagen iiber den Krankheitsverlauf der behandelten Personen machen konnen, so bleibt auch ungewiss, wie der weitere Verlauf der ca. 50-60 % als depressiv diagnostizierten Patienten ist, die keine depressionsspezifische Therapie erhalten. Moglich ist, dass viele spontan oder mit Hilfe von pflanzlichen Arzneimitteln, wie z.B. Johanniskraut oder unter alternativen Therapien, remittieren. Detailliertere Untersuchungen iiber den tatsachlichen Gebrauch und Effekt von Antidepressiva und Psychotherapie unter Alltagsbedingungen sowie iiber Erkrankungsverlaufe bei Personen, die als depressiv diagnostiziert werden, aber keine depressionsspezifische Therapie erhalten, sind fur eine Abschatzung der Angemessenheit der realen Depressionsversorgung und zum Ausloten von Verbesserungspotential notwendig.
3.12
Schlussfolgerung
Depressive Syndrome, die von Arzten als klinisch relevant beurteilt werden, sind in der Bevolkerung weit verbreitet und nehmen mit dem Alter zu. Menschen, die an einem depressive Syndrom leiden, haben eine hohe psychische und korperliche Komorbiditat und beanspruchen einen erhohten Versorgungsaufwand. In den letzten Jahren haben depressive Syndrome im medizinischen Versorgungsgeschehen erheblich an Bedeutung gewonnen, sowohl durch eine Zunahme der stationaren Diagnoserate als auch durch vermehrte Antidepressiva Verschreibungen. Aufgrund dieser Zunahme ist es notwendig, detaillierte Informationen iiber die Angemessenheit der Versorgung (werden die Ressourcen und Moglichkeiten effektiv eingesetzt?) in verschiedener Bevolkerungsgruppen (Manner, Frauen, Alte) zu gewinnen und den Verlauf unter Alltagsbedingungen von verschiedentlich behandelten und nicht-behandelten depressiven Menschen
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zu kennen. Weitere Forschungsaktivitaten sollten hierauf fokussieren mit dem Ziel, die Behandlung der Volkskrankheit Depression soweit wie moglich zu optimieren. Die vorliegende Analyse konnte zeigen, dass Krankenkassendaten valide epidemiologische Gegebenheiten von Depressionen abbilden und Hinweise auf die Versorgungssituation geben. Diese routinemafiig erhobenen und longitudinal vorhandenen Daten, welche sehr grofie Bevolkerungsteile umfassend abbilden, konnten verstarkt fur die Versorgungsevaluation und Gesundheitsplanung herangezogen werden. So boten sie sich zum Beispiel regional fur eine unabhangige Evaluation von versorgungsverbessernden Mafinahmen, wie strukturierte Versorgungsprogramme, Awarenesskampagnen, Fortbildungsprogramme fur Hausarzte oder Praventionsprogramme an. Mit Hilfe der Diagnosen aus der ambulanten arztlichen Versorgung sowie den Daten zu Arzneimittelverordnungen und zu Arbeitsunfahigkeiten ware es moglich, unabhangig Effekte der oben genannten Mafinahmen im Vergleich zu Regionen ohne Intervention darzustellen.
• Depressive Syndrome, die von ambulant tatigen Arzten als klinisch relevant eingeschatzt werden sind in der Bevolkerung weit verbreitet. Ihre Haufigkeit nimmt mit steigendem Alter zu. In Deutschland erhielten im Rahmen der ambulanten Versorgung innerhalb des ersten Halbjahres 2004 insgesamt schatzungsweise 5,4 Mio. Personen die Diagnose einer Depression. • Menschen mit der Diagnose einer Depression haben eine erhohte Wahrscheinlichkeit, weiblich zu sein, zusatzlich an anderen psychischen und korperlichen Erkrankungen zu leiden, arbeitslos zu sein, und in den alten Bundeslandern zu wohnen. • Die Bedeutung depressiver Syndrome fur die medizinische Versorgung hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Bundesweit und unabhangig vom Wohnort erhalten im Verlauf von drei Quartalen ca. 40-50 % aller als depressiv diagnostizierten eine an tidepressive Therapie mit Medikamenten und/oder Psychotherapie.
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Thomas Grobe, Anke Bramesfeld, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover Wissen iiber die Behandlung depressiver Syndrome unter Alltagsbedingungen sowie iiber die Verlaufe von Behandelten und NichtBehandelten ist notwendig, um die Versorgung optimieren zu konnen. Zukunftige Forschungsaktivitaten sollten sich daher dieser Themen annehmen.
• Krankenkassendaten bilden valide epidemiologische Gegebenheiten und Versorgungsrealitaten in der Bevolkerung ab. Sie eigenen sich zur Versorgungsevaluation, Versorgungsplanung sowie unabhangiger Evaluation von Public Health Interventionen.
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Kapitel 4
4
Psychopharmaka Mehr Antidepressiva, weniger Benzodiazepine Auffallige Veranderungen im PsychopharmakaVerbrauch
Gerd Glaeske, Bremen Die Veranderungen in den vergangenen Jahren im Verbrauch der wichtigsten Arzneimittelgruppen aus dem Bereich der Psychopharmaka, namlich der Antidepressiva, Neuroleptika und Tranquilizer, sind bemerkenswert: Wahrend die Neuroleptika seit 10 Jahren, bezogen auf die verordneten Tagesdosierungen (DDD = Defined Daily Dosis; Fricke, Giinther 2001) im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), ein relativ konstantes Volumen zeigen (rund 240 Mio. DDDs), lassen sich beziiglich der Tranquilizer und Antidepressiva auffallige Veranderungen darstellen: Machten die Tranquilizer noch 1992 etwa 44% der verordneten Mengen der drei Psychopharmakagruppen aus, auf die Neuroleptika entfielen im gleichen Jahr 24%, auf die Antidepressiva 32%, so hat sich diese Relation bis zum Jahre 2003 grundlich gewandelt: Da entfielen auf die Tranquilizer nur noch etwa 16%, auf die Neuroleptika weiter 24% und auf die Antidepressiva 60%. Damit gehoren die Mittel gegen Depressionen zu den am starksten wachsenden Gruppen in der Arzneimittelversorgung - seit 1991 stieg die Menge der verordneten Tagesdosierungen von 200 auf 600 Mio. an. An dieser Aufstellung wird erkennbar, dass der Anteil der Bevolkerung, der mit Antidepressiva behandelt wird, mehr und mehr ansteigt. Wahrend die Menge der verordneten Tranquilizer deutlich abnimmt - zwischen 1992 und 2004 um mehr als 50% -, gleicht der Anstieg der Antidepressiva diesen Riickgang der Tranquilizer nicht nur aus, er fuhrt sogar zu einer absoluten Steigerung der verordneten Tagesdosierungen der drei genannten Gruppen unter den Psychopharmaka: Der Anstieg der insgesamt iiber das jeweilige Jahr kontinuierlich behandelbaren Patientinnen und Patien-
Gerd Glaeske, Bremen
100
ten lasst sich vor allem auf den Anstieg der Antidepressiva zuriickfuhren, da die verordnete Menge der Neuroleptika nahezu gleich bleibt. Dies betrifft im tibrigen auch die zeitweise als „Ersatz" fur die Benzodiazepine verordneten niedrig dosierten Neuroleptika, die vor allem mit dem Slogan „Keine substanzbedingte Gewohnung und Abhangigkeit" beworben wurden (z.B. Imap 1,5) und damit als Alternative fur die Benzodiazepinhaltigen Tranquilizer galten, die bekanntermafien bereits nach kurzer Anwendungszeit (>4 Wochen) zu Absetz- und Enzugssymptomen fiihren konnen.
Tab. 4.1:
Veranderungen der verordneten Mengen (in DDD) der wichtigsten Psychopharmakagruppen (Schwabe, Paffrath 2000 bzw. 2005)
Jahr
Anti depressiva, Mio. DDD
Neuroleptika, TranquiliMio. DDD zer, Mio DDD
Menge gesamt reicht aus fur....Personen*)
Menge Antidepressiva reicht aus fur...Personen*)
1992
243 302 420 645
185 243 234 246
2,1 Mio.
0,7 Mio.
2,1 Mio.
0,8 Mio.
1996 2000 2003
331 234 182 151
2,3 Mio.
1,2 Mio.
2,9 Mio.
1,8 Mio.
i Die Anzahl kommt dadurch zustande, dass gepriift wird, wie viele Personen mit der verordneten Menge theoretisch 1 Jahr lang behandelt werden konnten
Aber trotz des Anstiegs des Verbrauchs der Antidepressiva muss noch immer davon ausgegangen werden, dass ein grofierer Teil der Patientinnen und Patienten mit Depressionen noch immer nicht korrekt diagnostiziert wird. Aber selbst wenn die Diagnose zutreffend gestellt wurde, muss fur einen grofien Anteil der Patientinnen und Patienten (geschatzt werden um die 50%) von einer inadaquaten Behandlung ausgegangen werden, weil z.B. die Verordnungszeitraume zu kurz gewahlt werden (Lepine es al. 1997). Nach wie vor ist deshalb anzunehmen, dass Patientinnen und Patienten mit Depressionen unterversorgt sind und dass dieses Defizit langsam, aber doch erkennbar, ausgeglichen wird.
4.1
Verordnungscharakteristika von Antidepressiva und Benzodiazepinen
Diese gegenlaufige Entwicklung bei den Tranquilizern, typischerweise Wirkstoffen aus der Gruppe der Benzodiazepine, kommt nicht ganz iiberraschend und ist fachlich begriindet. Denn alle Mittel aus dieser im Jahre
Psychopharmaka
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1960 eingefuhrten Gruppe (die ersten Mittel waren Librium 1960 und Valium 1963) fiihren - auf Dauer gegeben - zur Abhangigkeit. Sie sind zwar nach wie vor unverzichtbar - z.B. als Muskelrelaxans vor Operationen, als Mittel gegen Fieberkrampfe bei Kindern, als Mittel bei Angst- und Panikattacken oder auch kurzfristig bei Schlafstorungen -, ihre therapeutische Potenz ist aber vor allem durch die zeitbegrenzte Anwendungsdauer beschrankt - bereits nach 4 - 6 Wochen zeigen sich Absetzerscheinungen. Nach 3 Monaten kontinuierlicher Einnahme muss davon ausgegangen werden, dass mindestens 80% der Patientinnen und Patienten beim Absetzen der Mittel unter erheblichen Entzugserscheinungen leiden. Typischerweise werden die Mittel unter Umstanden deshalb weiter verordnet, damit diese Entzugserscheinungen gar nicht erst auftreten - es geht also letztlich bei der Weiterverordnung um eine „Entzugsvermeidungsstrategie" (Glaeske et al. 1997). Und so euphorisch die Benzodiazepine bei ihrer Einfuhrung im Jahre 1960 als sichere und wirksame Alternative zu den bis dahin gangigen Barbitursaurederivaten in der Medizin willkommen geheifien und akzeptiert wurden, so sehr verbreitete sich doch Mitte der 80er Jahre die Kritik an der allzu leichtfertigen und weit verbreiteten Verordnung in Deutschland. Uber 2 Millionen Menschen galten damals als abhangig, insbesondere altere Frauen, die Benzodiazepin-haltige Schlaf- und Beruhigungsmittel uber Jahre bekommen hatten und nun unter einer iatrogen mitverantworteten Abhangigkeit litten. Dass die Benzodiazepine besonders haufig bei Frauen im mittleren Alter eingesetzt wurden, fuhrte tibrigens zu dem Begriff der feminization of Tranquilizers" (und zu dem Rolling Stones-Song „Mother's little helper") (Aftermath, 1966). Die Verordnungsmengen der Tranquilizer sind zwar deutlich gesunken, aber noch immer beachtlich. Das Problem verstarkt sich zusatzlich dadurch, dass Wirkstoffe aus dieser Gruppe auch noch als Schlafmittel verordnet werden, wie z.B. Dalmadorm (Flurazepam), Noctamid (Lormetazepam), Radedorm (Nitrazepam), Remestan (Temazepam) und Rohypnol (Flunitrazepam). Noch immer muss davon ausgegangen werden, dass im Jahre 2004 rand 1,0 - 1,1 Millionen Menschen in Deutschland von Benzodiazepinderivaten abhangig sind, weitere etwa 300.000 von anderen Arzneimitteln. Betroffen sind vor allem Frauen, wie Auswertungen aus dem Bereich der Gmunder ErsatzKasse (GEK) zeigen. Danach werden immer noch fur einen grofien Anteil der Patientinnen und Patienten deutlich hohere Mengen verordnet, als fur den jeweiligen Verordnungszeitraum 30 Tage (= 30 DDDs) ausreichen wurden, ein Hinweis darauf, dass die Dokumentation in der verord-
Gerd Glaeske, Bremen
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nenden Praxis verbesserungsbediirftig ist. Bei den Auswertungen iiber Langzeitverordnungen zeigt sich ganz deutlich, dass der Anteil von Frauen im hoheren Lebensalter deutlich hoher liegt als bei den Mannern und bis zu 8% bei den Frauen iiber 70 Jahre reicht. (Glaeske 2000, Janhsen, Glaeske, 2002). Insgesamt ist aber festzustellen, dass die Haufigkeit von Dauerverordnungen in diesem Arzneimittelbereich langsam abnimmt. Dies ist sicherlich auch ein Erfolg der bereits jahrelang veroffenfiichten Warnungen vor leichtfertig ausgestellten Rezepten mit Benzodiazepin-Derivaten und vor der Gefahr der Abhangigkeitsentwicklung. Dass die Gesamtmenge der verbrauchten Benzodiazepinderivate in den vergangenen Jahren sogar drastisch abgenommen hat, zeigen auch die Angaben der Bundesopiumstelle, der die hergestellten Mengen von den Herstellern gemeldet werden mussen. Benzodiazepine sind namlich grundsatzlich dem Betaubungsmittelrecht unterstellt und diirfen nur bei der Beriicksichtigung bestimmter Dosierungen pro Tabletteneinheit auf einem „normalen" Rezept verordnet werden. Die folgenden Mengen bieten zumindest Annaherungen an die Verbrauchsmengen in Deutschland.
Tab. 4.2:
Veranderung der verbrauchten Benzodiazepin-Mengen in den vergangenen 10 Jahren
Durchschnittlicher Verbrauch (kg/Jahr) in den Jahren Substanz 1993 -1996 2001 - 2004 Alprazolam 14,96 16,10 Bromazepam 671,95 758,13 ? Brotizolam 2,30 Clobazam 189,00 129,70 Diazepam 1211,00 1055,00 Flunitrazepam 84,75 35,20 Flurazepam 902,80 391,80 Lorazepam 92,90 149,80 Lormetazepam 79,70 57,60 Medazepam 503,00 263,40 Nitrazepam 414,50 185,00 Oxazepam 3302,90 2228,50 Temazepam 723,80 813,20 Triazolam 2,80 1,40 8.280,24 kg Gesamt 6.000,95 kg
Tendenz • T ?
T T T T • T T T T • T T
Psychopharmaka 4.2
103
Weniger Benzodiazepine, mehr Antidepressiva
Die Tabelle 4.2 zeigt, dass die verordneten Benzodiazepinmengen wahrend der vergangenen 10 Jahre um etwa 25% abgenommen haben. Stattdessen werden mehr und mehr „moderne" Antidepressiva verordnet (sog. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) wie Citalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin u.a.), die zwar nicht zu einer substanzbedingten Abhangigkeit fiihren, aber dennoch beim Absetzen nach langerer Einnahmezeit Absetzerscheinungen verursachen konnen. Die Vertraglichkeit der neuen Mittel bringt gerade bei der zunehmend multimorbiden (alteren) Bevolkerung Vorteile, weil kardiale Nebenwirkungen, Gewichtszunahme und orthostatische Beschwerden ebensowenig auftreten, wie (nicht seltene) Intoxikationen mit dem Antidepressivum in suizidaler Absicht nicht bzw. nur selten zur Intensivbehandlungspflicht fiihren. Dennoch verlangt das andere Profil der unerwiinschten Wirkungen auch eine hohe Aufmerksamkeit bei der Anwendung: Es kann z.B. vor allem initial zu Schlaflosigkeit, Ubelkeit, Durchfall und Storungen der Sexualfunktion kommen. Eine erhohte Suizidalitat bei Kindern wird diskutiert (Donovan et al., 2000). Zudem kann bei alien Antidepressiva die gemeinsame unerwiinschte Wirkung eines potenziell lebensbedrohlichen Serotoninsyndroms auftreten (Birmes et al. 2003, Ener et al. 2003)Insbesondere bei Patientinnen und Patienten mit Herzinsuffizienz oder metabolischem Syndrom ist die Verordnung von SSRI die offensichtlich risikoarmere Alternative gegeniiber den klassischen Antidepressiva. Insofern bilden die neueren Antidepressiva auch bei diesen zumeist alteren Patienten eine bessere Therapieoption gegeniiber den bisher angebotenen Mitteln. Wie schon in Tabelle 4.1 gezeigt, steigt der Verordnungsanteil der Antidepressiva nach wie vor an, in den letzten 4 Jahren sogar starker als vorher. Dieser Anstieg fallt vor allem mit der haufigeren Verordnung der vor allem bei alteren Patientinnen und Patienten besser vertraglichen SSRIs zusammen. Dieser Anstieg mag auch damit zu tun haben, dass Antidepressiva bei weiteren psychiatrischen Erkrankungen als ausschliefilich bei Depressionen angewendet werden und neue Indikationen erschlossen worden sind. Hierzu gehoren z.B. Panikattacken, generalisierte Angstsyndrome, Bulimia nervosa, Essstorungen, Zwangsstorungen und Phobien. Hinzu kommen Vermutungen dariiber, dass insbesondere Mittel aus dieser Gruppe in den USA mehr und mehr als „life-style" Medikamente missbraucht werden, nachdem auch die Medien viele dieser Praparate als „happy pills" beschrieben haben („Busy, but happy!") (Olfson et al., 1998). Allerdings lasst sich dieser Verordnungstrend in Deutschland nicht ohne weiteres erken-
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Gerd Glaeske, Bremen
nen. Diese Indikationsausweitungen konnten auch erklaren, dass die Verbrauchsmengen der klassischen Antidepressiva nahezu konstant bleiben - sie schwanken um 230 bis 270 Millionen Tagesdosierungen -, dass aber die Verordnungsmengen der neuen Substanzen zunehmen: 1995 waren es noch 25 Millionen Tagesdosierungen, 2004 war es bereits die zehnfache Menge, namlich 250 Millionen Tagesdosierungen. Plausibel ware aber auch, dass aus den oben genannten Griinden in den letzten Jahren begonnene Behandlungen von Depressionen eher mit den neueren Substanzen (engl. SSRI / selective serotonine reuptake inhibitors u.a.) erfolgen. Bei den sedierenden klassischen Antidepressiva fuhren noch immer Wirkstoffe wie Amitriptylin (z.B. in Saroten), Doxepin (z.B. in Aponal) oder Trimipramin (z.B. in Stangyl), bei den Substanzen aus der Gruppe der Wiederaufnahme-Hemmer fuhren Citalopram (z.B. in Cipramil oder Sepram), Sertralin (z.B. in Zoloft oder Gladem), Paroxetin (z.B. in Seroxat oder Tagonis), Venlafaxin (z.B. in Trevilor). Zu den am meisten verordneten „Antidepressiva" gehoren Arzneimittel mit dem Wirkstoff Opipramol, der wie die Wirkstoffe Amitriptylin und Doxepin zu der Gruppe der klassischen trizyklischen „Nichtselektiven Monamin-Ruckaufnahme-Inhibitoren (NSMRI)" gerechnet wird, obwohl seine antidepressive Wirkung nur unzureichend belegt erscheint. Die publizierten Studien zeigen eine Wirkung bei „somatoformen Storungen" oder zu „generalisierten Angststorungen" (Volz et al. 2000, Moller et al. 2001). Als Vorteil dieser Substanz wird herausgestellt, dass sie kein substanzbedingtes Abhangigkeitspotenzial aufweist. Das gleiche gilt aber auch fur die klassischen Antidepressiva, deren Wirksamkeit zur Behandlung bei Angststorungen deutlich besser belegt ist (Arzneimittelkommission 2000). 4.3
Abhangigkeitspotenzial bei Antidepressiva?
Neben den bereits erwahnten unerwunschten Wirkungen muss beim Absetzen dieser neueren Mittel auf mogliche Absetzerscheinungen geachtet werden. In einem Ubersichtsartikel (DTB, 1999) wurde kiirzlich auf Absetzerscheinungen bei bestimmten Antidepressiva hingewiesen. So werden bei abruptem Absetzen nach langerer Einnahmezeit von Clomipramin (z.B. Anafranil) oder Imipramin (z.B. Tofranil oder Imipramin-neuraxpharm) gastrointestinale Nebenwirkungen (Magen-Darm-Schmerzen, Ubelkeit, Durchfall) und Grippe-ahnliche Symptome beobachtet, daneben Mudigkeit, Angstlichkeit und Unruhe, Alptraume und Schlafstorungen. Es kommt auch zu Bewegungsstorungen. Diese Absetzsymptome kommen
Psychopharmaka
105
bei etwa 30 - 50% der Patientinnen und Patienten vor, bei denen die genannten Antidepressiva abrupt abgesetzt werden. Absetzerscheinungen wurden auch bei Beendigung der Therapie mit den Wirkstoffen Paroxetin (Praparate s.o.)> Fluvoxamin (z.B. in Fevarin), Fluoxetin (Praparate s.o.) und Sertralin (z.B. in Zoloft oder Gladem) beobachtet. Sie beginnen innerhalb von 24 - 72 Stunden nach Beendigung der Einnahme und dauern 1-2 Wochen an. Zu den Symptomen gehoren Schwindel, Brechreiz, Ubelkeit, Gleichgewichtsprobleme, Angstlichkeit, Schwitzen, Zittern, Schlaflosigkeit und Alptraume. Die Symptome traten am haufigsten nach dem Absetzen von Paroxetin und Sertralin auf, in deutlich geringerem Umfang nach Fluvoxamin und Fluoxetin. Trotz dem wird aber nicht angenommen, dass es durch die genannten Antidepressiva zu einer substanzbedingten Abhangigkeit kommt. Diese Symptome konnen jedoch die Schwierigkeiten mancher Patientinnen und Patienten beim Beenden einer Therapie mit Antidepressiva erklaren. Es wird daher empfohlen, nach einer „Standard"-Therapiezeit von 6-8 Monaten die Behandlung ausschleichend im Rahmen einer Dosisverringerung liber 6 - 8 Wochen zu beenden. Nach Einnahmezeiten von weniger als 8 Wochen werden 1 - 2 Wochen des langsamen herunterdosierten Absetzens als ausreichend betrachtet. 4.4
Pflanzliche Antidepressiva
In gar nicht geringem Umfang (27 Millionen Tagesdosierungen, ausreichend fur eine jahrliche Therapie bei 75.000 Personen) werden auch pflanzliche Mittel mit Johanniskrautextrakt verordnet (z.B. Laif, Jarsin, Neuroplant, Felix oder Texx). Diese Verordnungen entfallen damit auf pflanzliche Mittel, denen in Vergleichsstudien mit einer ausreichenden Dosierung (900 mg pro Tag) eine ahnliche Wirkung wie niedrig dosierten typischen Antidepressiva (z.B. 75 - 100 mg Imipramin) bestatigt wurde, die aber Vorteile in der Vertraglichkeit zeigten. Ob diese niedrige Dosierung allerdings eine klinisch bedeutsame Relevanz hat oder eher eine unterstiitzende Wirkung besitzt, ist noch nicht ausreichend geklart (Volz, Hansel 1995; Linde et al, 1996; Giinther, Antes 1999). Diese pflanzlichen Antidepressiva sind aber keineswegs Alternativen ohne unerwunschte Wirkungen oder Wechselwirkungen. Vielmehr wurde iiber eine ganze Reihe von z. T. sogar lebensbedrohlichen unerwunschten Wirkungen berichtet. Hierzu gehoren z.B. die beobachteten starken Absenkungen der Plasmaspiegel von Ciclosporin, Digoxin, Indinavir, Phenprocoumon, Sim-
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Gerd Glaeske, Bremen
vastatin und Warfarin. Dies gilt auch fur gleichzeitig gegebene andere Antidepressiva (Zhou et al. 2004). Hinzu kommen auch Fallbeschreibungen iiber das Auftreten des schon weiter oben erwahnten potenziell lebensbedrohlichen Serotoninsyndroms. Zusatzlich miissen die schon lange bekannten lichtallergischen Reaktionen bei hoheren Dosierungen beriicksichtigt werden. Da vor allem Frauen haufig mit Antidepressiva behandelt werden, ist die mogliche Beeintrachtigung der zuverlassigen Wirkung von oralen Kontrazeptiva bei der Verordnung von Mitteln mit Johanniskrautextrakten zu beachten. 4.5
Aktuelle Fragen zum Nutzen und zur Sicherheit
Fur die gesamte Gruppe der Antidepressiva wird aktuell erneut iiber die Nutzen-Schaden-Relation diskutiert (arznei-telegramm 2005). Unstrittig ist namlich, dass schwere Depressionen mit einem erhohten „Lebenszeitrisiko" fiir Suizid einhergehen (siehe Wolfersdorf, Kapitel 15, Suizidalitat). Antidepressiva sollten also suizidale Handlungen vermeiden helfen, ausreichende Belege fur einen solchen Nutzen stehen aber aus. Einige Studien mit SSRIs wie Paroxetin konnten dafur sprechen, dass die Selbsttotungstendenzen zunehmen; dieses Risiko wird vor allem bei der Behandlung von Kindern diskutiert (Gunnel und Ashby 2004, Licino und Wong 2005). Dies muss beachtet werden, wenn die therapeutische Wirksamkeit und damit der Nutzen der alleinigen Antidepressivabehandlung immer wieder hinterfragt wird, und darauf hingewiesen wird, dass der Nutzen - gemessen an der typischerweise verwendeten Hamilton-Skala - nur wenig iiber dem von Placebos liegt und dass daher der Nutzen von Antidepressiva iiberschatzt werde. Diese Kritik wird aber vor allem im Hinblick auf die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Depression in der allgemeinarztlichen Praxis geaufiert. Den Patientinnen und Patienten ist jedenfalls eine verbesserte Behandlung der Depression zu wunschen - die vorhanden Moglichkeiten hierfur sollten genutzt werden.
• In den vergangenen 15 Jahren wurden die Antidepressiva zur verordnungsstarksten Gruppe der Psychopharmaka, vor allem wegen der Anstiegs der Wirkstoffe aus dem Bereich der SerotoninWiederaufnahme-Hemmer, die offensichtlich nicht nur bei Depressionen, sondern auch bei weiteren Indikationen (z.B. Essstorungen, Zwangsstorungen usw.) eingesetzt werden.
Psychopharmaka
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• Die Antidepressiva haben damit „im Rang" die Benzodiazepinhaltigen Tranquilizer und Hypnotika abgelost, die bis Ende der 90er Jahre die am haufigsten verordneten Psychopharmaka waren. • Zu dieser Entwicklung hat sicherlich beigetragen, dass die Antidepressiva im Gegensatz zu den Benzodiazepin-haltigen Mitteln, nicht mit einem Abhangigkeitspotenzial belastet sind. Als weiterer Gesichtspunkt gilt sicherlich, dass mit den neueren Antidepressiva insbesondere fur altere Patientinnen und Patienten Alternativen angewendet werden konnten, die z.B. auch fur Patienten mit Herzinsuffizienz oder metabolischem Syndrom vertraglich sind. Allerdings muss auf andere Spektren von unerwunschten Wirkungen geachtet werden (z.B. Schlaflosgkeit, Ubelkeit oder Diarrhoe). • Bei den neueren Antidepressiva wird immer wieder iiber Probleme beim Absetzen nach langerer Einnahmezeit beobachtet. Daher muss das abrupte Absetzen dieser Mittel vermieden werden. • Nutzen und Sicherheit der Antidepressiva werden aktuell eingehend diskutiert, weil die Uberlegenheit der Wirksamkeit gegeniiber Plazebo und der Nutzen zur Verringerung von Suizidalitat besser dokumentiert sein sollte. Es wird in Zukunft sicherlich darauf ankommen, die vorhandenen Antidepressiva optimiert in den richtigen Dosierungen iiber einen angemessenen Zeitraum und auch in rationalen Kombinationen einzusetzen.
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Gerd Glaeske, Bremen
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Kapitel 5
5
Volkswirtschaftliche Konsequenzen Inanspruchnahme und Behandlungskosten bei affektiven Storungen - eine Analyse des Ressourcenverbrauchs von erst- und wiedererkrankten Patienten in derhaus- und facharztlichen Versorgung*
Klaus Stamm K, Hans-Jorg Salize, Mannheim
5.1
Einleitung und Problemstellung
Affektive Erkrankungen verursachen nicht nur erhebliches Leid, sie fuhren auch zu immensen volkswirtschaftlichen Belastungen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen direkten Kosten (Ressourcenverbrauch) und indirekten Kosten (Ressourcenverlust). Dabei zahlen zu den direkten Kosten primar die Aufwendungen aufgrund der Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitswesens, unter dem Begriff indirekte Kosten wird v. a. der krankheitsbedingte Produktivitatsverlust eingeordnet. Finanzielle Ausgaben im Zusammenhang mit Krankheit entstehen auch durch sog. Transferzahlungen (z.B. Krankengeldzahlungen, Arbeitslosengeld, Renten), die zwar gesundheitsokonomisch nicht als Ressourcenverlust betrachtet werden, die Kassen der entsprechenden Kostentrager aber dennoch erheblich belasten. Die Grande fur die okonomische Relevanz affektiver Storungen liegen dabei sowohl in der Haufigkeit als auch in der Symptomatik. So sind nach neueren Angaben in Deutschland 11,5 % der Bevolkerung im erwerbsfahigen Alter im Laufe eines Jahres von einer entsprechenden behandlungsbediirftigen Erkrankung betroffen, darunter sind depressive Episoden (ICD-
Die Studie wurde im Rahmen des vom Bundesministerium fur Bildung und Forschung geforderten Kompetenznetzes Depression und Suizidalitat (01 GI9923) durchgefuhrt.
110
Klaus Stamm K, Hans- Jorg Salize, Mannheim
10: F32 und F33, gleichbedeutend mit Major Depression gemafi DSM IV) mit 8,3 % am weitesten verbreitet (Wittchen et al. 2000). Starker als bei anderen Volkskrankheiten (wie etwa Diabetes, erhohter Blutdruck oder Ruckenschmerzen) sind dabei die Lebensqualitat, die korperlichen, geistigen und sozialen Belange in umfangreicher Weise beeintrachtigt (Davidson und Meltzer-Brody 1999). Aufgrund somatischer Komorbiditat und Suizidalitat handelt es sich haufig um eine Erkrankung mit todlichem Ausgang. Zwar gelten Depressionen in den meisten Fallen als gut behandelbar, bis die richtige Diagnose gestellt und eine entsprechende Therapie begonnen wird, vergehen mitunter jedoch mehrere Jahre (Zielke und Limbacher 2004). Allein die direkten Kosten sind bereits erheblich: So werden vom Statistischen Bundesamt die Behandlungskosten fur die Diagnosegruppe der affektiven Storungen (ICD - 10 Ziffern F30 - F39) in Deutschland fur das Jahr 2002 mit € 4,03 Mrd. beziffert. Damit lagen die Ausgaben zwar unter denen fur organische psychische Storungen (ICD - 10 - Gruppe F0: € 6,86 Mrd.), waren jedoch hoher als die fur neurotische, Belastungs- und somatoforme Storungen (ICD10 - Gruppe F40 - F48: € 2,83 Mrd.) oder fur Schizophrenien (ICD - 10 - Gruppe F20 - F29: € 1,53 Mrd.). Dabei handelt es sich um administrative Daten, bei denen nur Kosten aufgrund der Behandlungspravalenz (nach Angaben von Wittchen et al. 2000 lediglich etwa die Halfte aller Betroffenen) beriicksichtigt sind. Vermutlich entstehen jedoch vor allem durch die in diesen Zahlen nicht enthaltenen fehlbehandelten Patienten stark erhohte Ausgaben (Zielke und Limbacher 2004). Zwei Studien existieren bisher in Deutschland, die Angaben zu den durchschnittlichen Kosten eines an einer Depression Erkrankten machen: so bezifferten Salize et al. 2004 die mittleren Gesamtbehandlungskosten eines als depressiv klassifizierten Patienten in der haus- und facharztlichen Versorgung in Deutschland auf jahrlich € 3.849. Eine andere Forschergruppe (Friemel et al. 2005) ermittelte anhand einer reprasentativen Stichprobe der nicht institutionalisierten Bevolkerung einen durchschnittlichen Wert von 686 € / Jahr und Erkranktem, in dieser Zahl nicht enthalten sind die Kosten fur somatische Behandlungen. Weitergehende Untersuchungen stammen aus dem angloamerikanischen Raum. Demnach betrugen die mittleren jahrlichen Gesamtbehandlungskosten fur einen Patienten mit Visitendiagnose Depression in der primararztlichen Versorgung im Jahr 1992 $ 4.246 und lagen damit deutlich hoher als die eines Patienten ohne diese Erkrankung ($ 2.371) (Simon et al. 1995a). Dabei scheint bei depressiven Patienten kein eindeutiger Zusam-
Volkswirtschaftliche Konsequenzen
111
menhang zwischen Symptomverbesserung und Riickgang der Versorgungsausgaben zu bestehen (Simon et al 1995b), so dass auch 12 Monate nach Beginn einer Behandlung noch deutliche Unterschiede in den Kosten im Vergleich zu einer Kontrollgruppe zu finden sind (Simon et al. 1995a). Nach Ansicht der Autoren kann dies moglicherweise eine Folge des chronischen Charakters der Stoning sein, jedoch wird auch eine generelle Neigung der untersuchten depressiven Studienpopulation zu erhohter Inanspruchnahme diskutiert. Ein Grofiteil der Aufwendungen fur die Versorgung depressiver Patienten ist offensichtlich auf die Nutzung nichtpsychiatrischer Einrichtungen zuriickzufuhren (Simon et al. 1995a, Simon et al. 1995b, Chisholm et al. 2003, Katon et al. 2003), was sich nicht ausschliefilich durch somatische Komorbiditat erklaren lasst (Simon et al. 1995a). Die Krankheitsbelastung durch vorzeitigen Tod und Lebensjahre mit Behinderung durch Depressionen ist enorm. Bereits 1990 standen Depressionen nach einer Studie der WHO unter den Erkrankungen mit der hochsten Krankheitslast (Burden of Desease) an vierter Stelle, mit der Prognose des Vorriickens auf den 2. Platz im Jahr 2020 (Murray und Lopez 1996). Dementsprechend hoch fallen die indirekten Kosten aus. Nach Angaben von Greenberg et al. 2003 sind lediglich 31 % der mit $ 83,1 Mrd. bezifferten Gesamtkosten durch Depressionen in den USA im Jahr 2000 auf Behandlungskosten zuriickzufuhren, indirekte Kosten durch Arbeitsausfall und Mortalitat aufgrund von Suiziden machten gemeinsam 69 % aus. Eine entsprechende Gegenuberstellung existiert in Deutschland nicht, die folgenden Angaben konnen jedoch dazu dienen, eine ungefahre Vorstellung iiber das Ausmafi der volkswirtschaftlichen Belastungen durch Morbiditat und Mortalitat hierzulande zu vermitteln. So waren nach Angaben der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK) depressive Episoden (F32) unter den psychischen Storungen im Jahr 2003 die haufigste Einzeldiagnose im Zusammenhang mit Arbeitsausfalltagen (AU-Tagen), insgesamt waren 2,8 % aller AU-Tage auf diese Diagnose zuriickzufuhren (Zielke und Limbacher 2004). Dabei stieg der auf psychische Storungen generell zuruckzufiihrende Anteil an AU - Tagen nach Angaben der AOK in den letzten Jahren standig an: betrug dieser im Jahr 1999 noch 5,4 % aller AUTage (Vetter et al. 2000), waren es im Jahr 2003 bereits 7,0 %. Dabei dominieren Depressionen und neurotische Erkrankungen (Vetter et al. 2004). Affektive Storungen haben einen erheblichen Anteil an den Griinden fur vorzeitige Berentungen: mit 14.979 Rentenzugangen wegen verminderter Erwerbsfahigkeit im Jahr 2002 machten die affektiven Storungen 8,5 % aller entsprechender Berentungen im Bezugsjahr aus und waren unter
112
Klaus Stamm K, Hans- Jorg Salize, Mannheim
alien Diagnosen am haufigsten vertreten (Verband Deutscher Rentenversicherungstrager, 2005). Die durch Arbeitsunfahigkeit, Invalidity und vorzeitigen Tod resultierenden Verluste aufgrund von affektiven Storungen fur die Volksgemeinschaft wurden vom Statistischen Bundesamt fur 2002 auf 185.000 verlorene Erwerbstatigkeitsjahre (fur die Gruppe der Berufstatigen) bzw. 528.000 verlorene Lebensjahre (bezogen auf die gesamte Bevolkerung) beziffert (Statistisches Bundesamt 2004). Dies ist der hochste Wert einer einzelnen psychischen Diagnosegruppe. Trotz deutlicher okonomischer Brisanz mangelt es in Deutschland immer noch weitgehend an Kostenstudien. Um diese Liicke zumindest ansatzweise zu schliefien, wurden im Rahmen des vom BMBF geforderten Kompetenznetzes Depression und Suizidalitat gesundheitsokonomische Analysen mit dem Ziel durchgefuhrt, Inanspruchnahmemuster und Behandlungskosten von Patienten mit affektiven Storungen zu bestimmen. Teilergebnisse werden im Folgenden berichtet. Dabei beziehen sich die vorliegenden Zahlen auf einen achtwochigen Untersuchungszeitraum bei erst- und wiedererkrankten Patienten in der haus- und facharztlichen Versorgung. Bei den Kostenanalysen handelt es sich dabei um ein assoziiertes Projekt, das auf dem Design der Originalprojekte aufbaut. Weitergehende Studienziele beziehen sich auf Auswirkungen qualitatssichernder Mafinahmen und sind an anderer Stelle beschrieben (Harter et al. 2002, Schneider et al. 2004, Schneider et al. 2005). 5.2
Methoden
Die Datenerhebung erfolgte von September 2001 bis April 2002 in 43 Hausarzt- und 23 facharztlich-psychiatrischen Facharztpraxen in den Regionen Rheinland (Landkreis Diiren und Stadt Aachen), Siidbaden (Landkreis Lorrach) und Miinchen (Stadtkreis Miinchen). An der Studie teilnehmen konnten alle neu- oder wiedererkrankten Patienten, die von den Arzten wegen irgendeiner affektiven Stoning behandelt wurden und mindestens 18 Jahre alt waren. Die vorliegenden Ergebnisse beziehen sich auf 152 Patienten, bei denen zum einen die fur die Kostenberechnung notwendigen Inanspruchnahmedaten vorhanden waren, zum anderen eine gultige Visitendiagnose vorlag, die sich auf eine affektive Stoning (F30F39) oder eine Anpassungsstorung mit depressiver Reaktion (F43.20 bzw. F43.21) bezog. Dokumentiert wurden alle Kontakte zu Einrichtungen des Gesundheitswesens im Beobachtungszeitraum, ungeachtet dessen, ob diese im Zusammenhang mit der Depressionsbehandlung standen oder nicht.
Volkswirtschaftliche Konsequenzen
113
Bei den Medikamenten hingegen konnte aus erhebungstechnischen Griinden nur die im Rahmen der Depressionsbehandlung verabreichten Praparate in die Kostenberechnung mit einbezogen werden. Die Darstellung der Inanspruchnahme entspricht der des tatsachlichen Studienzeitraums, die Kosten wurden aus Griinden der besseren Vergleichbarkeit der vorliegenden Angaben mit Zahlen aus anderen Untersuchungen von dem empirisch abgedeckten achtwochigen Zeitfenster auf ein Jahr hochgerechnet. Eine ausfuhrliche Beschreibung der Methoden sowie eine entsprechende Analyse einer diagnostisch heterogeneren Stichprobe (n = 270) findet sich bei Salize et al. (2004). 5.3
Ergebnisse
5.3.1 Soziodemografische und klinische Merkmale Wie bei Depressionen generell, so sind auch in der vorliegenden Stichprobe mit n = 108 (76,1 % ) deutlich mehr Frauen als Manner (n = 34, 23,9 % ) vertreten. Das durchschnittliche Alter betragt 49 Jahre, der jiingste Patient ist 20 Jahre alt, der alteste 83. Die meisten Patienten befinden sich in den Altersgruppen 35-49 (n = 50, 32,9 %) und 50-64 (n = 58, 38,2 % ), jiingere und altere Patienten sind eher selten. Am haufigsten wurde die Diagnose depressive Episode (F32, n = 78, 51,3 %) vergeben, mit 50 Fallen (32,9 % ) sind die rezidivierenden depressiven Storungen (F33) am zweit haufigsten. Seltener finden sich anhaltende affektive Storungen (F34, n = 11, 7,2 % ), F43.2 Anpassungsstorungen (n = 9, 5,9 % ) sowie bipolare Erkrankungen (F31,n = 4,2,6%). 5.3.2
Inanspruchnahme und Behandlungskosten nach Einrichtungen Tabelle 5.1 zeigt die Anzahl an Patienten, die einen bestimmten Einrichtungstyp genutzt haben, die Anzahl der Kontakte im Untersuchungszeitraum sowie die auf ein Jahr hochgerechneten mittleren Kosten pro Studienpatient nach Einrichtungstyp. Von den meisten Patienten genutzt wurden Haus- und sonstige Arzte (n = 82, 58,2 % ) und niedergelassene Psychiater (n = 75, 52,5 % ). Etwa ein Drittel der Patienten hatte Kontakt zu niedergelassenen Psychotherapeuten (n = 43, 32,8 % ). AUe weiteren Angebote wurden deutlich seltener in Anspruch genommen, lediglich die Physiotherapeuten liegen noch iiber der 10 %-Marke. Bei diesen vier Einrichtungen entstanden auch die meisten Gesamtkontakte im Studienzeit-
114
Klaus Stamm K, Hans- Jorg Salize, Mannheim
raum. In der hier untersuchten Stichprobe erhielten die meisten Patienten (n = 121, 81,2 % ) Psychopharmaka im Rahmen der Depressionstherapie. Die hochsten Kosten fur eine einzelne Einrichtung entstanden mit 884 €/Jahr und Patient bei den niedergelassenen Psychologen. Mit mittleren jahrlichen Kosten von 563 € waren die Haus- und sonstigen Arzte der zweitgrofite Kostenfaktor, gefolgt von den Allgemeinkrankenhausern (529 € pro Jahr und Patient) und den niedergelassenen Psychiatern (413 €). Zwischen 300 € und 400 € pro Jahr lagen Aufwendungen fur Antidepressiva (372 €), Reha-, Kurkliniken (345 €) und Psychosomatische Krankenhauser (318 €), alle anderen Einzelposten lagen unter 300 €.
Tabelle 5.1: Inanspruchnahme (acht Wochen) und Jahreskosten nach Einrichtungstyp (mittlere Kosten pro Studienteilnehmer in€/Jahr). Inanspruchnahme (acht Wochen)
Mittlere Kosten
Einrichtung genutzt (Gesamtzahl, %)
Kontakte (Summe)
€/Jahr pro Studienteilnehmer
Psychotherapeut
43 (32,8%)
206
884
Psychiatrische Ambulanz
1 (0,7%)
5
9
Haus- und sonstiger Arzt
82 (58,2%)
299
563
Psychiater
75 (52,5%)
242
413
11(7,4%)
42
529
Reha- oder Kurklinik
3 (2,2%)
46
345
Psychosomatisches Krankenhaus
4 (2,8%)
62
318
Psychiatrie, vollstationar
3 (2,2%)
24
244
Psychiatrie, teilstationar
1 (0,7%)
42
209
Ergotherapie
6 (4,1%)
42
69
Beratungsstelle
14 (9,2%)
19
70
Physiotherapie
19 (12,9%)
109
74
Antidepressiva
121 (81,2%) 55 (36,9%)
— —
372
Sonstige Medikamente im Rahmen der Depressionsbehandlung
Einrichtungstyp Ambulanter Sektor
Stationare und teilstationare Einrichtungen# AUgemeinkrankenhaus
Komplementarer Sektor
Medikamente 121
# Bei stationaren Aufenthalten wurde jeder Tag einer stationaren Episode als Kontakt gewertet.
Volkswirtschaftliche Konsequenzen
115
5.3.3
Gesamtbehandlungskosten und Kosten nach Versorgungssektoren Die gesamten Ausgaben fur die medizinische Behandlung sowie die Kosten nach Versorgungssektoren sind in Tabelle 5.2 dargestellt. Demnach betrugen die mittleren Gesamtbehandlungskosten pro Patient und Jahr 3.929 €. Dies entspricht ca. 76 € pro Patient und Woche. Summiert man die Einrichtungen nach Versorgungssektoren auf, so ergibt sich folgendes Bild: Mit 1.681 € (42,8 % ) entstanden die hochsten Kosten im ambulanten Bereich, fast gleich hohe Aufwendungen entfielen mit 1.560 € (39,7 %) auf den stationaren Versorgungssektor. Die Kosten fur die medikamentose Behandlung nahmen mit 483 € (12,3 % ) den dritten Rang ein, der geringste Betrag fmdet sich im beruflichen und sozial-rehabilitativen Bereich (206 €, 5,2 % ). Tabelle 5.2: Gesamtbehandlungskosten und Kosten nach Versorgungssektoren (mittlere Kosten pro Studienteilnehmer in €/Jahr) Gesamtbehandlungskosten
3.929
Ambulanter Versorgungssektor
1.681
Stationare und teilstationare Einrichtungen
1.560
Komplementarer / rehabilitativer Versorgungssektor
206
Medikamente
483
5.4
Diskussion
In der vorliegenden Arbeit werden empirische, auf Angaben der Probanden beruhende Inanspruchnahme- und Kostendaten von erst- und wiedererkrankten Patienten mit affektiven Storungen in der haus- und facharztlichen Versorgung in Deutschland vorgestellt. Dabei beruhen die prasentierten Zahlen auf einem achtwochigen Intervall zu Beginn der Behandlung. Im Folgenden sollen die Befunde abschliefiend diskutiert und eingeordnet werden. Hinsichtlich der einzelnen Einrichtungstypen zeigt sich, dass vor allem Haus- und sonstige Arzte sowie niedergelassene Psychiater kontaktiert werden. Dies ist aufgrund des gewahlten Rekrutierungsverfahrens unmittelbar plausibel. Niedergelassene Psychotherapeuten werden am dritthaufigsten in Anspruch genommen, aufgrund der hoheren Kosten pro Einzelkontakt entstehen hier jedoch die hochsten Ausgaben fur eine einzelne
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Versorgungseinheit. Insgesamt ist der ambulante Bereich in dem untersuchten Zeitfenster der kostenintensivste Versorgungssektor. Einrichtungen der stationaren psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung werden in den ersten acht Wochen eher selten genutzt, aufgrund langer Verweildauern und relativ hoher Elementkosten entsteht hier dennoch ein beachtlicher Kostenanteil, der mit dem des ambulanten Sektors vergleichbar ist. Deutlich geringere Behandlungskosten entstehen bei der medikamentosen Behandlung sowie im komplementaren/rehabilitativen Bereich. Da die Berechnung der Medikamentenkosten nur auf Antidepressiva und sonstige Medikamente im Rahmen der Depressionsbehandlung beruht, liegt hier eine gewisse Unterschatzung der tatsachlichen Behandlungskosten vor, die aufgrund fehlender Referenzdaten nicht naher beziffert werden kann. Ahnlich wie in den eingangs zitierten Untersuchungen ist auch in der vorliegenden Arbeit ein gewisser Anteil der Gesamtbehandlungskosten auf die Nutzung nicht-psychiatrisch-psychotherapeutischer Einrichtungen zuriickzufuhren. So sind die Allgemeinkrankenhauser der teuerste Einzelposten im stationaren Versorgungssektor. Auch ein Teil der Kontakte zu Hausarzten sowie einigen weiteren Einrichtungen wie Reha- und Kurkliniken, Ergo- und Physiotherapeuten findet vermutlich nicht im Rahmen der Depressionsbehandlung statt. Die Frage, inwieweit diese Kostenanteile gegemiber einem durchschnittlichen Patienten erhoht bzw. worauf sie zuriickzufuhren sind, lasst sich anhand der vorliegenden Untersuchung jedoch nicht beantworten und erfordert weitergehende Studien unter Einbezug von Kontrollgruppen, einer sorgfaltigen Dokumentation somatischer Erkrankungen und einer differenzierten Erfassung der jeweiligen Behandlungsgriinde. Inwieweit konnen die hier ermittelten Zahlen iiber den achtwochigen Studienzeitraum hinaus als Referenzdatum fur Inanspruchnahme und Kosten von Patienten mit affektiven Storungen in der haus- und facharztlichen Versorgung generell gelten? Dabei ist zu beriicksichtigen, dass sich in dem untersuchten Zeitfenster kein gesamter Behandlungsverlauf einer Depression (nach Kupfer et al. 1992 bestehend aus Akut-Erhaltungstherapie und Prophylaxe) abbildet. Geht man von einer mittleren Dauer der Akuttherapie von 6 - 1 2 Wochen aus, so sind die hier vorliegenden Daten charakteristisch fur diese erste Phase der Behandlung. Die eingesetzten Verfahren konnen im zeitlichen Verlauf variieren (Fischer et al. 2001), empirische Untersuchungen dazu existieren jedoch bisher nicht. Die Gesamtbehandlungskosten sind in der Arbeit von Simon et al. 1995a im Indexmonat
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deutlich, in den beiden darauf folgenden Monaten leicht, gegeniiber dem Jahresmittel erhoht, das Ausmafi der Hohe der Kosten im ersten Monat der Behandlung ist jedoch nach Angabe der Autoren vor allem darauf zuriickzufuhren, dass hier alle Patienten einen Arztkontakt aufweisen mussten, was bei dem hier gewahlten Design nicht der Fall ist. Geht man von einer gewissen Ubertragbarkeit der amerikanischen Ergebnisse auf die deutsche Versorgungsrealitat aus, so konnen die hochgerechneten jahrlichen Gesamtbehandlungskosten als vorlaufige Referenz fur einen Patienten in der haus- und facharztlichen Versorgung gelten, wobei beriicksichtigt werden muss, dass diese die tatsachlichen Jahreskosten vermutlich leicht uberschatzen. Mit 3.929 € pro Patient und Jahr entsprechen die in der vorliegenden Studie ermittelten Gesamtkosten eines depressiven Patienten in etwa der in den 90er Jahren in den USA berechneten Zahl. Darin enthalten sind alle Kosten aufgrund von Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitswesens, die sowohl im Rahmen der Depressionsbehandlung als auch in der Behandlung psychischer und somatischer Komorbiditat (aufier Medikamente im Rahmen der somatischen Behandlung) anfallen. Die fur das in der vorliegenden Stichprobe eingeschlossene Diagnosespektrum berechneten Kosten entsprechen damit auch weitgehend den bei Salize et al. 2004 ermittelten Aufwendungen von 3.849 € fur alle an der Untersuchung beteiligte Patienten mit gultigen Inanspruchnahmeparametern, liegen jedoch deutlich liber den von der Leipziger Arbeitsgruppe (Friemel et al. 2005) ermittelten Zahlen. Fur diese Differenz gibt es eine Reihe von Griinde, die fur die Variation von Kostendaten generell von Bedeutung sind und daher im Folgenden kurz diskutiert werden sollen. So handelt es sich bei den Leipziger Daten um eine Bevolkerungsstichprobe, in der sich auch Depressive ohne Inanspruchnahme aufgrund psychischer Probleme finden, hingegen befinden sich die hier untersuchten Patienten in haus- oder facharztlicher Behandlung. In der zitierten Arbeit wurde die Inanspruchnahme retrospektiv fur die letzten 12 Monaten erfragt, was vermutlich zu einer Unterschatzung insbesondere von Kontakten zu ambulanten Einrichtungen zur Folge hat, wahrend in der vorliegenden Studie aufgrund des gewahlten Zeitfensters eher mit einer Uberschatzung der jahrlichen Behandlungskosten zu rechnen ist. Auch beziehen sich die hier prasentierten Befunde auf Gesamtbehandlungskosten, in der Leipziger Studie ging lediglich die Inanspruchnahme aufgrund psychischer Probleme in die Kostenberechnung ein. Des Weiteren handelt es sich bei beiden Studien eher um kleine Stichproben, bei denen es leicht aufgrund einiger Extremwerte zu
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starken Verzerrungen kommen kann. Insgesamt weisen die divergierenden Befunde auf die Problematik der Bedeutung von Designfragen und, da Kostenzahlen ja krankheitsubergreifend vergleichbar sein sollten, die Notwendigkeit zur Entwicklung von verbindlichen Konventionen bei Kostenstudien hin. Neben den bereits angesprochenen Forschungsliicken sollen abschliefiend noch einige Aspekte diskutiert werden, die in der vorliegenden Studie nicht untersucht wurden, jedoch von enormer okonomischer Relevanz sind. In ihren Auswirkungen auf die monetare Gesamtbelastung weitgehend unklar sind die Konsequenzen, die durch Fehldiagnosen, Fehlbehandlungen, Mehrfachuntersuchungen und Therapieabbrecher entstehen. Wahrend zum einen durch einen hoheren Anteil an behandelten Patienten zunachst einmal ein Anstieg der direkten Kosten zu vermuten ist, zeigt die eingangs zitierte Studie von Zielke und Limbacher 2004, dass Fehlbehandlungen mit deutlich erhohten Kosten einhergehen. Dabei ist vermutlich gerade die qualitative Verbesserung der Versorgungsrealitat eine der zentralen Herausforderungen bei affektiven Storungen in den nachsten Jahren. Hinweise auf eine Senkung der Pro-Kopf-Kosten sowie der Verringerung der Krankheitsbelastung durch vorzeitigen Tod und Lebensjahre mit Behinderung (gemessen in DALYs = Disability Adjusted Life Years) durch eine leitliniengestutzte Behandlung stammen aus Australien (siehe Andrews et al., Kapitel 19, Interventionspotenziale), aufgrund unterschiedlicher Rahmenbedingungen der Versorgungssysteme lassen sich derartige Befunde jedoch nicht ohne weiteres auf Deutschland iibertragen. Eine 6konomische Evaluation qualitatssichernder Mafinahmen sowie konkurrierender Therapien in der Depressionsbehandlung, bei der zusatzlich zur klinischen Wirksamkeit bestimmt wird, welcher Betrag aufgewendet werden muss, um eine definierte Verbesserung zu erzielen, erscheint angesichts der fortwahrenden Diskussion um knappe Ressourcen im Gesundheitswesen dringend angebracht. Ubergeordnetes Ziel sollte dabei nicht sein, lediglich Behandlungskosten zu minimieren, sondern eine qualitativ moglichst hochwertige Versorgung bei gegebenem Mitteleinsatz zu realisieren. Daher sollten in gesundheitsokonomischen Studien neben direkten und indirekten Kosten auch entsprechende medizinische Parameter sowie intangible Effekte wie personliches Leid und Belastungen von Angehorigen auf der Nutzenseite beriicksichtigt werden.
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Die volkswirtschaftliche Belastung durch die Behandlung affektiver Storungen (ICD - 10 Ziffern F30 - F39) wurden in Deutschland fur das Jahr 2002 mit 4,03 Mrd. € beziffert. Die Angaben zu jahrlichen Behandlungskosten eines Patienten mit einer affektiven Stoning schwanken in Abhangigkeit vom Studiendesign und den beriicksichtigten Kostenkonzepten zwischen etwa 700 € und 4000 €. Indirekte Kosten durch Arbeitsausfall und Mortalitat aufgrund von Suiziden wurden hierzulande nicht untersucht, waren aber in den USA im Jahr 2000 mit einem Anteil von 69 % hoher als die direkten Kosten. • Kosten und Kosteneffektivitat spezifischer therapeutischer und qualitatssichernder Mafinahmen bei affektiven Storungen sind in Deutschland bisher kaum erforscht.
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Klaus Stamm K, Hans-Jorg Salize, Mannheim
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Erkrankungen.
Hintergrunde und Zusammenhange
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Kapitel 6
6
Gesellschaftlicher Kontext Die Depression, Schattenseite der Autonomie?1
Alain Ehrenberg, Paris, Frankreich
„ Die Klagen allein, und das einfache sich beklagen, reichen schon aus, dem Leben einen solchen Zauber zu geben, das es ertraglich ist. Esfindet sich injedem Klagen eine kleineDosis Rache." (Friedrich Nietzsche: Die Gotzendammerung, 1889) Die Depression ist heute Ausdruck fur die verschiedenen Facetten des personlichen Leidens. Bis in die 1940-iger Jahre war sie nichts anderes als ein Syndrom, das bei den meisten psychischen Krankheiten zu beobachten war. Der Depression wurde in unseren Gesellschaften bis zu diesem Zeitpunkt auch keine wesentliche Aufmerksamkeit geschenkt. Mit Beginn der 1970-iger Jahre zeigte die psychiatrische Epidemiologic dass sie die weltweit haufigste psychische Stoning ist. Auch fanden Psychoanalytiker eine eindeutige Zunahme von deprimierten Menschen unter ihren Patienten. So zieht die Depression heute soviel psychiatrische Aufmerksamkeit auf sich wie die Psychosen vor funfzig Jahren. Soweit das medizinische Hervortreten der Depression. Parallel dazu stellen Tageszeitungen und Magazine sie als Modekrankheit dar, als Ubel des Jahrhunderts. Die Depression (nicht die Angst oder die Neurose) wurde zu einem praktischen Mittel, um vielen Aspekten unseres Unglucks einen Namen zu geben und sie gleichzeitig mit Hilfe verschiedener Mittel auch zu erleichtern. Soweit ihr soziologisches Hervortreten. Die Erfindung der Antidepressiva spielte hierbei sicherlich eine nicht zu vernachlassigende Rolle, in dem sie Psychiatrie und Medizin uberhaupt Arzneimittel gegen dieses Ubel lieferte. Antidepressiva 1
Die Herausgeber danken Herrn Dr. Martin Eichhorn, Oberarzt an den Universitaren Psychiatrischen Kliniken Basel, fur die Ubersetzung aus dem Franzdsischen.
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Alain Ehrenberg, Paris, Frankreich
sind faszinierende Substanzen, weil sie auf sehr unterschiedliche Symptome wirken, von denen einige kaum einen Zusammenhang zu psychischen Problemen zeigen (z.B. Ruckenschmerzen). Nichtsdestoweniger bedurfte es auch geselkchaftliche Bedingungen, damit die Depression einen zentralen Platz nicht nur in der Medizin sondern auch in der Psychoanalyse, in der Psychotherapie oder bei den Berufsgruppen, die Storungen des Verhaltens, einschliefilich der gesundheitlichen und sozialen Apekte behandeln, einnehmen konnte. Bezieht man das weite Spektrum - der haufig heterogenen - Erscheinungsformen mit ein, beinhaltet die Depression schlussendlich ein Spektrum von Problemen, welches von der Melancholie mit Schuldwahn bis zu einem erschopften Individuum reicht, das es wieder aufzurichten gilt. Wenn die Depression nichts anderes ware als ein psychoanalytisches Thema oder, - weil sie invalidisierend, teuer und tendenziell chronifizierend ist - ein Problem des offentlichen Gesundheitswesens, oder gar eine Chimare, die von der pharmazeutischen Industrie hervorgebracht wurde, um Antidepressiva zu verkaufen, wiirde sie zwar die Gesundheitssoziologen oder Psychologen interessieren, aber kaum anthropologisches Interesse wecken. Hinsichtlich des anthropologischen Aspektes mochte ich bemerken, dass der medizinische und soziale Erfolg der Depression auf eine Veranderung der Selbstwahrnehmung des Menschen hinweist. Aus dieser Uberlegung folgen zwei Fragen: Warum und wie hat sich die Depression zu unserem grofiten inneren Ungluck entwickelt? In welchem Mafi ist sie kennzeichnend fur die Anderungen der Individualitat am Ende des 20. Jahrhunderts (Ehrenberg, 1998)? Meine These lautet, dass der Erfolg der Depression einen Wechsel im sozialen Regelwerk begleitet, der die Sichtweise auf die institution Individuum" verandert hat. Im Speziellen bedeutet dies den radikalen Wandel einer Gesellschaft, die aufDisziplin gegrundet war-, auf den Gehorsam bis hin zum mechanischen Ausfiihren von Befehlen und auf das Verbot, hin zu einer Gesellschaft, die sich auf Autonomic beruft, exakter eine Gesellschaft, die sich auf allgemeine personliche Initiative sttitzt (symbolisiert im Bild des Unternehmers) und auf das neue Ideal der Selbstverwirklichung (Ehrenberg 1991). Die Geschichte der Depression uberlagert den Niedergang des Konzeptes vom Individuum, der Ende des 19. Jahrhunderts beginnt und bis in die 1950-iger und 1960-iger Jahre reicht. Dieser Typus war eingebettet in Regeln der Disziplin, der Gleichformigkeit und der Verbote. Die neurotische
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Abwehr, Krankheit der Schuld, wie sie S. Freud am Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben hat, kann als die psychische Manifestation verstanden werden, die durch diese Regeln erzeugt wurde. Die Depression begann am Ende der 1960-iger Jahre genau in dem Moment im medizinischen und sozialen Kontext Wurzeln zu schlagen, als diese Regeln zugunsten der personlichen Initiative und der Selbstverwirklichung zu schwinden begannen. Dies in einer Gesellschaft, die anting, sich zunehmend durch die Werte der totalen Wahlfreiheit zu charakterisieren. Was werde ich? Wie handle ich? Die Depression kann als etwas gesehen werden, das die psychische Dimension der Probleme benennt, die durch eine Gesellschaft hervorgebracht werden, die eine Person an ihrer personlichen Initiative misst und die die Frage der personlichen Entfaltung iiber die Frage von Verboten stellt; oder anders ausgedriickt, eine Gesellschaft, in der jeder sein eigener Herrscher ist und sich dadurch mit der Frage der unbegrenzten Moglichkeiten konfrontiert sieht. Die beiden Gegensatze erlaubt/ verboten, die das Herz der neurotischen Problematik sind, gehen nun auf in der Polaritat moglich/unmoglich. Die Depression prasentiert sich als Krankheit der Verantwortung, in der das Gefuhl der Insuffizienz iiber dem Gefuhl der Schuld steht. 6.1
Der Konflikt und die Insuffizienz
Ein Blick in die Literatur zum Neurosekonzept am Ende des 19. Jahrhunderts ist hilfreich, um den Weg von der Schuld zur Verantwortung zu erhellen. Dem Konzept von Freud (1856-1938) steht das seines grofien und unglucklichen Konkurrenten Pierre Janet (1859-1947) gegeniiber. Bei den zwei Entdeckern der modernen Neurose finden sich zwei unterschiedliche Sichtweisen auf den Patienten. Drei Gegensatze dieser beiden Sichtweisen sollen hervorgehoben werden, weil sie eine Interpretation der Metamorphose der Depression erlauben, indem sie diese mit der Veranderung der Individualist verbinden: 1.
Freud geht bei der Neurose vom Konflikt aus: Das unbewusste Schuldgefiihl, das aus einem verdrangten, in der friihen Kindheit wurzelnden psychischen Konflikt heraus entsteht, definiert die Verdrangungsneurose. Janet bezieht sich dagegen auf ein Defizit - exakter ausgedriickt auf eine Insuffizienz oder eine Schwache - welches er depressiv nennt. Die Schwierigkeit zu handeln ist dabei die grundlegende Stoning. Sollte es ein Konfliktthema geben - einfacher und logischerweise mit dem Patienten als Handelndem - so ist dies im Konzept der
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Alain Ehrenberg, Paris, Frankreich Insuffizienz weniger offensichtlich. Dies wird auch im 2. Gegensatz verdeutlicht.
2.
Das Konzept der therapeutischen Verantwortung und der Heilung: Fur Janet besteht die Aufgabe darin, die traumatische Erinnerung, die die Krankheit verursacht, aus dem Gedachtnis zu loschen, so als ob sie niemals vorhanden gewesen ware, um so den Patienten wieder handlungsfahig zu machen. Es handelt sich um die Durchfuhrung einer „seelischen Desinfektion" („desinfection mentale"; Janet 1919, Neudruck 1986). Aus seiner psychotherapeutischen Sicht interessiert ihn der Wahrheitsgehalt einer Erfahrung nicht. Anders gesagt interessierte ihn die Ursache der Erkrankung nicht. Fur Freud handelt es sich bei der Therapie um das Losen des verdrangen Konflikts, indem man Widerstande analysiert und zwar in der Art, dass der Patient seine Freiheit wieder fmdet, sich fur dieses oder jenes zu entscheiden (Freud: Das ich und das Es, 1923).
3.
Das Konzept des Unbewussten: Die Entstehung des modernen Neurosekonzeptes ist Teil der grossen Bewegung der Entwicklung verschiedener Konzepte des Subjektes im Verlauf des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts, wie sie in Philosophic Kunst, Biologie und Neurologie regelrecht explodierten. In beiden Konzepten wird das Subjekt hervorgehoben, aber nicht in der gleichen Art. Die Starke der Freudschen Sicht ist, ein Idealbild des modernen Individuums charakterisiert zu haben, indem er das Animalische - das Lebendige - das moralische Gesetz - integriert hat; das Pulsieren des Organismus ist die Quelle des Psychischen und also auch seiner Konflikthaftigkeit. Die Neurose ist eine entscheidende Etappe in der Geschichte des schuldhaften Bewusstseins. Das Spezielle des Freud'schen Unbewussten ist, dass es sich dabei um ein Unbewusstes handelt, das etwas will. Dies signalisiert es mit Mitteilungen, die man interpretieren muss. Das dominierende Konzept des Unbewussten, an das sich Janet anlehnt, ist das des englischen Neurologen John Hughlings Jackson. Die psychischen Krankheiten werden von hoheren Hirnzentren ausgelost. Als letztes in der menschlichen Evolution entstanden, sind sie komplexer, freier, weniger organisiert als die einfacher, automatischer und starker organisierten untergeordneten Nervenzentren. Die Desorganisation der hoheren Zentren hebt die Kontrolle iiber die hierarchisch tiefer gelegenen Zentren auf, die sich verselbstandigen und Automatismen produzieren, von denen sich die wissenschafthche Psychologie, die am Ende des 19. Jahrhunderts entstand, alimentieren sollte.
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Mit dem Beginn der Einfuhrung des Elektroschocks entwickelten sich die Dinge zweizeitig: Von den 1940-iger bis zu den 1970-iger Jahren kann man noch eine Verbindung zwischen den zwei Krankheitsmodellen feststellen. Das Auseinanderdriften dieser zwei Konzepte im Verlauf der 1970-iger Jahre fuhrte zur Vorherrschaft des Modells der Insuffizienz. 6.2
Die Depression, Anhangsel der Neurose
Das moderne Depressionskonzept nimmt seinen Anfang nicht mit der Entdeckung der Antidepressiva 1957, sondern mit der Einfuhrung des Elektroschocks 1938. Diese technische Innovation wirkte wie ein Katalysator auf den wissenschafflichen Diskurs, und fuhrte dazu, dass depressive Zustande kartographiert wurden. Das so entstandene Bild der Depression stand in einem normativen gesellschaftlichen Kontext, in dem die Familien anerkannt und der Korper geziichtigt werden musste sowie die Anspriiche bescheiden zu sein hatten. Obwohl bei den Hausarzten haufig iiber depressive Symptome geklagt wurde, wurden die Patienten meist als eingebildete Kranke, als Simulanten oder als wehleidige Personen angesehen. In einer solchen Situation schien es die Aufgabe der Psychiater zu sein, den Begriff des Pathologischen auszuweiten und diese Klagen als Krankheit anzuerkennen. Die zentrale Diskussion in jener Zeit fokussierte auf die Rolle (und den Platz) der Affekte in der nichtmelancholischen Depression. Diese Stimmung einzuordnen war der Angelpunkt der psychiatrischen Reflektion. Es ging dabei um die Wahl der therapeutischen Strategic: Konnen diese Depressionen mit Elektroschock behandelt werden? Die Psychiater gingen davon aus, dass man ein schmerzhaftes Gefuhl nicht heilen kann, ohne den Stellenwert der Konflikte zu verstehen, die im Patienten begriindet sind. Das war der grosse Konsens, dem sich auch die am starksten organisch denkenden Psychiater anschlossen. Die diagnostische Frage war folgende: Welcher zugrunde liegenden Pathologie muss ein depressives Syndrom zugeteilt werden? Die Antwort beinhaltete eine Konzentration auf Atiologie und Pathogenese, auf die Motive der Krankheit und auf ihre Mechanismen. Im Ergebnis wurde die Depression zu dieser Zeit generell nicht als klinische Entitat verstanden, sondern als etwas, das man bei Neurosen oder bei Psychosen findet, bei den wahren Krankheiten, die es zu beeinflussen gait.
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Wenn auch jeder eine Depression haben konne, so habe doch nicht jeder die gleiche, waren die damaligen Psychiater der Meinung. Um das Konzept der „Personlichkeit" gruppierte sich eine Dreiteilung, die die Nosologic und Diagnostik bis zum Ende der 1970-iger Jahre dominierte: Endogene Depression, exogene Depression und psychogene Depression. Im Grofien und Ganzen standen sich zwei Modelle gegeniiber. Das erste ist das Modell der „Elektroschockmelancholie": Der Elektroschock ist ein spezifisches therapeutisches Mittel fur eine gut umschriebene Pathologic Er ist aufierhalb der Melancholie nicht wirksam. Das zweite Konzept ist unspezifisch: Der Elektroschock wirkt mehr oder weniger durchschlagend bei alien Krankheitsformen, speziell auch bei der neurotischen Depression mit depressiven Symptomen. Diese Diskussion setzte sich mit der Entdeckung und Einruhrung der Antidepressiva fort und findet sich auch in den Kontroversen der 1940-iger Jahre wieder. Man sieht dies sehr gut in den Texten von Roland Kuhn, der das erste Trizyklikum entdeckte, und in denen von Nathan Kline, dem Entdecker des ersten irreversiblen MAO-Hemmers. Zwei Visionen zeichneten sich ab: Die erste sucht so gut wie moglich die dem Symptom zugrunde liegende Pathologie abzugrenzen (dies ist das Elektroschockmelancholiemodell). Die zweite versucht die biologischen Griinde dieser Syndrome abzugrenzen. Kuhn glaubte, etwas Spezifisches gefunden zu haben, genauer das Spezifische fur die endogene Depression. Kline dagegen meinte etwas Unspezifische gefunden zu haben: Er glaubte, dass liberal! dort wo depressive Symptome vorhanden sind, die antidepressive Substanz immer wirken werde (siehe die Zitate von Kuhn und Kline in Ayd und Blackwell 1970). In der weiteren Geschichte „siegte" Kline iiber Kuhn. Auf dem sozialen Feld zeichnete sich im Verlauf der 1950-iger Jahre eine neue Perspektive ab: Die Politik der Selbstverwirklichung ermoglichte ein privates Leben mit einer vollig neuen Erfahrung des Wohlfuhlens. Das okonomische Wachstum, die Entwicklung der sozialen Sicherheit, die Anderungen im Bildungswesen, die neuen Moglichkeiten des sozialen Aufstieges, die Anderungen in der Familie, die Wohnungspolitik (die Uberbelegung verringerte und den Raum fur das Individuum vergrofierte) usw. haben eine klare Konsequenz: Die Moglichkeiten des privaten Lebens zeigen sich nicht mehr in einer fernen Zukunft sondern bereits in der Gegenwart, und sie liegen in der Hand jedes Einzelnen. All dies bewirkte einen Prozess der kollektiven Emanzipation, der die Biirde der Einschrankungen zugunsten der Vorteile der freien Wahl reduzierte. Die Moglichkeiten, ein
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individuelleres Leben zu gestalten, vergrofierten sich in einer Zeit, in der sich das Interesse fur das innere Erleben veranderte. Die dominierende therapeutische Strategic zu dieser Zeit war die Folgende: Das Medikament, das auf die depressiven Syndrome wirkt, bereitet den Patienten darauf vor, seine psychischen Konflikte anzugehen. Es zielt darauf ab, den Patienten zum Psychotherapeuten seines eigenen Leidens zu machen: Die Medikamente sind die Vermittler. Die Geburt der Biologie der Affekte in den 1940-iger Jahren und anschliefiend daran die Entdeckung der Psychopharmaka, waren der Motor fur eine neue Sichtweise der Arzte auf Emotionen, Affekte, auf das Gefuhlsleben. Magazine und popularwissenschaftliche psychologische Bucher versicherten der Offentlichkeit seit Ende der 1950-iger Jahre: Die Depression kann jeden treffen. Diese Publikationen spielen eine Rolle fur die Schuldreduktion im Hinblick auf personliche Probleme. Das Zusammenspiel dieser Faktoren fuhrte dazu, dass psychisches Erleben einen gesellschaftlichen Platz bekam, indem eine wissenschaftliche und eine populare Sprache fur die Psyche gefunden wurde. Um zu heilen, auch mit einer Substanz, bedurfte es nun eines Patienten, der sich fur sein Inneres interessierte, der nicht zu einem Objekt seiner Krankheit reduziert werden konnte. Er musste ein Subjekt seiner Konflikte sein. Erinnern wir uns, dass die Entwicklung der Psychopharmaka der Motor fur eine neue Sichtweise der Arzte auf die Emotionen, die Affekte, das Gefuhlsleben und auf die psychischen Konflikte war. Die Antidepressiva haben somit dazu angeregt, dem Patienten zuzuhoren. Die Depression wurde gesellschaftsfahig, das psychische Leben und Empfinden kam aus seinem finsteren Versteck. Ein diagnostisches Problem jedoch - auf das nachdriicklich in der psychiatrischen wie auch der allgemeinen medizinischen Literatur hingewiesen wurde - machte offensichtlich, dass es um die Suche nach dem Platz des Subjekts in der Krankheit ging. Das Problem besteht darin, dass die endogene Depression das Aussehen der neurotischen Depression annehmen kann, vor allem fur das diagnostische Auge des AUgemeinpraktikers. Dies ist das Krebsgeschwiir, das am Krankheits- und Diagnosekonzept der Depression nagen wird. 6.3
Die Verselbstandigung des depressiven Syndroms
Jeder kann jede Depression bekommen. Die Nuancen, die Ahnlichkeiten und die Gegensatze sind derart, dass die Typen der Depression nicht trennscharf auseinander gehalten werden konnen. Und dies umso mehr,
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als die Depression im Gegensatz zur Angst oder zur Furcht schwierig zu erkennen und unmoglich zu definieren ist. In den Diskussionen iiber Atiologie, Diagnostik und therapeutische Wirksamkeit ist das schwachste und am haufigsten diagnostizierte Gebilde das der neurotischen Depression. Neurose ist hier das Schlusselwort: Der innerpsychische Konflikt zeigt sich mit depressiven Symptomen. Und es ist dieser Konflikt, der das Ziel des therapeutischen Handelns ist. Zwei schliissige Losungen wurden erarbeitet, um etwas Koharenz in die Diagnostik zu bringen. Und beide, wenn auch vollig verschieden, trugen zum Niedergang der Neurose als Ausdruck des psychischen Konfliktes bei. Der erste Losungsansatz wurde von psychoanalytischen Psychiatern vorgeschlagen. Er legt das Hauptgewicht auf das Konzept der depressiven Personlichkeit. Das depressive Syndrom bezieht sich nicht auf die Neurose, sondern auf eine narzisstische Pathologie, in der sich der Patient - unfahig seine Konflikte sichtbar zu machen - leer und verletzlich fuhlt und Schwierigkeiten hat, Frustrationen auszuhalten. Hieraus entsteht die Neigung zu impulsivem Verhalten und eine Reizsuche, die genau genommen den Konflikt verdrangt. Der Mensch wird von einem Gefiihl der Insuffizienz beherrscht. Der zweite Losungsansatz raumt mit dem Personlichkeitskonzept und der klinischen Kompetenz des Psychiaters auf mit Hilfe eines Modells einer Spaltung des depressiven Syndroms: Wenn die Psychiater sich schon nicht auf die Ursachen einigen konnen, und damit konsequenterweise auch nicht auf die dem Syndromen zugrunde liegenden Krankheiten, reicht es, die Semiologie vom atiologischen Problem zu befreien, das heifit von der Frage, auf welche zugrunde liegende Krankheit eine Reihe von Symptomen zuriick greifen. Das technische Mittel dazu ist das Ausarbeiten von standardisierten diagnostischen Kriterien, die eindeutig die Syndrome beschreiben, und die auch gute diagnostische Leitlinien sein konnen. Ich spreche von der dritten Version des Statistischen und Diagnostischen Manuals der psychischen Storungen (DSM-III, American Psychiatric Association 1980). Der medizinische Zugang ist dabei, sich einem Kranken derart zuzuwenden, dass es nicht mehr wirklich notig ist, die Konflikte anzugehen, um ihn pharmakotherapeutisch behandeln zu konnen. Die Folge dieses Paradigmenwechsels: Die Kategorie der Neurose wird sinnlos. Ihr Niedergang wird durch eine neue Frage vorangetrieben: Welche Antidepressiva muss der Arzt fur diese oder jene Art der Depression verschreiben? Diese Frage steht wiederum im Kontext zur wachsenden Heterogenitat der Antidepressiva seit 1975, einer Zeit, in der neue Substanzen auf den Markt
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kamen, die weniger toxisch und einfacher zu handhaben sind und die mitunter als Ubergangssubstanzen zwischen Stimmgungsaufhellern und Psychostimulanzien angesehen werden. Zunehmend rat die psychiatrische Fachliteratur den Allgemeinpraktikern weniger das zugrundeliegende Problem zu suchen, also das, was ein Subjekt iiber das Korperliche hinaus ausmacht. Damit wird der Niedergang der Themen Konflikt und Schuld gefordert zugunsten von Bildern, die eher Defizite als Probleme bezeichnen und Wohlberlnden als Losung definieren. Die Therapie erinnert an die „seelische Desinfektion" von Janet. In der medizinischen Sichtweise ist der insuffiziente Mensch zuallererst das Objekt seiner Krankheit. Er ist Objekt in dem Sinne, dass er durch die Art des Leidens detlniert wird (wobei es keine Rolle spielt, ob er an einem in der fruhen Kindheit entstandenem Mangel an Mutterliebe leidet oder an einem Serotonindefizit). Der Deprimierte hat somit weniger das Bediirfnis, sich seinen Konflikten zu stellen, weil er eine Krankheit hat, von der man ihn eventuell befreien kann. Psychoanalytisch gesehen wird er so nicht zum Subjekt seiner Konflikte und muss sich nicht den „Defekten im Ich" oder den narzisstischen Unzulanglichkeiten stellen. Diese Anderung des Depressionskonzeptes erfolgte im Kontext eines normativen Wechsels, der im Lauf der 1960-iger Jahre sichtbar wird. So werden die traditionellen Regeln, in die das individuelle Verhalten eingebettet ist, nicht mehr akzeptiert und das Recht, ein Leben nach Wahl zu fuhren beginnt, wenn auch noch nicht die Norm in der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft zu sein, so doch zumindest auf die Sitten Einrluss zu nehmen. In dem Moment, in dem die Depression in die allgemeine Medizin und die Sitten einfliefit, treten die europaischen und nordamerikanischen Gesellschaften in ihre grofie Transformation ein: Im Zuge einer betrachtlichen Verbesserung der materiellen Bedingungen vollzieht sich gleichzeitig sowohl eine verstarkte Wahrnehmung sozialer Randgruppen wie der Armut als auch eine neue Selbstbezogenheit. Diese Entwicklung findet ihren Ausdruck in Zeitschriften, popularwissenschaftlichen psychologischeh Werken sowie auch Radiosendungen und spater dem Fernsehen. Die Wahrnehmung des inneren Erlebens andert sich. Es ist nicht mehr nur ein Ort des Geheimnisses sich selbst oder dem freien Bewusstsein gegeniiber, sondern vielmehr etwas, das es erlaubt, sich von einem Schicksal zu losen zugunsten der Freiheit, sich ein Leben zu wahlen. Die Idee, dass jeder seinen Weg gehen und eine selbstandige Personlichkeit werden kann, demokratisiert sich. Daraus entstehen neue Unruheherde.
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Alain Ehrenberg, Paris, Frankreich
Die Zeit, die sich anschliefit, ist charakterisiert durch eine Dynamik, die einerseits durch die psychische Freiheit und andererseits durch die Unsicherheit bezuglich der eigenen Identitat gepragt ist. In der Offentlichkeit tritt die Emanzipation der Masse ihren Siegeszug an: So geben die Techniken, die Philip Rieff 1966 die „Therapien der Befreiung" (releasing therapies) genannt hatte, vor, jedem die Mittel in die Hand zu geben, um „seine" Identitat unabhangig von alien Zwangen aufzubauen. Die „neuen Therapien" vermitteln den Eindruck, dass jeder zur Eroberung seiner selbst aufbrechen kann ohne dafur einen Preis zahlen zu miissen. Die Therapeuten brauchen ein Defizitmodell um das „menschliche Potenzial" zu vergro6ern. Ihr Ideal ist das des erfullten Subjektes, ohne innere Zerrissenheit. Hinter den Kulissen tauchen neue Kontroversen in der Psychoanalyse auf. Man beschaftigt sich mit seelischen Krankheiten, in denen der innerpsychische Konllikt nicht existiert, bei denen im Gegenteil das Gefuhl des Verlustes des eigenen Wertes vorherrscht, etwas, was bis in die 1960-iger Jahren nicht existierte. Der Akzent wird auf das Konzept der depressiven Personlichkeit gelegt: Psychoanalytiker beharren auf einer Neotraumatologie bei der die Problematik auf Wunsch und Verbot zentriert ist und die zur Problematik von Objektverlust und subjektiver Identitat fuhrt (Narzissmus und/oder Borderline). Die psychosomatischen Stromungen der Psychoanalyse und die Abhangigkeitsspezialisten aber auch die Fachgesellschaft der Analytiker beschaftigen sich im Speziellen mit diesen Pathologien. Hierbei spielen anscheinend weniger (Trieb-) Bediirfnisse eine Rolle, als Bediirfnisse, die sich aus einer chronischen Unsicherheit bezuglich der eigenen Identitat ergeben. Das Syndrom verdeckt nicht eine Neurose, sondern eine narzisstische Krankheit. Diese Relativierung der Neurose wird im professionellen Umfeld viel diskutiert (es konnte sich z.B. um neue symptomatische Manifestationen der Hysterie handeln). Es bleibt aber dabei, dass der Patient gefangen ist in einem Gefuhl der Insuffizienz und in der Schwierigkeit, Frustrationen auszuhalten. Daraus wird verstandlich, dass die Neigung zu zwanghaftem Verhalten, zur Reizsuche und Suchtverhalten den Konllikt wegdrangt. In der ganzen Literatur ist gut der miteinander verschrankte Aufstieg der Depressionen und der Suchterkrankungen zu verfolgen, und in der Klinik wird der Drogengebrauch im Sinne der Selbsttherapie betont. Der Alkoholismus und die Drogen- oder Medikamentenabhangigkeit wirken wie Versuche, sich gegen die Depression zu verteidigen. Das siichtige Vollpumpen erscheint wie die andere Seite der depressiven Leere. Anstelle Symptome zu produzieren wie in der Neurose, verdrangt das Subjekt den Konflikt mit Hilfe von zwanghaften Verhal-
Gesellschaftlicher Kontext
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tensweisen wie der Sucht und Impulsen bis hin zu Gewalt oder suizidalem Verhalten. Der Niedergang des Bezugs auf die Neurose deckt sich mit dem Niedergang einer sozialen Erfahrung, die sowohl durch disziplinierende Unterwerfung als auch durch den Konflikt gekennzeichnet war. Die Depression, bei der die Selbstachtung eine Hauptrolle spielt, ist eine Krankheit der Grofie. Anstelle der alten biirgerlichen Schuld und des Kampfes gegen das Gesetz der Vater (Odipus), entsteht die Angst, die eigenen Ideale nicht zu erreichen und das daraus erwachsende Unvermogen (Narziss). Depression ist das Gegenstiick zur Demokratisierung des Aussergewohnlichen und der Suche danach, nur man selbst zu sein. Die personliche Entfaltung charakterisiert die Neudefinition des Individualitatskonzeptes am besten. Das zweite Charakteristikum ist der Zerfall der Disziplin zugunsten der individuellen Initiative. Dies zeigt sich in der Art der Arbeitsorganisation, die sich im Verlaufe der 1980-iger Jahre entwickelte. Die Frage der Entfaltung verknupften sich mit dem Handeln in folgender Weise: zum einen normativ, wobei die individuelle Initiative an die psychische Befreiung anknupft; zum anderen pathologisch, wenn sich die Schwierigkeit, eine Handlung zu beginnen und aufrecht zu erhalten, mit der Unsicherheit der Identitat verkniipft. Parallel dazu verdichtet sich das psychiatrische Denken immer mehr darauf, dass die tiefliegende Storung der Depression die Psychomotorik ist. Der Schwerpunkt wird auf das Konzept der Hemmung gelegt, die zum Hauptkonzept der Depression wird. Die Depression ist weniger ein trauriges Gefuhl als ungeniigendes Handeln. Hemmung ist offensichtlich leichter erkennbar und hinderlicher in einer Gesellschaft, die mehr Wert auf Initiative und Handlungsmoglichkeiten legt als auf Gehorsam. Einen Fehler zu begehen, beinhaltet weniger den Aspekt des Ungehorsams als dass es bedeutet, nicht handlungsfahig zu sein. Es ist weniger die Disziplinlosigkeit, die eine Rolle spielt, als das Unvermogen auf der Hohe zu sein. In diesem Kontext wurde eine neue Klasse von Antidepressiva (die SSRI) mit verminderten Nebenwirkungen lanciert, die die Moglichkeit eroffnete, auf verschiedene Dysfunktionen einzuwirken, ob sie nun Krankheitswert haben oder nicht. Indem sie die Hoffnung weckten, alle psychischen Leiden uberwinden zu konnen, steht die neue Klasse dieser komfortablen Antidepressiva - zu Recht oder zu Unrecht - fur die unbeschrankte Moglichkeit, seine Seele ohne die Gefahren der Drogen zu beeinflussen. In einer Gesellschaft, in der die Menschen dauernd psychoaktive Substanzen einnehmen,
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die auf das Zentralnervensystem einwirken und kiinstlich die Stimmung modifizieren, kann man nicht wissen, ob jemand noch er selbst oder sogar noch normal ist. Behandeln und mit Drogen beeinflussen ist nicht mehr zu unterscheiden. Hinter all diesen Anspriichen steht das empfindsame Selbst, das die Seiten unserer Zeitungen fullt. Es ist der Unterschied zwischen den therapeutischen Zielen, die einen Bezug zu einer pathologischen Norm implizieren, und den Leistungszielen, die einen Bezug zu einer instrumentellen Norm beinhalten, der sich auflost. Das Wort der Dysfunktion, das sich an diese zweite Norm anlehnt, ist nichtsdestoweniger das Schlusselwort der Psychiatrie. Das Paradox besteht darin, dass zu der Zeit, in der diese neuen Substanzen auf den Markt kamen, die Depression in eine rezidivierende und zur Chronizitat neigende Krankheit umdefiniert wurde, bei der der grofie Teil der Patienten niemals ihr fruheres Niveau erreicht. Der Grund ist die Erschutterung des neurotischen Territoriums auf dem depressiven Kontinent: Die Dysthymic ersetzt die Neurose und ist in erster Linie durch ein Antidepressivum zu behandeln. Dies wird damit ein antineurotisches Medikament: Es halt den Konflikt auf Distanz und macht somit den Bezug auf diesen Konflikt unsinnig. Im Gegenzug zeigt sich die Depression als eine fortgesetzte Dysfunktion, die mehr oder weniger gut durch gefahrlos und einfach anzuwendende Substanzen zu kompensieren ist. Das Konzept der Lebensqualitat, welches normalerweise bei chronischen Krankheiten verwendet wird und in der Psychiatrie auch fur die Psychosen, weitet sich auf die Depression aber auch auf Suchterkrankungen aus. Die psychotische Chronizitat einiger hat sich zum Ungliick aller ausgeweitet. Alles ist behandelbar, nichts ist wirklich heilbar. Mehr noch! Das grofie Programm, das in den 50-iger Jahren ausgearbeitet wurde und das sich zur Aufgabe gemacht hatte, Zusammenhange zwischen biologischen Markern und klinischer Entitat zu finden, kann keine brauchbaren Resultate vorweisen. Deshalb bleibt die pharmakologische Beherrschung des menschlichen Geistes ein Hirngespinst.
6.4
Die Autonomie, die individuelle Unsicherheit und die individuelle Verantwortung
Der Imperativ der Autonomie im Rahmen seiner zwei Aspekte der sittlichen Befreiung einerseits und der Befreiung des Handelns andererseits, hat die Grenzen des Selbst auf alien Ebenen erweitert. Als Konsequenz daraus ist die Anzahl der Handlungen, die man beriicksichtigen kann aber auch
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muss, so grofi geworden, dass man den Eindruck hat, einer Abnahme der Verantwortungslosigkeit zuzusehen. Eine Gesellschaft der allgegenwartigen individuellen Initiative und der totalen Selbstverwirklichung (in dem Mafi, in dem sie jeden unter uns dazu bringt, zu entscheiden und dauernd zu handeln) enthullt Schwierigkeiten in der Ich-Strukturierung, die in der disziplinierenden Gesellschaft gar nicht beachtet wurden. Diese Schwierigkeiten zeigen sich im Konzept der Depression, einer psychiatrischen Kategorie mit einer immensen Bandbreite von Symptomen, und stellen die Problematik der Selbstachtung, ohne die man nicht handeln kann, ins Zentrum. Aus diesem Grand entspricht die (depressive) Insuffizienz, die Janet eingefuhrt hat, der Norm der zeitgenossischen Autonomie, wie der neurotische Konflikt, den Freud eingefuhrt hat, der disziplinarischen Norm. In einer Lebensweise, die durch Disziplin und Verbot organisiert ist, ist die Frage, die sich alien stellt, „neurotisch": Was darf ich tun? Wenn das Denken durch die Autonomie dominiert wird, ist die Frage „depressiv": Bin ich in der Lage es zu tun? Die Ausweitung der Grenzen des Selbst, die in diesem Wertewechsel inharent ist, ist begleitet von einer grofier werdenden Verantwortung und personlichen Unsicherheit. Die Depression, die charakteristisch fur die menschliche Art ist, geht heute ein in ein Spektrum der normativen Erwartungen. Sie ist eine Frage der offentlichen Gesundheit, weil sie soziale und medizinische Fragen aufwirft, die sich auf die Probleme beziehen, die durch die Ausweitung der Autonomie auf alle Lebensbereiche entstehen. Sie ist eine Ubergangsentitat zwischen der alten „Verrucktheit" und dem psychiatrischen Spital und der neuen Welt des psychischen Leidens und der seelischen Gesundheit.
•
Die Depression hat sich in der Wahrnehmung von Medizin und Gesellschaft von einem wenig beachteten Syndrom in den 1940er Jahren, das die meisten psychischen Erkrankungen begleitete, zur heute weltweit bedeutendsten psychischen Stoning entwickelt.
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Es bedurfte grundlegender gesellschaftlicher Veranderungen, unter anderem auf die Sichtweise der ..Institution Individuum", damit die Depression ihren heutigen zentralen Platz einnehmen konnte. Im Zuge wandelte sich eine Gesellschaft, die auf Gehorsam und Disziplin gegriindet war, hin zu einer, deren Ideale Autonomie und Selbstverwirklichung sind.
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Das Konzept der depressiven Insuffizienz, wie es Janet formuliert hat, entspricht der Norm der zeitgenossischen Autonomie, wahrend der neurotische Konflikt im Sinne Freuds als Pendant zur disziplinarischen Norm verstanden werden kann.
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Das bisherige atiologische Neurosekonzept von Depression als Ausdruck eines innerpsychischen Konfliktes, wurde abgelost von a) dem Konzept der Depression als Folge einer narzisstischen Personlichkeit und dem daraus resultierenden Gefiihl der Insuffizienz und b) der Neudefinition von Depression als Syndrom, welches sich unabhangig von seiner Atiologie aus verschiedenen, standardisierbaren Symptomen zusammensetzt.
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Mit dem Aufkommen moderner, nebenwirkungsarmer Antidepressiva, den SSRI, weiten sich die therapeutischen Moglichkeiten aus und sie konnen jetzt auch bei Dysfunktionen ohne Krankheitswert eingesetzt werden. Damit lost sich die Abgrenzung zwischen therapeutischen Zielen, die einen Bezug zu einer pathologischen Norm implizieren und Leistungszielen, die den Bezug zu einer instrumentellen Norm beinhalten auf.
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Die Depression geht heute ein in ein Spektrum normativer Erwartungen an das Vermogen des Individuums zur Selbstbestimmtheit und Autonomie. Sie ist ein Public-Health-Thema, weil sie soziale und medizinische Fragen aufwirft, die sich auf Probleme beziehen, die durch die Ausweitung der Autonomie auf alle Lebensbereiche entstehen.
Literatur American Psychiatric Association, DSM-III, 1980 Ayd FJ et Blackwell B (eds), Discovery in Biological Psychiatry, Philadelphie, Lippincott, 1970 Ehrenberg A, Le Culte de la performance, Paris, Calmann-Levy, 1991, coll. « Pluriel » (paperback), Hachette, 1995 Ehrenberg A, La Fatigue d'etre soi — Depression et societe, Paris, Odile Jacob, 1998, Odile Jacob Poche, 2000 Ehrenberg A, « Les transformations de la relation normal-pathologique — A propos de la souffrance psychique et de la sante mentale », Esprit, mais 2004
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Healy D, The Antidepressant Era, Cambridge (Mass.), Londres, Harvard University Press, 1997 Janet P, Les medications psychologiques, trois volumes, Paris, Alcan, 1919, reprint Societe Pierre Janet, Paris, 1986 Rieff P, The Triumph of Therapeutic. Use of Faith after Freud, Chicago et Londres, 1966, reed. 1987 Sigmund Freud," Le moi et le ca "1923
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Kapitel 7
7
Kultur
Michael Kraus, Eckhardt Koch, Marburg
7.1
Migration und Psychiatrie
Migration ist in der zunehmend globalisierten Welt heute zu einer Selbstverstandlichkeit geworden und per se nicht pathologisch. Im Gegenteil handelt es sich um einen Prozess, der notwendig zur Menschheit gehort und den es zu alien Zeiten gab. Zu der Lander- und Kontinentsgrenzen uberschreitenden Migration kommen die Wanderbewegungen innerhalb eines Landes, vor allem in Form der Urbanisierung. Die Griinde hierfur sind vielfaltig, am haufigsten die Suche nach besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen; neben zahlreichen anderen Motiven (u.a. Ausbildung, Familiengrundung und -nachzug) sind Flucht vor politischer, religioser und ethnischer Verfolgung sowie Krieg und Vertreibung von besonderer Bedeutung. Im Zeichen dieser weltweiten Entwicklungen stellt sich der Psychiatrie heute die Aufgabe, das Wissen um besondere Formen psychischer Auffalligkeiten in anderen Kulturen - Kerngebiet der Transkulturellen Psychiatrie - auf die hiesige Versorgungssituation zu iibertragen. Blankenburg (1984) pragte dafur den Begriff „Ethnopsychiatrie im Inland". Diese Aufgabe erfordert einen Perpektivenwechsel der Behandler von einer kulturgebunden-ethnozentristisch gepragten Sichtweise des "Fremden" zu einer kulturellen Klarung und Erweiterung der eigenen Position (Machleidt und Callies 2005). Das Thema Migration hat dabei in der Medizin eine lange Tradition. Bereits im Mittelalter war in Europa Heimwehkrankheit - wobei Heimweh als Ausdruck erschwerter Ablosung und Anpassung verstanden werden kann - Thema medizinischer Dissertationen. Johannes Hofer fuhrte 1688 dazu aus: „Wenn nun solche, obgleich iibrigens gut erzogene Kinder, unter andere Nationen kommen, so konnen sie sich an keine fremden Sitten und Lebensarten gewohnen, noch der mutterlichen Pflege vergessen: sie sind
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furchtsam und ergotzen sich nur an dem siifien Gedanken vom Vaterlande, bis sie mit Widerwillen gegen das fremde Land erfullt (...) Nacht und Tag an die Ruckkehr ins Vaterland denken und, daran gehindert, erkranken" (zitiert nach Koch 2002). Nach neueren Untersuchungen haben 16% der Bevolkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund. Sowohl deren Herkunft als auch die Grande fur die Migration sind sehr unterschiedlich, entsprechend inhomogen ist dieser Bevolkerungsanteil (Machleidt 2005). Friihere Untersuchungen hatten noch vermuten lassen, dass diese Gruppe unter den stationar-psychiatrisch behandelten Patienten einen unverhaltmismafiig kleinen Anteil darstelle. Eine aktuelle Umfrage (Koch et al. 2004) fand sie jedoch mit durchschnittlich 17% in den Kliniken der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung ihrem Proporz nach gut vertreten. Ahnlich diirfte sich die Situation in der ambulanten Behandlung darstellen, wenngleich genaue Zahlen hierzu nicht verfugbar sind. Betrachtet man aber auch bei der neueren Untersuchung die Diagnosegruppen, so fallt auf, dass affektive Storungen im Vergleich zu deutschen Patienten in den Kliniken unterreprasentiert sind. Diese Differenzen lassen ein unterschiedliches Inanspruchnahmeverhalten und wohl auch diagnostische Probleme vermuten. Gerade depressive Erkrankungen werden bei Patienten mit Migrationshintergrund oft nicht oder erst sehr spat erkannt und sind dann nur schwer zu behandeln. Wissen um kulturelle Hintergriinde von Krankheitsverstandnis und -darstellung der Patienten sind fur den Behandler daher unverzichtbar, um Fehlbehandlungen und Chronifizierung zu vermeiden. 7.2
Kultur
Der Begriff 'Kultur' ist dabei von zentraler Bedeutung, gleichzeitig aber nicht einfach zu konzeptualisieren. In einer Ubersichtsarbeit von 1952 (Kroeber & Kluckhohn) werden bereits iiber 200 Definitionen ausgefuhrt. In den vergangenen gut 50 Jahren sind noch weitere wesentliche Entwicklungen hinzugekommen. Von dem diesbezuglichen ethnologischen Diskurs konnen hier nur einige Grundbetrachtungen wiedergegeben werden1.
Fur eine eingehendere Auseinandersetzung zur aktuellen Diskussion (der Ethnologie und anderer Kulturwissenschaften) um den Kulturbegriff sei auf: Schiffauer, W.: Der cultural turn in der Ethnologie und der Kulturanthropologie. In: Jaeger, Friedrich; Jurgen Straub (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften Bd. 2. Paradigmen und DiszipUnen. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2004, 502-517 und Ackermann, A.: Das Eigene und das Fremde: Hybriditat, Vielfalt und Kulturtransfers. Ebd. 139154 verwiesen. Fiir diese Angaben danken wir Peter Braunlein.
Kultur
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Dabei vermittelten die alteren Ethnographien (bis Anfang des 20. Jahrhunderts) ein Bild der Lebensgewohnheiten und Ansichten vieler oft exotischer Volksgruppen. Aus der vorrangig deskriptiven Arbeitsweise entstanden betont statische und homogene Vorstellungen iiber die untersuchten Gesellschaften. Der Einflufi der daraus resultierenden stereotypen Betrachtungsweisen ist bis heute nachweisbar und findet auch im klinischen Bereich seinen Niederschlag1. So greift Ete 2002 den Eindruck vieler Arzte kritisch auf, die "eine ethnisch und kulturell bedingte unterschiedliche Schmerzempfmdlichkeit verantwortlich [machen] fur die ausgepragte Darstellung von Beschwerden, wie man sie bei manchen turkischen Patienten erlebt hat". Mediterranen Menschen hafte quasi eine reduzierte Schmerztoleranz an. Auch wurden haufig Vergleiche zwischen 'entwickelten' und 'unterentwickelten' Gesellschaften angestellt. Interpretationen nach sozialdarwinistischen Mafistaben liefien dann die westliche Organisationsform als die hochstentwickelte Kultur erkennen. Dieser Ethnozentrismus lafit sich bis in die Gegenwart verfolgen und spart auch die Psychiatrie nicht aus. Die so gewonnenen Betrachtungsweisen tragen neben dem impliziten Rassismus auch einer sich stetig verandernden Welt nicht wirklich Rechnung (trifft das Postulat einer erhohten Schmerzempfindlichkeit tiirkischer Patienten beispielsweise noch auf die hier aufgewachsenen Kinder von Migrantenfamilien zu?). Faktoren wie der globale Medieneinfluss, komplexe Migrationsgeschichten, und das Wiedererstarken nationaler und religioser Bewegungen verlangen eine Beschreibung in dynamischeren Kulturmodellen. So formuliert der franzosische Strukturalist Levi-Strauss (1963, zitiert nach Haasen 2000) Kultur als "die Summe der im Alltag sichtbaren Organisationsformen einer Gesellschaft". Der Austausch zwischen verschiedenen Kulturen ist dabei eine wesentliche Grofie, grundsatzlich fordere er Entwicklung, eine rasche und ubermafiige Veranderung lose dagegen Widerstand aus. In dieser Sicht sind nicht nur der familiare und gesellschaftliche Umgang mit Krankheit sowie die moglicherweise exotisch anmutenden Darstellung und Verstandnis 'kulturell', sondern auch jede Form von therapeutischer 1
Auch manche der hier folgenden Darstellungen konnen in einer stereotypisierenden Sicht fehlverstanden werden. Werden Ethnien und Gesellschaften charakterisiert, so gent es um Pragnanztypen, die die Bandbreite menschlichen Denkens und Erlebens darstellen sollen. In jeder Kultur gibt es Varianzen und Entwicklungen; Ubertragungen der charakterisienden Beschreibungen auf einen konkreten Patienten konnen dadurch unzutreffend sein und sollten in jedem Einzelfall gepruft werden.
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Versorgung, einschliefilich des uns vertrauten psychiatrischen Systems. Psychiatrisches Denken und Handeln ist von einer Vielzahl oft kaum reflektierter Grundannahmen gepragt, so implizite Vorstellungen iiber medizinische Autoritat und psychische 'Normalitat'. Letztere hat eine Tendenz, eine Form von subjektivem Wohlergehen, positivem Denken und Verwirklichung eigener Interessen als 'gesund' zu interpretieren, was in anderen, starker interpersonell vernetzten Gesellschaften mitunter als stark verfehlt gewertet wird (Lutz 1985). So betrachtet stellt jeder therapeutische Kontakt zu einem Vertreter einer anderen Kultur eine interkulturelle Begegnung dar, bei der nicht nur die Andersartigkeit des Hilfesuchenden, sondern auch die Eigenarten des Hilfsangebotes zu betrachten sind. 7.3
Dimensionen kulturellen Einflusses
Auf mehreren Ebenen wird Depression von kulturellen Faktoren gepragt. Offensichtlich ist dies bei der Interpretation und dem Umgang mit der Erkrankung, bei denen kulturell geformte Denk- und Handlungsschemata zu Tage treten. Aber auch die Wahrnehmung, Einordnung und Mitteilung der verschiedenen Symptome, von den beteiligten Affekten bis zu den physisch-vegetativen Veranderungen, ist untrennbar mit kulturellen Einflussen verkniipft. Schliefilich zeigen sich zwischen Kulturen bemerkenswerte Unterschiede in der Haufigkeit, dem Verlauf und anderen Parametern depressiver Storungen. Im Folgenden wird den Mechanismen kulturellen Einflusses auf diesen verschiedenen Ebenen nachgegangen. Beginnend mit dem affektivemotionalen Bereich, werden dann Charakteristika der syndromalen Erscheinung diskutiert. Einem Exkurs iiber die Frage der Somatisierung schliefien sich Uberlegungen zu dem Krankheitskonzept Depression von wissenschaftlicher und betroffener Seite an. Aus den verschiedenen Faktoren resultieren dann die abschliefienden Hinweise und Erwagungung hinsichtlich kultursensitiver therapeutischer Zugange. 7.4
Depression, Emotion und Sprache
Depression ist als eine affektive Krankheit definiert. Zentraler Bestandteil der depressiven Psychopathologie ist nach gegenwartig verbreiteter Auffassung eine Stoning der Affektlage und der Emotionsregulation. Ein typisch depressives Grundgefuhl muss zwar nicht vorhanden sein, gilt aber als wichtiger diagnostischer Indikator. Dieses depressive Grundgefuhl nimmt
Kultur
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aber in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Auspragungen an, die von dem hier vertrauten Bild manchmal nur nuancenhaft abweichen, unter Umstanden aber kaum mehr als solches zu erkennen sind. Diese durchaus erstaunliche Beobachtung beriihrt die Grundfrage nach dem Zusammenhang zwischen Emotionen und Kultur. Gefuhle gelten gemeinhin als unreflektierter und unverfalschter Ausdruck der inneren Befindlichkeit (Lutz 1985). Zumindest im Emotionalen scheint der Mensch einen nicht von Sozialisation und Akkulturation gepragten, 'naturlichen' Kern zu erleben. Dieser intuitive Eindruck einer prakulturellen Basis menschlichen Erlebens wird gestutzt durch aktuelle psychobiologische Erkenntnisse. So scheinen einige universale Elementar-Emotionen zu existieren, geleitet von neurophysiologischen Prozessen, insbesondere im limbischen System, und neuroendokrin-vegetativen Reaktionskaskaden. Diese betreffen aber nur wenige Grundausrichtungen wie Appetenz oder Erregung und bleiben dabei recht grob strukturiert. Auch sind vereinzelte kulturiibergreifende gestisch-mimische Codes nachweisbar, die sich aber ebenso nur auf eine Reihe wenig differenzierter Affekte beziehen (Kirmayer & Groleau 2001). Letztlich erfahrene und kommunizierte Emotionen sind dagegen sehr detailliert ausgestaltet und mit einer Vielzahl von Annahmen und Bewertungen verknupft. Ohne diese kognitive Verarbeitung sind die ElementarEmotionen nicht dem Erleben zuganglich (Kleinman 1980, Lutz 1985). Die beteiligten Prozesse, u.a. Wahrnehmung, Klassifizierung, Erklarung und Versprachlichung, werden direkt von kulturellen Mafistaben mit beeinflusst. Es entstehen 'Sekundaraffekte', die sich in vielen Fallen nur graduell zwischen verschiedenen Kulturen unterscheiden und sich oft begrifflich zuordnen lassen, wie bei vielen Angstauspragungen. Die kulturelle Ausgestaltung kann aber so weitgehend sein, dass bestimmte Affektzustande als kulturell einzigartig erscheinen. Ein Beispiel ist amae, ein von Japanern erlebtes und positiv bewertetes Gefuhl von Abhangigkeit (Takeo Doi 1962, zitiert in Kleinman 1980). Diese Bandbreite kultureller Ausgestaltung findet sich auch bei der depressiven Grundgestimmtheit. Zwischen den westlichen Gesellschaften bestehen dabei diskrete bis graduelle Unterschiede, die aber eine Zuordnung zur eigenen, 'vertrauten' Depressivitat noch ohne weiteres ermoglichen. Meist steht dabei eine intensiv personliche, existentielle Erfahrung im Vordergrund. Grofier wird die Divergenz zu Kulturen, in denen sich ihre Mitglieder weniger als separierte Individuen, sondern als Teile sozialer Gemein-
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schaften und teilweise auch metaphysischer Zusammenhange identifizieren. Gestimmtheiten werden dann weniger als individuelle, intrapsychische Erfahrung, sondern mehr als interpersonelles, somatisches oder naturalistisches Geschehen erlebt. Bei Japanern seien so externe Metaphern, besonders aus dem Bereich der Natur, wie Wolken, Regen und Nebel, pragend fiir Wahrnehmung und Mitteilung dysphorischer Affekte (Marsella 1980). Viele Chinesen, aber auch Menschen zahlreicher anderer Kulturen, registrieren Depressivitat in erster Linie als ein vegetatives Geschehen. Den typisch depressiven Affekt gibt es transkulturell also nicht, wohl aber in jeder Kultur Erlebnis- und Ausdrucksformen depressiver Gestimmtheit. Bei einer vorrangig vegetativen Erfahrung wird dabei nicht ein an sich psychisch-affektives Problem in den somatischen Bereich verschoben, sondern primdr leibnah erlebt (Pfeiffer 1984). Das Gefuhl der beeintrachtigten Korperlichkeit ist in diesem Fall das Aquivalent zur westlichintrapsychischen depressiven Emotion; neben den somatischen Beschwerden nach dem 'eigentlichen' Affekt zu suchen, ware verfehlt. Diese kulturelle Divergenz schlagt sich auch in einem weiteren kognitiven Bereich nieder, der Versprachlichung. Als ein Resultat ihrer sozialen Einbettung gehoren Worte fur Emotionen zu den am schwierigsten zu iibersetzenden Begriffen. Das beginnt sich bereits in der Diskrepanz zu dem sprachlich und kulturell noch recht nahe liegenden Englisch auszudriicken. So haben Begriffe wie 'anxious', 'to enjoy' oder 'happiness'kein unmittelbares deutsches Pendant. Nach Wierzbicka 1999 hat das Wort 'przygnqbiony' der polnischen Sprache die grofite Ubereinstimmung mit Depression und beschreibt Niedergeschlagenheit oder Verachtetsein, wird aber im klinischen Kontext nicht verwandt. Andere, im medizinischen Bereich iibliche Begriffe tragen andere Konnotationen wie Agitiertheit. Zum Turkischen, einer semantisch nicht indoeuropaischen Sprache, ergeben sich noch weitergehende Abweichungen. So umfasst der zur Beschreibung depressiver Befindlichkeit haufig benutzte Begriff 'sikinti' ein Druckoder Spannungsgefuhl besonders in der Brustregion, aber auch innere Unruhe, Langeweile oder allgemeines Unwohlsein. Dagegen wird Traurigkeit selten explizit genannt, und das entsprechende Wort (uzuntu) eher nicht mit der depressiven Gestimmtheit in Zusammenhang gebracht. Im Japanischen bedeutet das fur eine traurig-depressive Verstimmung genutzte Wort kanashi urspriinglich JiebevolT und somit auch ,schon'. Daruber deutet sich eine grundsatzlich andere Bewertung dieses Affekts an, die sich in einer "gewisse[n] Vorliebe fur Einsamkeit, Verborgenheit, Verschwie-
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genheit, Zuriickgezogenheit, Unentschiedenheit, ja sogar eine[r] gewisse[n] nihilistische[n] Einstellung zur Welt und zum Leben" in der japanischen Mentalitat spiegelt (Kimura 1965). In sprachlichen Formulierungen werden kulturtypische Vorstellungen der Innen- und Aufienwelt ausgedriickt Als Teil dieser im Wesentlichen unbewufiten Anschauungen werden Emotionen im Korper verortet. Beispiele aus dem westlichen Kulturraum sind die von humoralen Konzepten geleitete Assoziation von Wut und Galle, und der auch sprachlich noch nachvollziehbare Zusammenhang zwischen Angst und Enge, dabei speziell der Halsregion. Letztlich lassen sich in fast alien Fallen Emotionsbegriffe auf Korpersensationen zuruckfuhren (Beeman 1985). Somatische Vorgange dienen so als Metaphern fur das psychosoziale Erleben; diese finden sich dadurch nicht nur in den skurril anmutenden Schilderungen mancher Patienten, sondern auch in der vermeindlich 'abstrakten' psychiatrischen Fachsprache (genannt sei 'Melancholie' als beispielhafter Begriff mit sehr ubertragener Bedeutung). Insgesamt spielen Metaphern eine weit grofiere Rolle als meist angenommen und sollten nicht als eine unterentwickelte, sondern als die bei weitem vorherrschende Art der Kommunikation von Befindlichkeiten verstanden werden. Das Aufiern von Emotionen ist daneben immer auch ein Mitteilen von Wunschen und Bewertungen im interpersonellen Bereich. Wird Gereiztheit zum Ausdruck gebracht, hat das einen anderen Signalcharakter als kommunizierte Angst, Schwache oder Bedurftigkeit. Auch die einem Therapeuten gegeniiber geaufierten Befindlichkeiten haben iiber Symptombeschreibungen hinaus meist auch einen imperativen Charakter. Dieser fallt in der interkulturellen Begegnung manchmal in unzureichend schwacher, mitunter aber auch in ubermafiig fordernd scheinender Deutlichkeit auf. Irritationen konnen durch unerwartete oder ausbleibende Reaktionen entstehen. So erscheint es einem nahostlichen Patienten moglicherweise logisch, dass ihm auf die Mitteilung eines depressiven Zustands Schonung eingeraumt wird. Ein deutscher Therapeut strebt dagegen eine moglichst rasche 'Aktivierung' an, rational schliissig bei einem das eigene Schicksal selbst gestaltenden Menschenbild. 7.5
Depressive Syndrome / 'Idioms of Distress'
Schon Emotionen sind keine naturhchen Begebenheiten, sondern werden unter kulturellem Einfluss aus biologisch determinierten Grundaffekten zu erlebten und kommunizierten bedeutungshaften Gefuhlen. In ahnlicher
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Weise sind kulturelle Faktoren auch bei der Wahrnehmung, Bewertung und dem Umgang mit jedem einzelnen Symptom der Depression beteiligt. Es ist davon auszugehen, dass depressive Storungen ein Spektrum psychischer und somatischer Veranderungen auslosen. Ahnlich wie - in einem Vergleich aus dem Bereich der Physik - das Licht des Regenbogens je nach Kultur als eine unterschiedliche Zahl von Farbbanden wahrgenommen wird, scheinen auch bestimmte Symptome der Depression kulturabhangig bevorzugt registriert zu werden. So ist Vergesslichkeit in einer Reihe von Kulturen ein depressives Leitsymptom. Ein verstimmter oder gedriickter Affekt, von westlicher Seite als ein zentrales (vielleicht pathognomonisches) Element erlebt, wird andernorts wenig beachtet und moglicherweise gar nicht als solcher wahrgenommen. So wird eine durchaus vorhandene depressive Grundgestimmtheit von Chinesen nicht im emotionalen, sondern im somatischen Bereich angesiedelt. Dafur stellen Kopfschmerz, Schwindel und Kraftlosigkeit ein fur China typisches Klagemuster dar (Kleinman 1980), im Gegensatz z.B. zu haufigeren Klagen iiber gedriickte Stimmung, Antriebslosigkeit und Anhedonie im westlichen Kulturkreis. Diese lokaltypischen Symptommuster wurden aufgrund ihrer kommunikativen Funktion als "idioms of distress" bezeichnet. Sie dienen als metapherhafter, aber deutlicher Ausdruck gestorter individueller und sozialer Befindlichkeit. In Korea ist so ein Komplex aus epigastrischem Brennen und weiteren somatischen Beschwerden verknupft mit Wut wegen interpersoneller Konflikte und erlittenem Unrecht. Fiir dieses syndromale Muster existiert mit hwa-byung (Feuerkrankheit) ein endemischer Begriff (Kirmayer & Groleau 2001). Andere "idioms of distress" sind dagegen nicht mit einem lokalen Namen belegt. Dies trifft z.B. auf die im turkischen Kulturraum typische Auspragung der Depression zu. An ihr zeigt sich auch exemplarisch eine haufig zu beobachtende Uberlappung verschiedener Syndrome. So klagen tiirkische Patienten haufig iiber 'typisch depressive' Symptome wie Interesseverlust, Schlafstorung und Vergesslichkeit, daneben aber auch oft iiber hohe Reizbarkeit und geringere Kontrolle aggressiver Affekte, diverse psychosomatische Symptome und dissoziative Phanomene wie psychogene Krampfanfalle ('Krisen'). Nach Kirmayer & Groleau 2001 sind Angst-, somatische und dissoziative Symptome bei affektiven Storungen weltweit betrachtet eher die Regel als die Ausnahme. Diese nach ICD-10- und DSM-IV-Kriterien schwer fassbaren klinischen Bilder spiegeln andere 'naturliche Covariationen' von Sym-
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ptomen und Syndromen wider. In der jeweiligen Kultur wirken diese Beschwerdebilder jedoch nicht befremdlich, sondern werden in der Regel als Ausdruck von Belastung verstanden. Es bestehen dabei kulturimmanente Uberzeugungen, was zu einem depressiven Zustand oder einem "idiom of distress" zugehorig ist und was nicht. Im Rahmen einer eigenen qualitativen Feldstudie deutete sich an, dass tiirkische Patienten Depression als eine primar psychische Krankheit mit diversen somatischen Symptomen konzeptualisierten. Dabei wurden aber manche der physischen Beschwerden als Teil der Depression betrachtet (u.a. Tremor, Palpitationen und Luftnot), wahrend andere (v.a. Ruckenschmerzen) eher ausgeklammert und als nicht depressions-assoziiert betrachtet wurden (Kraus 2004). 7.6
Depression und Korperlichkeit
Einer zumindest implizit verbreiteten Vorstellung nach sind die Patienten therapeutisch besser erreichbar, die ihre depressive Erkrankung in Gefiihlen und Gedanken wahrnehmen und kommunizieren konnen. Auf dieser Annahme bauen nicht nur psychodynamische Konzepte auf, sondern u.a. auch die kognitive Therapie nach Beck. Ein vorrangiges Registrieren und Beklagen physischer Veranderungen, belegt mit dem Begriff der Somatisierung, bekommt so einen eher nachteiligen Charakter. Bemerkenswert sind dabei aber Befunde der letzten Jahre, nach denen weltweit somatische Anteile bei Depression sehr haufig sind und in den meisten Fallen iiber sie medizinische Hilfe aufgesucht wird. Die Studie von Simon et. al. (1999) an iiber 25.000 Patienten in 14 Landern zeigte dabei, dass zwischen 45 und 95 % der depressiven Patienten im Erstkontakt ausschliefilich somatische Klagen prasentierten, bei gezielter Nachfrage aber 86 % von ihnen auch psychische Symptome benennen konnten. Geschlussfolgert wurde daraus, dass "das Vorbringen somatischer Symptome wohl keine fehlende Bereitschaft oder Fahigkeit, psychische Belastung anzuerkennen, ist" (eigene Ubersetzung). Damit erscheint auch das Konzept der Alexithymie, einer postulierten strukturellen Schwierigkeit, Emotionen zu erkennen und zu verbalisieren, nicht geeignet, dieses Ausmafi vorrangig somatischer Beschwerden bei depressiven Patienten zu erklaren. Somatische Symptome sind bei depressiven Erkrankungen kulturubergreifend sehr haufig. Wie intensiv diese wahrgenommen und kommuniziert werden, differiert aber in grofiem Mafi. Neben interindividuellen Varianzen kommen dabei unterschiedliche kulturelle Wertungen zum Tragen. Dabei spielen kulturtypische Vorstellungen iiber die Struktur der mensch-
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lichen Person und ihre Einbindung in aufiere Zusammenhange eine wesentliche Rolle. Diese Ethnopsychologien variieren u.a. erheblich in den Annahmen iiber Art und Beschaffenheit einer 'Psyche'. Nur wenn diese, wie im westlichen Fall, als abgegrenzter und zentraler Teil der Person gesehen wird, erscheint eine Akzentverlagerung in die somatische Sphare als Verschiebung, als ein Verlust an Wesentlichkeit. Im nahostlichen Kulturraum existiert zwar auch das Konzept einer 'Seele', die aber weniger als abgegrenzte Entitat dem Korper entgegengestellt, sondern mehr als Aspekt einer Ganzheitlichkeit gesehen wird. Entsprechend werden Klagen oft in umfassender Weise geaufiert, sowohl psychisch ("Ich vergesse alles") als auch physisch ("Mein ganzer Korper schmerzt" etc.). Bei siidostasiatischen Patienten wurde beschrieben, dass Individuen sich stark in kosmische Strukturen eingebettet erleben. Daraus resultierten z.T. befremdlich anmutende Vorstellungen iiber somatisch-psychischmetaphysische Wechselwirkungen wie im Falle von dhat, der Furcht vor unwillkurlichem Samenabgang, oder koro, dem mit Todesangst verknupften Erleben einer Retraktion des Genitals (Freudenmann & SchonfeldtLecuona 2005). Balinesen betrachteten die Person dagegen als fundamental gespalten: ein innerer, chaotisch-emotionaler Bereich werde mit Hilfe von Meditation zu beruhigen gesucht, wahrend das aufierlich-soziale Auftreten durch soziale Etikette gesteuert werde. Bei einer depressionsbedingt gestorten Harmonie werde fur beide Bereiche getrennt nach Abhilfe gesucht (Geertz 1976). In China und anderen fernostlichen, von konfuzianischen Traditionen gepragten Gesellschaften ist gegeniiber der sozialen Harmonie die Bedeutung der Einzelperson nachrangig. Emotionen, Begierden und andere intrapsychische Belange werden damit unschicklich und in der zwischenmenschlichen Kommunikation moglichst ausgespart. Depressivitat ist dadurch aber nicht eliminiert, sondern wird in dem freier mitteilbaren somatischen Bereich erlebt. Die Externalisation der Befindlichkeit in somatische, situational-behaviourale oder dissoziative Metaphern blockiert so den direkten Ausdruck von Affekten und reduziert die Introspektion im Sinne eines fokussierten nach Innen Gerichtet-Seins. Kleinman 1980 berichtet von einer Patientin, die es trotz erfolgreicher DepressionsBehandlung bis zuletzt vermied, iiber Gefuhle zu sprechen. Diese Thematik fand Raum in Gesprachen mit einer Freundin, schien ihr aber unpassend und irrelevant fur den psychiatrischen Kontakt zu sein.
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Neben diesen ethnopsychologisch bedingten unterschiedlichen Zugangen zur Korperlichkeit existieren weitere Parameter, die eine mehr oder minder grofie Konzentration auf somatische Symptome erklaren. Von mehreren Autoren wurde beschrieben, dass Korperklagen haufig - auch im westlichen Kulturraum - einen Zugang zum Gesundheitssystem uberhaupt erst ermoglichen. Das erscheint insofern plausibel, als vielerorts die medizinische Versorgung auf somatische Belange konzentriert ist und psychisches Kranksein oft noch stigmatisiert wird. Unserer Erfahrung nach sind Korperklagen in vielen Fallen ein authentisch drangendes Anliegen. Empfinden die Patienten, darin suffizient versorgt zu werden, weitet sich das Feld der Erorterungen oft in biographische und soziale Bereiche, ohne dass sich das vorrangig somatische Krankheitskonzept rasch auflosen wurde. Zur Illustration sei kurz Frau C. dargestellt. Die 51-jahrige Tiirkin kommt mit Rollator und ausgedehnter Schmerzmedikation, u.a. Tramadol, erneut zur stationaren Aufnahme. Ein Rentenbegehren ist bekannt, und entsprechend erfolgt anfangs eine demonstrative Darstellung der empfundenen Einschrankungen. Mit der Zeit wachst, sicher auch durch umfassende Mafinahmen seitens der Pflege, Ergo- und Bewegungstherapeuten, Vertrauen. Zunehmend konnen Aspekte der Lebensgeschichte betrachtet werden. Dabei kommt eine traumatische Trennungserfahrung von ihrem ersten Ehemann zu Tage; zu den beiden Kindern aus dieser Ehe ist ihr der Kontakt seitens mehrerer Verwandter verwehrt, nur heimliche Treffen sind moglich. Ihr jetziger Gatte sei Alkoholiker, nach einem kiirzlichen ersten Entzug 'Gott sei Dank' abstinent, fluche und schlage nicht mehr, sei aber auch so keine Unterstiitzung. Erarbeiten lafit sich, Kontakt zu einer Angehorigen-Selbsthilfegruppe aufzunehmen und die Beziehung zu ihren altesten beiden Kindern aus der Heimlichkeit herauszuholen. Dabei wirkt Frau C. deutlich selbstsicherer und hoffnungsvoller, obgleich ein depressiver Krankheitsbegriff nicht weiter entwickelt wurde und sie auf Nachfrage ein Fortbestehen ihrer urspriinglichen Krankheitsiiberzeugung andeutet. In ahnlicher Weise klagte die beim Erstkontakt 42-jahrige Tiirkin Frau A. ausschliefilich iiber qualende Schmerzen, vor allem im Bereich von Kopf, Schultern und LWS, wahrend psychodynamische und psychosoziale Aspekte zunachst nicht zu thematisieren sind. Bei problemorientierten Gesprachen z.B. iiber die unbefriedigende Arbeitsplatzsituation oder seit langerem bestehende sexuelle Inappetenz kommt es zu Schmerzzunahme. Ein zweifelhafter Versuch, diese durch zuletzt drei Bandscheiben-Operationen
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Joszuwerden," scheitert. Erst nach Jahren ist - unter dem zwischenzeitlichen Einrluss korperorientierter Therapiemafinahmen - ein aktiverer Urngang mit den somatischen Beschwerden zu erreichen. Soziale und psychische Befindlichkeit werden besprechbar, die Schmerzen verlieren ihren Leitcharakter und die depressiven Anteile treten starker hervor. Dabei sind die korperlichen Beschwerden nicht als „Eintrittskarte" in die medizinische Versorgung (Machleidt und Calliess 2005) zu sehen, sondern Ausdruck des kulturtypischen Krankheitskonzeptes, bei dem Korperliches und Psychisches nicht als getrennte Entitaten erlebt werden (Koch 1996). Letztlich stellt eine 'Somatisierung' ebenso wie eine 'Psychologisierung' der Depression eine Strategic dar, die je nach Situation sowohl zum Nutzen als auch zum Schaden des Patienten sein kann. Werden die Signal- und Metapherhaftigkeit der 'idioms of distress' verstanden, was bei vielen kulturgleichen, aber auch kulturdifferenten, sich aber um einen sensitiven Zugang bemuhenden Therapeuten geschieht, konnen effiziente Behandlungen eingeleitet werden, ohne dass dazu das Krankheitskonzept des Patienten verandert werden miisste. Werden die Klagen aber fehlgedeutet, setzt oft eine ungiinstige Entwicklung ein, mit Chronifizierung der Beschwerden, unzahligen und oft unnotigen diagnostischen und somatischtherapeutischen Prozeduren sowie erheblichen Kosten fur das Gesundheitssystem. 7.7
Transkulturelle nosologische Charakteristika
In den 70'er und 80'er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde aus dem postmodernen Paradigma heraus in Frage gestellt, ob psychiatrische Erkrankungen iiberhaupt nosologischen Charakter hatten oder vielmehr ganz auf gesellschaftlichen Festlegungen beruhten. In der Tat manifestieren sich gerade affektive Storungen kulturabhangig in so unterschiedlichen klinischen Bildern, dass 'Depression' aus ethnologischer Sicht als ein spezifisch westliches Konstrukt beschrieben wurde. Danach sind neurophysiologische Vorgange so eng mit hiesigen Kulturanteilen verwoben, dass die Ubertragung des Konzeptes auf andere Gesellschaften unweigerlich zu Fehleinschatzungen fiihren muss (Beeman 1985). Auch wenn heute diese radikale kulturrelativistische Sicht nur noch selten vertreten wird, macht sie doch auf oft unbedachte Vernachlassigungen aufmerksam. Depression ist gegenwartig weitgehend als weltweit verbreitete Erkrankung anerkannt. Nach wie vor bestehen aber erhebliche Schwierigkeiten, ein gemeinsames Kernsyndrom zu definieren. Wird die den Kri-
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terien von ICD 10 und DSM IV zugrundegelegte westliche Auspragung dabei unreflektiert auf andere Kulturkreise iibertragen, ergeben sich teils erhebliche Verzerrungen. Dem wird durch den Appendix 'cultural formulation' der DSM IV nicht wesentlich abgeholfen. So sehr diese Bemuhungen um eine starkere Beriicksichtigung kultureller Dimensionen anzuerkennen sind, werden dadurch aber nur Rahmenbedingungen kodiert (v.a. bez. ethnokultureller Identitat, Krankheitsverstandnis und therapeutischem Kontakt), die Krankheitsbilder selbst aber nicht kulturell adaptiert. Augenfallig werden die damit zusammenhangenden Probleme bei transkulturellen epidemiologischen Untersuchungen. Mangels zuverlassiger kulturiibergreifender Kriterien wird oft vorausgesetzt, dass die Mafistabe etablierter standardisierter Interviews und Fragebogen auch in einem neu zu untersuchenden Kulturraum giiltig seien. Der Inhalt der Items bleibt bei exakter Ubersetzungsarbeit mehr oder minder unverandert, ungeachtet deren moglicherweise stark veranderter kultureller Bewertung. Wie storanfallig ein solches Vorgehen ist, zeigen die pointierten Ausfuhrungen von Obeyesekere (in Kleinman & Good 1985). So konnte ein siidasiatischer Psychiater aus seinem Erfahrungsbereich das Syndrom des Samenverlusts operationalisieren und mit erprobtem Testmaterial im Westen untersuchen. Die Haufigkeit dieses ayurvedischen Konzepts aufierhalb seines Geltungsbereichs zu bestimmen, erscheint unmittelbar wenig sinnvoll, und die Ergebnisse waren nur sehr eingeschrankt verwertbar. In analoger Weise muss bei der Anwendung jedweder psychometrischer Instrumente in anderen als der Kultur, in der sie entwickelt wurden, mit systematischen Fehlern gerechnet werden. So kann es zu iiberhohten Ergebnissen kommen, wenn Symptome, die ursprunglich als klar pathologisch gewertet wurden, in der untersuchten Kultur nur Ausdruck geringerer Verstimmung sind (Kirmayer und Groleau 2001). Turkische Patienten scheinen so in den meisten Items u.a. des BeckDepressions-Inventars zu einer hoheren Selbsteinschatzung zu neigen als US-Amerikaner oder Deutsche. Die in einer Reihe von Studien beschriebene, iiberraschend hohe Depressions-Pravalenz in der Tiirkei (Kececi 2003: 16,4%; Akvardar 2003: 36,8%; unter alteren Migranten in den Niederlanden sogar 61,5% - Wurff 2004) ist zum Teil auf solche vereinfachten Ubertragungen kultureller Inhalte zuruckzufuhren. Auch die aufierordentliche Divergenz der Pravalenzen in der erwahnten Studie von Simon 1999 zwischen 1,5% (Nagasaki, Japan) bzw. 2,4% (Shanghai, China) und 18,3%
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(Rio de Janeiro, Brasilien) bis zu 27,3% (Santiago, Chile) ist in Zusammenhang mit der Orientierung an den DSM-IV-Kriterien zu sehen. Auf der anderen Seite werden spezifische Ausdrucksformen von Depressivitat in der untersuchten Kultur oft nicht erfasst. Diese Fehleinschatzung (Kleinman spricht von der "category fallacy") kann im Extremfall so weit fuhren, dass Aquivalente zur westlich determinierten Depression gar nicht registriert werden. Ein Beispiel aus der (kolonialen) Vergangenheit ist die Feststellung Kraepelins 1904 iiber das "fast vollstandige" Fehlen schwerer Depressionen auf Java. Ahnlich wurde auch ein seltenes oder gar NichtVorhandensein von Depression in Afrika postuliert (Kirmayer und Groleau 2001). Mit Hilfe sensitiver Techniken liefien sich aber depressionsartige Zustande in alien untersuchten Kulturen nachweisen. Dabei handelt es sich in erster Linie um eine Reaktionsbereitschaft auf Grunderfahrungen wie Verlust oder die Blockade wichtiger Lebensziele (Kirmayer 2001). Erfassbar werden sie mehr als Gefuge von Bedeutungs- und sozialen Zusammenhangen, den sog. semantischen Netzwerken, und weniger als Krankheitskriterien (Lux 1999). Kernsymptome scheinen ein allgemeiner Verlust an Vitalitat und Beschwerden iiber muskulare Schmerzen, Abgeschlagenheit und Schlafstorungen zu sein (Beiser in Kleinman & Good 1985, Escobar 1983, et. al.). Aus westlicher Sicht 'klassisch depressive' Symptome wie gedriickte Stimmung, zirkadiane Stimmungsschwankungen und Interesseverlust konnen beteiligt sein, fehlen in manchen Kulturen aber teilweise oder ganz (Beeman 1985). Neben dem klinischen Bild finden sich auch im Krankheitsverlauf beachtliche Variationen. Der im westlichen Kulturraum als Prototyp beschriebene episodenhafte Verlauf schwererer Depressionen ist andernorts mitunter nur selten vorzufinden. Dafur scheint zumindest im turkischen Kulturraum eine wesentlich hohere Rate anhaltend depressiver Zustande zu bestehen. Geschatzt wurde ein chronischer Verlauf in etwa einem Drittel der Falle (Kiiey 1998). Unter den gut 1.000 turkischen Patienten, die im Rahmen unseres Versorgungsprojekts in den letzten 14 Jahren in Marburg behandelt wurden, waren nur Einzelfalle von klar episodischen Verlaufen bei mittelgradigen bis schweren depressiven Storungen nachzuvollziehen. Im Vergleich dazu wurde Depression im deutschen Kulturraum als 'iiberwiegend phasenhaft' und maximal 15% chronisch beschrieben (Berger 2003). Erneut sei angemerkt, dass die derzeit giiltigen Diagnoseschemata im transkulturellen Bereich nur bedingt zuverlassig und so u.a. schwer
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beeintrachtigende chronisch-depressive Verlaufe nicht klar zuzuordnen sind. Auch die Einordnung von Halluzinationen (siehe dazu Haasen 2005) und die Klassifizierung depressiv-dissoziativer Mischbilder gestaltet sich oft schwierig. 7.8
Erklarungsmodelle
Stark von kulturellen wie von indivduell-biographischen Faktoren beeinflusst ist schliefilich das subjektive Verstandnis des Krankheitsprozesses, das von Kleinman (1980) mit dem Terminus des Erklarungsmodells {explanatory model-, 'EM') belegt wurde. Dies umfasst, wie Betroffene sich sehen, sich verhalten, welche Ursachen sie fur die Erkrankung annehmen und was zur Behandlung und Genesung unternommen wird. Erklarungsmodelle finden sich auch bei den Angehorigen und bei professionellen Helfern jedweder Orientierung. Es handelt sich um plastische, oft nicht widerspruchsfreie Verknupfungen verschiedener Auffassungen und Erfahrungen. Sie geben dem Krankheitsprozess Sinnhaftigkeit und entscheiden mit liber die Auswahl an Therapeuten und Therapieformen. Kleinman unterscheidet funf Hauptbereiche von Erklarungsmodellen, wobei in manchen Fallen samtliche, in anderen aber nur die fur den Betroffenen relevanten Bereiche bearbeitet werden. Im Einzelnen sind dies: (1) Atiologie; (2) Zeit und Umstande des Beginns der Symptomatik; (3) Pathophysiologic; (4) Verlauf der Erkrankung - einschliefilich der Patientenrolle und (5) Behandlung. In alien Bereichen kommen kulturelle Werte und Anschauungen mehr oder minder stark zum Tragen. In der Frage nach der Atiologie spiegeln sich oft besonders stark traditionelle Denk- und Interpretationsmuster. So wird nach Rief 1998 das 'Chronique Fatigue'-Syndrom im Westen u.a. mit einer viralen oder Pilzinfektion in Zusammenhang gebracht, in Indien mit dem Einfluss von Gottern oder Geistern und in Japan mit schlechtem Korpergeruch. Die im Rahmen der o.a. Feldstudie des Verfassers interviewten turkischen Patienten (55) gaben ausnahmslos Griinde fur ihre Depression an. Dazu wurden primal akute Probleme im psychosozialen Umfeld benannt, selten defizitar empfundene Personlichkeitsanteile und kaum einmal Kindheitserfahrungen oder Vererbung. Gelegentlich erfolgte eine religiose Interpretation der Erkrankung (meist die Lebenssituation als Strafe Gottes fur personliche Verfehlungen), nie aber eine biologisch orientierte Deutung etwa als Transmitter stoning (Kraus 2004).
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Bei Zielke-Nadkarni 2002 finden sich ahnliche Kausalitatszuschreibungen tiirkischer Patientinnen, unterteilt nach magisch-religiosen, naturgebundenen, emotiv-bildhaften und organmedizinischen Vorstellungen. Erganzend waren noch symbolhafte Uberzeugungen wie das Verschieben oder Aus-dem-Rhythmus-Geraten von Organen zu nennen, wie mit der Herzunruhe bei iranisch-turkmenischen Patienten (Good 1977) oder dem 'sinkenden Herzen' bei Punjabi in Nordindien beschrieben. Beziiglich des Krankheitsbeginns neigen unserer Erfahrung nach tiirkische Patienten dazu, aufiere Anlasse, oft Unfalle oder Operationen, als auslosend fur die Symptomatik anzusehen. Die individuelle Erwartung hinsichtlich Verlauf, Schwere und Prognose der Erkrankung wird ebenfalls von kulturellen und Erfahrungsanteilen bestimmt. In der eigenen Untersuchung hierzu wurden depressive tiirkische Patienten gebeten, verschiedene Krankheiten nach ihrem subjektiv bewerteten Schweregrad zuzuordnen. Depression rangierte dabei an 9. Stelle von insgesamt 24 Krankheiten. Als signifikant schwerer bewertet wurden AIDS, Krebs, Herzinfarkt, Schizophrenic und Schlaganfall, als vergleichbar schwer u.a. Blindheit, Epilepsie, Asthma und Tuberkulose. Gefolgert werden konnte, dass Depression von tiirkischen Patienten erlebt wird als eine schwere, chronische, nicht zum Tode fiihrende Krankheit, die das Leben nachhaltig, aber nicht destruierend beeintrachtigt (Kraus 2004) Die Erwartungen an Therapeuten sowie die Inanspruchnahme und Beurteilung diagnostischer und therapeutischer Mafinahmen sind nicht minder kulturabhangig. "Ein Heiler sollte in der Lage sein, den Zustand des Patienten zu erkennen, indem dieser das Krankheitszentrum (...) und deren Zusammenhange intuitiv erspiirt." Diese Darstellung 'guter' therapeutischer Leistung entstammt der Beschreibung von therapeutischen Traditionen im Sufismus (Svedja-Hirsch 1993), umreifit aber auch die Erwartungshaltung vieler asiatischer Patienten. Nach Ete 2002 und auch entsprechenden eigenen Eindriicken wird von tiirkischen Patienten auf die Schilderung ihres Beschwerdebildes oft ein Rat oder eine autoritative Beurteilung erwartet, wahrend eine fur deutsche Patienten gelaufige Exploration und Diskussion psychosozialer Hintergriinde zunachst irritiert. Dem 'idealen' Therapeuten wird so "die Position des Heilers oder des Mediums, der Wege aus der Erkrankung zeigen soil" (Yagdiran 2000), zugeschrieben. Diese Erwartungen wurzeln in den Erfahrungen mit historisch gewachsenen Versorgungssystemen, die mancherorts noch nachvollziehbar sind. So konnte Pugh 1991 in einer sehr aufschlussreichen Studie aufzeigen, dass Therapiekonzepte von nordindischen islamischen Heilpraktikern (unani tibb - Traditi-
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on) zu den Erwartungen und Uberzeugungen der dortigen Bevolkerung wie ein Schliissel ins Schloss passen. Janisch 1999 formuliert hierzu, dass es "durch das geteilte Wissen iiber Korper, Krankheit und Gesundheit [moglich ist], Therapieschemata zu finden (...), die fur die Patienten als erfolgreich erlebt werden." Patienten solch eine als sinnvoll empfundene und damit auch wirksamere (Kirmayer 2001) Behandlung zukommen zu lassen, erfordert ein Einlassen des Therapeuten auf die Denk- und Wertewelt des Anderen. Kleinman (1980) bezeichnet die Interaktion zwischen den Erklarungsmodellen des Patienten und des Praktizierenden als einen "zentralen Bestandteil der Gesundheitssorge". Vorraussetzung, um einen solchen Dialog konstruktiv zu gestalten, ist ein Wissen um die eigenen Grundannahmen und eine Offenheit des Patienten, sich dazu mitzuteilen. Allerdings tendieren Betroffene oft dazu, ihre Anschauungen zuruckzuhalten, weil sie sie fur unlogisch, unwissenschaftlich oder aberglaubisch halten und befurchten, vom Therapeuten belachelt oder kritisiert zu werden. In der Tat unterscheiden sich die verwandten Begriffe, Metaphern und Logik meist stark von wissenschaftlichem Denken. In vielen Fallen handelt es sich auch nicht um stringente Konzepte, sondern eher um lose, veranderliche und mitunter widerspriichliche Gefuge, die entsprechend der Denkkategorien der jeweiligen Kultur assoziiert sind. Bei Migranten lassen sich dabei auch Adaptionsvorgange an die in der Aufnahmekultur ublichen EMs beobachten. So konnte Baarnhielm 2004 aufzeigen, wie sich im Verlauf weniger Jahre die Erklarungsmuster von somatisierenden tiirkischen Patientinnen einschneidend veranderten. Im Kontakt mit professionellen Therapeuten waren ein Verlust an traditioneller Bedeutungsgebung und eine zunehmende Ubernahme psychologisch-psychiatrischer Deutungen zu registrieren, begleitet von der oft schwer zu leistenden Notwendigkeit, sich zwischen beiden Wertewelten zu bewegen. Weitere derartige Studien sind dringend erforderlich, um die migrationsbedingten Einflusse auf EMs und andere kulturell definierte Krankheitsanteile zu erfassen; dabei sind auch Untersuchungen an zweiten und folgenden Migrantengenerationen von besonderem Interesse. Um Erklarungsmodelle in Erfahrung zu bringen, ist es - wie in der zitierten Arbeit von Baarnhielm praktiziert - vorteilhaft, den privaten Rahmen der Betroffenen aufzusuchen; sie konnen unter bestimmten Vorraussetzungen aber auch im klinischen Setting eruiert werden. Neben einem echten, vorurteilsfreien Interesse ist dazu eine dem Patienten auch mitgeteilte
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therapeutische Auffassung notig, dass die Kenntnis seiner Anschauungen wichtig ist, um angemessene Therapiemafinahmen zu planen und einzuleiten. Wenn sich ein freies Gesprach dariiber schwierig gestaltet, konnen nach Kleinman 1980 folgende Fragen orientierend hilfreich sein: Wie nennen sie ihr Problem? Welchen Begriff gibt es dafur? - Was hat ihrer Meinung nach das Problem ausgelost? - Was macht die Krankheit in ihnen? Welche Probleme entstehen dadurch? - Wie schwer ist die Krankheit, wie lange wird sie dauern? - Was befurchten sie am meisten an ihrer Krankheit? - Welche Form von Behandlung sollten sie erhalten? Was versprechen sie sich vorrangig von der Therapie? Bei der dann moglichen Befremdlichkeit der mitgeteilten Auffassungen sollte aber korrigierend im Auge behalten werden, dass die biomedizinische Interpretation von Krankheit auch ihre Limitationen hat. So unterscheidet sie sich von praktisch alien anderen, kulturell-moralisch-religios gepragten Ansatzen im Fehlen eines Bezugs auf den existentiellen Leidensaspekt. Dabei stellt Keyes (in Kleinman und Good 1985) die Frage, inwieweit die biomedizinische Therapie von Depression als psychobiologischer Dysfunktion ("disease") ein angemessener Umgang mit depressiver Krankheit ("illness") als Leidenserfahrung sein kann. Nahern sich auch die Betroffenen in ihrer Krankheitsvorstellung dem wissenschaftlichen Paradigma an, wie in vielen technologisierten Gesellschaften, werden wahrscheinlich oft kulturimmanente Bewaltigungsmoglichkeiten geschwacht. In manchen Situationen durfte, auch beim Vorliegen klinischer Depression, eine traditionell orientierte Perspektive hilfreicher sein.
7.9
Behandlungsstrategien
Kenntnis der patienteneigenen Erklarungsmodelle und der kulturtypischen "idioms of distress" ist im therapeutischen Kontakt bei Patienten mit Migrationshintergrund Voraussetzung fur Verstandnis und den Aufbau einer therapeutischen Beziehung. Es ist wichtig, dem Patienten mit einer auch fur ihn annehmbaren Interpretation der Lebenssituation Moglichkeiten zu einer konstruktiven Bewaltigung zu eroffnen. Darin wandelt sich die Rolle des Patienten von einem zunachst passiven Empfanger medizinischer Mafinahmen zum Partner im therapeutischen Dialog. Wo ein solches Aushandeln' fur beide Seiten stimmiger Modelle nicht geschieht, bleibt ein Grofiteil der Mafinahmen nutzlos, was sich in einer hohen Zahl chronifizierter Kranheitsverlaufe, beidseits unbefriedigender Arzt-Patient-Bezie-
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hungen und entsprechender Non-Compliance-Raten zeigt (Kirmayer 2001). Grundlage interkulturell-therapeutischer Kompetenz und somit Basis jeder Behandlung ist eine offene, interessierte und respektvolle Einstellung des Behandlers. Das erfordert eine reflektierte Kenntnis der eigenen kulturellen Identitat einschliefilich impliziter Vorurteile und Beachtung des spezifischen kulturellen Charakters der psychiatrischen Praxis. Es gilt, die "idioms of distress" als solche zu erkennen, und zu vermeiden, eigentlich zusammengehorende Symptome verschiedenen Syndromen zuzuordnen und dabei weder Schwere noch Botschaft der Klage angemessen wahrzunehmen. Fur ein kultursensibles Vorgehen ist oft Arbeit mit Kulturvermittlern erforderlich. Diese iibernehmen die Funktion als Dolmetscher, ermoglichen durch erganzende Informationen aber auch weitere Einblicke in die Welt des Patienten. Sie helfen u.a. dabei, entgegen stereotypen Festlegungen ein Gesptir fur Varianzen und Spielraume innerhalb der betreffenden Kultur zu entwickeln. Das erleichtert den Zugang zu Symptom- und Krankheitsverstandnis des Patienten und ist als Voraussetzung fur das Ausarbeiten kultursyntoner Interventionen und fur den Patienten akzeptabler Erklarungen anzusehen. Wichtige Themen sind dabei auch dessen Einstellung zu medizinischer Autoritat und psychiatrischer Therapie. Hilfreich im therapeutischen Verlauf konnen die Thematisierung migrationsassoziierter Belastungen sein, fur die Leitfaden entwickelt wurden (Koch 2005). Fur Menschen mit Migrationshintergrund besteht noch keine Chancengleichheit im Gesundheitswesen. Fur eine Verbesserung der psychiatrischpsychotherapeutischen Versorgung wurden die Sonnenberger Leitlinien entwickelt (Abbildung 7.1, Machleidt et al. 2005). Zusatzlich zu der hier dargelegten kultursensiblen Grundhaltung der Behandler werden hier vor allem institutionelle Rahmenbedingungen erlautert, zu denen auch Fortund Weiterbildung und Forderung von Forschungsprojekten zur seelischen Gesundheit und Behandlung von Menschen mit Migrationshintergrund zahlen. Die Leitlinien seien als Ubersicht - in einigen Punkten mit zusammengefassten Unterthesen - abschliefiend dargestellt.
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1. Erleichterung des Zugangs zur psychiatrisch-psychotherapeutischen und allgemeinmedizinischen Regelversorgung durch Niederschwelligkeit, Kultursensitivitat und Kulturkompetenz. Als erforderlich dafur werden u.a. Praxisleitlinien und professionelle Standards angesehen, neben einer qualitativ hochwertigen Regelversorgung auch die Rolle von Kompetenzzentren betont. 2. Bildung multikultureller Behandlerteams aus alien in der Psychiatrie und Psychotherapie tatigen Berufsgruppen unter bevorzugter Einstellung von Mitarbeitern mit Migrationshintergrund und zusatzlicher Sprachkompetenz. 3. Organisation und Einsatz psychologisch geschulter Fachdolmetscher als zertifizierte Ubersetzer und Kulturmediatoren „Face-to-Face" oder als Telefondolmetscher. 4. Kooperation der Dienste der Regelversorgung im gemeindepsychiatrischen Verbund und der AUgemeinmediziner mit den Migrations-, Sozial- und sonstigen Fachdiensten sowie mit Schliisselpersonen der unterschiedlichen Migrantengruppen, -organisationen und Migrantenverbanden. Spezielle Behandlungserfordernisse konnen Spezialeinrichtungen notwendig machen. 5. Beteiligung der Betroffenen und ihrer Angehorigen an der Planung und Ausgestaltung der versorgenden Institutionen. 6. Verbesserung der Informationen durch muttersprachliche Medien und Multiplikatoren iiber das regionale gemeinde-psychiatrische klinische und ambulante Versorgungsangebot und iiber die niedergelassenen Psychiater und Psychotherapeuten sowie Allgemeinarzte. Im Zuge einer verbesserten Offentlichkeitsarbeit werden hierunter u.a. mehrsprachige Informationsfaltblatter und Internetinformation, z.B. www.psychiatrie.de, empfohlen. 7. Aus-, Fort- und Weiterbildung fur in der Psychiatrie und Psychotherapie sowie in der AUgemeinmedizin tatige Mitarbeiter unterschiedlicher Berufsgruppen in Transkultureller Psychiatrie und Psychotherapie unter Einschluss von Sprachfortbildungen. Gefordert werden dabei u.a. Weiterbildungs-Curricula in Transkultureller Psychiatrie fur Facharztinnen/arzte zum Erwerb von Kulturkompetenz und interkultureller Diagnostik- und Behandlungskompetenz. 8. Entwicklung und Umsetzung familienbasierter primar und sekundar praventiver Strategien fiir die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien. 9. Unterstiitzung der Bildung von Selbsthilfegruppen mit oder ohne professionelle Begleitung. 10. Sicherung der Qualitatsstandards fur die Begutachtung von Migranten im Straf-, Zivil- (Asyl-) und Sozialrecht. 11. Aufnahme der transkultureUen Psychiatrie und Psychotherapie in die Curricula des Unterrichts fur Studierende an Hochschulen. Im Brick sind dabei neben der Mediziner- und Psychologenausbildung auch Studiengange fiir Diplom-Sozialpadagoglnnen und sozialpsychiatrische Zusatzausbildungen. 12. Initiierung von Forschungsprojekten zur seeUschen Gesundheit von Migranten und deren Behandlung. Besonders hervorgehoben sind darunter: Epidemiologie psychischer Morbiditat bei Migranten, Ursachen und Psychopathologie psychischer Storungen, Erprobung interkultureller Behandlungskonzepte sowie Inanspruchnahme und Integration in das psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgungssystem.
Abb. 7.1:
Sonnenberger Leitlinien (Machleidt et al. 2005)
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Erlebte Emotionen und Affekte sind kulturell gepragt; depressive Gestimmtheit wird transkulturell mitunter in unerwarteten (oft korpernaheren) Formen ausgedriickt und beinhalten meist Handlungserwartungen des Gegeniibers. Sprache ist tief kulturell verwurzelt und legt Leitlinien der Wahrnehmung und Interpretation fest. Bei zweisprachiger Arbeit ist oft die Frage nach der Ubersetzung eines Begriffs deswegen nicht ausreichend, erforderlich ist eine weitere Kenntnis der durch die andere Sprache vermittelten Wertewelt. Die Aufgabe des Dolmetschers ist daher im klinischen Kontext zum Kulturmediator zu erweitern. Leitsymptome eines depressiven Syndroms unterscheiden sich zwischen Kulturen teils betrachtlich und beziehen oft Symptome von derzeit anderweitig klassifizierten Krankheiten, vor allem aus dem dissoziativen und impulsiven Bereich, mit ein. Diese lokaltypischen Symptommuster erfullen als "idioms of distress" wesentliche kommunikative Funktionen. Eine transkulturell giiltige Definition der Depression existiert nach wie vor bestenfalls in Teilbereichen; dementsprechend ist die unkritische Ubertragung von Kriterien in Drittkulturen problematisch. Mit den Betroffenen liber deren Vorstellungen u.a. von Entstehung und Verlauf ihrer Erkrankung sowie deren Hilfserwartungen, kurz deren Erklarungsmodellen, ins Gesprach zu kommen, ist essentiell fur das Gelingen transkultureller Therapien. •
Psychiatrie ist in ihrer vornehmlich westlichen Pragung nicht kulturneutral und schliefit zahlreiche, meist unreflektierte Grundannahmen, ein.
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Kapitel 8
8
Arbeitslosigkeit
Harvey Brenner, Berlin
8.1
Einfiihrung
Fur epidemiologische und makrookonomische Analysen iiber die Auswirkung von Arbeitslosigkeit auf Gesundheit und Lebensqualitat ist das Thema Depression von zentraler Bedeutung. Bei einer Recherche der fuhrenden medizinischen Datenbanken (PubMed- und Medline) wurden fur den Zeitraum von 1985 bis Mai 2005 iiber 50 klinisch-epidemiologische Studien zu diesem Thema identifiziert, die auf der Basis eines Follow-upDesigns und einer angemessenen Studiengrofie eine Effektschatzung erlauben. Die Anzahl der veroffentlichten epidemiologischen Studien iiber Arbeitslosigkeit und Depression hat sich im Vergleich der Jahre 1985-1994 und 1995-2005 mehr als verdoppelt. Als Ursache wird unter anderem die starke Zunahme von Langzeitarbeitslosigkeit wahrend des vergangenen Jahrzehnts in Europa angenommen. Die Studien stammen aus Grofibritannien, den USA, Kanada, Australien, Deutschland, Frankreich, Japan und einigen skandinavischen Landern. 34 Studien befassen sich spezifisch mit Depression als mogliche Folge von Arbeitslosigkeit (siehe Tabelle 8.1). Sie weisen samtlich einen signifikanten Zusammenhang zwischen beiden Phanomen nach (siehe Quellenhinweise in Tabelle 8.1). Zwolf weitere Studien befassen sich mit dariiber hinaus gehenden Aspekten der psychischen Gesundheit (siehe Tabelle 8.2). Mit Hilfe einer Reihe von Messverfahren fur emotionalen Stress finden diese Studien charakteristischer Weise ein erhohtes Disstress-Niveau wahrend der Arbeitslosigkeit. Weitere Studien befassen sich mit dem hoheren Risiko fur weitere Gesundheitsschaden als Folge der Arbeitslosigkeit-Depressions-Beziehung, unter anderem mit Herzerkrankungen, Alkohol- und Substanzabhangigkeit.
Harvey Brenner, Berlin
164 Tab. 8.1:
Einfluss von Arbeitslosigkeit auf Depression
Jahr
Land
Population
Quelle
1987
Deutschland
45+
Frese and Mohr
1987
Deutschland
1987
Grofibritannien
Manner
Piatt and Dyer
1988
Grofibritannien
Manner
Eales
1989
Grofibritannien
Frese
Birtchnell und Masters
1993
USA
Hamilton et al.
1993
Grofibritannien
Archer und Rhodes
1994
Australia
junge Menschen
Winefield und Tiggemann
1994
Belgien
16-21
Verhaegen et al.
1995
USA
1996
USA
1997
Skandinavien
Smari et al.
1998
Grofibritannien
Glozier
Turner Partner
Vinokur et al.
1999
Grofibritannien
junge Manner
2000
USA
Youth
Montgomery et al. Dooley et al.
2000
Australia
18-64
Comino et al.
2000
USA
Ginexi et al.
2001
Japan
Tsutsumi et al.
2002
Grofibritannien
Holman und Wall
2003
USA
2003
USA
2004
USA
2004
USA
Frauen, 46-71
2004
Russland, Polen, Czech Rep.
45-64
Pikhart et al.
2004
USA
18-69
Elinson et al.
2004
USA
junge Erwachsene
Zimmermann et al.
2004
USA
Lerner et al.
2004
USA
Roxburgh
2004
Korea
Park et al.
2004
USA
Howe et al.
2005
USA
Peele und Tollerud
2005
Grofibritannien
Stewart et al. chin. Amerikaner
Tsoh et al. Tian and Sturm Cannuscio et al.
Grenner und Guest
2005
USA
50-61
2004
Frankreich
Manner
Emptage et al. Khlat et al.
Ein klassisches methodologisches Problem von epidemiologischen Analysen ist, dass Depression, anderen psychischen Erkrankung sowie ein all-
Arbeitslosigkeit
165
gemein schlechter Gesundheitszustand Auswirkungen auf sowohl das Eintreten von Arbeitslosigkeit als auch jede weitere nachfolgende Beeintrachtigung der psychischen oder korperlichen Gesundheit hat. Dieses klassische Problem der Gleichzeitigkeit ("Simultaneity") wird neuerdings in hoch entwickelten Forschungsdesigns untersucht, die den Effekt des schlechten Gesundheitszustandes (der ein erhohtes Risiko fur nachfolgende Arbeitslosigkeit darstellt) statistisch kontrollieren. Es zeigt sich, dass selbst unter Beriicksichtigung des Gesundheitszustandes vor der Arbeitslosigkeit ein positiver Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und einer Verschlechterung der psychischen Gesundheit, insbesondere Depression, besteht (siehe Quellenhinweise in Tabelle 8.1 und 8.2). Zusatzlich findet sich auch eine Verschlechterung der allgemeinen korperlichen Gesundheit wahrend und nach Episoden der Arbeitslosigkeit (siehe Quellenhinweise in Tabelle 8.3).
Tab. 8.2:
Studien ixber den Einfluss von Arbeitslosigkeit auf psychische Storungen
Jahr
Land
1986 1989
Population
Quelle
USA
Schwarze
Dressier
Grofibritannien
Manner
McKenna und Payne
Frauen
Dew et al.
1992
Grofibritannien
1993
Slid Afrika
1994
USA
Erwachsene
Peirce et al.
1995
USA
by race, gender
Broman et al.
Frauen
Orpen
1997
Hong Kong
2000
USA
Vinokur et al.
2000
Kanada
Vermeulen und Mustard
2003
Kanada
2003
Finnland
2004
Kanada
18-30, 31-55
Lai et al.
Breslin und Mustard Haatainen et al.
15-64
Dewa et al.
Das klassische Problem der wechselseitigen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit und Gesundheitsschadigungen wurde in den letzten Jahren ausfuhrlich untersucht. Heute wird davon ausgegangen, dass erstens Personen, die arbeitslos werden, mit erhohter Wahrscheinlichkeit korperlich oder seelisch weniger gesund sind als Beschaftigte im Allgemeinen. Zweitens muss damit gerechnet werden, dass in dieser vulnerablen Bevolkerungsgruppe, in der auch ohne Arbeitslosigkeit mit einer erhohten Morbi-
Harvey Brenner, Berlin
166
ditat gerechnet werden muss, Arbeitslosigkeit einen zusatzlichen negativen Einfluss auf vorher bestehende Krankheiten hat. Dies fuhrt dazu, dass schwere Depression, Suizid und andere Todesursachen (insbesondere Herz-Kreislauf-Krankheiten) mit hoherer Wahrscheinlichkeit auftreten (Brenner 2000). Der Suizid, der als klassischer Parameter fur die Sterblichkeit bei depressiven Erkrankungen gilt, ist in den vergangenen 30 Jahren als mogliche Folge von Arbeitslosigkeit in vulnerablen Bevolkerungsgruppen umfassend untersucht worden. Diese Studien zur Suizidalitat basieren auf Zeitreihen nationaler Arbeitslosenraten. Sie zeigen durchgangig eine erhohte Suizidrate wahrend Zeiten hoher Arbeitslosigkeit (Brenner 1973, 1979a, 1979b, 1980a, 1984, 2000, 2002; Cormier and Klerman 1985; Crombie 1989; Filby and Eicher 1983; Gunnel et al. 1999; Novo et al. 2001; Ostamo et al. 2001; Piatt 1984; Piatt and Dyer 1987; Trovato 1986). Allerdings ist es mit dieser Art makrookonomischen Studien nicht moglich, genauere Angaben uber den psychopathologischen Hintergrund der Suizide zu machen.
Tab 8.3: lah7
Einfluss von i1L.rbeitslosigkei1 Land
Population
Quelle
1985
Kanada
1991
Schweden
16+
Theorell et al.
1992
Niederlande
Manner, 30-50
Klein-Hesselink und Spruit
2001
Schweden
Grossi et al.
2003
UK
Feme et al.
2003
USA
Friedland und Price
2004
Deutschland
Lauenroth und Swart
8.2
D'Arcy und Siddique
Definition des Beg riffs Depression
Depressive Stimmungslagen werden von Gefuhlen der Unzulanglichkeit, Mutlosigkeit, Lustlosigkeit, Pessimismus, Traurigkeit und ahnlichen Symptomen gekennzeichnet. Depressive Stimmungslagen sind ziemlich normal, verhaltnismafiig kurzlebig, und leider haufig (Reber und Reber, 2001). Die Diagnose einer klinisch relevanten Depression umfasst jedoch mehr als nur eine niedergedriickte Stimmung, auch wenn diese dauerhaft und belastend sein kann: Eine bestimmte Anzahl von fur Depressionen charakteristischen Symptomen muss vorhanden sein, wie Interessenverlust,
Arbeitslosigkeit
167
Schuldgefuhle, Schlaf- und Appetitstorung, Suizidabsichten, Antriebsminderung oder Freudlosigkeit (siehe Bramesfeld und Stoppe Kapitel 1, Einfuhrung). Depressionen nach ihrer Pathogenese zu unterscheiden, wie dies in alteren Klassifikationssystemen unternommen wurde, hat sich als schwierig erwiesen: Bezeichnungen wie "reaktiv" und "neurotisch" im Gegensatz zu "endogen" oder "psychotisch" sind in einem wortworfhchen Sinn verwirrend. Es ist heute bekannt, dass „endogene" Erkrankungen, von denen fruher angenommen wurde, sie traten spontan auf, in Wirklichkeit oft durch Krisensituationen wie Trennung, Verlust des Arbeitsplatzes und finanzielle Katastrophen hervorgerufen werden (Braun 2003). Es gibt daher keinen verminftigen theoretischen Grund anzunehmen, dass ein lebensveranderndes Ereignis wie die Arbeitslosigkeit das Auftreten und den Verlauf von depressiven Erkrankungen nicht beeinflussen wurde. 8.3
Definition des Beg riffs Arbeitslosigkeit
Arbeitslosigkeit ist der Wunsch nach Arbeit bei gleichzeitigem Fehlen einer Moglichkeit zur Erwerbstatigkeit. Sie ist aus mehreren Griinden von psychosozialem Interesse. Es gibt dabei unterschiedliche Arten von Arbeitslosigkeit mit verschiedenen Ursachen. Strukturelle Arbeitslosigkeit kann eine Vielzahl von Ursachen haben, einschliefilich technologischer Innovationen oder Unternehmen, die sich entscheiden, ihre Betriebe zu schliefien oder in andere Regionen oder Landern zu verlagern. Weitere Formen von Arbeitslosigkeit umfassen Friktions-Arbeitslosigkeit (wobei angenommen wird, dass das Arbeitsverhaltnis auf Wunsch des Arbeitslosen verlassen wird), Saisonarbeitslosigkeit (saisonale Anderungen mit verringerter Nachfrage wie z.B. in der Landwirtschaft, im Baugewerbe) und konjunkturelle Arbeitslosigkeit (Firmen entlassen Arbeiter wahrend der Rezessionen als Antwort auf eine sinkende Nachfrage). Dariiber hinaus ist Arbeitslosigkeit ein psychosozial bedeutsames Problem, denn sie geht mit psychosozialen Konsequenzen einher, wie dem Verlust von sozialen Beziehungen, des soziookonomischen Status, der beruflicher Fertigkeiten, Einkommen und Selbstwertgefuhl. Die Bedeutung der Arbeitslosigkeit zeigt sich auch an ihrer drastischen Auswirkung auf die Sozialstruktur der Bevolkerung: Sie vergrofiert die soziookonomischen Unterschiede. Das verhaltnismafiig hohe Stress-Niveau der unteren soziookonomischen Gruppen steigt unter Bedingungen der Arbeitslosigkeit weiter, denn Menschen mit niedriger beruflicher Qualifizierung und Bildung sind durch zyklische
168
Harvey Brenner, Berlin
und strukturelle Arbeitslosigkeit am starksten betroffen (Ehrenberg und Smith 2003). Langerfristige Arbeitslosigkeit hat haufig eine Reihe von miteinander verketteten Auswirkungen, welche die verschiedensten Lebensbereiche betreffen: Der Verlust von Arbeitsstatus und die finanzielle Instability beeintrachtigt Familie und freundschaftliche Beziehungen. Dies fuhrt wiederum zu erheblichen psychischen Belastungen sowohl bei dem Arbeitslosen selber als auch bei den von ihnen emotional und wirtschaftlich abhangigen Personen. Von gleicher Bedeutung ist der Umstand, dass die Anzahl der dem Arbeitsmarkt zur Verfugung stehenden Personen teilweise von der Arbeitslosenrate abhangt. Arbeitslosigkeit, die langer als ein Jahr anhalt, fuhrt gewohnlicher Weise in Industrienationen dazu, dass im Prinzip erwerbsfahige Personen, von erfolgloser Arbeitssuche entmutigt, den Arbeitsmarkt verlassen. Einmal aufierhalb des Arbeitsmarktes steigt das Risiko fur Depression, Morbiditat und Mortalitat erheblich (Sorlie and Rogot 1990). Auf regionaler Ebene fuhrt eine verhaltnismafiig hohe Arbeitslosigkeitsrate haufig zu einem Verlust von Bevolkerung durch Abwanderung, was die okonomische Zerstorung einer Region sogar iiber einen langen Folgezeitraum nach sich Ziehen kann. Diese Konsequenzen der Arbeitslosigkeit sind in der soziologischen Literatur mindestens seit den dreifiiger Jahren beschrieben worden (z.B., Jahoda 1982, Bezirk 1987, Brenner 1973). 8.4
Arbeitslosigkeit-, Wieder- und Unterbeschaftigung
Die Analyse der Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Sterblichkeit der Bevolkerung zeigt im historischen Vergleich einen deutlichen Zusammenhang zwischen einer Zunahme der Arbeitslosigkeitsraten und einer nachfolgend iiber einen Zehnjahreszeitraum erhohten Gesamtsterblichkeit und Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Brenner 1979, 1980, 1982, Brenner 1987, 2002). Im Kontrast dazu fanden jedoch andere Studien wiederholt, dass die Gesamtsterblichkeit und die Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Erkrankungen in dem Jahr steigt, in dem die Arbeitslosigkeit sinkt. Diese Beziehung zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit in Zeiten der okonomischen Erholung (d.h. nach Rezessionen) kann folgendermafien charakterisiert werden:
Arbeitslosigkeit
169
•
Die friihe Phase der wirtschaftlichen Erholung beinhaltet eine grofiere Nachfrage fiir Produkte und Dienstleistungen. Dagegen ist der Riickgang der Arbeitslosigkeit noch vergleichsweise gering, da die Arbeitgeber zu diesem Zeitpunkt noch hinsichtlich der Starke und Dauer des sich abzeichnenden Aufschwungs ungewiss sind und sich deswegen mit Investitionen und Personaleinstellungen noch zuriickhalten. (Dieser verzogerte Riickgang der Arbeitslosigkeit ist in der okonomischen Literatur fest verankert).
•
Die gestiegene Nachfrage im Vergleich zur immer noch relativ hohen Arbeitslosigkeit - was gleichzeitig eine relativ niedrige Beschaftigungsrate bedeutet - fuhrt zu einer insgesamt hoheren Arbeitsbelastung fiir die arbeitende Bevolkerung (gilt sowohl fur durchgangig Beschaftigte wie auch fur die neu Eingestellten) (Baumol et al. 1994).
•
Fiir die neu Eingestellten (auch wieder Eingestellten) ergibt sich eine zusatzliche Belastung aus der Einarbeitung in ihre neuen Arbeitsplatze, die i.d.R vielfaltige neue Anforderungen beinhalten, wie ggf. neue Fertigkeiten und auch die Anpassung an die neue Arbeitsumgebung, einschliefilich Kollegen und Vorgesetzte. (Dass wieder Eingestellte im Vergleich zur vorherigen eine iiberwiegend schlechtere Stellung im Erwerbsleben erhalten, ist in der okonomischen Literatur etabliert. Dass dieser Verlust ebenfalls einen Faktor fiir zusatzlichen Arbeitsstress darstellt, wird aus der epidemiologischen Literatur gefolgert).
•
Ein weiterer Stressfaktor kann fiir Wiederbeschaftigte dadurch entstehen, dass mit ihrem neuen Arbeitsplatz im Vergleich zum friiheren ein wirtschaftlicher und sozialer Statusverlust einhergeht und sie in der neuen Arbeitsstelle ihre tatsachlichen Fahigkeiten nicht einbringen konnen, bei i.d.R. ofter niedrigerer Bezahlung und oft auch niedrigeren Lohnnebenleistungen (Ehrenberg u. Smith 2003).
•
Arbeitsstress ist eine Ursache fiir hohere Mortalitat, insbesondere kardiovaskulare Todesursachen (Marmot et al.1997).
Der in der friihen Phase einer wirtschaftlichen Erholung kurzfristig zu beobachtende Anstieg der Sterblichkeit halt solange an, bis die positiven Auswirkungen der zuriickgehenden Arbeitslosigkeit die schadlichen Einfliisse des voriibergehend grofieren „Arbeitsstresses" iiberwiegen.
170
8.5
Harvey Brenner, Berlin
Arbeitslosigkeit und Gesundheit: Neue Ergebnisse
Mediator des negativen Effekts von Arbeitslosigkeit auf die Gesundheit mag eine pessimistische Einstellung hinsichtlich zukunftiger und finanzieller Belastungen sein: Eine vergleichende Befragung von jungen arbeitslosen Mannern und Frauen wahrend wirtschaftlicher Expansionen und Rezessionen zeigte, dass beide Geschlechter gleichermafien wahrend einer Rezession uber mehr korperliche und psychologische Symptome klagen als wahrend einer Expansion (Novo et al. 2001). Dariiber hinaus stellt nicht nur die gegenwartige wirtschaftliche Lage ein erhohtes Risiko fur die Verschlechterung des Gesundheitszustandes dar, sondern auch die Erfahrung von Benachteiligung zu einem beliebigen Zeitpunkt im Leben zieht eine schlechte Gesundheit nach sich. Bartley und Plewis (Plewis und Bartley 2002) konnten in einer Studie zeigen, dass die Zugehorigkeit zur Gruppe der Personen mit geringer oder ohne Berufsausbildung oder Arbeitslosigkeit im Jahr 1971 unabhangig von anderen Faktoren zu einem erhohten Risiko chronisch behindernder Erkrankungen im Jahr 1991 fuhrte. Zunehmend weisen jedoch wissenschaftliche Erkenntnisse darauf hin, dass neben den Erfahrungen der Benachteiligung auch Erfahrungen der Solidaritat von Bedeutung sind. Drei solcher Studien konnten identifiziert werden, was die Rolle von Arbeitnehmerorganisationen wie Gewerkschaften und ihren Wert fur die offentliche Gesundheit starkt.
8.6
Hohe Arbeitsplatzanforderungen und HerzKreislauf-Erkrankungen: Indirekte Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf die erwerbstatige Bevolkerung
Dass Indikatoren fiir die nationale Wirtschaftsentwicklung mit der Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Erkrankungen in einem Zusammenhang stehen, konnte mehrfach gezeigt werden. Diese Indikatoren umfassen das reale pro Kopf Einkommen, die Ausgaben fiir die Wohlfahrt, die Arbeitslosenrate und die Anzahl der Unternehmen, die Konkurs anmelden. Als Folge von erhohter Arbeitslosigkeit kann z.B. fiir die Bundesrepublik Deutschland fiir die Zeit zwischen 1951 und 1989 mittels Regressionsanalyse eine Zunahme der Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Erkrankungen liber mehr als eine Dekade hinweg beschrieben werden (Brenner 1997). Der inverse soziookonomische Gradient bei der Sterblichkeit an HerzKreislauf-Erkrankungen ist ausfuhrlich an anderer Stelle beschrieben wor-
Arbeitslosigkeit
171
den. Mit den Daten der Whitehall-II-Studie aus Grofibritannien wurde kiirzlich beschrieben, dass Arbeitsplatzunsicherheit - mittelbar iiber die Auswirkungen der finanziellen Unsicherheit - eine wichtige Rolle bei der Entstehung ungleich verteilter Gesundheitschancen spielt (Ferrie et al. 2003). Der Zusammenhang zwischen Arbeitsplatzbedingungen und HerzKreislauf-Erkrankungen ist in der Literatur umstritten. Viele Studien haben unabhangig von anderen Risikofaktoren Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und beruflicher Belastung gefunden. So fand sich z.B. in einer grofien Fall-Kontroll-Studie in Schweden sowohl bei angenommener als auch bei berichteter geringer Entscheidungsfreiheit am Arbeitsplatz (low decision latitude) ein Zusammenhang mit einem erhohten Risiko fur einen ersten Herzinfarkt. Unter Beriicksichtigung der sozialen Schichtzugehorigkeit stellt sich dieser Effekt etwas schwacher dar (Theorell et al. 1998). Sehr wenige Verlaufsstudien belegen einen Zusammenhang zwischen Arbeitsplatzzufriedenheit und den Risikofaktoren fur Herz-KreislaufErkrankungen bzw. manifesten Erkrankungen. In einer Kohorte schottischer Arbeiter fanden Heslop und Mitarbeiter (2002) keinen Beweis fur einen Zusammenhang zwischen geringer Jobzufriedenheit, und einem erhohten Risiko an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu versterben. Zum gleichen Ergebnis kommen auch Lee und Mitarbeiter (2002) in einer nur aus Frauen bestehenden Kohorte. Zudem wurde auch in einer grofien Kohorte in Belgien nach Beriicksichtigung anderer Kovariablen kein Zusammenhang zwischen der beruflichen Entscheidungsfreiheit und der Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen gefunden. Herz-KreislaufErkrankungen stehen allerdings unabhangig von anderen Risikofaktoren in einem engen Zusammenhang mit Messwerten fur die soziale Unterstutzung (social support scale) (de Bacquer 2005). Mit Daten der Whitehall-II-Studie konnte gezeigt werden, dass die Fahigkeit zur Kontrolle des Arbeitsplatzes (Job Control - ein Bestandteil des JobStress Modells von Karasek) den grofiten Anteil am Entstehen des soziookonomischen Gradienten der Herz-Kreislauf-Erkrankungen hat (Marmot et al. 1997, Bishop 2003, Malinauskiene 2004). Ebenfalls wurden unabhangige Wirkungen von niedriger Job Control und ein Ungleichgewicht im Verhaltnis Einsatz-Belohnung (Effort-Reward-Imbalance) auf HerzKreislauf-Erkrankungen beschrieben (Bosma et al. a 1998, 1998b). Personen unter hoher Arbeitsplatzbelastung (hohe Anforderungen, niedrige
172
Harvey Brenner, Berlin
Entscheidungsfreiheit) weisen das hochste Risiko fur Herz-KreislaufErkrankungen auf (Kuper et al. 2003). In einer Kohortenstudie iiber Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Erkrankungen im allgemeinen, konnten Kivimaki und Mitarbeiter (2002) zeigen, dass sowohl eine hohe Arbeitsplatzfehlbelastung (Job Strain) als auch ein Ungleichgewicht im Verhaltnis Effort-Reward das Risiko der Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhoht. Vergleichbare Resultate wurden von Hallqvist und Mitarbeitern (1998) und Peter und Mitarbeitern (2002) veroffentlicht. Indirekt werden diese Ergebnisse durch eine Verlaufsuntersuchung bei Frauen aus Pennsylvania gestutzt, die dem Zusammenhang zwischen Beschaftigung und Blutfettspiegeln nachging: Die beschaftigten Frauen hatten die niedrigsten Blutspiegel des HDL (High Density Lipoprotein) - was als ein erhohtes Risiko fur Atherosklerose und folglich Herz-KreislaufErkrankungen gilt (Ickovics et al. 1996). Diese Annahme wird teilweise auch durch eine Studie aus Schweden gestutzt: Obgleich die Ergebnisse die Hypothese nicht stiitzten, dass die Arbeitsplatzbelastung eine nachteilige Auswirkung auf Gesamtcholesterin- und Plasmafibrinogenspiegel (als Parameter fur ein erhohtes Herz-Kreislauf-Erkrankungsrisiko) hat, legten die Autoren nahe, dass ein erhohtes Risiko von Herz-KreislaufErkrankungen in Verbindung mit Arbeitsplatzbelastung durch andere Faktoren wie Bluthochdruck und niedrige HDL-Blutfettspiegel verursacht werden konnte (Alfredson 2002). Was Plasmafibrinogen anbetrifft, fand eine japanische Forschungsgruppe, dass Arbeitsplatzeigenschaften nicht signifikant mit dem Plsasmafibrinogenspiegel korrelierten (Ishizaki 2001). Eine franzosische Kohortenstudie ergab signifikante Zusammenhange zwischen psychosozialen Arbeitsfaktoren (psychischen Anforderungen, Entscheidungsfreiheit, soziale Untersttitzung) und Risikofaktoren fur Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Bluthochdruck, erhohte Blutfettwerte, Ubergewicht und Rauchen (Niedhammer et al. 1998). In einer Kohorte aus Ostfinnland fand sich bei Mannern, die eine hohe stressabhangige Blutdruckreaktivitat zeigten und iiber hohe Arbeitsanforderungen klagten, die schnellste Progression atherosklerotischer Veranderungen (Everson 1997). Hellerstedt und Mitarbeiter (1997) fanden in einer Querschnittsanalyse in den USA, dass Arbeitsplatzanforderungen in einem positiven Zusammenhang mit dem Rauchen, der Intensitat des Rauchens und fettreicher Ernahrung bei Mannern und mit dem Body-Mass-Index und der Intensitat des Rauchens bei Frauen stehen. Raucher mit hoher Arbeitsbelastung rauchten mehr als andere mannliche Arbeiter. Frauen mit hoher Arbeitsbelastung hatten einen hoheren Body-Mass-Index als andere weibliche Arbeiter -
Arbeitslosigkeit
173
allerdings ist dieser Zusammenhang in der umgekehrten Richtung nicht vorhanden. Greenlund und Mitarbeiter (1995) fanden in einer anderen Querschnittsanalyse in den USA nur wenige Zusammenhange, die die Hypothese stutzen, dass Arbeitsplatzfehlbelastung mit einem erhohten Niveau von Risikofaktoren fur Herz-Kreislauf-Erkrankung einhergeht. Die Wirkung von hoher Arbeitsplatzbelastung (Job Strain) und HerzKreislauf-Erkrankungen wurde auch an den Mannern und Frauen iiberpriift, die an der Framingham-Offspring-Studie in den USA teilnehmen (Eaker et al. 2004). Die Ergebnisse konnten hohe Arbeitsplatzbelastung nicht als einen bedeutenden Risikofaktor identifizieren. Ebenfalls fanden Hlatky und Mitarbeiter (1995) keinen signifikanten Zusammenhang zwischen Verkalkungszustand der Herzkranzgefafte und Arbeitsplatzbelastung. 8.7
Suchtmittelmissbrauch
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Arbeitslosigkeit und Abhangigkeitsstorungen (z.B. Alkohol-, Nikotinmissbrauch) sind widerspruchlich. Eine Publikation (Ettner 1997) fand auf Daten des National Health Interview Survey 1988 (USA) basierend, dass Nichtbeschaftigung den Alkoholverbrauch und die Symptome der Alkoholabhangigkeit verminderte. Als mogliche Erklarung hierfur wird der engere finanzielle Spielraum bei Nichtbeschaftigung diskutiert. Andererseits erhoht sich bei Arbeitsplatzverlust in den soziookonomisch schwachen Bevolkerungsgruppen der Alkoholkonsum. So fanden sich in den Daten der franzosischen nationalen Gesundheitsstudie (1991-1992) bei Mannern signifikante Zusammenhange zwischen Arbeitslosigkeit und Suchtverhalten: hoher Alkoholkonsum (Relatives Risiko, RR = 1.7), Rauchen (RR = 1,5 fur „normales" und 1,7 fur "starkes" Rauchen) und Gebrauch psychoaktiver Substanzen (RR 3,6). Ubergewicht, wie bereits oben erwahnt, stand mit Arbeitslosigkeit nicht in einem signifikanten Zusammenhang (Khlat et al. 2004). Muntaner und Mitarbeiter (1995) iiberpruften den Zusammenhang zwischen Arbeitsbedingungen und einem erhohten Risiko fur Drogenabhangigkeit. Nach Berucksichtigung soziodemographischer Risikofaktoren und anderer moglicher Weise die Ergebnisse verzerrenden Einflusse, fanden sie als Bestatigung des Job-Strain Modells eine hohe Wahrscheinlichkeit fur
174
Harvey Brenner, Berlin
Drogeabhangigkeit bei den Personen, die durch hohe Niveaus der korperlichen Beanspruchung und niedrige Niveaus der skill discretion (die Fahigkeit zwischen unterschiedlichen erlernten Fahigkeiten zu entscheiden) (Odds Ratio, OR = 4.92) charakterisiert sind, beziehungsweise auch bei Personen mit hohem Niveaus der korperlichen Beanspruchung und hoher Entscheidungsbefugnis (OR = 5.26). Verlaufsdaten aus Finnland zeigten, dass voriibergehende Beschaftigung verglichen mit festen Beschaftigungsverhaltnissen mit erhohten alkoholbedingten Todesfallen (Hazard Ratio, HR = 2,0) bei beiden Geschlechtern einhergeht und bei Mannern mit Krebs durch Rauchen (HR = 2,8) (Kivimaki et al. 2003). Verlaufsdaten aus Schweden zeigten, dass niedrige soziale Unterstiitzung am Arbeitsplatz und niedrige Kontrolle iiber die Arbeit - besonders in Verbindung mit niedriger Arbeitsbelastung (was als "passives" Arbeitsklima bezeichnet werden kann) - signifikant mit spaterem Alkoholismus korreliert (Hemmingsson 1998). Dieser Zusammenhang wird auch durch andere Ergebnisse gestiitzt: Greenberg und Grunberg (1995) nutzten das Konzept der Entfremdung von der Arbeit (Work Alienation, definiert als niedrige Arbeitsplatzautonomie, geringer Gebrauch von Fahigkeiten und mangelnde Teilhabe an der Entscheidungsfindung am Arbeitsplatz), um zu zeigen, dass dieses Setting bei Arbeitern in der Produktion mit hohem Alkoholkonsum und den negativen Folgen des Trinkens verbunden ist (Windle/ Frone 1997).
8.8
Depression, Arbeitslosigkeit und niedriger soziookonomischer Status: Neue Ergebnisse
Das nationale Institut fur berufliche Sicherheit und Gesundheit der USA (NIOSH) erkennt psychische Storungen erst seit 1988 als relevantes berufsbedingtes Gesundheitsrisiko an. Eine Haufung von depressiven Erkrankungen bei Personen mit niedrigerem soziookonomischem Status findet sich durchgangig in einer Vielzahl von Studien. Khlat und Mitarbeiter (2003) fanden in ihrer Studie (siehe oben), dass arbeitslose Manner eine signifikant hohere Depressionspravalenz aufwiesen als die erwerbstatige Bevolkerung (RR = 2.6). Auf Bevolkerungsniveau stellt die Zunahme der Arbeitslosenrate einen Indikator fur Rezession und/oder strukturellen okonomischen Abschwung dar. Auf dem individuellen Niveau wird Arbeitslosigkeit als belastendes
Arbeitslosigkeit
175
Lebensereignis (Stressfull Life Event) gedeutet (Brenner 1993). Dabei betonen einige Autoren die Altersabhangigkeit dieses Zusammenhangs: Eine kanadische Studie iiber das Verhaltnis zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Gesundheit konnte ein Ansteigen von Disstress und klinischer Depression nach Arbeitsplatzverlust nur bei den 31 bis 55-Jahrigen nachweisen, nicht aber bei jiingeren Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren (Breslin 2003). Jedoch setzt sich die Debatte fort, ob Arbeitslosigkeit psychologische Morbiditat bedingt oder aber ob diejenigen Menschen eher arbeitslos werden, die eine hohere psychische Vulnerabilitat aufweisen. In diesem Zusammenhang ist es nutzlich, Verlaufsdaten zu betrachten. Die Geburtskohorte 1958 stellt solche Daten fur Manner in Grofibritannien zur Verfugung. Unter den Personen, die aufgrund von depressiven Symptomen in Behandlung waren, hatten Menschen, die im Jahr vor Eintreten dieser Symptome arbeitslos waren, ein erhohtes Risiko fur eine depressive Symptomatik im Vergleich zu Beschaftigten (Relatives Risiko, RR 2,10). Kummulative Arbeitslosigkeit (verglichen mit neu eintretender Arbeitslosigkeit) war nur von Signifikanz, wenn Manner mit vorher bestehenden depressiven Symptomen von der Analyse ausgeschlossen wurden (Montgomery 1999). Diese Ergebnisse werden durch eine Verlaufsstudie bei Partnern von Arbeitslosen gestiitzt, die zeigte, dass finanzielle Belastung nicht nur eine signifikante Wirkung auf depressive Symptome beider Partner hatte, sondern dass sie in Folge auch zu weniger sozialer Unterstiitzung durch den Partner und damit in einen Teufelskreis fuhrte (Vinokur et al. 1996). In einer Studie iiber Arbeitsmerkmale und Unterschiede in der Haufigkeit von depressiven Erkrankungen bei jungen Erwachsenen war die wahrgenommene Jobunsicherheit mit einer hoheren Depressionsrate nur fur Manner schwarzer Hautfarbe verbunden (Zimmerman 2004). Pikhart und Mitarbeiter (2004) fanden Beweise fur die Giiltigkeit des Effort-RewardModells nach Siegrist (Ungleichgewicht von Arbeitsanforderungen und -einsatz einerseits und Belohnung andererseits) in einer Querschnittstudie bei mannlichen und weiblichen Funktionaren in Zentral- und Osteuropa (Russland, Polen, tschechische Republik). In einer Querschnittsanalyse bei japanischen Arbeitern fanden Tsutsumi und Mitarbeiter (2001), dass sich die beiden Modelle zur Erklarung des Zusammenhangs zwischen Arbeitsplatz und Belastung auf unterschiedliche Aspekte von Stress am Arbeitsplatz beziehen. Diese Ansicht wird durch Godin und Kittel (2004) gestiitzt. Daneben gibt es viele Hinweise auf einen Geschlechtsunterschied beziiglich der Wirkung von Arbeitslosigkeit auf die psychische Gesundheit (Ar-
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tazcoz et al. 2004). Die Literatur in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Arbeitsplatz, Familienverpflichtungen und Moglichkeiten der sozialen Unterstutzung fur Frauen ist von so erheblichem Umfang, dass die Beriicksichtigung des Gender-Aspekts im Rahmen dieses Berichts nicht moglich ist.
8.9
Arbeitslosigkeit und Suizid: Neue Ergebnisse und grundlegende Erkenntnisse
Dass wirtschaftliche Rezession und Arbeitslosigkeit zu einer hoheren Suizidrate fuhren ist aufgrund der wissenschaftlichen Datenbasis unzweifelhaft. Dies gilt auch fur Selbstmordversuche - wie von Ostamo und Mitarbeitern (2001) belegt wurde. In ihrer Studie bei Personen, die einen Selbstmordversuch unternommen hatten, wiesen junge Manner und Manner mittleren Alters mit niedriger Schulbildung das hochste Risiko fur Arbeitslosigkeit auf. Es liegen drei grofie Verlaufsstudien vor, die die Hypothese stiitzen, dass Arbeitslosigkeit oder Mangel an Arbeitsplatzsicherheit das Risiko eines Suizids erhoht: In ihrer multivariaten Analyse fanden Blakely und Mitarbeiter (2003), dass Arbeitslosigkeit und Familienstand die einzigen unabhangigen Determinanten fur Selbstmord in Neuseeland waren. Die Autoren unterstreichen, dass zwar Arbeitslosigkeit mit einem zwei- bis dreifach erhohten Risiko eines Todes durch Suizid verbunden war, dass aber mehr als die Halfte der Starke dieses Zusammenhangs mit einer statistischen Verzerrung durch psychische Erkrankungen zu erklaren ist. Fur England und Wales kamen Lewis und Sloggett (1999) zum gleichen Ergebnis. Gunnel und Mitarbeiter (1999) fuhrten mit Routinedaten eine Zeitreihenanalyse der Sterblichkeit und der Arbeitslosigkeit iiber einen Zeitraum durch, der mehrere schwere okonomische Rezessionen in England und Wales umfasst (1921-1995). Ihre Ergebnisse stiitzten den angenommenen Zusammenhang fur Manner und Frauen - mit im Allgemeinen signifikanterer Auspragung in den jiingeren Altersgruppen. Von den "klassischen" makrookonomischen Analysen fanden in den USA neun methodologisch stichhaltige Studien einen positiven Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Suizid auf nationaler Ebene (Ahlbur/ Schapiro 1984; Brenner 1973, 1977, 1979, 1980, 1984; Marshall 1978; Marshall/Hodge 1981; Stapel 1981). Seit der letzten Ubersichtsarbeit zu diesem Thema, 1984 von Piatt, sind viele weitere Studien erschienen. Ein positiver Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Suizid konnte in Danemark
Arbeitslosigkeit
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(Iversen et al. 1987), in Norwegen (Stapel 1989), in Schweden (Norstrom 1988), in einer Monatsanalyse in den USA (Wasserman 1984), in Quebec (Cormier/ Klerman 1985), in einem District von Ohio (Filgy/Eicher 1983), in den USA fur 1948-1963 aber nicht fur 1964-1980 (Stapel 1987) und in Schottland und Kanada fur Manner aber nicht fur Frauen belegt werden (Crombie, 1989; Trovato, 1986b). Diese Ergebnisse konnten in einer groGen Studie fur die Europaische Kommission bestatigt werden, die alle 15 EU-Mitgliedsstaaten im Zeitraum 1960-1995 umfasst. In alien Landern wurde mit den neuesten Verfahren der Zeitreihenmethodologie eine unabhangige, positive und signifikante Korrelation zwischen Arbeitslosigkeit und Suizidrate gefunden (Brenner 2000). Tabelle 8.4 zeigt, dass die groben Trends und Zyklen in den Suizidraten relativ vorhersagbar sind, wenn die grofien Veranderungen in den Arbeitslosenraten iiber 0-2 Jahre hinweg kummulativ beriicksichtigt werden (siehe Abbildung 1 und Tabelle 8.4, Modell 1). Diese Vorhersagen werden sogar relativ prazise, wenn zusatzlich Rezessions-Indikatoren beriicksichtigt werden, wie z.B. die Stimmung der Konsumenten hinsichtlich der Entwicklung der Volkswirtschaft, pro Kopf Bruttoinlandsprodukt, Unternehmenskonkurse, Inflation. Gesundheitsausgaben pro Kopf sind dem Modell zugefugt, um dem moglichen Einfluss von Gesundheitsversorgung auf die Suizidraten Rechnung zu tragen (siehe Abbildung2 und Tabelle 8.4, Modell 2). Des weiteren ist der pro Kopf Konsum an Alkohol (Bier und Wein), als ein zusatzlicher die Suizidrate beeinflussender Faktor beriicksichtigt (siehe Abbildung 2 und Tabelle 8.4, Modell 2). Es muss dabei zur Kenntnis genommen werden, dass der Effekt des (pathologischen) Alkoholkonsums weitgehend auf den generellen Einfluss von Arbeitslosigkeit und Rezessions-Indikatoren zuriickzufuhren ist. Daher ist der Einfluss des Alkohols auf die Suizidraten tendenziell statistisch weniger bedeutend, wenn fur die rezessionsabhangigen okonomischen Indikatoren kontrolliert wird (siehe Tabelle 8.4, Modell 2).
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Harvey Brenner, Berlin
Tab. 8.4:
Multivariable Beziehungen zwischen makrookonomischen Faktoren sowie gesundheitlichen Risikofaktoren und alters-standardisierten Selbstmordraten in den USA, 1967-2000 Wirkungsverzogerung: Modell 1 Coeff
(t)
(11.9805)
-4.3150
-(1.0695)
-0.0594
-(4.1929)
0,3
(4.2498)
0,2
(3.6145)
0,2
(2.2848)
0 Jahre
-0.0002
-(2.2752)
4 Jahre
0
(6.6333)
Trend
Konkurs-rate Index zu geplanten Konsumausgaben
Coeff
16,5
Konstante Arbeitslosenrate reales Bruttoinlands-produkt pro Kopf
Modell 2 (t)
0-2 Jahre
2 Jahre
-0.0128
-(2.4882)
Gesundheitsausgaben pro Kopf 0 Jahre
-0.1097
-(4.1560)
Lebenshaltungskostenindex
0 Jahre
-0.0637
-(7.4633)
Bier Konsum pro Kopf
0 Jahre
0,6
(1.7587)
Bier Konsum pro Kopf
1 Jahr
0
(1.2913)
Wein Konsum pro Kopf
2 Jahre
0,1
(1.7107)
R2
0,9
1
Durbin- Watson In Klammem: t-Statistik in Klammern
1,9
1,9
14
Rate pro 100.000 Einwohner
13.5 13 12.5 12 11.5 11 10.5 10 1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
tatsächliche alters-standardisierte Selbstmordrate alters-standardisierte Selbstmordrate nach ökonometrischem Modell berechnet
Abb. 8.1:
Selbstmordrate in den USA, real und modelliert, Modell 1,1967-2000
Arbeitslosigkeit
179
Abb. 8.2:
Selbstmordrate in den USA, real und modelliert, Modell 2,1967-2000
8.10
Schlussfolgerung
Epidemiologische Studien haben in den letzten 20 Jahren durchgangig die Hypothese bestatigt, dass Arbeitslosigkeit die Haufigkeit von depressiven Erkrankungen erhoht. Diese Befunde erstrecken sich sowohl auf depressive Verstimmungen als auch auf depressive Erkrankungen, wie sie in der klinischen Psychiatrie definiert sind. Dieser Zusammenhang, der in Studien in Industrienationen durchgangig bestatigt wird, gilt auch allgemein fur Schadigungen der psychischen und korperlichen Gesundheit, insbesondere aber fur Suchtmittelmissbrauch und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. In vielen Fallen sind die Forschungsdesigns hoch genug entwickelt, um Einfliisse wie vorher bestehende Depression, und andere psychische und korperliche Erkrankungen als Griinde fur Arbeitslosigkeit zu isolieren und in der statistischen Analyse entsprechend zu kontrollieren. Wie Zeitreihenanalysen der Gesamtsterblichkeit und der Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf nationaler Ebene belegen, hat Arbeitslosigkeit wahrend eines Wirtschaftsaufschwungs auch eine kurzfristige, aber starke Wirkung auf diejenigen Arbeitnehmer, die nicht arbeitslos sind. Diese Beschaftigten sind in dieser Situation einer zunehmenden Arbeitsintensitat und Arbeitsplatzbelastung (Job Strain) ausgesetzt (Brenner 2005, anstehende Veroffentlichung). Die Literatur zu beruflichem Stress zeigt,
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dass eine solche Zunahme der Arbeitsanforderungen in Kombination mit verminderter Kontrolle der Beschaftigten iiber die Arbeit - beides haufig indirekte Effekte der hohen Arbeitslosenrate - wichtige Ursachen fur haufigere Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen sind. Die Literatur ist auch eindeutig bezuglich der Relevanz von Arbeitslosigkeit fur Substanzmissbrauch - insbesondere Alkohol. Es wird angenommen, dass der Gebrauch psychotroper Substanzen von Arbeitslosen in einem starkem Mafi mit dem Vorhandensein einer Depression in Zusammenhang steht. In diesem Zusammenhang ist der Substanzmissbrauch als Reaktion auf Depression bzw. Angst von grofier Bedeutung fur mogliche Folgen wie Betriebs- und Verkehrsunfalle, Gewalttatigkeit und Suizide. Der grofite Teil der relevanten Literatur zu Arbeitslosigkeit und Gesundheit bewertet den Suizid als den wichtigsten Ergebnisparameter. Die Literatur iiberzeugt durch die Darstellung gleich bleibender Ergebnisse iiber viele Jahre hinweg, die fur mehrere Industrienationen belegen, dass konjunkturelle und strukturelle Arbeitslosigkeit zu einem Ansteigen der Suizidraten fuhrt. Der Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Depression - mit seinen vielfaltigen Manifestationen - ist durch epidemiologische Studien und makrookonomische Analysen hinreichend belegt. Vor diesem Hintergrund lasst sich in der nationalen Wirtschaftspolitik eindeutig wissenschaftlich fundiertes Potenzial fur Krankheitspravention und Gesundheitsforderung identifizieren.
• Epidemiologische Studien der letzten zwei Jahrzehnte weisen ubereinstimmend darauf hin, dass Arbeitslosigkeit generell die Haufigkeit von Depressionserkrankungen in einer Bevolkerung erhoht. • Jiingste, methodisch ausgereifte Studien zur Beziehung zwischen Arbeitslosigkeit und Depression zeigen, dass obwohl bestehende Depressivitat die Wahrscheinlichkeit arbeitslos zu werden erhoht, auch die Arbeitslosigkeit selbst zu einer Zunahme depressiver Storungen und einer Verschlechterung der korperlichen und seelischen Gesundheit fuhrt.
Arbeitslosigkeit
181
• Arbeitslosigkeit hat einen wichtigen Einfluss auf bereits eingeschrankte korperliche und seelische Gesundheit sowie Suizidraten. Ein hierfur verantwortlicher Mechanismus ist die Auswirkung der Arbeitslosigkeitsrate auf Arbeitsstress und Arbeitsplatzsicherheit. Ein zweiter Mechanismus betrifft die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf den Verlust von Arbeitsplatz-Status und Unterbeschaftigung im Falle einer Wiederbeschaftigung. Ein dritter Mechanismus umfasst den Einfluss der Arbeitslosigkeit auf (1) das schrittweise Abdriften aus dem Arbeitsmarkt von im Prinzip erwerbsfahigen Personen, (2) Belastung der sozialen Beziehungen und (3) potenzielle Armut. Arbeitslosigkeit geht gewohnlich mit einem Anstieg des Substanzmissbrauchs, insbesondere von Alkohol einher. Dieser Anstieg basiert auf einem hoheren Angstniveau und anderen negativen Gesundheitsfolgen der Arbeitslosigkeit. Im zeitlichen Verlauf ist die statische Beziehung zwischen Arbeitslosenrate und Suizidrate auf nationaler Ebene am eindeutigsten belegt. Diese Beziehung kann in mehreren industrialisierten Landern selbst in den letzten 10 bis 15 Jahre beobachtet werden. Beispiele fur diese Beziehung konnen sowohl graphisch als auch rechnerisch nachgewiesen werden. Der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Suizidalitat besteht auch dann weiter, wenn fur den Einfluss von anderen standardisierten wirtschaftlichen Indikatoren, Alkoholkonsum und die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen kontrolliert wird.
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Kapitel 9
9
Frauen
Christine Kuhner, Mannheim Betrachtet man die Verbreitung psychischer Storungen in der Bevolkerung, so zeigen die epidemiologischen Daten, dass diese in ihrer Gesamtheit in beiden Geschlechtern annahernd gleich verteilt sind. Uber alle Storungen hinweg liegen die ermittelten Lebenszeitpravalenzen im Bereich von 30% bis 60%, und diese Zahlen sind ganz ahnlich ftir Manner und Frauen (z.B. Ernst 2001). Deutliche Geschlechtsunterschiede finden sich dagegen in der Haufigkeit spezifischer psychischer Storungen. Wahrend bei den Frauen affektive Storungen, Angststorungen, Essstorungen und somatoforme Storungen iiberwiegen, haben Manner konsistent hohere Raten an Substanzmissbrauch und -abhangigkeit, antisozialer Personlichkeit und Storungen der Impulskontrolle (Kessler et al. 2005). Unipolar depressive Storungen zahlen nun zu denjenigen psychischen Erkrankungen, bei denen eine ausgepragte Haufigkeitsdifferenz zuungunsten der Frauen besteht. Im vorliegenden Beitrag wird ein Uberblick iiber aktuelle Befunde hierzu gegeben und es werden Erklarungshypothesen fur die hohere Depressionspravalenz von Frauen diskutiert. 9.1
Aktuelle epidemiologische Evidenzen zu Geschlechtsunterschieden bei Depressionen
In den letzten Jahren wurde eine Reihe methodisch anspruchsvoller Bevolkerungsstudien und Studien im primaren Versorgungsbereich durchgefuhrt, die bereits fruhere Befunde fur ein erhohtes Vorkommen unipolarer Depressionen bei Frauen bestatigen (zsf. Kuhner 2003). Eine Auswahl der wichtigsten Studien ist in Tabelle 9.1 aufgefuhrt. Aktuelle Reprasentativdaten aus der deutschen Bevolkerung stammen aus dem Bundesgesundheitssurvey von 1998/99 (Wittchen et al. 2000). Danach betrug die Punktpravalenz unipolar depressiver Storungen bei Frauen 7,8%, bei Mannern 4,8%. Frauen waren im Erwachsenenalter in alien Altersstufen von der Erkrankung haufiger betroffen, die geschatzte Lebens-
192
Christine Kuhner, Mannheim
zeitpravalenz betrug fur sie 25% gegeniiber 12% fur die Manner. Eine Studie an iiber 20.000 hausarztlichen Patienten (Jacobi et al., 2002) lieferte insgesamt hohere Pravalenzraten, hier lag die Punktpravalenz depressiver Episoden bei den Mannern bei 8,7%, bei den Frauen bei 13,0%.
Tabelle 9.1: Bevolkerungsstudien zur Pravalenz der Depression Studie/Autoren
Land
Alter
nn «
USA
15-54
8.000
Diagnose Kriterium
M %
F %
Sex Ratio
MDD
12.7
21.3
1.7
Dysthymie
4.8
8.0
1.7
k.A.
k.A.
k.A.
MDD
10.9
20.1
Dysthymie
3.8
8.9
1.8 2.3
13.8
26.1
1.9
4.4
11.5
2.6
11.9
24.5
2.1
DE
5.2
7.9
1.5
Dysthymie
0.8
1.0
1.3
8.7
13.0
1.5
7.6
14.9
2.0
i.5
18.2
1.9
k.A.
k.A
1.7
Erwachsene NCS Kessler et al. 19941 Weissman et al. 19961
weltweit
18+
38.000
DSM-III-R
DSM-III-R MDD
NEMESIS
NL
18-65
7.000
Bijl et al. 19981 WHO-PPGHC
weltweit
18-65
25.900
Kanada
18+
1.400
Maier et al. 19991 Murphy etal.2000 1
DSM-III-R
ICD-10 DE DSM-III-R MDD
BGS 89/99, Wittchen
Deutsch-
et al. 20001
land
ODIN
Europa
18-65
4.200
Dep.Storungen3 18-64
8.700
Ayuso-Matero et al. 2001
1
Depression 2000
DSM-VI
15+
20.400
Jacobi et al 2002 i 5
ICD-10
ICD-10 DE
DEPRES Angst et al. 2002a1>6
Europa
16+
78.000
DSM-IV MDD
ESEMeD
Europa
18+
21.400
Affektive St.
Alonso et al. 2004 ' NCS-R Kessler et al. 20031 Tabelle wird fortgesetzt
DSM-IV
USA
18+
9.100
DSM-IV MDD
Frauen
193 Land
Studie/Autoren
Alter
n n
Diagnose Kriterium
Sex Ratio
M
F
%
%
MDD
15.2 1.7
31.6 4.1
2.1
Dysthymie
10.5
20.6
2.0
14,1
27.5
2.0
MDD
5.4
8.0
1.5
Dysthymie
1.1
2.3
2.1
Jugendliche USA
OADP
15-19
1.700
1
Lewinsohn et al, 1993 NCS
USA
15-24
1.700
Kessler und Walters 19981 DMHDS
Australien
18
1.000
14-17
1.300
Olsson und v. Knorring Schweden 16-17 19991
DSM-III-R MDD
Oldehinkel et al. 19991 2.300
2.4
DSM-III-R MDD
Hankin et al, 19981 EDSP
DSM-III-R
DSM-IV
DSM-III-R
11.5 4.1 2.8 NCS (-R) = National Comorbidity Survey (Replication). NEMESIS = Netherlands Mental Health Survey and Incidence Study. NL: Niederlande. BGS = Bundesgesundheitssurvey 1998/99. WHO PPGHC = World Health Organization Study of Psychological Problems in General Health Care. ODIN = Outcomes of Depression International Network. DEPRES = Depression Research in European Society. OADP = Oregon Adolescent Depression Project. NCS = National Comorbidity Survey. DMHDS = Dunedin Multidisciplinary Health and Development Study. EDSP = Early Developmental Stages of Psychopathology Study. MDD = Major Depression. DE = Depressive Episode. MDD
'Lebenszeitpravalenz. 2Ungewichteter Median uber 10 Studien. 'einschl. depressive Episoden, Dysthymie und bipolare Storungen. 4Punktpravalenz (<= 4 Wochen). 5Fragebogendiagnose (ICD-10Kriterien). 612-Monats-Pravalenz
Ein ahnliches Bild liefern eine Reihe internationaler Studien (vgl. Tabelle 9.1). Weissman et al. (1996) publizierten Ergebnisse einer weltweiten multizentrischen Studie aus zehn Landern mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund. Wahrend die Absolutraten depressiver Erkrankungen zwischen den einzelnen Landern deutlich variierten, waren in alien Landern die Depressionsraten der Frauen hoher als die der Manner, wenn auch mit unterschiedlicher Deutlichkeit. Vergleichbare Ergebnisse fand eine multizentrische WHO-Studie im Allgemeinarztsetting, an der weltweit 15 Zentren aus unterschiedlichen Kulturkreisen teilnahmen (Gater et al. 1998, Maier et al. 1999, Tabelle 9.1). Diese beiden grofien multizentrischen Studien machen deutlich, dass hohere Erkrankungsraten von Frauen in unterschiedlichen kulturellen bzw. ethnischen Kontexten und in Gemeinde- wie in Behandlungssettings identifizierbar sind.
194
Christine Kuhner, Mannheim
Studien an Kindern und Jugendlichen zeigen, dass die Depressionsraten von Jungen und Madchen erst wahrend der Pubertat auseinanderdriften. In der Vorpubertat sind - bei insgesamt niedriger Pravalenz - Jungen mindestens so haufig betroffen wie Madchen (Essau & Petermann 1995). In der mittleren Pubertat steigen die Raten insgesamt an, jedoch mit starkerem Anstieg bei den Madchen (z.B. Hankin et al. 1998, Oldehinkel et al. 1999). Entsprechende Studien legen nahe, dass 3-15% der Jungen und 1132% der Madchen bis zum jungen Erwachsenenalter bereits mindestens eine depressive Episode durchlaufen haben (vgl. Tabelle 9.1). Wahrend einzelne Untersuchungen in hoheren Altersgruppen (ab etwa 55 Jahren) eine erneute Annaherung der Depressionsraten von Mannern und Frauen fanden (Bebbington et al. 2003), wird dies durch andere Arbeiten nicht bestatigt (Beekman et al. 1999, Cairney & Wade 2002). Bereits friihere Studien zeigten mehrheitlich einen Trend zur Zunahme unipolarer Depressionen in jiingeren Geburtskohorten (zsf. Fombonne 1998). Dieser Trend wird anhand der neueren Arbeiten indirekt bestatigt (z.B. Kessler et al. 1994, 2003, 2005, Murphy et al. 2000, Sandanger et al. 1999). Weitgehend Einigkeit besteht dariiber, dass dieser Trend weder durch Artefakte noch durch genetische Faktoren erklarbar ist, als mogliche Ursachen werden soziale Veranderungen, wie zunehmende Urbanisierung, hohere Mobilitat und der damit zusammenhangende Verlust an sozialen Bindungen genannt. Eine offene Frage ist, ob sich parallel zu dieser Zunahme die Depressionsraten von Mannern und Frauen in jiingeren Geburtskohorten annahern. Die in Tabelle 9.1 gelisteten Studien an Jugendlichen sprechen gegen eine solche Annaherung, noch immer liegt hier das mittlere Geschlechterverhaltnis bei ca. 2:1. Dariiber hinaus wird aus den beiden grofien in den USA durchgefuhrten National Comorbidity Surveys (Kessler et al., 1994, 2005) berichtet, dass der beobachtete systematische Anstieg der Depressionsraten iiber aufeinanderfolgende Geburtskohorten nicht mit einer Reduzierung des Gender Gap einherging. Wahrend die Evidenz fur hohere Inzidenzraten depressiver Storungen bei Frauen gut gesichert ist, weist eine Mehrzahl von Studien auch in Richtung eines ungiinstigeren Krankheitsverlaufs im Sinne hoherer Ruckfallraten hin (zsf. Kuhner 2003). Solche Verlaufsaspekte konnen die hohere Depressionspravalenz der Frauen insgesamt jedoch nicht ausreichend erklaren, diese ist hauptsachlich durch deren hohere Erkrankungsrate bedingt. Der Geschlechtsunterschied in den Depressionsraten steigt mit der Zahl der Kriteriensymptome fur Depression. So ist das Geschlechterverhaltnis
Frauen
195
(sex ratio) bei unterschwelligen Depressionen kleiner oder ausgeglichen, wahrend es beim Vorliegen vieler bzw. aller Kriteriensymptomen am hochsten ist (Angst et al. 2002a, Maier et al. 1999). Einige Studien berichten, dass sich die sex ratio wieder reduziert, wenn als zusatzliches Mafi die psychosoziale Funktionsfahigkeit herangezogen wird. So waren Depressionen mit schwerer psychosozialer Einschrankung in der WHO-Studie (Maier et al. 1999) bei Mannern und Frauen ahnlich haufig, und Manner nannten bei gleicher Symptombelastung deutlichere Funktionseinschrankungen in den Alltagsfunktionen (Angst et al. 2002a, Bebbington et al. 2000). Andere Studien konnten dies allerdings nicht bestatigen (Klose & Jacobi 2004). 9.2
Geschlechtsunterschiede in Symptomatik und Komorbiditat
Die hoheren Erkrankungsraten von Frauen beschranken sich auf die unipolaren Depressionen. Bei den bipolaren Storungen, bei denen sich depressive mit manischen oder hypomanischen Phasen abwechseln, fmden sie sich nicht. Hier zeigen sich jedoch Unterschiede in Symptomatik und Verlauf. So haben bipolare Frauen haufiger depressive oder gemischte Episoden, bipolare Manner dagegen haufiger manische Phasen oder reine Manien, und im Krankheitsverlauf entwickeln Frauen haufiger Rapid Cycling mit schnellem Wechsel depressiver und manischer Phasen (zsf. Kuhner 2003). Depressive Frauen leiden haufiger als depressive Manner unter korperlichen Symptomen wie Energieverlust, Miidigkeit, Schlaf- und Appetitstorungen und Verlangsamung (Kessler et al. 1994, Maier et al. 1999, Marcus et al. 2005, 2002, Szadoczy et al. 2002). Im vegetativen Bereich sind atypische Symptome wie Appetitsteigerung, Gewichtszunahme und vermehrter Schlaf haufiger (Angst et al., 2002b, Marcus et al. 2005, Matza et al., 2003), wie auch angstliche Symptomatik, Weinen und unspezifische korperliche Beschwerden und Schmerzen (Angst et al. 2002a,b, Lewinsohn et al. 2003, Marcus et al. 2005, Matza et al. 2003, Szadoczy et al. 2002, Silverstein 2002). Komorbide psychische Storungen beeinflussen den Krankheitsverlauf von Depressionen ungtinstig. Psychiatrische Komorbiditat ist assoziiert mit hoherer Symptomschwere, grofieren psychosozialen Einschrankungen und vermehrter medizinischer Inanspruchnahme (Kessler et al.1994, 2005). Frauen haben hohere Komorbiditatsraten psychischer Storungen als Man-
Christine Kiihner, Mannheim
196
ner (Bijl et al. 1998, Kessler et al. 1994, 2005). Depressive Manner und Frauen unterscheiden sich auch in der Art komorbider Storungen. Bei Frauen iiberwiegen hier die Angststorungen, bei Mannern Alkohol- und Drogenmissbrauch bzw. -abhangigkeit (de Graaf et al. 2002). Jedoch ist das Risiko, auf eine Depression hin Substanzmissbrauch oder -abhangigkeit zu entwickeln, bei Frauen ahnlich hoch (Maier et al. 1999) oder gar hoher als bei Mannern (de Graaf et al. 2002). In der zeitlichen Abfolge berichten Manner haufiger als Frauen iiber sekundare Depressionen im Gefolge von Storungen aufgrund psychotroper Substanzen, Frauen haufiger als Manner iiber sekundare Substanzstorungen als Ausdruck dysfunktionaler Coping-Strategien im Umgang mit der depressiven Symptomatik (vgl. Dixit & Crum 2000).
9.3
Mogliche Ursachen fur die hoheren Depressionsraten von Frauen
Neue Forschungsansatze zur Klarung des Geschlechtsunterschieds in der Depressionshaufigkeit befassen sich zum einen mit Artefakthypothesen, zum anderen mit moglichen genetischen, hormonellen, personlichkeitsbedingten und psychosozialen Einflussfaktoren. Sie werden im Folgenden iiberblicksartig diskutiert.
9.3.1
Artefakte
Im Bereich der Artefaktforschung wird u.a. ein geschlechtsspezifisches Hilfesuchverhalten diskutiert. Vergleicht man jedoch die Ergebnisse aus Bevolkerungsstudien (z.B. Weissman et al., 1996) mit solchen aus Inanspruchnahmepopulationen (z.B. Maier et al., 1999), so spricht die Tatsache, dass das Geschlechterverhaltnis fur die Erkrankungsraten in beiden Settings ganz ahnlich ist, gegen die Annahme, dass es sich bei den hoheren Depressionsraten von Frauen hauptsachlich um einen Hilfesuchartefakt handelt. Auch die Erkennungsrate depressiver Episoden durch den behandelnden Arzt sind fur betroffene Manner und Frauen ahnlich, allerdings erhalten etwas mehr nur unterschwellig depressive Frauen eine arztliche Depressionsdiagnose (Gater et al. 1998). Ein weiteres Argument nimmt an, dass Frauen aufgrund von Geschlechtsrollenstereotypen mehr Bereitschaft zeigen, depressive Symptome zuzugeben, wahrend dies fur Manner als stigmatisierend erlebt wird. So wurde bei Alkoholscreenings gefunden, dass Manner eher bereit waren, Alkoholprobleme anzusprechen und eine psychiatrische Etikettierung furchteten, wahrend Frauen eher emotionale
Frauen
197
Probleme nannten und besorgt waren, als Trinkerin etikettiert zu werden (Allen et al. 1998). Jedoch wird aus Bevolkerungsstudien berichtet, dass Frauen nicht wesentlich haufiger als Manner die eher stigmatisierenden depressiven Kernsymptome (Traurigkeit, Anhedonie) nennen, sondern vielmehr korperlich-vegetative Symptome (zsf. Kessler 2003). Der Hypothese, dass Manner sich erst bei hoherer Symptombelastung behandeln lassen, sprechen Beobachtungen entgegen, dass diese zu Behandlungsbeginn i.d.R. keine ausgepragtere Symptomatik aufweisen (Kiihner 1999, Marcus et al. 2005). Auch ist der Krankheitsverlauf behandelter Manner nicht ungtinstiger als der von Frauen (Kuhner 1999, 2003), was zu erwarten ware, wenn die Krankheit zu Behandlungsbeginn ausgepragter oder bereits chronifizierter ware. Neuere Untersuchungen widersprechen auch der Recall-Artefakthypothese, die eine bessere Erinnerungsbereitschaft fur negative affektive Zustande bei Frauen als eigentliche Ursache fur deren hohere Depressionsraten postuliert (Kendler et al., 2001; Klose & Jacobi, 2004, Kuhner, 1999). Ein weiteres Argument richtet sich auf einen moglichen Geschlechtsunterschied im symptomatischen Ausdruck von Depression. In diesem Zusammenhang wird kritisiert, dass die gangigen Diagnosesysteme (ICD-10, DSM-IV) „weibliche" Depressionssymptome (z.B. Niedergeschlagenheit, Anhedonie) gegeniiber „mannlichen" Symptomen (z.B. Reizbarkeit) favorisieren. Allerdings weisen in klinischen und nichtklinischen Studien Frauen ahnlich hohe oder gar hohere Reizbarkeitswerte auf als Manner (z.B. Lewinsohn et al. 2003, Perlis et al. 2005). Unbefriedigend bleiben auch Erklarungsansatze, die versuchen, die erhohten Alkoholismusraten von Mannern als Ausdruck maskierter Depression zu interpretieren. Zum einen sprechen genetische Untersuchungen gegen einen solchen Zusammenhang (Merikangas et al. 1994, Kendler et al. 2003), zum anderen waren mit demselben Argument auch andere Erkrankungen als maskierte Depression zu bezeichnen, die wiederum bei Frauen haufiger auftreten und damit den Gender Gap nicht vermindern wiirden (z.B. Angst- oder Essstorungen, vgl. Murakumi 2002). Zusammenfassend betrachtet, sind geschlechtsspezifische Artefakte bei der Benennung und Erkennung von Depressionen zu beriicksichtigen, ihre Effekte sind jedoch insgesamt zu klein, um das deutliche Uberwiegen der Depressionen bei Frauen zu erklaren. Wir mussen vielmehr davon ausgehen, dass es sich hierbei um ein reales Phanomen handelt.
198
Christine Kuhner, Mannheim
9.3.2 Genetische Faktoren Das genetische Risiko fur die Entwicklung einer Depression ist nach derzeitigem Forschungsstand fur beide Geschlechter vergleichbar (Sullivan et al. 2000). Allerdings scheinen sich die genetischen Effekte bei Mannern und Frauen nicht vollstandig zu iiberlappen. Dies wird u.a. dadurch erklart, dass unterschiedliche psychopathologische „Pathways" zur Depressionsentstehung beitragen. Bei Depressionen im Gefolge anderer Erkrankungen fuhren diese Pfade bei Mannern eher liber externalisierende, bei Frauen eher iiber internalisierende Syndrome. Diese Primarstorungen sind selbst wiederum mit erhohtem genetischem Risiko belastet (Kendler 1998). Studien zu Gen-Umwelt-Interaktionen als mogliche Ursachen der hoheren Depressionsraten bei Frauen stehen noch am Anfang, bisherige Ergebnisse sind nicht vollig konsistent. So fand Silberg et al. (1999), dass genetische Faktoren die Vulnerabilitat fur depressiogene Lebensereignisse bei postpubertalen Madchen erhohten, nicht aber bei prapubertalen Madchen und bei Jungen. Molekulargenetische Untersuchungen am Serotonin-(5-HTT) Transportergen zeigten, dass Personen mit bestimmten Varianten dieses Gens besonders vulnerabel auf Umweltstress reagieren. Wahrend Caspi et al. (2003) und Kendler et al. (2005) keine diesbezuglichen Geschlechtsunterschiede berichten, fanden zwei weitere Arbeiten, dass diese Interaktion bei adoleszenten Madchen (Eley et al. 2004) und Frauen (Grabe et al. 2005) deutlicher war als bei Jungen und Mannern. 9.3.3 Hormonelle Faktoren Ergebnisse zum direkten Einfluss von Hormonen auf das Auseinanderdriften der Depressionsraten wahrend der Pubertat sind derzeit uneinheitlich. Studien zeigten, dass der Pubertatsstatus von Madchen eher mit Depressivitat korreliert als das chronologische Alter (Angold et al 1998; Patton et al. 1996), und eine Arbeit fand eine direkte Beziehung zwischen dem Anstieg von Geschlechtshormonen und negativem Affekt bei Madchen (Angold et al. 1999). Andere Studien lieferten dagegen negative Befunde (zsf. Hankin & Abramson, 2001), und bestimmte Phanomene adoleszenter Depressionen lassen sich mit einfachen hormonellen Modellen nicht iiberzeugend erklaren. So haben Madchen mit fruh einsetzender Menarche besonders hohe Depressionswerte (Ge et al. 2001), und der Zusammenhang zwischen Pubertatsstatus und Depressivitat ist nicht gleichermafien eng in unterschiedlichen Kulturen und ethnischen Gruppen (Hayward et al. 1999). Schliefilich ist das Ausdifferenzieren der Geschlechtsrollen in der Adoles-
Frauen
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zenz („gender intensification", Wichstrom 1999) fur Madchen mit mehr psychischem Stress verbunden als fur Jungen, was sich z.B. in der Unzufriedenheit mit dem eigenen Korperbild und haufigeren interpersonellen Belastungen widerspiegelt. Beide Phanomene sind bei Madchen enger mit Depressivitat assoziiert als bei Jungen. Eine rein hormonelle Erklarung wiirde auch die unterschiedlichen sozialen und kulturellen Reaktionen auf die korperlichen Veranderungen von Jungen und Madchen vernachlassigen, die in dieser Ubergangszeit spezifische Umweltstressoren darstellen (z.B. kulturell vorgegebenes Schlankheitsideal fur Frauen). Elaborierte Entwicklungsmodelle beriicksichtigen entsprechend - wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung - das Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren, um den Anstieg der Depressionsraten von Madchen in der Adoleszenz zu erklaren (z.B. Cyranowsky et al. 2000; Hankin & Abramson 2001; Nolen-Hoeksema & Girgus, 1994). Zur Haufigkeit des pramenstruellen dysphorischen Syndroms (PDS) werden in retrospektiven Befragungen haufig deutliche Uberschatzungen angegeben. Eine methodisch gut kontrollierte prospektive Studie an mehreren tausend Frauen fand eine zyklusabhangige Vulnerabilitat fiir ausgepragte affektive Symptome mit einer Pravalenz von ca. 1% (Ramcharan et al. 1992). Andere Autoren berichten von einer mittleren Pravalenz von etwa 5% (Landen & Ericksson 2003). Es wird angenommen, dass es sich hierbei um eine erhohte Sensibilitat fiir Veranderungen der Ostrogen- und Progesteronkonzentrationen handelt. Inzwischen wird empfohlen, das PMD nicht als Variante depressiver Storungen, sondern als eigenstandige diasgnostische Kategorie zu betrachten, da sowohl die Leitsymptome (Reizbarkeit und Affektlabilitat) wie auch die Wirklatenz der Medikation sich von denen bei der Depression deutlich unterscheiden (Landen & Eriksson 2003). Ca. 30-70% entbindender Frauen erleben in den ersten Tagen nach der Entbindung den sogenannten Postpartum Blues mit milden depressiven Symptomen, die in der Regel nach 1-2 Wochen wieder abklingen und nicht als psychopathologisch gewertet werden. Ca. 0,1% - 0,2% der Mutter entwickeln schwere Wochenbettpsychosen mit Wahn und Halluzinationen. Hierbei handelt es sich jedoch hauptsachlich um manisch-depressive Psychosen, und das Ruckfallrisiko ist fur Frauen mit bipolarer Stoning deutlich erhoht (Brockington 2004). Die Entwicklung nichtpsychotischer Postpartum-Depressionen (PPD), die die Kriterien einer depressiven Episode erfullen, betrifft dagegen ca. 13% aller entbindenden Frauen (O'Hara & Swain 1996). Diese Rate ist - entgegen der landlaufigen Meinung - ge-
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geniiber den Depressionsraten bei nichtgebarenden Frauen im selben Alter nicht wesentlich erhoht (Brockington 2004), was gegen eine substanzielle Bedeutung hormoneller Faktoren bei der Entwicklung einer PPD spricht. Mit niedrigerer Pravalenz (ca. 5%, Ballard et al. 1994) entwickeln auch Vater postpartale Depressionen, die ahnliche Folgen wie die mutterliche PPD fur die psychische Entwicklung des Sauglings hat (Ramchandani et al. 2005). Als beste Pradiktoren mutterlicher PPD gelten Depressionen in der Vorgeschichte und wahrend der Schwangerschaft, fehlende Unterstiitzung durch den Partner und das soziale Netzwerk sowie stressvolle Lebensereignisse (Beck 2001, O'Hara & Swain 1996). Interkulturelle Beobachtungen zeigen, dass entbindende Mutter in Kulturen mit niedriger PPD-Pravalenz besonders ausgepragte soziale Unterstiitzung erfahren (Miller, 2002). Umgekehrt liegen die Raten in Landern, in denen Frauen wenig Kontrolle iiber ihre reproduktive Gesundheit haben, erschreckend hoch (ca. 23%-35%, vgl. Patel et al. 2002). Diese Befunde unterstreichen zum einen die Bedeutung psychosozialer Faktoren bei der PPD, zum anderen legen sie nahe, dass bei der weitaus uberwiegenden Zahl betroffener Frauen eine allgemeine Vulnerabilitat gegeniiber Depression vorliegt, die nicht auf die postpartale Phase beschrankt ist. Allerdings ist hier atiologische Heterogenitat zu beriicksichtigen: bei einem kleinen Teil betroffener Frauen mit postpartalem Depressionsbeginn liegt wahrscheinlich eine Ubersensitivitat gegeniiber den hormonellen Veranderungen nach der Geburt vor (Bloch et al. 2000). Fur die Pra- oder Perimenopause zeigen Langsschnittstudien an der Bevolkerung keinen disproportionalen Anstieg der Neuerkrankungsraten bei Frauen, jedoch haben Frauen mit friiheren depressiven Episoden hier ein etwas erhohtes Ruckfallrisiko (Harlow et al. 2003). Fur depressive Episoden in dieser Phase finden sich wiederum eher Zusammenhange mit psychosozialen Belastungsfaktoren als mit endokrinen Variablen (zsf. z.B. Alder, 2001). Ein wichtiger Zusammenhang besteht jedoch zwischen friiheren depressiven Episoden und dem Eintritt in die Wechseljahre. Eine Studie an knapp 1000 Frauen fand, dass Frauen mit Depressionen in der Vorgeschichte friiher in die Perimenopause kommen als unbelastete Frauen (Harlow et al. 2003). Dies bedeutet, dass durch den verlangerten hypoostrogenen Status bei betroffenen Frauen auch weitere Erkrankungsrisiken wie fur Osteoporose oder kardiovaskuare Erkrankungen erhoht sind.
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9.3.4 Primare Angststorungen Eine gewisse Bedeutung fur die unterschiedlichen Depressionsraten von Mannern und Frauen kommt dem Vorliegen primarer Angststorungen zu. Die Ergebnisse grofier Bevolkerungsstudien legen nahe, dass Angststorungen das Risiko fiir nachfolgende Depressionen bei Frauen und Mannern gleichermafien erhohen, Frauen jedoch wesentlich haufiger davon betroffen sind (Breslau et al. 1995, Parker & Hadzdi-Pavlovic, 2001; Goodwin 2002). Allerdings kann auch dieser Faktor die hoheren Erkrankungsraten von Frauen nicht vollstandig aufklaren. 9.3.5 Personlichkeitsfaktoren Im Bereich personlichkeitsbezogener Vulnerabilitatsfaktoren weisen Metaanalysen auf ein etwas geringeres Selbstwertgefuhl und weniger Selbstsicherheit bei Madchen und Frauen hin (z.B. Kling et al., 1999). Diese Unterschiede zeigen sich am ehesten in der spaten Adoleszenz, somit ist unklar, inwieweit sie bereits Folge der erhohten Depressionswerte von Madchen darstellen. Dies gilt auch fiir die hoheren Neurotizismuswerte von Frauen (Costa et al. 2001), die von aktueller Depressivitat schlecht abgrenzbar sind. Relativ konsistent finden sich Indikatoren einer starkeren interpersonellen Orientierung (Costa et al. 2001) und dispositioneller Empathie als Fahigkeit, auf die emotionalen Erfahrungen anderer zu reagieren (Nolen-Hoeksema & Rusting 1999). Solche Merkmale sind per se nicht depressiogen, sie mogen jedoch die Vulnerabilitat von Madchen und Frauen gegemiber interpersonellen Stressoren und kritischen Lebensereignissen im sozialen Netzwerk erhohen (Cyranowski et al. 2000). Eine prominente Theorie zu Geschlechtsunterschieden bei Depressionen befasst sich mit der Rolle selbstfokussierender Aufmerksamkeit in Reaktion auf depressive Verstimmungen. Die Response Styles Theorie (NolenHoeksema 1991) postuliert, dass symptombezogenes Grubeln liber Ursachen, Art und Konsequenzen solcher Verstimmungszustande zu einer Exacerbation und Verlangerung der dysphorischen Stimmung fiihrt, wahrend kognitive und verhaltensmafiige Ablenkung diese verkiirzt. Symptombezogenes Grubeln (Rumination) soil bei Frauen, Ablenkung (Distraction) bei Mannern ausgepragter sein. Fiir die postulierten Effekte ruminativen Copings und assoziierte Geschlechtsunterschiede sprechen Befunde aus Bevolkerungsstudien (Nolen-Hoeksema et al. 1999), auch finden sich Hinweise auf eine nachteilige Wirkung symptombezogener Rumination auf den Verlauf klinisch depressiver Episoden (Kiihner &
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Weber 1999). Eine hohere Ruminationstendenz von Madchen wurde bereits in der friihen Adoleszenz, d.h. vor dem Auseinanderdriften der Depressionsraten, festgestellt (Broderick 1998). Wahrend Distraction grundsatzlich positive Stimmungseffekte besitzt, besteht hier jedoch ebenfalls die Gefahr dysfunktionalen Verhaltens, z.B. durch den Konsum von Alkohol oder Drogen als Reaktion auf negative Stimmungen oder stressvolle Ereignisse. Dies konnte wiederum dazu beitragen, die hoheren Alkoholismusraten von Mannern zu erklaren (Nolen-Hoeksema & Rusting 1999). Die Response Styles Theorie erklart Geschlechtsunterschiede im Umgang mit Verstimmungen mit der Geschlechtsrollensozialisation: Jungen werden fur aktives, stimmungskontrollierendes Verhalten verstarkt, wahrend Madchen lernen, dass die Beschaftigung mit negativen Gefuhlen geschlechtstypisches Verhalten darstellt. Tatsachlich diskutieren Eltern emotionsbezogene Themen ausfuhrlicher mit Madchen, und Madchen scheinen negative Ereignisse detaillierter zu enkodieren als Jungen (zsf. Hankin & Abramson 2001). 9.3.6 Psychosoziale Stressoren Strukturelle Benachteiligungen wie Armut, geringer sozialer Status, okonomisches Ungleichgewicht und Diskriminierung wirken sich nachweislich negativ auf die psychische Gesundheit von Mannern und Frauen aus (zsf. Belle & Doucet 2003). In den meisten kulturellen Kontexten besteht hier - wenn auch in unterschiedlichem Ausmafi - noch immer ein Ungleichgewicht zuungunsten der Frauen. So konstituiert Armut einen der bedeutsamsten Risikofaktoren fur Depression. Studien aus den USA zeigen, dass allein erziehende Mutter, die in Armut leben, die hochsten Depressionsraten uberhaupt aufweisen, dabei jedoch selten eine adaquate Behandlung erhalten (Coiro 2001). Es wird angenommen, dass ein ganzes Biindel interagierender Risikofaktoren den Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung und psychischer Gesundheit erklart, dem betroffene Frauen in besonderer Weise ausgesetzt sind. Neben finanziellen Aspekten spielen hier u.a. geringes Autonomierleben, fehlende Kontrolle iiber Entscheidungsprozesse, die erhohte Wahrscheinlichkeit fur schwere unkontrollierbare Lebensereignisse (z.B. korperliche und sexuelle Gewalt, abrupte Trennungen; Bassuk et al. 1998, Brown & Moran 1997) und langdauernde chronische Belastungen (z.B. unzureichende oder unsichere Wohnverhaltnisse, alleinige Verantwortung fur Kinder, chronische Partnerkonflikte, unsicherer oder gefahrlicher Arbeitsplatz; (vgl. Belle & Doucet 2003) eine Rolle. Hinzu kommt, dass das soziale Netzwerk, das eigentlich als Stress-
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puffer und Schutzfaktor gegen Depression wirken soil (Paykel 1994), haufig zu einer weiteren Quelle von Stress und Belastung wird, da die Netzwerkmitglieder ahnlich problematischen Bedingungen ausgesetzt sind. Haufig wird der Partner nicht als unterstutzend erlebt, und chronische Partnerkonflikte und Trennungen sind haufiger (Belle & Doucet 2003). Gleichzeitig ist die Abhangigkeit vom sozialen Netzwerk grofier als bei Frauen in okonomisch stabileren Verhaltnissen, die ungiinstige Netzwerkkontakte eher beenden bzw. flexibler neue Hilfsstrukturen (z.B. beziiglich Kinderbetreuung) aufsuchen konnen. Im Einklang mit diesen Uberlegungen fanden Riley & Eckenrode (1986), dass die Reziprozitat von Unterstutzungsanforderungen, defmiert als gegenseitige Gewahrung emotionaler und instrumenteller Unterstiitzung im sozialen Netzwerk, insbesondere bei sozial benachteiligten Frauen das Depressionsrisiko erhohte (zsf. Kiihner 2001). Studien zeigen, dass das soziale Ungleichgewicht innerhalb einer Gesellschaft die korperliche und psychische Gesundheit ihrer Mitglieder negativ beeinflusst. Bei einem Vergleich der US-Bundesstaaten fanden Kahn et al. (2000) einen direkten Zusammenhang zwischen okonomischem Ungleichgewicht, gemessen auf Landerebene, und dem Depressionsrisiko von Miittern, dieser Effekt war am deutlichsten bei den armsten Frauen. Im Hinblick auf das soziale Ungleichgewicht zwischen Mannern und Frauen sind ahnliche Effekte identifizierbar. Chen et al. (2005) berechneten fur die verschiedenen US-Bundesstaaten einen Statusindex fur Frauen, zusammengesetzt aus dem Ausmafi politischer Beteiligung, okonomischer Autonomic, Berufstatigkeit, Verdienst und reproduktiven Rechten. Sie fanden, dass dieser Index, gemessen auf Landerebene, die individuellen Depressivitatswerte der Frauen in den jeweiligen Staaten vorhersagte. Geschlechtsrollenaspekte spiegeln sich in Befunden wider, wonach Verheiratetsein fur Manner protektiver gegeniiber Depressionen ist als fur Frauen (Bebbington, 1998), wahrend bei Frauen qualitative Aspekte der Partnerschaft eine grofiere Rolle spielen (Weissman 1987). Berufstatigkeit geht bei Frauen und bei Mannern mit psychischem Wohlbefinden einher. Dieser Zusammenhang ist jedoch bei verheirateten Frauen und Muttern mit Kindern im Haushalt weniger deutlich, was Auswirkungen multipler Rollenbelastungen widerspiegelt (Aneshensel 1986, zsf. Kuhner 2001). Frauen tragen auch die Hauptlast bei der Pflege alterer und kranker Angehoriger. Im Vergleich zur Allgemeinbevolkerung sind die Depressionswerte mannlicher wie weiblicher pflegender Angehoriger erhoht, bei Frauen ist dieser Zusammenhang jedoch enger. Begriindet wird die erhohte subjektive Be-
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lastung damit, dass Frauen i.d.R. friiher als Manner die Pfiegerrolle einnehmen und dadurch verstarkt Ambivalenz und multiple Rollenkonflikte erleben, dass sie sich von der emotionalen Belastungssituation schlechter distanzieren konnen und von ihrem sozialen Netz weniger Unterstutzung bei der Pflege erhalten (Morris et al. 1991). Die „Cost of Caring" Theorie (Kessler & McLeod 1984) postuliert, dass Frauen aufgrund ihrer Geschlechtsrolle haufiger mit kritischen Lebensereignissen konfrontiert werden, die ihr soziales Umfeld treffen, und auf solche Lebensereignisse eher als Manner mit Depression reagieren. Neuere Untersuchungen hierzu zeigen, dass Manner und Frauen dasselbe Risiko haben, auf belastende Lebensereignisse mit Depressionen zu reagieren, Frauen jedoch mehr kritischen Lebensereignissen ausgesetzt sind, die ihr soziales Umfeld betreffen, und gegeniiber solchen Netzwerkereignissen vulnerabler sind (zsf. Kuhner, 2003). Manner erleben jedoch andere Belastungen haufiger (z.B. im beruflichen Bereich), sie sind vulnerabler gegeniiber Trennung und beruflichen Problemen. Interessanterweise scheinen normative Rollenerwartungen den Zusammenhang zwischen kritischen Lebensereignissen und geschlechtsspezifischer Depressionsvulnerabilitat zu beeinflussen. So zeigten Nazroo et al. (1997) dass nur bei Paaren mit klarer traditioneller Rollenteilung Frauen auf familienbezogene Belastungen starker mit Depressionen reagierten als Manner. 9.3.7 Korperliche und sexuelle Gewalt Spezielle geschlechtsrelevante Stressoren stellen schliefilich korperliche, psychische und sexuelle Gewalt (z.B. Campbell, 2002; Golding, 1999) dar. All diese Formen von Gewalt sind assoziiert mit der Entwicklung von Depression, posttraumatischen Belastungsstorungen, dissoziativen Storungen, Phobien, Substanzmissbrauch und Suizidalitat (Roberts et al. 1998). Wahrend Gewalt in Partnerschaften sowohl von Mannern wie auch von Frauen ausgeht, sind Frauen als Opfer wesentlich haufiger betroffen. International schwanken die Pravalenzraten fiir hausliche Gewalt stark, fur Deutschland liegen Reprasentativdaten vor, wonach 13% der Frauen in ihrer aktuellen Partnerschaft korperliche oder sexuelle Gewalt erfahren (BMFSJ 2004). Neben psychischen sind auch neurobiologische Reaktionen infolge der traumatischen Erfahrungen zu beriicksichtigen, so wurde z.B. eine deutliche Dysregulation der endokrinen Stressaktivitat in Folge chronischer hauslicher Gewalt beschrieben (Griffin et al. 2005). Im Versorgungsbereich wird das Problem haufig iibersehen, obwohl Studien zeigen,
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dass betroffene Frauen schwerere Depressionen, hohere Komorbiditatsraten und mehr korperliche Probleme aufweisen (Scholle et al. 1998). Sexueller Missbrauch in der Kindheit ist bei Mannern und Frauen mit Depressionen und anderen psychischen Storungen im Erwachsenenalter assoziiert, Madchen sind jedoch einem ca. doppelt so hohen Missbrauchsrisiko ausgesetzt. So liegt nach einer konservativen Schatzung die Missbrauchsinzidenz bei Madchen bei 7-19% , bei Jungen bei 3-7% (Cutler & NolenHoeksema, 1991). Der Einfluss fraheren Missbrauchs auf die spatere Entwicklung einer Depression ist nach den Ergebnissen neuerer Studien additiv zum Einfluss sonstiger familiarer Risikofaktoren (Hill et al. 2001), als mogliche Mechanismen werden neben der veranderten endokrinen Stressaktivitat psychische Langzeitfolgen des Traumas im Sinne ungiinstiger kognitiver Bewertungs- und Zuschreibungsprozesse angenommen (Weiss et al., 1999). Eine dysregulierte HPA-Aktivitat auf gegenwartige Stressereignisse bei Frauen mit fruher Missbrauchserfahrung ist inzwischen gut belegt (Heim et al. 2000, Kendler et al. 2004). Der Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch in der Kindheit und Depression im Erwachsenenalter ist enger bei Frauen als bei Mannern, wahrend Jungen eher Substanzabhangigkeit und Externalisierungsstorungen in Reaktion auf das Trauma entwickeln (Garnefski & Arend 1998). In der Depressionsforschung wurde der Aspekt korperlicher und sexueller Gewalt und Missbrauch bis vor kurzem nur wenig beachtet, er ist jedoch geeignet, einen Teil der unterschiedlichen Depressionsraten von Mannern und Frauen zu erklaren. 9.4
Zusammenfassung
Unipolare Depressionen bezeichnen eine Gruppe von Storungen mit multifaktoriellen Entstehungsbedingungen, die biologische, intrapsychische und soziale Faktoren einschliefien. Nach derzeitigem Wissensstand sind nicht alle akzeptierten allgemeinen Risikofaktoren fur unipolare Depressionen auch gleichermafien geeignet, die hoheren Depressionsraten von Frauen zu erklaren. Dies trifft z.B. auf die Rolle genetischer Faktoren zu, die fur Manner und Frauen ahnlich wichtig sind. Bisher ist es auch nicht gelungen, die erhohten Depressionsraten von Frauen anhand einfacher hormoneller Modelle plausibel zu erklaren. Unter epidemiologischer Perspektive ist die Haufung depressiver Episoden in Zeiten hormoneller Umstellungsphasen zu klein, um die Geschlechtsdifferenzen zu erklaren. Hinzu kommt, dass in den entsprechenden Studien gehauft psychosoziale
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Stressfaktoren identifiziert wurden, deren Effekte auf die Entwicklung von Depressionen nachgewiesen sind. Allerdings ist anzunehmen, dass ein kleiner Teil betroffener Frauen vulnerabel auf normale Schwankungen der hormonellen Aktivitat reagiert. Relativ konsistent sind verschiedene intrapsychische und psychosoziale Faktoren identifizierbar, die geeignet sind, zur Erklarung des hoheren Depressionsrisikos von Frauen beizutragen, und die mit der sozialen Situation von Frauen und deren Geschlechtsrolle im Zusammenhang stehen. Soziales Ungleichgewicht bildet den Hintergrund fur spezifische Benachteiligungen und psychosoziale Belastungen, die fur beide Geschlechter das Depressionsrisiko erhohen, denen Frauen jedoch haufiger ausgesetzt sind. Hierzu zahlen Armut, Fehlen von Macht, Status und Anerkennung, potenzielle Rolleniiberlastung und sexueller Missbrauch. Damit verbundene Geschlechtsrollenaspekte spielen eine Rolle hinsichtlich assoziierter intrapsychischer Prozesse, wie interpersonale Orientierung, dispositionale Empathie, erhohte Angstlichkeit, verminderte Selbstsicherheit und ruminatives Griibeln. Auch das Zusammenspiel korperlicher Veranderungen, intrapsychischer Verarbeitung und sozialer Reaktionen beim Auseinanderdifferenzieren von Geschlechtsrollen in der Adoleszenz und die erhohte Verletzbarkeit von Frauen gegeniiber interpersonellen und Netzwerkstressoren lassen sich hier einordnen. Indem geschlechtsspezifische Sozialisationsprozesse Erlernen, Erleben und Ausrichtung emotionaler Reaktionen im Hinblick auf den Umgang mit negativen Stimmungen und Stressoren beeinflussen, tragen sie auch zur Erklarung der unterschiedlichen Risiken fur die Entwicklung internalisierender und externalisierender Storungen von Frauen und Mannern bei. Abschliefiend gilt es zu bedenken, dass bestimmte Risikofaktoren in verschiedenen Lebensabschnitten - ebenso wie in unterschiedlichen kulturellen Kontexten - mit unterschiedlicher Akzentuierung wirksam sind, um die hoheren Depressionsraten von Frauen zu erklaren. Schliefilich lasst sich aus den bisherigen Uberlegungen ableiten, dass gesellschaftliche Veranderungen im Hinblick auf soziales Ungleichgewicht und Geschlechtsrollenstereotypen sich auch in einer Veranderung des Geschlechterverhaltnisses in der Haufigkeit psychischer Storungen abbilden sollten.
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Frauen erkranken ca. doppelt so haufig an Depressionen wie Man ner. Hohere Depressionsraten von Frauen zeigen sich in Gemeinde- und Behandlungsstudien sowie in unterschiedlichen kulturellen Settings. •
Geschlechtsunterschiede bestehen auch in Symptomatik, Komorbiditat und Krankheitsverlauf. Erklarungsansatze fur die unterschiedlichen Depressionsraten von Mannern und Frauen schliefien genetische, hormonelle, personlichkeitsbezogene und soziale Faktoren ein. Derzeit plausibelste Erklarungen befassen sich mit Risikofaktoren, die soziale Ungleichheit und Aspekte der Geschlechtsrollen von Frauen und Mannern beriicksichtigen.
•
Gesellschaftliche Veranderungen beziiglich dieser Faktoren sollten sich auch in einer Veranderung des Gender Gaps in der Haufigkeit von Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen in der Bevolkerung abbilden.
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KapitellO
10
Manner
Anne Maria Moller-Leimkuhler, Munchen
10.1
Das Geschlechterparadox bei Depression und Suizid
Zahlreiche epidemiologische Untersuchungen belegen, dass Frauen im Vergleich zu Mannern ein zwei- bis dreimal hoheres Risiko haben, im Laufe ihres Lebens an einer unipolaren Depression zu erkranken (Kessler et al. 1993; Weissman et al 1994). Lasst sich daraus schliefien, dass Manner tatsachlich ein geringeres Depressionsrisiko haben? Die folgenden Fakten wurden diese Hypothese unterstiitzen: •
der positive Zusammenhang zwischen Berufsrolle, traditionell zur Normalbiographie von Mannern gehorend, und psychischer Gesundheit (Mirowskyund Ross 1995),
•
keine vergleichbare Doppelbelastung durch Berufs- und Familienarbeit bei Mannern
•
die biologische Differenz: kein weiblicher Zyklus
•
das geringere Korperbewusstsein und die hohere Symptomtoleranz von Mannern (Shields et al. 1989)
•
das geringere Krankheitswissen von Mannern (Verbrugge 1989)
•
die geringere Medikalisierung des mannlichen Korpers (Kolip und Glaeske 2002)
•
die geringere Psychologisierung mannlicher Beschwerden (Conen und Kuster 1988)
•
der externale Attributionsstil und selbstwertsteigernde Copingstrategien von Mannern (Syme 1989)
•
der geringere Neurotizismus von Mannern (Jorm 1987)
216
Anne Maria Moller-Leimkuhler, Miinchen
•
die negative Korrelation zwischen Maskulinitat und Angstlichkeit sowie Depressivitat (Gallacher und Klieger 1995)
•
die positiven Effekte der Ehe, die bei Mannern starker ausgepragt sind als bei Frauen (Kiecolt-Glaser und Newton 2001).
Diese Liste kollektiver Privilegiertheiten von Mannern verliert allerdings an argumentativer Bedeutung, wenn die Suizidrate der Manner herangezogen wird. Diese ist mindestens dreimal hoher als die der Frauen (vgl. Abb. 10.1), obwohl bei Mannern nur halb so haufig eine Depression diagnostiziert wird.
Abb. 10.1: Anzahl der Suizide in Deutschland nach Alter und Geschlecht im Jahr 2000 Neuere Daten des NIMH (1999) belegen, dass mehr als 90% aller Suizide unmittelbare Folge einer psychischen Erkrankung sind (affektive Storungen, Substanzmissbrauch, Schizophrenic). Selbst wenn nicht jeder Suizid mit Depression einhergeht, verweist dies eindeutig darauf, dass Depressionen bei Mannern haufig unerkannt bleiben und nicht behandelt werden. Dies wird durch internationale Bevolkerungsstudien bestatigt (Wittchen et al. 1999, Lefebvre et al. 1998).
Manner
217
Welche Griinde sind fur die nachweisliche Unterdiagnostizierung und Unterbehandlung depressiver Manner entscheidend? Aus soziologischer Perspektive erscheinen drei Ursachen wesentlich: eine mangelnde Hilfesuche, dysfunktionale Stressverarbeitungsmuster und ein Gender-bias in der Depressionsdiagnostik. Der gemeinsame Nenner dieser Faktoren ist das historisch/gesellschaftliche Konstrukt der traditionellen Maskulinitat. Dies schliefit die Erkrankung an einer Depression bei Mannern normativ aus, erzwingt ihre Maskierung und leistet damit der sog. „mannlichen Depression" Vorschub. Zum besseren Verstandnis der Thematik folgen zunachst einige grundsatzliche Uberlegungen zum Zusammenhang zwischen Geschlechtsnormen und psychischer Erkrankung/Diagnose.
10.2
Geschlechtsrolle, Geschlechterstereotype und Risiko einer psychiatrischen Diagnose
Auch wenn das biologische Geschlecht („sex") Aspekte geschlechtsspezifischen Verhaltens bedingen mag, legt es keineswegs das gesamte geschlechtsspezifische Verhaltensrepertoire fest. Trotzdem dient die Geschlechtszugehorigkeit als Bezugspunkt fur soziale Konstruktionen von Weiblichkeit und Mannlichkeit qua Geschlechtsrolle (,.gender"). Diese umfasst die kulturell vorherrschenden Erwartungen und sozialen Normen, die festlegen, welche Fahigkeiten, Personlichkeitseigenschaften, Einstellungen, Gefuhle und Verhaltensweisen fur eine Frau und fur einen Mann typisch, angemessen und sozial erwunscht sind. Die sozialen Geschlechtsrollen haben nicht nur eine zentrale Bedeutung fur die Sozialstruktur, sondern auch fur die personliche/soziale Identitat und Selbstregulation des Einzelnen wie fur die Bewertung anderer sozialer Rollen. Im traditionellen eindimensionalen Geschlechtsrollenmodell, das bis in die 1970er Jahre dominierte, wurde davon ausgegangen, dass Maskulinitat und Femininitat sich einander ausschliefien und jeweils Merkmale einer gelungenen mannlichen und weiblichen Geschlechtsrollenidentitat (-orientierung) darstellen. Ergebnisse der Stereotypenforschung haben - trotz Wandels der Geschlechterrollen und der Geschlechtsrollenselbstkonzepte - die Bipolaritat von Maskulinitat und Femininitat bestatigt und bestatigen sie noch heute (Vonk und Ashmore 2004): Expressividt als weibliches Rollenstereotyp mit den Attributen passiv, angepasst, nachgiebig, vorsichtig, angstlich, harmonisierend, abhangig, emotional, wenig selbstsicher, beziehungsorientiert und
218
Anne Maria Moller-Leimkuhler, Munchen
Instrumentalitat als mannliches Rollenstereotyp mit den Attributen aggressiv, aktiv, rational, ehrgeizig, zielorientiert, kompetitiv, durchsetzungsfahig, unabhangig, selbstsicher, abenteuerfreudig, entscheidungsfreudig. Diese stereotypen Vorstellungen von Mannlichkeit und Weiblichkeit, deren Inhalte an die arbeitsteiligen geschlechtsspezifischen Rollenanforderungen (Familienrolle der Frau, Berufsrolle des Mannes) geknupft sind, haben die Funktion, die Vieldeutigkeit inter-personeller Prozesse durch Informationsreduktion zu vereinfachen und eine schnelle subjektive Orientierung zu ermoglichen. Im Alltagsbewusstsein verlieren die Geschlechter-stereotype allerdings oft ihren Status der sozialen Konstruktion und nehmen den Charakter von Personlichkeitseigenschaften an, die im „Wesen" der Frau oder des Mannes begriindet liegen (Eagly 1987). Insbesondere dann, wenn Stereotypmerkmale und intrapsychische Bediirfnisse erheblich divergieren, konnen Konflikte entstehen, die die Entwicklung psychischer Storungen begtinstigen. Die Gefahr der psychiatrischen Etikettierung ist insbesondere fur stereotypkonformes Verhalten von Frauen gegeben: Die mittlerweile klassische Studie von Brovermann et al. (1972) konnte einen doppelten Standard psychischer Gesundheit nachweisen, der genau mit den traditionellen Geschlechtsrollenzuschreibungen kompatibel war. Die Eigenschaften, die einem gesunden Erwachsenen zugeschrieben wurden, waren in der Beurteilung klinischer Experten identisch mit den typisch mannlichen Eigenschaften, unterschieden sich jedoch von denen, die einer gesunden Frau zugeschrieben wurden. Deren Charakterisierung glich der Beschreibung eines psychisch kranken Mannes. Der damit dokumentierte Gender-Bias , namlich die stereotype Verknupfung von Weiblichkeit mit psychischer Storung und Mannlichkeit mit psychischer Gesundheit spiegelt sich offensichthch in den unterschiedlichen Krankheitsprofilen von Mannern und Frauen, d.h. sowohl in der Selbstwahrnehmung und Diagnosestellung, als auch im Design epidemiologischer Studien und in therapeutischen Entscheidungen (vgl. Eichler 1998). Es ist empirisch belegt, dass fur beide Geschlechter eine psychische Storung umso eher diagnostiziert wird, je deutlicher das inkriminierte Verhalten aus dem Normbereich des Geschlechterstereotyps herausfallt, sei es im Sinne einer Ubererfullung (bei Frauen z.B. grofie Angstlichkeit oder Abhangigkeit von anderen, bei Mannern z.B. sozialer Riickzug oder ausgepragte Aggressivitat) oder einer " Untererfiillung" (bei Frauen z.B. sozialer Riickzug oder Aggressivitat, bei Mannern z.B. Weinerlichkeit oder soziale
Manner
219
Unterordnung) (Kammerer 2001). Dieser Zusammenhang zeigt sich besonders deutlich bei den Personlichkeitsstorungen (Klonsky et al. 2002, Rienzi und Scrams 1991). Replikationen der Studie von Broverman (Nesbitt und Penn 2000) bestatigen einerseits die Stabilitat traditioneller Geschlechterstereotype, andererseits verweisen sie auf eine Veranderung in der Bewertung geschlechtstypischer Attribute: weibliche Attribute erscheinen inzwischen eher als sozial erwiinscht als mannliche. Auch andere Studien belegen, dass trotz gesellschaftlicher Individualisierung und Enttraditionalisierung die Geschlechterstereotype erstaunlich anderungsresistent sind, sowohl liber die Zeit als auch uber die Kulturen (Click et al. 2004, Hosoda und Stone 2000, Williams und Best 1982, Alfermann 1996). Nach Untersuchungen von Meuser (1998) legen gerade Manner eine beachtliche Kreativitat an den Tag, um Irritationen, die durch den Wandel der Geschlechter-verhaltnisse erzeugt werden, nicht in Krisenerfahrungen munden zu lassen. Nicht nur das weibliche, sondern auch das mannliche Geschlechterstereotyp birgt aufgrund seiner Eindimensionalitat Risiken fur die psychische Gesundheit von Mannern. Das Ideal einer „hegemonialen Mannlichkeit" (Connell 1995) als Ausdruck von Macht, Prestige und Uberlegenheit ist nur fur eine Minderheit von Mannern realisierbar, wahrend sich die Mehrheit mit vergleichsweise niedrigeren sozialen Positionen arrangieren muss. Dennoch fungiert die hegemoniale Mannlichkeit als handlungsleitende Ideologie, an der sich Manner selbst messen und von anderen gemessen werden. Mogliche Folgen dieses „dramatischen Kontrasts zwischen kollektiver Privilegiertheit und personricher Unsicherheit" (Connell) sind Rollenkonflikte, die iiber rollenkonformes externalisiertes Verhalten wie Alkoholmissbrauch, Aggressivitat oder extreme Risikofreudigkeit abgewehrt werden. Ebenso wie fur Frauen die traditionelle Festlegung auf Famine und Haushalt negative gesundheitliche Konsequenzen hat, trifft dies auch fur Manner bzgl. der einseitigen Festlegung auf Erwerbsarbeit zu (Briindel und Hurrelmann 1999). 10.3
Mangelnde Hilfesuche und dysfunktionale Stressverarbeitung
Manner weisen in alien Altersgruppen die geringeren Inanspruchnahmeraten professioneller Hilfe auf (M:F=1:2) (zfs. Moller-Leimkuhler 2002). Psy-
Anne Maria Moller-Leimkuhler, Munchen
220
chische oder emotionale Probleme sind kaum ein Konsultationsgrund und werden bei einem Arztkontakt entsprechend selten angesprochen. Vor dem Hintergrund traditioneller Maskulinitatsnormen ist ein solches Vermeidungsverhalten nicht verwunderlich, da es gilt, (bedrohte) mannliche Identitat aufrechtzuerhalten. Die traditionelle mannliche Geschlechtsrolle, charakterisiert durch Leistungs- und Erfolgsorientierung vor allem in der Berufsrolle, erfordert die Bewaltigung von Gefahren, Bedrohungen und Schwierigkeiten, ohne dass damit verbundene Angste und Probleme wahrgenommen bzw. zugegeben werden durfen. Hilfesuche ist im Mannlichkeits-stereotyp nicht vorgesehen, da sie Inkompetenz und Abhangigkeit, Aufgabe von Autonomic und Selbstkontrolle signalisiert, kurzum „Unmannlichkeit". Da Emotionalitat streng codiert ist (sozial akzeptiert sind Aggressivitat, Arger oder Feindseligkeit, nicht akzeptiert sind „weibliche" Gefiihle wie Schwache, Unsicherheit, Hilflosigkeit, Traurigkeit), kommt es zu einer dauerhaften Unterdriickung von als weiblich geltender Emotionen. Traditionelle mannliche Sozialisation produziert damit eine emotionale Hemmung, die schon fruh eingeiibt wird und mit zunehmendem Alter ebenfalls zunimmt. Emotionale Gehemmtheit bei Mannern ist anhand von Experimenten und Selbstbeurteilungen vielfach nachgewiesen worden (Grossman und Wood 1993) und hat zahlreiche psychosomatische Auswirkungen (Traue 1998). Insbesondere das Zugeben einer Depression als typisch „weiblicher" Krankheit bedeutet doppelte Stigmatisierung. Start Hilfe zu suchen, wird bedrohte Mannlichkeit (iiber-) kompensiert mit rollenkompatiblen, aber (selbst-) destruktiven Strategien: Alkoholmissbrauch, Ausagieren, Gewalt, Suizid. 10.4
Gibt es eine „mannliche Depression"?
„When women are depressed, they either eat or go shopping. Men invade another country" (comedian Elayne Booster) Die bisherigen Ausfuhrungen machen plausibel, dass sich Depressionen bei Mannern anders als mit den klassischen Depressionssymptomen aufiern konnen, und zwar mit mannertypischen Abwehrstrategien zum Schutz einer „starken" Fassade. Bisherige Studien zur geschlechts-spezifischen Psychopathologie der Depression kommen zu dem Ergebnis, dass - zumindest bei klinischen Depressionen - sich die Kernsymptome nicht unterscheiden (Wittchen et al. 1999, Wilhem et al. 1998). Allerdings berichten Manner
Manner
221
konsistent weniger depressive Symptome als Frauen (Angst et al. 2002), auGerdem wurden in einigen Studien erhohte Feindseligkeit (Fava et al. 1995, Katz et al. 1993), erhohter Alkoholkonsum (Kornstein et al. 1995, Angst et al. 2002) sowie erhohte Agitiertheit bei Mannern gefunden (Kockler und Heun 2002). Interessant ist weiterhin, dass sich die Depressionsrate und symptomatik von Mannern nicht von derjenigen der Frauen unterscheidet, wenn Alkohol und Suizid gesellschaftlich tabuisiert sind wie in der JiidischOrthodoxen Gemeinde (Lowental et al. 1995, Levav et al. 1993) und/oder die Geschlechtsrollennormen streng egalitar sind wie bei den Amish People (Jakubaschk 1994). Das Konzept der „mannlichen Depression" wurde erstmals im Rahmen eines Suizid-praventionsprogramms auf der schwedischen Insel Gotland formuliert (Rutz 1995, 1999, Walinder und Rutz 2001). Nach einem systematisch durchgefuhrten Fortbildungstraining der dort ansassigen Arzteschaft in Bezug auf Depressionsdiagnostik und -behandlung zeigte sich, dass die Suizidrate bei Frauen um etwa 90% reduziert werden konnte, die der Manner aber unverandert blieb. Psychologische Autopsien der mannlichen Suizidopfer ergaben, dass diese zwar haufig depressiv und/oder alkoholabhangig waren, aber weniger den dortigen Arzten als vielmehr der Polizei und den Ordnungsbehorden bekannt waren. Neben den iiblichen depressiven Symptomen waren Symptome wie Gereiztheit, Irritabilitat, Aggressivitat, Argerattacken oder antisoziales Verhalten haufiger bei den mannlichen als bei den weiblichen Suizidopfern zu finden. Erst als diese mannerspezifische Symptomatik in Diagnostik und Therapie beriicksichtigt wurde, konnte auch hier eine Reduktion der Suizidrate erreicht werden. Erfahrungen aus der psychotherapeutischen Praxis vervollstandigen das Symptomprofil einer mannlichen Depression (siehe Tabelle 10.1). Auch die wenigen bisher vorliegenden Studien zur mannlichen Depression bestatigen weitgehend die theoretischen Annahmen: In einer danischen Bevolkerungsstudie zeigte sich, dass unter den Bedingungen reduzierten Wohlbefindens Frauen direkt eine Major Depression entwickelten, wahrend Manner mit Stress, Aggression und Alkoholmissbrauch reagierten (Bech et al. 2001). Wurden in einer Stichprobe von alkoholabhangigen Patienten neben den klassischen Depressionssymptomen auch die untypischen, aber fur Manner typischen Abwehrmuster erfasst, konnte ein hoherer Prozentsatz von depressiv erkrankten Mannern identifiziert werden (Zierau et al. 2002).
222
Anne Maria MoUer-Leimkuhler, Munchen
Tab. 10.1: Vorgeschlagene diagnostische Kriterien fur „mannliche Depression" nach Pollack 1998) • • • • • • • • • • • • • • •
Vermehrter sozialer Riickzug, der oft verneint wird Burnout: berufliches Uberengagement, das mit Klagen ilber Stress maskiert wird Abstreiten von Kummer und Traurigkeit Zunehmend rigide Forderungen nach Autonomie (in Ruhe gelassen werden) Hilfe von anderen nicht annehmen: das „Ich kann das schon allein" - Syndrom Ab- oder zunehmendes sexuelles Interesse Zunehmende Intensitat oder Haufigkeit von Argerattacken Impulsivitat Vermehrter bis exzessiver Alkohol- und/oder Nikotinkonsum (siichtig nach TV, Sport, etc.) Ausgepragte Selbstkritik, bezogen auf vermeintliches Versagen Versagensangst Andere fur eigene Probleme verantwortlich machen Verdeckte oder offene FeindseUgkeit Unruhe und Agitiertheit Konzentrations-, Schlaf- und Gewichtsprobleme
In Bezug auf stationar behandelte depressive Patienten konnten Winkler et al. (2004, 2005) starker ausgepragte affektive Rigiditat sowie hohere Irritabilitat und signifrkant haufigere Argerattacken bei Mannern als bei Frauen nachweisen. In einer eigenen Studie an ebenfalls stationar behandelten depressiven Patienten (Moller-Leimkuhler et al. 2004) liefien sich keine Unterschiede in der Haufigkeit und Auspragung der mannlichen Symptome finden, jedoch faktorenanalytisch ein geschlechtsspezifisches Symptommuster aufdecken (siehe Tabelle. 10.2).
Tab. 10.2: Geschlechtsspezifische Symptommuster bei stationar behandelten depressiven Patienten (656 M, 1755 F) (Moller-Leimkuhler et a. 2004) Faktor 1
Manner
Frauen
Schlafstorungen Substanzmissbrauch
Miidigkeit Antriebslosigkeit Schlafstorungen Substanzmissbrauch
Erklarte Varianz
15,70%
15,20%
Faktor 2
Irritibilitat Aggressivitat Antisoziales Verhalten
Unruhe Depressive Verstimmung Klagsamkeit
10,48%
8,45%
I Erklarte Varianz
Faktor 1 und 2 mit Ladung >0,5
Manner
223
Fallbeispiel Charakteristisch fur den Patienten, einem 43jahrigen Softwareingenieur, ist das Nebeneinander von depressiven Standardsymptomen und depressions-untypischen Symptomen wie Aggressivitat, Reizbarkeit, exzessives Sporttreiben, Alexithymie, Unruhe, Burn-out und mangelnde Krankheitseinsicht. Trotz zunehmender Beschwerden sucht er keinen Arzt auf. Von den ersten Symptomen bis zum Arztkontakt vergehen 7 Jahre. Seine Bewaltigungsversuche zielen darauf, auch unter chronisch belastenden Bedingungen zu funktionieren und leistungsfahig zu bleiben, bis inm dies nicht mehr gelingt. Er konne nicht sagen, wann die Depression begonnen habe, sie habe sich schleichend iiber Jahre entwickelt, riickblickend seien es etwa 10 Jahre. Die Depression sehe er heute als Produkt der Summe vieler Belastungen. Er habe grofien beruflichen Stress gehabt, und seine Frau sei schwer an Krebs erkrankt. Er habe sich zunehmend iiberfordert gefuhlt und gemerkt, dass er nicht mehr die Geduld gehabt hatte, obwohl er von Haus aus ein geduldiger und ruhiger Mensch sei. Er habe Schlafstorungen bekommen und sei haufig gereizt und aggressiv gewesen. Seine Gereiztheit und Aggressivitat habe er auf die Schlafstorungen zuruckgefuhrt. Er habe keine Kritik mehr vertragen konnen und das Gefuhl gehabt, dass alle etwas gegen ihn gehabt hatten. Da er ein emotionaler Mensch sei, sei er auch manchmal in Tranen ausgebrochen und habe sich langsam im Laufe der Jahre sozial isohert. Seinen Freunden habe er anfangs zu vermitteln versucht, wie er sich fuhlt, doch hatten sie ihn nicht verstehen konnen, sie hatten nur gesagt: 'Mach dir ein schones Wochenende, geh mal schon essen, Er habe sich traurig und hoffnungslos gefuhlt, habe sich in sich selbst zuruckgezogen und keine Freude mehr an einfachen Dingen empfunden, aufierdem habe er seine korperliche Hygiene vernachlassigt. Seinen Alkoholkonsum habe er nicht gesteigert. Wegen seiner Schlafstorungen habe er verschiedene Arzten konsultiert, sei bei einem Internisten gewesen, auch bei einem Kardiologen wegen seines Bluthochdrucks. Es sei aber kein somatischer Befund festgestellt worden. Von seinen psychischen Problemen habe er nicht gesprochen, und die Arzte hatten ihn auch nicht danach gefragt. Er habe versucht, sich in einem Urlaub zu Hause zu erholen, das habe jedoch nicht funktioniert, auch ubers Wochenende habe er sich nicht erholen konnen. Seine Frau - mittlerweile am Sauerstoffgerat - sei nur noch bedingt handlungsfahig gewesen, weshalb sie oft in der Klinik gewesen sei. Er habe sie trotz seines beruflichen Stresses fast taglich besucht, aufierdem habe er sich urn das grofie Haus und die Tiere kummern miissen. Sein Arbeitsplatz sei 2 Autostunden von seinem Haus entfernt gewesen. Diese Belastungskonstellation hatte iiber Jahre so bestanden. Er habe alles gegeben, solange es eben gegangen sei, habe versucht zu verdrangen, nicht wahrzunehmen, zu funktionieren, „bis es mir die Beine weggezogen hat." Seinen Stress habe er mit Sport zu kompensieren versucht: so sei er 200-300 km an einem Stuck mit dem Rad gefahren und habe aufierdem mit Marathonlaufen angefangen. „Ich wusste nicht, wohin mit mir." Der Sport sei ein Ventil fur ihn gewesen, sich zu beweisen trotz allem noch leistungsfahig zu sein. Er habe durch den exzessiven Sport jedoch keine Entspannung und Befriedigung erfahren, sondern sei weiterhin unzufrieden gewesen mit seiner sportlichen Leistung und habe sich jedes Mal vorgenommen, beim nachsten Mal noch eine langere Strecke zu bewaltigen. Er selber sei nicht auf die Idee zu kommen, zu einem Psychiater zu gehen, weil fur ihn die Schlafstorungen die Ursache seines schlechten Befindens gewesen seien. Schliefilich habe seine Frau ihn zu einem Therapeuten geschickt. Er sei auch zweimal in einer psychosomatischen Klinik gewesen (Diagnose: reaktive Depression). Er habe lange abgestritten krank zu sein, weil er nie in seinem Leben krank gewesen sei, nie einen Arzt gebraucht hatte und stolz darauf gewesen sei. Es sei sehr schwer fur ihn gewesen, zuzugestehen, eine psychische Erkrankung zu haben.
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Diese ersten Befunde zur mannlichen Depression verweisen darauf, dass geschlechts-spezifische Unterschiede in der Symptomatik vornehmlich in den fruhen Stadien der Erkrankung dominieren, und zwar als Folge der geschlechtsspezifischen Copingstrategien (Nolen-Hoeksema 1991). Die typisch mannlichen Strategien brechen moglicherweise unter der zunehmenden Schwere einer klinischen Depression zusammen und werden von den klassischen Symptomen iiberlagert. Die Unterdiagnostizierung von Depression bei Mannern kann nicht nur auf mangelnde Hilfesuche der Betroffenen zuruckgefuhrt werden, sondern auch auf einen Gender-bias in der Depressionsdiagnostik. Bei den genannten mannlichen Symptomen bzw. Abwehrstrategien handelt es sich um untypische Verhaltensmuster, die nicht in den fuhrenden Depressionsinventarien enthalten sind. Die iiblichen Beurteilungsverfahren zur Erfassung von Depression gehen vom Prototyp der weiblichen Depression aus und enthalten uberwiegend Symptome und Copingstrategien, die von Frauen berichtet werden (z.B. Antriebslosigkeit, depressive Verstimmung, Grubeln, Selbstvorwurfe). Die typisch mannlichen depressionsabwehrenden Strategien wie Aggressivitat, Argerattacken, Feindseligkeit, Aktivismus oder exzessiver Alkoholkonsum werden nicht erfasst. Dies fuhrt nicht nur dazu, dass Depressionen bei einem Teil der betroffenen Manner nicht erkannt werden, sondern begunstigt tendenziell auch Fehldiagnosen in Richtung Alkoholabhangigkeit und antisozialer Personlichkeitsstorung, Diagnosen, die mit dem mannlichen Stereotyp zusammenhangen und bei Mannern im Vergleich zu Frauen iiberreprasentiert sind. Obwohl das Konzept der mannlichen Depression sich zunehmender medialer Prasenz erfreut (vor allem im Internet), ist es wissenschafflich noch nicht ausreichend abgesichert. Insgesamt mangelt es noch an validen Screeninginstrumenten, an Bevolkerungsstudien, die Aussagen iiber die Pravalenz der „mannlichen Depression" ermoglichen. Aufierdem fehlen Studien zum Zusammenhang zwischen mannlicher Depression und Alkoholabhangigkeit, Personlichkeitsstorungen und bipolarer Depression, da sich hinter diesen Storungen mannliche Depression verbergen kann. Abgesehen von dieser noch nicht ausreichenden wissenschaftlichen Evidenz, sprechen jedoch geschlechtersensible klinische Erfahrungen sowie eine Fiille von Ergebnissen aus der Gewalt- und Sozialforschung dafur, Stresserleben und -verarbeitung von Mannern starker zu beachten.
Manner
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Aus den bisherigen Befunden zur Pravalenz und Symptomatik unipolarer Depression bei Mannern lassen sich folgende Schlussfolgerungen ableiten: Es gibt konsistente Hinweise dafur, dass die Depressionsrate von Mannern unterschatzt wird. Barrieren der Inanspruchnahme professioneller Hilfe miissen gezielt abgebaut werden. •
Eine grofie Herausforderung besteht darin, depressive bzw. depressionsgefahrdete Manner rechtzeitig zu identifizieren.
•
Depression bei Mannern muss besser diagnostiziert werden, indem die bisherigen Depressionskriterien geschlechtersensibel erweitert werden. Wichtig ist es, auch mannerspezifische Copingstrategien einer als typisch weiblich geltenden Erkrankung zu beriicksichtigen. Eine umfassende Depressionsdiagnostik bei Mannern impliziert, dass die Komorbiditat, insbesondere hinsichtlich Alkoholabhangigkeit und Personlichkeitsstorungen abgeklart wird. Eine geschlechtersensible Depressionsdiagnostik und -therapie ist ein wichtiger Schritt zur Reduktion mannlicher Suizidalitat.
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Kapitel 11
11
Kinder
Kai von Klitzing, Basel Insbesondere in der friihen Kindheit ist die Abgrenzung zwischen depressiven Stimmungsstorungen und Angststorungen noch sehr schwierig, so dass oftmals der Terminus affektive Storungen fur beides, Angst und depressive Phanomene, benutzt wird, weil beide Storungen der Affektivitat beinhalten. Affektive Storungen mit depressiven und Angstsymptomen kommen dabei bei Kindern und Jugendlichen durchaus haufig vor, stellen sich oftmals wiederholt in der Entwicklung ein und tendieren dazu, chronisch zu verlaufen und bis ins Erwachsenenalter zu persistieren. Die Pravalenz solcher Storungen wird sehr unterschiedlich angegeben: US-amerikanischen Schatzungen gehen dahin, dass von ungefahr 2% aller Kinder vor der Pubertat und 4% aller Adoleszenten zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Entwicklung unter Depressionen leiden (Fleming & Offord, 1990). Dabei seien Jungen und Madchen in der Kindheit gleich betroffen, wogegen in der Adoleszenz zweimal so viele Madchen an dieser Stoning erkranken (Lewinsohn, Clarke, Seeley, & Rohde, 1994). Die Abgrenzung zwischen schweren, mittelschweren und leichten depressiven Storungen, Depressionen mit rezidivierendem Verlauf und anhaltenden affektiven Storungen (Dysthymia) ist im Kindes- und Jugendalter schwierig. Manchmal wird von einer Komorbiditat ("doppelte Depression") gesprochen, wobei es sich doch meist um ein Krankheitsbild und nicht um das Zusammentreffen verschiedener Krankheitsbilder handelt. Viele Erwachsene mit depressiven und Angststorungen geben an, dass die ersten Symptome ihrer Krankheit bereits vor der Pubertat und manchmal sogar schon im Vorschulalter aufgetreten seien. Auch Eltern depressiver Kinder datieren den Beginn der Auffalligkeiten haufig in das Kleinkindalter, manchmal sogar ins Sauglingsalter zuriick. Solche Angaben und die Erkenntnisse, dass es auch im Sauglingsalter schon depressive Phanomene gibt (Spitz & Wolf, 1946), haben dazu gefiihrt, dass man in der Kinderpsychiatrie zunehmend einen entwicklungspsychopathologischen Ansatz vertritt. Dieser Ansatz versucht psychopathologische Phanomene vor dem Hintergrund der normalen
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Entwicklung mit ihren Ubergangen und Krisen zu beurteilen. Insbesondere in der friihen Kindheit ist die Abgrenzung zwischen depressiven Stimmungsstorungen und Angststorungen noch sehr schwierig, so dass oftmals der Terminus affektive Storungen fur beides, Angst und depressive Phanomene, benutzt wird, weil beide Storungen der Affektivitat beinhalten. Im vorliegenden Kapitel soil der entwicklungspsychopathologischen Sichtweise gefolgt und dass Auftreten affektiver Storungen vor dem Hintergrund der Bedeutung, welche die Affektivitat im Entwicklungsverlauf spielt, betrachtet werden. 11.1
Affektive Storungen im Sauglings-, Kleinkind- und Vorschulalter
Affekte spielen in der menschlichen Entwicklung von Geburt an eine grosse Rolle. Je kleiner das Kind ist, desto mehr ist es bei der Regulation seiner Affekte (Lust/Unlust, Erregung/Beruhigung etc.) auf die Beziehung mit seinen primaren Bezugspersonen, meist den Eltern, angewiesen. Affekte sind zwar von Anbeginn an vorhanden, differenzieren sich aber erst im Verlauf der Entwicklung. Sie werden differenzierter und komplexer, nach und nach mit der Entwicklung von Kognition und Sprache verknupft und internalisiert. Die gegen Ende des ersten Lebensjahres zunehmende Fahigkeit, Angst- und Traueraffekte zu zeigen, ist als Entwicklungsfortschritt zu sehen, weil beide Affekte ja auch wichtige Signalfunktion fur das Individuum sowohl nach innen als auch fur die soziale Umgebung nach aufien haben. In der sogenannten Achtmonatsangst erscheint die Angst vor Trennung und vor fremden Personen erstmals als ein deutliches Phanomen. Das Baby ist sich seiner Getrenntheit von den Bezugspersonen nun bewusster und reagiert auf deren Abwesenheit mit Angst und manchmal auch mit Trauer. Diese affektiv getonten Trennungserleben und die in der Folge auftretenden Wiedervereinigungen pragen das emotionale Leben des Kindes weit bis ins Vorschulalter. Im weiteren Verlauf werden komplexere Emotionen sichtbar und bedeutsam, wie z.B. Scham und Schuld ab dem 3. Lebensjahr. Der Affekt der Scham ist eng verknupft mit dem sich entwickelnden Selbstwertgefuhl und tritt immer dann auf, wenn die Selbstwahrnehmung von dem sich langsam entwickelnden Ich-Ideal abweicht. Schuld dagegen taucht zunehmend in der Eltern-Kind-Beziehung auf und ist Folge internalisierter elterlicher Gebote. Die Entwicklung hin zu einer komplexeren Affektivitat deutet sich im zweiten Lebensjahr an und verstarkt sich im dritten Lebensjahr auf differenzierte Weise, ist aber auch verbun-
Kinder
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den mit einer zunehmenden Anfalligkeit gegeniiber depressiven Verstimmungen (Cytryn & McKnew Jr., 1997). Der Psychiater Rene Spitz, einer der Pioniere der fruhen Entwicklungsforschung, beobachtete in den vierziger Jahren Kinder, die in sudamerikanischen Waisenhausern aufwuchsen. Er bemerkte, dass sich viele von ihnen sozial zuriickzogen, Gewicht verloren, Schlafprobleme entwickelten und korperlich krank wurden. Dieses oftmals iiber Monate anhaltende Krankheitsbild nannte er anaclitische Depression (Spitz & Wolf, 1946). Wenn diese Symptome langer als drei Monate anhielten, gerieten die Kinder in einen lebensbedrohlichen, "abgeloschten", rigiden, bewegungslosen Zustand. Spitz fand heraus, dass Kinder mit solchen Symptomen von ihren Eltern in der zweiten Halite des ersten Lebensjahres fur langer als drei Monate getrennt worden waren. Aufierdem hatten sie keinen guten Mutterersatz gefunden. Wenn es eine Wiedervereinigung mit ihren Muttern gab und die Beziehung zur Mutter sich gut entwickelte, konnte das Zustandsbild wieder abklingen. In den schlimmsten Fallen aber wurden die Kinder stuporos, chronisch agitiert oder retardiert. Diese Kinder konnten dann oftmals nicht mehr in die Normalitat zuriickgebracht werden. 24 der 91 von Spitz beobachteten Kinder starben gar in der Folge dieses Zustandes, nachdem sie sich auch korperlich schlecht entwickelt hatten. Ausgehend von diesen Studien gab es in der sechziger Jahren mehrere Autoren, die die Bedeutung der fruhen Mutter-Sauglingsbeziehung untersuchten sowie die Folgen langer anhaltenden Trennungen und Deprivationen. So legte Bowlby (1969) die Grundsteine fur die Bindungstheorie. Nach dieser Theorie formen Kinder wahrend des ersten Lebensjahres eine starke Bindung zur Mutter oder anderen wichtigen Bezugspersonen. Diese Bindung weist einen typischen Ablauf auf: Zunachst das Wiedererkennen der Mutter mit ca. drei Monaten mit der Reaktion des Lachelns, Trennungsangst mit acht Monaten, Etablierung einer festen Mutter-KindBindung im Alter von einem Jahr. Bowlby wies auf die evolutionsbiologische Bedeutung dieses Bindungsverhaltens hin, da auch im Tierreich das Uberleben von Individuen meist erst in der Bindung zu ihren engen Bezugsfiguren sichergestellt wird. Damit erhalt die Bindungsneigung eine positive Selektionsfunktion in der Evolution. Auch Bowlby beschrieb als Folgen von Bindungsverlusten typische Verhaltensmuster bei Sauglingen und Kleinkindern: Ruhelosigkeit, Protest und schliefilich Verzweiflung mit Riickzug, sichtbarer Trauer und Ablehnen von Nahrung sowie von Kontakten zu substituaren Beziehungspersonen. Wenn die Mutter innerhalb einer nicht zu langen Zeit zuruckkehrten, zeigten die Kinder zunachst In-
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differenz und manchmal auch Protest in ihrer Anwesenheit, was deutlich machte, dass die Mutter-Kind-Bindung nach dieser Trennung immer noch einer gewissen Stoning unterlag. Das Ehepaar Robertson zeigte in mehreren Filmen auf sehr eindruckliche Weise die Folge voriibergehender Trennungen von Kleinkindern von ihren Muttern, insbesondere in dem beruhmt gewordenen Film "John". Ausgehend von diesen Studien wurde der Begriff der reaktiven Bindungsstorung gepragt, welcher Eingang in die gangigen psychiatrischen Klassifikationssysteme gefunden hat (DSM-4, ICD-10). Das wichtigste Symptom einer reaktiven Bindungsstorung besteht in der Unfahigkeit von Kleinkindern, sich auf adaquate Weise auf soziale Interaktionen einzulassen. Kleinkinder mit dieser Storung sind in ihrem Blickverhalten auffallig, weisen wenig reziprokes Spiel, Imitationen und Spontaneitat auf. Sie wirken oft apathisch. Im weiteren Verlauf haben sie ein vermindertes Explorationsverhalten sowie verminderte soziale Interessen und Neugierde. Diese Zustandsbilder werden durch ein pathogenes Betreuungsverhalten durch die Eltern oder sonstige wichtige Bezugspersonen ausgelost: So werden beispielsweise die basalen emotionalen Bediirfnisse des Kindes nach Stimulation, Trost und Liebeszufuhr vernachlassigt ebenso wie physische Bediirfnisse nach Ernahrung und Schutz vor aufierlichen Gefahren. Eine andere Ursache kann darin bestehen, dass die primare Bezugsperson infolge von Trennungen oder anderen ungtinstigen Umgebungsbedingungen zu haufig gewechselt hat, so dass eine stabile Bindungsbeziehung nicht entstehen kann. Sind solche fruhkindlichen affektiven Symptome im Rahmen von Bindungsstorungen urspriinglich fur Kinder beschrieben worden, die in Institutionen aufwuchsen, so ist in letzter Zeit vermehrt das Augenmerk auf Kinder mit solchen Storungen innerhalb von Familien gerichtet worden. Zum einen sind in hoch entwickelten Landern die Betreuungen in Institutionen wie Kinderheimen, Kinderkrippen und Sauglingsheimen gezielt quantitativ und qualitativ verbessert worden, so dass auch institutionell aufwachsende Kinder Bindungen entwickeln konnen. Zum anderen hat man vermehrt festgestellt, dass auch Kinder innerhalb von Familien auf der emotionalen Ebene manchmal nicht die kontinuierliche Zufuhr erhalten, deren sie bedurfen, insbesondere wenn die Betreuungspersonen selbst psychisch krank sind, beispielsweise unter oftmals nicht erkannten postpartalen Depressionen, Psychosen oder auch Suchterkrankungen leiden. Kleinkinder, die in ihrem Spiel- und Kontaktverhalten auffallig sind, emotional traurig und zuriickgezogen wirken und/oder in ihrer psychoemotionalen sowie motorischen Entwicklung retardiert sind, mtissen unter Einbezug ihrer Bezugspersonen intensiv
Kinder
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untersucht werden, um rechtzeitig festzustellen, ob nicht ein chronischer Mangel an emotionalem Beziehungsangebot vorliegt. Wenn das Kind in seiner Entwicklung ab dem zweiten/dritten Lebensjahr zunehmend in die verbale symbolische Welt hineinwachst, treten neben Verhalten, Affekt und Interaktion die Welt der psychischen Reprasentationen und die subjektiv erlebte, verbalisierbare Befindlichkeit mehr in den Vordergrund der Diagnostik. In einer eigenen Studie untersuchten wir 150 Kinder aus Regelldndergarten im Alter zwischen vier und sechs Jahren auf das Vorliegen von Verhaltens- und emotionalen Symptomen hin. Dabei wurden die Eltern und die Kindergartenlehrpersonen mittels Fragebogen und das Kind mit Hilfe eines speziell entwickelten, entwicklungsgerechten Interviews befragt (Berkley Puppet Interview - Measelle, Ablow, Cowan, & Cowan, 1998). Dabei zeigte sich, dass im ersten Kindergartenjahr (Alter 4/5 Jahre) 16% aller Kinder deutliche emotionale Probleme aufwiesen wie Depressivitat, Selbstzweifel, Einsamkeitsgefuhl, Trennungsangste, vermehrte Sorgen sowie psychosomatische Beschwerden. Die Haufigkeit solcher emotionalen Probleme nahm im zweiten Kindergartenjahr (Alter 5 Jahre) auf 11% ab. Jedoch zeigte sich eine hohe selektive, pradiktive Spezifitat zwischen den emotionalen Symptomen im ersten und denen im zweiten Kindergartenjahr, was bedeutet, dass viele der Kinder, die bereits im ersten Kindergartenjahr solche Symptome aufwiesen, diese auch weiterhin im zweiten Kindergartenjahr beibehielten. Hieraus ist zu schliefien, dass man solche Symptome auf jeden Fall ernst nehmen muss und nicht davon ausgehen kann, dass sie sich einfach "auswachsen". Zusatzlich zu der Erhebung der Symptomhaufigkeit versuchten wir einen Uberblick iiber die Familiensituation (Familienklima) durch Befragung der Eltern und iiber die innere reprasentationale Welt des Kindes durch die Erhebung von Narrativen mittels der Geschichtenstimm-Methode (McArthur Story Stem Battery - Emde, 2003; von Klitzing, Kelsay, Emde, Robinson, & Schmitz, 2000) zu erhalten. Mit dieser Methode werden den Kindern mittels kleiner Spielfiguren Geschichtsanfange erzahlt, in welchen typische Konflikte in der Familie oder in der Gleichaltrigengruppe dargestellt werden (z.B. Streit unter Kindern, Trennungssituationen in der Familie, Konflikte unter den Eltern etc.). Sie werden dann gebeten, zu zeigen und zu erzahlen, wie die Geschichten weitergehen. Die so von den Kindern erzahlten Geschichten werden auf Video aufgezeichnet und dann mittels standardisierter Skalen auf ihren Inhalt und ihre formale Koharenz hin ausgewertet. Jedem Kind werden acht Geschichten erzahlt, so dass die Auswertung iiber alle acht Geschichten stabile Muster kindlicher Erzahlweisen offenlegt. Das Ausmafi
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von Konflikthaftigkeit und emotionaler Kalte im Familienklima korrelierte signifikant mit der Haufigkeit emotionaler Probleme bei den Kindern. Verschlechterte sich das Familienklima im Verlauf eines Tahres, nahmen auch die emotionalen Probleme der Kinder zu. Der Zusammenhang zwischen negativem Familienklima und emotionalen Symptomen konnte aber abgeschwacht werden, wenn Kinder gute Erzahler waren, d.h. mit familialen Problemgeschichten in sehr koharenter Weise positiv umgehen konnten. Dagegen wiesen Madchen, die in ihren Konfliktgeschichten zur Verleugnung neigten, d.h. auf die ihnen vorgespielten Konflikte gar nicht eingingen, im ersten und im zweiten Kindergartenjahr vermehrt emotionale Probleme auf. Waren die Geschichten von Disziplinierungshandlungen gepragt und nahmen die Elternfiguren in der Geschichte eine vorwiegend bestrafende Haltung ein, so nahmen die emotionalen Symptome im Verlauf eines Tahres zu. Diese Resultate zeigen zum einen, dass im Vorschulalter ( 3 - 6 Jahre) depressive Erlebens- und Verhaltensweisen durchaus haufige Phanomene sind, die eine gewisse Stabilitat aufweisen. Sie zeigen zum anderen, dass es in dieser Altersstufe auch schon so etwas wie eine depressive Innenwelt des Kindes gibt, welche beispielsweise in den Erzahlweisen, aber auch in Spielund Zeichnungsweisen der Kinder erfassbar ist: Eine Hemmung, sich spielerisch mit Konflikten der Alltagswelt auseinander zu setzen, eine Einengung spielerischer Erzahlmoglichkeiten durch eine rasche und uberrigide disziplinarische Einschrankung durch Erwachsene sowie eine Unfahigkeit, koharente Losungen fiir typische Alltagskonflikte zu finden. Eine von emotionalen Problemen gepragte Innenwelt hatte sich in den ersten drei Lebensjahren mancher Kinder schon angedeutet, konnte iiber die Beobachtung aber nur indirekt erschlossen werden. Durch die sich entwickelnden Fahigkeiten, die eigene Innenwelt auch symbolisch zu gestalten, entsteht die Moglichkeit, neben der Verhaltens- und Interaktionsbeobachtung auch den Zugang zur emotionalen Innenwelt des depressiven Kindes in die Diagnostik einzubeziehen.
11.2
Affektive Storungen im Schulalter und Adoleszenz
Die klinischen Symptome affektiver Storungen konnen je nach Entwicklungsphase und kulturellem Hintergrund sehr variieren. Kinder zeigen im Rahmen schwerer depressiver Erkrankung haufiger als Erwachsene Angstsymptome sowie somatische Beschwerden. Die erhohte Irritabilitat wird haufiger mit Wutanfallen oder sonstigen Verhaltensstorungen als durch
Kinder
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das Verbalisieren von Gefiihlen ausgedriickt. Insbesondere Adoleszente zeigen im Vergleich zu kleinen Kindern vermehrt Schlaf- und Appetitstorungen, Wahnphanomene, Suizidideen und -versuche, jedoch mehr Verhaltensprobleme und weniger neurovegetative Symptome als Erwachsene. Im Gegensatz zur schweren depressiven Storung, die oft in Episoden verlauft, besteht die Dysthymia aus einer langer anhaltenden Veranderung der Stimmung, welche aber meist weniger intensiv ist als die schwere Depression. In der Tabelle 11.1 werden Veranderungen der Symptome im Entwicklungsverlauf dargestellt.
Tab 11.1: Veranderung der Symptome im Entwicklungsverlauf Im Kleinkindalter (1-3 Jahre)
wirkt traurig ausdrucksarmes Gesicht erhohte Irritabilitat gestortes Essverhalten Schlafstorungen selbststimulierendes Verhalten: Jactatio capitis, exzessives Daumenlutschen genitale Manipulation auffalliges Spielverhalten, reduzierte Kreativitat und Ausdauer Spielunlust mangelnde Phantasie
Im Vorschulalter (3-6 Jahre)
trauriger Gesichtsausdruck verminderte Gestik und Mimik leicht irritierbar und aufierst stimmungslabil mangelnde Fahigkeit, sich zu freuen introvertiertes Verhalten, aber auch aggressives Verhalten vermindertes Interesse an motorischen Aktivitaten Essstorungen bis zu Gewichtsverlust/-zunahme Schlafstorungen, Alptraume, Ein- und Durchschlafstorungen
Bei Schulkindern
verbale Berichte fiber Traurigkeit suizidale Gedanken Beffirchtungen, dass Eltern nicht gemigend Beachtung schenken Schulleistungsstorungen
vermindertes Selbstvertrauen Apathie, Angst, Konzentrationsmangel Leistungsstorungen zirkadiane Schwankungen des Befindens psychosomatische Storungen Kriterien der depressiven Episode Deutsche Gesellschaft fur Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (2003, S. 2)
Im Pubertats- und Jugendalter
Quelle:
Symptome wie auffalliges Spielverhalten, reduzierte Kreativitat und Ausdauer, Spielunlust und mangelnde Phantasie treten zwar vor allem im
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Kleinkindalter auf (Deutsche Gesellschaft fiir Kinder- und Jugendpsychiatrie und - Psychotherapie, 2003), sind aber bis ins Schulalter hinein wichtige Leitsymptome. Im Schulalter ist dariiber hinaus davon auszugehen, dass Kinder mehr in der Lage sind, mit Worten und Sprache liber ihre Traurigkeit zu sprechen. Ganz besonders muss einem sich verschlechternden Schulleistungsniveau Beachtung geschenkt werden. Die psychiatrische Beurteilung und Abklarung ist oft erschwert, weil Kinder dazu tendieren, ihre Traurigkeitsgefiihle zu verleugnen. Die Symptome bestehen dann oft in Irritabilitat, Wutanfallen, Langeweile oder persistierenden Verhaltensproblemen zu Hause und in der Schule. Suizidalitat ist eine wichtige Begleiterscheinung depressiver Symptome sowohl im Kindes- als auch im Jugendalter. Die Inzidenz von Suiziden in den Vereinigten Staaten und Europa hat seit dem zweiten Weltkrieg unter Kindern zwischen 5 und 14 Jahren auf ca. 0,7/100.000 und unter Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren auf 13,7/100.000 erheblich zugenommen (Pfeffer, 1997). Dabei muss gesagt werden, dass Suizide und Suizidversuche nicht nur bei affektiven Storungen vorkommen, sondern uberhaupt bei psychiatrischen Storungen von Kindern und Jugendlichen gehauft sind, wie beispielsweise auch bei Verhaltensstorungen, antisozialem Verhalten etc.. 11.3
Atiologie
Affektive Storungen bei Kindern und Jugendlichen entstehen meist aus einer Interaktion zwischen psychologischen, sozialen (Beziehungs-) und biologischen Faktoren. Die psychoanalytische Theorie verweist im Wesentlichen auf die Bedeutung des Objektverlustes fiir die Entwicklung von depressiven Storungen. Schwere Trennungs-, Verlust- und Deprivationserlebnisse, die das Ich in seiner Entwicklung uberfordern, konnen zu Riickzug, Regression oder Retardierung und Antriebslosigkeit fuhren. Oft stehen Depressionen in Zusammenhang mit mehr symbolischen und phantasierten Verlusterlebnissen, welche im Entwicklungsverlauf immer wieder vorkommen. Klein (1962) sah depressive Gefuhle als universale Entwicklungsphanome an, welche die Basis fiir ein gesundes Erleben von Schuldgefuhlen und Besorgnis darstellen. Kashani & Henigan (1997) beschrieben kindliche Depression weniger als eine Folge von Konflikten und Objektverlusten, sondern als einen Ich-Zustand, welcher von Hilf- und Machtlosigkeit gepragt ist. Das zentrale Thema ist weniger der Verlust des Objekts als der Verlust des Selbst(-werts). Die inneren, sich in Zusammen-
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hang von Verlusterlebnissen entwickelnden Aggressionen richten sich bei der Depression gegen das Selbst. Durch diesen Mechanismus unterscheidet sich die Depression von der Traurigkeit (Freud, 1917). Auch kann eine narzisstische Krankung, wenn das Subjekt seine eigenen Erwartungen nicht erfullen kann, oder die im Uber-Ich erzeugte Schuld, wenn das Individuum ethische Standards des eigenen Ideals nicht erreichen kann, eine Rolle spielen. Lyons-Ruth (1991) argumentiert aus der Sicht der Bindungstheorie, dass die Regulation emotionaler Zustande sich von Kleinkind an in Zusammenhang mit den Eltern- oder Betreuungsfiguren vollzieht und dass fruhe Muster dieser Beziehungen in neue Beziehungen iiber die Lebensspanne hinein getragen werden. Die Verbindung zwischen unsicheren oder disorganisierten Bindungsmustern in der fruhen Kindheit und spateren depressiven Erkrankungen ist aber noch nicht wissenschaftlich bewiesen. Mehrere Autoren ( z.B. Hammen, Adrian, & Hiroto, 1988) gehen vor dem Hintergrund der kognitiven Lerntheorie von einer gelernten Hilflosigkeit als Grundlage von depressiven Storungen aus. Nach dieser Hypothese entwickeln sich Depressionen als eine Folge kausaler Attribute, welche depressive Personen einsetzen, um negative Lebensereignisse zu erklaren. Neuroendokrinologische Theorien gehen davon aus, dass Depressionen im Zusammenhang mit Dysregulationen biogener Amine und Neurotransmitter vor allem im Bereich des noradrenagen und serotonergen Systems entstehen. In unserer eigenen Arbeitsgruppe konnten wir bereits bei funfjahrigen Kindern deutliche Varianzen in der Hypthalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Hypothalamic-Pituitary-Adrenocortical) linden, wobei eine erhohte HPA-Systemaktivitat sowohl im morgendlichen Ruhezustand als auch unter Stressbedingungen (gemessen an der Cortisol-Konzentration im Speichel) signifikant mit dem Auftreten von emotionalen Symptomen korrelierte (Hatzinger et al., submitted). Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien haben gezeigt, dass bei der Pathogenese von schweren depressiven Storungen sowohl genetische als auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen. Kinder mit einem hohen genetischen Risiko scheinen gegemiber ungiinstigen Umwelteinflussen besonders empfindlich zu sein (Gen-Umwelt-Interaktion, Plomin, 1994). Kinder mit mindestens einem depressiven Elternteil unterliegen einer dreimal hoheren Wahrscheinlichkeit, in ihrem Leben an einer Depression zu erkranken als Kinder von nicht depressiven Eltern. AUerdings sind Nachkommen depressiver Eltern nicht nur gegeniiber affektiven Storungen anfalliger, sie haben allgemein ein hoheres Risiko fur die Entwicklung psy-
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chopathologischer Phanomene, einschliefilich Angststorungen und aggressiven Verhaltensstorungen. Mehrere Studien haben auf die Probleme depressiver Eltern in ihrer Elternschaft und ihrem erzieherischen Verhalten gegeniiber ihren Kindern hingewiesen. Allerdings konnen solche Schwierigkeiten in der Elternfunktion auch umgekehrt als sekundare Reaktion auf den Umgang mit depressiven, irritablen oder oppositionellen Kindern entstehen. 11.4
Prevention und Behandlung
Die Behandlung affektiver Storungen im Kindesalter richtet sich nach der diagnostischen Einschatzung und athiologischen Uberlegungen. Depressive Symptome in den ersten Lebensjahren, welche Folge von ungtinstigen Lebensbedingungen, Trennungserlebnissen, Deprivationserfahrungen und Bindungsproblemen sind, bediirfen einer intensiven sozialpsychiatrisch und teilweise auch psychotherapeutisch ausgerichteten Intervention. Das erste Ziel muss sein, dem Kind einen entwicklungsgerechten Lebensraum und ein Beziehungsumfeld, welches von Stimulation, affektiver Tragfahigkeit und Kontinuitat gepragt ist, zu eroffnen. Dies ist nicht immer einfach, wenn beispielsweise die Eltern selber unter psychischen Storungen leiden und deshalb krankheitsbedingt dem Kind emotional nicht ausreichend zur Verfugung stehen. Hier ist genau abzuwagen, ob eine aufierfamiliale Platzierung notwendig ist und wie ein angemessenes Verhaltnis zwischen einem Aufwachsen aufierhalb der Familie und einer auch wichtigen Aufrechterhaltung der emotionalen Bindung an die eigenen Eltern etabliert werden kann. Hierzu bedarf es eines guten padagogisch-sozialen Helfernetzes, bestehend aus Kindesschutzbehorden, adaquaten qualitativ und quantitativ gut ausgestatteten Heimen, Tagesheimen und Kinderkrippen sowie eines konsequenten, langfristig ausgerichteten „Fallmanagements", welches konstant die Bedurfnisse des Kindes im Auge hat. Der Umgang mit den Eltern ist haufig schwierig und benotigt grofie Sensibilitat sowie psychiatrisches Wissen, insbesondere wenn Eltern selbst psychisch krank sind. Je alter das Kind wird, um so wichtiger ist es, auch ihm selbst zu erklaren, warum es nicht wie andere Kinder dauerhaft in seiner Familie leben kann und worin die Probleme seiner Eltern bestehen. Es kann auch wichtig sein, gegebenenfalls aufkommende Schuldgefuhle des Kindes psychotherapeutisch zu bearbeiten. Die Etablierung eines kindgerechten Beziehungsumfeldes ist auf jeden Fall das erste und wichtigste Gebot vor alien psychotherapeutischen und psychopharmakologischen Mafinahmen. Es niitzt nichts, einem Kind einmal pro Woche eine psychotherapeutische Stunde
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anzubieten, wenn es gleichzeitig in einem fortlaufend deprivierenden Urnfeld lebt. Diese umfassende und sozialpsychiatrisch-psychotherapeutische Arbeit dient nicht nur der Behandlung erster affektiver Symptome, sondern kann auch als eine entscheidende und wirksame preventive Mafinahme fur die weitere kindliche Entwicklung angesehen werden. Ein wichtiger Bestandteil der kinderpsychiatrischen Behandlung von depressiven Kindern ist die Psychotherapie. Diese erfolgt in den ersten drei Lebensjahren in der Regel in einem Beziehungssetting wie beispielsweise in einer Eltern-Kleinkind-Therapie oder Mutter-Kleinkind-Therapie (von Klitzing, 1998). Je alter, verbaler und symbolischer sich das Kind entwickelt, um so wichtiger werden auch die Moglichkeiten der Psychotherapie des Kindes selber. Viele Kliniker erachten die psychodynamisch-psychoanalytisch ausgerichtete Psychotherapie als eine niitzliche Vorgehensweise fur die Behandlung depressiver Kinder und Jugendlicher. Kontrollierte Studien zur Erforschung des Prozesses und der Wirkung psychoanalytischer Psychotherapien von depressiven Kindern und Jugendlichen sind von ihrem Design her schwierig und teuer durchzufuhren, aber unbedingt erforderlich. Die psychoanalytische Psychotherapie kann Kindern und Jugendlichen helfen, sich besser zu verstehen, die eigenen Gefuhle wahrzunehmen, ihr Selbstvertrauen zu heben, maladaptive Verhaltensmuster zu verandern, die Beziehungen zu anderen und den Umgang mit gegenwartigen und fruheren Konflikten zu verbessern (z.B. Bios jr., 2001). Die kognitiv behaviorale Therapie ist eine der am haufigsten untersuchten Psychotherapieformen. Ihre Anwendung beruht auf der Annahme, dass depressive Kinder und Jugendliche eine verzerrte Haltung gegeniiber sich selbst, ihrer Umwelt und der Zukunft haben. Diese kognitiven Verzerrungen stehen in Verbindung mit der depressiven Symptomatik und konnen in der Behandlung identifiziert und angegangen werden. Die Erfolge dieser Therapieform sind nachgewiesen. Klinische Erfahrungen zeigen aber, dass es hohe Raten von Riickfallen im Langzeitverlauf gibt, was die Frage nach der Dauer und Kontinuitat aller psychotherapeutischen Behandlungsmafinahmen aufwirft. Insbesondere bei schweren depressiven Phasen liegt es nahe, dass auch bei Kindern und Jugendlichen eine antidepressive Psychopharmakotherapie indiziert sein kann. In vielfaltigen klinischen Berichten werden die Wirksamkeit von trizyklischen Antidepressiva, MAO-Hemmern und selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) berichtet. Jedoch ist die gegenwartige wissenschaftliche Datenlage als Grundlage fiir die antidepressive Behandlung von Depressionen in Kindheit und Adoleszenz mehr als
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unbefriedigend. Es liegen keine kontrollierten Studien fur das Alter unter 18 Jahren vor, so dass die Anwendung von Antidepressiva bei unter 18jahrigen in einem Off-Label-Gebrauch durchgefuhrt werden muss. Besonders gute Informationen der Eltern sowie der Kinder und Jugendlichen selber liber mogliche Risiken und Nebenwirkungen dieser Behandlung sind deshalb noch wichtiger als im Erwachsenenalter. Sollte man sich zu einer Medikation entschliefien, so stellen nach dem momentanen Erkenntnisstand die SSRI im Moment die erste Wahl dar (Ryan, 2002), dies vor allem wegen der geringen Risiken und Nebenwirkungen. Fur die notwendige Hohe der Dosierung liegen keine Studien und systematischen Erfahrungsberichte vor. Es spricht jedoch vieles dafiir, dass sich die Dosierung proportional zum Korpergewicht an Erwachsenendosierungen anlehnen muss, in manchen Entwicklungsphasen wegen der erhohten Stoffwechselaktivititat sogar dariiber. In den letzten Jahren ist die Gabe von SSRI bei affektiven Storungen von Minderjahringen ins Gerede gekommen, weil einzelne Studien eine erhohte Suizidalitat bei Kindern und Jugendlichen unter der Behandlung mit Paroxetin gezeigt hatten. Wahrend die englische Zulassungsbehorde Medicins and Healthcare Products Regulatory Agency (MHRA) eine explizite Kontroindikation fur den Einsatz von Paroxetin bei Minderjahrigen aussprach, reagierte die amerikanische Food and Drug-Administration (FDA) zurlickhaltender und beschrankte sich auf die Empfehlung, Paroxetin nicht bei depressiven Kindern und Jugendlichen einzusetzen. Dariiber hinaus wurden Behandlungsdaten zu weiteren SSRI gefordert (Fluoxetin, Sertralin, Fluvoxamin etc.), die jedoch bis heute nicht vorliegen.'
Aufgrund der schwierigen Verordnungssituation, unkritischen Pressereaktionen und zunehmend verunsicherten Eltern veroffentlichte die Deutsche Gesellschaft fur Kinder- und Jugendpsychiatrie 2004 eine Stellungnahme zur Behandlungsindikation mit SSRI im Kindes- und Jugendalter. Darin empfiehlt sie bei erfolgreich begonnen Behandlungen von Depressionen mit dieser Substanzgruppe eine Fortfuhrung der jeweiligen Therapie, jedoch unter ausfuhrlicher Aufklarung der Eltern und Kinder sowie unter Abschatzung der Risiken und Wirkung. Bei einer moglicherweise zu beginnenden Neubehandlung sollte grundsatzlich zwischen zugelassenen und nicht zugelassenen Alternativen abgewogen werden, wobei die Daten der fur die Behandlung von Kindern zugelassenen Trizyklica fast alle alteren Datums seien und sich vielfach auch auf andere Indikationen beziehen. Die britische Zulassungsbehorde legt den Klinikern nahe, auf Fluoxetin auszuweichen, weil aufgrund der Datenlage am ehesten ein Nutzen fur die Patienten zu erwarten sei. Der Vergleich von pharmakoepidemiologischen Daten aus Deutschland und den USA zeige auf, dass SSRI in Deutschland im ambulanten Setting wesenuich zuriickhaltender rezeptiert werden. Es kann daher von grofierer Vorsicht in Deutschland ausgegangen werden, wobei vor dem Hintergrund der derzeitigen Datenlage gewarnt werden sollte, ganz auf diese wertvolle Behandlungsmoglichkeit zu verzichten (Deutsche Gesellschaft fur Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, 24.03.2004).
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Die langfristige Planung von Behandlungsmafinahmen bei affektiven Storungen im Kindes- und Jugendalter erfordert eine sorgfaltige Diagnostik, den Einbezug des sozialen Umfelds des Kindes (Eltern, Lehrer, Gleichaltrige) sowie eine sorgfaltige Erfassung relevanter somatisch-biologischer Parameter. Die klinische Therapieforschung ist in diesem Bereich noch ungeniigend, so dass keine eindeutigen Leitlinien vorliegen. Sicher steht an erster Stelle die Etablierung einer entwicklungsgerechten psychosozialen Umwelt, gefolgt von psychotherapeutischen Mafinahmen und je nach Schwere der Symptomatik auch von psychopharmakologischen Behandlungen. Die Fallfuhrung sollte in den Handen gut ausgebildeter Kinderund Jugendpsychiater, die iiber profunde psychotherapeutische und psychopharmakologische Kenntnisse verfiigen, liegen. Wichtig ist, dass die einzelnen Aspekte der Behandlung integrativ zu einem Ganzen zusammengefugt werden, dass Eltern, Kinder und Jugendliche intensiv in die Entscheidungsfindungen bzgl. ihrer Behandlung einbezogen werden, dass die Behandlung langfristig ausgerichtet ist und dass die Wirksamkeit der Mafinahmen regelmafiig uberpruft wird. 11.5
Zusammenfassung
Affektive Storungen nehmen oft ihren Ausgang im Kindes- und Jugendalter. Es spricht vieles dafur, dass es eine Kontinuitat zwischen depressiven Phanomenen im Kindes- und Erwachsenenalter gibt. Die Diagnostik soldier Storungen muss besonders in den ersten 18 Lebensjahren von einer entwicklungspsychopathologischen Denkweise gepragt werden, in welcher psychopathologische Phanomene in Zusammenhang mit typischen Entwicklungsverlaufen analysiert werden. Dies fuhrt zu einer sehr differenzierten Einschatzung von affektiven Symptomen je nach Entwicklungssituation des Patienten. Auf jeden Fall miissen affektive Symptome schon ab der fruhsten Kindheit ernst genommen werden und konnen keinesfalls als vorubergehende Phanomene angesehen werden. Da bei der Atiologie der affektiven Storungen im Kindes- und Jugendalter psychologische, soziale und biologische Faktoren eine Rolle spielen, sollte ein Behandlungskonzept idealerweise auch diese Aspekte umfassen und insbesondere bei schweren Storungen sozialpsychiatrische Interventionen, Psychotherapie und Psychopharmakologie einschliefien.
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•
Affektive Storungen sind haufige und ernst zu nehmende Probleme im Kindes- und Jugendalter.
•
Affektive Symptome (Angste, Irritabilitat, Depressivitat) haben unterschiedliche Bedeutungen in verschiedenen Entwicklungsphasen vom Sauglings- bis zum Erwachsenenalter
•
Depressive Verstimmungen in den ersten drei Lebensjahren (z.B. anaklitische Depression) entwickeln sich oft im Zusammenhang mit einem ungemigenden psycho-emotionalen Beziehungsangebot durch die primaren Bezugspersonen.
•
Psychische Erkrankungen eines oder beider Elternteile stellen ein Risiko (ausgehend von genetischer Disposition in Interaktion mit problematischen Beziehungsfaktoren) fur die Entwicklung affektiver Storungen in Kindheit und Jugend dar.
•
Depressive Storungen im Kindes- und Jugendalter sind manchmal schwierig zu erkennen und konnen sich hinter Verhaltensstorungen, Hyperaktivitat, Spiel- und Lernhemmungen verstecken.
•
Die Therapie muss einen integrierten mufti-modalen Ansatz verfolgen (sozialpsychiatrisch, psychotherapeutisch und je nach Schweregrad auch psychopharmakologisch); sie bleibt gut ausgebildeten Kinder- und Jugendpsychiatern vorenthalten und muss langfristig ausgerichtet werden.
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Kapitel12
12
Alte
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12.1
Vorbemerkung
Depressionen sind die haufigste psychische Erkrankung im hoheren Lebensalter (6, 23). Die mit ihnen verbundenen Belastungen sind hoher als die der meisten anderen chronischen Erkrankungen im hoheren Lebensalter und werden dahingehend nur noch durch Herz- und Gelenkerkrankungen ubertroffen (44). Im Vergleich zu anderen Altersgruppen zeigen sie einige Besonderheiten, die im folgenden Beitrag fokussiert werden sollen. So fiihren Unterschiede im Erscheinungsbild dazu, dass formal der Anteil der schwereren (Major) Depression im Alter abnimmt. Gleichzeitig sind depressive Symptome bzw. subsyndromale Depressionen insgesamt gleich haufig bzw. sogar haufiger und eine der wesentlichen Folgeerkrankungen bzw. Folgesymptome, namlich die Suizidalitat, steigt im hoheren Lebensalter erheblich an. Dies fuhrt zu einem von anderen Autoren bezeichneten epidemiologischen Paradox (18). Depressionen gehen im hoheren Lebensalter mit einer noch geringeren Erkennungs- und Behandlungsrate einher als in anderen Altersabschnitten (12, 28). Als Hauptgriinde hierfur sind neben dem schon genannten anderen Beschwerdebild zum Einen die grofiere Komorbiditat mit somatischen Erkrankungen zu diskutieren. Diese fiihren mafigeblich dazu, dass depressive Symptome eher korperlichen Erkrankungen zugeschrieben werden konnen (20). Zum anderen findet sich ein Einfluss von Altersstereotypen. Sowohl von den Therapeuten als auch den Patienten und ihrer Umgebung wird oft die Vorstellung geteilt, dass es normal ist, wenn man im Alter schlechter schlaft, sich zuriickzieht, Interessen aufgibt und keine Freude am Leben mehr hat (12). Dem stehen jedoch inzwischen Ergebnisse grofierer Untersuchungen entgegen, die aufzeigen, dass die Lebenszufriedenheit im hoheren Lebensalter gleich hoch bzw. tendenziell hoher ist als in ande-
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ren Lebensabschnitten (34). Dieses Phanomen, trotz eingeschrankter Moglichkeiten und auch mancher Beeintrachtigungen zufrieden zu sein, wird in der einschlagigen Literatur auch als Zufriedenheitsparadox bezeichnet (9). Die Ursachen liegen im Wesentlichen darin, dass das im Alter Erreichte und Erlebte auf dem Hintergrund des gesamten Lebens gesehen wird und Zufriedenheit deshalb auch mit einer gelungenen Lebensbilanzierung korreliert. Zum anderen vergleicht der Einzelne sich nicht etwa mit Jiingeren, sondern innerhalb der Generation bzw. Kohorte. Generell spielt jedoch eine positive Wahrnehmung im Alter auch fur das Wohlbefinden und sogar fur die Langlebigkeit der alteren Menschen eine Rolle (45). Zu bedenken ist, dass negative Altersstereotypen besonders auch von Angehorigen der medizinischen Profession geteilt werden. So wird mit Alter ganz wesentlich Langsamkeit, Behinderung, verringerte Flexibilitat und Hilflosigkeit assoziiert (19). 12.2
Phanomenologie und Verlauf
Eine Reihe von Untersuchungen beschreiben, dass die Beschwerdeschilderung von Depressiven im hoheren Lebensalter anders ist als im mittleren. Haufig wird gerade keine Veranderung des Kernaffektes geschildert. Haufiger als in anderen Altersgruppen finden sich Beschwerden iiber korperliche Beeintrachtigung, Gedachtnisstorungen oder auch eine vermehrte Gereiztheit und Unruhe. Die hohe Komorbiditat mit korperlichen Erkrankungen (siehe unten) fuhrt haufig zu einem nicht Wahrnehmen bzw. bagatellisieren der depressiven Symptomatik und Zuordnung als "Folgen" einer Depression (12, 23, 28). Die Tabelle 12.1 fuhrt Beschwerden auf, bei denen eine Depression vermutet werden kann. In welchem Umfang im Alter eine Komorbiditat mit Angststorungen besteht oder mit den ebenfalls sehr haufigen Schlafstorungen sowie Suchterkrankungen oder Personlichkeitsstorungen wie in anderen Altersgruppen, ist bisher wenig untersucht. Es finden sich jedoch zunehmend Hinweise, dass - analog zu den Ergebnissen in anderen Altersgruppen - z.B. eine Komorbiditat mit Angststorungen mit einer (lebens-)langen Vulnerablilitat verbunden ist und die Prognose erheblich verschlechtert (37). Generell wird bei den psychiatrischen Erkrankungen im hoheren Lebensalter zwischen denen mit fruhem Beginn und denen mit Beginn in der zweiten Lebenshalfte unterschieden. Depressionen mit spatem Beginn sind haufig Ausdruck einer (beginnenden) hirnorganischen Beeintrachtigung (s.u.).
Alte Tab. 12.1:
247 Beschwerden, die im hoheren Lebensalter den Verdacht und eine Untersuchung auf eine Depression begriinden sollten (Gallo & Rabins 1999, Charney et al. 2003)
Anhedonie Hoffnungslosigkeit Angstlichkeit Verlangsamung Reizbarkeit nicht erklarbare Miidigkeit nicht erklarbarer Gewichtsverlust persistierende und korperlich nicht ausreichend erklarbare Symptome, vor allem (Kopf)schmerz, Miidigkeit, Schlafstorungen, Appetitmangel, Magen -Darm-Beschwerden) fortschreitende funktionelle Beeintrachtigung bzw. schlechte Rehabilitation
Der Verlauf von Depressionen im Alter zeigt eine grofiere Gefahr der Chronifizierung (7, 12). Nicht nur psychiatrische Komorbiditat, sondern auch die korperlichen Krankheiten haben einen prognostisch ungiinstigen Einfluss, wie am Beispiel der Arthrose oder kardio- und zerebrovaskularer sowie degenerativer dementieller Erkrankungen gezeigt werden konnte (1, 26, 32). Ein spaterer Behandlungsbeginn, eine inadequate Behandlung fuhren zwangslaufig zu schlechteren Therapieergebnissen und einer hoheren Ruckfallgefahr. Insbesondere die Kategorie der rezidivierenden Depression ist im hoheren Lebensalter haufig, was die Bedeutung langfristiger Therapien und compliancefordernder Mafinahmen unterstreicht (4,12, 35). 12.3
Suizidalitat
Ein erhebliches Problem der Depression im Alter ist die hohe Suizidrate. Wahrend insgesamt etwa 60% aller Selbsttotungen ursachlich mit einer Depression einhergehen, ist dies im hoheren Lebensalter mit noch grofierer Haufigkeit der Fall, zumindest spielt die Depression die wichtige Vermittlerrolle zwischen Risikofaktoren und Suizidalitat (14). In alien Landern der Welt, fur die Daten vorliegen, ist die Selbsttotungsrate in der Altersgruppe der Uber-75-jahrigen am hochsten (WHO 2002; www.who.int). Der Geschlechtsunterschied verschiebt sich zu ungunsten der Manner auf bis zu 4:1. Vergleichende Untersuchungen in Europa bzw. Untersuchungen an verschiedenen Bevolkerungsgruppen in den USA deuten darauf hin, dass in erheblichem Mafie kulturelle Faktoren als Erklarung herangezogen werden mussen (16). Statistisch nimmt die Anzahl der Suizidversu-
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che im Verhaltnis zur Anzahl der vollzogenen Suizide im Alter ab. Dies hat zum Einen mit der Wahl der Methoden (tendenziell aggressiver), zum Anderen aber auch mit der grofieren korperlichen Vulnerabilitat und damit hoheren Sterblichkeit an Suizidversuchen zu tun (17). Hinzu kommt, dass bestimmte Formen der Suizidalitat im hoheren Lebensalter diagnostisch problematisch sind. So ist der Wunsch zu sterben fur viele, die damit konfrontiert werden, nachvollziehbar und verstandlich. Auch die Verweigerung lebenserhaltender Mafinahmen oder die Nahrungsverweigerung werden oft eher im ethischen als im psychiatrischen Kontext diskutiert. Dabei zeigen eine Vielfalt von Untersuchungen, dass das Vorliegen einer Depression entsprechende Entscheidungen beeinflussen kann (39). Der Wunsch zu sterben ist in hohem Umfang mit dem Vorliegen einer psychischen Erkrankung verbunden (5). Auch im hoheren Lebensalter spielt die Hoffnungslosigkeit und die Affektregulation eine mafigebliche innerpsychische Rolle. Als wesentliche Risikofaktoren sind eine subjektiv schlechte Gesundheit, das empfundene und/ oder erlebte Fehlen von Vertrauenspersonen und sozialer Unterstutzung, Hoffnungslosigkeit und neu auftretende korperliche Krankheiten zu nennen. Hierbei ist insbesondere bei Mannern das Alleinleben problematisch (14). 12.4
Somatische Komorbiditat
Gerade im Alter treten Depressionen haufig im Kontext mit korperlichen Erkrankungen auf. Insbesondere bei chronische Erkrankungen, die mit Schmerzen und Schlafstorungen einhergehen bzw. die Autonomic und Beweglichkeit beeintrachtigen, finden sich Depressionen sehr haufig, jedoch ist die Beziehung komplex und haufig bidirektional (12). Eine bekannte Wechselbeziehung findet sich zwischen Depressionen und zerebro- bzw. kardiovaskularen Erkrankungen. Es konnte auch vielfach gezeigt werden, dass Depressionen einerseits in der Entstehung von Gefafierkrankungen beteiligt sind, zum anderen jedoch auch den Verlauf z.B. nach Herzinfarkt oder nach Schlaganfall ungiinstig beeinflussen und ebenso die Mortalitat (1, 26). Wie weit die Behandlung der Depression dann auch die korperliche Prognose verbessert, ist noch nicht konsistent nachgewiesen worden, jedoch bestehen berechtigte Hoffnungen (1,11).
Alte 12.5
249
Die Bedeutung von Hirnerkrankungen
Unter den Hirnerkrankungen spielen Demenzerkrankungen schon allein deshalb die wesentliche Rolle, weil sie die zweithaufigste psychische Erkrankung im hoheren Lebensalter sind. Somit ist allein die zufallige Komorbiditat beider Erkrankungen im Alter haufig. Dennoch bestehen wechselseitige Beziehungen dahingehend, dass in einer Depression im hoheren Lebensalter haufiger kognitive Storungen auftreten und zum anderen eine beginnende oder zugrunde liegende hirnorganische Erkrankung die Entwicklung von Depressionen fordern kann. Speziell Patienten, die im hoheren Lebensalter erstmalig an einer Depression erkranken und in dieser Depression liber kognitive Storungen klagen, erleiden mit zunehmender Dauer der Verlaufsbeobachtung eine Demenz (38). Dies gilt zum einen fur die Alzheimererkrankung, wo depressive Verstimmungen besonders in der Anfangsphase oft zu differentialdiagnostischen Unsicherheiten fuhren, zum anderen aber auch bei Demenzen vaskularer Ursache (26). Wie erst durch den Einsatz moderner bildgebender Verfahren seit den 1980er Jahren immer besser untersucht werden konnte, scheinen insbesondere beim Vorliegen von Durchblutungsstorungen in speziellen strategischen Lokalisationen mit Beeintrachtigung der striatofrontalen neuronalen Netzwerke Depressionen besonders haufig zu sein. Beeintrachtigungen dieser Hirnfunktionskreise erklaren auch, dass Depressionen bei sogenannten subkortikalen neurodegenerativen Erkrankungen, vor allem dem Morbus Parkinson, besonders haufig auftreten (29). Die in diesem Kontext auftretenden Depressionen bieten zum Teil ein eigenes Erscheinungsbild mit einem ausgepragte(re)n exekutiven Funktionsstorungen, vor allem Storungen von Aufmerksamkeit, Verlangsamung und Affektlabilitat. Dies hat in der letzten Zeit zur Wiederaufnahme alter Begriffe wie der bereits von Gaupp 1905 beschriebenen "arteriosklerotischen Depression" mit neuen Operationalisierunge wie z.B. der einer "vaskularen Depression" als eigene diagnostische Kategorie gefiihrt (3, 26).
12.6
Risikofaktoren
Die Fiille vorliegender Studien wurden metaanalytisch in den letzten Jahren ausgewertet. Die Abbildung zeigt die Zusammenfassung (13). Hierbei zeigten sich erwartungsgemafi als besonders relevant der Partnerverlust sowie (persistierende) Schlafstorungen, (neue) korperliche Erkrankungen und ein schlechter Gesundheitszustand. Friihere Depressionen und das weibliche Geschlecht waren ebenso wie eine kognitive Beeintrachtigung
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oder auch eine geringere Bildung Risikofaktoren. Das Alter an sich war jedoch nicht relevant, ebenso der Status des Unverheiratetseins an sich. FIGURE 1 . I n d i v i d u a l and Com In i led Odds Ratios a n d 9 !>".'• Credible Intervals in Prospective Studies of Risk Factors f o r Depression A m o n g t h e Elderly n|.I.T
3ereavernent Mendes de Leon et al. (22) Livingston et al pfl] Schaevers etal. (29] Turvey etal. [27] Overall ^oor Social Support — Schoevers etal. (29) Forsell p i ) Overall =oor Health Status whoever? etal (29) Qeerlings etal. po] Overall Cognitive Impairment Prince etal. [26] Schoevers etal. [29] Forsell p i ) Overall Sleep Disturbance Kennedy etal. (IT] Livingston etal. (21] Prince etal. (26) Livingston etal. (25) Roberts etal. (33) Overall Jving Alone Kennedy etal. (17) Livingston etal. pfl] Overall J rior Depression McHorney etal. (16] Schoevers etal. (29] Forsell p i ) Overall -4ev/ Medical Illness — Kennedy etal. (17) Livingston etal (2S] schoevers etal. (29]
Phiferet al. [15) HcHomey et al. [16) Livingston et al. [2B) Wnoevers et al. [29] Turvey et al. [27) Forsell pi) Roberts et al. p3] Overall I • in il-
Phiferet al. [15) Kennedy et al. [17) Ki-.-li et al. [25] Livingston et al. ps) schoeverset al. pa] Forsell p i ] Robert et al. p3] Overall Less Education Phiferet al. [15] Livingston et al. pB) Schoewers et al. [29] Forsell p i ] Roberts et al. p i ] overall Unmarried Phiferet al. [15] Kennedy et al. [17) Schoevers et al. [29] Foisell p i ] Roberts et al. p3] Overall Disability prince et al. pe] Schaevers et al. [29] Geerlings et al. i'30j Foisell p i ] Roberts et al. p3] • ••-.-••! ill
" M l .ill
Odds Ratio (log scale) 3
Credible ^Credible "Credible Credible Credible F Credible ^ Credible 1 Credible
interval interval interval interval interval interval interval interval
3 4 5 7 10 Odds Ratio (log scale:
extends to 0.09. eidends to 14.9. extends to 0.07. extends to 11.7. extends to 1Z8. extends to 10.5. extends to 14.5. extends to 10.1.
Abb. 12.1: Risikofaktoren fur Depressionen im Alter (Meta-Analyse: Cole & Dendukuri 2003) Die Frage, ob auch fruhe bzw. traumatische Kindheitserfahrungen bis in das hohere Lebensalter hinein eine Rolle spielen, ist hochinteressant, jedoch empirisch sehr schwer zu beantworten. Schliefilich mixssten entsprechende Langsschnittuntersuchungen ixber einen sehr langen Zeitraum durchgefuhrt werden. Zudem muss gerade im Alter ein im vorhergehenden Leben in unterschiedlichem Ausmafi vorhandenes Interagieren verschiedener biopsychosozialer Variablen beachtet werden. So konnen Depressionen und Stresserfahrungen in friiheren Lebensabschnitten zu vaskularen Veranderungen beitragen (21, 26), die dann wiederum ver-
Alte
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meintlich rein biologisch die Depressions- und Demenzentstehung im Alter begiinstigen (42). Immerhin zeigten sich jetzt in einigen Untersuchungen, dass ein fruher Verlust des Elternteils und andere kindliche traumatische Erfahrungen das Risiko fur das Auftreten einer Depression erhohen (27, 46). Die Pathomechanismen sind unklar, jedoch deutet vieles darauf hin, dass es sich hier um Ketteneffekte handelt. Bezuglich der Traumaverarbeitung finden sich nur wenige Untersuchungen, auch aus dem deutschsprachigen Raum (24). Diese zeigen, dass Traumareaktivierungen bis ins hohere Lebensalter moglich sind. Traumatische Erfahrungen in fruheren Lebensabschnitten konnen also zu einer hoheren Vulnerabilitat fur psychische Beeintrachtigung in spateren Lebensabschnitten fuhren. Somit verstarkt sich der Eindruck, dass die Depression im Alter und ihre Chronifizierung auch eine Folge insuffizient behandelter traumatischer Erfahrungen bzw. Depressionen in vorherigen Lebensabschnitten ist, was auf ein entsprechendes Praventionspotential hinweist.
12.7
Behandlungspotenziale
Altere Menschen profitieren ganz besonders von den Innovationen im psychiatrisch-therapeutischen Bereich der letzten Jahre (22). Die Einfuhrung von nebenwirkungsarmeren Psychopharmaka erlaubt es heute, eine grofiere Anzahl von alteren Patienten mit fur die Behandlung ausreichend hohen Dosierungen zu behandeln. Bei gleicher Depressionsschwere finden sich deshalb in neueren Untersuchungen auch vergleichbar gute Behandlungserfolge wie in jtingeren Lebensabschnitten. Gleichzeitig finden sich gute Behandlungsergebnisse der anderen biologischen Therapieverfahren, insbesondere der Elektrokonvulsionsbehandlung (4, 12). Auch korperliche Aktivierungen sind signifikant wirksam (8). Psychotherapie ist im hoheren Lebensalter mindestens ebenso wirksam wie in anderen Lebensabschnitten, wenn entsprechende Modifikationen beriicksichtigt werden. Leider finden sich in der Versorgungsrealitat nicht nur eine Unter- bzw. Fehlbehandlung auf der pharmakologischen Ebene, sondern noch eine viel starkere Unterbehandlung auf der psychotherapeutischen (30, 31). Die Bereitstellung psychotherapeutischer Kompetenz fiir altere Menschen ist deshalb besonders zu fordern, zumal Langsschnittuntersuchungen zeigen konnten, dass die Rezidivrate gerade durch kombinierte Therapien drastisch reduziert werden konnte (35).
252
12.8
Gabriela Stoppe, Basel
Ausblick
Im Sinne eines Ausblicks kann hier nicht nur ein positives Szenario bei adaquater Erkennung und Behandlung von Depressionen im Alter entworfen werden. Beides kann moglicherweise durch den Einsatz von Screeningverfahren zur friihen Identifikation von Risikogruppen (12, 36) und die Anwendung strukturierter Behandlungsalgorithmen gefordert werden (2, 15, 43). Grundsatzlich ist aber auch die Kompetenz fur die Behandlung alter Menschen bei den Angehorigen von Gesundheitsberufen dringend zu verbessern und zu fordern (12, 25). Nachdem altere suizidgefahrdete Menschen oft in hausarztlicher Behandlung sind, wird hier ein hohes Praventionspotenzial gesehen (10, 41). Jedoch gehort hierzu auch die Bereitschaft und Kompetenz von Hausarzten, die z.B. wissen miissen, dass sie selbst aktiv nach Selbsttotungsabsichten fragen miissen (33,40). Generell miissen gerade in der Altersforschung die Kohorteneffekte beriicksichtigt werden. Die derzeit untersuchte heutige altere Generation hat einen anderen biographischen Hintergrund (nicht nur psychisch, sondern auch somatisch) als zukiinftige Generationen. Sicher ist, dass okonomischer Wohlstand, Bildung und korperliche Gesundheit einen erheblichen Beitrag zur psychischen Gesundheit im hohen Lebensalter leisten. Diese wiederum sind samtlich einer offentlichen Gesundheitspflege und Politik zuganglich.
•
Formal werden Depressionen im Alter seltener.
•
Gleichzeitig ist die Suizidalitat hoher als in alien anderen Lebensabschnitten und starker mit der Depression assoziiert.
•
Uber die Lebensspanne erworbene psychologische Kompetenzen haben einen protektiven Effekt, der offensichtlich die mit dem Alter oft einhergehenden Erfahrungen von Verlust und Einschrankungen in einem gewissen Ausmafi zu kompensieren vermag.
•
Im Alter wirft das haufig gleichzeitige Auftreten von Depressionen mit korperlichen Krankheiten sowohl diagnostische als auch therapeutische Probleme auf.
•
Psychotherapien sind im Alter wirksam, werden aber kaum angewandt.
Alte
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Gabriela Stoppe, Basel
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Kapitel 13
13
Korperliche Komorbiditat
Florian Lederbogen, Mannheim
13.1
Einfuhrung
Der Begriff Komorbiditat besagt, dass bei einem Patienten zwei oder mehrere Erkrankungen gleichzeitig bestehen. Welche Stoning dabei als die primare betrachtet wird und welche als die komorbide, hangt vom eingenommenen Blickwinkel ab. In diesem Kapitel soil die affektive Stoning den Ausgangspunkt darstellen. Der Begriff der Komorbiditat bleibt atiologisch neutral; beriicksichtigt man jedoch zeitliche und ursachliche Zusammenhange, sind verschiedene Konstellationen denkbar: 1. Die Erkrankungen bestehen unabhangig voneinander, ihr Zusammentreffen ist zufallig. 2. Die Depression geht der korperlichen Erkrankung zeitlich voraus, begiinstigt oder verursacht diese. 3. Die Depression tritt zeitlich nach oder ursachlich infolge einer korperlichen Erkrankung auf. In den beiden letzten Fallen beeinflusst das Bestehen der einen Erkrankung den Verlauf der anderen; moglicherweise teilen sie sich auch pathogenetische Mechanismen (Krishnan, 2002). Diese Zusammenhange werden bei wissenschaftlichen Untersuchungen allerdings haufig ausgeklammert; relevante korperliche Komorbiditaten bedeuten bei Therapiestudien in der Regel ein Ausschlusskriterium. Die hierbei gewonnenen Ergebnisse lassen sich demnach nicht ohne weiteres auf die Gruppe der depressiven Patienten mit einer korperlichen Komorbiditat iibertragen. Die Trennung in psychische - in diesem Fall affektive - und somatische Erkrankungen bedeutet eine Vereinfachung und ist in mancher Hinsicht nicht korrekt. Depression ist eine tiefgreifende Stoning, die neben psychischen Bereichen wie Affekt und Antrieb auch somatische Funktionen er-
Florian Lederbogen, Mannheim
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heblich beeinflussen kann. Beispielsweise sind bei einer Depression haufig Appetit, Schlaf oder Motorik verandert; bei genauerer Untersuchung findet man auch ungtinstige Auswirkungen auf Fettverteilung (Weber-Hamann, 2002), Insulinwirkung (Weber, 2000) oder Knochenstoffwechsel (Schweiger, 1994). Somit stellt sich die Depression nicht nur als eine psychische, sondern auch als eine korperliche Erkrankung dar; Osteoporose oder erhohte Frakturrate miissen dann konsequenterweise nicht als Komorbiditaten, sondern als Symptome der Depression aufgefasst werden. 13.2
Haufigkeiten
Studien, die in unausgewahlten Bevolkerungsstichproben in einem ersten Schritt das Vorhandensein depressiver Syndrome priifen und dann gezielt die Pravalenz komorbider korperlicher Erkrankungen fokussieren, sind rar; haufiger findet man Daten zur Pravalenz depressiver Bilder bei verschiedenen Populationen korperlich Kranker. Die entsprechenden Zahlen schwanken in erheblichen Grenzen, begriindet in unterschiedlichen methodischen Vorgehensweisen und in der Auswahl der Stichproben. In methodischer Hinsicht ist bedeutsam, ob Depressivitat aufgrund von Selbstangaben (Einzel-Items oder Fragebogen) festgelegt wird, oder ob die Einschatzung auf klinischen Interviews beruht, die sich an etablierten Diagnosesystemen orientieren. Bislang gibt es keine Einigkeit iiber die Frage, inwiefern die somatisch ausgerichteten Symptome der Depression der affektiven oder der somatischen Erkrankung zugeordnet werden sollen. Gerade bei alteren Patienten konnen die Symptome von koronarer Herzkrankheit, Diabetes mellitus, Asthma oder Krebs depressive Symptome imitieren (Nelson, 2001; Shah, 1997). Die Auswahl der untersuchten Stichprobe hat ebenfalls einen erheblichen Einfluss auf die Haufigkeit komorbider somatischer Storungen. Hier ist zu beachten, ob eine representative Stichprobe der Bevolkerung beschrieben wird, oder eine selektierte Population, beispielsweise Patienten, die ambulante oder stationare arztliche Behandlung in Anspruch nehmen. Da Depressive ein verandertes Gesundheitsverhalten zeigen (Katon, 2003), sind Verzerrungen denkbar. Naturgemafi steigt die korperliche Komorbiditat mit zunehmendem Alter an; Angaben iiber Haufigkeiten miissen demnach das Alter der untersuchten Probanden beinhalten. Wells und Mitarbeiter (Wells, 1988) untersuchten eine unausgewahlte Bevolkerungsstichprobe (National Institute of Mental Health Catchment Area Program, N=2552, mittleres Alter 41 Jahre) und bestimmten die 6-
Korperliche Komorbiditat
259
Monats-Pravalenz spezifischer psychiatrischer Storungen nach DSM-III sowie ihre Assoziation mit acht wichtigen chronischen korperlichen Erkrankungen. Nach Adjustierung fur Geschlecht und Alter lag die LifetimePravalenz affektiver Storungen bei Probanden mit behandlungsbedurftigen korperlichen Erkrankungen bei 14,7%, bei denjenigen ohne somatische Komorbiditat bei 8,8%; wurden nur depressive Episoden in den letzten sechs Monaten fur die Definition „Depression" gewertet, lagen diese Zahlen bei 11,9% bzw. 6,0%. Die Diagnosegruppen Arthritis, Krebs, chronische Lungenerkrankungen, Herzerkrankungen und neurologische Storungen waren signifikant mit dem Vorhandensein einer Depression verbunden, nicht dagegen die arterielle Hypertonic Insgesamt stieg das Risiko einer psychiatrischen Storung bei Vorliegen einer korperlichen Erkrankung um 41%. Eine wichtige Untersuchung jiingeren Datums (Yates, 2004) beschrieb ambulante Patienten mit einer nicht-psychotischen Major Depression (N=1500, mittleres Alter 40 Jahre), die im Rahmen des „Sequenced Treatment Alternatives to Relieve Depression (STAR*D)"-Programms behandelt wurden. Hierbei wiesen 53% der Patienten signifikante Begleiterkrankungen auf; das mittlere Alter der beschriebenen Population betrug 40 Jahre. Eine bedeutsame somatische Komorbiditat wurde dann angenommen, wenn eine aktuelle Behandlungsnotwendigkeit oder mindestens eine mafiiggradige Behinderung vorhanden waren. Wurden auch leichtgradige aktuelle oder erhebliche fruhere Erkrankungen fur die Definition der somatischen Komorbiditat zugelassen, so stieg der Anteil auf 88%. Weitere Analysen ergaben, dass die von einer somatischen Komorbiditat begleiteten depressiven Syndrome nicht schwerer waren, aber spater im Lebensalter auftraten und zu einer langeren Dauer neigten. Die von der Komorbiditat Betroffenen wiesen ungunstigere psychosoziale Umstande auf; sie waren haufiger arbeitslos, verwitwet, und verfugten bei kurzerer Ausbildung uber ein geringeres Einkommen und weniger Schutz durch Krankenversicherung. Entsprechend anderer Autoren findet man bei diesen Patienten auch seltener eine positive Familienanamnese hinsichtlich affektiver Storungen (Winokur, 1990). Untersuchungen, die das Zusammentreffen von Depression und korperliche Erkrankungen im Querschnitt analysieren, konnen Assoziationen feststellen, naturgemafi aber wenig liber die zeitliche Abfolge der beiden Bedingungen aussagen. Patten und Mitarbeiter (Patten, 2001) priiften deshalb in einer Longitudialerhebung die Inzidenz neuaufgetretener depressiver Episoden bei Probanden mit und ohne korperliche Erkrankungen. Sie fanden, dass die somatische Komorbiditat einen signifikanten Risikofaktor
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fur das Auftreten solcher Episoden darstellt, und ermittelten eine Odds Ratio von 2,5 (95%-Konfidenzintervall: 1,3-4,6). Diese Risikoerhohung war auch nach Korrektur fur Alter und Geschlecht nachweisbar und zeigte sich am deutlichsten fur die Diagnosen Kopfschmerzen und Ruckenprobleme. Eine arterielle Hypertonic war interessanterweise nur bei Mannern (Odds Ratio 2,44), nicht jedoch bei Frauen (Odds Ratio 0,88), mit einem erhohten Depressionsrisiko verbunden. Auch andere Beobachtungen stiitzen die Vermutung, dass Depression und somatische Erkrankungen haufig gemeinsam auftreten. So waren bei ambulanten Patienten einer amerikanischen Health Maintenance Organization steigende Haufigkeiten depressiver Syndrome mit zunehmender korperlicher Komorbiditat assoziiert (Unutzer, 1997). Entsprechend steigt die Pravalenz depressiver Syndrome in Abhangigkeit vom untersuchten Klientel: Wahrend die Major Depression eine Pravalenz von 2-5% in der Allgemeinbevolkerung aufweist (Kessler, 1994), steigt diese Zahl auf 5-10% bei Patienten in der Primarversorgung (Katon, 1992) und auf 6-14% der in medizinischen oder chirurgischen Kliniken stationar Behandelten (Feldman, 1987; Magni, 1986). In Abhangigkeit vom Alter werden hier auch deutlich hohere Pravalenzen beschrieben: Wurde bei alteren Patienten (mittleres Alter: 80 Jahre), die wegen einer somatischen Erkrankung stationar aufgenommen worden waren, Depressivitat mit Hilfe eines Fragebogens bestimmt, lag der Anteil von Patienten mit einem depressiven Syndrom bei 34% (Covinsky, 1999). Andere Untersucher, die ein klinisches Interview durchgefuhrt hatten, fanden eine Pravalenz von 50%, davon 22% mit einer Major Depression und 28% mit einer Minor Depression (Koenig, 1997; Pouget, 2000). 13.3
Pathophysiologic
Die oben genannten Ergebnisse lassen vermuten, dass Depression und korperliche Erkrankungen uberzufallig haufig gemeinsam auftreten. Dieser Zusammenhang konnte verschiedene Ursachen haben: 1. Die korperliche Erkrankung bewirkt das Auftreten der Depression. Diese Annahme stiitzt sich auf die Vorstellung, dass Faktoren, die mit dem Bestehen einer korperlichen Erkrankung verbunden sind, wie Schmerz, Verlust korperlicher Integritat, ungunstige Folgen in beruflichen und sozialen Belangen, als stressvolle Lebensereignisse eine Depression auslosen oder verursachen. So war in einer prospektiven Untersuchung nicht depressiver alterer Personen der AUgemeinbevolkerung eine po-
Korperliche Komorbiditat
261
tenziell lebensbedrohliche Erkrankung das haufigste Ereignis, welches mit der Manifestation eines depressiven Syndroms verbunden war (Wells, 1988). Die genannte Hypothese wurde allerdings bedeuten, dass Haufigkeit und Schwere depressiver Syndrome vom Ausmafi der somatischen Erkrankung abhangen. Dies liefi sich jedoch nicht in alien Untersuchungen nachweisen. Frasure-Smith fand beispielsweise bei depressiven Patienten nach Myokardinfarkt keinen Zusammenhang zwischen Schwere der kardialen Erkrankung und Vorhandensein oder Auspragung der affektiven Storung (Frasure-Smith, 1993). Allerdings scheint sich bei Depressiven die Einschatzung der somatischen Komorbiditat zu andern; so hatten depressive Diabetiker bei gleicher Stoffwechseleinstellung eine subjektiv negativere Sicht der Erkrankung, verbunden mit haufigeren Arztbesuchen, und einer weniger befriedigenden Arzt/Patient-Beziehung (Linn, 1980). 2. Es gibt jedoch auch Hinweise fur eine andere Abfolge der Ereignisse, die zu dem haufigen Zusammentreffen von Depression und korperlichen Erkrankungen fuhren. So konnte nachgewiesen werden, dass Depression einen Risikofaktor fur das Auftreten wichtiger somatischer Erkrankungen wie koronare Herzkrankheit (KHK) (Glassman, 1998), Diabetes mellitus (Arroyo, 2004) und arterielle Hypertonic (Jonas, 1997) darstellt. Diese Erkenntnisse haben zu einer intensiven Suche nach den pathophysiologischen Mechanismen gefuhrt, die diese Risikoerhohung bewirken. Dabei wurden zum einen bei Depressiven biologische Veranderungen gefunden, die die Manifestation einer somatischen Erkrankung begiinstigen. Fiir die KHK sind dies beispielsweise Zunahme einer ventrikularen Extrasystolie (Carney, 1993) oder erhohte thrombozytare Aggregabilitat (Musselman, 1996). Zum anderen ist die Depression mit Verhaltensanderungen verbunden, die eine Manifestation der korperlichen Erkrankung begiinstigen. So schaffen es beispielsweise Depressive seltener, mit dem Rauchen aufzuhoren (Anda, 1990), sie treiben weniger Sport (Farmer, 1988) oder verhalten sich weniger zuverlassig bei verordneter Diat oder Medikation (DiMatteo, 2000). 3. Schliefilich ist es auch denkbar, dass Hintergrundvariablen bewirken, dass sowohl Depression als auch korperliche Erkrankungen entstehen. Ein hypothetisches Beispiel fiir eine solche Hintergrundvariable ware die Uberaktivitat der zentralen stress-regulierenden Systeme, die die neurobiologische Grundlage sowohl fiir eine Depression als auch fur
Florian Lederbogen, Mannheim
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eine Hypertonic oder ein metabolisches Syndrom schaffen konnte (Chrousos, 2000). 13.4
Bedeutung fur die Praxis
Suchen depressive Patienten einen Arzt auf, verringert eine korperliche Komorbiditat die Wahrscheinlichkeit, dass eine bis dahin nicht bekannte affektive Erkrankung korrekt diagnostiziert wird (Goldberg, 1982; Kessler, 1985). Bei alteren Patienten erkennen primarversorgende Arzte lediglich bei ca. 50% der Betroffenen das Vorliegen einer Depression (Goldman, 1999). Da Depressive haufig zunachst nicht liber Beeintrachtigung von Stimmung und Antrieb, sondern iiber korperliche Beschwerden klagen, werden diese Symptome der somatischen Erkrankung zugeschrieben und es erfolgt keine weitere Exploration (Luber, 2000; Unutzer, 2000). 1st eine Depression bekannt, so ist es oftmals schwierig, unspezifische Beschwerden wie Ermiidbarkeit und verminderter Appetit der somatischen oder der affektiven Erkrankung zuzuschreiben. Besonders deutlich wird dies beispielsweise bei der Gegenuberstellung der Symptome von Depression und Herzinsuffizienz (Tabelle 13.1).
Tab. 13.1: Gegenuberstellung haufiger Symptome von Herzinsuffizienz und depressiven Syndromen Haufige Symptome bei Herzinsuffizienz
Kernsymptome depressiver Syndrome
Dyspnoe / Orthopnoe
Depressive Stimmungslage
Cheyne-Stokes-Atmung
Freudlosigkeit, Interessensverlust
Mildigkeit
Appetit- und Gewichtsverlust
Schwache
Schlafstorungen
Verwirrtheitszustande
Psychomotorische Agitiertheit oder Hemmung
Storungen von Konzentration und Gedachtnis
Insuffizienz- und Schuldgefuhle
Schlafstorungen
Miidigkeit, Antriebsminderung
Angst
Konzentrationsstorungen Todesgedanken, Suizidideen
Die klassischen Instrumente zur Diagnose einer Depression sind in dieser Hinsicht wenig hilfreich, da sie ganz iiberwiegend an korperlich Gesunden entwickelt wurden. Cavanaugh (Cavanaugh, 1984) schlug vor, bei Depressiven mit somatischer Komorbiditat in erster Linie die affektiv-kognitiven Symptome zur Diagnostik zu verwenden. Die somatischen Symptome soil-
Korperliche Komorbiditat
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ten nur gewertet werden, wenn sie schwer sind, ein dysproportional hohes Mafi im Vergleich zu objektivierbaren Funktionseinschrankungen aufweisen, und zeitlich parallel zu den affektiv-kognitiven Symptomen auftreten. Neuere Untersuchungsergebnisse (Yates, 2004) zeigen jedoch, dass die Symptome Mudigkeit, Schlaf- und Appetitstorungen bei Depressiven mit und ohne somatische Komorbiditat gleich haufig vorkommen und deshalb nicht von der Symptomliste der Depression ausgeschlossen werden miissen. Bei Vorliegen korperlicher Begleiterkrankungen fanden sich allerdings haufiger Beschwerden von Seiten des Magen-Darmtraktes, der vegetativen Erregbarkeit und der korperlichen Schwere. Eine Depression beeinflusst allgemeines Funktionsniveau und Wohlbefinden in ahnlichem Mafi wie die chronischen korperlichen Erkrankungen Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie, rezenter Myokardinfarkt oder Herzinsuffizienz (Hays, 1995); bei dem Zusammentreffen der psychischen und korperlichen Erkrankungen potenzieren sich die Auswirkungen. Dies wurde bereits 1988 an einer grofien Stichprobe (N=2554) der Allgemeinbevolkerung gezeigt (Wells, 1988); hierbei gaben von den korperlich Gesunden 4,1% der Personen ohne eine psychiatrische Erkrankung an, an einer chronischen Einschrankung der Aktivitat zu leiden, wahrend dies 9,5% der Personen mit einer solchen Erkrankung anfuhrten. Bei den Probanden mit einer korperlichen Erkrankung lagen diese Zahlen bei 21,0% bzw. 39,7%. In diesem Zusammenhang relevante psychiatrische Erkrankungen waren in absteigender Reihenfolge Major Depression, Dysthymic, Alkoholmissbrauch und Angststorungen. In einer anderen Untersuchung (Noel, 2004) an 1801 depressiven Patienten der Primarversorgung, deren Mindestalter 60 Jahre betrug und die im Mittel 3,8 chronische korperliche Begleiterkrankungen aufwiesen, beeinflusste die Depression in hoherem Mafie 3 von 4 Indikatoren der allgemeinen Gesundheit (geistiger und funktioneller Status, Behinderung, Lebensqualitat) als die medizinischen Begleiterkrankungen. Eine Major Depression und eine subsyndromale Depression sind bei Bestehen korperlicher Beleiterkrankungen mit haufigeren korperlichen Symptomen, vermehrter Inanspruchnahme des Gesundheitswesens und erhohter Mortalitat verbunden (Katon, 2003; Hunkeler, 2003). Eine erfolgreiche antidepressive Behandlung verbessert auch die Symptome einer komorbiden korperlichen Erkrankung und fuhrt zu einem hoheren Funktionsniveau (Borson, 1992; Sullivan, 1993). Mitunter besteht die Gefahr, dass eine komorbide somatische Erkrankung ein Hindernis fur die adaquate Behandlung der Depression darstellt. Moglicherweise werden behandlungsbedurftige depressive Symptome als „na-
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turliche" oder „verstandliche" Reaktionen auf die korperliche Erkrankung interpretiert. Andererseits kann es bei somatischer Komorbiditat schwierig sein, eine voriibergehende Anpassungsstorung von einer Major Depression zu unterscheiden (Goldberg, 1982). Wahrend wichtige Besonderheiten bei Diagnostik und Therapie von depressiven Syndromen im Zusammenhang mit korperlichen Erkrankungen beachtet werden miissen (Cameron, 1990; Roose, 2003), darf eine komorbide somatische Stoning nicht dazu fiihren, dass eine wirksame antidepressive Behandlung vorenthalten wird. Eine somatische Komorbiditat kann die erfolgreiche Behandlung der Depression erschweren. So ist das Zusammentreffen dieser Erkrankungen haufiger mit einem chronischen Verlauf der Depression (Hays, 1997), einer langeren Dauer bis zur Remission (Kendler, 1997) und einem weniger guten Ansprechen auf eine Standard-Behandlung (Koike, 2002; Keitner, 1991; Swindle, 1998) verbunden. Bei hospitalisierten medizinisch Kranken erhoht eine Depression signifikant das Risiko, im Krankenhaus zu versterben (von Amnion Cavanaugh, 2001). Eine korperliche Erkrankung kann dazu fuhren, dass die Risiken einer effektiven psychopharmakologischen Therapie iiberschatzt werden. So gibt es Hinweise darauf, dass trizyklische Antidepressiva bei schweren depressiven Syndromen von hoherer Wirksamkeit sind (Roose, 1994). Sicherlich sind diese Substanzen nicht die Mittel erster Wahl bei Patienten mit einer kardialen Komorbiditat, konnen bei stabiler Situation unter gewissenhafter Beachtung der Kontraindikation und entsprechenden Kontrollen mit einer gunstigen Nutzen-/Risikoabwagung verbunden sein und sollten dann dem Patienten nicht vorenthalten werden. Eine somatische Komorbiditat stellt keine grundsatzliche Kontraindikation gegen die Durchfiihrung einer Elektrokonvulsionstherapie dar (American Psychiatric Association, 2001), die bei Vorliegen einer therapieresistenten Depression indiziert sein kann. Bei korperlicher Komorbiditat miissen Besonderheiten des Krankheitsverhaltens und der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen beriicksichtigt werden. So fragen depressive Patienten mit somatischen Begleiterkrankungen deutlich haufiger nach medizinischer Versorgung als vergleichbar korperlich Kranke ohne Depression (Luber, 2001); entsprechend lagen die medizinischen Behandlungskosten signifikant hoher (Simon, 1995; Callahan, 1994). Dabei waren die Kosten nicht nur auf die psychiatrische Versorgung begrenzt, sondern verteilten sich auf alle Sektoren der Versorgung.
Korperliche Komorbiditat 13.5
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Ausgewahlte korperliche Komor biditaten
In den folgenden Abschnitten sollen ausgewahlte korperliche Komorbiditaten vorgestellt und wichtige Interaktionen zwischen der affektiven und der somatischen Storung aufgezeigt werden. 13.5.1 Kardiovaskulare Erkrankungen Das gemeinsame Auftreten von Depression und kardiovaskularen Storungen, insbesondere der koronaren Herzkrankheit (KHK), ist von erheblicher klinischer und wissenschaftlicher Bedeutung. Wichtige Zusammenhange wurden an dieser Komorbiditat erstmals und exemplarisch erforscht. Besondere Beachtung fand der „koronare Risikofaktor Depression": Prospektive epidemiologische Untersuchungen konnten zeigen, dass bei gesunden Probanden der Allgemeinbevolkerung zu Beginn der Beobachtung bestehende depressive Syndrome das Risiko, spater an einer KHK zu erkranken, um den Faktor 2-2,5 erhohen (Ubersicht: Glassman, 1998). Bei diesen Studien wurden die Ergebnisse fur das Bestehen anderer Risikofaktoren wie Rauchen, arterielle Hypertonic und Diabetes mellitus korrigiert. Somit erhohen depressive Syndrome das kardiale Risiko um die gleiche Grofienordnung wie die klassischen Risikofaktoren. Andere Untersucher wiederum machten eine pragnante Manifestation der KHK, beispielsweise einen Myokardinfarkt, zum Ausgangspunkt ihrer Beobachtungen und konnten zeigen, dass das Vorhandensein einer Depression die Prognose der somatischen Erkrankung ungiinstig beeinflusst (Ladwig, 1991; Frasure-Smith, 1993). Depressive Koronarpatienten zeigten vermehrt bedrohliche Rhythmusstorungen oder erlitten haufiger einen Re-Infarkt. Depressive Syndrome bei Patienten nach Myokardinfarkt sind haufig; ihre Pravalenz liegt bei zirka 40% (Carney, 1990; Forrester, 1992; Frasure-Smith, 1993; Schleifer, 1989). Dabei handelt es sich in 20% um leichtbis mittelgradige depressive Syndrome und in 20% um eine Major Depression. Depressive Koronarpatienten erhalten in geringerem Umfang Zugang zu wichtigen Bausteinen der revaskularisierenden Therapie (Druss, 2000). Griinde hierfur liegen in Faktoren, die zum einen auf den Patienten, zum anderen auf den Versorger oder schliefilich deren Interaktion zuriickgehen. Mangelnder Lebensmut, verminderter Antrieb und sozialer Riickzug konnen bei depressiven Koronarpatienten dazu beitragen, dass Mafinahmen wie Rehabilitation oder Koronarsportgruppen nicht wahrgenommen werden (Blumenthal, 1982). Eine veranderte Einschatzung der
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Kooperation oder der kardialen Situation kann auf Seiten der Versorger dazu beitragen, dass revaskularisierende Mafinahmen wie Koronarangioplastie oder Bypass-Operationen bei Depressiven in geringerem Umfang durchgefuhrt werden. Ein hoher Depressions-Index vor einer operativen Revaskularisation ist ein Risikofaktor fur ein ungunstiges funktionelles Ergebnis und iibertrifft an Aussagekraft traditionelle Pradiktoren wie fruherer Myokardinfarkt oder linksventrikulare Auswurffraktion (Mallik, 2005). Zwei grofiere Studien der letzten Zeit beleuchten relevante Aspekte der Diagnostik und Therapie der Depression bei Patienten nach uberstandenem akuten Myokardinfarkt. Die ..Sertraline Antidepressant Heart Attack Trial (SADHART)"-Untersucher (Glassman, 2002) konnten zeigen, dass bei diesen Patienten eine Behandlung mit dem selektiven Serotoninruckaufnahme-Hemmer Sertralin sicher in ihrer Anwendung ist; es ergaben sich keine Hinweise fur relevante unerwiinschte Arzneimittelwirkungen, beispielsweise durch Beeintrachtigung der linksventrikularen Funktion oder Zunahme bedrohlicher Rhythmusstorungen. Die ..Enhancing Recovery in Coronary Heart Disease (ENRICHD)"-Studie (Berkman, 2003) ergab, dass eine fundierte verhaltenstherapeutische Intervention zur Besserung von Depressivitat und sozialer Isolation nicht den erhofften positiven Effekt auf das kardiale Risiko im weiteren Follow-up hatte. Beiden Studien war gemeinsam, dass sich die Reduktion der Depressivitat durch die Intervention nur gering von der Kontrollgruppe (Placebo bzw. ubliche Behandlung) unterschied. Die Diskussion dieser Ergebnisse stellte heraus, dass bei der Rekrutierung der Patienten moglicherweise Anpassungsstorungen als Major Depression eingestuft worden waren, die sich auch ohne spezifische Behandlung, beispielsweise in einem giinstigen Umfeld des Patienten, gebessert hatten. Auch ist der Unterschied zu beachten, dass die meisten Studien zur Wirksamkeit von Antidepressiva an Patienten vorgenommen worden waren, bei denen fruhere Versuche der Behandlung fehlgeschlagen hatten, und die deshalb in eine Institution iiberwiesen worden waren. Moglicherweise profitieren bei Vorliegen einer Depression nach Myokardinfarkt in erster Linie schwerer Kranke von einer spezifischen psychopharmakologischen oder psychotherapeutischen Therapie. Diese Vermutung wird gestiitzt durch Subgruppenanalysen, die zeigten, dass vor allem diejenigen Patienten, die an einer rezidivierenden depressiven Storung litten, sich signifikant besserten. Insgesamt muss also die Indikation zu spezifischen Mafinahmen bei depressiven Postmyokardinfarkt-Patienten noch prazisiert werden. Auch ist bislang noch die Frage offen, ob die erfolgreiche Behandlung der Depression einen Ruckgang der kardialen Risikoerho-
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hung durch die affektive Erkrankung bewirkt. Analysen der ENRICHDStudie zu der Untergruppe der mit Sertralin behandelten Patienten zeigen, dass die Anwendung dieses Medikamentes unabhangig von der Reduktion der Depressivitat eine Reduktion der Haufigkeit todlicher und nicht todlicher Infarkte ergab. Weitere Untersuchungen sind notig, um diese Fragen endgultig zu beantworten. 13.5.2 Diabetes mellitus Diabetes mellitus kann als Paradigma einer Erkrankung aufgefasst werden, bei der ein dauerhaft hohes Engagement des Patienten unabdingbar ist, um die erforderlichen Therapiemafinahmen Diat, Blutzuckerselbstmessung, gegebenenfalls auch Insulingaben, erfolgreich durchzuruhren. Eine depressive Stimmungslage, verbunden mit vermindertem Selbstwertgefuhl und mangelndem Antrieb im Rahmen einer depressiven Stoning, sind ungiinstige Voraussetzungen, dieses Selbstmanagement dauerhaft erfolgreich durchzuruhren (Ciechanowski, 2000; Musselman, 2003). Auch konnen krankheitsbedingte Einschrankungen, beispielsweise Verlust von Unabhangigkeit, oder somatische Beschwerden infolge von Sekundarkomplikationen, dazu beitragen, eine Depression auszulosen oder zu verstarken. Die erhohte Pravalenz depressiver Syndrome bei Typl- und Typ2Diabetikern wurde in zahlreichen Untersuchungen beschrieben; eine Metaanalyse dieser Befunde (Anderson, 2001) ergab eine Verdoppelung des Depressionsrisikos bei Diabetikern (Odds ratio 2,0, 95%Konfidenzintervall 1,8-2,2). Die Pravalenz der Depression lag bei diabetischen Frauen (28%) hoher als bei Mannern (18%), bei stationar behandelten Patienten (32%) als bei ambulanten (20%), und bei Verwendung von Selbstausfullfragebogen (31%) als bei standardisierten diagnostischen Interviews (11%). Moglicherweise bestehen noch tiefergehende Zusammenhange zwischen Diabetes und Depression. So erhohen - ahnlich wie fur die KHK gefunden - depressive Symptome bei Stoffwechselgesunden das Risiko, im Laufe der nachsten Jahre an Diabetes zu erkranken (Arroyo, 2004). Eine gemeinsame Hintergrundvariable konnte moglicherweise eine erhohte Aktivitat des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden(HHN)-Systems darstellen. In einer Stichprobe von ambulant behandelten Patienten (Typl- und Typ2-Diabetiker) zeigten 55% der Probanden eine Storung dieses Systems in Form einer Dexamethason-Non-Suppression, die unabhangig von demographischen, physiologischen oder affektiven Variablen bestand (Cameron, 1984). Roy und Mitarbeiter (Roy, 1990) fanden bei Diabetikern
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9:00-Uhr-Plasmakortisolwerte erhoht gegeniiber gesunden Kontrollen und wiesen einen Zusammenhang zwischen Hohe der Kortisolspiegel nach Dexamethasongabe und Diabetesdauer nach. Die Ursache fur die haufige HHN-Dysfunktion bei Diabetikern ist nicht geklart. Andererseits fmden sich bei Patienten mit einer Major Depression Hinweise fur eine Storung des Glukosemetabolismus in Form einer relativen Insulinresistenz (Weber, 2000). Somit gibt es Hinweise dafiir, dass sowohl auf der Ebene des Verhaltens als auch der Neuroendokrinologie das Zusammenwirken von Depression und Diabetes beeinflusst wird. Fur die Praxis bedeutsam ist, dass depressive Diabetiker haufiger Zeichen einer ungunstigeren Stoffwechseleinstellung zeigen (Lustman, 2000). Moglicherweise liegt bei Bestehen einer Depression oder Angststorung die Schwelle hoher, bei Therapieversagen einer oralen antidiabetischen Therapie auf Insulin umzustellen oder statt einem konventionellen ein intensiviertes Insulinregime zu etablieren (Korytkowski, 2002). Bislang ist unklar, inwieweit eine antidepressive Therapie die Stoffwechseleinstellung eines depressiven Diabetikers verbessern kann (Lustman, 2000). Denkbar ware, dass iiber eine erhohte Compliance bei Diat, Selbstkontrolle und Medikation eine giinstigere Blutzuckereinstellung herbeigefiihrt wird. Aber auch auf Rezeptorebene konnten Serotoninriickaufnahme-Hemmer iiber verschiedene Mechanismen die Insulinsensitivitat verbessern (Potter van Loon, 1992). 13.5.3 Neurologische Erkrankungen Wichtige neurologische Erkrankungen, die relevante Wechselwirkungen zwischen Depression und korperlicher Komorbiditat aufweisen, sind Schlaganfall und Morbus Parkinson. Der ischamische Hirninfarkt scheint mit der Depression iiber ahnliche Wechselwirkungen wie mit der KHK verbunden zu sein. Wiederum begiinstigt die affektive Erkrankung die Manifestation der Arteriosklerose, in diesem Fall im Bereich der hirnversorgenden Arterien. So finden sich bei Probanden mit einer Vorgeschichte einer Depression hohere Intima-Media-Dicken der Arteria carotis (Jones, 2003), und depressive Episoden erweisen sich als ein unabhangiger Risikofaktor fur das Auftreten eines Schlaganfalls (Jonas, 2000). Ist ein Hirninfarkt aufgetreten, so fallt die hohe Rate depressiver Syndrome auf, die sich in der Folgezeit manifestieren. Entsprechende Untersuchungen fanden Haufigkeiten von depressiven Syndromen von 20% bis zu 40% (Andersen, 1994; Astrom, 1993; Di Michele, 2000). Unklar ist, ob die Depression als Ergebnis der Storung neuronaler Funktionen oder als Reaktion auf eine
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befiirchtete oder eingetretene Behinderung aufzufassen ist. In praktischer Hinsicht ist bedeutsam, dass das Vorhandensein einer Depression mit einem signifikant schlechteren funktionellen Outcome verbunden ist. Angesicht der hohen Pravalenz der Post-Stroke-Depression wurde vor kurzem eine sehr fruh einsetzenden prophylaktische antidepressive Therapie getestet (Niedermaier, 2004): Hierbei kam es in der Verumgruppe in 6% zum Auftreten einer Major Depression, in der Kontrollgruppe dagegen in 40%. Der wirksamen antidepressiven Therapie nach Schlaganfall kommt angesichts der Morbiditat und Mortalitat im Rahmen der Grunderkrankung grofie Bedeutung zu (House, 2001). Die verbleibenden Ressourcen des Patienten mussen nach Moglichkeit optimal eingesetzt werden, um einer weiteren Verschlechterung entgegenzuwirken. Die Komorbiditat DepressionSchlaganfall wird noch vielschichtiger durch den Umstand, dass aufgrund neuronaler Schadigungen eine Stoning des Affekts sowie der Affektkontrolle verursacht werden kann. Diese Beobachtung mundete in dem Konzept der „Vaskularen Depression", fur welche eigene Diagnosealgorithmen geschaffen wurden (Alexopoulos, 1997). Das haufige Auftreten depressiver Storungen bei Morbus Parkinson lasst Gemeinsamkeiten der Pathogenese beider Erkrankungen vermuten (Irishman, 1998). Eine Analyse danischer Krankenregister ergab, dass M. Parkinson mit einer hoheren Depressions-Inzidenz verbunden ist als Diabetes mellitus oder Osteoarthritis (Nilsson, 2002). Diese Befunde stiitzen die Vermutung, dass die Depression bei M. Parkinson das Ergebnis einer spezifischen zerebralen Dysfunktion darstellen kann. Andererseits sind bei Depression Storungen der Bewegung dem Kliniker vertraut, diese sind nach erfolgreicher antidepressiver Therapie in der Regel reversibel. Haufig ist in diesem Zusammenhang auch die Kognition beeintrachtigt. In der Praxis bedeutet dies, dass Medikamente, die Motorik und Kognition beeintrachtigen, zuruckhaltend eingesetzt werden sollen. Zu ersteren gehoren klassische Antipsychotika, die hauptsachlich bei der wahnhaften Depression Verwendung finden, zu letzteren Substanzen mit anticholinerger Wirkung, beispielsweise trizyklische Antidepressiva. 13.6
Pharmakotherapie somatischer Erkrankungen
Bei der Abklarung depressiver Syndrome ist die Kenntnis der somatischen Komorbitat auch deshalb wichtig, da ihre pharmakologische Behandlung vereinzelt die Ursache eines depressiven Syndroms darstellen kann. Klinisch bedeutungsvoll sind Steroide und Zytokine, wie beispielsweise Inter-
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feron. Reserpin, welches in relativer Haufigkeit depressive Syndrome auslost, wird in der Behandlung der Hypertonic kaum mehr eingesetzt. Uber eine grofie Zahl weiterer internistisch indizierter Medikamente gibt es Fallberichte, die eine mogliche Auslosung eines depressiven Syndroms beschreiben; in den meisten Fallen kann jedoch eine eindeutige UrsacheWirkungs-Beziehungen nicht bewiesen werden. Dass die Blockade (3adrenerger Rezeptoren eine Depression auslost, wird zunehmend infrage gestellt (Ko, 2002). Friihere Arbeiten, die einen solchen Zusammenhang forderten, zeigen methodische Schwachen oder bezogen sich in erster Linie auf das heutzutage nur noch bei speziellen Indikationen eingesetzte Propranolol.
Das Zusammentreffen von Depression und korperlicher Erkrankung bedeutet fur die Betroffenen in der Regel eine sehr viel ungiinstigere Lage. Zusammenfassend sind dabei folgende Aspekte relevant: •
Es ist die Tendenz zu erkennen, dass psychische und korperliche Erkrankungen iiberzufallig haufig gemeinsam auftreten.
•
Das Hinzutreten einer korperlichen Komorbiditat zu einer bestehenden psychischen Erkrankung wirkt sich haufig ungunstig auf den Verlauf der letzteren aus.
•
Vice versa verschlechtert eine komorbide psychische Stoning die Prognose wichtiger somatischer Erkrankungen.
•
Die Mechanismen, die diese Wechselwirkungen bedingen, sind zu einem grofien Teil nicht verstanden.
•
Komorbide somatische Storungen sind mit einem veranderten Gesundheitsverhalten psychisch Kranker verbunden, haufig mit den Auswirkungen vermehrter Inanspruchnahme und hoherer Kosten.
Vom behandelnden Psychosomatiker oder Psychiater ist deshalb ein Mindestmafi an allgemeinmedizinischer Kompetenz (Hewer, 2005) erforderlich, ebenso wie vom somatisch tatigen Mediziner eine Aufmerksamkeit gegentiber psychischen Storungen erwartet werden kann.
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Kapitel14
14
Depression und Komorbiditat
Markus Gastpar, Essen
Komorbiditat ist ein Begriff, der erst in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts auftaucht und eng mit der neuen diagnostischen Nomenklatur der ICD-10 und der DSM-IV zusammenhangt. Typischerweise ist der Begriff deshalb auch z.B. im Lexikon der psychologischen Begriffe (Peters 1990) noch nicht enthalten. Der Grand fur die Notwendigkeit des Begriffes liegt in der Abkehr vom klassischen, durch Ideologic begriindeten, atiologischen Krankheitskonzept, d. h. der Abkehr von Kategorien und Hinwendung zu Dimensionen. Die neue ICD-10 erhalt entsprechend phanomenologische Diagnosebeschreibungen, die den Vorteil haben, dass sie unter unterschiedlichen Bedingungen, auch im transkulturellen Kontext, stabil wiedererkannt werden konnen. Aus diesem phanomenologischen Diagnostikkonzept ergibt sich logisch das Nebeneinander von Diagnosen oder Krankheitsbildern, die fruher in komplexen Krankheitskonzepten gemeinsam enthalten waren. Das klassische Beispiel ist die Differenzierung zwischen depressiven Erkrankungen einerseits und Angsterkrankungen andererseits. Noch in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde intensiv diskutiert, ob die Angstneurose sich sauber von der depressiven Erkrankung trennen lasse und ob sie sinnvollerweise in unterschiedliche Angststorungen unterteilt werden solle (McNair et al 1978). Nachdem wir nun entschieden haben, dass wir vier spezifische Angsterkrankungen unterscheiden, namlich die Panikstorung, die Agoraphobie, die spezifischen Phobien und die generalisierte Angsterkrankung, linden wir sie als diagnostizierbare Storungen, die neben einer depressiven Erkrankung beim gleichen Patienten vorkommen konnen und nicht mehr unter das Symptombild der depressiven Erkrankung subsummiert werden. Das Thema bleibt aber weiterhin ein klinisches und wissenschafthches Problem (Neumer 2000). Entsprechend formuliert der deutsche Hausarzteverband in seinem BDA-Manual Depression (ifap 2005), dass 95 % der depressiven Patienten mehrere Angstsymptome entwickeln, wahrend 65 % der Angstpatienten depressive Symptome zeigen. Gefolgert wird daraus, dass die
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Markus Gastpar, Essen
Komorbiditat von Angst und Depression in der Praxis die Regel ist und Angststorungen oft ein Indikator fur eine sich entwickelnde Depression sind. Die besten und neuesten Zahlen zur Komorbiditat in der Psychiatrie liefert die zweite nationale Komorbiditatsstudie, die in den USA zwischen 2001 und 2003 durchgefuhrt wurde (NCS-R, Kessler et al 2005 a). Diese Studie zeigt nicht nur, dass innerhalb eines Jahres regelmafiig ein Viertel der Bevolkerung eine diagnostizierbare psychische Stoning erleidet und deswegen behandlungsbedurftig wird (Kessler et al 2005 b), sondern dass die depressiven Erkrankungen nach den Angsterkrankungen die zweithaufigste psychiatrische Erkrankungsgruppe sind und dass etwa 45 % der diagnostizierten Patienten zwei oder mehr Diagnosen aufweisen (Tabelle 14.1).
Tab. 14.1:12-Monatspravalenz psychischer Storungen in der NCS-R Studie (nach Kessler et al. 2005) Angst
18,1 %
Depression
9,1 %
Impulskontrollstorungen inkl. ADHS
8,9 %
Abhangigkeitserkrankungen
3,8 %
Alle psychischen Erkrankungen
26,2 %
davon mit 1 Diagnose
55%
mit 2 Diagnosen
22,6 %
mit > 3 Diagnosen ≥
22,3 %
Auch bei den Einzeldiagnosen der in Tabelle 14.1 aufgefuhrten vier Krankheitsgruppen fungiert die depressive Erkrankung (Major Depressive Episode, Einzelepisode oder rezidivierender Verlauf) nach der spezifischen Phobie und der sozialen Phobie mit 6,7 % an dritter Stelle. Da die Addierung der Pravalenzzahlen der einzelnen Krankheitsgruppen nahezu 50 % ergibt bei einer tatsachlichen Zahl von 26 % Erkrankten, muss ein gleichzeitiges Vorkommen wie in der Tabelle 14.1 aufgelistet, recht haufig sein. Auch bei den depressiven Erkrankungen mussen wir also davon ausgehen, dass etwa die Halite der Patienten noch eine oder mehrere, zusatzlich diagnostizierbare psychische Erkrankungen aufweisen. Wichtig ist dies nicht nur, weil diese einzelnen diagnostizierbaren Krankheiten unter Umstanden auch ihre eigenen Therapiekonzepte benotigen, sondern dass mit zunehmender Komorbiditat auch der Schweregrad der Basiserkrankung
Depression und Komorbiditat
279
steigt, d.h. es besteht eine positive Korrelation zwischen dem Schweregrad der Erkrankung und der Anzahl vorliegender komorbider Storungen. Aus dem deutschen Sprachraum gibt es bisher keine vergleichbaren, reprasentativen Daten aus Studien in der Allgemeinbevolkerung. Hinweise darauf, dass die US-amerikanischen Daten auf Deutschland iibertragbar sind, ergeben sich aus der Heidelberger ILSE-Studie (interdisziplinare Langsschnittstudie des Erwachsenenalters 1993-2000 von Barth 2004). Bei vergleichbaren Pravalenzzahlen ergeben sich recht ahnliche Komorbiditatsfrequenzen von 36,5 % (n = 42) fur MDE, wobei daran die Angsterkrankungen mit 78,6 % (n = 33) und die Abhangigkeitserkrankungen mit 31 % (n= 13) Anteil hatten. Aus naheliegenden, praktischen Griinden ist es wichtig zu wissen, welche psychischen Storungen am haufigsten kombiniert mit depressiven Erkrankungen auftreten, d.h. welche komorbide Storungen gefunden werden. Die hochste Korrelation ergibt sich zwischen depressiver Erkrankung und Dysthymic mit einem Wert von 0.88, was im amerikanischen Sprachgebrauch als doppelte Depression (double depression) bezeichnet wird und unter unseren Vorstellungen die Tatsache beschreibt, dass viele depressive Erkrankungen iiber mehrere Jahre nicht vollstandig ausheilen und zwischen akuten schweren depressiven Episoden als Dysthymic vorliegen. Die Korrelation zwischen Depression und Manie entspricht der manischdepressiven Verlaufsform. Interessant sind die relativ hohen Korrelationen mit den Angsterkrankungen, was zeigt, dass ihre nomenklatorische Abtrennung vom depressiven Krankheitsbild sich jetzt wegen des haufigen gemeinsamen Auftretens dieser beiden Symptombereiche in hohen Komorbiditatsraten ausdriickt. Dass soziale Phobie und generalisierte Angststorung beide besonders hoch mit Depression korrelieren, ist aus der gemeinsamen uberlappenden Symptomatik gut nachvollziehbar. Auch die posttraumatische Belastungsstorung und die Zwangserkrankung korrelieren hoch mit depressiver Erkrankung, was aus der klinischen Erfahrung gut nachvollziehbar ist und - wie bei den anderen Erkrankungen - auch in gemeinsamen psychopharmakologischen und psychotherapeutischen Konzepten mundet (SSRI, Verhaltenstherapie). Auch das gehaufte Vorkommen von Alkoholmissbrauch und Alkoholabhangigkeit ist bei Patienten mit depressiven Erkrankungen haufig untersucht und beschrieben worden. Neben den Daten aus der hier referierten zweiten US-Komorbiditatsstudie gibt dazu auch der National Longitudinal Alcohol Epidemiologic Survey (NLAES) prazise Daten. Grant konnte zei-
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Markus Gastpar, Essen
gen, dass beim gemeinsamen Vorkommen von Depression und Alkoholabhangigkeit etwa 41 % der Patienten primar depressiv sind, 42 % primar alkoholkrank und bei 17 % sich diese Frage nicht eindeutig beantworten lasst (Grant et al 1996). Nach Soyka (2002) sind Depressionen bei Alkoholabhangigkeit haufiger sekundar, wahrend Angsterkrankungen (besonders Panikstorungen) haufiger der Abhangigkeit vorausgehen, also primar sind. Die Frage geschlechtsspezifischer Haufigkeiten stellt sich hier besonders, da durch viele Studien bestatigt, Alkoholkrankheit bevorzugt bei Mannern und depressive Erkrankung bevorzug bei Frauen auftreten. Trotzdem zeigen aber auch Frauen mit depressiver Erkrankung ein 2,6-fach erhohtes Risiko auch eine Alkoholerkrankung zu entwickeln (Dixit und Crum 2000). Die Frage der Geschlechtsspezifitat wurde auch noch in einer speziellen Population ambulanter depressiver Patienten untersucht mit dem Ergebnis, dass Frauen signifikant haufiger komorbide Essstorungen und Phobien aufwiesen, wahrend bei Mannern signifikant haufiger Alkoholund Drogenprobleme gefunden wurden (Fava et al 1996). Im Gegensatz zu den bisher referierten Ergebnissen untersuchte die niederlandische Populationsstudie zusatzlich zur Haufigkeit psychischer Storungen Risikoprofile und Risikotypen fur komorbide Storungen (Bijl et al 1998). Hier konnte sehr schon gezeigt werden, dass Frauen nicht nur eine hohere Pravalenz fur psychische Erkrankungen aufweisen, sondern dass sie auch signifikant mehr komorbide Storungen haben (55 % gegen 36 %). Aufierdem weisen Frauen im Vergleich zu Mannern ein deutlich hoheres Risiko auf, bei depressiven Storungen auch komorbide Angststorungen zu entwickeln, wahrend bei Mannern andere komorbide Storungen haufiger sind (de Graaf et al 2002). Diese unterschiedlichen Risikoprofile von Mannern und Frauen passen gut zu einem neuen Konzept dimensionaler Strukturierung psychischen Leidens. Die Dimension „Internalisierung" mit Depression, Angst, Somatisierung und Hypochondrie stehen der Dimension „Externalisierung" mit Substanzabhangigkeit und antisozialer Personlichkeitsstorung gegeniiber und sind auch transkulturell stabil (Krueger et al 2003). Umgekehrt finden amerikanische Studien wiederholt, dass Angststorungen inklusive spezifische Phobien als Ausdruck einer erhohten Vulnerabilitat ein wichtiger Risikofaktor fur die Entwicklung einer depressiven Erkrankung sind (Maser und Cloninger 1990, Regier et al 1998).
Depression und Komorbiditat
281
Tab. 14.2: Haufigkeit der Komorbiditat von depressiver mit anderen Diagnosen, ausgedriickt als Korrelation zwischen zwei Krankheitsformen (nach Kessler RC et al. 2005) MDE + Dysthymie
.88
MDE + Manie/ Hypomanie
.63
MDE + Generalisierte Angststorung
.62
MDE + soziale Phobie
.52
MDE + Agoraphobie
.52
MDE + ADHS
.50
MDE + PTBS
.50
MDE + Panikstorung
.48
MDE + speziiische Phobie
.43
MDE + Zwangserkrankung
.42
MDE + Alkohol- und Drogenabhangigkeit
.40
Erkrankung (MDE = majore depressive Episode, ADHS = Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitatsstorung, PTBS = Psychotraumatische Belastungsstorung)
Eine weitere Komplikation depressiven Krankseins ist gegeben beim gleichzeitigen Vorliegen einer Personlichkeitsstorung. Im Allgemeinen fuhrt diese Kombination zu reduzierten Erfolgsraten in der Akutbehandlung der Depression und insgesamt zu schwierigeren Verlaufsformen (Reich et al 1993, Shea et al 1990). Andererseits scheint eine geeignete Kombination von Pharmakotherapie und Psychotherapie bei Komorbiditat von Depression und Personlichkeitsstorung zum Teil ein besseres Behandlungsresultat zu ermoglichen als bei einer reinen Personlichkeitsstorung (Wenning et al 2002). Die Haufigkeit solcher begleitender Personlichkeitsstorungen kann betrachtliches Ausmafi erreichen, wie eine Studie bei fiber 65-jahrigen depressiven Patienten zeigt (Camus et al 1997). Immerhin ergaben sich hier je nach Subgruppe 50 % bis 70 % Patienten mit komorbider Personlichkeitsstorung. Einen Einfluss hat dies teilweise auch auf die Auspragung und Frequenz von Suizidversuchen im Verlauf behandelter depressiver Patienten, wie eine Studie von Reich 1998 ergab. Diese Beispiele zeigen, dass es bei der psychiatrischen Untersuchung und Behandlung von praktischer Wichtigkeit ist, stets an eine begleitende Personlichkeitsstorung zu denken. Die US-amerikanische Nomenklatur DSM IV (Safi et al. 1996) hat deshalb didaktisch geschickt in ihrem Konzept der Mehrebenendiagnostik (Seele, Personlichkeit, Korper, Belastungsfaktoren, Funktionsniveau) nach der klassischen psychiatrischen Diagnostik auf Ebene 1 den Personlichkeitsstorungen die zweite Ebene zugewiesen, so dass
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Markus Gastpar, Essen
im diagnostischen Prozess lege artis stets die Frage nach dem Vorliegen einer Personlichkeitsstorung beantwortet werden muss. Ahnliche Verhaltnisse ergeben sich beim gleichzeitigen Auftreten von Erkrankungen bei der manischen oder hypomanischen Episode (Tabelle 14.3).
Tab. 14.3: Komorbiditat zwischen bipolarer Erkrankung und anderen Diagnosen ausgedriickt als tetrachronischer Korrelationskoeffizient (nach Kessler RC et al. 2005) Manie/ Hypomanie + majore depressive Episode
.63
Manie/ Hypomanie + Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitatsst6rung(ADHS)
.60
Manie/ Hypomanie + Agoraphobie
.52
Manie/ Hypomanie + Panikstorung
.51
Manie/ Hypomanie + generalisierte Angststorung
.49
Manie/ Hypomanie + Soziale Phobie
.46
Manie/ Hypomanie + Posttraumatische Belastungsstorung
.44
Manie/ Hypomanie + Drogenmissbrauch
.43
Manie/ Hypomanie + Alkoholabhangigkeit
.41
Manie/ Hypomanie + Zwangserkrankung
.40
Auffallend ist dabei die hohe Korrelation mit der Aufmerksamkeits/Hyperaktivitatsstorung, die offensichtlich im Erwachsenenalter weiterhin haufig vorkommt und eine hohe Korrelation mit manisch-depressiver Erkrankung im Erwachsenenalter zeigt. Neben der Korrelation mit Angststorungen wie bei der depressiven Erkrankung zeigt sich bei der bipolaren Storung aber insbesondere eine signifikante Korrelation mit Alkoholabhangigkeit und Drogenmissbrauch. Dies entspricht insbesondere bei der Alkoholabhangigkeit auch unserer klinischen Erfahrung und soil uns daran erinnern, dass wir bei bipolaren Storungen immer auch an Abhangigkeitsprobleme denken und nach ihnen suchen, andererseits aber auch bei Abhangigkeitserkrankungen nicht vergessen sollten, dass nicht selten einmal eine schwerere affektive Storung, insbesondere auch eine manischdepressive Erkrankung, hinter schweren Abhangigkeitsproblemen stehen kann. Schlussendlich ist darauf hinzuweisen, dass die Zwangserkrankung bei der depressiven wie auch der bipolaren Erkrankung signifikant haufig gemeinsam auftritt (.40 bei Manie, .42 bei Depression), wobei sich hier nicht nur das sehr ahnliche Therapiekonzept mit Antidepressiva und Verhaltenstherapie bestatigt, sondern auch die klinische Erfahrung durch diese
Depression und Komorbiditat
283
sorgfaltige epidemiologische Studie bestatigt wird, dass Zwangspatienten offers schwer depressive erkranken. Wenn von komorbiden Storungen bei depressiver Erkrankung die Rede ist, darf nicht vergessen werden, dass depressive Erkrankungen gehauft bei einigen somatischen Erkrankungen gefunden werden und dort den Verlauf der Erkrankung mafigeblich mit beeinflussen (s. Lederbogen, Kapitel 13 „K6rperliche Komorbiditat"). Ein nicht seltener Spezialfall ist hier die depressive Pseudodemenz bei schweren depressiven Erkrankungen in der zweiten Lebenshalfte, die mit Denkhemmung, Konzentrationsstorung und subjektivem Gedachtnisverlust einhergeht. Hier geht es moglicherweise oft nicht um die immer wieder beschriebene Differentialdiagnostik zwischen eigentlicher Demenz und depressiver Pseudodemenz, sondern diirfte das parallele, komorbide Auftreten der beiden Storungen beim Alterwerden unserer Patienten immer haufiger werden. Beschrieben und kritisch diskutiert wurde dies schon seit langerem (Shraberg 1978). Abschliefiend ist darauf hinzuweisen, dass auf der Basis neuer genetischer Erkenntnisse die Frage der Komorbiditat moglicherweise bald noch in einem ganz neuen Licht diskutiert werden muss. So zeigt sich aufgrund neuer genetischer Erkenntnisse, dass die manisch-depressive Erkrankung vom bipolaren Typ offensichtlich eine gemeinsame genetische Basis hat mit der schizophrenen Erkrankung (Green et al 2005, Maier et al 2005). Bekannt ist die Uberlappung der beiden Erkrankungen schon seit langerem im Bereich gemeinsamer Charakteristika, gemeinsamer Risikofaktoren und Gemeinsamkeiten in der depressiven Symptomatik. Wie weit diese Erkenntnisse zur Neubeschreibung der aktuellen Krankheitsgruppen fuhren oder zu neuen isolierbaren Storungsgruppen, die dann als komorbide Storungen auftreten konnen, wird die Zukunft weisen. Ahnliche Uberlegungen gibt es auf der Ebene der Elektrophysiologie. In einer Studie aus Israel liefi sich nachweisen, dass vom Hirnstamm abgeleitete auditorische evozierte Potenziale nicht zwischen Panikstorung und depressiver Erkrankung unterscheiden konnten, was von den Autoren als Hinweis auf gemeinsame pathophysiologische Mechanismen im Hinblick auf eine Angst-DepressionSpektrumerkrankung gedeutet wird (Kimhi et al 1997). Die Beriicksichtigung komorbider Storungen bei unseren Patienten ist in den letzten 15 Jahren diagnostisch wie therapeutisch wichtig geworden. Die aktuellen Daten belegen diese Wichtigkeit und weisen vor allem darauf hin, dass mehr Komorbiditat schwereren Krankheitsverlauf und komplexere therapeutische Probleme bedeutet.
284
Markus Gastpar, Essen
Bei der Halfte der depressiven Patienten kommen komorbide psychische Erkrankungen vor. Am haufigsten als komorbide Storungen gefunden werden Angsterkrankungen, Zwangserkrankungen und Abhangigkeitserkrankungen Auch die Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitatsstorung (ADHS) ist im Erwachsenenalter eine wichtige komorbide Erkrankung bei Depression oder bipolarer Erkrankung. Komorbide Storungen insgesamt und Personlichkeitsstorungen im Besonderen komplizieren den Krankheits- und Behandlungsverlauf. Das Vorliegen komorbider Storungen erfordert die Modifikation klassischer Behandlungskonzepte der Grunderkrankung.
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Depression und Komorbiditat
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Markus Gastpar, Essen
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Kapitel15
15
Suizidalitat
Manfred Wolfersdorf, Bayreuth
15.1
Einleitung
Das Thema „Selbstt6tung" hat die Menschheit beschaftigt, seit es sie gibt. Denn nur der Mensch ist in der Lage, iiber die Beendigung des eigenen Lebens durch eigene Hand nachzudenken oder dies umzusetzen. Die Bewertung von Suizidalitat schwankt im Laufe der Menschheitsgeschichte zwischen totaler Ablehnung als Sunde, schuldhaft, ja unsinnig, bis hin zu der Auffassung von Suizid als Ausdruck von Freiheit des Menschen, von Selbsttotung als Pflicht im Interesse der jeweiligen Gesellschaft bis hin zu Selbsttotung als Flucht aus dem Leben, aus Verpflichtungen, aus Beziehungen. Suizidalitat als Symptom von Melancholie ist dabei seit Hippokrates bekannt. Erst in den letzten 2 Jahrhunderten wird suizidales Verhalten als Fragestellung der Medizin bzw. seit Anfang des 19. Jahrhunderts der Psychiatrie und Psychotherapie verstanden. Dadurch wurde das Jahrhunderte lang geltende religiose Paradigma von Suizidalitat durch ein heute giiltiges „medizinisch-psychosoziales Paradigma" abgelost (Wolfersdorf 2000). 15.2
Suizidalitat und Depression
Unter Suizidalitat verstehen wir die Summe aller Denk- und Verhaltensweisen von Menschen oder auch Gruppen von Menschen, die in ihren Gedanken, durch aktives Handeln, Handelnlassen oder Unterlassen einer lebenserhaltenden Mafinahme den eigenen Tod anstreben bzw. als moglichen Ausgang in Kauf nehmen. Suizidalitat ist eine ureigene menschliche Denk- und Verhaltensmoglichkeit und keine Krankheit oder ein psychopathologisch krankhaftes Syndrom. Suizidales Denken und Verhalten ist grundsatzlich alien Menschen moglich, tritt jedoch haufig in psychosozialen Krisen und bei psychischer Erkrankung auf („medizinisch-psychosoziales Paradigma").
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Manfred Wolfersdorf, Bayreuth
Uber Jahrhunderte hinweg wurde Suizidalitat im Kontext von Melancholie/Depression verstanden. Heute ist Suizidalitat in einem Spannungsfeld angesiedelt, welches bei Freizeitrisikoverhalten beginnt und uber autoaggressives Verhalten mit suizidaler Intension bzw. Inkaufnahme von Versterben, uber suizidales Verhalten als Ausdruck einer narzisstischen Krise (Krisen-Modell von Suizidalitat), suizidales Verhalten als Ausdruck einer Wendung der Aggression gegen sich selbst reicht bis zum altruistisch erweiterten Suizid (Mitnahmesuizid z.B. in der schweren Depression), zum Opfersuizid (d.h. fur andere Menschen oder eine Uberzeugung sich toten lassen), zum fremdaggressiv erweiterten Suizid (z.B. Geisterfahrer), zum „M6rder-Suizid (Kamikaze-Suizide, Terroristen-Suizid als Form der heutigen Kriegsfuhrung), zum Massensuizid mit Selbsttotung und Totung und zum sog. Freitod als Selbsttotung in Abwesenheit psychischer, somatischer und sozialer Not (Wolfersdorf et al. 2002). Psychische Storungen, psychosoziale Krisen sowie korperliche Erkrankungen mit lebensbeeintrachtigenden und vor allem schmerzbetonten Aspekten, die mit dem Gedanken der Unertraglichkeit und Unveranderbarkeit verbunden sind, mit Kognitionen von Hilf- und Hoffnungslosigkeit, fiihren aufgrund veranderten und eingeengten Wahrnehmens der aktuellen Situation, der eingeschrankten eigenen Veranderungspotenziale bzw. einer fehlenden Entwicklungsmoglichkeit in die Zukunft hinein naher an Suizidalitat heran. Suizidalitat ist dabei nicht Losung einer Problemsituation, sondern eine Beendigung, die auch zu Beeintrachtigung weiterer Menschen fuhrt. Unter therapeutisch-suizidpraventiven Gesichtspunkten ist Suizidalitat stets nur eine Verhaltensmoglichkeit im Leben, wobei die Verhaltensmoglichkeit „Selbsttotung" bei Versterben des Handelnden endgiiltig ist (Tabelle 15.1). In Tabelle 15.2 ist Suizidalitat fur die klinische Diagnostik beschrieben von einem eher passiven Pol (eher Gedanken) bis zur aktivem Umsetzung in Form suizidaler Handlung. Unter Suizid versteht man eine sofort oder in der Folge zur Beendigung des Lebens fuhrende Handlung, die in der Uberzeugung, mit dem Wissen oder auch in der Erwartung durchgefuhrt wird, mit der angewandten Methode das Ziel Tod zu erreichen. Der Suizidversuch ist eine ebenfalls bewusst selbst verursachte selbstschadigende Handlung, mit dem Ziel, unter Einsatz des eigenen Lebens (Todeswunsch) etwas zu verandern (kommunikative Bedeutung: Appell) bzw. mit dem Ziel des Versterbens, wobei die Behandlung iiberlebt wird.
Suizidalitat
289
Tab. 15.1: Epidemiologic/ Klinische Aspekte Epidemiologie/ Klinische Aspekte der Suizidalitat
•
Depression ist die haufigste psychische Erkrankung; Frauen iiberwiegen deutlich
•
Suizid ist ein seltenes Ereignis (wenngleich ca. 11.000 pro Jahr, 1/3 mehr als RfZ-Tote). Ca. 11.000 Suizidtote pro Jahr in Deutschland derzeit, Suizidrate bei Mannern deutlich holier als bei Frauen. Die Suizidraten steigen mit dem Alter und sind bei alten Mannern am hochsten. Ca. 60 - 70% aller akut depressiv Kranken haben Suizidideen, ca. 10% akute Suizidabsichten.
•
Ca. 4% aller Depressiven versterben durch Suizid; bei Schwerstkranken hegt die Lebenszeitsuizidmortalitat bei ca. 15%. Bis heute ist eine Vorhersage, wer versterben wird, nicht moglich
•
Moglicherweise korreliert die Suizidrate alter Manner mit der zunehmenden Hauligkeit von Depression bei alten Mannern.
•
Die Kombination Depression, korperliche Krankheit mit Verschlechterung der Lebensqualitat und Schmerz mit Verlust von Autonomic und schwieriger sozialer Situation (alte Manner, Krebskranke, chronische Arbeitslosigkeit und Isolation) ist suizidfordernd
•
Anteil der depressiv Kranken mit Suizidalitat (Suizidideen, Zustand nach Suizidversuch) in heutigen Klinik flir Psychiatrie und Psychotherapie liegt bei ca. 40 - 50%, also jede 2. oder 3. Aufnahme. Von alien Suizidgefahrdeten versterben in einem psychiatrischen Krankenhaus ca. 5 10% trotz bester Therapie und Fiirsorge. Der Anteil der Depressiven an den KUniksuiziden Uegt allerdings nur bei ca. 25%, d.h. klinische Behandlung ist suizidpraventiv. Die Suizidalitat depressiv Kranker steht eher in Zusammenhang mit akuter Psychopathologie als z.B. die Suizidalitat schizophren kranker Patienten. Die Beachtung von Risikopsychophatologie, von Komorbiditat (andere psychische oder somatische Erkrankung) und Kombination mit sozialen Faktoren ist wichtig.
•
Depressiv Kranke suizidieren sich audi aufierhalb einer depressiven Episode; unklar ist ob es sich dann um einen Suizid in einer kurzen depressiven Episode (wenige Tage depressive Reaktion) oder um Suizid in einer pradepressiven, minor-depression-Episode oder einer von Hoffnungslosigkeit bzw. kurzer Wahnsymptomatik gepragten Situation handelt; auch (pseudo-) altruistische Einstellungen oder auch qualende Unruhezustande konnen eine Rolle spielen.
Beim Suizidversuch kann man zwischen zwei Gruppen unterscheiden, einer eher kommunikativ-appellativen suizidalen Handlung, die letztlich auf die Veranderung von Lebensbedingungen ausgerichtet ist, von einer oftmals zufallig uberlebten suizidalen Handlung (Parasuizidale Handlung), bei der das Versterben der Person intendiert war. Etwa 60 - 70% aller akut depressiv Kranken haben Todeswunsche und Suizidideen, bis zur Halite aller schwer Depressiven haben schon fruher Suizidversuche durchgefuhrt.
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Manfred Wolfersdorf, Bayreuth
Tab. 15.2: Beschreibung von Suizidalitat Kontinuitats-Annahme mit Handlungskonsequenzen: zunehmende „sichernde Fursorge". Eigenverantwortung -> Fremdverantwortung Wunsch nach Rune, Pause Unterbrechung im Leben (mit dem Risiko von Versterben) eher passive Suizidalitat Todeswunsch (jetzt oder in einer unveranderten Zukunft lieber tot sein zu wollen) Suizidgedanke - Erwagung als Moglichkeit - Impuls (spontan sich aufdrangend, zwanghaft) Suizidabsicht - mit bzw. ohne Plan - mit bzw. ohne Ankiindigung Suizidhandlung - vorbereiteter Suizidversuch, begonnen und abgebrochen (Selbst- und Fremdeinfluss) - durchgefuhrt (selbst gemeldet, gefunden) - gezielt geplant, impulshaft durchgefuhrt
15.3
Zunehmender Handlungsdruck, Zunahme des Handlungsrisikos
eher aktive Suizidalitat
Risikogruppen
Miles (1977) berichtete von 15% Lebenszeitsuizidmortalitat bei primarer (endogener) bzw. reaktiver Depression; Blair-West und Mellop (1995) korrigierten diesen hohen Wert auf 3,3% fur eine Major Depression (DSM-III) bei einer Lebenszeitmorbiditat fur MDD von 17,1 und einer Suizidrate von 13,34 fur Australien. Wolfersdorf (1996) errechnete eine Lebenszeitsuizidmortalitat von 4,3% fur depressive Episoden aller Schweregrade nach ICD-10 bei einer Lebenszeitmorbiditat von 17% und einer Lebenszeit von 60 Jahren sowie einer Suizidrate von 20 auf 100.000 pro Jahr; mit der gleichen Methode ergab sich fur schwere depressive Episoden eine Lebenszeitsuizidmortalitat von 14,4% (Wolfersdorf 2000). Nach Harris und Barraclough (1998) ist die Suizidmortalitat bei depressiven Episoden um das 21-fache, bei bipolaren affektiven Erkrankungen um das 11,7-fache und bei der Dysthymia um das 11,9-fache gegeniiber der Suizidmortalitat in der Allgemeinbevolkerung erhoht. B. Schneider (2003) findet in psychologischen Autopsien eine Spannweite von 17 - 89% depressive Suizidenten. Bertolote et al. (2004) finden einen Anteil von 30,2% affektiver Storungen bei Suizidtoten, wobei dieser Anteil bei stationaren psychiatrischen Patienten bei 20,8% und als Erstdiagnose in der Allgemeinbevolkerung bei 44,4% liegt. Wolfersdorf und Maulen (1992) hatten beim Vergleich verschiedener Studien einen Anteil von 60% Depression
Suizidalitat
291
zum Zeitpunkt des Suizides gefunden. Krupinski et al. (1998) konnten 3.792 mono- und bipolare Depressive, die 1981 - 1992 in stationarer Behandlung waren, untersuchen; sie fanden 33 (0,8%) Suizide wahrend stationarer psychiatrischer Behandlung die Anzahl lag 2,7-fach hoher als die Gesamtsuizidrate der Klinik. Ahnlich fand Wolfersdorf (1997) bei 3.546 stationar 1976-1995 aufgenommene Patienten einer Depressionsstation 26 Suizide wahrend der Behandlung, was einer Suizidrate von ca. 700 und einer kumulativen Suizidmortalitat von 2,5% uber 20 Jahre entspricht. In Tabelle 15.3 und 15.4 sind die wichtigsten Faktoren fur ein erhohtes Suizidrisiko zusammengefasst.
Tab. 15.3 : Faktoren fur ein erhohtes Suizidrisiko 1 ••
••
•• Suizidideen/suizidales Verhalten Suizidideen (fruher/jetzt) Suizidversuche (einschliefilich aboder unterbrochener Versuche) Suizidabsicht Psychiatrische Krankheiten typische depressive Episode bipolare affektive Erkrankung (meist depressiv oder gemischt) Schizophrenien Anorexia nervosa Alkoholkrankheit andere Substanzabhangigkeit •• Cluster B Personlichkeitsstorung (insbesondere BorderlinePeronlichkeitsstorung) Komorbiditat Achse I und/oder IIErkrankungen
••
Korperliche Krankheiten Erkrankungen des Nervensystems (Multiple Sklerose, Morbus Huntington, Verletzungen des Gehirns und der Wirbelsaule, Anfallsleiden) Maligne Krebserkrankung - HIV/AIDS Magenulzera Chronisch obstruktive Lungenerkrankung (speziell bei Mannern) Systemischer Lupus erythematosus Schmerzsyndrome Funktionseinschrankungen Psychosoziale Faktoren aktuell Fehlen sozialer Unterstiitzung (einschliefihch Alleinleben) Arbeitslosigkeit Verlust des soziookonomischen Status schlechte familiare Beziehung1 Gewalttatigkeit des Partners2 aktuell belastendes Lebensereignis Kindheitstraumata Sexueller Missbrauch Physischer Missbrauch
American Psychiatric Association: Practice Guideline for the Assessment and Treatment of Patients with Suicidal Behaviours. Am J Psychiatry 2003; 160 (11) (suppl.): 1 – 60 (übersetzt Wolfersdorf 2004)
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292
Tab. 15.4: Faktoren fur ein erhohtes Suizidrisiko 2 ••
••
Genetik, Familie Familiengeschichte mit Suiziden (insbesondere bei Verwandtschaft 1. Grades) Familiengeschichte mit psychischer Krankheit inkl. Abhangigkeit Psychologische Faktoren Hoffnungslosigkeit Psychischer Schmerz1 schwere oder nicht bessernde Angst Panikattacken Scham oder Entwurdigung1 Psychologische Aufruhr1 Verlust von Selbstwertgefuhl1 extreme narzisstische Verletzbarkeit1 Verhaltensauffalligkeiten Impulsivitat Aggression einschliefilich Gewalt gegen andere Unruhe
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••
Kognitive Faktoren Verlust exekutiver Funktion2 Einengung der Gedanken (Tunnelsicht) Polaritat im Denken „closed-mindedness" Demographische Faktoren mannliches Geschlecht3 verwitwet, geschieden oder Single, speziell bei Mannern hoheres Alter (hochstes Risiko proportional) Jugendhche und junge Erwachsene (Altersgruppe mit hochster Suizidzahl) weifie Rasse schwul, lesbisch oder bisexuell2 Weitere Faktoren Zugang zu Feuerwaffen Vergiftung (auch bei fehlender Substanzabhangigkeit) instabile oder unzureichende therapeutische Beziehung1
1 Assoziation mit erhohter Suizidrate basiert eher auf klinischer Erfahrung als auf Forschungsergebnissen. 2 Assoziation mit erhohter Suizidversuchsrate, kerne Evidenz bzgl. Suizidrate 3 Frauen erhohtes Risiko fur Suizidversuche im Vergleich zu Mannern
Die wichtigste Risikogruppe fur Suizid sind psychisch kranke Menschen (Tabelle 15.3 und Tabelle 15.4) wobei an erster Stelle Menschen mit typischen depressiven Episoden stehen, gefolgt von bipolaren affektiven Erkrankungen (meist depressiv oder gemischt), dann Schizophrenie, Anorexia nervosa, Alkoholabhangigkeit sowie andere Substanzabhangigkeit und Personlichkeitsstorungen. Man kann zusammenfassen: •
Die Lebenszeitsuizidmortalitat einer schwer depressiven Kohorte liegt heute noch bei ca. 15%. Die Lebenszeitsuizidmortalitat fur alle depressiv Kranken der unterschiedlichen Schweregrade von leicht bis sehr schwer depressiven Storungen liegt wahrscheinlich bei um 4 - 5%.
•
Etwa 10% aller Suizide psychisch Kranker geschehen wahrend stationarer psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung; davon sind etwa 25% Patienten mit der Diagnose einer primaren Depression. Dies bedeutet, dass die meisten Suizide depressiv kranker Menschen unter
Suizidalitat
293
ambulanter oder aufierhalb jeglicher Therapie geschehen. Dies verweist auf die vorwiegend im ambulanten Bereich vorhandene Problematik der haufigen Unter- und Fehldiagnostik sowie der Unter-, Fehlund Nicht-Behandlung. Dies betrifft die antidepressive Medikation, aber auch die Psycho- und Soziotherapie. Unterdiagnostik von Depression (und Suizidalitat) sowie Nicht- oder unzureichende Behandlung einschliefilich Patienten-Non-Compliance und Nicht-Inanspruchnahme von Hilfe sind wahrscheinlich wesentliche Faktoren der bis heute hohen Lebenszeitsuizidmortalitat depressiv Kranker. 15.4
Risikopsychopathologie f ur Suizidalitat bei Depression
Ein zentraler Bestandteil von Suizidpravention ist das Erkennen von Suizidalitat. Dabei muss man bei den Risikofaktoren fur Suizidalitat unterscheiden zwischen sog. feststehenden, nicht veranderbaren (Geschlecht, Alter, ethnische Zugehorigkeit, Geschlechtszugehorigkeit, fruhere Suizidversuch) und durch Therapie oder sonstige psychosoziale Interventionen veranderbaren Risikofaktoren (Behandlung psychischer Storungen bzw. einer korperlichen Erkrankung; Behandlung von Angstzustanden, Hoffnungslosigkeit und fehlender Lebenszufriedenheit; Regelung sozialer Faktoren, soziale Isolation oder Arbeitssituation) (Bertolote 2004). Als protektiv gegen Suizid wirkende Faktoren gelten nach APA (American Psychiatric Association 2004) vor allem das Vorhandensein von Kindern zu Hause, ein Gefuhl der Verantwortlichkeit fur die Familie, Schwangerschaft, Religiositat und Lebenszufriedenheit, die Fahigkeit zur Realitatspriifung sowie das Vorhandensein von positiven Problemlosungsstrategien, sozialer Unterstiitzung und auch eine positive therapeutische Beziehung. Zum Auffinden sog. Risikopsychopathologie (siehe auch Tabellen 15.3 und 15.4) werden in Untersuchungen die Ergebnisse von depressiven Suizidentengruppen mit depressiven Nicht-Suizidenten verglichen (Schneider 2004, Wolfersdorf 1991, Coryell und Young 2005). Hier finden sich im Wesentlichen ahnliche Ergebnisse: Hoffnungslosigkeit, Angst und Gefuhle von Wertlosigkeit; depressiver Wahn; depressiv-manische Mischbilder; schwere Schlafstorungen; ausgepragte Unruhe und Agitiertheit; schwere Angststorungen bei depressiven Suizidenten. Quendo et al. (2004) fanden bei Depressiven mit Suizidversuch neben den zu den erwartenden Ergebnissen signifikant erhohter Depressions-, Hoffnungslosigkeits- und Suizidideen Werte auch signifikant hohere Aggressions- und Impulsivitatswerte
Manfred Wolfersdorf, Bayreuth
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sowie signifikant haufiger Missbrauchserfahrungen in der Kindheit, Hirnverletzungen und Komorbiditat mit Alkohol oder anderer Substanzabhangigkeit in der Vorgeschichte. Die von Coryell und Young (2005) beschriebenen Suizide von Patienten mit einer primaren depressiven Erkrankung (MDD) - 24,6% aller Verstorbenen Depressiven in einer 21 Jahre langen kumulativen Katamnese zeichnen sich aus durch signifikant hohere Anzahl von stationaren Patienten und ausgepragtere Hoffnungslosigkeit. Uberraschend sind die Ergebnisse von Rehmet et al. (1996), die stationare Depressive mit Suizid mit einer depressiven Kontrollgruppe (Alter, Geschlecht, Zeitpunkt der stationaren Behandlung) verglichen und aus einer Gruppe von 35 definierten Risikofaktoren 10 signifikant haufiger bei Suizid finden: affektive Psychose (nach ICD-9), mehrere Aufnahmen, Einengung nach Ringel, fehlende Lebensperspektive, Aggressionsumkehr, Neigung zur Selbstentwertung; Wahn, Fehlen bindender Werte, endogenes Bild, Therapeutenwechsel, Symptome in der Familie. Quin und Nordentoft (2005) konnten bei stationaren depressiven Patienten zwei Gefahrdungszeitpunkte fur Suizid herausarbeiten: die 1. Woche nach Aufnahme und die 1. Woche nach Entlassung. Wolfersdorf (1989) hatte auf die Bedeutung der ersten 4 Wochen und auf die Nahe der Suizidalitat Depressiver zur aktuen Psychopathologie hingewiesen. 15.5
Atiopathogenese
Ein umfassendes Modell fur die Atiopathogenese suizidalen Verhaltens gibt es nicht. Zum einen sind hier Entwicklungsmodelle zu beschreiben das prasuizidale Syndrom von Ringel (Ringel 1953), die prasuizidalen Stadien von Poldinger (Poldinger 1968, Wolfersdorf 2002) -, anderseits gibt es das von Mann und Stanly formulierte dispositionelle Modell suizidalen Verhaltens-Krankheitsmodell, welches von der Vorgabe einer genetischen Disposition, von Moderatorvariablen wie Depression, Schizophrenie oder korperliche Erkrankung ausgeht und beim Auftreten eines belastenden Lebensereignisses in ein erhohtes Suizidrisiko einmundet. Daneben steht das Krisenmodell (Abbildung 15.1), welches von einer bisher psychisch gesunden Personlichkeit sowie dem Vorhandensein selbstdestruktiver Konfliktbewaltigungsstile ausgeht und beim Auftreten von belastenden Lebensereignissen - z. B. narzisstische Krankung - zu einer Krise mit Suizidalitat fuhrt. In der Praxis uberschneiden sich beide Modelle haufig: Ein Patient, mit einer depressiven Episode und einem auslosenden Konflikt im Vorfeld eines Suizidversuches wird eine depressionsspezifische und eine
Suizidalitat
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krisenspezifische psychotherapeutische und psychopharmakologische Behandlung erhalten.
Psychobiosoziale Ausgangsbedingungen
lebensgeschichthche Entwicklung
Persönlichkeit bisher „psychisch gesund“ selbstdestruktive Stile der Konfliktbewältigung
Psychische Krankheit
Suizidalität fördernde Psychopathologie: Hoffnungslosigkeit, Bedrohtheitsgefühle, Wahn, Suizidabsicht
Fakten die Suizidalität fördern und Hoffnungslosigkeit, bisherige Suizidalität, Modelle in Peergroup / Umfeld / Kultur
Krise mit Suizidalität „Risiko-Psychopathologie“
psychische Krankheit akut / chronischer Suizidalität
Abb. 15.1: Krisenmodell zur Entstehxing von Suizidalitat
296
Manfred Wolfersdorf, Bayreuth
15.6
Suizidpravention
Bei der Suizidpravention sind verschiedene Ebenen zu unterscheiden: eine versorgungs- und gesundheitspolitische Ebene. Dabei geht es um mogliche Zielrichtungen und deren Umsetzung in gesundheitspolitische Programme (Tabelle 15.5 und Tabelle 15.6). Beispiele hierfur sind in Deutschland das Niirnberger „Bundnis gegen Depression" (Althaus et al. 2005 im Druck, Hegerl et al. 2003) und vor alien das „Nationale Suizidpraventionsprogramm fur Deutschland" (NaSPro) in Zusammenarbeit mit dem ..European Network on Suicide Research and Prevention" und der WHO unter Leitung von Schmidtke (Schmidtke 2005 im Druck). Im Rahmen solcher Programme wie NaSPro werden z.B. die Entscharfung von sog. „Hot spots" (Orte besonders haufiger Suizidhandlungen) wie bekannte Briicken, Stile von Suizidberichten mit den Medien, Bemuhungen zur Entgiftung von Hausgas und Autoabgasen, Waffengesetze oder auch Aktivitaten in Apotheken oder bei besonders gefahrdeten Gruppen, z. B. psychisch Kranke oder alte Menschen, initiiert.
Tab. 15.5: Mogliche Zielrichtungen von Suizidpraventionsprogrammen (Wolfersdorf 2000) Mogliche Zielrichtungen von Suizidpraventionsprogrammen •• Forderung antisuizidaler, antidepressiver, Selbstwert fordernder Erziehungsstile in Familie, Kindergarten, Schule, Jugendszene u.a. (Primarpravention) •• Forderung protektiver Faktoren gegen Depressivitat, siichtiges Verhalten, Hilf- und Hoffnungslosigkeitsgefuhle (Primarpravention) •• Diagnostic Krisenintervention, Therapie sowie Rehabilitation - rasch, fruhzeitig, konsequent und fachlich - von psychischer Storung und Krankheit (Sekundar- und Tertiarpravention) •• Verbesserung der Berichterstattung iiber Suizide (Sekundarpravention) •• Fiirsorge, Diagnostik und Therapie ftir Angehorige von durch Suizid Verstorbenen (Sekundarpravention) •• Erschwerung der Zugriffs- und Zugangsmoglichkeiten zu Suizidmethoden (Waffen, Medikamente, Hohe) (Sekundar- und Tertiarpravention) •• Entgiftung von Auto- und Hausgas (Sekundar- und Tertiarpravention)
Suizidalitat
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Tab. 15.6 : Ebenen der Suizidpravention | Nationale/internationale Ebene: Definition von allgemeinen High-risk-group fur Suizidalitat (z.B. psychische Erkrankung, Depression, alte Menschen) Nationale Suizidpraventionsprogramme, (z. B. Awareness-Programme, Interventionsprogramme) • Suizidpraventionsprogramme i. R. anderer gesundheitspolitischer Aktivitaten (z.B. Leitlinien• entwicklung, spezifische Gesundheitsprogramme: gesundheitsziele.de AG Depression, u.a.) Aktivitaten nationaler und internationaler Gesellschaften/Vereine zur Suizidpravention, (z. B. • Deutsche Gesellschaft fur Suizidpravention - Hilfe in Lebenskrisen e.V. (DGS), Internationale Gesellschaft fur Suizidpravention e. V. (IASP), International Academy for Suicide Research e.V. (IASR)).
•
Personenbezogene Ebene • Identifikation erhoht suizidgefahrdeter Personen und Gruppen (z.B. depressiv Kranke, alte Man• ner, Menschen nach Suizidversuch) • Definition allgemeiner Risikogruppen (z.B. psychisch Kranke, Menschen in Krisen, Menschen • nach Suizidversuch) • Awareness-Programe zum Erkennen und Behandeln von Risikogruppen • • Verbesserung des Erkennens von Suizidalitat in der haus- und facharztlichen Versorgung • • Erarbeitung von Empfehlungen der Diagnostik, des Managements von Suizidalitat • • Erarbeitung der Prinzipien von Suizidpravention/ Kisenintervention (z.B. Psychotherapie, Psy• chopharmakotherapie, fursorgliche Sicherung und Kontrolle, ambulante und • stationare psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung) • • Langzeitbehandlung (Psychotherapie, Prophylaxe) bei Suizidalitat •
eine individuelle, auf den Patienten bezogene Suizidpravention. Hier geht es um die bekannten 4 Saulen jeglicher Suizidpravention: Beziehung, Diagnostik von Suizidalitat und Risikofaktoren, „sichernde Fiirsorge und Management der akuten Situation, Krisenintervention psychotherapeutisch und psychopharmakologisch sowie Basistherapie". Diagnostik von Suizidalitat bedingt ein direktes, offenes und ernstnehmendes Nachfragen nach Todeswunschen, Suizidideen oder -absichten, fruheren Suizidversuchen und Verhalten in suizidalen Krisen. Sodann muss auf suizidfordernde Psychopathologie (Tab. 15.7) geachtet werden. Akute Suizidgefahr ist eine lebensbedrohliche Situation, die Haus- und Facharzte immer ernst nehmen miissen, und als Notsituation einem dringenden Herzinfarktverdacht vergleichbar.
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Manfred Wolfersdorf, Bayreuth
Tab. 15.7: Psychopathologische Faktoren, die auf ein erhohtes Suizidrisiko bei der Depression hinweisen Psychopathologische Faktoren, die auf ein erhohtes Suizidrisiko bei der Depression hinweisen Hoffnungslosigkeit, fehlende Zukunftsperspektive • Gedanken von jetziger und zukunftiger Wertlosigkeit, fur sich, fur Umfeld, Familie, Partner • Erleben der eigenen Person als Belastung, Schande fur andere (z.B. Familie, Kinder) und sich • selbst (sich nicht mehr ertragen, aushalten konnen), psychoaltruistische Suizidmotive (Erlosung anderer von sich, Einbeziehung anderer in suizidales Denken „Mit-Erl6sung"), Selbst-Erlosung depressiver Wahn, starke Einengung im Denken mit Versagens-, Untergangs-, vor allem Schuld• ideen imperative Stimmen (akustische Halluzinationen) mit Aufforderung zum Suizid, zur Nachfolge • ins Grab (nach Tod des Partners) u.a., paranoide Beziehungsideen vom Charakter existentieller Bedrohtheit, drohender Verfolgung, • Qual u.a. aktuell erlebte Gefuhle von Nicht-gemocht-Werden, tjberfiussigsein, eine Belastung zu sein, • Gekranktsein Gefuhle von uberwaltigender Hilflosigkeit, Nichts-tun-K6nnen, Ausgeliefertsein • ausgepragte innere Spannungs- und Druckgefuhle • qualende Unruhe, Getriebenheit • deutliche, selbst fremd imponierende Weglauf- und Fluchtimpulse • Angst vor Kontrollverlust iiber eigene Suizidimpulse • ausgepragte, langanhaltende Schlafstorungen • schwere Depression •
Fasst man zusammen, so sind Kennzeichen von suizidgefahrdeten depressiven Patienten vor allem Selbstentwertung, Interessenverlust, fehlende Reaktivitat auf Aufienreize, Hoffnungslosigkeit, Schlafstorungen, Wahnsymptomatik, fruhere Suizidversuche, Angstzustande oder auch manischdepressive Mischbilder. Dabei weisen Hoffnungslosigkeit, psychomotorische Unruhe, depressive Wahnsymptomatik gemeinsam einen hohen Vorhersagewert auch fur zukunftiges suizidales Verhalten auf, ebenso das Vorhandensein von mindestens einem Suizidversuch in der bisherigen Vorgeschichte oder auch das Vorhandensein von ausgepragten Angstzustanden zum Zeitpunkt einer Entlassung aus stationarer psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung (Wolfersdorf 2000). Man muss davon ausgehen, dass die Suizidalitat bei der Depression am hochsten in der akuten Erkrankungsphase, insbesondere bei der Ersterkrankung ist, wahrend bei der Schizophrenic bei Wiedererkrankung sowie bei suizidfordernder Psychopathologie ein besonderes Risiko besteht, bei Alkoholabhangigkeit eher gegen Ende der Suchterkrankung. Eine auf die Krankheit „Depression" bezogene Suizidpravention, die sich auf Verbesserung der diagnostischen und therapeutischen Kompetenz von
Suizidalitat
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Versorgern, auf das klinische Erfahrungswissen und Evidenz basierte Therapie, auf Verbesserung der Langzeitperspektive bezieht (Tab. 15.8). Dabei konnte die sog. Gotland- Studie oder auch die Studie des „Nurnberger Bundnis gegen Depression" (Althaus et al 2005, im Druck) die Effektivitat von Weiterbildungsmafinahmen in der Depressionsbehandlung anhand abnehmender Suizidhandlungen nach Interventionsmafinahme gut zeigen; allerdings nur bei den Frauen und zeitlich befristet in der Gotland-Studie (Rutz et al 1992).
Tab.15.8:
Suizidpravention bei Depression und Suizidalitat: Uberlegungen zur Prevention
Primarpravention:
Sekundarpravention:
Tertiarpravention:
• • • • • • • • •
Genetische Beratung Betreuung gefahrdeter Mutter mit Kindern (Post-partum-depression, Schwangerschaften), Vater-Beratung Kindergarten-Programe Schulprogramme (Sucht, Selbstwert) Awareness-Programme Entscharfung von allgemein suizid-fordernden Faktoren Forderung eines selbstwertfordernden antisuizidalen Klimas Antistigma bei psychischer Erkrankung und Alter
Awareness-Programme fur Arzte, • Psychotherapeuten, Lehrer, Theologen, Sozialpadagogen, Arbeitgeber, • Personalrate Fruherkennung, Fruhbehandlung von Depression • Verbesserung der Diagnostic Fragen nach Suizidideen, -absichten, • HoffnungslosigkeitSuizidrisikofaktoren Verbesserung der Depressionserkennung und -behandlung, Verbesse• rung der Behandlung suizidgefahrdeter Gruppen: Depression, Sucht, alte Menschen, Komorbiditat usw. stationare und ambulante Behandlung, beschittzenden Rahmen sicher• stellen Sicherstellung von Langzeit-Psychotherapie und Psychopharmakotherapie bei suizid-gefahrdeten Gruppen: Depression, Sucht, Schizophrenic, alte Menschen Schmerzbehandlung • Altenheimbetreuung •
•
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Manfred Wolfersdorf, Bayreuth
Die Depression gilt nicht nur als die haufigste psychische Erkrankung der Allgemeinbevolkerung, sondern auch als die lebensgefahrlichste. 3 bis 4% aller depressiv Kranken versterben auch heute noch durch Suizid und die Lebenszeitsuizidmortalitat von Kohorten schwer depressiv Kranker reicht bis an 15%. Sodann ist man sich heute der Bedeutung der Depression unter gesundheitsokonomischen, volkswirtschaftlichen sowie versorgungspolitischen (akuttherapeutisch, langzeitpraventiv) Aspekten bewusst. •
Suizidpravention ist einer der wichtigsten Bestandteile der Diagnostik, Therapie und Langzeitbegleitung depressiv kranker Menschen.
Literatur Althaus D, Niklewski G, Schmidtke A, Hegerl U. Veranderung der Haufigkeit suizidaler Haiidlungen nach zwei Jahren „Bundnis gegen Depression". Nervenarzt 2005, im Druck. Bronisch T. Depression. In: Bronisch T, Gotze P, Schmidtke A, Wolfersdorf M (Hrsg.). Suizidalitat. Schattauer, Stuttgart New York 2002,155 -174 Bronisch T, Gotze P, Schmidtke A, Wolfersdorf M (Hrsg.). Suizidalitat. Ursachen Warnsignale therapeutische Ansatze. Schattauer, Stuttgart New York 2002 Coryell W, Young EA. Clinical predictors of suizide in primary major depressive disorder. J Clin Psychiatry 2005; 66: 412 - 417 Harris EC, Barraclough B. Excess mortality of mental disorder. Brit. J. of Psychiatry 1998; 173:11-53 Hegerl U, Althaus D, Stefanek J. Public attitudes towards treatment of depression: Effects of an information campaign. Pharmacopsychiatry 2003; 36: 288 - 291 Qin P, Nordentoft M. Suicide risk in relation to psychiatric hospitalization. Arch Gen Psychiatry 2005; 62: 427 - 432 Rehmet S, Sorgatz H, Wolfersdorf M. Suizidpradiktion anhand von Aufnahmeprotokollen depressiver psychiatrischer Patienten. Suizidprophylaxe 1996; 23:136 -147 Rutz W, von Knorring W, Walinder J. Long-term effects of an educational programme for general practitioners given by the Swedish Committee for the Prevention and Treatment of Depression. Acta Psychiatr Scand 1992; 85:83-8
Suizidalitat
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Schmidtke A (Hrsg.). Nationales SuizidPraventionsProgramm (NaSPro). Suizidprophylaxe 2005 (Sonderheft), im Druck Schneider B. Suizidalitat. Ergebnisse psychologische Autopsien. Roderer, Regensburg 2004 Wolfersdorf M. Depression und Suizidalitat. In: Steinberg R (Hrsg.). Depressionen. TiliaVerlag Klingenmunster 1991:15 - 34 Wolfersdorf M. Der suizidale Patient in Klinik und Praxis. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2000 Wolfersdorf M. Suizid bei stationaren psychiatrischen Patienten. Roderer, Regensburg 1998 Wolfersdorf M, Mauerer C, Franke C, Dobmeier M. Psychopharmaka. In: Bronisch T, Gotze P, Schmidtke A, Wolfersdorf M (Hrsg.). Suizidalitat. Schattauer, Stuttgart New York 2002,48-72 Wolfersdorf M, Purucker M, Franke C, Mauerer C. „Muss unser Verstandnis von Suizidalitat erweitert werden?" Suizidologische Splitter nach den Terrorsuiziden vom 11. September 2001 in New York und Washington, USA. In: Wolfersdorf M, Wedler H (Hrsg.). Terroristen-Suizide und Amok. Roderer-Regensburg 2002,11-18 Wolfersdorf M, Ratzel-Kurzddrfer W, Kemna C, Moos M, Kornacher J, Schuh B, Rupprecht U. Affektive Storungen. In: Frieboes R-M, Zaudig M, Nosper M (Hrsg.). Rehabilitation bei psychischen Storungen. Urban & Fischer, Mtinchen Jena 2005,164-182
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MaBnahmen
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Kapitel 16
16
Interventionen und ethischer Kontext
Soren Holm, Stephen Burgess, GroBbritannien
16.1
Einleitung
Wie in den vorausgehenden Kapitel gezeigt wurde, sind Depressionen ein bedeutendes Public Health Problem. Wie auch immer man die Krankheitslast misst, sind Depressionen eine der fuhrenden Ursachen fur Krankheit und Einkommensverlust in alien Altersgruppen. Diskussionen um ethische Aspekte in der Psychiatrie drehen sich traditionell um ethische Probleme im Rahmen der Behandlung von Einzelpersonen, z.B. um die Frage nach Verwahrung und Behandlung gegen den Willen der betroffenen Patienten (Bloch et al. 1999, Hirsch & Harris 1998). Dieses Kapitel beschaftigt sich jedoch nicht mit der Ethik in der Psychiatrie sondern nimmt Bezug auf die ethischen Herausforderungen, die entstehen, wenn wir versuchen, depressiven Erkrankungen mit grofi angelegten Interventionsprogrammen auf Bevolkerungsebene zu begegnen. Dabei finden wir deutliche Parallelen zur gegenwartigen Diskussion in der Public Health Ethik, z.B. der Diskussion iiber Programme zur Friiherkennung von Krankheiten im Allgemeinen. Allerdings gibt es auch Bereiche, in denen sich die Public-Health-Interventionen fur psychische Erkrankungen von denen fur somatische Erkrankungen unterscheiden. Die in diesem Kapitel betrachteten Interventionen lassen sich in zwei Kategorien einteilen: 1. ungezielte, universelle Primarpravention, z.B. Veranderungen der baulichen Umwelt zur Verringerung der Depression 2. gezielte, bzw. dezidierte und selektive Primar- und Sekundarpravention, z.B. die gezielte Ansprache von Personengruppen, deren Risikoprofil fur Depression erhoht ist oder die Anzeichen einer subklinischen Depression haben.
306
S0ren Holm, Stephen Burgess, Grofibritannien
Die gezielten Interventionen (2.) basieren auf Screening, im Sinne von entweder Massen-Screenings in der Bevolkerung, Screenings durch Vertreter spezieller Berufsgruppen (z.B. Hausarzte) und zum Teil inzwischen auch auf der Selbsteinschatzung der Betroffenen (Selbstidentifikation), moglicherweise unterstiitzt durch die leichte Verfugbarkeit entsprechender Instrumente zur Krankheitserkennung im Internet. Einleitend gibt dieses Kapitel eine kurze Ubersicht iiber wichtige ethische Fragestellungen, bevor Stigma und Screening diskutiert werden. Ausgehend von Interventionsstrategien bei Erwachsenen werden dann Interventionen angesprochen, die in Schulen stattfinden sowie weitere, die ebenfalls Kinder und Tugendliche als Zielgruppe haben. Abschliefiend folgt eine kurze Diskussion von Interventionen, die sich auf Veranderungen der Umwelt beziehen.
16.2
Wichtige ethische Fragestellungen
Bei der Betrachtung von Mafinahmen zur Prevention von Depressionen auf Bevolkerungsebene ergeben sich mindestens funf verschiedene ethische Fragestellungen, die in der folgenden Diskussion eine Rolle spielen: 1. Gibt es Belege dafur, dass die gewahlte Interventionsstrategie wirksam ist? Es ist ethisch fragwurdig, Ressourcen fur Interventionen aufzuwenden, die unwirksam sind. 2. Sind mit der Zuschreibung der Diagnose „Risikopatient fur Depression" negative Konsequenzen fur die Betroffenen verbunden? 3. Wie zuverlassig sind die Methoden, auf deren Grundlage die Risikoeinschatzung erfolgt? 4. Enthalt die Interventionsstrategie Elemente von Zwang oder Paternalismus? 5. Fordert die Intervention die Gerechtigkeit in Bezug auf Gesundheit und Gesundheitsversorgung? Zunachst sollen die letzten beiden Fragestellungen (4. und 5.) kurz aufgegriffen werden, bevor wir weiter unten im Text die ersten drei Fragestellungen detaillierter betrachten. Die Achtung der Selbstbestimmung ist eines der zentralen Anliegen in der Medizin-Ethik. Bei alien Public Health Interventionen, die Elemente von Zwang oder Paternalismus enthalten, ist deshalb sorgfaltig zu priifen, ob
Interventionen und ethischer Kontext
307
eine Einschrankung des individuellen Rechts auf Selbstbestimmung wirklich gerechtfertigt ist. Gegenwartig ist jedoch direkter Zwang kein Thema, denn es ist unwahrscheinlich, dass Personen gezwungen werden, an bevolkerungsweiten Depressions-Screenings als Teil einer Public Health Intervention teilzunehmen; aber wenn Screening in Institutionen, wie z.B. Schulen, durchgefiihrt wird, mag informeller Zwang eine erhebliche Rolle spielen („Alle in der Klasse nehmen teil, warum also Du nicht?"). Im Kontext der Gesundheitsforderung begegnet einem Paternalismus haufig als das, was wir als „Informations-Paternalismus" bezeichnen konnen: Informationen zur Gesundheitsforderung enthalten nur einen Teil der Wahrheit. Der Inhalt der zur Verfugung stehenden Wahrheit wird gewichtet, da die ganze Information als zu verwirrend, komplex und unverstandlich eingestuft wird, und auch, weil das Veroffentlichen der ganzen Wahrheit als weniger iiberzeugend eingestuft wird. Ein Beispiel hierfur ist die Botschaft einer fruheren Praventionskampagne: „Krebs, wenn rechtzeitig erkannt, kann geheilt werden". Dieser Slogan ist entweder tautologisch (d.h. die Definition eines „rechtzeitig erkannten Krebs" ist, dass er geheilt werden kann) oder falsch. Auch die ethische Fragestellung nach der Gerechtigkeit ist im Zusammenhang mit Public Health Interventionen von Bedeutung, weil in Abhangigkeit vom sozialen Status Public Health Interventionen in der Bevolkerung sehr unterschiedlich ankommen. Sind solche Programme nicht mit besonderer Sorgfalt entworfen, nutzen sie der Bevolkerung mit hohem Bildungsgrad am meisten. Ein Programm kann also unter Public Health Aspekten der Gesundheit der Bevolkerung nutzen und gleichzeitig die Unterschiede im Gesundheitsstatus zwischen den sozialen Schichten verstarken. Ohne Frage ist das nicht das erwiinschte Resultat, besonders wenn die Intervention aus offentlichen Mitteln finanziert wird. Als letzte einleitende ethische Uberlegung fragen wir nach dem „Cui bono?" - Wem nutzt der in letzter Zeit zu beobachtende Anstieg der Zahl derjenigen, die innerhalb einer Bevolkerung unter Depression leiden? Viele Kommentatoren haben auf die zeitliche Koinzidenz zwischen dem Ansteigen der Schatzzahlen und der Markteinfuhrung der antidepressiven Substanzgruppe der Selectiven Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) hingewiesen. Es wird gemutmafit, dass die pharmazeutische Industrie im Einvernehmen mit einigen Psychiatern das Konzept von Depression beeinflusst, und sich dadurch die Anzahl der als „depressiv" Eingestuften verandert habe.
308 16.3
S0ren Holm, Stephen Burgess, Grofibritannien
Stigma und Diskriminierung
In den Konzepten der psychiatrischen Krankheiten spiegelt sich heute der Leib-Seele Dualismus wider, wie er schon lange das westliche Denken beherrscht hat. Angst und Paranoia, welche nicht-korperliche Krankheiten umgeben, bedeuten, dass jedem, der an einer psychischen Krankheit leidet und auch so etikettiert wird, ein bestimmtes Stigma anhaftet. Obwohl das Problem der Stigmatisierung psychischer Erkrankungen ausfuhrlich beschrieben ist (Crisp et al. 2000), ist das Wissen iiber psychische Erkrankungen in der Offentlichkeit nach wie vor gering (Jorm 2000). Als Folge erleben Menschen, die als „psychisch krank" bezeichnet werden, dass diese Etikettierung ihr Leben genauso dominiert wie die Krankheit selbst. Das mit der Etikettierung verbundene Stigma, wird zum Rahmen, in welchem die Betroffenen sich selber wahrnehmen, aber auch zum Rahmen fur den Blick der Umwelt auf die Kranken. Wahrend Vorurteile und Stereotypen in der Offentlichkeit zwischen bestimmten Krankheiten variieren (Crisp et al. 2000), konnen sie generell zu sozialer Ungleichheit fuhren z.B. bei der Arbeitsplatzsuche und beim Versicherungsschutz. In diesem Sinne bemerkt Benedetto Saraceno als Direktor der Abteilung fur Psychische Gesundheit und Substanzmissbrauch der Weltgesundheitsorganisation: „Psychische Storungen sind untrennbar mit Menschenrechten verbunden. Das Stigma, die Diskriminierung und die Menschenrechtsverletzungen, denen Menschen mit psychischen Storungen und ihre Familien ausgesetzt sind, sind von starker und alles durchdringender Qualitat. (WHO 2004: 3)" Obwohl nicht von einer affektiven Stoning wie Depression betroffen, verdeutlicht Gordons Beschreibung ihrer eigenen Personlichkeitsstorung die Angst vor der Etikettierung „psychisch krank": „Ich befurchte nun, nachdem man mir dieses Etikett angeheftet hat, werden mich alle folgenden Fachleute im Licht meines Labels betrachten ohne dass mein wirkliches Ich sich zeigen kann." (Gordon 1994) Die Angst vor der dauerhaften Etikettierung und der damit verbundenen Stigmatisierung ist von zentraler Bedeutung fur die Frage, warum Personen, die an einer psychischen Symptomatik leiden, diese nur zogerlich ihrem Hausarzt berichten (vorausgesetzt, die Betroffenen sind sich iiber die Bedeutung ihrer Symptomatik bewusst oder wissen, dass sie behandelbar ist) (Halter 2004). Darin unterscheidet sich die Depression nicht von anderen psychischen Erkrankungen, aufier dass sie eine der haufigsten psychischen Storungen ist (Halter 2004, WHO 2004). In der Tat wird das
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Stigma, das der Depression anhaftet, wahrscheinlich dadurch verkompliziert, dass der Begriff sowohl in der Umgangssprache als auch der klinischen Fachsprache verwendet wird. Depression wird oft als Synonym fur einen eher traurigen Gemutszustand verwendet. Aus ethischer Sicht besteht ein eindeutiger und dringender Bedarf, die mit Depression verbundene Stigmatisierung aufzugreifen, um die soziale Benachteiligung der Betroffenen zu iiberwinden. Aufklarung und Wissensvermittlung wird hierfiir haufig als Schliissel verstanden (Paykel & Priest 1992), wobei Interventionen zur Anderung der offentlichen Wahrnehmung von Depression dabei eine zentrale Rolle spielen. So war das Vermindern von Stigmatisierung in Verbindung mit Depressionen ein Ziel der Defeat Depression Campaign, einem 5-Jahresprojekt (1992-1996) des Royal College of Psychiatrists und des Royal College of General Practicioners in Grofibritannien (Royal College of Psychiatrists). Obwohl die Evaluation der Kampagne positive Veranderungen in der Haltung der Offentlichkeit gegeniiber depressiven Erkrankungen nachweisen konnte, waren diese Effekte nur schwach und konnten der Kampagne selber nicht eindeutig zugeordnet werden (Paykel et al. 1998). Im Umgang mit der Stigmatisierung von Depression ist zu beriicksichtigen, dass Effekte der Gesundheitsaufklarung sich nur langsam entwickeln (Crisp et al. 2000). Hinzu kommt, dass diese Interventionen zwar versuchen, Stigmatisierung durch mehr Wissen iiber Depressionen in der Offentlichkeit zu vermindern, jedoch muss beriicksichtigt werden, dass eine stigmatisierende Einstellung nicht notwendigerweise aus mangelndem Wissen iiber psychische Erkrankungen resultiert (Crisp et al. 2000). Zur Uberwindung der sozial ungerechten Behandlung der Betroffenen sind also neben der offentlichen Aufklarung auch Mafinahmen erforderlich, die sich unmittelbar mit der Diskriminierung von Depressiven auseinandersetzen (z.B. am Arbeitsplatz (Glozier 1998)). Hierzu gehort die reflektierte Darstellung der Depression in den Medien, deren eher indirekte kulturelle Botschaften die direkteren Botschaften von Public Health Programmen unterstiitzen konnen (Crisp et al. 2000). Komplexe Interventionen, welche auf rechtlicher und sozialer Ebene die mit Depression verbundene Stigmatisierung und Diskriminierung aktiv bekampfen, sind notwendig, um soziale Gerechtigkeit fiir die Betroffenen zu schaffen und denjenigen Mut zu machen, die Behandlung suchen. Wahrend diese Strategien erst langfristig wirken, beeinflusst die Stigmatisierung in schwerwiegender und komplexer Weise das Leben der Betroffenen weiter. Diejenigen, die Diagnosen stellen, miissen deshalb in besonde-
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rer Weise nicht nur fur die klinischen Konsequenzen sondern auch fur die sozialen Folgen der Zuschreibung einer Diagnose sensibilisiert werden. Es ist gut dokumentiert, dass die Betroffenen, auch wenn sie Symptome zeigen, obwohl verschiedene Methoden zur Diagnosestellung vorhanden sind (Bowling 2005, McAlpine & Wilson 2004), in der Primarversorgung oft unentdeckt bleiben (Gilbody et al. 2003, McAlpine & Wilson 2004, Paykel & Priest 1992). Zur Verbesserung der Uberweisungspraxis und der Behandlung der Depression muss deshalb die diagnostische Genauigkeit verbessert werden. Allerdings konnen sich grofi angelegte Interventionen hierbei als problematisch erweisen. Zum Beispiel hat die US Preventive Services Task Force (USPSTF) zur Verbesserung der Diagnostik die Einfuhrung einer Routineuntersuchung auf Depressionen in der klinischen Praxis empfohlen (USPSTF 2002). Wahrend im Gegensatz zur Haltung der medizinischen Fachverbande und Organisationen Kliniker der Einsatz solcher Screening-Programme kritisieren (Palmer & Coyne 2003), bestehen auch aus ethischer Sicht erhebliche Vorbehalte gegentiber dem Massen-Screening von Personen, unabhangig vom Vorliegen depressiver Symptome. Diese ethischen Vorbehalte betreffen Patientenrechte, einzugehende Verpflichtungen, die Durchfuhrung der Programme und den Aspekt der sozialen Gerechtigkeit. Verscharfend kommt hinzu, dass wohl von solchen Programmen nur eine geringe Wirkung auf die Diagnoserate zu erwarten ist, auch wenn in der Primarversorgung oft nicht erkannte, weniger schwere Falle identifiziert werden konnten (McAlpine & Wilson 2004). Die mit Screening verbundenen ethischen Fragestellungen werden noch brisanter vor dem Hintergrund des wachsenden Interesses an moglichen genetischem Screening auf Veranlagung zur Depression. Wird es in Zukunft ein genetisches Label „Risikoperson fur Depression" geben, das die Betroffenen wahrend ihrer Kindheit und Jugend Diskriminierung und sozialer Ungerechtigkeit aussetzt? Die Antwort auf diese Frage liegt im Vorgang der Datenerhebung begriindet. In wessen Verfugungsgewalt befindet sich die Information? Wer hat ein Recht auf diese Information und wo wird sie gespeichert? Schwere ethische Bedenken wiirden auch hervorgerufen, wenn Versicherungsunternehmen oder Arbeitgeber Untersuchungsergebnisse auf Bevolkerungsebene kaufen konnten oder gar zu Eingangsuntersuchungen verpflichteten. Der Nutzen einer erhohten Diagnoserate zum Wohl der Depressiven wird oft als Argument fur die Durchfuhrung von Screening-Programmen angefuhrt. Obwohl es legitim ist, in der korrekten Diagnosestellung eine Hilfe zur Behandlung zu sehen, ist diese Annahme zu einfach. Aus einer anderen
Interventionen und ethischer Kontext
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Perspektive heraus betrachtet kollidieren gesellschaftliche und wirtschaftliche Interessen mit dem individuellen Recht auf einen selbstbestimmten Umgang mit den eigenen Symptomen und ihrer Darstellung in der Offentlichkeit. Der erwahnte Informations-Paternalismus lasst sich nur vermeiden, wenn die offentliche und die professionell gepragte Debatte um Screening-Programme gleichzeitig die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Diagnosetechniken und Behandlungsmethoden anerkennt, und das Wissen darum verbreitet. Das mit Depression verbundene soziale Stigma und seine Konsequenzen fuhren dazu, dass offentliche Interventionen wie ein Massen-Screening aus sozialer und medizinischer Perspektive betrachtet werden mussen. Auf der Ebene des einzelnen Patienten betrachtet, sollte die Diagnose mit einer guten und angemessenen Behandlung verbunden sein, was nicht in alien Fallen zutrifft (Gilbody et al. 2003, Mc Alpine & Wilson 2004, USPSTF 2002). Vielleicht sollte auch erwogen werden, ob Depressive wegen der weiten Verbreitung von Stigma und Diskriminierung im Rahmen der Behandlung stets darauf vorbereitet werden sollten, wie sie von ihrer Umwelt gesehen werden und wie sie selbst mit der Bezeichnung „depressiv" umgehen konnen. Wirksame Mafinahmen gegen die stigmatisierende Wirkung der Depression sind deshalb sowohl auf der Ebene des Arzt-Patient-Verhaltnisses als auch im offentlichen Raum notwendig. Wahrend langfristige soziale und rechtliche Schritte zum Abbau von Stigma und Diskriminierung gegeniiber Menschen mit Depression erforderlich sind, wirken gegenwartig diese Faktoren noch auf das Leben der Kranken ein. Diskussion und Praxis der Diagnose, Intervention und Behandlung von Depression sollten hierfur eine hohere Sensibilitat entwickeln. Jede Diskussion bevolkerungsweiter Mafinahmen muss den sozialen Konsequenzen Rechnung tragen, die Menschen mit der Diagnose Depression betreffen. Die Frage nach der Gerechtigkeit bei Interventionen gegen Depression auf der Bevolkerungsebene betrifft nicht nur die gleiche Chance auf gute klinische Behandlungsergebnisse, sondern auch die soziale Gerechtigkeit fur die Erkrankten. 16.4
Freiverkauf liche Antidepressiva als Interventionsstrategie
Die Einfuhrung freiverkauflicher Antidepressiva ware eine mogliche Interventionsstrategie zur Behandlung weniger schwerer Formen der Depression. Neue Antidepressiva haben gegeniiber den alteren Praparaten weniger
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unerwiinschte Arzneimittelwirkungen, sind weniger toxisch und weniger fur eine suizidale Anwendung geeignet. Zumindest theoretisch konnte man deshalb Menschen die Moglichkeit geben, sich selber als depressiv zu diagnostizieren und diese Medikamente ohne Verordnung zu kaufen. Wie bereits an anderer Stelle in diesem Text erwahnt, ist eine solche Selbstuntersuchung vor dem Kauf von Medikamenten durch die Entwicklung einer Reihe unterschiedlicher Instrumente zur Selbstdiagnose und ihre Veroffentlichung im Internet und verbreiteten Beratungsbiichern im Prinzip moglich. Wichtigster positiver Aspekt einer solchen Strategic ist die Reduzierung des Risikos einer Stigmatisierung. Die einzelne Person ist nicht auf professionelle Hilfe beim Zugang zu wirksamer Behandlung angewiesen und er oder sie wird an keiner Stelle als Kaufer eines Antidepressivums registriert, weil die Notwendigkeit einer arztlichen Verordnung entfallt. Diesem positiven Aspekt stehen aber auch erhebliche Probleme gegemiber. Das erste Problem findet sich im Fehlen von Evidenz, ob und wie ein soldier Schritt wirkt, weil eine solche Strategic bisher nicht in einer Studie untersucht oder evaluiert worden ist. Weitere Probleme ergeben sich aus der Frage, ob wir als Gesellschaft den Gebrauch von Antidepressiva ausweiten wollen. Wurden dann Antidepressiva auch von nicht-depressiven aber traurigen Menschen angewendet? Oder wurden Menschen versuchen, mit den Medikamenten glucklicher zu werden, auch wenn sie nicht depressiv oder traurig sind? In zahlreichen Artikel wird das Problem diskutiert, dass die neuen Antidepressiva von gesunden Menschen als „LifeStyle"-Medikament genutzt werden. Noch zahlreicher sind die Veroffentlichungen, die danach fragen, ob es prinzipiell falsch ware, dass gesunde Menschen Psychopharmaka einsetzen, mit dem Ziel, sich selbst zu verbessern. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht hierbei die Frage, ob die pharmazeutischen Mittel im Vergleich mit anderen Mitteln, die dieselbe Zielsetzung verfolgen, Besonderheiten aufweisen. Normalerweise finden wir in dem Streben nach Verbesserung und Weiterentwicklung, wie z.B. durch Lesen wissenschaftlicher Biicher, nichts Nachteiliges. Ein moglicher Unterschied konnte im Bereich der Psychiatrie der Umstand sein, dass diese Entwicklung zum Besseren das „authentische Selbst" undeutlicher werden lasst. Die Annahme lautet: Ich bin nicht mehr ich selbst, wenn ich mich mit SSRIs glucklicher und von Sorgen frei mache. Die Kraft dieses Arguments wird aber erheblich geschwacht, wenn man bedenkt, wie schwer der Versuch ist, das „authentische Selbst" eines Menschen mit einiger Prazision zu erfassen (zur Veranschaulichung sei auf die verbreitete
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Bemerkung verwiesen: „Erst im Alkoholrausch erkennt man den wahren Charakter"). Als letztes Problem dieser Interventionsstrategie ist anzufuhren, dass in den meisten Landern die Konsumentenwerbung fur freiverkaufliche Arzneimittel im Vergleich zu verordnungspflichtigen Medikamenten liberaler geregelt ist. Eine Verlagerung der Antidepressiva in den Markt freiverkauflicher Arzneimittel wiirde die Moglichkeiten der pharmazeutischen Industrie ausweiten, iiber Werbung die Nachfrage nach diesen Medikamenten zu steigern (Spurgeon 1999, Consumer Association 2001, Evans et al. 2002, Mintzes et al. 2002, Holmer 2002, Colin-Thomes 2004, Evans 2004, Coulter 2004). 16.5
Internet-basierte psychologische Interventionen
Gegenwartig entwickeln verschiedene Arbeitsgruppen Angebote, mit denen Interventionen der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) automatisiert und internet-gestutzt verfugbar gemacht werden sollen (Christensen et al. 2002 und 2004, Clarke et al. 2002 und 2005, Patten 2003). KVT ist an sich eine gut validierte Therapiemoglichkeit fur Depressionen (Elkin et al. 1989, Scott 1996, De Rubeis et al. 1999, Huibers et al. 2003) - sollte es gelingen, diese ohne Zuhilfenahme eines realen Therapeuten mit Hilfe der Angebote im Internet wirksam anzuwenden, stiinde ein Instrument zur Intervention auf Bevolkerungsebene zur Verfugung. Angedacht sind Kampagnen zur Gesundheitsforderung, die Menschen mit depressiven Gefuhlen auffordern, sich iiber eine Website einer Selbstbefragung zu unterziehen. Bei Erreichen einer hohen Testpunktzahl fur Depression werden die Ratsuchenden automatisch auf Adressen fur personliche KVT-Behandlung hingewiesen. Bislang ist die Wirksamkeit derartiger Interventionen fur milde Verlaufsformen der Depression belegt, allerdings fehlen noch Studien zur Anwendung der Technik auf der Bevolkerungsebene. Die Nutzer einer solchen internet-basierten Gesundheitskampagne mit Diagnose und Behandlungsangeboten werden nicht identifiziert. Damit ware das Problem der Stigmatisierung zunachst vermieden. Allerdings wiirden sich Fragen der Gerechtigkeit stellen, denn der Zugang zum Internet ist innerhalb der Bevolkerung ungleich verteilt. Internet-gestiitzte Angebote konnen deshalb nicht alle Schichten der Bevolkerung gleichermafien erreichen, und gleichzeitig kann auch die Befahigung, eine KVT erfolgreich zu nutzen, unter den verschiedenen Bildungsschichten variieren. Zusatzlich zu einem internet-gestutzten Angebot sollten deshalb bevolke-
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rungsweit angelegte Gesundheitskampagnen weitere Mafinahmen beinhalten, die die verbleibende Risikopopulation erreichen. Die Qualitat geeigneter Instrumente zur Selbstdiagnose und ihre Validitat in der internet-gestiitzten Anwendung als Screening-Methode fur potenzielle Patienten sind wichtige Herausforderungen in solchen Programmen. Vor dem Hintergrund der Stigmatisierung ist es von besonderer Bedeutung, die Zahl der falsch-positiv ausfallenden Testergebnisse moglichst gering zu halten. Eine der Skalen, die - im englischen Sprachraum - zur Identifizierung der Depression eingesetzt werden, ist die weit verbreitete Goldberg-Depressions-Skala. Diese Skala wurde bei Patienten in der Primarversorgung validiert, aber gerade nicht auf der Bevolkerungsebene oder als internet-gestiitzte Anwendung. Zudem wurde sie nur in einigen wenigen Landern und Sprachen entwickelt (Holm et al. 2000). Die Rate der falsch-positiven Testergebnisse der Goldberg-Depressions-Skala bei Anwendung auf der Bevolkerungsebene ist demnach - wie fur alle anderen derzeit im Internet genutzten Skalen - unbekannt. 16.6
Interventionen in Schulen und bei Kindern und Jugendlichen
Depressionen im Kindesalter haben sich zu einem wichtigen Gesundheitsproblem entwickelt (Merry et al. 2005, Sanci et al. 2000), und die Zahl der wegen Depression behandelten Kinder steigt an (Timimi 2004, Ramchandani 2004). Das in den vergangenen zehn Jahren zu beobachtende zunehmende Interesse fur depressionspraventive Mafiahmen im Kindesalter (Merry et al. 2005) entspringt dem Zusammenhang, der zwischen Depression (selbst in weniger starker Auspragung) und „schlechter akademischer Leistung, sozialer Dysfunktion, Substanzmissbrauch, Suizidversuchen und Suizid" (Merry et al. 2005: 2) gesehen wird. Weitere Dringlichkeit erhalt die Prevention durch das ansteigende Risiko fur Depressionen nach dem Erreichen des Jugendalters (Ramchandani 2004). Aus ethischer Sicht ergeben sich durch Praventionsprogramme in diesem Bereich besondere Problemstellungen. Zunachst sind solche Programme auf Screeningverfahren angewiesen, um die Veranlagung zur Depression in einer Bevolkerungsgruppe festzustellen. Die in der Kindheit haufig nachzuweisenden Symptome einer Depression sind allerdings oft auch unbehandelt nur von vorubergehender Natur (Ramchandani 2004). Nur vereinzelt finden sich bisher Belege fur die Wirksamkeit praventiver Mafi-
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nahmen bei Jugendlichen (Beardslee et al. 2003, Merry et al. 2005, Spence et al. 2003) und fur den Nutzen eines Screenings von Jugendlichen auf Depression (USPSTF 2002). Ein Cochrane-Review halt den Einsatz von Praventionsprogrammen fur verfruht (Merry et al. 2005). Eines der Argumente, das die gegenwartige Diskussion bestimmt, ist der Vorbehalt, dass der kurzlich beobachtete Anstieg der Fallzahlen fur Depression bei Jugendlichen eher ein verandertes Konzepts von „Kindheit" reprasentiert, einschliefilich einer Medikalisierung kindlicher Gefuhle. Hinzu tritt der Vorbehalt, dass sich die Symptome einer Depression im Kindesalter von denen bei Erwachsenen unterscheiden, sie nicht - wie weithin angenommen ubereinstimmen (Timimi 2004). Eine moglicherweise fehlerhafte Depressions-Diagnose im Kindesalter hat weit reichende Folgen und dies in besonderer Weise bei Programmen auf der Bevolkerungsebene: Einen jungen Menschen ohne Grund als „depressiv" zu etikettieren kann erhebliche Probleme fur das Kind aufwerfen, denn dieses Kind ist dann an kritischen Punkten seiner Entwicklung mit einem Label versehen, das sowohl seine Selbstwahrnehmung als auch sein Auftreten nach aufien beeinflusst, genauso wie es die Wahrnehmung der Umwelt fur dieses Kind verandert. Dies kann zu negativen Nachwirkungen fur das ganze Leben fiihren. Zusatzlich zu dem die Depression ohnehin umgebenden Stigma muss in diesem Zusammenhang ausdrucklich betont werden, wie unerbittlich Schulergruppen darin sein konnen, andere auszugrenzen und zu stigmatisieren, die in ihrem Verhalten oder ihrer Personlichkeit nicht der Norm entsprechen. Jeder Schiller, der sich selbst als depressiv bezeichnet oder von seinen Mitschiilern oder den Erwachsenen so bezeichnet wird, wird gezwungen sein, sich mit dieser Identitat in der Umwelt „Schule" auseinanderzusetzen. Ganz offensichtlich haben grofi angelegte Praventionsprogramme soziale und wirtschaffliche Folgekosten. Dabei scheint es unmoglich, diese Interventionen wirksam und gerecht zu verteilen. Obwohl zum Beispiel gezeigt werden konnte, dass Kinder von depressiven Eltern haufiger selbst psychische Erkrankungen entwickeln (Beardsley et al. 2003, Timimi 2004), ist es weiterhin unmoglich, den Knoten der unterschiedlichen Faktoren zu entwirren, die in einem Zusammenhang mit „biologischer Veranlagung" und „Umwelt" als Ursachen der Depression im Kindesalter stehen (Timimi 2004). Das legt die Vermutung nahe, dass es unmoglich ist, einzelne Jugendliche mit einer Veranlagung zur Depression wirksam zu identifizieren. Daraus wiederum folgt, dass Praventionsprogramme nur breitflachig und ungezielt sein konnen.
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Aus dem Dargelegten folgt als schliissige Konsequenz, dass alle Praventionsprogramme fur Jugendliche die Risiken erwagen miissen, die sich fur den Jugendlichen ergeben, dem die Programme zu helfen versuchen. Solange keine Wirksamkeit fur bevolkerungsweite Interventionen bewiesen ist, scheint es ratsam, sich weiterhin auf Programme der Sekundarpravention, d.h. der Friiherkennung klinisch erkrankter Jugendlicher zu konzentrieren. Aber auch diese Programme der Sekundarpravention sollten in einer Form gestaltet werden, dass sie die Forschung und die laufende Debatte um den Begriff „Depression im Jugendalter" beriicksichtigen. Die Unterscheidung, was eine Depression ist und was nicht, nimmt Einfluss auf die Wahl der Behandlungsverfahren. Falls sich die Depression bei Jugendlichen von der bei Erwachsenen unterscheiden sollte, konnten auch andere Therapieformen als bei diesen notwendig sein. Zusatzliche ethische Fragestellungen werden z.B. durch den bei Kindern zunehmenden Gebrauch von Antidepressiva aufgeworfen (Jureidini et al. 2004). Wenn es zutreffen sollte, dass sich Depressionen bei Jugendlichen und Erwachsenen nicht unterscheidet und mehr noch Depression bei Jugendlichen ein Vorlaufer fiir Depression bei Erwachsenen ist (Fombonne et al. 2001), dann hat dies Konsequenzen fiir eine lebenslange Behandlung der Depression und spricht fiir Friiherkennung und Intervention. Uber die wichtigen Uberlegungen hinaus, wie Depression verstanden wird und welche Behandlung sie erfahrt, darf der jugendliche Kranke nicht ubersehen werden, der durch seine Umgebung an erster Stelle zunachst Unterstiitzung erfahren sollte. Zu den wichtigsten unterstiitzenden Mafinahmen zahlen Aufklarung, Information und das gezielte Ansprechen der Jugendlichen selber und ihrer Sorgeberechtigten. Beispielhaft wird eine solche Information in der Defeat Depression Campaign entwickelt (Graham & Hughes 1995, Royal College of Psychiatrists 2005). Da sich stigmatisierende Einstellungen bereits friih entwickeln, besteht Bedarf fiir Aufklarungskampagnen in Schulen (Crisp et al. 2000). Die Schule als Ort fur Programme zur Prevention oder Behandlung depressiver Erkrankungen bei Jugendlichen wirft auch noch eine Reihe von anderen ethischen Fragestellungen auf. Schulen werden oft als fur Mafinahmen der Gesundheitsforderung besonders geeignet angesehen (EvansWhipp et al. 2004, Lynagh at al. 1997, Nutbeam & Aaro 1991). Das kann so weit gehen, dass Schulen ihrem primaren Bildungsauftrag durch die Umsetzung von entsprechenden Mafinahmen gefahrdet sehen (St Leger & Nutbeam 2000, Samdal et al. 1998). Praventionsprogramme in Schulen miissen diesen Vorbehalt respektieren, moglichst wenig Einfluss auf den
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Unterricht nehmen und fur Lehrer und Schiiler gleichermafien nutzbringend sein. Wenn eine Intervention von nur zweifelhaftem Nutzen ist, ist es unethisch, die Zeit der Schule und der Schiiler dafur zu beanspruchen. Als Ausnahme hiervon kann die Erprobung einer Intervention im Rahmen einer Studie gelten. Weitere Fragestellungen ergeben sich aus dem Setting Schule, weil hier der Anspruch der Schiiler auf Vertraulichkeit nur auf den ersten Blick gewahrt scheint. Aber inwiefern trifft dies wirklich zu? Wer hat ein Recht darauf, wer muss die Diagnose erfahren, wenn im Verlauf der Mafinahme ein Schiiler als depressiv diagnostiziert wird? Wer kontrolliert diese Information? Als selbstverstandlich kann zunachst gelten, dass die Mitschuler keinen Anspruch und kein Recht auf Information erheben konnen. Aber wie ist es mit den Eltern, Schulen und den medizinisch Tatigen, die im Auftrag Minderjahriger handeln? Wer sollte informiert werden und wer erteilt die Zustimmung zur Behandlung? Die jeweilige Entscheidung ist vom Lebensalter des Kindes und den national geltenden gesetzlichen Bestimmungen zur individuellen Reife abhangig, die die Entscheidungsfreiheit des Kindes regeln. Altersfragen sind auch dann von besonderer Bedeutung, wenn die Schiiler eigenstandig die Beratung im Rahmen der Schule aufsuchen. Partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternschaft erweist sich als die beste Basis fur die Regelung von Fragen zu den Rechten und Verantwortlichkeiten, die sich aus der Diagnosestellung bei minderjahrigen Kindern ergeben konnen. Wer hat die Berechtigung, die Information iiber das Kind zu erhalten? Wer trifft die therapeutischen Entscheidungen? Wer braucht diese Information und sollte Entscheidungen treffen? Stehen Rechte und Anspriiche im Einklang? Eltern, Lehrerschaft und Schiiler konnen sehr unterschiedliche Einstellungen zu diesen Fragen haben und eine unterschiedliche Position zu der Frage, wer Zugang zu Informationen haben sollte und Entscheidungskompetenz habe. So mag die Schule z.B. argumentieren, die Information werde benotigt, um die schulische Erziehung des Kindes zu erleichtern. Die Eltern wiederum konnten gegen dieses Interesse sprechen, um eine Stigmatisierung zu vermeiden. Der Schiiler selbst dagegen hat moglicherweise das Gefuhl, er sei der einzige, der ein Recht auf dieses Wissen hat. Man mag von der Schule in andere Settings der Jugendlichen (z.B. Jugendzentren und auf Jugendliche spezialisierte Einrichtungen der Gesundheitsversorgung) ausweichen, aber auch dort ergeben sich eine Reihe von ahnli-
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chen ethischen Fragestellungen, die im Zusammenhang mit der Behandlung Minderjahriger entstehen. Das Problem depressiver Erkrankungen bei Jugendlichen aufzugreifen, kann als Ausdruck einer gesundheitspolitischen Strategic verstanden werden, die iiber die Intervention bei Jugendlichen gesunde Verhaltensmuster fur das weitere Leben etablieren will. Ausgehend von der Stigmatisierung bei Depression, Unsicherheiten in der Diagnose und der Behandlung und vom Rechtsstatus der Minderjahrigen sind viele ethische Fragestellungen zu berucksichtigen, wenn Screening und Intervention bei Jugendlichen (insbesondere im Setting Schule) durchgefuhrt werden sollen. 16.7
Interventionen in der Umwelt
Interventionen, die auf eine Veranderung der Umwelt bzw. des Umfeldes zielen, versprechen eine Vielzahl von Moglichkeiten zur Bekampfung der Depression. Umwelt ist ein Begriff, der so konstruiert ist, dass er verschiedene Bedeutungen haben kann. Veroffentlichungen zu psychischer Gesundheit und Umwelt betrachten zum Beispiel die symbolische Bedeutung von therapeutischen Landschaften (Wilson 2003), die stadtische Geographic psychisch Kranker (Gleeson et al. 1998), und die raumliche Verteilung der Kranken innerhalb einer Stadt (Segrott & Doel 2004). Solche Einsichten in die gelebte Realitat psychischer Erkrankungen konnten als Grundlage fur neuartige Interventionen in Bezug auf psychische Erkrankungen und Depression dienen. Gegenwartig beziehen sich jedoch die Untersuchungen zu psychischer Gesundheit und Umwelt im Wesentlichen auf Umwelt- und Stadtplanung (Raumplanung), auf die gebaute Umwelt und die Wirkung der Urbanisierung auf die Gesundheit. Meist konzentriert sich die Betrachtung iiberwiegend auf korperliche Gesundheit, und wenn psychische Erkrankungen berucksichtigt werden, wird eher der Sammelbegriff verwendet, als dass einzelne Erkrankungen wie z.B. Depressionen herausgegriffen werden. Diese Vernachlassigung der psychischen Gesundheit legt die Vermutung nahe, dass umwelt- und stadtplanerische Interventionen wenig fur ihre Wirkung auf die psychische Gesundheit sensibilisiert sind, obwohl stadtplanerische Interventionen gerade fur die Beziehung Umwelt und Gesundheit von grofier Bedeutung sind. Ahnlich verhalt es sich mit Gesundheitsvertraglichkeitsprufungen im Umwelt- und Planungsbereich, die zwar zunehmend durchgefuhrt werden, aber die psychische Gesundheit nicht explizit beachten (Kemm & Parry 2004).
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Interessanterweise ist die Depression allerdings diejenige Erkrankung, die in Veroffentlichungen zur Umwelt- und Stadtentwicklung von alien psychischen Erkrankungen am haufigsten behandelt wird. Diese Besonderheit ist anscheinend in einem wichtigen, aber eher unterschwelligen Motiv begriindet: Irgendwo im gesellschaftlichen Bewusstsein ist das Bild von Depression (im allgemeinen und im fachgebrauchlichen Sinn) mit der Vorstellung von Stadt verbunden. Die Konzentration auf Depression beim Thema „Gesundheit und Stadt" spiegelt den weit verbreiteten Dualismus von Stadt (ungesunde Umgebung) und Land (gesunde Umgebung) wider. Dabei sind solche idyllischen Naturvorstellungen schon langst durch ein sich wandelndes Verstandnis landlicher Regionen widerlegt (Cloke et al. 1994, Hoggart 1990). Die Konzentration der Veroffentlichungen im Bereich „Gesundheit und Stadt" erinnert in dieser Form mehr an das Bild der Stadt im ausgehenden 18. Jahrhundert, als Stadte Orte voller giftiger Ausdiinstungen, Krankheit und Verseuchung waren (Halliday 2001, Susser & Susser 1996). Sollten diese Vorstellungen zu Gesundheit und Stadt - bewusst oder unbewusst - nach wie vor im Umwelt- und Stadtplanungsbereich eine Rolle spielen, dann besteht die Gefahr, dass Interventionen Probleme der psychischen Gesundheit in landlichen Regionen iibersehen, obwohl eine Anzahl von Veroffentlichungen diesen Bedarf belegen (Philo et al. 2003). Am Beginn einer jeden Intervention im Umwelt- und Stadtplanungsbereich zur Verbesserung der psychischen Gesundheit ist zu fragen, welche wissenschaftlichen Belege vorhanden sind und in wie weit volkstumhche oder mythische Vorstellungen wirksam sind. Sollten die letzteren Argumente iiberwiegen, konnen die mit den Interventionen verbundenen hohen Kosten und weit reichenden Folgen kaum gerechtfertigt werden. Auffalligkeiten in der raumlichen Verteilung von Gesundheit werden seit mehr als einem Jahrhundert beobachtet (Ellaway 2001) und auch die Beziehung zwischen der menschlichen Gesundheit und der baulichen Umwelt wird zunehmend anerkannt (Jackson 2003). So gibt es wissenschaftliche Belege fur einen Zusammenhang von Gesundheit und schlechten Wohnverhaltnissen, der auch Depression mit erfasst (Jackson 2003). Vor einem Eingriff in die Umwelt als Intervention muss man jedoch zunachst verstehen, was die Griinde fur diesen Zusammenhang sind. Zu fragen ist zum Beispiel, ob sich dieser Zusammenhang kontextuell aus dem Charakter des Wohngebiets oder kompositiv aus dem Charakter der dort lebenden Bevolkerung ergibt (Blackham et al. 2001). Vielleicht liegt es auch an einer Wechselwirkung von beidem. Wenn der gebaute Raum einer Gegend
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depressiv macht, dann erscheinen Anderungen in der physikalischen Landschaft und der Architektur angemessen. Wenn aber die Bewohner einer Gegend besonders haufig eine Depression entwickeln, muss die Intervention auch ein Verstandnis davon haben, warum dies so ist, z.B. weil die Bewohner ihre Umwelt in einer ganz bestimmten Art und Weise wahrnehmen (was die Annahme einer Wechselwirkung zwischen physikalischer Umwelt und Bewohnern nahe legt) (Ellaway et al. 2001). Als einer der bestimmenden Faktoren fur Gesundheit kommt auch der sozio-okonomische Status (eine Schlusseldeterminante der Gesundheit) einer Region in Betracht; zusatzlich werden die Auswirkungen der Verteilung sozialen Kapitals auf individueller und Gemeinde-Ebene als mogliche Ursachen fur eine Haufung von Depression gesehen (Ellaway et al. 2001, Ziersch et al. 2005). Wenn es einen Zusammenhang zwischen dem Risiko einer depressiven Erkrankung und der Umwelt geben sollte, dann ist wegen der ungleichen Verteilung der Depressiven zu vermuten, dass auch innerhalb der physikalischen Umwelt Ungleichheiten existieren. Unabhangig von der Natur dieses Zusammenhangs ergeben sich damit wiederum Fragen nach der sozialen Gerechtigkeit. Von einem tiefer gehenden Verstandnis fur das Verhaltniss zwischen Umwelt und Gesundheit konnte deshalb eine Verbesserungen der umweltund stadtplanerischen Interventionen ausgehen. Kunftige Umwelt- und Stadtplanung sollte sich nicht nur auf mehr Forschung beziehen, um ihre Effektivitat hinsichtlich antidepressiver Effekte zu verbessern, sondern sie sollte auch das Profil alternativer Interventionen starken, die von einem anderen Verstandnis der Zusammenhange zwischen Umwelt und Gesundheit ausgehen. 16.8
Schlussfolgerung
In diesem Kapitel haben wir versucht aufzuzeigen, dass zahlreiche grofi angelegte Interventionen gegen depressive Erkrankungen erhebliche ethische Probleme aufwerfen. Ein erheblicher Unterschied ergibt sich dabei zwischen der Behandlung von Kranken, die Hilfe suchen, und der Suche nach Menschen, von denen wir annehmen, dass sie Hilfe brauchen. Diese Unterscheidung wird dann ganz besonders wichtig, wenn Menschen durch die Etikettierung negativen Folgewirkungen ausgesetzt sind. Wenn schon allein die Tatsache, als ein Mensch mit dem „Risiko fur eine Depression" bezeichnet zu werden, das Leben negativ beeinflusst, ist es
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wichtig, dass keine Interventionen eingesetzt werden, die Screeningverfahren mit geringer Messgenauigkeit verwenden. Wie unsere Ausfuhrungen zu Stigma zeigen, werden Menschen durch das Etikett „psychisch krank" starker stigmatisiert als durch das Etikett aller anderen Diagnosen. Das Problem der Stigmatisierung tritt bei solchen Interventionsstrategien nicht auf, die das Vorkommen von Depressionen durch allgemeine Veranderungen in der physischen oder psychischen Umwelt reduzieren wollen. Leider verftigen solche Interventionen nicht (oder noch nicht) in dem Mafi iiber einen wissenschaftlichen Nachweis ihrer Wirksamkeit, wie er fur die mehr individualisierten Interventionsstrategien vorliegt.
• Grofi angelegte preventive Interventionen gegen Depression fiihren, wegen des stigmatisierenden Effektes der Diagnose Depression, zu spezifischen ethischen Problemen. • Es besteht ein entscheidender Unterschied zwischen dem Behandeln von Menschen, die selber Hilfe suchen, und der Suche nach Menschen, von denen wir glauben, dass sie Hilfe brauchten. • Interventionen in Schulen oder andere Interventionen, mit der generellen Zielgruppe Kinder und Jugendliche, gehen mit zusatzlichen ethischen Problemen einher. Diese betreffen das Einwilligungsrecht und das Recht auf die erhobenen Informationen. • Screening Instrumente, welche in grofi angelegten Interventionsprogrammen eingesetzt werden sollen, miissen fur den Einsatz auf Bevolkerungsebene validiert sein. • Interventionen, die den Aktionsfokus auf das Individuum legen, verbessern zwar die Anonymitat und reduzieren Stigmatisierung, bergen aber die Gefahr des Missbrauchs. • Die vorhandene Evidenz fur viele grofi angelegte Interventionen ist nach wie vor nicht besonders gut.
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S0ren Holm, Stephen Burgess, Grofibritannien
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Kapitel17
17
Gesundheitsforderung
Anke Bramesfeld, Hannover
17.1
Definition
"Gesundheitsforderung zielt aufeinen Prozess, alien Menschen ein hoheres Maji an Selbstbestimmung tiber ihre Gesundheit zu ermoglichen und sie damit zur Starkung ihrer Gesundheit zu befahigen" (WHO 1986). In diesem Sinn starkt das Fordern der seelischen Gesundheit die Fahigkeit von Individuen und Gruppen, ihr seelisches Wohlbefinden und ihre Gesundheit zu erhalten und wiederherzustellen und dient dem Aufbau von Widerstandskraft gegen seelische Erkrankungen und Beeintrachtigungen (Resilience). In Abgrenzung zur Prevention setzt Gesundheitsforderung dabei nicht krankheitsspezifisch an (und damit existiert auch keine fur Depressionen spezifische Gesundheitsforderung), sondern nimmt ihren Ausgang von Faktoren, deren die Gesundheit determinierende Wirkung bekannt ist. Gleichwohl erganzen sich Prevention und Gesundheitsforderung und es finden sich viele Uberschneidungen, gerade im Rahmen von universell-praventiven Interventionen. 17.2
Entstehen seelischer Gesundheit
Seelische Gesundheit entsteht auf der Grundlage genetischer und physiologischer Voraussetzungen und unter dem Einfluss von Umweltfaktoren. Hierbei konnen verschiedene Interaktionsebenen identifiziert werden, welche die seelische Gesundheit des einzelnen Menschen beeinflussen und formen. Diese Interaktionsebenen stellen sich modellhaft wie folgt dar (Abbildung 17.1):
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Anke Bramesfeld, Hannover
Abb. 17.1: Modell der Interaktionsebenen, welche die individuelle seelische Gesundheit beeinflussen. Alle diese Ebenen stehen in Austausch und gegenseitiger Beeinflussung: 1. Die innerpsychische Ebene reprasentiert dabei die Interaktion zwischen den drei Komponenten der individuellen Wahrnehmung (Sinnesdaten), Verarbeitung (Konzeptionalisierung) und Bewertung (Zensur) von Eindriicken aus der Umwelt (Emrich 1990). Es ist die Ebene der personlichen Interessen, Vorlieben, Angste und Abneigungen. 2. Die darauf folgende Ebene betrifft das Verhalten des Individuums alleine. Hierzu gehoren Elemente wie Tagesstruktur, Ernahrung, Bewegung, Substanzkonsum und Stressmanagement. 3. Die Ebene der Interaktion zwischen dem Individuum und anderen Individuen hat das Vorhandensein eines sozialen Netzwerkes und die Interaktion mit naher und ferner stehenden einzelnen Personen zum
Gesundheitsforderung
329
Gegenstand. Hierbei ist der Stil der Interaktion bedeutsam (respektvoll, gewalttatig, liebevoll, abwertend). 4. Schliefilich beeinflusst die Ebene Individuum und Gesellschaft die seelische Gesundheit. Elemente wie sozialer Status, Moglichkeiten der gesellschaftlichen Partizipation, bzw. die Abwesenheit von Diskriminierung und Ausgrenzung sowie die soziookonomische Situation sind in diesem Kontext relevant. Mafinahmen zur Forderung der seelischen Gesundheit wirken immer auf mehreren dieser Ebenen. So haben z.B. beschaftigungspolitische Mafinahmen fur den Einzelnen Auswirkungen sowohl auf der gesellschaftlichen Ebene (Arbeit verbessert den sozialen Status und die soziookonomische Situation), auf der Ebene der Interaktion mit anderen (Arbeit schafft Sozialkontakte durch Interaktion mit Kollegen und Vorgesetzten), der individuellen Ebene (Arbeit gibt Tagesstruktur vor) sowie innerpsychisch, denn Arbeit beeinflusst das Selbstwertgefuhl. Verschiedene soziale Faktoren wirken auf diese vier Interaktionsebenen, innerhalb derer seelische Gesundheit entsteht. Die zehn wichtigsten, welche die Gesundheit insgesamt - aber auch die seelische Gesundheit - determinieren, sind dabei nach Wilkinson und Marmot (Wilkinson und Marmot 2003): • Soziookonomischer Status, • Stress, • Bedingungen der Kindheit (z.B. Erziehung, Ernahrung etc.), • Gesellschaftliche Ausgrenzung, • Arbeitsbedingungen, • Arbeitslosigkeit, • Soziale Unterstutzung, • Konsum abhangigmachender Substanzen, • Ernahrung, • Verkehrswesen (als Quelle haufiger Unfalle und Ressource fur Bewegung bzw. Mangelbewegung).
330
17.3
Anke Bramesfeld, Hannover
Ansatzpunkte fur das Fordern seelischer Gesundheit
Aufgrund der Bedeutung der sozialen und okonomischen Faktoren fur die seelische Gesundheit (Marmot und Wilkinson 2003) sind Mafinahmen, die auf soziale und strukturelle Veranderungen zielen, von besonderer Relevanz fur die Gesundheitsforderung. Hierbei handelt es sich vornehmlich um Politikstrategien. Solche Interventionen haben sich als effektiver erwiesen als ein alleiniges Fokussieren auf Mafinahmen, die in erster Linie das Modifizieren individuellen Verhaltens durch Information zum Ziel haben (Syme 2003). Im Folgenden wird sich daher auf Gesundheitsforderung, die im Modell der Interaktionsebenen auf der gesellschaftlichen Ebene ansetzt, konzentriert. Gleichwohl bleibt das Entwickeln individueller Gesundheitskompetenzen neben dem Beeinflussen sozialer Strukturen und dem Implementieren einer gesundheitsforderlichen Politik und Infrastruktur ein erklartes Ziel der Gesundheitsforderung (Kickbusch 2003). Aktionsbereiche zur Forderung der seelischen Gesundheit auf einer gesellschaftlichen Ebene finden sich vor allem im Gebiet der Sozial-, Familien-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, aber auch in der Wohnraumentwicklung und Stadtplanung sowie in Aktivitaten zum Bekampfen von Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung (Victorian Health Promotion Foundation 2005). Sie betreffen nur zu einem geringeren Teil das Gesundheitswesen, da die meisten die Gesundheit determinierenden Faktoren aufierhalb dessen Einflussbereiches liegen. Hauptakteure der Gesundheitsforderung sind deshalb auch weniger Akteure des Gesundheitswesens als Politiker, Erzieher, Lehrer, Multiplikatoren und Mitglieder von Nicht-Regierungs-Organisationen. Der Ansatz zur Forderung der seelischen Gesundheit und des Wohlbefindens, wie er von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vertreten wird und auch von Landern wie z.B. Australien fur ihre nationalen Programme zur Forderung der seelischen Gesundheit und Prevention psychischer Erkrankung ubernommen wurde, umreifit das Feld wie folgt (Victorian Health Promotion Foundation 2005): Forderung der seelischen Gesundheit und des Wohlbefindens • setzt den Schwerpunkt auf die Verbesserung des sozialen, physischen und okonomischen Umfeldes als Determinante fur die seelische Gesundheit von Individuen und Bevolkerungen;
• setzt den Schwerpunkt auf das Verstarken protektiver Faktoren, wie Copingfahigkeiten, Resilience, Zusammenhalt zwischen Individuen und
Gesundheitsforderung
331
in Gemeinschaften mit dem Ziel, das emotionale und soziale Wohlbefinden zu verbessern; • Zielgruppe ist die ganze Bevolkerung, wobei fur die unterschiedlichen Bevolkerungsuntergruppen (z.B. Kinder, Frauen, Manner, Senioren, Migranten, Menschen in strukturschwachen Gebieten) spezifische Interventionen zur Anwendung kommen; • wendet einen Mafinahmenmix an, der alle vorhandenen gesundheitsforderlichen Methoden einschliefit; • Mafinahmen und Implementierungsstrategien werden unter Beriicksichtigung vorhandener Evidenz gewahlt; • der Zugang ist sektoriibergreifend. 17.4
Wirksamkeitsnachweis von Gesundheitsforderung
Effektive Strategien und Mafinahmen zur Forderung der seelischen Gesundheit und des Wohlbefmdens miissen auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Wirksamkeit (Evidenz) entwickelt, ausgewahlt, der Politik empfohlen und implementiert werden (Victorian Health Promotion Foundation 2005). Diese Evidenz findet sich in Bevolkerungs- und Feldstudien sowie in der qualitativen Sozialforschung (Sturm 2002). Studien bilden jedoch nur Teilbereiche der Wirklichkeit ab. Gerade deswegen ist es wichtig, bei der Auswahl von gesundheitsforderlichen Mafinahmen und Strategien Klarheit liber die Starke der jeweiligen Evidenz zu haben. Diese orientiert sich an drei Eckpunkten (Tang et al. 2003): 1. Dem Nachweis der Wirksamkeit einer Intervention mit Methoden, die einer objektiven Evaluation angemessen sind. Hierbei wird identifiziert was wirkt (Falsifiability). 2. Der Vorhersagbarkeit des Ergebnisses. Dies setzt voraus, dass die Bedingungen bekannt sind wie es wirkt. 3. Der Wiederholbarkeit der Intervention. Mit Hilfe dieser drei Eckpunkte konnen vier Typen der Evidenz gesundheitsforderlicher Interventionen unterschieden werden:
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332
Tab. 17.1: EvLdenzgrade gesundheitsforderlicher Intervenionen (Tang et al. 2003) Was wirkt?
Wie wirkt es ?
Wiederholbarkeit?
(Interventionen, die sich in evaluierenden Untersuchungen als wirksam erwiesen haben
Ursache-Wirkung ist bekannt
TypA
bekannt
bekannt
universell
TypB
bekannt
bekannt
limitiert
TypC
bekannt
nicht bekannt
universell
TypD
bekannt
nicht bekannt
limitiert
Der Anspruch, aufgrund von Evidenz Strategien und Mafinahmen fur gesundheitsforderliche Programme auszuwahlen, verlangt, dass die Evaluation von Mafinahmen und Programmen ein integraler Bestandteil der Implementierung von effektiver Gesundheitsforderung ist. Nur so konnen spatere Programme von friiheren lernen. Ergebnisuntersuchungen von Gesundheitsforderprogrammen werden jedoch durch deren Charakter erschwert. Gesundheitsforderung ist immer auch ein sozialer und politischer Prozess, d.h., findet im „wirklichen Leben" statt und unterliegt dadurch unterschiedlichen, teils schwer kalkulierbaren Einflussen (WHO 2004) S 18-19). Wenn auch immer das ultimative Ergebnis gesundheitsforderlicher Interventionen eine verbesserte Gesundheit der Bevolkerung ist, so eignet sich diese wenig zur zeitnahen Evaluation. Die Effekte von Gesundheitsforderung sind im Endergebnis eher langfristig zu erwarten, und konkurrierende Einflusse konnen dazu fuhren, dass eine im Prinzip wirksame Intervention auf Grund sich wahrend der Durchfuhrung der Mafinahme verandernder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen nicht den versprochenen Effekt zeigt. Es empfiehlt sich daher, die Evaluation gesundheitsforderlicher Interventionen auf einer operationalen Ebene durchzufuhren. Als Parameter eines Erfolges konnen das Vorhandensein von Politikstrategien, die der seelischen Gesundheit forderlich sind, gesundheitsforderliche Praktiken von Organisationen (z.B. Arbeitsplatzgestaltung), verbesserte soziale Bedingungen und Kenntnisse der Bevolkerung und ihrer Subgruppen uber seelische Gesundheit, ihr Erhalten und Wiederherstellen (mental health literacy) dienen.
Gesundheitsforderung 17.5
333
Beispiele fur das Fordern der seelischen Gesundheit auf Public Health Ebene
Im Folgenden werden exemplarisch Politikstrategien aufgefuhrt, fur die ein positiver Effekt auf die seelischen Gesundheit und das Wohlbefinden nachgewiesen werden konnte. Dariiber hinaus werden auch gegenwartig in Deutschland implementierte Politikstrategien vorgestellt, von denen aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse ein Effekt auf die seelische Gesundheit zu erwarten ist. Es wird sich dabei auf die beiden Zielgruppen Kinder und Jugendliche sowie Manner und Frauen im erwerbsfahigen Alter konzentriert Fur diese werden Alltagsbereiche, so genannte "Settings", identifiziert, die fur die Forderung der seelischen Gesundheit von besonderer Relevanz sind. Ein Setting kann sowohl die Basis fur die Implementierung von gesundheitsforderlichen Mafinahmen darstellen, als auch den Gegenstand, auf den die Mafinahmen verandernd einwirken sollen (Kickbusch 2003). 17.5.1 Kinder und Jugendliche Das Setting Familie ist fur die Forderung der seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen von zentraler Bedeutung. Die Familie, insbesondere die Eltern-Kindbeziehung, ist eine wichtige Ressource zur Ausbildung von Fahigkeiten, mit schwierigen Lebensbedingungen zurecht zu kommen und dabei psychisch gesund zu bleiben (Brennan et al. 2003, Donald und Dower 2002, Juang und Silbereisen 1999). Der Bereich Familie ist dariiber hinaus besonders relevant, da in den veranderten familiaren Bedingungen, wie z.B. einer Zunahme der Scheidungen, eine Hauptursache fur die mogliche Zunahme der Depression im Jugendalter gesehen wird (Schuster 2001). Strategien und Mafinahmen, welche die Lebensverhaltnisse und den Zusammenhalt von Familien beeinflussen, sind daher unter dem Aspekt der Forderung der seelischen Gesundheit von besonderem Interesse. Solche Strategien betreffen u.a. folgende Themen: • Verbesserung der soziookonomische Situation von Familien: Eine Verbesserung des Familieneinkommens, die dazu fuhrte, dass sich Familien aus Armut befreien konnten, wirkte in einer amerikanischen Feldstudie positiv auf die Psychopathologie der Kinder. Mediator dieses Effektes war eine verbesserte Supervision der Eltern iiber ihre Kinder, die sich parallel mit der Veranderung der soziookonomischen Lage einstellte (Costello et al. 2003). Armut betrifft in Deutschland vor allem Familien mit alleinerziehenden Muttern (Bundesministerium fur Gesundheit und So-
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ziale Sicherung 2005). Von einer Verbesserung ihrer soziookonomischen Situation, insbesondere was die Ermoglichung von Berufstatigkeit betrifft, die mit der Kinderbetreuung vereinbarer ist, dem Bildungsstand angemessenen, ausreichend vergtitetet und verlasslich ist, sind positive Effekte auf die Interaktion der Mutter mit ihren Kindern zu erwarten (Raver 2003). • Wohnen: Strategien, welche die Wohnbedingungen verbessern, insbesondere im Sinne von Wohnen aufierhalb von „sozialen Brennpunkten", konnten mit einer Verringerung von depressiven und Angstsymptomen bei Heranwachsenden in Verbindung gebracht werden. Diese Effekte waren unabhangig von Veranderungen des Familieneinkommens (Leventhal und Brooks-Gunn 2003). Gestiitzt wird dieser Befund durch die Ergebnisse einer Evaluation eines Investmentprogramms, welches die Wohnqualitat in einem sozial benachteiligten Stadtviertel von Edinburgh verbessern sollte (Douglas et al. 2001). Die wichtigsten Effekte dieses Programms betrafen die Verbesserung der seelischen Gesundheit der Bewohner durch Reduktion von Platzenge, Larm, Stigmatisierung und Angst vor Kriminalitat. Insofern sind Politikstrategien, welche zu einer Verbesserung der Wohnbedingungen fiihren, immer auch als Mafinahme zur Forderung der psychischen Gesundheit der dort lebenden Kinder und Jugendlichen zu verstehen. • Elterliche Trennung: Das Fortbestehen guter Kontakt zu beiden Elternteilen hat auf Kinder, deren Eltern sich trennen, einen depressionsverhindernden Effekt (Palosaari et al. 1996, Richardson und McCabe 2001). Das 1998 reformierte deutsche Scheidungsrecht, in dem nun regelhaft beiden Elternteilen das gemeinsame Sorgerecht zugesprochen wird, ist nach einem Gutachten prinzipiell dazu geeignet, den Kontakt der Kinder zu beiden Eltern aufrechtzuerhalten und zu unterstutzen, das Konfliktniveau zwischen den Eltern zu reduzieren und gerichtliche Auseinandersetzungen zu vermeiden/vermindern. Auch zeigte sich, dass bei gemeinsamen Sorgerecht den Unterhaltsverpflichtungen besser nachgekommen wird (Proksch 2002). Die Reform des Scheidungsrechtes ist auf dem Stand des gegenwartigen Wissens insofern als eine Mafinahme zu verstehen, von der anzunehmen ist, dass sie die seelische Gesundheit von Kindern, die von Scheidung betroffenen sind, fordert. Eine detaillierte diesbeziigliche Evaluation liegt jedoch nicht vor.
Gesundheitsforderung
335
17.5.2 Frauen und Mannern im erwerbsfahigen Alter Das Setting Arbeitswelt ist fur Frauen und Manner im erwerbsfahigen Alter von grofier Wichtigkeit fur die seelische Gesundheit, determiniert es nicht zuletzt den sozialen und okonomischen Status. Armut ist unter Erwachsenen einer der bedeutendsten die seelische Gesundheit beeinflussenden Faktoren (Kopp et al. 2000). Strategien, die auf die Berufstatigkeit wirken und von denen ein fur die seelische Gesundheit von Frauen und Manner im erwerbsfahigen Alter forderlicher Effekt zu erwarten ist, betreffen unter anderem folgende Themen: • Beschaftigungsstatus: Arbeitslosigkeit ist ein Risiko fur korperliche und seelische Erkrankung (siehe auch Brenner, Kapitel 8, Arbeitslosigkeit). Es ist daher eine wichtige Frage, in wie weit Politikstrategien, die Arbeitslose betreffen, deren seelische Gesundheit positiv oder negativ beeinflussen. Dies betrifft z.B. Strategien, die ein Ruckfuhren arbeitsloser Menschen in das Erwerbsleben anstreben, etwa durch das Verpflichten zur Annahme einer Tatigkeiten unter dem bisherigen Qualifikationsund Entgeldniveau oder durch Vermitteln von Hilfstatigkeiten, die mit einem geringen Zusatzverdienst zum Arbeitslosengeld verbunden sind. Es konnen hiervon sowohl fur die seelische Gesundheit forderliche Effekte als auch ihr Gegenteil antizipiert werden: Die Wiederaufnahme einer bezahlten Tatigkeit ist mit einem eindeutig positiven Effekt auf die seelische Gesundheit verbunden (Thomas et al. 2005) und zwar soweit, dass dadurch auch andere adverse Lebensumstande in ihrer Wirkung abgefedert werden konnen (Thyen et al. 1999). Gleichzeitig weisen aber mehrere Studien auf die die seelische Gesundheit belastenden Effekte von Arbeit mit niedrigem Prestige und schlechter Bezahlung hin (Pikhart et al. 2004, Raver 2003). Die Wiederaufnahme einer Berufstatigkeit mit unsicherer Zukunftsperspektive geht mit einer erhohten psychischen Morbiditat einher (Ferrie et al. 2001). • Arbeitsstress: Zu den wichtigsten Faktoren, welche die seelischen Belastungen am Arbeitsplatz bestimmen, gehoren Mitbestimmungsmoglichkeiten und die Sicherheit des Arbeitsplatzes (Cole et al. 2002). In sofern ist ein die seelische Gesundheit fordernder Effekt von Mafinahmen zu erwarten, welche die Arbeitsplatzgestaltung betreffen (wie z.B. auch berufliche Qualifizierungsmafinahmen) und die berufliche Mitbestimmungsmoglichkeiten fordern sowie Mafinahmen, die zur Sicherung des Arbeitsverhaltnisses beitragen.
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• Rollenkonflikte Arbeit/Familie: Der Konflikt zwischen familiaren und beruflichen Anforderungen stellt insbesondere fur allein erziehende Eltern eine seelische Belastung dar. Verlassliche, selbstverstandlich vorhandene staatliche Kinderbetreuung erwies sich in einem internationalen Vergleich als am meisten entlastend fur die betroffenen Eltern und war mit einer geringeren depressiven Symptomatik verbunden (Chandola et al. 2004). Von einem verbesserten Angebot der verlasslichen Kinderbetreuung sind daher nicht nur Effekte auf die Kinder im Sinne von Friihforderung sowie bessere Erwerbsmoglichkeiten fur allein erziehende Mutter (und damit ein Schutz vor Armut) zu erwarten, sondern auch direkte Effekte auf die elterliche seelische Gesundheit.
17.6
Ausblick
Forderung der seelischen Gesundheit und des Wohlbefindens beinhaltet Prozesse, welche die Strukturen und Lebensbedingungen einer Bevolkerung dahingehend verandern sollen, dass sie die seelische Gesundheit starken. Insbesondere Mafinahmen, die strukturell wirken, haben dabei den Faktor seelische Gesundheit haufig primar gar nicht im Fokus, sind aber von grofier Relevanz fiir die seelische Gesundheit. So drehen sich z.B. Diskussionen iiber die betriebliche Mitbestimmung vor allem um Fragen der Effizienz und Wirtschaftlichkeit, wahrend die fiir die seelische Gesundheit relevanten Aspekte der Teilhabe an Entscheidsprozessen und damit einhergehende soziale Auswirkungen eine untergeordnete Rolle spielen (Lehrstuhl Organisationssoziologie und Mitbestimmungsforschung der Ruhr-Universitat Bochum 2005). Das Bewerten und Bewusst machen von Politikstrategien hinsichtlich ihres Wertes fur die seelische Gesundheit der Bevolkerung im Sinne eines Mental Health Impact Assessments wird ein wesentlicher Bestandteil einer Politik sein, die auf die Forderung der seelischen Gesundheit und des Wohlbefindens als Ressource von Wohlstand und Prosperitat einer Gesellschaft Wert legt.
Gesundheitsforderung
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Forderung der seelischen Gesundheit starkt die Fahigkeit von Individuen und Gruppen, ihr seelisches Wohlbefinden und ihre Gesundheit zu erhalten und wiederherzustellen. Aufgrund der Bedeutung von sozialen und okonomischen Faktoren fur die seelische Gesundheit, sind gesundheitsforderliche Mafinahmen, die auf soziale und strukturelle Veranderungen zielen, von besonderer Relevanz. Aktionsbereiche fur das Fordern der seelischen Gesundheit im Rahmen von Politikstrategien fmden sich vor allem in der Sozial-, Familien-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik. Effektive Strategien und Mafinahmen zur Forderung der seelischen Gesundheit miissen auf der Grundlage der vorhandenen Evidenz entwickelt, ausgewahlt, der Politik empfohlen und implementiert werden. • Das Evaluieren von Politikstrategien hinsichtlich ihres Einflusses auf die seelische Gesundheit sollte fester Bestandteil einer Politik sein, deren Anliegen das Fordern der seelischen Gesundheit ist.
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Kapitel18
18
Prevention Depressionspravention in den Niederlanden: Eine Ubersicht
Pirn Cuijpers, Amsterdam, Uetrech,; Ernst Bohlmeijer, Uetrecht, Helen Riper, Uetrecht, Filip Smit, Amsterdam, Niederlande
18.1
Einleitung
Depressive Storungen kommen haufig vor (Bijl et al., 1998; Beekman et al., 1999). Sie haben eine ungiinstige Prognose und sie sind verantwortlich fur einen beachtlichen Verlust der Lebensqualitat bei den Betroffenen (Doraiswamy et al., 2002; Blazer, 2003) und deren Familienangehorigen (Leinonen et al., 2002; Hinrichsen et al., 1992). Depressive Storungen werden mit einer stark erhohten Mortalitat assoziiert (Cuijpers und Smit, 2002; Cuijpers und Schoevers, 2004) und verursachen grofien wirtschaftlichen Schaden von ungefahr € 300 MilVMil. Einwohner pro Jahr (Smit et al., 2005). Weltweit steht die depressive Stoning inzwischen auf Platz zwei der Krankheiten mit den hochsten Krankheitskosten und unmittelbar nach HIV/AIDS (WHO, 2003). Bei Frauen steht die Depression sogar auf Platz eins. Umgerechnet bedeutet dies, dass weltweit in diesem Augenblick ungefahr 150 Millionen Menschen unter einer Depression leiden. In den Niederlanden leiden jahrlich ungefahr 5,8% der Bevolkerung zwischen 18 und 65 Jahren an einer depressiven Storung, das entspricht ungefahr 580.000 Personen (Smit et al., 2004). Im Grofien und Ganzen gibt es zwei Methoden, die Krankheitskosten der psychischen Storungen zu reduzieren: bestehende Storungen behandeln und das Entstehen neuer Storungen vermeiden (Andrews et al., 2004; Andrews und Wilkinson, 2002). Die meisten Untersuchungen die sich auf das Auftreten psychischer Storungen konzentrieren, richten sich auf die Be-
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handlung der Storungen. Aktuelle australische Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass bestehende Therapieformen der Depression selbst bei idealen Umstanden die Krankheitskosten nur um die Halfte reduzieren konnen (Andrews et al., 2004; Andrews und Wilkinson, 2002; siehe auch Andrews et al., Kapitel 19, Interventionspotentiale). In Anbetracht der guten Resultate die schon jetzt mit diesen Behandlungsformen erreicht werden konnten, ist es nicht ratsam, kurzfristig zuviel von besseren und neuen Therapieformen zu erwarten. Die Pravention als Alternative wurde viel weniger untersucht, denn in der Praxis wurden so gut wie alle zur Verfugung stehenden Mittel in die Behandlung investiert. Doch entstand inzwischen in den Niederlanden eine beachtliche Praxis, die sich auf die Pravention depressiver Storungen richtet. In diesem Artikel wollen wir Ihnen eine Ubersicht der Praventionsmoglichkeiten sowie die praktischen Erfahrungen mit ihnen in den Niederlanden geben. Zu diesem Zweck werden wir zuerst eine Beschreibung geben, was wir eigentlich unter Pravention verstehen und wie die Pravention im Grofien und Ganzen in den Niederlanden aussieht. Danach gehen wir auf die verschiedenen Praventionsprogramme ein, die sich auf die Depressionspravention konzentrieren und die sich im Lauf der Zeit in den Niederlanden entwickelt haben. Wir besprechen dabei die Interventionen, die derzeit am meisten angewendet werden. Abschliefiend beschreiben wir einige Schlussfolgerungen und wie wir auf zukunftige Entwicklungen und Moglichkeiten reagieren wollen.
18.2
Die Pravention psychischer Storungen: Definition und Methoden
18.2.1
Definition
Preventive Interventionen richten sich darauf, ernsthafte psychische Probleme zu vermeiden bzw. rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln. Daneben sind auch preventive Aktivitaten bei Personen moglich, die schon ein ernsthaftes psychisches Problem entwickelt haben; zu denken ware zum Beispiel an das Reduzieren oder Vermeiden der Konsequenzen der Erkrankung fur die Umgebung oder das Vermeiden einer zusatzlichen Erkrankung fur den Betroffenen. In den Niederlanden ist es schon seit langem iiblich, einen Unterschied zwischen primarer Pravention (Krankheit vermeiden durch Verringerung der verursachenden Faktoren) und sekundarer Pravention (fruhzeitige
Prevention
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Entdeckung und Behandlung) zu machen. Bei der primaren Prevention richtet man sich auf die Population, die noch nicht erkrankt ist, bei der sekundaren Prevention auf die Population, die zwar schon erkrankt ist, bei der jedoch noch keine Diagnose gestellt wurde. Bei den praventiven Interventionen, die sich auf die psychische Problematik konzentrieren, wurde vor kurzem eine noch effektivere Definition entwickelt (Mrazek und Haggerty, 1994; National Advisory Mental Health Council Workgroup on Mental Disorders Prevention Research, 1998). Abbildung 18.1 zeigt das gesamte Interventionsspektrum fur psychische Probleme. Dieses Spektrum beinhaltet auch die praventiven Interventionen und unterscheidet zwischen vier Praventionsformen: • Die universelle Prevention richtet sich auf die allgemeine Bevolkerung oder einen Teil davon, die nicht auf der Basis eines individuellen Risikofaktors identifiziert wird (zum Beispiel grofi angelegte Medienkampagnen oder Interventionen an Schulen, wobei man sich an alle Schuler richtet, ungeachtet ihres Risikostatus). • Die selektive Prevention richtet sich an Individuen oder eine Subgruppe der Population, wobei das Entwicklungsrisiko eines psychischen Problems uberdurchschnittlich hoch liegt (zum Beispiel Personen, die vor kurzem ein eingreifendes Lebensereignis mitgemacht haben oder einem chronischen Stressfaktor ausgeliefert sind zu denken were hierbei an Scheidung, Trauer, Versorgung eines kranken Angehorigen, Arbeitslosigkeit). • Die indizierte Prevention richtet sich auf Individuen die nicht den diagnostischen Kriterien einer psychischen Storung entsprechen, die jedoch bestimmte Symptome aufweisen, die einer Storung vorhergehen oder bei denen biologische Kennzeichen bekannt sind, die auf eine Predisposition einer psychiatrische Erkrankung hinweisen. Haben bei der selektiven Prevention noch keine Probleme aufzutreten, treten diese jedoch bei der indizierten Prevention auf. • Die behandlungsbedurftige Prevention konzentriert sich auf Personen, die eine Erkrankung entsprechend der DSM-IV Kriterien entwickelt haben. Die praventiven Interventionen, die sich auf diese Gruppen konzentrieren, richten sich auf die Vorbeugungspravention, das Vermeiden der Komorbiditet und das Vermindern der Konsequenzen der psychischen Erkrankungen fur Personen in der unmittelbaren Umgebung.
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Abb. 18.1: Interventionsspektrum fur psychische Probleme (Mrazek und Haggerty 1994) In groben Ziigen kann man davon ausgehen, dass die ersten drei Formen der Pravention mit der primaren Pravention ubereinstimmen und dass die zuletzt genannte mit der sekundaren Pravention ubereinstimmt, obwohl die behandlungsbedurftige Pravention auch Teile umfasst, die eher nicht als sekundare Pravention betrachtet werden konnen (zum Beispiel Krankheitskonsequenzen fiir die Umgebung vermeiden). Die Definition der praventiven Interventionen richtet sich stark auf das Vermeiden psychischer Storungen. Die meisten praventiven Interventionen, die bis jetzt untersucht wurden, richten sich auf die Beeinflussung der Pradiktoren der psychischen Gesundheit (zum Beispiel das Reduzieren der Konsequenzen einschneidender Lebensereignisse auf die seelische Gesundheit) und dem Vermindern psychischer Beschwerden. Das Beeinflussen der Determinanten und Effekte psychischer Beschwerden betrachten wir als intermediare Ziele beim Realisieren von Pravention psychischer Storungen. 18.2.2 Der Risikoansatz Bei der Pravention in den Einrichtungen des niederlandischen psychischen Gesundheitswesens (Geestelijke Gezondheidszorg, GGZ) wird im Allgemeinen nach dem Prinzip des so genannten 'Risikoansatzes' verfahren (Mrazek und Haggerty, 1994). Das bedeutet, dass Interventionen sich auf das Vermindern der Risikofaktoren oder das Verbessern der protektiven Faktoren zu richten haben.
Prevention
345
Bei den Risikofaktoren handelt es sich um Faktoren, bei denen nachgewiesen werden kann, dass ein Zusammenhang zwischen ihrem Vermeiden und dem Auftreten und/oder dem Verlauf der psychischen Stoning besteht. Selbstverstandlich braucht es sich dabei nicht um kausale Faktoren zu handeln. So wurde in der Untersuchung deutlich nachgewiesen, dass psychische Storungen relativ haufiger in Bevolkerungsgruppen mit einem niedrigeren sozio-okonomischen Status vorkommen, die genaue Ursache ist jedoch bis jetzt unbekannt. Im Grofien und Ganzen kann man verschiedene Risikofaktoren unterscheiden. In einer vor kurzem erschienenen umfangreichen Literaturarbeit liber Risikofaktoren psychischer Storungen (Ormel et al., 2000) konnten die folgenden Faktoren unterschieden werden: demografische Faktoren (Mann/Frau und Alter); endogene Faktoren (psychobiologische Symptome wie zum Beispiel erbliche Faktoren, Personlichkeit, Copingstil, neurobiologische Faktoren), exogene Faktoren (zum Beispiel soziale Unterstutzung, soziale Werte und Normen, Erziehungsstil, Arbeitsverhaltnis) und Lebensereignisse. Inzwischen wurden viele Risikofaktoren fur psychische Storungen wissenschaftlich untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass mehrere Faktoren mit den psychischen Storungen zusammenhangen, aber dass der grofite Teil des Personenkreises, der solchen Risikofaktoren ausgeliefert ist, keine Stoning entwickelt oder entwickeln wird. Die meisten Forscher gehen davon aus, dass eine Stoning bei einem Individuum durch das komplexe Zusammenspiel mehrerer Faktoren auf mehreren Ebenen verursacht wird (biologisch, psychologisch, sozial) (s. hierzu auch den Beitrag von Bramesfeld & Stoppe in diesem Band). Neben den Risikofaktoren sind allerdings auch die beschiitzenden oder protektiven Faktoren ausschlaggebend. Untersuchungen auf diesem Gebiet zeigen beispielsweise, dass die Beziehung von Kindern zu kompetenten Erwachsenen in ihrer Familie und Umgebung ein wichtiger beschutzender Faktor ist. Gleichzeitig sind jedoch auch kognitive Fahigkeiten und eine positive Einstellung zu sich selbst wichtige protektive Faktoren (Masten, 2001). Programmatisches Arbeiten in der Praventionspraxis des niederlandischen psychischen Gesundheitswesens (GGZ). In den Niederlanden arbeiten seit den siebziger Jahren Praventionsmitarbeiter im psychischen Gesundheitswesen . Zurzeit hat beinahe jede GGZ18.2.3
Die Versorgung der psychischen Gesundheit ist in den Niederlanden regional organisiert. Sie findet in offentlich finanzierten Zentren start, deren Kernstiick eine psychiatrische Klinik mit ambulantem Versorgungszentrum bildet.
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Einrichtung eine Praventionsabteilung. Hierdurch gibt es in den Niederlanden ein mehr oder weniger deckendes Netz praventiver Mafinahmen, das sich auf die psychische Problematik konzentriert. Die Praventionsabteilungen der GGZ-Einrichtungen verftigen im Allgemeinen tiber einen oder mehrere Full-time Praventionsangestellte(n) pro 100.000 Einwohner. In diesen Abteilungen werden Praventionsprogramme mit unterschiedlichen Aspekten durchgefuhrt. Ungefahr 70% der Kapazitat, die der Pravention zur Veriugung steht, wird in Praventionsprogrammen zu vier Themen investiert: Prevention der Depression, Prevention psychischer Probleme, die im Zusammenhang mit Arbeit stehen, sekundare Prevention in der sozialen Psychiatrie und Praventionsprogramme, die sich auf Kinder von Eltern mit psychischen Probleme beziehen (KOPP). Die iibrigen 30% der Kapazitat stehen fur Aufgaben auf der regionalen Ebene zur Verfugung, die dort Prioritat haben. Dies konnen z.B. Themen sein wie Hanseln in der Schule, Prevention von Verhaltensstorungen von Alteren in Pflegeheimen, psychische Probleme bei Arbeitslosigkeit, etc.. Im weiteren Verlauf wird die Praxis der Depressionspravention dargestellt. In der Praxis der niederlandischen GGZ-Pravention sind Programme iiblich, die man als ein zusammenhangendes Hilfsangebot fur eine klar definierte Zielgruppe beschreiben kann. In der Praxis der GGZ-Pravention ist es ublich, dass zu Beginn eines Praventionsprogramms eine Problemanalyse erstellt wird. Dabei werden verschiedene Aspekte des Problems systematisch dargestellt: das Erscheinungsbild (Pravalenz und Inzidenz), Risiko- und Bedingungsfaktoren, protektive Faktoren und Angriffspunkte fur preventive Interventionen. In der Regel werden bei einer Problemanalyse ein oder mehrere theoretische Modelle eingesetzt, um das Entstehen des Problems, die Risikofaktoren und die protektiven Faktoren im Zusammenhang zueinander verstehen zu konnen. Stresstheoretische Modelle werden am heufigsten eingesetzt. Beispiele hierzu sind das dynamische Stress-Empfindlichkeits-Modell (Ormel et al., 2000) und die Theorie von Folkman und Lazarus zu Stress und Coping (1984). Auf der Grundlage der Problemanalyse wird ein in sich zusammenhengendes umfassendes preventives Interventionsprogramm entwickelt und anschliefiend durchgefuhrt. Dabei handelt es sich im Allgemeinen um Interventionen die sich entweder direkt auf die Zielgruppe richtet (Mikroniveau), oder auf Sozialarbeiter und andere Personen, die (berufsmafiig)
Prevention
347
viel Kontakt mit der praventiven Zielgruppe haben (den so genannten Multiplikatoren; Mesoniveau), oder um Interventionen, die sich auf die ganze Gesellschaft richten (Makroniveau). Interventionen, die haufig eingesetzt werden, sind zum Beispiel: • Kurse, die auf die 'Coping' Fahigkeiten und Kompetenz eingehen (Mikroniveau); • Gruppen, in denen die soziale Unterstiitzung im Mittelpunkt steht (Mikroniveau); • Informationen der direkt Betroffenen (Mikroniveau) oder der Multiplikatoren (Mesoniveau); zum Beispiel Informationstreffen oder schriftliches Informieren; • Forderung der Fachkenntnis Multiplikatoren (Mesoniveau);
durch
Training
oder
Kurse
fur
• Unterstiitzung bei der Organisation neuer Einrichtungen am Beispiel einer Selbsthilfeorganisation, einer Organisation Freiwilliger, alternative Aufnahmemoglichkeiten (Makroniveau); • Grofiangelegte Medienkampagnen (Makroniveau). Sobald die Interventionen eine zeitlang eingesetzt wurden, wird evaluiert, ob die gesetzten Ziele erreicht werden konnten. 18.3
Universelle, selektive und indizierte Prevention der Depression bei Erwachsenen in den Niederlanden
18.3.1 Praventionsprogramme Wie oben schon erwahnt, werden in den meisten Praventionsabteilungen der GGZ-Einrichtungen Programme angeboten, die sich mit dem Thema Depression beschaftigen. Pro Einrichtung gibt es Unterschiede, welche Interventionen innerhalb der Programme durchgefuhrt werden sollen. Manche Programme richten sich auf die Depressionspravention bei Adoleszenten, andere richten sich nur auf Erwachsene und wieder andere richten sich nur auf Altere. Manchmal werden auch Programme durchgefuhrt, die sich auf alle drei Alterskategorien beziehen. Ohne vollstandig sein zu wollen, besprechen wir hier ein paar wichtige Interventionen, die sich mit der Depressionspravention bei Erwachsenen beschaftigen.
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Informationsprojekte: Bei vielen Praventionsprogrammen werden regelmafiig Informationstreffen organisiert, die sich an Patienten und ihre Familienangehorige richten. Dabei geben eine Person oder mehrere Fachleute Informationen liber Depressionen weiter. Sie informieren dariiber, was eine Depression ist, was dies fur den Patienten und seine Familienangehorigen bedeutet und informieren iiber Therapiemoglichkeiten. Es gibt audi 'Models of good Practice' auf diesem Gebiet, wie das Informationsbundel 'Achter een lachend gezicht' (Hinter einem strahlenden Lacheln) zeigt, das von Parnassia (GGZ-Einrichtung in Den Haag) entwickelt wurde. Eine wissenschaftliche Untersuchung der Effekte solcher Informationstreffen wurde bisher nicht durchgefuhrt. Der Schwerpunkt dieser Treffs ist eher die Dienstleistung. Es wird nicht davon ausgegangen, dass diese Treffs aus sich heraus einen positiven Gesundheitseffekt haben, jedoch konnen sie dazu beitragen, das Thema offentlich mehr zur Sprache zu bringen. Interventionen die sich auf die besondere Risikogruppe beziehen: In der Praxis werden zahlreiche Interventionen angeboten, die sich an besondere Risikogruppen richten. Hierbei kann an Gesprachsgruppen fur Personen gedacht werden, deren Partner vor kurzem gestorben ist oder an Unterstiitzungsgruppen fur „mantelzorgers" (freiwillige Betreuer) pflegebediirftiger Alterer oder Unterstiitzungsaktivitaten fur Arbeitslose. Personen, die an solchen Interventionen teilnehmen, versucht man im Allgemeinen iiber Artikel und Berichte in der regionalen Media, iiber Broschiiren bei sozialen Einrichtungen oder Bibliotheken etc. zu finden. Sehr oft handelt es sich dabei um Gruppeninterventionen. Die Gruppen bestehen aus 8 bis 12 Teilnehmern, die sich 10- bis 20-mal einmal in der Woche treffen. In diesen Gesprachsgruppen erhalt man Informationen iiber die betreffende Problematik, es werden Coping-Fahigkeiten besprochen, soziale Unterstiitzung angeboten, und die Teilnehmer konnen personliche Erfahrungen und Gefuhle miteinander austauschen. Von einigen Interventionen (zum Beispiel Aktivitaten, die sich auf die Gruppe der Arbeitslosen beziehen) wurden positive Effekte in guten wissenschaftlichen Untersuchungen nachgewiesen, fur andere (zum Beispiel Trauergruppen und Unterstiitzungsgruppen fur die „mantelzorgers") fehlt dieser Nachweis. Psychoedukation fur Personen mit leicht depressiven Beschwerden: In den Niederlanden werden in den meisten Stadten regelmafiig sogenannte Kurse 'In de put, uit de put' („Depression bewaltigen") iiber einfach zugangliche Werbung angeboten. Dabei handelt es sich um eine stark strukturierte Form kognitiver Verhaltenstherapie bei einer Depression. Obwohl diese Kursform eigentlich fur Erwachsene zwischen 20 und 55 Jahre entwickelt
Prevention
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wurde, wurden mehrere Varianten dieses Kurses fur spezifische Zielgruppen wie Adoleszente, Altere, Immigranten und chronisch Kranke entwickelt. Theoretisch basiert der Kurs auf der sozialen Lerntheorie, in der davon ausgegangen wird, dass eine Depression dadurch entsteht, dass die angenehmen Interaktionen zwischen einer Person und ihrer Umgebung abnehmen und unangenehme Interaktionen zunehmen. Die Probleme depressiver Personen werden als Verhaltensmuster und kognitive Muster betrachtet, die ge- aber auch wieder verlernt werden konnen. Der Kurs zielt auf das Erlernen von Fahigkeiten, die die Teilnehmer beim Verbessern ihrer Stimmung einsetzen konnen: Entspannung, kognitive Fahigkeiten, die sich auf das Verandern negativer Denkmuster richten, soziale Fahigkeiten und Fahigkeiten, die sich auf das Verbessern der angenehmen Aktivitaten richten. Der Kurs besteht aus zwolf Sitzungen und zwei 'Booster'-Sitzungen, die jeweils nach einem und nach sechs Monaten stattfinden. Der Kurs ist bestimmt fur Personen mit einer milden Form der Depression, die nicht den DSM-Kriterien einer depressiven Storung entspricht. In der Praxis entsteht jedoch der Eindruck, dass ein Teil der Teilnehmer doch an einer milden bis mafiig depressiven Storung leidet (nach den DSMKriterien). Durch den Stil „Erziehung der Psyche" sind Vorbehalte gegenuber einer Teilnahme weniger vorhanden als bei der traditionellen Psychotherapie oder der psychiatrischen Hilfe. Es wurden verschiedene kontrollierte Untersuchungen nach dem Kurs 'Depression bewaltigen' durchgefuhrt. In einer Meta-Analyse der Untersuchungen (Cuijpers, 1998; Kiihner, 2003) stellte sich heraus, dass die Effekte dieser Intervention beachthch sind (standardisierte Effektgrofie: 0.62 Standard Deviation) und diese verglichen werden konnen mit den Effekten der Psychotherapie und der Antidepressiva bei Depressionen. Ubrigens hat man auch in Deutschland viel Erfahrung mit dieser eigentlich ursprunglich amerikanischen Intervention (Kiihner, 2005; 2003). Verbessern des Fachwissens der Sozialarbeiter. Die Idee hinter der Verbesserung des Fachwissens und der Beratung ist die, dass ein Sozialarbeiter, der mit depressiven Personen zu tun hat, uber ausreichend Fachkenntnisse zu verfugen hat, damit er die Signale einer Depression erkennen und den Betroffenen schneller an gezielte Fachhilfe verweisen kann. Zudem konnte auf diese Art und Weise eher eingegriffen werden, namlich bevor die Probleme iiberhand nehmen. Bedingung hierbei ist jedoch, dass der Sozialarbeiter, der mit depressiven Personen arbeitet a) selbst uber die benotigte
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Fachkenntnis verfiigt und b) unbiirokratisch den spezialisierten Sozialarbeiter des GGZ einschalten kann. In den vergangenen Jahren wurden verschiedene Methoden entwickelt, wie dies realisiert werden kann. Eine wichtige Methode bildet die Beratung der Hausarzte durch GGZ-Mitarbeiter. Weil es sich normalerweise dabei um Projekte handelt, die hauptsachlich darauf ausgerichtet sind, die Versorgung von Personen mit psychischen Problemen zu verbessern und nicht so sehr einen praventiven Charakter haben, gehen wir in diesem Zusammenhang nicht weiter darauf ein. Aufierdem stehen inzwischen verschiedene standardisierte Kurse zur Verfugung, mit denen der Sozialarbeiter, der mit depressiven Personen zu tun hat, im Erkennen und im Umgang mit Depressionen geschult werden kann. Solche Kurse wurden auch fiir Hausarzte, Mitarbeiter der hauslichen Pflege und fiir Freiwillige entwickelt. Die Effekte der Fachkenntnis-Forderprogramme auf die eigentliche Zielgruppe wurden nicht in guten wissenschaftlichen Untersuchungen evaluiert. Allerdings liegen Ergebnisse aus anderen Studie vor. Einige dieser Studien weisen positive Effekte der Depressions-Fortbildung von Hausarzte nach (Rutz et al., 1992; Gask und Goldberg, 1993), andere widersprechen teilweise (Dowrick und Buchan, 1995). Andere prdventive Interventionen, die sich auf die Depression beziehen: Neben den schon oben erwahnten Interventionen werden in der Praxis der GGZ-Pravention noch zahlreiche andere preventive Interventionen durchgefuhrt. Es wiirde den Rahmen dieses Artikels sprengen, eine eingehende Ubersicht hieriiber zu geben. Aber wir wollen doch einige interessante und innovative Beispiele nennen. So wurden in den Niederlanden verschiedene Praventionsprogramme entwickelt, die sich auf die Depressionspravention bei Alteren in Pflegeheimen richtet (in denen Depressionen sehr haufig vorkommen; Jongenelis et al., 2003; 2004). Einige gut zusammengestellte Wirksamkeitspriifungen haben gezeigt, dass diese Programme beachtliche Effekte auf die betreffenden alteren Personen haben konnen (Cuijpers und Van Lammeren, 2001; Eisses et al., 2005). Eine andere interessante Intervention ist der so genannte 'National Screening Day. Diese Methode stammt aus den USA. Ab und zu wird dort ein 'National Screening Day' organisiert. Hier erhalten Personen aus alien Bereichen der Bevolkerung die Gelegenheit, feststellen zu lassen, ob sie an einer Depression leiden (Forbes et al., 1995; Magruder et al., 1995). Die
Prevention
351
Personen suchen dabei auf eigene Initiative einen Fachmann auf, der ein Screening und eventuell ein diagnostisches Interview durchfuhrt und gegebenenfalls anschliefiend eine Behandlung einleitet. In den Niederlanden konnte man inzwischen mit dieser Methode in kleinem Umfang und auf regionaler Ebene Erfahrung sammeln. Die Effekte eines 'National Screening Day' wurden jedoch nicht zufriedenstellend untersucht. Ein andere Intervention ist der Kurs 'Op zoek naar zin' (Auf der Suche des Sinns) fur Altere. Fiir Altere konnen Verlusterfahrungen zu korperlichen Leiden und zur Abnahme der gesellschaftlichen Teilnahme fuhren. Hierdurch kann die Bedeutung des Lebenssinns verloren gehen. Gerade in dieser Lebensphase ist die Beantwortung der Frage 'Was ist (und war) die Bedeutung meines Lebens?' die grofite Herausforderung. Im Gruppenkurs Auf der Suche nach dem Sinn' wird thematisch der eigene Lebenslauf und das gegenwartige Leben besprochen. Diese Methode wird manchmal auch Reminiszenz oder Life-Review genannt (Bohlmeijer et al., 2003). Der Kurs ist geeignet fur Personen ab 55 Jahre mit depressiven Beschwerden, die Zuhause wohnen, unter Verlusterfahrungen leiden und bei denen das Risiko besteht, einsam zu werden. Es handelt sich dabei auch um eine Personengruppe, die sich mit dem Sinn des Lebens beschaftigt. Erinnerungen an das eigene Leben bilden den Ausgangspunkt. Die Teilnehmer werden eingeladen und angeregt, ihren Erinnerungen kreativ Ausdruck zu geben und sich iiber den kreativen Prozess ihrer eigenen Kraftquellen (wieder) bewusst zu werden, sowie ihre eigene Identitat und Sinnbedeutung wieder zu entdecken (zukunftsorientierte Perspektiven schaffen). In einer kiirzlich durchgefuhrten Meta-Analyse stellte sich heraus, dass Reminiszenz oder Life-Review zur starken Abnahme der depressiven Beschwerden fuhrt und die Zunahme der Lebenszufriedenheit bei Alteren stimuliert (Bohlmeijer et al., 2003). Bei einer in den Niederlanden durchgefuhrten Pilotuntersuchung stellte sich heraus, dass bei einer starken Abnahme der depressiven Beschwerden eine Zunahme der Mastery auftritt (Bohlmeijer et al., 2005). 18.4
Diskussion und Schlussfolgerung
Wie oben ausgefuhrt sind Depressionen ein schwerwiegendes Gesundheitsproblem und die Depressionspravention hat an Wichtigkeit zugenommen. Sie stellt ein ungeheures Entwicklungsfeld dar, das bis jetzt kaum untersucht wurde oder zu einer umfangreichen Praxis gefuhrt hat. Jedoch konnten wir auch zeigen, dass in den Niederlanden eine bescheidene, aber innovative und teilweise 'evidence-based' Praxis entstanden ist, die sich auf
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die Prevention psychischer Probleme im Allgemeinen richtet, wobei die Depressionspravention einen wichtigen Anteil hat. Fur die Weiterentwicklung dieses Feldes sind verschiedene Aspekte wichtig. Wir wollen hier die zwei wichtigsten erwahnen. Als Erstes konnen wir die Qualitat der praventiven Interventionen verbessern. Zurzeit wird eine umfangreiche Untersuchung durchgefuhrt, wobei die Vrije Universiteit Amsterdam, sowie die Universitaten von Groningen und Leiden und das Trimbos Institut zusammenarbeiten. Es wird der Versuch unternommen, das Entstehen depressiver Storungen bei alteren Personen zu vermeiden, die schon einige depressive Beschwerden haben. Als Intervention verwenden wir dabei ein gestuftes Unterstutzungsprogramm, indem nach einer Periode des Abwartens, ob die Beschwerden nicht spontan voriibergehen, stets eine intensivere Versorgung angeboten wird. Solche 'Stepped-Care' Programme scheinen eine viel versprechende Methode bei der Behandlung psychischer Storungen zu sein. Dies konnten sie auch bei der Prevention sein. Zweitens ist es wichtig, damit die Effekte der Prevention verbessert werden konnen, genauer identifizieren zu konnen, auf wen sich solch eine Intervention richten miisste. Eine innovative Methode wird zurzeit erarbeitet (Smit et al, 2004; 2005). Hierbei ist es uns moglich, auf grofie Datenbestande zuriickzugreifen, in denen der Verlauf psychischer Storungen in der Bevolkerung dokumentiert wird, wie zum Beispiel die LASA Untersuchung bei Alteren (Vrije Universiteit) und die Nemesis Studie bei jungen Erwachsenen (Trimbos Institut). Mit diesen Datenbanken ist es uns moglich, zu untersuchen, bei welchen Personen psychische Storungen entstehen und bei welchen Risikogruppen es eher zu Storungen kommt. Fur preventive Interventionen wollen wir Risikogruppen identifizieren konnen, die auf der einen Seite zahlenmafiig sehr klein sind, damit wir nur bei wenig Personen eine Intervention durchfuhren miissen, und bei denen wir jedoch gleichzeitig einen grofit-moglichen Teil aller neuen Storungen vermeiden. Darum wird untersucht, fur welche Kombinationen von Risikofaktoren das Risiko des Entstehens einer Stoning am grofiten ist. Auf diese Art und Weise konnen wir feststellen, fur welche Zielgruppen Prevention am wirksamsten und effektivsten sein wird (Smit et al, 2004; 2005). In Abbildung 18.2 konnen Sie sehen, wie diese Identifikation der Risikogruppen bei Alteren mit einer Depression durchgefuhrt wird. Die durchgezogene Linie zeigt die Grofie der Zielgruppe in der Bevolkerung und wird in Prozent ausgedriickt. Die Linie zeigt, je mehr Risikofaktoren gleichzeitig
Prevention
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auftreten, desto geringer ist der Anteil der Personen in der Bevolkerung, die zu diesen Faktoren exponiert ist. Die punktierte Linie zeigt, wie viel Prozent der neuen depressiven Storungen auf diese Risikogruppen zuriickgefuhrt werden konnen. Die Kurve zeigt: wenn mehr Risikofaktoren hinzukommen, nimmt der Anteil der neuen depressiven Storungen in dieser Gruppe ab, allerdings nur im geringen Mafie. So wurde festgestellt, dass die Gruppe der Alteren, die depressive Beschwerden, korperliche Einschrankungen und nur ein kleines soziales Umfeld haben, zwar nur 5% der gesamten Gruppe der Alteren ausmacht, aber fur 32% der neuen Depressionen verantwortlich ist. Mit dieser Methode konnen wir viel genauer als bisher bestimmen, bei welchen Gruppen eine bestimmte Prevention am besten eingesetzt werden kann. 45 -
40 I 35 I 30 I 25 I 20 I 15 I 10 I 5I 0I Depressive Symptome
Legende:
+ behindert
+ alleine
+ Frau
Anteil der Risikogruppe an der Gesamtbevolkerung Anteil der neu aufgetretenen depressiven Storungen in der Risikogruppe
Abb. 18.2: Risikofaktoren der Depression bei Alteren Ein dritter wichtiger Schritt in der weiteren Entwicklung auf diesem Gebiet ist zweifellos die Organisation der so genannten 'Community' Projekte. Hier wird in einem Wohnviertel oder einer Gemeinschaft ein Angebot der praventiven Interventionen organisiert. Altere Personen spielen selbst eine zentrale Rolle bei der Wahl der Interventionen und bei der gesamten Ko-
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ordination. Die ersten Experimente auf diesem Gebiet zeigen viel versprechende Ergebnisse (Bohlmeijer et al. 2002). Die Verschiebung der praventiven psychischen Gesundheitsversorgung hin zu den ortlichen Einrichtungen wird diese Entwicklung ganz bestimmt stark unterstutzen und fordern. Das Angenehme dabei ist, dass dadurch auch mehr Moglichkeiten entstehen werden, um das soziale 'Klima' in Wohnvierteln oder Pflegeheimen zu verbessern und Risikofaktoren in der Umgebung zu reduzieren. Das jetzt noch stark individuell orientierte Praventionsfeld konnte hiermit eine grofiere sozial-gesellschaftliche Rolle erhalten. Aufierdem wird der Bereich der Interventionen verbessert werden konnen. Mit der inzwischen realisierten Praventionspraxis und den vielen Entwicklungen auf diesem Gebiet und in der Wissenschaft wird die Depressionspravention ganz bestimmt noch konkreter werden und einen zunehmend wichtigeren Beitrag zur Vermeidung der enormen Krankheitskosten liefern konnen, die Depressionen in den Niederlanden und in anderen Landern verursachen.
Man kann vier Praventionsformen der Depression unterscheiden: universelle (auf die allgemeine Bevolkerung gerichtete), selektive (Gruppen mit erhohtem Depressionsrisiko), indizierte (Individuen mit Symptomen, aber keiner klinischen Erkrankung) und behandlungsassoziierte (an klinischer Depression erkrankte Personen) Pravention. In der Praxis der Prevention sollte man basierend auf einer systematischen, theoretisch fundierten Problemanalyse arbeiten. Es gibt mehrere evidenzbasierte preventive Interventionen fur Depression. Fur die Weiterentwicklung dieses Feldes gibt es mehrere Moglichkeiten: Sowohl „Stepped-care" Interventionen spielen dabei eine wichtige Rolle als auch die prazisere Identification von Zielgruppen. Die ersten Experimente mit ..Community" Projekten zeigen viel versprechende Ergebnisse.
Prevention
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Kapitel19
19
Interventionspotenziale Die Krankheitslast der Depression verringern
Gavin Andrews, Sydney, Kristy Sanderson, Brisbane und Richard Hudson, Sydney, Australien
Dieser Beitrag befasst sich mit Strategien, die Krankheitslast der Depression zu verringern. Ublicherweise tun Autoren dies, indem sie die Ergebnisse von Studien zur Wirksamkeit oder Strategien zur Anderung der Arbeitsweise von Arzten betrachten. Unser Beitrag jedoch mochte an Hand eines Modells die Auswirkungen einer optimalen Versorgung auf die Haurlgkeit und die Folgen depressiver Erkrankungen untersuchen. Um dem Leser die Informationsbasis verstandlich zu machen, auf die wir in unserem Modell zuriickgreifen, soil eingangs zunachst die Epidemiologic depressiver Erkrankungen dargelegt werden. 19.1
Die Epidemiologic depressiver Erkrankungen
Depressionen (ICD-10 F.32 und F.33 oder die DSM-IV Aquivalente 296.2 und 296.3) standen im Jahr 1990 an vierter Stelle aller Erkrankungen, welche die globale Krankheitslast (gemessen in Disability Adjusted Life Years (DALYs)) weltweit verursachen. Sie sind weltweit sogar die haufigste Ursache fur Behinderung (Disability) (Murray und Lopez 1996). Ursache fur die anhaltend hohe Krankheitslast durch Depressionen ist zum einen der Umstand, dass zu wenige Menschen eine Behandlung aufsuchen, und zum anderen die ineffektive Anwendung von im Prinzip wirksamen Behandlungen (Andrews et al. 2000a). Weder eine kontinuierliche Weiterbildung der medizinischen Fachkrafte noch die haufigere Verordnung von Antidepressiva scheinen die Krankheitslast zu senken. Dabei liegen gute Belege aus kontrollierten Studien iiber die zumindest kurzfristige Wirksamkeit antidepressiver Behandlung vor (Nathan und Gorman 2002). Vier verschiedene antidepressive Medikamente, kognitive Verhaltenstherapie, interpersonale Psychotherapie und elektrokonvulsive Therapien zeigen alle
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Gavin Andrews, Kristy Sanderson, Richard Hudson, Australien
eine um 0,5 bis 1,5 iiber der Standardabweichung liegende Wirksamkeit im Vergleich zu Plazebo. Jedoch umfassen die meisten Studien nur kurze Zeitraume, gerade einmal lang genug, um das Ansprechen auf die Behandlung zu belegen. Die langste Vergleichsstudie zur Erhaltungstherapie dauerte gerade einmal drei Jahre (Frank et al., 1990). In klinischen Depressions-Studien sind die Veranderungen, die in der Kontrollgruppe unter Plazebo beobachtet werden, vergleichsweise grofier als die zusatzliche Verbesserung, welche durch irgend eine spezifische Behandlung erzielt werden kann. Hierbei handelt es sich vermutlich um den grofiten Plazeboeffekt, der bei irgendeiner psychischen Storungen auftreten kann (Andrews 2001a). Dies ist zum einen Teil auf die Haufigkeit spontaner Remissionen zuriick zu fiihren, zum anderen auf die Empfanglichkeit depressiver Patienten fur die ermutigende Wirkung, welche die Teilnahme an einer Therapie hat (Enserink, 1999). Diese zwei Faktoren, das gute akute Ansprechen auf unspezifische Behandlung und die auch ohne Behandlung kurze Dauer vieler Episoden, nahren die Vorstellung, dass die Depression eigentlich keine Krankheit mit einer hohen Krankheitslast sein sollte. Dieser Optimismus ist jedoch unbegriindet. Bekannt ist, dass sich Depressionen zwar zuriickbilden, aber auch wiederkehren konnen (Andrews 2001b). Fraglich ist aber, ob Remission und Wiederauftreten der Erkrankung auf eine bestimmte Anzahl von Menschen beschrankt bleiben, oder ob Depressionen eine Erkrankung sind, ahnlich einer Erkaltung, von der die meisten von uns irgendwann im Leben betroffen sind. Zwei neue Studien, die eine Sekundaranalyse von Daten aus Landern mit entwickelten Marktwirtschaften durchfuhrten, sind diesbeziiglich zu erheblich unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Waraich und Mitarbeiter (2004) analysierten epidemiologische Studien aus einem Zeitraum von 20 Jahren und schatzten das Lebenszeitrisiko an einer schweren depressiven Episode zu erkranken auf 6,7%. Dem gegeniiber schatzten Kruijshaar und Mitarbeiter (2005) in einem Mikrosimulationsmodell auf der Grundlage hollandischer und australischer Surveys, das Lebenszeitrisiko auf 40% bei Frauen und 30% bei Mannern. Ganz offensichtlich kann nicht beides zutreffen. Prospektive Kohortenstudien zur Depressions-Pravalenz, in denen Personen in regelmafiigen Abstanden vom fruhen Alter an untersucht werden, konnen den Recall-Bias (Erinnerungs-Fehler) minimieren, sind aber nur schwerlich in der Lage, die gesamte Zeit der Exposition zu beriicksichtigen. Hingegen konnen Kohortenstudien, die Personen bis ins hohere Alter verfolgen, das Problem am ehesten minimieren. Beide Arten von Studien gibt
Interventionspotenziale
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es. Die Dunedin Multidisciplinary Health and Development Studie folgte der 1972/73er Geburtskohorte von 1037 Kindern: 96% der Kohorte nahmen an wiederholten psychiatrischen Interviews mit dem Diagnostic Interview Schedule im einem Alter zwischen elf und 26 Jahren teil. Im Alter von 26 Jahren hatten 37% (369/998) bereits Kriterien fur eine schwere depressive Episode erfullt, obwohl sie damit nur einen Teil der Risikoperiode durchschritten hatten (Jaffee et al., 2002). In einer prospektiven Studie iiber das erste Auftreten einer DSM-III-R Depression in einer reprasentativen Stichprobe 70-Jahriger, die iiber 15 Jahre verfolgt und sechsmal von Psychiatern interviewt wurden, fanden Palsson und Mitarbeiter (2001), dass die Pravalenz bei den sehr betagten Personen stieg - von den 85Jahrigen waren schliefilich 13% betroffen. Die Forscher kombinierten die klinische Information iiber die Gesamtkohorte mit den klinischen Aufzeichnungen fur die Jahre vor dem Eintritt in die Studie und schlossen daraus, dass das Lebenszeitrisiko der Depression bei diesen uberlebenden sehr alten Personen 23% bei den Mannern und 45% bei den Frauen betrug. Die Erfassung der ambulanten Behandlungsverlaufe fur Depression war in dieser Kohorte nur schwer moglich, weil diese bis zum Anfang des letzten Jahrhunderts zuriickreichen. Es muss aber von einem Lebenszeitrisiko ausgegangen werden, das zum einen hoher ist als die Zahlen in diesen zwei prospektiven Studien und zum anderen zweifellos viel hoher als aus Querschnittsstudien berichtet wird. Hieraus schliefien wir, dass Depressionen haufig sind und - wie die Erkaltung - wohl die Halfte aller Menschen im Laufe ihres Lebens betreffen. Depressionen konnen sich zuriickbilden und erneut auftreten, sind aber sehr haufig eine chronische Krankheit. Es gibt zwei 15-Jahres-Kohortenstudien mit Personen, die nach einer stationaren Depressionsbehandlung in die Studien aufgenommen wurden (Kiloh et al., 1988, Lee und Murray, 1988). Nur ein Funftel der Kohorte blieb dauerhaft gesund, zwei Funftel durchlitten aber weitere Episoden einer Depression und ein Funftel beging entweder Suizid oder blieb wahrend der Folgezeit durch die Depression beeintrachtigt. Nur wenige Patienten suchten trotz des Wiederauftretens ihrer Krankheit eine erneute Behandlung. Eine detaillierte 12-JahresKohortenstudie von Personen in spezialisierter Behandlung in den USA belegt, dass Patienten im Durchschnitt 59% der Wochen depressive Symptome aufwiesen und dass die Kriterien fur eine depressive Episode wahrend 15% der Wochen erfullt waren (Judd et al., 1998). Die Personen in alien drei Studien waren stark genug beeintrachtigt, um spezialisierte Versorgung zu rechtfertigen. Die Mehrzahl der depressiven Patienten in der
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Bevolkerung hat vermutlich eine bessere Prognose als diejenigen in dieser Studie und wird auch nicht spezialisiert, sondern in der Primarversorgung behandelt. Dennoch scheint die Depression fur eine Vielzahl von Betroffenen eine chronisch wiederkehrende Stoning zu sein, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gut behandelt ist, wenn einfach abgewartet wird, bis der Patient bei einem Riickfall aus eigenem Antrieb Behandlung aufsucht.
19.2
Nutzung von Feldstudien zur Gesundheitsplanung
Auf der Grundlage des australischen National Survey of Mental Health gingen wir der Frage nach, warum die Krankheitslast durch Depression fortbesteht. Wir fanden, dass die Belastung anhalt, weil zu wenige Personen zur Behandlung kommen, und dass, wenn sie sich behandeln lassen, zu wenige eine Behandlung erhalten, die wirksam ist (Sanderson et al, 2003). In einer Studie (Andrews et al., 2000a) fragten wir die Teilnehmer, die eine Depression als ihre einzige oder wesentliche Beschwerde bezeichneten, warum sie keine Behandlung gesucht hatten. Die Halfte der Befragten gab an, sie brauchte keine Behandlung fur psychische Probleme, obwohl sie zugaben, sich depressiv zu fuhlen und unter erheblichen krankheitsbedingten Einschrankungen zu leiden. Die Mehrzahl der Befragten gab eine Beratung oder Gesprachstherapie als die Behandlung an, die sie allenfalls suchen wiirden. Da die finanziellen Zugangshiirden zur Behandlung gering waren, muss man davon ausgehen, dass depressive Erkrankungen Menschen die Fahigkeit dazu nehmen, das zu suchen, was von Nutzen fur sie sein konnte. Mit Blick auf diejenigen Personen, die die Kriterien einer Depression wahrend der letzten zwolf Monaten erfullten, zum Zeitpunkt der Untersuchung aber nicht depressiv waren, konnten wir keine Verbindung zwischen einer vorherigen wirksamen Behandlung und dem gegenwartigen Wohlbefinden feststellen - eine sehr beunruhigende Beobachtung, wenn man das Potenzial der unterschiedlichen Behandlungen zur Verringerung der Krankheitslast einschatzen will. Im Jahr 2000 analysierten wir die epidemiologischen Daten und die Daten des australischen National Survey zur Inanspruchnahme von Versorgung bei Depression, um ein Modell zu entwickeln, das Aussagen zu den folgenden Aspekten der Depressionsversorgung erlauben sollte (Andrews 2000b): (1.) die durch gegenwartige Behandlung derzeitig abgewendete Krankheitslast, (2.) die Krankheitslast, die durch eine hypothetisch angenommene optimale Versorgung moglicherweise abgewendet werden konnte, und (3.) die Effizienz bzw. die Kosten-Wirksamkeitsrelation so-
Interventionspotenziale
363
wohl der vorhandenen als auch der hypothetisierten optimalen Behandlung fur Depression. Und (4.) nutzte dieses Modell die Fiinf-Schritt-Methode der Weltgesundheitsorganisation (WHO 1996), um das Potenzial des gegenwartigen Wissens fur eine Verringerung der Krankheitslast der Depression zu errechnen. In der abschliefienden Studie wurde als zusammenfassendes Mafi fur die Last durch Behinderung auf Bevolkerungsniveau (Sanderson et al. 2003, Andrews et al. 2004) die Kosten-Wirksamkeit anhand der Kosten pro Lebensjahr und der durch die vorhandene Krankenversorgung abgewendeten unter Behinderung gelebten Lebensjahre, YLDs (Years Living with Disability) berechnet. Daten des National Surveys in Verbindung mit veroffenflichten randomisierten, kontrollierten Studien und direkten Kostenannahmen wurden verwendet, um die Ein-Jahres-Kosten und YLDs zu schatzen, die durch die gegenwartig vorhandene Krankenversorgung abgewendet werden konnen. Danach wurden die Kosten und der Outcome der hypothetisierten optimalen Versorgung sowohl fur das gegenwartige als auch fur ein optimales Versorgungsniveau der Bevolkerung sowie fur Vollversorgung ermittelt. Nur 60% von 390.000 Personen, die die Kriterien fur eine depressive Episode wahrend eines Jahres erfullten und die die Depression als ihre wichtigste Beschwerde bezeichneten, gaben an, wahrend dieses Jahres eine medizinische Fachkraft fur Hilfe aufgesucht zu haben. Vier von funf Personen, die die Beratung aufsuchten, nahmen einen Allgemeinmediziner in Anspruch und eine von sechs Personen suchte einen Psychiater, eine von sechs einen Psychologen und eine von sechs einen anderen medizinischen Spezialisten auf. Eine von acht Personen berichtete von der Konsultation eines Mental Health Teams und eine von 25 Personen von einer Krankenhausbehandlung. Vierzig Prozent gaben eine Medikamentenverordnung an, 5% eine relevante psychologische Therapie und 8% beides. 53% der Personen, die Behandlung suchten, erhielten demzufolge eine moglicherweise wirksame Therapie und 47% nicht. Die Autoren definierten die minimale Schwelle einer wirksamen Therapie als zweimal vom selben Versorger gesehen worden zu sein, konnten aber die Details der Medikation nicht identifizieren, wodurch die Annahme einer wirksamen Behandlung mit 53% eher grofizugig ist. Die Autoren nutzten dann die klinischen Praxisleitlinien des Royal Australian and New Zealand College of Psychiatrists und ermittelten die wahrscheinliche Kosten-Wirksamkeit, wenn alle zur Zeit in Behandlung befindlichen Personen eine wirksame Therapie erhielten. In diesem Szenario wurden alle Patienten einen Allgemeinmediziner aufsuchen, einige zur Be-
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Gavin Andrews, Kristy Sanderson, Richard Hudson, Australien
handlung und andere, um in die Selbsthilfe verwiesen zu werden. Jeder Fiinfte wiirde zusatzlich einen Psychiater konsultieren, einer von sechs einen Psychologen und einer von 25 wiirde ein Mental Health Team aufsuchen. Eine ahnliche Anzahl wiirde eine stationare Behandlung benotigen. Offensichtlich wurde angenommen, 100% wiirden eine moglicherweise wirksame Behandlung in Anspruch nehmen, wobei ein Drittel nur Medikamente, die Halite nur psychologische Interventionen (kognitive Verhaltenstherapie, spezifische Beratungsstrategien oder manualbasiertes Selbsthilfematerial) und ein Fiinftel eine Kombination von Medikation und psychologischen Interventionen erhalten wiirde. Die Autoren ermittelten dann die Einzelkosten (in australischen Dollar, 1997) fur Beratungsleistungen von jeder der moglichen Professionen sowie fur Medikation und Krankhausversorgung. Die kumulativen Kosten betrugen insgesamt $484 Millionen, bzw. $1,239 pro behandeltem Fall fur die gegenwartig verfiigbare Versorgung und $341 Millionen oder $874 pro behandeltem Fall fur optimale evidenzbasierte Versorgung (siehe Sanderson et al. 2003, Tabelle 3,). Der wesentliche Unterschied dieser beiden Szenarien war, dass, wahrend gleiche Anteile von Personen weiterhin einen Krankenhausaufenthalt benotigten, die durchschnittliche Dauer des Aufenthalts bei nach Evidenzkriterien optimierter Versorgung um drei Viertel sank und diese Einsparungen die erhohte Nutzung ambulanter professioneller Dienstleistungen mehr als kompensierten. Die Autoren errechneten dann die unter gegenwartiger und optimaler Behandlung abgewendeten YLDs auf Bevolkerungsniveau (Sanderson et al. 2003, Tabelle 4). Fur die gegenwartige Behandlung wurde angenommen, dass insgesamt 22.559 YLDs zu $21.442/YLD abwendet werden konnen (95%CI $11,434$40,433), wahrend die optimale Behandlung in der Lage ware 32.583 YLDs zu $10.475/YLD abzuwenden (95%-CI $8.283-$14.049). Demzufolge war die hypothetisierte optimale Behandlung preiswerter, wirkungsvoller und leistungsfahiger als die gegenwartige Behandlung, vor allem weil weniger Krankenhausbehandlungstage erforderlich wiirden und weil es keine Ausgaben fur erfolglose ambulante Behandlungen gabe. Sowohl die gegenwartige als auch die optimale Behandlung sind bezahlbar in dem Sinne, dass ihre Kosten niedriger als das Bruttosozialprodukt pro Einwohner liegen wiirden (die Schwelle fur die automatische Bezahlbarkeit einer Behandlung). In weiteren Modellen erstellten die Autoren einen Vergleich der Kosten und der Wirksamkeit der Behandlung fur zehn weitere psychische Erkrankungen. Die Information, die aus diesen Berechnungen gezogen werden
Interventionspotenziale
365
konnen, erachten die Autoren fur die Politikberatung als hoch relevant (Andrews et al., 2004). Die Behandlungen von Alkoholabhangigkeit und Schizophrenic erwies sich in diesen Modellen als ineffektiv und zweifellos aufierhalb der Bezahlbarkeit, wenn nicht andere Griinde fur eine Behandlung sprechen. Depression, mit $10,475 pro abgewendetem YLD belegte eine mittlere Position hinsichtlich der Kosten-Wirksamkeits-Relation unter den restlichen acht Storungen, die von $3.858/YLD fur die Dysthymic und bis zu $23.934/YLD fur bipolare Storungen reichten. Andrews und Mitarbeiter postulierten, dass eine Inanspruchnahme der Behandlung durch 60% der Depressiven zu gering sei und errechneten die Kosten, die anfallen wiirden, wenn dieser Anteil auf 70% angehoben werden sollte. Angenommen wurde dabei, dass ein grofierer Anteil der Storungen ca. innerhalb eines Monats nach Krankheitsbeginn nachlasst und insofern eine hohere Inanspruchnahme unwahrscheinlich sei. Optimale Behandlung bei einer 70%igen Bedarfsdeckung wiirde demzufolge $376 Millionen kosten. Dies entspricht weniger als vier Funftel der Kosten, die bei der gegenwartigen Behandlung mit niedrigerer Bedarfsdeckung entstehen. Medizin und Medien suggerieren, dass Krankheiten wie Depressionen, fur die eine wirksame Behandlung vorhanden ist, beseitigt werden konnten, waren nur geniigend Ressourcen vorhanden. Wir setzten daher voraus, dass unter der Bedingung unbegrenzter Ressourcen, eine Bedarfsdeckung von 100% erreicht werden konnte, dass alle Kliniker nach Evidenzkriterien optimale Medizin praktizierten, und dass alle Patienten ihre Anweisungen hinsichtlich der Medikation oder der Verhaltenstherapie befolgen wiirden. In diesem Szenario kann nur ein Drittel der Krankheitslast abgewendet werden, womit Depression wiederum am Median der untersuchten zehn psychischen Storungen liegt. Selbst unter Annahme dieser ungenauen Schatzungen wird die Halfte der Krankheitslast der Depression fortbestehen bis bessere Behandlungsmethoden, bessere Mittel, diese in der Versorgungsrealitat einzusetzen, und Interventionen, die das Auftreten von Depressionen verhindern, vorhanden sind (Andrews et al., 2002). Ein Hinweis auf mogliche Fortschritte zu diesem Punkt kommt von Vos und Mitarbeitern (2004). Sie entwickelten ein Modell fur den Nutzen einer langfristigen Erhaltungstherapie und kamen zu der Annahme, dass erhebliche Kosteneinsparungen moglich waren, wenn die Ruckfalle weniger schwer sein wiirden und das Wiederauftreten einer Depression zeitlich hinausgezogert werden konnte.
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19.3
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Zukunftsplanung
Die dargestellten Daten sind zwar interessant, geben aber keine detaillierten Hinweise, welche Mafinahmen erforderlich waren, um eine optimale Versorgung zu implementieren. Wir haben daher versucht, ein Modell ftir ein optimales Versorgungssystem ftir psychische Gesundheit zu entwickeln, das innerhalb des gegebenen Bugdets erschwinglich sein sollte, kongruent mit den vorhandenen interdisziplinaren professionellen Ressourcen und deren Verfiigbarkeit, und welches den nach Behandlung Suchenden eine optimale Versorgung bieten wurde. Der Name dieses Modells ist Tolkien II, weil es wie der „Herr der Ringe" zwar eine Phantasie ist, aber auf Wissen beruht. Eine Beschreibung der laufenden Arbeiten kann im Internet unter www.crufad.org auf den Forschungsseiten eingesehen werden. Um Tolkien II zu entwickeln, wurde eine strukturierte Zusammenfassung fur jede Stoning erstellt, in Bezug auf Definition, Epidemiologic natiirlichen Krankheitsverlauf, Behinderung (Disability), Zugang zu Behandlung und alle als wirksam anerkannten Behandlungsformen. Die urspriinglichen Kosten-Wirksamkeits-Analysen wurden dabei von einer Expertengruppe aktualisiert. Anschliefiend wurden die in den Feldstudien ermittelten Falle nach ihrem Schweregrad eingeteilt und definiert, was von jedem Versorger je nach Schweregrad der Stoning an Behandlung erwartet wird. Das Modell benutzt die Ubersichtsdaten von 1997 als Grundlage ftir die Fallzahl, die Zahl der sich gegenwartig in Behandlung befindenden Patienten und ihre unterschiedliche Erkrankungsschwere. Aus der Studie von Andrews und Mitarbeitern (2003) wurden die Kosten der Behandlung unter Hinzuziehen von vorhandenen klinischen Praxisleitlinien fur die Definition einer optimalen Behandlung je nach Leistungen und involvierten Berufsgruppen beztiglich der daraus folgenden jeweiligen Outcomes bestimmt. Eine Expertengruppe legte die Zahl der gewiinschten Konsultationen fest. Schliefilich wurde das komplette Modell einer Gruppe unabhangiger Experten vorgelegt, um ftir jede Stoning die zu behandelnde Fallzahl, die Anzahl und die Kosten der Inanspruchnahme von Allgemeinmedizinern, Psychiatern, klinischen Psychologen und Mental Health Teams sowie den Umfang und die Kosten von Krankenhausbehandlungen und erforderlicher Medikation zu priifen. Zum gegenwartigen Zeitpunkt wenden wir diese Methode auf drei affektive Erkrankungen, fiinf Angststorungen, und zwei Formen der Alkoholerkrankung an sowie auf die Schizophrenic und somatoforme Personlichkeits- und Essstorungen. Gleichzeitig untersuchen wir die Moglichkeit, das
Interventionspotenziale
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Modell auf psychische Storungen bei Jugendlichen und auf Storungen im hohen Alter anzuwenden. Sobald dieses Ziel erreicht wird, miissen wir die Gesamtmenge der Ergebnisse so verbinden, dass die Grenzen des Budgets und die Ressourcen an Fachkraften nicht uberschritten werden1. Mit Bezug auf Depression folgte die strukturierte Zusammenfassung des Models in groben Ziigen der Epidemiologic die eingangs dieses Berichts dargestellt wurde. Wir teilten Sanderson und Mitarbeitern (2002) folgend, die Depressionsfalle entsprechend ihrem Grad der Behinderung, in „einfach", „mittelgradig" und „schwer", „schwer mit Komorbiditat" und „schwer und therapieresistent" ein. Wir baten einen Psychiater, einen Arzt fur Allgemeinmedizin und einen klinischen Psychologen, den klinischen Behandlungspfad fiir diese Patienten aufzuzeigen, damit im Einzelnen dargestellt werden kann, was welcher Praktiker tun sollte, und um die Zahl von Behandlungssitzungen (und damit die Kosten) abschatzen zu konnen. Diese klinischen Behandlungspfade wurden im nachsten Schritt von den Autoren der bereits erwahnten klinischen Praxisleitlinie revidiert. Wir wandelten diese Information in eine tabellarische Darstellung um, um vor dem Hintergrund des vorhandenen Budgets zu entscheiden, ob diese klinischen Behandlungspfade bezahlbar sind (siehe Abbildung 19.1). Das Flussdiagramm in Abbildung 1 zeigt, dass die vorher beschriebenen 390.000 Personen mit Depression 204.000 Krankenhaustage brauchen wurden, vier Millionen Konsultationen bei Arzten fur Allgemeinmedizin, 700.000 Besuche bei einem Psychiater, 400.000 Besuche bei einem klinischen Psychologen, 150.000 Besuche bei einem Mental Health Team und 86 Million Behandlungstage mit Medikamenten. Ausgedriickt in australischen Dollar (1997) und unter Verwendung der von Sanderson und Mitarbeitern (2002) errechneten Einzelkosten, sind die Gesamtkosten mit denen der gegenwartigen Behandlung vergleichbar. Noch auszuarbeiten bleibt, was die verschiedenen professionellen Gruppen wahrend der Behandlungssitzungen tun sollen. Wenn dies fur alle Storungen vorliegt, gilt es zu klaren, ob die erforderlichen professionellen Ressourcen zur Verfugung stehen.
Eine Beschreibung der laufenden Arbeiten kann im Internet unter www.crufad.org, unter den Links „Research" und „T2" eingesehen werden.
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Gavin Andrews, Kristy Sanderson, Richard Hudson, Australien
Leicht N=62.729
100%= 4 Besuche Allgemeanarzl + Uhierslulzung/ Selbsiliille
20%= M011.SSPJ I 6 weilere Besuche Allgemeinarzl 50% weiterliin ldinisch symptomatisch nach6Wochen
5% = 6 Besuche Klinischei Psychologe
5% = 6wcitcrc Allgemeiiiarzt Besuche anit
40%=12MonSSPJ weilere Besuche Allgemeinarzt
MITTELGRADIG N=187.328
100% = 4 Besuche Allgemeanarzl
20% = 6 Besuche kliaii; Psychologe
Uhterstiitzung/ Selbstliilfe 20% = 6 weilere Besuche Allgemeinarzl + 12 Mon SSRI
C
10% 6 Besuche Klinischer Psychologe
10% 6 Besuche. Psychiater
DEPRESSION N=390.349 50% = 12 M o n SSRI+ 12 w Besuche Allgemeinarzl + Uniersiiiizung/ Selbsiliille
SCHWER N=50.628
100%= 4 Besuche •Allgemeanarzl + 1 Besuch Psychiater I 5% = 8Tage KJinik
10% wollen keme Medikalion = 6 weilere Besuche .Aligememarzi
40% = 12 weilere Besuche Allgemeinarzl + 1 2 Mon SSRI + Besuche Psychiater
SCHWER + KOMORBID N=50.628
50% = KOMORBID 12 M o n SSBI/TCA + 12 weilere Besuche Aligememarzi + 4 Besuche Psychiater
50% = SCHWER 12 M o n SSPJ + 1 2 weilere Besuche Allgemeinarzl + 8 Besuche Psychiater
5% = 10 Besuche Klinischei Psychologe
<:
5% = 10 Besuche Psychiater
10% = 10 Besuche Mental Health Team S% = 8TageKlinik
10% = 10 Besuche Mental Health Team <
•
5% = 10TageKlinik
5% = 10T
2<Wo = 8 Tage Klinikaulenlhall
THERAPIERESISTENT N=39.035
WX. = 12MonSSR]
Legende: AUe Prozentangaben beziehen sich auf die Anzahl (N) in den jeweiligen Scliweregraden (d.h. leicht, mittelgradig, schwer, schwer + komorbid oder therapieresistent)
Abb. 19.1: Tolkien II Flussdiagram klinische Versorgung der Depression
Interventionspotenziale
369
Entsprechend dem Auftrag, „aus einer Public Health Perspektive das Potenzial der unterschiedlichen Interventionen zu defmieren, die Krankheitslast der depressiven Storungen zu verringern" haben wir uns auf die Kosten-Wirksamkeit unterschiedlicher Formen der Gesundheitsversorgung bezogen. Zusammenfassend stellen wir fest: • Die Behandlung der Depression in Ubereinstimmung mit klinischen Praxisleitlinien wiirde weniger kosten als die gegenwartige Behandlung und dabei einen grofieren Anteil der durch Depression verursachten Krankheitslast abwenden. • Selbst wenn es unbegrenztes Geld und Ressourcen gabe, um sicher zu stellen, dass jeder die beste Behandlung bekommen wiirde und jeder sich daran hielte, wiirde mindestens die Halfte der Krankheitslast der Depression verbleiben. • Die Kosten-Wirksamkeit der Behandlung von Depression ausgedruckt in Dollar pro abgewendetem DALY liegt unter dem Bruttosozialprodukt pro Einwohner - sie ist somit sehr erschwinglich. • Es ist fur jedes Land moglich, detaillierte klinische Behandlungspfade zu entwerfen, die spezifizieren, was jede Profession zur Behandlung von Menschen mit Depression beitragen sollte.
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Kapitel 20
20
Fruherkennung und Awareness
Ulrich Hegerl, David Althaus, Tim Pfeiffer-Gerschel, Munchen
20.1
Einleitung
Bei vielen Menschen wird erst nach einer langen Leidensphase, oft nach einer diagnostischen und therapeutischen Odyssee durch nicht-psychiatrische medizinische Disziplinen oder in tragischen Fallen riickblickend nach einem Suizidversuch oder nach einem Suizid, erkannt, dass sie an einer depressiven Erkrankung leiden oder litten. Die Griinde fur dieses diagnostische Defizit sind vielfaltig: Die Krankheit geht mit Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Schuldgefuhlen einher, so dass viele Betroffene nicht die Kraft haben, sich Hilfe zu holen, sich davon keine Hilfe versprechen und eher die Erkrankung als personliches Versagen erleben. Auch Angehorige und andere Berufsgruppen, die in ihrer taglichen Arbeit mit depressiv Erkrankten konfrontiert sind (z.B. Lehrer, Seelsorger, Altenpflegekrafte etc.) schatzen die Erkrankung haufig falsch ein und sind beziiglich der Behandlungsmoglichkeiten nicht informiert. 80% der AUgemeinbevolkerung (Hegerl et al. 2003) und 40% der Altenpflegekrafte (Ziervogel et al. 2005) sind beispielsweise davon iiberzeugt, dass Antidepressiva siichtig machen. Hinzu kommt die Angst vor dem Stigma, das diese Erkrankung begleitet. Fur die Betroffenen geht die depressive Erkrankung mit einer tief greifenden Veranderung ihres Erlebens einher, die sie haufig auf korperliche Beschwerden und Erkrankungen und nicht auf eine Depression zuruckfuhren. Entsprechend klagen die Patienten gegemiber den hausarztlich tatigen Kollegen, die die meisten depressiv Erkrankten betreuen, zunachst haufig iiber unterschiedlichste korperliche Beschwerden, die von Schmerzsyndromen iiber Tinnitus bis zu Verdauungsstorungen und Schlafstorungen reichen. Diese werden dann auch im Rahmen der depressiven Kognitionen
Ulrich Hegerl, David Althaus, Tim Pfeiffer-Gerschel, Mixnchen
372
als weiterer Beleg fur die Hoffnungslosigkeit der Situation interpretiert, und der in Abbildung 20.1 gezeigte Teufelskreis schliefit sich.
Korperliche Beschwerden stehen im Vordergrund
Depression
A
Inaktivitat Schlafstorungen Muskeltonus Appetitlosigkeit Osophaguskontraktilitat
Interpretation im Rahmen depressiver Gedanken
korperliche Beschwerden
Abb. 20.1: Teufelskreis der Depressionssymptomatik
Vielleicht noch bedeutsamer fur die Somatisierungstendenzen depressiv Erkrankter ist die Tatsache, dass durch die Depression alle Empfindungen zu Missempfindungen werden. So werden Ruckenschmerzen, die aufierhalb der depressiven Episode gut tolerierbar sind, im Rahmen einer depressiven Episode als unertraglich erlebt. Etwa 70% der depressiv Erkrankten wenden sich primar aufgrund korperlicher Beschwerden an den Arzt (Simon et al. 1999b). Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass im Bereich der Primarversorgung an die Moglichkeit einer zugrunde liegenden depressiven Erkrankung gedacht wird und diese gezielt exploriert wird. Ein weiter Faktor, der zur Unterdiagnose depressiver Erkrankungen beitragt, sind Wissensliicken auf Seiten der Arzte. Nicht immer wird die depressive Erkrankung in ihrer objektiven und subjektiven Schwere erkannt. Hinzu kommt, dass die Betreuung depressiv Erkrankter oft relativ zeitraubend ist. Sie kann auch emotional belastend sein, insbesondere, wenn zusatzlich Suizidalitat vorliegt, so dass manchmal durchaus die Versuchung bestehen mag, sich zunachst auf die iiberschaubareren und rascher abzuhandelnden somatischen Probleme zu fokussieren. Vor diesem Hinter-
Friiherkennung und Awareness
373
grund ist es nicht verwunderlich, dass nur ein unzureichender Teil der depressiv Erkrankten durch die Hausarzte korrekt diagnostiziert und angemessen behandelt wird (Paykel et al. 1997, Wittchen et al. 2001, Wittchen und Pittrow 2002, Kessler et al. 2003). Besser als die Pharmakotherapie ist in der breiten Bevolkerung die Psychotherapie als eine adaquate Behandlungsmethode akzeptiert (Riedel-Heller et al. 2005; Althaus et al. 2002, Hegerl et al. 2003). Hier miissen Betroffene jedoch mit langen Wartezeiten rechnen und die Suche nach Psychotherapeuten, die Verfahren mit klaren Wirksamkeitsbelegen anbieten (z.B. kognitive Verhaltenstherapie), kann sich schwierig gestalten. 20.2
Depressions-Screening
Da die Pravalenz depressiv Erkrankter in Hausarztpraxen besonders hoch ist (Wittchen und Pittrow 2002), erscheint es sinnvoll, dass nach der haufigen und oft schweren Erkrankung Depression in ahnlicher Weise in Hausarztpraxen gescreent wird, wie z.B. nach Diabetes mellitus oder Hypertonic. Hierfur stehen verschiedene Screeninginstrumente zur Verfugung. Im Rahmen des Kompetenznetzes Depression, Suizidalitat erwies sich der WHO-5 als sehr gut geeignet (Abbildung 20.1). Die ganze Zeit
Meistens
Uber die Halfte der Zeit
Weniger als die Halfte der Zeit
1. Ich war froh und guter Laune
5
4
3
2
2. Ich habe mich ruhig und entspannt gefiihlt
5
4
3
2
3. Ich habe mich aktiv und voller Energie gefiihlt
5
4
3
2
4. Beim Aufwachen habe ich mich frisch und ausgeruht gefiihlt
5
4
3
2
5. Mein Alltag war voller Dinge, die mich interessieren
5
4
3
2
In den letzen beiden Wochen
Zu keinem Zeitpunkt
Wenn Sie in der Summe weniger als 14 Punkte erreichen, liegt moglicherweise eine Depression vor. Wir empfehlen Ihnen in diesem Fall zur weiteren Abklarung Ihren Hausarzt, einen Nervenarzt oder einen Psychotherapeuten anzusprechen.
Abb. 20.2: WHO-5 Fragebogen zum Depressionsscreening in Hausarztpraxen
374
Ulrich Hegerl, David Althaus, Tim Pfeiffer-Gerschel, Mixnchen
Nur funf nicht-psychiatrisierende und positiv formulierte Fragen werden dem Patienten im Wartezimmer vorgelegt und so ohne grofien Zeitaufwand fur den Patienten und den Auswerter ein erster Warnhinweis fur den behandelnden Hausarzt auf das mogliche Vorliegen einer depressiven Erkrankung geliefert (Abbildung 20.2). Wird hier ein bestimmter Wert unterschritten, so sollte dies fur den Hausarzt Anlass sein, gezielt die depressiven Kernsymptome abzufragen (Henkel et al. 2003).
20.3
Mehr-Ebenen Ansatze
Screening als isoliertes Element ist jedoch nicht geeignet, um tatsachlich etwas an den diagnostischen und therapeutischen Defiziten im Bereich depressiver Erkrankungen zu verbessern. Auch Hausarzt-Fortbildung als isoliertes Element hat wahrscheinlich nur eine geringe Wirksamkeit, wie neuere Arbeiten zeigen (Gilbody et al. 2003, Thompson et al. 2000). Das Fazit derartiger Untersuchungen zur Weiterbildung niedergelassener Allgemeinmediziner ist, dass die Fortbildung der Arzte grundsatzlich einen positiven Einfluss auf die Erkennensrate zu haben scheint, dies jedoch nicht zwangslaufig mit einer Optimierung der anschliefienden Behandlung einhergeht (Simon et al. 1999a, Coyne et al. 1997). Ubereinstimmendes Ergebnis einer Reihe von Studien und Programmen ist, dass MehrebenenInterventionen, die neben der Schulung von Arzten die breite Offentlichkeit, die Betroffenen, die Weiterbildung medizinischer Hilfsberufe und anderer Interventionsebenen einschliefien, am erfolgversprechendsten sind (Pincus et al. 2003, Henkel et al. 2000, Paykel 2001, Gilbody et al 2003). Der im Januar 2005 im Rahmen der WHO-Minister-Konferenz in Helsinki verabschiedete „Aktionsplan zur Forderung der psychischen Gesundheit" betont deshalb zu Recht die Relevanz gemeindebasierter und interdisziplinarer Mehrebeneninterventionsprogramme (WHO Europe 2005). Die Befunde dariiber, ob offentliche Aufklarungskampagnen im Gesundheitswesen effektiv sind, mussen als heterogen bezeichnet werden. Insbesondere die Frage, inwieweit derartige Kampagnen tatsachlich Einstellungen und Verhalten verandern konnen, ist schwer zu beantworten. Teilweise ist dies auf einen allgemeinen Mangel an Evaluation zuruckzufuhren, insbesondere auf einen Mangel an klaren Erfolgskriterien von Effektivitat und fehlenden Kosten-Nutzen-Analysen. In einer Metaanalyse untersuchten Snyder et al. (2000) 48 offentliche Kommunikationskampagnen. Die durchschnittlichen Effektstarken lagen in einem niedrigen Bereich. Insgesamt zeigte sich, dass es einfacher war, neues Verhalten zu fordern (bei-
Friiherkennung und Awareness
375
spielsweise den Gebrauch von Sicherheitsgurten, regelmafiige Zahnarztbesuche und ahnliches) als Menschen dazu zu bewegen, ein kritisches Verhalten zu beenden (beispielsweise Rauchen, ubermafiigen Alkoholkonsum, gefahrliche Sexualpraktiken etc.). Auch ist es einfacher, das allgemeine Bewusstsein von Menschen fur ein bestimmtes Thema zu wecken als diesbeziiglich ihre Einstellungen oder gar ihr Verhalten zu verandern. Im folgenden werden verschiedene Mehrebenen-Programme zum Thema Depression vorgestellt. Das Depression Awareness, Recognition, and Treatment Program (D/ART, USA) Bereits 1988 wurde durch das US-Amerikanische Institut fur Psychische Gesundheit (National Institute of Mental Health, NIMH) ein Programm initiiert („Depression/ Awareness, Recognition, Treatment, D/ART"), um die Verfugbarkeit und Qualitat der Versorgung von Menschen mit depressiven Erkrankungen zu verbessern (Regier et al. 1988). Unter anderem um die „Awareness", d.h. die Wahrnehmung depressiver Erkrankungen durch die Bevolkerung und Experten zu verbessern, wurde eine breit angelegte Aufklarungskampagne gestartet. In enger Kooperation mit regionalen Partnern wurden Fortbildungsmaterialien, Broschuren und Informationsschriften verteilt, Anzeigen in Funk und Fernsehen geschaltet und Fortbildungen in mehreren Sprachen angeboten. Die Entstigmatisierung von Depressionen in der Offentlichkeit war ein erklartes Ziel des Programms. In zahlreichen Einzelstudien wurde das Programm evaluiert (O'Hara et al.. 1996) und seit 1997 mit einem verstarkten Fokus auf die Rolle von Depressionen in der Arbeitswelt fortgesetzt. Trotzdem existierten auch 10 Jahre nach Beginn des Programms erhebliche Defizite bei der Erkennung und angemessenen Behandlung der betroffenen Patienten (Goldman et al. 1999). Offensichtlich hat sich die Versorgungssituation depressiver Patienten aber dahingehend verbessert, dass sich die Zahl der wegen depressiver Erkrankungen behandelten Patienten zwischen 1987 und 1997 etwa verdreifacht hat (Olfson et al. 2002). Doch auch wenn die Behandlungsraten sich deutlich verbessert haben, erhalt nach wie vor nur eine Minderheit der Betroffenen eine Behandlung (Kessler et al. 2005). 20.3.1
20.3.2 Die „Defeat Depression Campaign" (GroBbritannien) Von 1992 bis 1996 wurde in GroBbritannien unter dem Titel „Defeat Depression Campaign" ein Programm durchgefuhrt, das ebenfalls auf eine
376
Ulrich Hegerl, David Althaus, Tim Pfeiffer-Gerschel, Mixnchen
Veranderung der Einstellungen und Wahrnehmung depressiver Erkrankungen durch die Allgemeinbevolkerung abzielte. Auch innerhalb dieses Programms wurden Fortbildungen fur Experten angeboten, Informationsmaterialien wie Videos, Flugblatter und Broschuren fur die Bevolkerung entwickelt und eine umfangreiche Medienkampagne durchgefuhrt. Grofier Wert wurde auf die Einbeziehung von Arzten der Primarversorgung gelegt. Entsprechend dieses Ziels wurden Behandlungsleitlinien fiir Hausarzte entwickelt, Fall- und Konsensuskonferenzen durchgefuhrt und Trainingsvideos erstellt. Die „Defeat Depression Campaign" ging mit einer Verbesserung der Wahrnehmung depressiver Erkrankungen einher (Paykel et al. 1997). Es ist jedoch nicht gelungen, auf diesem Wege die Versorgung der betroffenen Patienten nachhaltig zu verbessern (Rix et al. 1999) oder fest verwurzelte Einstellungen der Allgemeinbevolkerung wie z.B. die ablehnende Haltung gegeniiber der Behandlung mit Antidepressiva zu verandern (Paykel 2001). Allerdings konnten kurzfristig Wissenszuwachse in der Bevolkerung nachgewiesen werden. Grundsatzlich problematisch erweist sich jedoch die Tatsache, dass es keine Kontrollregion gab, so dass nicht geklart werden kann, ob die gemessenen Effekte ursachlich auf die Kampagne oder mogliche Veranderungen im Versorgungssystem zuriickzufiihren waren. 20.3.3 Beyond Blue (Australien) Seit 2000 wird auf Initiative der australischen Regierung unter dem Namen „Beyond blue" ein ahnliches Programm in Australien durchgefuhrt. Zwischenergebnisse nach den ersten drei Jahren der Kampagne deuten darauf hin, dass es gelungen ist, das Thema „Depressive Erkrankungen" und den Bekanntheitsgrad des Programms anhand von messbaren Indikatoren wie Zugriffen auf die Webseite des Programms, Berichterstattung in den Medien, oder Veranderungen in der Sozialgesetzgebung (z.B. Einkommenssicherung im Krankheitsfall) zu steigern (Hickie 2004; Jorm et al. 2005). Konkrete Ergebnisse, die z.B. Veranderungen der Behandlungsqualitat untersuchen, liegen allerdings noch nicht vor. 20.4
Das „Deutsche Biindnis gegen Depression" in Deutschland
Das „Deutsche Biindnis gegen Depression" basiert auf der Grundkonzeption des Niirnberger Biindnisses gegen Depression, eines Modellprojektes, das im Rahmen des vom Bundesministerium fur Bildung und Forschung
Friiherkennung und Awareness
377
geforderten Kompetenznetzes ..Depression, Suizidalitat" durchgefuhrt wurde. Das primare Ziel des Biindnisses ist die Verbesserung der Versorgung depressiv erkrankter Menschen. Innerhalb dieses Projekts arbeiten unterschiedliche Institutionen und Personen zusammen, die primar oder sekundar in die Versorgung der Betroffenen eingebunden sind. Zum ..Biindnis gegen Depression" gehoren Arzte, Psychotherapeuten, Beratungsstellen, Kliniken, Schulen, Apotheken, Kirchen, Selbsthilfe- und Angehorigengruppen und viele weitere Einrichtungen. Das Programm wurde als Forschungsprojekt in den Jahren 2001 und 2002 zunachst auf lokaler Ebene in Ntirnberg durchgefuhrt. Im Rahmen einer systematischen Untersuchung unter Einbeziehung einer Kontrollregion und einer Baseline-, Pra- und Post-Messung wurde mittels a priori definierter Hypothesen die Wirksamkeit dieses systematischen mehrdimensionalen und gemeindebasierten Interventionsprogramms uberpriift (Althaus u. Hegerl 2003; Hegerl et al. 2003). Das Modell setzt an vier Ebenen des Versorgungssystems gleichzeitig an. Dadurch wurden Synergieeffekte erreicht, die die Effekte einer Einzelmafinahme deutlich iibersteigen. Dabei wurde auf zahlreiche Elemente zuriickgegriffen, die sich in anderen Studien als grundsatzlich hilfreich oder wirksam erwiesen haben. 20.4.1 Die vier Interventionsebenen 1. Kooperation mit Hausarzten Zur Unterstutzung der Behandlung erhielten die Arzte vielfaltige Informationsmaterialien (Broschiiren, Flyer, Videos) zur Weitergabe an Patienten. Dariiber hinaus wurden zahlreiche Schulungen fur Allgemeinmediziner und Hausarzte durchgefuhrt und entsprechende Fortbildungsmaterialien erstellt. Zahlreiche Instrumente (z.B. Screening-Fragebogen) unterstiitzten die niedergelassenen Arzte bei ihrer Arbeit. 2. Offentlichkeitsarbeit Ziel der breit angelegten Offentlichkeitsarbeit war und ist es, die Aufklarung liber die Krankheit ..Depression" und die Enttabuisierung der Thematik voranzutreiben. Dazu wurde gemeinsam mit Experten aus der Werbebranche eine Offentlichkeitskampagne entwickelt. Grofiplakate, Poster und ein Kinospot informierten die breite Bevolkerung iiber depressive Erkrankungen und machten auf das Problem aufmerksam. Die Kernbot-
378
Ulrich Hegerl, David Althaus, Tim Pfeiffer-Gerschel, Mixnchen
schaften der Kampagne lauteten: „Depression kann jeden treffen", „Depression hat viele Gesichter", „Depression ist erfolgreich behandelbar". Begleitet wurden diese Aktivitaten von einer umfangreichen Kooperation mit den Medien. Eine unangemessene Berichterstattung in den Medien, die den Begriff „Depression" haufig metaphorisch und selten korrekt im medizinischen Kontext verwendet, tragt unter Umstanden erheblich zur Aufrechterhaltung von Wissensderlziten in der AUgemeinbevolkerung bei (Kroll et al. 2003). Dariiber hinaus besteht bei der Berichterstattung iiber Suizide das nicht unerhebliche Risiko von Nachahmungstaten (Schmidtke u. Hafner 1988; Ziegler u. Hegerl 2002). Daher wurde ein Medienguide zur Berichterstattung iiber Suizid erstellt, der auf diesen „Werther-Effekt" hinweist und fur eine moderatere Berichterstattung pladiert, um Nachahmungssuizide zu verhindern. Ein wichtiger Aspekt der Offentlichkeitsarbeit des "Biindnisses gegen Depression" besteht daher darin, Depressionen als Erkrankung kenntlich zu machen, die erfolgreich behandelt werden kann. Die Kennzeichnung als „psychiatrische Erkrankung" entlastet dabei das Individuum von Fragen moglichen personlichen Versagens und tragt dabei nicht zur Stigmatisierung der Erkrankten bei (Angermeyer u. Matschinger 2003), sondern erleichtert die Einbindung der Krankheit in einen medizinischen Kontext. Die Distribution von 150.000 Informationsflugblattern mit Adressen lokaler Hilfsangebote, 20.000 Ratgeberbroschuren und 4.000 Informationsvideos an Betroffene, Angehorige und Interessierte war ebenfalls ein wesentliches Element der Offentlichkeitsarbeit. Dariiber hinaus wurde in zahlreichen offentlichen Veranstaltungen auf die Thematik aufmerksam gemacht (Vortrage, Podiumsdiskussionen, Aktionstage etc.). 3. Kooperation mit Multiplikatoren Depressionen begegnen nicht nur Arzten und Psychologen, sondern sind auch im Arbeitsumfeld vieler anderer Berufsgruppen prasent, ohne dass hier allerdings spezifische Kenntnisse zu Diagnose oder Behandlung vorlagen. Daher wurden wahrend der Kampagne in rund 100 Fortbildungen Lehrer, Sozialberater, Geistliche, Altenpflegekrafte, Heilpraktiker, Polizisten und Apotheker zu den Themen „Depression" und „Suizidalitat" weiterqualifiziert. Vernetzung und Erfahrungsaustausch zwischen den verschiedenen Institutionen wurden vorangetrieben, und es fanden zahlreiche gemeinsame Veranstaltungen fur die Offentlichkeit statt. Diese breite Ein-
Friiherkennung und Awareness
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bindung nicht-medizinischer Berufsgruppen in ein Interventionsprogramm stellt neben der Parallelitat der einzelnen Interventionsebenen den wesentlichen Kern dieses bislang einmaligen Konzeptes des „Bundnisses gegen Depression" dar. 4. Angebote fur Betroffene und Angehorige Hier ist zum einen die Einrichtung einer speziellen Hotline fur Patienten nach Suizidversuch zu nennen, die an ahnliche Elemente aus Grofibritannien anknupfte (Morgan et al. 1993). Auf diese Art sollte im Falle einer Krise ein schneller und unbiirokratischer Zugang zu einer facharztlichen Behandlung hergestellt werden. Zum anderen wurden vor allem Selbsthilfeaktivitaten gefordert. Mit Hilfe des „Bundnisses gegen Depression" ist es gelungen, zahlreiche neue Selbsthilfegruppen ins Leben zu rufen. 20.4.2 Evaluation des Niirnberger Modellprojektes Zur Evaluation des „Nurnberger Bundnisses gegen Depression" wurde das Aktionsprogramm im Vergleich zu einer Kontrollregion und dem Baselinejahr 2000 ausgewertet. Prospektives primares Erfolgskriterium war dabei die Veranderung der Haufigkeit suizidaler Handlungen (Suizide und Suizidversuche). Im Vergleich zur Baseline und zur Kontrollregion konnte ein statistisch signifikanter Ruckgang (-24%) suizidaler Handlungen erreicht werden. Die Suizidversuche gingen dabei in Nurnberg um insgesamt 26% zuriick. Die Reduktion der Suizide betrug durchschnittlich 18%. Wegen der hohen Schwankungen der Suizidraten, insbesondere in der kleineren Region Wurzburg, ist dieser Ruckgang statistisch nicht signifikant. Der sehr deutliche Ruckgang suizidaler Handlungen durfte darauf zurtickzufuhren sein, dass durch die Vier-Ebenen-Intervention mehr depressiv Erkrankte eine adaquate Versorgung erhalten haben. 20.4.3 Uberregionale Ausdehnung der Aktivitaten Die vielversprechenden Ergebnisse des Niirnberger Modellprojekts haben das Interesse vieler anderer Regionen in Deutschland und Europa geweckt. Um die Voraussetzungen fur eine uberregionale Ausdehnung der Aktivitaten zu schaffen, wurde 2002 ein gemeinniitziger Verein mit dem Namen „Deutsches Biindnis gegen Depression e.V." gegriindet. Die urspriinglich fur Nurnberg erstellten Materialien und Konzepte sollten ohne viel Aufwand fur andere Regionen adaptiert werden konnen, um lokale Kampagnen mit geringem fmanziellem Aufwand umzusetzen. Zu-
380
Ulrich Hegerl, David Althaus, Tim Pfeiffer-Gerschel, Mixnchen
dem erhalten die Regionen Hilfe bei der Projektplanung, bei der Umsetzung der Offentlichkeitsarbeit und den einzelnen Modulen der Kampagne. Damit wurden Voraussetzungen geschaffen, um auf regionaler Ebene zahlreiche Aktivitaten zu initiieren. Bis Sommer 2005 haben im Rahmen des „Deutschen Bundnis gegen Depression" mehr als 20 Regionen eigene lokale Biindnisse gegen Depression gestartet, weitere 20 Regionen sind in der Planungsphase. Der Erfolg des „Deutschen Bundnis gegen Depression" basiert dabei vor allem auf einer „Bottom-up-Philosophie". Die von den regionalen Partnern durchgefuhrten Aktionsprogramme finden nicht im Rahmen einer von Politik oder Verwaltung vorgegebenen engen Form statt. Die Partner vor Ort sind im Rahmen des verbindenden methodischen Rahmens in der Ausgestaltung der Aktivitaten frei und selbststandig. Der bundesweite Verein bietet dabei eine Plattform, um bestmogliche Unterstiitzung bei der Umsetzung zu geben. Dariiber hinaus werden konkrete Erfahrungen der verschiedenen Partner in einen „Wissens-Pooi" eingebracht und genutzt. Die selbstandige Gestaltung und Umsetzung der regionalen Kampagnen ermoglicht einen hohen Grad an Identifikation mit dem eigenen lokalen Bundnis. Gerade dies scheint ein entscheidender Anreiz fur das grofie Engagement der beteiligten Partner zu sein. Das „Deutsche Bundnis gegen Depression" kann als sehr erfolgreicher bundesweiter Ansatz zur Verbesserung der Awareness und Fruherkennung angesehen werden (siehe dazu auch www.buendnis-depression.de).
20.5
Die „European Alliance Against Depresssion (EAAD)"
Ankniipfend an das erfolgreiche Konzept des „Deutschen Bundnis gegen Depression" wurde im Friihjahr 2004 das „Europaische Bundnis gegen Depression (European Alliance Against Depression, EAAD)" ins Leben gerufen. Mit Unterstiitzung durch die Europaische Kommission (Generaldirektorat Verbraucherschutz und Offentliche Gesundheit) haben sich Partner aus 16 europaischen Landern zusammengeschlossen, um zunachst in ausgewahlten Regionen ahnliche Aktionsprogramme zu etablieren, wie dies in vielen Regionen Deutschlands im Rahmen des „Deutschen Bundnis gegen Depression" bereits geschehen oder geplant ist (siehe www.eaad.net) Ziel von EAAD ist es, bewahrte Interventionsstrategien und „best practice"-Modelle in den Partnerregionen zu identifizieren und in den gemeinsamen Ansatz zu integrieren (z.B. erprobte Forfbildungsmaterialien oder
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Informationsbroschuren). Dies bedeutet, dass unter den bereits in vielen Landern verfugbaren guten Materialien und Schulungskonzepten diejenigen Beispiele identifiziert werden, die auch fur andere Lander und Regionen anwendbar sein konnen oder sich regional bewahrt haben und dabei in inhaltlicher Ubereinstimmung mit dem Gesamtprojekt stehen. Nach notwendigen Anpassungs- und Adaptationsprozessen (z.B. sprachlich) konnen dann bewahrte Elemente innerhalb der Projektgruppe auch international frei genutzt werden. Auch dieses internationale Netzwerk basiert auf einem „bottom-up"Ansatz, der in den regionalen Netzwerken die wichtigsten Partner fur den Aufbau spaterer grofierer (auch nationaler) Netzwerke sieht. Zahlreiche Partnerregionen in EAAD haben seit Friihjahr 2004 mit konkreten Vorbereitungen fur die Etablierung eines Aktionsprogramms begonnen. Einige Partner haben bereits Konzepte iibersetzt und angepasst, erste Schulungen fur Multiplikatoren oder einzelne Zielgruppen (wie z.B. Altenpflegekrafte, Arzte oder Pastoren) durchgefuhrt und Auftaktveranstaltungen geplant oder veranstaltet. Auch wurden bereits Train-the-Trainer-Seminare und offentliche Veranstaltungen organisiert und Informationsmaterialien fur die Offentlichkeitsarbeit produziert und verteilt. Nach der erfolgreichen Implementierung von Mehrebenenaktionsprogrammen in den teilnehmenden Regionen bestehen die nachsten Schritte von EAAD in der Erweiterung der Aktivitaten auf weitere Regionen, der Einbeziehung weiterer Partner und dem verstarkten Austausch mit anderen Netzwerken mit ahnlichen Zielsetzungen. 20.6
Fazit
Die Versorgungsdefizite bezuglich depressiv Erkrankter resultieren aus dem Zusammenspiel zahlreicher Faktoren, so dass Interventionsprogramme, die gleichzeitig auf mehreren Ebenen ansetzen, am vielversprechendsten sind, um diese Defizite zu beheben. Durch derartige Mehrebenenansatze ergeben sich zudem zahlreiche Synergie-Effekte, wie sich im Rahmen des Niirnberger Biindnisses gegen Depression gezeigt hat. So fuhrt beispielweise die breite Offentlichkeitsarbeit dazu, dass Betroffene sich mit der Frage an ihren Hausarzt wenden, ob bei ihnen eine depressive Erkrankung vorliegen konnte. Dies wirkt sich positiv auf die Motivation der niedergelassenen Kollegen aus, die parallel zur Offentlichkeitsarbeit angebotenen Fortbildungsangebote anzunehmen. Wei-
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ter erleichtert die Offentlichkeitsarbeit den Hausarzten das Thematisieren psychischer Symptome und Diagnosen gegenuber ihren Patienten, da auf die Kampagne Bezug genommen werden kann. Mit dem Niirnberger Biindnis gegen Depression liegt erstmals ein VierEbenen-Interventionskonzept vor, das seine Wirksamkeit gegenuber einem Baselinejahr und einer Kontrollregion belegt hat und nun in zahlreichen Regionen in Deutschland und auch den Europaischen Landern umgesetzt wird. Vor diesem Hintergrund hat der im Januar 2005 im Rahmen der WHO-Minister-Konferenz in Helsinki verabschiedete „Aktionsplan zur Forderung der psychischen Gesundheit" die Relevanz gemeindebasierter Mehrebenen-Interventionsprogramme betont (WHO Europe 2005).
Depressionen werden von Betroffenen, Angehorigen und Arzten haufig nicht erkannt und nicht angemessen behandelt. Mafinahmen zum Verbessern der Diagnoserate und Behandlungsrate von Depressionen umfassen Screening fur Depression in Hausarztpraxen, Fortbildung von Hausarzten und Offentlichkeitskampagnen. Beispiele fur Programme zur Verbesserung der Diagnose- und Behandlungsrate von Depressionen gibt es aus USA, Grofibritannien und Australien. Das "Niirnberger Biindnis gegen Depression" ist ein Vier-EbenenInterventionsprogramm ( Hausarzte, Allgemeine Offentlichkeit, Multiplikatoren, Betroffene) das zu einer bedeutsamen und gegenuber der Ausgangssituation und einer Kontrollregion statistisch signifikanten Reduktion von suizidalen Handlungen fiihrte. • Mehrebenen Interventionen auf regionaler Ebene nach dem Vorbild des "Niirnberger Biindnis gegen Depression" werden zunehmend in verschiedenen Regionen Deutschlands und der europaischen Union implementiert.
Friiherkennung und Awareness
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Friiherkennung und Awareness
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Kapitel 21
21
Leitlinien Entwicklungsstand und Umsetzung von Depressionsleitlinien in Deutschland
Martin Harter, Isaac Bermejo, Freiburg
21.1
Einleitung
Depressive Storungen gehoren zu den haufigsten Beratungsanlassen und Erkrankungen in der Versorgung (Murray & Lopez 1997). Die Erforschung der Behandlungsmoglichkeiten hat in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gemacht. Hauptprobleme in der Versorgung sind das richtige und rechtzeitige Erkennen depressiver Storungen und die Ausrichtung der Behandlung an aktuellen Leitlinien. Dariiber hinaus ist noch weiter zu klaren, wie eine abgestufte und vernetzte Versorgung zwischen haus-, facharztlicher und psychotherapeutischer Behandlung sowie die Indikationsstellung fur ambulante und stationare Behandlungsmafinahmen optimalerweise organisiert sein sollten. Auf Seiten der Patienten bestehen nicht seiten Vorbehalte gegenuber evidenzbasierten Therapieverfahren, wie Pharmako- oder Psychotherapie, die eine suffiziente Behandlung erschweren (Bermejo et al. 2002, Donogue & Tylee 1996, Hofler & Wittchen 2000; Paykel et al. 1997, Schneider et al. 2004). Zur Verbesserung der Versorgung wurden in den letzten Jahren von nationalen und internationalen Organisationen Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung depressiver Storungen herausgegeben. Die systematische Entwicklung von Leitlinien erfordert eine objektive und unbeeinflussbare Methodik, bei der wissenschaftliche Forschungsergebnisse (Evidenzbasierung) und Expertenwissen (klinische Erfahrung) beriicksichtigt werden. In diesem Beitrag werden der derzeitige Entwicklungsstand zu Leitlinien in der Depressionsbehandlung, Erfahrungen mit der Umsetzung aus ausgewahlten Modellprojekten und die zu erwartenden Verbesserungen einer Implementierung von Leitlinien in der Versorgung depressiver Patienten dargestellt.
388 21.2
Martin Harter, Isaac Bermejo, Freiburg
Leitlinien
Leitlinien der medizinischen Versorgung werden definiert als systematisch entwickelte Darstellungen und Empfehlungen mit dem Zweck, die Entscheidungen von Arzten und Patienten liber eine angemessene Gesundheitsversorgung fur spezifische klinische Situationen zu unterstiitzen (Lorenz et al. 2001). Wahrend im berufsrechtlichen Sinne unter Richtlinien die verbindlichen Regeln arztlichen/therapeutischen Handelns verstanden werden, orientieren sich Leitlinien am Referenzbereich diagnostischer und therapeutischer Standards und Empfehlungen; sie stellen im engeren Sinne Handlungsvorschlage fur das therapeutische Vorgehen dar. In Form von schriftliche Empfehlungen bzw. systematisch entwickelten Entscheidungshilfen sollen Leitlinien bei Diagnostik und Behandlung sowie beim Urngang mit schwierigen Behandlungssituationen (zur Risikominimierung) helfen, um eine optimale Qualitat der Gesundheitsversorgung zu gewahrleisten. In internationalen Studien konnte gezeigt werden, dass Behandlungsmafinahmen bei Depressionen, die sich an Leitlinien orientieren (z.B. gezielte Beratungsansatze, adaquate Pharmakotherapie, kognitive Verhaltenstherapie) zu einer deutlichen Verbesserung der Versorgung depressiver Patienten fuhren (vgl. Harter et al. 2001; DGPPN 2005). Die systematische Entwicklung von Leitlinien erfordert eine objektive und unbeeinflussbare Methodik, in der Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung (Prinzipien der Evidenzbasierten Medizin) sowie Expertenwissen (klinische Erfahrung) gleichermafien beriicksichtigt werden (Kopp et al. 2002). Idealerweise enthalten sie Handlungsanweisungen zum konkreten Vorgehen bei diagnostischen und therapeutischen Mafinahmen. Leitlinien unterliegen einer dynamischen Entwicklung, d.h. sie mussen standig auf den neuesten Wissensstand gebracht werden. In den letzten Jahren sind weltweit eine grofie Zahl an Leitlinien und Behandlungsempfehlungen, u.a. auch fur depressive Erkrankungen, entwickelt worden. Diese unterscheiden sich bzgl. ihrer Zielsetzung und Umfang, vor allem aber in ihrer methodischen Qualitat (Helou et al. 2000a/b). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum auch fur Deutschland eine spezifische Leitlinie erforderlich ist. Neben dem Aspekt, dass zur Erhohung der Akzeptanz von Leitlinien der aktive Einbezug aller relevanten Akteure bei der konkreten Formulierung notwendig ist, lassen sich weitere Grande anfiihren: a) Unterschiedliche Gesundheitssysteme erfordern angepasste Mafinahmen und Empfehlungen, b) der Einbezug natio-
Leitlinien
389
naler Studien und Erkenntnisse ermoglicht die Beriicksichtigung gesellschaftlicher und kultureller Spezifika, und c) die Evidenzen fur Empfehlungen sollten regelmafiig anhand von neuen Studienergebnissen aktualisiert werden. 21.2.1 Leitlinienentwicklung in Deutschland Die Spitzenverbande der Selbstverwaltungskorperschaften im Gesundheitswesen und das Arztliche Zentrum fur Qualitat in der Medizin (AZQ) entwickelten bereits 1996 ein Leitlinien-Qualitatsprogramm. Die Leitlinien-Clearingstelle des AZQ fiihrte im Rahmen dieses Programms eine Uberpriifung von Behandlungsleitlinien fur zentrale Gebiete der medizinischen Versorgung durch (Ollenschlager et al. 2001) und veroffentlichte die Ergebnisse in sog. Leitlinien-Clearingberichten (www.leitlinien.de). Grundlage dieser Berichte ist eine von den Selbstverwaltungskorperschaften im Gesundheitswesen und der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) entwickelte Methodik fur die Entwicklung, Bewertung und Umsetzung von Leitlinien, die im „Leitlinienmanual von AWMF und AZQ" publiziert wurde (wwwieitlinien. de/ leitlinienqualitaet/index/manual/index/view). Auf dieser Grundlage wurde aktuell von einer multidisziplinaren Expertengruppe ("Expertenkreis Leitlinien-Checkliste des AZQ") eine neue Fassung der Leitlinien-Checkliste erarbeitet, Anfang 2005 iiber einen offenen Konsultationsprozess der Offentlichkeit zur Diskussion vorgestellt und im Sommer 2005 verabschiedet. Dieses Deutsche Leitlinien-Bewertungs-Instrument „DELBI" beriicksichtigt neben den o.a. deutschen Grundlagen die internationale Bewegung zu einer Vereinheitlichung von Dokumentation des Entwicklungsprozesses und Bewertung der methodischen Qualitat von Leitlinien (AGREE Collaboration 2003; www.delbi.de). 21.2.2
Clearingverfahren Depression
Ein nationales Clearingprojekt zur Depression wurde 2001 von der Clearingstelle des AZQ initiiert. Hauptziel war die Identifikation und der Vergleich von evidenzbasierten, qualitativ hochwertigen deutschen und englischsprachigen Leitlinien zur Depression. Durch Recherche nach relevanten Leitlinien sowie formale und inhaltliche Bewertung dieser Leitlinien nach den Methoden der evidenzbasierten Medizin sollten zum einen Info rmationen iiber bestehende Depressions-Leitlinien verbreitet und zum anderen Empfehlungen fur eine nationale, evidenzbasierte Leitlinie De-
Martin Harter, Isaac Bermejo, Freiburg
390
pression verabschiedet werden. Nach einer umfassenden systematischen Literaturrecherche in Literatur- und Leitliniendatenbanken fur den Zeitraum 1991-2001 wurden 21 Leitlinien (davon drei deutsche, s.u.) formal mit der Checkliste „Methodische Qualitat von Leitlinien" (AZQ 2001) bewertet. Die Inhalte der Leitlinien wurden in einem Peer-Review-Verfahren von einer Fokusgruppe von Leitlinienanwendern aus ambulanter und stationarer Versorgung sowie Experten beziiglich der Methodik der Leitlinienentwicklung, des Inhalts und Formats sowie der praktischen Anwendbarkeit beurteilt. Es zeigten sich deutliche Unterschiede in der Qualitat beziiglich des Entwicklungsprozesses, der Verkniipfung der Empfehlungen mit der Evidenz und Empfehlungen zur Impiementierung (Tabelle 21.1). Die deutschen Leitlinien erreichten nur mittlere Rangplatze. Insgesamt gibt es bei alien bewerteten Leitlinien v.a. Schwachstellen im Hinbiick auf konkrete Vorschlage, Erfahrungen bzw. Projekte zur Impiementierung in der Praxis, daher wird dieser Bereich besonders kritisch bewertet. Die Expertengruppe „Depression" des AZQ kam dennoch zu dem Schluss, dass eine Nationale Versorgungsleitlinie fur depressive Erkrankungen auf Grundlage der bestehenden Leitlinien entwickelt werden kann. Der veroffentlichte Clearingbericht enthalt relevante Eckpunkte und einen Gliederungsvorschlag fur eine Nationale Leitlinie, um diese zu realisieren. In diesem Zusammenhang wurde auch ein Mafinahmenkatalog zur Weiterentwicklung und Impiementierung formuliert (AZQ 2003).
Tab 21.1
Bewertung publizierter Leitlinien zur Depression (leicht mod. nach AZQ 2003)
Autor
Jahr
A
c
B
Gesamt
Pkt.
%
Pkt.
%.
Pkt.
%
Pkt.
%
1
16,6
14
35
1
ABFP
2001
2
11,8
11
64,7
2
ACP-ASIM 2000
4
23,6
11
64,7
1
16,6
16
40
3
APA-bdd
1994
6
35,3
11
64,7
0
0
17
42,5
4
APA-mdd
2000
6
35,3
11
64,7
1
16,6
18
45
5
AkdA
1997
2
11,8
12
70,6
1
16,6
15
37,5
6
BAP
2000
5
29,4
11
64,7
1
16,6
17
42,5
7
CPA
2001
9
52,9
15
88,2
1
16,6
25
62,5
8
CCG-sad
1999
6
35,3
11
64,7
0
0
17
42,5
9
CTFPHC
2001
8
47,1
6
29,4
0
0
14
35
10
DGPPN
2000
2
11,8
12
70,6
1
16,6
15
37,5
Tabelle wird fortgesetzt
Leitlinien Autor
391 Jahr
A
C
B
Gesamt
Pkt.
%
Pkt.
%.
Pkt.
%
Pkt.
%
2
11,8
10
58,8
1
16,6
13
32,5
2001
6
35,3
11
64,7
3
50
21
52,5
2001
6
35,3
10
58,8
3
50
19
47,5
14 NAC
1996
7
41,2
13
76,5
2
33,3
22
55
15 NIH
1997
2
11,8
8
47,1
2
33,3
12
30
16 No. Eng.
1997
11
64,7
10
58,8
0
0
21
52,5
17 PSY-g
2000
7
41,2
8
47,1
1
16,6
16
40
18 VHA-mdd
57,5
11 FMS
2001
12 ICSI-mh 13 ICSI-pc
2000
9
52,9
12
70,6
2
33,3
23
19 VHA-pharm 2000
8
47,1
12
70,6
2
33,3
22
55
20 WHO
2000
4
23,6
10
58,8
2
33,3
16
40
21
2002
5
29,4
8
47,1
1
16,6
14
35
DGPM Max. Pkt.
17
17
6
40
A: Methodik der Leitlinienentwicklung B: Inhalt und Format C: Anwendbarkeit Pkt: erreichte Punktzahl %: Erreichte Punktzahl / Maximal erreichbare Punktzahl ABFP= American Board of Family Practice; ACP-ASIM = American College of Physicians, American Society of Internal Medicine; APA-bdd = American Psychiatric Association, practice guideline for bipolar disorder; APA-mdd = American Psychiatric Association, Practice Guideline for Major Depressive Disorder; AkdA = Arzneimittelkommission der Deutschen Arzteschaft; BAP = British Association for Psychopharmacology; CPA = Canadian Psychiatric Association; CCG-sad = Canadian Consensus Group on Seasonal Affective Disorder; CTFPHC= Canadian Task Force on Preventive Health Care; DGPPN = Deutsche Gesellschaft fur Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde; FMS = Duodecim Finish Medical Society; ICSI-mh = Institute for Clinical Systems Improvement, mental health providers; ICSI-pc = Institute for Clinical Systems Improvement, Primary Care; NAC = National Advisory Committee on Health and Disability; NIH = National Institute of Health; No. Eng. = Centre for Health Services Research, University of Newcastle upon Tyne; Centre for Health Economics University of York; PSY-g = Sachs, Printz, Kahn, Carpenter, Docherty - www.psychguides.com; VHA-mdd = Veterans Health Administration/Department of Defence, major depressive disorder; VHA-pharm = Veterans Health Administration/Medical Advisory Panel for the Pharmacy Benefits Management Strategic Health Group, Pharmacological Management; WHO = World Health Organization Collaborating Centre for Research and Training for Mental Health; DGPM = Deutsche Gesellschaft fur Psychotherapeutische Medizin, Deutsche Gesellschaft fur Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie, Deutsches Kollegium fur Psychosomatische Medizin, AUgemeine Arztliche Gesellschaft fur Psychotherapie (Literatur bei AZQ 2003)
392 21.2.3
Martin Harter, Isaac Bermejo, Freiburg
Deutsche Leitlinien zur Behandlung depressiver Erkrankungen
Fur Deutschland waren bis vor kurzem die 1997 von der Arzneimittelkommission der deutschen Arzteschaft fur den hausarztlichen Bereich („Empfehlungen zur Therapie der Depression"; www.akdae.de/ - derzeit in Revision) und die 2000 von der Deutschen Gesellschaft fur Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde fur den facharztlichen Bereich („Behandlungsleitlinie Affektive Storungen"; DGPPN 2000) herausgegebenen Leitlinien von Bedeutung. Beide Leitlinienpublikationen weisen allerdings Schwachen auf: a) kein systematischer Konsensprozess bei der Entwicklung; b) fehlende explizite Evidenzbasierung der Empfehlungen und c) Mangel an Umsetzungsvorschlagen fur die Praxis (Harter et al. 2001). Fur die ambulante Versorgung, insbesondere hausarztliche Versorgung, stehen seit 2003 die „ Versorgungsleitlinien zur Diagnostik und Therapie depressiver Storungen in der hausarztlichen Versorgung" zur Verfugung (Harter et al. 2003b). Diese Versorgungsleitlinien entstanden im Rahmen des Kompetenznetz Depression, Suizidalitat in Modellprojekten zum ambulanten und stationaren Qualitatsmanagement. Die Entwicklung orientierte sich an den methodischen Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und den Anforderungen der evidenzbasierten Medizin (Grimshaw & Russel 1993, Guyatt et al. 1995, Helou et al. 2000b). Ein Expertengremium aus Haus-, Facharzten, Psychotherapeuten, Patienten- und Angehorigenvertretern sowie Vertretern des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen unterstiitzte die Erstellung im Rahmen eines systematischen Konsensprozessesl. Die Versorgungsleitlinien basieren auf einer systematischen Analyse bestehender nationaler und internationaler Leitlinien sowie einer Analyse der wissenschaftlichen Evidenz der einzelnen Empfehlungen, v.a. mittels Reviews und Meta-Analysen der Cochrane Collaboration. Die Versorgungsleitlinien umfassen evidenzbasierte Empfehlungen zur Diagnostik und Differentialdiagnostik sowie zur Akutbehandlung, der Erhaltungsfherapie und Rezidivprophylaxe. Neben der Veroffentlichung der Versorgungsleitlinien als Fliefitext wurden die zentralen evidenzbasierten Aussa-
Nach AWMF Entwicklungsstufe 2: Formale Evidenz-Recherche oder formale Konsensfindung = S2 Leidinien werden aus formal bewerteten (evidence level) Aussagen der wissenschaftlichen Literatur entwickelt oder in einem der bewahrten formalen Konsensusverfahren beraten und verabschiedet.
Leitlinien
393
gen zu Diagnose und Therapie als handlungsleitende Empfehlungen mit den entsprechenden Empfehlungsgraden formuliert (Tabelle 21.2). Tab. 21.2: Beispiele von Versorgungsempfehlungen (Ausziige aus Harter et al. 2003b) Antidepressiva Vergleichende klinische Studien ergaben im ambulanten Bereich keine signifikanten Wirksamkeitsunterschiede zwischen SSRI und NSMRI.
^^^
Die antidepressive Wirksamkeit und Vertraglichkeit der neueren Antidepressiva ist im Rahmen von mehreren Metaanalysen belegt.
^^
Psychotherapie Eine alleinige spezifische psychotherapeutische Behandlung ist bei leichten bis mittelgradigen Depressionen gerechtfertigt und Erfolg versprechend. Zu Bedenken ist aber die langere Wirklatenz (50% Responder nach ca. 12 Wochen).
^^
Wissenschaftlich am besten abgesichert sind die kognitive Therapie, die Verhaltenstherapie, die Interpersonelle Psychotherapie, weniger sicher die tiefenpsychologisch orientierte Kurzzeittherapie.
^^^
Monitoring / Case-Management Ein aktives Monitoring der Therapie und ein aktives Case-Management zur Wirkungsprufung der Therapie und Begleitung des Patienten sind insbesondere wahrend der Akutbehandlung notwendig.
^^
Die klinische Wirkungspriifung und Symptomerfassung sollte nach ca. vier Wochen erfolgen. Bei geringer Wirksamkeit der Medikation sollte der Plasmaspiegel und die Compliance gepruft werden. Gegebenenfalls sollte die Dosierung angepasst bzw. der Patient an einen Facharzt iiberwiesen werden.
^^
Legende: ^ Randomisierte klinische Studie, einfache klinische Studien und Expertenkonsens ^ ^ Metaanalysen bzw. Reviews, mehrere randomisierte klinische Studien; hohe Ubereinstimmung in den evidenzbasierten Leitlinien ( > 3 Leitlinien mit identischer Aussage) ^^^ Cochrane Reviews (CR); qualitatsgeprufte Meta-Analysen bzw. Reviews (CRD)
Ein weiteres zentrales Element dieser Empfehlungen ist ein neu entwickelter Versorgungskorridor, der den Behandlungsprozess entsprechend den Versorgungsleitlinien systematisiert und die Kooperations- und Schnittstellen zur facharztlichen, psychotherapeutischen und stationaren Versorgungsebene beschreibt (Harter et al. 2002). Sowohl bei den einzelnen Teilschritten als auch bei den Schnittstellen sind spezifische Verweise zu den jeweiligen „Versorgungsempfehlungen" gegeben. Ausgangspunkt ist die gemafi ICD-10-Kriterien gestellte Diagnose. Der weitere Behandlungsverlauf orientiert sich danach an aktuellen evidenzbasierten Empfehlungen, wobei an verschiedenen Schnittstellen im Behandlungsprozess die Mog-
394
Martin Harter, Isaac Bermejo, Freiburg
lichkeit zur Uberweisung zu Spezialisten (Facharzte, Psychotherapeuten) besteht. Diese Leitlinien fur die ambulante Versorgung sind auch wesentlicher Bestandteil des Anfang 2005 publizierten „Rahmenkonzept - Integrierte Versorgung Depression", herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft fur Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und weiterer arztlicher und psychologischer Fachgesellschaften bzw. Berufsverbande (DGPPN 2005). Die Konzeption beschreibt insbesondere die zentralen Schnittstellen bei der Versorgung von Patienten mit Depressionen, wobei der wichtigste Grundsatz bei der Erarbeitung des Rahmenkonzeptes die Gleichberechtigung aller Partner war. Das Rahmenkonzept ist inzwischen Grundlage fur mehrere regionale und iiberregionale Vertrage der Integrierten Versorgung nach § 140ff SGB V geworden, die zwischen verschiedenen Leistungsanbietern mit unterschiedlichen gesetzlichen Krankenkassen vereinbart wurden. Aktuelle Entwicklungen sind der Homepage der DGPPN (www.dgppn.de) zu entnehmen oder bei den Autoren zu erfahren. Dariiber hinaus liegen seit 2004 die Behandlungsleitlinien der World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP) in deutscher Ubersetzung vor. Der Inhalt „Biologische Behandlung unipolarer depressiver Storungen" richtet sich primar an Arzte und enthalt insbesondere Empfehlungen zu psychopharmakologischen und anderen biologischen Mafinahmen in der Akut- und Erhaltungstherapie sowie zur Rezidivprophylaxe. Die Behandlungsempfehlungen sind evidenzbasiert und wurden im Konsensverfahren von einer Gruppe von 46 internationalen Wissenschaftlern und Klinikern verabschiedet. Fiir die psychotherapeutische Versorgung wurden einerseits von der Fachgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie der Deutschen Gesellschaft fur Psychologie (DGPs) Leitlinien zur Psychotherapie der Depression und anderer affektiver Storungen erstellt (De Jong-Meyer et al. 2005). Andererseits wurden gemeinsame Leitlinien der Deutschen Gesellschaft fiir Psychotherapeutische Medizin (DGPM), der Deutschen Gesellschaft fiir Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT), des Deutschen Kollegiums Psychosomatische Medizin (DKPM) und der Allgemeinen Arztlichen Gesellschaft fur Psychotherapie (AAGP), die primar die psychotherapeutische Behandlung von depressiven Erkrankungen beschreiben, publiziert. Letztere ist allerdings nicht mehr aktualisiert bzw. giiltig (Stand: Juni 2004; http://leitlinien.net/). Beide Leitlinien
Leitlinien
395
haben einen Entstehungsprozess durchlaufen, der den Stufen 1-2 der methodischen Empfehlungen der AWMF entspricht1. 21.2.4
Effekte von Leitlinien zur Depression in der Versorgung
Obwohl in vielen Landern zwischenzeitlich umfangreiche nationale Programme zur Entwicklung von Versorgungsleitlinien initiiert worden sind (Harter et al. 2005; Burges et al. 2003) stofit die Implementierung von Leitlinien in die Praxis auf Schwierigkeiten. Unter anderem wird das Format und die Formulierung solcher Leitlinien kritisiert, aufierdem wird gefordert, dass Versorgungsleitlinien enger am Praxisalltag zu orientieren sind und mit konkreten Anleitungen zur Umsetzung formuliert werden sollen (Michie & Johnston 2004; Davis et al. 1999; Eccles et al. 2000). Eine Auswahl von internationalen, kontrollierten Studien im Bereich Depression und deren zentrale Ergebnisse hinsichtlich der Effekte einer Leitlinienimplementierung sind in Tabelle 21.3 dargestellt. In Deutschland wurden im Rahmen des vom BMBF geforderten Modellprojektes Kompetenznetz Depression, Suizidalitat in einer InterventionsKontrollgruppen-Studie in drei Studienregionen (Sudbaden, Aachen/ Diiren und Miinchen) die entwickelten Leitlinien fur die ambulante Versorgung im Rahmen eines umfassenden Qualitatsmanagementsystems fur depressive Erkrankungen, u.a. mit gezielten Fortbildungsmafinahmen, in haus- und nervenarztlichen Praxen implementiert und evaluiert (Harter et al. 2003a). Insgesamt wurden iiber 3.000 Hausarztpatienten hinsichtlich einer depressiven Symptomatik gescreent und iiber 800 depressive Patienten von den teilnehmenden Haus- und Facharzten standardisiert dokumentiert. Die Leitlinienimplementierung zeigt starke Verbesserungen im diagnostischen Vorgehen der Hausarzte. Wahrend der Screeningphasen vor und nach der Fortbildung (Screening aller Patienten im Wartezimmer in Hausarztpraxen an 3 Tagen) konnte das Erkennen einer depressiven Erkrankung in der Interventionsgruppe signifikant verbessert werden. Fiir die Effekte der Fortbildung spricht auch die Stabilisierung der Erkennensleistung
Nach AWMF Entwicklungsstufe 1: Expertengruppe = SI Eine reprasentativ zusammengesetzte Expertengruppe der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaft erarbeitet im informellen Konsens eine Empfehlung, die vom Vorstand der Fachgesellschaft verabschiedet wird.
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in der Interventionsgruppe bei einem erneuten Screening 12 Monate nach der Fortbildung.
Tab. 21.3: Effekte einer Leitlinienimplementierung auf die primararztliche Versorgung depressiver Patienten (RCTs) Quelle
Interventionen
Auswirkungen auf Prozess-und Ergebnisqualitat
Worrall et al. (1999 und 2000) Kanada
Interventionsgruppe: 3hTraining: Inhalt: Erklarung der Leitlinien, Diskussion vorbereiteter Falle und von Fallen der Arzte; Zusammenarbeit mit einem Psychiater Kontrollgruppe: nur Leitlinien vorgelegt
Prozess
Thompson et al. (2000) Grofibritannien
Seminare in Grofigruppen (Leitlinienanwendung) Training in Kleingruppen (Videomaterial, Kleingruppendiskussionen, Rollenspiele) Ausbilder waren noch 9 Monate fur Fragen verfugbar
+ Vermehrtes Verschreiben von Antidepressiva, mehr kontinuierhche Behandlungen -
++ nach 6 und 18 Monaten starkere syndromale Besserung der Depression Prozess + Sensitivitat bzgl. depressiver Symptome gebessert Ergebnis + Nach 6 Wochen und nach 6 Monaten: Hoherer Anteil an Patienten mit Verbesserungen der Depression und geringerer Anteil mit immer noch vorhandener Depression -
Baker et al. (2001) Grofibritannien
weniger korrekte Diagnosen
Ergebnis
nicht erkannte Falle: nach 6 Wochen vermehrt immer noch mit Depression und nach 6 Monaten "weniger verbessert
Einsatz von Leitlinien Prozess Nach 6 Wochen: Identifikation ++ Erfragen des Suizidrisikos verbessert von Hindernissen bei deren + Vermehrt Behandlung mit Antidepressiva oder Umsetzung, auf HindernissezuPsychotherapie, angemessene Dosierung der geschnittene Fortbildung Antidepressiva, Kontrolluntersuchungen, Behandlungsdauer verbessert Suizidrisiko nach 3 Wochen weniger oft erneut erfragt Ergebnis ++ Depressionswerte besser nach 16 Wochen
Legende: ++ = signifikante Verbesserung + = nicht signifikante Verbesserung = nicht signifikante Verschlechterung
Leitlinien
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Wahrend hinsichtlich der Nutzung formaler Diagnosekriterien (ICD-10Kriterien) kein Effekt der Leitlinienumsetzung feststellbar war, liefi sich ein positiver Effekt bezuglich der durchgefuhrten diagnostischen Mafinahmen feststellen: Im Vergleich zur Kontrollgruppe wurden z.B. Suizidideen und die somatischen Komorbiditaten nach der Intervention signifikant haufiger durch die Arzte der Interventionsgruppe erfasst. Hinsichtlich der patientenbezogenen therapeutischen Mafinahmen liefien sich nur geringe Effekte erzielen. Deutliche Effekte zeigten sich hingegen im Behandlungserfolg. Sowohl bei den Hausarztpatienten als auch bei den Patienten in Facharztpraxen konnte nach der Intervention eine signifikante Verbesserung hinsichtlich der Symptomreduzierung (Effektivitat der Behandlung) gezeigt werden. In der Interventionsgruppe erzielten die Patienten signifikant haufiger acht Wochen nach Behandlungsbeginn eine Voll- oder Teilremission ihrer Symptome. Vergleichbare Resultate ergaben sich auch in den stationaren Qualitatsmanagement-Projekten des Kompetenznetzes Depression, Suizidalitat. Die Intervention bestand aus gezielter und vergleichender Ruckmeldung von behandelten Patienten anhand standardisierter Basisdokumentationen (Benchmarking), einer Leitlinienfortbildung und darauf aufbauenden datengestiitzten Qualitatszirkeln in 10 psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachkliniken. Der Grofiteil der Teilnehmer an der Leitlinienfortbildung aufierte sich im Anschluss sehr zufrieden bzw. zufrieden. Insbesondere der Einbezug und die Aktivierung der Teilnehmer sowie der hohe Anteil an praktischen Ubungen wurden von den Teilnehmern als sehr gut bewertet. Durch das umfassende Qualitatsmanagement konnten einzelne Behandlungsmafinahmen und komplexere Behandlungsablaufe durch leitlinienorientierte Handlungsanweisungen und Algorithmen verbessert werden (Schneider et al. 2005; Brand et al. 2005). Ubersichtsarbeiten kommen zu dem Schluss, dass zu den bisher untersuchten Strategien zur Umsetzung von Trainingsmafinahmen insgesamt in der Medizin (Grimshaw et al. 2001) bzw. zur Verbesserung der Depressionsbehandlung (Von Korff & Goldberg 2001) sowohl positive Studien als auch Studien ohne positive Effekte vorliegen. Komplexe Interventionsstrategien, die zudem Umsetzungsbarrieren (Behandler-, Patienten- und strukturelle Barrieren) beriicksichtigen, sind am erfolgreichsten. Ziemlich wahrscheinlich kann eine erfolgreiche Umsetzung von Leitlinien in die Praxis dann erreicht werden, wenn auch Strategien zur kontinuierlichen Patientenbegleitung („Case-Management", vgl. Gensichen und Peitz, Kapi-
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tel 22, Behandlungspotentiale in der allgemeinarztlichen Versorgung) und zur engen Vernetzung der verschiedenen Versorgungsebenen angewandt werden. 21.3
Ausblick
Aufgrund der haufig diskutierten Probleme und Kritikpunkte, z.B. fehlende Akzeptanz bei den Behandlern, Einschrankung der „Therapiefreiheit" (vgl. Linden 2005), diirfen Leitlinien nicht als Richtlinien fiir therapeutisches Handeln mit entsprechenden gesundheitspolitischen und juristischen Konsequenzen verstanden werden. Leitlinien sind „im wahrsten Sinne des Wortes" als leitende Handlungsempfehlungen anzuwenden, von denen in begriindeten Fallen abgewichen werden kann, ja sogar muss. Auch die Forderung, Leitlinien einer wissenschaftlichen Uberpriifung zu unterziehen, ist gerechtfertigt. Die Entwicklung eines Implementierungsund Evaluationskonzeptes ist daher eine conditio sine qua non fur eine qualitativ hochwertige, evidenzbasierte Leitlinie. Auf der anderen Seite sind aktuelle, evidenzbasierte Leitlinien die derzeit beste Moglichkeit fiir Leistungserbringer und -empfanger, um nachvollziehbare und uberpriifbare Mafinahmen einzuleiten. Letztendlich miissen aber im konkreten Einzelfall im Sinne einer partizipativen Entscheidungsfindung sowohl arztliche als auch patientenrelevante Faktoren wie Wissen, Emotionen, Praferenzen sowie soziokulturelle Aspekte beriicksichtigt werden. Einer weiteren Schwierigkeit miissen sich diese Leitlinienformulierungen ebenfalls stellen: Sehr wahrscheinlich besteht ein Ungleichgewicht hinsichtlich der Verfiigbarkeit von guten Studien in unterschiedlichen Bereichen der Depressionsbehandlung. Auf diese Weise fliefit das vorherige wissenschaftliche Investment indirekt in die Empfehlungsstarke mit ein. Dies konnte z.B. zu einer nicht unbedingt gerechtfertigten Ubergewichtung pharmakotherapeutischer Ansatze fuhren. Das Wissen iiber die Effekte auch nicht-pharmakologischer Strategien (z.B. der Psychotherapie) ist zwar inzwischen in der Depressionsbehandlung sehr grofi, dennoch besteht hier weiterer Forschungsbedarf. Diese Liicke versuchen in Deutschland z.B. aktuelle Forderungsinitiativen der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Bundesministeriums fiir Forschung und Bildung, z.B. in den Bereichen „Klinische Studien" und „Psychotherapieforschung", zu schliefien. Nach Abschluss des Leitlinien-Clearing-Verfahrens und der Arbeit mehrerer Fachgesellschaften an Depressionsleitlinien mit unterschiedlicher
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Schwerpunktsetzung ist es nun eine zentrale Aufgabe, einen Konsens verschiedener Akteure im Gesundheitswesen fur Leitlinien zur Diagnostik und Therapie depressiver Erkrankungen herzustellen. Zu diesem Zweck koordiniert die Deutsche Gesellschaft fur Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) seit Anfang 2005 ein Projekt zur Erarbeitung von S-3-Leitlinienl nach den Richtlinien der AWMF mit alien hierfur notwendigen arztlichen und psychologischen Gruppierungen (Fachgesellschaften und Berufsverbanden) sowie Angehorigen- und Patientenverbanden. Zentrales Anliegen ist die Bearbeitung des Mafinahmenkataloges aus dem Clearingbericht und die Entwicklung einer von Fachgesellschaften und Berufsverbanden gemeinsam abgestimmten evidenzbasierten Leitlinie „Depression". In diesem Zusammenhang werden auch Empfehlungen hinsichtlich einer abgestuften und vernetzten Versorgung zwischen haus- und facharztlicher sowie psychotherapeutischer Versorgung und der Indikationsstellung fur ambulante, teilstationare bzw. stationare Behandlungsmafinahmen sowie fur Implementierungs- und Evaluationsstrategien entwickelt werden. Im Rahmen dieses Entwicklungsprozesses muss auch entschieden werden, welche diagnostischen Kategorien ausschlaggebend fur die Leitlinien sein sollen. Ublicherweise orientieren sich Leitlinien an kategorialen Klassifikationssystemen (ICD-10 oder DSM-IV-R). Es gibt aber auch sinnvolle Vorschlage, v.a. fur den hausarzflichen Bereich, Leitlinien eher an „Beratungsanlassen" der Patienten als an bereits fest stehenden Diagnosen zu orientieren (z.B. zu den Beratungsanlassen: Miidigkeit, Kreuzschmerz, www.degam.de). International gehen bislang alle im Clearing-Bericht bewerteten Leitlinien von einer kategorialen Diagnostik nach Symptomen entsprechend der gultigen Klassifikationssysteme aus. Depressionen sind aber gleichzeitig dimensionale Phanomene, daher sollten Leitlinien die diagnostischen Algorithmen nicht nur im Sinne konsensualer Kriterien darstellen, sondern sollten auch die Unterscheidung zwischen einer typologischen (klassifikatorischen) und dimensionalen Diagnostik reflektieren. Hierzu sollte auch zum Problem der „unterschwelligen" Morbiditat Stellung genommen werden (vgl. Leitlinien-Clearingbericht ..Depression" 2003).
Nach AWMF Entwicklungsstufe 3: Leitlinie mit alien Elementen systematischer Entwicklung = S3 Die Leitlinienentwicklung der 2. Stufe wird auf folgende 5 Komponenten erweitert: Logik, Konsensus, "Evidence-based Medicine", Entscheidungsanalyse, Outcome-Analyse.
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Der Entwicklungsprozess dieser S3-Leitlinien ist eng mit dem nationalen Programm fur Versorgungs-Leitlinien verkniipft: So haben die Bundesarztekammer, die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und die Kassenarztliche Bundesvereinigung im Jahr 2003 die gemeinsame Tragerschaft liber das Nationale Programm fur Versorgungs-Leitlinien (NVL-Programm) vertraglich vereinbart. Das NVL-Programm versteht sich als inhaltliche Grundlage jeglicher Programme zur strukturierten medizinischen Versorgung - unter anderem auch der "Strukturierten Behandlungsprogramme bei chronischen Krankheiten" nach § 137f SGB V (Disease Management). Die Erarbeitung der Nationalen Versorgungs-Leitlinien erfolgt unter wesentlicher Beriicksichtigung der Konzepte des Internationalen Leitlinien-Netzwerks G-I-N (www.g-i-n.net), der Leitlinien-Empfehlungen des Europarats 2001 (www. leitlinien.de/informationen/pdf/europaratmethdt.pdf), der Beurteilungskriterien fiir Leitlinien von BAK und KBV und des Leitlinienmanuals von AWMF und AZQ, der Empfehlungen des Deutschen LeitlinienClearingverfahrens beim AZQ sowie des Deutschen Leitlinienbewertungsinstruments DELBI (s.o.). Im Juli 2005 wurde von den entsprechenden Gremien entschieden, nach den erstellten NVL zu Diabetes mellitus und Asthma bronchiale, zu den in Erstellung befindlichen NVL zu COPD und Koronarer Herzkrankheit nun das Thema Depression zu bearbeiten. Eine Publikation dieser S-3-Leitlinien ist 2006/2007 zu erwarten. Dariiber hinaus wird eine breite Implementierung der bereits entwickelten Versorgungsleitlinien in andere Regionen Deutschlands derzeit in einem vom BMBF geforderten Transferprojekt des Kompetenznetzes Depression, Suizidalitat zusammen mit anderen Mafinahmen der Qualitatssicherung realisiert. Schliefilich wird im Rahmen des Programms „Gesundheitsziele fur Deutschland" (www.gesundheitsziele.de), das in Tragerschaft des Bundesministeriums fur Gesundheit und Soziale Sicherung und der Gesellschaft fiir Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (GVG) steht und vom BMGS gefordert wird, derzeit an der Formulierung von spezifischen Zielen und Mafinahmen zur Prevention und Behandlung von Depressionen gearbeitet. gesundheitsziele.de kniipft an bisherige nationale und internationale Initiativen zur Entwicklung von Gesundheitszielen an, z.B. der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Bundeslander und Sozialleistungstrager. Eine zukiinftige Aufgabe wird es sein, die Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung von Depressionen mit geeigneten Mafinahmen regelhaft in der Versorgung zu verankern. Spezifische Qualitatsmanagement-Program-
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me, die einen multidimensionalen, sektoriibergreifenden und interdisziplinaren Ansatz unter Einbezug von Haus-, Facharzten und Psychotherapeuten verfolgen, werden die Versorgung depressiver Patienten am effektivsten verbessern helfen. Leitlinien sind dabei ein Teil eines umfassenden Programms mit den Elementen Screeningverfahren, Patientenschulung/Edukation, Kooperation mit Fachspezialisten und Case-Management. Ein moglicher Transfer sind z.B. die derzeit begonnenen Modellprojekte zur Integrierten Versorgung oder die Abstimmung eines Disease Management-Programms Depression.
Zur Behandlung depressiver Erkrankungen liegen mehrere, qualitativ hochwertige Leitlinien vor. • Zur Akzeptanz und praktischen Anwendung von Leitlinien sind Interventionen mit komplexen, aufeinander abgestimmten Mafinahmen notwendig. • Die Anwendung von Leitlinien und eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Versorgungsebenen fuhren zu einer effektiveren Behandlung depressiver Patienten. Das vom Kompetenznetz Depression, Suizidalitat durchgefiihrte Modellprojekt zur Entwicklung und Implementierung von Behandlungsleitlinien fur depressive Erkrankungen verbesserte die Versorgung depressiver Patienten. Erforderliche nachste Schritte sind die Formulierung einer Nationalen Leitlinie Depression unter Einbezug aller relevanten Akteure und ein breiter Transfer in das deutsche Gesundheitssystem.
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Danksagung Diese Arbeit entstand im Rahmen des Forderschwerpunktes Kompetenznetz Depression, Suizidalitat (www.kompetenznetz-depression.de), das vom Bundesministerium fur Bildung und Forschung (BMBF; FKZ 01 GI 0452) gefordert wird.
Kapitel 22
22
Behandlungspotenziale in der allgemeinarztlichen Versorgung Anregungen fur das deutsche Gesundheitswesen
Jochen Gensichen, Monika Peitz, Frankfurt a. M.
22.1
Depression als relevante Aufgabe der hausarztlichen Versorgung
Besonders vor dem Hintergrund der Entwicklung neuer antidepressiver Medikamente gelten depressive Erkrankungen heute prinzipiell als gut behandelbar (Murlow 2000). Dennoch wird von alien Beteiligten im Gesundheitswesen (v.a. Patienten, Arzte und Versicherungstrager) die aktuelle medizinische Versorgung von Patienten mit Depression als unbefriedigend eingeschatzt. Unkoordinierte, fragmentierte und patientenferne Behandlungsstrategien in der ambulanten Versorgung bewirken bspw. fruhe Abbriiche der medikamentosen Therapie und erhohen damit die Gefahr der Chronifizierung (Gothe 1997). In der Behandlung von Depressiven ist der Hausarzt ein wichtiger „Akteur", weil er die meisten Menschen behandelt (SVR fur die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, 2001) und weil die Patienten ihm grofies Vertrauen entgegen bringen (Grol 2000). Die Hausarzte geben ihrerseits eine hohe Motivation zur aktiven Versorgung von Patienten mit Depression an (Bermejo 2001). Depressive Patienten sind haufig in Hausarztpraxen: Die „DepressionsStudie" in deutschen Allgemeinarztpraxen im Jahr 2000 ergab eine Stichtagspravalenz von 10,9% (Frauen 11,9%, Manner 9,4%; Wittchen 2000). Studien weisen darauf hin, dass bis zu 50% der Patienten nicht adaquat behandelt werden (Paykel 1999). Diese Ergebnisse sollten relativiert werden, da sie lediglich auf einen Stichtag bezogen sind. Sie enthalten somit keine longitudinalen Elemente, wie sie in der hausarztlichen Behandlung konstituierend sind (u.a. watchfull waiting/abwartendes Offenlassen) (DEGAM 2002). In einer britischen Studie hatten nach drei Jahren nur
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14% der anfanglich unerkannt depressiven Patienten eine klinisch relevante Depression, die nicht adaquat therapiert wurde (Kefiler 2002). Probleme in der Behandlung bestehen z.B. in unzureichender medikamentoser Therapie, insbesondere zu niedriger Dosierung, fruhem Therapieabbruch oder unregelmafiiger Medikamenteneinnahme, was die Chronifizierungsgefahr, die stationaren Behandlungszeiten und die Suizidgefahr der Patienten erhoht (Ahrens 1991, Fritze 1997). Eine Medikamentenstudie in deutschen Hausarztpraxen zeigte, dass ein Drittel vorzeitiger Behandlungsabbruche innerhalb der ersten sechs Therapiewochen erfolgt (Gothe 1997). Dariiber hinaus ist der Informationsverlust an den Schnittstellen der Sektorgrenzen im Gesundheitswesen ein Kernproblem der Versorgung (SVR fur die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen 2001). In dem derzeitig vorherrschenden Verstandnis in der medizinischen Versorgung von chronisch Kranken reagiert der Arzt lediglich auf die vom Patienten geaufierten gesundheitlichen Beschwerden bzw. auf die durch ihn initiierten Arztbesuche (Bodenheimer 2002) und die Patientenbetreuung ist nur in geringem Mafte an einer stabilen Arzt-Patienten-Kommunikation bzw. an der Patientenstarkung (Empowerment, Self-Management, Adherence) orientiert (Coulter 2002). Dies ist insbesondere in der Behandlung von Patienten mit Depression ungiinstig. Auch wenn heute effektive psychotherapeutische und pharmakologische Therapieoptionen zur Verfugung stehen (Peveler 2002), bleibt auch bei erfolgreicher Bewaltigung einer depressiven Episode fur die meisten Patienten ein psycho-sozialer Betreuungsbedarf bestehen. Der Sachverstandigenrat fur die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2001) nennt noch weitere Defizite: • Eine Therapie, die nicht den evidenzbasierten Leitlinien entspricht. • Das Fehlen einer aktiven Therapieuberwachung (follow-up) zur Ergebnisuberpriifung. • Eine inadequate Patientenschulung hinsichtlich einer aktiven Teilnahme an der Behandlung. Die kontinuierliche und aktivierende Begleitung der Patienten ist somit ein wesentlicher Bestandteil in der Depressionstherapie. Hier konnen z.B. strukturierte Versorgungsprogramme unterstiitzend wirken. Die hausarztliche Praxis erscheint als besonders geeigneter Ausgangspunkt fur diese Intervention bzw. Versorgungsform: Sie bietet - erstens - ein niedrigschwelliges und gemeindenahes Angebot fur die Patienten an. Im Rahmen der langjahrigen vertrauensvollen Beziehung zwischen Hausarzt und Pati-
Behandlungspotenziale in der allgemeinarztlichen Versorgung 407 enten liegen hier -zweitens - umfassende lebensweltliche Kenntnisse iiber den Patienten vor, die fur die kontinuierliche Betreuung genutzt werden konnen (Knottnerus 2003). 22.2
Modelle zur strukturierten Versorgung bei Depression
Disease Management Programme und Konzepte zur Integrierten Versorgung zielen vor allem auf eine Optimierung der Versorgung fur ganze Bevolkerungsgruppen ab, insbesondere durch Abstimmung iiber die Schnittstellen der Versorgung hinweg. Case Management ist auf die aktive Begleitung einzelner Patienten mit besonderem Bedarf ausgerichtet. Die drei Modelle werden im Folgenden mit Bezug auf die Depression detailliert vorgestellt. 22.2.1 Disease Management Ein viel diskutiertes Modell ist das Disease Management. Es ist ein Ansatz zur Koordination der Behandlung, der alle Stadien einer Erkrankung, von Prevention, Akutversorgung bis hin zur Rehabilitation, umfasst. Die Behandlung soil evidenzbasiert sein und Patienten sind aktiv einzubeziehen, um somit verbesserte klinische Ergebnisse zu erreichen (Kesteloot 1999). Erstmals wurde der Begriff „Disease Management" Ende der 80er Jahr im Umfeld der Mayo Klinik verwendet. Zu Beginn wurde es als eine Strategic zur Reduktion der Behandlungskosten fur Patienten mit chronischen Erkrankungen eingefiihrt. Systematische Auswertungen zur Medikamentenverschreibung und evidenzbasierte Therapieempfehlungen sollten Kosten reduzieren. Bereits 1995 hatten die meisten pharmazeutischen Konzerne in den USA spezielle Disease Management Programme fur die sog. Volkskrankheiten, wie Diabetes oder Herzinsuffizienz entwickelt (Bodenheimer 1999). Die Verbesserung der Behandlungsqualitat wurde sparer als wesentliches Ziel von Disease Management hinzugefugt. Es existieren zahlreiche Versuche, die Definition zu vereinheitlichen (Hunter 1997, Ellrodt 1997, Disease Management Association of America 1999, Norrris 2002). Die wesentlichen Aspekte sind bereits von Kesteloot (1999) formuliert worden: Hauptwirkungselemente sind die Einfuhrung evidenzbasierter Behandlung und die Verbesserung der Koordination zwischen den verschiedenen Leistungserbringern in der Versorgung. Die wichtigsten
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Kennzeichen, die entsprechende Disease Management Programme aufweisen, sind nach Kesteloot (1999): • Umfassende Gesundheitsversorgung (interdisziplinar fur Prevention, Akut- und Langzeitversorung) • Integrierte Versorgung (Kontinuitat, Koordination der verschiedenen Komponenten) • Bevolkerungsbezogen (definierte Gruppe entsprechend der Erkrankung) • Aktivierte Patienten (Empowerment und Self -Management) • Evidenzbasierte Leitlinien • Informationstechnologie (Register, Reminder, Information und Kommunikation) • Kontinuierliche Qualitatsverbesserung Bevolkerungsbezogene Aspekte der Versorgung werden von Disease Management mit der Ausrichtung auf definierte krankheitsspezifische Patientengruppen beriicksichtigt. Mit Starkung individueller Patientenressourcen, z.B. durch Selbst-Management, werden auch individualmedizinische Aspekte der gesundheitlichen Versorgung aufgegriffen. Inzwischen liegen eine Reihe von Ubersichtsarbeiten zu den Effekten von Disease Management fur die wichtigsten chronischen Erkrankungen vor (u.a. Weingarten 2002, Velasco 2003, Ofman 2004). Ein allgemeingultiger positiver Effekt auf klinische Zielgrofien, z.B. wie Mortalitat, kann nicht gezeigt werden. Ebenso kann bislang keine ideale Kombination der o.g. Elemente fur ein optimales Disease Management Programm empfohlen werden (Velasco 2003). Aktuelle Ubersichtsarbeiten zur Depression zeigen hingegen positive Effekte (Bijl 2004, Neumeyer-Gromen 2004). Die signifikante Reduktion der Symptome (fast moderate Effekte) geht aber auch mit einer Zunahme der Behandlungskosten einher (Badamgarav 2003). In Deutschland wurde ein besonderer Weg fur Disease Management gewahlt. 2002 wurden auf der Grundlage des Sozialgesetzbuch (§137 SGB V) in den gesetzlichen Krankenkassen (GKV) Disease Management Programme (DMP) eingefuhrt. Dies geschah, um die Versorgung chronischer Erkrankungen als kostentreibender Faktor zu verbessern. In Anbetracht eines parallel forcierten „Wettbewerbes" zwischen den GKVs musste gleichzeitig eine neuer finanzieller Ausgleichsmodus fur die unterschiedlichen Versicherungsrisiken der Kassen eingefuhrt werden. Das bislang ge-
Behandlungspotenziale in der allgemeinarztlichen Versorgung 409 handhabte Verfahren auf der Basis Alter, Geschlecht und einzelner Anspruchsmerkmale hatte sich als unbrauchbar erwiesen. Die Koppelung dieses sog. „Risikostrukturausgleiches" an die Einfuhrung von DMPs sollte die Losung beider Probleme sein. Je mehr Patienten eine GKV-Kasse in ein „Chronikerprogramm" aufnehmen kann, desto hohere Ausgleichsgelder kann sie nun erwarten. Inzwischen sind mehr als 1,3 Mio Versicherte in einem der zugelassenen DMPs (Diabetes II, Brustkrebs, KHK) eingeschrieben (Arzte-Zeitung vom 23.02.2005). Folgende Elemente sind fur deutsche DMPS essenziell: 1) evidenzbasierte Leitlinien; 2) Qualitatssicherungsmafinahmen; 3) freiwillige Einschreibung der Versicherten; 4) Schulung der Leistungserbringer und Versicherten; 5) standardisierte Dokumentation und 6) Evaluation der Effekte (§137/f SGB V). Die finanziellen Konsequenzen und deren umfassende rechtliche Nachpriifbarkeit fuhrten zu einem aufwendigen und langjahrigen Zulassungsprozess durch das Bundesversicherungsamt. Ein DMP zur Depression ist zum gegenwartigen Zeitpunkt sehr wahrscheinlich, da es sowohl von den Krankenkassen als auch von den arztlichen Fachgesellschaften angestrebt wird. Fur den Rahmen der hausarztlichen Versorgung sind hier insbesondere Fragen der richtigen diagnostischen Einordnung, der Einschatzung des Behandlungsbedarfs und der therapeutischen Mafinahmen sinnvoll. 22.2.2 Integrierte Versorgung Bei der Integrierten Versorgung werden bislang getrennte Behandlungsangebote in einem sektoreniibergreifenden und ambulant-stationar kombinierten Konzept zusammengefasst. Mit der verbesserten Koordination und der Orientierung an Leitlinien wird eine ganzheitliche (somatische, psychologische und sozialpsychiatrische verbindende) Behandlung erleichtert und der aktive Einbezug des Patienten gefordert (DGPPN 2005). Fiir den Bereich psychische Erkrankungen sind bislang ca. 10 IV-Projekte realisiert (aktuelle Angaben auf der Homepage der DGPPN). Die rechtliche Grundlage fur IV (Integrierte Versorgung)-Modelle bildet das Sozialgesetzbuch §§140ff SGB V (Ausfiihrungen z.B. in Hahne 2005). Danach konnen die Krankenkassen mit einzelnen Arzten oder anderen Leistungserbringern (Krankenhauser, Reha-Einrichtungen etc.) direkte Einzelvertrage schliefien. Voraussetzung dafur ist, dass die Versorgung interdisziplinar und/oder leistungssektoreniibergreifend erfolgt. Die iibliche Trennung der einzelnen Leistungsbereiche wird so uberwunden. Die Versicherten konnen sich nach Wunsch in die Integrierte Versorgung einschreiben, von der Krankenkasse wird dafur u.U. ein Bonus gewahrt
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(Ballast 2004). Von zentraler Bedeutung in der Integrierten Versorgung sind Klinische Behandlungspfade (clinical pathway). Ein Pfad ist ein „berufsgruppen- und institutionsubergreifenden Konsens fur die beste Durchfuhrung der gesamten (...) Behandlung unter Wahrung festgelegter Behandlungsqualitat, (...) ebenso unter Festlegung der Aufgaben sowie der Durchfuhrungs- und Ergebnisverantwortlichkeiten. Er steuert den Behandlungsprozess" (Roeder 2003). Um den Abschluss von IV-Vertrage fur die Depression zu erleichtern, wurde ein Rahmenkonzept Integrierte Versorgung Depression entwickelt (DGPPN 2005). Dieses Rahmenkonzept beinhaltet eine Aufgabenbeschreibung der einzelnen Akteure und Empfehlungen fur die Regelung der Schnittstellen im Diagnose- und Behandlungsprozess. Teilnehmer sind neben Hausarzten Psychiater, Psychotherapeuten und Fachkrankenhauser und erganzend Rehabilitationseinrichtungen und weitere Berufe wie Ergotherapeuten. Als Aufgaben der hausarztlichen Versorgung werden die diagnostische Einordnung, die Einschatzung des Behandlungsbedarfs und die Einbeziehung anderer Akteure in defmierten Situationen genannt. Fur den Patienten erfolgt der Zugang, d.h. die Einschreibung in das Netz, in der Regel uber den Hausarzt. Dieser kann bei leichten bis mittelschweren Depressionen die medikamentose Behandlung ubernehmen; weiterhin koordiniert er die unterschiedlichen Schritte, wenn sich der Patient durch ihn in das System eingeschrieben hat. Alle Akteure verpflichten sich zur leitlinienorientierten Behandlung und zur Vernetzung ihrer Aktivitaten sowie zur Einhaltung von Dokumentationsvereinbarungen und weiteren Qualitatssicherungsmafinahmen. Der Patient seinerseits erklart sich dazu bereit, sich nur von den Beteiligten des vertraglich verbundenen Versorgungsnetzes behandeln zu lassen. Erste Vertrage zur Integrierten Versorgung von depressiv Erkrankten in Deutschland sind kurzlich abgeschlossen worden. Ein Vertragmodell sieht z.B. eine Behandlung in funf Modulen vor, die Einschreibung, die fur ein Jahr erfolgt, ist im Prinzip auf der Ebene jedes Moduls moglich. Module konnen parallel stattfinden. Modul 1 bezeichnet die ambulante haus- und facharztliche Versorgung und beinhaltet die Behandlungseinleitung und engmaschiges Monitoring. Modul 2 umfasst verschiedene, taglich stattfindende Therapieangebote wie Gruppenpsychotherapie etc., Modul 3 ist die vollstationare Behandlung, Modul 4 die tagesklinische und Modul 5 be-
Behandlungspotenziale in der allgemeinarztlichen Versorgung 411 steht in einer Therapiegruppe speziell fur chronische Verlaufe (DAK 2005). Ergebnisevaluationen dieser neuen Betreuungsform fur depressiv Erkrankte gibt es aus Deutschland bislang nicht. 22.2.3 Case Management Case Management ist ein konkreter Ansatz zur Optimierung der Versorgung von chronisch kranken Patienten, z.B. in der hausarztlichen Praxis. Mittels eines strukturierten Monitorings sichert es die Kontinuitat der medizinischen Behandlung ( Von Korff 2001). Es ist ein situationsgeleitetes und kontinuierliches Betreuungsangebot an den Patienten. Es soil erreichen, dass Verschlechterungen der Patientensituation verhindert oder fruh erkannt werden. (Ferguson 1998). Case Management will ein Vorgehen sein, dass fur den einzelnen Patienten Transparenz, Abstimmung und Bewertung aller gesundheitsbezogenen Aktivitaten und ihrer Ergebnisse schafft. Individuelle rationale Steuerung und durchgehend vernetzte Koordination der Behandlung konnen hier als „Integrierte Versorgung fur den Einzelfall" verstanden werden (Wendt 2005). Es kann als eine konkrete Anwendung sowohl innerhalb solcher Programme als auch unabhangig von ihnen unmittelbar in der alltaglichen Versorgungspraxis umgesetzt werden. Der Begriff Case Management wurde bereits um 1850 in der Sozialarbeit entwickelt (Ward 1997, Wendt 2002). Seit den 1960er Jahren wird Case Management in der gemeindenahen Versorgung (community based) psychiatrischer Patienten angewandt; weitere aktuelle Anwendungen finden sich in der ambulanten Langzeitversorgung von geriatrischen Patienten (Barnabei 1998) oder zur koordinierten Krankenhausentlassung (Naylor 1999). Am „National Committee for Quality Assurance" (NCQA, USA) wurde eine umfassende Definition entwickelt: „Das Case Management (CM) ist ein Bundel von Leistungsangeboten zur Koordinierung der Versorgung und Nachsorge (follow-up) von Patienten mit ernsthaften oder chronischen Erkrankungen, um sicherzustellen, dass die Versorgung den Anforderungen evidenzbasierter Leitlinien entspricht. (...) CM-Leistungsangebote schliefien ein: die Erhebung von Patientenbedurfnissen in den verschiedenen Gesundheitsbereichen (biologisch, psychologisch, sozial), schriftliche Versorgungsplane (...), eine systematische Nachsorge, Hilfestellung zur
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Eigenverantwortung (Self-Management) sowie eine regelmafiige, dem Bedarf entsprechende Uberpriifung der Behandlungsplane" (NCQA 2002). Folgende funf Komponenten sind fur das Case Management mafigeblich (Norris 2002): (1) Identifikation: Zu klaren ist der Zugang fur die Nutzer. Patienten mit besonders hohem Behandlungsbedarf, die also vom Case Management profitieren konnen, sind zu identifizieren und auszuwahlen. (2) Assessment: Die Klarung der Problemlage ist eine umfassende Bedarfsfeststellung aller individuellen Patientenbediirfnisse und des sich ergebenden Behandlungsbedarfs. (3) Planung: Die Gesamtplanung beruht auf einer Zielvereinbarung mit dem Patienten, die sich auf festgelegte Absprachen zum klinischen Vorgehen und Therapiezielen stiitzt. (4) Koordination: Die abgestimmte und durchgehende Vernetzung der Akteure dient der Realisierung des Behandlungsplans bei moglichst geringen „Reibungsverlusten" insbesondere an den Sektorgrenzen der Versorgung. (5) Monitoring: Die Begleitung der Behandlungsprozesse, die kontinuierliche Beobachtung der Ergebnisse durch ein vorausschauendes Praxisteam ermoglicht die rechtzeitige Veranlassung indizierter Mafinahmen fur den Patienten. Im ..Standard Case Management" stellt der Case-Manger, z.B. eine Krankenschwester, die zum Case Manager fortgebildet wurde, den Bedarf des Patienten fest, ermittelt die Unterstutzungsmafinahmen und koordiniert die langfristige Behandlung (Moore 1990). Klinisch besser ausgebildet konnen die Case Manager auch weitere Aufgaben ubernehmen: Psychoedukation, Forderung der Alltagskompetenzen, Beratung der Angehorigen und Monitoring der Erkrankung bzw. rechtzeitiges Einleiten indizierter Mafinahmen (Harris 1988). Im „Starken-Modell" bzw. „komplexen" Case Management wird „Starken" im doppelten Sinne gebraucht: Im Sinne einer Intensivierung der Mafinahme und im Sinne einer Anknupfung an die Starken (Ressourcen), also an die individuellen Patientenkompetenzen bzw. an die des sozialen Umfeldes (Rapp 1993). Stand vorher die Koordination der Hilfeleistungen im Vordergrund, werden nun Hilfen fur alle Lebensbereiche, soweit moglich, durch den interdisziplinar ausgebildeten Case Manager angeboten (Thompson 1991).
Behandlungspotenziale in der allgemeinarztlichen Versorgung 413 Verschiedene Ubersichtsarbeiten zu den Effekten von Case Management fur Patienten mit psychischen Erkrankungen (Schizophrenic, Angststorungen, Depressionen) liegen vor. Ihre z.T. sehr unterschiedlichen Ergebnisse beruhen u.a. auf einer Heterogenitat der Interventionen und der jeweils eingeschlossenen Patienten (Mueser 1998, Marshall 2002, Ziguras 2000). Aktuelle narrative Reviews weisen auf positive Effekte fur Patienten mit Depression hin (von Korff 2001, Gilbody 2003). Eine Metaanalyse bezuglich der Frage der Effektivitat von Case Management fur Patienten mit Major Depression in der hausarztlichen Versorgung ergab moderate Effekte auf die Symptomentwicklung, Response, Remission und die Therapietreue iiber 6 bis 12 Monate (Gensichen 2005). Gleichzeitig ergeben internationale Studien, dass die Kosten je QUALY (lebensqualitatsadjustierte Lebensjahre) dieser Interventionsform unter denen der jeweiligen Regelversorgung liegen (Pirraglia 2004), die Intervention ist also unter Beriicksichtigung der Lebensqualitat kostengunstiger. Die Effektivitat von Case Management fur Depression in deutschen Hausarztpraxen wird derzeit uberpruft (PRoMPT-Projekt; Gensichen 2004). Nach diesem Konzept werden vom Hausarzt Patienten mit einem besonderen Unterstutzungsbedarf identifiziert. Geschulte Arzthelferinnen in der Praxis nehmen regelmafiig mit den ihnen bekannten Patienten Kontakt auf, um in einer strukturieren Form den Zustand und den aktuellen Bedarf zu erfragen. Eine formalisierte Kommunikation mit dem Hausarzt erleichtert die Veranlassung weiterer Mafinahmen. Mogliche Problembereiche fur das Case Management konnen Erfahrungen aus Studien zur interdisziplinaren Zusammenarbeit von arztlichem und nichtarztlichem Personal in Deutschland aufzeigen. In der ambulanten psychiatrischen Versorgung liegt die patientenseitige Akzeptanz von Sozialarbeitern bzw. die Bereitschaft zur Annahme ihrer gesundheitlichen Hinweise deutlich unter der der Arzte (Bochnik 1990). Die Akzeptanz der Arzthelferinnen in deutschen Hausarztpraxen ist bislang nicht untersucht. Nur ein an interdisziplinarer Zusammenarbeit und kooperativer Arbeitsteiligkeit orientiertes Praxisteam kann bei den Patienten das notwendige Vertrauen in eine kompetente medizinische Versorgung im Rahmen von Case Management entwickeln.
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22.3
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Auswirkungen strukturierter Versorgungsmodelle und Ausblick
Die Etablierung von Formen strukturierter Versorgung hat unterschiedliche Auswirkungen auf die Hausarztpraxis und den Patienten. Sowohl Case- und Disease Managements als auch Vertrage zur Integrierten Versorgung, die eine zentrale Funktion des Hausarztes nutzen, haben fur die Patienten deutliche Vorteile gegeniiber den aktuellen Versorgungsstrukturen: (1) Das wohnortnahe ambulante Angebot ermoglicht betroffenen Patienten eine niedrigschwellige und kontinuierliche Behandlung der chronischen Depression. (2) Durch die verbesserte Kooperation mit niedergelassenen Psychiatern bzw. Psychotherapeuten kann die Behandlung auch fur den Depressionspatienten zeiteffektiver gestaltet werden (Telford 2002). Durch die Anwendung von evidenzbasierten Leitlinien/Versorgungspfaden fur Diagnose und Therapie konnen die Patienten eine optimierte Abstimmung der Therapiebausteine und eine Verbesserung des Behandlungsergebnisses erwarten. (3) Die in alien Formen der strukturierten Versorgung enthaltenden patientenaktivierenden Elemente (krankheitsbezogenes Selbst-Management, Psychoeduktion, etc.) ermoglichen zusatzliche Handlungsoptionen fur einen souveraneren Umgang des Patienten mit seiner Erkrankung (Ludman 2003). Nachteilige Auswirkungen dieser neuen Versorgungsformen auf den Patienten konnen in folgenden Aspekten gesehen werden: (1) Die Strukturierung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung durch gesetzliche bzw. vertragliche Regelungen konnen Patienten als sog. „kritischen Konsumenten" einschranken. Als ein besonderer Ausdruck der Patientensouveranitat ist die in Deutschland gesetzlich garantierte „freie Arztwahl" (§ 76 SGB V) zu sehen. Einer neuen Umfrage zufolge (Nolting 2005) wird die freie Arztwahl als „essenzieU" bewertet. Die Teilnahme eines Patienten an den o.g. Versorgungsformen kann nur auf seiner streng freiwilligen Zustimmung beruhen. (2) Die Hinzunahme von weiteren Akteuren wie Arzthelferinnen in die Behandlung von Patienten mit Depression kann das bestehende Vertrauensverhaltnis zwischen behandelndem Arzt und Patient gefahr-
Behandlungspotenziale in der allgemeinarztlichen Versorgung 415 den. Eine fur den Patienten transparente Aufgabenteilung ist hier ein entscheidender Faktor der Stabilisierung. Disease Management, integrierte Versorgung und Case Management und die damit einhergehende Neuorganisation der hausarztlichen Praxis stellen den Arzt und sein Team vor grofie Herausforderungen: (1) Die Nutzung evidenzbasierter Leitlinien, die Optionen fur Wirksamkeit, Akzeptanz, Praktikabilitat und Kosten aufzeigen starkt die Kompetenz des Hausarztes fur eine psychiatrische Erkrankung mit hoher Pravalenz. (Harter 2003) (2) Die Veranderungen in der Praxisstruktur mit Nutzung von Informationstechnologien, von Patientenregistern, strukturierten Monitorings bzw. Wiedereinbestellung bis hin zu Patientenschulung sowie die systematische Qualifizierung von Arzthelferinnen tragen zu einer Professionalisierung der hausarztlichen Praxis bei (Szecseny 2003) und verbessern o.g. Defizite in der Behandlung von Patienten mit Depression. Gleichzeitig gehen diese Neustrukturierungen mit organisatorischen, zeitlichen und fmanziellen Belastungen fur die Praxen einher, fur die oft noch keine adaquaten Vergiitungsregelungen vorliegen. Die Veranderung bisheriger Aufgaben und Funktionen in der Hausarztpraxis fiihrt zu neuen Rollenverstandnissen. Der traditionelle Hausarzt stand in isolierter Tatigkeit unterstiitzt - von medizinischen Hilfspersonal - in der eigenen Praxis dem „dankbaren" Patienten Tag und Nacht zur Verfugung. Heute und kunffig zunehmend steht das Praxisteam mit transparenten Aufgabenteilungen einem z.T. umfassend informierten bzw. „kritischen Konsumenten", mit dem Bediirfnis nach aktiver Beteiligung an seinen gesundheitlichen Belangen, gegeniiber. Stand in der Diskussion iiber neue Behandlungsoptionen fur Patienten mit Depression zunachst die Kostenreduktion fur eine Erkrankung mit derzeitig extrem hohen gesundheitlichen Kosten im Vordergrund, ist heute die Qualitatsverbesserung der Behandlung auch in Deutschland das primare Ziel der strukturierten Versorgung. „Gute Qualitat (...) ist das Ergebnis eines kontinuierlichen Bestrebens zur Verbesserung aller Teilprozesse durch alle Beteiligten" (Gerlach 2001). 22.4
Ausblick: Das Chronic Care Modell
Als Weiterfiihrung der oben genannten Modelle zur strukturierten Versorgung ist das Chronic Care Modell von Wagner (1999) zu betrachten.
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Das Modell fasst den aktuellen wissenschaftlichen Stand zur Qualitatsverbesserung in der Behandlung von Patienten mit chronischen Erkrankungen zusammen. Die Uberwindung der bestehenden Defizite bedeutet (als Maximalforderung) eine grundsatzliche Umorientierung einer derzeit primar reagierenden Krankenversorgung hin zu einem vorausschauenden (pro-aktiven) Behandlungsansatz. Die essenziellen Einflussgrofien des Modells sind in der folgenden Abbildung zusammengefasst (Wagner 1999):
Functional and Clinical Outcomes Abb. 22.1: Chronic Care Modell (Wagner 1999)
Funktionelle und klinische bessere Ergebnisse werden in diesem Modell erreicht, wenn aktivierte Patienten und vorausschauende (pro-aktive) Praxisteams in eine stimmige und produktive Interaktion zu den gesundheitlichen Fragen des Patienten treten. Dies kann sowohl durch Rahmenbedingungen des Gesundheitswesen (z.B. finanzielle Anreize) als auch durch lokale Gemeinderessourcen (z.B. Selbsthilfe) untersttitzt werden. Hinzu
Behandlungspotenziale in der allgemeinarztlichen Versorgung 417 kommen organisatorische und strukturelle Mafinahmen, z.B. Einfiihrung von Entscheidungshilfen oder auch Spezialsprechstunden fiir bestimmte Indikationen. Schliefilich bereitet die Patientenschulung mit Focus auf Self-Monitoring und Self-Management den Patienten auf seine neue Rolle als zentraler Entscheidungstrager seiner Erkrankung vor.
Die Depression ist eine Erkrankung mit hoher Pravalenz in der hausarztlichen Praxis. • Eine Optimierung der Versorgung Depressiver in der hausarztlichen Versorgung soil durch strukturierte Angebote ermoglicht werden. Hierzu zahlen: • Disease Management: Die Wirksamkeit fiir Depression ist international nicht gesichert, Disease Management ist in Deutschland fur Depression noch nicht implementiert. Integrierte Versorgung: Erste Vorhaben fiir Depression befinden sich in Deutschland in der Friihphase. Case Management: Die Effekte sind fiir Depression international nachgewiesen. In Deutschland ist ein Case Management fiir Depression derzeit in Erprobung. Das Chronic Care Modell bietet eine Perspektive fur eine weitergehende Umorientierung in der Versorgung fiir Patienten mit chronischen Erkrankungen hin zu einem vorausschauenden Behandlungsansatz.
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Kapitel 23
23
Behandlungspotenziale in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung
Michael Linden, Berlin
23.1
Das gestufte Versorgungsangebot fur die Behandlung depressiver Patienten
Das Gesundheitswesen in Deutschland ist fachlich hoch entwickelt und entsprechend differenziert. Fur die Behandlung depressiver Patienten stehen je nach Art, Schwere oder Chronizitat unterschiedliche Behandler zur Verfugung, mit unterschiedlichen Behandlungsangeboten, unterschiedlichen Ausstattungen, unterschiedlichen therapeutischen Interventionsmoglichkeiten, unterschiedlichen Kosten und unterschiedlichen Anforderungen an den Patienten. Im Einzelfall stellt sich die Frage, wann ein Patient wo optimal, aber auch mit dem geringsten Aufwand behandelt werden kann. Als Ordnungsrahmen bietet sich ein Stufenmodell der Versorgung (Helmchen und Linden 2000) an, das in Tabelle 23.1 zusammenfassend dargestellt ist. Je nach Situation konnen depressive Storungen adaquat im Rahmen der Selbsthilfe behandelt werden, oder durch Hausarzte oder aber auch durch verschiedene Fachtherapeuten, die im ambulanten oder stationaren Setting arbeiten. Die Fachbehandlung ist dementsprechend in Konkurrenz und Komplementaritat zu den sonstigen Behandlungsoptionen zu sehen.
Michael Linden, Berlin
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Tab. 23.1: Einordnung der fachtherapeutischen Versorgung in ein StufenmodeU der Behandlung depressiver Erkrankungen (modif. n. Helmchen u. Linden 2000) Art der Versorgung
Akutmedizin
Rehabilitationsmedizin
Selbsthilfe und vorprofessionelle Unterstutzung
auf Spontanremission warten Beratung und Unterstutzung durch Freunde Lebensstil andern (Schlaf, Aktivitaten) angemessene Selbstmedikation
Lebensstil anpassen (Freunde, Aktivitaten, Beruf) Unterstutzung durch Familie und Freunde
Primarmedizinische Behandlung
diagnostische Abklarung Beratung und Patientenfuhrung angemessene Medikation und Dosierung
jahrelange Beratung und Patientenfuhrung Langzeitmedikation
Arzte fur Psychiatrie und Psychotherapie oder Arzte fur Psychotherapeutische Medizin und Psychotherapie
diagnostische Uberprufung Optimierung von Medikation und Dosis Hilfe bei der aktuellen Belastungsbewaltigung
diagnostische Uberprufung Anpassung der Langzeitmedikation Langzeitunterstutzung und -fuhrung strukturierte Psychotherapie
Richtlinienpsychotherapie durch Arzte fur Psychiatrie und Psychotherapie, Arzte fur Psychotherapeutische Medizin und Psychologische Psychotherapeuten Stationare Behandlung
23.2
zielorientierte intervallare Intervention Anderung depressionsfordemder Einstellungen Verarbeitung depressionsfordemder Erfahrungen Aufbau depressionsprotektiver Kompetenzen Schutz vor Selbstschadigung Milieu-Therapie intensivierte Diagnostik and Behandlung
Milieu-Therapie intensivierte Diagnostik and Behandlung zur Klarung von Chronifizierungsbedingungen Unterstutzung bei der Krankheitsbewaltigung Einleitung von Mafinahmen zur Teilhabe am sozialen und berufiichen Leben
Spezialisten fur die Behandlung depressiver Patienten
Depressive Erkrankungen werden in der Mehrheit der Falle von Arzten fiir Allgemeinmedizin behandelt (Linden et al 1996, Linden 2001, 2004). Die
Behandlungspotenziale in der psychiatrischpsychotherapeutischen Versorgung
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fachspezifische Kompetenz zu ihrer Behandlung liegt jedoch bei den Facharzten und Fachpsychotherapeuten fur psychische Erkrankungen. Hierzu gehoren in Deutschland die „Facharzte fur Nervenheilkunde", die „Facharzte fur Psychiatrie", die „Facharzte fur Psychiatrie und Psychotherapie", die „Facharzte fiir Psychotherapeutische Medizin (zukiinftig: Facharzt fiir Psychosomatik und Psychotherapie)" und die „Psychologischen Psychotherapeuten". Der Arzt fur Nervenheilkunde bzw. Facharzt fiir Neurologie und Psychiatrie hat nach den Vorgaben der Weiterbildungsordnungen der Arztekammern eine sechsjahrige Weiterbildung absolviert, mit jeweils drei Jahren in der Neurologie wie der Psychiatrie. Er deckt damit das gesamte nervenarztliche Spektrum ab. In der Praxis arbeiten diese Arzte besonders in landlichen Gebieten als Generalisten auf dem nervenarztlichen Gebiet, in stadtischen Regionen haben sie in der Regel einen eher neurologischen oder psychiatrischen Arbeitsschwerpunkt. Die Arzte fur Psychiatrie haben eine Weiterbildung in Psychiatrie ohne eine spezielle psychotherapeutische Weiterbildung. Beide vorgenannten Facharztgruppen werden nach der neuen Weiterbildungsordnung von 2004 zukiinftig durch den Facharzt fiir Psychiatrie und Psychotherapie abgelost werden. Dieser Facharzt hat eine Weiterbildung von fiinf Jahren, darunter ein Jahr in der Neurologie und eine strukturierte Weiterbildung in einem wissenschaftlich anerkannten Psychotherapieverfahren. Dazu gehort u.a. die Durchfuhrung von 240 Stunden Psychotherapie unter Supervision, 150 Stunden Selbsterfahrung, 35 Stunden Balintarbeit und 100 Stunden Theorieseminare. Der Arzt fur Psychotherapeutische Medizin, bzw. nach der neuen Weiterbildungsordnung Arzt fur Psychosomatik und Psychotherapie, hat ebenfalls eine funfjahrige Weiterbildung absolviert, darunter ein Jahr Psychiatrie und ein Jahr innere Medizin. Seine psychotherapeutische Weiterbildung umfasst 1500 Behandlungsstunden unter Supervision, darunter mindestens 10 ambulante Behandlungen von 50 Stunden Dauer, 150 Stunden Selbsterfahrung, sowie 240 Stunden Theorie. Sowohl die Arzte fur Psychiatrie und Psychotherapie wie die Arzte fur Psychosomatik und Psychotherapie miissen sich im Rahmen ihrer Weiterbildung auch mit den biologischen Aspekten psychischer Storungen und somatomedizinischen und pharmakotherapeutischen Behandlungsmoglichkeiten vertraut machen. Sie sind damit beide zur Behandlung depressiver Erkrankungen jeder Art befahigt unter Anwendung mehrdimensiona-
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ler Behandlungen mit Somatotherapie, Pharmakotherapie, Psychotherapie und Soziotherapie. Beide Facharzte konnen auch Richtlinienpsychotherapien durchfuhren, wobei die Arzte fur Psychotherapeutische Medizin die umfangreicheren Erfahrungen in der klassischen „grofien" Psychotherapie haben. Die Psychologischen Psychotherapeuten haben nach dem Hauptdiplom in Psychologie eine dreijahrige klinische Ausbildung in einem wissenschaftlich anerkannten Psychotherapieverfahren an einer staatlich anerkannten Weiterbildungsstatte absolviert, davon 18 Monate in einer psychiatrischen und ggfls. auch psychosomatischen Klinik. Sie mussen unter Supervision 600 Stunden psychotherapeutische Behandlungen und 120 Stunden Selbsterfahrung ableisten. Sie sind damit wie die Facharzte zur Erbringung von ,,Richthnienpsychotherapien" befahigt. Sie konnen allerdings keine korperlichen Behandlungen, keine Pharmakotherapie und auch keine Soziotherapie erbringen, d.h. beispielsweise keine Arbeitsunfahigkeitsbescheinigung ausstellen oder nicht in ein Krankenhaus einweisen. Daher ist den Psychologischen Psychotherapeuten gesetzlich vorgeschrieben, bei alien BehandlungsfaUen mit einem Arzt zusammenzuarbeiten.
23.3
Die akut- und rehabilitationsmedizinische Versorgung depressiver Patienten
Eine im Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland zunehmend wichtiger werdende Differenzierung ist die Unterscheidung zwischen der akutmedizinischen und rehabilitationsmedizinischen Versorgung. Wahrend der Auftrag der Akutmedizin die Behandlung von Krankheitsepisoden ist, kann die Rehabilitationsmedizin als medizinische Spezialdisziplin fur die Behandlung chronischer Erkrankungen bzw. die Behandlung von Krankheitsentwicklungen definiert werden. Nach § 2 Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) hat die medizinische Rehabilitation solche Menschen zu versorgen, deren „seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit langer als sechs Monate von dem fur das Lebensalter typischen Zustand abweicht und deren Teilhabe am Leben in der Gesellschaft daher beeintrachtigt ist..., bzw. wenn eine Beeintrachtigung zu erwarten ist". Depressive Erkrankungen werden in der Regel als episodische Erkrankungen angesehen, d.h. depressive Stimmungseinbruche dauern Tage bis Monate und klingen dann meist spontan wieder ab. Allerdings haben Studien gezeigt, dass etwa bei einem Drittel der depressiven Patienten keine Vollremission eintritt, sondern trotz fachgerechter Behandlung eine persistie-
Behandlungspotenziale in der psychiatrischpsychotherapeutischen Versorgung
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rende Restsymptomatik bestehen bleibt (Hirschfeld et al 2002). Desweiteren gilt fur depressive Erkrankungen, dass sie rezidivierender Natur sind. Wenn depressive oder manische Episoden in kiirzeren Abstanden auftreten, dann muss auch in diesen Fallen von einer Dauererkrankung gesprochen werden. Zusammenfassend muss fur depressive Erkrankungen davon ausgegangen werden, dass je nach Definition von Chronizitat etwa 30% bis 50% der Betroffenen unter chronischen Krankheitsentwicklungen leiden und daher rehabilitationsmedizinisch zu behandeln sind (Linden 2003). Die persistierende oder haufiger rezidivierende Symptomatik stellt hohe Anforderungen an den Patienten wegen der erforderlichen Langzeittheapie, der notwendigen Krankheitsbewaltigung, der Anpassung des Lebens an krankheitsbedingte Einschrankung, der Sicherung der Teilhabe am sozialen und/oder berufiichen Leben und der salutotherapeutischen und kompensatorischen Mafinahmen zum Erhalt der Lebensqualitat (vergl. Linden, Kapitel 24, Rehabilitation). Bezuglich persistierender depressiver Erkrankungen hat die medizinische Rehabilitation nach § 26 SGB IX die Aufgabe, solche „chronischen Krankheiten abzuwenden (d.h. Primarprophylaxe), zu beseitigen (d.h. kurative Behandlung), zu mindern (d.h. palliative Behandlung), auszugleichen (d.h. kompensatorische Behandlung), eine Verschlimmerung zu verhuten (d.h. Sekundar- bzw. Rezidivprophylaxe) oder Einschrankungen der Erwerbsfahigkeit und Pflegebedurftigkeit zu vermeiden, zu uberwinden, zu mindern (d.h. Tertiarprophylaxe) oder eine Verschlimmerung zu verhuten (d.h. Progessionsprophylaxe)". Rehabilitationsmedizin umfasst Teile der primar- und facharztlichen Behandlung, sog. „Disease Managment Programme" oder stationare Behandlungen in spezialisierten Rehabilitationskliniken. 23.4
Die Organisation der ambulanten Fachversorgung
Die Organisation der ambulanten facharztlichen und fachpsychotherapeutischen Versorgung in Deutschland unterscheidet sich von vielen anderen Landern wie z.B. England oder Holland (Linden et al 2003, 2004), wo Fachtherapeuten nicht in freier Praxis sondern institutionsgebunden arbeiten. Unbeschadet von Ausnahmen, z.B. fur Privatpatienten, ist eine Behandlung dort durch einen Spezialisten nur moglich, nachdem zuvor der Hausarzt als „Gate keeper (Torwart)" aufgesucht wurde und eine Uberweisung ausgestellt hat. In Deutschland arbeiten hingegen Facharzte wie
Michael Linden, Berlin
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Fachpsychotherapeuten in niedergelassener Praxis. Dies bedeutet, dass jeder Mensch zu ihnen ein „Erstzugangsrecht" hat, d.h. er oder sie kann direkt die Hilfe eines Facharztes oder Psychotherapeuten erhalten, wenn er unter seelischen Problemen leidet, ohne sich zuvor erst einem Hausarzt offenbaren oder sich zunachst eine Behandlung von ihm gefallen lassen zu miissen. Abbildung 23.1 zeigt die Zahlen der niedergelassenen Fachtherapeuten nach den Statistiken der Bundesarztekammer und der Kassenarztlichen Bundesvereinigung.
Niedergelassene Fachtherapeuten in Deutschland
^
A
A 1 14.986\
/ - ^
_ ^ ^ 2.724
>:.,n
• Nervenarzte
W-iX / 2.985
1•
• Psychiater • Psychatrie und Psychotherapie H Psychotherapie • Psychologische Psychotherapeuten
Abb. 23.1: Zahlen fur Facharzte und Psychologische Psychotherapeuten It. Statistik der Bundesarztekammer und Kassenarztlichen Bundesvereinigung 2005 Die grofite Gruppe bilden die Psychologischen Psychotherapeuten (14.986). Die Zahl der Facharzte ist mit 7.916 nur halb so grofi. Sie teilt sich auf in Arzte fur Psychotherapeutische Medizin (2985), Arzte fur Nervenheilkunde (2.724), Arzte fur Psychiatrie (1.311) und Arzte fur Psychiatrie und Psychotherapie (896).
Behandlungspotenziale in der psychiatrischpsychotherapeutischen Versorgung 23.5
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Vergleich Allgemeinarzt-Facharzt
Die hausarztliche Behandlung ist schon aus quantitativen Griinden unumganglich, da nicht vorstellbar ist, dass ca. 5% bis 10% der Bevolkerung, die unter depressiven Stimmungen leiden, fachtherapeutisch zu betreuen waren. Dementsprechend fand sich bei den Erhebungen des Bundesgesundheitssurveys (Wittchen et al 1999, Wittchen und Jacobi 2001), dass depressive Personen im Mittel wahrend des vergangenen Jahres 14,5 Kontakte zu Hausarzten, aber nur 1,4 zu Nervenarzten/Psychiatern hatten (Abbildung 23.2). Dieses Verhaltnis von 1:10 entspricht in etwa dem Verhaltnis von 7.916 niedergelassenen psychiatrischen und psychosomatischen Facharzten zu 60.529 niedergelassenen Allgemeinarzten und Internisten.
16,0 14,0 12,0
* 10,0 «0 W
8,0
1
6,0
4,0 2,0 0,0 Hausarzt/Internist
Psychiater
Psychotherapeut
Abb. 23.2.: Anzahl von Kontakten depressiver Menschen zu Allgemeinarzten/Internisten, zu Nervenarzten/Psychiatern und zu Psychotherapeuten wahrend der letzten 12 Monate nach Erhebungen des Bundesgesundheitssurvey (Wittchen et al 1999, Wittchen und Jacobi 2001) Es gibt eine Reihe umfangreicher Untersuchungen zu psychischen Erkrankungen und auch depressiven Storungen in der hausarztlichen Praxis (Wittchen 2000, Linden et al 1996, 2000, Linden 2001, 2004). Hausarzte behandeln Ersterkrankungen, rluktuierende Storungen, leichtere Storungen, aber auch lebenslange Erkrankungen. Es gibt jedoch nur wenige ver-
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gleichende versorgungsepidemiologische Daten zu Patienten in der hausarztlichen, facharztlichen und stationaren Versorgung. Im Rahmen von bundesweiten Anwendungsbeobachtungen zu Fluoxetin und Sertralin (Dittmann et al 1997, Linden et al 2000) konnten unter Einschluss einer grofien Zahl von Arzten und Patienten Daten erhoben werden zu der Frage, welche Art von depressiven Patienten durch AUgemeinarzte und welche durch Nervenfacharzte behandelt werden. Diese Daten sind nicht im engeren Sinne epidemiologisch reprasentativ, sind jedoch die einzigen, die verfugbar sind. Es fanden sich erwatungsgemafi eine Reihe von Unterschieden (Tabelle 23.2).
Tab. 23.2.: Allgemeinarztlich und nervenarztlich behandelte depressive Patienten im Vergleich (Linden et al 2000) Nervenarzte Anzahl der Arzte 516 Anzahl der Patienten 1881 Alter der Patienten (Jahre) 50,4 (14,0) Ersterkrankungsalter (Jahre) 43,5 (14,6) Episodendauer (Wochen) 17,7 (37,9) Frauen (%) 66,6 Ersterkrankungen (%) 45,5 Leitsymptom Hemmung (%) 46,6 Leitsymptom Agitation (%) 24,5 Leitsymptom Angst (%) 49,9 Haufigste Diagnosen (%) - Endogene, bisher nur monopolare Depressionen (ICD-Code 296.1) 35,9 - Neurotische Depressionen (ICD-Code 300.4) 26,5 - Anderweitig nicht klassifizierbare depressive Zustandsbilder (ICD-Code 311) 24,6 Schweregrad der Erkrankung (%) Leicht 4,2 Mittel 68,3 27,2 Schwer 34,3 Keine Vorbehandlung (%) Medikamentose Vorbehandlung (%) 66,7 Davon (%): 10,2 - Benzodiazepine - TZA 63,2 8,8 - Neuere AD - MAO-Hemmer 2,1 - Johanniskraut 13,0 | umfassende Besserung It CGI 57,7 *Alle Zahlen-Angaben beziehen sich auf nicht-fehlende Werte.
Allgemeinarzte 1144 3573 54,6 (14,3) 50,7 (14,5) 8,1 (15,2) 73,0 65,7 43,6 17,2 59,9
p-Wert
<0.001 <0.001 <0.001 <0.001 <0.001 0.035 <0.001 <0.001
26,4 26,8 39,5 <0.001 5,5 71,6 22,7 51,4 48,6 17,0 41,2 3,9 1,6 33,7 78,4
<0.001
<0,001
Behandlungspotenziale in der psychiatrischpsychotherapeutischen Versorgung
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Die Facharzte behandeln Patienten mit langerer Episodendauer, d.h. chronischere Erkrankungen (Episodendauer 17,7 vs. 8,1 Wochen, antidepressive Vorbehandlung 66% vs. 49%), die auch einen schlechteren Behandlungserfolg bei gleicher Therapie zeigen (umfassende Besserung 57,7% vs. 78,4%). Ihre Patienten leiden eher unter einem gehemmten bzw. agitierten Bild im Sinne endomorpher Storungen wahrend bei den Allgemeinarzten angstlich gepragte depressive Syndrome vorherrschen, die diagnostisch in 39.5 % auch nur syndromal eingeordnet werden. 23.6
Die Uberweisung vom Allgemeinarzt zum Facharzt
Fur die Zusammenarbeit zwischen Hausarzt und Facharzt haben Williams & Clare (1986) drei Modelle beschrieben. Das Uberweisungsmodell sieht den Allgemeinarzt als Primarbehandler, der Patienten je nach Art der Stoning zur Mit- und Weiterbehandlung an den Facharzt weiterschickt. Das Konsiliarmodell sieht die Therapie eines Patienten nahezu ausschliefilich in der Hand des Allgemeinarztes, der den Patienten in schwierigen Fallen dem Facharzt zur Abklarung und Beratung hinsichtlich der weiteren Therapie vorstellt oder sich fur Teilaspekte der Hilfe auch sonstiger Berufsgruppen wie z.B. Sozialarbeiter oder Psychologen bedient. Nach dem Substitutionsmodell ist der Facharzt als Primararzt fur die in sein Gebiet fallenden Storungen anzusehen und wird auch direkt von Patienten aufgesucht, wenn sie unter entsprechenden Storungen leiden. In Deutschland konnen alle drei Modelle angetroffen werden. Es liegt nicht zuletzt aber auch am Patienten oder am Hausarzt, welche Kooperationsform gewahlt wird. Als Indikationen fur die Uberweisung eines Patienten vom Allgemeinarzt zum Facharzt gelten nach Helmchen (1991) a) Zweifel an der psychiatrischen Diagnose und differentialdiagnostische Probleme bei Multi- und Komorbiditat, b) Schwere der Erkrankung und drohende Komplikationen wie z.B. Suizidalitat, c) Dauer der Stoning, Chronifizierung und Therapieresistenz, d) erforderliche Langzeitmedikation, e) unerwiinschte Arzneimittelwirkungen, f) spezielle Psychotherapie. In einer Studie von Schulberg et al. (1995) zu depressiven Erkrankungen in primararztlicher Versorgung wurde in einer mehrstufigen Untersuchung gefunden, dass von 283 depressiven Patienten 70% vom Allgemeinarzt behandelt werden konnen, 13% zu einem Psychiater uberwiesen werden sollten und dass bei 17% andere Storungen mit anderen Behandlungserfordernissen vorlagen.
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Praxiserhebungen zeigen, dass die Rate der Uberweisungs- und/oder Mitbehandlung hausarztlicher Patienten an/durch einen Nervenarzt etwa bei 1% bis 2% des Praxisklientels liegt, wobei es allerdings grofie Unterschiede zwischen verschiedenen Allgemeinarztpraxen aber auch zwischen Regionen gibt. Faktoren, die eine Uberweisung fordern, sind einschlagige Vorbehandlungen, Primarklagen des Patienten iiber seine psychische Verfassung, soziale Probleme und eine einschlagige Diagnose des Hausarztes. Letztere hat aber eine geringere Bedeutung als die Primarklagen der Patienten. Andererseits behindern korperliche Erkrankungen eine Uberweisung. Auch altere Patienten haben eine Tendenz, bei ihrem Hausarzt zu bleiben und nicht noch zusatzlich einen weiteren Arzt wie z.B. einen Psychiater aufzusuchen. Als weitere Faktoren kommen arztseitige Variablen hinzu. Hausarzte iiberwiesen haufiger, wenn sie fur sich selbst eine eher auf die Behandlung korperlicher Storungen begrenzte Aufgabenbeschreibung haben oder sich aus Kompetenzgriinden als nicht zustandig ansehen. Schliefilich hangt eine Uberweisung auch von organisatorischen Faktoren wie der Struktur, Nahe und Verftigbarkeit des facharztlichen Angebots ab (Gastpar 1984, Geiselmann & Linden 1989, Arreghini et al. 1991, Verhaak 1993, Carey et al. 1994, Helmchen et al 1999, Linden 2001,2004). Es ist eine empirisch zu klarende Frage, wann durch eine Uberweisung auch ein besserer klinischer Effekt erreicht werden kann. Nach den vorliegenden Untersuchungen ist nicht ohne weiteres selbstverstandlich, dass die Art depressiver Storungen, die die Mehrzahl in der Allgemeinarztpraxis ausmachen, in jedem Fall durch Facharzte besser behandelt werden konnten, als durch den Hausarzt selbst. Jenkins & MacDonald (1994) haben 65 altere depressive Patienten, die sie im Rahmen eines Screeningprogramms in Allgemeinarztpraxen herausgefunden haben, per Zufall entweder iiber 9 Monate von einem multiprofessionellen psychogeriatrischen Team oder unverandert vom Allgemeinarzt weiterbehandeln lassen. Im Ergebnis fanden sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. In einer Studie von Katon et al. (1992) wurden die Patienten von 18 Allgemeinarzten, die in der Vergangenheit besonders viel arztliche Zuwendung in Anspruch genommen hatten, zur Halfte randomisiert einem psychiatrischen Konsil zugefuhrt. Nach sechs Monaten fand sich bei den iiberwiesenen Fallen ein signifikanter Anstieg der Antidepressivaverordnungen, jedoch keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich des psychopathologischen Zustands, des Behinderungsgrads oder der weiteren Inanspruchnahme arztlicher Leistungen. In einer Studie von Scott & Freeman (1992) wurden 121 Patienten randomisiert entweder einem Psychiater,
Behandlungspotenziale in der psychiatrischpsychotherapeutischen Versorgung
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einem psychologischen Verhaltenstherapeuten, einem Sozialarbeiter oder einer ausschliefilich allgemeinarztlichen Therapie zugewiesen. Unabhangige Untersucher fanden nach vier und sechzehn Wochen bei alien Patientengruppen deutliche Besserungen, jedoch keine relevanten Unterschiede zwischen den Behandlungsgruppen. Allerdings verursachte die Behandlung durch die Spezialisten im Vergleich zum Hausarzt ein Vierfaches an Aufwand und ein Doppeltes an Kosten. Die Patienten waren mit der psychologischen Therapie und vor allem der sozialarbeiterischen Betreuung am zufriedensten (Scott & Freeman 1992; Scott et al. 1994). Von einer undifferenzierten Uberweisung aller psychisch Kranken vom Hausarzt zum Facharzt kann also nicht zwingend ein besserer Erkrankungsverlauf erwartet werden. Stattdessen sollten die bereits genannten Kriterien von Helmchen (1991) als praktikable Richtschnur dienen, was auch durch empirische Untersuchungen gesttitzt wird. In einer Studie von Katon et al. (1995) wurden depressive Patienten randomisiert einer psychiatrischen Mitbehandlung zugefuhrt. Die Interventionspatienten erhielten in der Folge signifikant mehr Antidepressiva. Beim Vorliegen einer "Major Depression" zeigte sich ein signifikant besserer Erkrankungsverlauf bei den facharztlich behandelten Patienten, wahrend die Besserungsrate bei "Minor Depression" in der Interventions- wie Kontrollgruppe gleich war. Eine Uberweisung vom Allgemeinarzt zum Facharzt setzt also eine Patientenselektion voraus. 23.7
Patienten in ambulanter Richtlinienpsychotherapie
Nach den Statistiken der Kassenarztlichen Bundesvereinigung stellen die Psychologischen Psychotherapeuten 78% der vollberuflich tatigen Richtlinienpsychotherapeuten. Zu den 22% der vollberuflichen Psychotherapeuten, die Arzte sind, kommt nochmals eine etwa gleichgrofie Zahl an Arzten, die vereinzelt Richtlinienpsychotherapien erbringen. 40% der Richtlinienpsychotherapeuten arbeiten mit einem verhaltenstherapeutischen und 60% mit einem psychodynamischen, d.h. tiefenpsychologischen und/oder psychoanalytischenMethodenschwerpunkt. In der Regel erhalten die Patienten wochentlich eine Stunde Psychotherapie von ca. 50 Minuten Dauer. Ausschliefilich als Richtlinienpsychotherapeuten tatige Psychologische Psychotherapeuten, Arzte fur Psychotherapeutische Medizin oder Arzte fur Psychiatrie und Psychotherapie konnen daher etwa 30 bis 40 Patienten parallel behandeln mit Behandlungszeiten
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pro Patient von etwa einem bis zwei Jahren. Trotz dieser begrenzten Behandlungskapazitaten haben nach den Ergebnissen des Bundesgesundheitssurveys wegen der vergleichsweise grofien Zahl an niedergelassenen Psychotherapeuten (Abbildung 23.2) depressive Patienten mehr Kontakte zu Psychotherapeuten als zu Psychiatern im engeren Sinne. Die Durchfuhrung einer Richtlinienpsychotherapie ist in den „Psychotherapie-Richtlinien" (Riiger et al 2003) geregelt. Zunachst kann der Psychotherapeut bis zu runf sog. probatorische Sitzungen durchfuhren, um den Patienten kennenzulernen und um auf dieser Basis einen Fallbericht erstellen zu konnen. Er kann dann eine sog. Kurzzeittherapie im Umfang von 25 Einzelsitzungen beantragen, die von der Krankenkasse ohne Gutachterverfahren bewilligt wird. Bei Verlangerungen dariiber hinaus ist dann ein schriftlicher etwa funfseitiger detaillierter Bericht iiber die vorliegende Stoning und den Behandlungsplan an die Krankenkasse zu senden, die ihn an einen Fachgutachter weiterleitet, der die Zweckmafiigkeit und Wirtschaftlichkeit der geplanten Langzeittherapie uberpriift. Es kann dann noch zweimal eine weitere Verlangerung beantragt werden bis zu einem Maximalkontingent von 80 Stunden fur Verhaltenstherapie, 160 Stunden fur tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und 300 Stunden fur eine Psychoanalyse. Die Einleitung einer Richtlinienpsychotherapie dauert aufgrund dieses vorgeschalteten Priifungs- und Bewilligungsverfahrens in der Regel etwa zwei bis drei Monate. Aufgrund dieser Vorgaben, wie aber auch wegen der Dauer der Behandlung, kann eine Richtlinienpsychotherapie keine Akut- oder Krisenbehandlung sein, sondern sie ist vor allem bei langerlaufenden depressiven Storungen indiziert. Richtlinienpsychotherapien sind damit den rehabilitativen Behandlungsformen zuzuordnen. Zu den Patienten in Richtlinienpsychotherapie liegen nur wenige versorgungsepidemiologische Daten vor. Bei einer Untersuchung an 1.344 Langzeittherapiefallen in Verhaltenstherapie wurde von den Therapeuten in 78% ein depressives Syndrom als Diagnose genannt und davon in 67% dieser Falle eine langer dauernde depressive Erkrankung und in 33% eine depressive Episode (Linden et al 1993, Linden 1996). Monatelange Richtlinienpsychotherapien zielen ihrer Natur nach nicht auf eine schnelle Symptombesserung sondern auf die Anderung von Einstellungen und Bewaltigungskompetenzen ab, um damit langerfristige Krankheitsentwicklungen positiv zu beeinflussen. Abbildung 23.3 zeigt am Beispiel einer Untersuchung von Fava (1998), dass dies auch moglich ist. Durch eine kognitive Verhaltenstherapie, die additiv zu einer antidepressi-
Behandlungspotenziale in der psychiatrischpsychotherapeutischen Versorgung
435
ven Pharmakotherapie durchgefuhrt wurde, konnte erreicht werden, dass im Verlauf der folgenden zwei Jahre die Ruckfallrate nur bei 25% lag im Vergleich zu 80% in der Gruppe, die nur mit „klinischem Management" behandelt worden war.
KVT Management
Wochen
Abb. 23.3: Remissionsraten nach KVT und Klinischem Management additiv zu 10 Wo. Pharmakotherapie bei majorer Depression (Fava et al 1998)
23.8
Depressionstherapie in Abhangigkeit vom fachlichen Hintergrund des Behandlers
Da Patienten in Deutschland ein Erstzugangsrecht zu unterschiedlichen Therapeuten, d.h. Allgemeinarzten wie Facharzten oder Fachpsychotherapeuten haben, stellt sich die Frage, was mit depressiven Patienten geschieht, in Abhangigkeit davon, wen sie zuerst aufsuchen. Empirische Studien zeigen, dass je nach fachlichem Hintergrund des in Anspruch genommenen Behandlers dieselbe Storung unterschiedlich behandelt wird (Langwieler und Linden 1993, Linden und Gothe 1998). In einer empirischen Studie zum Prozess medizinischer Therapieentscheidungen wurde eine Pseudopatientin mit vorheriger grundsatzlicher Einwilligung der Behandler verschiedenen Therapeuten vorgestellt (Lanwieler und Linden 1993). Tabelle 23.3 zeigt die Unterschiede im diagnostischen wie therapeutischen Vorgehen der Behandler in Abhangigkeit von ihrem fachlichen Hintergrund.
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Tab. 23.3: Diagnostische und therapeutische Erstversorgung einer depressiven Patientin in Abhangigkeit vom Fachschwerpunkt des Konsuitierten (Langwieler und Linden 1993) Poliklin. Psychiater
Poliklin. Psychother.
Niedergel. Psychiater
Allgemeinarzt
Befund
+
+
+
+
Spezielle Anamnese
+
+
+
+
Biographische Anamnese
+
+
+
-
Labor
+
-
-
+
Endogene Depression
Depression im biographischen Kontext
Erschopfungsdepression
Ehekonilikt
Pharmakotherapie
Psychotherapie
Pharmakotherapie
Beratung
-
+
-
+
Diagnose
Primare Therapie AU
Alle haben den Befund und die spezielle Anamnese in gleicher Weise erhoben. Der Allgemeinarzt hat im Unterschied zu den Fachtherapeuten auf eine ausfuhrliche biographische Anamnese verzichtet. Eine Laboruntersuchung haben der Allgemeinarzt und der an der biologischen Psychiatrie orientierte Psychiater der Poliklinik angesetzt, wahrend der niedergelassene Psychiater und der psychotherapeutisch orientierte Psychiater darauf verzichtet haben. Die Diagnose nach dieser Erstkonsultation spiegelt die Erkrankungsschwerpunkte im jeweiligen Behandlungssetting wider: Der biologisch orientierte Psychiater hat mit Blick auf die geklagte Antriebshemmung eine endogene Depression vermutet, der Psychotherapeut hat ebenso wie der niedergelassene Psychiater und der Allgemeinarzt die biographische Konfliktsituation im Vordergrund gesehen, wobei allerdings unterschiedliche diagnostische Schwerpunktsetzungen vorgenommen wurden. Entscheidend sind die Unterschiede in der Therapie. Der biologisch orientierte Psychiater hielt grundsatzlich eine Antidepressivaverordnung fur indiziert, der niedergelassene Nervenarzt verordnete ebenfalls ein Antidepressivum jedoch eher palliativ mit Blick auf die geklagten Schlafstorungen. Der Psychotherapeut sah eine psychotherapeutische Intervention als angezeigt und der Allgemeinarzt verzichtete ganz auf die aktuelle Einleitung einer Behandlung und setzte zunachst auf eine Spontanremission. Jede der genannten Behandlungsoptionen ist fachlich nicht nur vertretbar, sondern auch gut begriindet, wenn man berucksichtigt, dass in unterschiedlichen Behandlungsinstitutionen unterschiedliche Patienten zur
Behandlungspotenziale in der psychiatrischpsychotherapeutischen Versorgung
437
Vorstellung kommen. Ein Hausarzt trifft haufiger fluktuierende Verlaufe, so dass abwarten bei diesen Patienten ein guter erster Schritt ist. Des Weiteren muss ein Hausarzt nicht nur an eine Depression denken, sondern auch das gesamte Spektrum aller korperlichen Erkrankungen mit bedenken. Eine Verlaufsbeobachtung ist damit sinnvoll. Eine psychiatrische Poliklinik wird hingegen nur von Patienten aufgesucht, die unter dezidierteren psychischen Storungen leiden, so dass alleine dadurch die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer psychischen Erkrankung deutlich hoher ist als in der Allgemeinarztpraxis. Von daher ist ein entschiedeneres Vorgehen gerechtfertigt. Es gibt dann stets verschiedene Therapieoptionen, bei depressiven Storungen z.B. die Einleitung einer Pharmakotherapie oder der Fokus auf eine psychotherapeutische Unterstiitzung. Beides macht Sinn, es muss auch nicht beides gleichzeitig gemacht werden. In jedem Fall ist es angezeigt, dass ein Therapeut mit dem Verfahren beginnt, mit dem er sich besonders vertraut fuhlt, da, wie die empirische Literatur seit langem belegt, Therapeuten damit die besten Resultate erzielen (Rickels 1968). 23.9
Stationare Behandlungen in Akutkliniken
Fur die stationare Behandlung akuter depressiver Episoden stehen psychiatrische Akut- und Regionalkliniken und psychosomatische Akutkliniken zur Verfugung. Nach Daten des Statistischen Bundesamtes gibt es in Deutschland etwa 50.000 Betten, die sich zum einen in sog. Abteilungen fur Psychiatrie an Akutkrankenhausern und zum anderen an Psychiatrischen Zentren oder Landeskrankenhausern behnden. Nach einer Umfrage der Deutschen Gesellschaft fur Psychiatrie und Psychotherapie im Jahr 2000 haben die Abteilungen im Durchschnitt 84 Betten und die Fachkliniken 255 Betten. Beide Kliniktypen sichern die Regional- und Akutversorgung einer definierten Region und halten etwa 0,6 Betten fur 1.000 Einwohner vor. In diesen Kliniken werden pro Jahr etwa 640.000 Patienten behandelt, wovon nach Statistiken der Deutschen Angestellten Krankenkasse etwa 23% der Patienten unter depressiven Erkrankungen leiden. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von depressiven Patienten betragt etwa 64 Tage. Die grofieren Kliniken haben die Moglichkeit zu einer Binnendifferenzierung und haben z.B. spezielle „Depressionsstationen", die nach Ausstattung und Therapieangebot speziell auf diese Patienten abgestellt sind.
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Des Weiteren gibt es 3.000 Betten an psychosomatischen Akutabteilungen, die jeweils etwa 50 Betten haben und pro Jahr nach Daten des Statistischen Bundesamtes etwa 25.000 Patienten behandeln. Die Aufnahme in Akutkliniken erfolgt zum einen als Notfallmafinahme auf Einweisung durch ambulante Arzte hin oder auch nachdem sich Patienten dort selbststandig vorgestellt haben. Wenn keine Notfallindikation besteht, dann ist vorab eine Kostenubernahmeerklarung bei der zustandigen Krankenkasse einzuholen. In diesen Fallen wird zunachst die Notwendigkeit einer Krankenhausbehandlung gepriift wie auch, ob nicht alternativ eine stationare Rehabilitation indiziert ist. Der Behandlungsauftrag der psychiatrischen und psychosomatischen Akutkliniken ist die Behandlung akuter depressiver Krankheitsepisoden, d.h. der Schutz des Patienten bei Suizidalitat, die voriibergehende Herausnahme aus dem alltaglichen Lebensumfeld zur Entlastung des Patienten selbst wie seiner Angehorigen, sowie vor allem die Durchfuhrung von intensiveren und mehrdimensionalen diagnostischen und therapeutischen Mafinahmen. Akutkliniken liegen wohnortnah und sind jederzeit erreichbar. Die Stationen sind auf die Versorgung akut Kranker ausgerichtet, d.h. therapeutisch liegt der Schwerpunkt auf akutmedizinischen Mafinahmen, baulich stehen die Krankenzimmer und Behandlungsraume im Mittelpunkt, organisatorisch mufi eine Uberwachung und Betreuung der Patienten rund um die Uhr sichergestellt sein, was nach der Psychiatriepersonalverordnung beispielsweise etwa funfzehn Krankenschwestern pro Station erfordert. 23.10
Der Vergleich von ambulanter und stationarer psychiatrischer Behandlung
Es finden sich kaum Studien, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Patienten in ambulanter und stationarer Behandlung beschreiben. In einer Anwendungsbeobachtung zu dem Antidepressivum Venlafaxin (Linden et al. 2001) war es moglich, depressive Patienten in ambulanter und stationarer psychiatrischer Behandlung zu vergleichen (Tabelle 23.4).
Behandlungspotenziale in der psychiatrischpsychotherapeutischen Versorgung
439
Tab. 23.4: Charakteristika depressiver Erkrankungen und ihrer Behandlung in der ambulanten und stationaren psychiatrischen Behandlung (Linden etal2001) Stationar N=1300
Ambulant N=5105
Statistik
41,2
38,5 26,7 17,5 6,3 2,8 2,5 5,8
p < 0,001
31,5 4,5 7,9 ,9 5,3 8,6
47,3 23,9 16,0 10,7 2,1
p < 0,001
chronisch /konstant Verschlimmerung aus chronischem Zustand Mehrfachnennung
54,6 26,3 7,7 10,4 0,9
Ersterkrankungsalter Jahre (SD)
45,9 (16,6)
43,3 (15,4)
p< 0,001
,8 4,4 17,6 45,9 27,7 3,6
,7 3,8 27,3
p < 0,001
74,3 31,2 17,7 20,8 45,9 56,9 13,1
61,8 21,8 11,1 11,3 26,5 31,8 22,0 0,6 2,8 18,0
Diagnosen rezidivierende depressive Storung (F33) depressive Episoden (F32) anhaltende affektive Storungen (F34) bipolare affektive Storung (F31) sonstige affektive Storungen (F38) andere Storungen mehr als eine Diagnose Krankheitsverlauf rezividierend Erstmanifestation
Schweregrad der Krankheit iiberhaupt nicht / Grenzfall psych. Erkrankung leicht krank mafiig krank deutlich krank schwer krank extrem schwer krank Friihere antidepressive Behandlungen TCA SSRI MAO-Hemmer Lithium/Carbamazepin Neuroleptika Benzodiazepine Phytotherapeutika Elektrokrampftherapie Sonstige Keine Tabelle wird fortgesetzt
4,1 7,9 9,3
51,5 15,2 1,6
Michael Linden, Berlin
440
Pharmakologische Begleittherapien Tranquilizer inklusive Benzodiazepine Neuroleptika andere Psychopharmaka TCA/TetraCA andere Medikamente (nicht Psychopharmaka) Lithium Antiepeleptika phytotherapeutische Antidepressiva Andere Antidepressiva: phytopharmazeutische Tranquilizer SSRI/SNRI keine Maximaldosierung von Venlafaxin < 76 mg/d > 150 mg/d
Stationar N=1300
Ambulant N=5105
39,2 36,3 17,1 10,3
18,6 12,2 7,7 6,9
7,7 6,5 3,4
4,7 2,9
0,5 1,6 0,2 0,6 20,6
1,5 1,8 0,8 0,9 0,3 53,7
16,2 % 46,9 %
54,1 % 5,9%
Statistik
p < 0,001
Erwartungsgemafi fanden sich eine Reihe von Unterschieden. Stationar behandelt werden vor allem rezidivierdende depressive Storungen, wahrend anhaltende Depressionen eher in der ambulanten Praxis zu finden sind. Die stationaren Patienten sind schwerer krank und haben vor allem auch eine durchgehend hohere Rate an einschlagigen Vorbehandlungen und sonstigen pharmakologischen Begleittherapien, was als Hinweis auf eine Therapieresistenz gedeutet werden kann. Ein weiterer klarer Hinweis hierfur ist auch die verordnete Tagesdosis von Venlafaxin, fur das 75 mg/d bis 150 mg/d als ubliche Tagsdosis angesehen werden. In der ambulanten Praxis verordnen die Nervenarzte bei 54,1% der Patienten maximal bis 75 mg/d, im stationaren Setting nur bei 16,2%, Hochdosierungen iiber 150 mg/d finden sich in der Praxis nur in 5,9% der Falle, jedoch bei 46,9% der Patienten in stationarer Behandlung. 23.11
Stationare Behandlung in Rehabilitationskliniken
Erganzend zu den psychiatrischen und psychosomatischen Akutkliniken gibt es noch 15.000 Betten an sog. „Psychosomatischen Rehabilitationskliniken". Diese Kliniken haben zwischen 100 und 300 Betten und behandeln nach Statistiken des Verbandes Deutscher Rentenversicherungstrager pro Jahr etwa 140.000 Patienten. Obwohl sie als „psychosomatische" Kliniken bezeichnet werden, werden dort Erkrankungen aus dem Gesamtspektrum
Behandlungspotenziale in der psychiatrischpsychotherapeutischen Versorgung
441
psychischer Storungen aufgenommen. Der Anteil der depressiven Patienten betragt nach Statistiken des Verbandes der Deutschen Rentenversicherungstrager 25%. Die Aufenthaltsdauer betragt pro Patient 42 Tage. Die Aufnahme in eine Rehabilitationsklinik setzt voraus, dass die Patienten einen Antrag beim Kostentrager stellen, z.B. der Krankenkasse, der ihn pruft und der dann die Rehabilitationsmafinahme bewilligt. Zunehmend haufiger werden Patienten auch durch die Krankenkassen nach Hinzuziehung ihres Medizinischen Dienstes aufgefordert einen entsprechenden Antrag zu stllen, wenn sie langer als sechs Wochen arbeitsunfahig sind. Die Patienten werden dann nach § 51 SGB VI auf ihre Mitwirkungspflicht hingewiesen und darauf, dass ihnen keine weiteren Sozialleistungen gewahrt werden, wenn sie nicht bereit sind, in eine Rehabilitationsklinik zu gehen. Auch Patienten, die eine vorzeitige Rente beantragen, miissen sich nach § 51 zunachst in eine Rehabilitationsklinik begeben (siehe Weiteres Linden, Kapitel 24, Rehabilitation) 23.12
Vor- und Nachteile eines spezialisierten, differenzierten und gegliederten Versorgungssystems
Der hohe Grad an fachlicher Differenzierung im deutschen Gesundheitswesen wird positiv wie negativ kommentiert. Negativ wird angemerkt, dass es zu mehr Kosten wegen unabgestimmter Mehrfachbehandlungen oder kostspieliger Initialbehandlungen kommt, weil preiswertere Alternativen nicht genutzt werden. Positiv wird angefuhrt, dass das System fur jeden Patienten und jede Krankheitsvariante eine spezifische Behandlungsmoglichkeit anbietet und vor allem auch dem Wahlrecht und Selbstbestimmungsrecht der Patienten entgegen kommt. Empirisch gibt es jedoch nur wenig Belege, die eine rationale Abwagung zwischen negativen oder positiven Aspekten ermoglichen wiirden (Linden et al. 2004).
442
Michael Linden, Berlin
Auf der Basis der dargestellten Strukturen und Zahlen lassen sich folgende Schlussfolgerungen fur die Versorgung depressiver Patienten in Deutschland Ziehen: • Es steht fur die Behandlung depressiver Erkrankungen ein differenziertes Angebot an Behandlungsmoglichkeiten durch niedergelassene Facharzte zur Verfugung. • Es gibt ein dichtes Netz an Facharzten, die in direkter Nachbarschaft zu den anderen Arztgruppen arbeiten und daher leicht und ohne Diskriminierung aufgesucht werden konnen. • Es steht ein weltweit einmalig dichtes und leicht zugangliches Angebot an Psychotherapeuten zur Verfugung. Es steht ein wohnortnahes wie auch uberregional spezialisiertes Angebot an stationaren Behandlungseinrichtungen zur Verfugung. Es steht ein weltweit einmaliges Angebot an Rehabilitationsangeboten fur chronifizierende depressive Erkrankungen zur Verfugung. Hausarzte konnen den Patienten beraten, ob eine zusatzliche facharztliche Behandlung sinnvoll ist und wo sie den fur sie besten Behandler finden. Abhangig von der eigenen Fachkompetenz konnen sie Facharzte nach dem Uberweisungs-, Substitutions- oder Konsilmodell hinzuziehen. Das Erstzugangsrecht zu den Facharzten und Fachpsychotherapeuten erlaubt Patienten die Ausubung ihres Selbstbestimmungsrechts durch die freie Arztwahl und garantiert das Recht, spezialisierte Hilfe in Anspruch zu nehmen, ohne sich vorher einem AUgemeinmediziner offenbaren oder von ihm behandeln lassen zu miissen. • Das Erstzugangsrecht zu niedergelassenen Facharzten erspart Kosten durch unnotige vorherige allgemeinarztliche Behandlungsversuche und erlaubt eine Fachbehandlung entsprechender Patienten zu denselben Preisen wie in der hausarztlichen Versorgung. • Die Medizinischen Dienste der Krankenkassen leisten einen wichtigen Beitrag, wenn es darum geht, Patienten mit sich abzeichnenden chronifizierenden Krankheitsentwicklungen in eine fachgerechte Behandlung zu vermitteln.
Behandlungspotenziale in der psychiatrischpsychotherapeutischen Versorgung
443
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Kapitel 24
24
Rehabilitation
Michael Linden, Berlin
24.1
Chronifizierung und Kapazitats- und Partizipationsstorungen bei depressiven Storungen
Depressive Erkrankungen werden typischerweise als episodische Erkrankungen angesehen. Das bedeutet, dass depressive Verstimmungszustande voriibergehender Natur sind und auch nach schweren und langerdauernden Episoden ware immer noch die Moglichkeit zu einer Vollremission gegeben. Allerdings gehort zu den Charakteristika depressiver Erkrankungen auch, dass es zu Rezidiven kommen kann. In etwa der Halfte der Falle treten Rezidive haufiger auf (Shea 1992, Solomon et al. 1997, 2001), so dass sie unter Verlaufsgesichtspunkten und damit auch beziiglich der Behandlung als Langzeiterkrankungen anzusehen sind. Des weiteren haben sorgfaltige Verlaufsuntersuchungen in den vergangen Jahren gezeigt, dass etwa ein Drittel der Patienten mit depressiven Erkrankungen letztlich doch keine Vollremission erreicht und es statt dessen zur Chronizitat, zur Symptompersistenz oder einem sog. depressiven Defekt kommt (Lee & Murray 1988, Angst 1990, Montgomery et al. 1991, Tylee et al. 1999, Silva & Larach 2000, Helmchen et al. 2002, Hirschfeld et al. 2002). Soweit depressive Episoden nach einigen Wochen spontan oder unter Therapie wieder abklingen, beeintrachtigen sie den Patienten nur voriibergehend und erfordern daher keine Lebensstilanpassung. Wenn es jedoch zu wiederholten Rezidiven kommt, dann drohen sogenannte partizipationsstorungen" (WHO 2001), d.h. nachhaltige Beeintrachtigungen der Teilhabe am sozialen oder beruflichen Leben. Dies erklart sich durch krankheitsbedingte sogenannte „Fahigkeits- bzw. Kapazitatsstorungen", wie sie in der Internationalen Klassifikation der Funktionsstorungen der WHO (ICF) beschrieben sind (WHO 2001, Linden & Baron 2005). So kann beispielsweise eine Depression dazu fuhren, dass der Patient hinsichtlich der Erfullung seiner sozialen Verpflichtungen nicht mehr ausreichend verlasslich
448
Michael Linden, Berlin
ist, was unmittelbar Auswirkungen auf sein partnerschaftliches Umfeld hat. Gleiches gilt fur die Teilhabe am Arbeitsleben. Wahrend eine einzelne Krankheitsepisode in der Regel toleriert wird, gefahrden wiederholte oder gar langerfristige depressive Phasen eine Weiterbeschaftigung oder eine berufliche Weiterentwicklung. Bei rezidivierenden Erkrankungen kann es daher auf Grund der wiederholten depressiven oder manischen Phasen zu erheblichen biographischen Fehlentwicklungen kommen, Partnerbeziehungen auseinandergehen oder die berufliche Entwicklung gestort werden. Derartige Partizipationsstorungen sind von noch grofierer Bedeutung bei primar chronifizierenden Erkrankungsverlaufen. Die depressive Symptomatik fuhrt zu Fahigkeits- bzw. Kapazitatsstorungen in der sozialen Kontaktaufnahme, zu einer geringeren Durchhaltefahigkeit oder zu einer reduzierten allgemeinen Leistungsfahigkeit (Linden & Baron 2005, Wells et al. 1989, Lepine et al. 1997, Claxton et al. 1999, Silva & Larach 2000, Demyttenaere et al. 2002). Anders als beispielsweise ein Hypertonus oder ein Diabetes fuhrt eine depressive Stoning damit unmittelbar zu einer relevanten Beeintrachtigung von Lebensqualitat, sozialer Partizipation und Leistungsfahigkeit.. Im Bundesgesundheitssurvey (Wittchen et al. 1999) fand sich, dass bei majoren Depressionen zwei Drittel der Betroffenen im zuriickliegenden Monat unter einer relevanten Funktionsbeeintrachtigung auf Grund psychischer Beschwerden litt. Im Durchschnitt waren die Betroffenen sieben Tage pro Monat wegen ihrer Erkrankung arbeitsunfahig. Auch nach Einschatzung der WHO von 1996 gehoren die depressiven Erkrankungen zu den wichtigsten Ursachen fur Arbeitsunfahigkeit (AU) weltweit (Linden und Weidner 2005) und es wird erwartet, dass sie bis zum Jahr 2020 zur wichtigsten Ursache fur ..disability" insgesamt werden (Savikko et al. 2001). Das Ausmafi, in dem depressive Erkrankungen zu Fahigkeits- und Teilhabestorungen fuhren, wird noch deutlicher, wenn man sich den Langzeitverlauf und auch die subschwelligen Depressionen anschaut. In einer eigenen Untersuchung an Patienten in AUgemeinarztpraxen (Kuhn et al. 2002) fand sich, dass Patienten, die zum Zeitpunkt der Eingangsuntersuchung unter einer depressiven Erkrankung litten, bei einer Nachuntersuchung nach einem Jahr zu 25% weiterhin depressiv waren (Abbildung 24.1). Im Durchschnitt hatten Patienten, die zum Zeitpunkt der Indexuntersuchung unter einer Depression litten, bei der Nachuntersuchung nach einem Jahr 3,1 Arbeitsausfalltage im letzten Monat, im Vergleich zu 1,6 bei Gesunden
Rehabilitation
449
oder 1,5 bei chronischen somatischen Erkrankungen. Von besonderer Bedeutung erscheint der Befund, dass selbst subschwellige Storungen zum Nachuntersuchungszeitpunkt mit 2,9 Arbeitsausfalltagen im letzten Monat ebenfalls eine deutlich erhohte Rate an Leistungsstorungen zeigten. Bei chronischen somatischen Erkrankungen ist die Zahl der Arbeitsausfalltage nur dann erhoht, wenn gleichzeitig eine psychische Komorbiditat vorliegt. Auf diesem Hintergrund ist verstehbar, dass in psychosomatischen Rehabilitationskliniken etwa ein Drittel der Patienten unter depressiven Erkrankungen leidet (Linden 2001a, Geiselmann & Linden 2001), und dass im Jahr 2004 nach der Rentenzugangsstatistik des Verbandes der Deutschen Rentenversicherung in 33% der Falle, die aufgrund einer psychischen Erkrankung fruhberentet wurden, als Erstdiagnose eine depressive Stoning genannt wurde.
1
Abb. 24.1: Arbeitsausfalltage bei depressiven Erkrankungen 1 Jahr nach Indexuntersuchung (Kuhn et al. 2002)
24.2
Medizinische Rehabilitation bei depressiven Storungen
Nach § 2 des Sozialgesetzbuches IX gilt, dass die Voraussetzung fur eine medizinische Rehabilitation ein von der Norm abweichender Gesundheitszustand ist, der absehbar langer als sechs Monate anhalt und mit einer sogenannten Fahigkeitsstorung einhergeht. Schatzt man unter Zugrundelegung dieser Gesetzesdefmition auf der Basis der vorgenannten Daten den
450
Michael Linden, Berlin
Rehabilitationsbedarf, dann erfullen bei Beriicksichtigung der rezidivierenden Natur depressiver Erkrankungen diese nahezu alle das Chronizitatskriterium nach § 2 SGB IX. Nimmt man eine engere Definition und beriicksichtigt man nur Patienten mit haufigen Rezidiven, d.h. mindestens jahrlich bis zweijahrlich, dann betrifft dies etwa die Halfte der Erkrankten (Shea 1992, Solomon et al. 1997, 2001). Nimmt man zur Abschatzung des Rehabilitationsbedarfs das noch engere Kriterium eines dauerhaft und langer als sechs Monate von der Norm abweichenden Gesundheitszustandes, dann gilt dies fur etwa jeden dritten depressiv Erkrankten. Fur diese kann auch als sicher angenommen werden, dass bei ihnen das Kriterium einer vorliegenden oder zumindest drohenden Fahigkeits- und Partizipationsstorung errullt ist. Legt man die Daten des Bundesgesundheitssurveys zugrunde (Wittchen et al. 1999, Wittchen & Jacobi 2001), dann leiden etwa 5% bis 10% der Bevolkerung aktuell an einer depressiven Stoning und etwa 3% unter einem chronifizierenden Verlauf und unter Fahigkeits- und Teilhabestorungen. In Deutschland sind somit zwei bis drei Millionen Menschen von einer „depressiven Behinderung" betroffen und benotigen damit weniger eine „Episoden-Behandlung" sondern eine fachlich fundierte und konsequent durchgefuhrte „Behandlung der chronifizierenden und chronifizierten Krankheitsentwicklung", was Aufgabe der medizinischen Rehabilitation ist Die „medizinische Rehabilitation" ist nach § 5 Sozialgesetzbuch IX auch zu unterscheiden von anderen Rehabilitationsmafinahmen wie den „unterhaltssichernden Leistungen", den „Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben" und „Leistungen zur Teilhabe am Leben der Gemeinschaft". Die „medizinische Rehabilitation" kann definiert werden als medizinische Spezialdisziplin fur die Behandlung chronifizierender und chronifizierter Erkrankungen. Wahrend in der Akutmedizin die Therapie von Krankheitsepisoden im Vordergrund steht, befasst sich die Rehabilitationsmedizin mit der Behandlung von Krankheitsentwicklungen und der Abwendung von Krankheitsfolgen. Im § 26 SGB IX werden als Aufgaben der medizinischen Rehabilitation im Einzelnen genannt die Abwendung (Prophylaxe), die Beseitigung (Heilung), der Ausgleich (palliativ orientierte Beschwerdenminderung), die Verhutung einer Verschlimmerung (Rezidivprophylaxe) von Erkrankungen sowie die Vermeidung von Krankheitsfolgen (Tertiarprophylaxe). Als Mafinahmen der medizinischen Rehabilitation, mit der die vorgenannten Ziele erreicht werden sollen, nennt der § 26 SGB IX u.a. die arztliche Behandlung, die Arzneimitteltherapie, die Psychotherapie, Hilfen zur Untersttitzung bei der Krankheits- und Behinderungsverar-
Rehabilitation
451
beitung oder auch die Aktivierung von Selbsthilfepotentialen. Im konkreten Behandlungsfall ergeben sich daraus komplexe und mehrdimensionale Interventionen (Abbildung 24.2).
Krankheitsdiagnostikund -behandlung
SekundarDiagnose und Therapie
Symptom-Suppression und Palliativtherapie
N N
Sozialmedizinische Aufgaben
/
Chronische Krankheit Lebensqualitat Partizipation
Berufliche Wiedereingliederung
Leistungsbeurteilung
Rezidivprophylaxe
s /
Unterstutzung des sozialen Netzes
^ Lebensstilanpassung
Krankheitsbewaltigung
Behandlungscomplinace Bewaltigung von Behinderung Selbstbildanpassung Lebensstilanpassung Salutotherapie und Krankheitskompensation
Abb. 24.2: Aufgabenstellung der Rehabilitationsmedizin
Zunachst ist eine vertiefte rehabilitationsorientierte Diagnostik unverzichtbar, um zu klaren, warum es zu einem chronifizierenden Verlauf gekommen ist. Diese Diagnostik mufi mehrdimensional ausgerichtet sein, da Chronifizierungsbedingungen nicht nur krankheitsimmanent sind, sondern in der Regel auch in peristatischen Faktoren liegen. In einer eigenen Untersuchung an chronisch depressiven Patienten niedergelassener Nervenarzte (Abbildung 24.3) konnte in Ubereinstimmung mit der Literatur (Shea 1993, Thase & Howland 1994, Schmauss & Meller 1989, Keller et al. 2000) gezeigt werden, dass chronifizierende depressive Erkrankungen in der Regel mit einer hohen Rate an dysfunktionalen Einstellungen, sozialen Belastungen oder psychischer und somatischer Komorbiditat einhergehen. Eine erfolgreiche Behandlung ist ohne Berucksichtigung dieser mehrdimensionalen Problemlage nicht vorstellbar.
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452 Neurotizismus
|
Personlichkeit
|
Dysfunktionale Einstelluiigen
I
Hypochondr. Einstellung
|
Somatische Komorbiditat
|
Anpassungsstorungen
|
Soziale Unterstutzung
|
Stressoren
|
Intelligenz
|
Neuropsychologic
|
Familienanamnese I
0%
I
I
10%
20%
I
I
30% 40%
I
I
50% 60%
I
I
70%
80%
I 90% 100%
Anteil Patienten (%) Abb. 24.3: Mehrdimensionale Belastungen bei chronisch depressiven ambulanten Patienten (% der Patienten mit relevanten Problemen auf der jeweiligen Dimension)
Darauf aufbauend ist dann eine konsequente mehrdimensionale Therapie einzuleiten. In der neueren Literatur spricht man erst dann von einer chronischen Erkrankung, wenn mindestens zwei bis drei fachgerecht durchgefuhrte Behandlungsversuche erfolglos waren (Thase & Rush 1997). Behandlungsansatze in der Rehabilitationsmedizin miissen beriicksichtigen, dass chronifizierende Erkrankungen per definitionem in aller Regel „therapieresistent" sind. Viele Patienten werden in Rehabilitationskliniken eingewiesen weil sie langere Zeit arbeitsunfahig waren oder bereits einen Rentenantrag gestellt haben. Sie wurden bereits ambulant pharmakotherapeutisch und psychotherapeutisch vorbehandelt und in nicht wenigen Fallen auch akutstationar. Wenn auf diesem Hintergrund eine rehabilitationsmedizinische Behandlung Erfolg haben soil, dann erfordert dies ein spezielles und intensiviertes Behandlungsvorgehen. In den vergangenen Jahren gibt es in der Pharmakotherapie wichtige Neuentwicklungen fur die Behandlung therapierefraktarer oder chronifizierter depressiver Erkrankungen wie auch fur die Rezidivprophylaxe (Schmauss & Meller 1989, Bauer & Linden 1993, Linden et al. 1994, Lane 1995, Bauer
Rehabilitation
453
& Berghofer 1996, Souery et al. 1999, Thase & Rush 1997, Thase et al. 1998, Keller et al. 2000, Thase et al. 2002, Hirschfeld et al. 2002). Beispiele hierfur sind ein gezielter Wechsel des Antidepressivums, Augmentationsstrategien, Zweiziigelfherapien oder Kombinationsbehandlungen. Im Vergleich zur Akut- und Episodenbehandlung hat die „Rehabilitationspharmakofherapie" (Linden und Muller 2005) als Besonderheiten, dass das Spektrum der Behandlungsoptionen sehr viel breiter und die Erfolgswahrscheinlichkeit der einzelnen Optionen geringer ist als bei der Erst- oder Akutbehandlung einer Episode und dass schliefilich auch die Adaptation an den Einzelfall sehr viel mehr individuelle Uberlegungen mit Blick auf den einzelnen Patienten beriicksichtigen muss. Des Weiteren kommt hinzu, dass es Behandlungen sind, die jeweils liber mehrere Wochen, wenn nicht Monate durchgefuhrt werden mussen, bevor ein Urteil iiber ihre Wirksamkeit moglich wird. Bei der Behandlung einer chronisch-exazerbierenden Erkrankung oder bei einer rezidivprophylaktischen Behandlung muss man in der Regel Monate, wenn nicht Jahre warten, bevor festzustellen ist, ob die Behandlung wirksam ist. Diese Besonderheit der langzeitorientierten Be• handlung bei chronifizierten oder von Chronifizierung bedrohten Erkrankungen hat unmittelbare Konsequenzen fur die Art der Patientenfuhrung. Die Patienten mtissen sehr viel sorgfaltiger iiber die Art der geplanten Therapie informiert werden. Die Compliance muss gesichert werden und die Patienten miissen wesentlich die Behandlung selbst mittragen (vgl. Gensichen und Peitz, Kapitel 22 Behandlungspotenziale in der allgemeinarztlichen Versorgung). Die Dokumentation des Erkrankungszustandes muss sehr sorgfaltig iiber langere Zeit durchgefuhrt werden. Auch das Therapieziel ist nicht unbedingt eine remissio ad integrum, sondern oft nur eine palliativ orientierte Reduktion der Rezidivschwere oder der Rezidivfrequenz. Dies erfordert auch eine Unterstiitzung des Patienten bei einer anderen Art des Umgangs mit Erkrankungsrezidiven. Schliefilich gilt, dass die Pharmakotherapie partizipationsorientiert sein muss (Linden & Muller 2005). Beispielsweise sind Beeintrachtigungen der Libido und Potenz durch SRI-Antidepressiva oder der Vigilanz und Fahrtuchtigkeit durch sedierende Antidepressiva in der Rehabilitationspharmakologie - anders als in der passageren Episodenbehandlung - von ebenso grofier Bedeutung wie die Wirkung auf die Depressionssymptome an sich. Ebenso wichtig wie eine konsequente somatische und pharmakologische Therapie sind in der Rehabilitationsmedizin auch psychoedukative und psychotherapeutische Behandlungsansatze. Sie zielen zum einen auf die Behandlung der bereits angesprochenen psychischen Komorbiditat (z.B.
454
Michael Linden, Berlin
Personlichkeitsakzentuierungen). Andererseits gilt es aber auch den Patienten bei der Krankheitsbewaltigung zu unterstiitzen (Abbildung 24.2). Hierzu gehort das Eimiben von Strategien zum Umgang mit Stimmungseinbriichen, die Anpassung des Selbstbildes an die reduzierte Leistungsfahigkeit und evtl. auch eine funktionale Lebensstilanpassung. Dariiber sind auch „salutotherapeutische" Behandlungsansatze von Bedeutung, d.h. Mafinahmen zum Erhalt gesunder Lebensbereiche. Der Patient lernt trotz seiner Erkrankung weiterhin am sozialen und beruflichen Leben teilzunehmen und nicht von der Stimmung abhangig zu machen, ob er Freunde trifft oder seine taglichen Pflichten in Familie oder Beruf erfullt. Dies sind hohe Anforderungen an den Patienten, die eine fachkundige psychotherapeutische Unterstiitzung erfordern. Die Literatur zeigt, dass durch solche Mafinahmen der weitere Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen ist (Fava et al. 1998 a,b, Shea et al. 1992). Einen weiteren Schwerpunkt der Rehabilitationsmedizin stellen schliefilich auch soziotherapeutische und sozialmedizinische Interventionen dar (Abbildung 24.2). Es bedarf besonderer Kenntnisse, um zwischen Krankheitssymptomen einerseits und Kapazitats- und Partizipationsstorungen im o.g. Sinn unterscheiden zu konnen (Linden & Baron 2005). Dies verlangt auch spezielle Kenntnisse hinsichtlich sozialer und beruflicher Reintegrationsmoglichkeiten. Bei gegebener Symptomatik (Funktionsstorung) ist nicht nur zu priifen, welche „Kapazitatsstorungen" daraus erwachsen, sondern auch, welche Moglichkeiten zu Anpassung des Umfeldes (z.B. des Arbeitsplatzes) bestehen (Linden und Weidner 2005).
24.3
Institutionelle Angebote zur medizinischen Rehabilitation depressiver Erkrankungen
Kostentrager von Rehabilitationsmafinahmen sind nach § 6 SGB IX die Krankenkassen und im Weiteren dann, je nach Sonderfall die Unfallversicherungen, wenn ein Unfall vorgelegen hat, die Rentenversicherungstrager, wenn die Erwerbsprognose gefahrdet ist, die Kriegsopferfursorge bei Kriegsschaden oder die Jugendhilfe und die Sozialhilfe bei entsprechend Leistungsberechtigten. Da sich die Rehabilitationsmedizin mit chronifizierenden depressiven Erkrankungen und Krankheitsentwicklungen befasst, mussen alle einschlagigen Behandlungskonzepte immer auch mit einer Langzeitperspektive angelegt werden. Dabei ist entsprechend der sonstigen Struktur des Gesundheitswesens auch hier von einem Stufenplan rehabilitationsmedizinischer
Rehabilitation
455
Interventionen auszugehen (Stewart et al. 1993, Linden et al. 2000, 2001), wie er in Tabelle 24.1 dargestellt ist.
Tab 24.1:
Stufenplan der medizinischen Rehabilitation (modif. n. Helmchen u. Linden, 2000) Langzeitinterventionen Selbsthilfe und vorprofessionelle Unterstiitzung • auf Spontanremission warten • • Lebensstil andern (Schlaf, Aktivitaten) •• Beratung und Unterstiitzung durch Freunde • • angemessene Selbstmedikation •• Selbsthilfegruppen
• Priniarmedizinische Behandlung • • • • • ••
diagnostische Abklarung Beratung und Patientenflihrung angemessene Medikation und Dosierung
Psychotherapeutische Fiihrung • Facharztliche Behandlung • diagnostische Uberpruiung • • Optimierung von Medikation und Dosis • • Hilfe bei der Belastungsbewaltigung • Psychotherapeutische Behandlungen Episodische Interventionen Strukturierte Psychotherapie • Bearbeitung von dysfunktionalen Kognitionen •• Verbesserung der Belastungsbewaltigung • • Aktivitatsaufbau • Stationare Behandlung • Intensivierte Diagnostic • • Komplexe Behandlungsplane • • Milieutherapie •
Die Langzeitbewaltigung chronischer Erkrankungen und damit auch depressiver Storungen ist zunachst einmal eine Aufgabe des Betroffenen selbst. Hierzu gehort die Entwicklung einer personlichen Toleranz gegeniiber Krankheitszustanden im Sinne einer Forderung der psychischen Widerstandsfahigkeit bzw. Resilience (Rutter 1987). Es gehort dazu auch die Anpassung des Lebensstils an die bestehende Erkrankung, die Unterstut-
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zung durch die Familie, durch Freunde und auch Selbsthilfegruppen sowie moglicherweise auch eine Selbstmedikation, beispielsweise bei vorubergehenden Schlafstorungen oder ahnlichen leichteren Beschwerden. Die Langzeitbehandlung chronischer Patienten ist des Weiteren Teil der primarmedizinischen Versorgung. Etwa die Halite der primararztlichen Tatigkeit durch Hausarzte kann als Mafinahmen im Sinne der medizinischen Rehabilitation angesehen werden. Zu den genuinen hausarztlichen Aufgaben gehort die Langzeitbehandlung des Patienten einschliefilich einer angemessenen Langzeitmedikation. Von Bedeutung ist aber auch eine diagnostische Betreuung uber die Jahre hin. Im Langzeitverlauf chronischer Erkrankungen ist es wichtig, fruhzeitig Hinweise auf eine drohende Verschlechterung im Krankheitszustand zu erkennen, um rechtzeitig vorbeugend eingreifen zu konnen. Hausarzte konnen diesbeziiglich sehr erfolgreich wirken (Linden et al. 1996, Linden 2001b, Schoenbaum et al. 2002).. Vor allem aber unterstiitzen sie die Patienten liber die Jahre hin bei der Bewaltigung ihrer Krankheit und der Kompensation von Krankheitsfolgen. Eine dritte Stufe der „medizinischen Rehabilitation" ist die der psychiatrischen Fachbehandlung. durch einen Arzt fur Psychiatrie und Psychotherapie oder fur psychotherapeutische Medizin die die Patienten mit komplexeren Erkrankungen und Krankheitsverlaufen betreuen.. Die bisher genannten Stufen sind zeitlich nicht begrenzte Unterstutzungsund Behandlungsformen. Sie sind zu erganzen durch zeitlich begrenzte „episodische Rehabilitationsmafinahmen". Hierzu gehoren vor allem die Richtlinienpsychotherapie (Riiger et al. 2003) und die stationare bzw. auch teilstationare Rehabilitation. Die Aufgabe derartiger punktueller Interventionen ist, in einem langjahrigen Entwicklungsverlauf an kritischen Entwicklungspunkten unter Einsatz einer intensivierten Behandlung, Weichenstellungen fur den weiteren Verlauf vorzunehmen, die mit der Grundversorgung alleine nicht zu erreichen sind. Die sogenannte Richtlinienpsychotherapie ist in diesem Sinn sowohl inhaltlich wie auch mit Blick auf ihre Organisation im Rahmen der kassenarztlichen Versorgung als „rehabilitationsmedizinische" Behandlung zu verstehen (Linden 2002). Sie ist antragspflichtig, wird begutachtet, wird gewahrt, ist von Beginn an im Umfang kontingentiert und wurde bis 1974 auch von den Rentenversicherungstragern mit finanziert (Riiger et al. 2003). Wegen des vorgeschalteten Antrags- und Bewilligungsverfahrens ist diese Therapieform fachlich nicht zur Behandlung von Akutepisoden sondern nur von langer dauernden Erkrankungszustanden geeignet.
Rehabilitation
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Eine besondere Bedeutung kommt des Weiteren stationaren Rehabilitationsmafinahmen zu, die immer dann indiziert sind, wenn im oben genannten Sinn differentialdiagnostische Klarungen und intensivere und mehrdimensionale Behandlungsversuche erforderlich sind. Daruber hinaus hat das stationare Setting an sich eine Reihe von therapeutischen Wirkungen, die gerade bei depressiven Erkrankungen von Bedeutung sind (Tabelle 24.2). Tab. 24.2: Indikationen fur eine stationare Rehabilitationsbehandlung Spezielle diagnostische und therapeutische Mafinahmen
• • • • •
spezielle diagnostische Verfahren
Schlafuntersuchung
Verhaltensbeobachtung
Interaktion mit Mitpatienten
Intensive Uberwachung
v.a. Abusus
spezielle therapeutische Mafinahmen
Schlafentzug
mehrdimensionale Therapien
Pharmako-Psycho-Ergo-Bewegungstherapie
intensive pflegerische Betreuung
starke Antriebshemmung
Aufgabenentpflichtung
keine Hausarbeiten
Tagesstrukturierung
regelmafiiger Biorhythmus
Aktivitatsaufbau
Entwicklung rekreativer Hobbies
• Milieu-Therapie • • •
Beispiele
Beispiele
•
Soziales Interaktionstraining
•
Soziale Unterstiitzung
•
Selbsthilfe in der Grappe Umgang mit Stimmungsschwankungen Die Art der Erkrankung erlaubt keine ambulante starke Antriebshemmung Rehabilitation Die Lebensbedingungen des Patienten erlauben erhebliche Belastung durch Kinder keine ambulante Rehabilitation
• • •
Kommunikation mit Mitpatienten/Therapeuten
Keine ambulante Rehabilitation verfiigbar
Berufliche Belastungserprobung
kommt aus landlicher Region
Die Herausnahme aus dem hauslichen Milieu mit all seinen Belastungen und die Aufnahme in ein therapeutisches Milieu ist eine der wichtigsten Grande fur eine stationare und gerade auch wohnortferne Rehabilitationsmafinahme (Linden 2005). Das therapeutische Milieu wirkt durch die Tagesstrukturierung, Gewahrung eines Schutzraums, Anregung zu Kontakten mit Dritten, Moglichkeit zum Modelllernen, Distanzierung von belastenden und moglicherweise pathogenen Umweltmilieus oder durch Aktivitatsanregung (Geiselmann & Linden 2001), was gleichermafien fur voll- und teilstationare Rehabilitationen gilt. Manche depressive Patienten
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zeigen alleine schon wegen der stationaren Aufnahme deutliche Stimmungsverbesserungen. 24.4
Zusammenfassung und Schlussfolgerung
Zusammenfassend gilt, dass in der Behandlung depressiver Storungen den chronifizierenden und chronifizierten Erkrankungen wissenschaftlich, klinisch und in der Organisation der Versorgungsstiukturen die ihnen gebiihrende Aufmerksamkeit zukommen muss. Wenn etwa die Halite der Erkrankten unter haufigen Rezidiven, etwa jeder Dritte unter einer unvollstandigen Remission und etwa zwei Drittel unter relevanten Funktionsbeeintrachtigungen leiden, dann durfen Depressionen nicht nur als passagere bzw. episodische Erkrankungen verstanden werden. Stattdessen mussen sie strukturiert und konsequent rehabilitationsmedizinisch behandelt werden. Das bedeutet eine in einen Stufenplan eingefugte mehrdimensionale Behandlung mit Blick auf die Krankheitsentwicklung und Partizipation. Die Rehabilitationsmedizin fuhrt trotz ihrer grofien epidemiologischen wie fachlichen Bedeutung in der Forschung und arztlichen Aus- und Weiterbildung immer noch eher ein Randdasein. Moderne Konzepte und Entwicklungen dieses medizinischen Arbeitsfeldes sind selbst in Fachkreisen oft nur ungeniigend bekannt. Daher muss auch einem haufigen Missverstandnis durch den Hinweis begegnet werden, dass sich Rehabilitation nicht iiber den Kostentrager definiert. Rehabilitation ist eine Aufgabe aller am Gesundheitswesen Beteiligter und zwar zuallererst der Krankenversicherungen, wie das Sozialgesetzbuch IX im § 6 festschreibt, und nicht nur der Rentenversicherung, wenngleich diese wichtige Impulse gegeben hat. Auch wenn es zwischen verschiedenen Kostentragern gelegentlich eine unzureichende Abstimmung hinsichtlich der Finanzierung der gemeinsamen Aufgabe gibt, so ist dies verwaltungsintern zu klaren und darf, auch nach den Forderungen des SGB IX, nicht zu Lasten der Patienten gehen.
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Zusammenfassend lassen sich die folgenden Schlussfolgerungen Ziehen: • Depressive Erkrankungen mussen stets auch unter Langzeitgesichtspunkten gesehen werden. Ein wesentlicher Anteil der Patienten erreicht keine Vollremission sondern leidet unter haufig rezidivierenden oder persistierenden Erkrankungen. • Chronifizierende depressive Erkrankungen haben erhebliche negative Folgen fur die Lebensqualitat und die soziale und berufiiche Partizipation, z.B. im Sinne einer erhohten Arbeits- und Erwerbsunfahigkeit. • Bei der Behandlung depressiver Erkrankungen gentigt es nicht die einzelne Krankheitsepisode zu behandeln. Viel wichtiger ist eine Behandlung der Krankheitsentwicklung. Bei der Behandlung depressiver Storungen geniigt es nicht Symptome, d.h. Funktionsstorungen zu behandeln, sondern auch Fahigkeitsund Partizipationsstorungen. Neben einer symptom- und storungsorientierten Therapie muss der Salutotherapie eine angemessene Rolle zukommen. • Die Aufgabe der medizinischen Rehabilitation ist die Behandlung der chronifizierenden Erkrankung und die Durchfiihrung spezieller Behandlungsmafinahmen zum Erhalt von Lebensqualitat und Partizipation. • Die medizinische Rehabilitation schliefit die Selbsthilfe, den primarwie facharztlichen Bereich und spezialisierte Rehabilitationseinrichtungen gleichermafien ein und ist eine Aufgabe aller Kostentrager im Gesundheitswesen.
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Perspektiven
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Nachwort
Nachwort Anke Bramesfeld, Hannover, Gabriela Stoppe, Basel, Friedrich-Wilhelm Schwartz, Hannover
Zum Hintergrund einer Volkskrankheit Nach Modellrechnungen der Weltgesundheitsorganisation sind Depressionen auf dem Wege, die bedeutendste Krankheit unserer Zeit zu werden. Wie weit dies auch fur Deutschland zutrifft, beleuchten Wittchen und Jacobi anhand epidemiologischer Daten in Kapitel 2 (Epidemiologic). Sie gelangen zu der Auffassung, dass gegenwartig sogar von einer Zunahme der Haufigkeit depressiver Erkrankungen auszugehen ist. Aber auch jenseits der Frage, wie stark mittelfristig der Anstieg an Krankheitsfallen einzuschatzen ist, sind Depressionen von grofier Bedeutung fur unsere Gesellschaft. Dies betrifft nicht nur die vermehrte offentliche Wahrnehmung und die erheblichen volkswirtschafflichen Lasten, letztere dargestellt von Stamm und Salize in Kapitel 5 (Volkswirtschaftliche Konsequenzen). Depressionen scheinen iiberdies in besonderer Weise Abbild unserer gegenwartigen gesellschaftlichen Normen zu sein bzw. unseres Verhaltnisses zu diesen. Wie Ehrenberg im Kapitel 6 (Gesellschaftlicher Kontext) ausfuhrt, stehen heute Werte wie Autonomic Selbstverwirklichung und Eigeninitiative im Vordergrund. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist die, dass eine weniger in diesem Sinne gegluckte Lebensfuhrung auf ein Versagen bzw. eine Insuffizienz des Individuums zurackgefiihrt wird und nicht als Ergebnis eines Konflikts mit allgemeinverbindlichen, richtungweisenden Normen. Dazu passend werde eine Depression auch nicht als voriibergehende „losbare" Problematik, sondern vielmehr als Ausdruck einer potenziell chronischen individuellen Schwache gesehen. Depressionssymptome sind aber auch, wie Kraus und Koch in Kapitel 7 (Kultur) ausfuhren, als ein kulturspezifischer Ausdruck fur Belastungserleben zu verstehen. Dieses Belastungserleben, das sich in der west-europaischen Kultur in niedergedriickter Stimmung, Insuffizienzgefuhlen, also einer veranderten Emotionalitat ausdriickt, kann in anderen Kulturen durch primar somati-
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sche Leitsymptome gepragt sein. Beschwerden iiber korperbetonten Missempfindungen stehen dann im Vordergrund. Aus kultursoziologischer Sicht sind daher Haufigkeitsveranderungen von Depressionserkrankungen nicht nur Ausdruck veranderter Belastungen, sondern auch quasi abhangige Variablen gesellschaftlich-kultureller Wandlungsprozesse.
Prevention Der zeitgenossische Diskurs zu volksgesundheitlich bedeutenden Erkrankungsgruppen im somatischen Bereich wird im letzten Jahrzehnt zunehmend von der Idee ihrer Verhinderung durch Vorbeugung gepragt. Dies fuhrte in Deutschland im Jahre 2004 zur Vorlage eines Gesetzentwurfes fur ein Praventionsgesetz, das auch Gegenstand des Koalitionsvertrages des Jahres 2005 ist. Die dahinter stehende Idee ist die, dass angesichts der immensen Kosten und der begrenzten Wirksamkeit der Therapien insbesondere chronischer Erkrankungen, vermehrt das vorhandene Wissen genutzt und ausgebaut werden soil, um das Auftreten dieser Erkrankungen oder ihre Ausbreitung zu verhindern. Vor diesem Hintergrund und auf Grand der wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung depressiver Erkrankungen und ihrer Abhangigkeit von sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen kommt dem Bereich der Prevention depressiver Erkrankungen und der Forderung der seelischen Gesundheit zunehmende Relevanz zu. Wie Kuhner in Kapitel 9 (Frauen) ausfuhrt, wird die etwa doppelte so grofie Haufigkeit von depressiven Storungen bei Frauen am plausibelsten mit einer vermehrten Exposition von Frauen an Risikofaktoren wie sozialer Benachteiligung, abhangige soziale Stellung, Armut, Gewalt etc. erklart. In sofern sind gesellschaftliche und politische Mafinahmen, die zu einer Verbesserung der Stellung der Frau in der Gesellschaft, sozialer Sicherung von Frauen und zum Frauenempowerment fuhren, als Interventionen zur Forderung der seelischen Gesundheit und Prevention depressiver Erkrankung zu verstehen. Von solchen Interventionen ist, insbesondere wenn es sich um Frauen mit Kindern handelt, eine besondere Nachhaltigkeit iiber die Generationen hinweg zu erwarten, denn die emotionale Situation von Kindern steht im engen Zusammenhang mit der Konfliktsituation der Eltern und deren psychischer Stabilitat, wie von Klitzing in Kapitel 11 (Kinder) ausgefuhrt. Uber Ketteneffekte reichen die Effekte womoglich auch bis ins hohe Lebensalter, wie Stoppe in Kapitel 12 (Alte) beschreibt. In der hoheren Altersgruppe gilt es zudem ebenfalls, den Einfluss von Ar-
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mut, sozialer Unsicherheit und geringer gesellschaftlicher Wertschatzung auf die Entstehung bzw. Aufrechterhaltung von Depressionen zu beachten. Von strukturellen Bedingungen, die durch Politikstrategien zu beeinflussen sind, wie z.B. Familienpolitik, ist ein erheblicher Einfluss auf die psychische Gesundheit auf Bevolkerungsebene zu erwarten, wie Bramesfeld in Kapitel 17 (Gesundheitsforderung) erlautert. Dies sollte beim Politikentwicklungsprozess beriicksichtigt werden. Ein weiterer Aspekt in diesem Kontext betrifft die grofie Relevanz des Faktors Arbeit fur die seelische Gesundheit. Wie Grobe et al. in der Analyse der Daten der GEK in Kapitel 3 (Versorgungsgeschehen) zeigten, haben arbeitslose Menschen ein deutlich erhohtes Risiko fur eine Depression. Der allgemeine Gesundheitsstatus von arbeitslosen Menschen ist schlechter als der von Erwerbstatigen. Auch ihr Suizidrisiko ist erhoht. Die Mechanismen, die hierzu fuhren sind komplex, betreffen unter anderem Faktoren wie die Zunahme der Leistungsanforderungen, Belastung der sozialen Beziehungen, Abdriften aus dem Arbeitsmarkt. Wie Brenner in Kapitel 8 (Arbeitslosigkeit) ausfuhrt, ist die gegenwartige Arbeitswelt einerseits gepragt von einer wachsenden Bedeutung intellektuell bzw. kognitiv anspruchsvoller Tatigkeiten. Andererseits wachst die Gruppe derjenigen Personen, die auf Grund geringer Qualifikation, eingeschrankter Belastbarkeit oder einem durch lange Arbeitslosigkeit bedingten Abdriften aus dem Arbeitsmarkt eine zunehmend geringere Chance haben, eine Tatigkeit zu finden. Vor diesem Hintergrund sollte Arbeitsmarktpolitik nicht nur als relevant fur die wirtschaftliche Situation und die soziale Struktur einer Gesellschaft betrachtet werden, sondern auch als bedeutend fur die seelische Gesundheit ihrer Mitglieder. Welche Rolle hierbei eine einseitige, im Sinne von Max Weber „protestantisch" gepragte Wertzumessung der Erwerbsarbeit spielt, im Vergleich zu Familien- und ehrenamtlicher Tatigkeit oder den wirtschaftlich nicht mehr „produktiven" Alten, muss dabei diskutiert werden. Genauso muss beriicksichtigt werden, dass der starker werdende Einfluss einer „kapitalistischen, globalen" Orientierung in den Industriegesellschaften zu Lasten der Stellung und Sicherheit der Beschaftigten in einer Arbeitsgesellschaft geht. Das Beispiel der Niederlande zeigt, dass es moglich ist, flachendeckend Angebote zur Pravention zu etablieren, wie Cuijpers und Mitarbeiter in Kapitel 18 (Pravention) beschreiben. Programme zur Pravention seelischer Erkrankungen und Forderung der seelischen Gesundheit sind in Deutschland bisher kaum vorhanden. Der bisher best-untersuchte und erfolgreichste Ansatz betrifft weniger die primare Pravention als den Bereich der Fruherkennung, wie im Nurnberger Bundnis gegen Depression von Hegerl
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et al. verwirklicht (Kapitel 20, Friiherkennung und Awareness). Positive Effekte dieser Intervention zeigten sich rasch in gesenkten Suizidraten. Ergebnisse iiber den Einfluss der Friiherkennungs- und Awarenesskampagnen auf die Diagnoserate und Behandlungsqualitat sowie iiber mittelund langfristige Effekte stehen noch aus. Erste gemeinsame interdisziplinare Anstrengungen zur bundesweiten Etablierung von Prevention im Bereich psychischer Erkrankungen werden in Deutschland gegenwartig im Rahmen des EU-Projektes „Mental Health Promotion and Prevention Policies and Strategies in EU-Member States and Applicant Countries" (EMIP) unternommen sowie im Rahmen der deutschen Gesundheitszielinitiative (gesundheitsziele.de), die differenzierte Gesundheitsziele zum Thema Depression formuliert hat, von denen auch einige die selektive, indizierte und universelle Prevention betreffen. Dariiber hinaus bildet das German Network for Mental Health (www.gnmh.de) eine Plattform fur in Gesundheitsforderung und Prevention psychischer Erkrankungen involvierte Wissenschaftler, Organisationen und Initiativen. Das Fehlen bisheriger iibergreifender Ansatze zur Prevention psychischer Erkrankungen in Deutschland hat den Vorteil, dass sich an Vorerfahrungen anderer Lander, wie z.B. den Niederlanden, orientiert werden kann. Wie Cuijpers und Mitarbeiter in Kapitel 18 (Prevention) beschreiben, muss die Entwicklung von Praventionsprogrammen fur psychische Erkrankungen auf der Basis einer systematischen Problemanalyse und vorhandener Evidenz erfolgen. Die Zielgruppen mussen prezise definiert werden. Ethische Uberlegungen, wie sie Holm und Burgess in Kapitel 16 (Interventionen und ethischer Kontext) anstellen, und die insbesondere das Thema Stigmatisierung betreffen, mussen dabei berucksichtigt werden. Fragen der Versorgung Nach den in diesem Buch von Wittchen und Jacobi in Kapitel 2 (Epidemiologic) und Grobe und Mitarbeitern in Kapitel 3 (Versorgungsgeschehen) veroffentlichten Daten der Gmiinder Ersatzkasse (GEK), erhalten nur knapp die Halfte aller von Depression Betroffenen, bzw. der als depressiv Diagnostizierten, zumindest einmal eine Therapie verordnet. Die GEKDaten sowie die von Glaeske in Kapitel 4 (Psychopharmakaverbrauch) vorgenommene Analyse des Arzneimittelgebrauchs in Deutschland weisen darauf hin, dass zumindest die Verordnungshaufigkeit von Antidepressiva in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Es ist dabei aber vollig unbe-
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kannt, was iiber die Verordnung hinaus passiert ist und inwieweit Therapien regelrecht durchgefuhrt wurden. Die Wahrscheinlichkeit, eine antidepressive Therapie (Pharma- und/oder Psychotherapie) zumindest einmalig verordnet zu bekommen, ist ungleich in der betroffenen Bevolkerung verteilt und ist besonders gering bei alten Menschen, insbesondere Mannern. Wie von Andrews und Mitarbeitern fur das Beispiel Australien in Kapitel 19 (Interventionspotenziale) modellhaft aufgezeigt, findet sich erhebliches Potenzial zur Reduzierung der durch Depression verursachten Krankheitslast durch zwei Interventionsansatze, die idealerweise kombiniert werden sollten: 1. Einem verbesserten Erreichen der betroffenen Personen. Hierfiir ist von Friiherkennungs- und Awarenessprogrammen, wie sie Hegerl und Mitarbeiter in Kapitel 20 (Friiherkennung und Awareness) vorstellen, ein Beitrag zu erwarten. 2. Einem konsequenten Behandeln und Versorgen der Betroffenen. Hierbei ist von Leitlinien ein Beitrag zu erwarten, wie sie von Harter und Bermejo in Kapitel 21 (Leitlinien) ausgefuhrt werden, bzw. darauf aufbauenden strukturierten Versorgungsprogrammen, wie sie Gensichen und Peitz fur die Allgemeinmedizin in Kapitel 22 (Behandlungspotenziale in der allgemeinarztlichen Versorgung) vorschlagen, sowie einer adaquaten Einbeziehung facharztlicher Kompetenz und Beachtung rehabilitativer Gesichtspunkte, wie dies von Linden in den Kapiteln 23 (Behandlungspotenziale in der facharztliche Versorgung) und 24 (Rehabilitation) ausgefuhrt wird. Gleichzeitig ist es aber fraglich, in wie weit eine Intensivierung der Therapiekonzepte und eine Verbesserung der Aufmerksamkeit allein hilfreich sein werden. Noch zu wenig ist bekannt iiber Auspragung und Ausrichtung von Merkmalen der Menschen, die - obwohl depressiv - entweder nicht diagnostiziert oder nicht behandelt werden, bei denen eine Behandlung nicht erfolgreich ist oder die nach dem heutigen Stand des Wissens unzureichend behandelt werden. Auch ist nicht bekannt, was Ursachen und Begleitumstande unvollstandiger Depressionsbehandlungen sind. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Faktoren wie Geschlecht, Alter, Komorbiditat, soziookonomischer Status, Bildung und Arbeitslosigkeit einen erheblichen Einfluss sowohl auf die Chance als depressiv erkrankt erkannt
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zu werden haben, als auch auf den Verlauf und die Chance, eine leitliniengerechte Behandlung zu erfahren. Beispiele hierfiir sind: • Geschlecht: Es muss davon ausgegangen werden, wie Moller-Leimkuhler in Kapitel 10 (Manner) ausfuhrt, dass eine mangelnde Geschlechtssensibilitat der gegenwartigen Depressionskriterien zu einem Unterdiagnostizieren von Depressionen bei Mannern fiihrt. Mannerspezifische Copingstrategien, zu denen auch Alkoholkonsum und Aggressivitat bzw. Reizbarkeit zahlen, gilt es, in Depressionskonzepten sowie in Interventionsstrategien zu beriicksichtigen. Dazu gehort auch die Problematik generell schlechterer Compliance bei Mannern. Selbst wenn Depressionen bei Mannern diagnostiziert werden, so ist die Wahrscheinlichkeit, eine antidepressive Therapie zu erhalten, geringer als fur Frauen gleichen Alters (vgl. Grobe et al. Kapitel 3, Versorgungsgeschehen). Interventionen zur Suizidpravention nutzen bisher eher den Frauen. Mehr wirksame Interventionen zu entwickeln, sollte angesichts der Tatsache, dass z.B. altere Manner das hochste Risiko haben, an einem Suizid infolge einer Depression zu versterben (s. Stoppe, Kapitel 12 Alte und Wolfersdorf, Kapitel 15 Suizidalitat), Gegenstand weiterer vor allem auch genderspezifischer Versorgungsforschung sein. • Alter: Angesichts der mit steigendem Alter zu verzeichnenden Zunahme der Vergabe von Depressionsdiagnosen (Grobe et al., Kapitel 3 Versorgungsgeschehen), bei gleichzeitigem Anstieg der vollendeten Suizide (vgl. Stoppe, Kapitel 12 Alte und Wolfersdorf, Kapitel 15 Suizidalitat muss von einem Bild der Depression als Krankheit, die vor allem im mittleren Alter relevant ist, abgeriickt werden. Dass dies epidemiologisch bisher so nicht abgebildet wurde, liegt wohl vor allem an falschen Vorstellungen vom „normalen Alter", einer haufiger formal subsyndromalen Presentation der Depression und der ebenfalls haufigen somatischen Komorbiditat in diesem Lebensabschnitt, wie Stoppe im Kapitel 12 (Alte) erlautert. Es werden Interventionskonzepte benotigt, die insbesondere die Komorbiditat von korperlicher und psychischer Erkrankung im Alter beriicksichtigen, denn diese sind von erheblicher Relevanz fur den Verlauf. Gleichzeitig mussen Interventionen fur depressive Syndrome auf die spezifische Lebenslage (Kontakte, Mobilitat, Einschrankung der Sinne, Verlusterleben) von alteren Menschen eingehen. Der bei depressiven alteren Menschen fast ausschliefilich verfolgte Therapieansatz der Psychopharmakotherapie greift in diesem Zusammenhang zu kurz. Leider besteht die iiber Jahre seitens der Fachverbande beklagte psychotherapeutische Unterversorgung alter Menschen weiterhin.
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• Komorbiditat: Was hinsichtlich der Komorbiditat depressiver Erkrankungen im Alter ganz besonders gilt, trifft aber auch fur alle anderen Altersgruppen zu. Es ist damit zu rechnen, dass in Deutschland ca. die Halfe der depressiv Erkrankten auch an mindestens einer weiteren psychischen Erkrankung leidet. Von besonderer Relevanz sind hier die Angst- und Alkoholstorungen, wie Gastpar in Kapitel 14 (Psychische Komorbiditat) darstellt. Bei etwa jedem zweiten depressiven Patienten muss zudem mit mindestens einer behandlungsrelevanten korperlichen Erkrankung gerechnet werden, vor allem aus dem Feld der HerzKreislauf und Schmerzerkrankungen. Wie Lederbogen in Kapitel 13 (Korperliche Komorbiditat) ausfuhrt, erschweren sowohl korperliche als auch psychische Komorbiditat die Behandlung und verschlechtern die Prognose. Schlussfolgernd muss vor diesem Hintergrund davon ausgegangen werden, dass nur eine Minderzahl der Depressionen „einfache" Depressionen sind und der weitaus tiblichere Teil zu Krankheitskomplexen gehort, in denen Depression eines von mehreren Problemen ist. Es ist daher zu uberlegen in wie weit den Realitaten nicht eher Rechnung getragen wird, wenn ahnlich wie bei der Diabetes Erkrankung, die im Rahmen des Metabolischen Syndroms heute therapeutisch anders wahrgenommen wird, Depressionen in bestimmten Konstellationen nicht auch als Teil eines Syndroms betrachtet werden sollten. Denkbar ware z.B. ein Syndrom bestehend aus Gehbehinderung, cerebrovaskularen Lasionen, geringen Sozialkontakten und depressiver Symptomatik von dem insbesondere altere Menschen betroffen sind. Ein anderer moglicher Syndromkomplex konnte aus Arbeitslosigkeit, Alkoholmissbrauch und Depression bestehen. Vor dem Hintergrund, dass die wenigsten depressiven Erkrankungen als „einfacher Erkrankungen" zu verstehen sind und dass sie uberdies in der Mehrzahl rezidivierend auftreten, sind besondere Anspriiche an die Versorgung von Menschen, die an einer Depression leiden zu stellen. Diese Anspriiche betreffen einen mehrdimensionalen Zugang: korperliche, seelische und soziale Aspekte miissen bei der Versorgung depressiver Menschen in einem interdisziplinaren, wohlkoordinierten Zugang beriicksichtigt werden. In der Psychiatrie selbst gilt die Depression schon lange als biopsychosoziale Erkrankung und interdisziplinare Therapien sind hier zumindest im institutionellen Setting verbreitet. Hier wird aber nur ein sehr kleiner Teil, sozusagen die „Spitze des Eisbergs" der depressiven Patienten versorgt (vergleiche Grobe et al., Kapitel 3, Versorgungsgeschehen). Fur Behandlungssettings aufierhalb der Psychiatrie gilt es angemessene
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Konzepte zu entwickeln, auch unter Beriicksichtigung konsiliarischer bzw. Liaisondienste. Fiir die ambulante Versorgung existiert in Deutschland auf facharztlicher therapeutischer Ebene ein reichhaltiges und vielschichtiges Angebot an Interventionsmoglichkeiten fiir Betroffene. Das fachspezifische Versorgungssystem hat so im Prinzip die Moglichkeit, auch sehr individuell auf die Bediirfnisse der Betroffenen zu reagieren, wie Linden in Kapitel 23 (Behandlungspotenziale in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung) ausfiihrt. Leider ist das fachspezifische Versorgungssystem nicht nur fur Laien unubersichtlich und eher schlecht untereinander koordiniert, es finden sich dariiber hinaus auch regional sehr unterschiedliche Versorgungsdichten und -strukturen. Strukturierte Programme, wie Disease Management, Integrierte Versorgung oder aber Chronic Care Programme, wie sie Gensichen und Peitz als Moglichkeiten fur die Allgemeinmedizin in Kapitel 22 (Behandlungspotenziale in der allgemeinarztlichen Versorgung) erlautern konnen hier helfen ebenso wie eine leitlinienorientierte Behandlung inklusive der Definition von Versorgungsschnittstellen. Fiir eine Verbesserung der Depressionsversorgung miissen sich vor allem zwei Dinge im Grundsatz andern. Zum einen sollte der bisherige Zugang mit einem Krankheitsverstandnis der Akutmedizin, einem der Realitat einer wiederkehrenden bzw. chronischen und komplexen Erkrankung angepassten Zugang weichen. Zum anderen muss der Tatsache, dass depressive Erkrankungen nicht isoliert, sondern meist im Verbund mit anderen Erkrankungen sowie spezifischen sozialen und biographischen Lebensbedingungen bestehen, in alien Behandlungssettings Rechnung getragen werden. Dieses veranderte Selbstverstandnis beinhaltet auch ein Integrieren rehabilitativer Aspekte. Linden weist in Kapitel 24 (Rehabilitation) darauf hin, dass aus rein faktisch-inhaltlicher Sicht die umfassende Versorgung, wie sie von Hausarzten und auch Nervenarzten geleistet wird, als medizinische Rehabilitation bezeichnet werden kann. Diese Realitat der taglichen Praxis wird ihnen aber vom Gesetzgeber nicht zugebilligt. In der vom Gesetzgeber definierten und gesetzlich finanzierten medizinischen Rehabilitation hat der Arzt nur die Rolle des Anregers einer Rehabilitation inne, ob die Therapie durchgefiihrt wird, entscheidet der Leistungstrager, in diesem Fall der Renten- oder Krankenversicherungstrager.
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Schlussfolgerung Die Betrachtung depressiver Erkrankungen aus Public Health Sicht fordert Mafinahmen in den folgenden Bereichen:
Gesellschaft • Die psychische Gesundheit der Bevolkerung ist ein prioritares Thema („There is no health without mental health"). • Interventionen zur Prevention von Depressionen sollten auch in Deutschland forcierter entwickelt und implementiert werden. Dies muss jedoch auf der Basis einer fundierten Problemanalyse, evidenzbasiert und unter Beriicksichtigung ethischer Aspekte erfolgen. Das offentliche Bewusstsein fur depressive Erkrankungen muss gestarkt werden. Mafinahmen hierfur sind aufier Friiherkennungs- und Awareness Kampagnen auch die Verbreitung von qualifizierten Informations-, Screenings- und Selbthilfematerialien. Uber die Gesundheitspolitik im engeren Sinne hinaus, sind auch Arbeitsmarkt-, Familien- und Seniorenpolitik von grofier Relevanz fur die Forderung der psychischen Gesundheit und der Prevention psychischer bzw. depressiver Erkrankungen. Politiken miissen starker hinsichtlich ihres Einflusses auf die psychische Gesundheit der Bevolkerung bewertet werden. Gesundheitsversorgung • Die Depressionsversorgung muss dem Wesen depressiver Erkrankungen als Krankheit mit Komorbiditat und hoher Rezidivrate gerecht werden. Insbesondere rehabilitative, aber auch interdisziplinare konsiliar- bzw. liaisonpsychiatrische Anteile in der Versorgung miissen gestarkt werden. • Die Behandlung in nicht-psychiatrischen klinischen Settings, insbesondere der Hausarztmedizin sollte verbessert werden durch Mafinahmen in der Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie der Anwendung von Leitlinien und konsentierten Schnittstellendefinitionen.
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• Friiherkennung und Awareness sollten in breitem Umfang gefordert werden, weil positive Aspekte auf die Behandlungsraten zu erwarten sind. • Evidenzbasierte und leitliniengerechte Behandlung reduziert - australischen Modellrechnungen folgend - nicht nur die Krankheitslast, sondern ist auch kostengiinstiger. Ahnliche Modellrechnungen fehlen fur Deutschland. • Es miissen Interventionen entwickelt werden, um der nachweislichen Unterversorgung in Bezug auf Depressionsbehandlung in bestimmten Gruppen entgegen zu wirken. Dies betrifft insbesondere die Versorgung depressiver alter Menschen und hier insbesondere die Manner. Die zu entwickelnden Interventionen miissen geschlechts- und alterssensibel sein. • Psychotherapie muss auch alteren Menschen im verstarkten Mafi zuganglich gemacht werden. • Bei der Haufigkeit depressiver Syndrome sollten evidenzbasierte Selbstscreening- und Selbsthilfe-Instrumente entwickelt werden, die den Betroffenen leicht zuganglich sind und die Partizipation von Betroffenen und ihrer Angehorigen an der Versorgung erlauben. Fort- und Weiterbildung: • Depressive Syndrome sind typische und haufige Erkrankungen auch im Alter. Die grofie Bedeutung in dieser Altersgruppe und die dargestellten Mangel der Versorgung sollten eine Forderung der Qualifikation der Gesundheitsberufe in Aus-, Fort- und Weiterbildung zur Folge haben. Gegebenenfalls sollte eine entsprechende Schwerpunktbildung dem Verbesserungsbedarf Rechnung tragen. • Die Effektivitat und Sinnhaftigkeit von leitliniengerechter Behandlung muss den Behandlern vermittelt und von ihnen umgesetzt werden. • Die Relevanz depressiver Erkrankungen und ihrer Begleiterscheinungen sollte integraler Teil des allgemeinen Public Health Wissens sein. Die Kenntnis liber depressive Erkrankung muss automatisch zu den Lehrinhalten von Berufen, die Mediatorenfunktion haben, wie Lehrer, Pfarrer, Altenpfleger, Sozialarbeiter.
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Forschung • Der Schwerpunkt der Depressionsforschung und Forschungsforderung auf biologische und molekulare Aspekte verfehlt die Wirklichkeit depressiver Erkrankungen. Zukunftig muss sich Wissenschaft mehr mit den fiir die Depression relevanten Umweltfaktoren und moglichen Interventionen beschaftigen. Eine facheriibergreifende Forschung unter Beriicksichtigung biologischer, psychologischer und sozialwissenschaftlicher Aspekte erscheint wichtig. • Public Mental Health Forschung sollte in Deutschland vermehrt zu einer Selbstverstandlichkeit werden. • Gleichzeitig und spezifisch muss die Versorgungsforschung gestarkt werden. Von den Ergebnissen sind Informationen zu erwarten, wie der Graben zwischen Versorgungswirklichkeit und -moglichkeit iiberwunden werden kann. So wissen wir noch zu wenig liber die Depressionsbehandlung in vivo, d.h. aufierhalb von klinischen Studien. Dariiber hinaus ist zu wenig iiber die Non-Responder bekannt sowie diejenigen, die keine Behandlung erhalten oder suchen bekannt.
Druck- und Bindearbeiten: Sturtz GmbH, Wurzburg