Ulrich Glöckler Soziale Arbeit der Ermöglichung
VS RESEARCH
Ulrich Glöckler
Soziale Arbeit der Ermöglichung „Agenc...
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Ulrich Glöckler Soziale Arbeit der Ermöglichung
VS RESEARCH
Ulrich Glöckler
Soziale Arbeit der Ermöglichung „Agency“-Perspektiven und Ressourcen des Gelingens
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Verena Metzger / Britta Göhrisch-Radmacher VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18025-0
Inhaltsverzeichnis
Einleitung……………………………………………………………………….. 9 1
Agency-Perspektiven als Elemente der Ermöglichung in der Sozialen Arbeit ........................................................................................................ 17 1.1 Agency als Handlungsmächtigkeit .................................................. 17 1.2 Bedingungen und Grenzen .............................................................. 20
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Die erste Agency-Perspektive: Ressourcen zur persönlichen Entwicklung im Wechselspiel von Denken und Handeln ......................... 23 2.1 Reflexion und Entwurf von Handlungen – an eigener Erfahrung lernen ............................................................................................... 23 2.2 Aneignung von Wirklichkeit ........................................................... 24
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Die zweite Agency-Perspektive: Ressourcen in der Reflektion von Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung ......................................... 25 3.1 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung als Basis von Erfahrungen ..................................................................................... 25 3.1.1 Die innere Repräsentation des mit unseren Sinnesorganen Wahrgenommenen .............................................................. 25 3.1.2 Der Abgleich der inneren Repräsentationen mit bereits Erlerntem und Erfahrenem .................................................. 26 3.2 Der Bezugsrahmen der Wahrnehmung ............................................ 27 3.2.1 Der Bezugsrahmen als Grundlage von Bewertung, Deutung und Klassifizierung .............................................. 28 3.2.2 Lebenswelt und Weltsicht (wissenssoziologische Perspektive) ......................................................................... 29 3.2.3 Verinnerlichte und reflektierte Werte und Normen (soziologische, philosophische und entwicklungspsychologische Perspektiven) ........................ 32 3.2.4 Entwicklung des Individuums (Ontogenese) und Bildung (pädagogische Perspektive) ................................................. 36 3.2.5 Aneignung, Zukunft und Subjektivität (Perspektiven von sozialwissenschaftlich orientierter Erziehungswissenschaft,
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3.3
3.4
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Neurowissenschaft, systemtheoretischer Soziologie und differenzieller Kommunikationspsychologie) ..................... 38 Bewerten, Deuten und Klassifizieren .............................................. 46 3.3.1 Die geistige Grundeinstellung – das „mental set“............... 46 3.3.2 Bewertung ........................................................................... 46 3.3.3 Induktive und deduktive Prozesse....................................... 47 3.3.4 Deutung............................................................................... 51 3.3.5 Klassifizieren/Kategorisieren.............................................. 60 Ereigniskorrelierte Potentiale: Hilfen zum Verständnis von Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung................................ 77 3.4.1 Grundsätzliches zum „ereigniskorrelierten Potential“ (EKP) .................................................................................. 77 3.4.2 P 100: Routine und hohe Effizienz im Wahrnehmungsprozess........................................................ 79 3.4.3 N1-P3: Aufmerksamkeit und Umgebung: die Relativbeurteilung in der Wahrnehmung ......................... 82 3.4.4 N 2 – P 3 – „missmatch-negativity“................................... 84 3.4.5 P 300 – N 400 (kurz P 3 – N 4): „search negativity“ ......... 88 3.4.6 Die „späte Bahnung“: P 600 – Elaboration als Reanalyse oder tentative Wirklichkeitsverarbeitung ............................ 92 Zusammenfassung: Ressourcen in der Reflektion von Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung................................ 94
Die dritte Agency-Perspektive: Soziale Arbeit mit Symbolen zur Unterstützung vielfältiger Ressourcenpotentiale .................................... 105 4.1 Der wechselseitige Prozess von Aneignung und Vergegenständlichung: Semiotisierung und kulturspezifische Generierung von Symbolen ........................................................... 106 4.2 Der Terminus „Symbol“ ................................................................ 107 4.3 Symbole als vergegenständlichte soziale Deutungsmuster............ 108 4.4 Diskursive und präsentative Symbolik .......................................... 108 4.4.1 Die Verschmelzung von diskursivem und präsentativem Charakter der Symbole...................................................... 109 4.4.2 Symbolbildung, Interaktion und Assoziation.................... 110 4.4.3 Einbezug von Phantasie in den Wirklichkeitsverarbeitungsprozess ................................... 111 4.4.4 Einsatz von Symbolen bei der Erfahrungsaufarbeitung .... 112 4.5 Zwischenzusammenfassung: Symbole im Prozess der Ressourcenförderung ..................................................................... 114
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Die vierte Agency-Perspektive: Ressourcen im unmittelbaren Erleben und in medial vermittelten Erfahrungen ................................................. 115 5.1 Begriffliche Klärung...................................................................... 115 5.2 Charakteristische Merkmale .......................................................... 116 5.3 Erste Konsequenzen....................................................................... 117 5.4 Exemplarische Betrachtungen: „Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“ und „Hyperaktivität“ (ADS/ADHS), Prävention und Hilfe........... 119 5.4.1 Symptomatik ..................................................................... 119 5.4.2 Präventive Aspekte ........................................................... 120 5.4.3 Tentative Wirklichkeitsverarbeitung: Prävention, Hilfe, Nachsorge bei Kindern mit „AufmerksamkeitsHyperaktivitätsdefizitsyndrom“ ?...................................... 122 5.5 Abschließende Überlegungen zu diesem Kapitel .......................... 124
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Die fünfte Agency Perspektive: Ressourcenaktivierung im Alltagshandeln auf dem Hintergrund von Aneignung und Wirklichkeitsverarbeitung....................................................................... 127 6.1 Lebenswelt und Alltag................................................................... 127 6.2 Gesellschaftliche Entwicklungen und die Relativierung des Einflusses der Lebenswelt auf die Deutungsprozesse der Individuen...................................................................................... 128 6.3 Alltagshandeln und effektive Wirklichkeitsverarbeitung .............. 128 6.4 Alltagswahrnehmung als unbewusste Rechtfertigungsstrategie: die Abwehr von „Aufklärung“...................................................... 129 6.5 Über die Entwicklung neuer Ziele, neuer Lebensperspektiven und Sinnhorizonte hin zu einem „gelingenderen Alltag“ .............. 130 6.5.1 Erfahrungsaufarbeitung und Ressourcen .......................... 130 6.5.2 Erweiterung des Erfahrungshorizontes ............................. 131 6.5.3 Zeit gewinnen durch Analyse „blinder Flecken“ im Alltagshandeln und verbesserte Nutzung von Ressourcen ........................................................................ 131 6.5.4 Entwickeln von Zielen und Perspektiven sowie Zieltraining: Lösungs- und Ressourcenorientiertheit (Empowerment)................................................................. 131 6.6 Resümierendes Fazit...................................................................... 132
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Die sechste Agency-Perspektive: Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung. Der Zugang zu eigenen Kraftquellen .................. 133 7.1 Sozialisationsprozess, Individuation, Identität, Persona und das Selbst ............................................................................................. 133
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Inhaltsverzeichnis
7.2 7.3 7.4 7.5
Selbsterkenntnis............................................................................. 135 Persönliche Entwicklung und sozialer Kontext ............................. 137 Kultur- und Kunstprodukte: Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung ..................................................................... 137 Phantasie als Ressource ................................................................. 140 7.5.1 Phantasie, Interpretation und Sinnerschließung ................ 141 7.5.2 Emotionale Prozesse als Stimuli für schöpferische Phantasie ........................................................................... 144 7.5.3 Mit Phantasie den richtigen Entwicklungsweg finden ...... 146
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Resümee: Agency durch selbstreflexive Ressourcenaktivierung – Perspektiven der Gestaltung einer Sozialen Arbeit der Ermöglichung ... 149
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Literatur................................................................................................... 151
Einleitung
Das grundlegende Ziel dieser Abhandlung ist es, sowohl professionellen Akteuren/-innen in den vielfältigen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit als auch Forschenden, Lehrenden und Studierenden in diesem Bereich theoretische Anregungen für eine Soziale Arbeit der Ermöglichung zu geben und damit zur Erschließung neuer Aspekte im professionellen Handeln Sozialer Arbeit beizutragen. Eine Soziale Arbeit der Ermöglichung im hier verstandenen Sinne richtet ihre Aufmerksamkeit aus unterschiedlichen Perspektiven auf die
Steigerung von Handlungskompetenz, die selbstgesteuerte Aneignung und die Entwicklung psychischer und sozialer Ressourcen
der von ihr betreuten Akteure/-innen. Das Konzept einer Sozialen Arbeit der Ermöglichung verbindet die strukturelle Perspektive sozialer Entwicklung mit der interaktionistischen Perspektive der Bewältigung über die Handlungsfähigkeit (vgl. Reutlinger, Ch. 2008:198204). Letztere ist Gegenstand der sozialwissenschaftlichen „Agency“ - Diskussion, aus der sich so das soziale Entwicklung und Bewältigung verbindende Element der Ermöglichung herauskristallisieren lässt (vgl. ebda. 204-211). Aus diesem Grund schließt die vorliegende Abhandlung an die aktuelle Fachdiskussion über Agency-Perspektiven in der Sozialen Arbeit an. Dabei geht es darum, dass zunächst aktuelle Ansätze internationaler Unterstützungsforschung über „Agency“ aufgegriffen werden, die sich vor allem mit der Entwicklung jeweils eigener Handlungsmöglichkeiten, Handlungsvielfalt und Handlungsmächtigkeit der durch Soziale Arbeit betreuten Akteure/-innen beschäftigen (vgl. Raitelhuber, E. 2008: 17 – 45; Reutlinger Ch 2008: 200 – 211; Hirschler, S.; Homfeldt, H.G. 2006: 41 -54). Dazu wird der theoretische Hintergrund der Begrifflichkeit Agency beleuchtet, um ein tieferes Verständnis des Begriffes zu erlangen: Es wird in Kürze – und unter klarer Schwerpunktsetzung auf Agency - die sogenannte „Strukturationstheorie“ des britischen Soziologen Antony Giddens erläutert und der Bezug
U. Glöckler, Soziale Arbeit der Ermöglichung, DOI 10.1007/978-3-531-93120-3_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Einleitung
zur aktuellen Fachdebatte der Disziplin Soziale Arbeit hergestellt werden (z.B. Reutlinger Ch. 2008 oder Hirschler, S. und Homfeldt, H.G. 2006). Darauf aufbauend erfolgt eine kritische Reflexion des Agency-Begriffes und die Thematisierung von Bedingungen und Grenzen der Förderung von Handlungsmächtigkeit. Dabei wird vor allem auf den langjährigen Mitarbeiter Erich Fromms, den Tiefenpsychologen Michael Maccobi Bezug genommen, um die Grenzen zwischen Handlungsmächtigkeit zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit einerseits und der Macht über Menschen andererseits auszuloten. Agency als Handlungsmächtigkeit in dem in dieser Abhandlung verstandenen Sinne bezieht sich also auf die Verwirklichung eigener Vorstellungen von Akteuren/-innen jeweils im Kontext der Gestaltung „menschlicher Verhältnisse... im Zeichen von Gerechtigkeit, Gleichheit, Toleranz und Solidarität“ (Thiersch, H. 1997: 15). Allerdings können in dieser Abhandlung die politischen Komponenten, die solche individuellen Beiträge zur Gestaltung des Sozialen notwendigerweise ergänzen müssen (Thiersch, H. 1997: 25), nicht thematisiert und problematisiert werden, da dies den Rahmen dieser Abhandlung sprengen würde. Die hier vorgetragenen Anregungen zu Entwicklung von Agency sollten allerdings immer auf dem Hintergrund der Bereitschaft verstanden werden, sich für sozialstaatliche Verantwortung und den Erhalt einer möglichst gerechten und toleranten Gesellschaft einzusetzen. In einem so verstandenen Sinne werden im weiteren Verlauf dieser Abhandlung unterschiedliche Agency-Perspektiven im Rahmen einer Sozialen Arbeit der Ermöglichung entfaltet. Es sollen dabei Voraussetzungen und Bedingungen zur Einleitung vielfältiger Unterstützungs- und Ermöglichungsprozesse deutlich werden, die nutzbare Ressourcen mobilisieren und stabilisieren. In einer ersten Agency-Perspektive werden Möglichkeiten
zu persönlicher Entwicklung, zur Aneignung, zur Erweiterung und Stabilisierung sozialer und psychischer Ressourcen
aus dem Wechselspiel von Entwurf – als antizipierter Zukunft – einerseits und Reflexivität von Erfahrungen andererseits herauskristallisiert werden. Dazu sollen die diesbezüglichen Ausführungen Benners (1991) sowie Impulse aus einer für die pädagogische Anwendung entfaltete Aneignungstheorie (z. B. Glöckler, U. 1989) aufgegriffen, interpretiert und weiterentwickelt werden. Der Begriff der Bildung ist hier ein die Persönlichkeit als Ganzheit begreifender gemeint. Entwicklungsmöglichkeiten zu initiieren steht dabei im Vorder-
Einleitung
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grund einer im Rahmen von „Mitwirkungsmöglichkeiten am eigenen Bildungsprozess ausgerichteten Hilfe“ (Benner, D. 1991: 59). Eine zweite Perspektive von Agency im Rahmen einer ermöglichenden Sozialen Arbeit ergibt sich aus der Auseinandersetzung mit Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung als Produkt von Erfahrung einerseits und Grundlage weiterer Handlungsstrategien andererseits. In diesem Zusammenhang spielt vor allem das innere Referenzsystem eine große Rolle. Zu dessen Erläuterung werden neben explizit pädagogischen auch philosophische, psychologische und soziologische Theorieansätze in einen breiteren Rahmen gestellt und interpretiert werden. Auf die Erläuterung der biologischen Aspekte bei der Konstituierung des internen Referenzsystems wird allerdings verzichtet, da dies den Rahmen der Abhandlung sprengen würde. Die beschriebene Vorgehensweise bildet die Basis zur Herausarbeitung von Ressourcen bei der Reflexion von Bewertungs-, Deutungs- und Klassifizierungsprozessen im Rahmen der Förderung von Agency in einer Sozialen Arbeit der Ermöglichung. Auf dieser Grundlage werden die Bedeutungen der Korrelationen zwischen spezifischen Ereignissen und deren Wahrnehmung sowie der entsprechenden Wirklichkeitsverarbeitung für den Prozess der Ressourcenförderung erläutert. Vorteile des Routinehandelns im Alltag, aber auch dessen Begrenzungen werden deutlich. Chancen des schnellen Zugriffs auf das durch Vorerfahrungen geprägte Wissen bezüglich der sozialen Welt und die Konsequenz dessen – die hohe Geschwindigkeit der Beurteilung von Situationen – werden erörtert. Auf die sich daraus ergebende Ressource, die Fähigkeit schneller Entscheidungsfindung und unmittelbarer Handlungsfähigkeit, aber auch auf die Gefahren von damit einhergehenden Fehleinschätzungen – sowie deren Vermeidung durch gezieltes Training – wird in diesem Zusammenhang eingegangen werden. Des Weiteren wird die Bedeutung der Einschätzung von Umgebungsinformationen zur Relativbeurteilung beleuchtet werden. Dabei wird auch das Ergebnis falscher Einschätzungen thematisiert, nämlich die Möglichkeit, dass das Situationsmodell mit dem tatsächlich eintretenden Ereignis nicht übereinstimmt („missmatch“). Die dabei eintretende „Orientierungsreaktion“ wird auf Chancen der Förderung persönlicher Entwicklungsprozesse von betreuten Akteuren/innen hin untersucht. Darüber hinaus werden positive Bedingungen von Gedächtnissuchprozessen geschildert. Welche Voraussetzungen beachtet werden sollten, damit Gedächtnissuchprozesse so optimal wie möglich ablaufen, wird hierbei deutlich werden. Im Anschluss daran erfolgt eine Auseinandersetzung mit der sogenannten „späten Bahnung“. Hierbei spielt die Auseinandersetzung mit neuen Kategorien
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Einleitung
eine große Rolle. Verstand und Phantasie treten in einen Schaukelprozess: diese Wirklichkeitsverarbeitungsform wird von dem Pädagogen Winfried Marotzky als „tentativ“ bezeichnet (vgl. Marotzky, W. 1991). Sie eröffnet die Möglichkeit, zur Erweiterung und Differenzierung des Kategoriensystems der durch Soziale Arbeit betreuten Akteure/-innen beizutragen. In einem weiteren Kapitel soll eine dritte Agency-Perspektive entfaltet werden: Die seither dargestellten Zusammenhänge ergänzend, erfolgt eine Auseinandersetzung mit der Aktivierung vielfältiger Ressourcenpotentiale durch die Arbeit mit Symbolen. Auf der Grundlage des Aneignungsprozesses wird zunächst geklärt, wie ein Gegenstand zum Symbol wird, was ein Symbol als solches auszeichnet und wie es – beispielsweise durch Kommunikation, Tradierung und mediale Vermittlung – intersubjektive Verständlichkeit erlangt. Es wird aufgezeigt werden, dass Allegorien, Embleme, Metaphern oder Analogien hoch komplexe Sachverhalte schnell erfassbar machen und damit entscheidend auf die Bildung von Situationsmodellen einwirken können. In dieser Eigenschaft können sie auch intendierte Umdeutungsprozesse implementieren und/oder beschleunigen, also beim sogenannten „Reframing“ – einer Methode von Virginia Satir (vgl. Satir, V.; Baldwin, M. 1991) – quasi als Katalysator eingesetzt werden. Daneben werden die Möglichkeiten der Aktivierung von Ressourcenpotentialen durch Anregung von Phantasietätigkeit in der Arbeit mit Symbolen herauskristallisiert werden. Relevant ist dies für Soziale Arbeit vor allem immer dann, wenn innerhalb schwieriger Lebenssituationen der von ihr betreuten Akteure/-innen neue Ziele und Perspektiven entwickelt werden sollen. Methodisch eingebettet werden kann dies beispielsweise in das Konzept lösungsorientierter Beratung (vgl. De Shazer, Steve 1996). Nicht zuletzt wird zu zeigen sein, dass Symbole im Prozess der Erfahrungsaufarbeitung eine gewichtige Rolle spielen können. Vor allem wenn es darum geht, unbewusst „gespeicherte“ Deutungs- und Klassifizierungsvorgänge – als nicht unbedeutenden Teil des Erfahrungsschatzes – aufzuarbeiten, können Symbole einen sehr guten Beitrag leisten. Beispielsweise indem sie in Form von Analogien Intuitionen freisetzen und Zugriffe auf kollektive Bedeutungsgehalte und individuelle Prägungen gleichermaßen erlauben. Auf der Grundlage dieser Analysen wird eine vierte Agency-Perspektive erhellt. Dabei wird über zwei bedeutende Prozesse der Erfahrungsgenerierung nachgedacht:
Einleitung
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unmittelbares Erleben und medial vermittelte Erfahrungen
Reflektiert werden in diesem Zusammenhang auch die beiden Prozessen impliziten Ressourcenpotentiale. Zunächst werden charakteristische Merkmale innerhalb der Bewertungs-, Deutungs- und Klassifizierungsprozesse einander gegenübergestellt und auf Konsequenzen hinterfragt. Exemplarisch werden diese Konsequenzen auf eine Praxis Sozialer Arbeit im Handlungsfeld der Erziehungsberatung im Bereich Prävention und Hilfe bei Kindern mit „Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätssyndrom“ (ADHS) bezogen. Dabei werden die diesbezüglichen exemplarischen Ausführungen im Rahmen der ereigniskorrelierten Potentiale aufgegriffen und vertieft werden. In einer fünften Agency-Perspektive werden die bisher erläuterten Sachverhalte für eine Ressourcenaktivierung im Alltagshandeln fruchtbar gemacht und neu illustriert. Dabei wird der Einfluss der Lebenswelt auf die Deutungsprozesse der Individuen vor dem Hintergrund massenmedialer Präsenz relativiert. Alltagshandeln wird einerseits als effektive Wirklichkeitsverarbeitung gewürdigt. Andererseits wird die alltägliche Wirklichkeitsverarbeitung hinsichtlich der Gefahr analysiert, dass sie teilweise den Blick auf kausale Zusammenhänge verstellt. Auf dieser Basis wird aufgezeigt werden, wie über die Entwicklung neuer Ziele, neuer Lebensperspektiven und Sinnhorizonte mehr Selbstverwirklichung und soziale Verbundenheit der durch Soziale Arbeit betreuten Akteure/-innen erreicht werden kann: Durch Erfahrungsaufarbeitung, Erweiterung des Erfahrungshorizontes, verbesserte Nutzung von Ressourcen, Analyse „blinder Flecken“, Zielentwicklung und -training im Rahmen von Ermöglichungsprozessen. Daran anknüpfend wird eine sechste Agency-Perspektive vorgestellt: der Zugang zu eigenen Kraftquellen der betreuten Akteure/-innen durch Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung. Prozesse wie Sozialisation, Individuation und Identitätsfindung sollen auf der Grundlage von Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung unter die Lupe genommen werden, um vorhandene und zu entwickelnde Ressourcen der betreuten Akteure/-innen transparent zu machen. Solche Erkenntnisse über vorhandene und zu entwickelnde Ressourcen bei den betreuten Akteuren/-innen bilden die Basis und den Rahmen von Bildungsprozessen innerhalb einer Sozialen Arbeit der Ermöglichung. Derartige Bil-
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Einleitung
dungsprozesse sollen über die Stabilisierung, Mobilisierung und (Re-) Aktivierung von Ressourcen die persönliche Entwicklung der betreuten Akteure/-innen fördern. Persönliche Entwicklung ist auch das zentrale Anliegen C.G. Jungs, dessen Ausführungen – wie er selbst betont – in weiten Teilen stark an den großen Pädagogen Pestalozzi erinnern. Zur Erweiterung des Blicks werden die Überlegungen dieses bedeutenden Tiefenpsychologen einbezogen und auf die Generierung von Ressourcen der betreuten Akteure/-innen bei ihrer Erfahrungsaufarbeitung hin expliziert. Diese Erfahrungsaufarbeitung im Rahmen einer biographische Orientierung (vgl. Krüger, H.- H. 1999: 16) erlaubt es den durch Soziale Arbeit betreuten Akteuren/innen, die eigene Lebensgeschichte als die eigene Lerngeschichte zu begreifen, als die Geschichte eigener Aneignung von Wirklichkeit, eigener Handlungen und Erfahrungen, eigener Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung. Die Aufarbeitung der eigenen Erfahrungen und damit eines Teils ihrer Lebensgeschichte eröffnet somit für die betreuten Akteure/-innen Lern-, also Entwicklungsmöglichkeiten (vgl. Baacke, D. und Schulze, Th. 1979 sowie Schulze, Th. 1999: 51), die ihre Handlungsmächtigkeit (Agency) steigern können. Viele Inhalte des Unbewussten sind allerdings direkter Erzählarbeit innerhalb der Biografieaufarbeitung nur äußerst schwer zugänglich. Um innerhalb einer Sozialen Arbeit der Ermöglichung dennoch an solchen Ressourcen der betreuten Akteure/inne anknüpfen zu können, bietet sich folgende Herangehensweise an: Gemeinsam nähern sich professionelle Akteure/-innen Sozialer Arbeit und von ihnen betreute Akteuren/-innen Kultur- und Kunstprodukten interpretierend an. Solche – die Selbsterkenntnis der jeweils einzelnen betreuten Akteure/-innen und die Selbstentäußerung des Künstlers/der Künstlerin verbindenden – Interpretationen können für die Erkenntnis unbewusster Gedächtnisinhalte nutzbar gemacht werden. Dieser Zusammenhang und mögliche Wege seiner Umsetzung in die sozialpädagogische Praxis sollen hier auf der Basis der Ausführungen Carl Gustav Jungs aufgezeigt werden. Anhand zweier exemplarischer Abhandlungen soll dies deutlich werden: die erste bezieht sich auf Angebote gemeinsamer Lyrikinterpretationen („Literaturcafé“), die eine ressourcenorientierte Soziale Arbeit in unterschiedlichsten Handlungsfeldern bereichern können. Vielfältige Assoziationen der betreuten Akteure/-innen aus ihren Biografien, ihren aktuellen Lebenssituationen und ihren unterschiedlichen Erfahrungsbereichen können hierbei einfließen und thematisiert werden.
Einleitung
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Zum anderen geht es um emotionale Prozesse als Stimuli für schöpferische Phantasie, um neue Wege und Möglichkeiten zu generieren und Auswege aus krisenhaften Situationen zu ermöglichen. Dies mündet in der Erschließung von Ressourcen der betreuten Akteure/innen durch das Finden jenes persönlichen Entwicklungsweges, der ihrer eigenen Persönlichkeit und ihrem Selbstentwurf entspricht. Soweit ein kurzer Abriss der unterschiedlichen Agency-Perspektiven im Rahmen einer Sozialen Arbeit der Ermöglichung. Grundsätzlich gilt, dass die Orientierung einer solchen Sozialen Arbeit der Ermöglichung an den von ihr zu betreuenden Akteure/-innen eine ihrer zentralen Grundlagen bildet. Zu deren Umsetzung soll die vorliegende Abhandlung einen Beitrag stiften. Dabei wird allerdings auf die Ausführung entsprechender institutioneller Rahmenbedingungen und konzeptioneller Verortungen dementsprechender Maßnahmen, Angebote und Programme in dieser Abhandlung weitgehend verzichtet. Handlungsfelder und Institutionen werden nur innerhalb exemplarischer Fälle erwähnt. Diese sollten so verstanden werden, dass sie auch auf andere Handlungsfelder analog Anwendung finden können. Es obliegt der fachlichen Kompetenz der praktizierenden und werdenden professionellen Akteure/-innen, die entsprechenden Transferleistungen zu vollziehen und die hier gegebenen Anregungen in den jeweiligen spezifischen Handlungsfeldern entsprechend institutionell einzubetten. Insgesamt wird es also um Anregungen gehen
zum wechselseitigen Verhältnis zwischen Zukunftsentwürfen und Erfahrungsreflexion, zu Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung, zur Arbeit mit Symbolen, zu unmittelbarem Erleben und medial vermittelten Erfahrungen, zur Reflexion von Alltagshandeln und zu Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung,
um Ressourcen aufzudecken, zu fördern, zu erweitern und zu stabilisieren.
1 Agency-Perspektiven als Elemente der Ermöglichung in der Sozialen Arbeit
1.1 Agency als Handlungsmächtigkeit Zunächst soll nun auf die inhaltliche Einbettung sowie auf die begriffliche und inhaltliche Klärung von „Agency“ eingegangen werden. Innerhalb einer Sozialen Arbeit der Ermöglichung gilt es zunächst, vielfältige Möglichkeiten der Gestaltung von Lebensformen zu erkennen, und sie entsprechend der jeweiligen Persönlichkeit betreuter Akteure/-innen einerseits und den jeweils strukturell vorgegebenen Bedingungen andererseits je nach Lebenssituation möglichst optimal zu nutzen. Zudem können diese Gestaltungsmöglichkeiten noch erweitert werden, indem persönliche Weiterentwicklung und/oder strukturelle Veränderungen ermöglicht werden. Dies entspricht den aus der internationalen Unterstützungsforschung resultierenden „Ageny-Perspektiven“. „Agency“ leitet sich vom englischen „agent“ also Akteur ab, dem selbständig handelnden Menschen innerhalb bestimmter Strukturen. Christian Reutlinger bringt die hier im Fokus stehenden Betrachtungsweisen wie folgt auf den Nenner:„Mit einer Agency-Perspektive können soziale Probleme in Gestaltungsoptionen übersetzt werden…Gestaltungsoptionen werden ausgelotet und Ermöglichungsstrukturen ausgebaut“ (Reutlinger, Ch. 2008: 207). Dabei wird keine institutionalisierte Struktur vorgegeben. Deshalb wird auch – wie bereits einleitend bemerkt – in der folgenden Abhandlung nicht auf Formen institutionalisierter Hilfe eingegangen werden. Vielmehr sollen aus einer Agency-Vorstellung heraus Wege aufgezeigt und Möglichkeiten eröffnet werden, wie „Interaktionsstrukturen auf- und ausgebaut werden (können), um Menschen in Gestaltungsprozesse hineingehen zu lassen“ (a.a.O.). Um den Hintergrund dieser Agency-Perspektiven etwas zu erhellen, soll kurz und holzschnittartig einer der konstituierenden Theorieansätze, nämlich die Strukturationstheorie – auch als Theorie der Strukturierung bezeichnet – des britischen Soziologen Giddens (zusammen mit Lucas Sanders: 1984) referiert werden. Der Schwerpunkt der Ausführungen wird dabei auf der Herausarbeitung der Hintergründe und Bedeutungen von Agency liegen.
U. Glöckler, Soziale Arbeit der Ermöglichung, DOI 10.1007/978-3-531-93120-3_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Agency-Perspektiven als Elemente der Ermöglichung in der Sozialen Arbeit
Ein Leitgedanke dieses Ansatzes ist die Wechselwirkung zwischen Struktur und Handeln. Soziale Strukturen sind nach Giddens zunächst ein grundlegendes Medium des Handelns und sie werden durch dieses auch immer wieder reproduziert. Aber Strukturen können sich in Folge von Handlungsprozessen auch verändern. Diese Wechselseitigkeit von Handeln und Struktur bezeichnet Giddens als Dualität der Struktur. Ein wichtiges Merkmal dieser Dualität ist die Tatsache, dass die Strukturmomente sozialer Systeme neben begrenzenden immer auch ermöglichende Qualitäten enthalten. Dies kann anhand einer Analogie, nämlich der Sprache verdeutlicht werden. Die grammatikalischen Regeln bilden ihre Struktur. Genau wie soziale Strukturen die Grundlage sozialer Interaktion bilden, dienen die grammatikalischen Grundstrukturen als Basis sprachlichen Handelns (vgl. 224). Die Sprachstrukturen werden immer wieder innerhalb der Alltagsroutinen reproduziert, können sich im Verlaufe der Zeit aber auch im diskursiven Prozess etwas verändern. Die grammatikalischen Regeln begrenzen nun die sprachliche Ausdrucksfähigkeit in gewisser Weise, ermöglichen aber erst, dass das jeweilige Gegenüber überhaupt versteht, was gemeint wird. Die Einhaltung der grammatikalischen Regeln ermöglicht also erst die verbale Kommunikation. Es hängt nun von den Fähigkeiten des jeweils Einzelnen ab, inwieweit er sich innerhalb der gegebenen Regeln sprachlich vielfältig auseinandersetzen kann. Gute Schriftsteller oder große Redner entwickeln hierbei wahre Meisterschaften ohne sich an der Begrenzung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit durch grammatikalische Regeln zu stören. Kleine Regelverstöße, beispielsweise von Poeten, erschweren mitunter die Verständlichkeit können aber die Interpretationsvielfalt erhöhen und dauerhaft Änderungen im Regelsystem herbeiführen. Soweit die Analogie. Bezogen auf Handeln innerhalb sozialer Strukturen kann nun also gesagt werden, dass zunächst die sozialen Strukturen zwar Grenzen in Form von Regeln vorgeben, die Einhaltung dieser Regeln aber gleichzeitig Ressourcen freisetzen, indem dadurch beispielsweise gemeinsames Handeln oder produktive soziale Interaktion ermöglicht wird. Je ausgeprägter nun die Fähigkeit ist, innerhalb der durch die Struktur festgelegten Regeln die in der Struktur enthaltenen Ressourcen für die eigene Handlungsweisen zu nutzen, umso vielfältiger und differenzierter sind die Handlungsmöglichkeiten und desto überzeugender die Erfolge der Handlungen. Dieser Gesichtspunkt ist nun entscheidend für die Herausarbeitung der Bedeutung von „Agency“. Der Erfolg des Handelns und die Handlungsoptionen im Kontext sozialer Strukturen hängt nämlich, so Giddens, sehr wesentlich von den Fähigkeiten der Akteure/-innen ab, unter Berücksichtigung der Regeln Ressourcen möglichst optimal zu nutzen. Akteure/-innen, die beispielsweise ein theoreti-
1.1 Agency als Handlungsmächtigkeit
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sches Verständnis für ihr Handeln haben, also Motive und Intentionen kennen, können zum Beispiel diese Ressource nützen, um unbeabsichtigte Folgen im Voraus einzuschätzen und somit zu verhindern, dass sich dadurch Bedingungen für weitere Handlungsabläufe verschlechtern. Macht versteht Giddens deshalb unter anderem als Fähigkeit des/der Akteurs/in, sein/ihr Verhalten seiner/ihrer Vorstellung entsprechend zu gestalten. Und genau dies ist Agency: durch die Fähigkeit, im Handeln als Akteur/in Ressourcen optimal zu nutzen und dadurch ein Höchstmaß jener Macht zu erreichen, die nötig ist, um die eigenen Vorstellungen umzusetzen. Dazu gehört es auch, intendierte Ergebnisse zu erreichen, gegebenenfalls neue Wege zu beschreiten, auch wenn nötig Erwartungshaltungen nicht zu erfüllen und trotzdem für die soziale Umwelt berechenbar zu bleiben. Zu diesen Fähigkeiten kann auch gehören, reflektiert situationsadäquate Regelverstöße so zu begehen, dass sie auf Grund der Gegebenheiten in der jeweiligen Situation vom sozialen Umfeld toleriert werden können. Damit können sich soziale Strukturen langfristig verändern. Eine so verstandene Macht – nämlich eigene Vorstellungen durch handeln umsetzen zu können – bildet nach Giddens kein Hindernis für Freiheit und Emanzipation, sondern ist ein Mittel dazu (vgl. 314). Entscheidend für Agency ist die nachprüfbare Tatsache, dass die Fähigkeit, Ressourcen für das eigene reflektierte Handeln bestmöglich zu nutzen, die Chance, eigene Vorstellungen umzusetzen erhöht und damit die Macht über eigene Gestaltungsmöglichkeiten. Agency ist also die Fähigkeit, durch kompetentes Handeln unter bestmöglicher Ausnutzung von Ressourcen innerhalb der gegebenen sozialen Strukturen die Macht über eigene Gestaltungsmöglichkeiten zu erweitern. Daher könnte der Begriff Agency etwa mit den Begrifflichkeiten „Handlungsfähigkeit“ oder „Handlungsmächtigkeit“ von Akteuren ins Deutsche übertragen werden (vgl. Böhnisch, L. und Schröer, W. 2008: 47). Da der Bedeutungsgehalt von Agency aber, wie aus dem oben geschilderten Kontext hervorgeht, doch etwas von diesen deutschen Begrifflichkeiten abweicht, wird im Folgenden auf den ursprünglichen englischen Begriff nicht ganz verzichtet werden können. Zusammenfassend kann mit Sandra Hirschler und Hans-Günther Homfeldt gesagt werden: „Agency-Theorien beziehen sich in ihrem Grundverständnis auf die Selbstdeutung der Akteure und thematisieren Ressourcen, um diese mit der Gestaltung sozialer und zivilgesellschaftlicher Entwicklungsprozesse zu verknüpfen. Agency entsteht aus der Fähigkeit des Menschen, Dingen und Angelegenheiten Bedeutungen zuzuschreiben, entsprechend Situationen zu definieren und danach zu handeln“(Hischler, S., Homfeldt H.G. 2006: 50).
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1 Agency-Perspektiven als Elemente der Ermöglichung in der Sozialen Arbeit
1.2 Bedingungen und Grenzen Kritisch reflektiert werden muss allerdings die Tatsache, dass die Fähigkeiten, sich durch das eigene Handeln Macht zu verschaffen um eigene Vorstellungen umzusetzen, auch missbraucht werden kann. Es kann sich zum Beispiel darum handeln, dass jemand Intrigen spinnt um andere zu übervorteilen oder dass jemand gezielt nach Bündnispartnern sucht, um eigene Machtinteressen durchzusetzen. Insofern ist vom Standpunkt einer sich humanen und demokratischen Werten verpflichtet fühlenden Sozialen Arbeit Agency als Handlungsmächtigkeit nur in reflektierter Form zu fördern, nämlich nur insoweit, als klare Grenzen dort gesetzt werden, wenn andere Menschen geschädigt oder beeinträchtigt werden. Eine zu individualistische Sichtweise, in der gesellschaftliche Wirkfaktoren hinsichtlich von Macht und Einfluss unterschätzt werden, sollte aus einer solchen Sicht heraus abgelehnt werden. Die Umsetzung eigener Vorstellungen, die Fähigkeit der Selbstrealisation sollte auch immer innerhalb einer Perspektive von Rücksichtnahme auf die Interessen und Vorstellungen anderer betrachtet werden. Dabei sind Ziele wie „Win-Win“ – Lösungen, Konsens-Findung in fairen Aushandlungsprozessen usw. anzustreben. Der Tiefenpsychologe Michael Maccoby, ein langjähriger Mitarbeiter von Erich Fromm, hat sich im Zusammenhang mir der Frage der „umfassenden Entfaltung menschlicher Fähigkeiten und der Persönlichkeit“ (1989:7f.) im Arbeitsleben mit dieser Frage bereits vor zwanzig Jahren beschäftigt und war insofern seiner Zeit weit voraus. Er unterscheidet
einerseits die Macht, „um das Selbst zu beherrschen, zu verstehen, schöpferisch zu sein, zu lieben und zu genießen; ... um von anderen respektiert zu werden, um sinnvolle Beziehungen und ein Gefühl der Würde und Integrität aufrechtzuerhalten“. und andererseits „die Macht über Menschen“ (181).
Um die erstere geht es bei den Agency-Perspektiven in der Sozialen Arbeit. Dass die Vermittlung einer solchen Macht aus einer demokratischen und humanen Sicht im Sinne von Partizipations- und Integrationsaufgaben Sozialer Arbeit anstrebenswert ist, wird deutlich, wenn man aufmerksam verfolgt, was Maccobi bezüglich der Angehörigen einer damals neuen Generation, die nach Selbstverwirklichung strebten schreibt: „Sie wollen keine Macht über Menschen, aber sie fürchten mit Recht Machtlosigkeit und Stagnation. Sie glauben, dass Macht korrumpiert, aber sie erfahren auch, dass
1.2 Bedingungen und Grenzen
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Machtlosigkeit verdirbt. Sie erzeugt Wut, regressiven narzisstischen Selbstschutz und Unbeweglichkeit. Das zeigt sich ... in der Gewalttätigkeit palästinensischer Terroristen und arbeitsloser schwarzer Jugendlicher aus Großstadtghettos ...“(179)
Es geht also in einer Sozialen Arbeit mit Agency-Perspektiven darum, den Akteuren zu Macht über sich selbst zu verhelfen und resignativen Ohnmachtgefühlen entgegen zu wirken. Dabei sollte aber durch reflektierten Umgang mit dieser Form von Macht darauf geachtet werden, dass sie nicht in Macht über andere umschlägt und deren korrumpierender Charakter sich Bahn bricht.
Auch dazu, wie dies zu bewerkstelligen ist, gibt Maccobi Hinweise. Folgende Handlungsmaximen sollten beachtet werden, damit das Individuum bei der Verwirklichung eigener Vorstellungen auch die Entwicklungsmöglichkeiten seiner Mitmenschen ermöglichen kann und somit diese nicht durch die eigene Handlungsmächtigkeit „überfahren“ oder „untergebuttert“ werden. Die erste Handlungsmaxime ist Fürsorge. Damit ist keine kompromisslose Hilfe in jeder Lebenslage gemeint, sondern die Tatsache, dass sich unsere Mitmenschen auf uns verlassen, uns vertrauen können, die jeweils andere Person wertschätzen und achten (vgl. 182-184). Die zweite Handlungsmaxime ist die Freiheit. Das bedeutet, den Mitmenschen ihre eigenen Entfaltungsmöglichkeiten zubilligen, Macht nicht zu unterdrückerischen Kontrolle zu missbrauchen, keine Kriecherei oder Unterwerfung zu erwarten(vgl. 184-187). Die Dritte besteht in Disziplin. Da dieser Begriff gerade im Deutschen etwas negativ besetzt ist soll hier Maccobi wörtlich zitiert werden, um zu verdeutlichen, dass es sich hierbei nicht um zwanghafte Militärdisziplin handeln sollte. Zur Disziplin gehört nach Maccobi nämlich auch „die geschulte Fähigkeit, den Verlockungen einer Konsumgesellschaft zu widerstehen, sich trotz Ablenkungen zu konzentrieren, aufmerksam zuzuhören und zwischen Behauptungen, falschen Versprechungen und Werbetricks zu unterscheiden...(187). Dazu sollte sich Ausgewogenheit gesellen, ein „Gleichgewicht zwischen Arbeit und Liebe, Meisterschaft und Spiel, Geist und Körper, Kopf und Herz“ (189). Eine eigene Harmonie zu entwickeln, an eigenen Balancen arbeiten, mit sich selbst in Einklang kommen, all das sind Ziele einer solchen Ausgewogenheit. Und letztendlich sollte Bindung eine Maxime für Handeln sein. Gerade in einer Gesellschaft, in der der Individualisierungsdruck sehr hoch ist, besteht die Gefahr, dass sich jeweils Einzelne isolieren und sich nur für ihre eigenen Interessen einsetzen. Dem sollte Bindung entgegenwirken. Das bedeutet Energien zu bündeln, Verlässlichkeit und Verbindlichkeit zu gewährleisten, auch bei unterschiedlichen Rollenerwartungen berechenbar zu bleiben und Verantwortung in Gemeinschaften zu übernehmen (vgl. 189 f.).
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1 Agency-Perspektiven als Elemente der Ermöglichung in der Sozialen Arbeit
Soweit die tiefenpsychologisch begründeten Hinweise Maccobis, die sehr gut einer individualistisch verkürzten Sichtweise von Handlungsmächtigkeit entgegensteuern können. Agency als Handlungsmächtigkeit in dem in dieser Abhandlung verstandenen Sinne bezieht sich also auf die Entwicklung von Lebens- und Verhaltensmustern, die sich auf die Verwirklichung eigener Vorstellungen immer auch im Kontext der Gestaltung des Sozialen richten. Eines Sozialen das, wie Hans Thiersch es ausdrückt, „menschliche Verhältnisse“ meint, „im Zeichen von Gerechtigkeit, Gleichheit, Toleranz und Solidarität“ (Thiersch, H. 1997: 15). Dies und die vorgetragenen Handlungsmaximen Maccobis berücksichtigend, kann der Gefahr entgegengewirkt werden, dass die Handlungsmächtigkeit einzelner zur Übervorteilung anderer führt und damit die Macht über sich selbst in willkürliche Macht über andere mündet. Dass zur Gestaltung des Sozialen das Zusammenspiel „von bürgerlicher Selbstzuständigkeit und sozialstaatlicher Verantwortung“ (Thiersch, H. 1997: 29) notwendig ist, sollte nicht unberücksichtigt bleiben. Die hier vorgetragenen theoretischen Anregungen für professionelle Akteure Sozialer Arbeit zu Entwicklung von Agency als Handlungsmächtigkeit sollen also von diesen immer auch auf dem Hintergrund gesehen werden, dass daneben die Bereitschaft entwickelt werden sollte, für sozialstaatliche Verantwortung innerhalb einer möglichst gerechten und toleranten Gesellschaft einzutreten. Die Förderung von Agency im Sinne dieser Abhandlung, eine Soziale Arbeit aus Agency-Perspektiven, besteht nun in der Einleitung vielfältiger Unterstützungs- und Ermöglichungsprozesse unter Beachtung der hier zusammengetragenen Reflexionen.
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Die erste Agency-Perspektive: Ressourcen zur persönlichen Entwicklung im Wechselspiel von Denken und Handeln
2 Die erste Agency-Perspektive: Ressourcen zur persönlichen Entwicklung Der Ausgangspunkt folgender Ausführungen ist also die Absicht, reflektierte Agency zu fördern. Das bedeutet Unterstützungs- und Ermöglichungsprozesse einzuleiten, die es Akteuren erlauben, ein hohes Handlungspotential zu entwickeln, also innerhalb alltäglicher und nicht-alltäglicher Situationen zahlreiche Handlungsalternativen zur Verfügung zu haben: Ressourcen zu stabilisieren und zu mobilisieren. Dazu gilt es zunächst den Zusammenhang von Denken und Handeln genauer zu beleuchten.
2.1 Reflexion und Entwurf von Handlungen – an eigener Erfahrung lernen Zunächst hilft dabei das von Dietrich Benner im Rahmen einer allgemeinen Pädagogik entwickelte Bildungskonzept, das an der „Möglichkeit der Dialektik von Erinnerung und Entwurf als Basis für ein Lernen aus eigener Erfahrung“ (Benner, D. 1991: 60) ansetzt. Die Voraussetzung dafür ist folgender durch Benner beschriebene Zusammenhang, der auch für die Weiterführung und das Verständnis der vorliegenden Abhandlung zentral ist: „Unsere Denktätigkeit ist gebunden durch unser vergangenes Tun. Unser Tun ist gebunden durch unsere vorausgegangene Denktätigkeit und unsere Entwürfe sind gebunden durch unsere vorausgegangenen Reflexionen. Unsere Reflexionen sind gebunden durch unsere vorausgegangenen Entwürfe. Zugleich gilt: Unser Denken ist offen für zukünftiges Handeln (Entwurf), unser Handeln ist offen für zukünftiges Denken(Reflexion), unsere Entwürfe sind offen für künftige Reflexion, unsere Reflexion ist offen für künftige Entwürfe.“ (Benner, D. 1991:70)
U. Glöckler, Soziale Arbeit der Ermöglichung, DOI 10.1007/978-3-531-93120-3_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Denken, Handeln, Aneignung
Benner geht also davon aus, dass unser Handeln durch unsere vorausgegangene Denktätigkeit beeinflusst wird und beim Handeln wiederum Reflexionsmöglichkeiten eröffnet werden. Die erfolgenden Reflektionen bilden die Basis von Entwürfen weiterer Handlungsstrategien. Diese Entwürfe sind als Denkprozesse wiederum die Grundlage für neue Handlungsabläufe. So können wir zukünftiges Handeln durch Denkprozesse antizipieren, also Handlungsstrategien entwickeln, Handlungsentwürfe vorausdenken und diese Handlungsstrategien bereits im Vorfeld einer kritischen Reflexion unterziehen. Die Bereitschaft zu solcher Handlungsreflexion und die Fähigkeit dazu gilt es zu fördern. Dadurch steigen die Chancen des Gelingens, werden Ressourcen mobilisiert und stabilisiert.
2.2 Aneignung von Wirklichkeit Dieses Wechselspiel unseres Denkens als Erinnerung, Entwurf und Reflexion mit unserem Handeln ist auch Gegenstand der sogenannten Aneignungstheorie. In diesem Theorieansatz wird davon ausgegangen, dass sich der Mensch die Welt handelnd erschließt, somit also auch das Handeln mit der mit ihm verbundenen Erfahrung Grundlage des Denkens wird, welches dann wiederum auf das Handeln als gestaltendem Entäußerungsprozess einwirkt. Aneignung bezeichnet also einen aktiven Prozess, innerhalb dessen sich der Mensch handelnd in der Welt erfährt und sich dabei sukzessive deren Bedeutungen erschließt (vgl. Leontjew A. N. 1982; Glöckler U. 1989). Indem der Mensch durch seine Aktivitäten die äußere Realität verändert, eignet er sich zugleich durch Entwicklung von Fakten- und Deutungswissen deren Strukturen an, was er wiederum zur weiteren erfolgreichen Realitätsgestaltung braucht (vgl. Jäger, J. und Kuckhermann R. 2004: 28 und 31 f). Äußere Realität wird durch die Erfahrung mit ihr innerlich repräsentiert. Aneignung kann auf diesem Hintergrund als handlungsbezogener Verinnerlichungsprozess und Verarbeitungsprozess von Erfahrungen angesehen werden, als Konsequenz eines auf Erkenntnis ausgerichteten Wahrnehmungsprozesses. Aneignung neuer Erfahrungen ist dabei immer geprägt von den bereits vorher verinnerlichten Erfahrungen und deren Bewertung. Die Förderung vielfältiger Möglichkeiten von Aneignungsaktivitäten steigert die Ressourcen betreuter Akteure/-innen. Sie ist daher ein wichtiger Beitrag zur Stärkung von Agency und damit auch einer Sozialen Arbeit der Ermöglichung.
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Die zweite Agency-Perspektive: Ressourcen in der Reflektion von Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
3 Die zweite Agency-Perspektive: Ressourcen in der Reflektion 3.1 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung als Basis von Erfahrungen Der angesprochene Wechselprozess von Denken und Handeln und der beschriebene Aneignungsprozess – beides wichtige Faktoren hinsichtlich der Entwicklung vielfältiger Handlungsstrategien – verweisen auf eine gemeinsame Basis: auf die auf Erkenntnis ausgerichteten Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsverarbeitungsprozesse. Denn unser Denken und Handeln, also auch unsere Aneignungstätigkeit, basieren im Wesentlichen darauf, wie wir uns und unsere soziale sowie materielle Umwelt wahrnehmen und die entsprechenden sinnlichen Wahrnehmungen verarbeiten. Die Entwicklung autonomer Handlungsfähigkeit, die Steigerung der Fähigkeit, Ressourcen zur Umsetzung eigener Gestaltungsvorstellungen zu nutzen, diese Ressourcen zu mobilisieren und zu stabilisieren – all dies lässt sich mit der Reflexion von Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung fördern. Daher werden den Prozessen von Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung in dieser Abhandlung eine besondere Beachtung zuteil.
3.1.1 Die innere Repräsentation des mit unseren Sinnesorganen Wahrgenommenen Neurowissenschaftlich und kognitionspsychologisch gesehen leiten im Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsverarbeitungsprozess zunächst unsere Sinnesorgane, wie Augen, Ohren, Nase usw., die von ihnen aufgenommenen Informationen über Nervenbahnen in Form von kleinen aber messbaren elektrischen Energien an die jeweils für die entsprechenden Sinneseindrücke zuständigen Areale des Neokortex (Großhirnrinde). So ist für die Verarbeitung visueller Eindrücke ein bestimmtes Areal auf der Großhirnrinde bestimmt, für die Verarbeitung auditiver
U. Glöckler, Soziale Arbeit der Ermöglichung, DOI 10.1007/978-3-531-93120-3_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
Eindrücke ein weiteres usw. Diese Areale können als „sensorisches Register“ bezeichnet werden (vgl. Bösel R.M., 2001: 15-53): Ensembles von Neuronen leisten dort innere Repräsentationen (sozusagen Widerspiegelungen) von Ereignissen und Phänomenen (vgl. ebda 67-226). Das bedeutet, dass unsere Sinnesorgane eine große Anzahl an Informationen an unser Gehirn „senden“, die dort zur weiteren Auswertung sortiert und „zwischengespeichert“ werden. Also erst auf den jeweils zuständigen Arealen der Großhirnrinde werden die aufgenommenen Informationen - Kognitionspsychologen sprechen von „Reizen“ – so koordiniert und angeordnet, dass wir uns ein „Bild“ machen können. Mit anderen Worten: unser Auge kann hervorragend funktionieren, doch wenn das zuständige Areal auf der Großhirnrinde nicht oder nur unzureichend arbeitet – evtl. durch eine Verletzung – sehen wir nichts oder nicht gut. Erst die inneren Repräsentationen der durch die Sinnesorgane aufgenommenen und weitergeleiteten Reize auf den jeweils zuständigen Arealen der Großhirnrinde erlaubt das, was wir unter Wahrnehmung verstehen. Denn diese inneren Repräsentationen bilden die Basis dessen, was als jeweils neue Erfahrung in das Gedächtnis eingeht.
3.1.2 Der Abgleich der inneren Repräsentationen mit bereits Erlerntem und Erfahrenem Bevor diese „Abspeicherung“ von neuen Erfahrungen im „Langzeitgedächtnis“ erfolgt, werden diese innerlich repräsentierten neuen Informationen mit bereits bestehenden Wissens- und Gefühlsbeständen verglichen. Das heißt, wechselseitige Bahnungen – sogenannte „Feedbackschleifen“ zwischen den oben erwähnten Arealen der Großhirnrinde („Neokortex“) und den jeweils relevanten Bereichen im Inneren unseres Gehirns ermöglichen die Beurteilung der aktuellen inneren Repräsentationen auf der Basis zurückliegender Erfahrungen. Zur vertiefenden Erläuterung ein kleines Beispiel: Nehmen wir an, ein Kollege/eine Kollegin arbeitet in der Offenen Jugendarbeit. Da wird er/sie im Verlauf seiner/ihrer Arbeit mit vielen jeweils neuen Jugendlichen konfrontiert. Jedes Gesicht – und gegebenenfalls die dazugehörige Stimme, der Köperbau etc. wird im Verlauf seiner/ihrer Wahrnehmung durch die entsprechenden Sinnesorgane aufgenommen und auf den Arealen der Großhirnrinde repräsentiert. Die „Feedbackschleifen“ – jene Bahnungen zwischen Großhirnrinde und Gehirninnerem – ermöglichen den „Abgleich“ dieser inneren Repräsentationen
3.2 Der Bezugsrahmen der Wahrnehmung
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mit dem von dem/der Kollegen/in früher Erlernten und Erfahrenen, also mit bereits früher wahrgenommenen Personen. Dieser „Abgleich“ geschieht meist in Bruchteilen von Sekunden und bleibt unbewusst. Ergibt dieser Abgleich der aktuell entstandenen inneren Repräsentation eines Gesichtes mit den bereits gespeicherten Erfahrungen beispielsweise, dass der/die Kollegen/in mit einem sehr ähnlichen Gesicht schon mal äußerst schlechte Erfahrungen gemacht hat, wird er/sie diese neue Person zunächst spontan als unsympathisch einschätzen, erinnert es ihn/sie dagegen an positive Ereignisse oder an einen guten Freund, beurteilt er/sie die neue Person spontan als sympathisch: damit kann das Phänomen der „Übertragung“, das bereits in der Tiefenpsychologie beschrieben wurde, erklärt und verstanden werden. Das ist hier des besseren Verständnisses halber noch etwas vereinfacht dargestellt. Nähere Erläuterungen und Klärungen werden im Rahmen der Abhandlung über die einzelnen Verarbeitungsschritte „Bewertung“, „Deuten“ und „Klassifizieren“ erfolgen. Zudem ist festzuhalten, dass innerhalb solcher Abgleiche von inneren Repräsentationen mit bereits verinnerlichten Erfahrungen und Wissensbeständen für die daraus folgende Beurteilung nicht alle Gedächtnisinhalte die gleiche Rolle spielen: Besonders relevant sind jene Gedächtnisinhalte, die das sogenannte innere Referenzsystem, den inneren Bezugsrahmen für Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung (frame of reference) prägen. Daher werden wir uns im Folgenden diesem Bezugsrahmen sehr intensiv widmen und auch untersuchen, welche Ressourcen sich aus der Reflexion der ihn prägenden Elemente ergeben.
3.2 Der Bezugsrahmen der Wahrnehmung Wir können also davon ausgehen, dass die angesprochene Erfahrungen generierende Verarbeitung sinnlicher Wahrnehmung – durch Bewertungs- Deutungsund Klassifizierungsprozesse – wesentlich auf der Grundlage eines verinnerlichten Bezugsrahmens vorgenommen wird. Darauf hingewiesen wurde insbesondere von Wolfgang Metzger, einem Gestaltpsychologen, der sich sehr intensiv mit der Erforschung von Wahrnehmungsprozessen beschäftigte (Metzger, W. 1966: 693-722). Zu den theoretischen Hintergründen seines Schaffens gehören vor allem die Erkenntnisse der sich als multidisziplinär verstehenden Gestalttheorie, zu deren Begründern Max Wertheimer (1925), Kurt Kloffka (1935) und später auch Kurt Lewin (1963) gehören.
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
Auch in der humanistischen Psychologie, bei Carl Rogers, finden wir den Verweis auf die Wichtigkeit eines inneren Bezugsrahmens (1987/1959: 184256).
3.2.1 Der Bezugsrahmen als Grundlage von Bewertung, Deutung und Klassifizierung Wenn wir den in der Gestalttheorie und der humanistischen Psychologie explizierten inneren Bezugsrahmen („frame of reference“) als verinnerlichtes referenzielles System den oben aufgeführten neurowissenschaftlichen und kognitionspsychologischen Erkenntnissen gegenüber stellen, können wir uns diesen geistigen Bezugsrahmen als im Inneren unseres Gehirns „abgespeicherten“ Wissensbestand vorstellen, der – vermittelt über Feedbackschleifen zwischen der Großhirnrinde und dem Inneren unseres Gehirns – die erwähnte „neuronale“ Repräsentation auf den Arealen der Großhirnrinde zu bewerten, zu deuten und zu klassifizieren hilft. Ein Beispiel aus der Sozialen Arbeit soll die Bedeutung des inneren Bezugsrahmens veranschaulichen: Ein Sozialpädagoge, der im offenen Bereich einer Jugendfreizeiteinrichtung arbeitet, ist darauf angewiesen, neue Jugendliche, die den von ihm betreuten Bereich aufsuchen, schnell einzuschätzen. Das erleichtert die Kontaktaufnahme, hilft bei der Einschätzung von Konfliktpotentialen etc. Dazu gehört die schnelle Einschätzung des ungefähren Alters, der ethnischen Herkunft, der körperlichen Präsenz usw. Widmen wir uns exemplarisch der körperlichen Präsenz und hier dem Faktor der Körpergröße: Ob ein neuer Jugendlicher, der den Raum betritt, eher groß oder relativ klein ist, kann der Sozialpädagoge aus dem Vergleich seiner Größe beispielsweise mit der Höhe des Türrahmens des Raumes, den der Jugendliche betritt, mit den Einrichtungsgegenständen im Raum, mit anderen Besuchern/ -innen des Jugendtreffs usw. abschätzen. Er stellt also einen Bezug zwischen der Körpergröße dieses Jugendlichen und den Gegenständen des Umfeldes her. An diesem Beispiel wird deutlich: Um Gegenstände, Personen oder Ereignisse die wir wahrnehmen beurteilen zu können, müssen wir Bezüge zu anderen Dingen im Kontext des Wahrgenommenen herstellen. Die Summe dieser Kontextinformationen bildet ein externes Bezugssystem. Dieses externe Bezugssystem bildet eine erste Grundlage für das Bewerten, das Deuten und das Klassifizieren, also der Wirklichkeitsverarbeitung.
3.2 Der Bezugsrahmen der Wahrnehmung
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Um allerdings diese Kontextinformationen aus dem jeweiligen externen Bezugssystem ihrerseits einschätzen zu können – und das ist notwendig, um die jeweiligen Vergleiche anzustellen – brauchen wir über sie ein Wissen: Wenn der Sozialpädagoge den Türrahmen, die Einrichtungsgegenstände des Raumes, die anderen Besucher/-innen der Einrichtung usw. schon oft gesehen hat, weiß er aus Erfahrung welche Größe sie jeweils haben und er kann dann daraus auf die Größe des neuen Jugendlichen schließen. Etwas allgemeiner ausgedrückt haben wir über viele Gegenstände, Zusammenhänge, Beziehungen zwischen den Gegenständen und Personen oder Personen untereinander Wissen, aber auch Bewertungen, Gefühle etc. im Inneren unseres Gehirns abgespeichert. Zusammen genommen bildet dies den inneren Bezugsrahmen zur Beurteilung, also Bewertung, Deutung und Klassifizierung des Wahrgenommenen. Da dieser innere Bezugsrahmen als inneres referenzielles System sehr vielschichtig ist, werden zur Bestimmung jener Faktoren, die an seiner Prägung beteiligt sind, unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen integriert. Dabei finden nur die wichtigsten Faktoren besondere Erwähnung. Diese werden holzschnittartig erläutert. Auf weiterführende Literatur und die wissenschaftlichen Quellen wird jeweils verwiesen.
3.2.2 Lebenswelt und Weltsicht (wissenssoziologische Perspektive) Eine sehr wichtige Prägung erfährt unser innerer Bezugsrahmen als inneres referenzielles System durch die jeweilige Lebenswelt, in der wir unsere Sozialisation durchleben, unsere Aneignungstätigkeiten vollziehen, unsere sozialen Erfahrungen sammeln, unsere Sinnhorizonte und unsere spezifische Weltsicht entwickeln. Der Begriff Lebenswelt geht auf den Philosophen Edmund Husserl zurück und wurde von dem Begründer der Wissenssoziologie, Alfred Schütz, weiterentwickelt. Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1972: 139-182) aber insbesondere auch Jürgen Habermas (1981: 183-192 und 205-218) ergänzen und erweitern den Ansatz von A. Schütz (1974,1932). Die Lebenswelt kann zunächst als Erfahrungshorizont der jeweiligen Menschen umrissen werden. Es ist jener Ausschnitt aus der Wirklichkeit, den der jeweils Einzelne wahrnehmen und verarbeiten kann, über den er sich aber auch mit anderen Menschen – vor allem mit denjenigen, die ähnliche Erfahrungen machen – austauscht.
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
In diesem Austauschprozess entsteht eine gemeinsame Sicht der Dinge. Diese Sichtweise bildet die Handlungsgrundlage der dieser Lebenswelt zugehörigen Menschen und wird zunächst, so Schütz, nicht hinterfragt. Jenem Wissen, das sich aus Erfahrungen und Auseinandersetzungen in der entsprechenden Lebenswelt herauskristallisiert hat, messen die dieser Lebenswelt zugehörigen Menschen allgemeine Gültigkeit zu (vgl. Luckmann, Th. Schütz, A. 1979: 26 ff). Jürgen Habermas erweitert die Analysen von Schütz unter dem Blickwinkel der Kommunikationsmöglichkeiten von Menschen in einer Lebenswelt untereinander um drei Gesichtspunkte: Kultur, Gesellschaft und Person (Habermas 1981, Bd. 2 192- 211): Zunächst zum ersten Aspekt („Kultur“): Er fasst das sich herauskristallisierende Wissen von dem Schütz spricht etwas genauer und beschreibt es als „kulturellen Wissensvorrat“. Zunächst also ist das Wissen ein „kulturelles“. Betrachtet man Kultur als die „Gesamtheit überlieferungsfähiger Lebensformen...die für eine Gesellschaft typisch sind“ (Fürstenberg, F.2004: 10) kann dieses Wissen als jenes überliefertes „know how“ verstanden werden, das die Gestaltung von Lebensweisen in der entsprechenden Lebenswelt ermöglicht. Dabei handelt es sich um einen Vorrat an Wissen. Wie man also bei Hunger auf einen Vorrat an Lebensmitteln zurückgreifen kann, wenn man friert auf einen Vorrat an Heizöl oder Pellets, so kann das Individuum auf einen Vorrat an Wissen zurückgreifen, das in einer Lebenswelt in Form überlieferter und untereinander ausgetauschter Erfahrungen über Gestaltungsmöglichkeiten von Lebensweisen existiert. Habermas zeigt auf, wann und wozu der jeweils Einzelne auf diesen Vorrat zurückgreift: Er bedient sich dieses Wissens, um gemeinsam mit anderen Individuen seiner sozialen Welt, den Alltag möglichst optimal bewältigen zu können. Zur optimalen Alltagsbewältigung muss jeder wissen:
Was ist für mich/uns in dieser Situation besonders wichtig? Wie soll/en ich/wir bestimmte Ereignisse beurteilen?
Beides, nämlich „Wertmaßstäbe“ als Wissensbestände zur Beantwortung der ersten Frage, als auch „Deutungsmuster“ zur Klärung der zweiten sind in der Lebenswelt verankert. (Auf beide wird in dieser Abhandlung gesondert noch näher eingegangen werden). Der zweite Gesichtspunkt („Gesellschaft“) bezieht sich auf die gesellschaftlich vorgegebenen normativen Orientierungen von Menschen, die sie sich im Kontext der jeweiligen Lebenswelt aneignen: Von den einer bestimmten Lebenswelt zugehörigen Menschen wird ein gewisser Grundbestand an Normen anerkannt ohne diese in Frage zu stellen. Damit werden die gesellschaftlichen
3.2 Der Bezugsrahmen der Wahrnehmung
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Strukturen reproduziert: Es wird – vermittelt über die Lebenswelt – eine soziale Ordnung geschaffen und die Beziehungen der Menschen untereinander werden durch die den Normen entsprechenden Verhaltensweisen im Sinne dieser sozialen Ordnung geregelt. Der dritte Aspekt („Person“) bezieht sich auf die Sozialisation von jeweils einzelnen Menschen innerhalb einer Lebenswelt. Sie bildet mit ihrem kulturellen Wissensvorrat und den von allen akzeptierten Normen sozusagen die Basis des Hineinwachsens eines Kindes in die gesellschaftliche Wirklichkeit, die Grundlage für seine Entwicklung als Teil einer sozialen Gemeinschaft. Das auf der Basis des lebensweltspezifischen Sozialisationsprozesses erworbene Wissen und die innerhalb dieses Prozesses verinnerlichten Normen befähigen das sich so entwickelte Individuum, sich der lebensweltlichen Wirklichkeit gemäß verhalten zu können, zu kommunizieren, Kontakte aufzubauen und zu pflegen. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass im Rahmen eines lebensweltspezifischen Austauschprozesses auf den bereits überlieferten Wissensvorrat („Kultur“) einer Lebenswelt zurückgegriffen werden kann. Innerhalb dieses Austauschprozesses werden verbindliche normative Orientierungen produziert oder reproduziert(„Gesellschaft“). Gemeinsame Sinnhorizonte (vgl. Luckmann, Th. Schütz, A. 1979: 46-50), gemeinsame Sichtweisen und Einschätzungen – eine gemeinsame „Weltsicht“ – entwickelt sich heraus. Diese wird vom jeweils Einzelnen („Person“) im Sozialisationsprozess, also beim Hineinwachsen in die Gesellschaft, verinnerlicht und prägt so sein inneres Bezugssystem.
Reflexion von „Weltsicht“ als Ressource Eine stark eingeschränkte Weltsicht kann den Bezugsrahmen so beeinflussen, dass erfolgreiche Handlungen blockiert werden. Beispielsweise kann ein durch die entsprechende Weltsicht ausgeprägtes Misstrauen gegenüber allen Fremden in einem kleinen Ort dazu führen, dass gute Anregungen eines im Ort fremden Menschen, der auf Grund seiner anderen Erfahrungen manche Prozesse oder Abläufe in einem anderen Lichte sieht, schnell verworfen werden. Sicherlich ist es schwierig, die lebensweltbedingten Weltsichten auf Beschränktheiten hin zu reflektieren, da sie ja durch die anderen Menschen in der selben Lebenswelt bestätigt werden. Eine solche Reflexion ist am besten gemeinsam mit anderen Freunden, Verwandten, Bekannten usw. im sozialen Netzwerk oder der Peer-Group, unter
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
Einbezug eines/einer oder mehrerer Menschen, die andere Lebenswelten kennen, zu leisten. Zu solchen Reflexionen können auch Kunstwerke, Dokumentationen, Theaterstücke etc. beitragen. Einrichtungen Sozialer Arbeit, wie etwa Jugendfreizeitstätten, Bürgertreffs, Kindertagesstätten, aber auch Schulen inklusive der Schulsozialarbeit, Institutionen der Erwachsenenbildung u.v.a. können durch die reflexionsstiftende Kooperation mit Einrichtungen zur Integration von Migranten und Migrantinnen oder mit Menschen mit Behinderung etc. hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Sichtweisen zu reflektieren und dadurch Sinnhorizonte zu erweitern vervielfacht Handlungsoptionen, eröffnet neue Chancen, verbessert Partizipations- und Zugangsmöglichkeiten im beruflichen, sozialen sowie politischen Umfeld und kann daher als erhebliche Ressource hinsichtlich einer autonomen Lebensgestaltung betrachtet werden.
3.2.3 Verinnerlichte und reflektierte Werte und Normen (soziologische, philosophische und entwicklungspsychologische Perspektiven)
Werte Im erwähnten Sozialisationsprozess verinnerlichen wir auf dem Hintergrund der beschriebenen Lebenswelt Werte und Normen (vgl. etwa Habermas, J. 1981: 183-192; 205-218). Werte sind wichtige Bausteine einer Kultur, sie vermitteln Sinn und Bedeutung innerhalb eines lebensweltlichen Kontextes. Dabei kann unterschieden werden:
in persönliche Werte wie beispielsweise Freundlichkeit oder Vertrauen, materielle Werte wie Geld oder Sachwerte, geistige Werte wie Bildung und Kombinationsfähigkeit, Kreativität oder Intelligenz, religiöse Werte die sich aus dem jeweiligen Glauben ergeben und sittliche Werte wie beispielsweise ein den moralischen Vorstellungen entsprechendes Benehmen. Das könnte zum Beispiel Toleranz oder Freiheit sein, auch gegenseitige Hilfe oder Zuverlässigkeit.
Werte sind also nicht rein ökonomisch zu verstehen und sie besitzen für die jeweiligen Mitglieder der Lebenswelt eine gewisse Verbindlichkeit. Es wird
3.2 Der Bezugsrahmen der Wahrnehmung
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deutlich, dass dies sehr eng mit den Sinnorientierungen in der Lebenswelt zusammenhängt. Die Sozialwissenschaften haben in den sogenannten „westlichen Industriegesellschaften“ innerhalb der letzten Jahrzehnte einen „Wertewandel“ festgestellt. Dieser hat vielfältige Ursachen, wie beispielsweise veränderte ökologische, technologische oder soziale Bedingungen und damit einhergehende Konflikte zwischen Generationen und zwischen gesellschaftlichen Gruppen mit unterschiedlichen Orientierungen(vgl. Hillmann, K.-H. 2004).
Reflexion von Werten als Ressource Aus der Philosophie kommt die Erkenntnis, dass Werte in Widerspruch oder auch Konkurrenz zu einander stehen können. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Reflexion der einzelnen Werte in Bezug auf die jeweilige Situation, um sich so zu verhalten, dass man zwar nicht allen Werten gleichzeitig gerecht wird, jedoch eine klare Orientierung findet (vgl. Prange, P. 2006). Menschen, die eine starke Orientierung bezüglich materieller Werte haben, vergessen darüber oft die enorme Bedeutung persönlicher Werte wie Freundschaft oder Vertrauen oder sehen Bildung und Kreativität nur im Licht der Verbesserung materieller Werte. Professionelle Akteure/-innen der Sozialen Arbeit können den betreuten Akteuren/-innen Anleitung und Begleitung bei dementsprechenden Reflexionsprozessen anbieten. Den Hintergrund sollten dabei die Sinnhorizonte der betreuten Akteure/-innen sowie deren Lebensperspektiven im engeren und weiteren sozialen Kontext bilden. Diese Reflexion der Werthaltungen verändert den Bezugsrahmen und damit die Wahrnehmung, lässt viele Dinge in einem neuen Licht erscheinen. Das hilft den betreuten Akteuren/innen, Verzettelungen zu verhindern, klare Prioritäten zu setzen und dadurch Handlungsstrategien im Sinne von Agency zu entwickeln die auch unter dem Gesichtspunkt von Nachhaltigkeit sinnvoll erscheinen.
Normen Aus den Werten, also ethischen Zielvorstellungen in Lebenswelten, werden häufig sogenannte soziale Normen abgeleitet. Die Erforschung von Entstehung, Hintergründen und Wirkungen solcher sozialer Normen ist ein wesentlicher Bestandteil der Soziologie. Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
haben als Klassiker der Soziologie grundlegende Erkenntnisse darüber erworben und publiziert (vgl. Münch, R. 1982, 2002). Soziale Normen bestimmen mögliche Verhaltensweisen und, falls sozial erwünscht, Verhaltensregelmäßigkeiten innerhalb spezifischer sozialer Situationen in einem lebensweltlichen oder kulturellen Kontext (vgl. Münch, R. 2003). Sie sind also – vermittelt über die Lebenswelt – von Gesellschaft und Kultur abhängig, also von Kultur zu Kultur verschieden und innerhalb gesellschaftlicher Entwicklung veränderbar (vgl. Münch, R. 2004). Soziale Normen können als konkrete Vorschriften verstanden werden, die das soziale Verhalten regeln. Sie werden von den meisten Mitgliedern einer Lebenswelt als Vorstellungen, Handlungsmaximen und Verhaltensmaßregeln akzeptiert. Durch die Verinnerlichung dieser Normen im Sozialisationsprozess wird das Verhalten in einem gewissen Maße vorhersagbar. So wird das soziale Miteinander berechenbarer, es werden aber auch die Verhaltensmöglichkeiten eingeengt (vgl. Münch, R. 2003). Neben der Soziologie beschäftigt sich auch die Entwicklungspsychologie mit der verhaltensprägenden Wirkung von Normen. Nach dem Entwicklungspsychologe Lawrence Kohlberg werden im Verlauf der persönlichen Entwicklung zunächst die Normen verinnerlicht. Individuell unterschiedlich wird sukzessive die Fähigkeit erworben, die Einzelnormen im Rahmen der jeweils höher stehenden Maximen zu sehen und situationsadäquat zu reflektieren (Kohlberg, L. 1995). Dies soll kurz holzschnittartig skizziert werden: Als „vormoralisch“ bezeichnet Kohlberg ein niedriges Niveau der Normeninternalisierung: Normen werden nur befolgt wenn Kontrolle stattfindet und Bestrafung bei Nichteinhaltung der Norm zu befürchten ist. Das Verhalten orientiert sich hier weitgehend an den eigenen Bedürfnissen. Ist dagegen durch einen entsprechenden Sozialisationsprozess das Niveau der Normeninternalisierung hoch, die Fähigkeit, Einzelnormen im Rahmen der jeweils höher stehenden Maximen zu sehen und situationsadäquat zu reflektieren aber gering entwickelt, spricht Kohlberg vom „konventionellen“ Niveau. Die geltenden Regeln werden ohne Kontrolle auch dann befolgt, wenn momentan eigene Bedürfnisse nicht befriedigt werden und/oder deren Befriedigung aufgeschoben werden muss. Dabei steht die Erfüllung der Anforderungen eines gegebenen Ordnungs- und Rechtssystems im Vordergrund. Die Einhaltung der dort festgelegten Rechte und Pflichten wird zum obersten Gebot. Alle Ansprüche einer Person lassen sich ausschließlich aus diesem Ordnung- und Rechtssystem ableiten. In der Umgangssprache bezeichnet man dies als „law-and-order“Haltung. Ein drittes Niveau ist dadurch gekennzeichnet, dass durch den Sozialisationsprozess das Niveau der Normeninternalisierung hoch ist, und durch zusätzliche Persönlichkeitsbildung auch die beschriebene Fähigkeit, Einzelnormen im
3.2 Der Bezugsrahmen der Wahrnehmung
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Rahmen der jeweils höher stehenden Maximen zu sehen und situationsadäquat zu reflektieren gut entwickelt. Kohlberg bezeichnet dieses Niveau als „postkonventionell“. Menschen mit dieser persönlichen Reife bestimmen die für ihre Handlungsweisen und Entscheidungsprozesse relevanten Prinzipien und Werte unabhängig von Autoritäten, von einzelnen Gruppen, ja sogar von ihnen nahestehenden Personen oder deren Identifizierung mit bestimmten Weltanschauungen. Im Vordergrund stehen dabei die Prinzipien von Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Diese Grundsätze sind für sie unumstößlich und ihre Einhaltung ist für sie verbindlich.
Reflexion von Normen als Ressource Es wurde deutlich, dass verinnerlichte Normen ein wesentlicher Teil des inneren Bezugssystems sind. Kohlberg zeigt, dass es sich bei der Fähigkeit, Normen auf dem Hintergrund von Menschlichkeit und Gerechtigkeit zu reflektieren, um einen persönlichen Reifungsprozess handelt, den aber nicht jeder Mensch in gleicher Weise vollzieht. Smith und Baltes (1990) konnten nachweisen, dass Menschen mit dieser persönlichen Reife besonders gut mit unsicherheitsbelasteten Lebensproblemen umgehen können. Zur Entwicklung dieser Reife ist es nach Georg Lind (2003 und 2006: 269309) günstig, wenn im Erziehungs- und Bildungsprozess darauf Wert gelegt wird, über konfligierende Normen und immanente Widersprüchlichkeiten innerhalb eines gesellschaftlichen Normensystems nachzudenken und schrittweise eigene Verantwortlichkeit auch innerhalb ethisch- und moralisch schwieriger Situationen zu übernehmen. Bei der Verwirklichung dieses Anspruches, der Entwicklung und Stabilisierung dieser wichtige Ressource, kann Soziale Arbeit zum Beispiel in den Handlungsfeldern Jugendbetreuungs- und Jugendbildungsarbeit, der Familienhilfe, der Erziehungsberatung eine wichtige Rolle übernehmen und damit den betreuten Akteuren/-innen auch in unsicherheitsbelasteten Lebenssituationen Handlungsfähigkeit zu ermöglichen.
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
3.2.4 Entwicklung des Individuums (Ontogenese) und Bildung (pädagogische Perspektive) Das innere Bezugssystem wird auch wesentlich durch die spezifische Entwicklung eines Individuums geprägt. Diese individuelle Entwicklung wird auch als Ontogenese bezeichnet und durch vielfältige Einflüsse und Gegebenheiten beeinflusst. Pädagogisch betrachtet ist die Ontogenese des Menschen durch die den jeweiligen Entwicklungsphasen des Menschen impliziten Lern- und Bildungsprozessen beeinflusst. Diese prägen das innere Bezugssystem nachhaltig. Die individuelle Entwicklung, die Ontogenese, kann nicht getrennt werden von der Entwicklung der Kultur des sozialen Umfeldes des sich entwickelnden Menschen. Daher zielen pädagogisch implementierte Lern- und Bildungsprozesse zwar auf die individuelle Persönlichkeitsentwicklung ab, es schwingt in ihnen aber sozusagen immer auch die historische Entwicklung von Kultur und Gesellschaft mit. Bildungsprozesse werden innerhalb der aktuellen pädagogischen Fachdiskussion als Teil eines dynamischen und ganzheitlichen, das ganze Leben begleitenden Entwicklungsprozesses von Menschen gesehen (vgl. Bernhard, A. 2001; Marotzky, W. 2006). Innerhalb dieser Bildungsprozesse entwickeln wir durch Erweiterung von Fähigkeit, Wissen und Kompetenz unser inneres Bezugssystem für unsere Wirklichkeitsverarbeitung unentwegt weiter. Der Pädagoge Hartmut von Hentig präzisiert Bildung als „geistige Verarbeitung der Erfahrung“ (von Hentig, H. v.1996: 59). Es geht also um die Reflexion eigener Sinneserfahrungen, um einen Prozess der geistigen Verarbeitung eigener Wahrnehmungen mit der Konsequenz von eigenen Denk- und Entscheidungsprozessen. Gerhard E. Schäfer greift dies auf, um eine Pädagogik einer der frühkindlichen Ontogenese adäquaten Bildung zu entwickeln. Die damit verknüpften Erkenntnisse lassen auch Rückschlüsse auf eine insgesamt der menschlichen Ontogenese entsprechende lebenslange Bildung zu. Zentral dabei ist die Weiterentwicklung des inneren Bezugsrahmens zur Erschließung von Sinn und Bedeutung: Aus zunächst rein subjektivem Sinn entwickeln wir als sich bildende Menschen, beginnend mit frühester Kindheit, objektivere und abstraktere Sinndimensionen (vgl. Schäfer, G.E. 2005). Neue Sinnzusammenhänge mit einem dadurch sich verändernden inneren Bezugsrahmen entstehen dadurch, dass wir im Bildungsprozess Erfahrungen, die wir für uns als bedeutungsvoll erlebt haben, mit neuen Sachbezügen verknüpfen. Bereits gebildete Erfahrungsmuster wurden und werden also durch uns – als sich bildende Menschen – im Rahmen von Konfrontation und Reflexion von Neuem
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modifiziert und erweitert. Im Bildungsprozess werden so neue Bezüge zwischen Gegenständen, Personen, Prozessen, Ereignissen etc. hergestellt, neue Sinnzusammenhänge und Bedeutungen entwickelt. Dadurch wird der Sinnhorizont ausgeweitet, unser inneres Bezugssystem differenziert und weiterentwickelt. Es handelt sich dabei nicht immer nur um logisch-rationale Prozesse, denn Bildung umfasst die Gesamtheit der subjektiven Erfahrungsbildung, zu der auch sinnliche Wahrnehmung von eigenen und fremden Emotionen sowie von sozialen Beziehungen und deren Verarbeitung gehören. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass wir uns – als sich bildende Menschen – mit Gegenständen und Wirklichkeitsbereichen auseinandersetzen, die unsere Aktivität und Bedeutsamkeitssuche herausfordern (vgl. ebda).
Reflexion individueller Entwicklung (Ontogenese) und Bildung als Ressource Das innere Bezugssystem kann also durch eine von Bildung geprägte Ontogenese gezielt erweitert und differenziert werden, um die Basis von Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung zu verbreitern. Wenn wir uns im Verlauf unseres Bildungsprozesses beispielsweise mit unterschiedlichen Kulturen einerseits und mit humanitären Grundsätzen andererseits aktiv auseinandergesetzt und uns dementsprechende Sinnzusammenhänge erschlossen haben, werden wir Menschen aus anderen Kulturkreisen in einem völlig anderen Licht wahrnehmen können als dies jene vermögen, die sich noch nie damit auseinandergesetzt haben. Es geht also in einer Sozialen Arbeit der Ermöglichung darum, den betreuten Akteuren/-innen Möglichkeiten zu erschließen, sich mit anderen Kulturen und humanitären Grundsätzen aktiv auseinander zu setzen. Darüber hinaus gilt es, mit ihnen gemeinsam über entsprechende Sinnzusammenhänge zu diskutieren. Winfried Marotzki expliziert noch einen weiteren hier wichtigen Zusammenhang: Durch die Aufarbeitung unserer Biographie können wir unseren Prozess der Ontogenese rekonstruieren, wir können so die unserem inneren Referenzsystem zugrundeliegenden Konstitutionen von Sinn und Bedeutung reflektieren. Dies ist einerseits für unsere „Selbstvergewisserung“, also der Einschätzung unserer Gesamtpersönlichkeit durch uns selbst und andererseits für unsere Orientierung in gesellschaftlichen Verhältnissen wichtig (vgl. Marotzki, W. 1999: 57-68). Solche Reflexionen sind zum einen für professionelle Akteure in der Praxis und der Ausbildung für eine Soziale Arbeit der Ermöglichung notwendig und können zum Beispiel im Rahmen von Supervisionen erfolgen. Denn sie bilden eine gute Basis für eine Praxis, innerhalb derer die individuellen Stär-
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
ken professioneller Akteure optimal eingesetzt werden können. Andererseits sollte eine Soziale Arbeit der Ermöglichung Biografieaufarbeitungsprozesse betreuter Akteure/-innen in ihre Praxis integrieren, um zu deren Selbstvergewisserungsprozessen und ihrer Orientierung innerhalb sich verändernder gesellschaftlicher Verhältnisse zu beizutragen.
3.2.5 Aneignung, Zukunft und Subjektivität (Perspektiven von sozialwissenschaftlich orientierter Erziehungswissenschaft, Neurowissenschaft, systemtheoretischer Soziologie und differenzieller Kommunikationspsychologie)
Aneignung Ein solcher Bildungsbegriff kann sehr gut auf den im Kapitel 2 dargestellten Aneignungsprozess bezogen werden, da das handelnd sich die Bedeutungen der Welt erschließende Aneignungsverhalten zentraler Bestandteil einer im oben dargestellten Sinne verstandenen Bildung ist. Bildung durch handelnde Aneignung von Bedeutungen der (Lebens-)Welt integriert die in den gegenwärtigen Bedeutungen enthaltene historische Entwicklung und die den Handlungsoptionen implizite Antizipation von Zukunft: Wenn ein Kind beispielsweise lernt, einen Löffel zum Mund zu führen, eignet es sich die historisch entwickelten, im Essbesteck Löffel steckenden, kulturellen Wissensbestände genauso an, wie die in seiner Zukunft liegenden Möglichkeiten beim Gebrauch dieses Essbestecks. Aneignungsprozesse der Gegenwart erschließen somit die historische Gewordenheit von Bedeutungen und die Möglichkeiten alternativer Handlungsweisen (vgl. Glöckler 1989).
Antizipierte Zukunft: das Modell der PDP-Konstruktion Ergänzt werden kann dies durch das in den Neurowissenschaften entwickelte Modell der „PDP-Konstruktion“(parallel distributed processing), in der MacClelland und Rumelhart (MacClelland, J. und Rumelhart, D.E. 1991) feststellen, dass wir zur adäquaten Handlungsfähigkeit immer die unmittelbar folgende Zukunft möglichst richtig antizipieren können müssen: Wir entwickeln deshalb in jeder Situation Erwartungen an die unmittelbare Zukunft. Die Parameter dieser Erwartungen werden durch
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gespeicherte Erfahrungen der Vergangenheit, also das in der handelnden Auseinandersetzung mit der Realität angeeignete Wissen sowie die damit verbundenen Gefühle einerseits und die gegenwärtigen Wahrnehmungen andererseits konstituiert.
Die Handlungsfähigkeit des Subjektes steigt, wenn diese Parameter korrekte Vorhersagen erlauben. Deshalb werden diese Parameter immer korrigiert, wenn die Erwartungen an die Konsequenz einer Handlung und/oder Situation nicht eintreten.
Subjektive Wirklichkeitskonstruktion und sozial-interaktive Wirklichkeit Ein auf diesen Grundlagen erweitertes Modell der Aneignung von Wirklichkeit sieht sie als Prozess der Konstituierung innerer Repräsentationen äußerer Wirklichkeit, auch mit dem Ziel, künftige Entwicklungen möglichst präzise antizipieren zu können. Durch ihre Handlungskomponente trägt der Aneignungsprozess gleichzeitig dazu bei, durch Erfahrung, also Bestätigung oder Enttäuschung der aus den Antizipationen resultierenden Erwartung, den adäquaten Umgang mit der jeweils eintretenden Situation zu erlernen. Ein Teil unseres Aneignungsprozesses ist also die Konstruktion unseres inneren Modells von Wirklichkeit. Dieses prägt den referenziellen Rahmen neuer Wahrnehmungen. Das bedeutet, dass sich unsere Konstruktion von Wirklichkeit daran messen lassen muss, inwieweit dieses entstandene innere Modell in der Lage ist, verlässliche Erwartungen zu erzeugen, die wiederum adäquate Handlungsfähigkeit erlauben. Die subjektive Wirklichkeitskonstruktion muss sich also immer wieder in einer sozial-interaktiven Wirklichkeit bewähren. Im Sinne einer so verstandenen, aktualisierten Aneignungstheorie kann zwar dem Postulat des „radikalen Konstruktivismus“ insoweit zugestimmt werden, dass sich „die Konstruktion der je eigenen Identität als sukzessiver Prozess gestaltet, der akkumulierten und sozial vermittelten Erfahrungsinhalten aufsitzt“ (Beer R. 2004: 95), muss aber dahingehend relativiert werden, als dass die konstruierte Wirklichkeit sich immer im Handlungsprozess bewähren muss. Eine Position, die vor allem innerhalb des „Methodischen Kulturalismus“ – einer Weiterentwicklung des „Methodischen Konstruktivismus“ der Erlanger Schule – vertreten wird (vgl. Janich, P. 2000). Über bezugssystemimmanente Reinterpretationen können selbstverständlich nahezu alle Wirklichkeitskonstruktionen
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individuell gerechtfertigt werden. Folgen diesen Wirklichkeitskonstruktionen aber im lebensweltlichen Kontext inadäquate Handlungsstrategien, muss durch „ausbaden“ unangenehmer Folgen die konstruierte Wirklichkeit relativiert werden. Solche, die konstruierte Wirklichkeit relativierenden Erfahrungen prägen nachhaltig den subjektiven Bezugsrahmen, also das innere Referenzsystem.
Subjektivität im gesellschaftlichen Kontext: Aneignung als sozial vermittelte Erkenntnis Im Sinne der hier explizierten Aneignungstheorie kann Subjektivität also als Produkt und gleichzeitig mitkonstituierendes Element eines kontinuierlichen Aneignungsprozesses im sozialen Kontext angesehen werden. Sie kann somit mit Herbert Schädelbach als ein Bedingungsgefüge verstanden werden, welches „bei der Erkenntnis von den Erkennenden ins Spiel gebracht“ wird (2004: 74). Subjektivität ist danach Produkt bereits vollzogener und Basis weiterer Aneignungsprozesse. Da Aneignung immer als handelnde Auseinandersetzung mit einer sozial geprägten räumlichen Umwelt verstanden werden muss, wird Subjektivität also immer mitkonstituiert von der sozialen Wirklichkeit und muss sich in dieser bewähren. Das Subjekt ist daher bereits in seiner Konstituierung nicht losgelöst von seinem sozialen Kontext, der Gesellschaft. Der individuelle Bezugsrahmen des Subjektes und damit die referenzielle Basis für Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung, ist somit immer im Kontext der sozialen Umgebung zu sehen, auf die sich das Handeln des Subjektes bezieht. Dies ist für eine ausgesprochen wichtige Grundlage für eine Soziale Arbeit der Ermöglichung, da hier die Notwendigkeit des kontinuierlichen Einbezugs von Ressourcen der jeweiligen Umgebung für jeweils subjektive Entwicklungsprozesse bei den betreuten Akteuren/-innen ausgesprochen deutlich wird.
Seelisches Axiom Teil dieser Subjektivität ist das „seelische Axiom“, ein Begriff, der durch den Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun auf dem Hintergrund der Erörterungen des Psychoanalytikers Fritz Riemann zum Verhältnis zwischen frühkindlicher Entwicklung und der Charakterbildung eines Menschen geprägt wurde (vgl. Schulz von Thun, F. 2001: 62).
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Im beschriebenen Aneignungsprozess bilden sich durch dessen Spezifik bereits in früher Kindheit typische Charakterzüge heraus, „eingefleischte Urbotschaften“( ebda), sozusagen Grundannahmen über sich und die soziale Umwelt, die innerhalb der eigenen Biografie erworben werden. Diese Grundannahmen sind meist unbewusst und werden in der Regel im alltäglichen Handeln nicht hinterfragt. Das aus ihnen resultierende Grundgefühl prägt nachhaltig das innere referenzielle System.
Reflektierte, veränderte, erweiterte, bewusstere Aneignungsaktivitäten als Ressource Zusammengefasst geht also der Aneignungsprozess als Teil eines „umfassenden Person-Umweltaustausches“ (Jäger, J, Kuckhermann R. 2004: 28) durch die Integration der Handlungsebene über Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung hinaus, integriert beide Prozesse sozusagen. Aneignungshandeln wird im sozialen Raum zur sozialen Interaktion und wirkt immer wieder auf das „seelische Axiom“ zurück. Die in den Sozialen Räumen – innerhalb derer Aneignung stattfindet – eingeschriebenen sozialen Verhältnisse spielen dabei genauso eine Rolle wie die Wissensbestände, Erfahrungen und soziale Interaktionen. Damit wird deutlich, dass Wirklichkeitsverarbeitung als subjektiver Prozess fundamental geprägt wird durch die soziale Umwelt, in der sie sich mittels der aus ihr folgenden Handlungen als Teil eines sozialen Interaktionsprozesses bewähren muss. Erfolg oder Misserfolg der aus der Wirklichkeitsverarbeitung abgeleiteten Handlungen wirken auf diese zurück, so machen wir uns die äußere Wirklichkeit allmählich „zu eigen“. Der Aneignungsprozess verknüpft das Individuum mit seiner sozialen Wirklichkeit. Das heißt wiederum, dass wir uns im Aneignungsprozess all jene Kraftquellen zu eigen machen, die uns in die Lage versetzen, unsere räumlich-soziale Umwelt zu verstehen. Wir „begreifen“ sie, und versetzen uns damit in die Lage, uns in ihr wohl zu fühlen, uns einbringen, an sozialen Interaktionen teilhaben zu können um eigene Vorstellungen und Wege im räumlich-sozialen Kontext entwickeln zu können. Dieser Aneignungsprozess endet nicht quasi automatisch mit dem Abschluss der Jugendphase, dem Abschluss von schulischen oder außerschulischen Bildungsmaßnahmen, dem Berufsabschluss oder dem Abschluss des Studiums. Vielmehr können uns vielfältige Veränderungsprozesse veranlassen, uns Zeit
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unseres Lebens handelnd neue Aspekte der räumlich-soziale Umwelt zu erschließen. Wenn die professionellen Akteure/-innen Sozialer Arbeit die betreuten Akteure/-innen zu Neugier und der Bereitschaft kontinuierlicher Aneignung motivieren, können diese die vielfältigen Veränderungen, die eine sich dramatisch verändernde Gesellschaft mit sich bringt, verstehen und sich immer wieder neu orientieren und einbringen.
Lebensziele, Wünsche, Absichten und Wille (philosophische, tiefen- und humanpsychologische Perspektiven) Auch unsere langfristigen, unsere Ontogenese prägenden Ziele und die entsprechenden ihnen zugrunde liegenden Wünsche beeinflussen unseren inneren Bezugsrahmen. Das Begehren nach Wunscherfüllung ist oft eine starke Kraft, Neues zu erreichen. Gerade diese Kraft ist es, die dann die Wahrnehmung und Verarbeitung von Wirklichkeit stark beeinflusst, indem sie die Realität in einem „bestimmten Licht“ erscheinen lässt, also die Bezüge, die zur Beurteilung der wahrgenommenen und verarbeiteten Ereignisse und Prozesse gebildet werden, entsprechend verändert. Die Bedeutung von Wünschen – und daraus resultierend der Wille und die Absicht – für Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung als Handlungsgrundlage ist schon sehr früh von der Philosophie analysiert worden. Einige wichtige Erkenntnisse dieser Disziplin in diesem Kontext sollen hier in Kürze referiert werden: Wünsche sind einerseits mit der Sehnsucht, andererseits mit dem Willen verwandt. Vom letzteren unterscheiden sie sich im Grad der Entschiedenheit. Sie gehen dem Willen voraus. Beim Wünschen wird noch vorsichtig formuliert, sorgfältig abgewogen und überlegt. Beim Willen sind wir uns sicher, dass wir uns dafür einsetzen, das Gewünschte zu erreichen. Während sich der Wunsch rein punktuell auf ein bestimmtes Ereignis oder einen entsprechenden Gegenstand bezieht, kann der daraus resultierende Wille dann zur Geisteshaltung werden, die Wahrnehmung, Denken und Handeln nachhaltig beeinflusst. Der griechische Philosoph Epikur unterscheidet drei Arten von Wünschen:
Erstens „natürliche und notwendige“ Wünsche, die das Überleben sichern, wie beispielsweise Nahrung und Kleidung. Zweitens „natürliche und nicht notwendige“ Wünsche, deren Befriedigung uns angenehm aber zum Überleben nicht unbedingt erforderlich ist.
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Drittens „nicht natürliche und nicht notwendige“ Wünsche die durch die Meinung anderer hervorgerufen werden (vgl. Wittgenstein, L. 1984: 501ff). Inwieweit die Befriedigung der daraus resultierenden Bedürfnisse auf die
Handlungsmotivationen und die persönliche Entwicklung des Menschen Einfluss nimmt, untersuchte der Humanpsychologe Abraham Maslow. Ähnlich wie Epikur geht Maslow zunächst von überlebenssichernden Grundbedürfnissen aus. Körperliche Grundbedürfnisse, Sicherheit und soziale Beziehungen sowie bestimmte Bereiche sozialer Anerkennung werden als sogenannte Defizitbedürfnisse bezeichnet. Diese Bedürfnisse sollten befriedigt sein, um gegenwärtige Zufriedenheit herzustellen. Weitere Bereiche sozialer Anerkennung, der Bereich der Selbstverwirklichung sowie – in neueren Fassungen – darüber hinaus die Transzendenz, also die Auseinandersetzung mit allgemeinen Lebenszielen, Sinn, Religion etc., sind Wachstumsbedürfnisse. Hier gibt es kein einfaches „zufriedengestellt sein“, sondern sie wachsen und differenzieren sich allmählich im Verlauf der Persönlichkeitsentwicklung, für die sie auch eine große Rolle spielen (vgl. Maslow, A. 2002). Vereinfacht wird Maslows Modell in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen, vor allem im Bereich betriebswirtschaftlicher Management- oder Verkaufsschulungen, immer wieder als schematisierte Bedürfnispyramide dargestellt. Dies ist allerdings von Maslow nicht so schematisch angedacht, wie dies teilweise dargestellt wird. Vielmehr handelt es sich bei jeglichem motivierten Verhalten (vorbereitend ebenso wie vollziehend) sozusagen um einen Kanal, durch welchen viele Grundbedürfnisse gleichzeitig ausgedrückt oder befriedigt werden können. Eine Handlung hat typischerweise mehr als nur eine einzige Motivation (vgl. Maslow, A. 1943). Eine weitere Quelle von Missverständnissen ist, dass Maslows Bedürfnispyramide nicht das reale Verhalten von Bedürftigen darstellt, sondern eine Empfehlung für diejenigen ist, die sich um sie kümmern. Wichtig ist aber – und das wird von Maslow ausdrücklich betont – dass für die Wachstumsbedürfnisse durchaus etwas getan werden kann, auch ohne ständige Befriedigung der Defizitbedürfnisse (vgl. Maslow, A. 2002). Bereinigt man all diese Missverständnisse, die es in der Sekundärliteratur gibt, so kann von dem Modell Maslows abgeleitet werden, dass vor allem Wachstumsbedürfnisse, also insbesondere diejenigen zur Selbstverwirklichung, eine große Rolle bei der Konstitution des inneren Bezugssystems spielen. Eine andere wichtige wissenschaftliche Quelle, die sich mit Wünschen und Wunscherfüllung auseinandersetzt, ist die Psychoanalyse. Nach ihrem Begründer, dem Tiefenpsychologen Sigmund Freud, sind Träume verdeckte Wunscherfüllungen, die zum inneren Wesen des Traumes gehören. Es würden dabei, so
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
Freud, verdrängte und tabuisierte Wünsche in symbolisch verkleideter Form auftreten, die sich ins Bewusstsein zu drängen versuchen, aber zunächst von diesem abgewehrt werden (vgl. Freud, S. 1991). Das bedeutet, dass auch unbewusste, eventuell aus dem Bewusstsein abgedrängte Wünsche, dann, wenn sie über lange Zeit manifest sind, unser inneres Referenzsystem und damit unsere Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung nicht unwesentlich beeinflussen können. Wünsche, Wunscherfüllung das Bestreben des Menschen, seinen Bedürfnissen gemäß zu handeln und der Wille des Menschen dazu – das wurde oben bereits angerissen – stehen in einem engen Verhältnis zueinander. Innerhalb der integrativen Therapie greift insbesondere der Psychologe Hilarion G. Petzold das Willensthema auf: Er problematisiert unter anderem die Tatsache, dass das als das „eigene Wollen“ erlebte Wollen sich häufig bei näherer Betrachtung als das Wollen von Anderen erweist (vgl. Petzold, H.G. 2002: 11). Daraus lässt sich daraus ableiten, dass wir unsere eventuell im entsprechenden sozialen Kontext innerhalb bestimmter Situationen nicht erwünschte Wünsche häufig hinter gesellschaftlich oder sozial Erwünschtes – repräsentiert von Vorgesetzten, Partner oder Partnerin, Ärzten oder Therapeuten etc. – zurückstellen und ins Unbewusste abdrängen. Das in einem solchen Falle vermeintlich eigene – bewusste – Wollen (das übernommene Wollen anderer) kann zum eigenen – unbewussten – Wollen (zu dem was wir uns tatsächlich wünschen) unter Umständen im Widerspruch stehen. Dadurch können Konflikte entstehen, die ebenfalls dann, wenn sie in über längere Zeiten in uns schwelen, unser inneres Bezugssystem prägen können, allerdings weitgehend unbewusst. Selbstverständlich ist aber das eigene bewusste Wollen nicht immer das Wollen anderer. Es kann sich unter anderem auch auf die Suche nach Alternativen zu gegenwärtig alltäglichen Strukturen und Handlungsabläufen, nach neuen Wegen und Möglichkeiten richten (vgl. ebd.). Auch diese Suche wirkt sich auf die Konstituierung der Bezüge zur Beurteilung von Wahrgenommenem, also auf unser inneres Referenzsystem aus, dies allerdings nur dann wenn diese Wünsche von lang anhaltender Dauer sind, es sich um die gesamte Persönlichkeit prägende Wunsch- und Zielvorstellungen handelt.
Reflektierte Willensbildung, Bedürfnisbefriedigung und Wunscherfüllung als Ressource Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass verinnerlichte Wünsche das innere Referenzsystem und damit die wahrgenommene Realität in einem „bestimmten Licht“ erscheinen lassen, sollten professionelle Akteure/-innen Sozialer Arbeit
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die von ihnen betreuten Akteure/-innen immer wieder zur Reflexion darüber anregen, ob die von ihnen interpretierten Erscheinungen, Prozesse und Abläufe tatsächlich so sind, wie sie diese empfinden, oder ob hier nicht Wünsche die Interpretationen zu intensiv geprägt haben. Solche subjektiven Fehleinschätzungen können aber auch den professionellen Akteuren selbst unterlaufen. In beiden Fällen kann dies unter Umständen zu Ent-Täuschungen führen. Daher sind hier Reflexionen darüber angebracht. Die Grundlage solcher Reflexionen kann der Austausch über die eigenen Interpretationen mit Freunden und Bekannten, mit Kolleginnen, Kollegen und/oder Expertinnen und Experten sein. Solche Fremdeinschätzungen relativieren das eigene Wunschdenken und können so langfristig vor Irrwegen bewahren helfen. Das empfiehlt sich vor allem bei Entscheidungen von großer Tragweite. Solche Reflexionen können dann eine wichtige Ressource sein, wenn sie unangenehme Folgen euphorischer Entscheidungen und damit größeren Ärger zu verhindern helfen. Zudem sollten professionelle Akteure/-innen Sozialer Arbeit die von ihnen betreuten Akteure/-innen dazu anregen, Wünsche daraufhin reflektieren, ob sie auf die Erfüllung von Wachstumsbedürfnissen, also all jenen Bedürfnissen nach Selbstverwirklichung hin zielen. Denn durch die Erfüllung solcher Wünsche entwickeln sie sich selbst weiter, was zukünftiges Gelingen fördert. Indem sie sich bewusst machen, dass die Wachstumsbedürfnisse, sei es Musik zu machen, sich künstlerisch zu betätigen, zu schreiben usw. ihrem Glücksempfinden langfristig nachhaltiger zugute kommt als die Erfüllung rein materieller Bedürfnisse, fokussieren sie ihr Handeln und ihre Wirklichkeitsverarbeitung darauf. Das trägt zu ihrem nachhaltigerem Glücksempfinden bei. Insofern kann dies eine wichtige Ressource des Gelingens sein. Letztendlich sollten professionelle Akteure/-innen Sozialer Arbeit die von ihnen betreuten Akteure/-innen dazu animieren, sich darüber Klarheit verschaffen, ob das, was sie bewusst wollen auch tatsächlich ihre eigenen Wünsche sind oder ob sie nicht das, was ihr soziales Umfeld, irgendwelche Autoritäten oder gesellschaftliche Institutionen von ihnen erwarten, nur zu wollen glauben. Das heißt, professionelle Akteure/-innen Sozialer Arbeit sollten die von ihnen betreuten Akteure/-innen dazu aktivieren ihre Ziele und Wünsche daraufhin zu reflektieren, ob sie hierbei nicht von Werbung, Medien oder Autoritäten manipuliert wurden. Sie würden nämlich dann irgendwelche Ziele ansteuern, deren Erreichen ihnen nicht entspricht. Unzufriedenheit und Frustration wären die Folge. Reflexionen, die das eigene Wollen verdeutlichen und das internalisierte Wollen anderer klar machen, können dazu beitragen, solche Unzufriedenheiten und Frustrationen zu verhindern und bilden deshalb eine wichtige Ressource für einen gelingenderen Alltag.
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
3.3 Bewerten, Deuten und Klassifizieren 3.3.1 Die geistige Grundeinstellung - das „mental set“ Dieses äußerst komplexe innere Bezugssystem – der innere referenzielle Rahmen eines Menschen – beeinflusst entscheidend seine geistige Grundeinstellung, sein sogenanntes „mental set“. Dieses prägt Denken und Handeln und damit auch die Einschätzung von Ereignissen, Gegenständen und Personen. Es ist charakteristisch für die Individualität eines Menschen und kann durch Lernprozesse durchaus verändert werden. Dies benötigt aber die Konfrontation mit neuen grundlegenden Gesichtspunkten und die Bereitschaft, sich neuen Gedanken zu öffnen und Veränderungsprozesse zuzulassen. Durch Lernprozesse induzierte Veränderungen der oben erörterten Parameter des inneren referenziellen Systems können zu Weiterentwicklungsprozessen der geistigen Grundeinstellung beitragen. Dazu können auch Reflektionen der im Folgenden beschriebenen, auf dem mental set basierenden, Prozesse beitragen. Solche Veränderungen der geistigen Grundeinstellung ermöglichen neue Sichtweisen und Einschätzungen, die Chancen zu Situationsverbesserungen in sich bergen.
3.3.2
Bewertung
Grundsätzliches zur Entwicklung von Situationsmodell und geistigem Handlungskonzept Das „mental set“, bildet eine Grundlage für die weitere Verarbeitung der durch die Sinnesorgane aufgenommenen Informationen und zwar in den Prozessen Bewertung, Deutung sowie Klassifizierung. Bei der „Bewertung“ werden die durch die Sinnesorgane aufgenommenen Informationen nach dem Grad ihrer eingeschätzten Relevanz bewertet. Dafür ist die Gerichtetheit und Selektivität der sinnlichen Wahrnehmung ausschlaggebend. Gerichtetheit bedeutet, dass wir bestimmten Aspekten von Menschen, Ereignissen oder Gegenständen, mit denen wir in einem Augenblick konfrontiert werden, eine besondere Aufmerksamkeit schenken. Selektivität heißt, dass wir aus der Summe vieler Sinneseindrücke bei der Konfrontation mit Menschen, Ereignissen oder Gegenständen nur jene beachten und weiterverarbeiten, die uns wichtig erscheinen. Jeweils situationsspezifisch entwickeln wir auf dieser Basis ein die Gegenwart einschätzendes und die zu erwartenden Ereignisse antizipierendes „Situationsmodell“.
3.3 Bewerten, Deuten und Klassifizieren
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Dieses bildet wiederum die Voraussetzung für unser geistiges Handlungskonzept. In dieses fließen die im Nervensystem präsenten inneren Repräsentationen unmittelbar vorausgegangener oder parallel erfolgender Ereignisse sowie die mit der neuen Situation assoziierten Absichten andererseits ein. Dabei können auch kurzzeitige, das mental set nicht dauerhaft prägende Intentionen eine Rolle spielen (vgl. Heckhausen, Heinz 1989: 214-218). Situationsmodell und geistiges Handlungskonzept spielen eine ausschlaggebende Rolle bei der weiterführenden differenzierten Beurteilung des sinnlich Wahrgenommenen. Im Folgenden soll nun die Entstehung von Situationsmodell und geistigem Handlungskonzept auf der Grundlage von Gerichtetheit und Selektivität näher erläutert werden.
3.3.3 Induktive und deduktive Prozesse Um ein Situationsmodell und ein geistiges Handlungskonzept zu entwickeln, spielen nach Dennett und Konsbourne (vgl. Dennett D.C. und Kinsbourne M. 1992: 183-247) zwei sich wechselseitig beeinflussende Prozesse eine Rolle: der deduktive Prozess einerseits und der induktive Prozess andererseits. Zur Erläuterung: Bei deduktiven Prozessen schließen wir von der Erfassung eines Gesamtphänomens auf dessen unterschiedliche Details, soweit unser Erfahrungsschatz dies zulässt. Bei induktiven Prozessen fügen wir wahrgenommene Details zu einem Gesamtphänomen zusammen. Wechselseitige Beeinflussung heißt nun, dass die deduktiven Prozesse uns die „Hypothesen“ für die genauere Betrachtung der Details liefern und umgekehrt die induktiven Prozesse uns durch das Zusammenfügen der Details bei der Einschätzung des Gesamtphänomens unterstützen. Innerhalb dieses Wechselprozesses findet ein ständiger Austausch zwischen den informationsverarbeitenden Arealen des Neokortex (Großhirnrinde), mit den dort repräsentierten jeweils neu durch die Sinnesorgane aufgenommenen Informationen einerseits und den gespeicherten zurückliegenden Erfahrungen der erinnerungsspeichernden Hippocampusfunktion (im inneren des Gehirns) andererseits statt. Die diesen Austausch realisierenden Bahnungen sind informationsverarbeitende Feedbackschleifen, die innerhalb des Bewertungsprozesses eine große Rolle spielen. Darauf wird später noch ausführlicher Bezug genommen werden.
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
Inhibitionsprozesse: Gerichtetheit und Selektivität In diesem Regelkreis zwischen induktiven und deduktiven Prozessen entwickeln sich also das Situationsmodell und das geistige Handlungskonzept. Wie bereits erwähnt spielen in diesem Entwicklungsprozess zwei weitere wichtige Faktoren eine Rolle, nämlich die Gerichtetheit und die Selektivität: Wie oben erwähnt werden auf der Basis des „mental set“ jene Informationen, die als relevant betrachtet werden, gezielt „herausgesucht“ – die Aufmerksamkeit wird auf sie gerichtet – und die unwichtig erscheinenden potentiellen Informationen werden herausselektiert. Das bewirkt, dass all jene informationsverarbeitenden Bahnungen, die unserer geistigen Grundeinstellung gemäß als wichtig erscheinen, also zur „konzeptgeleiteten Beachtungsabsicht“ passen, verstärkt werden. Jene informationsverarbeitenden Bahnungen, die dagegen unserer geistigen Grundeinstellung gemäß als nicht relevant erscheinen, werden unterdrückt (vgl. ebda 129, 131 f.). Dieser Prozess wird in der Fachsprache als „Inhibitionsmechanismus“ bezeichnet. Er ist maßgeblich daran beteiligt, welche mit Augen, Ohren, Tastsinn, Nase und Zunge/Gaumen wahrgenommenen Phänomene für das jeweilige Situationsmodell und das dementsprechende geistige Handlungskonzept eine Rolle spielen, welche unterdrückt werden und wie hoch die Wichtigkeit der beachteten Signale zu bewerten ist. Es wurde deutlich, dass Bewertungsprozesse auf dem mental set basieren und wesentlich das jeweilige Situationsmodell und das entsprechende geistige Handlungskonzept prägen. Trotz der beschriebenen Komplexität laufen sie in der Regel mit hoher Geschwindigkeit unbewusst ab, was zu schneller Handlungsfähigkeit beiträgt.
Reflexion von Bewertungsprozessen – Nutzung, Stabilisierung und Mobilisierung von Ressourcen Trotz der Vorteile dieser unbewussten Bewertung bezüglich schneller Handlungsfähigkeit ist es vorteilhaft, die Ergebnisse von Bewertungen hin und wieder bewussten kritischen Reflexionen zu unterziehen, also zu hinterfragen, ob die Bewertungsprozesse der jeweiligen Situation angemessen sind. Solche Reflexionen geben aus den oben ersichtlichen Gründen Aufschluss über die Hintergründe
des mental set also der Grundeinstellungen des jeweiligen Situationsmodells
3.3 Bewerten, Deuten und Klassifizieren
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des entsprechenden geistigen Handlungskonzeptes
Sie können eine initiierende Funktion hinsichtlich diesbezüglicher Lernund Entwicklungsprozesse einnehmen. Gedanken dazu sollen im Folgenden entwickelt und vorgestellt werden: Ab und zu unterlaufen uns gewissermaßen „Bewertungsfehler“. Einige sollen hier exemplarisch erläutert werden, um zu zeigen, wie durch deren Reflexion Ressourcen freigelegt werden können.
Überbewertung Nehmen wir folgendes Beispiel aus der Familienberatung: Ein Ehepaar mit drei schulpflichtigen Kindern hat seit einiger Zeit unter starken Konflikten zu leiden. Der Mann ist stark eifersüchtig und verdächtigt seine Frau der Untreue. Diese beteuert ihre Treue und fühlt sich von den ständigen Attacken ihres Mannes genervt. Unter der angespannten Situation zwischen den Ehepartnern leiden vor allem auch die Kinder, die Angst vor einer Scheidung der Eltern haben. Ihre Leistungen in der Schule nehmen ab. Der älteste Sohn wird zunehmend aggressiver, die mittlere Tochter leidet unter Schlafstörungen und der Jüngste ist häufig krank. Um die Familiensituation zu verbessern, schlägt die Frau vor, eine Beratungsstelle aufzusuchen. In der Beratungssituation, in der zunächst das Problem zwischen den Eheleuten als wichtigster Faktor der augenblicklich krisenhaften Situation der Familie herauskristallisiert wurde, sollen die Hintergründe dafür ergründet werden. Als Beispiel für einen „Eifersuchtsanfall“ des Mannes wird derjenige im letzten gemeinsamen Urlaub am Meer während der Sommerschulferien angeführt: Sie hatten eine nette Familie kennen gelernt mit Kindern im gleichen Alter und eines abends erklärten sich die Eltern der befreundeten Familie bereit, gemeinsam mit allen Kindern einen Spiele- Abend zu organisieren. Unser Ehepaar ging so an diesem Abend ohne Kinder – die Frau chic gekleidet – auf der Strandpromenade spazieren. Die Frau genoss es sichtlich, dass sich viele Männer nach ihr umdrehten. Einmal beobachtete ihr Mann, dass sie einem anderen Mann zu lächelte. Dieses Lächeln wurde von ihm so hoch bewertet, dass er auf dem gesamten Spaziergang – und auch später – seinen Focus auf jede auch nur kleinste Geste seiner Frau hinsichtlich einer – vermeintlichen – „Kontaktanbahnung“ seiner Frau richtete.
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Seine Frau sieht das ganze als sehr harmlos an. Sie hat es lediglich genossen, als schöne Frau gesehen zu werden, hatte aber keinerlei Absichten einer „Kontaktanbahnung“. Der Mann hat das Lächeln überbewertet, was zu einer einseitigen Fokussierung führte, „entlastende“ Faktoren wurden wegselektiert, „belastende“ Faktoren drängten sich immer weiter ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Die Folge: Er wurde immer eifersüchtiger, bis sich seine Eifersucht in einem kaum beschreibbaren Tobsuchtsausfall Bahn brach. In der Beratungssituation kann die Überbewertung verdeutlicht werden. Im Laufe der Zeit kann eine emotionale Entlastung des Mannes und eine allmähliche Beilegung des Konfliktes erreicht werden. Es wird aus diesem Beispiel deutlich: Manche Überbewertungen führen zu einer einseitigen Verschiebung der Aufmerksamkeit mit emotionaler Belastung. Wenn ich mir im Klaren darüber bin, dass die Bewertungsprozesse meine Aufmerksamkeit und meine Selektion beeinflussen, kann ich durch die Reflexion der eigenen Bewertungen und ihre Relativierung meine Wirklichkeitsverarbeitung so beeinflussen, dass starke emotionale Belastungen abgebaut werden. Die Kenntnis der Funktion von Bewertungsprozessen und Fähigkeit, diese zu hinterfragen und sie gegebenenfalls zu korrigieren, ist somit eine wichtige Kraftquelle bei der Herstellung des emotionalen Gleichgewichtes und bei der Bewältigung von emotionalem Stress.
Unterbewertung Bleiben wir bei dem Beispiel unserer Familienberatung, bei der beschriebenen Familie: Neben den Eifersuchtszenen ihres Mannes leidet die Ehepartnerin auch noch darunter, dass sie sich in letzter Zeit von ihrem Manne immer weniger geschätzt fühlt. Auch dies ist ein Teil des Konfliktes zwischen den Eheleuten, unter dem die Kinder so sehr leiden. Die Ehefrau berichtet in der Beratungssituation, dass sie sich oft für ihren Mann schön mache, sich schminken würde, er dies aber nie wahrnehmen würde. Neulich hätte sie sich schöne Schuhe gekauft, ihr Mann hätte es nicht einmal bemerkt, als sie diese bei einem gemeinsamen Kinobesuch mit den Kindern angezogen hatte. Sie empfindet dies als Geringschätzung ihrer Person. Der Mann erwidert, die neuen Schuhe seiner Frau seien ihm tatsächlich nicht aufgefallen, er hätte auch gar nicht gewusst, dass es für sie von Bedeutung
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sei, ob er dies bemerke oder nicht. Schließlich sei es doch nur für sie wichtig, ob sie gut darin gehen könne oder nicht. Im Beratungsgespräch lässt sich herausarbeiten, dass der Mann den Stellenwert der optischen Signale, die seine Frau ihm zu senden versucht, unterbewertet hat. Dadurch hat er diesen Bemühungen wenig Aufmerksamkeit geschenkt und sie wurden „herausselektiert“. Wenn er den Versuchen seiner Frau, für ihn attraktiv zu sein, mehr Aufmerksamkeit schenkt, wird er vieles wahrnehmen, was ihm vorher verborgen war, er wird kleine Komplimente machen und das Verhältnis zu seiner Frau wird sich verbessern. Sie ist dann auch nicht mehr so stark auf Bestätigung von außen angewiesen. Etwas allgemeiner lässt sich sagen, dass immer dann, wenn betreute Akteure/-innen Unterbewertungen erkennen, ein Mehr an Aufmerksamkeit dafür entwickeln und sich dadurch in die Lage versetzen können, Dinge wahrzunehmen, die sie vorher aus ihrer Wahrnehmung „ausgeblendet“ hatten. Damit werden sie vor allem im zwischenmenschlichen Kontakt dazu befähigt, Menschen in ihren Entäußerungen intensiver wahrzunehmen und damit besser auf sie eingehen zu können. Eine wichtige Ressource für gelingende Interaktion.
3.3.4 Deutung Die beschriebenen Bewertungsprozesse werden begleitet von der Deutung der aufgenommenen Informationen. Innerhalb dieses Prozesses weisen wir auf der Grundlage der von uns gespeicherten Wissensbestände und unserer Gefühle, wie Liebe, Hass, Zuneigung etc., den wahrgenommenen Informationen Bedeutungen zu. Dazu gehört beispielsweise auch, dass auf Grundlage des oben beschriebenen inneren Bezugssystems – als Teil der gespeicherten Wissensbestände – Ereignisse; Prozesse und Personen im Zusammenhang externer Referenzen interpretiert werden. Auf der Basis der zugewiesenen Bedeutungen werden die neuen Informationen entsprechend kombiniert und verdichtet. Beim Deutungsprozess handelt es sich also um
eine wissens- und gefühlsbasierte Bedeutungszuweisung eine bedeutungsgeleitete Kombination und eine Verdichtung
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der aufgenommenen Informationen (vgl. Bösel R.M., 2001:15-53;143-159 und 407 f).
Soziale Deutungsmuster Bezüglich der Verwurzelung und des Eingebundenseins jedes Individuums in seine soziale Umwelt kommt den sozialen Deutungsmustern eine wichtige Bedeutung zu. Diese Begrifflichkeit entstammt der Wissenssoziologie und wurde insbesondere von Alfred Schütz geprägt (Schütz, A..1932/1974). Es handelt sich um im individuellen Wissensvorrat abgelagerte Sinnschemata. Diese haben, vermittelt über gemeinsame Erfahrungen und kommunikative Prozesse immer intersubjektive Anteile: durch übereinstimmende, die Deutung der Wirklichkeit prägende Erfahrungen und die entsprechenden, diese Deutungen bestätigenden kommunikativen Prozesse wird „Lebenswelt“ als psycho-soziale Kategorie konstituiert (vgl. Habermas 1981). Diese trägt ihrerseits wiederum als Sozialisationshintergrund zur je subjektiven Verinnerlichung der gemeinsamen Deutungsmuster bei, die auf Grund ihrer sozialen Konstituierung als „soziale Deutungsmuster“ bezeichnet werden (vgl. Oevermann, 2001: 3-33). Sie erlauben den Einzelnen, ihre sozialen Erfahrungen in einen übergreifenden Sinnzusammenhang zu bringen, die eigene Biographie mit den entscheidenden gesellschaftlichen Handlungsanforderungen zusammenzubringen (vgl. Plaß und Schetsche 2001: 511536). Soziale Deutungsmuster bilden somit für den Einzelnen eine Brücke zwischen seiner Subjektivität und seinem sozialen Umfeld. Diese intersubjektiv geprägten Deutungsmuster sollten allerdings nicht als völlig in sich abgeschlossene und vorgefertigte Raster verstanden werden. Sie müssen vom jeweils Einzelnen situationsspezifisch rekonstruiert werden. Dies wiederum geschieht auf dem Hintergrund des im konkreten Lebenslauf individuell ausdifferenzierten inneren Bezugssystems (s.o.). Soziale Deutungsmuster sind in diesem Sinne offen für Veränderungen: Die aus dem sozialen Kontext resultierenden Interpretations- und Übertragungsregeln eröffnen dem Individuum neben der Hilfe zur sinnbezogenen sozial adäquaten Bedeutungszuweisung die Möglichkeit der bewussten individuellen handlungsbezogenen Reflexion (vgl. Oevermann, 2001a: 35-81).
3.3 Bewerten, Deuten und Klassifizieren
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Reflexion von Deutungsprozessen als Strategie zur Kommunikationsverbesserung – Ressourcen bei der Stabilisierung des sozialen Netzwerkes Bei Menschen, die über eine gewisse Sicherheit beim Deuten von Ereignissen und Prozessen verfügen kann die Reflexion der jeweiligen Deutungsprozesse von Vorteil sein, Ressourcen freilegen und/oder stabilisieren.
Verschiedene Kulturkreise Zunächst soll ein Beispiel aus der Gemeinwesenarbeit innerhalb eines sozialen Raums mit einem hohen Anteil von Bewohner/-innen mit Migrationshintergrund aus unterschiedlichen Kulturkreisen zur Veranschaulichung herangezogen werden. Wichtig ist hier ja vor allem der Integrationsaspekt, dem am besten durch die Einleitung vielfältiger Kommunikationsprozesse Rechnung getragen werden kann. Wenn jene Bewohner/-innen des entsprechenden Gemeinwesens mit Migrationshintergrund, also Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen miteinander in Kommunikation treten, weichen die verinnerlichten Deutungsmuster, wie oben beschrieben, stark voneinander ab. So können leicht Missverständnisse entstehen. Gerade bei non-verbaler Kommunikation – die ja oft eine wesentliche Grundlage für die Beziehungsebene in der Kommunikation bildet (vgl. Watzlawick, P, Beavin, J. H., Jackson, D. D. 1990), werden die entsprechenden Gesten je nach Kultur verschieden gedeutet. Da die Beziehungsebene eine Metaebene in der Kommunikation bildet (ebda.), also entscheidenden Einfluss darauf hat, wie das, was inhaltlich vermittelt wird, zu verstehen ist, kann eine Missdeutung von Mimik und Gestik auf Grund unterschiedlicher Deutungsmuster, u.U. verheerende Folgen haben. Das trifft auch auf die Deutung sozialer Kodifizierungen, wie z.B. die in einer Kultur üblichen Höflichkeitsbekundungen, Verbeugungen, Nase reiben, Knickse, Händedruck etc. zu. Auch hier können sich emotional schwierige Situationen entwickeln, wenn aufgrund verinnerlichter sozialer Deutungsmuster der Sinn dieser Kodifizierungen falsch gedeutet wird, vor allem dann, wenn das jeweilige aus einem anderen Kulturkreis stammende Gegenüber auch wiederum die Mimik und Gestik des/der Kommunikationspartners/-in falsch deutet. Professionelle Sozialpädagogen/-innen sollten hierbei die Einleitung von Reflexionsprozessen unterstützen. Sie sollten zwischen von ihnen betreuten Akteuren/-innen vermitteln und sie zum diesbezüglichen reflektierten Austausch
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
anregen. Dazu gehört es beispielsweise innerhalb von Gruppenprozessen – sei es im Rahmen kultureller Angebote oder bei Treffen von Initiativ- oder Selbsthilfegruppen im Bürgerhaus oder Stadtteilzentrum – die unterschiedliche Bedeutung von Mimik und Gestik mit den jeweiligen Akteuren/-innen aus unterschiedlichen Kulturkreisen zu thematisieren. Auch über die jeweils aus den verschiedenen Kulturen heraus resultierenden unterschiedlichen Sitten, Tradierungen, Verhaltensnormen, Wertvorstellungen und Sinnhorizonte sollten gemeinsam diskutiert werden. So kann sich allmählich für die einzelnen Akteure/-innen die Bedeutung jeweils anderer sozialer Deutungsmuster erschließen. Die jeweils fremden kulturspezifisch geprägten sozialen Deutungsmuster können so verstanden und die je eigenen sollten auf diese Art und Weise relativiert werden. So kann eine verbesserte Basis der Verständigung geschaffen werden – ein wichtiger Baustein sozialer Kompetenz für alle Akteure/-innen. Eine so verbesserte Verständigung mit Menschen aus anderen Kulturkreisen als Faktor sozialer Kompetenz erleichtert den sozialen Kontakt und ist damit eine wichtige soziale Ressource, die weit über das Gemeinwesen hinausreicht und somit zur Handlungsmächtigkeit der betroffenen Akteure/-innen beiträgt.
Unterschiedliche Lebenswelten Wenn Menschen aus anderen Kulturkreisen kommen, erkennen wir dies in der Regel sehr schnell: eine andere Sprache, häufig auch ein anderes Aussehen usw. Bei der Kommunikation mit Menschen aus dem gleichen Kulturkreis, aber einer je anderen Lebenswelt, stellen wir diese Differenz manchmal nicht so schnell fest. Erfahrungshintergrund, Weltsicht, Sinnhorizonte und die eine bestimmte soziale Ordnung konstituierenden Handlungsgrundlagen stimmen bei Menschen aus einer Lebenswelt überein. Wie oben erläutert, werden die sozialen Deutungsmuster von dieser Lebenswelt geprägt. Bei der Kommunikation zwischen Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten können nun als selbstverständlich vorausgesetzte Deutungen in Konflikt miteinander geraten. Ein Beispiel aus der Jugendberufshilfe soll dies verdeutlichen: Ein junger Mann mit mittelschichtspezifischem Sozialisationshintergrund hat bereits ein Studium abgebrochen und ist nun seit einiger Zeit arbeitslos. Zur Berufsfindung wird ihm von einer Sozialpädagogin einer Einrichtung der Jugendberufshilfe ein Vorpraktikum auf einer Baustelle angeboten. Das Ziel sei – so wird ihm von der Sozialpädagogin gesagt – sich für den Fall der Entscheidung für ein ihm vorschwebendes zweites Studium, nämlich der Architektur, fachspe-
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zifische Kenntnisse anzueignen. Auf der Baustelle hat er den Status eines Auszubildenden, der dort „Stift“ genannt wird und wie üblich um 9:00 Uhr die Brotzeit für den Meister besorgen muss. Das empfindet er als Zumutung. Er argumentiert, dass dies nicht zu seinem Aufgabenbereich gehöre. Schließlich sei er hier auf der Baustelle um etwas zu lernen und nicht um den Dienstboten zu spielen. Für die anderen Arbeiter auf der Baustelle – allesamt einer anderen Lebenswelt zugehörig – ist es selbstverständlich, dass der „Stift“ die Brotzeit besorgt und sie werden sein Verhalten als arrogant deuten. Er wollte hingegen nicht irgendeine Überlegenheit oder einen Dünkel kommunizieren, sondern lediglich sein Unverständnis über die Anforderung ausdrücken. Durch die Unkenntnis der lebensweltlichen Deutungsmuster bringt sich der werdende Architekturstudent einerseits in eine schlechte Position und fühlt sich vielleicht andererseits abgelehnt. Er wird es unter Umständen im gesamten Vorpraktikum sehr schwer haben, wenn er sich nicht bemüht, die spezifischen sozialen Deutungsmuster der anderen Lebenswelt zu erfassen. Er sollte seinen eigenen Bezugsrahmen erweitern um neue, andere Deutungsmöglichkeiten zuzulassen und zu verstehen. Um einen Abbruch des Vorpraktikums zu verhindern sollte die Sozialpädagogin gemeinsam mit dem jungen Mann diese Zusammenhänge aufarbeiten und reflektieren. Sie kann ihm dazu verdeutlichen, dass es lebensweltlichspezifische Unterschiede innerhalb von Werthaltungen und normativen Orientierungen gibt und er sich in diesem Falle besser die lebensweltlichen Deutungsmuster dieses spezifischen Umfeldes aneignen sollte, um innerhalb der Kommunikationsprozesse nicht zum Außenseiter zu werden. Soviel zur Vermittlung dieser Zusammenhänge bei der Beratung und Betreuung zur verbesserten Nutzung von Ressourcen. Aber noch auf einer anderen Ebene sind diese Erkenntnisse für professionelle Akteure/-innen in der Sozialen Arbeit von großer Wichtigkeit. Denn sie haben nicht selten selbst ähnliche Kommunikationsschwierigkeiten wie der oben beschriebene Vorpraktikant, wenn sie häufig mit Menschen aus anderen Lebenswelten zu tun haben, also mit anderen sozialen Deutungsmustern konfrontiert werden. Sie werden immer wieder mit situationserschwerenden Kommunikationsschwierigkeiten zu kämpfen haben, wenn sie nicht die Differenzierung der sozialen Deutungsmuster je nach lebensweltlichem Hintergrund beachten. Die spezifischen sozialen Deutungsmuster der jeweils anderen Lebenswelten zu kennen und diese Kenntnis in die Kommunikationsprozesse einzubringen, ist deshalb von großem Vorteil. Damit lassen sich Missverständnisse und Konflikte innerhalb der jeweiligen sozialen Interaktionen minimieren.
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Daher ist das Interesse von professionelle Akteuere/-innen in der Sozialen Arbeit an Umbrüchen und Spezifika der Lebenswelten ihrer Klienten/-innen eine wichtige Grundlage produktiver Interaktionsprozesse innerhalb der differenzierten Handlungsfelder der Profession (vgl. etwa Kriz, Jürgen 2004). Das Erfassen der sozialen Deutungsmuster anderer Lebenswelten gelingt nur durch die Bereitschaft, den eigenen Erfahrungshorizont zu erweitern, indem professionelle Akteure Sozialer Arbeit sich auf Sinnhorizonte, normative Orientierungen, Wertvorstellungen und Weltsicht der Lebenswelt der von ihnen Betreuten einlassen: Eine unaufdringliche Neugier etwa in der Art eines Ethnologen, der Kultur und Verhaltensweisen einer fremden Kultur erkundet. Aktives Zuhören, Empathie, gezieltes Feed-back durch Ich-Botschaften, wie dies Carl Rogers im Rahmen der humanistischen Psychologie beschreibt, ist hierbei eine sehr gute methodische Grundlage (Rogers, C. 1979). Die so erreichte Erweiterung des Erfahrungshorizontes ermöglicht durch das Verstehen anderer Deutungsmöglichkeiten Umdeutungsprozesse („reframing“ vgl. de Shazer, Steve 2005), innerhalb derer so manches Problem in einem anderen Licht erscheint, neue Lösungsmöglichkeiten und Handlungsstrategien deutlich werden. Auch dies setzt Ressourcen frei. Nicht zuletzt ist es im Rahmen der Mediation – einer Methode zur Konfliktregelung ohne Verlierer – eine der Aufgaben des Mediators/der Mediatorin, die unterschiedlichen sozialen Deutungsmuster der Konfliktpartner, die entweder aus kultur- oder lebensweltspezifischen Gründen differieren, zu verdeutlichen und verständlich zu machen (vgl. Dulabaum, Nina L. 2003). Damit lassen sich zahlreiche konfliktkonstituierende Missverständnisse ausräumen und Agency der betroffenen Akteure steigern.
Biografie Neben Kultur und Lebenswelt ist auch die jeweils eigene Biografie ausschlaggebend für die Art und Weise der Deutung von Ereignissen und Prozessen. Die Deutung der Reaktion anderer auf meine Handlungsweisen hängt stark von meinen eigenen Erfahrungen im Verlaufe meiner Lebensgeschichte ab. Letztere ist zwar von Kulturzugehörigkeit und Lebenswelten stark geprägt, dennoch gibt es auch in der Biografie erworbene rein individuelle Momente, die allerdings immer mit Kultur und Lebenswelt verwoben sind. Zu diesen biografisch bedingten individuellen Momenten gehören die für das oben bereits erläuterte „seelische Axiom“ typischen „frühkindlich eingefleischten Urbotschaften“ (Schulz von Thun, F. 2001: 62). Sie spielen bei der
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situationsspezifischen individuellen Rekonstruktion sozialer Deutungsmuster eine große Rolle. In diesem Zusammenhang ist es nämlich möglich, dass die aus ihnen im Verlauf der Biografie resultierenden Grundannahmen über die eigene Person und die soziale Umwelt sogenannte „Bestätigungskreisläufe“ (ebda.) hervorrufen: die individuelle Deutung der Situation führt zu einem Verhalten, das die Kommunikationspartner/-innen so reagieren lässt, dass diese Deutung wiederum bestätigt wird. Dies kann eingeschränkte Handlungsstrategien zur Folge haben. Eine Veränderung dieser Bestätigungskreisläufe ist nicht zuletzt durch die Reflexion der individuellen Rekonstruktion sozialer Deutungsmuster möglich. Ein Beispiel aus der Beratungsarbeit im Bereich der Erwachsenenhilfe: Ein sozialpädagogisch ausgebildeter Berater berät einen Akteur, der schon einige Male auf Grund erheblicher Schwierigkeiten mit Kollegen seinen Arbeitsplatz verloren hat. Im Beratungsgespräch stellt sich heraus, dass er sich im Verlaufe seines Persönlichkeitsentwicklungsprozesses, vor allem in früher Kindheit und Jugend, das seelische Axiom des „aggressiv-entwertenden“ Kommunikationsstils aneignete. Dabei hat er verinnerlicht: „Ich bin nicht in Ordnung, mache erbärmlich alles falsch. Wehe jemand merkt es! Dann werde ich untergebuttert und gnadenlos verachtet“ (118). Deshalb versucht er vorbeugend mit starken Mitteln zurückzuschlagen „und macht das `Obensein´ zur Überlebensfrage“. Ein Vorgang, den bereits Adolf Adler als „Entwertungstendenz“ beschreibt (vgl. ebda.). Für den Berater wird deutlich, dass aus dem das innere referenzielle System (s.o.) prägenden Grundgefühl heraus, „alles falsch zu machen“, sich bei dem zu beratenden Akteur eine spezifische Rekonstruktionsgewohnheit sozialer Deutungsmuster entwickelt hat, bei der er selbst in Situationen mit harmlosen Äußerungen oder Rückfragen von Kommunikationspartnern einen fundamentaler Angriff auf die eigene Person empfindet. Deshalb reagiert der/die Betroffene äußerst aggressiv. Im weiteren Gesprächsverlauf wird deutlich, dass dieses Verhalten bereits viele Kommunikationspartner, darunter auch viele frühere Kollegen, erstaunte und verärgerte. Sie reagierten entweder genauso aggressiv oder zogen sich zurück. Auf jeden Fall haben sie daraufhin dem Betroffenen gerne einen Fehler nachgewiesen, da er sie ja verärgert hat. Das verstärkte wiederum bei dem/der Betroffenen das Gefühl, alles falsch zu machen und bestätigte seine Deutungen. Ein Teufelskreis im System der sozialen Kommunikation. Der sozialpädagogische Berater sollte nun die gezielte Reflexion der Deutungen des betreuten Akteurs einleiten. Als Resultat kann dieser nun denTeufelskreis durchschauen. Dann kann es ihm künftig gelingen, die Äußerungen
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anderer nicht so eilig als Angriffe zu interpretieren. Damit wird er für sein soziales Umfeld erträglicher und die jeweiligen Kommunikationspartner sind nicht mehr so erpicht darauf, ihm irgendwelche Fehler nachzuweisen. Sie werden bei nicht so entscheidenden Irrtümern, Fehlentscheidungen etc. auch mal darüber hinweg sehen. So kann künftig die tatsächliche Kritik allmählich zurückgehen, der Ausbruch aggressiver Verhaltensweisen vermindert werden und damit die Verbleibdauer innerhalb von Kollegenkreisen gesteigert werden. Insgesamt kann eine solche Reflexion mit entsprechenden Lernprozessen und daraus resultierenden Verhaltensänderungen langfristig die Akzeptanz im sozialen Umfeld erhöhen und viel Stress ersparen. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Reflexion biografisch bedingter individueller Rekonstruktionsgewohnheiten sozialer Deutungsmuster hilft, das Potential von Handlungsstrategien zu erweitern. Sie ist eine wichtige Ressource beim Aufbau und der Pflege des sozialen Netzes und trägt damit zur Steigerung von Handlungsmächtigkeit bei.
Methoden zur Reflexion der Deutungsprozesse Zunächst sollten professionelle Akteure/-innen Sozialer Arbeit bei der Hilfe zur Reflexion von Deutungsprozesse der betreuten Akteure/-innen diese veranlassen, der Frage nachzugehen, ob sie bei der Deutung von Ereignissen und Prozessen deren für sie positive Seite hinreichend berücksichtigt haben. Denn die positiven Seiten sich bewusst machen und ihnen hinreichend Gewicht zu verschaffen(vgl. Bewertung) ist die Grundlage für „positives Denken“, das die betreuten Akteure vor vielen Stresssituationen und persönlichen Krisen bewahren kann. Andererseits sollten sie angeregt werden zu hinterfragen, ob sie nicht – z.B. im Rahmen einer allzu euphorischen Stimmung – unrealistisch positive Erwartungshaltungen und Zukunftsantizipationen ihren Deutungen zugrunde legen und so zu wenig realistischen Konzepten gelangen, die notwendigerweise in Frustrationen münden. Dadurch können sie Frustrationen minimieren und adäquate Handlungsstrategien entwickeln. Bei Erfolgserlebnissen sollten die betreuten Akteure in die Lage versetzt werden, deren Ursache den richtigen Faktoren zuzuschreiben. Die Ursachenzuschreibung wird in der psychologischen Fachsprache als “Kausalattribuierung“ bezeichnet: Wenn ich die Ursachen für Erfolge überwiegend meinem eigenen Handeln zuschreibe, wird dies als „handlungsorientiert“ bezeichnet, schreibe ich die Ursachen für Erfolge eher der allgemeinen Lage, der momentanen, durch
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äußere Faktoren beeinflussten Situation zu, wird dies als „lageorientiert“ bezeichnet (vgl. Heckhausen 1988: 387 – 422 und 423 – 454). In diesem Theorieansatz wird belegt, dass handlungsorientierte Menschen eine stärkere Willenskraft generieren können: Wenn sie Erfolge dem eigenen Handeln zuschreiben gehen sie davon aus, dass ihr Handeln auch in Zukunft ausschlaggebend für Erfolge sein kann. Wird Erfolg dagegen eher der Lage zugeschrieben, kann das dazu führen, dass es als für mögliche Erfolge relativ unbedeutend angesehen wird, ob und wie ich handele. Es kann sich eine gewisse Apathie breit machen oder es kann zu wenig zielgerichtetem, ziemlich planlosem Handeln führen. Die Leistungsmotivation ist dann eher gering. Sozialpädagogen/-innen sollten also darauf hin arbeiten, dass die von ihnen betreuten Akteure/-innen bei Erfolgen immer auch den eigenen Anteil am Erfolg durch das eigene Bemühen hinreichend hoch bewerten. Demzufolge können sie dann das eigene Handeln als ausschlaggebendes Moment für Erfolgserlebnisse deuten. Dabei sollten durchaus auch mögliche Fehler in der Handlungsstrategie erkannt und erörtert werden und positive Veränderungsmöglichkeiten zu entwickeln. Sicherlich ist es aber auch nicht falsch, wenn die betreuten Akteure lernen, den situativen Einfluss richtig zu deuten, um sich möglicherweise nicht für Misserfolge verantwortlich zu machen, die tatsächlich durch eigene Handlungsweise nicht verhindert werden hätten können. Hier sollte aber darauf geachtet werden, dass nicht eigenes unzureichendes Handeln durch die vermeintlich schlechte Situation legitimiert wird. Professionelle Akteure/-innen Sozialer Arbeit sollten also bei der Hilfe zur Reflexion von Deutungsprozessen darauf hinarbeiten, dass die betreuten Akteure/-innen den Focus bewusst auf Positives richten, den Einfluss ihrer Stimmung auf die Deutung überprüfen und Erfolg möglichst auf der Grundlage der Reflexion eigener Handlungen deuten, um hohe Willensstärke generieren zu können. Aber auch für professionelle Akteure ist es von großer Wichtigkeit, zum Beispiel innerhalb von Beratungsgesprächen, die kommunikativen Botschaften der betreuten Akteure richtig zu deuten. Nur so können sie Beratungsgespräche mit dem erwünschten Erfolg der Ressourcenstabilisierung führen. Auch hierzu einige methodische Anregungen: Zur bewussten Deutung von kommunikativen Botschaften sollten folgende Aspekte Beachtung finden: Was steht im Zentrum der Botschaft: Gibt es etwas innerhalb der Botschaft, das aufhören lässt? Welche Aspekte werden mit einem gewissen Nachdruck formuliert?
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
Welche Bezüge bestehen zwischen einzelnen Aspekten der Botschaft? Was wird überhaupt gesehen/gehört – verbal wie nonverbal, gibt es eventuell kommunikative Aspekte, die der Wahrnehmung entgangen sind? Können weitere Hintergrundinformationen das Verständnis erweitern, oder muss dazu der Focus verändert werden? Worauf will der Akteur mit seiner kommunikativen Botschaft hinaus? Will er/sie etwas auf der Sachebene mitteilen oder handelt es sich eher um eine Selbst- und/oder Beziehungsreflexion? Professionelle und betreute Akteure/-innen können auch mit Interpretationsmöglichkeiten „spielen“. Das kann in Rollenspielen beispielsweise innerhalb von Beratungsprozessen erprobt werden: Es gibt bei Botschaften sowohl bestimmte Deutungsmöglichkeiten die festgelegt sind, als auch solche, die offen sind. Gerade das Durchspielen offener Deutungsmöglichkeiten, die im Kommunikationsprozess nicht unmittelbar festgelegt sind, eröffnet ein verändertes, besseres oder tieferes Verständnis der Botschaften des jeweiligen Gegenübers: Im Rollenspiel können zum Beispiel zwei Betreute aus unterschiedlichen Kulturkreisen teilnehmen. Eine verbale Botschaft wird mit einer bestimmten Mimik, Gestik und einem spezifischen Tonfall von Spieler A vorgetragen. In Form einer Rückmeldung („feed back“) wird er über die Deutung seiner Botschaft durch Spieler B informiert. Nun kann Spieler A seinerseits kommentieren, ob seine Äußerung so intendiert war, wie von B gedeutet, oder anders. So wird den Betroffenen klar, wie sich Missverständnisse durch unterschiedliche Deutungen ergeben können. Im Alltag hilft die bewusste Reflexion der Deutung von Botschaften, und die Konfrontation der Gesprächspartner damit vor allem schwierige, konfliktträchtige Gespräche für beide Seiten erfolgversprechend zu führen. Da dadurch viele Konflikte verhindert oder behoben werden können, bildet auch diese Fähigkeit eine wichtige Ressource zur Steigerung von Handlungsmächtigkeit der jeweiligen Akteure.
3.3.5 Klassifizieren/Kategorisieren Der beschriebene Deutungsprozess steht in engem Zusammenhang mit Klassifizierungsprozessen. Gedeutete, kombinierte und verdichtete wahrgenommene Informationen werden bestimmten Klassen, im eher philosophischen Sprachgebrauch auch Kategorien genannt, zugeordnet.
3.3 Bewerten, Deuten und Klassifizieren
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Grundlage dieser umfangreichen Ordnungsprozesse des Klassifizierens/Kategorisierens sind die oben erläuterten geistigen Konzepte und Situationsmodelle die dadurch wiederum weiterentwickelt werden Durch erfolgte Klassifizierungs- bzw. Kategorisierungsprozesse können wir abgespeicherte Informationen die zusammengehören schnell in unserem Gedächtnis finden und auf sie zugreifen. In Analogie zur elektronischen Datenverarbeitung können wir uns diese Klassifizierung/Kategorisierung etwa so vorstellen: verschiedene Einzeldateien, die ein bestimmtes gemeinsames Thema betreffen, werden in einem Ordner vereinigt. Weitere neue Dateien ähnlichen Inhaltes können dann diesem Ordner zugewiesen werden. So finden wir die Dateien schnell wieder. Im Prozess von Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung entsprechen die Ordner Klassen/Kategorien. Die Einzeldateien in der Analogie sind Ereignisse, Phänomene und Prozesse, die im Prozess von Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung einer entsprechenden Klasse/Kategorie zugeordnet werden. Bleiben wir bei der Analogie: Verschiedene Ordner können in der elektronischen Datenverarbeitung einem weiteren gemeinsamen Ordner zugewiesen werden. So können im Prozess von Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung auch verschiedene Klassen/Kategorien einer jeweils höheren Kategorie/Klasse zugeordnet werden. Diese jeweils „höhere“ oder allgemeinere Klassen/Kategorien können wiederum in noch abstrakteren zusammengefasst werden. Mit jeder Ebene der Zusammenfassung entsteht eine allgemeinere, also abstraktere Ebene. So entsteht ein Kategoriensystem mit einer „Hierarchie“ von den konkreten Erlebnissen aufsteigend bis zur jeweils abstraktesten Kategorie/Klasse.
Abbildung 1:
Förderung sozialer u. personaler Kompetenzen z.B. im Jugendhaus
allgemeine Lebensberatung für Jugendliche
Außerschulische Bildung im Jugendalter
Förderung v. Gesundheit und körperlicher Entwicklung Jugendlicher
Sport, Spiel und Geselligkeit Jugendlicher
Ermöglichung von Entspannung und Gemeinschaftserlebnissen Jugendlicher
Jugendarbeit
Jugendhilfe
Angebote für benachteiligte Jugendliche zu gleichberechtigter Teilhabe
binnendifferenzierte Qualifizierungsangebote für benachteiligte Jugendliche
Ausgleich sozialer Benachteiligung im Jugendalter
Resozialisierungsmaßnahmen für straffällig gewordene Jugendliche
Überwindung individueller Beeinträchtigungen im Jugendalter
Hilfen und Unterstützung bei Drogenabhängigkeit Jugendlicher
Jugendsozialarbeit
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Ausschnitt aus einem Kategoriensystem (Quelle: Eigene Darstellung)
3.3 Bewerten, Deuten und Klassifizieren
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Effiziente und schnelle Klassifikation/Kategorisierung Häufig vollzogene Wahrnehmungsvorgänge zur Deutung und Klassifizierung/Kategorisierung ähnlicher Ereignisse, Prozesse und Phänomene ermöglichen Generalisierungen. Dabei handelt es sich um „Formen von Abstraktionen, die wenig Speicherplatz erfordern und die die Ausübung von gewohnheitsmäßigen Reaktionen erlauben. Generalisierungen tragen dazu bei, ähnliche Ereignisse, Objekte und Phänomene in ihrer Ähnlichkeit schnell zu erkennen und zu charakterisieren (vgl. Bösel , R. 2001: 150). Ereignisse von besonderer Wichtigkeit, Informationen von existentieller Bedeutung, persönliche Erfahrungen mit hoher Gefühlsbeteiligung, kurz, als besonders bedeutend eingeschätzte Wahrnehmungen, spielen bei der Entstehung von Generalisierungen eine besonders wichtige Rolle (vgl.143). Sie werden im Gedächtnis sehr intensiv gespeichert und bilden sozusagen Kristallisationspunkte für nachhaltige Ensembles, die zukünftiger Informationsverarbeitung zur Verfügung stehen (vgl.143, 152, 153, 349). Das bedeutet, dass viele Generalisierungen sozusagen aus Assoziationen um zentrale Erfahrungen herum gebildet werden. Hierbei werden verschiedene Wechselbeziehungen zwischen den wahrgenommenen Ereignissen und Objekten sowie eventuell bestehende kausale Verknüpfungen in der Regel mitberücksichtigt (vgl. 150, 183; und Lachnit 1997). Die Erkennung und Klassifizierung von Objekten, Personen und Phänomenen kann unter der Voraussetzung abgespeicherter Generalisierungen auf Grund von sogenannten Kongruenzhypothesen erfolgen. Das bedeutet, dass wir in einem solchen Falle bei neuen Eindrücken starke Ähnlichkeiten zu einem bestimmten „Typus“ von Personen oder Ereignissen in unserem Erfahrungsschatz feststellen und somit auf diese schon verarbeiteten Erfahrungen zurückgreifen können. Dadurch genügen zur Beurteilung dieser neuen Eindrücke wenige „Oberflächenmerkmale“, also schnell erkennbare Charakteristiken. Mit anderen Worten: die Wirklichkeitsverarbeitung kann sich in diesem Falle zur Beurteilung der neuen Eindrücke hoch selektiv nur auf einige wenige wichtige schnell erkennbare Merkmale beschränken. So können wir beispielsweise Gesichter sehr schnell wiedererkennen und zuordnen. Ein derartig effizienter Klassifikations-/ Kategorisierungsprozess benötigt dabei nur 15% der Zellen unserer informationsverarbeitenden Substanz (vgl. Bösel R. M. 2001:150 f.).
Unlogische Assoziationen, „Fehlassoziationen“ Zu „Fehlern“ im Klassifizierungsprozess kann es durch sogenannte „unlogische“ Assoziationen, die auch als „Fehlassoziationen“ bezeichnet werden, kommen.
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
Dabei werden Merkmale und Kontexte dauerhaft miteinander assoziiert, obwohl sie zwar im Augenblick des ersten Speicherns zusammen wahrgenommen wurden, aber nicht ursächlich oder grundsätzlich miteinander verbunden sind. Solche „Fehlassoziationen“ werden vor allem bei peripherer Wahrnehmung erlebnisdominant und beeinflussen unsere Gefühle. Bei gerichteter Aufmerksamkeit, also bewusster Wahrnehmung des entsprechenden Phänomens können solche unlogischen Assoziationen/Fehlassoziationen korrigiert werden (vgl. Treisman A., Schmidt I. 1982: 107-141, Bösel R. M. 2001: 148, 185). So kann sich beispielsweise bei einem betreuten Akteur/einer betreuten Akteurin ein „ungutes Gefühl“ einstellen, wenn er/sie an das Gesicht einer bestimmte Person erinnert wird, weil er/sie diese unter ungünstigen Umständen kennen gelernt hat. Wenn ein Sozialpädagoge/eine Sozialpädagogin den betreuten Akteur/die betreute Akteurin dazu anregt zu analysieren, woher seine/ihre Vorbehalte gegenüber jener Person herrühren, kann er/sie sich bewusst machen, dass die ungünstigen Umstände eigentlich überhaupt nichts mit dieser Person zu tun haben. Bei der nächsten Begegnung mit dieser Person kann er/sie bewusst darauf achten, was bei seinen/ihren Eindrücken die Person oder deren Gesicht an sich betreffen und welche Gefühle die Rahmenbedingungen bei ihm/ihr auslösen. So kann der betreute Akteur/die betreute Akteurin seine/ihre Fehlassoziation korrigieren.
Synchronizität Im Rahmen des Klassifizierungsprozesses kann eine Synchronizität hintereinander aufgenommener Sinneseindrücke hergestellt werden. Die im Rahmen des geistigen Konzeptes als relevant beurteilten Sinneseindrücke innerhalb einer gewissen zeitlichen Sequenz werden als zeitgleich empfunden. Als nicht relevant beurteilte sinnliche Wahrnehmungen werden auch dann, wenn sie zeitlich zwischen den als relevant Beurteilten liegen, herausgefiltert, also im Prozess der Wirklichkeitsverarbeitung nicht beachtet (vgl. Bösel R. M. 2001: 153 f.). Es werden somit bestimmte Ereignisse, die wir als nicht relevant beurteilen, einfach ausgeblendet1. Es wird also auch in diesem Kontext deutlich, wie stark das vom referenziellen Bezugssystem und damit auch den jeweiligen Intentionen beeinflusste 1 Solche Synchronisationsprozesse sind z.B. für das Musikhören von zentraler Bedeutung: ein geübter Musiker erkennt viele Melodien auch in rhythmisch völlig veränderter Form wieder, während ungeübte die Ähnlichkeit dieser Tonfolgen nicht wahrnehmen können.
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geistige Konzept die daraus resultierenden Klassifizierungen, damit auch die Verarbeitung jeweils neuer Sinneseindrücke prägt.
Reflexion der Klassifizierungen als Ressource Wie bereits am Beispiel der Fehlassoziationen deutlich wurde, kann die Einleitung von Reflexionsprozessen hinsichtlich der Klassifizierung/Kategorisierung durch Soziale Arbeit bei den betreuten Akteuren/-innen vielfältige Ressourcen freisetzen oder stabilisieren und neue Handlungsstrategien ermöglichen. Hierbei sollten verschiedene Einzelaspekte des Klassifizierungsprozesses Berücksichtigung finden.
Gefahr der Übergeneralisierungen Widmen wir uns zunächst dem Problem möglicher Übergeneralisierungen im Klassifizierungs-/Kategorisierungsprozess. Der Prozess der Bildung von Generalisierungen spielt, wie beschrieben, für schnelle zielgerichtete Wirklichkeitsverarbeitung und damit für schnelle adäquate Handlungsweise eine wichtige Rolle. Dabei besteht allerdings bei unzureichender Berücksichtigung möglicher Differenzierungen die Gefahr von Übergeneralisierungen. Zur Illustration soll wieder ein Beispiel aus dem Beratungsalltag Sozialer Arbeit angeführt werden: Ein sozialpädagogisch ausgebildeter Berater berät im Rahmen der Erziehungsberatung eine Mutter, die im Moment Schwierigkeiten mit ihrem ältesten Sohn hat. Der Berater versucht, diese Schwierigkeiten zu analysieren. Die betreute Akteurin generalisiert dabei einige wenige ihr dominant erscheinende Gesten des Beraters. Daher empfindet sie ihn generell als dominant und fühlt sich an ihren früheren Ehemann erinnert der sehr dominant war und ihr in der Vergangenheit Schaden zugefügt hat. Sozialpsychologisch betrachtet handelt es sich hierbei um eine Generalisierung, die die Akteurin auf Grund einer „limitierten Informationsstichprobe“ (Aronson, E; Wilson, T.D.; Akert, R.M. 2004: 82) vornimmt. Denn sie kennt den Berater noch gar nicht und hat bisher keinerlei Erfahrungen mit ihm gesammelt. Es handelt es sich also um eine Generalisierung, die auf zu begrenzten noch nicht verallgemeinerbaren Informationen beruht. Dies führt zu einer auf „Gene-
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
ralisierung begründeten systematischen Urteilsverzerrung“, die mit „biased sampling“ auf den Begriff gebracht wird (ebda.). Verschiedene Gründe können die Akteurin dazu bewegen, die vorschnelle Generalisierung vorzunehmen: Einer davon könnte die sogenannte „Anker- und Anpassungsheuristik“ sein. Die zu beratende Mutter versucht – mental abkürzend – die charakterlichen Vorannahmen über den Berater ihrem durch Vorerfahrung mit ihrem Ex-Mann geprägten Ausgangspunkt (Anker) (z.B. „solche Männer nehmen mich nicht ernst“) anzugleichen. Sie muss dann nicht umdenken und kann ihre Erfahrungen mit ihrem Ex-Mann auf den Berater übertragen. Ein anderer Grund könnte die sogenannte „Repräsentativheuristik“ (vgl. Aronson, E; Wilson, T.D.; Akert, R.M. 2004: 79 ff.) sein: Die Akteurin stellt die (scheinbare) Ähnlichkeit des Beraters zu einem von ihr schon vorher gebildeten Prototypen (z.B. „intellektueller Macho“) in den Vordergrund ihrer Klassifizierung . In diesem Falle kann sie sich ihrer über „so einen Typ Mann“ längst gefällten Urteile bedienen. Derartige Urteilsverzerrungen führen bei der zu betreuenden Mutter zu einem abweisenden Verhalten gegenüber dem gerade neu kennen gelernten Berater. In einer Auseinandersetzung mit dem Berater äußert die Mutter, dass sie ihn genauso wie ihren Ex-Mann und ihren älteren Sohn als unangenehm „herrschsüchtig“ erlebt. Der Berater durchschaut auf Grund dieser Äußerung als gut ausgebildeter Sozialpädagoge die Übergeneralisierungsprozesse und kann sich gut vorstellen, dass die Mutter nicht nur bei ihm, sondern auch bei ihrem ältesten Sohn Verhaltensweisen, die sie von ihrem Ex-Mann her kennt, feststellt und auch diese übergeneralisiert. Behutsam kann er Akzeptanz vermitteln, empathisch durch aktives Zuhören und gezieltes Feedback mit Ich-Botschaften der betreuten Akteurin zunächst die Übergeneralisierungen, die sich auf seine Person beziehen, verdeutlichen. Dies bildet den Ausgangspunkt für Anregungen zu Reflexionen über mögliche Übergeneralisierungen hinsichtlich der Verhaltensweisen ihres ältesten Sohnes. Diese münden in der Erkenntnis der Mutter, dass ihr Sohn sich ungerecht behandelt fühlt und sich wehrt, wenn sie vereinzelte ihr unangenehm erscheinende Verhaltensweisen ihres Sohnes generalisiert. Der Mutter wird so durch den Beratungsprozess deutlich, dass sie ihr durch Übergeneralisierungen verursachtes, teilweise unangebrachtes Verhalten gegenüber ihrem Sohn verändern muss: Ein erster Schritt zur Verbesserung ihres Verhältnisses zu ihm. Dieses Beispiel zeigt, dass Sozialpädagogen/Sozialpädagoginnen in der Lage sein sollten, Übergeneralisierungen zu erkennen und richtig einzuschätzen. Sie können dann, bei den betreuten Akteuren/-innen darauf bezogene Reflexi-
3.3 Bewerten, Deuten und Klassifizieren
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onsprozesse anregen und implementieren. Diese können als kontrollierte Denkprozesse, die „absichtlich, freiwillig und mit Aufwand“ (Aronson, E; Wilson, T.D.; Akert, R.M. 2004: 85) erfolgen, durch Übergeneralisierung verursachte systematische Urteilsverzerrungen korrigieren. Das kann Verhältnisse entkrampfen, den betreuten Akteuren/-innen viel Kraft ersparen helfen sowie ihren Erfolg in Kommunikation und Handeln erhöhen.
Tentative Wirklichkeitsverarbeitung: Erweiterung des Kategoriensystems Eine wichtige Hilfe zur situationsadäquaten Klassifizierung/Kategorisierung bietet die „tentative Wirklichkeitsverarbeitung“. Hierbei wird eine Art und Weise der Wirklichkeitsverarbeitung eingeleitet, die von dem Pädagogen Winfried Marotzky als „tentativ“ bezeichnet wird, weil wir es bei dieser Art des Informationsverarbeitungsprozesses mit einer länger anhaltenden psychischen Anspannung zu tun haben (vgl. Marotzki 1991: 79-89). Diese ist begründet durch einen „Elaborationsprozess“, mit länger als gewöhnlich andauernder Deutung und Klassifizierung/Kategorisierung. Zur Erklärung dieses Phänomens, bezieht sich Marotzki auf die Kant´sche Explikation des „ästhetischen Urteils“ (vgl. Kant I. 1790): Im Gegensatz zum bestimmenden Urteil, das völlig rational geprägt ist, kommt beim ästhetischen Urteil die Phantasie ins Spiel. In einem Wechselprozess von Phantasie und Verstand wird versucht, ein Ereignis zu bewerten, zu deuten und zu klassifizieren/kategorisieren. Innerhalb dieses „Schaukelprozesses“ können neue Kategorien gebildet werden, bereits bestehende neu kombiniert oder differenziert werden. Diesen Prozess bezeichnet Marotzky deshalb als „kategoriale Transformation“. Sie führt auch zur Reflexion der Beurteilung von wahrgenommenen Merkmalen. Denn neue Kategorisierungsmöglichkeiten lassen auch wahrgenommene Merkmale „in einem anderen Licht“ erscheinen. Ein Beispiel aus der Offenen Jugendarbeit soll dies erläutern: Eine Sozialpädagogin arbeitet in einer Jugendfreizeitstätte. Eines nachmittags hat sie Dienst im offenen Bereich. Da erscheint eine Gruppe Jugendlicher, die alle auf den ersten Blick völlig unfrisiert sind und mit so etwas wie zusammengenähten Stoffresten bekleidet sind. Zunächst ist die Sozialpädagogin versucht, die Jugendlichen als Nichtsesshafte zu klassifizieren. Allerdings sind die Stoffreste kunstvoll zusammengenäht, und die Haare sehen zwar keiner ihr bekannten Frisur ähnlich, scheinen aber doch in einer gewissen Art alle ähnlich zu sein.
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
Jetzt kommt es bei der Sozialpädagogin zu der oben beschriebenen Schaukelbewegung zwischen Verstand und Phantasie: Die gängigen verstandesmäßig erfassbaren Kategorien werden als unzureichend erkannt, ihre Kenntnis bestehender Jugendkulturen wie Punks, Skins und weitere werden in diesen Schaukelprozess von der Verstandesseite her eingebracht. Die Phantasie ermöglicht nun Neukombinationen dieser Kenntnisse und das Resultat ist: hier kann es sich um eine neue Jugendkultur handeln, für die sie momentan noch keine Kategorie hat. Die neue Kategorie ist also: Jugendkultur mit seltsamer Haartracht und Stoffrestebekleidung. Den genauen Namen z. B „Emotional Hardcores“ oder ähnliches muss sie noch herausbekommen. In diesem Lichte erscheinen diese Jugendlichen nicht mehr als ungekämmt, sondern die Haartracht entpuppt sich als jugendkulturspezifisches „Styling“ und die Stoffrestekleidung als kreative Patchwork-Mode. Die Sozialarbeiterin beurteilt jetzt also, nachdem sie durch die tentative Wirklichkeitsverarbeitung einen neue Unterkategorie zur übergreifenderen Kategorie „Jugendkultur“ „erschaffen“ hat, die wahrgenommenen Merkmale völlig anders als vorher und kann jetzt auf diese Gruppe Jugendlicher ganz anders zugehen. Sie kann sie beispielsweise gezielt nach der eventuellen Zugehörigkeit zu einer Jugendkultur befragen, nach den Hintergründen dieser, der dazugehörigen Musik und so fort. Das ist ein wesentlich besserer Einstieg als beispielsweise „hey wie seht ihr denn aus?!“ Die durch tentative Wirklichkeitsverarbeitung mögliche Differenzierung des Kategoriensystems durch Bildung neuer Kategorien lässt also erstens eine genauere Zuordnung von Ereignissen und Situationen zu. Zweitens führt die dadurch mögliche neue Beurteilung von wahrgenommenen Merkmalen zu einer adäquateren Einschätzung von Personen, Ereignissen und Prozessen. In unserem Beispiel oben ermöglicht dies der Sozialpädagogin einen professionellen Einstieg mit einer Gruppe neu in die Einrichtung gekommener Jugendlicher. Aber nicht nur für die professionellen sondern auch für die betreuten Akteure/-innen ist die zielgerechteres, personen- und situationsadäquateres Handeln und Verhalten ermöglichende Fähigkeit der tentativen Wirklichkeitsverarbeitung eine wichtige Ressource bei der Bewältigung des Alltags. Fördern können Sozialpädagogen/-innen diese Fähigkeit bei den von ihnen betreuten Akteuren/-innen, in dem sie Angebote zur Steigerung der Phantasietätigkeit entwickeln. Dies ist sehr gut möglich durch gezielte Angebotsstrukturen im kulturell-ästhetischen Bereich. Am Beispiel der Jugendarbeit wären dies bei-
3.3 Bewerten, Deuten und Klassifizieren
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spielsweise das Herstellen von Skulpturen in einer Holzwerkstatt, das Zusammenschweißen von Objekten in einer Metallwerkstatt, das Herstellen von phantasievollen Bildern durch digitale Bildbearbeitung, das Ausprobieren neuer Melodien auf der E-Gitarre in einer Musikwerkstatt und vieles andere mehr.
Orientierungsstabilsierung bei sich schnell verändernder gesellschaftlicher Wirklichkeit Noch mal zurück zu Marotzkys theoretischer Begründung der Notwendigkeit tentativer Wirklichkeitsverarbeitung. Dazu greift er die Analysen zeitdiagnostischer Soziologen – vor allem Ulrich Becks (1986) auf. Demnach verstärken sich in unserer Gesellschaft folgende Tendenzen:
Enttraditionalisierung Viele aus Traditionen heraus entstandenen Tätigkeiten, Handlungs- und Verhaltensweisen verlieren an normativer Verbindlichkeit. Das heißt, für immer mehr Menschen sind weder die Art und Weise noch die Ausführung der auf Traditionen beruhenden Tätigkeiten, Handlungs- und Verhaltensweisen wichtig. Aber auch und immer weniger Menschen stören sich daran, wenn sich andere nicht um solche Traditionen nicht kümmern. So war es vor noch nicht allzu langer Zeit zumindest im ländlichen Raum durchaus üblich, sonntagvormittags in die Kirche zu gehen. War jemand nicht in der Kirche, wurde er/sie „schief angesehen“. Heute hat sich das weitgehend gelockert und es bleibt dem Belieben eines jeden Einzelnen überlassen, ob er von dem Angebot des Gottesdienstes Gebrauch macht oder nicht. Dies trifft auf viele Bereiche des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft zu, so dass einerseits die jeweils Einzelnen über mehr Handlungsfreiheit verfügen können, sich aber andererseits auch nicht mehr darauf verlassen können, dass die Anderen sich an tradierte Verhaltensmuster halten. Die Freiheit nimmt zu, die Berechenbarkeit von Verhaltensweisen nimmt dagegen ab. Flexibilisierung Die Arbeitszeiten werden immer flexibler. Durchgängig laufende Fertigungsabläufe in der Industrieproduktion, längere Ladenöffnungszeiten usw. sorgen dafür, dass es für immer mehr Menschen keine Alternative zur Schichtarbeit gibt. Das bedeutet, dass die Alltagsorganisation flexibler werden muss. Insgesamt muss
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
alles genauer geplant und komplizierter organisiert werden. Spontane Kontakte werden selten. Jeder Treff mit Freunden muss genau terminiert und geplant werden und wird zum organisatorischen Aufwand, den viele nach langen mühsamen Arbeitstagen nicht mehr auf sich nehmen wollen. Individualisierung Damit hängt auch die Individualisierung zusammen: Wie oben deutlich wurde, nimmt durch die Enttraditionalisierung die Gestaltungsfreiheit des Einzelnen zu: jeder kann seinen eigenen Lebensstil kultivieren, seine eigene Individualität ausleben. Die Berechenbarkeit der Verhaltensweisen anderer Menschen nimmt aber ab und gleichzeitig wird es immer schwieriger, Kontakte mit Freunden, Verwandten usw. zu halten. Daher besteht gleichzeitig zur Chance, sein Leben weitgehend selbst gestalten zu können, die Gefahr der Vereinzelung. Die Freiheit individueller Entwicklungsmöglichkeiten steigt aber gleichzeitig auch das Risiko zu scheitern.
Pluralisierung Mit den individualisierten Lebensstilen hängen je unterschiedliche Sinnfindungsprozesse zusammen. Dies führt zur Entwicklung unterschiedlicher Werthaltungen. Innerhalb von Nachbarschaften und sozialen Räumen treffen oft Menschen zusammen, die sich an sehr unterschiedlichen Werten orientieren. Beispielsweise kann eine stark an christlichen Werten orientierte allein lebende ältere Witwe im Treppenhaus auf einen zum Buddhismus konvertierten Punk aus der Wohngemeinschaft im ersten Stock treffen. Ob sie ins Gespräch kommen, hängt von der Aufgeschlossenheit und dem Grad der Toleranz beider ab. Auf jeden Fall ist es aber so, dass auch die Lebensform der Wohngemeinschaft, das „Styling“ des Punks zur gesellschaftlichen Realität gehört und zunehmend auf Akzeptanz trifft. Immer mehr unterschiedliche Werthaltungen und Lebensstile entwickeln sich und verschaffen sich Geltung im Zusammenleben, erringen sich gesellschaftliche Akzeptanz: Die Gesellschaft wird immer vielfältiger.
Tentative Wirklichkeitsverarbeitung zur Aktualisierung des Kategoriensystems Marotzki vertritt nun die Auffassung, dass diese gesellschaftlichen Tendenzen in unserer sozialen Realität zunehmend starke Veränderungsprozesse hervorrufen.
3.3 Bewerten, Deuten und Klassifizieren
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Dies mache eine ständige Aktualisierung unseres Kategoriensystems notwendig, um uns überhaupt noch orientieren zu können. Letzteres müsse daher durch „kategoriale Transformation“ permanent ausdifferenziert und erweitert werden, um die Phänomene einer veränderten Realität adäquat einschätzen zu können. Ohne die Fähigkeit tentativer Wirklichkeitsverarbeitung mit der daraus folgenden kategorialen Transformation sei also eine angemessene Beurteilung der sich mit hoher Geschwindigkeit stark verändernden sozialen Realität nur noch schwer möglich(vgl. Marotzki 1991: 79-89). Kommen wir zur Veranschaulichung auf unser Beispiel oben zurück: Die allein lebende Witwe kann den buddhistischen Punk, der in einer Wohngemeinschaft lebt, zunächst einmal nicht in ihr Kategoriensystem einordnen. Wenn sie ihn der für sie auf Grund seines Aussehens naheliegenden bestehenden Kategorie „ungezogener junger Mann“ zu ordnet, begegnet sie ihm zunächst feindselig. Dadurch wird es zu keiner Kommunikation kommen und die Anbahnung von Konflikten im Haus ist wahrscheinlich. Nehmen wir an, dass es in diesem Stadtteil es ein Bürgerhaus gibt, innerhalb dessen Sozialpädagogen/-innen katalytisch-aktivierende Gemeinwesenarbeit leisten. Die Witwe trifft sich dort regelmäßig mit anderen Senioren bei einem eigens dafür konzipierten Angebot. Auch der Punk verkehrt dort regelmäßig, da er dort die Möglichkeit hat, in einer kleinen Metallwerkstatt Schmuck herzustellen, den er auf Märkten vertreibt. In gewissen Abständen organisieren die Sozialpädagogen/-innen ein Treffen, an dem sich alle regelmäßigen Besucher der Bürgerhauses treffen, um im Rahmen von Partizipation als Grundsatz lebensweltorientierter Sozialer Arbeit (vgl. Thiersch, H. 1992:13-40; Schnurr, S. 2001:1330-1345) über zukünftige Maßnahmen und Angebote zu beraten. Die Sozialpädagogen/-innen machen die an diesen Treffen teilnehmenden Bewohner des Stadtteils miteinander bekannt und sorgen unter Anwendung der themenzentrierten Interaktion nach Ruth Cohn (vgl. Cohn, R. 1994) für ein angenehmes Gesprächsklima, bei dem es keine Beleidigungen gibt und jeder jeden aussprechen lässt. Beide, die Witwe und der Punk, nehmen an diesen Treffen teil. Wenn sich in diesem Rahmen der Punk als sehr freundlicher, umgänglicher und überdies noch hilfsbereiter Mensch zeigt, wird der Witwe deutlich, dass sie ihn falsch eingeschätzt hat. Wenn sie zusätzlich noch Informationen über Jugendkulturen von den Sozialpädagogen/-innen erhält, wird sie in die Lage versetzt, in einem Schaukelprozess zwischen Vernunft und Phantasie eine neue (Unter-) Kategorie zu schaffen in die sie auch weitere ihr freundlich begegnende Punks „einordnen“ kann.
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
Damit wird das Konfliktpotential im Haus, das sie beide bewohnen entschärft und gegenseitige Hilfe wird möglich. Dieses kleine Beispiel zeigt, dass die ermöglichte Differenzierung des Kategoriensystems, die kategoriale Transformation, durch Verbesserung der Orientierung auch hilft, Vorurteile zu beheben und zwischenmenschliche Kommunikationsprozesse zu verbessern. Darüber hinaus kann verbesserte Orientierung den durch Soziale Arbeit betreuten Akteuren/-innen in vielfältiger Weise helfen, sich innerhalb ihrer sozialen Umwelt besser zurecht zu finden. Wenn es also Sozialer Arbeit gelingt, bei den von ihr betreuten Akteuren/ -innen solche Schaukelprozesse von Vernunft und Phantasie einzuleiten, ermöglicht sie ihnen die Stabilisierung ihrer sozialen Orientierungsfähigkeit. Die Transformation der Kategorien bildet also für die betreuten Akteure/ -innen eine wichtige Ressource bei der Bewältigung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse und damit bei der Umsetzung eigener Vorstellungen und Zielsetzungen im Sinne von Agency.
Erkennen und Korrektur von Fehlassoziationen oder unlogischen Assoziationen Des Weiteren ist es außerordentlich wichtig, Fehlassoziationen, wie sie oben beschrieben wurden, zu erkennen. Dabei kann es sich sowohl um falsche Verbindungen unterschiedlicher Inhalte als auch zwischen Inhalten und Gefühlen handeln. Die daraus entstehenden inadäquaten Klassifizierungen führen häufig zu einem Handeln, das der tatsächlichen Situation nicht gerecht wird. Ein weiteres Beispiel aus der Jugendberufshilfe: Eine Sozialpädagogin aus der Jugendberufshilfe hat die Möglichkeit, einem seit einiger Zeit arbeitslosen männlichen Jugendlichen mit Mittlerer Reife eine Lehrstelle in seinem „Traumjob“ als Mechatroniker anzubieten. Allerdings nicht in der Stadt, in der er momentan wohnt. Er schaut sich die fremde Stadt an einem Sonntag an, um sich ein Bild zu machen, wo die neue Ausbildungsstelle liegt. Allerdings erlebt er diese Stadt jetzt, da er sie das erste Mal besucht, bei windigem Regenwetter und ungemütlicher Kälte. Dieses unangenehme Erlebnis verbindet er jetzt fest mit der Stadt. Er will eigentlich nicht dort hin ziehen. Bei der Bewerbung um die vakante Ausbildungsstelle würde er sich nun wenig Mühe geben. Eventuell durchschaut die Sozialpädagogin in einem Gespräch mit dem Jugendlichen die Fehlassoziation und es gelingt ihr, ihm zu vermitteln, dass das durch das damals momentan herrschende Wetter bedingte Negativerlebnis nichts
3.3 Bewerten, Deuten und Klassifizieren
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mit der Stadt an sich, der dortigen Lebensqualität etc. zu tun hat, und er sie somit nicht in die Kategorie „hässliche, unangenehme Stadt“ einsortiert. Er fährt dann vielleicht noch mal an einem warmen sonnigen Tag hin, fühlt sich wohl und freut sich, eines Tages eventuell dort hinziehen zu können. In diesem Falle würde der Jugendliche für die Bewerbung sicherlich mit viel Mühe und Sorgfalt erstellen. Er würde sie mit jener Gewissenhaftigkeit formulieren, die der Chance auf eine Ausbildungsstelle zu seinem Traumjob entspricht. Damit hätte mehr Aussicht auf Erfolg. Durch dieses Beispiel wird deutlich, dass dann, wenn die Fehlassoziationen durch reflektierende Konzentration auf die Einzelaspekte aufgedeckt und bewusst gemacht werden, Handeln ermöglicht wird, das den tatsächlichen Situationen gerecht wird.
Kategorisierung in komplexen Systemen: Rückkopplungen und Analogiebildung Eine weitere wichtige Bedeutung bei der Reflexion von Klassifizierungsprozessen kommt der richtigen Einschätzung wechselseitiger Bedingtheiten, vor allem innerhalb komplexer Systeme zu. Dietrich Dörner unterscheidet hierbei sogenannte positive und negative Rückkopplungen einzelner Variablen innerhalb eines Systems.
Positiv rückgekoppelte Systeme Bei einer positiven Rückkopplung vergrößert sich eine Variable in Folge der Vergrößerung einer anderen Variable. Stehen beide in wechselseitiger Abhängigkeit kann ein wechselseitiger Hochschaukelungseffekt einsetzen und das System leicht aus den Fugen geraten ( vgl. Dörner, D. 2001: 105 – 110). In einer zwischenmenschlichen Beziehung würde so ein System sich beispielsweise dann etablieren, wenn zwei zu einem eher aggressiv-entwertenden Kommunikationsstil tendierende Kommunikationspartner aufeinandertreffen. Ein Beispiel aus der Erziehungsberatung soll dies verdeutlichen: Ein Vater, seit einiger Zeit arbeitslos, kommt zur beratenden Sozialpädagogin und schildert Probleme mit seinem Sohn, der sich mitten in der Adoleszenz befindet. Er beklagt sich über „die trotzige Art“ seines Sohnes. Die Sozialpädagogin fragt nach Beispielen für dieses „trotzige“ Verhalten. Der Vater beschreibt entsprechende Situationen. Er berichtet, dass er häufig kontrolliert, ob der Sohn seine Hausaufgaben für die Schule richtig gemacht hat. Dies würde er zum Beispiel häufig mit den Worten einleiten: „Zeig´ mal her, was du so hingeschlampt hast!“ Manchmal würde er auch sagen „sollen das vielleicht deine Hausaufgaben
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
sein? Das sieht ja aus als wäre ein in ein Tintenfass gefallenes Huhn über das Heft gegangen!“ Darauf reagiere der Sohn nicht selten relativ aggressiv und abwertend, etwa mit den Worten: „Was geht denn Dich das an? Kümmere dich doch um deinen Mist, und schreib endlich mal vernünftige Bewerbungen sonst bleibst du ja noch ewig arbeitslos!“ Das, schildert der Vater, führe dazu, dass er sich beleidigt fühle und den Sohn auch manchmal anbrülle, worauf dieser Türen knallend das Haus verlasse und oft erst sehr spät abends wieder nach Hause komme. Das wiederum mache ihn besorgt und er drohe dem Sohn dann mit „Hausarrest“. Die Sozialpädagogin analysiert die Situation richtig aus systemischer Sicht: Die entwertende Aggressivität des Vaters bei der Kontrolle der Hausaufgaben des Sohnes provoziert und verstärkt dessen Aggressivitätspotential und hat zur Folge, dass er erst recht entwertend und aggressiv, sogar beleidigend reagiert. Damit provoziert und verstärkt er die Aggressivität des Vaters. Durch das aus dieser verstärkten Aggressivität resultierende Brüllen des Vaters wird der Sohn noch wütender und reagiert mit Lärm und Flucht. Ein Teufelskreis der eskalierenden Gewalt (vgl. Schulz von Thun, F. 2001: 129), der das kommunikative System der zwischenmenschlichen Beziehung stark belastet und im Extremfall sogar zerstören kann. Diese Analyse kann dazu beitragen, dass sich der Vater darüber bewusst wird, dass es sich hier um einen wechselseitigen Prozess handelt. Er kann durchschauen, dass seine bisherige Klassifizierung der Verhaltensweisen seines Sohnes als „trotzig“ zu einseitig war. Das öffnet den Weg zur Erkenntnis seiner Eigenanteile an diesem Prozess. Dies wiederum versetzt ihn in die Lage, die betreffenden Verhaltensweisen Schritt für Schritt zu verändern. Die Fähigkeiten der Sozialpädagogin, einerseits systemische Prozesse zu erkennen und einen positiven Rückkopplungsprozess zu durchschauen, andererseits die Erkenntnis dem betreuten Akteur in angemessener Weise zu vermitteln, stärkt also dessen Handlungskompetenz. Sie stärkt dessen Fähigkeit durch Veränderung seiner Eigenanteile an den Konflikten die betreffende Beziehung positiver zu gestalten. Wie in diesem Beispiel sollten Sozialpädagogen/-innen in der Lage sein, positive Rückkopplungsprozess zu durchschauen, um Systeme gegebenenfalls stabilisieren zu können, beispielsweise durch ihren Beitrag zur Entschärfung von Konflikten. Das kann die Entwicklung wichtiger Ressourcen bei der Gestaltung kommunikativer Prozesse ermöglichen und damit zur Stärkung reflektierter Handlungsmächtigkeit beitragen.
3.3 Bewerten, Deuten und Klassifizieren
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Negativ rückgekoppelte Systeme Bei einer negativen Rückkopplung bewirkt die Vergrößerung einer Variable die Verringerung einer anderen. Solche Systeme bleiben weitgehend stabil, da sie dazu tendieren, nach Störungen den Gleichgewichtszustand wieder anzunehmen. Negativ rückgekoppelte Variablen „puffern“ ein System (vgl. Dörner, D. 2001: 111). Ein Beispiel aus der Sozialen Arbeit mit Jugendlichen soll dies veranschaulichen: Eine gut ausgebildete Sozialpädagogin berät einen zum aggressiv-entwertenden Kommunikationsstil tendierenden männlichen Jugendlichen in der Spätadoleszenz. Die Sozialpädagogin reagiert auf aggressiv-entwertende Ausbrüche des Jugendlichen relativ gelassen, sie bringt die eigenen starken und souveränen Persönlichkeitsanteile ein, da sie – das weiß sie aus der Beschäftigung mit den Veröffentlichungen Schulz von Thuns während ihrer Ausbildung – sich die aggressiven Ausbrüche mit dem auf Unsicherheit basierenden seelischen Axiom des Jugendlichen erklärt (vgl. Schulz von Thun 2001:76 ff.,78,115 f.). Daher interpretiert sie seine Aggressivität als Zeichen zunehmender Verunsicherung. Sie wird bei zunehmender Aggressivität des Jugendlichen versuchen, diesem eher akzeptierend und bestärkend entgegenzutreten und seiner Aggressivität damit „den Wind aus den Segeln“ zu nehmen. Beruhigt sich der aggressive Jugendliche, fühlt sie sich dadurch bestätigt, da sie ihm geholfen hat, trotz seiner Aggressivität „beziehungsfähig“ zu bleiben. Die Beratungsbeziehung zwischen der Sozialpädagogin und dem Jugendlichen wird nicht durch Eskalation von Aggressivität gefährdet, da das Aggressivitätspotential des aggressiven Jugendlichen(Variable 1) bei einer Verstärkung eher die Souveränität der helfenden Sozialpädagogin hervorruft und sich dementsprechend sein Aggressivitätspotential (Variable 2) vermindert. Deutlich wird aus diesem Beispiel zunächst, dass es in der Sozialen Arbeit mit aggressiven zu betreuenden Akteuren/-innen darauf ankommt, negative Rückkopplungsprozesse einzuleiten, indem der/die professionelle Akteur/-in auf die Aggressivität durch eine akzeptierende Grundhaltung reagiert. Dadurch können konstruktive Interaktionsprozesse eingeleitet und aufrecht erhalten werden. Dies gelingt nur, wenn die Klassifizierung der aggressiven Äußerungen der betreuten Akteure reflektiert und der Kategorie „Unsicherheitsäußerung“ zugeordnet wird. Die professionellen Akteure müssen also in der Lage sein, systemische Prozesse richtig zu analysieren, um dann ebenfalls in systemischer Weise den Problemstellungen entsprechend interagieren zu können. In unserem Beispiel durch das Etablieren eines negativen Rückkopplungsprozesses.
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
Die Fähigkeit der Klassifikation positiver und negativer Rückkopplungen als Ressource Wollen wir in der Sozialen Arbeit funktionierende Systeme stabil halten, sollten wir also all jene Faktoren stärken und stabilisieren, die eine negative Rückkopplung bewirken. Hierbei sollten auch eigene Interaktionsweisen der professionellen Akteure immer wieder einer kritischen Reflexion hinsichtlich ihrer systemischen Wirkung unterzogen werden. „Teufelskreise“ der Kommunikation (vgl. Schulz von Thun 2001: 66 ff.) – wie im Beispiel des Aufeinandertreffens zweier zum „aggressiv-entwertenden“ Kommunikationsstil tendierender Kommunikationspartner im Beispiel des die Sozialpädagogin einer Erziehungsberatungsstelle konsultierenden Vaters mit seinem Sohn dargestellt – sind oft positiv rückgekoppelte Systeme. Hier sollten die in der Sozialen Arbeit Tätigen die betreuten Akteuren/-innen dabei unterstützen, den zirkulären Charakter zu durchschauen, um jeweils Möglichkeiten entwickeln zu können, die geeignet sind, gegenseitige Aufschaukelungsprozesse zu vermindern. Solche systemischen Zusammenhänge zu begreifen und zu durchschauen ist für die betreuten sowie für die professionellen Akteure/-innen in der Sozialen Arbeit eine wichtige Ressource, die Agency verstärkt. Analogiebildung Innerhalb der Reflexion von Klassifizierungsprozessen ist es also wichtig, dass die betreuten Akteure/-innen neben den einzelnen Variablen eines Systems auch deren kausale Beziehungen und wechselseitige Beeinflussungen Berücksichtigung finden. Dabei können Prozesse der Analogiebildungen helfen: Zur Veranschaulichung soll das oben beschriebene Beispiel aus der Sozialen Arbeit mit Jugendlichen, der Beratungsbeziehung zwischen der Sozialpädagogin und dem zum aggressiven Kommunikationsstil tendierenden Jugendlichen, dienen: Das Aggressivitätspotential des aggressiven Jugendlichen(Variable 1) ruft, wenn er es verstärkt, eher die Souveränität der helfenden Sozialpädagogin hervor. Ihr Aggressivitätspotential (Variable 2) vermindert sich dementsprechend. Variable 1 und Variable 2 sind Variablen als Teile eines Gesamtsystems mit negativer Rückkopplung. Das „System mit negativer Rückkopplung“ ist also die abstraktere, die allgemeinere Kategorie für das, was in der Beratungsbeziehung zwischen den beiden Kommunikationspartnern geschieht. Diese Erkenntnis bildet die Grundlage für eine Analogiebildung. Es kann ein anderes konkretes System gefunden wer-
3.4 Ereigniskorrelierte Potentiale: Hilfen zum Verständnis
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den, auf das der allgemeine Begriff „System mit negativer Rückkopplung“ zutrifft. Das wäre beispielsweise ein System der „Räuber-Beute-Beziehung“ (vgl. Dörner, D. 2001:111): Nimmt beispielsweise innerhalb eines ausbalancierten Systems von Raubund Beutetieren die Räuberpopulation überproportional zu, werden die Beutetiere unter Umständen so dezidiert, dass sie sich nicht mehr ausreichend vermehren können: ihr Bestand wird von den Räubern gänzlich vernichtet. Dann gehen in der Konsequenz auch die Raubtiere zugrunde, weil sie keine Nahrungsgrundlage mehr haben. Das System ist gegebenenfalls für immer zerstört. Wenn es im Beispiel oben der Sozialpädagogin gelingt, dem „aggressiven“ Jugendlichen diese Analogie begreiflich zu machen, wird diesem u.U. bildhaft deutlich, dass er bei Übertreibung seiner aggressiv-entwertenden Ausbrüche die Grundlagen der Beziehungen zu nachsichtigen, verständnisvollen Menschen eventuell nachhaltig zerstört. Die Fähigkeit der Analogiebildung professioneller Kräfte Sozialer Arbeit kann also dazu beitragen, bei den von ihnen betreuten Akteuren/-innen das Verständnis systemisch bedingter Prozesse im zwischenmenschlichen Kontakt zu verbessern, ein tieferes Verständnis von kausalen Beziehungen und wechselseitigen Beeinflussungen einzelner Variablen eines sozialen Systems zu entwickeln. Dies trägt dazu bei, dass professionelle und betreute Akteure/-innen zusammen Verhaltensweisen, Maßnahmen und Angebote entwickeln können, die erhaltenswerte soziale Systeme stabilisieren, beispielsweise durch nachhaltige Verminderung systemisch sich hochschaukelnder Konflikte. Auch dies ist ein Beitrag zu mehr Agency.
3.4 Ereigniskorrelierte Potentiale: Hilfen zum Verständnis von Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung 3.4.1 Grundsätzliches zum „ereigniskorrelierten Potential“ (EKP) Wir haben uns bislang mit den grundsätzlichen Parametern der menschlichen Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung beschäftigt und Schlüsse auf die Förderung von Ressourcen daraus gezogen. Ergänzend dazu soll ein Instrumentarium beschrieben werden, welches uns hilft, das Verständnis von Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsverarbeitungsprozessen zu vertiefen um damit weitere Möglichkeiten der Förderung von Ressourcen zu entwickeln.
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
Erkenntnisse aus diversen Wissenschaftsdisziplinen, darunter die Kognitionspsychologie, die Medizin und die Neurowissenschaften legen nahe, dass wir Menschen im Prozess der Menschwerdung charakteristische Grundmuster der Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung herausgebildet haben, die in bestimmten Situationen übereinstimmen. Um diese Prozesse unserer menschlichen Wahrnehmung in verschiedenen Situationen zu verstehen, werden wir uns mit jenen Forschungen und deren Ergebnissen auseinandersetzen, die beim systematischen Abgleich von bestimmten Ereignissen mit bei deren Verarbeitung messbaren Gehirnstromaktivitäten konstante Wechselbeziehungen zwischen beiden feststellen konnten. Solche Wechselbeziehungen werden in Kurven festgehalten, die als „ereigniskorreliertes Potential“ (EKP) bezeichnet werden. Um solche „ereigniskorrelierte Potentiale“ zu erhalten werden zunächst spezifische Ereignisse klassifiziert, das heißt ähnliche Ereignisse werden unter bestimmten Kategorien – wir werden sie hier als „Ereignisklassen“ bezeichnen – subsummiert. Beispielsweise könnte eine aus einer bestimmten Situation heraus nicht zu erwartende Verhaltensweise eines Interaktionspartners unter der Ereignisklasse „überraschende Reaktionen“ eingeordnet werden. In einem zweiten Schritt werden „Korrelationen“ (regelmäßige Übereinstimmungen) zwischen typischen Elektroenzephalogramm (EEG)-Verläufen und den jeweiligen Ereignisklassen gebildet: Dazu wird für jede der festgelegten Ereignisklassen eine hohe Anzahl von Elektroenzephalogramm (EEG)-Verläufen erstellt und den entsprechenden zeitlichen Abläufen gemäß ausgewertet. Sehr häufige Übereinstimmungen in gleichen zeitlichen Sektoren („Suchfenstern“) ergeben dann das jeweilige „ereigniskorrelierte Potential“. Bei einer Steigerung informationsverarbeitender Feedbackschleifen (vgl. die diesbezüglichen Erläuterungen zu Beginn dieses Kapitels), ist eine entsprechend hohe negative Ladung messbar. Bei einer Abnahme dieser Feedbackschleifen, lässt sich eine hohe positive Ladung messen. Eine hohe Amplitude bei negativer Aufladung kennzeichnet also eine starke Zunahme des Informationsaustausches zwischen unterschiedlichen Bereichen des Gehirns. Ein solcher Informationsaustausch kann beispielsweise zwischen den für bestimmte Sinnesorgane „zuständigen“ Arealen der Großhirnrinde stattfinden, oder zwischen diesen und den für Erinnerungen, Gefühlen und Vorstellungen zuständigen Bereichen im „Inneren“ des Gehirns. Eine hohe Amplitude bei positiver Aufladung verweist auf die starke Abnahme der informationsverarbeitenden Feedbackschleifen, was auf den Abschluss eines differenzierten Bewertungs- ,Deutungs- und Klassifizierungsprozesses hinweist.
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3.4 Ereigniskorrelierte Potentiale: Hilfen zum Verständnis
3.4.2 P 100: Routine und hohe Effizienz im Wahrnehmungsprozess Nehmen wir an, eine Sozialpädagogin in einer Erziehungsberatungsstelle arbeitet im zweiten Obergeschoss eines Jugendstilgebäudes mit einer alten Holztreppe. Wenn gerade kein Beratungsgespräch stattfindet, widmet sie sich in der Regel der Erstellung von Beratungsprotokollen auf ihrem PC. Wenn ein neuer/eine neue zu beratende/r Akteur/in kommt, hört sie dies, bevor er/sie ihr Beratungsbüro betritt, bereits an Schritten und am Knarren der Holztreppe. Dies sind sensorische Reize, die auf das kommende – und schon oft erlebte – Ereignis, nämlich dass ein/e neue/er zu Beratende/r gleich ihr Büro betritt, hinweisen. Daher bezeichnet man solche Reize als Hinweisreize (Cues). Sie geben der Sozialpädagogin, dann, wenn sie diese einordnen kann, die Gelegenheit, die Datei mit den Beratungsprotokollen zu schließen und einen kurzen Blick auf ihren Kalender mit dem Namen und dem seitherigem Verlauf der Beratung der/des kommenden zu Beratenden zu werfen. Allgemein kann man sagen, dass Ereignisse die, wie in diesem Beispiel, einander sehr ähnlich sind und die wir schon oft erlebt haben, von uns schon häufig verarbeitet wurden. Wir haben gelernt, welche sensorischen Reize (Hinweisreize) solchen Ereignissen in aller Regel vorausgehen. Das EKP, das in solchen Situationen entsteht, wird als P 1 (auch P100) bezeichnet. -2,5 -2
-
-1,5 -1 -0,5 onset
50 ms
70ms
90ms
100ms
0 0,5 1 1,5
+ 2
2,5
Abbildung 2:
P1
EKP P 1 (P100) schematisiert (Quelle: Eigene Darstellung)
120 ms
80
3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
Aus diesem EKP wird deutlich, dass wir in solchen Fällen in der Lage sind, die Ereignisse sehr schnell zu verarbeiten: Schon nach 70 Millisekunden (ms) ist die Amplitude der negativen Aufladung, also die Steigerung der informationsverarbeitenden Feedbackschleifen am höchsten und bereits nach 100 ms erfolgt die höchste positive Aufladung, also die starke Abnahme der „Verbindungen“ innerhalb der Areale auf der Großhirnrinde sowie zwischen ihr und dem „Inneren“ unseres Gehirns. Das zeigt, dass die entsprechenden Bahnungen bereits nach 100 ms zur einschätzenden Deutung und Klassifizierung des entsprechenden Ereignisses geführt haben. Im wissenschaftlichen Fachjargon wird dies als das Ende der Unterscheidungsanalyse bezeichnet. Wir können also in diesen Fällen äußerst schnell reagieren und/oder unsere Aufmerksamkeit anderen Ereignissen widmen. Im hoch routinisierten Alltagshandeln, innerhalb dessen mit möglichst wenig psychischer Energie viele Ereignisse verarbeitet werden müssen, kommt einer solchen kurzen und unproblematischen Ereignisverarbeitung eine wichtige Bedeutung zu. Routinen entlasten, ermöglichen die hier zur Diskussion stehende Einschätzung von Ereignissen in nur 100 Millisekunden, bergen aber auch – vor allem bei nicht spezifisch Trainierten – die Gefahr von Übergeneralisierungen in sich (vgl. 3.3.5, S. 65-77). Das kann, wie oben beschrieben, zu Fehleinschätzungen führen und inadäquate Verhaltensweisen zur Folge haben. Die Erkenntnisse der Forschungen über Alltag weisen bereits auf diese Ambivalenz hin (vgl. Kosik, E. 1971: 9 - 65; Thiersch, H. 1986: 34 - 41). Die häufige Verarbeitung ähnlicher Ereignisse kann aber auch dazu befähigen, sie – trotz ihrer schnellen Verarbeitungsweise innerhalb routinemäßiger Abläufe im Alltag – schlüssig und adäquat zu beurteilen. Denn diese häufige Verarbeitung ähnlicher Ereignisse ermöglicht die Entwicklung mentaler Strukturen, die in der Sozialpsychologie als „Schemata“ bezeichnet werden. Diese unterstützen den Klassifizierungs-/Kategorisierungsprozess und sind u.a. durch individuelle Erinnerungen und kulturelle Einflüsse geprägt (vgl. Aronson, E.; Wilson, T.D.; Akert, R.M. 2004: 62 und 74 f.). Wichtig ist, welche dieser Schemata in der alltäglichen Wirklichkeitsverarbeitung zur Anwendung kommen. Ein besonders wichtiges Kriterium dafür ist die individuelle „Zugänglichkeit“ zu einem Schema. Diese wird durch das Ausmaß bestimmt, in dem es gedanklich greifbar ist. Bei steigender Zugänglichkeit nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass es bei der Beurteilung der gegenwärtigen Situation/Personen/Abläufe/Ereignisse etc. eine Rolle spielt (vgl. ebda.: 67). Dabei spielen stark prägende Erlebnisse aus der Biografie eine wichtige Rolle. Durch ihren prägenden Charakter können sie bewirken, dass bestimmte,
3.4 Ereigniskorrelierte Potentiale: Hilfen zum Verständnis
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damit in Zusammenhang stehende Schemata, schnell präsent sind. Sie sind sozusagen jederzeit abrufbar, also stets zugänglich. Entscheidend sind hierbei einerseits die Charakteristik jener prägenden Ereignisse und andererseits die spezifische Art ihrer je individuellen Verarbeitung. Des Weiteren ist das, was ein Individuum unmittelbar vor einem Ereignis getan oder gedacht hat wichtig, denn das verstärkt die Verfügbarkeit jener Schemata, die dafür Verwendung gefunden haben („priming“ vgl. a.a.O.). Diese Schemata ergänzen die im Rahmen der von der Wissenssoziologie konstatierten lebensweltspezifischen sozialen Deutungsmuster und korrespondieren mit ihnen. Insofern spielen auch soziale Faktoren eine Rolle für den Grad der Zugänglichkeit zu bestimmten Schemata: sozialer Status, soziale Beziehungen mit dementsprechenden Interaktionsprozessen, Weltsichten und Sinnhorizonte, die sich in diskursiven Prozessen in der sozialen Umwelt konstituieren können dazu beitragen, dass das eine oder andere Schema gut zugänglich ist und überproportional häufig zur Verarbeitung von neuen Eindrücken herangezogen wird. Neben der Chance, durch derartige Schemata mit hoher Geschwindigkeit Situationen und Ereignisse richtig und adäquat beurteilen zu können, besteht auch bei der Beurteilung mit Hilfe von Schemata das Risiko von Fehleinschätzungen. Wie können wir diesem Risiko entgegenwirken? Einerseits durch bewusste Reflektion, was allerdings die Beurteilungszeit verlängert. Andererseits kommt der Vorbereitetheit auf Grund intensiven „Trainings“ – also der Übung bei der Verarbeitung ähnlicher Ereignisse – eine große Rolle zu. Das Ziel solcher „Trainings“ ist das Erreichen der Fähigkeit, die Ereignisse anhand der Hinweisreize schnell zu erkennen. Diese Fähigkeit spielt bei der Verhinderung von Fehleinschätzungen ohne Verlängerung der Beurteilungszeit eine große Rolle. Denn bei hoher Ausprägung dieser Fähigkeit ist die negative und die positive „Amplitude“ im EKP „P 100“ höher. Es werden also trotz der Kürze der Verarbeitungsdauer viele informationsverarbeitende Feedbackschleifen „auf den Weg geschickt“. Das bedeutet, trotz der schnellen Verarbeitung und Klassifizierung des Ereignisses werden viele Informationen, die mit dem Ereignis zusammenhängen, verarbeitet. Dies kommt der zielgenauen und differenzierten Klassifizierung zugute und kann Schemata verbessern oder korrigieren helfen. Dem Training bei der Verarbeitung von Ereignissen im Rahmen der Herausbildung von Routinen kommt also eine große Bedeutung bei der schnellen und richtigen Einschätzung der Umgebung im Alltag zu. Trainings sollten deshalb fester Bestandteil aller sozialpädagogischen Ausbildungen sein. Aber auch Trainings für betreute Akteure/-innen sollten im sozialpädagogischen Maßnahmenrepertoire fest verankert sein.
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
Anhand simulierter Situationen sollten spezielle, Situationen, Handlungsweisen und Interaktionsprozesse trainiert werden. Rollenspiele, Planspiele etc. sind also, wenn es gelingt, Situationen einigermaßen realitätsgerecht zu simulieren, kein „Kinderspiel“ sondern eine echte Hilfe zur schnellen und richtigen Einschätzung von Situationen und entsprechend schneller und richtiger Reaktion. Professionelle Akteure/-innen innerhalb Sozialer Arbeit sollten deshalb in der Lage sein, realitätsgerechte Situationen simulieren zu können und entsprechende Trainings auszuarbeiten und anzuleiten. Dietrich Dörner gibt hiefür einige wertvollen Hinweise: „Es wäre wahrscheinlich vernünftig, eine Batterie sehr verschiedenartiger Szenarios mit sehr verschiedenartigen Anforderungen zusammenzustellen, und die zu trainierenden Personen einer solchen `Anforderungssymphonie´ verschiedener Systeme auszusetzen. Man sollte aber zugleich ihr Handeln und ihr Planen in solchen Situationen beobachten lassen durch Spezialisten, die in der Lage sind, die jeweiligen Denkfehler zu orten und ihre Determinanten auszumachen. In sorgfältig vorbereiteten Nachgesprächen könnte die Art und die Ursache der jeweiligen Handlungsfehler erläutert und ... bewusstgemacht werden“(Dörner, D. 2001: 305).
Neben Training kommt der Reflexion des Alltags eine große Rolle zu, um nicht Gefangener eigener Routinen zu werden: Das heißt zum einen, fremdes, Routinen in Frage stellendes, nicht gleich abzuwehren, sondern die Chancen anderer Sicht- und Handlungsweisen zu prüfen. Das heißt andererseits, immer zu versuchen Täuschungen zu erkennen und innerhalb alltäglicher Routinen schwer erkennbare Ursachen- und Wirkungszusammenhänge zu durchschauen. Aber auch die Verwendung von Schemata mit individuell und situationsspezifisch hoher Verfügbarkeit gilt es kritisch zu hinterfragen.
3.4.3 N1-P3: Aufmerksamkeit und Umgebung: die Relativbeurteilung in der Wahrnehmung Auf Ereignisse, deren Einschätzung uns nicht so leicht fällt weil wir keine ihnen vorausgehende Hinweisreize erkennen können, müssen wir unsere Aufmerksamkeit stärker ausrichten. Bei uns stark beeindruckenden Ereignissen steigt unsere Aufmerksamkeit. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn wir einer uns stark beeindruckenden Persönlichkeit begegnen. Wir sind bemüht, viele Details wahrzunehmen. Dadurch steigt die zu messende negative Aufladung, was darauf hinweist, dass unser Gehirn ein hohes Maß an informationsverarbeitenden Feedbackschleifen „auf den Weg schickt“, beispielsweise um möglichst viele auf der Großhirnrinde repräsentierte Sinneseindrücke mit Erinnerungen, Phantasien,
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3.4 Ereigniskorrelierte Potentiale: Hilfen zum Verständnis
Gefühlen etc. im Inneren unseres Gehirns abzugleichen. Das ermöglicht eine genaue Bewertung, Deutung und Klassifizierung des Ereignisses.
Abbildung 3:
EKP N1 –P3 (N 100 – P 300) schematisiert (Quelle: eigene Darstellung)
Die meisten informationsverarbeitenden Feedbackschleifen werden in einem solchen Fall ca. 100 ms nach dem sensorischen Erfassen des Ereignisses gebildet. Daher können wir nach 100 ms die höchste negative Aufladung messen (N 1). Nach ca. 300 ms (P 3) ist die „Unterscheidungsanalyse“ abgeschlossen, die Prozesse der Bewertung, Deutung und Klassifizierung sind also vollzogen, und wir können das sensorisch erfasste Ereignis in unser Kategoriensystem einordnen. Gegenüber jenen Ereignissen, auf die wir durch richtige Einschätzung der Cues (Hinweisreize) gut vorbereitet sind, brauchen wir also das Dreifache der Zeit zur Einschätzung. Bei zahlreichen verknüpften Ereignissen kann dies in der Summe die den sensorischen Empfindungen folgenden Handlungsweisen verzögern. Die 300 ms anhaltende Unterscheidungsanalyse ist also gegenüber der „P 100“ weniger selektiv. Umgebungsinformationen finden größere Berücksichtigung. Sie werden in größerem Umfang zur Beurteilung von Ereignissen, Personen oder Gegenständen hinzugezogen.
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
In dem wir immer wieder Bezüge und Vergleiche herstellen, erarbeiten wir uns im Rahmen dieser Relativbeurteilung eine gewisse Wahrnehmungskonstanz. Beispielsweise ermöglicht uns der ständige Vergleich von Gegenständen mit Größerem und Kleinerem, ein „Gefühl“ für die tatsächlichen, situationsunabhängigen Größenverhältnisse zu entwickeln. Die Berücksichtigung der Umgebungsinformationen zur Relativbeurteilung und den Abgleich mit relevanten Informationen aus dem Erinnerungsvermögen leistet unser Gehirn im „Normalfall“ also innerhalb von nur 300 ms, dabei ist bei ca. 100 ms die Bildung der informationsverarbeitenden Feedbackschleifen zum Abgleich der auf der Großhirnrinde repräsentierten sensorischen Informationen mit Gefühlen und Wissensbeständen im Gehirninneren am intensivsten. Die meisten Ereignisse treten nicht isoliert auf, sondern es entstehen in der Regel Ereignisketten. Daher summiert sich die Verarbeitungszeit. Insofern fällt die dreifache Dauer der Verarbeitungszeit außergewöhnlicher Situationen gegenüber der Verarbeitungszeit alltäglicher Ereignisse durchaus ins Gewicht. Für Soziale Arbeit resultiert aus dieser Erkenntnis, dass bei neuen Situationen die betreuten Akteuren/-innen nicht in zu kurzer Zeit mit zu vielen Informationen konfrontiert werden sollten. Solche neuen Situationen können beispielsweise die Neuaufnahme in eine Einrichtung sein, der Wechsel von Betreuungspersonen, Konzeptionsänderungen etc. Hier sollten die betreuten Akteure/-innen behutsam Schritt für Schritt an die neue Situation herangeführt werden. So ist bei Neuaufnahmen eine schnelle Integration eher leistbar und bei Veränderungen von Betreuungspersonal oder der Konzeption eine höhere Akzeptanz möglich, da durch hinreichende Verarbeitungszeit die adäquate Handlungsfähigkeit ermöglicht wird.
3.4.4
N 2 - P 3 – „missmatch-negativity“
Wie oben ausführlich dargestellt, bilden wir kontinuierlich Situationsmodelle: Wir setzen alles Wahrgenommene zueinander in Beziehung, vergleichen es mit unseren Wissensbeständen und Gefühlen. Auf dieser Grundlage antizipieren wir unmittelbar folgende Ereignisse, um auf diese schnell und richtig reagieren zu können. Wie ebenfalls erläutert, lassen einem bestimmten Ereignis vorausgehende sensorisch wahrgenommene Informationen („Cues“) häufig Schlüsse auf die Qualität dieses Ereignisses zu und helfen uns, dieses richtig zu antizipieren. Die so erfolgende Bildung von Situationsmodellen, auch als „Konzepte“ bezeichnet, sind, wie gleichfalls oben ausgeführt, äußerst wichtig, um wirklich in der erforderlich kurzen Zeit richtig auf ein Ereignis reagieren zu können. Das funktioniert in der Regel gut, da wir im Laufe unseres Aneignungsprozesses
3.4 Ereigniskorrelierte Potentiale: Hilfen zum Verständnis
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gelernt haben, aus dem Abgleich gegenwärtiger Erfahrungen mit Erinnerungen (Wissen und Gefühle) ziemlich präzise auf unmittelbar Folgendes zu schließen. Problematisch wird es, wenn wir falsch liegen und das tatsächlich eintretende Ereignis mit unserem Situationsmodell nicht übereinstimmt. Das wird mit dem englischen Begriff „missmatch“ bezeichnet. Solche Missmatch-Situationen sind für uns kleine Katastrophen, da wir in der Regel darauf angewiesen sind, sehr schnell richtig zu handeln. Ein kleines Beispiel zur Veranschaulichung: Im „offenen Bereich“ einer Jugendfreizeitstätte unterhalten sich zwei circa 18-jährige männliche Jugendliche scheinbar ganz ruhig. Eine Sozialpädagogin ist im Raum und berät eine weibliche Jugendliche bezüglich ihrer gegenwärtigen Probleme mit ihren Eltern. Sie ist relativ konzentriert bei diesem Beratungsgespräch, da sie auf Grund der nach außen „ruhig“ aussehenden Unterhaltung der beiden männlichen Jugendlichen dort keinerlei Konflikte vermutet. Deshalb entgeht ihr auch die feindselige Mimik der beiden. Plötzlich zieht einer der beiden männlichen Jugendlichen ein Messer aus der Tasche und ist im Begriff, den Anderen zu verletzen. Die Sozialpädagogin ist völlig überrascht, springt aber sofort auf und reißt den Arm des Jugendlichen zurück. Sie kennt sich aus und durch einen gezielten Druck lässt der betreffende Jugendliche das Messer fallen. Die Sozialpädagogin hat in diesem Moment überhaupt nicht damit gerechnet, reagiert aber trotzdem sehr schnell und richtig. In den unterschiedlichsten Handlungsfeldern Sozialer Arbeit gibt es immer wieder Situationen, innerhalb derer etwas völlig anderes geschieht, als das, was wir erwartet hätten. Und dabei geht es nicht selten um äußerst bedrohliche Situationen. Wer solche Situationen schon erlebt hat weiß, dass dann das Herz rast und wir „schweißgebadet“ sind. – Das ist typisch für Missmatch – Situationen. Wir müssen unser Situationsmodell sehr schnell korrigieren, um schnell richtig handeln zu können. Dazu benötigen wir enorm viel psychische Energie: viele informationsverarbeitende Feedbackschleifen müssen in schnellster Zeit gebahnt werden. Wir brauchen viel Sauerstoff, der durch unser Blut in das Gehirn transportiert wird. Dies wird durch den schnelleren Herzschlag erreicht. Bei Missmatch-Erlebnissen wird also Geist und Körper mobilisiert, um in kürzerster Zeit neue Wahrnehmungsgrundlagen zu schaffen, damit das Ereignis doch noch richtig beurteilt und eingeschätzt werden kann. Erst dies ermöglicht situationsadäquates Handeln innerhalb der verfügbaren Zeit. Der psychologische Fachbegriff dafür ist „Orientierungsreaktion“. Diese ermöglicht der Sozialpädagogin in unserem Beispiel, dass sie trotz der Unerwartetheit der Situation doch richtig reagiert.
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
N 200 (N2)
s 75 0m
s 65 0m
s 55 0m
s 40 0m
s 30 0m
s 20 0m
10 0m
on se t
s
-2,5
2,5
P300 (P3) Abbildung 4:
EKP N2 –P3 (N 200 – P 300) schematisiert (Quelle: eigene Darstellung)
Die höchste Aufladung im EKP ist bei Missmatch-Erlebnissen nach 200 ms (N 200 kurz N 2) feststellbar. Bereits 100 ms später (P 300 kurz P 3), also nach extrem kurzer Zeit, haben wir – nach der „Orientierungsreaktion“ – in der Regel bereits ein neues Situationsmodell erstellt! Der Vorgang wird als äußerst anstrengend empfunden. Er ist insofern meist gefühlsmäßig negativ besetzt. Daher streben die meisten Menschen danach, Missmatch-Erlebnisse zu minimieren. Sie lassen sich deshalb im Anschluss an solche Erlebnisse relativ leicht dazu motivieren, die Ursachen dafür herauszufinden. Denn dies ist einleuchtender Weise ein erster Schritt zu ihrer Verminderung. Um einerseits betreuten Akteuren/-innen bei entsprechenden Reflexionsprozessen helfen zu können, andererseits gegebenenfalls selbst solche für sich positiv zu vollziehen, sollten Sozialpädagogen/-innen etwas über mögliche Ursachen von Missmatch-Situationen wissen. Diese können zunächst darin bestehen, dass relevante Hinweisreize nicht oder nur unzureichend mit den Sinnen wie Augen, Ohren etc. wahrgenommen werden konnten: Wenn z.B. jemand hinter uns stehendes eine aggressive Mimik offenbart, können wir das mit unseren Augen nicht wahrnehmen. Neben nicht oder unzureichend wahrgenommenen Hinweisreizen können für Missmatch-Erlebnisse auch „interne“ Faktoren verantwortlich sein. Die Cues
3.4 Ereigniskorrelierte Potentiale: Hilfen zum Verständnis
87
werden also vollständig wahrgenommen, aber falsch eingeschätzt. Das ist schwieriger, denn die Deutungs- und Klassifizierungsgrundlagen werden dann in Frage gestellt. Übergeneralisierungen, Fehlassoziationen, verengte, unzureichende oder gar situationsinadäquate Deutungsmuster könnten vorliegen. Unter Umständen ist sogar der interne Bezugsrahmen zur Beurteilung dieses Bereiches der Wirklichkeit nicht völlig geeignet. All dies könnten Gründe sein, dass ein unzureichendes oder falsches Situationsmodell erstellt wurde. Betrachten wir die Ursachen für das Missmatch-Erlebnis am oben angeführten Beispiel aus der Offenen Jugendarbeit: Die Sozialpädagogin hatte die beiden Jugendlichen vor sich und konnte die Gesichter sehen. Sie entzogen sich also nicht ihrer sinnlichen Wahrnehmung. Aber auf Grund ihrer Vertiefung in das Beratungsgespräch und der Tatsache des scheinbar ruhigen Gesprächs der beiden Jugendlichen hat sie die Situation falsch gedeutet. Vermutlich gehen – ihren sozialen Deutungsmustern zufolge – solch schlimmen Attacken verbale Streitigkeiten voraus. Daher waren bei der Sozialpädagogin die Gesichter der Beteiligten Jugendlichen nicht im Focus ihrer Wahrnehmung. Sie hat die aggressive Mimik als relevanten Aspekt der nonverbalen Kommunikation „übersehen“. Das falsche Situationsmodell war die Konsequenz. Sie wird nun nach einer Reflexion dieses Missmatch-Erlebnisses ihr diesbezügliches soziales Deutungsmuster revidieren müssen: es können solche Attacken in entsprechenden sozialen Umfeldern auch ohne vorhergehende laute verbale Auseinandersetzungen erfolgen. Sie wird infolge dessen zukünftig nicht mehr nur auf die Lautstärke von Gesprächen achten, sondern versuchen, Hinweisreize auf Aggressivität auch im nonverbalen Bereich zu registrieren. Für Sozialpädagogen/-innen ist es also von großer Wichtigkeit, MissmatchErlebnisse in ihrer beruflichen Praxis zu reflektieren (z.B. innerhalb von Supervisionen). Bezogen auf Missmatcherlebnisse von betreuten Akteuren/-innen können diese Ausgangspunkte für deren Lernprozesse bilden. Letztere können eingeleitet werden, indem Sozialpädagogen/-innen (beispielsweise im Rahmen von Beratungsprozessen) zusammen mit den von ihnen betreuten Akteuren/-innen deren Missmatch-Erlebnisse auswerten und letztere ihre Schlüsse daraus ziehen. Sowohl die Reflexionen der Sozialpädagogen/-innen als auch die implementierten Lernprozesse bei den betreuten Akteuren/-innen tragen zur Verbesserung wesentlicher Parameter der Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung bei, indem eventuelle Übergeneralisierungen und/oder Fehlassoziationen korrigiert, sowie soziale Deutungsmuster oder das innere referenzielle System ergänzt werden können.
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
Die berufliche Praxis der Sozialpädagogen/-innen wird durch die Reflexionsprozesse erfahrungsgeleitet verbessert, die betreuten Akteuren/-innen werden durch die entsprechenden Lernprozesse im alltäglichen Handeln immer sicherer und neue, persönlichkeitsstabilisierende Erfahrungen werden ermöglicht. Reflexion von Missmatch-Erlebnissen und Situationsmodellen kann in Verbindung mit entsprechenden Lernprozessen so eine Soziale Arbeit der Ermöglichung ergänzen und zur Förderung von Agency beitragen.
3.4.5 P 300 - N 400 (kurz P 3 –N 4): „search negativity“ Weitere wichtige Anregungen für eine Soziale Arbeit der Ermöglichung resultieren aus der Analyse des EKP „P 300 - N 400“ (kurz „P 3 – N 4“), das im Fachjargon als „search negativity“ bezeichnet wird. Hierbei geht es um die Verarbeitung von Ereignissen, die umfangreiche Gedächtnissuchprozesse notwendig machen. Das sind in der Regel solche, die nach anfänglichem Schein der relativ einfachen Einschätzbarkeit doch Bewertungs- Deutungs- und Klassifizierungsschwierigkeiten mit sich bringen. Diese Schwierigkeiten sollen durch zusätzliche, tiefer im Gedächtnis „vergrabene“ Informationen ausgeräumt werden. Zur Illustration und Verdeutlichung ein weiteres Beispiel aus der Sozialen Arbeit: Eine Sozialpädagogin, die bei der Jugendgerichtshilfe arbeitet, geht an einem Samstag vormittags im Supermarkt einkaufen. Dort begrüßt sie ein junger Mann sehr freundlich. Sie grüßt zurück und erinnert sich, dass es sich bei diesem jungen Mann um einen von ihr betreuten Akteur der Jugendgerichtshilfe handelt. Der junge Mann sagt zu ihr: „Ich habe das so gemacht, wie Sie es mir empfohlen haben, es ist jetzt alles ok“. Die Sozialpädagogin hat aber viele verschiedene Fälle zu bearbeiten und kann sich im Moment nicht erinnern, was sie diesem jungen Mann empfohlen hatte. Sie hatte zwar sehr schnell den jungen Mann als von ihr betreuten Akteur erkannt und klassifiziert, es fehlen ihr aber Informationen, um das was er sagt, auch einschätzen zu können. Das Einfachste wäre nachzufragen, das ist ihr aber peinlich, da sie weiß, dass das letzte Treffen mit diesem jungen Mann noch gar nicht lange her ist. Also muss sie in ihrem Gedächtnis nach diesen fehlenden Informationen suchen. In solchen oder ähnlichen Situationen können wir das oben angesprochene EKP vorfinden.
3.4 Ereigniskorrelierte Potentiale: Hilfen zum Verständnis
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N 400 (N4)
P 300 (P3) Abbildung 5:
EKP P3-N4 (P 300 – N 400) „search negativity“ (Gedächtnissuchprozess) schematisiert
Wir können dabei im Anschluss an eine erfolgte, aber nicht völlig zufriedenstellende Unterscheidungsanalyse, die 300 ms (P 300) nach dem das entsprechenden Ereignis abgeschlossen war – in unserem Beispiel nachdem die Sozialpädagogin den jungen Mann als von ihr betreuten Akteur erkannt hat – eine lang anhaltende energetische Aufladung feststellen, die etwa 400 ms (N 400) nach dem auslösenden Ereignis beginnt, danach noch einmal 400 ms oder länger andauern kann und damit ins Bewusstsein dringt. Diese energetische Aufladung weist darauf hin, dass Bahnungen zwischen unterschiedlichen Bereichen des Gehirns hergestellt werden, um die jeweiligen Wissens- und Gefühlsbestände zu reaktivieren und zueinander in Beziehung zu setzen. So können bereits bestehende Wissensbestände vernetzt und mit den neuen sensorischen Informationen kombiniert werden. Eine sehr wichtige Begleiterscheinung zur nochmaligen Aufladung nach der nicht zufriedenstellenden Unterscheidungsanalyse: Die Energetisierung wird ergänzt durch langsam-synchrone Oszillationen der Gerhirnstromaktivitäten, die als das Frequenzband „EEG-Theta“ kategorisiert werden. Sie liegen zwischen 5 und 7,5 Hz.
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
Um das zu verstehen, hilft eine Analogie zu akustischen Wellen. Regelmäßige akustische Schwingungen ergeben Töne, unregelmäßige nur Geräusche. Gleichmäßige, nämlich „rhythmische“ Oszillationen der Gehirnstromaktivitäten können in dieser Analogie also als „Töne“ betrachtet werden. Schnellere gleichmäßige, „rhythmische“ Schwingungen erzeugen akustisch gesehen höhere Töne als entsprechend langsamere gleichmäßige, „rhythmische“ Schwingungen. Der Grad der Energetisierung würde in dieser Analogie der Lautstärke der Töne entsprechen. Die langsamen rhythmischen Oszillationen wären anlog zu tiefen Tönen, da die Schallfrequenz bei tiefen Tönen niedriger ist als bei hohen. Wir wissen aus Erfahrung, dass tiefe Töne mit der entsprechenden Lautstärke ihre Schwingungen auf Gegenstände intensiver übertragen als hohe Töne.2 So verhält es sich sicherlich auch mit den langsamen rhythmischen Oszillationen der Gehirnstromaktivitäten: Sie versetzen breite Bereiche der informationsverarbeitenden Substanz in Schwingung, mobilisieren sie damit, um dem Gedächtnis möglichst viele Informationen zu „entlocken“. Solche langsamen rhythmische Oszillationen sind neben Gedächtnissuchprozessen auch in Zuständen der Dösigkeit und des Schlafs beobachtbar. Das legt den Schluss nahe, dass wir zu intensiven Gedächtnissuchprozessen einigermaßen ruhig sein sollten. Die Alltagserfahrung, nämlich dass wir uns in Aufregung oft an Dinge, die wir eigentlich im Gedächtnis gespeichert haben, im Moment nicht erinnern können, bestätigt diese These. Je „tiefer“ solche Erinnerungen liegen, d.h. je länger sie nicht mehr reaktiviert wurden, desto deutlicher können wir den konstatierten Sachverhalt feststellen. Auch die Erfahrung, dass uns, wenn wir uns in einer ruhigen Phase befinden, im Stress nicht auffindbare Erinnerungen plötzlich wieder präsent werden, lässt sich dadurch erklären. Oft werden Lösungen von Problemen, über die man lange nachgedacht hat, nicht sofort nach oder während der unmittelbaren Beschäftigung mit ihnen deutlich, sondern nach einer Ruhephase, z.B. am nächsten Morgen nach dem Aufwachen: Durch die Mobilisierung breiter Bereiche unseres Gedächtnisses – infolge der langsamen rhythmischen Oszillationen in der Ruhephase – können die reaktivierten Gedächtnisinhalte neu kombiniert werden.
2 Einen lauten Elektrobass können beispielsweise viele mit dem „Bauch“ wahrnehmen, da sie die Schwingungen dort spüren.
3.4 Ereigniskorrelierte Potentiale: Hilfen zum Verständnis
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Die besten Gedächtnissucherfolge lassen sich somit bei hoher Energetisierung, z.B. bei großem Interesse, aber in einem ruhigen, langsame rhythmische Oszillationen begünstigenden Zustand erreichen. Für Soziale Arbeit ist die Kenntnis dieser Zusammenhänge in mehrfacher Hinsicht bedeutsam:
In Interaktionsprozesse mit betreuten Akteuren/-innen entstehen oft Situationen, in denen seitens der Sozialpädagogen/-innen Wissensbestände notwendig sind, nach denen sie im Gedächtnis suchen müssen. Unter Zeitdruck funktioniert die Gedächtnissuche aber, wie ausgeführt, schlecht. Hier gilt es, Strategien zu entwickeln, um sich Zeit zu verschaffen. Eine hilfreiche Strategie könnte beispielsweise darin bestehen, ein problembeladenes Gespräch mit einem/einer betreuten Akteur/-in vorübergehend mit einem „Smalltalk“ zu unterbrechen. Dadurch wird der Druck weggenommen und die Chance erhöht sich, dass die gesuchten Wissensbestände im Gedächtnis gefunden werden. Wenn die professionellen Akteure/-innen bei den von ihnen Betreuten intensive Reflexionsprozesse initiieren, bei denen Erinnerungen oder Wissensbestände zur Bewältigung von Problemen oder der Entwicklung von Handlungsstrategien verarbeitet werden, sollte während dieser Prozesse allen Beteiligten deutlich werden, dass sich die erwünschten Erfolge durch neue Erkenntnisse häufig nicht sofort nach deren Abschluss, sondern erst während oder unmittelbar nach Ruhephasen in Ansätzen erkennbar werden. Das vermindert den unmittelbaren Erfolgsdruck und verstärkt so die Chancen positiver Entwicklungen. Solche Reflexionsprozesse – darunter vor allem biografische Aufarbeitungsprozesse – sollten in entspannter ruhiger Atmosphäre erfolgen, damit die dazu notwendigen Gedächtnisleistungen von den betreuten Akteuren/ – innen in befriedigender Form erbracht werden können.
Die Kenntnis dieser Zusammenhänge befähigt also Sozialpädagogen/ innen, zunächst ihr eigenes Erkenntnisvermögen zu verbessern und darüber hinaus bei den von ihnen betreuten Akteuren/-innen Ressourcen in Form von Problemlösungs- und Handlungsstrategien zu aktivieren, indem sie bei der Verarbeitung von Erinnerungen und Wissensbeständen die Bedeutung von Ruhephasen im Gedächtnissuchprozess verdeutlichen und beachten.
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
3.4.6 Die „späte Bahnung“: P 600 – Elaboration als Reanalyse oder tentative Wirklichkeitsverarbeitung Es wurde nicht nur bei dem letzteren EKP, dem sogenannten „search negativity“ deutlich, dass die Korrelation typisierter Ereignisklassen mit spezifischen Gehirnstromaktivitäten Erkenntnisse ermöglicht, die für die theoretische Fundierung der Konzeptbildung einer ressourcenstabilisierenden ermöglichenden Sozialen Arbeit mit dem Ziel der Stärkung von Agency wichtige Anregungen liefern können. Daher soll im Folgenden noch eine weitere Ereignisklasse unter die Lupe genommen werden. Es geht dabei um Ereignisse, die uns in Erstaunen versetzen. Wir können sie keiner der bereits gebildeten Kategorien vollständig „zuordnen“, da sie entweder nicht in unsere „Raster“ passen oder weil wir das entsprechende Phänomen nicht verstehen, nicht durchblicken, vielleicht Kausalitäten nicht erkennen können oder ähnliches. Dabei kann es sich um uns fremde Naturereignisse handeln, um rätselhafte Verhaltensweisen von Menschen, um geheimnisvolle Andeutungen, schwer interpretierbare Texte, verwirrende Kunst, schwierige Aufgaben des täglichen Lebens und so weiter. Solche Ereignisse korrelieren in der Regel mit Gehirnstromaktivitäten, wie sie sich im EKP N 100 – P 600 (kurz N 1-P 6) abbilden. N100 (N 1)
Abbildung 6:
P 600 (P 6) EKP N1-P6 ( N 100 – P 600) schematisiert (Quelle: eigene Darstellung)
3.4 Ereigniskorrelierte Potentiale: Hilfen zum Verständnis
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Dabei ist eine hohe Negativierung, beginnend bei 100 ms nach Eintritt des Ereignisses, mit einer Positivierung nach 600 ms charakteristisch. Dies weist auf lang anhaltende Bahnungen zwischen unterschiedlichen Arealen der informationsverarbeitenden Substanz hin. Der Abschluss der Bewertungs-, Deutungs- und Klassifizierungsprozesse zur Beurteilung des entsprechenden Ereignisses verzögert sich gegenüber einem routinemäßig erfassbaren Ereignis um das sechs Fache! Das heißt, dass sich die Reaktionsdauer wesentlich verzögert und ein schnelles richtiges Handeln erst relativ verspätet eintritt. Das könnte sich in kritischen Situationen negativ auswirken. Dennoch bringt diese „lange Bahnung“ auch erhebliche Vorteile mit sich: Bei der langen Beurteilungszeit handelt es sich um einen Elaborationsprozess, der als rationale (Re-)Analyse des Ereignisses – ein Teil des Prozesses ist ja bereits bewusst – vollzogen werden kann. Eine solche Reanalyse kann Zusammenhänge erkennbar werden lassen und zu mehr Klarheit bei der Einschätzung des Ereignisses und seiner Hintergründe beitragen. Der Elaborationsprozess kann auch in Form „tentativer“ Wirklichkeitsverarbeitung, also eines Schaukelprozesses von Vernunft und Phantasie, erfolgen. Dieser von Winfried Marotzki geprägte Begriff und der damit charakterisierte Prozess wurde bereits oben im Rahmen der Reflexion des Klassifizierungs/Kategorisierungsprozesses erläutert (vgl. 3.3.5: S.67 und Marotzki 1991: 79-89). Um es an dieser Stelle kurz noch einmal in das Gedächtnis zu holen: Soziale Arbeit kann solche Prozesse der tentativer Wirklichkeitsverarbeitung durch Ermöglichung von Differenzerfahrungen – beispielsweise durch Angebote im Rahmen ästhetischer Praxis oder der Erlebnispädagogik – initiieren (vgl. ebda.). Für Soziale Arbeit sind diese Prozesse tentativer Wirklichkeitsverarbeitung zunächst zur Differenzierung und Erweiterung des Kategoriensystems der betreuten Akteure/–innen bedeutsam. Marotzki bezeichnet dies als „kategoriale Transformation“(ebda.). Diese kategoriale Transformation kann unter anderem zur veränderten Beurteilung von wahrgenommenen Merkmalen beitragen, da neue Kategorisierungsmöglichkeiten diese „in einem anderen Licht“ erscheinen lassen. Dadurch werden eine genauere Zuordnung von Ereignissen und Situationen sowie eine adäquatere Einschätzung von Personen, Ereignissen und Prozessen möglich. All dies trägt dazu bei, Vorurteile zu beheben und zwischenmenschliche Kommunikationsprozesse zu verbessern. Zudem kann tentative Wirklichkeitsverarbeitung durch kategoriale Transformation, so wurde deutlich, zur Erhaltung der Orientierung der betreuten Akteure/-innen auch bei gesellschaftlichen Veränderungsprozessen wie Enttraditio-
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
nalisierung, Flexibilisierung, Individualisierung und Pluralisierung beitragen (vgl. ebda.). Die „lange Bahnung“ ist also zunächst mit dem Nachteil verknüpft, dass sich der Abschluss von Bewertungs-, Deutungs- und Klassifizierungsprozessen verzögert. Dadurch wird die Fähigkeit, unmittelbar auf ein Ereignis schnell und richtig zu reagieren, nicht unwesentlich eingeschränkt. Auf der anderen Seite kann dieser Elaborationsprozess durchaus auch positive Effekte mit sich bringen. Soziale Arbeit kann sich diese zu nutze machen, indem sie entweder die rationale Reanalyse von Ereignissen anregt sowie gezielt fördert oder tentative Wirklichkeitsverarbeitung implementiert. Sie kann so die Ressourcen der betreuten Akteure/-innen hinsichtlich deren Handlungsfähigkeit in mehrfacher Weise verstärken sowie stabilisieren und damit einen weiteren wichtigen Beitrag zur Förderung von Agency leisten.
3.5 Zusammenfassung: Ressourcen in der Reflektion von Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung Eine kurze Zusammenfassung dieses Kapitels soll dazu beitragen, die Übersicht zu behalten. Es wurde deutlich, dass Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung die Basis für Erfahrungen bilden. Sie werden auf der Basis des jeweiligen individuellen Bezugsrahmens, eines inneren referenziellen Systems vollzogen. Dieses innere referenzielle System wird von unterschiedlichen Faktoren geprägt, deren Reflexion Ressourcen freisetzt und zu Agency beiträgt. Daher besteht die Aufgabe einer Sozialen Arbeit der Ermöglichung darin, bei den von ihr zu betreuenden Akteuren/-innen solche Reflexionsprozesse zu initiieren und zu begleiten. Dies kann in Beratungssituationen aber auch in Betreuungssituationen unterschiedlichster Art erfolgen. 1.
Zu den das innere Bezugssystem prägenden Faktoren gehört zunächst die jeweilige Lebenswelt des entsprechenden Subjektes. Hierbei wird deutlich, dass der zunächst rein subjektiv erscheinende Bezugsrahmen stark durch die soziale Wirklichkeit geprägt wird. Denn die Lebenswelt wird zu einem nicht unwesentlichen Teil von den kommunikativen Austauschprozessen derjenigen Menschen, die einen ähnlichen Ausschnitt der Wirklichkeit erleben, bestimmt. In diesen Austauschprozessen bilden sich gemeinsame Sichtweisen, Sinnhorizonte und Weltsichten heraus. Die Reflexion dieser Weltsicht kann zur Aufhebung von Handlungsblockaden beitragen.
3.5 Zusammenfassung: Ressourcen in der Reflektion
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2.
Weitere prägende Faktoren sind verinnerlichte Werte und Normen. Werte sind wichtige Bausteine einer Kultur, die Sinn und Bedeutung vermitteln. Sie sind in diesem Kontext also nicht rein ökonomisch zu verstehen und hängen sehr eng mit den Sinnorientierungen in einer Lebenswelt zusammen. Ihre Reflexion verdeutlicht Lebensperspektiven und trägt zur Entwicklung von Handlungsstrategien bei. Aus den Werten als ethische Zielvorstellungen in Lebenswelten entstehen soziale Normen, die mögliche Verhaltensweisen bestimmen und soziales Verhalten regeln, um so das soziale Miteinander berechenbar werden zu lassen. Diese sozialen Normen werden von den Individuen im Verlaufe ihres Sozialisationsprozesses, ihrem Hineinwachsen in die Gesellschaft, verinnerlicht. In diesem persönlichen Entwicklungsprozess stellt der Entwicklungspsychologe Kohlberg unterschiedliche Niveaus fest. Meist schreitet die Entwicklung des Menschen von einem zum nächsten Verinnerlichungsniveau fort, manchmal bleiben Menschen aber auch auf einem bestimmten Niveau stehen. Das höchste Niveau ist nach Kohlberg dann erreicht, wenn ein Mensch die wichtigen Normen verinnerlicht hat, aber in der Lage ist, diese auch auf dem Hintergrund der Prinzipien von Menschlichkeit und Gerechtigkeit zu reflektieren. Eine solche Reflexion von Normen trägt zur Fähigkeit der Verantwortungsübernahme sehr wesentlich bei.
3.
Ebenfalls wichtige Faktoren, die den inneren Bezugsrahmen prägen sind Ontogenese und Bildung. Ontogenese ist die spezifische Entwicklung eines Individuums, die nicht getrennt werden kann von der Entwicklung der Kultur des entsprechenden sozialen Umfeldes. Wichtiger Bestandteil dieser individuellen Entwicklung sind Lern- und Bildungsprozesse, die zur Verarbeitung der Erfahrungen beitragen. Letztere werden so mit jeweils neuen Sachbezügen verknüpft. Dadurch werden Erfahrungsmuster immer wieder modifiziert und erweitert. In diesem Bildungsprozess werden neue Bezüge zwischen Gegenständen, Personen, Prozessen und Ereignissen hergestellt, neue Sinnzusammenhänge und Bedeutungen entfaltet. Somit wird das innere Bezugssystem differenziert und weiterentwickelt. Die Reflexion von Ontogenese und Bildung verbessert das Verständnis kultureller Zusammenhänge, trägt zur Selbstvergewisserung und zur besseren Orientierung innerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse bei.
4.
Auch die Faktorengruppe Aneignung, antizipierte Zukunft, gesellschaftlich vermittelte Subjektivität und seelisches Axiom prägen den inneren Bezugsrahmen. Aneignung wird hierbei als handelnde Auseinandersetzung mit einer sozial geprägten räumlichen Umwelt verstanden. Im Aneignungsprozess
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
erschließt sich das Individuum durch das eigene Handeln die Bedeutungen seiner materiellen und sozialen Umwelt. In diesen Bedeutungen stecken sowohl Aspekte der historischen Gewordenheit als auch Aspekte gegenwärtiger und zukünftiger Handlungsmöglichkeiten. Letzteres führt uns zur antizipierten Zukunft: Die Handlungsfähigkeit eines Menschen steigt, wenn seine Erwartungen an die unmittelbare Zukunft immer so korrigiert werden, dass sie möglichst korrekte Vorhersagen erlauben. Solche Erwartungshaltungen richten sich allerdings meist nicht an einer „objektiven“ Realität aus, sondern sind von subjektiven Faktoren, wie dem von Schulz von Thun beschriebenen seelischem Axiom, stark beeinflusst: das sind bereits in früher Kindheit im Aneignungsprozess herausgebildete typische Charakterzüge, Grundannahmen über sich und die soziale Umwelt. Durch die Reflexion des Aneignungsprozesses kann das seelische Axiom verstanden und gegebenenfalls modifiziert werden. Auch die Erwartungshaltungen an die unmittelbare Zukunft können auf dem Hintergrund seitheriger Handlungen und damit verknüpfter Bedeutungen hinterfragt werden. Die Teilhabe an vielfältigen Interaktionsprozessen und die Fähigkeit, eigene Vorstellungen und Wege im räumlich-sozialen Kontext entwickeln zu können, werden dadurch verstärkt. 5.
Neben den bisher betrachteten Faktoren spielen Lebensziele, langfristige Wünsche und Absichten, Wollen und Wille sowie Wachstumsbedürfnisse eine maßgebliche Rolle bei der Prägung des inneren referenziellen Systems.
6.
Das Begehren nach Wunscherfüllung lässt die Wirklichkeit oft „in einem bestimmten Licht erscheinen“. Wünsche beziehen sich auf die Befriedigung von Bedürfnissen. Nach Maslow kann dabei zwischen Defizit- und Wachstumsbedürfnissen unterschieden werden. Erstere, wie körperliche Grundbedürfnisse, Sicherheit und soziale Beziehungen, werden befriedigt, um Zufriedenheit herzustellen. Die Letzteren wachsen im Verlauf der Persönlichkeitsentwicklung und differenzieren sich. Bei diesen Wachstumsbedürfnissen gibt es kein einfaches „zufriedengestellt sein“. Zu ihnen gehören Selbstverwirklichung und Transzendenz, also die Auseinandersetzung mit Lebenszielen, Sinn und Religion. Die Reflexion der unterschiedlichen Wünsche und damit verbunden die Fokussierung von Wahrnehmung weniger auf die Erfüllung rein materieller Bedürfnisse sondern auf die Wachstumsbedürfnisse, tragen zu nachhaltigerem Glücksempfinden bei. Reflexionsprozesse sollten sich auch auf Ziele und Wünsche richten, die unter Umständen von Werbung, Medien oder Autoritäten manipuliert wurden und in Wirklichkeit – wie dies die Tiefenpsychologie beschreibt – das internalisierte
3.5 Zusammenfassung: Ressourcen in der Reflektion
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Wollen anderer ist. Dies kann Unzufriedenheit und Frustration verhindern oder zumindest abbauen. Dieses komplexe innere referenzielle System bildet die Grundlage für die Wirklichkeitsverarbeitung des Wahrgenommenen innerhalb der Prozesse Bewertung, Deutung und Klassifizierung. Im Prozess der Bewertung werden die wahrgenommenen Informationen nach dem Grad ihrer Relevanz für das Individuum auf dieser Basis eingeschätzt. Konzeptbildung, Bewertung und Fokussierung der Aufmerksamkeit gehen dabei Hand in Hand: In einem Regelkreis von induktiven und deduktiven Prozessen werden auf der Basis des sich entwickelnden geistigen Konzeptes (grundlegend dabei: das innere Bezugssystem) wichtig erscheinende Informationen verstärkt wahrgenommen („Fokussierung“) und weniger relevant erscheinende unterdrückt („Inhibition“). Bei der Reflexion von Bewertungsprozessen können zunächst Überbewertungen problematisiert werden. Einseitige Verschiebungen der Aufmerksamkeit werden durchschaut und damit emotionale Belastung abgebaut. Auch Unterbewertungen sollten unter die reflektierende Lupe genommen werden. Ihre Erkenntnis trägt zur Befähigung bei, im zwischenmenschlichen Kontakt Menschen in ihren Entäußerungen intensiver wahrzunehmen und besser auf sie eingehen zu können. Begleitend zum Bewertungsprozess werden die Bedeutungen der wahrgenommenen Informationen für das wahrnehmende Subjekt beurteilt (Deutung). Es handelt sich dabei um eine wissens- und gefühlsbasierte Bedeutungszuweisung und eine bedeutungsgeleitete Kombination und Verdichtung der wahrgenommenen Informationen. Durch weitgehend übereinstimmende Erfahrungen und kommunikative Prozesse in der jeweiligen Lebenswelt kristallisieren sich soziale Deutungsmuster heraus, die den Einzelnen erlauben, ihre sozialen Erfahrungen in einen übergreifenden Sinnzusammenhang zu bringen. Die Reflexion von Deutungsprozessen und Deutungsmustern bei der Kommunikation
mit Menschen aus anderen Kulturkreisen fördert die soziale Kompetenz der zu betreuenden Akteure/-innen und verbessert deren soziale Verankerung; zwischen Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten erweitert den Erfahrungshorizont und ermöglicht das Verstehen anderer Deutungsmöglichkeiten. Probleme erscheinen in einem neuen Licht, neue Lösungsmöglichkeiten und Handlungsstrategien werden deutlich.
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
Die reflektierende Rekonstruktion sozialer Deutungsmuster auf dem Hintergrund der Biografie ermöglicht die Veränderung blockierender Bestätigungskreisläufe und erhöht dadurch die Akzeptanz und Handlungsfähigkeit der betreuten Akteure/-innen im jeweiligen sozialen Umfeld. Als Methode zur Reflexion von Deutungsprozessen bezüglich zwischenmenschlicher Kommunikation eignet sich das bewusste Generieren unterschiedlicher Interpretationsmöglichkeiten und die Diskussion darüber, welche davon zutreffend sein könnte. Das ermöglicht ein verändertes, besseres oder tieferes Verständnis der Äußerungen der jeweiligen sozialen Kommunikationspartner. Bewertung und Deutung werden ergänzt durch den Prozess der Klassifizierung/Kategorisierung. Die bewerteten und gedeuteten Informationen werden innerhalb eines Systems von Kategorien verortet. Die häufige Deutung und Klassifizierung/Kategorisierung ähnlicher Ereignisse, Phänomene und Prozesse ermöglicht Generalisierungen, welche die Ausübung gewohnheitsmäßiger Reaktionen erlauben („Alltag“). Dadurch wird eine sehr schnelle Bedeutungszuweisung und Klassifizierung/Kategorisierung möglich. Zu Fehlern im Klassifizierungs-/Kategorisierungsprozess können sogenannte „unlogische“ Assoziationen führen. Assoziationen sind Verbindungen zwischen unterschiedlichen wahrgenommenen Informationen. „Unlogische“ Assoziationen sind Fehlassoziationen, die dann entstehen, wenn Kontexte und Merkmale miteinander assoziiert werden, die zwar im Augenblick des ersten Speicherns in einer Verbindung stehen, aber kein ursächlicher oder grundsätzlicher Zusammenhang besteht. Sie werden vor allem bei peripherer Wahrnehmung erlebnisdominant und beeinflussen die Emotionen. Gerichtete Wahrnehmung ermöglicht ihre Korrektur. Durch Soziale Arbeit eingeleitete Reflexionsprozesse des Klassifizierens können sich zunächst auf Übergeneralisierungen beziehen. Sie erlauben den betreuten Akteuren/-innen systematische Urteilsverzerrungen zu durchschauen. Überflüssige Streitereien und Missverständnisse werden damit abgebaut, soziale Verhältnisse entkrampft. Eine wichtige Hilfe Sozialer Arbeit zur Reduktion von Übergeneralisierungen durch die von ihr betreuten Akteure/-innen besteht in der Einleitung von Prozessen sogenannter „tentativer Wirklichkeitsverarbeitung. Hierbei tritt die Phantasie in einen Wechselprozess mit dem Verstand. Neue Kategorien können gebildet werden, das bestehende Kategoriensystem wird erweitert und differenziert. Um solche Prozesse einer phantasiegestützten Klassifizierung einzuleiten, sollten den betreuten Akteuren/-innen Differenzerfahrungen ermöglicht werden. Dazu sind beispielsweise erlebnispädagogische Methoden genauso geeignet wie die ganze Palette ästhetischer Bildung und musischer Aktivitäten.
3.5 Zusammenfassung: Ressourcen in der Reflektion
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Daneben sollten innerhalb der Reflexion des Klassifizierungsprozesses Fehlassoziationen aufgedeckt und bewusst gemacht werden. Durch reflektierende Konzentration auf Einzelaspekte innerhalb eines Kontextes können die versehentlich dauerhaft mitassoziierten Merkmale als nicht zwangsläufig dazugehörige „entlarvt“ und die Fehlassoziationen eliminiert werden. Dadurch wird den betreuten Akteuren/-innen ein Handeln ermöglicht, das den tatsächlichen Situationen gerecht wird. Schwierig aber durchaus wirkungsvoll ist die Reflexion von Klassifizierungsprozessen innerhalb komplexer Systeme. Dabei sollten negative und positive Rückkopplungsprozesse erkannt werden. Bei positiven Rückkopplungsprozessen vergrößert sich eine Variable in Folge der Vergrößerung einer anderen. Bei negativen Rückkopplungsprozessen bewirkt die Vergrößerung einer Variablen die Verringerung einer anderen. Zunächst geht es darum, dass Sozialpädagogen/-innen systemische Prozesse erkennen, Rückkopplungsprozesse durchschauen und diese Zusammenhänge den betreuten Akteuren/-innen in angemessener Weise vermitteln können. Für letztere ist dies eine wichtige Ressource bei der Gestaltung kommunikativer Prozesse in sozialen Systemen. Zum Zweiten geht es darum, funktionierende komplexe soziale Systeme (Familie, Nachbarschaft, Gemeinwesen, Schulklasse, etc.) innerhalb derer sich betreute Akteure/-innen befinden, stabil zu halten. Um dies zu ermöglichen, sollte Soziale Arbeit die betreuten Akteure/-innen dazu befähigen, jene Faktoren zu erkennen, zu stärken und zu stabilisieren, die negative Rückkopplungsprozesse bewirken. In diesem Zusammenhang ist es eine wichtige Herausforderung an die Sozialpädagogen/-innen, die Charakteristik systemischer Prozesse beispielsweise durch Analogiebildungen zu verdeutlichen. Denn durch Analogiebildung wird ein tieferes Verständnis von Prozessen und Abläufen ermöglicht und damit deren differenziertere Klassifizierung. Es geht in diesem Zusammenhang darum, komplexe zwischenmenschliche systemische Prozesse zu verdeutlichen und zu deren adäquater Klassifizierung beizutragen, um so eine Basis zu schaffen, die es erlaubt, zusammen mit den betreuten Akteuren/-innen Verhaltensweisen, Maßnahmen und Angebote zu entwickeln, die systemisch sich hochschaukelnde Konflikte nachhaltig vermindern helfen. Charakteristische Grundmuster der Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung lassen sich durch sogenannte ereigniskorrelierte Potentiale (EKP) bildgebend darstellen. Es handelt sich dabei um einen systematischen Abgleich zwischen bestimmten Ereignissen und jenen Gehirnstromaktivitäten, die bei deren Verarbeitung gemessen werden. Konstante Wechselbeziehungen zwischen bestimmten Ereignisklassen und elektrischen Ladungen werden in Kurven festgehalten. Eine hohe Amplitude bei negativer Aufladung kennzeichnet dabei eine
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
starke Zunahme des Informationsaustausches zwischen den aktivierten Bereichen des Gehirns. Das weist auf den Beginn von Bewertungs-, Deutungs- und Klassifizierungsprozessen hin. Eine hohe Amplitude bei positiver Aufladung weist auf die starke Abnahme der informationsverarbeitenden Aktivitäten hin. Das kennzeichnet den Abschluss der erforderlichen Bewertungs-, Deutungs- und Klassifizierungsprozesse hinsichtlich des zu beurteilenden Ereignisses. Bei ähnlichen, oft erlebten Ereignissen können die diesen vorauseilenden Hinweisreize verwertet und bestehende Generalisierungen genützt werden. Bewertung, Deutung und Klassifizierung erfolgen sehr schnell, nämlich innerhalb von 100 ms. Nach dieser geringen Zeitspanne ist bereits die höchste positive Aufladung erreicht, daher wird dieses EKP als P 100 (P1) bezeichnet. Eine solche kurze Verarbeitungsdauer ist charakteristisch im Alltagshandeln. Dies entlastet, birgt aber bei nicht spezifisch Trainierten die Gefahr von Über- oder Unterbewertungen sowie Übergeneralisierungen in sich. Dieser Gefahr wird durch Nutzung gewisser mentaler Strukturen, die als Schemata bezeichnet werden, entgegengewirkt werden. Diese Schemata selbst als auch die Zugänglichkeit zu ihnen sollten allerdings immer wieder kritisch reflektiert werden. Derartige Reflexionen einzuleiten, ist eine der Aufgaben Sozialer Arbeit in diesem Zusammenhang. Eine weitere Möglichkeit bieten „Trainings“, die sich auf Ereignisse beziehen, die im Alltag betreuter Akteure/-innen gegenwärtig und/oder zukünftig wichtig sind. Durch die damit erreichte Steigerung der informationsverarbeitenden Bahnungen kann ein intensiverer Informationsabgleich zwischen den relevanten Bereichen des Gehirns stattfinden ohne Verlängerung der Verarbeitungszeit: bei genauer Beurteilung kann schnell reagiert werden. Da dies die Handlungsfähigkeit betreuter Akteure/-innen in zahlreichen Situationen steigert, ergibt sich daraus, dass der Entwicklung geeigneter Trainings bezüglich verschiedenartiger Anforderungen an sie ein hoher Stellenwert im Rahmen einer Sozialen Arbeit der Ermöglichung zukommt. Wenn bei Ereignissen kein Erkennen entsprechender Hinweisreize möglich ist und Generalisierungen nicht oder nur in geringem Umfang nutzbar sind - also bei außergewöhnlichen, nicht alltäglichen Ereignissen – ist 100 ms nach Eintreten des Ereignisses die höchste negative Aufladung, 300 ms danach die höchste positive Aufladung messbar (N 100 – P 300 oder kurz N 1 – P 3). Also beginnt die Bewertung, Deutung und Kategorisierung 100 ms nach Eintreten des Ereignisses und ist 300 ms danach beendet. Die Verarbeitungszeit beträgt also gegenüber den „alltäglichen“ Ereignissen das Dreifache. Meist entstehen Ereignisketten. Dadurch summiert sich die entsprechende Verarbeitungszeit. Für Soziale Arbeit resultiert aus dieser Erkenntnis, dass bei neuen Situationen (z.B. Neuaufnahme in die Einrichtung, Personalwechsel, Konzeptionsverän-
3.5 Zusammenfassung: Ressourcen in der Reflektion
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derung etc.) die betreuten Akteuren/-innen nicht in zu kurzer Zeit mit zu vielen Informationen konfrontiert werden sollten. Wenn ein tatsächlich eintretenden Ereignis dem auf der Basis des innerem Bezugsrahmens und den entsprechend interpretierten Hinweisreizen gebildeten Situationsmodell nicht entspricht, ist dies für das wahrnehmende Subjekt äußerst problematisch, da dies eine sachadäquate Reaktion zunächst infrage stellt. Eine solche Nichtübereinstimmung von Situationsmodell und Ereignis wird als „missmatch“ bezeichnet. Die höchste negative Ladung im EKP ist hier bei 200 ms (N 200), bereits nach 300 ms haben wir die stärkste positive Ladung (P 300). Nach 200 ms beginnt also erst die Bewertung, Deutung und Klassifizierung, bereits nach 300 ms sind diese Prozesse aber bereits abgeschlossen und das Situationsmodell ist korrigiert. Das als missmatch negativity“ (N 100 – P 300, kurz N1P3) bezeichnete EKP verdeutlicht die sogenannte „Orientierungsreaktion“: Innerhalb der Zeitspanne von nur 100 ms wird ein unzutreffendes Situationsmodell verworfen, ein neues erstellt und das unerwartete Ereignis bewertet, gedeutet und klassifiziert. Eine solche Orientierungsreaktion verlangt ein hohes Maß an psychischer Energie: Geist und Körper werden mobilisiert. Man fühlt sich „gestresst“. Für Sozialpädagogen/-innen ist es von großer Wichtigkeit, MissmatchErlebnisse in ihrer beruflichen Praxis zu reflektieren (z.B. innerhalb von Supervisionen). Missmatcherlebnisse betreuter Akteuren/-innen können bei deren Aufarbeitung im Rahmen Sozialen Arbeit (z.B. im Beratungsprozess) zu Ausgangspunkten persönlichkeitsbildender Lernprozesse werden. Reflexionen und Lernprozesse tragen zur Verbesserung wesentlicher Parameter der Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung bei. Die berufliche Praxis der Sozialpädagogen/-innen wird durch die Reflexionsprozesse erfahrungsgeleitet verbessert. Die betreuten Akteuren/-innen werden durch die entsprechenden Lernprozesse im alltäglichen Handeln immer sicherer. Neue, persönlichkeitsstabilisierende Erfahrungen werden ermöglicht: ein weiterer Beitrag zur Verbesserung ihrer Agency. Für eine Soziale Arbeit der Ermöglichung mit diesem Ziel resultieren weitere wichtige Anregungen aus der Analyse des EKP „P 300 - N 400“ (kurz „P3 – N4“), das im Fachjargon als „search negativity“ bezeichnet wird. Hierbei geht es um die Verarbeitung von Ereignissen, die umfangreiche Gedächtnissuchprozesse notwendig machen. In der Regel ergibt sich in solchen Fällen – nach einer nicht völlig zufrieden stellenden Bewertung, Deutung und Klassifizierung (P 3) – die Notwendigkeit, nach Wissensbeständen, welche die wahrgenommenen sensorischen Informationen sinnvoll ergänzen können, im Gedächtnis zu suchen. Das macht neue Bahnungen erforderlich, die durch eine erneute negative Aufladung (N 4) messbar sind. Dies wird begleitet durch langsam-synchrone Oszilla-
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3 Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung
tionen der Gehirnstromaktivitäten („EEG Theta“). Sie mobilisieren weite Bereiche der informationsverarbeitenden Substanz und können so dem Gedächtnis viele Informationen „entlocken“. Diese langsam-synchronen Oszillationen der Gehirnstromaktivitäten sind außer bei Gedächtnissuchprozessen in Zuständen der Dösigkeit und des Schlafs beobachtbar, was den Schluss nahe legt, dass intensive Gedächtnissuchprozesse am Besten im entspannten Zustand funktionieren. Erfahrungen belegen dies, da im Stress nicht auffindbare Erinnerungen häufig in einer entspannten Phase wieder präsent werden. Oft entstehen in Interaktionsprozessen mit betreuten Akteuren/-innen Situationen, in denen seitens der Sozialpädagogen/-innen Wissensbestände aus dem Gedächtnis notwendig sind. Um die Chancen zu erhöhen, sie im Gedächtnis zu finden, gilt es Strategien zu entwickeln, um nicht unter Zeitdruck zu geraten (z.B. einen „Smalltalk“ beginnen). Des Weiteren sollten intensive Reflexionsprozesse, vor allem biografische Aufarbeitungen, in entspannter ruhiger Atmosphäre erfolgen. Die betreuten Akteure/-innen sollten darüber in Kenntnis gesetzt werden, dass bei Reflexionen, innerhalb derer Erinnerungen und Wissensbestände zur Problembewältigung oder Entwicklung von Handlungsstrategien verarbeitet werden, sich der gewünschten Erfolg in der Regel erst während oder unmittelbar nach Ruhephasen einstellt. Damit wird der Erfolgsdruck vermindert, Gedächtnissuche erleichtert und die Chance positiver Entwicklungen verstärkt. Ereignisse, die in Erstaunen versetzen und sich nicht unmittelbar im Kategoriensystem einordnen lassen, lösen einen Elaborationsprozess aus. Charakteristisch dafür ist eine hohe negative Aufladung 100 ms und eine hohe positive Aufladung 600 ms (P 600, kurz P 6) nach dem Eintreten des Ereignisses. Der Elaborationsprozess zeichnet sich also durch lang anhaltende Bahnungen zwischen unterschiedlichen Bereichen der informationsverarbeitenden Substanz aus. Das bringt zunächst den Nachteil mit sich, dass auf Ereignisse nicht sehr schnell reagiert werden kann, denn der Abschluss der Bewertungs-, Deutungsund Klassifizierungsprozesse zur Beurteilung des entsprechenden Ereignisses verzögert sich gegenüber einem routinemäßig erfassbaren Ereignis um das sechs Fache! Auf der anderen Seite kann dieser Elaborationsprozess durchaus auch positive Effekte mit sich bringen: Rationale Reanalyse des Ereignisses und tentative Wirklichkeitsverarbeitung erlauben eine adäquatere Einschätzung von Personen, Ereignissen und Prozessen. Vorurteile können behoben und zwischenmenschliche Kommunikationsprozesse verbessert werden. Die Erweiterung und Differenzierung des Kategoriensystems durch tentative Wirklichkeitsverarbeitung als Schaukelprozess zwischen Vernunft und Phantasie trägt überdies zur Erhaltung der Orientierung der betreuten Akteure/-innen auch bei gesellschaftlichen Ver-
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änderungsprozessen wie Enttraditionalisierung, Flexibilisierung, Individualisierung und Pluralisierung bei. Indem Soziale Arbeit die rationale Reanalyse von Ereignissen fördert oder durch Ermöglichung von Differenzerfahrungen – beispielsweise im Rahmen ästhetischer Praxis – tentative Wirklichkeitsverarbeitung implementiert, kann sie Ressourcen der betreuten Akteure/-innen hinsichtlich deren Handlungsfähigkeit in mehrfacher Weise verstärken sowie stabilisieren und damit einen weiteren wichtigen Beitrag zur Förderung von Agency leisten.
4 Die dritte Agency-Perspektive: Soziale Arbeit mit Symbolen zur Unterstützung vielfältiger Ressourcenpotentiale 4 Die dritte Agency-Perspektive: Soziale Arbeit mit Symbolen Es wurde beim Bezug von Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung auf spezifische Ereignisse, der Interpretation „ereigniskorrelierter Potentiale“ deutlich: diese Prozesse haben individuelle und intersubjektive Elemente. Es können – so individuell und subjektiv Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung sind – viele intersubjektive Momente konstatiert werden, die dann aber wiederum lebensweltspezifisch einerseits und je individuell andererseits „ausbuchstabiert“ werden. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge, die bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Wahrnehmung und den damit zusammenhängenden Prozessen der Wirklichkeitsverarbeitung begünstigt die Reflexionen von Erinnerung und Entwurf, bezogen auf Denkprozesse und Handlungsstrategien, die ja eine wichtige Ressource bei der Gestaltung des eigenen Lebens bilden (vgl. Kapitel 2). Dies trägt zu einem Aneignungsprozess bei, der Erfahrungspotenziale mit möglichst wenig blockierenden Elementen generiert. Auf die Begrifflichkeit des Aneignungsprozesses wurde bereits im Zusammenhang mit der Betrachtung von Ressourcen zur persönlichen Entwicklung im Wechselspiel von Denken und Handeln (Kapitel 2) und im Kontext der Konstituierung des Bezugsrahmens (Kapitel 3) eingegangen. Da er im Folgenden eine wichtige Rolle spielt, soll zur Erinnerung hier noch einmal eine kurze Erläuterung erfolgen: Im Aneignungsprozess erfahren wir uns handelnd in der Welt und erschließen uns dabei sukzessive deren Bedeutungen: Durch Handlung in der äußeren Realität eignen wir uns also Fakten- und Deutungswissen an. Dieses hilft uns, die Strukturen dieser Realität zu begreifen. Die Kenntnis dieser Strukturen unterstützt uns wiederum bei weiteren Handlungs- und Erkenntnisprozessen (vgl. Leontjew A. N. 1982; Glöckler U. 1989; Jäger, J. und Kuckhermann R. 2004: 28 und 31 f). Im Rahmen dieses Aneignungsprozesses wird, wie oben dargelegt, der referenzielle Rahmen immer wieder erweitert, um eigene Handlungen optimal an der erfahrenen Wirklichkeit auszurichten (vgl. Kapitel 3).
U. Glöckler, Soziale Arbeit der Ermöglichung, DOI 10.1007/978-3-531-93120-3_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Arbeit mit Symbolen
Der Aneignungsprozess kann neben der erwähnten Reflexion von Erinnerung und Entwurf und der bewussten Auseinandersetzung mit Wahrnehmungund Wirklichkeitsverarbeitung durch einen kompetenten Umgang und/oder Einsatz von Symbolen ebenfalls hinsichtlich der Aktivierung von Ressourcenpotentialen positiv beeinflusst werden, ist aber auch konstituierend beim Prozess der Entstehung von Symbolen.
4.1 Der wechselseitige Prozess von Aneignung und Vergegenständlichung: Semiotisierung und kulturspezifische Generierung von Symbolen Denn Aneignung von Wirklichkeit spielt eine wichtige Rolle bei der „Semiotisierung“, dem Prozess, innerhalb dessen ein Gegenstand zum Zeichen wird. Semiotisierung ist nach Kuno Lorenz ein Vergegenständlichungsprozess, der einen Gegenstand zum Symbol erhebt. Die handlungsbezogene Verinnerlichung von Bedeutungen im Aneignungsprozess wird nach der von Kuno Lorenz entwickelten Dialogphilosophie wechselseitig auf diesen Vergegenständlichungsprozess bezogen: In unseren Werken, in dem, was wir erschaffen – sei es in der Kunst, im Handwerk, in der Kleidung, beim Kochen, in der Literatur usw. – verkörpern sich dann, wenn wir uns selbst verwirklichen können, jene Bedeutungen die wir uns im Verlaufe von Individuiation und Sozialisation angeeignet haben in neuer Form und können so zu Zeichen dieser Bedeutungen werden (Lorenz, K. 1992). Den entsprechenden Gegenständen wird also im Vergegenständlichungsprozess, der Semiotisierung, eine Bedeutung verliehen, die die Reflexion der vorher angeeigneten Erfahrungen beinhaltet. Die Gegenstände werden so zu Zeichen, erhalten symbolischen Charakter. Ergänzt werden kann diese Perspektive durch die Sichtweise des Semiologen Umberto Eco, der auf die wichtige Funktion kulturspezifischer Kommunikationsprozesse in diesem Zusammenhang verweist (vgl. Eco, U. 2002: 32). Zunächst stellt Eco bezugnehmend auf Charles Sanders Peirce fest, dass es sich bei semiotischen Prozessen immer um eine Triade aus einer bestimmten Bedeutung, einem Objekt und einer/m Interpreten/-in, handelt (vgl. Eco, U. 2002: 29). Das Objekt, in dem sich eine Bedeutung vergegenständlicht, also das Objekt der Semiotisierung, kann nur dann zum Symbol werden, wenn die Interpretation dieser im Objekt vergegenständlichten Bedeutung durch den/die Interpreten/in auch als solche kommuniziert wird. Semiotisierung und entsprechende Interpretation in Verbindung mit kulturspezifischen kommunikativen Prozessen kann also als wichtige Voraussetzung für die kulturspezifische Generierung von
4. Der Terminus „Symbol“
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sprachlichen und nichtsprachlichen Symbolen betrachtet werden (vgl. Eco, U. 2002: 84, 437-442).
4.2 Der Terminus „Symbol“ Die Generierung von Symbolen, sowie deren spezifische Ausprägung und Erscheinungsweise soll etwas näher beleuchtet werden, da sich aus dem bewussten Umgang mit Symbolen und ihrem zielgerichteten Einsatz wichtige Kraftquellen erschließen lassen. Dabei muss zunächst kurz darauf verwiesen werden, dass die Verwendung des Terminus „Symbol“ nicht allgemein verbindlich festgelegt ist. So verwendet Ernst Cassirer einen anderen Symbolbegriff als Jean Piaget oder Charles Sanders Peirce. Für diese Abhandlung soll von einem Symbolbegriff ausgegangen werden, für den relativ hohe Übereinstimmung innerhalb relevanter Begriffsklärungen erzielt werden kann. Diese besteht darin, dass – wie oben festgestellt – Symbole durch Vergegenständlichung von Bedeutung und im Zusammenhang mit kulturspezifischen Kommunikationsprozessen zu Bedeutungs- und Informationsträgern werden, welche die in ihnen vergegenständlichten Bedeutungen als etwas von ihnen Unterscheidbares repräsentieren (vgl. auch Gibson 2005). Grundsätzlich kann also, Lorenz, Ecco und Gibson zu Grunde legend, jeder Gegenstand durch die Vergegenständlichung einer bestimmten Bedeutung zum Symbol werden, wenn diese Bedeutung entsprechend kommuniziert wird. Als Beispiel dazu soll der Rosenstrauß als Zeichen von Liebe und Leidenschaft dienen: Sowohl die Rosen, als auch Liebe und Leidenschaft existierten bevor sie assoziativ miteinander verbunden wurden. Erst durch die Vergegenständlichung der Bedeutung Liebe und Leidenschaft in der Rose – z.B. durch entsprechend Präsentation – und die Kommunikation dieser Bedeutung wird der Rosenstrauß zum Symbol (vgl. Barthes, R. 1964: 90f.). Im Folgenden erfolgt eine nähere Auseinandersetzung mit Symbolen, denn Symbolbildungen und die Einbeziehung von Symbolen in Kommunikations- und Denkprozesse erlauben unter anderem ein geistiges Erproben von Handlungsmöglichkeiten beispielsweise in Form von Antizipation oder Rekonstruktion und schaffen damit eine der Voraussetzungen für zielorientiertes Handeln (vgl. Furth 1986). Zunächst soll über diejenigen Symbole gesprochen werden, die in Folge eines lebensweltspezifischen Aneignungsprozesses als vergegenständlichte soziale Deutungsmuster relevante Merkmale für individuelle Generalisierungen im Kategorisierungsprozess bilden und damit wichtige Bedeutung innerhalb des Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsverarbeitungsprozesses erlangen.
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4 Arbeit mit Symbolen
4.3 Symbole als vergegenständlichte soziale Deutungsmuster Innerhalb des beschriebenen Aneignungsprozesses werden lebensweltspezifische Deutungsmuster (s.o.) verinnerlicht, die den Einzelnen erlauben, ihre sozialen Erfahrungen in einen übergreifenden Sinnzusammenhang zu bringen, die eigene Biographie mit den entscheidenden gesellschaftlichen Handlungsanforderungen zusammenzubringen. Diese sozialen Deutungsmuster können durch entsprechende Vergegenständlichung in als geeignet angesehenen Objekten symbolisiert werden (s.o.). Derartige Symbole sind aufgrund spezifischer Kommunikationsprozesse in der entsprechenden Lebenswelt und ihrer Kultur begreifbar und Träger komplexer Inhalte und Bedeutungen. Sie werden innerhalb des diskurstheoretischen Konzeptes als Kollektivsymbole bezeichnet. Kollektivsymbole können als Allegorien, Embleme, Metaphern, Exempelfälle, Vergleiche oder Analogien existieren(vgl. Drews, Gerhard, Link 1985: 256-375). Sie können medial transportiert, kommuniziert und tradiert werden. Menschen aus nachfolgenden Generationen, aber auch aus anderen kulturellen Räumen können sich innerhalb ihres Aneignungsprozesses bei der aktiven Auseinandersetzung mit solchen Symbolen deren Sinn und die enthaltenen komplexen Bedeutungen erschließen. So können die zunächst in einem spezifischen lebensweltlichen Kontext entstandenen Symbole möglicherweise sogar irgendwann weltweit verstanden werden. Bestimmte Symbole sind insofern intersubjektiv verstehbare Konkretisierungen komplexer Sinn- und Bedeutungszusammenhänge, die soziale Deutungsmuster transportieren. Sie können auf Grund ihrer schnellen Erfassbarkeit bei hoher Komplexität als Merkmale fungieren, die bei abgespeicherten Generalisierungen (s.o.) sehr schnelle Klassifizierungsprozesse erlauben.
4.4 Diskursive und präsentative Symbolik Dabei lassen sich „diskursive“ und „repräsentative“ Symbole unterscheiden. Erstere können als vereinbarte Zeichen verstanden werden, die keinen sinnlich wahrnehmbaren Bezug zum Bezeichneten haben. Letztere dagegen repräsentieren Sinn- und/oder Bedeutungszusammenhänge mit sinnlich wahrnehmbarem Bezug zum symbolisierten Wirklichkeitsbereich (vgl. Jäger, J. und Kuckhermann, R. 2004: 16 ff.).
4.4 Diskursive und präsentative Symbolik
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4.4.1 Die Verschmelzung von diskursivem und präsentativem Charakter der Symbole Diese Unterscheidung sollte allerdings eher als analytische verstanden werden, da diskursive und präsentative Charakteristik von Symbolen in der Realität oft untrennbar miteinander verschmelzen. Innerhalb dieser Verschmelzung können allerdings entweder erstere oder letztere stärker gewichtet sein. Symbole mit stärker präsentativem Charakter bieten tendenziell etwas mehr Möglichkeiten des individuellen Selbstausdrucks und größerem Interpretationsspielraum des rezipierenden Subjektes und neigen tendenziell zu etwas größerer Mehrdeutigkeit. Zu eher diskursivem Charakter tendierende Symbole ermöglichen dagegen – durch das höhere Maß an Bedeutungsübereinstimmung der ihnen zugrundeliegenden kollektiven Interaktionsprozesse – leichter übereinstimmende und damit eindeutigere Wirklichkeitsdeutungen. Stärker präsentativ gewichtete Symbole tendieren – so gesehen – deshalb zu einem höheren Maß an „Mehrdeutigkeit“, weil ihre Klassifizierung und damit Kategorisierung durch die diskursiven Prozesse in Lebenswelt und Kultur weniger festgelegt sind: sei es durch den stärker sinnlich erfahrbaren, metaphorischen Charakter, der weniger diskursive Prozesse notwendig erscheinen lässt oder sei es durch den stärker individuell geprägten Charakter, z. B. bei Kunstwerken. Insofern ergeben sich bei eher präsentativen Symbolen einerseits mehr Möglichkeiten individuellen Selbstausdrucks und andererseits ein größerer Interpretationsspielraum der rezipierenden Subjekte (vgl. Jäger, J. und Kuckhermann, R. 2004: 17 f.). Dies gilt aber auch für tendenziell stärker diskursiv gewichtete Symbolsysteme, wie z.B. der Sprache, dann, wenn die gewohnte Diskursivität des lebensweltlichen Alltags verlassen wird. Das Symbolsystem bleibt in solchen Fällen diskursiv, aber seine Verwendung trägt stark individuelle, z.B. ästhetisch gestaltete Züge. Am Beispiel des diskursiven Symbolsystems Sprache können Grammatik, und Begriffe durchaus auf Diskursivität beruhen, durch ihren gekonnten Gebrauch aber „verdichtet“ werden und damit sozusagen ein präsentativ gewichtetes Symbol mittels eines diskursiven Symbolsystems geschaffen werden (vgl. ebda. 16).
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4 Arbeit mit Symbolen
4.4.2 Symbolbildung, Interaktion und Assoziation Ein Symbol sagt manchmal mehr als 1000 Worte Zunächst möchte ich auf stärker diskursiv gewichtete Symbole eingehen. Sie erleichtern und beschleunigen Kommunikationsprozesse unter denjenigen, die das Symbol verstehen. So können via Symbol viele komplexe Inhalte weitervermittelt werden: Da, wie oben erwähnt, die Erkennung und Klassifizierung von komplexen Sinn- und Bedeutungszusammenhängen durch Symbole sehr schnell erfolgen kann, können wir in kurzer Zeit große Informationsmengen aufnehmen und verarbeiten. Unter Menschen, die komplexe Symbole sofort verstehen, ist somit der Informationsaustausch schnell in hohem Maße möglich und zwar sowohl hinsichtlich der Menge als auch hinsichtlich des Verstehens und Deutens dieser Informationen, da die Symbole auch über klassifizierungsrelevante Merkmale der vermittelten Informationen Aufschluss geben (s.o.). Symbole liegen der Sprachentwicklung ebenso zugrunde wie der Mathematik und können sicherlich ohne Übertreibung als wesentliche Wurzeln unserer kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklung angesehen werden. Aber auch im Alltag spielen sie zur täglichen Orientierung eine ungeheuer große Rolle, da wir über das durch den Aneignungsprozess vermittelte Verstehen alltagsrelevanter Symbole viele wesentliche Informationen schnell ohne Selektionsarbeit aufnehmen, zielgerichtet deuten und klassifizieren können. Beispiele hierfür sind die vielfältigen Symbole im IT-Bereich (z.B. das Druckersymbol), Symbole zur Vermittlung der nonverbalen Ebene in schriftlichen Mitteilungen (z.B. Smilies) oder Symbole zum Hinweis auf Einhaltung von Normen im täglichen Miteinander (z.B. Verkehrsschilder). Durch ihre Informationsmenge und ihren Hinweis auf klassifikationsrelevante Merkmale tragen Symbole überdies entscheidend zur Bildung von Konzepthypothesen bei, die, wie oben beschrieben, die Grundlage der jeweiligen Situationsmodelle bilden. Beides zusammen ermöglicht schnelles situationsadäquates Handeln.
Symbole beim Reframing als Chance neu zu denken Die Auseinandersetzung mit einem bestimmten Symbol kann je nach situativem Kontext einen Gedächtnissuchprozess auslösen, z.B. wenn eine durch das Symbol beeinflusste Konzepthypothese verifiziert werden soll. Das dadurch erfolgende Hinzufügen von Gedächtnisinhalten erlaubt eine „neue“ Wahrnehmung, also eine veränderte Deutung vertrauter Sachverhalte (vgl. Bösel R. M. 2001: 499 f.), was auch als „Umdeutung“ oder „reframing“ bezeichnet wird. Eine Me-
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4 Arbeit mit Symbolen
4.5 Zwischenzusammenfassung: Symbole im Prozess der Ressourcenförderung Symbole spielen eine wichtige Rolle im Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsverarbeitungsprozess, insbesondere bezüglich der Bewertung, Deutung und Klassifizierung wahrgenommener Phänomene und damit sogar auch bei der Konstitution des inneren Bezugssystems. Ihre reflexive Verwendung kann insofern zur Intensivierung und Reflexion von Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung beitragen. Darüber hinaus kann auf dieser Basis auf die Erweiterung und Differenzierung des inneren referenziellen Systems hingearbeitet werden, um damit unter anderem auch neue, gelingendere Handlungsmöglichkeiten zu ermöglichen. Des Weiteren kann durch Symbole die Phantasie stimuliert werden, dadurch können Prozesse tentativer Wirklichkeitsverarbeitung induziert werden, um mit sich drastisch verändernder Wirklichkeit besser umgehen zu können. Nicht zuletzt können Symbole dazu beitragen, unbewusste Persönlichkeitsanteile innerhalb der Erfahrungsaufarbeitung zu bearbeiten.
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Die vierte Agency-Perspektive: Ressourcen im unmittelbaren Erleben und in medial vermittelten Erfahrungen
5 Die vierte Agency-Perspektive: Ressourcen in unmittelbaren und vermittelten Erfahrungen Wie erläutert stecken in der bewussten Wirklichkeitsverarbeitung (Kapitel 3) und im reflexiven Umgang mit Symbolen (Kapitel 4) viele Ressourcenpotenziale: Bewusste Wirklichkeitsverarbeitung kann den Aneignungsprozess und dadurch die Erfahrungsbildung positiv beeinflussen und zu gelingenden Handlungsstrategien beitragen. Der bewusste Umgang mit Symbolen kann durch Kommunikationsverbesserung, Generierung von Umdeutungsprozessen sowie Versinnbildlichung unbewusster Erfahrungen die Generierung neuer Erfahrungen durch so veränderte Verarbeitung von Wirklichkeit positiv beeinflussen. Auf der Grundlage dieser Überlegungen soll im Folgenden über Wirklichkeitsverarbeitung und Erfahrungsgenerierung unter den Voraussetzungen unmittelbaren Erlebens und medial vermittelter Erfahrungen nachgedacht werden. In diesem Zusammenhang werden die in beiden Voraussetzungen steckenden Ressourcenpotentiale reflektiert werden.
5.1 Begriffliche Klärung Unter unmittelbarem Erleben möchte ich all diejenigen Erfahrungen subsumieren, bei denen ich aktiv in das Geschehen eingreifen kann, und die im Erlebnis begründeten sinnlichen Wahrnehmungen von mir eigenständig bewertet, gedeutet und klassifiziert werden. Unter medial vermittelten Erfahrungen verstehe ich all jene Erfahrungen, bei denen ich nicht durch eigene Anwesenheit in die Geschehnisse einbezogen bin. Das heißt, hier ist die Anzahl der aufnehmenden und verarbeitenden Sinneskanäle begrenzt. Solche medial vermittelten Erfahrungen wären beispielsweise solche, die mir als Rezipienten durch Erzählungen, Literatur, mediale Berichterstattungen in Zeitung, Radio, TV oder durch Internetrecherchen und ähnliches vermittelt werden.
U. Glöckler, Soziale Arbeit der Ermöglichung, DOI 10.1007/978-3-531-93120-3_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5 Erleben und medial vermittelte Erfahrungen
5.2 Charakteristische Merkmale Im Folgenden sollen nun einige der charakteristischen Merkmale von unmittelbarem Erleben einerseits und medial vermittelten Erfahrungen andererseits hinsichtlich der von ihnen generierten Wirklichkeitsverarbeitung einander gegenübergestellt werden. Bei unmittelbarem Erleben werden Eindrücke mit den eigenen Sinnen aufgenommen und durch die subjektiven, aus der jeweils individuellen Entwicklungsgeschichte resultierenden Bewertungs-, Deutungs- und Klassifizierungs/Kategorisierungsprozesse einerseits sowie durch intersubjektive Anteile, wie z.B. den sozialen Deutungsmustern aus dem lebensweltlichen Kontext andererseits, verarbeitet. Dieses unmittelbare Erleben zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass unterschiedliche Sinne – wie hören, sehen, riechen, schmecken und tasten – beteiligt sind. Unterschiedliche Rezeptoren aktivieren also verschiedene Areale der Großhirnrinde. Vielfältige Feed-back-Schleifen zwischen diversen Arealen der Großhirnrinde und dem Inneren des Gehirns werden gebildet. In diesem Prozess werden die eigenen Erinnerungen, die vorhandenen Wissensbestände, das entwickelte Vorstellungsvermögen etc. mit den Rezeptor-Informationen abgeglichen (vgl. 3.1, S. 25f.). Medial vermittelte Erfahrungen werden in der Regel bereits mit Deutungen, Bewertungen und Klassifizierungen seitens der Berichterstatter versehen. Bewertungen, Deutungen und Klassifizierungen entwickeln sich dabei nicht nur aus diskursiven Prozessen der entsprechenden Lebenswelt heraus, sondern werden auch wesentlich geprägt von der Sichtweise der „Berichterstatter“ und/oder den spezifischen Interessenslagen ihrer Auftraggeber etc. Diese medial vermittelten Erfahrungen und die damit mitgelieferten Bewertungen, Deutungen und Klassifizierungen sind von den Rezepienten schwer überprüfbar, schaffen aber teilweise die Illusion, unmittelbar dabei zu sein. Subjektive sowie lebensweltspezifische Selektivität und fokussierende Aufmerksamkeit wird durch die Selektivität der vermittelnden Medien beeinflusst. Bruchstücke von Wirklichkeit, versehen mit interessensgeleiteten Bewertungen, Deutungen und Klassifizierungen werden von den Rezepienten rekonstruiert, und einem sowohl lebensweltspezifisch als auch individuell geprägten erneuten Bewertungs-, Deutungs- und Klassifizierungsprozess unterzogen. Die Qualität der vermittelten Wirklichkeit kann über Vergleich mit anderen Berichten ansatzweise evaluiert werden, die mitgelieferten Bewertungen, Deutungen und Klassifizierungen können hinterfragt und die Phantasie kann beflügelt werden. Dies setzt allerdings eine sehr kritische Rezeption medialer Berichterstattung und – speziell bei Kindern – sinnvoll begleitete medial vermittelte Erfahrungen vor-
5.3 Erste Konsequenzen
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aus. Wie eine solche sinnvolle Begleitung aussehen könnte, wird weiter unten beschrieben. Bei medial vermittelten Erfahrungen ist die Komplexität der sinnlichen Wahrnehmung eingeschränkt. Auf die medial vermittelten Objekte und Kontexte bezogen ist riechen und tasten beispielsweise in Fernsehsendungen nicht möglich. Das heißt auch, dass hier Feed-back-Schleifen von den für Tastsinn und Geruch jeweils zuständigen Arealen des Neokortex zum inneren des Gehirns zur Beurteilung des Wahrgenommenen nicht notwendig sind (vgl. 2.1, S. 23). 5.3 Erste Konsequenzen Es müssen also bei unmittelbarem Erleben durch die Beteiligung vieler unterschiedlicher Sinneskanäle die jeweils entscheidenden repräsentativen Merkmale aus unterschiedlichen Arealen des Neokortex erkannt und zusammengeführt werden. Bei medial vermittelten Erfahrungen sind auf Grund der Tatsache, dass weniger Sinneskanäle angesprochen werden, weniger Areale des Neokortex beteiligt. Entscheidende repräsentative Merkmale müssen damit aus weniger Arealen des Neokortex erkannt und zusammengeführt werden als dies bei unmittelbarem Erleben der Fall ist. Die Übung der Koordination unterschiedlicher Areale des Neokortex und des „Herausfilterns“ der entscheidenden Merkmale ist also bei unmittelbarem Erleben größer als bei medialer Erfahrung. Daher ist davon auszugehen, dass diese Fähigkeit durch unmittelbares Erleben in höherem Maße gefördert wird, als dies bei medial vermittelter Erfahrung der Fall ist. Damit – so lässt sich auf der Grundlage der Kenntnisse von Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsverarbeitungsprozessen (vgl. 3.1-3.5, S. 25-103) schließen – wird auch die Sicherheit der Beurteilung von Wirklichkeit in Bewertungs-, Deutungs- und Klassifizierungs/Kategorisierungsprozessen durch unmittelbares Erleben verstärkt. Daraus kann wiederum gefolgert werden, dass dann, wenn unmittelbares Erleben gegenüber medialen Erfahrungen stark in den Hintergrund rückt, die eingeschränkte Einbeziehung unterschiedlicher Sinneskanäle bei medial vermittelter Erfahrung vor allem bei Kindern – deren Beurteilungssystem sich in einer „zentralen Aufbauphase“ befindet – zur Verunsicherung bei der Beurteilung von Wirklichkeit innerhalb von Bewertungs-, Deutungs- und Klassifizierungsprozessen beitragen kann. Ein Beispiel kann dies illustrieren: Wer noch nie lang anhaltende sengende Hitze mit quälende Trockenheit erfahren hat, wird schwerlich in der Lage sein, anhand medial übertragener Bilder die unbändige Freude von Menschen über ein
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5 Erleben und medial vermittelte Erfahrungen
volles Wasserloch in der sommerlichen Mittagshitze der Sahara richtig nach zu vollziehen. Da also bei der Rezeption medial vermittelten Erfahrungen in der Regel nur wenige Sinneskanäle beansprucht werden, gilt es, weitere sinnliche Aspekte durch das Vorstellungsvermögen zu ergänzen. Dies kann die Phantasie beflügeln, wenn z.B. ähnliche Ereignisse im Verlauf der Biografie schon in ihrer sinnlichen Komplexität wahrgenommen worden sind (vgl. Götz, M.; Lemish, D. 2006: 139-162). In medialen schriftlichen Erzeugnissen werden die fehlenden Sinneseindrücke häufig deskriptiv ergänzt, in filmischen Produktionen ist dies auf Grund der zeitlichen Gerafftheit des Mediums häufig nur schwer möglich. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass bei einem Großteil der Rezepienten filmischer medialer Produktionen – darunter vor allem bei Kindern mit unzureichendem Erfahrungsschatz aus unmittelbarem Erleben – das zur Komplettierung der beiden Sinneskanäle „Hören“ und „Sehen“ notwendige Vorstellungsvermögen häufig fehlt. Medial vermittelte Erfahrungen können also durch die Begrenztheit der angesprochenen Sinneskanäle zwar einerseits die Phantasie beflügeln, aber auch andererseits zu Unsicherheiten bei Bewertungen, Deutungen und Klassifizierungen führen (vgl. dazu auch Bachmair, B. 2001). Ob schwerpunktmäßig eher das Erstere oder das Letztere der Fall sein wird, dürfte von einer guten Begleitung medial vermittelten Erfahrungen abhängig sein. Dazu gehören u.a.
die Ergänzung der Rezeptionen durch Erklärungen, Diskussionen, Reflexionen etc., gezielte Ermöglichung von und Animation zu hoher Qualität und Quantität eigener unmittelbarer Erlebnisse Anregung zu und Hilfe bei der Bearbeitung der in der Vergangenheit vollzogenen Bewertungs-, Deutungs- und Klassifizierungsprozesse Hilfe bei der Herausbildung geeigneter Bezugspunkte im Erinnerungsvermögen durch vorstellungsfördernde Beschreibungen.
Wenn die Rezeption medialer Produkte in diesem Sinne positiv begleitet wird, kann die Beflügelung der Phantasie in den Vordergrund treten und die Gefahr der Verunsicherung von Bewertungen, Deutungen und Klassifizierungen eher geringfügig sein. Fehlt eine solche Begleitung – und dies scheint im Alltag vieler Kinder häufig der Fall zu sein – steht zu befürchten, dass bei sehr häufiger und lang anhal-
5.4 Exemplarische Betrachtungen
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tender Rezeption audiovisueller massenmedialer Erzeugnisse, ohne Ausgleich durch vielfältige eigene unmittelbare Erlebnisse, eine gewisse Verunsicherung von Bewertungen, Deutungen und Klassifizierungen/Kategorisierungen einsetzt.
5.4 Exemplarische Betrachtungen - „Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“ und „Hyperaktivität“ (ADS/ADHS), Prävention und Hilfe Einige exemplarische Betrachtungen sollen die praktische Relevanz dieser reflektierenden Erörterungen für eine ermöglichende Soziale Arbeit mit AgencyPerspektiven verdeutlichen. Dabei wird es um Symptomatik, Prävention und Nachsorge für eine Gruppe von Kindern gehen, die vom sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitäts-Syndroms, kurz ADHS betroffen sind.
5.4.1 Symptomatik Eine Verunsicherung von Bewertungen, Deutungen und Klassifizierungen, wie sie oben im Zusammenhang mit lang anhaltender Rezeption audiovisueller massenmedialer Erzeugnisse, ohne Ausgleich durch vielfältige eigene unmittelbare Erlebnisse und ohne positive Begleitung angesprochen wurde, spielt offenbar bei der Symptomatik des ADH-Syndroms eine wichtige Rolle. Dies lässt sich am besten durch bildgebende Verfahren wie den unter Kapitel 3.4 beschriebenen ereigniskorrelierten Potentialen (EKP) belegen: Bei der Konfrontation mit ähnlichen Ereignissen fällt bei Kindern, die nicht vom ADHSyndrom betroffen sind, die Amplitude der Negativaufladung. Erklärbar ist das dadurch, dass bei der Konfrontation mit ähnlichen Ereignissen diesen den Kindern allmählich vertraut werden. Bei solchen bekannten Ereignissen sind zur Klassifizierung nicht mehr so viele Bahnungen notwendig, wie bei unbekannten. Dagegen konnte bei Kindern, die vom ADH-Syndrom betroffen sind festgestellt werden, dass bei dieser Konfrontation mit ähnlichen Ereignissen die Amplitude der Negativaufladung nicht fällt, die Anzahl der Bahnungen also erhalten bleibt, obwohl immer wieder ähnliche Ereignisse eintreten (vgl. Davidson, G.C. und Neale J.M. 1996: 114-122). Zudem entsteht bei dieser Konfrontation mit ähnlichen Ereignissen bei Kindern, die vom ADH-Syndrom betroffen sind, nicht – wie das zu erwarten wäre und dies auch bei Kindern, die nicht unter dem Syndrom leiden, der Fall ist – das EKP P 100 mit sehr schneller Bewertung, Deutung und Kategorisierung
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5 Erleben und medial vermittelte Erfahrungen
(vgl. 3.4.2, S. 79-82 und Bösel R.M. 2001: 486). Sondern es erfolgt bei den Kindern, die vom ADH-Syndrom betroffen sind, eine evaluierende Analyse nach dem Abschluss der ersten Analyse mit P 3, was dem Gedächtnissuchprozess sehr ähnelt. Die evaluierenden Analyse findet ihren Höhepunkt 560 ms nach Auftreten des Ereignisses (N 560) (vgl. Karayanidis F., Robaye P., Bourassa M., De Koning D., Geoffroy G., Pelletier G. 2000). Dabei kann eine stärkere Energetisierung als nach Abschluss der ersten Analyse nach 300 ms gemessen werden (ebda.). Kinder mit dem „Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“ sind also sowohl in der primären Unterscheidungsanalyse, als auch in der diese evaluierende Phase mit hohem psychischen Energieaufwand stark belastet. Zudem dauert es sehr viel länger, bis sie ein ähnliches Ereignis klassifiziert haben, als dies bei „normalen“ Kindern der Fall ist. Die Folge ist häufig eine – Außenstehenden inadäquat erscheinende – vegetative Aktivierung: ihren eigenen Klassifizierungen nicht hinlänglich vertrauend, arbeiten diese Kinder noch evaluierend an vergangenen Ereignissen, während schon neue auf sie „einstürmen“. Letzteren können sie deshalb nicht die nötige Aufmerksamkeit widmen. Um die Lage doch noch „in den Griff“ zu bekommen und letztlich doch in den Genuss interner Belohnung zu gelangen, wird – unbewusst – das Aktivitätspotential verstärkt, das Kind wird unruhig und „zappelig“. Dafür kann man davon ausgehen, dass die Wahrnehmung der vom ADHSyndrom betroffenen Kinder intensiver und hinsichtlich der Abweichung ähnlicher Ereignisse voneinander genauer ist. Dieser durchaus positive Aspekt sollte hinsichtlich einer ressourcenorientierten Sozialen Arbeit näher untersucht und gewürdigt werden. Die professionellen Akteuren/-innen in der Sozialen Arbeit können auf diesem Hintergrund pädagogische Konzepte entwickeln, die an der Stärke dieser Kinder, nämlich beispielsweise an der genauen Evaluation des Wahrgenommenen ansetzen. Sie können auch Möglichkeiten generieren, die Unsicherheiten im Klassifizierungsprozess dieser Kinder zu vermindern, um so ihre Ressourcen zu stabilisieren. Auf Aspekte, die das Entwickeln solcher Konzepte ermöglichen, soll unter Einbezug von Reflexionen über medial vermittelte Erfahrungen und unmittelbarem Erleben im Folgenden eingegangen werden.
5.4.2 Präventive Aspekte Wie oben ausgeführt resultieren aus einer lang anhaltenden Rezeption audiovisueller massenmedialer Erzeugnisse, ohne Ausgleich durch vielfältige eigene un-
5.4 Exemplarische Betrachtungen
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mittelbare Erlebnisse und ohne positive Begleitung zunehmende Unsicherheiten bei Bewertungen, Deutungen und Klassifizierungen. Das bringt die Gefahr der Verstärkung der oben beschriebenen Symptomatik des ADH-Syndroms (zusätzliche Evaluierung des bereits Klassifizierten) mit sich. Bei einem höheren Anteil unmittelbaren Erlebens wird dagegen – die oben angestellten Überlegungen zugrunde legend – die Basis zur Beurteilung medial vermittelter Erfahrungen verstärkt und die Sicherheit bei Bewertungen, Deutungen und Klassifizierungen verbessert. Das könnte der beschriebenen Symptomatik entgegenwirken und insofern bei der Prävention hinsichtlich des ADHSyndroms eine wichtige Rolle spielen. Daneben – und dies begleitend – spielen für diese Prävention die lebensweltliche Diskursivität, und dabei insbesondere gemeinschaftsfördernde Aktivitäten unmittelbaren Erlebens, eine wichtige Rolle: es wird zusätzliche Orientierung generiert. Um hierbei jedoch nicht trotz hohem Maß an unmittelbarem Erleben einen großen Bereich der Wirklichkeit in ihrer Mehrdeutigkeit auszublenden, ist zur Prävention hinsichtlich des ADHS die Konfrontation mit zur Reflexion sozialer Deutungsmuster anregender präsentativer Symbolik (s.o.) – z.B. in Form entsprechender Kunstwerke – hilfreich. Auch sinnvoll begleitete medial vermittelten Erfahrungen, wie dies oben ausgeführt wurde, können für die Prävention durch die damit verbundene Beflügelung der Phantasie eine Voraussetzung für tentative Wirklichkeitsverarbeitung sein, die zur Differenzierung des Kategoriensystems beiträgt und dadurch eindimensionale Einordnungen und zu begrenzte Betrachtungsweisen verhindern hilft (vgl. 3.3.5, S. 67-72). Dies stabilisiert – wie erläutert – die Orientierung bei sich verändernder Wirklichkeit und trägt damit zur Reduzierung von potentiellen Klassifizierungsschwierigkeiten bei. Dadurch kann der Gefahr der Entwicklung der oben beschriebenen Symptomatik entgegengewirkt werden. Für die Entwicklung von hinsichtlich des ADH-Syndroms präventiven lebensweltorientierten Konzepten einer ermöglichenden Sozialen Arbeit könnten sich auf diesem Hintergrund folgende zentrale Aufgabenstellungen ableiten lassen:
Ermöglichung vielfältiger unmittelbarer Erlebnisse (Erlebnispädagogik, Jugendkulturarbeit, soziale Kulturarbeit, Sport, Tanz etc.) Ermöglichung von diskursiven Prozessen über Wirklichkeitsdeutung und Sinnkonstruktionen trotz Individualisierungsdruck durch Förderung interessensgeleiteter Gemeinschaftlichkeit
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5 Erleben und medial vermittelte Erfahrungen
Entwicklung von zusätzlichem Vorstellungsvermögen bei der Verarbeitung medial vermittelter Erfahrung durch sinnvoll begleitete medial vermittelte Erfahrungen wie z.B. ergänzende Informationen, Diskussionen, Reflexionen etc. Präsentation hinterfragender Symbolik zur Beflügelung der Phantasie und Ermöglichung tentativer Wirklichkeitsverarbeitung.
5.4.3 Tentative Wirklichkeitsverarbeitung: Prävention, Hilfe, Nachsorge bei Kindern mit „Aufmerksamkeits- Hyperaktivitätsdefizitsyndrom“ ? Es stellt sich die Frage, ob die Fähigkeit der oben angesprochenen tentativen Wirklichkeitsverarbeitung über die Prävention hinaus auch bei jenen Kindern helfen kann die bereits unter jenen Symptomen leiden, die als „Aufmerksamkeits- Hyperaktivitätsdefizitsyndrom“ (ADS/ADHS) klassifiziert werden. Könnte diese Fähigkeit ihre Unsicherheit im Wahrnehmungsprozess vermindern und zu schnellerer, treffsicherer Kategorisierung zu gelangen? Zunächst bleibt festzuhalten, dass es ja in erster Linie nicht das Neue ist, das von diesen Kindern weniger treffsicher analysiert und zugeordnet werden kann, sondern dass das Ähnliche nicht einfach „automatisch klassifiziert“ werden kann. Tentative Wirklichkeitsverarbeitung fördert die Fähigkeit, neue Kategorien zu bilden, verbessert damit die richtige Einschätzung von Neuem. Sie führt deshalb bei dieser Gruppe zunächst zu keiner Verbesserung der spezifischen Problemlage.
Aspekte der Hilfe Im ersten Schritt würde es deshalb darum gehen, den Kindern ein hinreichendes Maß an unmittelbaren Erlebnissen zu ermöglichen, mediale Rezeptionen sinnvoll zu begleiten, durch Einführen sinnvoller Routinen Zeit zu Bewertungen, Deutungen und Klassifizierungen zu lassen und damit allmählich darauf hinzuarbeiten, dass Ähnliches als Ähnliches erkannt wird. Das vorhandene Kategoriensystem kann dadurch immer sicherer genutzt werden und Bewertungen, Deutungen und Klassifizierungen/Kategorisierungen von Ereignissen werden immer routinierter abgewickelt werden können („automatisches“ Klassifizieren/Kategorisieren).
5.4 Exemplarische Betrachtungen
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Wenn die Klassifizierungs-/Kategorisierungssicherheit demzufolge zunimmt, besteht eine große Chance, dass auch die Symptome allmählich zurückgehen. Derartige Maßnahmen, beispielsweise eine gewisse Zeit auf einem Bauerhof zu verbringen und einen durch sinnvolle Routinen gekennzeichneten, klar strukturierten, nicht überfordernden Alltag zu leben, verzeichnen gegenwärtig schon große Erfolge. Die große Gefahr besteht aber im „Rückfall“. Es ist nicht möglich, die Kinder langfristig von belastender, beanspruchender und/oder sich dramatisch verändernder sozialer Realität abzuschirmen. Eine „Filterfunktion“ (vgl. Mollenhauer 2003: 38,44), durch Maßnahmen wie beispielsweise der oben angeführten, ist für eine bestimmte Zeit durchaus sinnvoll und kann zum – zumindest vorübergehenden - Ausklingen der Symptomatik führen.
Aspekte der Nachsorge Langfristig sollte es aber in einem zweiten Schritt darum gehen, die Sicherheit bei Bewertungen, Deutungen und Klassifizierungen/Kategorisierungen auch bei stärker belastender, beanspruchender und/oder sich verändernder sozialer Realität generell zu verbessern. So kann das „Rückfallrisiko“ reduziert werden. Wenn die AD(H)-Symptome abgeklungen sind geht es also darum, für Neues neue Kategorien bilden zu können und diese in einem sich differenzierenden Kategoriensystem verorten zu können, um dauerhafte, „nachhaltige“ Erfolge zu sichern. Die im zweiten Schritt zu erzielende Fähigkeit lässt sich, wie oben beschrieben, durch tentative Wirklichkeitsverarbeitung verbessern. Dazu bedarf es, wie dort ausgeführt, vor allem der Phantasietätigkeit. Gefördert werden kann diese beispielsweise durch Lesen oder Vorlesen: das eigene Vorstellungsvermögen wird dadurch verbessert: durch den Text werden Bilder im Kopf mittels Phantasie implementiert. Möglich ist auch, dass durch das Hören von Musik Instrumente herausgehört werden und gleichzeitig die Vorstellung über deren Aussehen mit einhergeht. Möglich wäre auch das Betrachten von Bildern und dazu die Vorstellung dazu passender Geschichten. Aber auch weitere medial vermittelte Erfahrungen können bei sinnvoller Begleitung – wie oben ausgeführt – zur Beflügelung der Phantasie beitragen. Bei all diesen Aktivitäten ist eine ruhige, entspannte Atmosphäre wichtig, d.h. „störende“ Rahmenbedingungen sollten weitgehend eliminiert werden.
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5 Erleben und medial vermittelte Erfahrungen
Resümée: Hilfe und Nachsorge Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass als Hilfe für aktuell unter der AD/ADH – Symptomatik leidende Kinder tentative Wirklichkeitsverarbeitung nicht angezeigt ist. Hier geht es vielmehr darum, ein hinreichendes Maß an unmittelbaren Erlebnissen zu ermöglichen, mediale Rezeptionen sinnvoll zu begleiten und durch Einführen sinnvoller Routinen Zeit zu Bewertungen zu ermöglichen. Erst im Anschluss an solche Maßnahmen, die zu höherer Sicherheit bei Bewertungen, Deutungen und Klassifizierungen führen – nach dem Ausklingen der aktuellen AD(H)- Symptomatik – könnten Maßnahmen zur Verbesserung der Fähigkeit zu kategorialer Transformation durch tentative Wirklichkeitsverarbeitung sinnvoll sein, um in Zukunft mit einer stark sich verändernden Realität nicht erneut in eine überfordernde Verunsicherung bei Bewertungen, Deutungen und Klassifizierungen/Kategorisierungen hinein zu geraten.
5.5 Abschließende Überlegungen zu diesem Kapitel Aus diesem exemplarischen Beispiel zur Bedeutung der reflexiven Einschätzung von Ressourcen in unmittelbarem Erleben und medial vermittelten Erfahrungen wird folgendes deutlich: Unmittelbares Erleben verstärkt die Sicherheit der Beurteilung in Bewertungs-, Deutungs- und Klassifizierung/Kategorisierungsprozessen. Dies ist für die Entwicklung des Beurteilungsvermögens vor allem bei Kindern äußerst wichtig. Medial vermittelte Erfahrungen können bei richtiger Begleitung zur Beflügelung der Phantasie beitragen. Sie können in einem solchen Falle als Voraussetzung zur tentativen Wirklichkeitsverarbeitung angesehen werden und damit wiederum zur Differenzierung des Kategoriensystems einen wichtigen Beitrag leisten. Dies kann für die Entwicklung der langfristigen Fähigkeit, sich auch innerhalb drastisch verändernder Wirklichkeit orientieren zu können, sehr förderlich sein. Noch einmal zu betonen ist dabei: Damit medial vermittelte Erfahrungen zur Beflügelung der Phantasie beitragen können, sollte deren Rezeptionen durch Erklärungen, Diskussionen, Reflexionen etc. ergänzt werden und von vielen qualitativ guten einschlägigen eigenen unmittelbaren Erlebnissen begleitet sein. Gute Beschreibungen geeigneter Bezugspunkte im Erinnerungsvermögen können diese Effekte noch verbessern.
5.5 Abschließende Überlegungen zu diesem Kapitel
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So können aus dem Miteinander von unmittelbarem Erleben und medial vermittelten Erfahrungen bei deren geeigneter pädagogischen Begleitung Ressourcen mobilisiert und mehr Agency ermöglicht werden.
6 Die fünfte Agency Perspektive: Ressourcenaktivierung im Alltagshandeln auf dem Hintergrund von Aneignung und Wirklichkeitsverarbeitung 6 Die fünfte Agency Perspektive: Ressourcenaktivierung im Alltagshandeln Innerhalb der vielfältigen menschlichen Erfahrungen, ihren Hintergründen durch spezifische Prozesse der Wirklichkeitsverarbeitung, ihren Versinnbildlichungen, ihrem Charakter und ihrer Differenziertheit in unmittelbarem Erleben und medial vermittelten Erfahrungen – wie sie in dieser Abhandlung aus unterschiedlichen Gesichtspunkten reflektiert wurden, nehmen alltägliche Erfahrungen einen großen Anteil ein. Trotzdem werden sie in der Regel selten näherer Reflexion unterzogen. Deshalb soll hier dieser Anteil menschlicher Erfahrungen näherer Betrachtung unterzogen werden. Routinemäßiges tagein tagaus in ähnlicher Weise vollzogenes Handeln als Alltag ist in sich ambivalent: einerseits entlastet dieser Alltag, andererseits ist er die Grundlage von Täuschung und Manipulation (vgl. Thiersch, H. 1992: 41-53). Dies und die Konsequenzen daraus, beides von Hans Thiersch für ein sozialpädagogisches Konzept („Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“) fruchtbar gemacht (vgl. 1986, 1992, 1995, 2005), sollen hier auf dem oben entwickelten theoretischen Hintergrund von Aneignung und Wirklichkeitsverarbeitung aufgegriffen und damit neu illustriert werden.
6.1 Lebenswelt und Alltag Unser Alltagshandeln ist von Routinen bestimmt. Innerhalb dieser Routinen ergeben sich immer wieder Ereignisse, die gleich oder ähnlich schon in vielen Situationen erlebt wurden. Welche Routinen das sind, bestimmen wir im Rahmen der Erfordernisse und Möglichkeiten, die aus unserer lebensweltlichen Situation resultieren. Diese lebensweltlich geprägten Wünsche, Bedürfnisse, Möglichleiten und Erfordernisse sind von verschiedenen Faktoren geprägt, die sich aus der jeweiligen Lebenswelt heraus entwickeln. Das können Werte und Normen, familiäre oder berufliche Verpflichtungen aber auch künstlerische Entäußerungsmöglichkeiten oder sportliche Aktivitäten etc. sein. Wir haben also einen bestimmten lebens-
U. Glöckler, Soziale Arbeit der Ermöglichung, DOI 10.1007/978-3-531-93120-3_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6 Ressourcenaktivierung im Alltagshandeln
weltlichen Rahmen innerhalb dessen wir teils individuelle Prioritäten setzen können, und teils auch bestimmten Handlungszwängen ausgesetzt sind. (vgl. Fürstenberg, F. 2004: 94-129)
6.2 Gesellschaftliche Entwicklungen und die Relativierung des Einflusses der Lebenswelt auf die Deutungsprozesse der Individuen In der heutigen westlichen Zivilgesellschaft lässt sich eine zunehmende Tendenz zu Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen feststellen (vgl. Beck, U., Giddens, A., Lash, S.,1996). Für das Alltagshandeln aus Sicht von Aneignung und Wirklichkeitsverarbeitung bedeutet dies, dass infolge der Erosion sozialer Milieus kollektiv geteilte Sinnhorizonte brüchig werden. Durch das dadurch induzierte Auseinanderdriften der Lebenswelten verringert sich bei den letzteren ihr die Deutungsprozesse normierender Charakter. Dadurch werden die jeweiligen Deutungsmöglichkeiten vielseitiger. Andererseits wird aber durch die gleichfalls zu konstatierende zunehmend hohe Präsenz massenmedial vermittelter Erfahrungen (vgl. Hurrelmann, B. 1999: 106-113) mit vorgegebenen Deutungen die Deutungsvielfalt wieder stark eingeschränkt. Kommunikative Prozesse in der jeweiligen Lebenswelt verlieren gegenüber massenmedialen Einflüssen an Bedeutung für die Wirklichkeitsverarbeitung des Einzelnen. Selbst lebensweltlichdiskursive Prozesse sind im Alltagshandeln häufig stark von massen-medialen Einflüssen geprägt (vgl. Pleitgen, F. 1999: 51-58). Die Selektion dieser massenmedialen Erzeugnisse ist allerdings vom lebensweltlichen Kontext, vom Bildungsstand, Interessenslagen, sozialer Schicht etc. beeinflusst. Die Nachrichtenprogramme großer TV-Sendeanstalten haben jedoch nach wie vor einen relativ übergreifenden Einfluss, insbesondere dann, wenn sie – wie in Deutschland die „öffentlich-rechtlichen“ Sendeanstalten das öffentliche Image weitgehender „Objektivität“ genießen.
6.3 Alltagshandeln und effektive Wirklichkeitsverarbeitung Der oft dem Alltagshandeln innewohnende, aus der routinemäßigen Bewältigung der Alltagsaufgaben sich ergebende Hang zu „oberflächlicher“ Wahrnehmung, zur Wirklichkeitsverarbeitung im „Dämmerlicht“ des „pseudokonkreten“ Alltags (vgl. Kosik, K. 1971), wird häufig konstatiert. Der Grund dieser spezifischen Art von Wirklichkeitsverarbeitung lässt sich darin finden, dass die Erkennung und Klassifizierung von Objekten, Personen und Phänomenen unter der Voraussetzung abgespeicherter Generalisierungen und diese resultieren aus der häufigen
6.4 Alltagswahrnehmung als unbewusste Rechtfertigungsstrategie
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Wiederholung von annähernd gleichen Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsverarbeitungsprozessen im Routinehandeln – sich hoch selektiv nur auf wenige wahrgenommene Merkmale beziehen müssen (vgl. oben und Bösel, R.M. 2001: 320). Das ist eine sehr „effektive“ Art und Weise der Wirklichkeitsverarbeitung, da dadurch nur begrenzte Kapazitäten bei der Informationsverarbeitung benötigt werden, somit Deutung und Kategorisierung sehr schnell erfolgen können. Merkmale werden wahrgenommen und schnell entsprechenden Prototypen zugewiesen. Das führt zu der schon in Platons „Höhlengleichnis“ beschriebenen Art und Weise der Wirklichkeitsverarbeitung, die oft den Kern, die Ursache oder auch Vielfältigkeit von Verhaltensweisen und Ereignissen ausblendet. Diese Art der Wirklichkeitsverarbeitung hat im Alltag sicherlich ihre Berechtigung, um diesen in seinen vielfältigen Anforderungen überhaupt bewältigen zu können.
6.4 Alltagswahrnehmung als unbewusste Rechtfertigungsstrategie – die Abwehr von „Aufklärung“ Wird diese Art pauschaler Wirklichkeitsverarbeitung durch die übernommenen Deutungsmuster massenmedialer Produkte in der beschriebenen Weise beeinflusst, kann dies allerdings zu Einschätzungen führen, die die Erkenntnis tatsächlicher kausaler Verknüpfungen verstellen. Dies beschreibt sehr plastisch Pierre Bourdieu in seinem Werk „Das Elend der Welt“ (1997) Dazu kommt, dass die Erkenntnis kausaler Zusammenhänge auch oft als eher unangenehm empfunden wird, da dies u.U. die Notwendigkeit von Verhaltensänderungen oder Umorganisation „bewährter“ alltäglicher Abläufe evident oder notwendig erscheinen lassen würde. Viele Menschen unserer westlichen Zivilgesellschaften stürzen sich förmlich in die Flut immer weiterer Verpflichtungen und Aufgaben in ihrem Alltag, was wiederum ein äußerst routiniertes Alltagshandeln erfordert. Dies evoziert wiederum eine äußerst „effektive“ Wirklichkeitsverarbeitung, also eine, in der wahrgenommene Merkmale und Hinweisreize sehr schnell zu handlungsrelevanten Situationsmodellen führen. Dazu wird auf gängige Deutungsmuster zurückgegriffen und stark typisiert. Zur Differenzierung des Kategoriensystems besteht „keine Zeit“. Widersprüchlichkeiten werden ausgeblendet, um eindeutige Handlungsgrundlagen zu erhalten. Dieser gesamte Mechanismus wird wiederum positiv begründet: “Dann kommt man wenigstens nicht ins Grübeln“ „Ins Grübeln kommen“ würde nämlich unter Umständen die widerspruchsfreie Wirklichkeitsverarbeitung in Frage stellen und evtl. kausale Verbindungsli-
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6 Ressourcenaktivierung im Alltagshandeln
nien erkennen lassen, die – wie oben erwähnt – Verhaltensänderungen erforderlich erscheinen oder sogar an der eigenen Weltsicht und Selbsteinschätzung Zweifel aufkommen lassen würden. Die häufig postulierte Aufklärung von „Verschleierungsmechanismen des Alltags“ würde also viele Menschen verunsichern und ihnen wesentliche Grundlagen ihrer Wirklichkeitsverbindung entziehen, in dem sie Zweifel an ihrem Selbst- und Weltbild entstehen lässt. Sie würde insofern routinisierte Alltagsabläufe, die auf der eingefahrenen Wirklichkeitsverarbeitung beruhen, komplizieren, vielleicht sogar behindern bis verunmöglichen. Dies löst beim Einzelnen Ängste aus, die abgewehrt werden. Daher oft die ängstliche Vermeidung vieler Menschen, über ursächliche Zusammenhänge unter neuen Vorgaben nachzudenken und damit pauschalisierte Kategorisierungen oder den schnellen Schluss von wahrgenommenen Merkmalen auf gängige Prototypen zu hinterfragen. Kurz: sie möchten nicht „ins Grübeln kommen“.
6.5 Über die Entwicklung neuer Ziele, neuer Lebensperspektiven und Sinnhorizonte hin zu einem „gelingenderen Alltag“ 6.5 Über die Entwicklung hin zu einem „gelingenderen Alltag“ Etwas anders sieht es aus, wenn das Handeln im Alltag zwar „funktioniert“, d.h. die Anforderungen bewältigt werden, aber der jeweilige Mensch mit dem Ablauf seines Alltags unzufrieden ist. Sei es, dass er keinen Sinn darin sieht, dass er sich zu „gestresst“ fühlt, und somatische Beschwerden drohen oder sich bereits eingestellt haben oder ähnliches. Sei es aber auch, dass selbst innerhalb eines gegenwärtig gelingenden Alltags Neugier und Lebenslust den Drang nach persönlicher Weiterentwicklung und neuen Sinnhorizonten auslösen. In beiden Situationen wächst die Bereitschaft, sich mit neuen Zielen auseinander zu setzen, über künftige Gestaltungsmöglichkeiten eines „gelingenderen“ also eines im Vergleich zum Status Quo sich verbessernden Alltags (vgl. Thiersch, 2005: 250) nachzudenken.
6.5.1 Erfahrungsaufarbeitung und Ressourcen Neue Zielvorstellungen und Wege zu einem gelingenderen Alltag resultieren häufig aus der Aufarbeitung eigener Erfahrungen, da hieraus individuelle und soziale Ressourcen deutlich werden. Es kann deutlich werden, dass der augenblicklich gelebte Alltag keine zwangsläufige Konsequenz des bisherigen Lebens ist, und dass andere Formen der Lebensgestaltung möglich sind.
6.5 Über die Entwicklung hin zu einem „gelingenderen Alltag“
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6.5.2 Erweiterung des Erfahrungshorizontes Hilfreich ist es, diese Aufarbeitung von Erfahrungen durch die Erweiterung des Erfahrungshorizontes zu ergänzen, neue Erfahrungen zuzulassen oder zu evozieren und durch tentative Wirklichkeitsverarbeitung (s.o.) das Kategoriensystem zu differenzieren. Dadurch können über den gegenwärtigen Alltag hinaus Perspektiven einer der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur mit ihren Interessenslagen mehr entsprechenden Alltagsgestaltung deutlich werden.
6.5.3 Zeit gewinnen durch Analyse „blinder Flecken“ im Alltagshandeln und verbesserte Nutzung von Ressourcen Dafür ist es aber zunächst notwendig, die Aufgaben des Alltags so zu bewältigen, dass zusätzlich zeitliche Ressourcen zur Erfahrungsaufarbeitung und dem Sammeln neuer Erfahrungen, z. B. durch tentative Wirklichkeitsverarbeitung möglich werden. Die Chance besteht darin, dass über das kritische Hinterfragen der Alltagsroutinen eingeschliffene Handlungsmuster zunächst „entschlackt“ werden. Denn so zeitsparend Routinen sein können, sie enthalten fast immer Handlungen, die einst notwendig waren, aber durch veränderte Bedingungen an Notwendigkeit verloren haben. Neue Erfordernisse sind dann hinzugekommen, aber die alten – jetzt überflüssig gewordenen Handlungsweisen – blieben aus Mangel an Reflexivität erhalten. Eingefahrene Wirklichkeitsverarbeitung lässt dann die unnütz gewordene Handlungen noch immer als sinnvolle erscheinen. Durch bewusste Analyse der Alltagsroutinen können solche „blinden Flecken“ erkannt werden. Der verbuchte Zeitgewinn kann dann der Erfahrungsaufarbeitung und der Erweiterung des Erfahrungshorizontes zugute kommen. Eine weitere Möglichkeit, Erfahrungsaufarbeitung und Erweiterung des Erfahrungshorizontes zeitlich zu ermöglichen, ist die verbesserte Nutzung von Ressourcen wie z. B. die effizientere Aufgabenteilung innerhalb sozialer Netze.
6.5.4 Entwickeln von Zielen und Perspektiven sowie Zieltraining: Lösungs- und Ressourcenorientiertheit (Empowerment) Nach Erfahrungsaufarbeitung und Erweiterung des Erfahrungshorizontes kann dazu übergegangen werden, unter Einbeziehung der aus der Erfahrungsaufarbeitung deutlich gewordenen Ressourcen und deren Entwicklungspotenzialen auf dem Hintergrund neuer Erfahrungen neue Perspektiven zu entwickeln.
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6 Ressourcenaktivierung im Alltagshandeln
Diese sind Fernziele und können nur in Etappen erreicht werden. Die Unterstützung beim Finden der Fernziele, bei der Festlegung der ersten Etappenziele, die Einschätzung der dafür notwendigen Ressourcen, die Vermittlung von Möglichkeiten der Entwicklung oder Erschließung solcher Ressourcen, können zunächst Aufgaben professioneller Helfer sein. Langfristig sollen diese Helfer aber jene betreuten Akteure/-innen, die einen gelingenderen Alltag im Sinne einer Bemächtigung zu mehr Eigenbestimmtheit („Empowerment“: vgl. Miller, T. Pankofer, S. 2000) anstreben, dazu befähigen und in die Lage versetzen, selbst die richtigen und realistischen Teilziele setzen zu können. In einem Zieltraining sollen sie lernen, ihre Etappenziele so zu entwickeln, dass diese spezifisch, überprüfbar, aktionsorientiert, mit ihren vorhandenen oder entwickelbaren Ressourcen verwirklichbar und innerhalb eines überschaubaren zeitlichen Horizontes zu realisieren sind. Das Verwirklichen von Teilzielen – Erfolg wird durch eigenes zielgerichtetes Handeln erreicht – trägt zu einer Kausalattribuierung bei, die Handlungsorientiertheit evoziert. Damit steigt das Volitionsniveau und damit die langfristige intrinsische Motivation (vgl. Heckhausen 1988).
6.6 Resümierendes Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten: Zunächst geht es darum, mit den bestehenden Verhältnissen zurechtzukommen, den Alltag zu bewältigen. Dabei gilt es, sinnvolle Routinen herauszubilden. Die daraus resultierende Entlastung trägt u.a. zu mehr Bewertungssicherheit innerhalb der Wirklichkeitsverarbeitung bei. Dabei gilt es soziale und individuelle Ressourcen zu entdecken und zu stärken. In einem zweiten Schritt können dann, wenn sich etwa ein Gefühl von Unzufriedenheit durch Sinnentleertheit, der Wunsch nach mehr Selbstverwirklichung oder mehr sozialer Verbundenheit herausbildet, Perspektiven der Ermöglichung einer Steigerung von Handlungsmächtigkeit und letztendlich eines gelingenderen Alltags im Sinne Thierschs herausgearbeitet werden. Dies kann erreicht werden mittels Unterstützung durch Alltagsanalyse, Intensivierung sozialer und individueller Ressourcen, Erfahrungsaufarbeitung, sowie Erweiterung des Erfahrungshorizontes, beispielsweise durch tentative Wirklichkeitsverarbeitung.
7 Die sechste Agency-Perspektive: Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung. Der Zugang zu eigenen Kraftquellen
Durch die Reflexion von Wirklichkeitsverarbeitung, Symbolik, unmittelbarem Erleben, medial vermittelten Erfahrungen und Alltagswahrnehmung wurde bislang in dieser Abhandlung erläutert, wie in diesem jeweiligen Kontext Ressourcen aktiviert und stabilisiert werden können. Darauf aufbauend soll die Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung als Zugang zu eigenen Kraftquellen thematisiert werden.
7.1 Sozialisationsprozess, Individuation, Identität, Persona und das Selbst Um uns diesem Thema zu nähern, müssen zunächst grundsätzliche Begrifflichkeiten geklärt werden. Der erste zu klärende Begriff ist der „Sozialisationsprozess“. Innerhalb dessen wächst ein Kind in eine Gesellschaft hinein, wird ein Teil dieser. Werte und Normen werden verinnerlicht, in der Auseinandersetzung mit Regeln und Traditionen kristallisieren sich Verhaltensweisen heraus, die eine realitätsgerechte Teilnahme am alltäglichen Interaktionsprozess mit den Mitmenschen ermöglichen. Dieser Sozialisationsprozess soll hier im Zusammenhang mit dem oben beschriebenen Aneignungsprozess gesehen werden. Das Kind eignet sich durch eigene Aktivität die Bedeutungen seiner sozialen und gegenständlichen Umwelt, also seiner Lebenswelt (s.o.), an. Diese lebensweltlichen Bedeutungen enthalten als kulturellen Wissensbestand jene Normen, Werte, Traditionen etc. welche die Einzelnen zum einigermaßen reibungslosen Zusammenleben in der jeweiligen Gesellschaft verinnerlicht haben sollten. Sozialisation ist somit ein Faktor notwendiger persönlicher Entwicklung. Der andere Teil ist das Herausentwickeln jener Anteile, die das jeweilige Individuum von den anderen Mitgliedern der Gesellschaft unterscheidet. Das so erfolgende Herausbilden eigener Subjektivität, einer eigenständigen Individualität, wird als Individuationsprozess bezeichnet. Da, wie gesehen, diese Entwicklung immer Hand in Hand mit dem Sozialisationsprozess verläuft, ist Individuation sowohl einerseits ein interner subjektiver Integrationsvorgang innerhalb dessen der einzelne Mensch alle ihn als eigen-
U. Glöckler, Soziale Arbeit der Ermöglichung, DOI 10.1007/978-3-531-93120-3_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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ständiges Subjekt kennzeichnenden Persönlichkeitsanteile zusammen zu bringen versucht, auch wenn sie sich zu widersprechen scheinen. Individuation ist andererseits auch ein unerlässlicher „objektiver“ Beziehungsvorgang, in dem sich das Individuum mit seinen Mitmenschen auseinandersetzt, Übereinstimmungen und Gegensätzlichkeiten feststellt, gemeinsam handelt, streitet, lacht usw. (vgl. Jung, C.G. 2001 A: 75). Insofern spielen im Individuationsprozess immer sowohl subjektive Empfindungen als auch soziale Beziehungszusammenhänge eine große Rolle. Zunächst kann davon ausgegangen werden, dass jeder Mensch bemüht ist, in seinem sozialen Kontext akzeptiert zu werden. Dabei spielt die Unverwechselbarkeit und Berechenbarkeit eine große Rolle, also die sogenannte „Identität“. Sie ist zum einen aus psychologischer Sicht charakterisiert durch die weitgehende Übereinstimmung eines relativ konstanten Selbstbildes mit dem Fremdbild der relevanten sozialen Bezugsgruppe(n) (vgl. Erikson, E. H. 1978: 124). Dazu gehört nach Erikson „ein dauerndes inneres Sich-Selbst-Gleichsein“ und die Fähigkeit „dort am meisten ... (sich) selbst zu sein, wo...(man) auch in den Augen der anderen am meisten bedeutet“ (ebda.). Zum anderen bedeutet Identität aus soziologischer Sicht eine hohe Verhaltenskonstanz bei unterschiedlichen Rollenerwartungen. Um sich an Interaktionsprozessen seiner sozialen Umwelt erfolgreich beteiligen zu können, muss das Individuum nach Lothar Krappmann in der Lage sein, Identität in einer komplexen, innere Widersprüche tolerierenden Art und Weise präsentieren zu können (vgl. Krappmann, L. 1993: 57). „ Ein Individuum, das ... sich nur an den Erwartungen der anderen orientiert, fällt als Partner für seine Gegenüber aus, weil es ihnen keinen neuen Blick auf ein Problem, keine Lösung für einen Konflikt, keine Bestätigung ihrer eigenen Identität ... anbieten kann“ (ebda.). Das Individuum soll nach Krappmann „ divergierende Erwartungen in seinem Auftreten berücksichtigen und dennoch Konsistenz und Kontinuität behaupten“ (a.a.O.: 56). Ausgegangen wird also davon, dass ein Mensch in seiner sozialen Umwelt dann Akzeptanz findet, wenn seine Selbsteinschätzung mit dem Bild, das sein für ihn relevantes soziales Umfeld von ihm hat, übereinstimmt und dieser Mensch auch in verschiedenen Rollen die er einnimmt (z.B. als Familienvater einerseits und Trainer eines Fußballvereins andererseits) durch eine gewisse Verhaltenskonstanz auch bei unterschiedlichen Erwartungshaltungen seiner sozialen Umwelt berechenbar und erkennbar bleibt. Diesen Ansprüchen des sozialen Umfeldes nach Berechenbarkeit und Konstanz zu genügen ist keinesfalls einfach. Das erkannte bereits C.G. Jung. Er geht sogar soweit, zu konstatieren, dass der Mensch, um für seine soziale Umwelt berechenbar zu bleiben, bildlich gesprochen eine Art Maske aufsetzt, die Jung
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als „Persona“ bezeichnet. Diese „Persona“ sei im Grunde ein kompliziertes Beziehungssystem zwischen dem jeweiligen Individuum und seiner sozialen Umwelt. Die Funktion des Systems bestehe darin, die Eindeutigkeit der persönlichen Erscheinung im sozialen Kontext zu gewährleisten (vgl. Jung, C.G. 2001 B: 78). Diese Konstruktion einer kollektiv passenden „Persona“ sei für das Individuum eine „gewaltige Konzession an die Außenwelt“ (a.a.O.78). Doch diese Eindeutigkeit der „Persona“ enthält die vielen in sich widersprüchlichen Elemente des gesamten Individuums bei weitem nicht. Die Ansprüche des Sozialisationsprozesses und des Individuationsprozesses klaffen auseinander. Nur Teile der gesamten Psyche des Menschen werden dem sozialen Umfeld präsentiert. Die anderen Teile müssen sozusagen im Inneren des Menschen „verharren“ und dürfen sein soziales Verhalten eigentlich nicht beeinflussen. Doch das Unbewusste erträgt, so Jung, eine solche Schwergewichtsverschiebung nicht so ohne weiteres. Die unbewussten Wünsche und Sehnsüchte, für deren symbolische Repräsentation Jung beim Manne die Begrifflichkeit „Anima“ und bei der Frau den Begriff „Animus“ verwendet, treten der „Persona“ gegenüber. All jene Faktoren und Persönlichkeitsanteile, die nach außen nicht präsentiert werden, „versammeln“ sich in der „Anima“/ dem „Animus“. In der Konsequenz ergibt sich ein Gegensatzspiel zwischen Innen und Außen, „das im Grunde genommen der Energetismus des Lebensprozesses ist, jene Gegensatzspannung, die der Selbstregulierung unerlässlich ist (a.a.O.82). In diesem Konflikt zwischen Innen und Außen, zwischen „Persona“ und „Anima“/„Animus“ kristallisiert sich im dementsprechenden Balanceprozess ein „Mittelpunkt“ heraus, den Jung als das „Selbst“ bezeichnet. Der Mensch kann sein „Selbst“, so Jung, empfinden und zwar als „etwas irrationalem, undefinierbar Seienden, dem das Ich nicht entgegensteht und nicht unterworfen ist, sondern abhängt, um welches es gewissermaßen rotiert, wie die Erde um die Sonne...“(a.a.O.124).
7.2 Selbsterkenntnis Das Ziel des Individuationsprozesses besteht nun in der Bewältigung des Balanceaktes zwischen „Persona“ und „Anima“/„Animus“ um sich einen emotionalen und kognitiven Zugang zum eigenen Selbst zu verschaffen. Dies kann als „Selbsterkenntnis“ bezeichnet werden und ist die Voraussetzung zur „Selbstverwirklichung“. Hinsichtlich dessen unterscheidet Jung den „introvertierten“ und den „extravertierten“ Typus. Der „Introvertierte“ entdeckt die unbewussten Persönlich-
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keitsanteile überwiegend in „selbst“ – reflexiven Prozessen, die sich beispielsweise auf eigene Sehnsüchte und Verhaltensweisen beziehen können, also in sich. Der „Extravertierte“ hingegen kann den Zugang zu unbewussten Inhalten eher innerhalb der „Projektionen“ in seinem jeweiligen Gegenüber erkennen (110). Im Prozess der „Projektion“ werden innere subjektive Vorgänge sozusagen aus der eigenen Psyche hinaus verlegt. Jung bezieht sich hier zunächst auf Anna Freud. Für sie ist Projektion ein Teil des intrapsychischen Angstabwehrprozesses. Anteile unserer Persönlichkeit, die wir nicht akzeptieren wollen und können, weil sie mit unserer „Persona“ nicht übereinstimmen, also nicht zum bewussten Bild passen, das wir uns von uns selbst machen, werden „verdrängt“ also aus dem Bewusstsein weggedrängt. Denn sie verursachen Angst, nämlich die, den Anforderungen unserer sozialen Umwelt nicht gewachsen zu sein, ihnen nicht zu entsprechen (vgl. Freud, A. 1936/1964). Diese nicht zur „Persona“ passenden Persönlichkeitsanteile bezeichnet Jung wiederum symbolisch mit einem Bild, nämlich dem „Schatten“. Diesen Schatten führt, so Jung, „jeder mit sich...“ als „ verborgenen Aspekt der Persönlichkeit, die zu jeder Stärke gehörende Schwäche“ (Jung, C.G. 2001 A: 60). Diesen „Schatten“ oder Teile davon, sehen wir – durch den Prozess der Projektion – nicht mehr als Teile unserer eigenen Psyche, sondern als Teile der Persönlichkeit im entsprechenden Gegenüber. Sie gehören also – so empfinden wir das – zum anderen Menschen, nicht zu uns selbst. Das nimmt uns die Angst, unsere Maske könnte verrutschen, unsere „Persona“ unglaubwürdig, unsere Schwächen offensichtlich und wir von unserem sozialen Umfeld nicht mehr akzeptiert werden. Die Angst davor wird also durch den beschriebenen Prozess der Projektion abgewehrt. C.G. Jung hat diesen Theorieansatz Anna Freuds noch erweitert. Nicht nur zur Angstabwehr erfolge Projektion. Er geht davon aus, dass Projektion in jeder zwischenmenschlichen Beziehung stattfindet und als völlig alltäglicher Prozess innerhalb der menschlichen Wirklichkeitsverarbeitung zu bewerten sei. Nicht nur nicht akzeptierte Anteile unserer Persönlichkeit, also Teile unseres „Schattens“ werden nach Jung zur Angstabwehr ins Gegenüber projiziert, sondern eine Übertragung nach außen erfolge auch bei vielen anderen Persönlichkeitsanteilen, Empfindungen und psychischen Vorgängen. Weil diese Prozesse gegenseitig sind, sieht unser Gegenüber auch Anteile seiner Persönlichkeit in uns. Für den extravertierten Typus, der sich weniger durch Selbstreflexionen als durch die Aufmerksamkeit nach außen, in diesem Falle auf sein Gegenüber auszeichnet, heißt das, dass er – wenn er das Prinzip der Projektion erfasst und verstanden hat – über die dem Gegenüber zugeschriebenen Persönlichkeitsanteile, Empfindungen und psychischen Vorgänge, Wege zur Erkenntnis des eigenen „Selbst“ finden kann.
7.4 Kultur- und Kunstprodukte: Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung
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7.3 Persönliche Entwicklung und sozialer Kontext Aber auch für Introvertierte gilt, dass die individuelle Entwicklung durch Übertragungsprozesse vor allem in intensiven zwischenmenschlichen Beziehungen auf Grund der besseren Möglichkeiten zur Selbsterkenntnis ergänzt wird: unbewusste Teile unserer Seele finden wir als Projektion im sozialen Gegenüber. „Der unbezogene Mensch hat keine Ganzheitlichkeit, denn er erreicht diese nur durch die Seele, die ihrerseits nicht sein kann ohne ihre andere Seite, welche sich stets im „Du“ findet“ (Jung, C.G. 2001 A: 83 f.).
Extreme „Individualisierung“, wenn sie zur Vereinzelung führt, steht somit paradoxer Weise der Selbsterkenntnis im Wege. Individuation als Herausentwicklung einer Ganzheit von Persönlichkeit, die sich aus ihrer maskenhaften, nur auf Fassade bedachten Einseitigkeit befreit, ist nur im sozialen Kontext möglich. Die Fassadenhaftigkeit hat ihren Ursprung im sozialen Kontext, in den Anforderungen der sozialen Umwelt und kann wiederum nur im sozialen Kontext, im Verschmelzen des Einzelnen mit Anderen, in sozialen Beziehungen überwunden werden. Durch Akzeptanz auch der „Schwächen“ des Gegenübers, die ja zu einem großen Teil die eigenen projizierten Persönlichkeitsanteile sind, können diese ins Bewusstsein integriert werden. Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung ist damit immer nicht nur ein individueller sondern vor allem auch ein sozialer Prozess. Soziale Arbeit bezieht sich auf solche sozialen Prozesse: Beides, Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung betreuter Akteure/-innen, sind Ziele einer ermöglichenden Sozialen Arbeit. Sie ermöglichen einen gelingenderen Alltag. Und reflektierte Agency – als Handlungsmächtigkeit im Rahmen sozialer Verantwortlichkeit – bezieht sich letztlich immer auf ein höheres Maß an Selbstverwirklichung von Individuen und Gemeinschaften innerhalb sozialer Prozesse (vgl. Kapitel 1).
7.4 Kultur- und Kunstprodukte: Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung Es geht also darum, betreuten Akteuren/-innen innerhalb Sozialer Arbeit ein mehr an Selbstverwirklichung zu ermöglichen und ihnen bei der Selbsterkenntnis begleitend zur Seite zu stehen, um ihnen unter anderem helfen, ihr eigenes Unbewusstes zunächst in zentralen Aspekten zu verstehen und zu akzeptieren.
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Die Ausdrucksformen des Unbewussten sind vielfältig. Bewusste und unbewusste Inhalte vermischen sich ohne dass wir dessen gewahr werden. Im Traum, auch in Tagträumen, finden wir viel an unbewussten Sehnsüchten, Wünschen, Ängsten, etc. Die Sprache des Traums wurde von einigen Tiefenpsychologen wie Freud, Jung oder Fromm untersucht, um deren Bedeutung zu verstehen. Trotz einiger Differenzen zwischen den dementsprechenden „Schulen“ – auf deren nähere Beleuchtung hier verzichtet wird – herrscht Einvernehmen darüber, dass die Sprache des Traums analogisch und metaphorisch ist. Ähnlichkeitscharakteristiken und bildliche Vergleiche, „Symbolisierungen“ von Objekten und Handlungen (vgl. Kapitel 4) kennzeichnen die Ausdrucksformen des Unbewussten. Fromm weist darauf hin, dass sich diese Sprache des Traums in Sagen und Märchen wiederfindet (vgl. Fromm, Erich 1981: 130-173). Ergänzen ließe sich dies noch durch Kunstproduktionen wie Malerei, Skulpturen, Musik etc. In diesen Kulturprodukten haben sich über die Entäußerungen der Phantasie der Erzählenden bzw. Produzierenden die Inhalte ihres unbewussten Seelenlebens in Analogien und Metaphern niedergeschlagen. Und über die Verflochtenheit der entsprechenden Produkte mit der jeweiligen Tradition sedimentieren sich 3 in ihnen auch immer Anteile des kollektiven Unbewussten . Die deutende Auseinandersetzung mit Kulturprodukten gestattet somit Einblicke in kollektive Anteile des Unbewussten, ermöglicht aber auch durch entsprechende Projektionen, den individuellen Anteilen des Unbewussten näher zu kommen. So kann die deutende Auseinandersetzung mit Kulturprodukten zur Selbsterkenntnis beitragen. Geht es um die Ermöglichung solcher Selbsterkenntnisprozesse bei betreuten Akteuren/-innen, sollten diese Deutungsprozesse von kompetenten Sozialpädagogen/-innen begleitet und unterstützt werden, die über das notwendige Deutungswissen bezüglich der Kulturprodukte an sich verfügen und Methoden zur Reflexion von Deutungsprozessen kennen und anwenden können (vgl. 3.3.4, S. 58). Es kann festgehalten werden, dass für die Entwicklung der Ressourcen betreuter Akteure/-innen Selbsterkenntnis durch deutende Auseinandersetzung mit Kulturprodukten und die dadurch ermöglichte intensivere Selbstverwirklichung eine große Rolle spielt. 3 In vielen literarischen Kunstwerken, der Bildhauerei, in tonalen und rhythmischen Strukturen der Musik, in der Formgebung und der Farbgestaltung der Malerei etc. wurden und werden mythische Stoffe verarbeitet. Deren „Rohmaterial“ sind wiederum tatsächliche Traditionen, aber auch historische Ereignisse, die - über Generationen hinweg überliefert und phantasiereich modifiziert – zum Mythos und damit auch zum symbolischen Ausdruck von Elementen des kollektiven Unbewussten wurden.
7.4 Kultur- und Kunstprodukte: Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung
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Einige Beispiele sollen das veranschaulichen: Es war bereits oben die Rede vom der Jung´schen Analogie des „Schatten“ , jenem „verborgenen Aspekt der Persönlichkeit, die zu jeder Stärke gehörende Schwäche“ (Jung, C. G. 2001 A: 60). Dieser „Schatten“ existiert – so Jung – nicht nur individuell als unbewusster Persönlichkeitsanteil, sondern auch als Teil des kollektiven Unbewussten. Symbolisiert wird dieser „kollektive Schatten“ oft in der Figur des „Trickster“, der in zahlreichen Komödien in Theaterstücken und Filmen eine große Rolle spielt. Es ist die Figur, die sich zunächst völlig adäquat verhält, all das verkörpert, was sich „nicht gehört“, was nicht zu unserer Fassade gehört uns aber dennoch innewohnt. Der Trickster macht allerhand „Blödsinn“, aber zum Schluss wendet sich alles wunderbar zum Guten und Sinnvollen. Darin verkörpert sich der Wunsch, die abgedrängten Persönlichkeitsanteile, all die kollektiven Tabus, kollektiven Ängste und Hoffnungen, die im Trickster stecken, letztlich doch annehmen zu können, weil sie in wunderbarer Weise zum Schluss zum Guten führen (vgl. Jung, C. G. 2001 E: 158-175). Die Betrachtung entsprechender Kunstproduktionen ermöglicht uns die Identifikation mit dem Trickster einerseits aber auch die Distanzierung von ihm. Auf jeden Fall setzen wir uns auf humorvoller Weise mit Anteilen unseres Schattens auseinander, können uns darin selbst erkennen – also ein Schritt in Richtung Selbsterkenntnis.
Ein zweites Beispiel: Wie ebenfalls oben bereits kurz angedeutet verwendet Jung für die symbolische Repräsentation der unbewussten Wünsche und Sehnsüchte, beim Manne die Begrifflichkeit „Anima“ und bei der Frau den Begriff „Animus“. Dazu gehören auch erotische Phantasien. Die Anima kommt in der Kunst und der Literatur oft als Nixe, als schöne aber unerreichbare Frau, als „Primavera“ o.ä. vor. Animuscharakter tragen „Helden“, jugendliche Liebhaber, souveräne, erfolgreiche Männer u.ä. Die Auseinandersetzung mit erotischen Sehnsüchten, Bedürfnissen und Phantasien wird allerdings – wenn auch nicht in der drastischen Weise wie dies noch zu Sigmund Freuds Zeit der Fall war – immer noch stark tabuisiert. Kunstwerke, die solche Tabus in Ansätzen brechen oder gebrochen haben, wie z.B. von Otto Schiele oder Artimsia Gentileschi werden nicht selten als unanständig oder anstößig diskriminiert und häufig erst nach dem Tode des Künstlers oder der Künstlerin geachtet und gewürdigt.
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Nichtsdestotrotz kann die Auseinandersetzung mit dementsprechenden Kunstwerken Spuren zum Unbewussten legen und durch Akzeptanz erotischer Phantasien zu mehr Ganzheitlichkeit des Individuums beitragen. Das soll nicht bedeuten, dass alle entsprechenden Phantasien ausgelebt werden müssen, sondern dass deren Akzeptanz als Teil des eigenen Selbst Verhaltensweisen, die aus dem Drängen der Anima herrühren, erklärbar machen: auch dies ein wesentlicher Schritt der Selbsterkenntnis. Jung schreibt dazu: „... gerade das Unerwartete, das beängstigend Chaotische enthüllt tiefen Sinn. Und je mehr Sinn erkannt wird, desto mehr verliert die Anima ihren drängerischen und zwängerischen Charakter. Es entstehen allmählich Dämme gegen die Flut des Chaos (Jung, C. G. 2001 E: 41f.) Zusammenfassend kann konstatiert werden: Es geht darum, betreuten Akteuren/-innen bei Selbsterkenntnisprozessen durch die deutende Auseinandersetzung mit Kulturprodukten zu unterstützen und Gelegenheiten zu schaffen, innerhalb derer solche Prozesse ermöglicht werden können: Durch das dadurch erhöhte Maß an Selbsterkenntnis werden
Voraussetzungen für die Integration unterschiedlicher Persönlichkeitsanteile geschaffen, ein mehr an Selbstverwirklichung ermöglicht – auch außerhalb rein zweckrationaler Betrachtung und entfremdeter Produktion, der Zugang zu essentiellen Kraftquellen menschlicher Existenz eröffnet.
Insofern ist auch dies eine wichtige Perspektive einer Sozialen Arbeit der Ermöglichung.
7.5 Phantasie als Ressource
Aus dem oben Erörterten wird deutlich, dass dort, wo es um unbewusste Bereiche geht, das rein rationale, logische Denken unserer Zeit nicht ausreicht. Viel mehr empfiehlt sich ein Denken, indem wir unsere Gedanken nicht auf bestimmte Geleise zwingen, sondern sie schweben lassen, sie „sinken und steigen nach ihrer eigenen Schwere“ (Jung, C. G. 2001 D: 31).
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Ein solches Denken vollzieht sich in der Regel nicht in Sprachform, sondern in Bildern: es führt weg von der Realität und hinein in Phantasien, die aus der Vergangenheit herrühren und in die Zukunft hineinragen. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird diese Art des Denkens oft als „vor sich hin träumen“ bezeichnet. Es ist eine Art des Denkens, das in der Antike zur Schaffung von Mythologie geführt hat. „Hier bewegen wir uns ... in einer Welt von Phantasien, die, wenig bekümmert um den äußeren Gang der Dinge, aus einer inneren Quelle fließen und wechselvolle, bald plastische, bald schemenhafte Gestalten erzeugen. Diese phantastische Tätigkeit des antiken Geistes schaffte künstlerisch per excellence“ (Jung, C. G. 2001 D: 35f.).
Solche Mythen und Märchen können die „träumerische“ Phantasie beflügeln, und zwar auf ganz besondere Art und Weise. Denn nicht irgendwelche beliebigen Berichte alter Ereignisse haben sich in Mythen fortgepflanzt, sondern lediglich solche Geschichten, in denen „allgemeine und immer wieder aufs neue sich wieder verjüngende Gedanken der Menschheit“ (a.a.O. 45) thematisiert werden. Die bewussten Phantasien erzählen uns...an einem mythischen Stoffe... von noch nicht oder nicht mehr anerkannten Wunschtendenzen der Seele (a.a.O. 46). Solche Phantasien können Sinnstiftungsprozesse generieren, die neue Perspektiven erkennen lassen.
7.5.1 Phantasie, Interpretation und Sinnerschließung Für dementsprechende Sinnstiftungsprozesse dienliche Phantasien können beispielsweise durch das Lesen und Interpretieren von Gedichten angeregt werden. Denn Lyrik schließt sehr häufig an jene mythischen Stoffe an, die von „Wunschtendenzen der Seele“ erzählen, von denen C. G. Jung spricht. Angebote gemeinsamer Lyrikinterpretationen („Literaturcafé“) können z.B. in der Offenen Jugendarbeit, im Rahmen einer sozialen Kulturarbeit oder innerhalb der Erwachsenenbildung eine ressourcenorientierte Soziale Arbeit bereichern. Unterschiedliche Interpretationsansätze können sich aus der Sichtweise der jeweils Einzelnen ergeben und dann in der Gruppe diskutiert werden. Vielfältige Assoziationen der betreuten Akteure/-innen aus ihren Biografien, ihren aktuellen Lebenssituationen und ihren unterschiedlichen Erfahrungsbereichen können hierbei einfließen und thematisiert werden.
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Als Beispiel einer solchen phantasieanregenden Lyrikinterpretation soll im Folgenden ein denkbarer Interpretationsansatz zu einem Gedicht des großen Meisters Friedrich Hölderlin entwickelt werden. Exemplarisch soll hierbei deutlich werden, wie eine Lyrikinterpretation mit Assoziationen zu Texten aus der populären Musik Sinnzusammenhänge erschließen kann. In diesem Beispiel können die erschlossenen Sinnstrukturen dazu beitragen, Zeitdruck und Stress besser zu bewältigen. Hier das Gedicht: Oft verlor ich, da mit trunknen Tränen Liebend, wie nach langer Irre sich In den Ozean die Ströme sehnen Schöne Welt! in deiner Fülle mich; Ach! da stürzt´ ich mit den Wesen allen, Freudig aus der Einsamkeit der Zeit Wie ein Pilger in des Vaters Hallen In die Arme der Unendlichkeit ... Zunächst wird die leidenschaftliche, gefühlsbeladene Liebe angesprochen: trunkene Tränen als Symbol für Freude, Trauer, aber auch ein eher verschwommener Blick. Es ist die Liebe in die Fülle einer schönen Welt: die Vielfalt, die Vielfältigkeit der Schönheit in Natur und Kultur. Aber wie die Flüsse mäandernd durch die Schönheit von Landschaften fließen und dabei scheinbar die Orientierung verlieren und immer wieder ihre Richtung ändern, verliert auch der Dichter sich in der Liebe, in der Vielfältigkeit des Seins. Das entspricht der These Jungs, dass der Weg zu sich selbst, zur Verwirklichung seines Selbst, nicht ein geradewegs auf das Ziel hin gerichteter ist, sondern eher einer „via lunghissima“ – einer sich in endlos scheinenden Serpentinen die Berge hoch schlängelnden Strasse in den italienischen Apenninen – gleicht. (vgl. Jung, C. G. 2001 C 1932: 101). Dann wird die Sehnsucht angesprochen, nach langem hin- und her „Irren“ endlich doch ein fernes Ziel zu erreichen. Symbol dafür ist der scheinbar unendliche Wassermassen bergende Ozean. Die Flüsse sehnen sich, nach langem Hin und Her in der Fülle der Welt nach der Fülle der Wassermassen im Meer. Das Ziel der Sehnsucht ist eine sich bewegende und doch auch stille Unendlichkeit. Liebe zur Fülle, Sehnsucht nach Unendlichkeit. Verloren, orientierungs-
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los, aber auch aufgehoben in der unendlich scheinenden Vielfalt, die aber, wie das unterschiedliche Wasser der Flüsse, sich zu einer Einheit vermischt. Auch die Pilger zu den heiligen Orten begeben sich in dieses Gefühl, in „die Arme“ der Unendlichkeit: Es ist die Hetze der Zeit, der sie entfliehen. Der Zeitdruck, der Druck Termine zu vereinbaren, keine Zeit für sich und andere zu haben, das ist die Einsamkeit der Zeit. Der Wunsch besteht, sich zunächst in der Fülle der Vielfältigkeit zu verlieren, die Sehnsucht, sich im Ozean der Zeit zu verlieren und zu sich und anderen in der Verschmelzung mit anderen in dieser Unendlichkeit zu finden. Das erinnert an einen Song von Eric Burdon: .... my life is an ocean of time there is time for everything time to love time to live ... for everything ... you live against time! I have time to live ... Auch hier finden wir die Sehnsucht, zeitlichen Begrenztheiten die Fülle der Zeit gegenüberzustellen. Bei Hölderlin dient dies sogar dazu, letztlich durch das gemeinsame Aufgehen – in der Verschmelzung der Vielfalt – in der Unendlichkeit, die Einsamkeit zu überwinden. Darüber lassen sich Wünsche und Sehnsüchte, die sicherlich in fast allen vornehmlich in unserer von Individualisierungsdruck geprägten und zeitlich völlig durchorganisierten Informationsgesellschaft lebenden Menschen latent vorhanden sind, bewusst machen. Es eröffnet sich dadurch die Möglichkeit, in einer die Phantasie beflügelnden Weise darüber zu sprechen und zu „philosophieren“. Es können weitere Phantasiebilder, auch Musik, eingesetzt werden, um eine „adäquate“ Stimmung zu erzeugen, die erlaubt, Phantasien zum Überwinden von Zeitdruck und Stress zu entwickeln. Die Lebensenergie oder auch – tiefenpsychologisch gesehen die „LibidoEnergie“ – die Kraft, sich und andere zu lieben, bleibt hier erhalten durch einen phantasievollen Umgang mit zeitlicher Begrenzung und Stress, durch ein Gefühl einerseits des „Verlorenseins“ in der Fülle der Möglichkeiten, Chancen und
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Gefahren, in der Vielfältigkeit menschlicher Existenz und andererseits des „Geborgenseins“ in der Unendlichkeit der Zeit aber auch der vernetzten und verschmolzenen Elemente innerhalb eines unüberblickbaren komplexen Ganzen. Damit sind wir am Ende der exemplarischen Interpretation. Es wurde deutlich, dass durch solche Interpretationen die Phantasie angeregt werden kann, vieles „in einem neuen Licht“ erscheint und sich neue Sinnhorizonte erschließen lassen. Das Wahrgenommene wird mit Hilfe der Phantasie vielfältig kombiniert. Dadurch werden vielfältige Deutungsmöglichkeiten generiert. Neue Gestaltungs-, Bewältigungs- und Lösungsmöglichkeiten werden für die betreuten Akteure/-innen sichtbar, neue Handlungsmöglichkeiten ergeben sich. Zusammengefasst kann konstatiert werden, dass durch die Anregung von Phantasie die betreuten Akteure/-innen in die Lage versetzt werden können, für Alltagssituationen neue Sinnstrukturen zu entwickeln. Das befähigt sie wiederum, ihre Handlungsweisen jeweils in Richtung der Verwirklichung des eigenen Weges zur persönlichen Entwicklung auszurichten. Das ist der Sinn einer reflektierten Agency, wie dies im ersten Kapitel dieser Abhandlung dargestellt wurde.
7.5.2 Emotionale Prozesse als Stimuli für schöpferische Phantasie Neben der Entwicklung neuer Sinnstrukturen durch die Anregung von Phantasie spielt für die betreuten Akteure/-innen die Auseinandersetzung mit Emotionen eine wichtige Rolle. Zentrale emotionalen Prozesse liefern wichtige Stimuli für schöpferische Phantasie, die – wie wiederholt belegt – neue Wege und Möglichkeiten generieren hilft und damit Auswege aus krisenhaften Situationen ermöglicht und gelingenderen Alltag zu verwirklichen hilft. Exemplarisch soll dies an den Gefühlen von Liebe und Leidenschaft gezeigt werden. Eine Auseinandersetzung über persönliche Gefühle, wie zum Beispiel über Liebe und Leidenschaft kann in persönlichen Beratungsgesprächen in der Dyade zwischen professionellen und betreuten Akteure/-innen in der Sozialen Arbeit erfolgen oder auch im Rahmen künstlerischer Angebote innerhalb der Jugendkulturarbeit, der Sozialen Kulturarbeit im Gemeinwesen etc. Hierbei können etwa zeitgenössische Gemälde oder solche aus der modernen Klassik, die diese Thematik symbolisieren, Fotos dazu – beispielsweise in Jugendzeitschriften oder in Modemagazinen – Songtexte aus der Rockmusik, Raptexte, Opernlibretti (vgl. Kosuch, M. 2007:11-30) und vieles andere mehr betrachtet, gehört, interpretiert und diskutiert werden. Die zentrale Symbolik für das Gefühl der Liebe ist nach Jung die Sonne und das Feuer: „befruchtende Kraft und Hitze sind Attribute der Libido (Jung, C. G. 2001 D: 96).
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Die damit in Verbindung stehende Leidenschaft, die unter Umständen auch vernünftige normative Schranken niederwirft, kann in Analogie zu den Schrecken der entfesselten Naturgewalten gesehen werden. Insofern kommen hier Symbole wie „das Meer und die Gewässer der Tiefe und die Regenfluten, welche die erzeugenden `mütterlichen´ waren“ (a.a.O.113) zum Tragen. Sexualität und Liebe, Liebe und Leidenschaft können also wärmen und befruchten, sie können aber auch verbrennen und zerstören, das sind sehr fundamentale Erfahrungen der Menschheit. Daher rühren die Versuche, durch kulturelle und sozial-normative Entwicklungen die damit verbundene Energie in nicht verbrennender und nicht zerstörender Weise zu nutzen. Eine Analogie dazu wäre die Nutzung elektrischer Energie bei kontrollierter Spannung und Stromstärke. Bei einem Kurzschluss gerät vorübergehend die kontrollierte Spannung „aus den Fugen“: bei unzureichender Sicherung kann dies durch Kabelbrände zu verheerender Zerstörung führen. Das wäre analog die aufbegehrende Leidenschaft, die sich durch kulturelle und gesellschaftliche Regelwerke – nur einigermaßen, aber nicht vollständig – regulieren lässt. Unsere Kultur und Zivilisation zeichnet sich u. a. durch ausgeklügelte soziale und kulturelle Gesetze und Systeme aus, zu denen auch die religiösen Vorgaben gehören. Viele davon sollen Libido-Energie „dosieren“ und regulieren, um den alles verbrennenden und vernichtenden Ausbruch „tierischer“ Leidenschaft zu verhindern. Diese Kontrollsysteme gehen freilich manchmal soweit, dass sie – anlog zu einem viel zu starken Widerstand in einem Stromkreis – die Libido-Energie zu „ersticken“ drohen, die sich dann allerdings, wie wir seit Freud wissen, in unguter Weise anders Bahn brechen kann. Den Weg der Zivilisation zur „Triebregulierung“ beschreibt Norbert Elias (1939, 1992) und verweist auf die gleichzeitig permanent zunehmenden Individualisierungstendenzen. C.G. Jung setzt sich damit ebenfalls auseinander und beschreibt diesen Weg so: „…die Sexualität wurde ihrer ursprünglichen Bestimmung entkleidet und als Partialbetrag zum phylogenetisch sich allmählich steigernden Betriebe der Anlockungsund Brutschutzmechanismen verwendet. Diese Überweisung von Sexuallibido aus dem Sexualgebiet sensa strictiori an Nebenfunktionen findet noch immer statt“ (Jung, C. G. 2001 D 141).
Wo diese Operation ohne Nachteil für die Anpassung des Individuums gelinge, spreche man von Sublimierung, wo der Versuch misslinge, von Verdrängung (vgl. a.a.O.141f.).
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„Es scheint so, als ob auf (dem) Wege phantastischer Analogiebildungen immer mehr Libido desexualisiert wurde, indem zunehmend Phantasiekorrelate für die primitiven Verrichtungen der Sexual-Libido eingesetzt werden“(a.a.O.146).
Bei der Auseinandersetzung mit befriedigender Sexualität geht es somit auch um die Balance von genuin sexuellen Möglichkeiten und Notwendigkeiten auf der einen Seite sowie um diejenigen zu deren Sublimierung auf der anderen. Es geht in einer ermöglichenden ressourcenorientierten Sozialen Arbeit darum, den betreuten Adressaten/-innen gemäße Sublimierungsmöglichkeiten zu entwickeln. Es sollten Gelegenheiten geschaffen werden, die Sublimierungsmöglichkeiten wie z.B. Selbstverwirklichung durch Kunst oder Musik, durch Körpererfahrung etc. herzustellen, um damit die betreuten Akteuren/-innen zu ihrer eigenen Selbstverwirklichung zu „bemächtigen“. Damit sind wir wieder bei unserem zentralen Thema „Agency“. Denn durch Bemächtigung zur Selbstverwirklichung, durch die Verstärkung von Handlungsmacht dazu, werden die ureigenen Kraftquellen der betreuten Akteure/-innen freigesetzt und verstärkt. Dazu gehört auch, dass zu rigide normative Vorgaben einer kritischen Reflexion unterzogen werden sollten: die Versuche der Regulierung „tierischer“ Leidenschaft haben sich teilweise zur Unterdrückung von Sexualität schlechthin entwickelt: Aus Angst vor der Gewalt der entfesselten Leidenschaft, die Gesetze und damit auch Macht(-haber) überrollen könnte. Wärmen ohne zu verbrennen, befruchten – auch gedanklich durch Sublimation – ohne zu zerstören: schwierige Balanceakte, die sozial und kulturell unterstützt aber auch gehemmt werden, die aber beim Finden einer befriedigenden Zukunft, einem gelingenderen Alltag, eine zentrale Rolle spielen. Mit dem Finden solcher Balancen, mit der Leidenschaft, mit Sexualität und Liebe, setzen sich zahlreiche Gedichte, Romane, Dramen, Musikstücke, Kunstwerke aus Malerei und Bildhauerei, Filme, kurz: sämtliche Arten künstlerischer Produkte auseinander. Die Auseinandersetzung mit ihnen im Rahmen entsprechender Projekte und Angebote Sozialer Arbeit kann den jeweils individuellen, aber sozial und kulturell vermittelten Balanceakt bei den betreuten Akteuren/-innen unterstützen. Zielgerichtetes und träumerisches Denken können sich dabei ergänzen. 7.5.3 Mit Phantasie den richtigen Entwicklungsweg finden Die Anregung schöpferischer Phantasie bei den betreuten Akteuren/-innen kann, so wurde deutlich, diesen dabei helfen, Mittel und Wege zu finden, die eigenen – teilweise auch im Verborgenen schlummernden – Wünsche (vgl. 3.2.5, S. 42) zu
7.5 Phantasie als Ressource
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verwirklichen. Das ist die beste Möglichkeit, eine lang anhaltende Motivation für zielgerichtetes Handeln zu erlangen und bildet damit eine gute Grundlage für Agency. Phantasie hilft den betreuten Akteuren/-innen einen ihrer Persönlichkeit entsprechenden Weg zur Verwirklichung ihrer Wünsche zu finden. So können ihre persönlichen Ressourcen zum Tragen kommen, da sie auf diese Weise in den entsprechenden Aktivitäten voll aufgehen können. Freude und Kreativität kennzeichnen solche Prozesse (vgl. dazu auch Csikszentmihalyi, M. 1993: 11, 61 ff). Um aus sich selbst resultierende und sich selbst gesetzte Ziele auf diesem Wege zu erreichen, müssen wenig unbewusste Hemmnisse überwunden werden, da die Unbewusstes und Bewusstes integrierenden Zielvorstellungen kaum Bedrohliches für das Selbst enthalten. Dadurch kann sich ein stärkeres, sichereres Selbst entwickeln. Wenn Menschen ihre Ziele selbst im Rahmen des von ihnen gefundenen und beschrittenen Entwicklungsweges bestimmen können, werden psychische Energien freigesetzt, handlungsrelevante Ressourcen mobilisiert und stabilisiert. Der Verwirklichung eigener Vorstellungen der betreuten Akteure/-innen stehen häufig vermeintlich „objektive“ Sachzwänge im Wege. Hier sollten die professionellen Akteure einer ermöglichenden ressourcenorientierten Sozialen Arbeit gemeinsam mit den betreuten Akteuren/-innen klären, woher diese Zwänge rühren, und welche jeweiligen Teilschritte unternommen werden können, um Hindernisse sukzessive aus dem Weg zu räumen (vgl. auch Teilzielentwicklung 6.5.4, S. 131f.) Wenn der Entwicklungsweg „richtig“ ist, also der eigenen Persönlichkeit entspricht, ist bei den betreuten Akteuren/-innen in der Regel genügend Motivation dazu vorhanden. Für in der Sozialen Arbeit Tätige heißt dies, ohne das berühmte „Messer im Kopf“, also ohne gleich an einengende Sachzwänge zu denken, die von den betreuten Akteuren/-innen vorgetragenen Wünsche und Sehnsüchte mit ihnen zusammen in reale Handlungsmöglichkeiten zu übertragen. Das ergänzt sich dann mit der Perspektivensuche, wie dies im Zusammenhang mit lösungsorientierten Ansätzen De Shazers herausentwickelt wurde (vgl. 6.5.4, S. 131f.). Die bewusste Perspektivenentwicklung, wie dies De Shazer beschreibt, sollte durch die Berücksichtigung der im Unbewussten schlummernden Sehnsüchte ergänzt werden, auch wenn dies nur in begrenztem Umfang möglich ist. Hierbei lassen sich ergänzend, wie oben am Beispiel der Interpretation von lyrischen Texten beschrieben, Methoden aus einer ästhetischen Praxis in der Sozialer Arbeit integrieren (vgl. Glöckler, U. 1999: 262-264; Glöckler, U. 2000: 25-27; Jäger, J./ Kuckhermann, R.: 2004; Krieger, W./ Marquardt, P.: 2007).
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7 Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung
Für die in der Sozialen Arbeit Tätigen ist es also von zentraler Bedeutung, zunächst den der jeweiligen Persönlichkeit der von ihnen betreuten Akteure/ -innen entsprechenden Entwicklungsweg herauszuarbeiten. Dabei versteht es sich von selbst, dass von vorschnellen Interpretationen, schematischen Rezepten, standardisierten Hilfeplänen und stigmatisierenden Diagnoseverfahren abgesehen werden muss (vgl. Herriger, N. 2006: 70 ff). Es geht dann, wenn sich ein Weg abzeichnet, darum, spezifische Wahrnehmung und Wirklichkeitsverarbeitung der betreuten Akteure/-innen in der Sozialen Arbeit begreifend, Symbole, medial vermittelte und unmittelbare Erfahrungen im Alltag einbeziehend, in Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung liegende Ressourcen zu mobilisieren und zu stabilisieren, um sie stark genug zu machen, ihren Weg selbständig und selbstbestimmt gehen zu können.
8 Resümee: Agency durch selbstreflexive Ressourcenaktivierung – Perspektiven der Gestaltung einer Sozialen Arbeit der Ermöglichung 8 Resümee: Agency durch selbstreflexive Ressourcenaktivierung Es wurde in dieser Abhandlung deutlich, dass eine Soziale Arbeit aus AgencyPerspektiven Kraftquellen des Gelingens, also Ressourcenpotentiale bei den von ihr betreuten Akteuren/-innen mobilisiert, fördert und stabilisiert und dadurch zu aktiver Selbstgestaltung dieser Akteure/-innen beiträgt. Ausgehend von der Erläuterung und Reflexion von Agency als Ausgangspunkt einer ermöglichenden Sozialen Arbeit wurden unterschiedliche AgencyPerspektiven entfaltet. Dabei wurde ein Bogen geschlagen von der Erfahrungsreflexion über die Wahrnehmung und Aneignung von Wirklichkeit, dem Umgang mit Symbolen, der Bedeutung spezifischer Klassifizierungsprozesse bei unmittelbarem Erleben und medial vermittelten Erfahrungen, dem Alltagshandeln in seiner Beziehung zur Wirklichkeitsverarbeitung bis hin zu den Prozessen von Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung. Dabei ging es immer darum, innerhalb dieser Prozesse Potenziale der Ressourcenmobilisierung und -stabilisierung herauszuarbeiten. Diese Abhandlung soll also dazu beitragen, den professionellen Akteuren/ -innen in der Sozialen Arbeit und denen, die dies anstreben, theoretische Instrumente an die Hand zu geben, Ressourcenpotenziale aus der Sichtweise der betreuten Akteure/-innen zu erkennen und diese zu befähigen, selbst Aktivitäten zu ihrer Ressourcenmobilisierung und -stabilisierung zu entfalten. Die Selbstdeutungen der durch die Soziale Arbeit betreuten Akteure/-innen sollen dabei weder verkürzt noch stigmatisiert werden. Letztere sollen vielmehr befähigt werden, im Sinne einer Steigerung reflektierter Agency eigene Ressourcen zu erkennen, zu mobilisieren, zu stabilisieren und zielgerichtet einzusetzen. Insofern ist dies eine Abhandlung über handlungsbezogene Theorieansätze. Neben den zahlreichen Beiträgen der theoretischen Fachdiskussion zum Disziplinwissen, soll hiermit ein Beitrag zur Bereicherung theoretischen sozialpädagogischen Handlungswissens geleistet werden. Dieses soll den neuen Anforderungen an Soziale Arbeit vor allem im Bereich der präventiven Aspekte Rechnung tragen.
U. Glöckler, Soziale Arbeit der Ermöglichung, DOI 10.1007/978-3-531-93120-3_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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8 Resümee: Agency durch selbstreflexive Ressourcenaktivierung
Da bei allen vorgestellten Prozessen, sei es beim Bewerten, Deuten, Klassifizieren, beim Umgang mit Symbolen, bei der Rezeption medialer Produkte, im unhinterfragten Alltag oder in Prozessen der Selbsterkenntnis und der Selbstverwirklichung individuelle und intersubjektive Elemente zusammenwirken, wird auch ein Licht auf die spezifische Professionalität Sozialer Arbeit gerichtet, nämlich der stets gleichzeitigen Berücksichtigung individueller Prägungen und sozialer Gegebenheiten. Es mag zwar unter Umständen zunächst der Eindruck entstehen, dass die hier explizierten Theorien nur auf der Ebene individueller Fallarbeit anwendbar sind. Aber die Kenntnis spezifischer Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsverarbeitungsprozesse hilft nicht nur bei der fallspezifischen Bearbeitung von Problemlagen, sondern beispielsweise auch bei der Moderation von Diskussionsprozessen im Rahmen einer katalytisch-aktivierenden Stadtteilarbeit. Die Herausarbeitung von Zielen und Perspektiven aus dem gelebten Alltag heraus kann sowohl innerhalb einer lösungsorientierten Beratung als auch bei der Strategieentwicklung im Rahmen eines Quartiersmanagements eine wichtige Rolle spielen. Umdeutungsprozesse mit Hilfe von Symbolen können nicht nur in der dyadischen Beratungsarbeit, sondern sie können auch in der motivierenden Diskussion mit einer festgefahrenen Initiativgruppe im Stadtteilzentrum, Bürgerhaus, Kulturladen o.ä. eine entscheidende Rolle spielen. Selbsterkenntnis kann nicht nur in der Arbeit mit Einzelnen, beispielsweise im Rahmen einer Erziehungsberatung eine entscheidende Rolle spielen, sondern die Selbsterkenntnis einzelner Gruppenmitglieder kann auch gruppendynamische Prozesse positiv beeinflussen. Die Freisetzung von Selbstverwirklichungsmöglichkeiten kann selbstverständlich in der Jugendberatung mit einzelnen Jugendlichen ein wichtiges Ziel darstellen, sie kann aber auch im Rahmen einer integrierenden Gemeinwesenarbeit Grundlage gemeinsamer Aktivitäten bilden. Resümierend kann also festgehalten werden, dass die hier bearbeiteten Theorieansätze einer Sozialen Arbeit der Ermöglichung in allen Handlungsfeldern der komplexen und ausdifferenzierten Profession Anwendung finden können: Sei es in dyadischen Beratungsprozessen im Rahmen der Erziehungsberatung, sei es in der Arbeit mit Gruppen in der offenen Jugendarbeit, sei es bei Aktivierungsprozessen im Stadtteil oder Wohnblock – die Liste ließe sich beliebig verlängern. So komplex und differenziert die Handlungsfelder der Profession sind, ihr aktuelles professionelles Handeln begründendes und reflektierendes Theoriegebäude muss heute stark ermöglichende Elemente enthalten: an Agency orientiert, Selbstreflexion der Akteure/-innen fördernd, Ressourcenpotentiale erkennend, zu deren Aktivierung, Weiterentwicklung und Stabilisierung beitragend.
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