Michael Schabdach Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums und Soziale Arbeit
Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit...
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Michael Schabdach Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums und Soziale Arbeit
Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit Band 7 Herausgegeben von: Roland Anhorn Frank Bettinger Henning Schmidt-Semisch Johannes Stehr
In der Reihe erscheinen Beiträge, deren Anliegen es ist, eine Perspektive kritischer Sozialer Arbeit zu entwickeln bzw. einzunehmen. „Kritische Soziale Arbeit“ ist als ein Projekt zu verstehen, in dem es darum geht, den Gegenstand und die Aufgaben Sozialer Arbeit eigenständig zu benennen und Soziale Arbeit in den gesellschaftspolitischen Kontext von sozialer Ungleichheit und sozialer Ausschließung zu stellen. In der theoretischen Ausrichtung wie auch im praktischen Handeln steht eine kritische Soziale Arbeit vor der Aufgabe, sich selbst in diesem Kontext zu begreifen und die eigenen Macht-, Herrschafts- und Ausschließungsanteile zu reflektieren. Die Beiträge in dieser Reihe orientieren sich an der Analyse und Kritik ordnungstheoretischer Entwürfe und ordnungspolitischer Problemlösungen – mit der Zielsetzung, unterdrückende, ausschließende und verdinglichende Diskurse und Praktiken gegen eine reflexive Soziale Arbeit auszutauschen, die sich der Widersprüche ihrer Praxis bewusst ist, diese benennt und nach Wegen sucht, innerhalb dieser Widersprüche das eigene Handeln auf die Ermöglichung einer autonomen Lebenspraxis der Subjekte zu orientieren.
Michael Schabdach
Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums und Soziale Arbeit Historische Dimensionen und aktuelle Entwicklungen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. . 1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Monika Mülhausen VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16752-7
Für Christina
Inhalt
1 Einleitung: Fragestellung und theoretische Grundlagen ......................... 11 1.1 Drogenkonsum und Sucht in einer wissenssoziologischen Perspektive ............................................. 11 1.2 Problemmuster und Institutionen des Drogenkonsums ............................ 21 1.3 Fragestellung und Aufbau der Arbeit ....................................................... 29 2 Drogenkonsum und soziale Kontrolle im Mittelalter und früher Neuzeit .............................................................. 33 2.1 Alkoholkonsum und gesellschaftliche Reaktion im Mittelalter ............... 33 2.1.1 Der Mensch des Mittelalters ........................................................ 33 2.1.2 Alkoholkonsum im Mittelalter...................................................... 34 2.2 Alkoholkonsum und gesellschaftliche Reaktion in der frühen Neuzeit ... 37 2.2.1 Die Rationalisierung der Lebensführung ..................................... 37 2.2.2 Der Bedeutungswandel des Alkoholkonsums in der Neuzeit ...... 40 2.2.3 Die Sozialdisziplinierung im monarchischen Absolutismus ........ 47 3 Die Konstruktion von Sucht als Krankheit im medizinisch-psychiatrischen Diskurs der Moderne ............................. 55 4 Die Erfindung des Sozialen .......................................................................... 63 4.1 Die Etablierung der liberalen Bürgergesellschaft und ihre Probleme ...... 63 4.2 Die wohlfahrtsstaatliche Regulation sozialer Ordnung ............................ 66 4.3 Behandlung und Resozialisierung als Ideal der Politik sozialer Probleme ..................................................... 71 5 Drogenkonsum und soziale Kontrolle im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts ................................................... 79 5.1 Kontingenzmanagement und Kontingenzbewältigung als differente Konzepte des Umgangs mit Unsicherheit .......................... 79
8
Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums 5.2 Zur Ätiologie der Suchtkrankheit: Drogen- und Suchtsemantik ............. 81 5.3 Zur Konstruktion des Alkohol- und Drogenproblems im 19. und 20. Jahrhundert ...................................................................... 90 5.3.1 Soziale Probleme als soziale Konstruktionen .............................. 90 5.3.2 Alkoholkonsum als soziales Problem im Prozess der Industrialisierung ................................................. 95
Exkurs I:
Die Entdeckung des „abweichenden“ Jugendlichen als Triebfeder der institutionellen Sozialpädagogik ................... 105
5.3.3 Drogenkonsum als soziales Problem im Verlauf des 20. Jahrhunderts ................................................. 115 6 Der Niedergang des Rehabilitationsideals seit den 1970er Jahren ......... 131 6.1 „Nothing works“: Kritik an Effektivität und Effizienz der wohlfahrtsstaatlichen Professionen und ihrer Interventionskonzepte .................... 133 6.2 Von der traditionellen zur kritischen Kriminologie ............................... 138 6.2.1 Die Entzauberung des „Kriminellen“ durch die Kritische Kriminologie ............................................... 138 6.2.2 Kritische Drogenforschung als moralische Unternehmer .......... 141 6.2.3 Drogenkonsum als Karriere ........................................................ 145 Exkurs II:
Die Reproduktion des Drogensystems durch Kriminalisierung und Drogenforschung .......................... 157
6.3 Die „Verflüssigung“ eindeutiger Normalitätsstandards infolge soziokultureller und ökonomischer Transformationsprozesse ............... 162 7 Die Restrukturierung des Sozialen durch neoliberale Rationalitäten.... 169 7.1 Egalitarismus und die Moral der Bereitwilligkeit .................................. 169 7.2 Von der sozialen zur versicherungsmathematischen Gerechtigkeit ....... 172 7.2.1 Vom „Welfare“- zum „Workfare-Staat“ ..................................... 174 7.2.2 Vom kurativen zum präventiven Verständnis wohlfahrtsstaatlicher Interventionen: das Beispiel „Gesundheitspolitik“ .... 175 7.3 Die Gesellschaft der Unternehmer ........................................................ 181
Inhalt
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8 Drogenkonsum und soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert ..................... 187 8.1 Die Spaltung des kriminologischen Diskurses: „criminology of the self“ vs. „criminology of the other“ ....................... 187 8.2 Aids und Ecstasy als Impuls für einen partiellen Wandel der deutschen Drogenpolitik .................................... 193 8.3 Drogenkonsum und soziale Kontrolle zwischen Risikomanagement und punitiver Segregation ...................................... 202 8.3.1 Suchtprävention – ein Ende der sozialen Kontrolle? .................. 202 8.3.2 Punitive Strategien der Drogenkontrolle .................................... 216 8.3.3 Erklärungsmodelle für die Ausweitung einer Politik der Exklusion ........................................................ 222 8.3.4 Akzeptierende Drogenarbeit als Bestandteil spätmoderner Kontrollpolitik...................................................... 245 9 Schlussbetrachtung: Plädoyer für eine kritisch-reflexive Soziale Arbeit ................................................................ 249 Abkürzungsverzeichnis .................................................................................. 259 Literatur .......................................................................................................... 261
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Einleitung: Fragestellung und theoretische Grundagen
1.1
Drogenkonsum und Sucht in einer wissenssoziologischen Perspektive „In den letzten Jahren hat sich der illegale Konsum von Drogen (...) zu einem der dringendsten gesellschaftlichen Probleme entwickelt. Ein Problem, das nicht auf bestimmte Gesellschaften oder soziale Schichten beschränkt ist, sondern nahezu weltweit die Gesundheit unzähliger Menschen erheblich beeinträchtigt, das Leben der Abhängigen ruiniert, ihre Angehörigen verzweifeln läßt, zu Beschaffungs-, Folge- und Begleitkriminalität führt und den Volkswirtschaften hohen Schaden zufügt. (...) Die ,Angebotspalette‘ umfaßt nicht nur die Rauschgifte, deren gefährliche und häufig tragische Auswirkungen wir nur zu gut kennen – Heroin, Kokain, Amphetamine, Cannabis –, sondern wird ständig um neu entwickelte, zumeist synthetisch hergestellte Drogen erweitert“ (Ziegenaus 1999: 129).
Die obigen Ausführungen des ehemaligen Präsidenten des Bayerischen Landeskriminalamtes dürften auf breite Zustimmung innerhalb weiter Teile der Bevölkerung stoßen. Kaum jemand würde der Ansicht widersprechen, dass es psychoaktive Substanzen gibt, die gefährlich sind, da sie angesichts ihrer chemischpharmakologischen Zusammensetzung die Gesundheit schädigen und nahezu zwangsläufig zur Sucht und Abhängigkeit führen können1. Deshalb scheint es eine logische Folge zu sein, dass diese Stoffe angesichts ihrer Schädigungsqualität verboten sind und durch staatliche Kontrollbemühungen reguliert werden, um ihren Gebrauch bzw. Missbrauch zu verhindern. Und sicherlich würden auch nur wenige Menschen bestreiten wollen, dass diese Tatsache aufs engste mit der Entwicklung der Menschheitsgeschichte verbunden ist. Man geht davon aus, dass alles das, was gegenwärtig unter dem Begriff „Drogenproblem“ subsumiert wird, eine historische Konstante darstellt, dass also gewisse Substanzen zu allen Zeiten und in allen Kulturen verboten waren und dass Personen, die diese psychoaktiven Stoffe konsumierten, auch von ihnen abhängig wurden. Befasst man sich jedoch nur etwas genauer mit der Drogenthematik, dann kommen einem erste Bedenken in den Sinn: Wieso eigentlich sind Cannabis, 1
Die Begriffe „Sucht“ und „Drogenabhängigkeit“ werden im Rahmen dieser Arbeit synonym verwendet.
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Ecstasy, Kokain und Heroin verboten und werden als Drogen klassifiziert, während Valium, Ritalin, Kodein und Prozac, die doch ebenso unser Bewusstsein und unsere Befindlichkeit verändern können, als Medikamente gehandelt werden? Man gerät noch mehr ins Zweifeln, wenn man legale und illegale Drogen gegenüberstellt und die Feststellung trifft, dass die einen eigentlich ein größeres Problempotential beinhalten, da sie – nimmt man ausschließlich die Anzahl derjenigen Personen als Bewertungsmaßstab, die infolge des Konsums der jeweiligen Substanz ihr Leben lassen – gesundheitsgefährlicher sind als die anderen1. Und man wird vollends skeptisch, ob denn das „Drogenproblem“ tatsächlich ein zeitloses Phänomen repräsentiert, wenn man verschiedene Gesellschaften hinsichtlich ihrer Umgangsweise mit ein und derselben Substanz einem Vergleich unterzieht. So bleibt etwa gegenwärtig der Gebrauch von Cannabis in den Niederlanden in vielen Fällen straffrei, während gleichzeitig im USamerikanischen Bundesstaat Oklahoma für den Anbau von Cannabispflanzen zum reinen Eigengebrauch ein Strafmaß von bis zu 150 Jahren angesetzt ist2. Ein weiteres Beispiel liefert der Konsum von Heroin bzw. die soziale Stellung von Heroinkonsumenten in unterschiedlichen Kulturkreisen. Während in westlichen Ländern Heroingebrauch mit dem sozialen Stereotyp des „Drogenjunkies“ in Verbindung gebracht wird und die Konsumenten offensichtlich wegen des Konsums dieser Droge vom physischen und psychischen Verfall gekennzeichnet sind, demonstrieren asiatische Opiumbauern, dass diese Erscheinungen nicht zwangsläufig mit der Verwendung dieser Substanz verbunden sind. Obwohl diese Personen täglich Opium konsumieren, lässt sich bei ihnen kein Persönlichkeitsverfall feststellen. Vielmehr sind sie sozial integriert, werden von den anderen Dorfbewohnern geachtet und gehen ihrer alltäglichen Arbeit nach (vgl. Pfeiffer 1986: 83ff.). Doch ist es gar nicht notwendig, den Kulturvergleich zu bemühen, um zu illustrieren, dass Substanzen, die sich von ihren psychotropen Eigenschaften ähnlich sind, auf unterschiedliche Art und Weise beurteilt werden können. Nirgendwo zeigt sich dies aktuell wohl deutlicher als beim Konsum von Zigarren auf der einen und dem von Zigaretten auf der anderen Seite. Obwohl sich beide Substanzen hinsichtlich ihrer chemisch-pharmakologischen Zusammensetzung gleichen, erweist sich der Raucher im einen Fall als ein Mensch von gutem Geschmack und elitärer Genussfähigkeit, im anderen als eine Person, die zunehmend gesellschaftlicher Ächtung ausgesetzt ist und in 1
2
So fordert der Alkoholkonsum jährlich ca. 30.000 bis 40.000 und der Zigarettenkonsum ca. 110.000 Todesopfer (vgl. Drogen- und Suchtbericht 2006). Im Vergleich dazu ist die Zahl der offiziell registrierten Todesfälle im Bereich der illegalen Drogen in den letzen Jahren gefallen, von 2.030 im Jahr 2000 auf 1.394 im Jahr 2007 (vgl. Drogen- und Suchtbericht 2008). Für einen internationalen Vergleich der gegenwärtigen Sucht- und Drogenpolitik vgl. Kurzer 2005.
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isolierte Ecken bzw. vor die Türen der Restaurants und Kneipen verbannt wird. War das Zigarettenrauchen in den westlichen Ländern bis in die Nachkriegszeit hinein ein allgemein gebilligtes und bei bestimmten Gelegenheiten sogar erwünschtes Phänomen, so wird es spätestens seit den 1960er Jahren mit dem Hinweis auf gesundheitliche Gefahren zu einem unerwünschten Verhalten, so dass Raucher zunehmenden sozialen Ausgrenzungen unterliegen1. Diese wenigen Beispiele belegen, dass es nicht in der Natur einer bestimmten Substanz liegt, wie mit ihr umgegangen wird, sondern dass dies im Zusammenhang mit den kulturellen Bewertungsmaßstäben einer Gesellschaft steht (vgl. Pfeiffer 1986; Völger/Welck 1982). „Die Einstellungen gegenüber Rausch und Ekstase im allgemeinen und gegenüber Drogen im besonderen werden nur verständlich, sieht man sie auf dem Hintergrund der generellen Prämissen, die die spezifische Weltsicht, die ‚Weltanschauung‘, einer Kultur ausmachen“ (Legnaro 1982a: 103f.). Chemisch-pharmakologische Substanzen haben per se weder eine gefährliche oder ungefährliche Qualität noch ist ihr Konsum an sich moralisch zu beanstanden oder zu billigen. Diese Assoziationen werden vielmehr erst durch menschliches Handeln produziert. Ob eine psychoaktive Substanz als Genussmittel, Therapeutikum, Nahrungsmittel, Rauschgift oder Droge bezeichnet und verwendet wird, ist ihr nicht eingeschrieben, sondern eine Folge gesellschaftlicher Konventionen. Der konkrete Bedeutungsgehalt einer Substanz entsteht erst durch symbolische Zuweisungsprozesse innerhalb eines bestimmten soziokulturellen Gefüges. Als Drogen können demzufolge all diejenigen Stoffe bezeichnet werden, die innerhalb einer Gesellschaft als Drogen klassifiziert werden (vgl. Herwig-Lempp 1994: 48), wobei deren „richtige“ Nutzung erst durch die Normen- und Wertestruktur einer bestimmten Gesellschaft festgelegt wird. Ob der Gebrauch einer Substanz als Missbrauch gilt, ob er als angemessen bewertet oder ob er sogar vorgeschrieben wird2, ist unterschiedlich zwischen den Kulturen und ändert sich in der jeweiligen Kultur im zeitlichen Verlauf. Die alltäglichen Umgehensweisen mit und Verständnisweisen von Drogen sind soziokulturelle Konstruktionen, die das Verhältnis zum Konsum strukturieren. Jedes Individuum lernt im Laufe seines Lebens, welche Substanzen „gut“ und welche „schlecht“ sind und wie mit diesen umgegangen werden sollte. So erwirbt etwa ein Kind durch die Teilnahme an einer Geburtstagsfeier die Erkenntnis, dass der Konsum von Alkohol nicht nur gebräuchlich ist, sondern auch 1 2
Zur Problematisierung des Tabakkonsums im 20. Jahrhundert vgl. Schmidt-Semisch 2005. Zu denken ist hier etwa an den hohen Stellenwert, der dem Alkoholkonsum in unserer Gesellschaft eingeräumt wird. Dieser zählt bei vielen Gelegenheiten zu den ritualisierten Pflichten, denen sich ohne Sanktionierung zu entziehen nahezu unmöglich ist. Abstinenz ist hier also ein bereits, zumindest milde, negativ sanktioniertes Verhalten. „Derjenige, der es in einer Trinkrunde ablehnt, Alkohol zu trinken, schließt sich aus dem Kreis der Zecher gewissermaßen selber aus“ (Schmidt-Semisch 1994: 26).
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die Geselligkeit und die Kontaktfreudigkeit der Gäste animieren kann. Durch Medienkonsum macht es die Erfahrung, dass alkoholische Getränke gesellschaftlich akzeptiert sind, da sie regelmäßig in der Werbung auftauchen und man mit ihrem Kauf sogar den Regenwald retten kann. Gleichzeitig gelangt der Einzelne aber auch durch Präventionskonzepte wie „Keine Macht den Drogen“ oder medial verbreitete Aussagen wie „Heroin macht nach dem ersten Schuss süchtig“ zu der Erkenntnis, dass es bestimmte Substanzen gibt, deren Verwendung nicht nur gefährlich, sondern auch moralisch verwerflich ist. Im Rahmen des Sozialisationsprozesses werden diese unterschiedlichen Deutungsmuster zwischen den Subjekten weitergegeben und internalisiert1. Die Einstellung und Wahrnehmung gegenüber psychoaktiven Substanzen wird somit von Geburt an vorstrukturiert, da die Gesellschaft durch ihre Sprache und Begriffe bestimmte Unterscheidungen nahe legt, ganze Argumentationszusammenhänge bereitstellt und damit zu bestimmten Auffassungen über Drogen und Drogenkonsum veranlasst. Konsumiert werden damit niemals einfach nur chemisch-pharmakologische Substanzen, sondern immer „Substanzen, die durch kulturelle Diskurse in Bedeutungen und Geschichten eingewoben sind“ (Dollinger 2005a: 10). Dabei ist dieser kulturelle Wissensvorrat, der durch soziale Lernprozesse verinnerlichet wird, von enormer Bedeutung bezüglich des Drogengebrauchs. Dies kann an einem einfachen Experiment demonstriert werden: So gab man Personen alkoholfreie Getränke, wobei man diese allerdings nicht darüber informierte, dass die Getränke keinen Alkohol enthielten. Da die Probanden dachten, sie würden Alkohol konsumieren, zeigten sie nach einiger Zeit auch die entsprechenden Verhaltensweisen, d.h. sie verhielten sich so, wie man es in unserer Gesellschaft von einem Betrunkenen erwartet: Sie benahmen sich fröhlich und ungehemmt und offenbarten einen Verlust an motorischer Kontrolle. Im Gegenzug zeigten diejenigen Personen, die in Wirklichkeit Alkohol erhielten, denen aber gesagt wurde, dass sie alkoholfreie Getränke konsumieren würden, kaum Anzeichen von Betrunkenheit (vgl. Blätter 2000: 147; Dollinger 2002: 17; Herwig-Lempp 1994: 24f.; Petry 1998: 66f.). Dieses einfache Experiment belegt, dass das je spezifische Drogenerleben kulturell geprägt wird. „Es gibt keine Drogenerfahrung ,an sich‘ als eine quasi-automatische Folge der Drogenwirkung, sondern nur Erfahrung in ihrer kulturellen Überformung und Ausdeutung“ (Legnaro 2000a: 9). Drogeneffekte lassen sich nicht objektiv und unabhängig vom Individuum bestimmen. Die Wirkungen, die eine Substanz auf die psychophysiologische Befindlichkeit unseres Körpers ausübt, bedürfen immer einer Interpretation des Konsumenten und werden dabei in entscheidender Weise durch die eigenen Erwartungshaltungen strukturiert, wobei diese Erwartungen 1
Zum wissenssoziologischen Begriff des Deutungsmusters vgl. Plaß/Schetsche 2001.
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durch gruppen- und kulturspezifische Bedeutungszuschreibungen präformiert werden (vgl. Becker 1981; 1983). In dieser Hinsicht ist es diese vorstrukturierte Erwartungshaltung, die die wesentliche Besonderheit einer Droge ausmacht und die sie von anderen Stoffen wie z.B. Nahrungsmitteln unterscheidet (vgl. Eisenbach-Stangl/Pilgram 1980: 39). Die Effekte und Auswirkungen einer Droge sind weniger auf deren chemisch-pharmakologische Zusammensetzung, sondern vielmehr auf die jeweilige Erwartung einer Wirkung zurückführen, wobei diese Wirkungserwartung durch den Sozialisationsprozess, den das Individuum innerhalb seiner Gesellschaft durchläuft, strukturiert wird. Die internalisierten Deutungsmuster stellen Wahrnehmungsformen und Handlungsanleitungen bereit, mit deren Hilfe das Individuum in die Lage versetzt wird, den Konsum adäquat und situationsangemessen zu bewältigen. Deutungsmuster funktionieren somit als „kollektive Programme“ (Plaß/Schetsche 2001: 525), die es dem Menschen ermöglichen, die Komplexität der Welt zu reduzieren, ihren Alltag zu ordnen und in Interaktionen mit anderen Personen Handlungsfähigkeit aufrecht zu erhalten. In dieser Hinsicht müssen subjekttheoretische Auffassungen zurückgewiesen werden, nach denen Wahrnehmungen, Erfahrungen, Bedürfnisse, Emotionen oder Handlungen aus dem Innersten des Subjekts entspringen, gewissermaßen eine originäre Erfindung desselben darstellen. Demgegenüber gilt es die Feststellung zu treffen, dass alles, „was wir wahrnehmen, erfahren, spüren, auch die Art, wie wir handeln, (…) über soziales konstruiertes, typisiertes, in unterschiedlichen Graden als legitim anerkanntes und objektiviertes Wissen vermittelt [ist]. Dieses Wissen ist nicht auf ein ¸angeborenes‘ Kategoriensystem rückführbar, sondern auf gesellschaftlich hergestellte symbolische Systeme. Solche symbolischen Ordnungen werden überwiegend in Diskursen gesellschaftlich produziert, legitimiert, kommuniziert und transformiert“ (Keller 2006: 115). Diskurse lassen sich als regelgeleitete Denk- und Aussagesysteme definieren, die bestimmte „Wahrheiten“ hervorbringen, von denen aber andere Inhalte zugleich notwendig ausgeschlossen sind (vgl. Bublitz 2003). Sie legen fest, was in einem bestimmten historischen Kontext „sinnvoll“ gewusst, gedacht und gesagt werden kann, d.h. im Rahmen von Diskursen werden bestimmte Realitätsdeutungen auf Dauer gestellt und stabilisiert. Die diskursive Ordnung einer Kultur präformiert die subjektive Realität, da diese immer nur bestimmte Aussagen denk- und sagbar erscheinen lässt. Sie bildet damit das dem Menschen vorgängige, vor aller Erfahrung liegende Ordnungsmuster sozialer Wirklichkeit. Das einzelne Subjekt wird in ein historisch gewachsenes und sprachlich repräsentiertes System von Wissensbeständen hinsozialisiert, wobei diese sozialen Strukturen das Subjekt zwar nicht gänzlich determinieren, aber doch insoweit prägen, als sie die Vorrausetzung für subjektives Handeln darstellen.
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Der Wirklichkeitscharakter einer sozialen Ordnung ist somit immer das Ergebnis eines sozialen Konstruktionsprozesses (vgl. Berger/Luckmann 2004). Das historisch etablierte Wissen, das den Mitgliedern einer Gesellschaft zur Verfügung steht, ist entscheidend für die Konstitution von Gesellschaft, da diese durch die Vielzahl der alltäglichen Interaktionen hergestellt wird. Jede Gesellschaftsordnung ist ein geschichtliches Werk des Menschen, d.h. ihre Strukturen, die uns als quasi „verdinglichte“ soziale Tatsachen gegenüberstehen, sind Produkte menschlichen Handelns und werden allein durch dieses aufrechterhalten. Eine psychoaktive Substanz als Droge oder Rauschmittel zu bezeichnen bedeutet demnach, dass diese Sichtweise zu einer bestimmten Zeit als diskursiv verfestige Kategorie anerkennungsfähig wurde, während alternative Deutungsmöglichkeiten sukzessive an Selbstverständlichkeit verloren haben. Im zeitlichen Verlauf ist diese Form der Diskursivierung sukzessive zur objektiven Realität geronnen. Sie erscheint dem Menschen nun als eine zeitlose Faktizität, obwohl sie in Wirklichkeit ein historisch-kontingentes Produkt darstellt. Der Diskurs über Drogen hat eine anerkannte Definition von Wirklichkeit etabliert, die sich dem Einzelnen als „reale“ und „persönliche“ Erfahrung präsentiert und die alleine durch menschliches Handeln reproduziert wird. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass auch „der“ Mensch nicht als zeitlose Kategorie betrachtet werden darf. Gegenüber allen essenzialisierenden Begründungsversuchen, insbesondere denjenigen vom ahistorischen und unveränderlichen Wesen des Menschen, tritt im Rahmen dieser Arbeit die Auffassung einer historisch konstruierten Subjektivität. Das Subjekt besitzt in diesem Sinne keine universell gültige und vorsoziale Natur, sondern wird als ein Effekt historischer Macht- und Wissensformationen gedacht, die den Subjektstatus des Menschen zuerst begründen (vgl. Foucault 1987). Das menschliche Selbstverständnis bleibt nicht über alle Zeiten und alle Kulturen hinweg gleich, sondern das, was unter Menschsein verstanden wird, ist fundamentalen Wandlungsprozessen unterlegen und immer eine abhängige Größe kultureller Rahmung. Die jeweiligen Vorstellungen vom Individuum sind einem historischen Konstruktionsprozess ausgesetzt und das Hervortreten eines eigenständigen Individuums muss selbst auf gesellschaftliche Herstellungsprozesse zurückgeführt werden. Erst im Laufe der Moderne wird der Mensch dazu verpflichtet, sich als autonomes und mit Vernunft ausgestattetes Individuum zu betrachten. War die individuelle Besonderheit in Antike und Mittelalter für das Selbstverständnis des Menschen nicht zentral, sondern die jeweiligen übergreifenden religiösen oder politischen Ordnungen, an denen er Teil hatte, so wird er spätestens im Zuge der Aufklärung mit der Anforderung konfrontiert, Differenz gegenüber anderen Personen zu markieren und sich als Individuum im Sinne der Einzigartigkeit zu bestimmen (vgl. Meyer-Dräwe 2004). Die Struktur des inner-
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psychischen Bewusstseins und der Verhaltensweisen des Menschen müssen demnach in Beziehung zu sozialen, politischen und kulturellen Transformationsprozessen gesetzt werden (vgl. Elias 1969). Die moderne Gesellschaft steigert die wechselseitige Abhängigkeit der Menschen in einem solchen Ausmaß, dass es für den Einzelnen zur persönlichen Pflicht wird, sein Leben rational zu kalkulieren und sein Verhalten anhaltend stabil zu regulieren. Reagierten die Menschen im Mittelalter aus heutiger Perspektive unmittelbar, spontan und gewalttätig, so müssen diese affektiven Verhaltens- und Erlebnisweisen im historischen Zeitverlauf zurückgedrängt und in selbstbeherrschtes Handeln überführt werden. Mit diesen sich wandelnden Anforderungen an die Akteure und ihre Verhaltensweisen verändert sich auch das gesellschaftliche Verhältnis zum Konsum psychoaktiver Substanzen (vgl. Legnaro 1982b). Drogenkonsum und Rauscherleben verlieren den Nimbus des Selbstverständlichen, den sie in antiken und mittelalterlichen Gesellschaften lange Zeit innehatten. Mit Anbruch der Neuzeit werden sie problematisiert, da sie genau diejenige Rationalität und Berechenbarkeit außer Kraft setzen, die der „innerweltliche Berufsmensch“ (Weber 2005) als ranghohes Persönlichkeitsideal betrachtet. Es zeigt sich, dass das historisch und kulturell je unterschiedliche Verständnis von Rausch und Drogenerleben in Zusammenhang mit den sich wandelnden Fassungen von legitimer und illegitimer Identität betrachtet werden muss. Diese Feststellung ist deshalb zu betonen, da die Theorieanstrengungen der heutigen Suchtforschung, die von pharmakologisch-physiologischen und medizinischpsychiatrischen Erklärungsmodellen beinahe monopolartig dominiert wird, in vielen Fällen zu einer Enthistorisierung und Naturalisierung des Menschen führen. So werden beispielsweise Laboruntersuchungen unternommen, um die Wirkungen von chemischen Substanzen auf den menschlichen Organismus zu analysieren, wobei diese Ergebnisse dann als „Abbild eines ewigen Körpers“ (Spode 1993: 10) gelesen werden. In dieser Hinsicht wird etwa die Feststellung getroffen, dass die Suchtkrankheit schon immer existiert hat und demzufolge ein zeitloses Phänomen repräsentiert (so z.B. Kellermann 2005: 4), dass sie aber lange Zeit unerkannt geblieben ist, weil eben die Wissenschaft erst seit kurzer Zeit über die Mittel verfügt, um diese entsprechend zu diagnostizieren. Drogenabhängigkeit wird im Rahmen dieser naturwissenschaftlichen Rationalität als eine physiologische und/oder pharmakologische Tatsache entworfen. „Die naturwissenschaftlich-medizinische Art des Denkens versucht stets, Sucht durch eine Rekonstruktion biologischer Prozesse oder pharmakologischer Substanzeffekte zu erschließen, d.h. Sucht wird in aller Regel entweder als biologisch-somatisches oder als substanzbedingtes Phänomen konzipiert“ (Dollinger/Schmidt -Semisch 2007a: 9). Der Mensch wird dabei als ein ahistorisches Wesen ver-
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standen, so dass Krankheit als ein objektives und vom kulturellen Kontext unabhängiges Faktum erscheint. Im Rahmen dieser Arbeit soll diesen naturwissenschaftlich-medizinischpharmakologischen Konzepten von Sucht und Abhängigkeit ein wissenssoziologisches Theoriemodell gegenübergestellt werden. Die Suchtkrankheit wird in dieser Perspektive nicht als eine menschliche Universalie verstanden, sondern als das Resultat eines kulturellen Benennungs- und Klassifikationsprozesses und insoweit als das Produkt menschlicher Sprache und Denkens (vgl. Spode 2005; Schetsche 2007). Drogenabhängigkeit existiert nicht an sich, also irgendwo außerhalb gesellschaftlicher Formationen, sondern wird erst im Rahmen sozialer Praktiken und Wissensformen konstituiert und durch die dominante Alltagswirklichkeit einer konkreten Gesellschaft hervorgebracht. Das Konzept der Sucht ist damit als ein relativistisches, vom kulturellen und historischen Kontext abhängiges Konstrukt zu verstehen, dessen Objektivität erst im Rahmen sozialer Problematisierungen diskursiv hergestellt wird. Denn so merkwürdig es für uns auch klingen mag: „Die Menschheit hat während fast ihrer gesamten Geschichte in einer ‚Welt ohne Sucht‘ gelebt – in einem Zustand und einer Selbstwahrnehmung, die sich erst im Zeitalter der Aufklärung und Industrialisierung radikal änderten und zur ,Entdeckung‘, wenn nicht sogar (…) zur ,Erfindung‘ der Sucht führten“ (Scheerer 1995: 9)1.
Zwar mag es sicherlich schon immer Individuen gegeben haben, die sich einer bestimmten Substanz nicht enthalten konnten und die man nach heutigen Klassifikationen als suchtkrank bezeichnen würde; nur gab es eben solche Klassifikationen vor dem 18. Jahrhundert nicht. Die Vorstellung, dass Sucht „eine fortschreitende Krankheit sei, deren Hauptsymptom der Kontrollverlust (...) und deren einziges Heilmittel die absolute Abstinenz (...) ist, ist nur etwa 175 oder 200 Jahre alt“ (Levine 1982a: 212f.). Auf dieser Basis kann Drogenabhängigkeit als ein historisch etabliertes Konzept charakterisiert werden, das einen dauerhaften Verstoß sozialer Erwartungen und „ein Verlassen kulturell üblicher Entfaltungsmuster“ (Degkwitz 1999: 53) anzeigt. Wenn im Folgenden der Konstruktcharakter von Sucht betont wird, dann sollte dies allerdings nicht – wie es etwa Johannes Herwig-Lempp (1994) auf der Basis einer radikal-konstruktivistischen Theorieperspektive tut – in dem Sinne verstanden werden, dass es sich bei der Person des „Drogenabhängigen“ und der Kategorie der „Drogenabhängigkeit“ lediglich um subjektive Gedankenkonstruktionen handelt. Sucht und Drogenabhängigkeit sind in modernen 1
Hervorhebungen in wörtlichen Zitaten sind, soweit nicht anders vermerkt, den Originaltexten entnommen.
Einleitung
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Gesellschaften als kollektive Wissensbestände fest verankert und Personen, die eine als Suchtmittel deklarierte Substanz konsumieren, sind gezwungen, sich mit diesen Problemdeutungen auseinanderzusetzen. Gleichermaßen sind Personengruppen, die im Bereich der Sucht- und Drogenhilfe beruflich tätig sind, fest davon überzeugt, dass Drogenabhängigkeit existiert und einen objektiven Wirklichkeitscharakter besitzt. Sucht darf deshalb nicht als eine rein subjektive Vorstellung begriffen werden, da sie eine soziale Tatsache ist, die darin besteht, dass „sie als Sichtweise, als Deutung in der Familie, den Einrichtungen und in den konsumierenden Personen selbst (auch noch, wenn jemand die Sucht leugnet) gesellschaftlich (als Erklärungsmodell) verankert ist“ (Degkwitz 1999: 47f.). Aufgrund seiner kollektiven Geltung hat Sucht einen objektiven Realitätsstatus; dies aber eben nur in einem bestimmten Arrangement von gesellschaftlichen Bezügen und Verhältnissen, die es sichtbar zu machen gilt. Die Feststellung, dass es sich bei dem Konzept der Drogenabhängigkeit um ein gesellschaftliches Konstrukt handelt, wirft die Frage auf, ob es wahr oder falsch ist, dass Sucht eine Krankheit ist. In dieser Arbeit soll den theoretischen Ansichten Michel Foucaults gefolgt werden, der bekanntlich ideologiekritische Positionen stets abgelehnt hat. Das Ziel jeder Ideologiekritik besteht darin, die Wirkungen von Machtprozessen zu entlarven, die uns ein Bewusstsein falscher oder verzerrter Ideen liefern, um im Anschluss daran auf die richtige und wahre Repräsentation der Wirklichkeit hinzuweisen (vgl. Lemke 1997: 91f.). Dieses Vorhaben erweist sich jedoch als ein „illusorisches Projekt“ (ebd.: 329), eben weil das „wahre“ Wissen nicht irgendwo außerhalb der sozialen Verhältnisse existiert, sondern nur innerhalb gesellschaftlicher Formationen generiert wird. Macht und Wissen, so Foucault (1976: 39), stünden nicht in einem entgegengesetzten Verhältnis zueinander, sondern vielmehr müsse zwischen beiden ein Zusammenhang dergestalt angenommen werden, „daß es keine Machtbeziehung gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert und kein Wissen, daß nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt“. Macht steht somit nicht außerhalb sozialer Wissensformen. Vielmehr ist gesichertes und fraglos gültiges Wissen das Ergebnis eines Konstruktionsprozesses, in welchem sich Machtverhältnisse Ausdruck in Wissensformen suchen und damit „Wahrheiten“ produzieren. Demzufolge besteht das Problem nicht darin, den durch die Macht verstellten Zugang zum „wahren“ Wissen zu finden, sondern es ist vielmehr „historisch zu sehen, wie Wahrheitswirkungen im Inneren von Diskursen entstehen, die in sich weder wahr noch falsch sind“ (Foucault 1978: 34). Im Rahmen dieser theoretischen Logik geht es dann nicht „darum, die Wahrheit zu ,entdecken‘, sondern vielmehr zu untersuchen, wie Wahrheit ,erfunden‘ wird, das heißt wie sie innerhalb der gesellschaftlichen Beziehungen produziert wird und zirkuliert“ (Lemke 1997: 331). Bezogen auf die Thematik dieser Arbeit bedeutet
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das demgemäß, dass die Vorstellung eines drogenabhängigen Individuums nicht als falsches Bewusstsein entlarvt und im Anschluss daran durch die „wahre“ Wahrheit – etwa: Drogenkonsumenten sind freie und mündige Subjekte und besitzen von sich aus die Kompetenzen, das Konsumgeschehen autonom zu gestalten1 – ersetzt werden soll. Es geht nicht darum, das Wesen und die innersten Gesetze von Drogen und Drogenkonsum zu erhellen, sondern es wird die Frage gestellt, unter welchen Bedingungen und ab welchem Zeitpunkt sich das im medizinischen Diskurs entworfene Konzept der Sucht als hegemoniale Problemdeutung durchsetzen und damit Wahrheitswirkungen, etwa in Form von gesetzlichen Regulierungen oder der Etablierung von Behandlungseinrichtungen, entfalten konnte. In dieser Hinsicht soll Sucht mit dem amerikanischen Soziologen Craig Reinarman als ein historisch-kulturell, politisch-institutionell und interaktional etabliertes Deutungsmuster, als eine „diskursive Errungenschaft“ (Reinarman 2005), verstanden werden. Die pathologisierende Deutung der Sucht ist eine historisch-kulturelle Errungenschaft, da die These, dass der Gebrauch einer bestimmten Substanz zum Verlust der Kontrolle führen kann, genau zu diesem Zeitpunkt der Geschichte und in jenen Gesellschaften schlüssig ist, in denen man angesichts einer hohen wechselseitigen Abhängigkeit auf die Selbstkontrolle jedes Einzelnen angewiesen ist, in denen sich die Vorstellung des modernen bürgerlich-autonomen Individuums entwickelt hat und in denen die Auffassung vorherrscht, dass ein Rauscherleben nicht mit der Wirklichkeit einer auf Erwerbsarbeit zentrierten und der Rationalität verpflichteten Gesellschaft verträglich sein kann. Rauscherleben und Drogenabhängigkeit können nur verstanden werden als Gegenbild zu den Ansprüchen, die aktuell an Handlungs- und Bewusstseinsqualitäten des Einzelnen gemacht werden. „Beide Konsumformen bedrohen die zentralen Werte unserer westlichen Industriegesellschaft: Die Bindung an gesetzte Norm, an ‚Recht, Sicherheit und Ordnung‘ einerseits und an den verantwortungsbewusst gestalteten Werktag, an schulischen Erfolg, Arbeitsethos und selbstverantwortliche Lebensführung andererseits. Sie bedrohen das zerbrechliche Gerüst unserer Zivilisation“ (Quensel 2004: 94). Darüber hinaus ist Sucht aber auch eine politisch-institutionelle Errungenschaft, da es zu Beginn des 19. Jahrhunderts Massenbewegungen gab, die als „moralische Unternehmer“ (Becker 1981: 133) fungierten, das Konzept der Suchtkrankheit verbreiteten und sich explizit für staatliche Maßnahmen gegen den Gebrauch gewisser Substanzen engagierten, so dass unsere heutige Ansicht von Drogenkon1
Diese Argumentationsführung findet sich explizit in ideologiekritischen Arbeiten (vgl. z.B. Szasz 1982) und implizit bei den meisten Vertretern einer akzeptanzorientierten Drogenarbeit (vgl. z.B. Schneider 2005).
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sum als abweichendem Verhalten und sozialem Problem zum vermeintlich alternativlosen „Abbild der Realität“ (Scheerer 1993: 83) wurde. Und Drogenabhängigkeit ist letztendlich vor allem eine interaktionale Errungenschaft. „Zwar ist der Konsum von Drogen deskriptiv festzustellen (...), aber damit ist über die Bedeutung, die ihm – wenn der Konsum als unproblematisch, als Missbrauch oder als Abhängigkeit interpretiert wird – in der sozialen Interaktion oder von Konsumenten selbst zugemessen wird, noch keine Aussage getroffen. Was Drogenkonsum als abweichendes Verhalten qualifiziert, wird erst in der Bedeutungszuschreibung ausgehandelt“ (Dollinger 2002: 24). Drogenabhängigkeit kann nicht objektiv diagnostiziert werden, sondern wird anhand historisch etablierter Interpretationsfolien durch machtbasierte Definitionsprozesse attribuiert. Auf dieser Basis soll im Folgenden das naturwissenschaftlich-medizinische Konzept der Suchtkrankheit als ein in modernen Gesellschaften wirkmächtig etabliertes Problemmuster verstanden werden, welches es sowohl dem einzelnen Konsumenten als auch spezifischen Institutionen der sozialen Kontrolle erlaubt, bestimmte Handlungsweisen und Bewusstseinsphänomene, die mit dem Gebrauch einer bestimmten Substanz einhergehen, dem Muster entsprechend zu klassifizieren.
1.2
Problemmuster und Institutionen des Drogenkonsums
Spätestens seit den 1960er Jahren wurde im Rahmen einer sich als kritisch verstehenden Kriminologie dargelegt, dass Kriminalität und Devianz keine ahistorische und objektive Realität besitzen, sondern kontextualisiert und als gesellschaftliches Verhältnis analysiert werden müssen (vgl. z.B. Sack 1974; s. Kap. 6.2). Die Blickrichtung auf abweichendes Verhalten wurde folglich umgedreht: Wurde vormals davon ausgegangen, dass deviantes Verhalten soziale Kontrolle auslöst, so wurde nun herausgestellt, dass Devianz ohne eine entsprechende Institutionalisierung von Instanzen sozialer Kontrolle nicht existent ist1. Es sind die Prozesse der Normsetzung und die damit einhergehenden Mechanismen der Normanwendung, durch die ein bestimmtes Phänomen, wie etwa der Konsum psychoaktiver Substanzen, als abweichendes Verhalten konstituiert wird. Dieser Sachverhalt lässt sich immer noch pointiert mit den Worten von Howard Becker
1
Soziale Kontrolle kann als ein Vorgang definiert werden, durch den – auf der Basis der Wahrnehmung einer Differenz zwischen einem konstatierten Ist- und einem wünschenswerten Sollzustand (vgl. Nogala 2000a: 126) – „diejenigen Sozialcharaktere oder Normalitätsmuster hergestellt werden [sollen], die ein spezifischer soziokultureller Kontext jeweils erfordert“ (Keupp 1995: 57).
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(1981: 147), einem der Gründungsväter der Labeling-Perspektive, zum Ausdruck bringen: „Bevor irgendeine Handlung als abweichend angesehen werden und bevor eine Klasse von Menschen für das Begehen einer Handlung als Außenseiter abgestempelt und behandelt werden kann, muß jemand die entsprechende Regel aufgestellt haben, welche die Handlung als abweichend definiert“.
Erst die politisch akzeptierte Definition von Drogenkonsum als sozialem Problem und die damit einhergehende Etablierung von Instanzen sozialer Kontrolle lässt einen Sinnbereich von Drogenkonsum als abweichendem Verhalten entstehen, einen Sinnbereich, der auf der Mikroebene Folgewirkungen für soziales Handeln hat, da Individuen nun gezwungen sind, sich mit der Normierung des Drogengebrauchs auseinanderzusetzen und ihr Verhalten der Norm entsprechend zu organisieren (vgl. Hess/Scheerer 1997). Spätestens mit der Durchsetzung einer nach marktwirtschaftlichen Strukturprinzipien regulierten Gesellschaftsordnung und den damit einhergehenden Normalitätsentwürfen einer „richtigen“ Lebensführung stellt „unkontrollierter“ Alkohol- und Drogenkonsum ein durch diskursive Kommunikationsprozesse etabliertes soziales Problem dar. Exzessiver und fortwährender Gebrauch berauschender Substanzen gefährdet nun die normativen Grundlagen der Gesellschaft, so dass gesetzliche Regulierungssysteme, bürokratische Kontrollbehörden und Therapie- und Hilfeeinrichtungen geschaffen werden, um das Problem zu beseitigen. Das Interpretationsraster der Drogenabhängigkeit liefert dabei den medizinisch-therapeutischen Professionen die Legitimationsgrundlage, Hilfsbedürftigkeit und Behandlungsbedarf zu diagnostizieren und Zugänge zu den Konsumenten zu finden. Grundsätzlich ist jedoch auf die Tatsache aufmerksam zu machen, dass in modernen Gesellschaften die naturwissenschaftlich-medizinische Problemdeutung der Suchtkrankheit nicht die einzige Möglichkeit der sozialen Typisierung von Drogenkonsumenten ist. Ganz im Gegenteil repräsentiert das Konzept der Sucht gegenwärtig nur eine denkbare Betrachtungsweise, Phänomene des Drogengebrauchs zu klassifizieren. Mit Axel Groenemeyer (2003b; 2008) kann man darauf hinweisen, dass sich – und dies gilt nicht nur für den Drogen-, sondern für den gesamten Devianzbereich – im historischen Verlauf ein beschränktes kulturelles Reservoir verschiedener Kategorisierungsmöglichkeiten abweichenden Verhaltens (Krankheit, Kriminalität, Armut, Sozialisationsdefizit, Risiko) in unterschiedlichen Instanzen der sozialen Kontrolle (Medizin, Strafrecht, Sozialpolitik, Soziale Arbeit, Prävention) niedergeschlagen hat. Die jeweils anerkannte Deutung von Drogenkonsum hat dabei wirkmächtige Konsequenzen, präformiert sie doch die Vorstellungen der Öffentlichkeit, der Professionellen und der Konsumenten gegenüber psychoaktiven Substanzen und steuert somit den ge-
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sellschaftlichen Umgang mit Drogengebrauchern. Die divergenten Interventionsformen unterscheiden sich folglich in ihren Auswirkungen (z.B. Gefängnisstrafe, Therapie oder sozialpädagogische Betreuung) für den Klienten beträchtlich. Allerdings ändert dies nichts an der Tatsache, dass jede dieser Bewältigungsstrategien, ob sie nun als punitive, therapeutische oder sozialpädagogische Maßnahmen ausgewiesen werden, als eine Form der sozialen Kontrolle zu betrachten ist, da sie an historisch gewordenen Normalitätserwartungen orientiert sind und darauf abzielen, Vorstellungen von sozialer Ordnung zu reproduzieren (vgl. Cohen 1993). Jede Form der psychosozialen Hilfe ist als eine kontrollierende Bezugnahme zu betrachten, in der die Persönlichkeit des Einzelnen als korrekturbedürftig wahrgenommen und eine institutionelle Intervention als Notwendigkeit eingefordert wird1. Problematisch erscheinenden Zuständen wird in modernen Gesellschaften also begegnet, um eine Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung zu erreichen, wobei sich hinsichtlich des Drogenkonsums verschiedene Interventionsmöglichkeiten herausgebildet haben. Das soziale Problem des Drogenkonsums liegt nicht in objektiver wissenschaftlicher Form vor, sondern wird erst mittels sozialer Definitionsprozesse und Interessenpolitik in konflikthaften Verläufen als solches konstruiert (s. Kap. 5.3.1). Wird beispielsweise eine bestimmte psychoaktive Substanz als gefährlich eingestuft, stellt sich die Frage, in welcher Form und mit welchen Mitteln dieser Problematik begegnet werden soll. Drogengebrauch wird zu einem Gegenstand gesellschaftspolitischer und wissenschaftlicher Auseinandersetzungen und Debatten. Unterschiedliche Disziplinen 1
Dass im Rahmen dieser Arbeit Angehörige therapeutischer und pädagogischer Berufe als Akteure der sozialen Kontrolle dargestellt werden, mag von diesen als Provokation empfunden werden, definieren sie ihre eigene Arbeit doch als bedeutungsvolle Hilfeleistung für Menschen, die sich in schwierigen Lebenslagen befinden. Dieses Selbstverständnis soll auch nicht konterkariert werden. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass Hilfe und Kontrolle nicht als komplementäre Interventionsformen betrachtet werden dürfen. Vielmehr ist mit Dollinger (2002: 315ff.) davon auszugehen, dass Formen der Hilfe nicht ohne Mechanismen der Kontrolle vollzogen werden können. Nach Mollenhauer (1988: 47) liegt ein sozialpädagogisches Problem immer dann vor, wenn eine Differenz festgestellt wird „zwischen dem, was dem Menschen seinem psychosozialen Bestand nach möglich war und dem, was er faktisch erreicht hat“. Zum Klienten Sozialer Arbeit kann also nicht jeder werden, sondern nur diejenige Person, die gesellschaftlichen Erwartungen eines „gelungenen“ Lebenslaufs und einer „normalen“ Identitätsentwicklung widerspricht und deren Persönlichkeit insofern als korrekturbedürftig wahrgenommen wird. Jede Form der sozialpädagogischen Hilfe ist damit darauf ausgerichtet, soziale Normen zu reproduzieren. Geholfen werden soll nicht jedem Mitglied der Gesellschaft, sondern immer nur einem vorab definierten Adressatenkreis mit spezifischen Defiziten und in Richtung bestimmter Ziele (vgl. Dollinger/Raithel 2006: 139). Sozialpädagogik ist in dieser Hinsicht stets eine an individuellen Mängeln ansetzende Interventionsform, die ihre Klientel mit der Erwartung konfrontiert, ihr defizitäres Verhalten zu korrigieren und ihre Persönlichkeit an die als legitim ausgewiesenen Vorgaben von Identität anzugleichen.
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und Professionen streiten um die „rationale“ Art der Problembewältigung und damit auch um Ressourcen und Handlungsaufträge. Sie bauen dabei auf verschiedenen Wissensformen über Abweichung auf, d.h. jede Interventionsstrategie legitimiert sich „auf der Grundlage jeweils bestimmter Auffassungen, Interpretationen oder Konstruktionen über das zugrunde liegende Problem. In diesen Konstruktionen sind insbesondere Annahmen über Ursachen oder Erklärungsprinzipien und zumindest indirekt auch über Sympathie und Solidarität mit Tätern und Opfern enthalten. Dabei ist eines der zentralen Unterscheidungsmerkmale zwischen diesen Zuschreibungstypen sozialer Probleme die Dimension der Verantwortlichkeit und Schuld“. (Groenemeyer 2003b: 21f.). Im Rahmen der naturwissenschaftlich-medizinischen Rationalität wird Drogenkonsum als ein pathologisches Verhalten diskursiviert, welches einer ärztlichen und psychotherapeutischen Behandlung bedarf. Drogenabhängige werden als Opfer dargestellt, die für ihren Krankheitszustand keine Schuld tragen, da dieser als Ausfluss genetischer, physiologischer oder psychologischer Faktoren konzipiert wird. Dagegen stellt man innerhalb einer kriminalpolitischen Betrachtungsweise den Umgang mit illegalen Substanzen als ein individuell zu verantwortendes Handeln dar und fordert Bestrafung ein. Den negativen Sanktionen liegt dabei die generalpräventive Annahme zugrunde, die Handelnden würden angesichts der Strafandrohungen das problematisierte Verhalten künftig von sich aus unterlassen. Die Menschen werden somit, im schroffen Gegensatz zum Krankheitsmodell, als rational kalkulierende Akteure repräsentiert, die sich auf der Basis freier Entscheidung nach Kosten-Nutzen-Prinzipien für bestimmte Handlungsvollzüge entscheiden. Anders stellt sich hingegen die Problemdeutung im Rahmen einer sozialpolitisch fundierten Perspektive dar. Drogenkonsum wird hier als eine Folge marginalisierter gesellschaftlicher Lebenslagen wahrgenommen. Die zentrale Annahme lautet, dass Menschen auf Drogengebrauch und andere Formen des abweichenden Verhaltens zurückgreifen, um ihre desintegrierte sozialen Lage zu kompensieren. Dementsprechend soll dieser Problemstellung insbesondere durch monetäre Leistungen im Rahmen der Einkommens- und Vermögensverteilung und einer Ausweitung der rechtlichen Teilhabemöglichkeiten entgegengewirkt werden, mit dem Ziel, die sozialen Integrationschancen des betroffenen Bevölkerungskreises zu verbessern. Auch im Rahmen der Sozialen Arbeit werden – wie schon das Präfix „sozial“ in den Begriffen „Sozialpädagogik“, „Sozialarbeit“ und „Soziale Arbeit“ anzeigt1 – gesellschaftliche Verhältnisse in den Blick genommen. Das wohlfahrts1
Die Begriffe „Sozialpädagogik“, „Sozialarbeit“ und „Soziale Arbeit“ sollen in dieser Arbeit synonym verwendet werden, wobei jedoch auf die unterschiedlichen historischen Wurzeln dieser Begrifflichkeiten aufmerksam gemacht werden muss. Die Grundlagen und Anfänge der Sozialarbeit finden sich in der spätmittelalterlichen Armenfürsorge. Als verberuflichtes Hand-
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staatliche Sicherungssystem zeichnet sich durch eine spezifische „Doppelstruktur“ (Münchmeier 2007) aus: Während die sozialpolitischen Interventionsformen auf soziale Strukturen abzielen und das Individuum gegenüber den sozialen Lebensrisiken (Armut, Krankheit, Unfälle, Arbeitslosigkeit) durch die Bereitstellung von Geld und die Gewährung von Rechten abgesichert werden soll, ist im Rahmen der Sozialen Arbeit das durch sozialisatorische Einflüsse belastete Individuum das primäre Interventionsobjekt und die psychosoziale Hilfestellung das vorrangige Interventionsmedium. Sozialpädagogen und Sozialarbeiter sind in der Regel „sanfte Kontrolleure“ (Cremer-Schäfer/Peters 1975), die im Gegensatz zu den Angehörigen des kriminalpolitischen Systems nicht nach Schuld suchen und ausgrenzende Maßnahmen anordnen, sondern das Individuum in Schutz nehmen und seine soziokulturelle Einbindung fordern. Dies liegt darin begründet, dass im Rahmen der Sozialen Arbeit Devianz in der Regel als Folge einer fehlgeschlagenen Sozialisation konstruiert wird. Das Individuum wird als „Opfer“ gesellschaftlicher Verhältnisse wahrgenommen, so dass ihm nur eine beschränkte Handlungsfreiheit und Schuldfähigkeit zugesprochen wird. Die Sozialpädagogik hat es demnach immer mit der theoretischen Reflexion und der praktischen Bewältigung des oftmals als konflikthaft verstandenen Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft zu tun (vgl. Hamburger 2003; Reyer 2002).
lungsfeld etabliert sie sich infolge der Industrialisierung. Sozialarbeit wird zu einem Teilbereich des sozialstaatlichen Sicherungssystems, um den sozialen Problemen des Industrialisierungsprozesses mittels personenbezogener Hilfeleistungen entgegenzutreten (vgl. Sachße/Tennstedt 1980; s. Kap. 2.2.3; Kap. 4.). Während die Sozialpolitik die äußere, materielle Not lindern sollte, zielte die Sozialarbeit als soziale Fürsorge und Wohlfahrtspflege auf die „innere Not“ der als „entsittlicht“ charakterisierten Menschen. Die Sozialpädagogik hingegen hat ihre Ursprünge im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft. Als Wissensform wird der Begriff „Social-Pädagogik“ (Mager 1844: 396) in Abgrenzung zu den individualpädagogischen Theoriekonzeptionen der Aufklärungszeit und des Neuhumanismus verwendet. Entgegen einer rein auf das Individuum bezogenen Pädagogik wurden die „sozialen Bedingungen der Bildung (…) und die Bildungsbedingungen des sozialen Lebens“ (Natorp 1968: 9) zum wissenschaftlichen Thema gemacht. Es galt eine Antwort auf die Frage zu finden, wie das aus traditionellen ständischen Strukturen freigesetzte und sich selbst freisetzende Individuum gesellschaftlich (re-)integriert werden kann (vgl. Dollinger 2006a; Reyer 2002). Erst im Laufe des frühen 20. Jahrhunderts wird diese allgemeine Perspektive einer sozialen Pädagogik in den Hintergrund gedrängt. Unter der Ägide der geisteswissenschaftlichen Pädagogik wird Sozialpädagogik auf einen spezifischen Ausschnitt der Erziehungswirklichkeit, nämlich auf die Theoretisierung der „Jugendfürsorge“, verengt. Der Begriff Sozialpädagogik bezeichnet nun ein neues pädagogisches Praxisfeld („Randgruppenarbeit“) neben der Schule und der Familie (vgl. Niemeyer 1997; s. Exkurs I). Sozialpädagogik verweist damit nicht mehr auf die Gesamtheit der gesellschaftlichen Erziehungsvorgänge, sondern meint eine institutionalisierte pädagogische Praxis zur Lösung spezifischer sozialer Probleme. Aufgrund dieser Begriffsverengung in den 1920er Jahren näheren sich die Sozialpädagogik und die Sozialarbeit sukzessive einander an, so dass gegenwärtig der Begriff der Sozialen Arbeit benutzt wird, um die Berührungspunkte eines gemeinsamen Handlungsfeldes zu betonen.
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Die Interventionskonzepte, die als Maßnahmen der Konfliktbearbeitung entwickelt werden, sind dabei in den meisten Fällen am Individuum orientiert und versuchen mit pädagogischen Mitteln dessen soziokulturelle Integration sicherzustellen. Zwar werden häufig auch die gesellschaftlichen Integrationschancen kritisch befragt und eine Verbesserung der materiellen und sozialen Infrastruktur der Gesellschaft eingefordert; der Fokus der Hilfeleistung ist aber in den meisten Fällen nicht auf gesellschaftliche Verhältnisse ausgerichtet, sondern bleibt personenbezogen (vgl. kritisch Anhorn/Bettinger 2002; Peters 1973). Eine als gefährdet erachtete Integration des Einzelnen soll durch die Vermittlung von Kompetenzen und Fähigkeiten entgegengewirkt bzw. präventiv verhindert werden. Im Rahmen einer sozialpädagogischen Thematisierungsweise wird problematischer Drogenkonsum folglich in eine ursächliche Beziehung mit sozialen Verhältnissen gesetzt. Drogengebrauch wird als ein Verhalten der Problembewältigung interpretiert (vgl. z.B. Hallmann 2008; Stoßberg 1981; von Wolffersdorff 2001), mit dem das Individuum schwierige sozialisatorische Einflüsse und gesellschaftliche Rahmenbedingungen (z.B. Lehrstellenmangel, familiäre Probleme, sozialen Druck, Individualisierung) zu kompensieren versucht1. Bestimmten Personengruppen wird unterstellt, dass sie nicht über die notwendige Handlungskompetenz verfügen, um institutionellen und gesellschaftlichen Anforderungen zu entsprechen. Damit die Individuen nicht auf abweichende Bewältigungsmöglichkeiten zurückgreifen, soll diesen individuellen Problemlagen (sozial-)pädagogisch entgegengewirkt werden. Es zeigt sich, dass gegenwärtig unterschiedliche Problemdeutungen und Erklärungsprinzipien existieren, um Drogengebrauch als abweichendes Verhalten zu kategorisieren. In heutigen Gesellschaften gibt es nicht die gültige Deutung von Drogenkonsum und Sucht, sondern verschiedene Deutungsmöglichkeiten, die nebeneinander bestehen oder sich sogar gegenseitig überschneiden (vgl. Degkwitz 2002; Dollinger 2002)2. Es wird gegenwärtig nicht einheitlich, sondern mit einem flexiblen Instrumentarium an Interventionsstrategien auf Drogenkonsum reagiert. Die konkrete Kategorisierung eines als problematisch identifizierten Konsumverhaltens ist dabei hauptsächlich abhängig von der Bewertung des individuellen „Falls“, aber auch von situativen und regionalen Rahmenbedingungen3. Die jeweilige Einschätzung strukturiert den gesellschaftli1
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Zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser heute weit verbreiten Perspektive auf Drogenkonsum s. Kap. 6.2.3. Zu denken ist hier beispielsweise an den § 35 BtMG („Therapie statt Strafe“). Hier wird der Drogenkonsument gleichzeitig als „kriminell“ und als „krank“ kategorisiert. So lassen sich etwa bei der Anwendung des § 31a BtMG („Einstellung des Strafverfahrens bei geringen Mengen zum Eigenverbrauch“) erhebliche regionale Differenzen feststellen. Während in Bayern kaum von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, werden in den nördlichen Bundesländern beim Besitz geringer Mengen die meisten Strafverfahren eingestellt (vgl. Albrecht
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chen Umgang, da je nach Repräsentation des Drogengebrauchs unterschiedliche Interventionsformen evoziert werden: „Wird ein Abweichler als ‚krank‘ verstanden, besteht die ‚vernünftige‘ Reaktion in seiner Therapie, unterstellt man, er sei ‚sozialen Pathologien‘ ausgesetzt, zielen die Reaktionen auf soziale Reformen, wird er für seine Handlungen selbst verantwortlich gemacht, ist ‚Strafe‘ die nahe liegende Reaktion“ (Ziegler 2005b: 114). Erst die spezifische Diskursivierung der Devianz bestimmt die „legitime“ Art der Intervention. Bei einer Problemdefinition können demnach immer verschiedene Erklärungsprinzipien von Drogengebrauch zum Tragen kommen, wobei die erfolgreiche Etablierung einer Sichtweise nicht auf die essentialistische Annahme eines problematischen Kerngehalts, sondern auf Definitionsmacht verwiesen ist. Was Drogenkonsum „wirklich“ ist (Sünde, Krankheit, Lebensstil usw.), ist ohne die entsprechenden Thematisierungsweisen nicht zu entscheiden. Die Drogenarbeit stellt folglich nicht automatisch ein Handlungsfeld der Sozialen Arbeit dar. Vielmehr bedarf es erst einer aktiven Konstruktionsleistung, um die Phänomene des Drogenkonsums und der Sucht als sozialpädagogische Themenfelder zu erschließen. Im Diskurs über Drogen muss sich herausstellen, dass die Suchtgenese auf einer defizitären Sozialisation beruht und keine Folge von „schlechten Genen“ oder Ausdruck einer autonomen Handlungsentscheidung ist. Der Sozialen Arbeit wird nur dann ein Zugang zu Drogenkonsumenten gestattet, wenn Drogenkonsum als problematisch definiert und gleichzeitig darauf hingewiesen wird, dass dem Problemzusammenhang mit pädagogischen Maßnahmen und nicht mit anderen Interventionsstrategien entgegengewirkt werden soll. Will die Soziale Arbeit Handlungsaufträge und Ressourcen im Bereich der Drogenarbeit mobilisieren, dann ist sie darauf angewiesen, Drogengebrauch als ein soziales Problem zu thematisieren, das einer sozialpädagogischen Lösung bedarf. Auch wenn es heute nicht das gültige Deutungskonzept des Drogengebrauchs gibt, so kann man doch feststellen, dass im zeitlichen Verlauf bestimmte Problemkonzeptionen und Erklärungsmuster von Drogenkonsum eine gewisse Vorrangstellung etablieren konnten. Diese gesellschaftlich und staatlich anerkannte Perspektive auf das Drogenproblem hat dabei eine konstituierende Bedeutung, wird sie doch rechtlich fixiert und mit den entsprechenden Institutionen versehen. Dabei ist davon auszugehen, dass das jeweilige „Normalverständnis“ des Drogenproblems historischen Wandlungen unterlegen ist und nur für einen bestimmten Zeitraum eine gewisse kulturelle Hegemonie etablieren kann. War es etwa bis weit in das 20. Jahrhundert hinein politisch akzeptiert, proble2005; Böllinger u.a. 1995: 153, 223). Die Chance, als „kriminell“ klassifiziert zu werden, ist demnach abhängig vom Ort, an dem der Konsumakt vollzogen wird. Sie ist in Süddeutschland wesentlich höher als in Norddeutschland.
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matische Formen des Drogenkonsums als Ausdruck psychosozialer Defizite zu interpretieren und die absolute Drogenabstinenz als „rationale“ Form der Intervention zu betrachten (s. Kap. 3; Kap. 5.2), so wurde diese individual-pathologische Konstruktion des Drogenproblems seit den 1980er Jahren in zunehmendem Maße von anderen Problematisierungsweisen kritisiert und tendenziell verdrängt (s. Kap. 8.2). Es konnte zunehmend glaubwürdiger dargestellt werden, dass Drogenkonsum in den meisten Fällen ein typisches und vorübergehendes Verhalten der Adoleszenz repräsentiert. Die am Strafrecht und an der Therapie orientierten Reaktionen auf Drogenkonsum erfuhren in der Folge eine partielle Diskreditierung, so dass andere Interventionsstrategien, wie etwa die drogenpolitische Strategie der Akzeptanz und die Suchtprävention, politische Anerkennung erfuhren. Die „adäquate“ Regulierung des Drogenproblems ist folglich stets umkämpft und unterliegt geschichtlichen Wandlungsprozessen. Dabei muss die jeweils vorherrschende Strategie der Drogenkontrolle im Zusammenhang mit politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Transformationsprozessen betrachtet werden. Gesellschaftliche Veränderungen, in denen neue Vorstellungen sozialer Ordnung artikuliert und andere Anforderungen an menschliche Subjekt- und Verhaltensqualitäten gestellt werden, finden stets Eingang in Problemkonstruktionen. Gerade in einer Zeit des rapiden sozialen Wandels, die von den Zeitgenossen in vielen Fällen als Krise erlebt wird, werden gängige Thematisierungsweisen und Interventionsrationalitäten sozialer Probleme in Frage gestellt, so dass andere Problemlösungsstrategien die Chance besitzen, politische Anerkennung zu erfahren. Nicht jede Problemkonstruktion des Drogenkonsums hat demnach die gleiche Chance, in Politik und Öffentlichkeit Gehör zu finden, da gesellschaftsstrukturelle, sozioökonomische und kulturelle Bedingungen und Faktoren in den jeweiligen Problemdiskurs einfließen und diesen durchdringen. Beispielsweise haben in der heutigen Zeit, in der die Menschen dazu angehalten werden, sich unternehmerisch zu inszenieren und ihr Leben möglichst flexibel und autonom zu gestalten, Thematisierungsweisen des Drogenkonsums, die diesen als Ausdruck eines frei gewählten Lebensstils thematisieren, eine ungleich höhere Chance, politische Akzeptanz zu erfahren, als in der Gesellschaftsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem das disziplinierte Individuum als Normalentwurf von Persönlichkeit fungierte. Der jeweilige Umgang mit Drogengebrauchern kann somit nur verstanden werden im Zusammenhang mit den sich wandelnden Fassungen legitimer und illegitimer Identität und den damit einhergehenden Problemkonstruktionen kollektiver Akteure. Die Kontrolle des Drogenkonsums ist somit nicht alleine ein professions- und gesellschaftspolitisch umkämpftes Feld, auf dem verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Sichtweisen um die Interpretationshoheit konkurrieren, sondern stets auch ein Produkt gesellschaftlicher Veränderungen.
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1.3
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Fragestellung und Aufbau der Arbeit
Im Folgenden wird dargestellt, wie sich, bedingt durch soziale und kulturelle Transformations- und gesellschaftsstrukturelle Differenzierungsprozesse, die Repräsentation des Drogenproblems vom Mittelalter bis in die heutige Zeit verändert hat, unter welchen Bedingungen und zu welchen Zeitpunkten die unterschiedlichen Kategorisierungsmöglichkeiten und Kontrollformen von Drogenkonsum entstanden sind und wie sich diese ideell und praktisch in der Gesellschaft durchsetzen konnten. Zu Beginn der Arbeit wird ein kurzer Überblick über die Bedeutung des Alkoholkonsums im Mittelalter und früher Neuzeit gegeben (Kap. 2). Es wird dargelegt, dass der Rausch aufgrund einer relativ geringen Selbstkontrolle des mittelalterlichen Menschen als ein weitestgehend „normaler“ Bewusstseinszustand akzeptiert wurde. Im Laufe des 16. Jahrhunderts kommt es zu umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen, so dass der ungehemmte Alkoholkonsum seinen Status der Selbstverständlichkeit verliert und in zunehmendem Maße als moralisch verwerfliches Handeln typisiert wird. Im Zuge der Etablierung des Rationalitätsmodus der Moderne verändert sich die soziale Codierung des menschlichen Selbstverständnisses auf grundlegende Weise, so dass Wahrnehmungen und Erfahrungen der eigenen Psyche und des eigenen Körpers entstehen, die mit vormodernen Wahrnehmungs- und Erfahrungsweisen nur mehr beschränkt vergleichbar sind. Dies führt zu einer Problematisierung derjenigen Verhaltensweisen, die diesen modernen Selbstauslegungen diametral entgegenstehen. Vor diesem Hintergrund wird im Verlauf des 19. Jahrhundert das Konzept der Suchtkrankheit im Diskurs der Ärzte entworfen, so dass sich in der Öffentlichkeit sukzessive die Ansicht verbreitet, dass Alkoholund Drogenkonsumenten krank sind und einer Behandlung bedürfen (Kap. 3). Dabei darf die Schaffung des Suchtkonzepts und die damit einhergehende Institutionalisierung von Behandlungseinrichtungen jedoch nicht alleine als eine wissenschaftliche Entwicklung gesehen werden, sondern vielmehr als Bestandteil eines Wandels im sozialen Denken, der in den grundlegenden Umgestaltungen des Soziallebens und der Gesellschaftsstruktur verwurzelt ist. Angesichts der Erkenntnis, dass bestimmte Erscheinungsformen wie etwa Armut, Unfälle oder Krankheiten aus den regulären Aktivitäten der Gesellschaft hervorgehen, wird der vormoderne Rekurs auf das rein Schicksalhafte oder Gottgewollte entzaubert und eine kollektiv erzeugte Form der Solidarität über die Betonung individueller Verantwortung gestellt (Kap. 4). War in mittelalterlichen Gesellschaften die Vorstellung vorherrschend, dass bestimmte Phänomene und Lebensbedingungen den letztlich nicht beeinflussbaren Willen einer höheren Ordnungsmacht demonstrieren, so entsteht im Zuge von Prozessen der Säkularisierung und Rationalisierung der Glaube an die „Gestaltbarkeit der Welt“ (Evers/
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Nowotny 1987). Es beginnt sich die Vorstellung zu verbreiten, dass problematische Phänomene in soziale Probleme transformiert und durch zukunftsbezogene wohlfahrtstaatliche Interventionsstrategien nicht nur einer Veränderung unterzogen, sondern auch umfassend beseitigt werden könnten. Mit der Herausbildung der kapitalistischen Industriegesellschaft und den für diese Gesellschaftsordnung dominanten Standards der Lebensführung wird dabei das Prinzip der Normalisierung abweichenden Verhaltens dominant; Therapie, Rehabilitation und Inklusion werden zum Ideal der Politik sozialer Probleme. Drogenkonsumenten werden so zu pathologischen Subjekten disaggregiert, wobei die Konstruktion von Drogenkonsum als abweichendem Verhalten zwischen Kriminalität und Krankheit angesiedelt wird (Kap. 5). Im weiteren Verlauf dieser Arbeit soll auf den aktuellen gesellschaftlichen Umgang mit Drogenkonsumenten aufmerksam gemacht werden. Es wird gezeigt, dass das Rehabilitationsideal seit den 1970er Jahren problematisiert wird und sich demzufolge im Niedergang befindet (Kap. 6). Ausschlaggebend hierfür sind die Kritik an der Effektivität und Effizienz der Behandlungsmodelle, ein Paradigmenwechsel innerhalb der wissenschaftlichen Durchdringung des abweichenden Verhaltens und nicht zuletzt soziale, kulturelle und ökonomische Transformationsprozesse. Im Anschluss daran wird dargelegt, dass die soziale Wirklichkeit gegenwärtig durch neoliberale Rationalitäten auf eine neuartige Weise programmiert wird, was ein verändertes Verständnis für die Diskursivierung sozialer Probleme zur Folge hat (Kap. 7). War innerhalb der wohlfahrtsstaatlichen Regulation der sozialen Ordnung der Staat der zentrale Akteur, der für die Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen Sorge getragen hat, so wird gegenwärtig die Verantwortung für soziale Probleme privatisiert und auf individuelle und kollektive Subjekte verlagert. Gleichzeitig wird mit der sozialen Exklusion derjenigen Individuen gedroht, die nicht fähig oder willens sind, den zentralen Verhaltensanforderungen in einer „Unternehmer-Gesellschaft“ (Krasmann 2000b) gerecht zu werden. Angesichts dieses gesellschaftlichen Strukturwandels lassen sich auch im Devianzbereich Veränderungen konstatieren. Es wird gezeigt, dass sich gegenwärtig eine heterogene „Kultur der Kontrolle“ (Garland 2008) herauskristallisiert hat, in denen die auf Integration und Behandlung abzielenden Kontrollmechanismen zwar nicht verschwunden sind, jedoch sukzessive ihre hegemoniale Stellung verloren haben (Kap. 8). Gerade am Beispiel des Drogenkonsums lassen sich diese Entwicklungstendenzen anschaulich nachzeichnen: So finden sich auf der einen Seite „progressive“ Ansätze der Suchtprävention, in denen eine sukzessive Abkehr vom Dogma der Drogenabstinenz postuliert wird. Drogenkonsumenten sollen unter pädagogischer Anleitung zu einem „klugen“ und „rationalen“ Umgang mit illegalen Substanzen befähigt werden. Darüber hinaus haben sich seit einigen Jahren die
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Hilfsangebote der akzeptierenden Drogenarbeit als ein fester Bestandteil des Drogenhilfesystems etabliert. Solange das Risiko des Drogengebrauchs minimiert und Sicherheit gewährleistet werden kann, muss dieser anscheinend nicht mehr unter allen Umständen verhindert werden. Allerdings sind repressive und „harte“ Kontrollmaßnahmen keineswegs verschwunden. Während in Deutschland der Handel mit illegalen Substanzen moralisch verdammt und deshalb kriminalisiert wird, wird in den USA auf der Basis von Drogengesetzen von einer rigiden Inhaftierungspolitik gegenüber gesellschaftlich marginalisierten Bevölkerungsgruppen Gebrauch gemacht. Die Hintergründe dieser Politik der Exklusion sollen ausführlich diskutiert werden. Entsprechend dem dargestellten Arbeitsaufbau wird sich der erste Teil dieser Untersuchung nahezu ausschließlich mit der Substanz des Alkohols beschäftigen. Dies liegt in der Tatsache begründet, dass der Konsum dieser Substanz – im Gegensatz zu anderen Stoffen – einen festen Bestandteil der westlichen Kultur bildet. Darüber hinaus beziehen sich die ersten Konzepte, in denen von Sucht als Krankheit die Rede ist, auf die Substanz des Alkohols. Der Alkoholismus kann in dieser Hinsicht als „Modellsucht“ (Fahrenkrug/Quack 1985) bezeichnet werden, dessen „Krankheitsbild“ später auf andere Substanzen übertragen wurde. Der zweite Teil dieser Arbeit (ab Kap. 6) wird sich dagegen aus heuristischen Gründen ausnahmslos mit denjenigen Substanzen befassen, die gegenwärtig als illegal klassifiziert werden, liefert doch gerade das Phänomen des illegalisierten Drogenkonsums ein eindringliches Beispiel für die Komplexität der Devianzproduktion in heutigen Gesellschaften.
2
Drogenkonsum und soziale Kontrolle im Mittelalter und früher Neuzeit
2.1
Alkoholkonsum und gesellschaftliche Reaktion im Mittelalter
2.1.1
Der Mensch des Mittelalters
Die soziale Ordnung des Mittelalters unterschied sich erheblich von der heutigen Gesellschaftsordnung, so dass auch der Einzelne mit anderen gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen konfrontiert wurde, was demgemäß auch Rückwirkungen auf die Einstellung zu Drogenkonsum und Rauscherleben hatte. Die mittelalterliche Gesellschaft war eine ständisch geschlossene Gesellschaft (vgl. Huizinga 1969: 73ff.). Angesichts einer im Vergleich zu heute nur geringen gesellschaftlichen Ausdifferenzierung war die wechselseitige Abhängigkeit der Menschen nur wenig ausgeprägt (vgl. Legnaro 2000a: 9). Es bestand noch nicht die Notwendigkeit, sein zukünftiges Leben auf lange Sicht zu planen und auszurichten (vgl. Spode 1993: 31). Die soziale Ordnung wurde als von Gott geschaffen und insofern unveränderbar interpretiert, wobei dieses christlich-religiöse Weltverständnis universal angelegt war, d.h. es umfasste prinzipiell alle Lebensbereiche. So war etwa die Sorge um den gesunden oder kranken Körper fast ausschließlich dem Einzelnen und seiner Familie überlassen, da Gesundheit und Krankheit als persönliches Schicksal und als ein Teil des durch die Erbsünde zur Unvollkommenheit verurteilten menschlichen Daseins begriffen wurden (vgl. Bleker 1983: 229; Labisch 1989: 16). Der Einzelne war von Geburt an Mitglied eines bestimmten Standes und musste eine standesgemäße Funktion erfüllen, wollte er an der Gesellschaft partizipieren. Der Mensch sah sich dabei selbst als Teil eines umfassenden Schöpfungsplans, so dass er sich kaum als eine individuelle oder einzigartige Persönlichkeit wahrnahm. Das Individuum konstituierte seine Identität weniger durch Prozesse der Selbstreflexion und Selbstbezüglichkeit als vielmehr durch die kollektive Teilhabe an einer universalen Schöpfungsidee. Darüber hinaus war im Gegensatz zu heute die Welt der Wirklichkeit durchlässiger für metaphysische Erfahrungen. In der modernen Psychopathologie würde man diese Bewusstseinszustände wohl als psychotisches Erleben beschreiben (vgl. Fichtel 2003: 14; Legnaro 1982a: 108). Die sozialstrukturelle und kulturelle Konstitution der Gesellschaft hatte demnach Rückwirkungen auf die Persönlichkeitsstruktur des mittelalterlichen Menschen:
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums „Als die Welt noch ein halbes Jahrtausend jünger war, hatten alle Geschehnisse im Leben der Menschen viel schärfer umrissene äußere Formen als heute. Zwischen Leid und Freude, zwischen Unheil und Glück schien der Abstand größer als für uns; alles, was man erlebte, hatte noch jenen Grad der Unmittelbarkeit und Ausschließlichkeit, den die Freude und das Leid im Gemüt der Kinder heute noch besitzen“ (Huizinga 1969: 1).
Diese Kindlichkeit steht mit einer anderen Tatsache in Zusammenhang, denn der mittelalterliche Mensch „erscheint uns nicht als eine scharf umrissene individuelle Persönlichkeit, und er erscheint sich auch selbst nicht so. (...) Affektverhalten und Persönlichkeit sind gewissermaßen noch nicht individuiert, und in der Gestimmtheit des mittelalterlichen Lebensgefühls scheinen die Spannbreite dieses Affektverhaltens und der unvermittelt-plötzliche Übergang von einer Stimmung zu einer anderen den besonderen Unterschied zu heutigen Gefühlsund Verhaltensweisen auszumachen“ (Legnaro 1982b: 154). Es ist wohl diese gering ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstkontrolle, die „geringe Distanz zu sich und der Welt, zum eigenen Körper und zu den Körpern anderer“ (Spode 1993: 30), die große Spontaneität im Gefühlsleben und die hohe Gewaltbereitschaft, die man in der heutigen Zeit als verstörend und verängstigend empfinden würde. „Viele Verrichtungen, die an die animalische Natur des Menschen erinnern, waren damals noch nicht hinter die Kulissen verlegt: So war der Anblick und das Zerlegen eines erschlagenen Tieres durchaus auch mit Lust verknüpft. Auch die Nacktheit und das Geschlechtsleben zwischen Mann und Frau – mit eingeschlossenen die außerehelichen Beziehungen – waren noch nicht im gleichen Maße wie heute ,intimisiert, aus dem gesellschaftlichen Verkehr der Menschen ausgesondert und in das Innere der Kleinfamilie verlegt‘. Selbst der Umgang mit dem Messer unterlag einer Wandlung: Im Mittelalter waren aufgrund der ständigen Kampfbereitschaft der Menschen die Hemmungen der aggressiven Triebäußerungen geringer“ (Strieder 2001: 73). Verhaltenssteuerung realisierte sich folglich hauptsächlich durch äußere Normierungsprozesse, z.B. durch direkte, körperliche Zwänge oder durch zeremonielle Interaktionsformen (vgl. Spode 1993: 31).
2.1.2
Alkoholkonsum im Mittelalter
Der Alkohol spielte im Mittelalter in nahezu allen gesellschaftlichen Schichten eine zentrale Rolle, ist er doch sowohl Genuss- als auch Nahrungsmittel. Sein Gebrauch war fest in die alltägliche Ernährung integriert, wobei die täglichen Trinkmengen aus heutiger Perspektive beträchtlich ausfielen. So galt etwa für höhere Gesellschaftsschichten der tägliche Konsum von fünf Litern Bier als
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angemessen (vgl. Spode 2005: 93). Das Frühstuck bestand in der Regel aus einer Biersuppe, eine Speise, die in ländlichen Gegenden Deutschlands noch bis ins 18. Jahrhundert zubereitet wurde (vgl. Schivelbusch 1980: 32). Demgegenüber galt das Trinken von Wasser als ein Kennzeichen für Armut, als „Stigma des populus vulgaris“ (Spode 1993: 46). Auch als Heilmittel fand Alkohol Verwendung. Besonders Branntwein war dabei ein „nahezu universelles Therapeutikum“ (Legnaro 1982b: 157). Angesichts der Tatsache, dass Alkohol im Alltag fest integriert war, wurde sein Gebrauch auch kaum als problematisch empfunden. Der Rausch dürfte angesichts der täglichen Trinkmengen eine „Qualität des Selbstverständlichen“ (Legnaro 2000a: 10) besessen haben. Die geringe Selbstkontrolle des mittelalterlichen Menschen führte folglich auch zu einer relativ geringen Rauschkontrolle. Vor allem die von den Germanen übernommene Tradition des archaischen Gelages war auch noch bis weit ins Mittelalter hinein ein bedeutsames Medium zur Herstellung einer kollektiven Identität. Diesem Ritual kam eine gemeinschaftsstiftende Funktion zu, wobei es sich durch strenge, äußere Gesetzmäßigkeiten auszeichnete. So wurde die gemeinsame Berauschung zur gemeinschaftlichen Pflicht erhoben, während im Gegenzug der exzessive Konsum des Einzelnen verboten war (vgl. Spode 1993: 17ff.). Neben der Pflicht zur kollektiven Berauschung mussten weitere Gesetzmäßigkeiten eingehalten werden, wie etwa das Trinken bis zur Bewusstlosigkeit, die Vermeidung von zu schneller Berauschung oder die Pflicht, ein angebotenes Ge1 tränk immer anzunehmen (vgl. Bohlen 1998: 11; Schivelbusch 1980: 38ff.) . Angesichts der Tatsache, dass der Rausch in magische, religiöse und andere Normensysteme mit hohem Verpflichtungsgrad eingebettet war, stellte er nicht nur eine sozial akzeptierte Verhaltensweise dar, sondern durch die gemeinschaftliche Ausübung von sozialer Kontrolle wurde gleichzeitig auch das Abgleiten in individualistische Konsumformen verhindert (vgl. Scheerer 1995: 17). Mit der Christianisierung des Abendlandes vermischten sich diese heidnischen Sitten zunehmend mit den christlichen Bräuchen. Die Tradition des Gelages wurde auf diese Weise in die klerikale Praxis des Gottesdienstes transportiert. Dies führte dazu, dass die Kirche zu einem beliebten Ort wurde, an dem man sich zum gemeinsamen Gelage traf. Als Beleg hierfür können die in England fünfmal jährlich abgehaltenen „glutton masses“, die Schlemmeressen, angeführt werden. Diese Praxis beschreibt Legnaro (1982b: 157) folgendermaßen: „Des Morgens versammelt sich die Gemeinde in der Kirche, bringt Essen und Trinken mit, hört die Messe an und feiert im Anschluß ein Fest, das offensichtlich in der völligen Betrunkenheit aller Beteiligten (auch der Priester) endet. Zwischen den Angehörigen ver1
Das Ritual des Gelages mit der starken äußeren Reglementierung des Trinkverhaltens ist bis heute in den Praktiken der studentischen Burschenschaften erhalten geblieben.
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums schiedener Gemeinden gibt es dabei regelrechte Wettbewerbe, wer zu Ehren der Heiligen Jungfrau am meisten Fleisch vertilgen und am meisten Alkohol trinken kann“.
Allerdings kam es in der damaligen Zeit auch zu ersten Versuchen, das Trinkverhalten der Bevölkerung zu regulieren. Von größter Bedeutung war dabei die Vorstellung des „rechten Maßes“, die von den Klöstern aus in die Gesellschaft diffundierte1. Das Leben der Mönche war streng hierarchisch gegliedert und unterlag einem System rigider Außensteuerung, wobei physische Gewalt aber das letzte Mittel sein sollte. Die Scham sollte vielmehr an die Stelle der körperlichen Strafe treten. Die Abgeschiedenheit der Klöster und die Isolierung von der Welt sollte dabei die „totale Kontrolle“ (Treiber/Steinert 1980: 57) ermöglichen. Die Esskultur des Klosters und die mit ihr verknüpfte Auffassung eines „rechten Maßes“ wurden zunehmend auch zum Vorbild für die weltlichen Oberschichten (vgl. Bohlen 1998: 12; Spode 1993: 35ff.). So kam es auch außerhalb der Mönchsgemeinschaften zu ersten Mäßigkeitsbestrebungen, wobei diese Bemühungen von einer schmalen klerikalen und höfischen Elite ausgingen (vgl. Legnaro 2000a: 10). Problematisiert wurde verständlicherweise nicht der alltägliche Konsum, der ja ein fester Bestandteil der Ernährung war, wohl aber der exzessive Gebrauch alkoholischer Getränke. Mit der zunehmenden Christianisierung des Abendlandes galten die Angriffe primär der Tradition des archaischen Gelages, dessen Ausübung als ein Verstoß gegen die Vorschrift des „rechten Maßes“ empfunden wurde. So bemühte sich etwa der englische König im 10. Jahrhundert darum, das Trinkverhalten zu beeinflussen, indem er an die Innenseite der Trinkgefäße in regelmäßigen Abständen Markierungen anbrachte. Der Trinker durfte dabei bei einem Schluck die jeweils nächste Markierung nicht überschreiten (vgl. Austin 1982: 117; Legnaro 1982b: 161). Innerhalb der geistlichen Gesellschaftsschichten war es hauptsächlich der Wein, dessen Missbrauch als schwere Sünde angeklagt wurde, da man diesen als eine Gabe Gottes ansah (vgl. Spode 1993: 47). Allerdings waren diese Versuche, das Trinkverhalten zu verändern, kaum von Erfolg gekrönt, da der regelmäßige und gemeinschaftliche Exzess in allen Gesellschaftsschichten anzutreffen war. Besonders die traditionelle Form des Gelages „war gemeinschaftliche magische Praxis und soziale Pflicht für Männer“ (Groenemeyer 1999b: 183). Höhere Schichten versuchten sich sicherlich 1
Die Forderung nach Einhaltung einer „rechten Mitte“ ist bereits in der griechischen Philosophie bei Heraklit und Demokrit vorzufinden, ebenso bei Epikur, Platon und Aristoteles (vgl. Spode 1993: 32, Fn. 79). Vor allem die Nikomachische Ethik des Aristoteles umfasst eine Tugendlehre, welche das Mäßigkeitsprinizip in den Mittelpunkt stellt. Sowohl Abstinenz als auch der Trinkexzess gelten hier als Abweichung vom tugendhaften Ideal des Maßhaltens (vgl. Petry 1998: 60). Was jedoch konkret unter dem „rechten Maß“ verstanden wurde, variierte von Gesellschaft zu Gesellschaft.
Drogenkonsum und soziale Kontrolle im Mittelalter und früher Neuzeit
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durch einen gemäßigten Konsum vom niederen Volk abzugrenzen, jedoch war der individuelle Unterschied in der Persönlichkeitsstruktur im Vergleich zu heute noch nicht sehr ausgeprägt. „Der Adel lachte über den Bauerntölpel, und doch war der Abstand im Verhalten und Denken geringer als in späteren Epochen. (…) Ob Bauer, Grundherr oder Kleriker – der periodische Exzess war in allen Schichten anzutreffen“ (Spode 1993: 52). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Rauscherleben im Mittelalter noch ein „selbstverständlicher Bewußtseinszustand“ (Legnaro 1982b: 162) gewesen sein dürfte. „Die Trinkhandlung war ungehemmt, frei von Angst vor Sanktionen, und der Rausch wurde um seiner selbst willen geschätzt“ (Petry 1998: 38). Dies sollte sich jedoch in der Folgezeit ändern. Die für Antike und Mittelalter gültigen Trinktraditionen wurden „von asketischen Protestanten und dem frühen Kapitalismus angefochten, die dazu beitrugen, das moderne ,westliche‘ Individuum hervorzubringen, und gleichzeitig die Entsagung von Vergnügen um der Frömmigkeit und Produktivität willen zu fordern“ (Reinarman 2005: 31).
2.2
Alkoholkonsum und gesellschaftliche Reaktion in der frühen Neuzeit
2.2.1
Die Rationalisierung der Lebensführung
Zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert kam es in Europa zu tiefgreifenden strukturellen Umwälzungen, deren gesellschaftliche Wahrnehmung auch die Einstellung gegenüber dem Alkoholkonsum und dem Rauscherleben verändern sollte. Angesichts von Prozessen der Urbanisierung, einer fortschreitenden Arbeitsteilung und der Durchsetzung abstrakter Rechts- und Geldbeziehungen erhöhte sich die Interdependenz der sozialen Beziehungen (vgl. Groenemeyer 1999b: 178). Vor diesem Hintergrund werden Triebunterdrückung und Selbstbeherrschung in zunehmendem Maße zu kulturellen Verpflichtungen des sozialen Zusammenlebens. Der Soziologe Norbert Elias (1969) hat in seiner Studie dieses moderne Wechselspiel von gesellschaftlicher Ausdifferenzierung und Individualisierung und die damit einhergehende Zivilisierung menschlicher Verhaltenssteuerung systematisch ausgearbeitet. Er entwirft das Bild eines „Zivilisationsprozesses“, in dem die zunehmende gesellschaftliche Komplexität ihre Entsprechung in den Verhaltensstandards der Individuen findet. Mit Cas Wouters (1999: 18f) lässt sich der historische „Prozess der Zivilisation“ folgendermaßen erläutern:
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums „Eine der wichtigsten Triebkräfte der Veränderung in Europa ist die unter starkem Konkurrenzdruck stattfindende Differenzierung von gesellschaftlichen Funktionen gewesen. Die Handlungen von immer mehr Menschen wurden hierdurch aufeinander bezogen. Dadurch gerieten sie unter den Druck, eine immer differenziertere, umfassendere, gleichmäßigere und stabilere Verhaltenssteuerung auszubilden. Während der Zwang zu solcher Abstimmung des Verhaltens der Menschen aufeinander in weniger komplexen Gesellschaften vor allem durch die Beteiligten unmittelbar ausgeübt wurde, üben die Menschen in der weiteren Entwicklung der Gesellschaften diese Zwänge immer automatischer auf sich selbst aus: ,Fremdzwänge‘ werden mehr und mehr in ,Selbstzwänge‘ umgewandelt. Starke Extreme und plötzliche Umschwünge in Verhalten und Affektäußerungen werden immer öfter nahezu automatisch gemäßigt“.
Durch die Erfindung von mechanischen Uhren konstituierte sich ein vollständig neues Verständnis von Zeit und Zeitabläufen. Aus der Naturzeit wurde eine mathematische und vom Jahreslauf unabhängige Eigenzeit, die nun öffentlich wurde, so dass sie für alle Menschen einen verbindlichen Charakter erhielt (vgl. Bohlen 1998: 17; Fichtel 2003: 18). Mit der Ausbreitung des gesellschaftlichen Warentauschs und der Abspaltung der Zeit vom natürlichen Tages- und Jahresverlauf wurde für bestimmte Bevölkerungsgruppen ein vollständig neuer Lebensrhythmus produziert: „Dieser erfordert Disziplin, Zeitökonomie und Abstraktionsvermögen; das Vermögen, kurzfristige Bedürfnisse zugunsten längerfristig zu erreichender Ziele zurückzustellen, im voraus zu planen; abstrakte Tüchtigkeit und Erwerbsstreben“ (Sachße/Tennstedt 1980: 37). Infolgedessen modifizierte sich das Verhältnis des Einzelnen sowohl zu sich selbst als auch zu anderen Menschen. Der Mensch wurde nun zu Affektbeherrschung, Hygieneund generell Schamverhalten angehalten bzw. wurden ihm diese neuen Verhaltensstandards über das Medium von Erziehung beigebracht. Die zunehmende Verbreitung von Tischzuchtliteratur kann als Beleg für diesen Wandel betrachtet werden. Bestimmte Verhaltensweisen wie etwa Schmatzen, Erbrechen, Fluchen, Über-den-Tisch-greifen, Messerzücken usw. stellte man nun unter Strafe. Die geringe Distanz und Individualität der Menschen wurden als problematisch empfunden: „Es gilt Abstand zu wahren, Teller, Löffel und Messer für sich allein zu benutzen (...). Die Zunahme der Tafelwerkzeuge und der Vorschriften bedeutet eine Zunahme an körperlicher Distanz und an Selbstkontrolle, an Distanz zu sich selbst. Nur mit zwei oder drei Fingern zu essen ist ceteris paribus kontrollierter als mit der ganzen Hand zuzulangen. Noch denkt freilich kaum jemand daran, die Speise überhaupt nicht zu berühren, bevor sie im Körper verschwindet, doch die Weichen sind gestellt für einen neuen Umgang mit sich und der Welt“ (Spode 1993: 62.).
Durch Buchdruckverfahren und wachsende Alphabetisierung verbreiteten sich diese neuen Sitten auch im „einfachen“ Volk, besonderes unter wohlhabenden
Drogenkonsum und soziale Kontrolle im Mittelalter und früher Neuzeit
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Bauern und in den Städten (vgl. ebd.: 55f.). Forciert wurden diese Transformationen durch die Reformation, die Holzer (2002: 29) als das „herausragende Ereignis des 16. Jahrhunderts“ bezeichnet. Die Reformatoren betonten die Vernunft und trugen damit, indem sie alle magischen Mittel der Heilssuche als Aberglaube und Frevel verwarfen, wesentlich zu dem bei, was Max Weber (2005) in seiner Studie über den okzidentalen Rationalisierungsprozess als „Entzauberung der Welt“ bezeichnet hat. Der persönliche religiöse Glaube des einzelnen Menschen wurde in den Mittelpunkt des kirchlichen Lebens gerückt. Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch wurde aus klerikalen Normensystemen herausgelöst und personalisiert, was dazu führte, dass die Selbstbestimmung des Menschen erstmals auch außerhalb des religiösen Rahmens eine Bedeutung erlangte. Diese hier nur kursorisch angedeuteten Veränderungsprozesse gingen folgerichtig mit neuen gesellschaftlichen Anforderungen an das Verhalten und die Persönlichkeit des Menschen einher. Mit Max Weber lässt sich dieser Prozess als eine „Rationalisierung der Lebensführung“ charakterisieren. Diese Rationalisierung zeichnet sich dadurch aus, dass bisher von außen bestimmte Verhaltensregeln mehr und mehr vom Individuum internalisiert und in Mechanismen der Selbstkontrolle transformiert werden müssen. Fichtel (2003: 14f.) bezeichnet den Wandel von der mittelalterlichen zur frühneuzeitlichen Psyche als „eine fortschreitende Abdichtung der Alltagsinstanz des ,Ich‘ gegenüber transpersonalen Erfahrungsräumen und gleichzeitig einer zunehmenden Subjektivierung als Prozess einer Selbstreflexion, die das Individuum als solches erst konstituiert“. Damit ist eine wichtige Grundvoraussetzung für die Entstehung des modernen Subjekts gelegt: „Kontrolle der eigenen Gefühle und des eigenen Lebens gewinnen zunehmend an Bedeutung, planende Berechnung erscheint nun als die herrschende Leitlinie“ (Legnaro 1982b: 163). In dieser Hinsicht wurde der Mensch in zunehmendem Maße mit Verhaltensanforderungen konfrontiert, die bisher nur für das Klosterleben Bedeutung hatten. Wie Treiber und Steinert (1980: 65) ausführen, hat das Kloster einen „Bausatz an Techniken zur methodischen Systematisierung der äußeren Lebensführung“ ausgearbeitet (z.B. genaue Zeiteinteilung, Aufstellung einer Ordnung mit detaillierten Regeln, Abgrenzung und Aufteilung des Raumes usw.), die später auf andere gesellschaftliche Institutionen wie etwa die Schule oder die Fabrik übertragen wurden. Die Berufsarbeit erhielt innerhalb dieses gesellschaftlichen Rahmens einen zentralen Stellenwert für das menschliche Leben. Es wurde nicht mehr davon ausgegangen, dass das Jenseits über die Erfüllung äußerer Opfer oder Buße zu erreichen ist, sondern die gesamte Lebensführung musste nun als Ausdruck einer Gottgefälligkeit erscheinen. Wirtschaftlicher Erfolg und asketische Lebensweise im Diesseits wurden zu einem Gradmesser
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
für das Seelenheil im Jenseits, da individueller Reichtum ein Zeichen göttlicher Auserwähltheit war. Strenge Selbstkontrolle und eine fortwährende rationale Selbstreflexion wurden notwendig, um sein Heil im Jenseits zu erlangen. Im Gegenzug wurde derjenige, der diesen Verhaltenserwartungen nicht entsprach, als „unmoralisch und unchristlich diskreditiert“ (Kloppe 2004: 170). Die „Rationalisierung der Lebensführung“ hatte auch Auswirkungen auf die Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit. Hatte Gesundheit im Mittelalter keinen eigenen Stellenwert und war Krankheit ein Ausdruck von Sünde und göttlicher Prüfung, so erfuhr die wissenschaftliche Heilkunde nun eine Aufwertung. Arznei und Arzt dienten „dazu, dem Mängelwesen des bürgerlichen Jedermann das Leben zu erhalten und zu verlängern“ (Labisch 1989: 16). Eingetretene Krankheiten sollten beseitigt und vorhandene Gesundheit bewahrt werden. In diesem Sinne setzte sich die Auffassung durch, dass man aktiv auf seinen Körper und sein Wohlbefinden Einfluss nehmen könnte (vgl. Groenemeyer 1999b: 179). Im Mittelalter wurde das Leben vom Tode her gedacht, wobei dieser als nicht beeinflussbar galt, da sich in ihm der Wille Gottes zeigte. Im Gegensatz dazu begann man nun, den Wunsch nach einem möglichst langen Dasein zu äußern. Der Tod wurde zunehmend entzaubert und der Mensch wandte sich dem Leben in der Welt zu: „Gesundheit wird zur Leistung des einzelnen. Sie ist kein unabänderliches Faktum, sondern Ausdruck richtig gelebten Lebens. Das Leben insgesamt besteht aus ,Mühe und Arbeit‘ und die Gesundheit zumal. An ihr muß gearbeitet werden. Gesundheit gewann ein Assoziationsfeld von rationalisierter Lebensweise, Askese und Selbstkontrolle und sie wurde dem einzelnen als Leistung zurechenbar“ (Keupp 1995: 68). Religion und Medizin waren jedoch noch eng aneinander gebunden: Die Religion gab das Ziel des Lebens vor, während die Medizin als „Handlungsanleitung“ (Labisch 1986: 268) fungierte, um dieses Ziel zu erreichen. Für den protestantischen Wirtschaftsbürger wurde Gesundheit zu einer unabdingbaren Voraussetzung, „den Stand der Gnade durch ein langes und erfolgreiches Berufsleben zu erreichen“ (ebd.).
2.2.2
Der Bedeutungswandel des Alkoholkonsums in der Neuzeit
Die Problematisierung des Alkoholkonsums und die Institutionalisierung der „neuen Räusche“ Der zunehmende Zwang zur Affektkontrolle musste zwangsläufig auch zu einer Problematisierung derjenigen Verhaltensweisen führen, die gerade diese Kontrolle außer Kraft setzen. Auf allen gesellschaftlichen Ebenen begann man, sich
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über das „grewliche Laster der Trunckenheit“ – so der Titel einer Schrift von Sebastian Franck aus dem 16. Jahrhundert – zu beklagen. Nicht nur die Theologen, sondern auch die Juristen, Humanisten und Dichter nahmen zu dieser Problematik Stellung (vgl. Stolleis 1982: 182f.). Auch im Mittelalter hatte man sich bereits, wenn auch nur innerhalb einer kleinen Bevölkerungsgruppe, über exzessives Rauschverhalten beklagt, doch mit der zunehmenden Komplexität der Gesellschaft wurde der Mangel an Nüchternheit mehr und mehr zu einem strukturellen Problem (vgl. Spode 1993: 62). Trunkenheit war ein offenkundiges Zeichen der unzureichenden Beherrschung einer rational konzipierten Welt und galt „als ein Verlust der Kontrolle über sich selbst, als dysfunktional für die innerweltliche Tätigkeit des aufkommenden Berufsmenschen“ (Legnaro 1982b: 163). Durch die neu gewonnene Vorstellung von der Eigenverantwortlichkeit des Menschen in seiner Beziehung zu Gott verlagerte sich der Kampf gegen den Teufel von außen nach innen in die menschliche Seele, wie dies folgendes Zitat von Martin Luther zum Ausdruck bringt: „Es muß ein jeglich Land seinen eigenen Teufel haben, unser deutscher Teufel wird ein guter Weinschlauch sein und muß Sauf heißen, daß er so dürstig und hellig ist, der mit so großem Sauf Weins und Biers nicht kann gekühlt werden. Und wird solch ewiger Durst und Deutschlands Plage bleiben (...) bis an den jüngsten Tag“ (zit. nach Stolleis 1982: 183f.).
Statt Höllenstrafen traten zunehmend die innerweltlichen Folgeschäden und die Kosten des Trinkens in den Vordergrund, die sich beispielsweise in sinkender Arbeitsleistung manifestierten (vgl. Spode 2005: 94). Maßlosigkeit wurde dabei von den Reformatoren als schwerer Verstoß gegen die Vorschriften Gottes angesehen, durch die man seine Seligsprechung gefährdete. Für Luther stand es außer Frage, dass „die Trunkenbolde das Reich Gottes nicht ererben werden“ (zit. nach Holzer 2002: 33). Insgesamt forderten die Reformatoren jedoch nicht absolute Abstinenz, sondern das Prinzip der Mäßigkeit wurde zur Richtschnur des Verhaltens (vgl. Holzer 2002: 29ff.; Petry 1998: 38). Vor allem Wein galt weiterhin als Getränk Gottes. In dieser Hinsicht war es auch weniger der Alkoholkonsum an sich, der problematisiert wurde, sondern vielmehr waren es die in den Augen der zeitgenössischen Beobachter unvermeidlichen Folgen, die aus einem exzessiven Gebrauch alkoholischer Getränke resultierten. Die Destabilisierung der Ordnung, der Moral und der Sitten sowie kriminelles Verhalten wurden erstmals ursächlich mit der Trunkenheit assoziiert (vgl. Groenemeyer 1999b: 179; Petry 1998: 62f.). Nach Luther war die maßlose Berauschung verantwortlich für „große, greuliche Schäden, Schande, Mord und alles Unglück“ (zit. nach Holzer 2002: 31). In den höheren Ständen verlor infolgedessen das traditionelle Ritual des archaischen Gelages seine gemeinschaftsstiftende Funk-
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tion. „Die Riten der Gemeinsamkeit wurden allmählich zugunsten solcher der Selbstabgrenzung und -beherrschung zurückgedrängt; ein größerer Abstand zu den Körpern – dem eigenen wie denen der Anderen – wurde gesucht“ (Spode 1993: 79). Angesichts der Tatsache, dass mit der Durchsetzung disziplinarischer Zwänge und individualisierter Handlungsorientierungen der Rausch zu einer Pflichtverletzung wurde, etablierte sich in den oberen und mittleren Schichten ein neues Trinkverhalten: „Es kommt nun vor, daß einer sich vor anderen Leuten betrinkt, nicht mit ihnen. Um dieser Peinlichkeit zu entgehen, wird der Exzeß ,hinter den Kulissen‘ versteckt, privatisiert, verhäuslicht“ (ebd.: 99). Keineswegs war der Alkoholkonsum gänzlich verpönt, ein Glas Branntwein, Wein oder Schnaps wurden als Bereicherung der Genusskultur empfunden. Jedoch wurde die geforderte Einhaltung des „rechten Maßes“ immer mehr zu einer Sache von eigener Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung. Je mehr sich das Trinken von festen, äußeren Anlässen und Regeln loslöste, stieg die Bandbreite der Möglichkeiten und Formen, Alkohol zu konsumieren. Gleichzeitig stiegen aber auch die Anforderungen, den Konsum autonom und eigenständig zu kontrollieren. Je weniger der Trinker durch ein festes Ritual gesteuert wurde, desto mehr wurde die Dosierung von Alkohol zu einer schwierigen Gratwanderung. Der Konsument war nun der Aufforderung ausgesetzt, sich fortwährend selbst zu beobachten und unausgesetzt wachsam zu sein, ob der nächste Schluck nicht schon zuviel ist und eine Verletzung des Gebots der Selbstbeherrschung darstellt (vgl. Wiesemann 2003: 56). Diejenigen, die diesen Anforderungen nicht gewachsen waren, wurden mit Peinlichkeits- und Schuldgefühlen belegt und mussten nun – falls sie ihr Tun nicht verbergen konnten – für ihr Verhalten Rechenschaft ablegen und es begründen. War zwar das Rauscherleben auch temporär erlaubt, so durfte dies doch nur mit dem Bewusstsein der engen lokalen und zeitlichen Begrenztheit geschehen: „Wer Berauschung zu oft, zu lange und zu intensiv sucht, verfällt einer Ausgrenzung, die nur durch die öffentliche Reue und eine nachfolgende Buße mit dem Versprechen, sich zu bessern, auf1 gehoben werden kann“ (Legnaro 1982b: 167) . 1
Damit ist bereits zu dieser Zeit ein Themenkanon angelegt, der auch heute noch sehr lebendig ist. So lassen sich etwa die Treffen der Anonymen Alkoholiker und anderer Selbsthilfegruppen als „ein öffentlicher Bußgang“ (Schwoon 1993: 216) charakterisieren und die dort vorgetragenen Berichte können als „säkularisierte Beichten“ (ebd.) aufgefaßt werden. Individuelle Schuldund Schamgefühle können innerhalb der Selbsthilfebewegungen mit den Mitteln der Buße und dem Versprechen, sich zu bessern, abgetragen werden. So heisst es etwa in den Zwölf Schritten der Anonymen Alkoholiker unter Punkt 5: „Wir gestehen Gott, uns selbst und einem anderen Menschen die genaue Art unserer Fehler ein“. Und unter Punkt 8: „Wir machen eine Liste aller Personen, denen wir Unrecht zugefügt haben, und nehmen uns vor, es an ihnen allen wiedergutzumachen“ (zit. nach Friedrichs 2002: 239). Legnaro spricht in diesem Zusammenhang treffend von einer „Psychiatrisierung ehemals religiös gefaßter Sachverhalte“ (Legnaro 1982b: 174, Fn. 26).
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Forciert wurde diese Entwicklung dadurch, dass der Alkohol beim bürgerlichen Mittelstand „seine Bedeutung als Universalgetränk“ (Groenemeyer 1999b: 183f.) verlor. Im Zuge der einsetzenden Kolonialisierung traten Kaffee, Tabak und Tee ihren Siegeszug in Europa an (vgl. Schivelbusch 1982). Der Import und der Konsum dieser kulturfremden Substanzen war anfangs jedoch heftig umstritten, was dazu führte, dass Verbote mit zum Teil drastischen Strafandrohungen bis hin zur Todesstrafe erlassen wurden (vgl. Böllinger u.a. 1995: 23; Renggli/Tanner 1994: 30; Schmidt-Semisch 2005: 124f.). Dabei waren es politischökonomische Widerstände, die gegen den Import dieser neuen „Rauschmittel“ vorgebracht wurden. Man befürchtete, dass sich durch ihre Einfuhr die Einnahmen aus dem Biermonopol verringern könnten (vgl. Austin 1982: 123f.). Daneben wurden auch gesundheitsbezogene Argumente gegen den Konsum von Kaffee und Tabak geäußert (vgl. Legnaro 2000a: 14f.; Schivelbusch 1980: 53ff.). Basierend auf der antiken medizinischen Lehre der vier Körpersäfte und Temperamente, die im 17. und teilweise auch noch im 18. Jahrhundert populär war, ging man davon aus, dass diese Substanzen die Flüssigkeit im Körper absaugen, so dass der Mensch sukzessive austrocknet und deshalb krank wird. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Angriffe auf die neuartigen Konsummittel in erster Linie auf den sozialen Kontext abzielten, in dem ihr Gebrauch situiert war. In der Mitte des 17. Jahrhunderts kam es in Europa zu zahlreichen Gründungen von Kaffeehäusern, die vom Bürgertum nicht nur als Plattform für wirtschaftliche Geschäftsbeziehungen, sondern auch zum politischen und sozialen Meinungsaustausch genutzt wurden. So existierten beispielsweise in Paris in der Mitte des 18. Jahrhunderts bereits 800 Einrichtungen dieser Art (vgl. Müller 1982: 678). Infolgedessen waren die Widerstände gegen den Kaffee und den Tabak auch Widerstände gegen das Kaffeehaus, das in einer Zeit, in der es noch keine Medien im modernen Sinne gab, als „Kommunikationszentrum“ und „Nachrichtenbörse“ (Schivelbusch 1980: 67) der bürgerlich-liberalen Öffentlichkeit galt. Vor dem Hintergrund der Emanzipationsbestrebungen des Bürgertums und deren Insistieren auf Gleichheit vor dem Gesetz und eine konstitutionelle Verfassung wurde die Lokalität des Kaffeehauses von den feudalen Führungsschichten als Bedrohung der ständischen Gesellschaftsordnung wahrgenommen. Nachdem sich die Kontrollversuche gegenüber Kaffee, Tabak und Tee als erfolglos erwiesen hatten, wurden diese Stoffe letztendlich als Phänomene des sozialen Wandels akzeptiert und von der Rechtsordnung anerkannt. Dies ist allerdings auch nicht allzu verwunderlich, ließen sich die „neuen Räusche“ (Legnaro 2000a: 13) doch vorzüglich mit der bürgerlichen Zeit- und Arbeitsökonomie verbinden. Im Gegensatz zum mittelalterlichen Menschen, der in aller Regel körperlich gearbeitet hat, war die Arbeit des Bürgers in den meisten Fäl-
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len von geistiger Natur (vgl. Schmidt-Semisch/Nolte 2000: 26f.). Kaffee und Tabak galten dabei als eine Bereicherung des Arbeitsalltags, der häufig im Sitzen verbracht wurde, wobei den beiden Substanzen eine sich gegenseitig ergänzende Wirkung auf den menschlichen Körper zugeschrieben wurde: Dem Kaffee wurde ein stimulierender Einfluss auf das Gehirn nachgesagt, das innerhalb der bürgerlichen Kultur als der wichtigste Teil des menschlichen Körpers bewertet wurde, während der Tabak die Motorik des restlichen Körpers, der als notwendiges Übel galt, auf ein Minimum reduzieren sollte (vgl. Schivelbusch 1982: 392). Die Ausbreitung der alkoholfreien Heißgetränke steht dementsprechend für die „Ausbreitung emotionsfreier Tugenden: Fleiß, Planung, (Selbst-) Distanz“ (Spode 1993: 95). Mit der gesellschaftlichen Integration von Kaffee und Tabak und der damit einhergehenden „Ernüchterung“ (Schmidt-Semisch 1994: 36) verlor der Alkoholrausch im Bürgertum seinen Status der Selbstverständlichkeit. Das hemmungslose Trinken wurde im zunehmenden Maße als unbürgerlich und abstoßend empfunden. Dies führte dazu, dass es bei den unteren Bevölkerungsschichten, die den mittelalterlichen Trinkgewohnheiten weiterhin verbunden waren, umso auffälliger wahrgenommen wurde. Mit den Worten von Spode (1993: 101): „Der scheinbare Widerspruch, daß Rationalität zugleich ihre Negation erzeugt, daß Nüchternheit Trunkenheit, daß Ordnung Chaos hervorbringt, ist ein strukturelles Merkmal der modernen Welt“.
In diesem Sinne kann man die Feststellung treffen, dass Europa im 16. und 17. Jahrhundert seine erste „Drogenkrise“ (Austin 1982) zu überstehen hatte. Nach Austin sind die Ursachen für diese Krise zum einen in der Steigerung des Alkoholgehalts durch die Destillation von Branntwein zu suchen. Zum anderen sei die Kommerzialisierung und Verbreitung von alkoholischen Getränken durch ein verbessertes Transportwesen begünstigt worden. Sicherlich haben diese Thesen einiges an Plausibilität, da vor allem die unteren Schichten in zunehmendem Maße Zugang zu den alkoholischen Getränken, allen voran zum Schnaps, hatten. Jedoch darf eine durch Drogenkonsum ausgelöste gesellschaftliche Krise niemals isoliert betrachtet werden. Sie kann nur verstanden werden im Zusammenhang mit den Mechanismen sozialer und kultureller Transformation, den sich wandelnden Fassungen legitimer und illegitimer Identität und den damit einhergehenden Problemkonstruktionen definitionsmächtiger Gruppen. Auch wenn davon auszugehen ist, dass sich durch die Destillation von Branntwein die „Qualität“ des Rauscherlebens verändert haben dürfte, so kann die erste europäische „Drogenkrise“ wohl eher als eine moralische Krise interpretiert werden, in der sich, bedingt durch den sozialen Wandel, neue Wahr-
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nehmungsformen und Interpretationsmuster von Nüchternheit und Trunkenheit etablierten (vgl. Groenemeyer 1999b: 182; Petry 1998: 37; Renggli/Tanner 1994: 32; Spode 1993: 75). Erst nachdem die bürgerlich-liberalen Schichten begannen, Rationalität und Verhaltenskontrolle als ranghohe Werte zu betrachten, wurde der ungezügelte Alkoholkonsum der unteren Gesellschaftsschichten auffällig und damit auch diskreditierbar. Ein mäßiger und verhäuslichter Gebrauch alkoholischer Getränke wurde zu einem Distinktionssymbol gegenüber statusniedrigen Gruppen; mit ihm konnte man seine Zugehörigkeit zum Bürgertum beweisen. Im Gegenzug zeigten diejenigen, die sich weiterhin berauschten, eine unzureichende Beherrschung der modernen Welt. Die unterschiedlichen Konzeptionen von Trunkenheit und Nüchternheit, wie sie sich in den Konsumgewohnheiten von Kaffee, Tabak und Tee auf der einen und Branntwein auf der anderen Seite ausdrückten, waren also auch ein Symbol für die wechselseitige Polarität und Abgrenzung der sich ausdifferenzierenden Gesellschaftsschichten: „Der Kaffee (und der Tabak) als neue Qualität der Nüchternheit ist bürgerlich, der Branntwein als neue Qualität der Trunkenheit ist proletarisch“ (Groenemeyer 1999b: 183). Abschließend kann festgehalten werden, dass die erste europäische „Drogenkrise“ bereits viele Elemente beinhaltete, die auch für spätere „Drogenkrisen“ bedeutsam sein sollten. In einer Komponente unterschied sie sich jedoch grundsätzlich von ihren Nachfolgerinnen: Die Erklärungsprinzipien und Ursachenkonstruktionen von Drogenkonsum waren nicht Bestandteil des wissenschaftlichen, sondern des religiösen Diskurses; exzessiver Alkoholkonsum wurde nicht auf eine Krankheit, sondern auf die freie Willensentscheidung des Individuums zurückgeführt.
Die religiös-moralische Kategorisierung des Alkoholkonsums Im Rahmen der neuzeitlichen gesellschaftlichen Ordnung wurde das hemmungslose Trinken moralisch stigmatisiert. Unmäßiger Alkoholkonsum wurde innerhalb des religiös-sittlichen Diskurses als fehler- und lasterhaft verurteilt. Er war „Ausdruck einer Willens- und Charakterschwäche“ (Lempke 1990: 16), die als „Störung im rechten Sittlichkeits- und Sozialverhalten“ (ebd.) beurteilt und auf der Basis theologisch fundierter Norm- und Wertvorstellungen als Sünde bewertet wurde. Demnach hatte der Trinker für sein Verhalten auch die volle Verantwortung zu tragen, da eine Sünde nur unter der Voraussetzung einer freien Entscheidung zum Handeln begangen werden kann. Die Frage nach den Ursachen des maßlosen Konsums wurde also innerhalb eines religiös-moralischen und nicht im Rahmen eines medizinisch-wissenschaftlichen Diskurses
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verhandelt. Im Jahr 1531 erschien zwar vom Mediziner Heinrich Stromer ein Buch über das „hessliche Laster der Trunckenheit“, in der er den akuten Rausch als eine Art Krankheit definierte. Problematisiert wurde hier der übermäßige Alkoholkonsum, weil dieser zu einer Reihe von Krankheiten und zu einem vorzeitigen Tod führen kann. Die Gefahr liegt für Stormer aber nicht in der Substanz des Alkohols an sich, sondern er sieht das Problem – hier geht er mit seinen Zeitgenossen konform – in den sozialen Ritualen des Konsums (vgl. Legnaro 2000a: 17; Spode 1993: 117f.). Die Mediziner der damaligen Zeit stellten sich also nicht die Frage, warum sich jemand betrank, sondern ihr Erkenntnisinteresse richtete sich ausschließlich auf die Folgen, die aus einer starken Berauschung resultieren konnten. „Ursachen und Folgen der Trunkenheit sind Gegenstände getrennter Diskurse und Berufsstände: der Ethik und der Heilskunst“ (Spode 1993: 123). Die Frage nach den Ursachen häufiger Trunkenheit war innerhalb dieses Diskurses widerspruchsfrei geklärt: „Sie war Resultat einer Willensentscheidung; diese zu erklären und zu beurteilen oblag den Ethikern, insbesondere dem Klerus“ (ebd.: 144). Mit Levine (1982a: 213) lässt sich darauf aufmerksam machen, dass die Annahme einer freiwilligen, wenn auch sündhaften Entscheidung zum Trinken auch in den USA während der Kolonialzeit Bestand hatte: „Während des 17. und des größten Teils des 18. Jahrhunderts galt die Ansicht, daß die Menschen tranken und sich berauschten, weil sie es wollten und nicht, weil sie es mußten. Nach den amerikanischen Vorstellungen der Kolonialzeit schwächte Alkohol den Willen nicht auf Dauer, führte er nicht zur Sucht, und gewohnheitsmäßige Trunksucht wurde nicht als Krankheit angesehen“.
In dieser Zeit wurde das Verlangen des Trinkers nach Alkohol mit Wörtern wie Liebe und Zuneigung beschrieben. Alkoholkonsum wurde als etwas betrachtet, „über das das Individuum im Endeffekt Kontrolle hatte, weil nach traditioneller Vorstellung weder dem Individuum noch der Substanz etwas inhärent war, das jemanden davon abhielt, maßvoll zu trinken. Trunkenheit lag in der Entscheidung des Individuums, war eine bewußt begangene Sünde“ (ebd.: 215f.). Es galt also das Denkmodell eines aktiv handelnden Menschen, der sich freiwillig zum Konsum entschließt; „man verfiel nicht dieser Droge, man wurde nicht aus innerem Antrieb an sie gekettet, sondern man wählte sie, man nahm sie, weil man es so wollte“ (Quensel 1989: 389). In der Gesellschaft der damaligen Zeit mag es zwar durchaus „Individuen gegeben haben, die ihrem Verlangen nach Alkohol verfielen, aber es gab kein gesellschaftlich legitimiertes Vokabular, um die Erfahrung in Worte zu kleiden: Es blieb eine sehr persönliche Erfahrung“ (Levine 1982a: 218). Dieses Erklärungsmodell von exzessivem Drogenkonsum sollte bis weit ins 19. Jahrhundert hinein Bestand haben und die moralische
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Tönung des Drogengebrauchs – wobei dies gegenwärtig vor allem den Konsum derjenigen Substanzen betrifft, die als illegal klassifiziert werden – ist bis heute nicht aus dem gesellschaftlichen Diskurs verschwunden.
2.2.3
Die Sozialdisziplinierung im monarchischen Absolutismus
Die Anfänge der Sozialarbeit in der spätmittelalterlichen Armenfürsorge Neben den religiös inspirierten Anstrengungen der Reformatoren, das Konsumverhalten zu beeinflussen, nahmen jedoch auch die Kontrollbemühungen der weltlichen Führungsschichten zu. In den sich entwickelnden Städten des ausgehenden Mittelalters wurden Trinkverbote erlassen und das Besäufnis wurde unter Strafe gestellt. Diese Reglementierungen müssen jedoch in einem größeren Zusammenhang betrachtet werden, da sie aufs engste mit dem Aufstieg der Städte verbunden sind (vgl. Hey/Rickling 2004: 9; Spode 1993: 65f.; Stolleis 1982: 178). Mit der Ausbreitung von Ware-Geld Beziehungen entwickelte sich eine städtische Produktionsweise und Lebensform. Das sich neu formierende Bürgertum löste sich vom Regiment der Kirche, indem sich ein auf die Stadt bezogener Verwaltungsapparat, ein eigenständiger von den Bürgern gewählter Städterat, konstituierte (vgl. Sachße/Tennstedt 1980: 23f.). Dieser bekam die Aufgabe zugewiesen, die städtische Ordnung durch entsprechende Regelungen aufrechtzuerhalten. „Es beginnt die Entfaltung der ,Guten Policey‘, der am Wohl des Gan1 zen orientierten Disziplinierung des Einzelnen“ (Spode 1993: 65) . Die Stadträte hatten als zentralisierte und eigenständige politische Gewalt die Aufgabe, Missstände zu bekämpfen und die Ordnung des Gemeinwesens aufrecht zu erhalten (vgl. Sachße/Tennstedt 1980: 37). „Der Ausfall traditonaler Ordnungsfunktionen sollte gleichsam durch ein künstliches Ordnungsnetz kompensiert werden“ (Sachße/Tennstedt 1986: 15). Insgesamt lässt sich demzufolge in dieser Zeit eine zunehmende Tendenz der Verhaltensdisziplinierung feststellen, die nicht nur das exzessive Trinken, sondern auch andere als problematisch definierte Verhaltensweisen betraf: „Mit den veränderten Wahrnehmungen und der auf Differenzierung aufbauenden Individuierung wurden auch die Kriterien für Devianz rationalisiert und differenziert und in stabilere administrative Kategorien überführt, die dem Anspruch nach Sicherheit und Lang1
Disziplin kann mit Foucault (1994: 175) begriffen werden als die Chance, „die peinliche Kontrolle der Körpertätigkeiten und die dauerhafte Unterwerfung ihrer Kräfte >zu@ ermöglichen und sie gelehrig/nützlich >zu@ machen“.
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums sicht entsprechen konnten. In der engeren differenzierten städtischen Gesellschaft wurden die Grenzen der Normalität enger gezogen“ (Groenemeyer 1999b, 179).
Zum ersten Mal wurde eine Verbindung zwischen dem Wohl des Einzelnen und dem der ganzen Gesellschaft hergestellt. In diesem Sinne tangierte exzessiver Alkoholkonsum mehr und mehr das öffentliche Interesse und wurde als Gefährdung des städtischen Gemeinwohls angesehen. Es wurde beispielsweise vorgetragen, dass sich der Einzelne durch eine regelmäßige Trunkenheit nicht ruinieren dürfe, da ansonsten die Stadt für ihn und seine Familie aufzukommen habe (vgl. Schwoon 1993: 215; Stolleis 1982: 180). Vor dem Hintergrund einer „Produktion von Ordnungsnormen“ (Sachße/Tennstedt 1986: 15) gerieten dabei hauptsächlich Arme und mittellose Menschen ins Visier der städtischen Obrigkeit. Besonders fremde Bettler und Vagabunden wurden als Bedrohung für die städtische Ordnung wahrgenommen (vgl. Jütte 1986: 105). Diesem Problem versuchte man durch die Implementierung von Bettel- und Armenordnungen beizukommen, um so die mittelalterliche Almosenpraxis effizienter zu gestalten. Die Almosenpraxis des Mittelalters war keine institutionalisierte Form der sozialen Hilfeleistung (vgl. Sachße/Tennstedt 1980: 28ff.). Persönliche religiöse Motive waren das ausschlaggebende Kriterium, das die Spender zur Barmherzigkeit und Wohltätigkeit veranlasste. In der mittelalterlichen Gesellschaft erhofften sich die wohlhabenden Bürger durch die Abgabe von Almosen eine Beförderung ihres Seelenheils, während die auf Unterstützung angewiesenen Armen die Verpflichtung hatten, die Spenden in Demut anzunehmen und die Hilfegewährenden in das eigene Gebet einzubeziehen. Da es keine Institutionen gab, die die Armen auf Bedürftigkeit überprüften, existierten auch keine Bedürftigkeitskriterien im heutigen Sinne. Die Vergabe von Almosen richtete sich somit nicht nach individuellen Notlagen, sondern erfolgte quasi per Zufall, so dass von einer systematischen und geplanten Verteilung der vorhandenen Mittel nicht gesprochen werden kann. Dabei gab es eine große Zahl von „Berufsbettlern“, die ihren Unterhalt durch Betteln erwarben, obwohl sie arbeitsfähig waren. Im Gegensatz zu heute wurden diese jedoch nicht stigmatisiert, sondern galten als voll integrierte Mitglieder der Gesellschaft. Die Armen hatten nicht nur das Recht, betteln zu gehen, sondern diesbezügliche Aktivitäten wurden als „berufsähnliche Tätigkeit“ (Markert/Otto 2008: 440) betrachtet. Diese Konstruktion von Armut erfuhr mit Ausgang des Mittelalters eine grundlegende Änderung. Das Betteln wurde spätestens ab dem 16. Jahrhundert gänzlich verboten und die Unterstützungsleistung an die Einhaltung von Bedürftigkeitskriterien gebunden. Indem begonnen wurde, die Armen nach bestimmten Gesichtspunkten zu klassifizieren – man differenzierte einheimische und auswärtige Bettler, arbeitsunfähige und arbeitsscheue Almosenempfänger, würdige und unwürdige Bedürftige (vgl. Jütte 1986: 106) –, wandelte sich die mittelalter-
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liche Almosenpraxis „zur zweckrationalen sozialpolitischen Strategie“ (Sachße/ Tennstedt 1980: 33). Nur noch der einheimische und arbeitsunfähige Bedürftige, der auch innerhalb der Familie keinen Rückhalt hatte, sollte Hilfe bekommen. Städtische Armenvogte überprüften dabei die Bedürftigkeit, verteilten Bettelausweise, legten ein Armenregister an und unterbanden „Leistungserschleichung“ durch Kontrollgänge. Durch die Verknüpfung der Unterstützung an bestimmte Kriterien wurde der Arbeitsunfähige als unterstützungsberechtigt toleriert, während diesem der tatsächlich oder vermeintliche Arbeitsunwillige als „negativer Anti-Typ“ (ebd.: 35) gegenüberstand, der von nun an vielfältigen Stigmatisierungen ausgesetzt war1. Armut wurde in diesem Sinne zunehmend subjektiviert, d.h. sie galt nicht mehr als schicksalhaft gegeben, sondern wurde in Zusammenhang mit individuellem Verschulden oder Versagen diskutiert. Armut wurde nicht mehr als gottgewollt und damit unabänderlich angesehen, sondern als ein Status, der durch eigene Kraftanstrengung und Selbsttätigkeit überwunden werden kann. Dabei wurden Arbeit und Armut als „polare Gegensätze“ (Oexle 1986: 91) empfunden und innerhalb einer einfachen Kausalbeziehung miteinander verbunden: „Arbeit (...) wurde als Mittel gegen Armut verstanden, Armut also als ‚Nicht-Arbeit‘ aufgefaßt“ (ebd.). Im Gegensatz zur traditionellen Almosenabgabe richtete man an den Empfänger der Beitragsleistung bestimmte Erwartungen und Verpflichtungen. Wie Sachße und Tennstedt (1980: 34) darlegen, häufte sich in den Armenordnungen des 16. Jahrhunderts die Kritik an Müßiggang, Völlerei und Trunkenheit: „Hier wird ein regelrechter Moral- und Verhaltenskodex für die Unterstützungsempfänger aufgestellt. (...) Wirtshäuser und andere Stätten des Lasters haben sie bei Strafe des Entzugs des Almosens zu meiden (...). Auch auf die Einhaltung der Familienmoral wird geachtet, und wo Eheleute nicht oder Nicht-Eheleute beieinander wohnen, kann dies ein Grund für den Entzug der Unterstützung sein. (...) Die pädagogische Intention wird zum Wegbereiter faktischer Stigmatisierung“.
Diese erste Institutionalisierung der Armenfürsorge kann folgerichtig als ein Versuch interpretiert werden, Verhalten und Lebensführung des Armen gemäß 1
Dabei ist zu betonen, dass sich Armut an dieser Stelle überhaupt erst als soziales Problem konstituiert. Gemäß der Simmelschen Diktion, nach der im sozialen Sinne nur derjenige arm ist, der unterstützt wird (vgl. Simmel 1968: 374), lässt sich von Armut als einer sozialen Kategorie nur dann sinnvoll sprechen, wenn eine Gesellschaft dazu übergeht, der Armut einen besonderen Status zuzuweisen und bestimmte Gruppen dieser sozialen Kategorie zuzuordnen. Erst durch die Zuschreibung einer Hilfsbedürftigkeit, der Herausbildung feststehender Bedürftigkeitskriterien und deren Überprüfung durch einen bürokratisch organisierten Verwaltungsapparat treten die Armen als eine abgrenzbare und damit auch stigmatisierbare gesellschaftliche Gruppe ins öffentliche Bewußtsein (vgl. Sachße/Tennstedt 1980: 34).
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städtischer Mittelschichtsnormen zu regulieren, wobei vor allem „die Pflicht zur Arbeit, d.h. auch die Pflicht zu Fleiß, Ordnung, Mäßigung und Disziplin eine zentrale Bedeutung besaß“ (Oexle 1986: 90). Die Armenpflege soll die als unterstützungsbedürftig klassifizierten Personengruppen kontrollieren und zur Übernahme von Sekundärtugenden anhalten. Die Schaffung einer gewissen Sicherheitsgrundlage für den heimischen Armen wurde somit an eine neuartige rationale Verhaltensdisziplin gebunden. Im Rahmen der ersten Ansätze einer kommunal organisierten Armenfürsorge, die sich an den Kriterien der Kommunalisierung, Rationalisierung, Bürokratisierung und Pädagogisierung orientierte (vgl. Sachße/Tennstedt 1980), wurde Armutspolitik damit im Format sozialer Disziplinierung konzipiert, inklusive der Ausgrenzung derjenigen Personengruppen, die als „unwürdige Arme“ kategorisiert wurden. In dieser Hinsicht kann die Ablösung der kirchlichen Mildtätigkeit durch die Armenordnungen in den Städten des späten Mittelalters als Vorläufer moderner Sozialpolitik und Sozialarbeit aufgefasst werden (vgl. Sachße/ Tennstedt 1986: 14).
Die Entfaltung der Disziplinargesellschaft Mit der Herausbildung von territorialen, absolutistisch geprägten Einzelstaaten am Ende des 30-jährigen Krieges wurde die Disziplinierung „von einer Strategie zur Bearbeitung spezifisch städtischer sozialer Probleme zum gesamtgesellschaftlichen Programm“ (Sachße/Tennstedt 1986: 17). Zur gleichen Zeit entstanden auch erstmals Wirtschaftstheorien, die einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Gesundheit der Untertanen und dem Reichtum des Staates herstellten, so dass sich die Regierenden der damaligen Zeit darum bemühten, die Sterblichkeit der Individuen zu senken und ihre Arbeitsfähigkeit sicherzustellen (vgl. Bleker 1983: 230). Die gesamte Wohlfahrt der Untertanen wurde auf diese Weise zur Aufgabe staatlicher Regulierungen (vgl. Sachße/Tennstedt 1980: 86): „Ein wachsender Beamtenapparat produzierte ein immer dichter werdendes normatives Netz landesherrlicher Gebote und Verbote, vor allem im Strafrecht, Gewerberecht, Wirtschafts- und Finanzrecht, unter denen die Luxusverbote und mit ihnen die Regulierung des Trinkens einen bedeutenden Platz einnahmen“ (Stolleis 1982: 180).
Als Sinnbild für diese „‘Fundamentaldisziplinierung‘ der Gesellschaft“ (Sachße/ Tennstedt 1986: 18) können die Zucht- und Arbeitshäuser aufgefasst werden,
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die um die Wende zum 17. Jahrhundert in ganz Europa entstanden sind1. Auch der Trinker musste mit der Einweisung in eine dieser Arbeitsanstalten rechnen (vgl. Feuerlein 1988: 391; Lempke 1990: 16; Stolleis 1982: 188)2. Dabei rekrutierten sich die Insassen dieser Einrichtungen aus den unterschiedlichsten Gruppen, wobei sie jedoch eine Gemeinsamkeit hatten: Sie waren gesellschaftlich marginalisiert. Neben dem Trinker wurden etwa Kranke, alte Menschen, Wahnsinnige, Witwen, Waisenkinder, Prostituierte, gerichtlich verurteilte Verbrecher, arbeitsscheue Bettler eingewiesen, kurzum: Jede Randgruppe der absolutistischen Gesellschaft trug ihren Anteil zur Belegung der Zuchthäuser bei (vgl. Sachße/Tennstedt 1980: 115; Stekl 1986: 120). Die Interventionsformen dieser Anstalten waren dabei sowohl punitiv sanktionierend als auch erzieherisch ausgestaltet. Die Zucht- und Arbeitshäuser sollten diejenigen Menschen, die noch ihren Leidenschaften und dem Müßiggang verfallen waren, „zu reibungslos funktionierenden ‚Erwerbsmaschinen‘ und gehorsamen Untertanen“ (Treiber/Steinert 1980: 33) erziehen, denn gerade innerhalb der für das 17. und 18. Jahrhundert typischen vorindustriellen Produktionsform, der Manufaktur, in der im Verhältnis zum traditionellen Handwerk Arbeitsteilung und Detailgeschick gefragt waren, benötigte man billige, aber vor allem auch geeignete Arbeitskräfte. Diese rekrutierte man zum Teil aus den Zwangsanstalten und nicht selten wurden auch Manufakturen direkt in den Arbeitshäusern eingerichtet (vgl. Sachße/Tennstedt 1980: 93ff.). Dabei darf die Funktion der Zucht- und Arbeitshäuser jedoch nicht allein in diesen ökonomischen Motiven gesucht werden. Diese waren weniger Ausbeutungsstätten billiger Arbeitskräfte, sondern ihr Nutzen bestand vielmehr darin, die unteren Bevölkerungsgruppen an die neuen Verhaltensanforderungen der bürgerlichen Mittelschicht zu gewöhnen. Das Hauptziel der Arbeit in der Anstalt lag also weniger in der Erwirtschaftung eines ökonomischen Mehrwerts, sondern vielmehr bestand ihre Funktion in der „Fabrikation des zuverlässigen
1
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Das erste Arbeitshaus war dabei die Anstalt Bridewell in London im Jahr 1555. Auf dem europäischen Festland wurde 1595 in Amsterdam die erste Zwangsarbeitsanstalt gegründet. In Deutschland wurde 1609 in Bremen das erste Zuchthaus errichtet, wobei die meisten Gründungen auf deutschem Boden erst im 18. Jahrhundert erfolgten (vgl. Sachße/Tennstedt 1980: 113). Neben der Einweisung in ein Arbeitshaus waren die Ausnüchterung bei Brot und Wasser und die Abschiebung über die Landesgrenzen bevorzugte Strafen (vgl. Schwoon 1993: 220). Das Risiko für die Einweisung in ein Arbeits- oder Zuchthaus wie die generelle Sanktionierung des Trinkverhaltens waren dabei standesspezifisch verteilt, da die feudale Hofgesellschaft von den Maßhaltevorschriften ausgenommen war. Es lässt sich demnach eine Parallelität von strengem Vorgehen gegen die unteren Stände bei gleichzeitiger Unmäßigkeit der oberen Stände konstatieren (vgl. Stolleis 1982: 188f.). „Die Kontrolle der Trunksucht war immer eine Kontrolle von oben nach unten, ein Herrschaftsinstrument“ (Schwoon 1993: 220).
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Menschen“ (Treiber/Steinert 1980). Mit den Worten von Sachße und Tennstedt (1980: 38): „Es handelt sich um die Umerziehung, eben die Disziplinierung einer Gruppe von Menschen, die völlig anderen Lebensgrundsätzen folgt, als sie der sich entfaltende Tauschverkehr benötigt; einer Gruppe, für die Arbeit allererst das Mittel zur Befriedigung konkreter Bedürfnisse bildet und der jedes abstrakte Erwerbsstreben fehlt. Worum es also geht, ist die Verankerung neuzeitlicher Rationalität und Ökonomie in der Persönlichkeitsstruktur der Angehörigen der unteren und untersten Bevölkerungsschichten; die ‚Zurichtung‘ eines neuen Menschentypus, der über die Fähigkeiten und die Motivation des Lohnarbeiters verfügt und damit um die Schaffung einer unerläßlichen Voraussetzung für die Entfaltung bürgerlicher Produktion“.
Bevor nämlich die Arbeitskraft überhaupt ausgebeutet werden kann, muss sie zunächst einmal als Arbeitskraft konstituiert werden: „Lebenszeit muss in Arbeitszeit synthetisiert, die Individuen an den Ablauf des Produktionsprozesses fixiert und dem Zyklus der Produktion unterworfen werden; Gewohnheiten müssen ausgebildet, Zeit und Raum in feste Schemata eingefügt werden. Mit anderen Worten: Die Akkumulation von Kapital setzt Produktionstechniken und Arbeitsformen voraus, die es erst ermöglichen, eine Vielzahl von Menschen ökonomisch einzusetzen“ (Lemke u.a. 2000, 26). Die Unterbringung in eine Arbeitsanstalt bedeutete für den Häftling einen radikalen Bruch mit seinen bisherigen Lebensgewohnheiten. Hier galt für ihn eine rigorose und rationale Zeitdisziplin, er musste sich an mechanische Arbeitsvollzüge gewöhnen und sollte dabei lernen, sich selbst zu disziplinieren, um ein gemäßigtes, fleißiges und bescheidenes Leben zu führen1. All dies waren Anforderungen, die auch vom Arbeiter in der Manufaktur erwartet wurden. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass der Prozess vom Ausgang des Mittelalters, der mit der Reformation im 16. Jahrhundert eingeleitet wurde, bis zur Herausbildung der territorialen Flächenstaaten durch eine zunehmende Disziplinierung der gesamten Gesellschaft gekennzeichnet war. Die Nützlichkeit des Menschen sollte verbessert, Gewohnheiten ausgebildet und Zeit- und Raumvorstellungen modelliert werden. In dieser Hinsicht kann man festhalten, dass der absolutistische Staat entscheidende Vorarbeit für die neuartigen Verkehrs- und Umgangsformen der sich ankündigenden kapitalistischen Industriegesellschaft leistete, denn gerade in der im Rahmen des Industrialisierungsprozesses hervorgebrachten Institution der Fabrik wurden Individuen benötigt, „die nach den allgemeinen Normen einer industriellen Gesellschaft mechanisiert sind“ (Foucault 1994: 311). Wie Foucault (1994) hervorhebt, entwickelte sich im 17. und 18. Jahrhundert, mit dem fortschreitenden Aufstieg des Bürgertums 1
Zum umfassenden Disziplinaranspruch der Zucht- und Arbeitshäuser vgl. Stekl 1986.
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und dem Entstehen des Kapitalismus, eine neue Art von Machtausübung, die er als „Disziplinarmacht“ bezeichnet. Die Individuen werden nun nicht mehr alleine über Zwang und Unterdrückung, sondern über „Autonomie“ und „Freiheit“ gesteuert. Dabei sind es die von den Subjekten verinnerlichten Normen der sich ausdifferenzierenden Humanwissenschaften (z.B. Medizin, Psychologie und Pädagogik), auf denen die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft beruht. Diese wissenschaftlichen Disziplinen konstituieren das Subjekt, indem sie „natürliche“ Regeln, Merkmale und Abläufe produzieren, die als allgemeine Wahrheiten in der Gesellschaft Akzeptanz erfahren. So wird beispielsweise im Rahmen des modernen medizinisch-psychiatrischen Suchtdiskurses festgelegt, wer als „gesund“ und „normal“ und wer als „krank“ und „abweichend“ anzusehen ist (s. Kap. 3). Die Menschen werden zu einer ständigen Selbstbeobachtung und zu einem fortwährenden Abgleich mit den wissenschaftlich legitimierten Normen aufgefordert. Mit der Vorstellung von Normalität vor Augen können sie sich dabei selbst vergewissern, wer sie sind, welchen Platz sie in der Gesellschaft einnehmen und was sie im Falle von „Defiziten“ und „Abweichungen“ zu tun haben. Die Disziplinarmacht ist folglich eine produktive Macht, da sie nicht die Unterdrückung anstrebt, sondern auf die Selbstoptimierung der Subjekte ausgerichtet ist. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erfahren diese disziplinierenden Politiken eine wichtige Erweiterung und Differenzierung: „Der abendländische Mensch lernt allmählich, was es ist, eine lebende Spezies in einer lebenden Welt zu sein, einen Körper zu haben sowie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und kollektive Gesundheit, die man modifizieren, und einen Raum in dem man sie optimal verteilen kann. Zum ersten Mal in der Geschichte reflektiert sich das Biologische im Politischen“ (Foucault 1983: 137f.).
Nicht mehr nur das einzelne Individuum und dessen Körper, sondern die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit, mit ihren spezifischen Problemen und ihren eigenen Variablen, wird zu einem Gegenstand gesellschaftlicher Interventionsstrategien: „Die Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen“ (ebd.: 135).
Neben die Disziplinarmacht, die auf den einzelnen Menschen abzielt und versucht, dessen Kräfte zu steigern und ihn nützlich zu machen, tritt eine staatliche organisierte Machtform, die global auf das Element der Bevölkerung abzielt, das sie gleichermaßen konstituiert wie durch Wohlfahrtsprogramme zu regulieren sucht (s. Kap. 4).
3
Die Konstruktion von Sucht als Krankheit im medizinisch-psychiatrischen Diskurs der Moderne
Die beschriebenen Transformationsprozesse blieben nicht ohne Folgen für das ärztliche Wissen, so dass das Phänomen der Trunkenheit während der Zeit der Aufklärung, als sich die Wissenschaften von der Religion abspalteten, Eingang in den medizinisch-wissenschaftlichen Diskurs fand. Alkohol- und Drogenkonsum wurde mehr und mehr zu einem Schwerpunkt wissenschaftlicher Fragestellungen1. In zahlreichen Abhandlungen veränderte sich dabei der Blick auf den Trinker: „Nicht mehr die akute Berauschung, sondern die mangelnde Fähigkeit, sich dauerhaft vernünftig und nüchtern zu halten, wurde zunehmend als Krankheit definiert“ (Kloppe 2004: 163). Die religiös-moralische Kategorisierung der Trunkenheit verlor sukzessive ihren hegemonialen Status und medizinisch-psychiatrische Erklärungsmuster traten an ihre Seite. Der Trinker wurde immer seltener sittlich verurteilt, sondern vielmehr als bemitleidenswertes Opfer betrachtet; statt der „Liebe“ thematisierte man nun den pathologischen Zwang zum Trinken und die einzig wirksame Hilfe wurde nicht mehr in der Bekehrung bzw. Bestrafung, sondern in der Behandlung und Heilung gesehen. Ausgangspunkt für diesen Wandel waren dabei die angloamerikanischen Länder (vgl. Feuerlein 1988: 389). In den USA veröffentlichte der Arzt Benjamin Rush im Jahr 1784 eine Arbeit über die körperlichen, sozialen und moralischen Folgeschäden des Branntweintrinkens, wobei er annahm, dass man diesem moralischen Laster durch Gewohnheit regelrecht verfallen kann. Diesen Zustand der Unfähigkeit, sich alkoholischer Getränke zu enthalten, bezeichnete er als eine „Krankheit des Willens“ (vgl. Kloppe 2004: 162; Levine 1982a: 216f.; Schwoon 1993: 217; Spode 1993: 126f.; 2005: 98). Rush thematisierte damit als einer der Ersten die Möglichkeit eines der Substanz inhärenten Potentials zur Genese einer Sucht. Und er schlug auch eine Heilmethode vor, wie man dieser Krankheit beikommen kann: „Meine Beobachtungen erlauben mir zu sagen, daß Alkoholsüchtige unverzüglich und gänzlich auf Alkohol verzichten sollten. ‚Probiere nicht, nimm es nicht in die Hand, berühre es nicht‘ sollte auf jedes Gefäß, das Alkohol enthält, im Haus eines Mannes, der von
1
So wurden 1904 im Rahmen einer bibliographischen Zusammenstellung der wissenschaftlichen Literatur über den Alkohol und den Alkoholismus bereits 13.000 Literaturbeiträge zu dieser Thematik registriert (vgl. Abderhalden 1904).
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums der Trunkenheit kuriert werden möchte, geschrieben werden“ (Rush 1934: 221, zit. nach Levine 1982a: 217).
Das Behandlungsziel der Drogenabstinenz war geboren. Gleichzeitig stellte Rush auch einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem stetigen Verlangen nach Alkohol und dem sozialen und ökonomischen Ruin eines Individuums her. Kriminalität, Armut, Geisteskrankheit und ein zerstörtes Familienleben sind nach seiner Ansicht die zwangsläufigen Konsequenzen, die aus einem exzessivem Alkoholkonsum resultieren (vgl. Levine 1982a: 217; Schwoon 1993: 217). Freilich muss darauf hingewiesen werden, dass Rush mit seinem Ausführungen weiterhin in der Tradition des alten religiös-moralischen Diskurses stand: „Ihm geht es noch primär um die Folgen des unmäßigen Gebrauchs – und dieser ist ein Laster und noch kaum eine Krankheit sui generis. Die Schuld liegt zunächst beim Trinker und erst in zweiter Linie bei seinem ,teuflischen‘ Getränk. (...) Angelpunkt seines Denkens blieb die Sünde. Rush eliminierte die Freiheit nicht gänzlich und ermöglichte noch ein gewisses Maß an Schuldzuweisung“ (Spode 1993: 126f.). In den Rang einer eigenständigen Krankheit wurde das Konzept der Sucht endgültig erhoben, als im Jahr 1819 der Moskauer Arzt Constantin von BrühlCramer in seiner Abhandlung über die „Trunksucht und eine rationelle Heilmethode derselben“ den Begriff der Trunksucht in den medizinisch-wissenschaftlichen Diskurs einführte und systematisch deren Ätiologie und Symptomatologie entwickelte, wobei Brühl-Cramer bereits viele Diagnosekriterien heutiger Suchtmodelle ausformuliert hat (vgl. Renggli/Tanner 1994: 55; Spode 1993: 1 127f.; 2005: 99f.) . „Demnach ist die Trunksucht durch einen mächtigen Trieb gekennzeichnet, der sich durch anhaltendes Trinken entwickelt und dann bei Trinkern zu einer Qual führt, falls er nicht befriedigt wird“ (Groenemeyer 1999b: 186). Der Kontrollverlust, die Entzugserscheinungen beim Absetzen der 1
Der Begriff „Sucht“ leitet sich etymologisch ab vom gotischen „siukan“ (= krank sein) und ist bis zum 16. Jahrhundert die allgemeine Bezeichnung für Krankheit. Zu diesem alten medizinischen Krankheitsbegriff gehören etwa Erscheinungen wie die Schwindsucht oder die Gelbsucht. Ab dem 16. Jahrhundert wird der Begriff der Sucht vom heutigen Wort Krankheit verdrängt. Sucht wird um diese Zeit zu einer negativen Charaktereigenschaft und Neologismen wie „Ruhmsucht“, „Geldsucht“, oder „Rachsucht“ bringen unmoralische oder unvernünftige Verhaltensweisen zum Ausdruck. Ab dem 19. Jahrhundert kommt es zu einer umgangssprachlichen Verknüpfung der Wortwurzeln von Sucht und suchen, so dass es fortan zu den Charakteristika der Sucht gehört, daß die von ihr Betroffenen auf der Suche nach der Erfüllung ihrer Wünsche sind, die sie jedoch nicht finden können, weil es sich eben um krankhafte Bedürfnisse handelt. Mit der Erfindung des Begriffs der „Trunksucht“ durch Brühl- Cramer wird Sucht letztendlich zu einem medizinischen Fachbegriff für alle Arten der Hörigkeit gegenüber körperlich und/oder seelisch abhängig machenden Substanzen (vgl. Kloppe 2004, 138; Renggli/Tanner 1994: 53; Scheerer 1995: 10ff.; Vogt 1991: 14f.; Vogt/Scheerer 1989: 11ff.).
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Droge und die Toleranzentwicklung werden zu den wesentlichen Charakteristika der Sucht. Dabei thematisierte Brühl-Cramer diesen Verlust der Selbstkontrolle nicht mehr als eine moralische Willensschwäche. Waren Trinker bei Rush noch beides, nämlich Sünder auf der einen und Opfer der übermächtigen Substanz auf der anderen Seite, so wurde ihnen nun vollends ihre Verantwortung für ihr Trinkverhalten entzogen. „Auch der Beginn der Erkrankung dürfe nicht moralisch verurteilt werden: Die allmähliche Gewöhnung beruhe auf Unkenntnis der Gefahren. Mit dem gelegentlichen, mäßigen Genuss berauschender Getränke werde eine Prädisposition bzw. Anlage zur Trunksucht gelegt, die virulent werden könne, falls weitere Faktoren – für die der Kranke nicht verantwortlich zu machen sei – hinzukämen“ (Aßfalg 2003: 15f.). Allerdings konnte sich diese Sichtweise des Alkoholkonsums nicht direkt als wirkmächtiges Konzept etablieren. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch stritten sich die moralischen, rechtlichen und medizinischen Autoritäten über die „adäquate“ Repräsentation der Trunksucht (vgl. Fahrenkrug/Quack 1985: 348). Erst um die Jahrhundertwende konnte die Medizin das Krankheitsmodell und damit auch den Anspruch auf Erklärung und Behandlung der Trunksucht gegen das ältere, moralisch-ethische Alkoholwissen durchsetzen. So stellt etwa der Sozialhygieniker Grotjahn (1900: 362) fest, dass „die Trunksucht glücklicherweise endlich auch im Laienpublikum mehr als geistige Erkrankung wie als sittliche Verfehlung aufgefasst wird“. Die zunehmende Akzeptanz des Erklärungsmusters der Suchtkrankheit lag vor allem darin begründet, dass die Frage der Ätiologie nun endgültig geklärt zu sein schien: Die Biologie und in ihrem Gefolge der Sozialdarwinismus und die Entartungstheorie wurden zu einem „universellen Leitmotiv der Welterklärung“ (Spode 1993: 135) und dominierten folglich auch in zunehmendem Maße den Diskurs über den Trinker. Der Sieg des Krankheitskonzepts der Sucht vollzog sich damit vor dem Hintergrund einer immer stärkeren Akzeptanz rassenhygienischer und erbbiologischer wissen1 schaftlicher Erklärungskonzepte . Im Handwörterbuch der deutschen Staatswissenschaften von 1909 konnte man so letztendlich zur Feststellung gelangen: „Im allgemeinen hat jetzt in der Wissenschaft diese tolerante Ansicht gesiegt. Allgemein wird jetzt anerkannt, daß nicht wenige Trinker von Haus aus Psychopathen sind, bei denen die Trunksucht nichts weiter ist als eine Erscheinungsform ihres allgemeinen kranken Zustands“ (zit. nach Spode 1993: 252).
Im Jahr 1851 wurde die erste Trinkerheilanstalt in Deutschland gegründet und bis zum ersten Weltkrieg gab es bereits 54 Einrichtungen dieser Art (vgl. Feuer1
Für eine ausführlichere Darstellung der Ätiologie des Suchtkonzepts im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts s. Kap. 5.2.
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lein 1988: 391; Hauschildt 1995: 43). In der Weimarer Republik etablierte sich durch die Zusammenarbeit von Abstinenzvereinen, Wohlfahrtsverbänden und staatlicher Fürsorge „ein differenziertes, sich langsam professionalisierendes System der Trinkerfürsorge“ (Schmid 2003: 113). Mit großen Erwartungshaltungen wurde die Behandlung und Heilung der Suchtkrankheit angegangen. So schreibt etwa E. Hirsch, der einer der ersten Trinkerheilanstalten in Deutschland vorstand, im Jahr 1879: „Gegenüber der vielfach verbreiteten Ansicht, dass einem richtigen Trinker nicht zu helfen sei, bezeuge ich vielmehr, dass im Grunde kein Trinker unheilbar ist“ (zit. nach Klein 2008: 3).
Gleichzeitig wurde dem „Zecher“ von den Medizinern der Ratschlag erteilt, seinen Konsum gemäß dem Erklärungsprinzip der Suchtkrankheit zu interpretieren und sich einer Therapie zu unterziehen. Der Sozialmediziner Grotjahn (1900: 363) stellte beispielsweise folgende Handlungsanweisung auf: „Du sollst dich einer Behandlung oder einer Absonderung in einer Anstalt unterziehen, wenn bei dir ein krankhafter, unbezwinglicher Drang zum Trinken festgestellt wird“.
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts waren es dann vor allem zwei Entwicklungslinien, die das Krankheitsmodell der Sucht in der öffentlichen Wahrnehmung fest etablieren sollten und die den Grundstein für die auch heute noch populäre Auffassung der Suchtproblematik legten: Die Bewegung der Alkoholiker in Form einer Selbsthilfeorganisation („Anonyme Alkoholiker“) auf der einen und die Arbeiten von Elvin Morton Jellinek (1960) über den Alkoholismus auf der anderen Seite. Dessen Werk „The Disease Concept of Alcoholism“ aus dem Jahr 1960 kann als die klassische Arbeit zum Krankheitsmodell der Sucht angesehen werden, wobei Jellinek mit seinen Thesen dazu beitrug, die Lehre der Selbsthilfeorganisation wissenschaftlich zu untermauern (vgl. Groenemeyer 1999b: 200f.; Spode 2005: 107f.). Nach Schwoon (1993: 218) ist davon auszugehen, dass die Arbeiten Jellineks einen erheblichen Einfluss auf die Anerkennung von Sucht als Krankheit in Deutschland durch das Bundessozialgericht im Jahr 1968 und die damit verbundene finanzielle Absicherung durch die Rentenversicherungsträger hatten. Dabei wird der Trinker bei Jellinek radikal von jeglicher moralischer Schuld an seinem Verhalten freigesprochen, da dieser grundlegend zwischen Alkoholikern und Nicht-Alkoholikern differenziert. Demnach können die meisten Menschen problemlos mit dem Alkohol umgehen; nur manche Individuen haben eine spezifische Disposition, problematische Trinkgewohnheiten zu entwickeln. Alkoholismus wird dabei „als eine Art Stoffwechselfunktionsstörung, vergleichbar der Diabetes, begriffen, auf deren Zustandekommen der Ein-
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zelne so gut wie keinen Einfluß hat. Entweder man ist suchtgefährdet, d.h. unter Alkoholeinwirkung wird der Krankheitsprozeß in Gang gesetzt, oder man ist es nicht“ (Nöcker 1990: 55f.). Als das diskriminierende Merkmal für das Vorliegen einer Suchtkrankheit wird dabei das unwiderstehliche Verlangen nach alkoholischen Getränken bzw. der Kontrollverlust angesehen, wobei Jellinek hierunter die Entwicklung einer physischen Abhängigkeit versteht, die dazu führt, dass Alkoholiker angesichts der Entzugssymptome nicht mehr mit dem Trinken aufhören können, sobald sie Alkohol zu sich genommen haben (vgl. Groenemeyer 1999b: 204). Im Rahmen dieses Konzepts wird Alkoholismus zu einer unheilbaren Krankheit, die nur zum Stillstand gebracht werden kann. Auch nach einer erfolgreichen Therapie kann der Suchtkranke nach Jellinek nie wieder Alkohol konsumieren, ohne das Risiko eines erneuten Krankheitsausbruchs einzugehen (vgl. Nöcker 1990: 227, Fn. 34). Darüber hinaus wird Alkoholismus als progressive Krankheit begriffen. Jellinek nimmt an, dass der Verlauf einer Abhängigkeit unweigerlich abwärts gerichtet ist. Sollte dieser Prozess nicht durch eine Abstinenzbehandlung unterbrochen werden, dann endet er mit dem sozialen Abstieg, der totalen Verelendung oder dem Tod (vgl. Groenemeyer 1999b: 206). Jellineks Konzeption von Sucht als eigenständiger Krankheit sorgte dafür, dass theologisch orientierte Vorstellungen von Alkoholismus immer mehr in den Hintergrund gedrängt wurden. Die Pfarrer, die in den Anstalten bislang noch häufig die Rolle des „Hausvaters“ bekleideten, wurden zunehmend durch medizinisches Fachpersonal abgelöst. „Aus der Trinkerfürsorge wurde die Suchtkrankenhilfe, und aus Trinkerheilstätten wurden Fachkliniken“ (Schmid 2003: 119). Als Chemiker und Pharmakologen im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts immer mehr Wirkstoffe isolierten und synthetisierten, wurde das Krankheitsbild der Trunksucht zum Modell für Sucht schlechthin und folglich auch auf andere 1 Substanzen übertragen (vgl. Fahrenkrug/Quack 1985) . So sprach der Berliner Arzt Levinstein im Jahr 1873 erstmals von der Morphiumsucht (vgl. Scheerer/ Vogt 1989: 13) und nur wenig später verallgemeinerte der Psychiater Erlen-
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Die Isolation der reinen Wirkstoffe aus den Pflanzendrogen Opium und Coca gelang erst im 19. Jahrhundert. Im Jahr 1805 entdeckte der Apotheker Setürner erstmals die sedierenden und schmerzstillenden Ursachen des Opiums, wobei er diesen Stoff in Anlehnung an den griechischen Gott des Schlafes (Morpheus) Morphium nannte (vgl. Jungblut 2004: 29). Im Jahr 1860 isolierte der Mediziner Niemann das Hauptalkaloid der Cocapflanze und gab diesem den Namen Kokain (vgl. Gunkelmann 1989: 359). Im Jahr 1874 gelang dem Engländer Wright erstmals die Isolation von Heroin, einem halbsynthetischem Morphinderivat (vgl. de Ridder 1991: 18). Amphetamin (Speed) wurde 1887 von Edeleanu und Methylendioxymethamphetamins (MDMA), heute besser bekannt als Ecstasy, im Jahr 1898 vom Haber synthetisiert (vgl. Schmidt-Semisch 1997: 28ff.).
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meyer seine Beobachtungen bei Kokainkonsumenten und hob dabei vor allem drei Merkmale hervor: „Kokain erzeuge eine Sucht, die der durch Morphium und Alkohol erzeugten gleichzusetzen sei; es rufe schwere psychische Veränderungen hervor, die sich bis zur ,Gemeingefährlichkeit‘ entwickeln könnten; es führe zu einem rapiden körperlichen und moralischen Verfall“ (Gunkelmann 1989: 361).
In der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg ging man dazu über, den Begriff der „Rauschgiftsucht“ als einen medizinischen Fachterminus für alle Formen der Substanzabhängigkeit aufzufassen. Dabei wurde es innerhalb der Ärzteschaft zur einhelligen Meinung, die Bestimmungen über die Behandlung von Alkoholikern auch auf andere Arten von Drogengebrauch zu übertragen (vgl. Kaulitzki 1995: 145f.). So beschloss man auf dem 47. Deutschen Ärztetag im Jahr 1928 eine einheitliche Grundlinie für die Behandlung von Drogengebrauchern, die vorsah, Opiat- und Kokainkonsumenten in geschlossene Einrichtungen einzuweisen, wobei als Behandlungsziel die stationäre Abstinenztherapie festgelegt wurde (vgl. Gerlach/Engemann 1999: 14f.). Auch nach dem Zweiten Weltkrieg beanspruchten die Ärzte die Zuständigkeit für die Suchtbehandlung in psychiatrischen Abteilungen, während die ambulante Behandlung als Missachtung der ärztlichen Berufspflichten betrachtet wurde (vgl. Schmid 2003: 116f.). Da das Hauptaugenmerk der damaligen Zeit den Opiaten galt, wurde dem Vorliegen einer körperlichen Abhängigkeit eine besondere Bedeutung beigemessen. Entsprechend dieser stark pharmakologisch zentrierten Sichtweise definierte ein Expertengremium der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 1950 Sucht als einen Zustand der Hörigkeit gegenüber Rausch- und Betäu1 bungsmitteln (vgl. Scheerer 1995: 13) . Als jedoch im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer mehr Substanzen den internationalen Kontrollabkommen unterworfen werden mussten (s. Kap. 5.4.3), wurde der Suchtbegriff angesichts der Heterogenität der verschiedenen Drogen immer problematischer (vgl. Böllinger u.a. 1995: 26). So behandelte man beispielsweise Cannabis und Kokain, Substanzen, die nach Einschätzung der Mediziner keine körperliche Abhängigkeit erzeugen, rechtlich als Suchtstoffe, obwohl sie die Definitionsmerkmale der Sucht gar 1
Im Jahr 1952 wurde erstmals eine international verbindliche Kodifizierung des Suchtkonzepts durch ein Expertengremium der WHO vorgelegt. Sucht wird hier definiert als „ein Zustand periodischer und chronischer Intoxikation, der durch die wiederholte Einnahme einer (natürlichen oder synthetischen) Droge hervorgerufen wird. Ihre Charakteristika sind (1) ein überwältigendes Verlangen oder Bedürfnis (zwanghafter Art), die Drogeneinnahme fortzusetzen und sich diese mit allen Mitteln zu verschaffen; (2) eine Tendenz zur Dosissteigerung; (3) eine psychische (psychologische) und allgemein eine physische Abhängigkeit von den Drogenwirkungen; (4) zerstörerische Wirkungen auf das Individuum und die Gesellschaft“ (WHO 1952, zit. nach Vogt/Scheerer 1989: 14).
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nicht erfüllten. Diese Problematik führte schließlich dazu, dass der Begriff der Sucht aufgegeben wurde. Stattdessen wurde nun zwischen physischer und psychischer Abhängigkeit unterschieden (vgl. Scheerer 1995: 14). Drogenabhängigkeit wurde dabei definiert als „ein Zustand, der sich aus der wiederholten Einnahme einer Droge ergibt, wobei die Einnahme periodisch oder kontinuierlich erfolgen kann. Ihre Charakteristika variieren in Abhängigkeit von der benutzten Droge“ (WHO 1964, zit. nach Vogt/Scheerer 1989: 15). Gültigkeit besaß diese Definition nur in Zusammenhang mit der von der WHO entworfenen Drogentypologie. Unterschieden wurde zwischen dem Morphin-, Kokain- und Cannabis-Typ und zwischen Barbituraten, Amphetaminen, Khat und Halluzinogenen (vgl. Böllinger u.a. 1995: 26). Festzuhalten bleibt also, dass das naturwissenschaftlich-medizinische Problemmuster der Suchtkrankheit zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert einen hegemonialen Status im Rahmen des Drogendiskurses erlangen konnte. Das heutige Wissen über den Drogenabhängigen basiert dabei noch auf jenen Grundannahmen, die bereits um 1800 Eingang in den Diskurs der Ärzte gefunden hatten (vgl. Spode 1993: 145). Es sollte zu einer Selbstverständlichkeit werden, dass Suchtkranke nicht mehr in Kerkern oder Arbeitshäusern zu landen haben und dort zu bestrafen sind, sondern dass sie aufgrund ihres unverschuldeten Krankheitszustands in geschlossenen Anstalten behandelt werden müssen. Mit der Etablierung des Krankheitskonzepts der Sucht wurden demnach vor allem zwei Prozesse in Gang gesetzt: Zum einen wurde dem Drogenabhängigen eine Verantwortung für sein Verhalten abgesprochen, so dass er, zumindest partiell, vom 1 Stigma des Lasterhaften exkulpiert war . Zum anderen hat sich die Medizin des Phänomens angenommen und ihren Anspruch auf Behandlung des Drogenabhängigen durchgesetzt. Im Rahmen der bisherigen Ausführungen liegt nun allerdings der Verdacht nahe, dass die sukzessive Etablierung des Konzepts von Sucht als Krankheit und die damit verbundene Repräsentation des Drogenkonsumenten als Opfer alleine auf die Initiative und den Einfluss der Wissenschaften zurückgeführt werden kann. Jedoch würde eine solche Auffassung wesentliche Wandlungsprozesse des 19. Jahrhunderts unterschlagen. Es muss immer berücksichtigt werden, „daß der Einfluß der Medizin auf die Körperwelt des Menschen nicht einfach von den 1
Es ist offensichtlich, dass das medizinische Erklärungsprinzip der Suchtkrankheit bis heute keine gesamtgesellschaftliche Akzeptanz finden konnte. Noch immer werden Abhängige als „willensschwache“ und moralisch zu disqualifizierende Personen kategorisiert. Sucht wird im öffentlichen Diskurs als „,Mittelzustand zwischen Laster und Krankheit’“ (Fahrenkrug/Quack 1985: 348) betrachtet. Am ehesten kann heute der Alkoholkonsument auf „mitfühlende Sorge“ (Degkwitz 2001: 100) hoffen. Beim Konsumenten illegaler Drogen dagegen findet das Konzept der Suchtkrankheit nur begrenzt Anwendung, da Drogengebrauch aufgrund der gesellschaftlichen Kriminalisierung als ein moralisches Vergehen betrachtet wird, das Strafe erfordert.
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Interessen einzelner Personen oder Gruppen bestimmt werden kann, sondern daß die Rolle der Medizin vom gesamten soziokulturellen Kontext einer Gesellschaft mitgetragen wird“ (Bleker 1983: 228). Demzufolge darf die Schaffung des Suchtkonzepts „nicht als eine eigenständige medizinische oder wissenschaftliche Entwicklung gesehen werden, sondern als Teil eines Wandels im sozialen Denken, der in den fundamentalen Änderungen des Soziallebens und der Gesellschaftsstruktur begründet ist“ (Kloppe 2004: 325). Die Aufwertung der medizinischen Profession muss im Rahmen ihrer Funktion betrachtet werden, die sie für die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft erfüllte. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wieso die Sorge um den einzelnen Körper, um seine „Gesundheit“ und seine „Krankheit“, von einer individuellen Angelegenheit zu einer öffentlichen und gesellschaftlichen Aufgabe wurde. Denn nicht nur die Suchtkrankheit, sondern auch andere Phänomene wie Armut, Arbeitslosigkeit, (Arbeits)-Unfälle, Kriminalität, Verwahrlosung, Kindersterblichkeit oder mangelhafte hygienische Verhältnisse wurden am Ende des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand gesamtgesellschaftlicher Interventionsstrategien: Wieso kam es dazu, dass individuelle, menschliche Notlagen seit dem 19. Jahrhundert als soziale Probleme interpretiert und wohlfahrtsstaatliche Sicherungssysteme eingerichtet wurden, die sich der Bearbeitung dieser Problemlagen annahmen?
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Die Erfindung des Sozialen
4.1
Die Etablierung der liberalen Bürgergesellschaft und ihre Probleme
Im 18. Jahrhundert, während des Zeitalters der Aufklärung, wurde die Rationalisierung der Lebensführung endgültig „zum Leitbild aller Stände“ (Spode 2005: 97). Die Regelsysteme der traditionellen Autoritäten verloren ihre Gewissheit, sie wurden angezweifelt und einer Kritik unterzogen. Der Mensch hatte sich nun aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) zu befreien, wobei die Vernunft zum einzigen Gradmesser einer richtigen Lebensführung werden sollte. Je mehr die überlieferten Lebensmaximen an Einfluss auf die menschliche Lebensführung einbüßten, desto mehr war der Einzelne auch gezwungen, die Regeln des Lebens selbst zu erkennen. Die Menschen waren nun nicht mehr Teil einer Ordnung, in der jeder von Geburt an eine feste Stellung inne hatte, sondern der sich individualisierende Einzelne hatte die Beziehungen zu sich selbst und zu den anderen Individuen neu ausgestalten. Das geordnete Zusammenleben war nicht mehr durch einen göttlichen Heilsplan garantiert, sondern wurde in vertraglicher Form ausgehandelt und vereinbart. Folglich musste das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft neu austariert werden: Es war eine Antwort auf die Frage zu finden, wie der aus ständisch-feudalen Abhängigkeitsstrukturen freigesetzte Mensch gesellschaftlich integriert werden kann, ohne dass seine Freiheitsrechte verletzt werden (vgl. Reyer 2002). Für die Zeitgenossen stellte sich somit das Problem, eine Konzeption von sozialer Ordnung zu entwickeln, in die das Individuum als freies und selbstverantwortlich handelndes Wesen eingebunden ist. Kurz: Es ging um die Frage der „Regierung der Freiheit“ (Fach 2003). In traditionalen, ständisch strukturierten Gesellschaften war das Individuum durch familiäre und nachbarschaftliche Beziehungsmuster oder auch durch Mitgliedschaften in städtischen Berufskörperschaften (z.B. Zünften oder Genossenschaften) zwangsweise in die Gemeinschaft eingebunden, gleichzeitig aber auch gegenüber den Wechselfällen des Lebens sozial abgesichert. Im Zuge der Aufklärung wurde dagegen die Forderung nach demokratischer Partizipation, formaler Rechtsgleichheit und der individuellen Verfügungsgewalt über Privateigentum Stück für Stück in die Realität umgesetzt. Der Einzelne wurde, zumindest dem theoretischen Anspruch nach, als Staatsbürger mit unverbrüchlichen Freiheitsrechten anerkannt und vor ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen in seine Privatsphäre geschützt. Diese liberalen Reformgedanken, die im Laufe des
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18. und 19. Jahrhunderts auch rechtlich institutionalisiert wurden, hatten u.a. zur Folge, dass das Individuum nicht mehr auf andere angewiesen war und aufgrund der Zusicherung von Rechtsschutz und Privateigentum für sich selbst sorgen konnte. Dies allerdings um den Preis eines Verlustes der gemeinschaftlichen Sicherheitsnetze im Falle von Schicksalsschlägen1. Die philosophisch-politische Theorie des Liberalismus war dabei die vorherrschende Rationalität, die diese Reformprozesse anleitete und legitimierte. Das Privileg der Geburt sollte durch das Prinzip der individuellen Leistung abgelöst, dem ständischen Fatalismus die demokratische Chancengleichheit entgegengesetzt werden. Eine neue Form der Schuld trat auf den Plan, die nun nicht mehr gottgewolltes oder naturgegebenes Schicksal war, sondern auf Selbstverantwortlichkeit beruhte. Getreu den liberalen Maximen wurde versucht, die Wirtschaftsleistung des eigenen Landes zu erhöhen, indem die Ökonomie dem freien Spiel der produktiven Kräfte überlassen wurde. Auf diese Weise wurde der Industrialisierungsprozess enorm vorangetrieben, so dass sich im 19. Jahrhundert in Deutschland die demographischen und sozioökonomischen Strukturen der Gesellschaft erheblich wandelten2. Es konstituierte sich dabei eine neuartige Form der Armut, nämlich zuerst der Pauperismus und später „die Armut des Industriearbeiters, des Proletariers“ (Sachße/Tennstedt 1986: 25). Versprach der Liberalismus die gesellschaftliche Partizipation für alle Menschen, so erzeugten die liberalen Re1
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Beispielsweise wurden in Preußen die feudalen Bindungen durch die Agrar- und Gewerbereform im Zuge der Stein-Hardenbergschen Reformen gesprengt. Über die Agrarreform wurden die Bauern aus dem feudalen Abhängigkeitssystem herausgelöst, indem sie Land zu eigener, freier Bewirtschaftung zugewiesen bekamen. Für dieses Land hatten sie jedoch beim Adel hohe Ablösungssummen zu zahlen, so dass sie sich verschulden mussten. Dies führte dazu, dass sie bei Ernteausfällen keinen finanziellen Rückhalt mehr hatten und damit oftmals der Armut verfielen, da mit der Aufhebung der traditionalen Bindungen auch die kollektiven Schutzmaßnahmen des Dorfes zerstört wurden. Im Rahmen der Gewerbereform wurden die Zünfte- und Gildeordnungen vollends aufgehoben, was dazu führte, dass jeder unter Einhaltung gewisser Bedingungen ein Gewerbe betreiben konnte. Dadurch wurde zwar die Produktivität der Wirtschaft enorm gesteigert. Allerdings führte dies auch zum Niedergang traditioneller und wenig leistungsfähiger Handwerksbetriebe und Hausindustrien, deren Besitzer nun auch nicht mehr über das alte Zünftesystem sozial abgesichert waren (vgl. Sachße/Tennstedt 1986: 23f.). Der Prozess der Industrialisierung ging mit dem größten Bevölkerungszuwachs der deutschen Geschichte einher (vgl. Geißler 2006: 32ff.). Zwischen 1816 und 1910 nahm – trotz mehrerer Auswanderungswellen – die Bevölkerung von 24,8 Millionen auf knapp 65 Millionen zu. Begleitet wurde dieser Bevölkerungszuwachs von beinahe nomadenhaften Massenwanderungen – etwa jeder zweite verließ seine Heimatstadt – von Ost nach West und vom Land in die Städte, so dass sich auch die Armut auf die städtischen Industriestandorte verlagerte. Die Zahl der Großstädte mit mehr als 100 000 Einwohnern stieg zwischen 1871 und 1910 von 6 auf 48 an. Dabei waren die Städte von einer erheblichen schichtspezifischen Ungleichheit zwischen Arbeitern und bürgerlichen Schichten geprägt. Auf der einen Seite entstanden Arbeiterquartiere mit katastrophalen hygienischen Verhältnissen, auf der anderen Seite entwickelte sich in den gehobenen Wohngebieten der bürgerlichen Mittelschichten ein urbaner Lebensstil.
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formen statt der erhofften Zielprojektion einer „klassenlosen Bürgergesellschaft“ (Gall 1993: 27) eine neue Form der Ungleichheit: Aus der Ständegesellschaft wurde gerade keine Gesellschaft gleichberechtigter Bürger, wie dies die liberalen Theoretiker anvisiert hatten, sondern eine Klassengesellschaft, in der wenige Besitzende einer großen Masse an Eigentumslosen gegenüberstanden. Der Staat übernahm dabei bis weit ins 19. Jahrhunderts hinein keinerlei Verantwortung für diese Armutsproblematik. Diese Tatsache hat ihre Hintergründe in der Art und Weise, wie im Rahmen der klassischen liberalen Theorien über menschliche Beziehungen nachgedacht wurde: „Die liberalen Autoren hatten die Gesellschaft in Form einer (freiwilligen) Assoziation von Individuen konzipiert, die immer auf die ökonomischen und politischen Einzelsubjekte zurückzuführen war. (...) In dieser Konzeption ist die bürgerliche Gesellschaft mit der Summe ihrer Teile identisch und gesellschaftliche Phänomene konstituieren keine Realität sui generis, die sich von derjenigen der politischen und ökonomischen Subjekte unterscheidet“ (Lemke 1997: 196).
Die Individuen gelten innerhalb des liberalen Denkens als rationale und frei handelnde Akteure, die sich unter marktökonomischen Gesichtspunkten zusammenschließen und Verträge aushandeln. Im Gegenzug soll sich staatliches Handeln alleine darauf beschränken, die bürgerlichen Rechte und das Privateigentum zu garantieren (vgl. Castel 2005: 19ff.). Da die soziale Welt der Liberalen von Natur aus als eine gerechte Welt konzipiert ist, hat der Staat einzig und allein dafür „Sorge (...) zu tragen, dass die Entwicklung des Marktes sich nach den Gesetzlichkeiten von Angebot und Nachfrage vollziehen kann“ (Krasmann 2003: 82), denn nur „wenn der Markt seiner Natur gemäß funktioniert, so funktioniert er optimal, und funktioniert er optimal, so fördert er damit auch die Stärke des Staates“ (Lemke 1997: 173). Aus dieser Denklogik ergeben sich folgerichtig beträchtliche Auswirkungen für die Auffassung von sozialer Gerechtigkeit und Ungleichheit. Da die Gesellschaft innerhalb der liberalen Theorie keinen eigenen Realitätsstatus besitzt, sondern nur die Summe der miteinander in Interaktion tretenden Individuen ist und da die liberale Welt von Natur aus eine gerechte Welt ist, gibt es keinerlei soziale Verantwortung, um individuellen Schicksalsschlägen wie Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Unfällen entgegenzutreten. „Es gibt keine Differenz, keinen Niveau-Unterschied zwischen einer natürlichen und sozialen Gerechtigkeit, die die Notwendigkeit korrigierender Maßnahmen rechtfertigen könnte (...). Jeder korrektive Eingriff in die gesellschaftlichen Beziehungen muss daher nicht nur der natürlichen Selbststeuerung der gesellschaftlichen Mechanismen zuwiderlaufen, sondern zugleich dem Prinzip der Gerechtigkeit widersprechen“ (Lemke 1997: 200). Damit ist auch die Logik klar, wie innerhalb der liberalen
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Welt über Ungleichheit nachgedacht wird. „Für den Begriff des Opfers ist in dieser Philosophie kein Platz. Durch das Erleiden eines Unglücks erwirbt man sich in einer so eingerichteten Welt auf nichts das geringste Anrecht (...). Und welches Mitgefühl und Mitleid es auch erregen mag, das Opfer gilt stets als der alleinige Lenker seiner Geschicke“ (Ewald 1998: 6). Demnach sind etwa die Ursachen von Armut nicht in den strukturellen Verhältnissen einer nach kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten organisierten Gesellschaftsordnung zu suchen, sondern diese können einzig und allein in der moralischen Verfehlung und mangelhaften Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen gefunden werden: „Verantwortlich für mich selbst, kann ich die Gründe meiner Mißerfolge auf niemand anderen als mich selbst zurechnen. (...). Ich bin es, der dieses oder jenes nicht berücksichtigt hat, ich bin es, der die Naturgesetze nicht zu durchschauen oder sich ihrer nicht zu bedienen wußte etc. – und darum gilt stets und in ausnahmslos allen Fällen: Es ist meine Schuld“ (ebd.).
Die Beseitigung oder Verhinderung von Armut liegt auf der Seite des Individuums, das in Anbetracht der möglichen Folgen seines Handelns zu steter Voraussicht und Vorsorge angehalten wird. „Da Sicherheit selbst nicht garantiert sein kann, es also kein Recht auf Sicherheit gibt, gilt die Verpflichtung, sich selbst abzusichern. (...) Das Übel oder die Schäden, die aus einem Mißerfolg erwachsen, (...) sind die Konsequenz aus einem Mangel an Vorsorge und daher Lektion: die bittere Demonstration des eigenen Verschuldens“ (Krasmann 2003: 86). Dabei stehen Armut und Arbeit in einem konstitutiven Verhältnis zueinander: Wenn „allein individuelles Fehlverhalten für die Armut verantwortlich ist, dann muss umgekehrt der Wille zur Arbeit notwendig aus der Armut herausführen. (...) Im Lichte dieser Entdeckung schien die Lösung des Problems der Armut darin zu bestehen, dass alle Hindernisse für einen Zugang zu einem freien Arbeitsmarkt beseitigt werden, so dass die arme Bevölkerung in den produktiven Kreislauf integriert wird und prinzipiell alle Gesellschaftsmitglieder zu Besitzenden werden können“ (Lemke 1997: 203f.).
4.2
Die wohlfahrtsstaatliche Regulation sozialer Ordnung
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden diese Maximen des Liberalismus problematisiert und gerieten zunehmend in eine Legitimationskrise. Es stellte sich nämlich heraus, dass die Armut nicht durch die Arbeit absorbiert wurde. Vielmehr schufen die kapitalistische Ökonomie und die Institution eines freien Arbeitsmarktes eine „neue, bis dahin unbekannte Form der Verelendung, die sich an Intensität, Umfang und Ausdehnung von allen bekannten Formen der Armut
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unterschieden“ (Lemke 1997: 205). Es stellte sich heraus, dass staatliche Aktivitäten nicht nur auf den Schutz der bürgerlichen Rechte und des Privateigentums beschränkt bleiben können: „Eine Gesellschaft kann nicht ausschließlich auf einer Gesamtheit von Vertragsbeziehungen zwischen freien und gleichen Individuen aufbauen, weil sie dann all jene, vor allem aber die Mehrheit der Arbeiter, ausschließt, denen ihre Existenzbedingung nicht die notwendige soziale Unabhängigkeit bieten, um gleichberechtigt an einer kontraktuellen Gesellschaftsordnung teilzunehmen“ (Castel 2005: 54).
Dabei waren es besonders die aufstrebenden Sozialwissenschaften, die die liberalen Grundsätze nachhaltig in Frage stellten. Durch die Verknüpfung des soziologischen Wissens mit den aus der Mathematik übernommenen Methoden der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung kommt es im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einer veränderten Sichtweise von Phänomenen wie Krankheit, Armut oder Unfällen. Man beginnt diese nun „mathematisch zu durchdringen, sie zu gruppieren und zu aggregieren, Regelmäßigkeiten festzustellen und Durchschnittswerte zu errechnen; und in diesem Prozeß (...) entwickelt sich ein neues (Nach-)Denken und ein neues Bewußtsein der Kausalität bzw. der Ursachen von Unfällen“ (Schmidt-Semisch 2002: 22). Durch die Erfassung und Systematisierung von Daten über Krankheiten, Sterbefälle, Geburten, Kriminalität usw. tritt die Bevölkerung als eine eigenständige Entität hervor: „Was sich im Hinblick auf den Einzelnen wie ein Zufallsereignis liest, wird im Raster statistischer Verfahren zu einem Kollektivphänomen, das einer Systematik gehorcht. Krankheits-, Sterbe-, Unfallraten und Sozialdaten zeigen Prinzipien und Regelmäßigkeiten auf, die einer Gesellschaft von Lebewesen offenbar inhärent sind. (...) Insofern generiert die Systematik des statistischen Verfahrens überhaupt erst die Phänomene und damit Handlungserfordernisse, aber auch Interventionsmöglichkeiten“ (Krasmann 2003: 89).
Durch die auf Zahlen und Wahrscheinlichkeiten basierende Interpretation gesellschaftlicher Phänomene traten dabei metaphysische Erklärungsversuche für Abweichungen immer mehr in den Hintergrund. „Die zu befolgende Norm ist immer weniger eine metaphysisch gesetzte oder legitimierte Regel oder ein dem Menschen äußerlicher Maßstab, sondern die Nähe zum Mittelwert des Kollektivs“ (Schmidt-Semisch 2002: 22). Der Soziologie gelang es, den Menschen unter Zuhilfenahme von Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung als Durchschnittsmenschen zu objektivieren, wobei dieser Analysemodus nicht mehr von den Individuen ausgeht, „von dem, was ihre Natur oder ihr Ideal zu sein hätte, sondern von der Gruppe, der sie angehören“ (Lemke 1997: 219). Normalität und Vollkommenheit fallen so zusammen – „die Vollkommenheit liegt darin, daß
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man im Durchschnitt bleibt, die Norm besteht im jeweils aktuellen Verhältnis eines jeden zu den anderen“ (Schmidt-Semisch 2002: 23)1. Mit der Geburt dieser neuen Wissensbestände war eine notwendige Voraussetzung geschaffen, um nicht nur den vormodernen Rekurs auf das rein Schicksalhafte oder Gottgewollte zu entzaubern, sondern auch das liberale Credo des freien Willens zu relativieren. Wie Ewald (1998) belegt, begannen sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Vorstellungen von Verantwortung und Schuld zu wandeln. Angesichts der Tatsache, dass die Gesellschaft selbst als ein Subjekt mit eigenen Gesetzen gedacht wurde, die sich dem Individuum als eine ihm äußerliche Realität auferlegt, wurde es immer schwieriger, den Einzelnen für erlittene Schäden verantwortlich zu machen. Es zeigte sich, dass sich die Regelmäßigkeit von gesellschaftlichen Phänomenen – wie etwa von Krankheiten oder Unfällen – unabhängig vom individuellen Verhalten konstituiert: „Fehler von Individuen sind Risikofaktoren, von denen sein statistisches Vorkommen unberührt bleibt. (...) Mit welcher Umsicht jeder einzelne seine Geschäfte auch immer führt, Schäden sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Sie sind ,normal‘ – was nicht schon heißt, sie seien unabwendbar. Und das soziale Leben ist nicht von Natur aus harmonisch, sondern konflikt- und schadensträchtig. Ob er will oder nicht – sobald er handelt, seinem Beruf nachgeht, seine Arbeit erledigt, wird jener treusorgende Familienvater (...) ,naturgemäß‘ andere treusorgende Familienväter schädigen. Daraus folgt zwingend, daß Schäden als Unfälle betrachtet werden müssen und ineins damit, daß sie nicht länger einem Verschulden anzulasten sind“ (ebd.: 8f.).
Angesichts der Erkenntnis, dass soziale Erscheinungen aus den normalen, regulären Aktivitäten einer Gesellschaft hervorgehen, tritt im Laufe des 19. Jahrhunderts an die Stelle der individuellen Zurechnung und Schuld sukzessive eine Vorstellung von gesellschaftlicher Verantwortung und von Ansprüchen, die man gegenüber der Gesellschaft geltend machen kann. Es erfolgt damit eine Verän-
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Diese „Theorie des Durchschnittsmenschen“ (Lemke 1997: 219) ist heute in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen anzutreffen. Man denke nur an den medizinischen Sektor, in dem durch die statistische Ermittlung von Durchschnittswerten (z.B. Blutdruck, Cholesterinspiegel, Puls, Temperatur, Body-Maß-Index usw.) der „gesunde“ Mensch im Sinne des „normalen“ Menschen objektiviert wird. Auch hinsichtlich der Substanz des Alkohols findet sich diese Theorie wieder, wenn etwa die Aussage getroffen wird, dass ein Konsum von 30g Alkohol pro Tag bei Männern akzeptabel und vereinbar mit der Gesundheit ist. Jedoch ist immer zu bedenken, dass diesem Durchschnittsmenschen, der 30g Alkohol am Tag ohne gesundheitliche Schäden konsumieren kann, kein reales Individuum innerhalb der Gesellschaft entspricht. Auch wenn man sich strikt an diese Regel hält, heisst das nicht, dass die Möglichkeit einer Gesundheitsbeeinträchtigung durch Alkoholkonsum nicht auftreten kann, eben weil es sich nur um statistisch ermittelte Durchschnittswerte handelt, die von den eigenen subjektiven Lebensumständen und strukturellen Realitäten vollkommen abstrahieren.
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derung des Regulationsmodus vom Prinzip der individuellen Verantwortlichkeit zu dem des sozialen Risikos: „Diese Feststellung impliziert, daß man die Gesellschaft nicht als eine Anhäufung von Individuen, die sich aufgrund persönlicher Interessen zusammengeschlossen hätten, sondern als ein Ganzes begreift, in dem Gedeih und Verderb jedes Einzelnen von dem jedes anderen abhängen, daß man sie als eine Totalität begreift, (...) kurzum: daß man sie dem Solidaritätsprinzip entsprechend begreift“ (Ewald 1998: 10).
Die Technologie, welche diese Veränderungen vom Grundsatz der individuellen Haftung zum Solidaritätsparadigma bewerkstelligen sollte, war dabei die Versicherung. Diese zeichnet sich durch zwei Prinzipien aus, die beide zu einer radikalen Entwertung der liberalen Überzeugungen beigetragen haben: Zum einen wird im Rahmen der Risikotechnologie der Versicherung das Unglück nicht mehr als Ausnahme oder als Vorsehung einer höheren Ordnung betrachtet, sondern als ein normales Phänomen, das einer feststehenden Regel folgt und insofern berechenbar und in Wahrscheinlichkeitsaussagen prognostizierbar wird. Wie vorsichtig sich der Einzelne auch immer verhält und welche Vorsorgemaßnahmen er auch immer betreibt, die statistische Regelmäßigkeit eines Risikos erfolgt unabhängig vom individuellen Verhalten. „Man mag wünschen, was man will, Tatsache ist, dass es eine genau kalkulierbare Zahl von Arbeits- oder Verkehrsunfällen, Todesursachen und Krankheiten pro Jahr gibt und dass sich diese Zahlen mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit Jahr für Jahr wiederholen“ (Lemke 1997: 216). Zum anderen zeichnet sich die Risikotechnologie der Versicherung dadurch aus, dass erlittene Schäden im Nachhinein kompensiert wer1 den . Die Kosten eines Unfalls werden nicht mehr dem schuldhaften Verhalten des Einzelnen zugerechnet, sondern auf den Schultern des gesamten Versichertenkollektivs verteilt2. Auf diese Weise wird eine kollektiv erzeugte Form der Solidarität über die Betonung individueller Verantwortung gestellt. „Wahrscheinlichkeitsprognostisch regelmäßig auftretende Risiken werden nicht mehr als Produkt individueller Unvorsicht und mangelnder persönlicher Vorsorge 1
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Die Versicherung ersetzt jedoch niemals den „tatsächlichen“ Schaden, sondern wandelt Schäden in Geldbeträge um. „Ersetzt wird nicht der abgetrennte Arm, sondern eine für diesen Schaden zuvor festgelegte Summe“ (Schmidt-Semisch 2004: 223). Mit Ewald (1998: 8) kann dies am Beispiel des französischen Gesetzes über die Arbeitsunfälle von 1898 veranschaulicht werden: „Ohne das Verhalten des Arbeiters oder des Dienstherrn eigens zu untersuchen, wurden Arbeitsunfälle nun global auf die Arbeit und das Unternehmen zugerechnet. ,Jede Arbeit ist mit Risiken verbunden; die Unfälle sind eine traurige, aber unvermeidliche Folge der Arbeit selbst‘. (...) Aus dem neuen Recht geht somit hervor, daß der Unternehmer für die Unfälle, die auf fahrlässiges Verhalten oder persönliche Unachtsamkeit zurückgehen, ebenso haftet wie für jene, die trotz aller Vorsichtsmaßnahmen eingetreten sind und deren Ursache der Arbeiter selbst ist“.
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dechiffriert, sondern sozialisiert und als soziale Risiken durch kollektive Versicherungssysteme in einer standardisierten Form abgesichert“ (Ziegler 2005a: 60). Zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert breitete sich diese „solidaristische Doktrin des Lastenausgleichs“ (Ewald 1998: 9) immer weiter aus, zunächst nur als innerbetriebliche Regelung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, später dann freilich durch die sukzessive Einführung der Sozialversicherung und die Etablierung des Wohlfahrtsstaates, der in der Weimarer Republik erstmals auch verfassungsrechtlich verankert wurde. Das erste Sozialversicherungssystem in Deutschland war im Jahr 1883 die Krankenversicherung. Ein Jahr später folgte die Unfallversicherung, 1889 die Alters- und Invalidenversicherung und mit reichlicher Verspätung wurde 1927 die Arbeitslosenversicherung geschaffen (vgl. Schmidt 2005). Der Staat war folglich nicht mehr das, was der Gesellschaft als ein Fremdkörper gegenüberstand, sondern er wurde „zum Staat der Gesell1 schaft: zum Sozial-Staat“ (Lemke 1997: 195) . Waren es ursprünglich im Rahmen der Sozialen Frage nur die Arbeiter, so wurden vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auch Familien, Kinder, Jugendliche, Ausländer, Behinderte und alte Menschen als Adressaten einer staatlich konzipierten Wohlfahrtspolitik entdeckt (vgl. Allmendinger/Ludwig-Mayerhofer 2000: 8). Diese Absicherung gegen die Risiken des Lebens bedeutete für die meisten Menschen dabei einen enormen Zugewinn an Sicherheit. War ein Großteil der Bevölkerung vorher „zu einem Leben in ständiger Prekarität verdammt, (...) ohne den geringsten Einfluß auf den Gang der Dinge“ (Castel 2005: 39), so entfaltete sich mit der Implementierung des Sozialstaats eine „Gesellschaft, in der die große Mehrheit der Bevölkerung über die Konsolidierung des Erwerbsstatus zu einem sozialen Bürgerschaftsstatus gelangt“ (ebd.: 41). Anders als die traditionelle Armenfürsorge, die keinen einklagbaren Rechtsanspruch bot und häufig mit ausgrenzenden Folgen behaftet war (z.B. Entzug des Wahlrechts), stellten die durch das Versicherungsprinzip implementierten Leistungsansprüche ein soziales Recht dar, die das Gegenstück zu den bürgerlichen und politischen Berechtigungen repräsentierten (vgl. Münchmeier 2007: 211). Der Wohlfahrtsstaat ist demzufolge auf die Sozialintegration eines großen Teils der Bevölkerung ausgerichtet. Allerdings zielt er keineswegs darauf ab, den gesellschaftlichen Status quo als solchen zu verändern. Zwar produziert er eine Gesellschaft der Ähnlichen, deren Mitglieder über einen Grundstock an 1
Die Begriffe Sozial- und Wohlfahrtsstaat sollen in dieser Arbeit synonym verwendet werden, wobei berücksichtigt werden muss, dass der Begriff des Sozialstaats der deutschen Tradition entspringt, während man in der internationalen Diskussion von Wohlfahrtsstaaten spricht (vgl. Opielka 2004: 23).
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gemeinsamen Ressourcen und gemeinsamen Rechten verfügen (vgl. Castel 2005:44ff.), jedoch sollen durch das wohlfahrtsstaatliche Umverteilungssystem die gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen nicht tangiert werden. Bereits Georg Simmel (1968: 349) hat dies deutlich gemacht, wenn er schreibt, dass die Armenpflege, „indem sie dem Wohlhabenden nimmt und dem Armen gibt, doch keineswegs auf ein Gleichwerden dieser individuellen Positionen geht, daß ihr Begriff nicht einmal der Tendenz nach die Differenzierung der Gesellschaft in Arme und Reiche aufheben will. Vielmehr liegt ihr die Struktur der Gesellschaft, wie sie nun einmal besteht, zugrunde, im schärfsten Unterschiede gegen alle sozialistischen und kommunistischen Bestrebungen, die gerade diese Struktur selbst aufheben möchten. Ihr Sinn ist gerade, gewisse extreme Erscheinungen der sozialen Differenziertheit so weit abzumildern, daß jene Strukturen weiter auf diesen ruhen kann“. Die Unterstützung wird nicht vom Subjekt aus gedacht, sondern zum Armen wird eine Beziehung aufgebaut, die dessen gesellschaftliche Position nicht grundlegend korrigieren, sondern nur die Gefahr, die jederzeit vom ihm ausgehen könnte, beheben soll. Mit Lemke (1997: 223) kann man deshalb davon sprechen, dass die strategische Bedeutung des Sozialstaats in einer „,Depolitisierungspolitik‘“ liegt, d.h. Sozialpolitik macht soziale Kämpfe überflüssig, da sie den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit pazifisiert und damit revolutionäres Aufbegehren unwahrscheinlich macht. Der Staat interveniert in das konflikthafte Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer und trägt in dieser Hinsicht zum sozialen Frieden bei. Die befriedende Potenz des Sozialstaats liegt darin, „über die Gleichheit vor dem (Sozial-)Recht Loyalität trotz fortbestehender materieller Ungleichheit herzustellen“ (Schmidt-Semisch 2004: 223). Auch die Bismarcksche Sozialgesetzgebung muss aus dieser Perspektive betrachtet werden. Diese war in erster Linie eine „Herrschaftstechnik“ (Schmidt 2005: 29) und eine „integrative Flankensicherung zur repressiven Politik des Sozialistengesetzes von 1878“ (Peukert 1986: 51). Über die Sozialgesetzgebung sollte die Arbeiterschaft für den Staat gewonnen werden, um auf diese Weise der drohenden „Gefahr“ einer Sozialdemokratisierung der Gesellschaft zuvorzukommen und den monarchischen obrigkeitlichen Staat in seiner althergebrachten Form zu konservieren.
4.3
Behandlung und Resozialisierung als Ideal der Politik sozialer Probleme
Im vorangegangen Kapitel wurde gezeigt, wie die Institutionalisierung der Versicherungssysteme ein soziales Recht auf die Absicherung gegen die Wechsel-
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fälle des Lebens ermöglicht hat. Der Staat greift in das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital ein und garantiert jedem Gesellschaftsmitglied ein „normales“ und ein an Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit orientiertes Leben. Die Sozialleistungen stellen einen Rechtsanspruch dar, die das Gegenstück zu den bürgerlichen und politischen Rechten bilden. Allerdings gewährt der Wohlfahrtsstaat nicht nur das Recht der individuellen Partizipation, sondern er legt dem Einzelnen gleichzeitig die Pflicht eines gegenseitigen Wohlergehens auf. „Das Solidaritätsparadigma ist nicht bloß ein Entschädigungsparadigma, es ist auch ein Präventionsparadigma“ (Ewald 1998: 11). Die Entdeckung des Sozialen macht nämlich die Vorstellung einer neuen „sozialen Moral“ (Krasmann 2003: 107) notwendig. Angesichts der Erkenntnis, dass das Übel keine natürliche, dem Menschen äußerliche Existenzbedingung darstellt, sondern dass dieses einzig und allein aus der Interdependenz des sozialen Verkehrs resultiert, kommt es dazu, dass die menschlichen Beziehungen sukzessive als Beziehungen des gegenseitigen Risikos in den Blick genommen werden: „So wie wir mit dem Risiko des Arbeitsunfalls rechnen müssen, oder damit, arbeitslos oder krank zu werden, so wird jeder Mensch und werden die Menschen füreinander zum Risiko. (...) Jeder ist ein Risikoträger und stellt ein Risiko für den anderen dar, sei es durch entsprechende Verhaltensweisen (Alkohol am Steuer) oder durch seine bloße Existenz (als Träger von Krankheitserregern)“ (ebd.). Aus diesem Grund wird es für jeden Einzelnen eine Pflicht, seinen Mitmenschen zu einem Verhalten zu veranlassen, dass dieser die Wahrscheinlichkeit von Schadensvorfällen minimiert: „Nur weil der andere ein potentieller Träger jenes Übels ist, das mich treffen kann, kommt es mir selbst zugute, wenn ich ihn überwache, korrigiere, für seine Weiterentwicklung, seine Hygiene und seine Sterilisierung sorge“ (Ewald 1986: 467, zit. nach Schmidt-Semisch 2002: 31). Die Gesellschaft hat zwar auf der einen Seite die Verantwortung, erlittene Schäden zu kompensieren, auf der anderen Seite kann sie aber auch dem Einzelnen Verhaltensweisen vorschreiben, die sie für richtig und angemessen hält. Wenn beispielsweise auch Krankheiten im Körper des einzelnen Individuums zu lokalisieren sind, so können diese doch gleichzeitig eine Gefahr für die ganze Bevölkerung darstellen, sei es durch Ansteckung oder durch das pathologische Verhalten des Einzelnen. Diese Vorstellung macht es fortan notwendig, „sich der Art und Weise anzunehmen, wie der einzelne sein Leben führt, wie er wo, wann und unter welchen Bedingungen arbeitet, lebt, seine Freizeit verbringt, seine Kinder erzieht usw. Jedermann ist ein Risikofaktor für alle anderen – das Risiko ist überall, seine Aktualität liegt in seiner Eventualität. Zum zentralen
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Begriff wird die Prävention“ (Schmidt-Semisch 2002: 32)1. Prävention setzt aber einen beachtlichen Wissensbedarf voraus, denn „man kann nicht verhüten, was man nicht weiß – und vollends nicht das, was man nicht wissen kann. Prävention ist eine Haltung, die sich prinzipiell auf das Vertrauen in die Wissenschaft und ihre Gutachten stützt. Sie unterstellt die Möglichkeit einer Adäquation von Macht und Wissen, einer Kontrolle des Machbaren durch das Wissen“ (Ewald 1998: 12). Im Verlauf des 19. Jahrhunderts konstituierte sich auf diese Weise eine historische Konstellation, in der – bedingt durch die Wahrnehmung der naturwissenschaftlichen Erfolge und die Fortschrittsideologie der Aufklärung – ein tief verwurzelter Glaube an die „Gestaltbarkeit der Welt“ (Evers/Nowotny 1987) vorherrschend war. Wenn sich die Naturgewalten mit den Mitteln der aufstrebenden Erfahrungswissenschaften kontrollieren lassen, so die Überzeugung, warum sollte es dann nicht auch möglich sein, die Risiken des menschlichen Zusammenlebens durch gezielte zukunftsbezogene Interventionsstrategien auf ein Minimum zu reduzieren. Die aus dem Industrialisierungsprozess resultierenden Problemlagen, die man seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zusammenfassend als „Soziale Frage“ diskutierte, wurden auf diese Weise in einzelne soziale Probleme (z.B. Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Alkoholkonsum) transformiert und zum „Material sozialpolitischer Interventionen, für Kriminal- und Gesundheitspolitik ebenso wie (...) für Sozialarbeit“ (Groenemeyer 2001: 2 1693) . Im Gegenzug verloren Praktiken der sozialen Ausschließung in dem Maße ihre Legitimation, wie sich die wissenschaftlich fundierte Auffassung durchsetzte, dass abweichendes Verhalten durch gesellschaftliche Bedingungen verursacht wird und durch fachlich begründete Sozial- und Psychotechniken (Beratung, Therapie, Erziehung, Resozialisation) in konformes Verhalten verwandelt werden kann (vgl. Scherr 2001: 523; Ziegler 2005b: 115). Mit dem 1
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Mit Ziegler (2005a: 59) kann Prävention definiert werden „als eine Interventionsform (...), die spezifische, zukunftsbezogene Wirkungen unterstellt: Ein Eingreifen in einen Geschehensablauf wird systematisch mit dem Ziel verbunden, die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines antizipierten, unerwünschten Phänomens zu reduzieren. Es lassen sich demnach alle Interventionen als präventiv bezeichnen, deren funktionale und legitimatorische Basis in der Antizipation einer künftigen Entwicklung besteht, auf die sie kontingenzreduzierend einzuwirken trachten“. In diesem Sinne kann überhaupt erst sinnvoll mit dem Beginn der Moderne von sozialen Problemen gesprochen werden, da erst jetzt die kulturellen Grundlagen für deren Konstitution geschaffen wurden. Zwar dürfte es in allen Gesellschaften Zustände geben, die als problematisch klassifiziert werden oder die Leiden und Kummer verursachen. Allerdings sind dies nur dann soziale Probleme, wenn in einer Gesellschaft die Auffassung vorherrscht, dass diesen Sachverhalten entgegengewirkt werden kann. „Solange die Lebensbedingungen und das Verhalten als Akte einer höheren Macht oder der Natur angesehen werden und dadurch einer Veränderung durch soziales Handeln ausgeschlossen ist, sind sie keine sozialen Probleme“ (Groenemeyer 2001: 1706).
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Vertrauen auf eine wissenschaftliche Form der Rationalität und dem festen Glauben an die Perfektionierbarkeit des Menschen wurde es sukzessive zur leitenden Maxime, dass sich die Ursachen sozialer und individueller Probleme ergründen und durch staatliche Eingriffe beheben lassen. Das wohlfahrtsstaatliche Sicherungssystem zeichnet sich demnach durch eine spezifische „Doppelstruktur“ (Münchmeier 2007) aus: Neben dem Sozialversicherungssystem begannen sich seit Ende des 19. Jahrhunderts spezifische Einrichtungen und Maßnahmen wie etwa die Gesundheits-, Jugend- oder Wohnungsfürsorge zu etablieren, die darauf ausgerichtet waren, soziale Missstände und individuelle Notlagen zu verhüten, zu mindern oder zu beseitigen (vgl. genauer Hering/Münchmeier 2000). Während die sozialen Lebensrisiken durch das Versicherungssystem und die darin angelegten Interventionsmedien Recht und Geld aufgefangen werden sollten, wurde es zur Aufgabe der Sozialen Arbeit, das Individuum durch entsprechende Gesundheits- und Erziehungsmaßregeln zu einem spezifisch definierten „Normalverhalten“ anzuleiten. Zielten die Leistungen der Sozialpolitik auf die Bekämpfung der äußeren Notlagen der Menschen ab, so sollten die Organisationen der Sozialen Arbeit mit pädagogischen Mitteln gegen die psychosozialen Defizite der vielfach als „verwahrlost“ charakterisierten Personengruppen intervenieren. Behandlung und Rehabilitation über die Steuerung individueller Motivationen und Orientierungen wurden zum Ideal der Politik sozialer Probleme, wobei man diese Angelegenheit fortan einem gesellschaftlich und politisch legitimiertem Expertensystem anvertraute (vgl. Garland 2008: 93ff.; Groenemeyer 2003b: 28f.). Die wohlfahrtsorientierten Professionen hatten „eine Symptomatologie, eine Pathologie und eine Therapie“ (Lemke 1997: 224) bereitzustellen, um die Ursachen „unsozialisierter“ Verhaltensweisen zu diagnostizieren und um dieses in „sozialisiertes“ Verhalten zu überführen: „Eine ganze Reihe von Problemen (…) galten nunmehr als soziale Probleme, die soziale Ursachen hatten und denen man mittels sozialer Techniken und professioneller Sozialarbeit beikommen wollte. Diese neue Form der Regulierung erlaubte es Fachautoritäten, soziale Normen und Standards für Lebensbereiche (Kindererziehung, Gesundheitsvorsorge, moralische Erziehung etc.) vorzugeben, die bislang nicht formal geregelt waren. Dabei setzen sie nicht auf Recht oder Zwang, auch wenn diese als letzte Mittel durchaus zum Einsatz kamen. Sie vertrauten vielmehr auf die Macht ihrer fachlichen Autorität, auf die Überzeugungskraft ihrer normativen Ansprüche sowie auf die Bereitschaft von Individuen und Familien, ihr Verhalten mit dem von den Experten geforderten in Einklang zu bringen, weil sie damit auf sozialen Aufstieg, wirtschaftliche Sicherheit oder körperliche Gesundheit und Selbstverwirklichung hoffen durften“ (Garland 2008: 112).
Die devianzbezogene Erkenntnisproduktion der Human- und Sozialwissenschaften galten als neutrale und objektive Diagnosen und wurden von der breiten
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Öffentlichkeit kaum angezweifelt, da man davon ausging, dass sie auf einer Form von innerwissenschaftlicher Rationalität und empirischer Forschung beruhten. Auf diese Weise gelang es, die „gefährlichen Klassen“ des frühen Kapitalismus in „pathologische“ Individuen zu transformieren und damit zu Klienten der Technologien sozialer Dienste werden zu lassen, wie zunächst der Psychiatrie, dann der Psychologie und allen voran der Sozialen Arbeit (vgl. Ziegler 2003a: 151f.). Deren Interventionen zielen dabei nicht nur darauf ab, die gesellschaftlich unerwünschten Eigenschaften und Verhaltensweisen zu unterdrücken und zu reglementieren. Vielmehr sollten „Transformationen an den Individuen“ (Foucault 1994: 318) vorgenommen werden, um auf diese Weise für „die Hervorbringung einer korrigierten – ‚normalen – Individualität“ (Lutz/Ziegler 2005: 127) zu sorgen. Das programmatische Ziel moderner Wohlfahrtsstaaten kann in dieser Hinsicht darin gesehen werden, „eine inklusive gesellschaftliche Ordnung hervorzubringen“ (Otto/Ziegler 2004: 123). „Normalität wird in der wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaft nicht mehr von den Rändern her bestimmt; sie ist keine ausschließende, sondern eine einschließende Tendenz“ (Böhnisch 1984: 110). Natürlich gibt es auch Formen des sozialen Ausschlusses, gleichwohl ist dieser in vielen Fällen nur vorübergehender Natur und meistens mit der Erwartung verbunden, dass er nur vorübergehend sei und insbesondere dazu diene, das ausgeschlossene Subjekt früher oder später in die Gesamtheit der sozialen Beziehungen, zu reintegrieren (vgl. de Marinis 2000: 59). Dabei trägt die Etablierung des sozialpolitischen Sicherungssystems und die darin eingebaute Soziale Arbeit wesentlich zu dem bei, was gegenwärtig als „Institutionalisierung des Lebenslaufs“ (Schefold 2001: 1123) bezeichnet wird. Durch Sozialpolitik wird dem Leben des einzelnen Menschen endgültig der letzte Rest an Zufälligkeit genommen. Es kommt zur Herausbildung eines „sozialstaatlichen Lebenslaufregimes“ (ebd.: 1128), da ein sozialstruktureller, institutioneller und normativer Rahmen aufgespannt wird, innerhalb dessen die individuellen Reproduktionsbedingungen strukturiert werden müssen. Normative Annahmen über einen standardisierten Lebenslauf mit den typisierten Sozialisationsetappen (Kindheit, Jugend, Erwerbsalter/Erwachsenstatus, Alter) bilden die Grundlage für sozialstaatliche Interventionen. Dabei sind es „im Wesentlichen das idealtypische Konstrukt der Normalerwerbsbiographie eines typischen Lohnarbeiters (im Vollerwerb tätig, männlich) und die davon abgeleitete Figur einer Hausfrau und Mutter (für die Reproduktionsarbeiten verantwortlich, unbezahlt, weiblich)“ (Otto/Ziegler 2004: 124), die als grundlegende Normalitätskonstruktionen fungieren. Diese beiden Normalitätsreferenzen werden im Verbund mit dem im Laufe des 19. Jahrhundert entstandenen Idealtypus der bürgerlichen Kleinfamilie zu zentralen Bezugsgrößen für die Beobachtung abweichenden Verhaltens. Unterbietungen oder Infragestellungen dieser kulturellen Stan-
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dards sollen durch gezielte Interventionsstrategien beseitigt werden, wobei es, neben anderen Institutionen wie der Medizin oder der Psychiatrie, hauptsächlich zur Aufgabe der Sozialen Arbeit wird, „innerhalb der sozialpolitisch gesetzten und geforderten Normalität ’handlungsfähige‘, ’normale‘ Subjekte und stabile Identitäten zu generieren“ (Ziegler 2005a: 60). Um es zu konkretisieren: Was Arbeitslosigkeit, Scheidung, uneheliche Schwangerschaft, alleinerziehende Elternschaft, Behinderung, Schulabbruch, Homosexualität, Krankheit, Kriminalität und eben auch Drogenkonsum bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als soziale Probleme verbindet, ist eine Diskrepanz zu den als gültig erachteten Modellen der Lebensführung. Normalität stellt folglich „eine spezifische historische Dimension in der Sozialpädagogik dar“ (Böhnisch 1984: 108). „Je mehr die Marktmechanismen und Regelungsmuster im Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit versagen, umso eher reicht die Sozialarbeit in das Zentrum der sozialpolitischen Aufmerksamkeit und erhält eine sozialintegrative Funktion: Sie soll verhindern, dass die Menschen ganz aus der Gesellschaft heraus fallen, also eingliederungsfähig bleiben“ (Böhnisch 2005: 17). Dabei bildet bis in die 1970er hinein „die Integration in ein bestimmtes Modell der Lohnarbeit nach Maßgabe des Normalarbeitsverhältnisses“ (Schaarschuch 1999: 63) – unabhängig davon, welch subjektiv bedeutsame Unterstützungsleistung die Soziale Arbeit sonst auch immer leistet – den unhinterfragbaren Kern ihrer Zielorientie1 rungen . Dies liegt in der Tatsache begründet, dass auf der einen Seite „Lebensformen jenseits der marktbezogenen beruflichen Erwerbsarbeit (...) im sozialhistorischen Prozess der Durchsetzung marktwirtschaftlich-kapitalistischer Gesellschaften ihre Existenzgrundlage“ (Scherr 2001: 519) verlieren; auf der anderen Seite aber vor allem darin, dass „die Lohnarbeiterexistenz eine extrem unwahrscheinliche Form der menschlichen Existenz ist“ (Sünker 1995: 78) und deshalb „in aufwendigen Prozessen ,als Pflicht normiert‘ und ,als Zwang installiert‘ werden“ (ebd.) muss. Im Rahmen der Sicherstellung der Lohnarbeiterexistenz sind es dabei vorrangig drei Aufgabenbereiche, die der Sozialen Arbeit zur Bearbeitung zugewiesen werden (vgl. Hamburger 2003: 43f.): die generelle Erzeugung des Arbeitsvermögens (Sozialisation- und Qualifikationsaufgaben), die Sicherung der Reproduktionsexistenz bei temporären Störungen (z.B. bei Krankheit, Arbeitslosigkeit, Gefängnisaufenthalten) und die Versorgung desjenigen Personenkreises, der nicht zu einer eigenständigen Lebensführung auf der Basis von Erwerbsarbeit in der Lage ist (z.B. Behinderte, alte Menschen).
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Das Normalarbeitsverhältnis ist sicherlich auch heute noch in vielen Fällen der zentrale Bezugspunkt sozialpädagogischer Interventionsstrategien, auch wenn es nicht von der Hand zu weisen ist, dass sich gegenwärtig die gesellschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit erweitert hat (s. Kap 6.3).
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Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass innerhalb der wohlfahrtsstaatlichen Regulation der sozialen Ordnung zwar für die gesellschaftliche Integration aller Menschen Sorge getragen werden soll, gleichzeitig aber auch rigide gegen Differenzen und Abweichungen von den als gültig erachteten Normalitätsstandards vorgegangen wird. „Es gilt, Fremde zu assimilieren, Verrückte und Drogenabhängige zu heilen, Jugendliche einzupassen, dysfunktionale Familien mit dem Ziel der Normalität zu beraten, Deviante zu bessern und Kriminelle zu resozialisieren“ (Ziegler 2005a: 62). Im Wohlfahrtsstaat gehen Hilfe und Kontrolle damit eine unauflösbare Verbindung ein: Die Bereitstellung von Hilfeleistungen geht mit der Ausformulierung und Durchsetzung typisierter Standards einer als obligatorisch erachteten Lebensführung einher. Unterstützung soll nur derjenige erhalten, der die als verbindlich vorgegebene Strukturierung des Lebenslaufs als einen Hauptbestandteil der eigenen Biographie anerkennt. Die inklusive Welt des Wohlfahrtsstaats ist damit einerseits entsprechend intolerant gegenüber Lebensweisen, die außerhalb der Normalitätsmodelle bzw. mit Max Weber gesprochen, jenseits des Rationalismus einer ethisch-methodischen Lebensführung liegen; anderseits ist sie aber gleichzeitig auch tolerant gegenüber abweichenden Personengruppen, die durch eine Bearbeitung ihrer inneren und äußeren Bedingungen als integrierbar betrachtet werden (vgl. Otto/Ziegler 2004: 125f.; Ziegler 2003a: 155). Je weiter man sich von der frühen Neuzeit in der Zeitgeschichte fortbewegt, desto mehr verliert die soziale Disziplinierung ihren Anklang an offene Repression, desto mehr wird der Disziplinierungsvorgang aber auch unter der Oberfläche eines Gewebes helfender Dienste, das von der Psychologie bis zur Sozialhilfe reicht, verborgen (vgl. Hauschildt 1995: 17; Sachße/Tennstedt 1986: 14). Die Tätigkeit des Urteilens, so Foucault (1994: 392f.), hat sich „in dem Maße vervielfältigt, in welchem sich die Normierungsgewalt gestreut hat. Getragen von der Allgegenwart der Disziplinaranlagen und der Kerkerapparate, ist sie zu einer der Hauptfunktionen unserer Gesellschaft geworden. Die Normalitätsrichter sind überall anzutreffen. Wir leben in einer Gesellschaft des Richter-Professors, des Richter-Arztes, des Richter-Pädagogen, des Richter-Sozialarbeiters; sie alle arbeiten für das Reich des Normativen; ihm unterwirft ein jeder an dem Platz, an dem er steht, den Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen, die Fähigkeiten, die Leistungen“ (Foucault 1994: 392f.).
5
Drogenkonsum und soziale Kontrolle im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts
5.1
Kontingenzmanagement und Kontingenzbewältigung als differente Konzepte des Umgangs mit Unsicherheit
Vorangehend wurde gezeigt, dass sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Auffassung menschlicher Beziehungen gewandelt hat. Angesichts der statistischen Durchdringung der Bevölkerung wurden diese sukzessive als Beziehungen des gegenseitigen Risikos in den Blick genommen. Dies führte dazu, dass eine kollektiv erzeugte Form der Solidarität über die Betonung individueller Verschuldung gestellt wurde. Parallel dazu entfaltete sich die Vorstellung einer neuen sozialen Moral. Vor dem Hintergrund eines umfassenden Glaubens an den Fortschritt und die Gestaltbarkeit der Welt wurde es zu einer leitenden Vorstellung, dass sich die Problemlagen der „Sozialen Frage“ in soziale Probleme verwandeln und durch gezielte Interventionsstrategien bearbeiten lassen. Die Versicherungstechnologie, die am Ende des 19. Jahrhunderts institutionalisiert wurde, machte es möglich, soziale Risiken zu vergemeinschaften. Im Rahmen des Versicherungssystems werden soziale Risiken als regelmäßig und unabhängig vom individuellen Verhalten auftretende Ereignisse interpretiert, wobei sich Risiken als beherrschbar gemachte Gefahren beschreiben lassen, deren Häufigkeit und Ausmaß mittels Wahrscheinlichkeitsaussagen prognostiziert und deren voraussichtliche Schadenshöhe berechnet werden kann. Entscheidend ist an dieser Stelle, dass die Versicherungstechnologie einen spezifischen Modus des Umgangs mit Unsicherheit und Unbestimmtheit repräsentiert, den Makropoulus (1990) als Kontingenzmanagement bezeichnet. Damit soll ausgesagt werden, dass man im Rahmen der Versicherungstechnologie zwar gewillt ist, soziale Risiken wie Unfälle oder Krankheiten in den Griff zu bekommen und auf ein Minimum zu reduzieren. Allerdings ist man sich zu jeder Zeit bewusst, dass sich Risiken niemals vollständig beseitigen lassen. Der Versicherung geht es folglich „um die Erhaltung, die Nutzung, die gezielte Steigerung und die Produktion von Kontingenz“ (ebd.: 418), während gleichzeitig deren negative Effekte präventiv abgefangen oder aber nachträglich kompensiert werden. Die Technologie der Versicherung ist nach Makropoulus jedoch nicht das einzige mögliche Konzept zur Steuerung von Kontingenz. Das soziale Projekt der Moderne hat gleichzeitig einen anderen Modus des Umgangs mit Unsicherheit hervorgebracht, der als Sozialdisziplinierung bereits im monarchischen Absolutismus angelegt war, der dann aber vor allem als Normalisierung
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
innerhalb der wohlfahrtsstaatlichen Regulation des Sozialen hervortritt und der sich als „Kontingenzbewältigung“ bezeichnen lässt. Der Modus der Bewältigung, so Makropoulus (ebd.: 411), zielt darauf ab, Kontingenz „zu suspendieren, wenn nicht sie zu eliminieren. (...) Etwas bewältigen heißt, nach großer Mühe damit fertig zu werden, es dadurch bezwingen, daß man es überwältigt. ,Bewältigung‘ zielt darauf ab, die Wirkungspotentiale eines Phänomens oder eines Sachverhalts auszuschalten“. Im Gegensatz zum Kontingenzmanagement der Versicherung, die versucht, ihren Gegenstand produktiv zu nutzen und mit ihm zu arbeiten, ist die Kontingenzbewältigung darauf ausgerichtet, ihren Gegenstand abzuschaffen und ihn „auszumerzen“. Wie die folgenden Ausführungen noch zeigen werden, war es dieser Modus der Kontingenzbewältigung, von dem die Problemkonstruktion des abweichenden Verhaltens zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert durchdrungen war. Soziale Probleme wie das „Kriminalitätsproblem“ oder das „Drogenproblem“ sollten dem vorherrschenden Glauben nach durch gezielte zukunftsbezogene Interventionsstrategien umfassend beseitigt werden. Die kriminalitäts- bzw. drogenfreie Gesellschaft war das vordringliche Ziel, auf die jegliche Form der Intervention ausgerichtet sein sollte. Diese Aufgabenstellung erfordert allerdings einen beachtlichen Wissensbedarf: Man muss bestimmen können, wer die Abweichler sind, warum sie Abweichler sind und wie das abweichende in konformes Verhalten überführt werden kann (vgl. Ziegler 2005a: 60f.). Die erste Frage kann dabei noch relativ „mühelos“ geklärt werden: Drogenkonsum als abweichendes Verhalten bemisst sich im wesentlichem an der Beobachtung einer Diskrepanz zu den als gültig erachteten Modellen der Lebensführung. Solange die kulturellen Standards der Normalität nicht in Frage gestellt werden, ist die Wahrscheinlichkeit relativ gering, wegen des Gebrauchs psychoaktiver Substanzen als Abweichler klassifiziert zu werden (s. Kap. 6.2). Die beiden anderen Fragen erweisen sich aber als bedeutend komplexer. War innerhalb der alten religiösmoralischen Wissensordnung die Ursache des Drogenkonsums einwandfrei geklärt – exzessiver Konsum war Ausdruck einer freien, wenn auch sündhaften Entscheidung und konnte durch Buße und Läuterung gutgemacht werden – so erweist sich dieses Erklärungsmodell nun als unzureichend, da der Modus der Kontingenzbewältigung voraussetzt, dass die Ursachen für die Entstehung der Drogenabhängigkeit bekannt sind.
Drogenkonsum und soz. Kontrolle im Verlauf des 19. u. 20. Jahrhunderts
5.2
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Zur Ätiologie der Suchtkrankheit: Drogen- und Suchtsemantik
Blickt man auf die Entfaltung der Ätiologie des Suchtkonzepts, dann lässt sich eine Analogie zu der Entwicklung des Wissens über die ansteckende Krankheit feststellen. Als im Jahr 1882 der Erreger der Tuberkulose entdeckte wurde, schien die Frage der Entstehung der ansteckenden Krankheit geklärt zu sein. Diese, so die Annahme der Mediziner, resultiere einzig und allein aus der Infektion eines Menschen mit bestimmten Keimen. Krankheiten ließen sich in diesem Sinne dadurch bekämpfen, dass alle Personen, die sich bereits mit dem Erreger infiziert hatten, isoliert und entsprechend therapiert wurden. Dieses Erklärungsmodell der Bakteriologie wurde allerdings sukzessive von der Sozialmedizin in Frage gestellt. Als im Jahr 1892 in Hamburg die Choleraepidemie ausbrach, konnte man nachweisen, dass sich beinahe alle Menschen mit dem Choleraerreger angesteckt hatten. Die Krankheit brach jedoch nur bei einigen Menschen wirklich aus, und zwar bei denjenigen, die unter mangelhaften hygienischen Lebensbedingungen litten und die aus diesem Grund körperlich geschwächt waren. Folglich musste die Frage der Ätiologie um diese Komponente erweitert werden: Erst das Zusammentreffen eines Erregers mit der unzureichenden körperlichen Verfassung des Industriearbeiters führte zum Ausbruch der Krankheit. Die Interventionen, so die Schlussfolgerung der Sozialmedizin, dürften sich deshalb nicht allein am Individuum orientieren, sondern müssten auch auf das spezifische Milieu der Arbeiterschaft ausgerichtet sein (vgl. Bleker 1983: 231ff.; Labisch 1985: 66ff.; 1986: 276ff.; 1989: 21ff.). Eine ähnliche Wissensentwicklung lässt sich bei der Entfaltung des Konzepts der Suchtkrankheit feststellen. Als Anfang des 19. Jahrhunderts das Problemmuster der Trunksucht in den medizinischen Diskurs eingeführt wurde, schien die Ätiologie dieser Krankheit zunächst geklärt. So stellten etwa Christoph Wilhelm Hufeland und Thomas Trotter, beides angesehene Ärzte der Aufklärungszeit, die These auf, dass Branntwein ein Gift sei, welches den Willen und die Fähigkeit zur Selbstkontrolle zerstören kann (vgl. Spode 1993: 124ff.). Die „Branntweinseuche“, so Hufeland (1838: 69), sei eine „Pest“ und habe eine schleichende Vergiftung zur Folge. Die Pathogenese der Sucht wurde demnach auf die chemische Natur alkoholischer Getränke zurückgeführt; der Trinker infiziert sich mit diesem Gift und es kommt infolgedessen zwangsläufig zum Ausbruch der Krankheit. Die Droge wurde auf diese Weise zum „Virus oder Bazillus, der Drogenkonsument zum ansteckenden Bazillenträger, der isoliert und auf Abstinenz behandelt werden muss“ (Eisenbach-Stangl 1984: 163). Dieses Erklärungsmodell wurde jedoch bald in Frage gestellt: „Es blieb nicht verborgen, daß die Annahme eines suchtbildenden Gifts einer elementaren Beob-
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achtung (...) widersprach: längst nicht alle Trinker wurden süchtig“ (Spode 1993: 143). Die meisten Menschen, so die Schlussfolgerung der Medizin, können problemlos mit dem Gebrauch alkoholischer Getränke umgehen, so dass die Genese der Suchtkrankheit nicht allein auf das spezifische Wirkungspotential der Substanz zurückgeführt werden kann. Vor diesem Hintergrund wurde die psychische und physische Konstitution des Trinkers zum Bestandteil der Ätiologie des Suchtkonzepts. „Nicht mehr die Flasche ist die Ursache, sondern tieferliegende Störungen des pathologischen Trinkers“ (Müller/Weiss 1989: 101). Während der Industrialisierung wurde die Trunksucht auf diese Weise zu einem spezifischen Charakteristikum der Arbeiterschaft (s. Kap. 5.3.2), deren Lebensverhältnisse anscheinend einen idealen Nährboden für die Entstehung der Suchtkrankheit bildeten. Dem exzessiven Konsum von Alkohol wurde dabei die Funktion des Sorgenbrechers zugeschrieben. Nicht der Schnaps, so die Annahme, würde zum Elend führen, sondern das Elend zum Schnaps (vgl. Spode 2001: 46). So schreibt etwa Friedrich Engels im Jahr 1845 in seiner Abhandlung über die „Lage der arbeitenden Klasse in England“: „Der Branntwein ist ihnen fast die einzige Freudenquelle. (...)>E@s ist die moralische und physische Notwendigkeit vorhanden, daß unter diesen Umständen >gemeint sind die widrigen Lebensbedingungen; M.S.@ eine sehr große Menge der Arbeiter dem Trunk verfallen muß.(...) Die Trunksucht hat hier aufgehört, ein Laster zu sein, für das man den Lasterhaften verantwortlich machen kann, sie wird ein Phänomen, die notwendige, unvermeidliche Folge gewisser Bedingungen auf ein, wenigstens diesen Bedingungen gegenüber, willenloses Objekt“ (zit. nach Hübner 1988: 71f.).
Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass die beiden Erklärungsmodelle von Sucht, die im 19. Jahrhundert ausformuliert wurden, bis in die Gegenwart die Wahrnehmung des Drogenkonsumgeschehens strukturieren. Mit Dollinger (2002: 271ff.) kann von einer Drogen- und einer Suchtsemantik gesprochen werden: Ist Drogenkonsum durch die Drogensemantik konnotiert, so unterstellt man, dass der Gebrauch einer bestimmten Substanz angesichts ihrer chemischpharmakologischen Zusammensetzung gefährlich ist und nahezu zwangsläufig eine Suchterkrankung evoziert. „Drogen und Sucht werden in ein direktes kausales Verhältnis zueinander gebracht. Drogen machen süchtig, wenn nicht gleich, so doch später. Sucht scheint eine Qualität (Eigenschaft) zu sein, die im Stoff liegt und dann auch zu den Menschen übergeht“ (Nöcker 1990: 44). Soll die Gefahr gebannt werden, die diese Substanz für die Gesellschaft repräsentiert, so scheint die einzige Möglichkeit darin zu liegen, das Drogenangebot durch prohibitive Maßnahmen zu kontrollieren und die Nachfrage nach diesen Substanzen strikt zu sanktionieren. Die Zielsetzung dieser Interventionsform
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liegt dabei in der Herstellung einer drogenfreien Gesellschaft. Alle diejenigen, die sich bereits mit der Substanz „infiziert“ haben, werden isoliert und einsperrt. Auf diese Weise soll jeder weitere Kontakt der „Infizierten“ mit dem „Erreger“ verhindert werden. Die „Infizierten“ müssen behandelt und geheilt werden, um das Sicherheitsrisiko zu bewältigen, das sie für die restliche Gesellschaft darstellen. Andere Interventionsstrategien ergeben sich hingegen, wenn Drogenkonsum durch die Suchtsemantik konnotiert wird. Nicht die pharmakologische Wirkung der Droge per se, wohl aber bestimmte Dispositionen des Konsumenten werden als ausschlaggebend für die Entwicklung einer Drogenabhängigkeit angenommen. In Analogie zum Strafrecht, in dem während des 19. Jahrhunderts eine Verschiebung der Repräsentation der Persönlichkeit des Rechtsbrechers stattgefunden hat1, liegt demnach die Auffassung vor, dass Kriminelle/Drogenabhän1
Dem Wandel vom klassischen zum präventiven Strafrecht entspricht eine Verschiebung der Vorstellung der Persönlichkeit des Rechtsbrechers. Das klassische Strafrecht des 18. und 19. Jahrhunderts ist vorrangig konzipiert als Mittel der bürgerlichen Freiheitssicherung gegen staatliche Zwangseingriffe. Die Strafverfolgung soll für jeden Bürger transparent und berechenbar sein und das Strafrecht soll mit seinen angedrohten Sanktionen eine generalpräventive Wirkung auf den rational kalkulierenden Täter entfalten. Die Strafe soll keine Auswirkungen auf die Zukunft haben, sondern nur eine vergangene Tat vergelten, um auf diese Weise den durch den Rechtsbruch verletzten Gesellschaftsvertrag wiederherzustellen und den Rechtsbrecher wieder in die Rechtsgemeinschaft einzugliedern (vgl. Albrecht 2005: 2ff.; Sack 1995: 437f.). Mit Pasquino lässt sich hier von der Rechtsfigur des homo penalis sprechen, die prinzipiell in jedem Individuum angelegt ist, da jeder Mensch die Möglichkeit besitzt, unter der Kalkulation von Kosten und Nutzen aus freien Stücken das Recht zu brechen. Insofern benötigt man auch keine eigene Wissenschaft, um das Verhalten des Rechtsbrechers zu ergründen: „Anyone can commit a crime: homo penalis is not a seperate species, but a function. What serves to explain the actions of homo penalis is not criminology but rather a ’general anthropology‘ (...) – the same theory, in essence, as that which explains the behaviour of homo economicus” (Pasquino 1991: 237f.). Als im Laufe des 19. Jahrhunderts die sozialen Beziehungen zunehmend als Beziehungen des wechselseitigen Risikos in den Blick genommen werden, wird auch das klassische Strafrecht einer Veränderung unterzogen: „Es sollte eine soziale Aufgabe übernehmen“ (Krasmann 2003: 16). Die Strafe orientiert sich nicht mehr nur an der vergangenen Tat. Vielmehr soll nun über die Verhängung der Strafe eine Wirkung auf die Persönlichkeit des Täters erzielt werden, um auf diese Weise dessen zukünftiges kriminelles Risiko zu minimieren und die Gesellschaft vor Kriminalität zu schützen. Auf diese Weise etabliert sich die Kriminologie als eigenständige Wissenschaft im Feld der Justiz, denn das moderne präventive Strafrecht „hat Bedarf an empirischen Befunden über Kriminalitätsursachen, um dem normativ bestimmten Präventionszweck entsprechen zu können“ (Albrecht 2005: 4). Der Kriminologie kommt damit fortan die Aufgabe zu, zu beantworten, „warum ein Täter so werden konnte, dass er die Straftat begehen würde, und welches seine Aussichten auf Besserung und die angemessene Maßnahme seiner Behandlung seien“ (Krasmann 2003: 17). Wesentlich hierbei ist damit eine Verschiebung in der Vorstellung der Persönlichkeit des Rechtsbrechers. Nach Pasquino betritt die Rechtsfigur des „homo criminalis“ (1991: 238) die Bühne. Der Verbrecher konstituiert sich nicht mehr durch seine Tat, sondern er stellt vielmehr einen eigenständigen Typus – „eine eigene Spezies“ (Lemke 1997: 231) – dar und ist durch verschiedene Merkmale vom konformen Akteur zu unterschei-
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gige sich durch eine defizitäre Andersartigkeit vom „Normalbürger“ unterscheiden. Mit Spode (1993: 258) lässt sich in diesem Zusammenhang von der „Geburt der Suchtpersönlichkeit“ sprechen. War vorher die Möglichkeit eines exzessiven Drogenkonsums prinzipiell in jedem Menschen angelegt, da dieser als Ausfluss eines freien Willens gedacht wurde, so wird Drogenabhängigkeit nun zu einem Kennzeichen eines „in spezifischen Merkmalen seines Wesen und seiner ,Wahrheit‘ distinkte>n@ Subjekt>s@“ (Dollinger 2002: 345). Die Handlungen des Einzelnen scheinen nicht mehr aus einer autonomen Entscheidung heraus zu resultieren, sondern sind ein Ausdruck von inneren und äußeren Determinierungen, die das Individuum unausweichlich zum Drogenkonsum veranlassen. Das moralisch verwerfliche Handeln derjenigen, die einen exzessiven Gebrauch von Rauschmitteln nachgehen, wird bestritten und an Stelle dessen wird die Figur des Opfers innerer und äußerer Verhältnisse gesetzt. Die Ätiologie der Suchtkrankheit verlagert sich somit von der Droge in die Persönlichkeit und/oder das soziale Umfeld des Konsumenten und „das Prinzip der Andersartigkeit“ (Albrecht 2005: 12; bezogen auf Kriminalität) wird zum vorherrschenden Denkmodell des Drogendiskurses. Im Rahmen des modernen wissenschaftlichen Suchtdiskurses dominiert die Vorstellung, dass Menschen psychoaktive Substanzen konsumieren, weil in ihrem Körper, ihrer Psyche und/oder ihrem Umfeld bestimmte Faktoren und Bedingungen existent sind, die diese ursächlich zu einem zwanghaften Umgang mit psychoaktiven Substanzen veranlassen. Dabei wird es zur Aufgabe der Wissenschaft, die „Grenzziehung zwischen dem Normalem und dem Anormalen“ (Foucault 1994: 256) exakt zu bestimmen. Das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse gilt den handlungsleitenden Determinanten, die den Drogenabhängigen zum Drogenkonsum bewegen und ihn zugleich vom „Normalbürger“ unterscheiden. Im Rahmen der modernen Suchtforschung wird damit das „pathologische“ Subjekt als Problem und die korrigierende Behandlung als Lösung ausgegeben: Die „Anormalen“ und „Kranken“ sind zu identifizieren, von den „Normalen“ und „Gesunden“ abzugrenzen, in Gefängnissen und Heilanstalten zu isolieren und zu inspizieren, damit ihnen dort die Vernunft und die Kraft zur Selbstdisziplin wiedergegeben wird, die sie, aus welchen Gründen auch immer, eingebüßt haben. Fehlverhalten lässt sich nun nicht mehr durch Buße wiedergutmachen, sondern verlangt eine „Neuschaffung der Person“ (Spode 2005: 117). Zwar wird der Drogenabhängige als Opfer defizitärer innerer oder äußerer Determinierungen verstanden und insofern trifft ihn keine Schuld an seiner den, so dass er sich bereits „vor dem Verbrechen und letzen Endes sogar unabhängig vom Verbrechen“ (Foucault 1994: 324) identifizieren lässt. „Das Verbrechen liegt in der Person des Täters selbst. Anhand seiner Biografie lässt sich rekonstruieren, welche Momente und Einstellungen ihn zu dieser Persönlichkeit haben werden lassen“ (Krasmann 2003: 24).
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Krankheit, doch ist er als letztlich vernunftbegabtes Wesen „grundsätzlich heilbar und verpflichtet, die immens langen Interdependenzketten zu bedenken, die schädlichen Auswirkungen seines atavistischen Tuns auf ihn selbst, seine Angehörigen, die Wirtschafts- und Wehrkraft der Nation“ (Spode 1993: 253). In dieser Hinsicht wird es zur Aufgabe der Humanwissenschaften, die Vergangenheit des drogenabhängigen Individuums zu durchleuchten, um aus der Rekonstruktion seiner defizitären Lebensgeschichte die Ursachen für das abweichende Verhalten zu identifizieren. Auf dieser Basis können normalisierende Eingriffe an der Persönlichkeit des Drogenabhängigen vorgenommen werden. Wer bist du? Wie bist du? Warum bist du? Was bist du? werden zu den entscheidenden Fragen, die es dem wissenschaftlichen Diskurs ermöglichen, ein theoretisches Wissen der Differenz zwischen Normalität und Abweichung zu entwerfen, um auf diese Weise die Kontingenz, die sich in der Person des Abweichlers manifestiert, zu bewältigen (vgl. Schmidt-Semisch 2002: 46; Ziegler 2003a: 104; bezogen auf Kriminalität). Die Theorien und Erklärungsprinzipien von Sucht, die innerhalb dieses Denkmodells entwickelt wurden, veränderten sich zwar mit der Zeit beträchtlich. Allerdings ist die eben geschilderte Ordnungsstruktur des Suchtdiskurses – Drogenabhängige sind Personen, die sich in bestimmten Wesensmerkmalen vom „Normalbürger“ unterscheiden – in den unterschiedlichen Theorierichtun1 gen präsent . Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war es dabei in erster Linie das Wissen der Biologie, das herangezogen wurde, um die obigen Fragen zu beantworten. Die Ursachen der Sucht wurden auf eine biologisch-genetische Disposition des Konsumenten zurückgeführt (vgl. Schmerl 1984: 46f.). Dabei wurde im Gefolge der Degenerationstheorie und des Sozialdarwinismus die Person des Drogenabhängigen zu einer Gefahr für die ganze Gesellschaft, da die Möglichkeit bestand, dass dieser sein „gefährliches Erbgut“ an seine Nachkommen weiterreicht, so dass die Entartung der ganzen Gesellschaft befürchtet wurde. Infolgedessen war es in der damaligen Zeit eine konsentierte Meinung, dass durch den Konsum alkoholischer Getränke die Gefahr der Degeneration gegeben war (vgl. Finzen 1980). Die Ausführungen des Mediziners Abraham Baer (1881: 298f.) stellen ein typisches Meinungsbild der damaligen Zeit dar: „Der Konsum der alkoholischen Getränke und insbesondere des Branntweins hat in der Neuzeit in fast allen Ländern der modernen Welt zugenommen und mit ihm mehren sich
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Seit den späten 1960er Jahren werden zwar die etablierten Ordnungsmuster dieses Drogendiskurses von der sozialwissenschaftlichen Drogenforschung kritisch hinterfragt (s. Kap. 6.2). Bislang ist es diesem kritischen Diskurs jedoch nicht gelungen, die routinisierten Perspektiven auf Drogenkonsum sowohl in ihrer wissenschaftsinternen Dominanz als auch in ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz zu gefährden (s. Exkurs II).
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums die vielen verderblichen Folgen für das Wohlleben des Einzelnen sowie der Gesamtheit. Unter dem Einfluß des Alkohols degenerieren (...) sämtliche Organe des Körpers, verschlechtert sich die Situation nicht nur des einzelnen Individuums, sondern auch der ganzen Rasse“.
Der Alkohol wurde als ein Keimgift betrachtet, das die Erbsubstanz schädigen kann, mit der Konsequenz, dass der Trinker diese Schädigung an seine Nachkommenschaft weiter reicht: „Kindern von Trinkern (...) haben eine ausgesprochene Disposition zu schweren Erkrankungen des Nervensystems, zu Krämpfen, zu Epilepsie, zur Idiotie, zur Geistesstörung, sie sollen selbst eine krankhafte Neigung zur Trunksucht von den Eltern ererben“ (ebd.: 301).
Besonders der Aspekt der Selektion wurde als gefährlich für den Fortschritt und den Fortbestand des eigenen Volkes angesehen. Demnach würden sich gerade diejenigen mit schwachen Erbanlagen fortpflanzen und ihr „minderwertiges“ Erbgut weitergeben, während die „Erfolgreichen“ und „Tüchtigen“ im Gegensatz dazu immer weniger Kinder bekämen, so dass die Degeneration als Bedrohung für die gesamte Gesellschaft wahrgenommen wurde (vgl. Reyer 2001). In diesem Zusammenhang wurde so zwar das Konzept von Sucht als Krankheit anerkannt, da der Trinker, ebenso wie der Kriminelle oder der Wahnsinnige, Opfer seiner genetischen Konstitution war. Gleichzeitig wurde jedoch die moralische Verurteilung und Ausgrenzung des abweichenden Verhaltens vorangetrieben. Die medizinischen Theoretiker verschoben unter dem Einfluss sozialdarwinistischen Gedankenguts ihre Argumentationen so stark auf Volk und Rasse, dass das Schicksal des Einzelnen immer häufiger aus dem Blickfeld verschwand. Jegliche Unterstützung für den Abweichler wurde abgelehnt, denn „Hilfe wäre nicht nur sinnlos, sondern geradezu gefährlich, weil sie kontraselektorisch wirken würde“ (Groenemeyer 1999b: 189). Die als erbkrank markierten Menschen konnten nicht geheilt werden, bildeten aber gleichzeitig eine Bedrohung für die gesamte Bevölkerung. Deshalb wurde eine „,neue Ethik‘ (...) eingefordert, die nicht mehr im Schicksal des Einzelnen ihren Bezugspunkt hat, sondern im Schicksal des großen Ganzen: der Gesundheit des Volkskörpers, der Stärkung der Rasse, oder abstrakter: dem Gemeinwohl“ (Spode 2005: 103). Bereits vor 1933 wurden deshalb Forderungen nach Sterilisation und Ausmerze vorgetragen und teilweise auch in die Realität umgesetzt. So schlug etwa der Rassenhygieniker Rüdin im Jahr 1904 folgende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Alkoholismus vor: dauernde Internierung, Eheverbot und sexuelle Zuchtwahl, Sterilisierung und künstlicher Abort (vgl. Finzen 1980: 84; Hauschildt 1995: 41; Spode 1993: 138f.). Bereits in der Weimarer Republik entstanden mehrere hundert Eheberatungsstellen mit mehr oder weniger offenerer eugenischer Orientierung (vgl. Reyer 2001: 475). Der Mediziner Forel, auf den die
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klinische Therapiemethode des Alkoholentzugs zurückzuführen ist (vgl. Spode 1993: 222), experimentierte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seiner Schweizer Klinik mit der Sterilisierung von Alkoholikern (vgl. Spode 2005: 103). Doch nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch in anderen Ländern wurden Forderungen nach einer „Ausmerze des Minderwertigen“ laut. So erklärte beispielsweise der Präsident der „American Psychiatric Association“, dass „eine radikale Heilung von den Übelständen, welche die Existenz einer Klasse von unterhaltsbedürftigen Schwachsinnigen mit sich bringt, erreicht werden könnte, wenn alle Geistesschwachen, alle unheilbar Geisteskranken und alle Epileptiker, alle Imbezilen, alle rückfälligen Verbrecher, all diejenigen, die offenkundig an einer Willensschwäche leiden, und alle unverbesserlichen Trunkenbolde sterilisiert würden; dies ist ein Vorschlag, der von selbst einleuchtet. Durch diese Maßnahmen könnten wir in ein oder zwei Jahrzehnten die Fortpflanzung der psychisch Defekten nahezu, wenn nicht gar vollständig zum Erliegen bringen, und zwar genauso sicher, wie wir die Pocken ausrotten könnten, wenn jedermann auf der Welt erfolgreich geimpft würde“ (Mac Donald 1914: 9, zit. nach Castel 1983: 57). In der Zeit des Nationalsozialismus wurden diese Forderungen dann im Rahmen des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (Juli 1933) letztendlich zur grausamen Realität. Während der NS-Zeit wurde zwischen „erbbiologisch minderwertigen“ und „erbbiologisch nicht minderwertigen Trinkern“ unterschieden. Während die einen als besserungsfähig und heilbar klassifiziert wurden, galten die anderen als unheilbar und wurden deshalb ausgegrenzt (vgl. Hauschildt 1995: 116ff.). Nach Spode (2001: 52) wurden ca. 30 000 Personen, überwiegend Angehörige der Unterschicht, sterilisiert, andere fielen dem Euthanasieprogramm zum Opfer, wiederum andere wurden in Konzentrations1 und Arbeitslager eingewiesen . Nachdem der wissenschaftliche und moralische Bankrott des Nationalsozialismus nach dem Zweiten Weltkrieg offenkundig wurde, wurden auch die biologischen Theorien des Drogengebrauchs zunehmend diskreditiert2. Stattdessen 1 2
Zur Alkohol- und Drogenpolitik im Nationalsozialismus vgl. Holzer 2007. Genauer müsste man formulieren, dass die Entartungstheorie – wobei diese jedoch noch lange nach 1945 innerhalb der Wissenschaft vorgetragen und erst in den 1970er Jahren endgültig obsolet wurde (vgl. Spode 1993: 140f.; 2005: 107) – verworfen wurde. Genetische und biologische Ansätze zur Erklärung des Drogenkonsums sind auch heute noch weit verbreitet (vgl. z.B. Fritze 1994). Angesichts der „Fortschritte“ der Genforschung und der Biotechnologie erfahren gegenwärtig wieder „Erklärungsmuster eine Renaissance, die sich auf die genetische Ausstattung, Hirnstrukturen und Hormonbilanzen beziehen. Sie bestimmen die Persönlichkeit, den Charakter, die Geschlechtsidentität sowie die biografischen Verläufe von Menschen. Diese ,Biologisierung‘ sozialer Erscheinungen, von Kriminalität über den Drogenkonsum bis zu auffällig aggressivem Verhalten, haben weit reichende Folgen (...). Die Gesellschaft (...) erhält die
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erfuhr nach Einsetzen der „Drogenwelle“ in den späten 1960er Jahren (s. Kap. 5.4.3) ein anderer Ansatz zur Erklärung des Drogenkonsums an Resonanz: Aus einer stark auf das Individuum zugeschnittenen Theorieperspektive wurde der Gebrauch der illegalen Substanzen als eine Form der Problembewältigung, als ein Symptom einer tieferliegenden Störung und als Mittel der Flucht vor unangenehmen Realitäten klassifiziert. Mit Reuband (1994: 21ff.) lässt sich in diesem Zusammenhang von einem pathologischen Erklärungsansatz sprechen. Dabei muss betont werden, dass dieses Erklärungsmodell im Wesentlichen bis heute die Ordnung des Drogendiskurses strukturiert1. Reinl und Stumpp (2001: 302) fassen diese gegenwärtig vorherrschende Sichtweise prägnant zusammen: „Fragt man nach den Gründen für die Abhängigkeit von Drogen, richtet sich das Augenmerk auf körperliche Ursachen und Persönlichkeitsmerkmale (...), aber auch besonders belastende Kindheitserfahrungen sowie familiäre und andere Umweltbedingungen, die süchtiges Verhalten begünstigen“.
Da dieses Theoriegebäude gegenwärtig im Alltag fest verankert ist und „den Charakter einer offiziell legitimierten Realitätsdeutung“ (Reuband 1994: 22) erreicht hat, sollen an dieser Stelle nur einige wenige Literaturbeispiele zur Illustration dieses Wahrnehmungsrasters gegenüber dem Drogengebrauch zitiert werden. Vor allem zu Beginn der „Drogenwelle“ war die Vorstellung weit verbreitet, dass jedem Drogenkonsum immer auch eine Persönlichkeitsstörung zugrunde liegt. So ist nach Ladewig, Hobi, Dubacher und Faust (1979: 7) „>j@ede Drogeneinnahme (...) primär Symptom eines psychischen Konflikts“. Auch Heckmann (1980: 61) geht davon aus, dass „man stets eine Konfliktsituation, ein psychisches oder soziales Problem >finden kann@, dem der Konsument mit Hilfe der Droge zu Leibe rücken will“. In der Folgezeit wurden diese stark auf das Individuum zugeschnittenen Ansätze zwar immer häufiger um die Variable der Umwelt erweitert. An der grundsätzlichen Theoretisierung des Drogenkon-
1
Legitimation, sich von ihren erzieherischen und bildenden Anstrengungen zu entlasten, weil die Wirkungen auf Grund genetisch bestimmter Persönlichkeitseigenschaften nur begrenzt bzw. zu vernachlässigen sind“ (Friedrichs 2002: 67f.). Unter diesen pathologischen Erklärungsansatz lassen sich die verschiedensten Theorierichtungen subsumieren: Zu nennen wären besonders persönlichkeitszentrierte Ansätze, etwa psychiatrische, psychoanalytische, lern- oder entwicklungspsychologische Erklärungsmodelle, aber auch gesellschaftszentrierte Erklärungsansätze des Drogengebrauchs wie z.B. die Anomietheorie oder Sozialisationstheorien (für einen umfassenden Überblick vgl. Böllinger u.a. 1995: 67ff.; Kim 2003: 27ff.; Lettieri/Welz 1983). Wie bereits dargelegt, liegt die Gemeinsamkeit dieser Theorien darin, dass sie dem Drogenabhängigen eine defizitäre Andersartigkeit gegenüber dem „Normalbürger“ attestieren, wobei diese Defizite je nach theoretischer Ausrichtung entweder in der Person oder in der Umwelt des Drogenabhängigen lokalisiert werden. Eine kritische Auseinandersetzung mit den pathologischen Erklärungsansätzen erfolgt in Kap. 6.2.3.
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sums hat sich jedoch nichts Grundsätzliches verändert, da individuelle Problemlagen weiterhin als die entscheidenden Mechanismen der Suchtentstehung beschrieben und lediglich durch die Behauptung einer sozialen Genese erweitert wurden (vgl. Reuband 1994: 23; 1999: 327). So sieht etwa der Entwicklungspsychologe Silbereisen (1999: 75) die Ursache für einen problematischen Konsum von illegalen Drogen als Folge einer langen „Historie von Anpassungsstörungen, beginnend in der frühen Kindheit, welche die Heranwachsenden Schritt für Schritt aus der adaptiven Entwicklung und Sozialisation herausholt. Bei den kindlichen Anpassungsstörungen handelt es sich beispielsweise um Aggressivität, Hyperaktivität, Impulsivität und Frustrationsintoleranz. Die Problemverhaltensweisen im Lebenslauf sind umso stärker, je größer die Kumulation der genannten Störungen während der Kindheit war. Übergänge, etwa in den Kindergarten oder in die Schule, stellen jeweils neue Erfordernisse an die soziale Kompetenz und das Leistungsvermögen solcher Kinder dar, die in jeder Hinsicht darauf schlecht vorbereitet sind. (...) Die Folgen sind Leistungseinbußen und Ausgrenzung aus normgerechten Peergruppen. Alkoholund Drogengebrauch dieser Jugendlichen entwickelt sich vor diesem Hintergrund eingangs des Jugendalters als weitere Manifestation der lang anhaltenden Probleme“.
Es sind also Störungen in der primären Sozialisation des Betroffenen, die die Entstehung einer Sucht evozieren, wobei oft davon ausgegangen wird, dass es vor allem Jugendliche aus „broken-home“-Familien sind, die gefährdet sind, denn „>d@er Sozialisationsprozeß in einem ,broken-home‘-Milieu verläuft fehlerhaft und begünstigt damit die Entwicklung von abweichendem, besonders von Suchtverhalten, weil die Primärbeziehungen unter den Familienmitgliedern mehr oder weniger stark gestört sind. (...) Die aus derart gestörten Familienbeziehungen kommenden Jugendlichen sind nicht selten charakterisiert durch mangelnde echte Gemeinschaftsfähigkeit, die Unfähigkeit, stabile soziale Beziehungen zu entwickeln und Verantwortung zu übernehmen“ (Stoßberg 1981: 8; s.a. Hallmann 2008). Und nicht selten finden sich gegenwärtig Erklärungsmodelle, nach denen Drogenabhängigkeit nur ein Ausdruck krisenhafter gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen ist. So geht etwa Schwab (1994: 45) davon aus, „daß Drogen (...) für viele junge Menschen ein chemisches Asyl geworden sind (...). Unserer Gesellschaft fehlt es an Merkmalen, die für eine gute seelische Gesundheit erforderlich sind, wie z.B.: Altruismus, Sublimation und Humor“. Nach Wolffersdorff (2001: 333) kann der Gebrauch von Drogen als ein Versuch interpretiert werden, sich an die „Beschleunigungskräfte der heutigen Moderne“ anzupassen. Als gefährdet werden so all diejenigen erachtet, „die den Belastungen des Wandels unserer Gesellschaft nicht gewachsen sind“ (Loviscach 1996: 127). Je nach Theoretisierung der Drogenabhängigkeit werden unterschiedliche Interventionsstrategien ausgelöst. Die jeweilige Diskursivierung der Devianz
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bestimmt die „legitime“ Art der Reaktion auf Drogenkonsum (s. Kap. 1.2). Wird die Genese der Abhängigkeit ursächlich auf eine Persönlichkeitsstörung zurückgeführt, so werden eher die psychiatrischen und/oder medizinischen Institutionen ihre Zuständigkeit reklamieren, während sozialisatorische und soziale Ursachen in den Kompetenzbereich der Institutionen der Sozialen Arbeit und der Sozialpolitik fallen dürften. Die folgenden Ausführungen werden sich nun ausführlich mit der Frage auseinandersetzen, welche Bedeutung die Drogen- und die Suchtsemantik bei der Konstitution von Alkohol- und Drogenkonsum als sozialem Problem zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert hatten. Bevor diese Frage vertieft wird, ist jedoch das theoretische Verständnis von sozialen Problemen zu klären, das im weiteren Verlauf dieser Arbeit Verwendung finden soll.
5.3
Zur Konstruktion des Alkohol- und Drogenproblems im 19. und 20. Jahrhundert
5.3.1
Soziale Probleme als soziale Konstruktionen
Nähert man sich der Thematik einer Soziologie sozialer Probleme, dann sollte zu allererst zwischen „individuellen Problemen“ und „sozialen Problemen“ differenziert werden. Schwerwiegende individuelle Problemlagen müssen nämlich noch lange nicht Probleme sein, die die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit betreffen und zu gesellschaftlichen Interventionen Anlass geben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es sicherlich einige Menschen, die den Konsum der heute als illegal klassifizierten Substanzen als ein gravierendes privates Problem empfanden. Ein gesellschaftliches Problem war der Gebrauch von psychoaktiven Substanzen deshalb noch lange nicht. „Noch vor hundert Jahren hätte niemand gewußt, was mit dem Begriff ,Drogenproblem‘ gemeint sein sollte“ (Scheerer 1993: 79). Insofern liefert gerade der Drogenkonsum ein eindringliches Beispiel für die kulturelle Relativität dessen, was als abweichend und problematisch begriffen wird: Ein gleicher Sachverhalt kann zu verschiedenen Zeitpunkten oder in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich bewertet werden. In diesem Zusammenhang bietet es sich nun an, den Ausführungen Scheerers (1993: 81ff.) zu folgen, der bei der Theoretisierung sozialer Probleme zwischen einer 1 Entwicklungs- und einer Konstitutionsperspektive unterscheidet . Werden soziale Probleme unter einer Entwicklungsperspektive theoretisiert, dann wird davon ausgegangen, dass es problematische gesellschaftliche Struktu1
Zur Theorie sozialer Probleme vgl. Groenemeyer 1999a; 2001; Schetsche 1996.
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ren sind, die soziale Probleme hervorbringen. Der Begriff der Entwicklung soll darauf verweisen, dass sich Probleme nahezu naturwüchsig und unabwendbar aus einem bestimmten Sachverhalt entfalten. Im Rahmen dieser Theorieperspektive stellt beispielsweise der Alkoholkonsum während der Industrialisierung deshalb ein soziales Problem dar, weil die Arbeiterschaft angesichts der sozialen Umwälzungsprozesse faktisch ein massives „Alkoholproblem“ hatte und der Gebrauch der heute als illegal eingestuften Substanzen wurde insofern zu einem gesellschaftlichen Problem, als in den späten 1960er Jahren eine „Rauschgiftwelle“ über die Gesellschaft hereinbrach, so dass die politischen Akteure notgedrungen zum Einschreiten gezwungen waren und Gesetze gegen den Drogenkonsum erlassen mussten. Soziale Probleme orientieren sich innerhalb dieser Betrachtungsweise demnach reflexhaft an einer bestimmten objektiven Lage: Je mehr Drogenkonsum es gibt, desto größer ist auch das Drogenproblem. Dabei scheint diese Entwicklungsperspektive auch eine gewisse Plausibilität zu besitzen, lässt sich doch empirisch rekonstruieren, dass die Arbeiterklasse während der Industrialisierung wirklich mehr Alkohol getrunken und mehr Geld für alkoholische Getränke ausgegeben hat als andere Schichten (vgl. Spode 1993: 248f.; im Gegensatz dazu aber Vogt 1982: 210) und dass in den späten 1960er Jahren eine beträchtliche quantitative Zunahme des Drogenkonsums unter Jugendlichen vorgelegen hat (vgl. Scheerer 1982: 78ff.). Anscheinend waren es also tatsächlich objektive Grundlagen, die dazu geführt haben, dass der Konsum von psychoaktiven Substanzen im 19. und 20. Jahrhundert ein soziales Problem darstellte bzw. immer noch darstellt. Nun muss allerdings berücksichtigt werden, dass diese Entwicklungsperspektive einige theoretische Blindstellen aufweist, deren Nichtbeachtung ein nur unzureichendes Verständnis sozialer Probleme zur Folge hat. So unterliegt sie etwa der Gefahr, dass ihr wesentliche Abläufe bei der Konstitution sozialer Probleme aus dem Blick geraten. Beispielsweise kann nicht erklärt werden, weswegen – im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern – in den USA zwischen 1919 und 1933 ein Verbot von alkoholischen Getränken erlassen wurde oder weshalb sich in den Niederlanden eine „liberale" Drogenpolitik herausgebildet hat, während andere Länder mit zum Teil repressiven Maßnahmen auf die 1 „Drogenwelle“ in den 1960er Jahren reagierten . Trotz identischer oder zumindest vergleichbarer gesellschaftlicher Strukturen und Ausgangslagen haben sich in verschiedenen Ländern unterschiedliche Interventionsstrategien gegenüber dem Substanzgebrauch entfaltet. Und letztlich ist die Erklärungskraft der Entwicklungsperspektive massiv in Frage zu stellen, wenn man die Beobachtung 1
Zur Genese des Betäubungsmittelgesetzes in den Niederlanden vgl. Scheerer 1982. Zu den drogenpolitischen Differenzen zwischen Deutschland und den Niederlanden vgl. EisenbachStangl u.a. 2000: 156ff.; Kurzer 2005; Reuband 1992.
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trifft, dass ein quantitativer Anstieg des Drogenkonsums keine unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Konstituierung eines Drogenproblems darstellt. So erfolgte beispielsweise der US-amerikanische „Krieg gegen Drogen“, der in den 1980er Jahren initiiert wurde, parallel zu einem Rückgang des Gebrauchs der verbotenen Substanzen (s. Kap. 8.3.3.1). Darüber hinaus kann man feststellen, dass eine „bloße zahlenmäßige Zunahme eines abweichenden Verhaltens (...) aus sich heraus (...) noch keinen Sachzwang zur Verstärkung strafrechtlicher Kontrollen aus>löst@. Die Geschichte des 19. Jahrhunderts kennt eine Anzahl von Drogenwellen, die zum Teil nicht einmal als ‚soziales Problem’ (...) in das öffentliche Bewußtsein drangen“ (Scheerer 1982: 79). Aus diesem Grund soll im weiteren Verlauf dieser Arbeit auf die Konstitutionsperspektive zurückgegriffen werden, um darauf hinzuweisen, dass soziale Probleme „erst durch Problematisierungsleistungen, Definitionsprozesse und Interessenpolitik in konflikthaften Verläufen als soziale Probleme konstruiert werden“ (Scheerer 1993: 80). Im Rahmen dieser theoretischen Position ist folglich die Karriere sozialer Probleme zu rekonstruieren (vgl. Schetsche 1996). Es ist festzustellen, wodurch und in welcher Weise ein bestimmter Sachverhalt zu einem sozialen Problem gemacht wird, denn soziale Phänomene sind nicht „von sich aus bereits problematisch (...), vielmehr muss dieser problematische Charakter erst über gesellschaftliche Definitionsprozesse aktiv hergestellt werden“ (Groenemeyer 2003a: 4). Soziale Probleme etablieren sich nur dann erfolgreich als ein gesellschaftliches Faktum, wenn sie verschiedene Hürden genommen haben. Damit ein bestimmtes Phänomen (z.B. Drogenkonsum oder Rauchen in Gaststätten) innerhalb der Bevölkerung als problematisch wahrgenommen wird, sind kollektive Akteure notwendig, die darauf hinweisen, dass eben dieses Phänomen den normativen Standards und Wertideen der Gesellschaft widerspricht. Dabei muss es ihnen gelingen, die öffentliche Meinung von ihrem Standpunkt zu überzeugen. Sie sind darauf angewiesen, ein Problembewusstsein in der Gesellschaft herzustellen, d.h. die Öffentlichkeit muss zu der Einschätzung gelangen, dass der Sachverhalt tatsächlich problematisch ist und dass Interventionsmaßnahmen notwendig sind, um das problematisierte Phänomen zu bekämpfen. Mit Becker (1981: 133) lassen sich die Akteure, die eine solche Initiative entfalten, als „moralische Unternehmer“ bezeichnen, wobei dieser deren Aktivitäten treffend mit denen eines Kreuzfahrers auf Kreuzzug vergleicht: „Er hat das Gefühl, daß in der Welt nichts in Ordnung sein kann, solange nicht Regeln geschaffen werden, die das Übel korrigieren. Er geht mit einer absoluten Ethik vor; was er sieht, ist wahrhaft und total schlecht, ohne Einschränkung. Jedes Mittel ist recht, um es aus dem Weg zu räumen. Der Kreuzfahrer ist leidenschaftlich und gerecht, häufig selbstgerecht. (...) Viele moralische Kreuzzüge haben starke humanitäre Antriebe. Der Kreuzfahrer ist nämlich nicht nur daran interessiert, dafür zu sorgen, daß andere Menschen tun,
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was er für richtig hält. Er glaubt auch, daß es gut für sie sein wird, wenn sie tun, was richtig ist“ (ebd.: 133f.).
Um in der Gesellschaft einen Handlungsdruck in Richtung einer Problembearbeitung zu erzeugen, sind Moralunternehmer darauf angewiesen, den von ihnen problematisierten Sachverhalt öffentlich sichtbar zu machen. „Denn wo Sichtbarkeit erzeugt wird, entsteht Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit bedingt ihrerseits wiederum Thematisierung besonders da, wo das Sichtbargemachte eine Abweichung, eine Irritation oder eine moralische Herausforderung beinhaltet“ (Breyvogel 1998: 85f.). In modernen Gesellschaften sind es dabei die Massenmedien, die diese Aufgabe übernommen haben. Ihnen kommt beim Prozess der Konstitution eines sozialen Problems eine herausragende Bedeutung zu, strukturieren sie doch ganz wesentlich dessen Größenordnung und Gestalt und beeinflussen damit auch die öffentliche Meinung gegenüber bestimmten Phänomenen. „Von der öffentlichen Meinung hängt weitgehend ab, ob und in welcher Form sich gesellschaftliche Gruppen und politische Parteien eines Themas annehmen und ob sie den ’Druck der öffentlichen Meinung‘ an den Gesetzgeber weitergeben“ (Scheerer 1982: 123). Dies bedeutet also nicht nur, dass die Massenmedien selbst als Moralunternehmer fungieren, indem sie durch ihre stets selektive Informationsverarbeitung und Berichtserstattung bestimmte Sachverhalte in den öffentlichen Diskurs einspeisen. Insbesondere müssen aber kollektive Akteure die Möglichkeit besitzen, ihre Angelegenheiten in den Massenmedien zu platzieren. Nur auf diese Weise können sie sich innerhalb der Gesellschaft Gehör verschaffen, dass der von ihnen problematisierte Sachverhalt eine zu verändernde moralische Herausforderung beinhaltet. Die Etablierung eines sozialen Problems ist demnach immer eine abhängige Größe der Durchsetzungsfähigkeit kollektiver Akteure. Moralunternehmer müssen ein gehöriges Maß an Ressourcen (soziale Netzwerke, Möglichkeiten der Einflussnahme, Geld usw.) besitzen, um in der Öffentlichkeit eine Aufmerksamkeit für bestimmte Themen zu generieren (vgl. Groenemeyer 1999a: 19). Im Gegenzug bedeutet das aber auch, dass Gruppen ohne die entsprechenden Ressourcen nicht über die notwendige Definitionsmacht verfügen, um ihre Anliegen innerhalb der Gesellschaft vorzutragen. Die Chance, ein bestimmtes Thema in öffentlichen Arenen zu positionieren, ist immer auch an die jeweilige Position innerhalb der Sozialstruktur gebunden (vgl. Groenemeyer 2001: 1704). Die Problemkonstruktionen der meisten Akteure werden in der öffentlichen Diskussion nicht oder kaum berücksichtigt, weil sie nicht über die notwendigen Mittel verfügen, um ihre Interessen öffentlich darzustellen. Soziale Probleme haben folglich keinen „objektiven“ Wesenskern, der an sich problematisch ist. Vielmehr wird dieser problematische Kerngehalt erst durch diskursive Kommunikationsstrategien (z.B. Emotionalisierung, Dramati-
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sierung, Moralisierung) erzeugt. Auch die Ursachen sozialer Probleme sind nicht prädiskursiv existent, sondern werden erst im Diskurs hervorgebracht. Moralische Unternehmer liefern immer eine Erklärungstheorie und ein Bewältigungsprogramm zur Bekämpfung des Problems mit, d.h. sie geben an, wo die Ursachen des von ihnen problematisierten Sachverhalts liegen und durch welche Interventionsstrategien diese Ursachen bearbeitet werden können. Indem sie Diagnosen stellen und Lösungsvorschläge empfehlen, formen die Moralunternehmer die Realität. Sie strukturieren die Gestalt eines sozialen Problems und geben ihm „durch das Weglassen und Hinzufügen bestimmter Aspekte ein ganz spezielles Aussehen, ein eigenes Format (...), das so im Gegenstandsbereich nicht vorhanden war“ (Scheerer 1993: 81). Da in modernen Gesellschaften kaum eine wichtige politische Entscheidung ohne wissenschaftliche Beratung getroffen wird, kommt in diesem Zusammenhang der Wissenschaft eine besondere Bedeutung zu. Wissenschaftliche Arbeiten können „in der Konstruktionsarbeit die spezifische Rolle machtbasierter und legitimierender Erkenntnisproduktion übernehmen“ (Dollinger 2002: 147). Darüber hinaus kann auch das Prestige und die gesellschaftliche Wertschätzung von Wissenschaftlern genutzt werden, um eine Aufmerksamkeit für die Dringlichkeit des sozialen Problems zu generieren und um die eigene moralische Unternehmung mit der entsprechenden Legitimation zu versehen. Dies „hängt eng mit der Wissenschaftsgläubigkeit der Öffentlichkeit zusammen. (...) In kontroversen politischen Fragen empfiehlt sich daher immer die Einspannung von wissenschaftlichen Gremien oder einzelnen wissenschaftlichen Autoritäten, wenn einer politischen Ansicht größeres Gewicht verliehen werden soll“ (Scheerer 1982: 154). Außerdem hegen kollektive Akteure immer auch eigene Interessen, dass der von ihnen problematisierte Sachverhalt in den Status eines sozialen Problems erhoben wird. Kaulitzki (1995: 137) bringt dies mit dem Begriff des „interessengeleitete>n@ Moralunternehmer>s@“ treffend auf den Punkt. Gerade das Beispiel der gegenwärtig als illegal klassifizierten Substanzen zeigt deutlich, dass hinter der scheinbar wertneutralen und objektiven Erkenntnis des sozialen Problems eine Vermischung verschiedener Interessenlagen hervortritt. Wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, ist das Verbot von Cannabis, Kokain und Heroin und die damit verbundene Trennung von legalen und illegalen Substanzen weniger auf einen Prozess zunehmender wissenschaftsinterner Rationalität zurückzuführen, sondern „in nationalen wirtschaftspolitischen Interessen am Weltmarkt, in gesundheitspolitischen Anliegen, in berufsständischen Interessen der Ärzteschaft und der Apotheker und nicht zuletzt in xenophoben Strömungen zu suchen“ (Eisenbach-Stangl u.a. 2000: 151). Von der erfolgreichen Etablierung eines sozialen Problems lässt sich sprechen, wenn es den moralischen Unternehmern gelungen ist, ihre Bewertung des
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problematisierten Sachverhalts gegenüber konkurrierenden Perspektiven als die einzig „wahre“ Sicht der Dinge durchzusetzen. Das problematisierte Phänomen wird nun von den gesellschaftlichen Subjekten so wahrgenommen und durch soziales Handeln reproduziert, wie es als Realitätskonstruktion von den Moralunternehmern vorgegeben wurde. Bei der offiziellen Anerkennung eines sozialen Problems ist dabei der Wohlfahrtsstaat wichtig, da nur er sicherstellen kann, dass ein Problem dauerhaft als solches anerkannt wird. Nur der Staat kann Ressourcen für eine langfristige Bearbeitung von Problemen garantieren. Findet eine Problemdefinition die staatliche Anerkennung, dann bilden sich die entsprechenden Institutionen der sozialen Kontrolle heraus (s. Kap. 1.2), wobei diese durch ihr alltägliches Funktionieren die Problemdiskurse und die Sichtweisen der Moralunternehmer weiter führen: „In ihren Programmen, Organisationsformen sowie den Formen der Intervention und in ihrer konkreten Bearbeitungsform drücken die Institutionen der Problembearbeitung jeweils spezifische Sichtweisen eines sozialen Problems aus und transportieren somit diese Deutungsmuster als quasi offizielle Perspektive nicht nur auf die von der Problembearbeitung Betroffenen, sondern auch in die Öffentlichkeit und Politik“ (Groenemeyer 2003a: 11). So demonstrieren beispielsweise Therapieeinrichtungen, dass Drogenabhängige krank sind und einer Behandlung bedürfen und Präventionskampagnen gegen illegale Drogen dokumentieren, dass deren Konsum gefährlich sein muss. Die folgenden Ausführungen sollen nun den Konstruktionsprozess des „Alkoholproblems“ während der Industrialisierung nachzeichnen. Dabei wird gezeigt, in welcher Weise das Phänomen konstruiert und durch welche Interessengruppen die Problematisierung gesteuert wurde. Im Anschluss daran werden die Hintergründe und Bedingungen erörtert, die für die Kriminalisierung des Drogenkonsums und damit für die heutige Trennung von legalen und illegalen Drogen ausschlaggebend waren.
5.3.2
Alkoholkonsum als soziales Problem im Prozess der Industrialisierung
Die moralische Unternehmung der Mäßigkeitsbewegung und die Alkoholprohibition in den USA In Kap. 3 wurde dokumentiert, wie sich das Krankheitskonzept der Sucht im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts im medizinischen Diskurs entfalten konnte. Der Ausgangspunkt war hierbei u.a. die Arbeit von Benjamin Rush, der die erste klar entwickelte Konzeption zur Alkoholabhängigkeit vorlegte. Entschei-
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dend ist an dieser Stelle, dass die Thesen Rushs in den Mäßigkeitsbewegungen, die am Anfang des 19. Jahrhunderts in den USA gegründet wurden, eine rasche Verbreitung fanden. Innerhalb der verschiedenen Vereinigungen war der Konsum alkoholischer Getränke eindeutig durch die Drogensemantik konnotiert. Alkoholsucht galt als die normale Folge regelmäßigen Alkoholkonsums, so dass sich die Mitglieder der Mäßigkeitsvereine folgerichtig für ein Alkoholverbot einsetzten (vgl. Levine 1982b: 242f.). Die Mäßigkeitsbewegung kann in dieser Hinsicht als die erste soziale Massenbewegung der Geschichte betrachtet werden, die sich explizit für staatliche Maßnahmen gegen den Drogenkonsum oder drogenbezogene Probleme engagierte (vgl. Eisenbach-Stangl u.a. 2000: 150)1. Die Bewegung verbreitete sich nach ihrer Gründung explosionsartig. Hatten die verschiedenen Mäßigkeitsvereine im Jahr 1828 30.000 Mitglieder, so waren es nur sieben Jahre später bereits über zwei Millionen (vgl. Feuerlein 1988: 389). Die Temperenzbewegung fand ebenfalls in Kontinentaleuropa Verbreitung. Auch in Deutschland kam es zu zahlreichen Gründungen von Mäßigkeitsvereinen, die im Jahr 1845 bereits 1,65 Millionen Mitglieder hatten (vgl. Aßfalg 2003: 18; Feuerlein 1988: 389). So rasch diese sog. „Erste Mäßigkeitsbewegung“ entstanden war, so schnell versank sie allerdings auch wieder in der Bedeutungslosigkeit (vgl. genauer Spode 1993: 163ff.). Erst in den 1880er Jahren, als sich Deutschland endgültig zur Industriegesellschaft entwickelt hatte und gleichzeitig die Degenerationstheorien einen zunehmenden Einfluss auf das Denken der damaligen Zeit gewannen, wurde der Kampf gegen Alkohol innerhalb der sog. „Zweiten Mäßigkeitsbewegung“ erneut auf breiter Front eröffnet (s. Kap. 5.3.2.2). In den USA rekrutierte sich die Vereinigung hauptsächlich aus ländlichen, protestantischen Bevölkerungskreisen des Mittelstandes. Diese Gruppen waren stark von den Maximen und Werten der Protestantischen Ethik beeinflusst und lebten deshalb überwiegend abstinent (vgl. Levine 1982b: 242; Reinarman/Levine 1997a: 5; Selling 1989a: 78f., 100ff.). Will man das Engagement dieser Gesellschaftsschicht für ein Verbot alkoholischer Getränke nachvollziehen, dann ist es unabdingbar, die sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklungen zu berücksichtigen, da diese Entwicklungen Einfluss auf die moralische Unternehmung der Mäßigkeitsbewegung hatten. Durch den Prozess der Industrialisierung wurde die Sozialstruktur der amerikanischen Gesellschaft erheblich verändert: Rapides Bevölkerungswachstum, Massenimmigration, Urbanisierung und desolate Arbeitsbedingungen des städtischen Proletariats waren die Folge (vgl. Groenemeyer 1999b: 192). Die Arbeiterschaft setzte sich dabei vor allem 1
Die Temperenzbewegung war überhaupt eine der bedeutendsten sozialen Bewegungen der USA. Ihr Einfluss auf die Alkoholgesetzgebung und die soziale Bedeutung des Trinkens ist auch heute noch spürbar (vgl. Groenemeyer 1999b: 190).
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aus Immigranten katholischen Glaubens zusammen, die neben ihren unterschiedlichen kulturellen und religiösen Lebensgewohnheiten auch neue Trinkpraktiken nach Amerika importierten (vgl. Reinarman/Levine 1997a: 5). Vor diesem Hintergrund kann die Feststellung getroffen werden, dass sich die Mäßigkeitsbewegung nur vordergründig aus gesundheitlichen Beweggründen für ein Alkoholverbot engagierte. Vielmehr lag der Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Befürwortern des Alkohols ein weit tiefergehender Statuskonflikt zwischen der Gruppe der eingesessenen Protestanten auf der einen und den katholischen Neueinwanderern auf der anderen Seite zugrunde. Dieser Statuskonflikt manifestierte sich in einem erheblichen Rückgang des sozialen Gewichts der protestantischen Angehörigen des Mittelstandes, während gleichzeitig die katholischen Schichten in den Städten an politischer Bedeutung und Größe zulegten (vgl. Selling 1989a: 78). Alkoholabstinenz wurde zu einem symbolischen Distinktionsmerkmal; mit einer enthaltsamen Lebensführung konnte man sich gegenüber der Arbeiterschaft distanzieren und seine Zugehörigkeit zur Mittelschicht beweisen. „Lebte man abstinent, so zeigte man schon im Lebensstil, daß man zu den Eingesessenen gehörte, zu den Amerikanern und nicht zu diesem eingewanderten Gesindel aus Süd- und Mitteleuropa, von dem man nur das Schlimmste zu erwarten hatte“ (Vogt 1989: 62). Innerhalb der Temperenzbewegung waren, wie bereits erwähnt, die Prinzipien der Protestantischen Ethik – individueller Unternehmungsgeist, Fleiß, Sparsamkeit, Bedürfnisaufschub, Vernunft und Askese – vorherrschend. Dabei dienten diese Maximen „auch als Maßstab dafür (…), ob jemand als gesund und angepaßt oder krank und abweichend galt“ (Selling 1989a: 101). In dieser Hinsicht ist es nicht verwunderlich, dass die Problemlagen, die aus der Entwicklung zur industriellkapitalistischen Gesellschaft resultieren, im Alkoholkonsum der städtischen Arbeiterschaft ein einfaches Erklärungsschema fanden: „Armut, Kriminalität, Slums, verlassene Frauen und Kinder, geschäftliche Mißerfolge und persönlicher Ruin waren im Denken der Mäßigkeitsbewegung keine Folge struktureller oder organisatorischer Art der Fehlentwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft, sondern von Alkohol. Alkohol war der Sündenbock im klassischen Sinne des Wortes: Ein Opfer, das gerichtet werden mußte, um die Gesellschaft von ihren Hauptleiden und Problemen zu befreien. Amerika würde gesund sein, wenn die Nation nur völlig abstinent wäre“ (Levine 1982b: 243).
Die sozialstrukturellen Problemlagen der Industriegesellschaft wurden auf diese Weise individualisiert. Dabei stellt sich jedoch die Frage, wieso die moralische Unternehmung der amerikanischen Temperenzbewegung von Erfolg gekrönt war, warum es also im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern zwischen
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1919 und 1933 zum Alkoholverbot kam1. Mit Selling (1989a) lässt sich auf eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Regeldurchsetzung aufmerksam machen. Eine Norm kann nur dann erfolgreich etabliert werden, wenn die normsetzende Gruppe der Öffentlichkeit glaubhaft vermitteln kann, dass sie selbst von dem problematisierten Sachverhalt nicht betroffen ist. Nur wenn diese Bedingung erfüllt ist, kann die Legitimationsgrundlage für das eigene Handeln – die Vorstellung einer moralischen Überlegenheit – aufrechterhalten werden. Das bedeutet, dass bereits vor der Regelaufstellung „so etwas wie ein diskriminierender Anknüpfungspunkt (...) gegeben sein >muss@. Denn Moralunternehmer betreiben nicht die Schaffung von Verhaltensunterschieden zwischen sozialen Gruppen, sondern die Transformation vorhandener Verhaltensunterschiede in diskreditierende Kategorien. Die Existenz einer statusrelevanten Grenzlinie zwischen dem Moralunternehmer und seinen Objekten ist auf unterschiedlichen Ebenen zugleich Ziel und Voraussetzung seines Tuns“ (ebd.: 102f.). Im Statuskonflikt um den Alkohol war diese Voraussetzung erfült: Die Mitglieder der Mäßigkeitsvereine lebten – im Gegensatz zu den Arbeiterschichten, die dem Alkohol durchaus zugetan waren – überwiegend abstinent, so dass eine soziale und moralische Trennungslinie von Beginn an vorhanden war. „Trinken und Nichttrinken waren diskriminierende Merkmale mit Statusrelevanz“ (ebd.: 104). Nachdem das Verbot alkoholischer Getränke im Jahr 1919 erfolgreich etabliert wurde, zeigte sich relativ schnell, dass die Heilserwartungen der Mäßigkeitsbewegung – die Lösung aller sozialen Probleme – nicht in Erfüllung gingen. Allerdings wurden die Problemlagen durch die Prohibition nicht nur nicht gelöst, sondern eine neue Problematik generiert, die auch heute bezüglich der 2 illegalen Substanzen allgegenwärtig ist (s. Kap. 6.2.2) . Im Jahr 1933 wurde die Prohibition letztendlich widerrufen, wobei die Aufhebung des Gesetzes jedoch 1
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Neben den USA wurden auch in einigen nordeuropäischen Ländern (Finnland, Norwegen und Island), in denen die Anti- Alkoholbewegung ebenfalls einen starken Einfluss auf die Gesetzgebung hatte, ein Verbot alkoholischer Getränke erlassen (vgl. Eisenbach- Stangl 2000: 151). In Schweden wurde dagegen ein Rationierungssystem, das sog. „Bratt-System“, eingeführt, das Produktion und Konsum von Alkohol zwar duldete, gleichzeitig aber unter strenge staatliche Aufsicht stellte. Nur Männer über 25 Jahren, die in „geordneten“ Verhältnissen lebten, gesetzestreu waren und ihre Steuern bezahlten, durften alkoholische Getränke erwerben (vgl. genauer Vogt 1989: 61f.). So entstand ein blühender Schwarzhandel, wobei die Schnapsherstellung, der Schmuggel und der Vertrieb alkoholischer Getränke zur Sache einzelner Unternehmer und kleiner Geschäfte wurden. Dagegen ist unser heutiges Bild der Ära der Prohibition, das sich aus Gangsterbanden und organisierter Kriminalität zusammensetzt, eine Erfindung von Film und Literatur späterer Jahre (vgl. Levine 1982b: 249). Während der Prohibition war dabei der Alkohol häufig mit gesundheitsgefährlichen Stoffen versetzt, so dass die Zahl der Todesopfer durch Alkoholvergiftung für die 1920er Jahre auf 35 000 geschätzt wird (vgl. Renggli/Tanner 1994: 62).
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weniger aufgrund der kontraproduktiven Effekte, sondern primär aus ökonomischen Gründen vollzogen wurde. Es wurde erwartet, dass durch die Wiedereinführung der Getränkesteuer die Steuern in anderen Bereichen gesenkt und dass durch die Wiederbelebung der Alkoholindustrie neue Arbeitsplätze geschaffen werden. „So wie man sich einst von der Einführung des Alkoholverbots eine Ära neuer Produktivität und Wohlstand versprochen hatte, so versprach man sich nun von der Aufhebung genau das gleiche“ (Levine 1982b: 250f.). Mit Reinarman und Levine (1997a: 5) kann abschließend festgehalten werden, dass der symbolische Kreuzzug der amerikanischen Temperenzbewegung gegen den Alkohol bereits alle Elemente beinhaltete, die auch für spätere „Drogenkrisen“ bedeutsam sein sollten: „In effect, alcohol was ’the first drug‘. It was the first substance to be regarded as inherently and inevitably addicting (just as heroin and crack are viewed today). It was the first drug to be focus of a mass movement that sought to eliminate its use and prohibit its production and sale. It was the first drug to be regarded as causing violence and crime. It was the first drug to be blamed – scapegoated – for problems whose complicated origins lay in broader politicial and economic conditions“.
Die „Alkoholfrage“ im deutschen Kaiserreich Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten war im deutschen Kaiserreich der Gebrauch alkoholischer Getränke in allen gesellschaftlichen Schichten verbreitet, so dass die Existenz einer statusrelevanten Trennlinie zwischen Trinkern und Nichttrinkern nicht gegeben war. So schreibt etwa Hermann Blocher (1895: 10) in seiner Abhandlung „Die Alkoholfrage im Verhältnis zur Arbeiterfrage“: „Wir finden den Alkoholkonsum in allen Schichten der Gesellschaft und in allen Berufskreisen, (...) bei den Mitgliedern der Gesellschaft, die eine soziale Funktion zu erfüllen haben und bei den überflüssigen Schmarotzern, bei Reichen und Armen, Proletariern und Kapitalisten“.
Am Ende des 19. Jahrhunderts wurden zwar nach dem Scheitern der „Ersten Mäßigkeitsbewegung“ erneut zahlreiche Vereinigungen gegründet, die eine totale Alkoholabstinenz einforderten und sich für die Prohibition engagierten. Besonders religiöse Gruppierungen kämpften für ein generelles Alkoholverbot, so etwa der 1892 gegründete „Deutsche Hauptverein des Blauen Kreuzes“ oder das 1896 gegründete „Katholische Kreuzbündnis“ (vgl. Aßfalg 2003: 20; Hauschildt 1995: 37). Daneben fanden sich die Verfechter der Abstinenz vor allem im Guttemplerorden zusammen, der 1889 ins Leben gerufen wurde. Dieser Verein war zwar anfangs ebenfalls aus religiösen Motiven entstanden, jedoch ver-
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stand sich der Orden bald als überkonfessionelle Vereinigung und fand vor allem innerhalb der Ärzteschaft einen enormen Zuspruch (vgl. Spode 1993: 219ff.). Allerdings standen diese Abstinenzbewegungen in Opposition zu einer weiteren Organisation: dem „Deutschen Verein zum Mißbrauch geistiger Getränke“ (DVMG), der 1883 durch einen Kreis bürgerlicher Sozialreformer gegründet wurde (vgl. Spode 1993: 204ff.). Dessen Vertreter hielten einen mäßigen Gebrauch alkoholischer Getränke für unbedenklich. Vor diesem Hintergrund kam es hinsichtlich des Alkoholkonsums in Deutschland zu einem Machtkampf um die hegemoniale Deutungshoheit zwischen den „Abstinenten“ auf der einen und den „Mäßigen“ auf der anderen Seite, ein Machtkampf, der die Geschichte der deutschen Antialkoholbewegung bis in die 1930er Jahre hinein bestimmten sollte (vgl. Aßfalg 2003: 20ff.; Finzen 1980: 57ff.; Hauschildt 1995: 37ff.; Spode 1993: 203ff.; 2001: 48ff.). Bei den „Abstinenten“ war der Alkoholdiskurs dabei durch die Drogensemantik konnotiert. So schreibt etwa Auguste Forel (1930: 10), einer der „wortgewaltigste>n@ Streiter für die Abstinenz (...) >und@ einer der anerkanntesten Psychiater“ (Spode 1993: 221) seiner Zeit: „>D@ie Erfahrung lehrt, daß überall, wo die Alkoholindustrie und die Erholung das Bier, Wein und Schnapsgenuß sich einrichtet, der Mißbrauch, die Trunksucht und ihre zersetzenden sozialen Folgen mit mathematischer Sicherheit eintreten. (...) Die ’Trunkenbolde‘ sind nur die gegenwärtigen Opfer der ganzen Sitte, und diejenigen, die sie verurteilen, folgen ihnen gar nicht so selten bald nach, und zwar ganz unmerklich und unbewußt”.
Dabei war es insbesondere die Degenerationstheorie, die die „wissenschaftliche“ Begründung dafür lieferte, weshalb allein eine Totalabstinenz die „Alkoholfrage“ lösen könnte. Allein wegen seiner enormen Verbreitung galt Alkohol als ein gefährliches Keimgift. Selbst ein mäßiger Konsum wurde als problematisch betrachtet, da er jederzeit zur Schädigung des Erbguts führen könnte. Alkoholikern wurde vorgeworfen, dass sie nicht nur ihre eigene Gesundheit, sondern auch die Gesundheit ihrer Kinder ruinieren würden. In dieser Hinsicht wurde ihnen die Schuld an aller Krankheit, allem Elend und allem Verbrechen aufgebürdet (vgl. Hauschildt 1995: 40f.; Spode 1993: 221ff.). Als ein Beispiel für diese Denkweise, die spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Ordnung des Alkoholdiskurses strukturierte, können die Äußerungen von Weygandt (1906: 14) herangezogen werden: „Wahrlich ein übles Erbteil für die Kinder, das ihnen die Trunksucht der Eltern mit auf den Weg gibt! (...) Mit dem Tag der Empfängnis, 9 Monate ehe das arme Wesen das Licht der Welt erblickt, ist bereits sein trostloses Schicksal besiegelt: zum Blödsinn, zu Krankheiten aller Art und zum Verbrechen ist es prädestiniert, eine reine, gesunde, glückliche Entwicklung ist ihm von vornherein für das ganze Leben abgeschnitten“.
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Im Gegensatz dazu war es beim „mäßigen“ DVMG hauptsächlich die Suchtsemantik, die den Alkoholdiskurs regulierte. Die Ursache für die Entstehung der Suchterkrankung wurde weniger in der chemischen Natur des Alkohols, sondern in erster Linie in der psychischen oder physischen Konstitution des Konsumenten lokalisiert. Dieser Sachverhalt lässt sich durch ein Zitat des Mediziners Grube (1927: 25), einem Vertreter der Mäßigkeitsbewegung, veranschaulichen: „1. Ist für den normalen, ausgewachsenen, gesunden Menschen der mäßige Alkoholgenuß schädlich? Ich beantworte diese Frage mit: Nein! und 2. Sind es nicht vielmehr die schon anderweitig infolge erworbener oder ererbter Syphilis degenerierten Rassen oder Menschen, mit Einschluß der leicht Nervösen und psychisch Minderwertigen, die vom mäßigen Trunk zum unmäßigen Trunk mit all seinen Folgen übergehen und so zum Säufer werden? Ich beantworte diese Frage mit: Ja“.
Im Gegensatz zu den Abstinenzvereinigungen bemühten sich die Anhänger des „mäßigen“ DVMG folglich nicht um ein generelles Alkoholverbot. Vielmehr ging es ihnen darum, „die Grenzen zu bestimmen, innerhalb derer sich der Genuß bewegen darf, ohne in Mißbrauch überzugehen“ (Grotjahn 1900: 362). Nicht der Alkoholkonsum an sich, wohl aber sein (putativer) Missbrauch in der Arbeiterschicht wurde angeprangert. „Dem Branntwein in den Fabriken und nicht dem Champagner in den Kasinos war der Kampf angesagt“ (Spode 1993: 254). Im Gegensatz zu den USA und den skandinavischen Ländern konnte sich die Abstinenzbewegung mit ihrer Forderung nach einer Alkoholprohibition jedoch nicht durchsetzen. Obwohl die Enthaltsamkeitsvereine bis zum ersten Weltkrieg rund zehnmal so viele Mitglieder hatten wie der „mäßige“ DVMG (vgl. Spode 2001: 49)1, darunter Wissenschaftler mit hoher Reputation, und obwohl die „Abstinenten“ den wissenschaftlichen Diskurs über den Trinker in der Gestalt der Degenerationstheorie beherrschten – die von den „Mäßigen“ gehegte Vermutung, Alkoholismus sei eine Folge des sozialen Elends, entsprach dagegen kaum noch dem wissenschaftlichen Forschungsstand der damaligen Zeit –, gelang es den „Enthaltsamen“ in keinerlei Weise, ihre Position in der hohen Bürokratie zu verankern (vgl. Spode 1993: 228f.). Hierfür lassen sich zwei wesentliche Gründe anführen: Zum einen gelang es den „Abstinenten“ trotz ihres enormen Mitgliederzuwachses nicht, die staatstragenden Eliten für sich zu gewinnen (vgl. ebd.: 230). Besonders die Alkoholindustrie setze sich gegen die 1
So zählte man beim ersten Abstinententag im Jahr 1903 ca. 70 000 Anhänger, 1909 140 000 und zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs gab es etwa 70 verschiedenen Enthaltsamkeitsvereine mit gut 400 000 Mitgliedern, darunter so skurrile Vereine wie die „abstinenten Schachspieler“ oder berufsspezifische Organisationen für Eisenbahner, Offiziere, Stenographen, Pfarrer usw. (vgl. Spode 1993: 223f.).
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Angriffe der Abstinenzbewegung zur Wehr, indem sie, unterstützt durch „alkoholfreundliche“ Ärzte, Werbematerialien und Broschüren in Umlauf brachten, um auf die unschädlichen Wirkungen des Alkohols aufmerksam zu machen (vgl. Spode 2001: 49)1. Zum anderen stieß die Abstinenzbewegung im deutschen Kaiserreich mit ihren Weltuntergangsszenarien, die durch die Degenerationstheorie und durch Sterilisierungsdebatten konnotiert waren, bei der bürgerlichen Bevölkerungsmehrheit auf weitestgehende Ablehnung. Wenn man auch ein Aufrücken der Gesundheit in der Skala menschlicher Wertbegriffe im wilhelminischen Deutschland beobachten konnte (vgl. Bleker 1983: 239), so waren die mittleren und höheren Gesellschaftsschichten doch keineswegs bereit, aus den „Degenerationsgefahren“ wirkliche Konsequenzen für ihre eigene Lebensführung zu ziehen. Spätestens als die „Enthaltsamen“ nicht nur dem Branntweinkonsum der Unterschichten den Kampf ansagten, sondern darüber hinaus auch dem Bier seinen Nimbus als Nationalgetränk nehmen wollten, verloren sie in der breiten Öffentlichkeit jegliche Unterstützung bei ihrem Versuch der Regeldurchsetzung. „Die selben Journalisten, Unternehmer und Staatsbeamten, die sich um die Ernüchterung der Arbeiter, Soldaten und Mütter sorgten, waren keineswegs gewillt, ihr eigenes Trinkverhalten grundsätzlich in Frage stellen zu lassen“ (Spode 1993: 232). Und so musste man letztendlich verzweifelt feststellen: „Solange die höhere Gesellschaft unserer Zeit eine wirklich mässige Geselligkeit kaum kennt und eine alkoholfreie überhaupt nicht aufkommen lässt, solange sie sogar die grobe Sauferei bei den Studenten und der ganzen wohlhabenden Jugend billigt, ist an keine gründliche Abänderung des jetzigen Alkoholterrorismus im Volke zu denken“ (Martius 1901: 84f.).
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In den USA hingegen war die Situation anders gelagert. Nach Levine (1982b: 247) wäre das verfassungsmäßige Alkoholverbot niemals zustande gekommen, wenn dieses nicht auch von der wirtschaftlichen Führungsschicht getragen worden wäre, die überzeugt waren, durch die Prohibition ökonomische Vorteile erringen zu können: „Nüchterne und enthaltsame Arbeiter würden größere Effizienz und Produktivität bedeuten; weniger Unfälle am Arbeitsplatz würden weniger Geld für die Unfallversicherung und gerichtliche Vergleiche bedeuten; die Arbeiter würden mehr Geld für andere Konsumartikel ausgeben können; es würden weniger Streiks und geringere Lohnforderungen geben, weil die Arbeiter ihren Lohn nicht mehr vertrinken würden; (...) es würde weniger Kriminalität, Armut, Krankheiten, städtische Unordnung geben und deshalb weniger Steuerausgaben für Gefängnisse, Irrenanstalten, Polizei etc. Außerdem konnten die Konzerne, die von vielen als habsüchtig und unmoralisch angesehen wurden, durch die Unterstützung des Alkoholverbots von sich selbst ablenken und ihre Sorge um die Probleme der amerikanischen Gesellschaft unter Beweis stellen. (...) Man konnte soziales und moralisches Gewissen zeigen, ohne die eigene Verantwortung für die Probleme anerkennen zu müssen“.
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Alkoholkonsum: Ein Problem der Arbeiterklasse? Auch wenn „Mäßige“ und „Abstinente“ den Alkoholdiskurs durch unterschiedliche Semantiken konnotierten und folglich verschiedene Interventionsstrategien zur Lösung der „Alkoholfrage“ propagierten, so stimmten sie doch weitestgehend in einer Problemdiagnose überein: Die Trunksucht wurde als ein Problem der Arbeiterschaft ausgewiesen. Diese hätte besonders infolge des „unkontrollierten“ Konsums alkoholischer Getränke unter so schlechten Lebensbedingungen zu leiden (vgl. Hey/Rickling 2004: 20; Vogt 1985: 18). So schreibt beispielsweise Auguste Forel (1912: 12), einer der Hauptvertreter der Abstinenzbewegung: „Daß die Armut und Unglück nicht selten die Trunksucht fördern, wollen wir nicht leugnen. Doch ist diese Ursache tendenziös ungeheuer übertrieben worden. In der Regel ist es umgekehrt, die Trunksucht, welche die Armut erzeugt. In vielen Fällen sind Trunksucht und Armut die beiden Schwesterprodukte schlecht veranlagter Gehirne, die unseren Trinksitten zum Opfer fallen“.
Und ähnlich äußert sich der Oberarzt am Strafgefängnis zu Berlin, Abrahams Baer (1881: 301f.), der mit seinem Werk „Die Trunksucht in ihrer Bedeutung für die Gesundheit und die Gesundheitspflege“ den Anstoß für die Gründung des „mäßigen“ DVMG gab und später Ehrenvorsitzender dieses Vereins war: „Die Trunksucht beeinflusst die materielle Wohlfahrt der Bevölkerung, sie ist eine der wirksamsten Ursachen für die Entstehung, Beförderung und Erhaltung der Einzel- wie der Massenarmut. (...) Die tägliche Beobachtung zeigt, daß Personen, die der Unmäßigkeit sich ergeben, auch bald der Verarmung unrettbar verfallen, den eigenen und ihrer Familie Ruin verschulden. Der Branntwein ist der größte Förderer des Proletariats, weil er zum Müßiggang (...) führt“.
Diese Aussagen werfen die Frage auf, welche Funktion dieser an die arbeitenden Massen gerichtete Vorwurf der Trunksucht im Diskurs des deutschen Kaiserreichs erfüllte. Will man diese Frage beantworten, dann ist es notwendig, von der individuellen Erscheinung des „Alkoholikers“ zu abstrahieren und sich stattdessen dem sozialen, kulturellen und politischen Kontext zuzuwenden, in den die „Alkoholfrage“ und die mit ihr einhergehende assoziative Verknüpfung von Alkoholismus und sozialer Deklassierung eingebettet war. Folgt man dem Erkenntnisstand der Sozialgeschichte, dann kann dokumentiert werden, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert katastrophal waren (vgl. Vogt 1982: 208ff.): Die Wohnungen bestanden meistens nur aus einem oder zwei Zimmern, wobei hier die ganze Familie Platz finden musste. Der Arbeitstag war mit 12 bis 16 Stunden außeror-
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dentlich lang, Sonntagsarbeit war durchaus üblich und Urlaub gab es nicht. Darüber hinaus reichten die extrem niedrigen Löhne kaum aus, um für eine ausreichende Ernährung zu sorgen, so dass die unteren Schichten meistens unter chronischer Unterernährung litten. Diese sozioökonomischen Rahmenbedingungen müssen beachtet werden, trugen sie doch sicherlich dazu bei, dass die Arbeiterschaft von den negativen Begleiterscheinungen des Alkoholkonsums ungleich härter betroffen war als die wohlhabenderen Schichten. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass Genussmittel wie z.B. Schnaps bei den armen Gesellschaftsschichten oftmals eine instrumentelle Funktion besaßen, da durch ihren Konsum der Hunger gestillt oder ein Wärmegefühl erzeugt werden sollte (vgl. Göckenjan 1986: 294; Spode 1993: 194). Überdies war es bis in die Zeit der Hochindustrialisierung hinein gebräuchlich, in den Fabriken kostenlosen Alkohol auszugeben, um dafür zu sorgen, dass die Arbeiter die langen Arbeitszeiten und die körperlichen Erschöpfungszustände überstanden. Häufig kam es sogar vor, dass Fabrikanten und Gutsbesitzer im Rahmen des sog. „Trucksystems“ den Arbeiter nicht in Form von Geld, sondern in Warenform – und hierzu gehörten neben Luxusartikeln und Lebensmitteln auch alkoholische Getränke – entlohnten (vgl. Hey/Rickling 2004: 19f.; Hübner 1988: 68; Vogt 1982: 206ff.; 1985: 14f.)1. Diese Faktoren dürften sicherlich dazu beigetragen haben, dass der Rausch des Arbeiters eine andere Qualität hatte als der des Bürgers, vor allem was seine Sichtbarkeit betrifft. Während die oberen Schichten ihren Alkoholkonsum privatisieren und hinter den Kulissen verstecken konnten, war dies bei den marginalisierten Bevölkerungsgruppen oftmals nicht möglich. Ihr Konsum fand in der Öffentlichkeit statt, war folglich anschaubar und damit auch diskreditierbar. Gerade dieser Aspekt der Sichtbarkeit muss berücksichtigt werden, will man die bürgerlichen Klagen über den Lebenswandel der Arbeiterschaft im Allgemeinen und ihr Trinkverhalten im Besonderen nachvollziehen. In den überwiegend krisenhaft konnotierten Zeitdiagnosen des Bürgertums wurden die sich mit der sozioökonomischen Durchsetzung der Industriegesellschaft ergebenden Problemlagen, die man zusammenfassend als „Soziale Frage“ diskutierte, überwiegend als eine Bedrohung der sozialen Ordnung wahrgenommen. Wie Dinges und Sack (2000: 24f.) zeigen, wurde besonders die Großstadt „zum verdichteten Symbol, zum Mythos des Bösen, zum gärenden Boden der Staat und Gesellschaft bedrohenden Kräfte und Faktoren gemacht. Die Konzentration und die 1
Erst als die Arbeit in der Fabrik immer komplexer wurde und die Unternehmer den produktivitätssteigernden Effekt eines nüchternen Arbeiters erkannten, wurde diese Praxis des „Trucksystems“ zunehmend verdrängt (vgl. Vogt 1985: 15). So erließen um 1900 über die Hälfte der größeren Betriebe ein Alkoholverbot. Statt Schnaps und Bier wurden nun in den Fabriken Ersatzgetränke wie Wasser, Tee oder Kaffee bereitgehalten (vgl. Spode 1993: 212f.).
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Sichtbarkeit von Armut, Bettelei, Prostitution, fehlender Hygiene, Unrat, Banden etc. in den großen Metropolen prädestinierte diese gerade als Projektionsvehikel für gesellschaftliche Ängste und Bedrohungen“. Die „gefährlichen Klassen“ repräsentierten in der Problemperzeption des Bürgertums ein zweifaches Gefahrenpotential für die Gesellschaft: Zum einen waren „in den bürgerlichen Gehirnen (...) die dumpfen Ängste vor der Entwertung ihrer Werte durch das Chaos, das Syndrom aus Schnaps, Sexualität, Gewalt und Delinquenz nahtlos mit der Furcht vor der Sozialdemokratie verwoben“ (Spode 1993: 238). Am Ende des 19. Jahrhunderts stellte die organisierte Arbeiterbewegung – die Sozialdemokratische Partei wurde im Jahr 1869 gegründet – erstmals einen Gegenpol zum Regime der wilhelminischen Gesellschaft dar, so dass deren Bedeutungszuwachs sowohl in bürgerlich-liberalen Schichten als auch in konservativ und obrigkeitsstaatlich gesinnten Bevölkerungskreisen zu einer erheblichen Verunsicherung führte (vgl. Vogt 1985: 21f.; v. Wolffersdorff 1997: 95). Dabei waren es vor allem die Lebensäußerungen und Gesellungsformen der proletarischen Jugendlichen, die der bürgerlichen Wahrnehmung nach ein „gefährliches Milieu“ bildeten. Im nachfolgenden Exkurs soll dokumentiert werden, dass dieser Diskurs über die männliche Arbeiterjugend, der zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert zu einem Schwerpunkt wissenschaftlicher und öffentlicher Fragestellungen wurde, eine konstitutive Bedeutung für die Etablierung der Sozialpädagogik als institutionalisiertes Handlungsfeld hatte.
Exkurs I: Die Entdeckung des „abweichenden“ Jugendlichen als Triebfeder der institutionellen Sozialpädagogik Die institutionelle Geschichte der Sozialpädagogik begann mit der Entdeckung des „abweichenden“ Jugendlichen (vgl. Peukert 1986). Dabei darf Jugend als Muster der Sozialisation allerdings nicht mit physiologischer Pubertät gleichgesetzt werden. Wie jede andere Lebensphase, ist auch der Entwicklungsabschnitt der Jugend nicht bloß ein bio-chemischer Prozess. In erster Linie ist es der gesellschaftliche Kontext, der die zeitliche Dauer, die Entwicklung und die Autonomie dieser Lebensphase, ja selbst die biologischen Determinanten wie etwa die Geschlechtsreife, strukturiert. Vieles von dem, was gegenwärtig die Lebensalter strukturiert, ist historisch geworden und Resultat eines typischen Entwicklungsprozesses der Moderne. „Alt und Jung war man zu allen Zeiten, aber wie wir heute das Alter, die Jugend, den erwerbsbezogenen Erwachsenstatus erleben, ist typisch für unsere Zeit, denn die heutigen Lebensalter sind Konstrukte der modernen Industriegesellschaft“ (Böhnisch 2005: 39). Jugend als eigenständige Sozialisationsetappe wurde demnach erst im Zuge der Etablierung der
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arbeitsteilig organisierten Gesellschaft der Moderne konstituiert (vgl. Böhnisch 1992; 2005; Dudek 1997; Münchmeier 2001). Angesichts der funktionalen Ausdifferenzierung und der zunehmenden gesellschaftlichen Komplexität bildete sie sich als Zwischenphase zwischen Kindheit und Erwerbsalter heraus. Im Prozess der Industrialisierung stiegen die Anforderungen an das Bildungsniveau der Individuen, so dass die Lebenszeit der Heranwachsenden sukzessive in Schul- und Ausbildungszeit transformiert wurde. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts stellte sich der Staat dieser Aufgabe: er sorgte für genügend Schulen, setzte die Schulpflicht durch und unterband die Kinderarbeit. Die (bürgerliche) Jugend entwickelte sich auf diese Weise zur pädagogischen Jugend. Die Kindheits- und Jugendphase wurde sukzessive verschult, so dass die Heranwachsenden aus dem Prozess der materiellen Existenzsicherung ausgegliedert wurden. Sie sollten in einem pädagogisierten Schonraum auf ihre zukünftige Stellung in der Gesellschaft vorbereitet werden, die notwendigen beruflichen Qualifikationen erwerben und zu einer selbstverantwortlichen Persönlichkeit erzogen werden. Diese Freistellung von gesellschaftlichen Anforderungen zum Zwecke des Lernens bedeutete aber nicht, dass von Seiten der Erwachsenengeneration auf die Kontrolle der Jugend verzichtet wurde. Gerade durch die Pädagogisierung der Jugendphase war nicht nur ein Schonraum geschaffen, in dem Heranwachsende sich selbst entfalten und mit gesellschaftlichen Vorgaben experimentieren konnten, sondern es war auch gewährleistet, dass diese persönliche Entwicklung in kontrollierten Bahnen verlief und nicht zum Risiko für die soziale Ordnung wurde. Für die moderne Gesellschaft kam und kommt dem pädagogischen Raum demnach eine eminent wichtige Funktion zu: „Er ermöglicht individuell das Neue, ohne das gesellschaftlich Vorgegebene zu bedrohen“ (Böhnisch 1992: 22). Indem die Jugend das Erbe der älteren Generation nicht nur passiv übernimmt, sondern sich aktiv aneignet, es verändert und Verbesserungen anstrebt, kommt es, so jedenfalls die Lesart der Philosophie der Moderne, zum gesellschaftlichen Fortschritt. Damit die tradierte Normen- und Wertestruktur der Gesellschaft aber von der nachwachsenden Generation nicht in ihrer Gesamtheit verworfen wird, sind Institutionen wie die Familie oder die Schule notwendig, die darauf Acht geben, dass das Aufwachsen in „normalen“ Bahnen verläuft. Am Ende des 19. Jahrhunderts ergab sich nun aber die Konstellation, dass immer mehr Jugendliche aus diesem pädagogischen Schon- und Kontrollraum herausfielen, so dass der Lebensabschnitt „Jugend“ im Raster bürgerlicher Normalitätskonstruktionen in zunehmendem Maße als Problem wahrgenommen wurde. Allerdings betraf diese Problematisierung nicht die Jugend in ihrer Gesamtheit, sondern nur einen Teilbereich der Heranwachsenden: die jugendlichen Unterschichtenangehörigen. Diese wurden mit dem normativen Begriff der „Verwahrlosung“ etikettiert, um darauf aufmerksam zu machen, dass sie die
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Grenzen des vorgegebenen Sittenkodex der bürgerlichen Gesellschaft überschritten. Wurde der bürgerliche Nachwuchs im Rahmen der Jugendbewegung zur „Symbolfigur, zum Bannerträger einer Aufbruchstimmung“ (v. Wolffersdorff 1997: 104), so war dies bei der arbeitenden Jugend anders. Sie galt „als zuchtlos und frech, vergnügungssüchtig und hemmungslos“ (ebd.: 96). Folgendes längeres Zitat eines zeitgenössischen Beobachters spiegelt ein übliches Meinungsbild der damaligen Zeit über die großstädtische Arbeiterjugend wider: „Der Ungehorsam gegen die Eltern erweitert sich zum Ungehorsam gegen den Arbeitgeber, weiter gegen die Obrigkeit, gegen die ganze Gesellschaft. Darin besteht die so stark begehrte und über alle Schranken hinaus angemaßte Freiheit unserer Arbeiterjugend, daß sie nicht in willigem Dienstgehorsam und mit strebsamen Fleiße treuer Pflichterfüllung sich hingibt, sondern in Ungebundenheit und Verwilderung, in Untreue und Verrat, in rücksichtslosestem Eigennutz und ausgelassener Genußsucht ihren Ruhm und ihre Ehre sucht und damit alle Scheu und Achtung vor den gesellschaftlichen Ordnungen der Gesellschaft wegwirft. (...) Die moderne Arbeiterjugend will von Pflichten und der Verbindlichkeit, sie zu erfüllen, nichts mehr wissen und glaubt, im Beanspruchen von Rechten niemals weit genug gehen zu können. In diesem Widerspruch, welcher als sittliches Gebrechen schlimmster Art zu gelten hat, findet sich der Grund der überhandnehmenden Zuchtlosigkeit unter den jugendlichen Arbeitermassen“ (Floessel 1893: 41f.).
Die Klagen über den Verfall der Sitten, über steigende Kriminalitätsraten, über Unzucht und Alkoholismus wurden gänzlich auf die männliche Großstadtjugend projiziert (vgl. Dudek 1997: 52)1. Diese Jugendlichen wurden also als eine Gefahr für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung wahrgenommen (vgl. Peukert 1986: 54ff.). Dies lag nicht nur darin begründet, weil sich ihre Zahl zwischen 1886 und 1908 verdoppelt hatte oder weil sie im Rahmen subkultureller Gleichaltrigengruppen auftraten und hier Verhaltensweisen an den Tag legten, die sonst nur den Erwachsenen vorbehalten waren und die im krassen Gegensatz zum bürgerlichen Ordnungssinn standen. Die Arbeiterjugend wurde vor allem mit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in eine gedankliche Verbindung gebracht, so dass ihre „Auffälligkeit“ immer auch in Zusammenhang mit revolutionären Umstürzen betrachtet wurde. Dabei waren die jugendlichen Arbeiter nicht nur ihrer Herkunftsfamilie, sondern auch der Schule entwachsen, verfügten über ein eigenes Einkommen, unterlagen im Gegenzug aber noch 1
Dies lässt sich schon allein daran erkennen, dass der Begriff „jugendlich“ am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem als Schimpfwort verwendet wurde. Der Ausdruck „Jugendlicher“ erschien erstmals als Neologismus im juristischen Diskurs des späten 19. Jahrhunderts, wobei er hier generell negativ konnotiert war: Jugendliche galten als kriminelle und verwahrloste junge Menschen. Erst mit dem Beginn einer staatlich konzipierten Jugendpolitik zwischen 1911 und 1914 ergab sich auch eine ins positive gewendete Konzeption des Begriffes (vgl. Breyvogel 1998: 95ff.; Dudek 1997: 48f.; v. Wolffersdorff 1997: 99).
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nicht den normierenden Zwängen von Militär und Verheiratung. Diese schulentlassenen, gewerblich tätigen Jugendlichen konnten sich im Vergleich zu ihren bürgerlichen Altergenossen damit einer gewissen Freizügigkeit erfreuen. Das nach Meinung der Zeitgenossen ungebundene Ausleben dieser relativen Freiheit wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als die eigentliche Ursache für Verwahrlosung und Zuchtlosigkeit interpretiert. Das Problem konzentrierte sich folglich „auf die Befürchtung, daß die Arbeiter nicht mehr über die traditionellen Instanzen Familie, Werkstatt, Kirche, Schule und Militär in die soziale und staatliche Ordnung integriert würden und darum moralisch verkümmerten“ (Böhnisch u.a. 1997: 14). So wurde die neugewonnene Freizügigkeit der Jugendlichen zum zentralen Thema jugendpolitischer, pädagogischer und jugendschützerischer Bestrebungen, was dazu führte, dass die preußische Staatsregierung alleine zwischen 1901 und 1911 vier Jugendpflegerlasse verkündete. Der durch die Herausbildung zur Industriegesellschaft konstatierte Ausfall der traditionellen Sozialisationsinstanzen sollte auf diese Weise in erzieherischer Absicht besetzt werden. Mit den Worten von Peukert (1986: 47): „Wenn Verwahrlosung also der Verlust aller sozialen Bindungen und Normen im Gefolge der Auflösung des überkommenen Gesellschaftsgefüges bedeutete, konnte sie nicht durch bloß verbesserte materielle Versorgung behoben werden. Ebensowenig konnte sich ein Freund der gesellschaftlichen Ordnung mit der einfachen strafrechtlichen Ahndung von Normenverstößen zufrieden geben. Vielmehr müßte Fürsorge präventiv wirken und dazu vor allem für die nachwachsende junge Generation die verlorenen Bindungen erzieherisch substituieren“.
Der Prozess der pädagogischen Institutionalisierung der Jugendphase, der im Rahmen der Aufklärung seinen Anfang hatte, fand somit seine Erweiterung um ein weiteres Handlungsfeld: neben die Erziehungsinstitutionen der Familie und die Schule trat die Jugendhilfe als neuer Erziehungsträger. Die Geburt der institutionalisierten Sozialpädagogik war die staatliche Antwort auf die „Kontrollücke zwischen Schulhof und Kasernentor“ (ebd.: 58), d.h. die Jugendhilfe sollten als Kontrollinstanz in einem Bereich fungieren, in den der disziplinierende Arm von Familie und Schule nicht mehr und der kontrollierende Zugriff des Militärs noch nicht hineinreichte. War die Sozialpolitik in erster Linie eine „Herrschaftstechnik“ (Schmidt 2005: 29), die den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit befrieden und gleichzeitig einer drohenden Sozialdemokratisierung der Gesellschaft vorgreifen sollte (s. Kap. 4.2), so wurden die sozialpädagogischen Staatsinitiativen ein Teilstück dieser disziplinierend-sozialintegrativen Sozialpolitik und dieser Logik entsprechend aufgebaut (vgl. Böhnisch u.a. 1997: 21). Zu dieser sozialpädagogischen Aufgabenstellung gehörte neben dem Jugendschutz, der vom Verbot von Kinderarbeit bis zur Behütung der Jugend vor „gefährli-
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chen“ Schriften reichte, und der Jugendpflege, die für die Jugendlichen die „richtigen“ Freizeitangebote bereitzustellen hatte, um deren Abgleiten in deviante Verhaltensmuster zu verhindern, besonders die Jugendfürsorge. Diese sollte die konstatierten Sozialisationsdefizite von Heranwachsenden pädagogisch kompensieren. In der Weimarer Republik wurden diese Angebote der Jugendhilfe sukzessive professionalisiert. Mit der Etablierung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG) von 1923 fanden sie letztendlich auch eine rechtliche Verankerung, wobei die Organisation des Jugendamtes mit seinem Aufgaben- und Leistungskatalog in den Mittelpunkt des sozialpädagogischen Feldes gestellt wurde. Münchmeier und Peukert (1990: 10) beschreiben die Bedeutung dieses Gesetzeswerkes folgendermaßen: „Mit der Gesetzgebung von 1922/1923 war das sozialpädagogische Feld endgültig konstituiert. (…) Das Problem abweichenden jugendlichen Verhaltens in der modernen industriellen Klassengesellschaft war durch eine charakteristische Vernetzung sozialer Hilfe und sozialer Kontrolle angegangen worden, die in ihren positiven, fördernden wie in ihren negativen, korrigierenden Maßnahmen von einem diffusen gesellschaftlichen Normalitätsideal ,gesellschaftlicher Tüchtigkeit’ oder ,Brauchbarkeit’ geleitet wurde. Das Neue an diesen sozialpädagogischen Initiativen gegenüber der älteren Rettungsarbeit und Wohltätigkeit waren die gesetzlichen Normierungen pädagogischer Staatsintervention in die bisher private Erziehungsprozesse, die damit verknüpfte Institutionalisierung der sozialen Hilfe und Kontrolle in besonderen Behörden und daraus notwendig folgend die Professionalisierung der sozialpädagogischen Arbeit“.
Der Alkoholkonsum als Mittel der Pazifisierung der „gefährlichen Klassen“ Die bürgerlichen Klagen über den Alkoholkonsum der Arbeiterschaft müssen im Zusammenhang mit dem Aufkommen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung betrachtet werden. Sie waren ein Teilaspekt der durch den sozialen Wandel bedingten Angst vor den „gefährlichen Klassen“ und deren (vermeintlichem) Potential zum gemeinsamen kollektiven Handeln. Problematisiert wurde also weniger der Alkoholkonsum an sich, wohl aber die politischen Implikationen, die mit dem Gebrauch der alkoholischen Getränke assoziiert wurden. „Wie zuvor der Adel den Kaffee verantwortlich gemacht hatte für das Aufkommen gefährlicher Gedanken, schrieb nun der Bürger dieselbe Eigenschaft dem Alkohol zu“ (Spode 1993: 238). Es war vor allem der soziale Kontext des Konsumgeschehens, der den oberen Schichten Anlass zur Besorgnis gab. „Die unkontrollierbaren Geselligkeiten in den Wirtshäusern, Trinkstuben und Schenken bildeten eine potentielle Gefahr für das herrschende System und waren Brennpunkte möglicher Konspirationen. Gemeinsames Trinken und durch Alkohol beförderte Kommunikation standen im Ruch des Subversiven, waren verdächtig
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und wurden misstrauisch beargwöhnt“ (Hey/Rickling 2004: 18; s.a. Hübner 1988: 116ff.)1. Der Kampf gegen den Alkohol war also auch ein symbolischer Kreuzzug gegen die Arbeiterbewegung und deren politische Interessen. Gleichzeitig war der Alkohol aber noch in einen anderen Diskursstrang eingebettet. Die bürgerlichen Klagen über den „unkontrollierten“ Alkoholkonsum der unteren Schichten waren nicht nur von politischen, sondern auch von gesundheitlichen und ökonomischen Interessen motiviert. Mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft stellte sich nämlich erstmals die Aufgabe, ein qualitativ ausreichendes Arbeitskräftepotential auf Dauer sicher zu stellen (vgl. Labisch 1989: 23ff.; Lemke 1997: 236). Während die mittelalterliche und die frühindustrielle Stadt ihre Einwohner unmerklich verbrauchten und vom Zuzug aus dem Umland lebten, war dies bei der industrialisierten Stadt des späten 19. Jahrhunderts anders: Sie war angesichts von Technisierungsprozessen in zunehmendem Maße auf spezialisierte und qualifizierte Arbeitskräfte angewiesen. In dieser Hinsicht war dauerhaft ein zahlenmäßig ausreichendes und qualitativ genügendes Arbeitskräftepotential sicher zu stellen. Infolge der zunehmenden Komplexität der Gesellschaft erhöhte sich die wechselseitige Abhängigkeit der Menschen in einem solchen Maß, dass das gesellschaftliche Gefüge nur dann aufrechterhalten werden konnte, wenn alle Individuen gleichmäßig leistungsfähig waren und berechenbare Verhaltensmuster zeigten. Krankheit und Gesundheit wurden erstmals zu einem sozial bedeutsamen Massenphänomen, da beständige Arbeits- und Leistungsfähigkeit zur unabdingbaren Voraussetzung für die Instandhaltung des Gesamtsystems wurden. Angesichts dieses ökonomischen Imperativs wurde die Gesundheit zur Pflicht des Einzelnen wie auch zum Ziel staatlichen Handelns. Demgegenüber muss man konstatieren, dass sowohl die Lebensbedingungen als auch die Lebensgewohnheiten des Proletariats diesen systemimmanenten Anforderungen diametral entgegensetzt waren. Die Gesundheitsgefahren in den Industrieregionen waren besonders groß bzw. wurden als besonders hoch eingeschätzt. Die Arbeitersiedlungen galten als Entstehungsfeld ansteckender Krankheiten, wobei diese Infektionskrankheiten jedoch nicht nur das einzige Subsistenzmittel des Arbeiters – seine Arbeitskraft – gefährdeten, sondern auch als eine Gefahr für die Gesellschaft thematisiert wurden, da sie sich jederzeit ver1
Diese Tatsache findet schon allein im Namen derjenigen Organisation ihren Niederschlag, die sich in den USA für ein Verbot alkoholischer Getränke einsetzte: die Anti-Saloon-League. Levine (1982b: 246) beschreibt das Bedrohungsszenario, das die Mitglieder dieser Vereinigung mit den Kneipen assoziierten, folgendermaßen: „Kneipen galten (...) nicht nur als unmoralisch, sie waren auch ein politisches Übel, ein Ort, wo Gewerkschaften organisiert wurden, wo die Parteiapparate der Großstadt auf Stimmenfang ausgingen, und wo Kommunisten und Anarchisten ihre Anhänger fanden. Die Vernichtung der Kneipen, so wurde behauptet, war die Voraussetzung für die Regierbarkeit Amerikas im 20. Jahrhundert“.
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breiten konnten (vgl. Labisch 1985: 61f.; Sachße/Tennstedt 1986: 35f.). Außerdem war innerhalb des Proletariats der stumme Zwang zur rationalen Lebensführung, d.h. die Einrichtung des Lebens auf lange Handlungsketten, auf Bedürfnisaufschub und Affektregulierung, noch nicht in dem Maße ausgeprägt, wie dies beim Bürgertum der Fall war (vgl. Labisch 1985: 62; Spode 1993: 196). Die Lebensgewohnheiten des Arbeiters standen damit im fundamentalen Widerspruch zu den Anforderungen der Fabrikarbeit. Diese beanspruchte vom Einzelnen nicht nur kontinuierliche Arbeitsvollzüge über einen längeren Zeitraum hinweg, sondern sie setzte auf Seiten der Arbeiter auch eine Ordnung der Lebensführung außerhalb der Arbeit voraus, die – wenn überhaupt – nur in einem gewissen Umfang vorhanden war und deshalb erst fabriziert werden musste1. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass sich unter dem Verweis auf die gesundheitliche Gefährdung des Einzelnen und der Gesellschaft Interventionen in den unteren Schichten rechtfertigen ließen, denn „>k@eine persönliche und gesellschaftliche Sphäre eignet sich so hervorragend als Prägeanstalt für erwünschtes und adäquates Verhalten wie der Bereich der Gesundheit“ (Keupp 1995: 59). Während die Kategorie der Gesundheit vormals noch aus einem religiös-moralischen Erklärungssystem deduziert wurde – eine gesunde Lebensführung sollte ein Beweis von Sittlichkeit und Gottesfurcht sein –, so erschien sie angesichts des Bedeutungszuwachses der Naturwissenschaften erstmals als ein Wert an sich, als eine wissenschaftlich nachweisbare und in sich selbst begründete Lebensform (vgl. Göckenjan 1986: 297; Labisch 1986: 279f.; 1989: 21ff.). Die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Methode wurden als frei von Willkür und subjektiven Interessen betrachtet; sie galten als objektiv, sicher und unabweisbar richtig (vgl. Bleker 1983: 235)2. Ohne dass der politische Gehalt 1
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So bestand etwa eine wesentliche Problematik darin, dass die Arbeiter ihren Lohn am Monatsanfang sofort ausgaben, da ihnen die bürgerliche Tugend der haushälterischen Lebensökonomie fremd war. Ein weiteres Problem lag darin, dass der Arbeiter überhaupt erst dazu bewegt werden musste, regelmäßig zur Arbeit zu erscheinen, da sich in den unteren Schichten noch keine Vorstellung von Pünktlichkeit und rationaler Zeitdisziplin entwickelt hatte (vgl. Treiber/Steinert 1980: 40ff.). Gesundheit ist keine wertneutrale Kategorie. Vielmehr ist „Gesundheit (...) ein Feld der Herstellung von gesellschaftlich gewünschtem und gefordertem Verhalten und Habitusformen. Gesundheit ist in diesem Sinne ein Ort sozialer Kontrolle“ (Keupp 1995: 57).Was unter gesunder Lebensführung verstanden wird, ist abhängig vom soziokulturellen Kontext und immer auch ein Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse. ,,‚Gesundheit‘ und ,Krankheit‘ existieren eben nicht (nur) als ,quasi-natürliche Phänomene‘ im Sinne von z.B. verschiedenen Krankheiten zu dieser oder jener Zeit, die mit mehr oder weniger ähnlichen oder unterschiedlichen kurativen Maßnahmen behandelt werden; ,Gesundheit‘ und ,Krankheit‘ sind vielmehr als gesellschaftliche Konstrukte zu verstehen, deren sozio-kulturell spezifische Definitionen, Bedeutungen und damit einhergehende politische wie alltägliche Praktiken in gesellschaftlichen Diskursen je nach Inter-
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dieser Interventionen sichtbar gemacht werden musste, konnte das naturwissenschaftliche Konstrukt der Gesundheit als Legitimationsbasis für disziplinierende Maßnahmen innerhalb der armen Bevölkerungsschichten herangezogen werden. Mit dem Verweis auf die scheinbar wertneutrale Kategorie der Gesundheit ließen sich nicht nur die katastrophalen hygienischen Missstände in den Arbeitersiedlungen beseitigen, sondern es konnte auch auf Verhaltensgewohnheiten und Lebensführung des Arbeiters, auf seine Ernährung oder seine Sexualität, Einfluss ausgeübt werden. Wie Sachße und Tennstedt (1986: 36) festhalten, sollten Arme und Arbeiter zu einer „gesunden“, und das bedeutete in erster Linie einer fleißigen und sparsamen Lebensgestaltung bewegt werden: „Der demütige, fleißige, ordentliche, reinliche und ‚gesunde‘ Proletarier war der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr gefährlich“. So diente etwa der Bau von Sozialwohnungen nicht nur dazu, Not und Elend der Arbeiterschaft zu beheben, sondern man konnte diese fortan auch in Beziehung auf Reinlichkeit, Ordnung und Pünktlichkeit kontrollieren, wobei bei Zuwiderhandlungen gegen diese Verhaltensrichtlinien das Wohnrecht entzogen werden konnte (vgl. Göckenjan 1986: 297; Richter 2004: 11f.). Was für die Kategorie der Gesundheit im Allgemeinen gilt, lässt sich nun auch für das soziale Konstrukt der Trunksucht im Besonderen konstatieren. Ebenso wie die ansteckende Krankheit wurde auch die Trunksucht mit dem Aufkommen der Entartungstheorie und des Sozialdarwinismus als eine Bedrohung für die ganze Gesellschaft empfunden. Die Gefahr der Degeneration, die man nicht nur mit dem Alkoholkonsum, sondern auch mit anderen Formen des abweichenden Verhaltens assoziierte, wurde dabei vollständig auf die unteren Schichten projiziert. Die aufkommende Sozialstatistik fungierte hier als ein bedeutendes Beweismittel. Das „Argument der Großen Zahl“ (Spode 1993: 210) lieferte mit einer scheinbar objektiven und empirischen Sicherheit die wissenschaftlich-rationale Begründung für eine Trennung des „Pathologischen“ und „Anormalen“ vom „Gesunden“ und „Normalen“: „Anstelle von Bibelworten, moralischen Appellen und zornigen Mandaten der Obrigkeit wurden nun nüchterne Statistiken und Laborwerte zur Legitimationsbasis der Normen des ,rechten Gebrauchs‘ erhoben und damit zugleich zu Vorgaben der staatlichen Alkoholpolitik“ (Spode 2001: 42). Unter Berücksichtigung der statistischen Methode konnte man auch die moralische Minderwertigkeit der unteren Schichten „wissenschaftlich“ belegen (vgl. Vogt 1985: 19). Mit der „Ummünzung moralischer Urteile in rational-wissenschaftliche Normen war die Moral keineswegs abgeschafft, sondern erhielt vielmehr ein neues, solideres Fundament. (...) Das Noressenkonstellationen, Machbeziehungen und Ressourcenverteilungen und mit (z.T. verdeckten) Ursachen und (z.T. ungewollten) Wirkungen hergestellt, gesichert und über den historischen Zeitverlauf hinweg auch verändert werden“ (Jungbauer-Gans/Schneider 2000: 207).
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male war das Gesunde, dessen innere Gradationen wie auch dessen scharfe äußere Grenze zum Anormalen, zum Pathologischen durch die Große Zahl bestimmbar wurden“ (Spode 1993: 252). In dieser Hinsicht wies schon der französische Psychiater Auguste Morel, seinerseits „Entdecker“ der Degenerationstheorie, darauf hin, dass Geisteskrankheiten und andere Anomalien statistisch betrachtet gehäuft in den unteren Schichten vorzufinden sind (vgl. Castel 1983: 55) und die Kriminalstatistik demonstrierte, dass es hauptsächlich Mitglieder der Arbeiterklasse waren, die verurteilt wurden und in den Gefängnissen einsaßen (vgl. Dinges/Sack 2000: 22; Sack 1995: 442). Auch das Phänomen der Trunksucht wurde im zunehmenden Maße von der Statistik und der Wahrscheinlichkeitsrechnung erfasst. Dahingehend stellte man etwa fest, dass die Sterblichkeit des Trinkers mehr als drei mal so hoch wäre wie die eines Nichttrinkers (vgl. Baer 1881: 299f.) und statistische Vergleiche zwischen Trinkerfamilien mit nüchternen Familien ergaben für die Trinker und ihre Nachkommenschaft katastrophale Ergebnisse: höhere Säuglingssterblichkeit, größere Häufigkeit schwerer Krankheiten oder einen schlechteren sozialen Status (vgl. Spode 1993: 139f.). Diese Ergebnisse mussten im Hinblick auf die gesellschaftlich anerkannte Theorie der Degeneration als eine Bedrohung des biologischen Volkskörpers erscheinen. Dies um so mehr, als bevölkerungsstatistische Untersuchungen darlegten, dass die Mittel- und Oberschicht niedrigere Fruchtbarkeitsraten und eine geringere Kinderzahl aufwies als die unteren Schichten (vgl. Dinges/Sack 2000: 25; Reyer 2001: 475). Der Aspekt der Selektion, d.h. die „Durchseuchung“ der ganzen Gesellschaft mit dem „minderwertigen Erbgut“ des Proletariats, wurde so zu einer Gefahr für den Fortschritt und den Fortbestand des eigenen Volkes. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass es hauptsächlich die Angehörigen der „gefährlichen Klassen“ waren, die von den Zwangseinweisungen in die Trinkeranstalten, welche oftmals gegen den Widerstand der Familien betrieben wurden, betroffen waren (vgl. Hauschildt 1995: 71ff.; Spode 1993: 254). Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass das biologische Modell der Trunksucht dem Staat und der Gesellschaft einen legitimatorischen Vorteil verschaffte. Die scheinbar klassenneutrale und wertfreie Degenerationstheorie konnte als Legitimationsbasis für Interventionen innerhalb der Arbeiterschaft genutzt werden, um diese nicht nur sozial und moralisch zu degradieren, sondern auch gemäß bürgerlicher Normalitätsstandards zu disziplinieren (vgl. Eisenbach-Stangl 1984: 164). Dass die Heilanstalten in erster Linie Produktionsstätten der Disziplin waren, wird deutlich, wenn man sich die Hausordnungen, Tagesabläufe und Arbeitsweisen dieser Einrichtungen betrachtet. So fasst etwa Aßfalg (2003: 94f.) das Therapiekonzept der im Jahre 1905 gegründeten Heilanstalt „Renchen“ folgendermaßen zusammen: Entzug des Alkohols, geregelte
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Ordnung aller täglichen Lebensbedingungen, Arbeit als wichtigster Heilfaktor, um Pflichtbewusstsein, Selbstdisziplin und Verantwortlichkeitsgefühl zu stützen, Beratung und Führung auf allen Lebensgebieten, Umerziehung in einen pflichtgetreuen Volksgenossen. Medikalisierung und Hospitalisierung der Devianz waren folglich „ein Mittel zur Pazifizierung der classes dangereuses, zur Sicherung der Hegemonie des Bürgertums“ (Spode 1993: 254). Über die Biologisierung des abweichenden Verhaltens ließ sich der politische Gehalt dieser Zwangsbehandlungen verschleiern. Die Trinkeranstalten und andere Anstaltsformen (Krankenhaus, Irrenhaus, Gefängnis, Erziehungsheim) wurden auf diese Weise vom Vorwurf entlastet, ein Kontrollinstrument zu sein, das sich nur auf bestimmte Gruppen richtete. Allerdings wurde der Zwang zur rationalen Lebensführung dem Arbeiter nicht nur von außen aufgezwungen. Die Disziplinierung der unteren Schichten wurde nicht nur durch die Fabrik und durch andere Instanzen der sozialen Kontrolle (Soziale Arbeit, Schule, Medizin, Familie, Militär usw.), sondern gleichzeitig auch durch die Arbeiterbewegung selbst gewährleistet, „die mit ihren zahlreichen Vereinigungen als eine riesige Sozialisationsagentur zur Vermittlung genuin bürgerlicher Tugenden fungierte“ (Spode 2001: 47). Auch hier spielte die Erkenntnisproduktion der modernen Humanwissenschaften eine bedeutsame Rolle. Durch die wissenschaftliche Durchdringung des abweichenden Verhaltens „entstand das Bild vom asozialen, verwahrlosten und halbkriminellen Außenseiter“ (Jahn u.a. 1997: 143), was zur Folge hatte, dass eine Trennlinie durch die Arbeiterschaft gezogen wurde, die diese in zwei Gruppen teilen sollte: die Gruppe der „respektablen Arbeiterschaft“ auf der einen und die Gruppe des „Lumpenproletariats“ auf der anderen Seite (vgl. Lemke 1997: 87f.; Sack 1995: 442f.; Spode 1993: 243ff.). Die Affinität der „gefährlichen Klassen“ und der arbeitenden Klassen wurde auf diese Weise entkoppelt, wobei die pathologisierte Figur des Abweichlers als eine Art negative Bezugsfolie diente, gegen die die integrationswillige Arbeiterschaft ihre moralische Abgrenzung demonstrierte. Indem der Großteil der Arbeiterbewegung die Moralvorstellungen des Bürgertums übernahm und sich an deren Normalitätsstandards orientierte, konnte er sich gegenüber der als „anormal“ produzierten Randgruppe des Lumpenproletariats distanzieren. Der Zwang zur rationalen und disziplinierten Lebensführung wurde nicht nur vom Bürgertum aufoktroyiert, er war nicht nur ein von außen initiierter Prozess, sondern er erfolgte auch vom Arbeiter selbst, als ein Prozess der inneren Selbstdisziplinierung. Dadurch, dass das Gefahrenpotential der „gefährlichen Klassen“ im Laufe des 20. Jahrhunderts durch sozialstaatliche Normalisierungsstrategien minimiert wurde, klang auch der gesellschaftliche Kampf um die Substanz des Alkohols ab. Sicherlich war dies aber auch darin begründet, dass der Konsum anderer Substanzen sukzessive zu einem öffentlichen Thema wurde. „Wurden die natio-
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nalen Alkoholverbote schon in der Zwischenkriegszeit aufgehoben und die strikteren Alkoholkontrollen, die statt ihrer formuliert wurden oder an ihre Stelle traten, in den folgenden Jahrzehnten liberalisiert, so wurden die internationalen Drogenverbote (und in ihrem Gefolge die nationalen) zunehmend verschärft“ (Eisenbach-Stangl 2000 u.a.: 152).
5.3.3
Drogenkonsum als soziales Problem im Verlauf des 20. Jahrhunderts
Die Differenzierung des legalen und illegalen Drogenkonsums durch die Opiumgesetze Im Gegensatz zum Alkohol war die Sache bei den heute als illegal deklarierten Drogen anders gelagert. Opiate und Cannabis waren vor dem 20. Jahrhundert als Rauschmittel in den Industrieländern nur von geringer Bedeutung, was jedoch nicht bedeutet, dass diese Substanzen nicht konsumiert wurden1. Allerdings gab es keine Wahrnehmung eines Drogenproblems im heutigen Sinne und folglich auch keine Differenzierung zwischen legalen und illegalen Drogen. Nach Scheerer (1982: 49) änderte sich diese Situation auch nicht, als die Isolation der reinen Wirkstoffe aus den Pflanzendrogen Opium und Coca gelang. Am Ende des 19. Jahrhunderts bestand in der öffentlichen Anschauung und in der rechtlichen Normierung „kein qualitativer Unterschied zwischen solchen Substanzen, die später unter das Betäubungsmittelgesetz fallen sollten und als besonders gefährlich angesehen wurden und solchen, die heute nach dem allgemeinen Arzneimittelrecht behandelt werden. In der Apothekerverordnung von 1872 werden Opiate und Indischer Hanf nicht anders als z.B. Kirschlorbeerwasser, Sassafraholz, Manna, Rizinus- und Baldrianöl behandelt und allesamt apothekenpflichtig gemacht“. In diesem Zusammenhang ist die besondere Rolle der Pharmaindustrie und der Medizin zu beachten, die erheblich zur Verbreitung von Morphium, Kokain, Heroin und anderen synthetischen Substanzen beigetragen haben. Aufgrund der Technisierung von Krieg und Arbeit und angesichts der Entwicklung der Chirurgie wurde ein enormer Bedarf an Schmerz- und Betäubungsmitteln wie Morphium geschaffen. Viele Ärzte waren von den therapeutischen Wirkungen dieser Substanz dermaßen begeistert, dass sie fortan als universelles Therapeuti1
Zur Geschichte des gesellschaftlichen Umgangs mit Opiaten vor dem 20. Jahrhundert vgl. Kloppe 2004: 140ff.; Selling 1989b: 276ff; zu Cannabis vgl. Täschner 2005: 1ff.; Jungblut 2004: 112ff..
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kum Verwendung fand. Eine große Zahl der Behandelten wurde von Morphium abhängig, wobei man dieses Phänomen in der damaligen Zeit als Morphiumhunger bezeichnete (vgl. Böllinger u.a. 1995: 23; Gerlach/Engemann 1999: 6f.; Jungblut 2004: 29; Selling 1989a: 10f.). Gleichzeitig wurde im 19. Jahrhundert mit der Technik der subkutanen Injektion eine neue Methode der Substanzapplikation entdeckt. Diese Injektionstechnik geriet zu einem prestigeträchtigen Statussymbol der Ärzte, die so ziemlich alles, was sich an Medizin verflüssigen ließ, zu spritzen versuchten (vgl. Renggli/Tanner 1994: 88f.). Speziell Morphium wurde subkutan injiziert, da man annahm, angesichts der Umgehung des Magens bei der Resorption des Medikaments das Phänomen des Morphiumhungers ausschalten zu können (vgl. Selling 1989a: 9). Kokain wurde nach seiner Entdeckung im Jahr 1860 von den Ärzten als neues Wunderheilmittel proklamiert und nicht nur gegen alle möglichen Krankheiten, sondern auch bei der Therapie von Alkohol- und Morphiumsucht empfohlen und eingesetzt. Währenddessen blühte auch die kommerzielle Nutzung dieser Substanz auf und eine breite Palette kokainhaltiger Präparate wie Softdrinks (z.B. Coca-Cola), Pastillen oder Zigaretten kam auf den Markt (vgl. Gunkelmann 1989: 359ff.). Ähnliches gilt für Heroin: Im Jahr 1898 brachte das deutsche Pharmaunternehmen Bayer Heroin als Medikament gegen Atemwegserkrankungen auf den Arzneimittelmarkt und nur ein Jahr später wurde es bereits in 23 Länder exportiert, da Bayer mit der Vermarktung der Substanz an dem lukrativen Geschäft mit Schmerzmitteln partizipieren wollte. Die medizinischen Indikationen gingen bald über die Erkrankung der Atemwege hinaus, so dass Heroin von der Ärzteschaft in der Folgezeit gegen alle Arten von Erkrankungen (vom Magenkrebs bis zum Fieber) sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern verschrieben wurde (vgl. de Ridder 1991: 18ff.). Die Geschichte der heutigen Suchtstoffe ist folglich auch eine Geschichte des medizinischen „Fortschritts“. Gleichwohl wurden die gegenwärtig als illegal klassifizierten Substanzen zu Beginn des 20.Jahrhunderts in der breiten Öffentlichkeit nicht problematisiert. Im Gegensatz zum Alkohol gab es keine Massenbewegung, die sich für ein Drogenverbot engagierte. Wenn Drogen gebraucht wurden, dann vor allem im Rahmen medizinischer Behandlungen oder innerhalb privilegierter Schichten, die den Konsum der kulturfremden Substanzen als elitäres Abgrenzungssymbol gegenüber der alkoholtrinkenden Mehrheit benutzten (vgl. Gerlach/Engemann 1999: 9; Jungblut 2004: 39f.; Reuband 1994: 60). Besonders beim medizinischen Personal war der Konsum weit verbreitet. Verschiedene Untersuchungen zwischen 1890 und 1930 zeigen, dass 30 bis 40% der ärztlichen Belegschaft Morphinisten waren (vgl. Schmerl 1984: 32). Angesichts der Tatsache, dass die Konsumenten sich vornehmlich aus dem „respektablen Kreise der Gesellschaft“ (Scheerer 1982: 23) rekrutierten und gesell-
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schaftliche Normen und Werte akzeptierten, wurde das Drogenphänomen weder in der „medizinischen Fachöffentlichkeit als ernstes Problem angesehen, geschweige denn von der Bevölkerung als ,abweichendes Verhalten‘ definiert. Vor allem die Respektabilität der Suchtursache >gemeint ist die Verwundung im Krieg; M.S.@ und die sonstige Konformität der Süchtigen mit konventionellen Einstellungen und Verhaltensweisen verhinderten jeden Gedanken an eine strafrechtliche Kontrolle“ (ebd.: 51). Gleiches gilt für die USA: Zwar hatte hier der Opiumkonsum im Vergleich zu den europäischen Ländern einen höheren Stellenwert, weil viele Alkoholkonsumenten angesichts der moralischen Verurteilung alkoholischer Getränke auf Opiate umstiegen (vgl. Selling 1989a: 22f.). Aber auch in den USA wurden Drogengebraucher nicht mit moralischen Kategorien beurteilt, sondern „mit einer Art wertfreiem Mitleid betrachtet, wie man es etwa einer unverschuldeten Krankheit gegenüber an den Tag legt. (...) So war mit Drogenkonsum keine Bedrohung der sozialen Position verbunden, niemand verlor seinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz oder mußte Statusverlust in Familie oder sozialem Nahraum fürchten. Eine Verknüpfung von Drogenkonsum und Kriminalität fand sich nicht einmal in hypothetischen Überlegungen von Skeptikern“ (ebd.: 28). In dieser Hinsicht drängt sich die Frage auf, wieso 1878 im US-amerikanischen Bundesstaat Kalifornien das erste Strafgesetz gegen Opium erlassen und wieso auch in Deutschland im Jahr 1920 ein Verbot dieser Substanz implementiert wurde. Hier ist zu berücksichtigen, dass diese Gesetzesnormen nicht auf gesundheitlich-medizinische, sondern auf außerwissenschaftliche Motive zurückzuführen sind. In dieser Hinsicht liefern diese beiden Verordnungen gegen den Drogenkonsum ein reiches Anschauungsmaterial für die Tatsache, dass Drogengesetzgebung jenseits von gesundheitspolitischen Erwägungen immer auch von anderen Interessen und Einflüssen gesteuert wird. So war das amerikanische Gesetz von 1878 Bestandteil einer offenen, rassistischen Kampagne gegen die chinesischen Einwanderer, die zwischen 1850 und 1890 in die USA kamen und mit den amerikanischen Arbeitern um die angesichts einer Wirtschaftskrise rar gewordenen Arbeitsplätze konkurrierten. Die Chinesen wurden als Sündenbock für die schwache Wirtschaftslage auserkoren. „Eine soziale Bewegung entstand, in deren Verlauf chinesische Sitten und Gebräuche als anstößig und bedrohlich stigmatisiert wurden“ (Scheerer 1982: 24). Es kam zu einer Serie antichinesischer Gesetze, wobei nach Selling (1989a: 16) keine Illustration für eine symbolische Statusdegradierung der chinesischen Einwanderer von so großem Nutzen war wie die des Opiumrauchens: „Er war der Fokus des antichinesischen Rassismus’. Kein Aspekt der chinesischen Lebensweise konnte so viel Angst und Abneigung hervorrufen wie dieser. Er verband die
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chinesische Lebensweise wie von selbst mit allen denkbaren Lastern und Übeln. Das Bild des Opiumrauchers war eine zu allem Bösen fähige Schreckensgestalt, eine Bedrohung für die ganze Gesellschaft, die immer wieder die Gefahren der chinesischen Verderbtheit für das weiße Amerika beschwor“.
Während die weit verbreiteten Praktiken des Morphium- und Opiumkonsums der eingesessenen Bevölkerungsmehrheit unbehelligt blieben, wurde die chinesische Tradition des Opiumrauchens inkriminiert. Die erste Kriminalisierung von Drogen diente also dazu, eine unliebsam gewordene ethnische Minderheit zu marginalisieren und in ihren Lebenschancen zu beschneiden. Gerade der historische Rückblick veranschaulicht, dass „die strafrechtliche Regelung des Drogenkonsums häufig auch zur symbolhaften Durchsetzung verborgener Diskriminierungsbedürfnisse, die der Dynamik sich wandelnder Produktionsverhältnisse unterlagen, benutzt wurde“ (Selling 1989b: 282). Daneben liefert das Gesetz von 1878 aber auch einen weiteren anschaulichen Beweis für die Gegebenheit, dass eine Regeldurchsetzung häufig mit Statuspolitik verbunden ist. Eine gesellschaftlich etablierte Gruppe kann durch die Normierung eines bestimmten Verhaltens eine in der sozialen Hierarchie aufsteigende Gruppe sozial degradieren, um auf diese Weise die durch soziale Wandlungsprozesse gefährdete eigene Position innerhalb der Sozialstruktur zu stabilisieren. Auch das Opiumverbot in Deutschland wurde nicht aus gesundheitlich-medizinischen Beweggründen erlassen. Wurde auch angemerkt, dass soziale Probleme immer das Produkt kollektiver Definitionsprozesse sind (s. Kap. 5.3.1), so kann man hier doch die Feststellung treffen, dass der Kriminalisierung von Drogen in Deutschland ein solcher Definitionsprozess nicht vorausging. Die Gründe für die Implementierung des Opiumgesetzes sind vielmehr in nationalen wirtschaftspolitischen Interessen zu suchen. Eine besondere Rolle spielte hier wiederum die USA, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Begriff war, zur Weltmacht aufzusteigen und die sich deshalb für ein Opiumverbot engagierte, um auf diese Weise ihre Position als Handelsmacht im südostasiatischen Raum zu verbessern. Ohne an dieser Stelle auf die ökonomischen und politischen Interessenkonstellationen und Problemdefinitionen der Industrieländer im Zuge der Kolonial- und Opiumpolitik zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingehen zu können (vgl. genauer Scheerer 1982; 1993; Selling 1989a), kann festgehalten werden, dass Opium zu einem Spielball im Kräftefeld imperialistischer Politik wurde. Angesichts des englisch-amerikanischen Opiumkonflikts fanden vor dem Ersten Weltkrieg die ersten internationalen Konferenzen (1909 in Schanghai und 1911 in Den Haag) statt, in deren Verlauf die erste Opiumkonvention formuliert wurde, wobei diese jedoch von den meisten europäischen Ländern nicht in eigene nationale Drogengesetze überführt wurde. So wehrte sich beispielsweise Deutschland angesichts der ökonomischen Interessen seiner stark
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expandierenden Pharmaindustrie erfolgreich dagegen, das Opiumabkommen zu ratifizieren. Erst durch den Verlust des Ersten Weltkriegs wurden die Gegner der Prohibition im Rahmen des Friedensvertrags von Versailles gezwungen, sich dem Druck der Weltgemeinschaft zu beugen. Auch das Deutsche Reich musste nun die auf internationaler Ebene formulierte Opiumkonvention in nationales Recht transplantieren. Das erste deutsche Opiumgesetz vom 30. Dezember 1920 zielte zwar nicht auf die Konsumsphäre, sondern sollte vor allem die Zirkulation der Substanzen vom Import bis zur Abgabe an den Verbraucher kontrollieren. So durften Ärzte und Apotheker im Rahmen medizinischer Behandlungen weiterhin unbegrenzt Opiate und Kokain verschreiben. Insofern lässt sich von einer „milden Prohibition“ (Scheerer 1982: 53) sprechen. Allerdings war mit der Implementierung des Strafgesetzes eine symbolische Differenzierung zwischen legalen und illegalen Drogen, die zur Folge hatte, dass für letztere eine neue Realität geschaffen wurde. Angesichts der schematischen Vereinfachung des Strafrechts – die „Trennung von Gut und Böse, von Anpassung und Abweichung“ (Albrecht 2005: 14) – wurde den fortan verbotenen Substanzen ein spezifischer Status zugewiesen, der in den Drogen so selbst nicht enthalten war. Opium, Heroin, Morphium und Kokain wurden symbolisch aufgeladen, was nach Scheerer (1982, 53) auch die gesellschaftliche Einstellung gegenüber diesen Substanzen verändern sollte: „Erst das Opiumgesetz von 1920 (...) ‘transplantierte’ neben dem Regelungsinstrument auch die Sichtweise – wenn nicht erst die Wahrnehmung – des Rauschgiftproblems. (...) Die neue gesetzliche Regelung sollte (...) – zunächst kaum merklich – das Suchtproblem von einer Sache der Fürsorge zu einer der Polizei machen. Damit einher ging ein langsamer Wandel der moralischen Bewertung, die Herausbildung des heutigen Stereotyps vom ‘Fixer’ und eine allgemeine Dramatisierung des Betäubungsmittelkonsums“.
In der Weimarer Republik erregte der Konsum der verbotenen Substanzen erstmals einen moralischen Anstoß, so dass das Rauschgiftthema sowohl in den wissenschaftlichen als auch in den öffentlichen Diskurs Eingang fand. Zugleich kam in den europäischen Metropolen zu Beginn der 1920er Jahre mit dem „Kokainschnupfen“ eine neue Praxis der Substanzapplikation in Mode. Sowohl in den oberen als auch in den unteren Gesellschaftsschichten kam es zu einem sprunghaften Anstieg des Konsums. Der Schwerpunkt war dabei angesichts verschiedener künstlerischer Strömungen (z.B. Expressionismus, Dadaismus) in den intellektuellen Kreisen zu finden. Erstmals bildete sich eine regelrechte Drogenszene heraus, deren Mitglieder sich nicht nur – im Gegensatz zum klassischen Morphinisten, der unter allen Umständen versuchte, sein Verhalten geheim zu halten – auffällig und provozierend in der Öffentlichkeit zeigten, sondern die mit dem Konsum oftmals auch politische und gesellschaftskritische
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Motive verbanden und deshalb in den bürgerlichen Kreisen als Bedrohung empfunden wurden (vgl. Gunkelmann 1989: 362f.; Kaulitzki 1995: 143f.; Scheerer 1982: 59ff.; Selling 1989b: 284f.). Gab es vor dem ersten Opiumgesetz in Deutschland keine kollektiven Akteure, die sich für gesellschaftliche Maßnahmen gegen den Drogenkonsum engagierten, so war dies nun anders. Besonders die organisierte Ärzteschaft fungierte in den 1920er Jahren als Moralunternehmer, etablierte den Kokaingebrauch als soziales Problem in der öffentlichen Wahrnehmung und erwirkte gesellschaftliche Interventionen. Hier ist allerdings die Frage zu klären, wieso der Drogengebrauch ausgerechnet in medizinischen Kreisen Anstoß erregte, zeigte doch der Kokainkonsument nur eine „geringe klinische Präsenz“ (Gunkelmann 1989: 362), so dass es keinerlei Anzeichen für ein gesundheitlich-medizinisches Problem gab (vgl. Kaulitzki 1995: 146). In diesem Zusammenhang kann festgehalten werden, dass der Hauptgrund für das Engagement der Mediziner auf deren berufsständische Interessen zurückgeführt werden muss. Die Ärzteschaft musste sich in der Öffentlichkeit immer häufiger den Vorwurf gefallen lassen, angesichts ihrer liberalen Verschreibungspraxis als „Kokainschieber“ – im heutigen Diskurs würde man wohl den Begriff des „Drogendealers“ benutzen – an der Ausbreitung des Drogenkonsums beteiligt zu sein. So stellte man etwa auf dem Deutschen Ärztetag von 1928 fest: „Nichts ist so sehr geeignet, Ansehen und Würde unseres Standes in den Schmutz zu ziehen als wenn man immer wieder hört und sieht, daß jeder Morphinist und Kokainist Ärzte genug wisse, die gegen Bezahlung jede Menge des Giftes auf Verlangen verschreiben“ (Deutscher. Ärztetag 1928: 70, zit. nach Gunkelmann 1989: 365).
Vor diesem Hintergrund waren es hauptsächlich einflussreiche Ärzte und Juristen, die auf eine Verschärfung der Drogengesetzgebung drängten (vgl. Kaulitzki 1995: 144ff.; Scheerer 1982: 62). Indem die organisierte Ärzteschaft über ihren eigenen Bereich hinaus auf das politische Handeln Einfluss zu nehmen versuchte und sich für eine striktere Sanktionierung der Drogenkonsumenten einsetzte, konnte sie sich als „Hüter der Volksmoral“ (Kaulitzki 1995: 147) profilieren und ihre eigene Verantwortung für die Ausbreitung des Drogenkonsums relativieren. Generierte überhaupt erst das Opiumgesetz die gesellschaftliche Wahrnehmung eines Drogenproblems, so war es im Verlauf der 1920er Jahre hauptsächlich die Medizin, die zu einer weiteren gesellschaftlichen Umwertung der verbotenen Substanzen beitrug und sich für eine kriminalpolitische Lösung der Kokainfrage einsetzte. Galt Kokain in ärztlichen Kreisen nach dem Ersten Weltkrieg nicht gefährlicher als andere Arzneimittel auch und wurde die Substanz noch gegen eine Vielzahl von Krankheiten wie z.B. Heuschnupfen oder Menstruationsbeschwerden verabreicht (vgl. Gunkelmann 1989: 364f.), so wur-
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de Kokain nun aus der Medizin verbannt, der Gebrauch moralisch verurteilt und im Rahmen der Suchtsemantik vor allem mit einer bestimmten Gruppe von Menschen assoziiert: „den sozial Gescheiterten“ (Deutscher Ärztetag 1928: 68, zit. nach Kaulitzki 1995: 146). Obwohl der Konsum in allen gesellschaftlichen Schichten verbreitet war, wurde in vielen wissenschaftlichen Abhandlungen auf das Konstrukt der Suchtpersönlichkeit zurückgegriffen (vgl. Gerlach/Engemann 1999: 12). Wie Gunkelmann (1989: 365) darlegt, wurden die Drogenkonsumenten als „sittlich defekt, degeneriert, psychopathisch, kulturlos und minderwertig etikettiert und ausgegrenzt. Die als Prototyp des Kokaingebrauchers identifizierten gesellschaftlichen Randgruppen erregten bei der Mehrheit der Bevölkerung Ablehnung und Verachtung und ließen sich so zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung nutzen“. Vor diesem Hintergrund kam es 1929 zu einer Erweiterung und Verschärfung des ersten Opiumgesetzes, welches in seinen Grundzügen bis 1971 Geltung haben sollte. Natürlich darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch hier wiederum internationale Konventionen eine Rolle spielten. So wurde auf der Genfer Konferenz von 1925 beschlossen, dass alle Länder den medizinisch-pharmazeutischen Bereich einer größeren staatlichen Kontrolle zu unterwerfen haben. Dies führte dazu, dass in Deutschland 1929 erstmals auch Cannabis unter den Geltungsbereich des Opiumgesetzes subsumiert werden musste. Die wesentliche Neuerung dieses Gesetz bestand jedoch vor allem darin, dass es nicht mehr nur auf die Kontrolle bestimmter Substanzen, sondern auch auf die Kontrolle der Konsumenten und deren Abhängigkeit abzielte. Die Drogenabhängigen sollten aus ihrer schützenden Anonymität herausgeholt und sozial sichtbar gemacht werden. Das Verhältnis zwischen Patienten und Ärzten, welches bislang einer rechtlichen Regelung entzogen war, wurde nun bis ins letzte Detail reguliert. Das Gesetz legte den Medizinern Vorschriften über zulässige Höchstverschreibungen und die Art und Weise der Verschreibung auf, deren Zuwiderhandlungen mit dem Entzug der Approbation sanktioniert werden konnten (vgl. Jungblut 2004: 45; Scheerer 1982: 61ff.). Gab es vorher im Rahmen der ärztlichen Praxis keinen Unterschied zwischen Opiat- und Kokainkonsumenten und anderen Gruppen behandlungsbedürftiger Personen, so änderte sich dies infolge der moralischen Verurteilung der verbotenen Substanzen. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient war fortan von gegenseitigem Misstrauen gekennzeichnet, da die Mediziner aus Angst vor Sanktionen oftmals nicht bereit waren, Opiate und Kokain an therapie- und entzugsunwillige Patienten abzugeben. Darüber hinaus wurde auf dem Deutschen Ärztetag von 1928 eine einheitliche Grundlinie für die Behandlung von Opiatabhängigen beschlossen, die den Ärzten zur Vorschrift machte, Drogenkonsumenten mit dem Ziel der Abstinenz in geschlossene Entziehungsanstalten einzuweisen (vgl. Gerlach/Engemann 1999: 14f.). Wäh-
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rend sich in anderen Ländern wie z.B. in Großbritannien bereits früh ein relativ breites Behandlungsangebot (z.B. Vergabe von Originaldrogen, Substitution, ambulante und stationäre Therapieangebote) etablierte, folgte man in Deutschland uneingeschränkt einer rigiden medizinisch-psychiatrischen und abstinenzorientierten Problemdefinition (vgl. Eisenbach-Stangl 2000 u.a.: 155ff.). Zusammenfassend betrachtet kann festgehalten werden, dass zwar die Opiumgesetze in ihren Auswirkungen für die Konsumenten relativ gering waren. So wurden zwischen 1921 und 1928 niemals mehr als 300 Personen verurteilt (vgl. Albrecht 2005: 322), was sicherlich vor allem darin begründet liegt, dass die „Kokainwelle“ nur einige Jahre andauerte und bereits in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wieder abflaute (vgl. Reuband 1994: 61). Es muss aber auch festgehalten werden, dass viele Drogengebraucher deshalb strafrechtlich nicht in Erscheinung traten, weil sie sich eben aus den Reihen des medizinischen Personals rekrutierten und so jederzeit einen relativ unkomplizierten Zugang zu den notwendigen Substanzen hatten (vgl. Schmidt-Semisch 1990: 31). Darüber hinaus bekam derjenige, der eine gute Beziehung zu seinem Arzt hatte, weiterhin die notwendigen Substanzen verschrieben. Außerdem produzierte die Pharmaindustrie zahlreiche opiat- und kokainhaltige „Ersatzmittel“, die nicht unter den Geltungsbereich des Opiumgesetzes fielen und derer die Konsumenten sich demnach problemlos bedienen konnten (vgl. Scheerer 1982: 54). Daneben kam es zur Neuentdeckung der Amphetamine, denen ähnliche Wirkungen wie Kokain zugeschrieben wurden, so dass viele Drogengebraucher auf diese Substanz umstiegen (vgl. Gerlach/Engemann 1999: 16; Gunkelmann 1989: 366). Gleichwohl hat sich angesichts der binären Schematisierung des Strafrechts die gesellschaftliche Bewertung und Einstellung gegenüber den verbotenen Substanzen verändert. Alleine durch den allgemeinen Sprachgebrauch sollten illegale und legale Drogen fortan voneinander symbolisch abgegrenzt und mit unterschiedlichen Begriffen belegt werden. Während für die einen die Bezeichnung „Rauschgift“ gebräuchlich und jeder Umgang mit ihnen per definitionem als „Missbrauch“ definiert wurde, subsumierte man die anderen unter den positiv besetzen Begriff des „Genussmittels“: „Substanzen, die von ihren psychotropen Eigenschaften her zusammengehören, werden sprachlich in einer Weise behandelt, die aus der Sache selbst nicht zu rechtfertigen ist. Differenzierungskriterien für den unterschiedlichen Sprachgebrauch sind denn auch nicht pharmakologische Gesichtspunkte, sondern juristische Aspekte. Legale Stoffe werden neutral bis positiv etikettiert – offenbar allein deshalb, weil sie einen legalen Rechtsstatus innehaben, und illegale Stoffe werden auf dramatische Weise negativ etikettiert – eben deshalb, weil ihr Rechtsstatus ein illegaler ist“ (Meudt 1980: 198).
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Fand vor dem 20. Jahrhundert so gut wie keine öffentliche Auseinandersetzung bezüglich des Konsums der verbotenen Substanzen statt, so wurde durch die Transplantation der internationalen Opiumkonventionen in nationales Recht die gesellschaftliche Wahrnehmung eines Drogenproblems geschaffen. Dadurch wurde ein öffentlicher und wissenschaftlicher Drogendiskurs in Gang gesetzt, der sich innerhalb kürzester Zeit in einen „Gefahren-Diskurs“ (Stehr 1998: 100) verwandeln und eine ursprünglich akzeptierende Grundhaltung gegenüber Drogenkonsumenten in ihr Gegenteil verkehren sollte. Freilich sollte es noch einige Jahrzehnte dauern, bis die Drogenthematik zu einem Hauptthema der Gesellschaft wurde.
Die Betäubungsmittelgesetzgebung als Reaktion auf die „Drogenwelle“ der 1960er Jahre Die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg war vergleichbar mit der Situation zu Beginn des 20. Jahrhundert. Angesichts der Schrecken des Krieges und des Wiederaufbaus standen andere Probleme als ein „Drogenproblem“ im Vordergrund. Das Bild des Drogenkonsumenten wurde abermals durch den „traditionellen Typus“ des Süchtigen geprägt: Eine beträchtliche Personenzahl galt als drogenabhängig, nachdem sie aufgrund von Kriegsverletzungen oder einer Operation mit opiathaltigen Schmerzmitteln behandelt wurde. Auch bei Ärzten und anderen Personen des Gesundheitspersonals war der Drogenkonsum wiederum weit verbreitet. Die meisten Abhängigen führten dabei ein polizeilich unauffälliges, „normales“ Berufs- und Familienleben. Sie lebten angepasst und zurückgezogen, zumal die meisten Konsumenten leichten Zugang zu den benötigten Substanzen hatten. Aus diesem Grund waren diese Personen auch vor strafrechtlichen Interventionen geschützt (vgl. Jungblut 2004: 46; Reuband 1994: 61; Scheerer 1982: 67, 89f.). So wurden bis zum Jahr 1968 niemals mehr als 350 Personen jährlich wegen eines Verstoßes gegen das Opiumgesetz verurteilt (vgl. Albrecht 2005: 322). Dessen ungeachtet hatte jedoch angesichts der symbolischen Differenzierung von legalen und illegalen Substanzen die dramatische Sichtweise des „Rauschgifts“ Eingang in den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs gefunden und ließ auch nach dem Zweiten Weltkrieg keine Entdramatisierung mehr zu. So wurde auf dem Deutschen Ärztetag von 1955 die Grundsatzentscheidung von 1928, Drogenabhängige in stationären Einrichtungen mit dem Ziel der Abstinenz zu entziehen, noch einmal bestätigt. Und eine weitere Interessengruppe meldete sich in den 1950er Jahren erstmals zu Wort: das Bundeskriminalamt (BKA). Da der polizeiliche Aufgabenbereich mit seinen bereits in
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den 1920er Jahren gegründeten Sonderdezernaten zu schwinden drohte, setze das BKA alles in Bewegung, das Rauschgiftthema wieder fest im öffentlichen Diskurs zu etablieren. So wurde das Opiumgesetz vom BKA als ein geeignetes Instrument der sozialen Kontrolle gewürdigt, eine engere Zusammenarbeit mit den Gesundheitsbehörden und Ärztekammern gefordert und süchtigen Ärzten die Fähigkeit zur Berufsausübung abgesprochen. Drogenabhängige wurden als „abnormale“ Persönlichkeiten beschrieben, die zu kriminellen Aktivitäten geradezu prädestiniert wären. Das BKA bemühte sich folglich um eine kriminalpolitische an Stelle einer medizinischen Definition des Drogenproblems. Ärzte und Apotheker sollten davon abgebracht werden, im Süchtigen immer nur einen Kranken zu sehen. Auch wenn das Drogenproblem kein gesellschaftliches Hauptthema der 1950er Jahre war, so wurden durch die Interessenpolitik des BKA die Weichen für die weitere Entwicklung der Drogenpolitik in Deutschland gestellt (vgl. Eisenbach-Stangl u.a. 2000: 157; Gerlach/Engemann 1999: 17f; Jungblut 2004: 47; Scheerer 1982: 68ff.). Im Verlauf der 1960er Jahre wandelte sich die Situation des Drogenkonsums schlagartig. Nicht nur, dass es zu einer beträchtlichen Zunahme des Substanzgebrauchs kam, auch die bisherige Zusammensetzung der Drogenkonsumenten veränderte sich. Erstmals waren es Jugendliche und Heranwachsende, die illegale Drogen konsumierten, so dass sich ein „neuer Konsumententyp“ (Jungblut 2004: 47) formierte. Der Konsum der Jugendlichen lässt sich dabei nur verstehen, sieht man ihn im Kontext der Studenten- und Hippiebewegung, die sich um die Mitte der 1960er Jahre entfaltete. „Als vom ‚establishment‘ verfolgte Droge erhielt Cannabis in wachsenden Teilen der amerikanischen und europäischen Jugend eine Popularität, die allein von ihren physischen Wirkungen nicht erklärbar ist“ (v. Wolffersdorff-Ehlert 1989: 374). Der Gebrauch der verbotenen Substanzen fungierte als Mittel der Rebellion gegen Konsumismus, gegen den Krieg in Vietnam, gegen bürgerliche Wertvorstellungen und rigide Autoritätsstrukturen im Elternhaus, in der Schule und am Arbeitsplatz. Drogenkonsum war demnach in den sozialen Konflikt zwischen den Generationen eingebettet, ein Konflikt, in dem die nachwachsende Generation der Hauptgesellschaft die Gefolgschaft zu verweigern schien, indem sie deren normative Werteordnung massiv in Frage stellte und in andere kulturelle Sinnwelten auszuwandern drohte (vgl. Legnaro 1982a: 112). Nach Scheerer (1982: 89f.) war es insofern wohl weniger die Quantität, sondern vielmehr die Qualität des abweichenden Verhaltens, die die restliche Gesellschaft ängstigte und verunsicherte: „In den fünfziger Jahren lebten Morphinisten und Polamidonabhängige nach Möglichkeit angepaßt und zurückgezogen (...). Der ‘neue’ Konsument hingegen wollte entdeckt werden, um Anstoß zu erregen, zu schockieren, um selbst eine neue Identität zu finden. (...) Die gesellschaftliche Reaktion auf die Herausforderung der traditionellen Werte der bür-
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gerlichen Gesellschaft, der ‘Anständigkeit’ und des Leistungsstrebens, der Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit und Ordnung usw., war überraschend scharf, umfassend und kompromißlos. In kurzer Zeit mobilisierte die Hauptkultur gleichsam zum ’Gegenangriff‘ auf die Revolte des Haschischkonsums“.
Die Massenmedien und die Wissenschaft nahmen bei diesem „Gegenangriff“ eine führende Rolle ein: Sie etablierten als „moralische Kreuzfahrer“ (Becker 1981: 133) eindeutige moralische Grenzen und trugen damit wesentlich dazu bei, ein gefahrenfixiertes Wahrnehmungsraster und eine ablehnende Einstellung der Bevölkerung gegenüber den verbotenen Substanzen und deren Konsumenten zu generieren. So wurden die Drogengebraucher in den Medien einseitig und undifferenziert als kriminelle und amoralische Persönlichkeiten diffamiert (vgl. Gaedt u.a. 1976; Schenk 1980). Der Haschischkonsum wurde mit dem Ansteigen der Kriminalität, mit Pornographie und mit revolutionären Aktivitäten assoziiert (vgl. Scheerer 1982: 94f.). Die Medien strukturierten das Phänomen des Drogenkonsums somit durch ihre der Berichterstattung – durch „Bilder von Drogentoten in Toiletten, ausgemergelten und arbeitsunfähigen Haschisch-Orientalen, Opiumhöhlen, unheimlichen Drogen-Scenerien, Heroin-Laboratorien“ (Quensel 1982: 23) – auf eine spezifische Art und Weise und gaben ihm ein ganz spezielles Aussehen. Das Phänomen des Drogenkonsums wurde dem Publikum „in einer Weise präsentiert, die ihn – sofern er der Berichterstattung vertraut – zu einer negativen Reaktion auf dieses Phänomen hin prädestiniert“ (Gaedt u.a. 1976: 104) hat. Ähnliches lässt sich für die Wissenschaft konstatieren, die in einer Flut von Publikationen und Aufklärungsbroschüren auf die gefährlichen Folgen des Drogenkonsums aufmerksam machte. Im Rahmen medizinisch-psychiatrischer Erklärungsansätze wurden die Thesen – oftmals vorschnell und kaum empirisch abgesichert – mit den entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnissen untermauert (vgl. Scheerer 1982: 99). Jegliche Form der Drogeneinnahme wurde als „Symptom eines psychischen Konflikts“ (Ladewig u.a. 1979: 7) und als ein Versuch der „Selbsttherapie“ (Leuner 1971: 38) betrachtet. Den Drogengebrauchern wurde nicht nur „ein starkes, hemmungsarmes Verlangen nach bestimmten (...) Scheinwerten des Lebens“ (Täschner 1982: 1427) unterstellt, sondern man attestierte ihnen auch den „Verlust der Kritik- und Urteilsfähigkeit“ (ebd.: 1435) und einen gewissen „Intelligenzabbau“ (ebd.). Es wurde prophezeit, dass „Dauerbenutzer von Haschisch (…) faul, stumpf und unterwürfig“ (Scheuch 1970: 47) würden und „eines Tages auf den Kehrrichthaufen der Gesellschaft“ (Zylman 1971: 19) geraten würden. Wie erfolgreich die Hauptkultur in ihrer moralischen Unternehmung war, lässt sich anhand repräsentativer Meinungsumfragen zu Beginn der 1970er Jahre demonstrieren, in denen sich die Bevölkerung nicht nur für eine kriminalpoliti-
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sche Lösung des Drogenproblems aussprach, sondern auch ihre Angst vor Drogenkonsumenten zum Ausdruck brachte (vgl. Scheerer 1982: 100f.). „Die Furcht weiter Kreise der Bevölkerung vor der Drogenwelle und ihren verunsichernden Begleiterscheinungen in Form jugendlicher Protestsymbole wirkte sich für den Gesetzgeber als Zwang zum Handeln aus“ (ebd.: 154). Die politischen Akteure reagierten auf die Skandalisierung des Drogenkonsums in Medien und Wissenschaft und den dadurch bedingten Einstellungswandel der Bevölkerung mit einer Verschärfung des alten Opiumgesetzes: Im Jahr 1971 wurde das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) eingeführt. Auch wenn das der Öffentlichkeit beteuerte Ziel dieses neuen Gesetzes darin lag, „den einzelnen Menschen, insbesondere den jungen Menschen vor schweren und nicht selten irreparablen Schäden an der Gesundheit, und damit vor einer Zerstörung seiner Persönlichkeit, seiner Freiheit und seiner Existenz zu bewahren“ (BT-DS VI/1877, 5, zit. nach Scheerer 1982: 81f.), so ist doch mit Schmidt-Semisch (1990: 27) darauf hinzuweisen, dass „man sich mit dem Betäubungsmittelgesetz ein Instrument geschaffen >hatte@, diejenigen Bevölkerungsteile, die man hauptsächlich der jungen Generation zurechnete und die man in Teilen durchaus als Bedrohung empfand, im ganzen besser kontrollieren zu können“. In dieser Hinsicht lässt sich mit Meudt (1980: 210f.) feststellen, dass sich das Engagement des Gesetzgebers gegen den Drogenkonsum weniger auf deren gesundheitliche Schädlichkeit bezog, sondern vielmehr auf politische Gründe zurückzuführen ist: „Ebenso wie es den protestierenden Jugendlichen beim Konsum ,weicher‘ Drogen nicht um den Drogenkonsum als Selbstzweck geht, sondern um die Symbolisierung einer Abwendung von der herrschenden Kultur und der Zuwendung zu einer alternativen Lebenspraxis, geht es dem Staat nicht um die Bekämpfung des Drogenkonsums als solchem, sondern um die Bekämpfung der durch diesen Konsum symbolisierten Orientierungsmuster und Lebensformen. (...) Die medizinische Gefährlichkeit oder Ungefährlichkeit dieser Substanzen ist für das staatliche Handeln völlig sekundär. Worauf es primär ankommt, ist ihre politische Bedeutung. Solange die ,weichen‘ Drogen Symbol für die jugendliche Protesthaltung sind, sind sie ,gefährlich‘, weil die Orientierungsmuster, für die sie stehen, gefährlich sind. Und solange müssen die ,weichen‘ Drogen bekämpft werden“1.
Die wichtigsten Änderungen und Zusatzverordnungen des neuen Drogengesetzes von 1971 lassen sich wie folgt zusammenfassen (vgl. Schmid 2003: 140ff.): Alle Substanzen, die unter den Geltungsbereich des BtMG fielen, wurden hin1
Dass diese These Meudts nicht allzu abwegig ist, zeigt sich im gesellschaftlichen Umgang mit der heutigen Konsumentengeneration, bei der nicht mehr mit allen Mitteln versucht wird, den Substanzgebrauch zu unterbinden. Ein wesentlicher Grund für diese Tatsache liegt sicherlich darin, dass sich der zeitgenössische Drogenkonsument der herrschenden Meinung nach der verbotenen Substanzen nicht mehr aus Protestmotiven bedient und sich auch sonst eher in Konformität mit den gesellschaftlichen Verhaltensanforderungen übt (s. Kap. 8.2).
Drogenkonsum und soz. Kontrolle im Verlauf des 19. u. 20. Jahrhunderts
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sichtlich ihres Gefährlichkeitspotentials gleichgesetzt. Es galt fortan alleine der Besitz von illegalen Drogen als Straftat und die Höchststrafe bei einem Vergehen gegen das BtMG wurde von drei auf zehn Jahre angehoben. Außerdem wurde das Postgeheimnis ebenso wie das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung beim Verdacht auf Drogendelikte eingeschränkt. Die ärztliche Verschreibung von Betäubungsmitteln wurde unter Strafandrohung gestellt und die polizeilichen Aktivitäten wurden sowohl im personellen und technischen als auch im Bereich ihrer Kompetenzen und Eingriffsmöglichkeiten enorm ausgeweitet (vgl. Schmidt-Semisch 1990: 25ff.). Mit Quensel (1982: 47) lässt sich von einer neuartigen „Verfolgungsrealität“ gegenüber Drogenkonsumenten sprechen. Obwohl die „Drogenwelle“ zur Zeit der Novellierung des BtMG bereits wieder abflaute, kam es zu rapide steigenden Verurteilten- und Verhaftungszahlen. „Das ,Schaltjahr‘ der polizeilichen Aktivitäten im Betäubungsmittelfeld war 1969. Waren es vorher, zur Zeit der ‘klassischen Morphinisten‘ nie mehr als 2.000 Tatverdächtige, die pro Jahr erfaßt wurden, so sollten es nachher nie weniger als 16.000 sein“ (Scheerer 1982: 205). Das Drogenhilfesystem, das über den Zwischenschritt der „Release-Bewegung“ in den 1970er Jahren sukzessive institutionalisiert wurde (vgl. genauer Schmid 2003), war dabei an den Vorgaben dieser strafrechtlichen Kontrolllogik orientiert. Es entstanden ambulante Drogenberatungsstellen und stationäre „Therapeutische Gemeinschaften“ oder Langzeittherapieeinrichtungen, die dem übergreifenden Paradigma der Drogenabstinenz verpflichtet waren. Drogenkonsum sollte durch psychosoziale und medizinisch-psychiatrische Interventionsformen beendet werden. Das Modell der so genannten „Therapiekette“, in deren Rahmen unterschiedliche Organisationen wie etwa Jugend- und Drogenberatungsstellen, psychiatrische Krankenhäuser und Therapieeinrichtungen miteinander vernetzt wurden, galt als „Königsweg“ bei der Behandlung Drogenanhängiger. Viele Klienten wurden aufgrund richterlicher Anweisungen zwangsweise einer therapeutischen Auflage unterstellt. Auf diese Weise sollte die steigende Anzahl der inhaftierten Abhängigen vom Strafvollzug in die Therapieeinrichtungen umgeleitet werden. Mit der Novellierung des BtMG im Jahr 1982 wurde diese „Verquickung von Repression und Therapie“ (ebd.: 178) 1 letztendlich auch rechtlich abgesichert . Hatten sich vorher viele Drogenabhän1
Die wichtigste Änderung der BtMG-Novellierung, die 1981 vom Bundestag beschlossen und 1982 in Kraft getreten ist, war der so genannte „Therapie statt Strafe“-Paragraph (§ 35 BtMG). Demnach kann bei einem Verstoß gegen das BtMG die Strafe zurückgestellt werden, wenn der Betroffene eine Behandlung in einer entsprechend legitimierten Einrichtung beginnt. Vorrausetzung ist, dass die Freiheitsstrafe nicht mehr als zwei Jahren beträgt und die Tat auf Grund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen wurde. Wird die Behandlung abgebrochen, so stellt dies einen Grund für den Widerruf der Zurückstellung der Strafvollstreckung dar.
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
gige einer Behandlung entzogen, so brachte das neue BtMG den meisten Therapieeinrichtungen einen enormen Zufluss an neuen Klienten. Diejenigen Einrichtungen der Drogenhilfe dagegen, die eine klare Trennung von Drogenarbeit und Strafverfolgung einforderten und sich deshalb den Bestimmungen der Justiz zu verweigern suchten, mussten nach kurzer Zeit ihre Arbeit einstellen bzw. die rechtlichen Rahmenbedingungen akzeptieren, da sie sehr bald Belegungsprobleme und dadurch Finanzierungsschwierigen hatten. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich spätestens mit dem Auftreten des Jugendlichen als neuem Konsumententyp und der dadurch bedingten Implementierung des BtMG eine repressive Ausgestaltung der Drogenpolitik endgültig durchgesetzt hatte. Wurde Drogenkonsum zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht als abweichendes Verhalten definiert, so wandelte sich dies mit den Opiumgesetzen von 1920 und 1929. Vor dem Hintergrund der symbolischen Differenzierung von legalen und illegalen Substanzen änderte sich die soziale Rahmung des Drogenkonsums: „Psychoaktive Substanzen mit langen kulturellen Traditionen mutieren in diesem Prozeß zu todbringenden Drogen und schließlich zu Rauschgiften – ihr Genuß verwandelte sich in Rausch, ihre Einnahme in Mißbrauch, ihr Konsum in Sucht, und ihre Konsumenten machte man per Gesetz zu Kriminellen, die in ummauerten Anstalten zur Räson und absoluter Abstinenz zu bringen waren“ (Schmidt-Semisch 2001: 133).
Spätestens mit der Novellierung des Opiumgesetzes im Jahr 1971 wurde dieses ausschließlich negativ geprägte und gefahrenfixierte Wahrnehmungsraster gegenüber den illegalen Substanzen und deren Konsumenten zementiert. Das BtMG wurde als ein geeignetes Instrument der sozialen Kontrolle betrachtet. Dem Drogenkonsum sollte in erster Linie mittels der general- und spezialpräventiven Wirkungen des Strafrechts begegnet werden. Anhand der massiven Strafandrohung und der deutlichen Demonstration der Ernsthaftigkeit dieser Drohung wollte man potentielle Konsumenten vom Substanzgebrauch abschrecken. Der Anbau und der Handel mit den verbotenen Stoffen wurde strikt sanktioniert, Drogenabhängige durch das Gefängnis oder durch therapeutische Maßnahmen von der Droge isoliert und mit dem Ziel der Drogenabstinenz behandelt. Diese Interventionsstrategien wurden als sinnvoll beurteilt, um für die Herstellung einer drogenfreien Gesellschaft Sorge zu tragen. Wenn nun aber auf die letzten 35 Jahre Drogenverbotspolitik zurückgeblickt wird, dann kann die Feststellung getroffen werden, dass die intendierten Ziele nicht nur nicht erreicht wurden, sondern dass sich seit der Implementierung des BtMG die Situation dramatisch zugespitzt hat: Es existiert ein Schwarzmarkt, auf dem die verbotenen Stoffe verfügbar sind, in den Großstädten haben sich kriminalisierte Subkulturen herausgebildet, der Konsum von Heroin hat sich seit
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den 1980er Jahren in der Drogenszene ausgebreitet, die Rückfallquoten von Drogenabhängigen sind beträchtlich und die Zahl der Drogentoten ist ebenso wie die der Tatverdächtigen steil angestiegen. Wurden im Jahr 1970 29 Drogentode registriert, so waren es im Jahr 1991 bereits 2.125 (vgl. Böllinger u.a. 1995: 44). 1969 wurden 4.405 Delikte gegen die Drogengesetzgebung registriert, während es im Jahr 1979 schon 47.258 waren (vgl. Scheerer 1982: 206). Im Jahr 2003 hat sich diese Zahl mehr als verfünffacht: 255.575 Betäubungsmitteldelikte wurden von der Polizei bearbeitet (vgl. Albrecht 2005: 316). In dieser Hinsicht liefert die Drogengesetzgebung wohl eines der anschaulichsten Beispiele für die Tatsache, dass soziale Kontrollmechanismen, die darauf abzielen, die Entstehung oder Fortsetzung eines kriminellen Verhaltens zu unterbinden, in vielen Fällen von paradoxen Effekten begleitet werden. Oftmals scheinen nämlich „gerade die sozialen Prozesse, die (...) entworfen wurden, um abweichendes Verhalten zu vermindern, es ironischerweise hervorzurufen und zu begünstigen“ (Phillipson 1975: 141).
6
Der Niedergang des Rehabilitationsideals seit den 1970er Jahren
Im Rahmen der bisherigen Ausführungen wurde dargelegt, wie sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Erkenntnis verbreitet hat, dass soziale Risiken aus den normalen, regulären Aktivitäten einer Gesellschaft hervorgehen, so dass an die Stelle der individuellen Schuld zunehmend eine Vorstellung von gesellschaftlicher Verantwortung getreten ist. Im Rahmen eines generellen Glaubens an die Gestaltbarkeit der Gesellschaft setzte sich sukzessive die Auffassung durch, dass soziale Probleme durch staatliche Interventionsstrategien umfassend beseitigt werden können. Die Institutionalisierung des Wohlfahrtsstaats war der Versuch, eine inklusive gesellschaftliche Ordnung zu generieren. Den Mitgliedern der Gesellschaft wurden nun nicht mehr nur politische, sondern auch soziale Rechte zugestanden, so dass – zumindest dem theoretischen Anspruch nach – jeder Mensch über die gleichen Chancen verfügte, ein „normales“ und an den Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit orientiertes Leben zu führen. Die „Außenseiter“ der Gesellschaft sollten über die Steuerung individueller Motivationen und Orientierungen in die Gesellschaft (re-)integriert werden; Inklusion, Behandlung und Resozialisierung galten besonders in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als das Ideal der Politik sozialer Probleme. Das Modell der Rehabilitation wurde zu einer „orthodoxen Ideologie von Experten und politischen Entscheidungsträgern und zu einem immer wichtigeren Bestandteil der Strafjustizpraxis“ (Garland 2008: 120). Vor dem Hintergrund eines generellen Vertrauens in den wissenschaftlichen Fortschritt war es das zentrale Bestreben, abweichendes Verhalten durch wissenschaftlich begründete Sozial- und Psychotechniken in konformes Verhalten zu überführen. Deviante Personengruppen wurden auf diese Weise pathologisiert und zu Objekten der Human- und Sozialwissenschaften gemacht. Dabei war es das idealtypische Konstrukt der Normalerwerbsbiographie des männlichen Lohnarbeiters und die davon abgeleitete weibliche Figur einer Hausfrau und Mutter, die zu zentralen Bezugsgrößen für die Beobachtung abweichenden Verhaltens wurden. Unterbietungen oder Infragestellungen dieser kulturellen Standards sollten durch gezielte Interventionsstrategien beseitigt werden. Dabei lässt sich feststellen, dass dieser auf Inklusion und Wiedereingliederung ausgerichteten Politik sozialer Probleme drei fundamentale historische Legitimationsbedingungen zu Grunde lagen: a. Ein inklusiver wohlfahrtsstaatlicher Regierungsstil ist darauf angewiesen, die Ursachen zu entschlüsseln, die Menschen zur Ausführung abweichender
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
Verhaltensweisen bewegen. Die Politik sozialer Probleme vertraut in diesem Sinne auf ein gesellschaftlich legitimiertes Expertenpersonal. Denjenigen Professionen (Ärzte, Psychiater, Therapeuten, Sozialarbeiter usw.), die das institutionelle Grundgerüst des Wohlfahrtsstaats bilden, wird die Funktion zugeschrieben, auf der Basis eines überlegenen fachlichen Wissens die Ätiologie der Devianz zu ergründen und Interventionskonzepte zu entwickeln, um abweichendes in „normales“ Verhalten zu überführen. Wollen diese Wohlfahrtsprofessionen das Vertrauen und die Unterstützung der breiten Öffentlichkeit genießen, dann müssen die Gegenmaßnahmen ihre Wirksamkeit unter Beweis stellen und zum beabsichtigten Erfolg führen. b. Die wohlfahrtsstaatlichen Behandlungsmodelle sind von der Annahme geleitet, dass deviantes Verhalten durch biologische, psychologische oder soziale Faktoren determiniert ist. Im Rahmen des wissenschaftlichen Devianzdiskurses muss plausibel nachgewiesen werden, dass sich Kriminelle, Gewalttäter, Drogenabhängige usw. durch eine defizitäre „Andersartigkeit“ gegenüber dem „Normalbürger“ auszeichnen. Nur auf der wissenschaftlich erwiesenen Grundlage einer fundamentalen Differenzierung zwischen „Normalität“ und „Abweichung“ ist eine Politik der Inklusion mit der notwendigen Legitimation ausgestattet. c. In der Gesellschaft müssen eindeutig fixierte Normalitätsstandards existieren, da abweichendes Verhalten ohne eine als gültig erachtete Bezugsgröße der „Normalität“ nicht sinnvoll beschrieben werden kann. Normative Annahmen über einen standardisierten Lebenslauf mit den typisierten Sozialisationsetappen (Kindheit, Jugend, Erwerbsalter/Erwachsenstatus, Alter) bilden die Grundlage für sozialstaatliche Interventionen. Darüber hinaus sind allgemein verbindliche Erwartungshaltungen darüber auszuformulieren, wie geschlechtsspezifische Identität konstituiert und die jeweilige Persönlichkeitsentwicklung gestaltet werden soll. Diese zentralen Identitätserwartungen müssen in der Gesellschaft anerkannt bzw. durch Herrschafts- und Machtverhältnisse soweit abgesichert sein, dass sie durch öffentlichen Widerstand nicht erschüttert werden. Außerdem ist eine günstige ökonomische Entwicklung unentbehrlich, damit sich der institutionelle und normative Rahmen des Wohlfahrtsstaates, der auf das idealtypische Konstrukt der Normalerwerbsbiographie eines typischen Lohnarbeiters (im Vollerwerb tätig, männlich) ausgerichtet ist, etablieren kann. Die folgenden Ausführungen werden nun zeigen, dass diese drei Legitimationsgrundlagen des wohlfahrtsorientierten Rehabilitationsideals spätestens seit den 1970er Jahren von einer kritischen Öffentlichkeit in Frage gestellt bzw. von gesellschaftlichen Transformationsprozessen erschüttert wurden und somit sukzes-
Der Niedergang des Rehabilitationsideals seit den 1970er Jahren
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sive ins Wanken gerieten. Es wird dokumentiert, dass die Unterstützung für den Wohlfahrtsstaat unter dem Druck der permanenten Angriffe auf seine zentralen Prämissen und Praktiken zu bröckeln begann. Dabei waren es zum einen die Interventionskonzepte der wohlfahrtsorientierten Professionen, denen – da man ihnen nur eine geringe Wirksamkeit attestierte – das Vertrauen entzogen wurde (s. Kap 6.1). Darüber hinaus wurde im Rahmen eines kritischen wissenschaftlichen Diskurses die ätiologische Konstruktion von „Normalität“ und „Abweichung“ in Frage gestellt. Es wurde damit auch auf die Blindstellen des hegemonialen Drogendiskurses hingewiesen und die gesellschaftliche Umgangsweise mit Drogenkonsumenten kritisch hinterfragt (s. Kap. 6.2). Und letztendlich waren es insbesondere ökonomische und soziokulturelle Transformationsprozesse, infolge derer sich die normativen Annahmen über einen standardisierten Lebenslauf tendenziell aufzulösen begannen (s. Kap. 6.3). Einer auf Inklusion ausgerichteten Politik sozialer Probleme wird in dieser Hinsicht in fundamentaler Weise die Grundlage entzogen, so dass auch die Mechanismen sozialer Kontrolle einer Veränderung unterliegen (s. Kap. 8). Diese Wandlungen, so soll gezeigt werden, müssen in Zusammenhang mit dem Vordringen neoliberaler Denkweisen betrachtet werden (s. Kap. 7).
6.1
„Nothing works“: Kritik an Effektivität und Effizienz der wohlfahrtstaatlichen Professionen und ihrer Interventionskonzepte
Ein erster Punkt für den Niedergang wohlfahrtsstaatlicher Behandlungsmodelle liegt in der Tatsache begründet, dass der Glaube an die „Gestaltbarkeit der Welt“ (Evers/Nowotny 1987) im Laufe des 20. Jahrhunderts sukzessive erschüttert wurde. War der Sicherheitstraum der Aufklärung an die „Utopie einer Wissenschaft gebunden, die Risiken zusehends in den Griff bekommen soll“ (Ewald 1998: 11) und herrschte noch in den 1970er Jahren die optimistische Grundannahme vor, dass die noch nicht gelösten gesellschaftlichen Probleme in der Zukunft zu bewältigen sind (vgl. Peukert 1986: 15), so kann im viel zitierten Schlagwort der „Risikogesellschaft“ (Beck 1986) ein deutlicher Bruch mit diesem zentralen Selbstverständnis der Moderne gesehen werden. Die Zukunft der Gesellschaft scheint nicht länger vom sozialen Fortschritt, sondern vielmehr vom allgemeinen Prinzip der Ungewissheit geprägt. Nach Ulrich Beck liegt dies darin, dass – im Gegensatz zur Industriegesellschaft, in der gesellschaftliche Risiken als kalkulier- und kontrollierbar galten – „im Zuge der exponentiell wachsenden Produktivkräfte im Modernisierungsprozess Risiken und Selbstbedrohungspotentiale in einem bis dahin unbekannten Ausmaße freigesetzt wer-
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
den“ (ebd.: 25). Moderne Gesellschaften produzieren Risiken (Atomunfälle, ökologische Zerstörungen, gesundheitliche Risiken usw.) eines solchen Ausmaßes, die sich durch keinerlei Gegenmaßnahmen begrenzen lassen und die auch nicht mehr versicherbar sind. „Sie sind pauschales Produkt der industriellen Fortschrittsmaschinerie und werden systematisch mit deren Weiterentwicklung verschärft“ (ebd.: 29). Dies hat zur Folge, dass das Vertrauen in die Gesellschaftssteuerung durch wissenschaftliches Expertisentum schwindet, so dass „ein Prozeß der Demystifizierung der Wissenschaften in Gang gesetzt“ (ebd.: 256) wird. Dieser Vertrauensverlust im Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse, den Beck vor allem hinsichtlich des Ansteigens technologischer Risiken thematisiert, kann auch auf den gesellschaftlichen Umgang mit abweichendem Verhalten übertragen werden. Wie Ziegler (2005a: 63) darlegt, wird seit geraumer Zeit die Frage aufgeworfen, ob die wohlfahrtsstaatlichen Behandlungsmodelle, die mit dem Anspruch angetreten sind, Devianz gänzlich zu beseitigen, überhaupt erfolgreich sind. Die mit abweichendem Verhalten befassten Institutionen sind vor diesem Hintergrund einer massiven Vertrauenskrise ausgesetzt: „Der Anspruch wohlfahrtsorientierter Professionen, am besten bestimmen zu können, wer die Abweichler sind, warum sie Abweichler sind und wie mit ihnen umzugehen sei, ist einem massiven Pessimismus bezüglich ihrer Effektivität und Effizienz gewichen“. Dies steht umso mehr zur Disposition, je häufiger angesichts von Prozessen der Ökonomisierung betriebswirtschaftliches Gedankengut in die Institutionen der sozialen Dienste einfließt, so dass deren Arbeitsmethoden und Programme in viel stärkerem Maße einer ergebnisorientierten Steuerung und Kontrolle des „Outputs“ unterliegen. Evaluation, Qualitätssicherung und Controlling sind seit den 1990er Jahren auch im Bereich der Sozialen Arbeit die zentralen Schlagwörter eines Diskurses, der an Effektivität und Effizienz ausgerichtet ist. Die öffentlichen Sozialleistungen werden zunehmend auf Wirtschaftlichkeit und Zielwirksamkeit geprüft. Die Qualität der Leistungserbringung ist nachzuweisen und es ist Rechenschaft darüber abzulegen, ob die Aufwendungen zu den erzielten Erträgen in einer angemessenen Relation stehen. Nur noch diejenigen Maßnahmen und Interventionsstrategien sollen eine Anerkennung finden und finanzielle Unterstützung erhalten, die spezifischen Qualitätsansprü1 chen gerecht werden (vgl. kritisch Flösser/Oechler 2006; Ladenthin 2004) . Die wohlfahrtsstaatlichen Behandlungsmodelle geraten vor diesem Hintergrund unter Zugzwang, kann doch mit dem Hinweis auf Rückfallstatistiken dargelegt werden, dass der in den Wohlfahrtsstaat eingewobene spezialpräventi1
Zur Ökonomisierung im Bereich der Drogenhilfe vgl. Bossong 2001; Kemmesies 2001; Schmid 2003: 227ff.
Der Niedergang des Rehabilitationsideals seit den 1970er Jahren
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ve Anspruch, abweichende Personengruppen zu normkonformem Verhalten zu erziehen, wenig erfolgreich ist. Ein Aufsatz über die Effektivität der Resozialisierungsmaßnahmen von Straftätern des Amerikaners Martinson aus dem Jahr 1974 mit der weltweit häufig zitierten Fragestellung „Does nothing work?“ (Martinson 1974: 48) gab dabei die Richtung dieser Kritik an (vgl. Groenemeyer 2003b: 41; Ludwig-Mayerhofer 2000a: 333; Krasmann 2000a: 197; 2003: 57; Sack 1995: 432f.; Ziegler 2003a: 437; 2003b: 103). Martinsons Feststellungen galten als empirischer Beleg für das Unvermögen der Behandlungsmodelle und wurden zur Grundlage für die These: „Nothing works!“ (vgl. Garland 2008: 127). Es wurde zunehmend in Frage gestellt, ob die Erziehungs- und Therapieprogramme, die darauf ausgerichtet sind, die konstatierten Pathologien und Sozialisationsdefizite des Normabweichlers zu korrigieren, überhaupt eine Wirkung entfalten. In dieser Hinsicht kommt etwa Albrecht (2005: 53) nach einer Durchsicht verschiedener empirischer Studien über die Rückfälligkeit von Straftätern zu dem Ergebnis, dass den spezialpräventiven Sanktionswirkungen des Strafrechts „bestenfalls eine Nichtwirkung und schlechtestenfalls ein kontraproduktiver Effekt zu unterstellen“ ist. Wie unzählige Studien zeigen, werden potentielle positive resozialisierende Wirkungen der Gefängnisstrafe von negativen stigmatisierenden Nebenwirkungen bei weitem übertroffen (vgl. z.B. Schumann 2003). Zygmunt Bauman (1998: 12) bringt es treffend auf den Punkt: „Gefängnisse haben (...) ihre Insassen ,knastifiziert‘, haben sie also ermuntert oder gezwungen, Verhaltensweisen und Gepflogenheiten zu entwickeln, die für das Strafvollzugsmilieu – und nur dafür – typisch und damit scharf von denjenigen Verhaltensweisen zu trennen sind, die von den kulturellen Normen, die in der Welt außerhalb der Mauern gelten, vorgeschrieben werden. ,Knastifizierung‘ war das genaue Gegenteil von ,Rehabilitation‘ und daher selbst ein zentrales Hindernis auf dem ,Rückweg zur Kompetenz‘“.
Was für den Bereich der Kriminalität gilt, lässt sich auch für das Themengebiet der Drogenkontrolle feststellen. Das vordergründige Ziel eines jeden Drogenverbots liegt in der Herstellung einer drogenfreien Gesellschaft. Die Logik ist einfach: Durch die prohibitive Ausgestaltung der Drogenpolitik sollen die verbotenen Substanzen dem Markt entzogen werden. Drogenabhängige sollen mit der Zielsetzung der Drogenabstinenz entweder durch eine Gefängnisstrafe oder durch eine Therapie behandelt und geheilt werden. Die empirische Realität scheint dieser Logik aber zu widersprechen: Die illegalen Drogen sind weiterhin erhältlich, da die Bekämpfung des Drogenhandels wenig erfolgreich ist. Weltweit beschlagnahmen die Strafverfolgungsbehörden gerade 3 drei bis maximal 10% der umlaufenden Substanzen (vgl. Baratta 1990: 11; Schmidt-Semisch 1990: 35; Schneider 2005: 268). Auch die „therapeutische“ Intention der Gefängnisstrafe, die Konsumenten durch den Freiheitsentzug von der Droge zu
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
isolieren, ist fehlgeschlagen: „In jeder Haftanstalt sind derzeit illegale Drogen verfügbar, die Forderung einer drogenfreien Haftanstalt ist unrealistisch“ (Jungblut 2004: 252). Ungefähr jeder dritte bis sechste Gefangene konsumiert im Gefängnis illegale Substanzen (vgl. Bussmann 2003: 113; Stöver 1999c: 241) und manche Nicht-Konsumenten beginnen häufig erst im Strafvollzug mit dem Drogengebrauch (vgl. Böllinger u.a. 1995: 43; Gerlach/Engemann 1999: 65). In dieser Hinsicht kommt Meudt (1980: 204) bereits im Jahr 1980 zu der Erkenntnis: „Drogenkonsumenten in ein Gefängnis zu stecken, bringt keinerlei Nutzen, sondern richtet nur großen Schaden an. Der Abschreckungseffekt der Gefängnisstrafe ist in der Regel (besonders bei körperlich Abhängigen) gleich null. (...) Hier kommen auch viele Konsumenten ,weicher‘ Drogen zum ersten Mal mit ,harten‘ Drogen und mit Fixern in Kontakt. Sie lernen Wissen, Techniken und ,Freunde‘ kennen, auf die sie unter Umständen auch nach der Haftentlassung zurückgreifen. Mit einem Wort: Sie geraten tiefer in die Drogenszene hinein, als sie es vorher waren. (...) Kurz: Die Gefängnisstrafe ist alles andere als ein angemessenes und erfolgversprechendes Mittel, um das Drogenproblem zu lösen“.
Darüber hinaus kann festgehalten werden, dass das spezialpräventive Instrument, das mit der Novellierung des BtMG von 1982 in das Drogenstrafrecht eingebaut wurde, wenig effektiv ist. Nach § 35 BtMG („Therapie statt Strafe“) kann die Verhängung einer Freiheitsstrafe zurückgestellt werden, wenn sich der Verurteilte im Gegenzug in eine Behandlung begibt. Sieht man von der generellen Schwierigkeit ab, diese Gesetzesvorlage in die Realität umzusetzen, – im Jahr 2003 wurden ca. 47 000 Verstöße gegen das BtMG strafrechtlich verurteilt (vgl. Albrecht 2005: 316), wobei demgegenüber in Deutschland etwa 5250 stationäre Rehabilitationsplätze und 1200 Behandlungsplätze in Krankenhäusern vorhanden sind (vgl. Bader 2002: 401) – so besteht heute ein weitgehender Konsens, dass der spezialpräventive Anspruch des § 35 BtMG, die Therapiewilligkeit durch Aufhebung oder Aufschiebung der Strafe zu stärken, nicht erreicht wird (vgl. Böllinger u.a. 1995: 39f.; Eisenbach-Stangl u.a. 2000: 158; Jungblut 2004: 142; Schneider 1996: 65; Schmidt-Semisch/Nolte 2000: 47f.; im Gegensatz dazu aber Jehle 1999: 118). So macht überhaupt nur jeder fünfte Verurteilte vom § 35 BtMG Gebrauch und ca. 65% der Betroffenen brechen die Therapie in den ersten vier Monaten ab (vgl. Böllinger u.a. 1995: 39; Friedrichs 2002: 186; Schneider 1996: 65; Stöver 1994: 25). Generell sind die Therapiemaßnahmen, nimmt man alleine das Ziel der Drogenabstinenz als Bewertungsmaßstab, wenig erfolgreich. Etwa 70% der Opiatabhängigen beenden die Therapie vorzeitig (vgl. Jungblut 2004: 142; Uechtenhagen 2000: 427) und ca. zwei Drittel aller Konsumenten, die eine Therapie durchlaufen haben, werden irgendwann rückfällig (vgl. Eisenbach-Stangl u.a. 2000: 158; Friedrichs 2002: 187; Loviscach 1996: 78; Täschner 1997: 119).
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Gerlach und Engemann gelangen zu dem Ergebnis, dass – je nach Schätzgröße der Gesamtpopulation von Drogenkonsumenten, die zwischen 80 000 und 200 000 schwankt – gerade einmal bei 0,1 bis 3,75% aller Drogenkonsumenten in Deutschland rein abstinenzorientierte Behandlungsmodelle einen erfolgreichen Ausstiegsweg darstellen (vgl. Gerlach/Engemann 1999: 32f.; s.a. Weber/Schneider 1997: 24). Diese Zahlen dürfen allerdings nicht verwundern, da viele Konsumenten aufgrund strafrechtlicher Anweisungen zu einer Therapie gezwungen werden, so dass in den meisten Fällen die Motivation für eine auf Abstinenz ausgerichtete Behandlung fehlen dürfte. Nach Bader (2002: 423f.) befinden sich mehr als die Hälfte der Drogenabhängigen unter der Auflage des BtMG in einer Therapieeinrichtung, wobei anzunehmen ist, dass in manchen Einrichtungen zwischen 70 und 80% der Drogenabhängigen aufgrund einer richterlichen Anweisung behandelt werden (vgl. Eisenbach-Stangl u.a. 2000: 158; Lovisach 1996: 116). In dieser Hinsicht ist der Vorwurf einiger Autoren verständlich, dass es sich beim §35 BtMG nicht um „Therapie statt Strafe“, sondern um „Therapie als Strafe“ handelt (vgl. Eisenbach-Stangl u.a. 2000: 158; Schmidt-Semisch/Nolte 2000: 47). Seit den 1980er Jahren wurde diese Kritik an den abstinenzorientierten Zwangsbehandlungen immer lauter vorgetragen. Besonders als der Gesetzgeber den Therapieeinrichtungen die – zu Beginn der 1990er wieder gestrichene – Vorschrift machte, dass sie die Einschränkung der freien Lebensgestaltung des Konsumenten (z.B. durch Ausgangsverbot, Telefonsperre, Besuchsverbot) sicherzustellen hätten, um staatlich anerkannt zu sein, wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Grenzen zwischen der Therapieeinrichtung und dem Gefängnis bis zur Unkenntlichkeit verschwommen sind (vgl. Schmidt-Semisch 1990: 57ff.). Dammann und Scheerer (1985: 79) beschreiben treffend das Dilemma, dem Heroinabhängige durch die Koppelung von abstinenzorientierter Behandlung und staatlicher Zwangsandrohung ausgesetzt waren: „Heroinsüchtige haben eine merkwürdige Wahl; entschließen sie sich für den (süchtigen oder kontrollierten) Konsum, erwartet sie der soziale Tod, die endlos wiederholte und jeweils längere Gefängnisstrafe, die Unterbringung im Maßregelvollzug, die Entmündigung (...); entschließen sie sich aber unter diesen Bedingungen für die stationäre Langzeittherapie, so haben sie dort Eingriffe in ihre Rechte zu erwarten, die in krasser Weise sogar noch über das hinausgehen, was dem Strafgefangenen nach dem Strafvollzugsgesetz im Gefängnis zugemutet wird“.
Diese Kritik an der Kriminalisierung und an den Behandlungsmethoden soll im nächsten Kapitel näher beleuchtet werden. Es wird gezeigt, dass im Rahmen eines wissenschaftlichen Paradigmenwechsels die grundlegenden Hypothesen
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
der ätiologischen Theorietradition fundamental in Frage gestellt wurden, so dass auch dem Rehabilitationsideal eine wesentliche Grundlage entzogen wurde.
6.2
Von der traditionellen zur kritischen Kriminologie
6.2.1
Die Entzauberung des „Kriminellen“ durch die Kritische Kriminologie
Spätestens seit den 1970er Jahren wurden die zentralen Grundannahmen ätiologischer Theorien durch die kritische Kriminologie1, allen voran durch den Labeling Approach (vgl. Becker 1981; Sack 1974) und die Stigmatheorie (vgl. Goffman 1967), angezweifelt. Im Vergleich zur traditionellen Kriminologie wurden die Phänomene der Kriminalität und Devianz auf eine neue Art und Weise beurteilt und beschrieben. Dabei sind es in erster Linie die folgenden Hypothesen der positivistisch ausgerichteten Ansätze, die von der kritischen Kriminologie in Frage gestellt werden: a. Es wird die Unterstellung der Determiniertheit menschlichen Verhaltens problematisiert, die in allen ätiologisch ausgerichteten Konzepten – ob diese nun biologisch, psychologisch oder soziologisch argumentieren – implizit enthalten ist. Dagegen herrscht „>i@n der kritischen Kriminologie (...) ein Akteurmodell vor, das den Handelnden nicht von physischen, psychologischen oder sozialen Kräften oder Faktoren gedrängt und marionettengleich determiniert sieht, (...) sondern das ihm ,Rationalität‘, Authentizität, Kompetenz und Verantwortlichkeit zuerkennt“ (Sack 1993: 335). b. Es wird die unreflektierte Übernahme gesellschaftlicher Normen und Werte und die damit einhergehende Pathologisierung devianten Verhaltens kritisiert. Demgegenüber wird vorgetragen, dass die Prozesse der Normgenese und Normdurchsetzung selbst einer kritischen Hinterfragung zu unterziehen sind. Die Kritische Kriminologie sieht Normen nicht als quasi natürliche und vorsoziale Tatsachen an, sondern betrachtet diese als ein Produkt des Interessenhandelns und der Durchsetzungsfähigkeit gesellschaftlicher Gruppen. Normalität und Abweichung haben im Rahmen dieser Perspektive keine ei1
Mit Sack (1993: 329) lässt sich der Terminus Kritische Kriminologie als ein Sammelbegriff für Richtungen kriminologischer Gegenstandsbestimmungen, Theoriebildung und Forschungspraxis kennzeichnen, „die auf unterschiedliche Weise eine Zäsur zur (...) ,alten‘, konventionellen, ,mainstream‘ Kriminologie markieren und intendieren“. Neben dem Labeling Approach lassen sich v.a. konflikttheoretische, (neo-) marxistische und diskursanalytische Theorienansätze unter das Label „Kritische Kriminologie“ subsumieren.
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genständige Realität, sondern erhalten ihren Wirklichkeitscharakter erst durch die Implementierung sozialer Normen. Werte und Normen werden damit als historisch und kulturell variable Produkte verstanden. Ob ein bestimmtes Verhalten als abweichend behandelt wird oder nicht, ist abhängig von der Normenstruktur einer Gesellschaft, die je nach Kontext anders ausfallen kann. Neben der Bedeutung der Normsetzungsprozesse für die Konstitution abweichenden Verhaltens wird auf die Abläufe der Normanwendung verwiesen. Abweichung wird als interpersoneller Zuschreibungsprozess des Attributs Devianz zu bestimmten Verhaltensweisen verstanden. Kriminalität und Devianz sind folglich nicht das Ergebnis von irgendetwas, was im einzelnen Individuum existiert, sondern müssen als Resultat komplexer Definitions- und Aushandlungsprozesse rekonstruiert werden: Nach Fritz Sack (1974: 465), dem das Verdienst zugeschrieben werden kann, den Labeling Approach in Deutschland bekannt gemacht zu haben, liefert eine „Handlung (…) ihre eigene Interpretation nicht mit. Sie wird von außen an sie herangetragen. Zwei physikalisch gleich ablaufende Geschehnisse können durchaus eine unterschiedliche Interpretation zulassen“. Ob ein bestimmtes Verhalten als abweichend betrachtet wird oder nicht, entscheidet sich demnach erst auf der Interventionsebene formeller und informeller Kontrollinstanzen. „Danach kann ein bestimmtes soziales Verhalten erst dann als kriminell qualifiziert werden, wenn es im gesellschaftlichen Interaktionsprozeß erfolgreich als solches bezeichnet und kategorisiert wird“ (Albrecht 2005: 148). Kriminalität wird als „wirkliche“ Kriminalität erst durch verschiedenartige Selektionsprozesse konstituiert. Die Suche nach den Ursachen des abweichenden Verhaltens wird – dies gilt zumindest für die radikale Variante des Labeling Approach – abgelehnt. Stattdessen wird Devianz alleine durch gesellschaftliche Reaktionen determiniert betrachtet: „Abweichendes Verhalten ist das, was andere als abweichend definieren. Es ist keine Eigenschaft oder ein Merkmal, das dem Verhalten als solchem zukommt, sondern das an das jeweilige Verhalten herangetragen wird“ (Sack 1974: 470). c. Es wird die prinzipielle Unterstellung der Andersartigkeit des Abweichenden gegenüber dem Normkonformen problematisiert. Unter Berücksichtigung von Dunkelfelduntersuchungen kann gezeigt werden, „daß etwa 80-90% aller Mitglieder der Gesellschaft irgendwann einmal irgendetwas getan haben, das Gesetze unter Strafe stellen“ (Sack 1974: 463). Die Kritische Kriminologie insistiert darauf, dass angesichts der Ubiquität normabweichenden Verhaltens eine der wichtigsten Grundannahmen ätiologisch orientierter Theorien mehr als in Frage gestellt werden muss. Wenn sich feststellen lässt, dass sich der Großteil der Bevölkerung deviant verhält, macht die Suche nach den Ursachen der Andersartigkeit des Normbrechers wenig Sinn, will
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man nicht der gesamten Gesellschaft pathologische Grundzüge attestieren. Im Rahmen einer Kritischen Kriminologie wird die These vertreten, dass es keine pathologischen Verhaltens- und Persönlichkeitsmerkmale sind, die den Abweichler zum Normbruch veranlassen, sondern dass diese pathologische Verhaltens- und Persönlichkeitsqualität erst innerhalb sozialer Interaktionsprozesse produziert wird. Erst der Akt der Zuschreibung bringt das Merkmal „Krimineller“ und die damit verbundenen Eigenschaften hervor. Die Attribution des Etiketts „kriminell“ schafft eine neue Vorstellung des Angeklagten und setzt ihn in einen Status ein, den er ohne den Zuschreibungsprozess nicht besitzen würde. Zugleich macht die Kritische Kriminologie auf die höchst selektive Zuweisung abweichender Stigmata an Personengruppen aus statusniedrigen Gesellschaftsschichten aufmerksam. Dabei wird darauf verwiesen, dass diese Selektivität nicht willkürlich, sondern in einer Regelmäßigkeit erfolgt, die nach der Logik sozialer Ungleichheit strukturiert ist. Verschiedene Untersuchungen können nachweisen, dass nicht eine Straftat an sich, sondern vielmehr ein nonkonformer Lebensstil oder ein Verstoß gegen die Prinzipien der Arbeitsethik durch die Strafrechtsanwender kriminalisiert wird (vgl. Cremer-Schäfer 1997: 68f.). Schon Popitz (1968: 17) hat mit dem Satz „Dunkelziffern sind käuflich erwerbbar“ darauf hingewiesen, dass die Nicht-Entdeckung einer potentiell kriminalisierbaren Handlung von der sozialen Stellung und den Ressourcen der Normübertreter abhängig ist. Kriminalität wird auf dieser Basis als ein „,negatives Gut‘“ (Sack 1974: 469) verstanden, das in kapitalistischen Gesellschaften ebenso ungleich, wenn auch umgekehrt proportional ungleich, verteilt ist wie positive Güter (z.B. Reichtum, Einfluss usw.). Die Kritische Kriminologie – und dies macht erst ihre kritische Perspektive aus – kann demnach zeigen, „dass aus der weiten Verbreitung von kriminellem Verhalten – von der Delinquenz der unteren Schichten über die ,Abweichung der Angepassten‘ (Frehsee 1991) bis zum Fehlverhalten von Eliten – Kriminalität insofern produziert wird, als sie in selektiven Prozessen öffentlich bewusst gemacht und sanktioniert wird, also als ,wirkliche‘ Kriminalität hervorgebracht wird“ (Dollinger 2002: 148). d. Die Relevanz von Kriminalstatistiken, die die Datenbasis für ätiologische Theorien liefern, wird problematisiert. Wenn Kriminalität eine ubiquitäre Erscheinung darstellt, dann ist der Erkenntniswert dieser Statistiken nicht besonders aussagekräftig. „Aus den potentiell zu Kriminellen verurteilbaren Personen wird nur ein sehr kleiner Ausschnitt herausgefiltert, der auch tatsächlich verurteilt wird“ (Sack 1974: 463). Kriminalstatistiken geben somit nicht das „objektive“ Ausmaß an Kriminalität wieder, sondern sie liefern nur einen Tätigkeitsnachweis von Kontrollinstanzen wie Polizei oder Justiz. „Die ’Kriminalstatistik‘ zeigt uns nicht mehr oder weniger detailliert die
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Quantität von ’Kriminalität‘ an, sondern mehr oder weniger detailliert die Politiken der Nachfrage nach dem Strafrecht“ (Cremer-Schäfer 1997: 71). Eine Zu- oder Abnahme der Kriminalität ist also, wie Schmidt-Semisch (1990: 29) ausführt, immer eine abhängige Größe der polizeilichen Personalstärke: „Es ist eine statistisch durchaus nachweisbare Tatsache: Je mehr Polizeibeamte sich einer bestimmten Gruppe von Menschen oder auch einem bestimmten geographischen Gebiet zuwenden, desto größer die Zahl der aufgedeckten Straftaten sowie die Zahl der Verdächtigen. Diese Zahlen steigen aber nicht, weil die Gesamtzahl aller strafrechtlichen Handlungen angestiegen ist, sondern vielmehr deshalb, weil die Aufmerksamkeit bzw. die Zahl der Polizeibeamten größer geworden ist und damit die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung“. Zusammenfassend betrachtet waren es insbesondere zwei Erkenntnisse der neuen Soziologie der Abweichung, die zu einer kritischen Infragestellung der positivistischen Ansätze führten und damit auch die Grundlagen des wohlfahrtsstaatlichen Rehabilitationsmodells in Frage stellten: Dass abweichendes Verhalten in gewissen Grenzen normal ist und jeder es tut und dass das eigentliche Problem nicht im abweichenden Verhalten selbst, sondern in den offiziellen Reaktionen und Kontrollprozessen liegt, da diese es erst sind, die Kriminalität und Abweichung hervorrufen.
6.2.2
Kritische Drogenforschung als moralische Unternehmer
Dieser Perspektivenwechsel innerhalb der wissenschaftlichen Analyse des devianten Verhaltens ist folgerichtig auch nicht ohne Konsequenzen für die Untersuchung der Phänomene des Drogenkonsums und der Drogenabhängigkeit ge1 blieben . Angesichts der Normalität abweichenden Verhaltens wird auf die Irrealität der Vorstellung einer drogenfreien Gesellschaft verwiesen: „Ebenso wenig wie eine Welt ohne abweichendes Verhalten, ohne soziale Konflikte und ohne Kriminalität vorstellbar ist, ebenso wenig ist eine Welt ohne Drogen vorstellbar. (...) Die Forderung nach einer drogenfreien Welt und der Überwindung der Drogenabhängigkeit ist illusionär“ (Albrecht 2005: 318). Darüber hinaus stehen in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen des Drogenproblems nicht mehr (nur) die Drogenkonsumenten im Blickfeld, wie dies im Rahmen traditio-
1
Besser ist zu formulieren: Die Protagonisten einer sich als kritisch verstehenden Kriminologie, wie etwa Howard Becker (1981), haben ihre zentralen Thesen in erster Linie im Rahmen der empirischen Analyse des Phänomens des Drogenkonsums gewonnen.
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
neller Drogenforschung der Fall ist1, sondern es werden auch negativ stigmatisierende Einflüsse formeller und informeller Kontrollinstanzen diskutiert. Eine ausschließliche Orientierung am Individuum und an der Droge wird dagegen als wenig aussagekräftig zurückgewiesen. Demgegenüber wird den sozialen Faktoren des Drogengebrauchs eine größere Beachtung geschenkt. Reinarman und Levine (1997a: 9) beschreiben das Erkenntnisinteresse sozialwissenschaftlicher Drogenforschung folgendermaßen: „The basic premise of this theory of drug effects is that, (...) drug effects are shaped by the psychologial mind-set of the user – his or her expectations, mood, mental health, purposes, and personality – and by the social setting of use – the characteristics of the situation of use, the social conditions that shape such situations and impinge upon the users, and the historically and culturally specific meanings and motives used to interpret drug effects“.
In vielen Arbeiten wird dabei die Prohibitionspolitik einer fundamentalen Kritik unterzogen. Zahlreiche Sozialwissenschaftler treten als Moralunternehmer auf, diffamieren die repressive Drogenpolitik als „Trauerspiel“ (Vogt 1991) und fordern eine „neue Drogenpolitik“ (Quensel 1982), die „Entkriminalisierung und Legalisierung von Heroin“ (Schmidt-Semisch 1990) oder eine gänzliche „Drogenfreigabe“ (Stöver 1994). Denn nach Ansicht der Vertreter einer kritischen Drogenforschung liegt das „Drogenproblem“ weniger im chemisch-pharmakologischen Wirkungspotential der Substanzen oder in einer „pathologischen“ Motivstruktur des Konsumenten begründet, sondern es wird der prohibitiven Ausgestaltung der Drogenpolitik und dem gefahrenfixierten Wahrnehmungsraster gegenüber den verbotenen Drogen ein entscheidender Einfluss auf die Generierung und Forcierung der Drogenproblematik zugeschrieben (vgl. Baratta 1990: 3; Böllinger 2001: 28; Böllinger u.a. 1995: 21; Dollinger 2001: 92; Hess 1991: 41; Pilgram 1980: 132f.; Quensel 1982: 9; Reinarman/Levine 1997a: 8; Scheerer 1985; Vogt/Scheerer 1989: 19f.; Schmidt-Semisch 1990: 72; Stöver 1994: 27). Problematisiert wird dabei besonders der pharmakologische Determinismus des gegenwärtigen Drogendiskurses. Es wird dargelegt, dass die physische und psychische Verelendung einiger Konsumenten nicht das zwangsläufige Produkt des Drogenkonsums ist. Unidirektionale Kausalitätsannahmen bei der Bewertung des Gesundheitsrisikos des Substanzgebrauchs erweisen sich als unter1
Unter der Bezeichnung „traditionelle Drogenforschung“ sind wissenschaftliche Arbeiten gemeint, in denen – meistens vor dem Hintergrund eines pharmakologischen, medizinischen, psychiatrischen oder therapeutischen Wahrnehmungsrasters – die Genese einer Drogenabhängigkeit entweder auf einen übermächtigen Einfluss der Droge oder auf eine „pathologische“ Motivstruktur des Konsumenten oder deren Wechselwirkung zurückgeführt wird.
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komplex. Demgegenüber ist zwischen den primären und den sekundären Effekten der Drogenwirkung zu differenzieren (vgl. Baratta 1990: 8; Hess 1991: 41f.): Primäre Effekte ergeben sich direkt aus den negativen Eigenschaften der jeweiligen Substanz. Sekundäre Effekte dagegen sind eine Folge der Kriminalisierung der Konsumenten und der gesellschaftlichen Dämonisierung der verbotenen Drogen, so dass diese soziokulturellen Rahmenbedingungen immer einen indirekten Einfluss auf das Konsumgeschehen ausüben. Böllinger (2001: 27) macht mit unmissverständlichen Worten auf die Konsequenzen einer staatlich organisierten Prohibitionspolitik aufmerksam: „Welch ein Unterschied zwischen dem Junkie, der sich das Wasser für seinen Druck aus der Pfütze oder dem Bahnhofsklo holt, und dem Bundesverfassungsrichter, der seinen Trollinger in der gemütlichen Karlsruher Weinstube genießt“.
Am Beispiel von Heroin lässt sich veranschaulichen, dass die oftmals mit dieser Substanz assoziierte Gefährlichkeit nicht allein auf ihre pharmakologische Zusammensetzung zurückgeführt werden kann („primärer Effekt der Droge“), sondern dass auch die Prohibitionspolitik („sekundärer Effekt der Droge“) erhebliche negative Auswirkung auf das Risiko des Drogengebrauchs ausübt1. Wie interkulturelle Forschungsarbeiten belegen, trägt soziale Integration wesentlich dazu bei, potentielle Gefahren des Drogengebrauchs zu reduzieren (vgl. Pfeiffer 1986: 83ff.). Diesen Nachweis erbringt auch das Beispiel der klassischen Morphinisten in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die „weder Verwahrlosungs- noch Krankheitserscheinungen zeigten, weder unter Gewichtsverlust litten noch an ,Überdosierungen‘ starben oder sonstwie eine verringerte Lebenserwartung hatten“ (Scheerer 1985: 38; für die USA vgl. Selling 1989a: 143ff.). Infolge der Kriminalisierung werden jedoch Ausgrenzungsprozesse in Gang gesetzt (s. Kap. 6.2.3), die ganz wesentlich zur sozialen Isolation des Drogengebrauchers beitragen und kriminalisierte Subkulturen entstehen lassen. Auf diese Weise werden die Risiken des Substanzkonsums dramatisch erhöht. Angesichts der gesellschaftlichen Negativbewertung der verbotenen Substanzen wird die Geheimhaltung des Konsums gefördert, so dass potentielle 2 persönliche „Drogenprobleme“ oftmals nicht artikuliert werden . Heroin wird
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Zur Kritik an der repressiven Ausgestaltung der Drogenpolitik und deren Folgen für die Konsumenten vgl. genauer Böllinger u.a. 1995: 41ff.; de Ridder 1991: 24ff.; Harding 1982: 1221ff.; Quensel 1982, 156ff.; Scheerer 1985; 1995; 94ff.; Schmidt-Semisch 1990: 40ff.; Stöver 1994: 27ff. Exemplarisch kann an dieser Stelle auf eine Untersuchung (n=1055) von Freitag (1999: 106f.) verwiesen werden. Auf die Frage nach den Gründen für das Nicht-Aufsuchen von Drogenberatungsstellen stimmten 66,7% der Interviewten voll und 28,8% teilweise der Aussage zu, dass sie
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durch die Illegalität auf dem Schwarzmarkt um ein vielfaches verteuert, so dass Konsumenten ohne die entsprechenden ökonomischen Ressourcen in den finanziellen Ruin getrieben werden. Aufgrund eines hohen Schwarzmarktpreises können viele Heroingebraucher die Drogenbeschaffung oftmals nur durch illegale Aktivitäten (Beschaffungskriminalität, Prostitution) finanzieren. Diese Handlungen führen zu einer weiteren Marginalisierung der Betroffenen, da Heroinkonsumenten nicht nur wegen ihres Konsums, sondern auch hinsichtlich der Handlungen zur Beschaffung der Droge kriminalisiert werden. Darüber hinaus wird durch die Verteuerung der Substanzen die Verbreitung riskanter Konsumformen (z.B. spritzen statt rauchen) begünstigt, weil die Konsumenten zur möglichst schnellen Ausnutzung der Droge gezwungen werden. Außerdem muss betont werden – da Heroin, im Gegensatz zu Alkohol oder Tabak, in reiner Form keinerlei organische Schäden hinterlässt (vgl. de Ridder 1991: 27f.; Kellermann 2005: 69f.; Scheerer 1995: 71; Schneider 1996: 39f.) –, dass die gesundheitlichen Risiken erst durch ein Verbot der Substanz erheblich steigen. Durch die Prohibitionspolitik geht jegliche Kontrolle über Qualität (Reinhaltsgehalt) und Quantität (Höhe der Dosis) der Droge verloren, so dass sich der Konsument niemals sicher sein kann, welchen Reinheitsgrad die Substanz gerade beinhaltet und ob diese nicht mit gesundheitsgefährlichen Stoffen – im günstigsten Fall Traubenzucker, im ungünstigsten Fall Rattengift – gestreckt ist. In dieser Hinsicht verbieten sich auch unidirektionale Kausalitätsmodelle hinsichtlich der Thematik des Drogentodes, der in politischen und massenmedialen Diskursen oftmals als Beweis für die Gefährlichkeit von Heroin und als Legitimationsbasis für eine prohibitive Ausgestaltung der Drogenpolitik herangezogen wird. So kommt Groenemeyer (1994: 82) nach einer Durchsicht verschiedener empirischer Studien zu dem Ergebnis, dass die prohibitive Ausgestaltung der Drogenpolitik einen indirekten Einfluss auf das Mortalitätsrisiko ausübt: „Die Hauptrisiken des Drogenkonsums entstehen über die Unmöglichkeit einer individuellen Kontrolle der Dosierung, die im wesentlichen über die Illegalität des Zugangs zu den Drogen und die daraus folgenden Marktprozesse mit verursacht werden“. Es kann festgehalten werden, dass eine Drogenverbotspolitik erhebliche negative Effekte nach sich zieht. Der „verelendete Drogenjunkie“ ist in der Perspektive einer kritischen Drogenforschung weniger ein Produkt der pharmakologischen Wirkungen der Drogen als vielmehr ein Produkt derjenigen Bedingungen und Verhältnisse, unter denen er sein Leben zu führen hat. Es ist nicht verwunderlich, dass vor diesem Hintergrund Änderungen am Drogenstrafrecht angemahnt werden: „Das Drogenstrafrecht versammelt alle Fehlentwicklungen des
Angst hätten, wegen einer Sichtbarmachung des Drogenkonsums Probleme mit den Eltern zu bekommen (s.a. Farke/Broekmann 2003: 15).
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modernen Strafrechts in wenigen Paragraphen und demonstriert mit seinen kontraproduktiven Auswirkungen die Herrschaft der Ideologie über die Empirie und des staatlichen Wunschdenkens über die Rationalität“ (Scheerer 2001: 235).
6.2.3
Drogenkonsum als Karriere
Sozialwissenschaftliche Forschungen weisen jedoch nicht nur auf die Kontraproduktivität der prohibitiven Ausgestaltung der Drogenpolitik hin, sondern es werden auch die Erkenntnisse der traditionellen Drogenforschung massiv in Frage gestellt. So zeigt etwa Howard Becker (1981: 36ff.) in seiner klassischen Studie über den Marihuana-Gebrauch, dass der subjektiv erfahrene Sinngehalt des Drogengebrauchs und die Wirkungen einer Droge weniger durch die chemische Zusammensetzung der jeweiligen Substanz als vielmehr durch Bedeutungszuschreibung und soziale Lernprozesse bestimmt werden. Den enormen Einfluss, den die soziale Umgebung und das soziale Lernen auf den Konsum einer Droge und die Entstehung einer Drogenabhängigkeit ausüben, kann an zwei Beispielen illustriert werden. So demonstriert die Situation von Krankenhauspatienten, dass diese nur selten drogenabhängig werden oder von Entzugserscheinungen berichten, obwohl sie während ihrer Behandlung oftmals über einen längeren Zeitraum Opiate erhalten. Dies liegt darin begründet, dass die Ärzte die Patienten über die Identität der Droge im Unklaren lassen. Falls Entzugssymptome auftreten, so wird dem Patienten vom Krankenhauspersonal mitgeteilt, dass dies Symptome der Krankheit oder Nebeneffekte anderer Medikamente sind (vgl. Lindesmith 1983: 45; Scheerer 1985: 37; Zinberg 1983: 264). Gerade dieses Beispiel verdeutlicht eindrucksvoll, dass körperliche Entzugserscheinungen, die durch den Konsum einer Droge ausgelöst werden, immer der Interpretation des Konsumenten bedürfen und durch die soziale Reaktion des Umfelds strukturiert werden. Solange keine ursächliche Verbindung zwischen dem Drogengebrauch und körperlichen Symptomen hergestellt wird, wird man sich auch nicht dazu veranlasst fühlen, diese Symptome durch eine erneute Zufuhr der Droge zu beheben. Personen erfahren sich folglich erst dann als abhängig, wenn sie körperliche Symptome als Drogenentzugserscheinungen interpretieren und diese nicht einer anderen Ursache zuschreiben (vgl. Becker 1983: 195; Selling 1989a: 151). „Konstitutiv für Abhängigkeit ist demnach die Interpretationsfolie der Abhängigkeit, aus körperlichen Symptomen alleine lässt sich eine Abhängigkeit nicht ableiten“ (Dollinger 2002: 285). Der Kontrollverlust und die Abhängigkeit von Alkohol und anderen Drogen ist in dieser Perspektive weniger der automatische Effekt pharmakologischer Eigenschaften der eingenommenen Substanz als
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vielmehr die Folge einer gelernten und im sozialen Kontext verstärkten Wahrnehmung und Interpretation der Drogenwirkungen (vgl. Groenemeyer 1999b: 205). So reichen etwa nach Täschner (1997: 28) die körperlichen Entzugserscheinungen bei Heroinkonsum vom Schwitzen und Zittern bis hin zu Schmerzzuständen im Bereich der Gliedmaßen und der Muskeln. Die Symptome ähneln also denen einer schweren Erkältung oder einer Grippe. Dem Konsumenten bieten sich immer mehrere Möglichkeiten, um diese Symptome zu interpretieren. Erst wenn er diese Symptome als Entzugserscheinungen infolge des Drogenkonsums wahrnimmt und nicht einer anderen Ursache zuschreibt, kann man von einer Drogenabhängigkeit sprechen. Nur so lässt es sich auch erklären, wieso es bis in das 18. Jahrhundert hinein keine Berichte über Entzugserscheinungen gegeben hat, obwohl die heute als extrem suchterzeugend klassifizierten Substanzen schon seit Jahrtausenden konsumiert werden (vgl. Scheerer 1995 15f.). Solange eine Gesellschaft keinen Suchtbegriff entwickelt, wird der jeweilige Konsument auch nicht über Entzugssymptome berichten, eben weil ihm seine Gesellschaft nicht die entsprechenden kulturellen Interpretationsfolien zur Verfügung stellt, um bestimmte körperliche Symptome als Entzugserscheinungen wahrzunehmen. Ein weiteres Beispiel für die enorme Bedeutung des soziokulturellen Kontext’ liefert der Heroinkonsum von amerikanischen Soldaten während des Krieges in Vietnam, in dem viele Soldaten von der Droge abhängig wurden. Als diese jedoch wieder in ihre Heimat zurückkehrten, konnten die meisten – nur etwa 10% wurden rückfällig – vom Gebrauch der Droge ablassen. Anscheinend wurden die Konsumenten durch die extremen Bedingungen des Krieges zum Konsum veranlasst, während sie bei ihrer Rückkehr in die USA den Heroingebrauch einstellten, eben weil sie ihn mit Vietnam assoziierten (vgl. Blomqvist 2006: 56ff.; de Ridder 1991: 26f.; Zinberg 1983: 263ff.). Gerade dieses Beispiel demonstriert, dass bestimmte Substanzen nicht generell oder unweigerlich zur Sucht führen müssen. Sozialwissenschaftlichen Arbeiten kann hier das Verdienst zugeschrieben werden, das lineare und deterministische Abhängigkeitsmodell und den in diesem Modell unterstellten „drogenspezifischen Automatis1 mus“ (Schneider 1996: 38) einer Kritik zu unterziehen . In diesem Zusammen1
Das „klassische“, lineare und monokausale Abhängigkeitsmodell ist durch folgende, abwärts gerichtete Reihenfolge charakterisiert: Eine „pathologische Persönlichkeitsstruktur“ nötigt zu Drogenkonsum. Die Folge dieses Konsums ist eine wachsende Toleranz, mit Entzugssymptomen und Kontrollverlust. Dies führt zur Drogenabhängigkeit, die letztlich im Persönlichkeitsverfall und Verelendung des Konsumenten endet. Die einzige Möglichkeit, diese Abwärtsspirale zu durchbrechen, ist eine abstinenzorientierte Therapie. Es wird also davon ausgegangen, dass „mit dem Beginn der Einnahme illegaler Drogen (...) ein vorprogrammierter Weg beschritten >wird@, der in letzter Konsequenz die gesamte Lebenspraxis erfaßt und zu einer allgemeinen Verelendung führen muß“ (Groenemeyer 1990: 101).
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hang wird die weitverbreitete Mutmaßung widerlegt, dass Drogenkonsum eine Sache des „Alles oder Nichts“ ist, dass also mit dem ersten Konsum einer bestimmten Substanz ein irreversibler Krankheitsprozess in Gang gesetzt wird. Niemand konsumiert jedoch an einem Tag eine bestimmte Droge und ist am nächsten Tag von dieser abhängig. Demgegenüber gilt es zu betonen, dass sowohl der Einstieg in den Drogenkonsum als auch dessen Weiterführung das Ergebnis eines Lernprozesses ist, in dem der Betroffene sich mit seiner Umwelt auseinandersetzt und sich in seine Rolle als Drogengebraucher hineinfindet. Gerade Howard Becker (1981) kann in seiner Studie über den MarihuanaGebrauch zeigen, dass die Drogenverwendung nur fortgesetzt wird, wenn der Konsument die „richtige“ Gebrauchstechnik lernt, wenn er die Wirkungen der Substanz erkennt und ursächlich mit dem Drogengebrauch in Verbindung bringt und wenn er in der Lage ist, die wahrgenommenen Empfindungen zu genießen und gleichzeitig unangenehme Erfahrungen auszublenden. Nur wenn diese Bedingungen erfüllt sind, wird der Konsum beibehalten und erst „>i@m Verlauf dieses Prozesses entwickelt der Mensch eine Disposition oder Motivation für den Marihuana–Gebrauch, die nicht vorhanden war und nicht vorhanden sein konnte, als er mit dem Drogengebrauch begann“ (ebd.: 51). Anstatt eines linearen Abhängigkeitsmodells weisen sozialwissenschaftliche Forschungen auf die „Variabilität und Prozesshaftigkeit“ (Dollinger 2005b: 146) des Konsumgeschehens hin. Biographische Verlaufsentwicklungen einer Drogenkarriere sind nicht pharmakologisch vorprogrammiert, sondern unterliegen einem „Kontingenzaspekt“ (Schneider 2004a: 191), was bedeutet, dass sich alles immer auch ganz anders entwickeln kann, als es gegenwärtig den Anschein hat. Mit Rückgriff auf Karrieremodelle abweichenden Verhaltens, wie sie u.a. Becker (1981: 22ff.) entwickelt hat, kann darauf aufmerksam gemacht werden, dass der Drogengebrauch durch verschiedene Phasen oder Stufen charakterisiert ist, die hintereinander geschaltet sind, jedoch nicht alle durchlaufen werden müssen, wobei Ausstiege in jeder Phase möglich sind. Der Weg in den Drogengebrauch und aus dem zwanghaften Gebrauch heraus stellt also eine in vielerlei Hinsicht offene Entwicklung dar, d.h. er ist durch kontingente Verläufe charakterisiert, die durch ein komplexes Gefüge subjektiver und soziokultureller Faktoren bedingt sind. Jeder einzelne Schritt in die Abhängigkeit (und wieder hinaus) muss dabei gesondert betrachtet und erklärt werden, weil bestimmte Motive, die in der einen Phase zum Drogenkonsum veranlassen, in der anderen Phase schon vollkommen ohne Bedeutung und durch andere Motive ersetzt sein können (vgl. Dollinger 2002: 30ff.; Reuband 1994: 277; Vogt/Scheerer 1989, 21). Führt man sich die einzelnen Phasen einer Drogenkarriere vor Augen, dann zeigt sich, dass das Experimentieren mit den verbotenen Substanzen für einen
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Großteil der Jugendlichen nur ein vorübergehendes Phänomen darstellt, wobei es sich hierbei in der Regel um Cannabisprodukte handelt. Die meisten Drogengebraucher bleiben im Probierstadium und nur ein kleiner Teil geht über diese Phase hinaus und steigt auf andere Substanzen um (vgl. Reuband 1994: 88; 1999: 321). Doch auch die Behauptung, dass ein Konsum der „harten“ Drogen unausweichlich in die Drogenabhängigkeit führt, entbehrt einer empirischen Grundlage. Ganz im Gegenteil bleibt es hier ebenfalls in der überwiegenden Mehrheit der Fälle bei einem Probierkonsum und einem Experimentieren mit neuartigen Erfahrungen, ohne dass zwangsläufig eine Abhängigkeit die Folge sein muss (vgl. Reuband 1991). Thesen wie diejenige, dass Heroin nach dem ersten Konsum sofort süchtig macht, können damit als „Mythos“ (Blomqvist 2006: 60) entlarvt werden, ein „Mythos, der wohl mehr auf dem illegalen Status und der offiziellen Rhetorik gründet als auf empirischen Fakten“ (ebd.). Und selbst wenn der Gebrauch der illegalen Drogen über ein Probierstadium hinausgeht und sich folglich ein gewohnheitsmäßiger Konsum einstellt, muss dies nicht unabwendbar zum sozialen Abstieg oder zur totalen Verelendung führen. In zahlreichen Studien kann belegt werden, dass – entgegen des Stereotyps des 1 „abgewrackten Drogenjunkies“ – ein kontrollierter und sozial integrierter Konsum auch der „harten“ Drogen möglich ist. Außerdem leiten viele Konsumenten selbstinitiierte Ausstiegsprozesse ein und wachsen mit zunehmendem Alter aus der Sucht heraus, ohne jemals eine Therapieeinrichung betreten zu haben (vgl. Harding 1982; Kemmesies 2004; Klingemann/Sobell 2006; Schmidt 1999; Weber/Schneider 1997; Werse u.a. 2005)2. 1
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Wie hartnäckig dieses Bild von Drogenkonsumenten nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Wissenschaft konserviert wird, zeigen die Ausführungen des Psychiaters Täschner (1997: 113f.), ehemaliges Mitglied des Nationalen Drogenrats der Bundesregierung, der in einem Ratgeber für Eltern und Lehrer schreibt: „Opiatsüchtige stehen meist erst gegen Mittag auf, zumal sie ja auch erst in den frühen Morgenstunden zum Schlafen kommen. (...) Zu den Lebensgewohnheiten gehört auch die Art des Wohnens, die Auffassung über Ordnung und Pflicht, die Einstellung gegenüber Leistungsanforderungen, Arbeit u.ä. Im Zustand einer fortgeschrittenen Sucht kann der Abhängige einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen“. Als kontrollierter Gebrauch illegaler Drogen lässt sich mit Weber und Schneider (1997: 78) „eine bewußte und autonom eingeleitete ‚relativ‘ stabile Gebrauchsvariante >verstehen@, die eine explizit drogenbezogene Lebensführung ausschließt. Dies bedeutet, daß kontrollierte Gebrauchsformen mit funktionalen Alltagsanforderungen und konventionellen Lebensbezügen (...) vereinbar sind“. Viele Drogenkonsumenten verfügen über bestimmte Kontrollstrategien, um ein „bestmögliches Rauscherleben bei weitestgehender Risikominimierung und Vereinbarkeit mit den sich stellenden Alltags- und Rollenanforderungen (...) zu ermöglichen“ (Kemmesies 2004: 191). Wichtige Kontrollregeln im Bezug auf den Gebrauch der illegalen Drogen sind etwa die Beschränkung des Drogengebrauchs auf die Freizeit (Feierabend, Wochenende), die Dosisbegrenzung und die Konsumbegrenzung auf ein bestimmtes Setting (vgl. Harding 1982: 1226f.; Kemmesies 2004: 192ff.; Scheerer 1995, 48). Wie groß die Anzahl derjenigen Personen ist, die einen kontrollierten Konsum ausüben, ist nicht bekannt. Harding (1982: 1230) geht davon aus,
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Diese Erkenntnisse stellen damit nicht nur den pharmakologischen Determinismus des Drogendiskurses, sondern auch die innerhalb der traditionellen Drogenforschung und der Öffentlichkeit vertretene Auffassung in Frage, dass sich der Gebraucher der illegalen Drogen durch eine „pathologische Motivstruktur“ auszeichnet und sich in vielen Persönlichkeitsmerkmalen vom „Normalbürger“ unterscheidet. Diese Vorstellung muss grundsätzlich revidiert werden. Wenn fast alle Jugendlichen den Konsum nach einem kurzen Probierstadium von selbst beenden, dann kann der Drogengebrauch dieser Heranwachsenden wohl kaum als ein Versuch der „Selbstmanipulation“ (Freitag/Hurrelmann 1999: 15), der „,Selbstreparatur‘ psychischer Missempfindungen“ (Klein 2008: 4) oder „als eine problematische Form der Lebensbewältigung“ (Lehmkuhl 2008: 50) interpretiert werden, wie dies im gegenwärtigen Drogendiskurs üblich ist. Es sind nicht biographische Problemkonstellationen, sondern vielmehr „gewöhnliche“ Motive wie Neugier oder eine bestimmte Gruppensituation, die zum Erstgebrauch der verbotenen Substanzen (vgl. Berger u.a. 1980: 58; Reuband 1994: 102ff.; Kemmesies 2004: 118ff.; Schmerl 1984: 108), aber auch zu einem späte1 ren Konsum der „harten“ Drogen veranlassen (vgl. Berger u.a. 1980: 95) . Ein weiterer Punkt, der als Widerlegung „pathologischer Erklärungsansätze“ vorgebracht werden kann, liegt in der Tatsache begründet, dass das Experimentieren mit illegalen Drogen in der Altersphase der Jugend eine gewisse Ubiquität besitzt. Wo aber „eine Mehrheit der Jugendlichen Drogenerfahrung gesammelt hat, wird es schwerfallen, den Konsum auf individuelle Pathologien zurückzuführen. Es hieße, der Jugend als Gesamtheit eine pathologische Orientierung und gestörte Lebensbedingungen zuzuschreiben“ (Reuband 1994: 280). Und selbst wenn Untersuchungen feststellen, dass Personen, die als drogenabhängig klassifiziert werden, eine starke „Problembelastung“ aufweisen und sich durch gravierende soziale Auffälligkeiten vom „Normalbürger“ unterscheiden2, dann
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dass in den USA gelegentliche Heroingebraucher 40% aller Heroinkonsumenten ausmachen und de Ridder (1991: 25f.) schätzt, dass sich überhaupt nur 10% aller Konsumenten unter die Kategorie des süchtigen Heroingebrauchs subsumieren lassen. Es ist zu betonen, dass diese Motive überwiegend erst durch die Illegalität generiert werden. Durch den „Reiz des Verbotenen“ (Pilgram 1980: 122) wird die Nachfrage nach illegalen Drogen erhöht. Durch die Prohibition werden die Substanzen symbolisch aufgeladen. Ihnen wird ein besonderer Status zugewiesen, so dass dadurch vor allem bei Jugendlichen – da die Jugendphase immer auch eine Phase des Experimentierens mit gesellschaftlichen Normen ist – eine Motivation erzeugt wird, diese Substanzen zu konsumieren. Der Drogengebrauch kann etwa innerhalb der Freundesgruppe dazu dienen, sich von den Normen der Erwachsenenwelt abzugrenzen und die eigene Gruppenidentität zu stärken. Er kann aber auch für den Einzelnen einen hohen subjektiven Stellenwert einnehmen, da dieser durch das Übertreten gesellschaftlicher Grenzen mit einer hohen Anerkennung innerhalb der Freundesgruppe rechnen kann. Nach Loviscach (1996: 62f.) finden sich in der Biographie von Drogenabhängigen folgende soziale Auffälligkeiten gehäuft: „Störungen“ in der Familie (z.B. Scheidung der Eltern, Auf-
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darf diese Tatsache nicht als Ursache des Drogenkonsums bewertet werden. Spezifische Unterschiede, die möglicherweise zu einem späten Zeitpunkt einer Drogenkarriere konstatiert werden, können nicht als Beweis dafür herangezogen werden, dass eben diese Defizite bereits vor der Entwicklung der Drogenabhängigkeit bestanden und diese verursacht haben (vgl. Dollinger 2002: 43; Schmerl 1984: 73). Alleine die Tatsache, dass zwischen dem ersten Cannabiskonsum und dem ersten Heroingebrauch im Durchschnitt vier bis fünf Jahre vergehen (vgl. Reuband 1992: 80f.), macht es notwendig, den Prozesscharakter von Handlungsabläufen und die unterschiedliche Bedeutung von bestimmten Faktoren in unterschiedlichen Phasen zu berücksichtigen. Die Motive, die den Konsumenten zu Beginn einer Drogenkarriere zum Konsum veranlassen, können zu einem späteren Zeitpunkt der Karriere vollkommen irrelevant und durch andere handlungsleitende Determinanten ersetzt worden sein. Es ist natürlich einfacher, dass Endstadium einer langen Drogenkarriere „alleine als Ergebnis einer frühkindlichen groben Störung in Kombination mit dem Gift dieser Drogensubstanz“ (Quensel 1982: 184) zu verstehen. Es erweist sich allerdings als unabdingbar, das Konsumgeschehen aus einer interaktionistischen Perspektive zu betrachten und die sozialen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, in die der Drogenkonsum eingebettet ist. Angesichts der Kriminalisierung und der gesellschaftlichen Negativbewertung der verbotenen Substanzen dürfte es in den meisten Fällen nicht verwunderlich sein, dass Drogengebraucher, die es nicht schaffen, ihren Konsum zu verheimlichen, häufiger Konflikte auszutragen und zu verarbeiten haben und damit „problembelasteter“ sind als NichtKonsumenten. „Als Folge der Repression und Stigmatisierung wandelt sich die psychische Situation kriminalisierter Drogenabhängiger nicht selten im Sinne des heute vorherrschenden Stereotyps“ (Baratta 1990: 9). Man muss sich nur die Tatsache vor Augen führen, mit welchen konfliktgeladenen Konfrontationen sich ein Individuum auseinanderzusetzen hat, sollte sein Konsum im Elternhaus, in der Schule oder am Arbeitsplatz bekannt werden. So kommt etwa nach AlteTeigler (1999: 144) der Kontakt mit Institutionen der Drogenhilfe in den meisten Fällen nicht auf eigenen Wunsch zu Stande, sondern wird erst über externen Druck von Seiten Dritter – neben formellen Kontrollinstanzen wie Polizei, Justiz und Schule verweist die Autorin auch auf informelle Kontrollinstanzen wie Eltern oder Freunde – hergestellt.
wachsen im Heim, Gewalterfahrungen, emotionale Vernachlässigung und Hass durch einen Elternteil, soziale Vernachlässigung), erhebliche Schwierigkeiten in der Schule und der Berufsausbildung (kein Schulabschluss, keine Berufsausbildung) und Persönlichkeitsstörungen (depressive Tendenzen, mangelndes Selbstwertgefühl).
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Hält man sich demgegenüber vor Augen, dass viele Drogengebraucher ihren eigenen Konsum nicht als ein dringliches individuelles Problem bewerten1, so kann man sich in etwa eine Vorstellung davon machen, welches Konfliktpotential angesichts der gegenwärtigen Definition des Drogenproblems in die Beziehung zwischen einem Konsumenten und seinem sozialen Umfeld eingelagert ist, sollte der Konsum der verbotenen Substanzen sichtbar werden. Angesichts der Tatsache, dass der Gebrauch der illegalen Drogen mit einem Negativ-Image versehen ist und vielfach als verwerfliches Handeln bewertet wird, entsteht für das Individuum „ein vehementer Rechtfertigungsdruck, wenn über die Peergruppe hinaus bekannt wird, dass Drogen verwendet werden“ (Dollinger 2002: 251). Die Person wird angreifbar für negative Stigmatisierungen, wobei „die Tatsache, (...) als abweichend gebrandmarkt zu werden, wichtige Konsequenzen für die weitere soziale Partizipation und für das Selbstverständnis eines Menschen“ hat (Becker 1981: 28). Da der Konsum der missbilligten Substanzen im sozialen Wahrnehmungsraster a priori als problematisch und nicht als normales, jugendtypisches Verhalten klassifiziert wird, wird oftmals gemutmaßt, dass kein Mensch Drogen benutzen würde, „wenn nicht ‚etwas‘ an ihm ‚verkehrt‘ sei, wenn er nicht neurotische Verhaltensstörungen hätte, die den Drogengebrauch notwendig machten. Die Tatsache des Marihuana-Rauchens wird zu einem Symbol für psychische und letztlich moralische Schwäche“ (ebd.: 69). Degkwitz (1999: 56) spricht in diesem Zusammenhang treffend von einer „Denkfigur des Defizits“. Durch die Zuweisung eines Stigmas wird jedoch nicht nur eine als negativ bewertete Auffälligkeit diskreditiert, sondern die betroffene Person wird vielmehr in ihrer Gesamtheit als eine moralisch defizitäre Persönlichkeit abgewertet (vgl. Goffman 1967: 9). Neben dem Stigma werden dem Individuum also noch weitere negative Merkmale zugeschrieben, die nach und nach die ganze Persönlichkeit des Regelbrechers dominieren. Die Stigmatisierung des abweichenden Verhaltens folgt einer bestimmten Wahrnehmungslogik, die man mit Kreissl (2000: 29) als einen Akt der „kognitiven Typisierung“ bezeichnen kann. Gemeint ist, dass im Prozess der Stigmatisierung immer nur bestimmte Ereignisse der Sozialisationsgeschichte herangezogen werden, um die Tatsache des Drogengebrauchs zu erklären. Gleichzeitig werden andere Sozialisationsmomente aus der Betrachtung ausgeklammert. Auf 1
So kommt Tossmann (2004) bei einer Untersuchung (n=307) von Konsumenten von Cannabis und „Partydrogen“ (Ecstasy, Speed usw.) zu der Feststellung, dass diese nur selten Sucht- und Beratungsstellen aufsuchen, obwohl viele von ihnen (n=164) nach den eingesetzten „objektiven“ Screenings (DSM –IV, LAST) eine suchtspezifische Störung aufweisen. Auf die Frage für die Gründe der Nichtinanspruchnahme professioneller Hilfe geben ca. 80% der Konsumenten an, keine Drogenprobleme zu haben und ca. 86% antworten, ihre Probleme selbst lösen zu können.
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diese Weise wird die Biographie des Individuums mit einem „Kausalitätsnetz“ (Foucault 1994: 324) überzogen und retrospektiv als schon immer defizitär und problembehaftet konstruiert: „Sein Familienleben, seine schulischen Leistungen, seine Vorlieben, sein Wohnungsumfeld, seine Freunde, all das wird unter dem Gesichtspunkt analysiert, daß es in irgendeinem Sinne kausal für eine Handlung verantwortlich ist, die für den Betroffenen selbst möglicherweise vollkommen nebensächlich ist“ (Kreissl 2000: 29).
Das stigmatisierte Individuum wird „von einer ganzen und gewöhnlichen Person zu einer befleckten, beeinträchtigen herabgemindert“ (Goffman 1967: 10f.), mit der Folge, dass zu ihm fortan ein verändertes Beziehungs- und Interaktionsmuster aufgebaut wird: „Seine innersten Gefühle über sein eigenes Wesen mögen besagen, daß es eine ‚normale Person‘ ist (...). Doch kann er, gewöhnlich ganz richtig, wahrnehmen, daß die anderen, was immer sie versichern, ihn nicht wirklich akzeptieren und nicht bereit sind, ihm auf gleicher Weise zu begegnen“ (ebd.: 16). Der Betroffene wird fortan in einem völlig neuen Licht betrachtet. Sein vergangenes Leben und seine frühere Identität werden im Sinne der ihm zugeschriebenen Abweichung so rekonstruiert, dass die neue deviante und anormale Rolle den Anschein eines logischen Abschlusses einer stetigen und unabwendbaren Karriere erweckt: „Die frühere Identität erhält bestenfalls den Stellenwert des Scheins. In der sozialen Einschätzung dessen, was Wirklichkeit darstellt, erscheint die frühere Identität als Zufall; die neue Identität ist die ,Basiswirklichkeit‘. Was jemand jetzt ist, ,nach allem, was geschehen ist‘, ist er schon immer gewesen“ (Garfinkel 1977: 34). Durch Stigmatisierungsprozesse wird aber nicht nur die Vergangenheit eines Menschen reinterpretiert, sondern es werden auch negative Aussagen und Erwartungen über die weitere zukünftige Entwicklung ausgesprochen. Die Person hat sich oftmals mit der sozialen Zurücksetzung bei der Verteilung von Lebenschancen auseinanderzusetzen und muss so den formellen und informellen Verlust von bisher ausgeübten Rollen hinnehmen (vgl. Schneider 1996: 69). Das wegen Drogenkonsums stigmatisierte Individuum ist folglich von sozialen Exklusionsprozessen betroffen, wobei hier nicht nur repressive Formen von sozialer Ausschließung (z.B. Gefängnisstrafe, Bewährungsstrafe, Zwangstherapie usw.), sondern auch Ausgrenzungsprozesse im sozialen Nahraum (z.B. Ausschluss aus Elternhaus, nicht-konsumierender Freundesgruppe, Schule, Arbeit usw.) zu nennen sind. Das allmähliche Abbrechen aller sozialen Kontakte zu Eltern, Freunden, Schul- und Arbeitsbeziehungen kann als einer der wesentlichen Momente einer Drogenkarriere betrachtet werden (vgl. Quensel 1982: 182). Eine mutmaßliche Reaktion des Individuums auf die Ächtungen der Mehrheitsgesellschaft wird es sein, den Anschluss an Personen zu suchen, die
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vom gleichen Schicksal betroffen sind, d.h. er wird sich an eine Gruppe anschließen, in der der Konsum der illegalen Drogen gebräuchlich ist und positiv bewertet wird, da er hier mit sozialer Achtung rechnen und die „konventionellen Moralgesetze“ (Becker 1981: 35) der Gesellschaft neutralisieren kann. An diesem Punkt einer Drogenkarriere liegt es nahe, dass den innerhalb der Gruppe verwendeten Substanzen eine neue Bedeutung zugewiesen wird. Waren es vorher Motive der Neugierde, Entspannung oder Geselligkeit, die zum Konsum veranlassten, so wird der Drogenkonsum nun oftmals mit Protestmotiven symbolisch aufgeladen. Die Substanzen werden „zum Symbol der Ungesetzlichkeit, der sozialen Besonderheit und Exklusivität, der Befreiung von gesellschaftlichen Konventionen etc. – zum Symbol einer devianten/außerordentlichen sozialen Identität. Diese Bedeutung einer Droge steht in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer moralisch negativen Bewertung und Kriminalisierung und mit den in der Folge veränderten Interaktionsprozessen unter den Drogennehmern und zwischen ihnen und der Gesellschaft. Der besondere symbolische Stellenwert, die ,Überhöhung‘ des verbotenen Drogenkonsums können zu einer Drogenmotivation eigener Art führen“ (Pilgram 1980: 120). An dieser Stelle kommt es also zu einer Karriereverfestigung, die durch Kriminalisierungsprozesse noch weiter zementiert werden kann. Der Drogenkonsum mit all seinen Facetten wird zum Zentrum des Lebens, ein Leben, das – wenn es auch von außen betrachtet noch so abschreckend erscheinen mag – für den Betroffenen oftmals von höchster Attraktivität ist (vgl. Berger 1982). Sozialwissenschaftlich orientierte Forschungsarbeiten kommen folglich zu dem Ergebnis, dass weniger das Suchtpotential einer bestimmten Substanz oder zur Sucht disponierende Persönlichkeitsfaktoren, sondern vielmehr die Ausgrenzung aus den Ordnungen der Gesellschaft und die dadurch bedingte Einbindung in einen devianten Kreis von Gleichgesinnten den entscheidenden „Wirkungsmechanismus“ (Reuband 1994: 281) darstellen, um die Stabilisierung einer Drogenkarriere zu erklären. Durch den Ausschluss aus den „normalen“ gesellschaftlichen Verhältnissen konstituiert sich für die betroffene Person „eine riskante Konstellation, in der (...) der Übergang vom gelegentlichen Drogenkonsum zu kompulsiven Gebrauchsmustern subjektiv Sinn macht“ (Degkwitz u.a. 1 1999: 161) . Natürlich führt der häufige Konsum einer Droge wie Heroin in 1
Diese Prozesse müssen sich natürlich nicht erst vollziehen, nachdem der Konsum sichtbar geworden ist. Angesichts der Tatsache, dass der Gebrauch der illegalen Substanzen ein potentiell diskreditierbares Verhalten darstellt, liegt es nahe, dass sich ein Konsument bereits zu Beginn einer Drogenkarriere von der Mehrheitsgesellschaft isoliert und sich mit anderen Drogenverwendern zusammenschließt. „Wer von der Droge nicht mehr lassen kann oder sie weiter gebrauchen will, ist aufgrund des Kriminalisierungsrisikos gezwungen, mit anderen in seiner Lage zusammenzurücken, sich mit ihnen zu organisieren und von den gewöhnlichen Leuten abzusondern. (...) Notwendig machen diese Entwicklung Sicherheitsgründe, aber auch das Bedürfnis,
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einer großen Zahl von Fällen zu einer körperlichen Abhängigkeit, jedoch muss man sich immer vor Augen halten, „daß Art und Auswirkung dieser Abhängigkeit (...) überwiegend sozio-kulturell bestimmt werden“ (Quensel 1982: 185). Im Rahmen einer kritischen Drogenforschung wird darüber hinaus die Feststellung getroffen, dass die Wahrscheinlichkeit, als drogenabhängig klassifiziert zu werden, mit dem sozialen Status in Verbindung steht: „Bis zu welchem Grade eine Handlung als abweichend behandelt wird, hängt auch davon ab, wer sie begeht (...). Regeln scheinen auf einige Menschen unnachgiebiger angewandt zu werden als auf andere“ (Becker 1981: 11). Solange die kulturellen Standards der Normalität nicht in Frage gestellt werden, ist die Wahrscheinlichkeit relativ gering, wegen des Drogengebrauchs stigmatisiert zu werden. Demgegenüber weisen „Drogenverwender, die durch Problembezüge belastet sind, seien sie durch Drogenkonsum oder durch andere Verhältnisse bedingt, eine deutlich höhere Chance auf, als abhängig identifiziert zu werden, als Personen, die in ,geordneten‘ Integrationsverhältnissen leben“ (Dollinger 2005b: 160; s.a. Reinarman/Levine 1997a: 13). Kriminalisiert und hospitalisiert wird in dieser Perspektive weniger die Drogenverwendung als solche, sondern vielmehr der soziale Status und der Lebensstil der jeweiligen Person. Ein Vergleich zwischen dem Herkunftsmilieu von Drogengebrauchern auf der einen und drogenabhängigen Personen auf der anderen Seite kann diese Aussage empirisch untermauern. So ist der Konsum der verbotenen Substanzen in allen Gesellschaftsschichten verbreitet, d.h. Drogenkonsumenten verteilen sich in ihrer Herkunft – als Indikator dient dabei der soziale Status des Vaters – über alle sozialen Schichten (vgl. Berger u.a. 1980: 24ff.; Degkwitz u.a. 1999: 156; Reuband 1999: 324f.; Richter/ Hurrelmann 2004). Ein anderes Bild zeigt sich jedoch, wenn man diejenigen Personen betrachtet, die im öffentlichen Bewusstsein als „drogenabhängig“ wahrgenommen werden. So finden sich in den Institutionen der Suchtkranken1 hilfe viele Konsumenten, die sozial unterprivilegiert sind . Diese einfache Gegenüberstellung zeigt, dass Drogenabhängigkeit kein objektives Konzept darstellt. Sie wird vielmehr in Relation von Ressourcen und Belastungen, die mit
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nicht immer wieder durch die Begegnung mit ,anständigen Leuten‘ in Frage gestellt zu werden. (...) Die Vernachlässigung ,bürgerlicher Pflichten‘ (z.B. Arbeitsdisziplin) wird durch diesen Umstand und die erforderlichen sozialen Investitionen in die Beziehungen zur Subkultur wahrscheinlich. Diese Vertiefung der Kluft zur Umwelt und verschärfte Konflikte mit gesellschaftlichen Kontrollinstanzen können durch das Selbstbewußtsein der Drogennehmer als einer Gruppe, deren Interessen über die der übrigen Gesellschaft hinausgehen, abgestützt und erleichtert werden. Die Droge wird ,ideologisiert‘“ (Pilgram 1980: 119f.). Nach der Statistik der stationären Suchtkrankenhilfe des Jahres 2003 sind beispielsweise ca. 60% der Opiatabhängigen arbeitslos und ca. 12% nicht erwerbstätig (vgl. Sonntag/Welsch 2004, 42).
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sozialer Ungleichheit assoziiert sind, durch Prozesse der „selektiven Stigmatisierung“ (Selling 1989a: 120) sozial produziert. Allein die Tatsache, dass ein enormes Maß an ökonomischen Ressourcen notwendig ist, um den Drogenkonsum zu finanzieren, dokumentiert, welch enorme Bedeutung der sozialen Stellung im Hinblick auf den Verlauf einer Drogenkarriere zukommt. Drogengebraucher mit geregeltem Einkommen dürften in den meisten Fällen weniger Probleme bei der Substanzbeschaffung haben als Personen, die wegen des Drogengebrauchs in eine problematische Lebenssituation geraten, weil sie z.B. Schulden anhäufen oder der Beschaffungskriminalität nachgehen müssen. Personen ohne eine entsprechende finanzielle Ausstattung befinden sich angesichts der Drogenverbotspolitik in einer extrem verwundbaren Situation (vgl. Dollinger 2002: 283; 2005b: 159). Diese Zusammenhänge von Hospitalisierung und sozialer Ungleichheit werden um so deutlicher, wenn man sich im Verhältnis zu den Klienten der Suchtkrankenhilfe das hohe Ausbildungsniveau und die gute berufliche Integration derjenigen Drogenkonsumenten vor Augen führt, die einen kontrollierten und sozial integrierten Gebrauch der verbotenen Substanzen praktizieren (vgl. z.B. Kemmesies 2004). Diese sind anscheinend in der Lage, sich der Fremd- und Selbstzuschreibung einer Drogenabhängigkeit zu entziehen. Dies dürfte im Wesentlichen darin begründet liegen, dass Drogenabhängigkeit im öffentlichen Diskurs immer mit bestimmten Defiziten und unzureichender Handlungsfähigkeit in eine ursächliche Verbindung gesetzt wird. Da sozial integrierte Drogenkonsumenten aber von ihrer Umwelt vermittelt bekommen und an sich selbst wahrnehmen können, dass sie den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen, ist bei ihnen die Wahrscheinlichkeit relativ gering, den Drogenkonsum durch das Abhängigkeitskonstrukt zu erklären. Demgegenüber haben Personen, die sozialen Normalitätsstandards nicht entsprechen, eine ungleich höhere Chance, als abhängig klassifiziert zu werden, da bei ihnen die Feststellung getroffen werden kann, dass sie im sozialen Vergleich Defizite aufweisen. Für diese Personen erweist es sich auch als „sinnvoll“, auf die Erklärung ihres Konsums als Abhängigkeit zu rekurrieren: Durch das Eingeständnis, drogenabhängig zu sein, können sie sich selbst entlasten und ihr eigenes Selbstbild schützen, da sie ein Scheitern an gesellschaftlichen Vorgaben ursächlich mit dem Drogenkonsum in eine Verbindung bringen können (vgl. Dollinger 2005b: 154). Drogenabhängigkeit lässt sich vor diesem Hintergrund mit Dollinger (ebd.: 160) als eine „Exklusionskategorie (...) verstehen, da sie aufgrund sozialer, kultureller und ökonomischer Exklusionsbeziehungen und (artikulierter und intersubjektiv registrierter) psychischer und physischer Normabweichungen zugeschrieben wird“. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Erkenntnisse der Kritischen Kriminologie zu einer veränderten Wahrnehmung gegenüber abwei-
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chenden Personengruppen beigetragen haben. Im Bezug auf Kriminalität spricht Kreissl (2004a) von einer „Entzauberung des Kriminellen“. Gemeint ist, dass die Erkenntnis der „Normalität“ kriminellen Verhaltens eine Zurückweisung der traditionellen Grundannahmen erforderlich macht. In dieser Hinsicht wird aber nach Groenemeyer (2003b: 36) auch dem wohlfahrtsstaatlichen Behandlungsideal die Legitimationsgrundlage entzogen: „Es ist mittlerweile klar, dass Kriminalität ein allgemeines und weit verbreitetes Phänomen ist, so dass in den allermeisten Fällen eine Rehabilitationsorientierung, die ja voraussetzt, dass Täter ,anders‘ sind als Nicht-Täter, keine große Akzeptanz mehr erwarten kann. Es macht einfachen keinen Sinn, nach individuellen Ursachen für kriminelle Delikte zu suchen, wenn alle sie begehen“.
Wenn allerdings diese Gedanken auf den Bereich der Drogenkontrolle übertragen werden, dann ist zu registrieren, dass eine „Entzauberung“ der Figur des „pathologischen Drogenkonsumenten“ nicht im gleichen Ausmaße stattgefunden hat. Zwar hat sich seit den 1980er Jahren der gesellschaftliche Umgang mit Drogenkonsumenten verändert. So wurde das Drogenhilfesystem durch die Hilfsangebote der akzeptierenden Drogenarbeit erweitert und seit dem Aufkommen der synthetischen Substanzen lässt sich in gewissen Grenzen eine Entdramatisierung des Phänomens des Drogengebrauchs feststellen (s. Kap. 8.2). Gleichwohl kann weiterhin die Beobachtung gemacht werden, dass die illegalen Substanzen in politischen und massenmedialen Diskursen einer beträchtlichen Dämonisierung unterliegen. Auch in großen Teilen der Wissenschaft wird nach wie vor ein Bild von Drogenkonsumenten gezeichnet, das sich aus Dissozialität und Persönlichkeitsverfall zusammensetzt. Im Diskurs über Drogen dominieren noch immer die von Quensel (1982: 23) bereits vor 25 Jahren konstatierten „Gedankengefängnisse“, die eine andere Möglichkeit unseres Denkens und Handelns gegenüber den verbotenen Substanzen als ein ausschließlich negativ geprägtes und gefahrenfixiertes Wahrnehmungsraster kaum möglich erscheinen lassen. Vor diesem Hintergrund soll im folgenden Exkurs die Frage erörtert werden, aus welchen Gründen trotz der enormen kontraproduktiven Effekte an einer Kriminalisierung des Drogenkonsums festgehalten wird und weshalb es sozialwissenschaftlichen Arbeiten nicht gelingt, zu einer Entdramatisierung des „Drogenproblems“, wenn nicht sogar zu einem nachhaltigen Normwandel im Bereich der Drogenkontrolle beizutragen.
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Exkurs II:
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Die Reproduktion des Drogensystems durch Kriminalisierung und Drogenforschung
Will man sich den obigen Fragestellungen nähern, dann kann man auf die Ausführungen Barattas (1990) verweisen, der auf der Grundlage einer systemtheoretischen Perspektive das Drogensystem als ein geschlossenes System bezeichnet, welches sich beständig reproduziert, da sich alle in diesem Drogensystem Beteiligten, d.h. sowohl die Klienten als auch die professionellen Drogenhelfer, gegenseitig in ihrer Meinung über Drogen bestätigen. Nach den Gesetzen einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden durch die prohibitive Ausgestaltung der Drogenpolitik diejenigen Probleme erst geschaffen, die eigentlich durch das Drogenverbot verhindert werden sollen. Schmidt-Semisch und Paul (1998: 28) beschreiben dies folgendermaßen: „Es sind die Konsumbedingungen der illegalen Drogen im besonderen und die Illegalität ihrer Ökonomie im allgemeinen, die wirklich ,giftig‘ sind und die dazu führen, daß das Bild vom gefährlichen ,Rauschgift‘ immer wieder bestätigt wird – daß sich die ideologisch verklärten Prophezeiungen der Drogenkrieger sowohl hinsichtlich der Konsumenten als auch der Dealer immer wieder selbst erfüllen (sollen)“.
Man kann sich diesen Prozess als eine Art Spiralbewegung denken: Das BtMG, das in den 1970er Jahren mit der Zielsetzung implementiert wurde, die Gefahren des Drogenkonsums sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft zu minimieren, zog paradoxe Effekte nach sich. Angesichts der Kriminalisierung der Konsumentensphäre wurden soziale Ausgrenzungsprozesse in Gang gesetzt. Es entstand eine offene Drogenszene und ein Schwarzmarkt (vgl. Scheerer 1989: 287f.). Der Gesetzgeber reagierte auf diese Zuspitzung des Drogenproblems mit einem enormen Ausbau der polizeilichen Aktivitäten sowohl im personellen Bereich als auch im Bereich der Eingriffsmöglichkeiten. Dies zog wiederum gegenteilige Wirkungen nach sich: Obwohl die Anzahl der Drogenkonsumenten nach der Implementierung des BtMG insgesamt rückläufig war (vgl. Scheerer 1982: 200), stieg die Zahl der Tatverdächtigen zwischen 1967 und 1987 um 5.000% (vgl. Schmidt-Semisch 1990: 25ff.). Die verstärkte Kriminalisierung der Konsumenten führte dazu, dass die gesundheitlichen Risiken des Konsums enorm anstiegen. Wurden im Jahr 1970 29 Drogentote registriert, so waren es im Jahr 1991 bereits 2125 (vgl. Böllinger u.a. 1995: 44). Von den politischen Akteuren wurde diese Zunahme der Tatverdächtigen und der Drogentoten aber gerade nicht als Effekt des eigenen Handelns, sondern als Beweis für die Gefährlichkeit des Drogenkonsums herangezogen. Es wurden deshalb neue und noch härtere Kontrollmaßnahmen initiiert, so dass der Kreislauf erneut in Gang gesetzt wurde. Und so dreht sich die Spirale bis heute weiter. Im Dro-
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gensystem wird durch die marginalisierende Reaktion der Gesellschaft eine Realität produziert, die von den Kontrollinstanzen – also auch von den Institutionen der Sozialen Arbeit – zur eigenen Legitimation herangezogen wird. Die wesentliche Problematik des gegenwärtigen Drogendiskurses besteht eben darin, dass nicht zwischen den primären und sekundären Effekten einer Droge unterschieden wird. Bestimmte problematische Phänomene, die als eine Folge der Kriminalisierung aufzufassen sind, werden fälschlicherweise den Wirkungen der illegalen Drogen zugeschrieben. So wird etwa in den Massenmedien das Phänomen des Drogenkonsums überwiegend von seinem negativen Ende her bewertet und das „Drogenelend“ (Quensel 1982) als inhärente Qualität der jeweiligen Droge dargestellt. Die sozialen Faktoren, die zur Suchtentstehung und zur Verelendung vieler Konsumenten führen, werden ebenso ausgeblendet wie die potentiellen positiven Seiten der verbotenen Substanzen1. Ähnliches gilt auch für die traditionelle Drogenforschungspraxis, die aufgrund der Art und Weise ihrer Erkenntnisproduktion an der Konstruktion von Drogenkonsum als sozialem Problem partizipiert und damit zu einer Legitimierung der herrschenden Drogenpolitik beiträgt. Es wird zwar immer wieder darauf verwiesen, dass Sucht ein komplexes Geschehen darstellt, das nur innerhalb einer Ursachentrias von Droge, Person und Umwelt zu erforschen sei (vgl. z.B. Klein 2008: 4; Ladewig u.a. 1979: 18; Schmidt 1998: 64). Allerdings gilt für heutige Forschungsarbeiten im überwiegendem Maße immer noch das, was Zinberg (1983: 256) bereits Anfang der 1980er Jahre beklagte: „Die Rolle der Umgebung wird weiterhin bagatellisiert, weil sich die Forschung vorwiegend entweder auf die pharmazeutischen Eigenschaften der Droge (...) oder auf den Persönlichkeitsverfall von Individuen (...) richtet (s.a. Kemmesies 2004: 17; Werse u.a. 2005: 204).
Dabei lassen sich zwei wesentliche Bedingungen anführen, die zu dieser unzureichenden und selektiven Forschungsperspektive beitragen: Zum einen gibt es in der deutschen Drogenforschung eine starke Dominanz von Praktikern (Mediziner, Therapeuten, Sozialarbeiter usw.), die oftmals nur den Endpunkt einer Drogenkarriere zu Gesicht bekommen, die aber gleichzeitig ihre persönlichen Erfahrungen verabsolutieren und mit wissenschaftlichem Anspruch vortragen. Ihre Wahrnehmung ist in den meisten Fällen von einer medizinisch-therapeutischen Blickrichtung geprägt, so dass Drogenkonsumenten in erster Linie im Lichte des Krankheitsmodells erscheinen und mit verschiedenen Entwicklungsdefiziten assoziiert sind. Aus dieser Tatsache resultiert allerdings ein perspekti1
Zur Rolle der Massenmedien im Drogendiskurs vgl. Baratta 1990: 5ff.; Schmidt-Semisch 1990: 69ff.
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visch verengter Blick auf das Phänomen des Drogengebrauchs (vgl. Kemmesies 2004: 18f.; Reuband 1994: 25). Zum anderen stützen sich die empirischen Forschungen in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle auf Konsumentengruppen, die entweder therapeutisch und/oder strafrechtlich auffällig wurden. Auch hieraus folgt ein selektiver empirischer Forschungszugang (vgl. Dollinger 2002: 13; Kemmesies 2004: 18; Reuband 1994: 25f.; Schmerl 1984: 67; Weber/ Schneider 1997: 19; Werse u.a. 2005: 203f.). Dieser Umstand bringt grundsätzliche Probleme mit sich, da sich die Untersuchungsbasis aus Drogengebrauchern rekrutiert, die sich im Vergleich zum „Normalbürger“ in einer „schwierigen“ Lebenssituation befinden und die oftmals – was angesichts von Kriminalisierungserfahrungen auch nicht verwunderlich sein dürfte – auch mehr „Probleme“ haben (vgl. Reuband 1994: 26). Problematisch ist dieser Sachverhalt besonders dann, wenn trotz des selektiven Forschungszugangs die Behauptung aufgestellt wird, dass die eigenen Forschungsarbeiten Allgemeingültigkeit beanspruchen können und das Phänomen des Drogenkonsums in seiner ganzen Bandbreite und Differenziertheit repräsentieren. An dieser Stelle kann exemplarisch auf die Ausführungen Täschners (2005) verwiesen werden, der in seiner im Jahr 2005 in der vierten Auflage erschienenen Monographie über Cannabis die Ambitionen vertritt, „alle Aspekte der Rauschdroge Cannabis“ (ebd.: V) und „neue Erkenntnisse“ (ebd.) zusammenzufassen, um so „eine Informationslücke zu füllen“ (ebd.), die es in der CannabisForschung gibt. Auf diese Weise „soll dem kritischen Leser (...) ein eigenes Urteil über das Cannabisproblem“ (ebd.: VI) zugestanden werden. Auf über 300 Seiten bekommt man dann auch jegliche Information über die Gefährlichkeit von Cannabis, von den Wirkungen beim Erstkonsum und möglichen Folgeschäden durch gewohnheitsmäßigen Konsum bis hin zum Einfluss von Cannabiskonsum auf die Fahrtauglichkeit und die Geschäftsfähigkeit (!). Leider wird aber damit der eigene Anspruch nicht realisiert, das Phänomen in seiner ganzen Bandbreite zu beschreiben. Denn die Erkenntnisse sozialwissenschaftlicher Forschungsarbeiten, die dokumentieren, dass „verschiedene Formen des Konsum von Cannabis (...) mit psychischer Gesundheit durchaus vereinbar zu sein scheinen“ (Kleiber/Soellner 1998: 141; s.a. Schneider 1996: 25) und dass entweder ein Probierkonsum oder ein kontrollierter und sozial-integrierter Gebrauch der Droge die Regel und nicht die Ausnahme darstellt, finden keine Erwähnung. Wenn in Täschners Werk auf sozialwissenschaftliche Arbeiten zurückgegriffen wird, dann nur, um diesen vorzuhalten, das „Drogenproblem“ zu bagatellisieren. So schreibt er: „Allerdings tendieren Sozialforscher (...), denen die klinische Wirklichkeit meist verschlossen bleibt, zu einer eher verharmlosenden Einschätzung der Cannabiswirkungen“ (Täschner 2005: 293). Wenn man sich aber aufgrund des persönlichen klinisch-therapeutischen Erfahrungs-
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schatzes gegenüber anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen immunisiert, dann führt dies nicht nur dazu, dass das Konstrukt des „pathologischen Drogenkonsumenten“ beständig reproduziert wird, sondern es wird auch der eigene Anspruch aufgegeben, dem kritischen Leser eine eigene Meinung zu überlassen. Wenn außerdem die fragwürdige These der Einstiegsdroge aufrechterhalten wird, dass also durch Cannabisgebrauch „die Schiene für die spätere Drogenkarriere (...) gelegt“ (ebd.: 300) wird, dann hat dies zur Folge, dass gängige „Drogenmythen“ (Schneider 1996) zementiert werden. Aus dem Faktum, dass die meisten Heroinkonsumenten am Anfang ihrer Drogenkarriere Haschisch konsumiert haben, kann nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass Cannabiskonsum einen ursächlichen Einfluss auf späteren Heroinkonsum hat (vgl. Quensel 1989: 391; Schneider 2004b: 258f.). Die traditionelle Drogenforschung produziert folglich ein verzerrtes Bild drogenkonsumierender Personen. In ihren Darstellungen werden nur die negativen Konsequenzen des Drogengebrauchs dargestellt, während die potentiellen positiven Aspekte keinerlei Erwähnung finden. Drogenkonsumenten erscheinen aufgrund des unzureichenden und selektiven Forschungszugangs als hilfsbedürftige, defizitäre und „andersartige“ Wesen. Dieser Sachverhalt wiegt umso schwerer, je weniger sozialwissenschaftliche Arbeiten Eingang in das Drogensystem erhalten. So hat beispielsweise die Zeitschrift „Sucht“, ihrerseits die Suchtzeitschrift mit der weltweit zweitgrößten Auflage, ein 14-köpfiges Redakteursteam, welches allein aus Medizinern und Psychologen zusammengesetzt ist (vgl. Quensel 2004: 82). Kemmesies (2004: 19) verweist darauf, dass sich in den Jahrbüchern zur Sucht- und Drogenproblematik, die von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen zwischen 1994 und 2003 herausgegeben wurden, „kein Artikel findet, der sich mit der Kehrseite eines problematischen Drogenkonsums – dem kontrollierten, nicht problematischen Umgang mit illegalen Drogen – auseinandersetzt“. Vor diesem Hintergrund ist die Frage zu stellen, wieso sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen kaum Einfluss im Drogendiskurs zugemessen und wieso weiterhin an einer Drogenverbotspolitik mit all ihren negativen Konsequenzen festgehalten wird. Einige Autoren suchen an dieser Stelle Anschluss an die Ausführungen Foucaults (vgl. Baratta 1990: 15ff.; Dollinger 2001: 93; 2002: 291ff.). Dieser stand bekanntlich vor einer ähnlichen Problematik, als er sich die Frage stellte, wieso man weiterhin an der Gefängnisstrafe festhält, wo doch deren Scheitern seit langem offensichtlich ist. Foucault (1994: 357) kommt dabei zu dem Ergebnis, dass man nicht (nur) das Versagen des Gefängnisses anprangern, sondern dessen „großartige Leistung“ würdigen müsse, da es diesem gelungen sei, „die Delinquenz als einen spezifischen, politisch und wirtschaftlich weniger gefährlichen und nützlichen Typ von Gesetzwidrigkeit zu produ-
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zieren“ (ebd.). Man darf folglich nicht nur auf das Scheitern der gegenwärtigen Kontrollbemühungen im Drogenbereich verweisen, sondern hat auch auf die latenten Funktionen und politischen Nutzeffekte hinzuweisen, die durch die herrschende Drogenpolitik hervorgebracht werden. Mit den Worten von Dollinger (2002: 293): „Im Diskurs über Drogen wird deren Existenz und das assoziierte Prinzip der Droge als ,Übel‘ als gesellschaftlich für verschiedene Interessen verwertbares Symbol produziert und instrumentalisiert“. Zwar lässt sich seit geraumer Zeit eine gewisse Entdramatisierung im Bereich der Drogenkontrolle registrieren (s. Kap. 8.2). Nähme man allerdings die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse ernst, so müsste es zu einem grundlegenden Wandel im Umgang mit Drogenkonsumenten kommen. Folglich muss man sich mit der Frage auseinandersetzen, wem es zum Nutzen gereicht, dass trotz der enormen kontraproduktiven Folgen an einem Drogenverbot festgehalten wird und weshalb bestimmte Gruppen und Akteure kein Interesse daran haben, das vorhandene sozialwissenschaftliche Wissen zur Kenntnis zu nehmen. Neben ökonomischen und politischen Nutzeffekten (s. Kap. 8.3.3) können bei der Beantwortung dieser Frage besonders wissenschaftsinterne und berufsständische Interessenlagen angeführt werden. Um es provokant zu formulieren: Der beständige Hinweis auf das Übel des Drogenkonsums liefert Wissenschaftlern, Medizinern, Sozialarbeitern, Therapeuten, Politikern, Polizisten und Juristen die Garantie eines Arbeitsplatzes. „All diese Personen und Institutionen profitieren von der Dramaturgie der Sucht, verdienen Geld, erlangen Reputation und Anerkennung. Und je größer dieser Sektor wird, desto deutlicher unterstreicht er die mutmaßliche Größe des Problems, zu dessen Bekämpfung wiederum neue, bessere und größere Truppen ins Feld geführt werden müssen“ (Schmidt-Semisch/Nolte 2000: 68). Es gehört eben zu einer der Paradoxien helfender Berufe, sich auf der einen Seite überflüssig machen und Hilfe zur Selbsthilfe anbieten zu wollen, auf der anderen Seite aber immer auch auf eine Klientel als Legitimationsgrundlage der eigenen Arbeit angewiesen zu sein (vgl. Gildemeister 1983). Die Institutionen des Hilfesektors unterliegen immer der Gefahr der „Klientelisierung“, da die Zuschreibung einer Hilfsbedürftigkeit die unabdingbare und notwendige Voraussetzung darstellt, um die eigenen Interventionsstrategien legitimieren zu können. In dieser Hinsicht können es sich die Institutionen des Drogenhilfesystems auch kaum leisten, Strategien einer politischen Anwaltschaft wahrzunehmen, um „den Status von Drogenkonsum als soziales Problem zu hinterfragen, da damit die eigene Legitimität als Institution in diesem Bereich außer Kraft gesetzt würde“ (Dollinger 2002: 334). Die Delegitimierung von Drogenkonsum als soziales Problem muss außerhalb der eigenen Verwertungsinteressen stehen.
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6.3
Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
Die „Verflüssigung“ eindeutiger Normalitätsstandards infolge soziokultureller und ökonomischer Transformationsprozesse
Ein dritter Punkt für den Niedergang wohlfahrtsstaatlicher Behandlungsmodelle kann in einer tendenziellen „Verflüssigung“ eindeutig feststehender Normalitätsstandards ausgemacht werden. Die Auffassungen dessen, was als normal zu betrachten ist, haben sich erheblich geweitet und die Vorstellungen davon, was als abweichend zu gelten hat, sind dementsprechend großzügiger geworden. In heutigen Gesellschaften werden Menschen immer weniger damit konfrontiert, ein Leben nach sozial vorgegebenen Regeln zu führen. Sie werden dazu aufgefordert, sich flexibel und innovativ gegenüber gesellschaftlichen Erwartungshaltungen zu positionieren und ihre Identität selbstverantwortlich zu „basteln“ (vgl. Hitzler/Honer 1994; s. Kap. 7.3). Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Differenzierung hat sich eine Vielzahl an normativen Strukturen herausentwickelt, die nebeneinander existieren und unterschiedliche Verhaltensanforderungen beinhalten. Die Gesellschaft integriert sich damit immer weniger über fest umrissene und generalisierte Normalitätsvorgaben, sondern sie flexibilisiert ihre normativen Gerüste und fordert die Individuen dazu auf, Normalität in einem permanenten Prozess der Selbststeuerung herzustellen (vgl. Link 1997). Dabei kann man zwei sich wechselseitig beeinflussende Entwicklungstendenzen beobachten, die zu dieser „Verflüssigung“ fest umrissener Normalitätsstandards beigetragen haben. Auf der einen Seite sind es kulturelle Transformationsprozesse der Pluralisierung und der Individualisierung, die die gesellschaftliche Selbstverständlichkeit der normativen Leitfiguren der männlichen Lohnarbeiterexistenz und der weiblichen Lebensform der Hausfrau und Mutter sowie das mit diesen Normalitätsmodellen verbundene Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie brüchig werden lassen. Angesichts des Ausbaus der sozialen Sicherungssysteme und eines Anstiegs des materiellen Wohlstands hat die Bedeutung traditioneller Versorgungssysteme (Klasse, Nachbarschaft, Familie) für das Handeln der Individuen abgenommen. Stattdessen lässt sich eine Pluralisierung von Lebensstilen und damit eine Zunahme individueller Entscheidungsfreiheit registrieren (vgl. Beck 1 1986) . Einige wenige Beispiele können an dieser Stelle genügen, um diese Ent1
Die von Ulrich Beck in seinem Buch der „Risikogesellschaft“ explizierten Thesen sind kritisch zu hinterfragen, allen voran dann, wenn Individualisierung und Pluralisierung als kontinuierliche Entwicklungstrends verallgemeinert werden (vgl. Dollinger 2006b; Scherr 1998). Die Annahme einer einheitlichen gesellschaftlichen Entwicklungsrichtung unterliegt immer der Gefahr, dass widersprechende Phänomene und diskontinuierliche Entwicklungsprozesse aus der Betrachtung ausgeklammert und einer Thematisierung entzogen werden. Wo Beck etwa einen
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wicklung zu demonstrieren: So hat sich etwa im Laufe des 20. Jahrhunderts die soziale Rolle der Frau verändert. Diese wird heute nicht mehr nur auf die Rolle der Hausfrau und Mutter reduziert. Demgegenüber sollen die Erwerbsmöglichkeiten von Frauen am Arbeitsmarkt erhöht werden. Seit einigen Jahren wird beispielsweise die Forderung einer Verbesserung der Kleinkinderbetreuung zur Mehrheitsmeinung, eine Forderung, die vor wenigen Jahrzehnten noch lautstarken Protest hervorgerufen hätte. Daneben wird nicht mehr mit allen Mitteln versucht, dem Leitbild der bürgerlichen Kernfamilie normativ Geltung zu verschaffen: Die Rechte von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften werden sukzessive erweitert, alleinlebende Personen müssen sich nur noch selten mit negativen Zuschreibungen auseinandersetzen und die Scheidung einer Ehe ist aufgrund rechtlicher Institutionalisierungsprozesse leichter zu vollziehen als noch vor einigen Jahrzehnten. Einer auf Inklusion ausgerichteten Politik sozialer Probleme wird durch diese Prozesse zunehmend die Grundlage entzogen. Dies liegt darin begründet, dass abweichendes Verhalten ohne eine als gültig erachtete Bezugsgröße der „Normalität“ nicht sinnvoll beschrieben werden kann (vgl. Groenemeyer 2003b: 35; Kreissl 2004a: 10). Im Rahmen des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements ist ein Konsens über klar konturierte Normalitätsstandards vorhanden und in diesem Sinne lässt sich auch Abweichung relativ problemlos identifizieren. Während damals aber „Scheidung, uneheliche Schwangerschaft, Arbeitslosigkeit oder häufiger Wechsel des Arbeitsplatzes als kriminologisch bedeutsame Merkmale sozialer Problemgruppen >galten@, so treffen diese heute auf einen erhebli„Abschied von Klasse und Schicht“ und damit eine abnehmende sozialstrukturelle Prägung individueller Lebensläufe konstatiert, da zeigen empirische Studien, dass die Chancen der individuellen Lebensgestaltung nach wie vor durch die soziale Lage beeinflusst werden und mit sozialer Ungleichheit in Zusammenhang stehen (vgl. Geißler 2006). Ebenso wenig wird die These eines fundamentalen Wandels von Familienstrukturen durch die empirische Realität bestätigt. Die Annahme der Auflösung der Familie ist „>i@rreführend“ (Schefold 2001: 1126). Zwar ist eine Pluralisierung familialer Lebensformen (kinderlose Ehen, nichteheliche Lebensgemeinschaften, Singles, Wohngemeinschaften usw.) zu beobachten, was zur Konsequenz hat, dass das Kleinfamilienmodell in seinem Monopolanspruch relativiert wird. Jedoch bleibt dieses für eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung ein zentrales Leitbild (vgl. Meyer 2002: 431). Die Ursachen für den „Monopolverlust der Familie“ (ebd.: 412) liegen folglich nicht in einer Abnahme ihrer Akzeptanz, sondern sie sind auf gesellschaftsstrukturelle Bedingungen zurückzuführen (z.B. verspätetes Heiratsalter angesichts verlängerter Ausbildungszeiten und längerem Verweilen im Elternhaus). Darüber hinaus kann ein historisch weiter zurückreichender Untersuchungszeitraum zeigen, dass pluralisierte Familienstrukturen nichts Neues sind. So waren am Ende des 19. Jahrhunderts von 10.000 Erwachsenen nur etwa die Hälfte verheiratet, während die andere Hälfte ledig, verwitwet oder geschieden war (vgl. Hering/Münchmeier 2000: 42). Um voreiligen Schlüssen („Niedergang der Kleinfamilie“) zu entgehen, ist deshalb ein langfristiger Zeitraum der Untersuchung zu wählen, da ansonsten Überzeichnungen kurzfristiger Transformationen drohen (vgl. Dollinger 2006a: 11).
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
chen Teil der Normalbevölkerung zu“ (Kreissl 2004a: 11). Dadurch, dass eindeutige Grenzen zwischen Normalität und Abweichung tendenziell zerfließen und unscharf werden, verliert auch eine auf Inklusion ausgerichtete Politik sozialer Probleme ihre Berechtigung. Ist es im Rahmen der wohlfahrtsstaatlichen Regulation der sozialen Ordnung eine zentrale Zielsetzung, abweichende Personengruppen zu normalisieren und an klar konturierte Normalitätsvorgaben anzupassen, dann erweist sich dieses Vorhaben dann als schwierig, wenn keine Einigkeit darüber vorherrscht, welches der gültige Normalitätsstandard sein soll. Auf der anderen Seite sind es aber besonders ökonomische Veränderungsprozesse, die zum Niedergang wohlfahrtsstaatlicher Behandlungsmodelle beitragen. Seit den 1970er Jahren werden Entwicklungen in Gang gesetzt, die hier nur mit Schlagwörtern wie Rationalisierung, Technisierung, Entindustrialisierung, Globalisierung oder Ökonomisierung angedeutet werden können. Infolge einer anhaltenden Beschäftigungskrise und einer stetig steigenden Arbeitslosigkeit geht die integrative Kraft des Normalarbeiterverhältnisses in zunehmendem Maße verloren. Der „Integrationsmodus der verschiedenen nationalen Gesellschaften [wird] an entscheidenden Stellen außer Kraft“ gesetzt (Kronauer 1997: 37). Unter den Bedingungen einer Strukturkrise des Arbeitsmarktes und einer Finanzkrise der öffentlichen Haushalte scheint „die Perspektive einer Reintegration aller in den Arbeitsmarkt, wenn nicht strukturell unmöglich, so doch nur auf Armutsniveau möglich“ zu sein (Schaarschuch 1999: 58). In dieser Hinsicht lassen sich mit Schaarschuch (ebd.) gesellschaftliche Spaltungen registrieren, die zu einer Bruchlinie zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen geführt haben: „Obwohl es sich bei dieser Spaltung nicht um eine Trennung in zwei scharf voneinander separierte gesellschaftliche Bereiche handelt, sondern zwischen diesen breite, flexible Übergangszonen existieren, besteht das entscheidende Kriterium für die Zugehörigkeit zum gesellschaftlichen Kern- oder Randbereich (...) in der schlichten Unterscheidung von ,Arbeit haben‘ bzw. ,keine Arbeit haben‘“.
Es entsteht eine Teilung der Gesellschaft in einen Kreis von Personen, die weiterhin über ein gesichertes legales Einkommen verfügen und diejenigen, die dauerhaft vom Arbeitsmarkt abgeschlossen sind, wobei sich in der Mitte eine breiter werdende Gruppe gebildet hat, die von prekären und oftmals unterbrochenen Formen der Erwerbsgelegenheit abhängig ist (z.B. Leiharbeiter, befristet Beschäftigte, Saisonarbeiter, moderne Formen des Tagelöhners usw.). Vor allem Qualifikation wird zu einem entscheidenden Zugangs- und Ausschlusskriterium am Arbeitsmarkt (vgl. Kronauer 1997: 28f.), so dass es vor allem wenig qualifizierte Arbeitskräfte sind, die sich mit einer „Rückkehr der Unsicherheit“ (Castel 2005: 54) auseinandersetzen müssen. Angesichts einer modernisierten und globalisierten Ökonomie bekommen diese Menschen immer öfters die Bot-
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schaft zu hören, dass man sie „überhaupt nicht mehr brauchen wird“ (Häußermann 1997: 22), da sie nicht die notwendige Ausbildung für die neuen technischen Industrien und die Dienstleistungsbereiche besitzen. Vor diesem Hintergrund hat sich in den USA und in Frankreich seit den 1980er Jahren ein Diskurs über eine neuartige Form der sozialen Ungleichheit in Gang gesetzt (vgl. genauer Häußermann 1997; Kronauer 1997). Mit Begriffen wie „underclass“ oder „exklusion“ wird dabei auf die Existenz einer Bevölkerungsschicht hingewiesen, die gänzlich vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen erscheint. Dabei zieht diese Ausgrenzung vom Erwerbssystem, wenn sie nicht innerhalb von kurzer Zeit überwunden werden kann, eine Verdichtung und Verstärkung von Ausgrenzungseffekten auch in anderen Bereichen – etwa in kultureller oder politischer Hinsicht – nach sich, so dass diese Bevölkerungsgruppe vom durchschnittlich erreichbaren Lebensstandard gänzlich abgeschnitten 1 wird . Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass die soziale Exklusion bestimmter Bevölkerungsteile, die sich oftmals entlang ethnischer Merkmale vollzieht, häufig auch mit räumlichen Segregationsprozessen verbunden ist. Die Ghettos in den USA oder die Vorstadtsiedlungen in Frankreich sind Sinnbild einer Entwicklung, in der sich eine Koppelung und gegenseitige Verstärkung von sozialer und räumlicher Polarisierung und Isolation feststellen lässt (vgl. genauer Häußermann 1997: 12ff.). Die Gesellschaft teilt sich damit „nicht länger in ein ,Oben‘ und ein ,Unten‘, sondern in ein ,Drinnen‘ und ein ,Draußen‘“ (Beckmann 2001: 54). Zwar ist Deutschland von den extremen amerikanischen und französischen Verhältnissen weit entfernt, jedoch verweisen Stadtsoziologen auch hierzulande auf eine bedeutsamer werdende Grenzziehung zwischen Inklusions- und Exklusionszonen (vgl. Beste 2004; Jahn u.a. 1997; Ronneberger 1998; 2000; Ronneberger u.a. 1999; Wehrheim 2002a; 2002b; s. Kap 8.3.3.2). Es ist einleuchtend, dass angesichts dieser kulturellen und ökonomischen Transformationsprozesse auch die gesellschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit einer Veränderung unterliegen muss; sie ist „nicht mehr linear am Ordnungsmodell der Arbeitsgesellschaft orientiert“ (Böhnisch 1984: 111). In der Li1
Während der Terminus der „underclass“ für die Beschreibung der US-amerikanischen Verhältnisse Verwendung findet, wurde der Ausdruck der „exklusion“ in Frankreich geprägt, wobei er heute im gesamten europäischen Sprachgebrauch benutzt wird (vgl. Kronauer 1997: 29). Mit Young (2005: 7) soll der Begriff der Exklusion im Folgenden als „ein multidimensionales Konzept“ verstanden werden, das „ökonomischen, politischen und räumlichen Ausschluss ebenso beinhalten kann wie einen mangelnden Zugang zu spezifischen Bereichen wie z.B. zu Information, medizinischer Versorgung, Wohnraum, Sicherheit etc. Diese Dimensionen werden als zusammenhängend und sich wechselseitig verstärkend betrachtet: Zusammengenommen beinhalten sie den Ausschluss von dem, was als die ,normalen‘ Bereiche der Teilhabe am Vollbürgerstatus betrachtet wird“.
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teratur wird die gegenwärtige Bedeutung der Sozialen Arbeit allerdings kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite stehen Autoren, die in den gesellschaftlichen Veränderungen eine Chance für die Soziale Arbeit sehen (vgl. z.B. Lüders/Winkler 1992). Angesichts der Tatsache, dass alle Individuen prinzipiell der Gefahr ausgesetzt sind, dass die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht länger zur eigenen Lebensführung ausreichen, habe es die Sozialpädagogik gegenwärtig nicht mehr nur mit einem „schwierigen“ Klientel zu tun. Vielmehr werde sie sukzessive von allen Bevölkerungsgruppen in Anspruch genommen. Darüber hinaus habe sich die Soziale Arbeit ihrer reaktiven Kontrollfunktion entledigt, da sie heute in vielen Fällen „präventive personenbezogene und infrastrukturelle Dienstleistungen übernimmt“ (ebd.: 364)1. Vor diesem Hintergrund konstatieren Lüders und Winkler (ebd.: 363), dass die Soziale Arbeit ihr ehemaliges schlechtes Image abgelegt habe, so dass man von einer „Normalisierung der Sozialpädagogik“ sprechen könne. Demgegenüber beobachten Bommes und Scherr (1996), die aus einer systemtheoretischen Perspektive argumentieren, eine zunehmende Tendenz der „Exklusionsverwaltung“. Die Versuche der Sozialen Arbeit, Exklusion zu vermeiden und Inklusion zu vermitteln, könnten nur in dem Maße gelingen, wie Arbeitsplätze vorhanden sind und Arbeitskräfte nachgefragt werden. Unter den Bedingungen struktureller Arbeitslosigkeit komme der Sozialen Arbeit gegenwärtig die Funktion zu, „die materiellen, sozialen und psychischen Folgen eines solchen Lebens jenseits der Erwerbsarbeit zu moderieren“ (ebd.: 116). Die zuständigen Institutionen hätten die Aufgabe, „Arbeitslosigkeit für die betroffenen Individuen in einer Weise zu gestalten (...), dass ihre Folgen nicht destruktiv auf andere Lebensbereiche wie die Familie, die Erziehung der Kinder oder die Gesundheit übergreifen und die arbeitslosen Individuen selbst nicht in Optionen devianter Bewältigung (z.B. Kriminalität) ausweichen und in selbstverstärkende deviante Karrieren abdriften“ (Bommes/Scherr 2000: 173f.). In ähnlicher Art und Weise, jedoch aus einer regulationstheoretischen Theorieperspektive, spricht Schaarschuch (1999: 64) der Sozialen Arbeit die Funktion des „Managements der gespaltenen Gesellschaft“ zu. An die Stelle ihrer bisherigen Funktion der Integration in das Modell der Lohnarbeit sei sie gegenwärtig mit „der flexiblen Vermittlung von Lohnarbeit und dauerhafter Nicht-Lohnarbeit, insbesondere aber der Bearbeitung des breiten Übergangsbereichs zwischen beiden“ beauftragt (ebd.: 63f.). Angesichts der ökonomischen Transformationsprozesse wird also einer auf Inklusion und Wiedereingliederung ausgerichteten Politik sozialer Probleme in 1
Zur Kritik an einem derartigen Präventionsverständnis s. Kap. 8.3.1.
Der Niedergang des Rehabilitationsideals seit den 1970er Jahren
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fundamentaler Weise die Grundlage entzogen. Ist es in Zeiten von Vollbeschäftigung, sicheren Arbeitsplätzen und wirtschaftlicher Prosperität eine Aufgabe von Normalisierungsinstitutionen wie der Sozialen Arbeit, die Integration von abweichenden Personengruppen in die Arbeitsgesellschaft sicherzustellen, so erweist sich dieses Vorhaben dann als problematisch, wenn eben diese Arbeitsgesellschaft angesichts ökonomischer und gesellschaftstruktureller Veränderungstendenzen selbst in eine Krise gerät und nicht mehr genügend Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, wie der Umgang mit abweichenden Personengruppen ausgestaltet werden soll, denn warum sollte man einen Drogenabhängigen therapieren oder „einen Straftäter sozialpädagogisch oder psychologisch behandeln, wenn seine Arbeitskraft (...) ohnehin nicht mehr gebraucht wird“ (Beste 2004: 172). Wenn nun aber die Feststellung getroffen wird, dass eine auf Rehabilitation und Wiedereingliederung ausgerichtete Politik sozialer Probleme ihre Vorrangstellung eingebüßt hat, dann stellt sich die Frage, welche anderen Kontrollmechanismen an ihre Seite getreten sind. Da soziale Kontrolle immer darauf abzielt, die zentralen Verhaltensanforderungen sicherzustellen, die dem Individuum innerhalb einer sozialen Ordnung abverlangt werden, lässt sich diese Frage nur beantworten, wenn man sich vor Augen führt, welche gesellschaftliche Erwartungen und Ansprüche in der Gegenwart an das Verhalten des Einzelnen gestellt werden. Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass sich im Zuge einer neoliberalen „Ökonomisierung des Sozialen“ (Bröckling u.a. 2000) der „Vorsorgestaat“ in einen „aktivierenden Staat“ verwandelt, der seine Bürger in die Freiheit der Selbstsorge entlässt, was zur Folge hat, dass sich das „rationale“, „flexible“ und „autonome“ Subjekt als neue gesellschaftliche Leitfigur herauskristallisiert.
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Die Restrukturierung des Sozialen durch neoliberale Rationalitäten
7.1
Egalitarismus und die Moral der Bereitwilligkeit „Ich glaube, dass wir eine Zeit durchlebt haben, in der zu vielen Menschen zu verstehen gegeben wurde, dass für ihre Probleme die Regierung zuständig ist. ,Ich habe ein Problem. Ich werde eine Unterstützung bekommen‘ ,Ich bin obdachlos. Die Regierung muss mir eine Unterkunft beschaffen‘ Sie schieben ihre Probleme auf die Gesellschaft. Dabei gibt es so etwas wie Gesellschaft gar nicht. Es gibt einzelne Männer und Frauen und es gibt Familien“ (Margaret Thatcher, ehemalige britische Premierministerin).
Seit geraumer Zeit werden sowohl aus dem linken als auch aus dem rechten Lager kritische Stimmen gegen das wohlfahrtsstaatliche System erhoben. Beklagen die einen, dass der Sozialstaat bestehende soziale Ungleichheitsstrukturen konserviert und dass dies zur Verhärtung politischer Herrschaft führt, so wird er von den anderen für die Erosion traditioneller Werte und sozialer Orientierungen verantwortlich gemacht (vgl. Lemke 1997: 239f.). Dabei sind es vor allem neoliberale Kritiker, die „auf eine hegemonial äußerst einflussreiche Art und Weise die Meinungsführerschaft innerhalb dieser Gruppe von Wohlfahrtsskeptikern übernommen haben“ (Kessl 2005b: 31)1. Die soziale Wirklichkeit wird gegenwärtig durch die politische Rationalität des Neoliberalismus in eine spezifische Form gebracht und auf eine neuartige Weise programmiert (vgl. Kessl/Otto 2003) 2. Im Folgenden soll diese neoliberale Denkweise näher beleuchtet werden. Dabei wird gezeigt, in welcher Art und Weise der Neoliberalismus die Probleme des Sozialstaats beschreibt, welche Lösungen er für diese Probleme anbietet und wie durch diese neoliberalen Deutungsmuster die gesellschaftliche Realität auf eine neue Art und Weise strukturiert wird. 1
2
Mit Krasmann und Lehne (1998: 93, Fn. 7) wird im Folgenden Neoliberalismus „verstanden als Zusammenwirken von wirtschaftlichen Theorien, staatlichen Politiken und Unternehmensstrategien, die sich durch die Grundprinzipien des freien Kapital- und Güterverkehrs auszeichnen und die Rolle staatlicher Steuerung weitgehend darauf begrenzt sehen, günstige Rahmenbedingungen für die Teilnahme auf einem freien (Welt-) Markt zu schaffen“. Mit Krasmann (2003b: 300) kann der Begriff „politische Rationalität“ folgendermaßen charakterisiert werden: „Eine politische Rationalität beinhaltet eine bestimmte Art und Weise, Probleme zu stellen und Problemlösungen dafür bereit zu stellen. Sie ist eine Weise des Denkens, die die Wahrnehmung von Problemen entsprechend strukturiert“.
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
Wie bereits geschildert (s. Kap. 6.3), ist das wohlfahrtsstaatliche Gefüge seit den 1970er Jahren durch Globalisierungsprozesse, eine Krise der Finanzsysteme und einem damit einhergehenden Anstieg der Arbeitslosigkeit brüchig geworden1. Von neoliberaler Seite wird diese Problematik der Erwerbssysteme weniger als eine Folge gesellschaftsstruktureller Veränderungsprozesse (Rationalisierung, Automatisierung, Technisierung usw.) und einem daraus resultierenden Fehlen einer millionenfachen Zahl von Erwerbsarbeitsplätzen verhandelt. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die unzureichende Beschäftigungsfähigkeit bestimmter Gruppen in erster Linie durch den Wohlfahrtsstaat und seine Institutionen selbst verursacht wird. Exemplarisch können hierfür die Aussagen von Tietmeyer (2001: 26), einem Vertreter der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, herangezogen werden: „Natürlich braucht Deutschland auch in Zukunft einen Sozialstaat, der Chancen für alle ermöglicht. Aber wenn der (Sozial-)Staat die Leistungsbereitschaft und Selbstverantwortung der Menschen durch Überregulierung und übermäßige Abgabenlast erstickt, beraubt er sich selbst seiner eigenen wirtschaftlichen Grundlagen. (...) Die Voraussetzung sozialer Sicherheit liegt also in der Initiative des Einzelnen und dem funktionierenden Wettbewerb. (...) Es ist nicht sozial, sondern ungerecht, wenn leistungswilligen Sozialhilfeempfängern durch starre Regeln die Chance genommen wird, auf eigenen Beinen zu stehen. Es ist ebenso unsozial, die Menschen durch Dauersubventionen abhängig zu machen, statt ihre Eigeninitiative und Eigenvorsorge zu stärken“.
Der Wohlfahrtsstaat, so lautet der einhellige neoliberale Tenor, habe eine „Kultur der Abhängigkeit“ und eine „Vollkaskomentalität“ geschaffen und verhindere somit geradezu, dass die Menschen sich eigenverantwortlich um ihre Probleme kümmern können. Dabei ist zu beobachten, dass dieser Sachverhalt – häufig 1
An dieser Stelle ist der Hinweis notwendig, dass man es hier keineswegs mit naturwüchsigen und unabwendbaren Entwicklungen zu tun hat, wie in politischen und massenmedialen Diskursen oftmals mit dem Verweis auf das Schlagwort der „Globalisierung“ behauptet wird. In solchen Reden wird suggeriert, dass sich Globalisierung als ein unaufhaltsam wirkender Zwang und scheinbar ohne Alternativen vollzieht. Allerdings wurden diese Prozesse erst durch politische Entscheidungen initiiert. Sie basieren auf „wirtschafts-, währungs- und finanzpolitischen Weichenstellungen der mächtigsten Industriestaaten. (...) In der Form, die sie heute angenommen hat, ist ‚Globalisierung‘ das Werk neoliberaler Ökonomen, liberalkonservativer Politiker und wirtschaftlicher Interessengruppen“ (Butterwegge 2005, 28). Diskurse über den unvermeidlichen Sachzwang von Globalisierung verdecken folglich die darin angelegten politischen Strategien und tragen zur Entpolitisierung bei. In dieser Hinsicht dient Globalisierung den politischen Akteuren „als allseits verwendbare Legitimationsformel, mit der ein unhintergehbarer Veränderungsdruck beschworen wird – für die Gesellschaft, einen bestimmten Staat und seine Regierung, eine Stadt oder Region wie für jede(n) Einzelne(n). Die Globalisierung sei eben ‚unser aller Schicksal‘. Einzelne Reformschritte werden so zur ‚Schicksalsfrage‘ hochstilisiert (...) und (...) die damit verbundenen gravierenden sozialen Eingriffe als ‚unausweichlich‘ legitimiert“ (Görg 2004: 109).
Die Restrukturierung des Sozialen durch neoliberale Rationalitäten
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im Verbund mit einer konservativen Theoriearchitektur – oftmals als ein moralisches Problem der subjektiven Lebensführung verhandelt wird und in dieser Hinsicht durch stigmatisierende Kategorien „wie Sozialschmarotzer oder soziale Hängematte“ (Kreissl 2000: 34) despektierlich konnotiert ist. Wie Becker und Wiedemeyer (2003: 211) es drastisch formulieren, sehen neoliberale und neokonservative Theoretiker die Aufgabe des Staates darin, dass „,Zurücklehnen‘ in sozialstaatliches Anspruchsdenken zu verhindern und der passiven Hängemattenkultur eines asozialen Schmarotzertums den Riegel vorzuschieben“. War nach dem Zweiten Weltkrieg die Parole „ökonomische Kontrolle und soziale Befreiung“ gewesen, so lauten die Rahmenbedingungen, die durch die neoliberale Politik vorgegeben werden, nunmehr „ökonomische Freiheit und soziale Kontrolle“ (vgl. Garland 2008: 192)1. Der Neoliberalismus zeichnet sich dabei durch ein spezifisches Gesellschafts- und Menschenbild aus. Im neoliberalen Denken wird eine eigenständige Existenz des „Sozialen“ vollständig negiert. Es wird davon ausgegangen, dass sich die „Gesellschaft“ aus atomisierten Individuen konstituiert. Individuen, so die zentrale Annahme, handeln ausschließlich nach einem Kosten-Nutzen-Kalkül, d.h. sie führen eine Handlung immer dann aus, wenn der erwartete Nutzen dieser Handlung größer ist als derjenige Nutzen, den sie realisieren könnten, wenn sie ihre Zeit für andere Aktivitäten einsetzen würden. Für den Zusammenhang dieser Arbeit erscheint dabei eine wesentliche Implikation dieses Menschenbildes bedeutsam: Angesichts der Repräsentation der Individuen als rational handelnde Akteure wird implizit die Behauptung vertreten, dass alle Menschen prinzipiell die gleichen Chancen und Fähigkeiten bei der Entscheidung für eine bestimmte Handlungsoption besitzen. Die damit einhergehenden Folgen liegen auf der Hand, denn vor dem Hintergrund der Unterstellung eines univer1
Eine moralisierende Individualisierung sozialer Problemlagen ist dabei vor allem im US-amerikanischen Diskurs im Rahmen der „underclass“- Debatte besonders ausgeprägt. Armut, Arbeitslosigkeit und andere soziale Probleme werden hier ursächlich mit einer moralisch unangemessenen Lebensführung oder mit der mangelnden Leistungsbereitschaft des Einzelnen assoziiert (vgl. Garland 2008: 189ff.; Reinarman/Levine 1997b: 37; Rose 2000: 100f.; Young 2005: 8). Auch wenn hierzulande dieses Wahrnehmungsschema nicht in dieser ausgeprägten Form vorhanden ist, so findet seit einiger Zeit auch bei uns, vor allem im Rahmen massenmedialer Berichterstattung (vgl. Kessl 2005b: 35ff.), aber auch in der Wissenschaft – an dieser Stelle wären etwa die Ausführungen des Historikers Paul Nolte (2003) zu nennen, der den Konsum von „Fastfood“ und „TV“ als die „wahren“ Probleme unserer Gesellschaft betrachtet – die Rede über problematische und unzivilisierte Lebensweisen der „neuen Unterschicht“ Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs. „In der Bundesrepublik habe sich in den letzen Jahrzehnten eine Bevölkerungsgruppe ausgebildet, so die Diagnose, die kein Interesse an den Werten der bürgerlichen Gesellschaft mehr habe und stattdessen abgesichert durch sozialstaatliche Transferzahlungen ,unzivile‘ und ,unvernünftige‘ Lebensverhältnisse pflege“ (Kessl 2005c: 30).
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
salistischen Egalitarismus „wird gesellschaftliche Teilhabe zu einer Frage der Bereitwilligkeit: Weil es keine Unterschiede gibt, gibt es nur Chancen, und die Chancen, die jeder hat, kann jeder nutzen. (...) Mangelnder Erfolg ist im Umkehrschluss nur ein Mangel der Bereitwilligkeit und Scheitern eine Fehlleistung des echten Willens“ (Krasmann 2003: 221) – „der Mensch ist nicht nur seines Glückes, sondern auch seines Unglückes Schmied“ (Dinges/Sack 2000: 50). Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, welche Folgen diese neoliberale Rationalität für die Denk- und Bearbeitungsweise sozialer Probleme hat.
7.2
Von der sozialen zur versicherungsmathematischen Gerechtigkeit
Der Sozialstaat ist allerdings nicht nur ein Objekt der Kritik, sondern auch längst ein Objekt praktischer Veränderungen geworden. Diese Transformationen können als ein „Um- und Rückbau des Sozialstaates“ (Dahme/Wohlfahrt 2005: 10) charakterisiert werden. Im Rahmen der neoliberalen Programmatik soll der Staat durch den Markt substituiert werden: „[D]as bedeutet im Ökonomischen Flexibilisierung von Produktion und Arbeitsrecht und eine möglichst geringe Steuerbelastung, im Politischen De-Regulierung und Privatisierung bisher staatlich wahrgenommener Aufgaben und eine weitgehende Reduktion sozialstaatlicher Leistungen“ (Legnaro 2000b: 202). Das politische Programm des Neoliberalismus kann mit den Schlagwörtern der „Responsibilisierung“ (Krasmann 1999: 112; im Original hervorgehoben) und der „Aktivierung“ (Kocyba 2004) auf den Begriff gebracht werden. Der Staat privatisiert sukzessive die Verantwortung für die Bearbeitung sozialer Risiken und delegiert diese „in die subjektive Verantwortung einzelner Personen (Individuen), nahräumlicher Lebensgemeinschaften (Familien) oder sozialkartographisch ausgewiesener sozialer Netzwerke (Stadteile, Nachbarschaften)“ (Kessl 2005b: 33). Die individuellen und kollektiven Subjekte sollen mobilisiert werden, sich an der Lösung sozialer Probleme in aktiver Eigenregie zu beteiligen. „Kostenträchtige Aufgaben verlagern sich kaskadenförmig von oben nach unten, vom Staat an die Länder, von dort an die Kommunen und schließlich an die zur individuellen oder kollektiven Selbstsorge auf eigene Kosten angehaltenen Bürger“ (Kreissl 2004b: 38). Fungierte der Staat innerhalb der wohlfahrtsstaatlichen Regulation der sozialen Ordnung noch als der zentrale Akteur, der – weitestgehend unabhängig von eigenem Verschulden – das Recht garantierte, für die Teilhabe und soziale Sicherheit aller Bürger zu sorgen, so schiebt sich nun an die Stelle dieser sozialen Gerechtigkeit in zunehmendem Maße eine neue Rationalität, die sich mit Schmidt-Semisch (2000: 170) als „versicherungsmathematische Gerechtigkeit“
Die Restrukturierung des Sozialen durch neoliberale Rationalitäten
173
bezeichnen lässt. Wird innerhalb der Sozialversicherung soziale Gerechtigkeit über eine „erzwungene Solidarität von ‚Risikoungleichen‘“ generiert, so wird innerhalb der über den Markt vermittelten Grammatik der versicherungsmathematischen Gerechtigkeit eine „freiwillige Solidarität von Risikogleichen“ (ebd.) erzeugt. Am Beispiel der Absicherung gegen Krankheit kann dieser Unterschied stark vereinfacht und idealtypisch dargestellt werden. Innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung wird der größte Teil der Bevölkerung zwangsversichert, so dass ein heterogenes Versicherungskollektiv entsteht. Die Kompensation einer Krankheit erfolgt unabhängig von den verschiedenen Risikounterschieden der Versicherten, sondern ist am Einkommen und an der Bedürftigkeit des Einzelnen ausgerichtet. Jedem soll – unabhängig von seinem individuellen Risikokombinatorium – das Recht auf medizinische Hilfe und/oder eine monetäre Entschädigung zugestanden werden. So erhält etwa der in der Großstadt lebende, übergewichtige Raucher beim Auftreten einer Krankheit die gleiche Entschädigungsleistung wie derjenige, der auf dem Land lebt, sich gesund ernährt und regelmäßig Sport treibt. Dies gilt unabhängig von der Geldsumme, die beide in den Versicherungstopf eingezahlt haben. Zentrales Prinzip ist hier also die vom Staat erzwungene Solidarität, wobei der grundlegende Mechanismus in der Umverteilung der Geldmittel von den Bedürftigen bzw. Gesunden zu den weniger Bedürftigen bzw. Kranken liegt. Die letzteren bekommen demnach in der Regel mehr Geld aus dem gemeinsamen Versicherungsfonds, als sie eingezahlt haben. Ganz anders verhält es sich dagegen, wenn die Absicherung gegen Krankheit nach der Logik der versicherungsmathematischen Gerechtigkeit hergestellt wird. Zwar gibt es auch hier die Risikoungleichheit des Versichertenkollektivs, jedoch versucht man diese dadurch auszugleichen, indem der Versicherte je nach seinem individuellen Risikokombinatorium einen adäquaten Beitrag zu entrichten hat. Ein hohes persönliches Risiko, in der Zukunft zu erkranken, muss demnach durch eine höhere Beitragszahlung ausgeglichen werden, ein niedriges Risiko mit einer niedrigeren Beitragszahlung. Durch diese gestaffelten Versicherungsprämien wird ein homogenes Versichertenkollektiv generiert. So hätte der Raucher aus dem obigen Beispiel eine höhere Risikoprämie zu investieren, da sich durch die Kombination der Risikofaktoren Rauchen, Übergewicht und Stadtleben im Vergleich zu den Risikofaktoren gesunde Ernährung, sportliche Betätigung und Landleben eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Krankheit berechnen lässt. Eine perfekte versicherungsstatistische Risikoberechnung, die es ermöglicht, das Krankheitsrisiko jedes einzelnen Versicherten exakt im voraus zu berechnen und die Beiträge entsprechend zu bemessen, geht folglich mit einem Ende der Solidarität einher, da eine Umverteilung nicht mehr stattfindet.
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Je mehr die Wahrnehmungsweise sozialer Probleme von neoliberalen Denkweisen durchdrungen wird, desto häufiger ist die Beobachtung zu machen, dass sich die Grammatik der über den Markt vermittelten versicherungsmathematischen Gerechtigkeit immer weiter ausbreitet. Die folgenden Ausführungen werden dokumentieren, dass in diesem Zusammenhang zwei grundlegende Veränderungen zu konstatieren sind: Zum einen wird das „welfare-regime“ in ein „workfare-regime“ transformiert (s. Kap. 7.2.1); zum anderen wird ein präventives Verständnis wohlfahrtsstaatlicher Interventionen beworben (s. Kap. 7.2.2).
7.2.1
Vom „Welfare“- zum „Workfare-Staat“
Seit geraumer Zeit hat sich das sozialstaatliche Verhältnis von Rechten und Pflichten verschoben. Beispielhaft können an dieser Stelle die Veränderungen im gesellschaftlichen Umgang mit arbeitslosen Menschen angeführt werden. Wie bereits erwähnt, wird die Problematik der Arbeitslosigkeit gerade nicht darin gesehen, dass für bestimmte Personengruppen angesichts von strukturellen Prozessen der Rationalisierung und Technisierung massenweise Arbeitsplätze weggefallen sind. Vielmehr wird „Arbeitslosigkeit (...) als ein Phänomen verstanden, auf das (...) regulierend einzuwirken ist, indem man die Bemühungen der Betroffenen forciert, Arbeit zu finden, und sie verpflichtet, unablässig und aktiv nach einem Arbeitsplatz zu suchen und ihre beruflichen Qualifikationen zu verbessern“ (Rose 2000: 92f.). Vor diesem Hintergrund ist unter den Leitlinien „Fördern und Fordern“ und „Keine Rechte ohne Pflichten“ nach den Vorschlägen der Hartz-Kommission in Deutschland eine „aktivierende Arbeitsmarktpolitik“ (Völker 2005) installiert worden, welche die Gewährung einer Hilfeleistung 1 vom Einhalten spezifischer Vorbedingungen abhängig macht . Stand innerhalb des alten Modells das Recht einer menschenwürdigen gesellschaftlichen Teilhabe im Vordergrund, so wird dieses Recht dem Arbeitslosen nun erst zugestanden, wenn er bereit ist, bestimmte „soziale“ Pflichten zu erfüllen (z.B. Annahme jeder „zumutbaren“ Arbeit, aktive Mitwirkung an allen Maßnahmen zu seiner Eingliederung in Arbeit, Zurücknahme von Leistungsansprüchen). Die wesentliche Veränderung besteht also darin, dass „die Leistungsgewährung strikt an die Erbringung einer Gegenleistung“ (Dahme/Wohlfahrt 2005: 10) gebunden wird, ihre Bewilligung vom „Engagement der Leistungsbezieher“ (Kocyba 2004: 20) abhängig gemacht wird. Wird diese Gegenleistung und der für notwendig erachtete Einsatz hingegen nicht erbracht, ist also der Arbeitslose nicht bereit, sich aktivieren zu lassen, so hat er mit empfindlichen Sanktionsmaßnahmen zu rech1
Zur Kritik am Aktivierungskonzept vgl. Dahme/Wohlfahrt 2005; Völker 2005.
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nen, was etwa bei Hilfsbedürftigen unter 25 Jahren dazu führen kann, dass Sozialleistungen gänzlich gestrichen werden (vgl. Völker 2005: 75). Dabei ist zu berücksichtigen, dass dieser Aktivierungsdiskurs nicht auf den Arbeitsmarkt beschränkt bleibt, sondern letztlich alle Bereiche des Wohlfahrtstaats durchzieht (vgl. Opielka 2004: 86f.)1. Im Bereich der Arbeitsmarktpolitik werden diese Veränderungen als ein Umbau vom Welfare- zum Workfare-Staat („Arbeit statt Sozialhilfe“) diskutiert. Staatliche Transferleistungen sollen durch aktivierende und die individuelle Eigenverantwortung stärkende Handlungsstrategien substituiert werden, wobei diese primär die Integration in den ersten Arbeitsmarkt als Zielsetzung haben. Die Förderung der Beschäftigungsfähigkeit („employability“) wird von den politisch Verantwortlichen zum normativen Leitbild erklärt (vgl. Wendt 2006). Soziale Unterstützung soll nicht mehr unbedingt in monetärer Form geleistet werden, sondern wird beispielsweise durch die Finanzierung von Qualifikationsund Trainingsmaßnahmen als Investition in das Humankapital ausgewiesen. Für den Einzelnen hat dies beträchtliche Konsequenzen: Vor dem Hintergrund, dass sich die wirtschaftlichen Anforderungen immer schneller wandeln und in dieser Hinsicht die eigenen fachlichen Qualifikationen immer rascher abgewertet werden, wird vom Individuum lebenslanges Lernen, d.h. die Bereitschaft zu einer ständigen Um- und Weiterbildung eingefordert. Es handelt sich dabei allerdings nicht um eine Bildung, die den Einzelnen zu einer reflexiven Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen und Werten anleitet, wie das die kritische Bildungstheorie beabsichtigte, sondern um eine Bildung des Individuums unter dem Gesichtspunkt der Fabrikation ökonomisch erforderlicher Eigenschaften und Fähigkeiten (vgl. Scherr 2006). Dabei trägt dieses Bildungskonzept starke Züge der Individualisierung in sich, da jede Person selbst für die Erzeugung und Bewahrung der Beschäftigungsfähigkeit verantwortlich gemacht wird.
7.2.2
Vom kurativen zum präventiven Verständnis wohlfahrtsstaatlicher Interventionen: das Beispiel „Gesundheitspolitik“
Im Rahmen der gegenwärtigen Veränderungen mutiert der „Sozialstaat zum Präventionsstaat“ (Kappeler 2005). Der Politik der Aktivierung wird ein präventives Verständnis wohlfahrtsstaatlicher Interventionen zur Seite gestellt, so dass 1
Beispiele sind die Einführung von Studiengebühren im Bereich der Hochschulpolitik, die Privatisierung von Zahnersatz und die Selbstbeteiligung an Kosten für Medikamente und Arztbesuche im Sektor des Gesundheitswesens oder die Riester-Rente als staatliche geförderte Privatisierung im Bereich der Rentenpolitik.
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
Begriffe wie Vorbeugung, Vorsorge oder Prophylaxe in allen gesellschaftlichen Bereichen eine geradezu inflationäre Verwendung finden. Bröckling (2004a: 65) erklärt diese Transformationen folgendermaßen: „Prävention gehorcht dem Imperativ einer ,ökonomischen Regierung‘ (...). Ihre Legitimation bezieht sie aus dem Versprechen, die gewünschten Effekte mit weniger Aufwand bzw. mit dem gleichen Aufwand größere Effekte zu erzielen als kurative Maßnahmen, Sanktionierung von Abweichungen oder Schadenskompensation. Vorbeugen ist besser, nicht zuletzt weil es billiger ist“.
Über die Implementierung präventiver Politiken, so der Wunsch, soll letztendlich verhindert werden, dass die Zahlung einer Versicherungsleistung überhaupt notwendig wird. Anstelle eines „kurativen und konsumtiven Charakters der (...) Sozialpolitik wird ein präventives und investives Verständnis wohlfahrtsstaatlicher Interventionen beworben. Statt gewissermaßen auf den Eintritt sozialer Risiken zu warten und die davon Betroffenen mit rentenähnlichen Leistungen zu alimentieren, gelte es, dem Abstieg von Bürgerinnen und Bürgern zum ,Sozialfall‘ vorzubeugen und in deren Fähigkeit zum produktiven Umgang mit allfälligen Marktrisiken zu investieren“ (Lessenich 2005: 24). Der Einzelne soll aus der fürsorglichen wohlfahrtsstaatlichen Belagerung in die Freiheit der Selbstsorge entlassen und gleichzeitig befähigt werden, sich kompetent und klug in Bezug auf die Risiken des Lebens zu verhalten, um deren Eintritt möglichst zu unterbinden. „Prävention wird (...) zunehmend zur Sache der Individuen, die gehalten sind, sich selbst ökonomisch zu regieren“ (Bröckling 2004a: 65). Dieses Präventionsverständnis wird wohl nirgends deutlicher sichtbar als an der gegenwärtigen Konstruktion von Gesundheit und Krankheit. War es einmal ausreichend gewesen, zum Arzt zu gehen, nachdem körperliche Beschwerden eingetreten sind, so wird diese Maßnahme der Gesundheitserhaltung heute als unzureichend beurteilt, wie sich besonders an der Inflation von Vorsorge-Untersuchungen beobachten lässt (vgl. Schmidt-Semisch 2002: 79f.; 2004: 224). Der Fokus gesundheitsbezogenen Handelns hat sich somit von der Heilung zur Prävention verschoben. „Anstelle der Behandlung von Krankheit rückt immer mehr die Erhaltung von Gesundheit ins Zentrum“ (Jungbauer-Gans/Schneider 2000: 217). Einer noch nicht eingetretenen Krankheit soll durch möglichst frühzeitige Intervention begegnet werden, mit der Folge, „dass die Existenz eines medizinischen Problems weit vor dem Zeitpunkt des Ausbruchs einer Krankheit ange1 setzt wird“ (Greco 2000: 281) . Die wichtigsten Implikationen eines derartigen 1
Wie Lemke (2000b: 248) zeigt, wird durch die „Erfolge“ und „Fortschritte“ der Gentechnik die Pflicht zur Vorsorge nicht mehr nur zu einer Aufforderung, die mit der Geburt eines Individuums beginnt, sondern der Zeitpunkt der Bekämpfung bestimmter Krankheitsrisiken wird, etwa durch Techniken wie die pränatale Diagnostik, in den Mutterleib vorverlagert. „Allerdings
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Präventionsverständnisses sollen im Folgenden zumindest ansatzweise diskutiert werden1. Unter Prävention wird gegenwärtig in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle hauptsächlich Verhaltens- und nicht Verhältnisprävention verstanden. Getreu dem neoliberalen Menschenbild eines gleich verteilten Potentials an Chancen beziehen sich die gegenwärtigen Präventionspolitiken demnach selten auf die sozialen Hintergründe von bestimmten Problemlagen. Deren Ursprung wird vielmehr im Individuum und dessen Verhaltensweisen lokalisiert (vgl. Kappeler 2005: 31; Lemke 2004: 93; Schmidt 2000: 346f.), wobei diese Entwicklung im Gesundheitsbereich angesichts der Interessenpolitik der „Risikofaktoren-Medizin“ (Bertrand/Kuhlmann 1995: 51; Schmidt-Semisch 2004: 224) forciert wird. Folglich geht es weniger um eine Verbesserung von gesellschaftspolitischen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen oder um die Etablierung von möglichst gesundheitsgerechten Lebensbedingungen für alle Menschen, wie dies etwa noch in der 1986 verabschiedeten „Ottawa Charta“ der Weltgesundheitsorganisation explizit gefordert wurde (vgl. genauer Schmidt 2000: 349ff.). Stattdessen wird unter Prävention vor allem die auf der individuellen Ebene angesiedelte Modifizierung von Risikofaktoren und der subjektiven Befindlichkeit verstanden. „Nach dieser Vorstellung verfügt jedes Individuum über eine Fähigkeit zur Vorbeugung gegen das Eintreten von Krankheiten“ (Greco 2000: 281). Pointiert formuliert wird in den heutigen Präventionsdiskursen die Botschaft transportiert, dass eine Krankheit – unabhängig davon, unter welchen ungünstigen Wohn-, Lebens-, oder Arbeitsbedingungen der Einzelne auch immer zu leiden hat – jederzeit verhindert werden kann, wenn das Individuum nur bereit ist, sich stets über die Risiken des Lebens zu informieren und diesen aktiv vorzubeugen (vgl. Schmidt-Semisch 2000: 174). „Galt etwa Krebs in den 1970er Jahren vor allem als Folge von schädlichen Umwelt- oder Arbeitsbedingungen, so wird er heute zunehmend als Resultat ‚schlechter‘ Gene oder Lebensgewohnheiten (wie Rauchen, Trinken, mangelnde Bewegung etc.) wahrgenommen“ (Lemke 2004: 93). Gesundheit erscheint in dieser Hinsicht nicht einfach als etwas, was man hat oder nicht hat, sondern diese wird prinzipiell zu einer „wählbaren Kategorie“ (Legnaro 2001: 125). Die Aufrechterhaltung von Gesundheit wird abhängig gemacht vom Engagement und von der Mitwirkung des Individuums, das angehalten ist, ein vorausschauendes Informations- und Risikomanagement zu betreiben
1
zielt hier die ‚Behandlung‘ nicht auf die Bekämpfung konkreter Krankheiten, sondern auf die Verhinderung der Existenz ‚kranker‘ Individuen, das heißt von Menschen, die als genetisch abweichend diagnostiziert werden. Mit anderen Worten: Krankheitsprävention bedeutet Abtreibung“ (s.a. Bertrand/Kuhlmann 1995). Zu einer detaillierten Auseinandersetzung mit der Thematik von Prävention s. Kap. 8.3.1.
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
und einen gesundheitsgerechten Lebensstil zu pflegen. Gesundheit wird auf diese Weise zu einer Angelegenheit der Einstellung des Willens, während Krankheit als selbst verschuldeter Zustand erscheint. „Wo Krankheit auftritt, gibt sie nicht primär Aufschluss über eine objektiv bestehende Problematik, etwa eine Infektion durch einen Virus o.a., sondern das Phänomen Krankheit wird zur Richtschnur der inneren ,Wahrheit‘ des Individuums. Statt der Infektion durch einen Mikroorganismus rücken die möglicherweise eingeschränkten Abwehrkräfte und Ressourcen des Einzelnen in den Blickpunkt und weitergehend seine eventuell inadäquaten Problemverarbeitungskapazitäten und Wahrnehmungsraster, die erst eine Anfälligkeit für Infektionen – etwa als ,Stress‘ – bereiten“ (Dollinger 2002: 362). Die aktuelle Gesundheitsnorm kann daher treffend mit dem Begriff „Wellness“ (Duttweiler 2004; Greco 2004) umschrieben werden. „Wellness“ – eine Wortschöpfung aus Wellbeing (sich wohl fühlen) und Fitness (gut in Form sein) – verbindet die Diskurse um Gesundheit und Fitness zu einem „neuen, eigenständigen Konzept“ (Duttweiler 2004: 74) und kann als „eine besondere Form der Führung seiner selbst“ (ebd.: 81) verstanden werden. Wurde Gesundheit vormals „meist als ein unbewusster Zustand bestimmt, der sich dadurch auszeichnete, dass man über das eigene Befinden nicht nachdenkt“ (Greco 2004: 294), ist Wellness das genaue Gegenteil davon, nämlich „die bewusste und demonstrativ ausgestellte Gesundheit, die man aktiv verfolgen, statt passiv und unwissentlich genießen soll“ (ebd.). War der Bezugspunkt von Gesundheit vormals primär durch die erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt strukturiert und gab in dieser Hinsicht die Arbeitsfähigkeit eine zentrale Referenzgröße für Gesundheit und Krankheit ab – derjenige galt als gesund, der arbeits- und leistungsfähig war, während die Überwindung einer Krankheit gleichbedeutend war mit der Wiederherstellung der Arbeitskraft –, so geht diese Zuordnung nun tendenziell verloren (vgl. Dollinger 2002: 348; Duttweiler 2004: 81ff.). Wellness als eine Mischung aus „sich wohl fühlen“ und „in Form sein“ hinterlässt einen unbestimmten Zielpunkt: „Die Orientierung an einer vorgegebenen Norm, das Vertrauen in Planbarkeit und Zielerreichung bei rigider Disziplin sind aus dem aktuellen Diskurs um eine gelungene Lebensführung verschwunden und durch die Flexibilisierung von Ziel und Planung und der Ausrichtung an subjektiven Faktoren wie Spaß, Genuss oder dem individuellen Profil abgelöst worden“ (Duttweiler 2004: 83). Die Herstellung von Gesundheit wird auf diese Weise zu einer niemals endenden Aufgabe, der in den „Wellness-Diskursen“ hervortretende „unspezifische Imperativ, sich etwas Gutes zu tun“ (ebd.: 81), wird zu einer permanenten und lebenslangen Anforderung an das Individuum. „Jeder aktuelle Zustand von ‚Gesundheit‘ erscheint illusorisch und flüchtig, stets durch einen künftig zu erwartenden Zustand in Frage gestellt“ (Greco 2004: 296).
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Als eine Folge dieser Transformationen wird u.a. eine „massive Medikalisierung der Gesellschaft“ (Jungbauer-Gans/Schneider 2000: 219) beobachtet. Gesundheit wird als ein „prekäres Gut“ (Dollinger 2002: 357) konturiert, welches stets bedroht und in Gefahr erscheint. „Selbst der joggende, nicht-rauchende und Gemüse essende Idealgewichtige kann sich allenfalls noch auf Abruf gesund fühlen – bis zur Bestimmung des nächsten Risikofaktors“ (Schmidt-Semisch 2004: 224). Vor dem Hintergrund der Konjunktur der Vorsorgerhetorik und der damit verbundenen Prekarisierung der Zukunft wird ein soziales Klima der Angst und Verunsicherung produziert. Es kommt zu einer permanenten Beunruhigung angesichts der Bedrohung durch möglicherweise zukünftig auftretende Krankheiten. Darüber hinaus werden durch die gegenwärtigen Präventionspolitiken selbst neue Risiken generiert1. Allerdings ist zu betonen, dass die Erzeugung gesellschaftlicher Unsicherheit für das neoliberale Denken eine unabdingbare Voraussetzung darstellt, da nur derjenige, der seine persönliche Zukunft als unsicher und verwundbar erfährt, auch bereit ist, von sich aus aktiv zu werden und eine entsprechende Vorsorge zu betreiben. Die „Strategie der Zuweisung der Verantwortung für die Existenzrisiken an jeden Einzelnen (...) eröffnet eine Perspektive der Ungewissheit und ist damit zugleich eine Technologie der Aktivierung, die mit einem allgemeinen Lebensgefühl der Prekarität (...) spielt“ (Krasmann 2003: 219)2. Vor diesem Hintergrund verändert sich die gesellschaftliche Bewertung derjenigen Personen, die sich nicht bereitwillig zeigen, den präventiven Verhaltensanforderungen nachzukommen. Besonders diejenigen sind betroffen, die angesichts ihrer subjektiven Lebensführung einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer Krankheit unterliegen: „Das Versäumnis des Selbst, sich angemessen und kontinuierlich selbst zu beobachten und zu verändern, wird (...) entweder selbst als eine Krankheit angesehen – und dadurch automatisch entschuldigt, aber auch in eine Struktur sozialer Kontrolle eingefügt –, oder
1
2
Dies lässt sich wiederum am Beispiel der Gendiagnostik veranschaulichen: „Die Gewissheit, in Zukunft möglicherweise an einem unheilbaren Leiden zu erkranken oder ein behindertes Kind zu gebären, führt (...) zu neuen individuellen Ängsten und biografischen Unsicherheiten. Das Wissen um genetische Risiken ist selbst risikogenerativ: Es produziert ethische, soziale und psychische Risiken, die ohne dieses Wissen nicht existierten“ (Lemke 2000b: 243). Die Prekarisierung der Zukunft setzt natürlich auch, dies kann hier nur angedeutet werden, beträchtliche ökonomische Verwertungsinteressen frei. Es wird ein Feld eröffnet, „dessen Kennzeichen Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und Angst sind und das infolgedessen förmlich dazu einlädt, beständig neue Probleme zu konstruieren und neue Lösungen marktmäßig zu präsentieren“ (Rose 2000: 99). Deutlich zeigt sich dies im Gesundheitssektor. Hier liegen die „Nutznießer“ einer Individualisierung sozialer Risiken im Bereich der Pharma-, Versicherungs-, Sport-, Freizeit- und Ernährungsindustrie.
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es wird nicht als Krankheit angesehen und bleibt ein Ausdruck von Freiheit, für die das Individuum allerdings mit allen Konsequenzen verantwortlich ist“ (Greco 2000: 281).
Diese ambivalente Einstellung gegenüber Personen, die nicht willens sind, als „risikominimierendes“ und „vernünftiges“ Subjekt zu agieren, zeigt sich nirgendwo deutlicher als an der gegenwärtigen Bewertung des Rauchens: Auf der einen Seite wird der Tabakkonsum seit einigen Jahren unter das Krankheitsmodell der Sucht subsumiert, so dass dem Raucher sukzessive die Verantwortung für sein Verhalten entzogen wird. In diesem Sinne wird er als Opfer der Substanz, der Werbung und der Tabakindustrie betrachtet, wobei er hier sukzessive der Kontrolle von Suchtexperten und Therapeuten unterliegt (vgl. genauer Schmidt-Semisch 2005). Gleichzeitig wird der Zigarettenkonsum aber als eine Handlungsweise thematisiert, für die man sich frei entscheiden kann, für deren Konsequenzen dann aber auch die volle Verantwortung zu tragen ist. So werden hierzulande Forderungen vorgebracht, durch das Rauchen verursachte Schädigungen aus dem Behandlungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung herauszunehmen (vgl. Kessl 2005b: 33), und in den USA ist Rauchen ein potentieller Grund für eine Entlassung oder Nichteinstellung, da ein Raucher – statistisch betrachtet – mehr Krankheitstage zu verzeichnen hat (vgl. SchmidtSemisch 2004: 225). Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass im Rahmen der beschriebenen Veränderungen Gesundheit als ein Zustand der „Noch-Nicht-Krankheit“ produziert wird. Dabei bleibt das Vordringen der präventiven Politiken jedoch nicht auf den Gesundheitssektor beschränkt. Nach Kessl (2005b: 33) hat sich im Rahmen der gegenwärtigen neoliberalen Aktivierungsstrategien inzwischen jeder „als Teil ganz unterschiedlicher ,Noch-Nicht-Gruppen‘ zu begreifen und wird diesen von staatlichen Instanzen zugeordnet: seien es die ,Noch-Nicht-Arbeitslosen‘, ,Noch-Nicht-Geschiedenen‘, ,Noch-Nicht-Pensionierten‘, ,Noch-NichtSuchtabhängigen‘ oder ,Noch-Nicht-Delinquenten‘. Der permanente ,NochNicht-Zustand‘ ist Aufforderung an den Einzelnen, seiner subjektiven Selbstsorge aufmerksam und engagiert nachzukommen. Individuelle wie kollektive Subjekte werden als ,Noch-Nicht-Aktivierte‘ ausgewiesen, um ihnen eine permanente Aktivierung zu verordnen“. In diesem Sinne beginnt sich im Rahmen gegenwärtiger Aktivierungsstrategien eine neue gesellschaftliche Leitfigur herauszukristallisieren: das „unternehmerische Selbst“ (Bröckling 2007).
Die Restrukturierung des Sozialen durch neoliberale Rationalitäten
7.3
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Die Gesellschaft der Unternehmer
Im Jahr 1998 formulierte eine von den Freistaaten Bayern und Sachsen eingesetzte Kommission für Zukunftsfragen, dass „das Leitbild der Zukunft der Mensch als Unternehmer seiner Erwerbsarbeit und Daseinsvorsorge“ ist (Kommission 1998: 247). Und weiter heißt es: „Für Wirtschaft und Gesellschaft zunehmend wichtig sind (...) unternehmerisch handelnde, schöpferische Menschen, die willens und in der Lage sind, in höherem Maße als bisher auch in den Bereichen Erwerbsarbeit und Daseinsvorsorge für sich und andere Verantwortung zu übernehmen. Von diesen Menschen gibt es – wie nicht zuletzt die Beschäftigungsprobleme und die Krise der Sozialsysteme zeigen – zu wenige“ (ebd.: 248).
Dass dies nicht nur rhetorische Phrasen sind und dass in der Tat die Feststellung zu treffen ist, dass mit dem Vordringen neoliberaler Rationalitäten der Einzelne dazu angeleitet werden soll, seiner „Existenz eine bestimmte unternehmerische Form zu geben“ (Lemke 1997: 254), zeigen Voß und Pongratz (1998) am Beispiel der Entwicklungen im Bereich der Erwerbsarbeit. Nach Meinung der Autoren ist der neue Typus der Arbeitswelt der „Arbeitskraftunternehmer“. Dieser habe sukzessive begonnen, die alte und bisher vorherrschende Figur des „,verberuflichten Arbeitnehmers‘“ (ebd.: 131) abzulösen. War dieser noch weitgehend passiver Erfüllungsgehilfe fremdbestimmter und standardisierter Anforderungen und rigider betrieblicher Zielvorgaben bei geringen eigenen Gestaltungsspielräumen, so erbringt der Arbeitskraftunternehmer seine Arbeitsleistung vielmehr durch „eine verstärkte aktive Selbststeuerung und Selbstüberwachung (...) im Sinne allgemeiner Unternehmenserfordernisse (die möglicherweise sogar erst konkret definiert werden müssen) bei nur noch rudimentären bzw. indirekten und auf höheren Systemebenen verlagerten Steuerungsvorgaben durch die Betriebe. (...) Der Arbeitskraftunternehmer ist die gesellschaftliche Form der Ware Arbeitskraft, bei der Arbeitnehmer (...) vorwiegend als Auftragnehmer für Arbeitsleistung handeln – d.h. ihre Arbeitskraft weitgehend selbstorganisiert und selbstkontrolliert in konkrete Beiträge zum betrieblichen Ablauf überführen“ (ebd.: 139f.). Dadurch ergibt sich für den Einzelnen ein erhöhter Freiheitsspielraum, indem beispielsweise die Arbeitszeit und der Arbeitsraum zunehmend flexibilisiert und dereguliert werden, so dass der Arbeitnehmer sich nun zeitlich und räumlich selbstständig organisieren kann (vgl. ebd.: 140f.). Diese Anforderungen bleiben aber nicht nur auf den Arbeitsbereich beschränkt. Sie dehnen sich tendenziell auf die gesamte Lebensführung aus, was zur Konsequenz hat, dass sich Arbeit und Freizeit immer seltener „feindlich“ gegenüber stehen, sondern sich zunehmend ergänzen. „Die Arbeit muss ebenso ,frei‘ gestaltbar sein wie die Freizeit ,ökonomisch‘ eingesetzt werden soll“
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
(Lemke 2000a: 40). Das Leben des Einzelnen unterliegt demnach sukzessive einer „effizienzorientierten Durchgestaltung“ (Voß/Pongratz 1998: 143). In dem selben Maße wie ein Betrieb, der sein Produkt gegenüber der Konkurrenz beständig verbessern und weiterentwickeln muss, um im Wettbewerb die Oberhand zu behalten, wird auch das Individuum zunehmend mit diesen Ansprüchen konfrontiert: „Das unternehmerische Selbst ist ein Humankapitalist des eigenen Lebens: Es behandelt sein Wissen und seine Fertigkeiten, seinen Gesundheitszustand, aber auch sein äußeres Erscheinungsbild, soziale Kontakte und persönliche Gewohnheiten als knappe Ressource, die aufzubauen, zu erhalten und zu steigern Investitionen erfordert. Selbst wenn er keinerlei materielle Güter besitzt, verfügt es zumindest über seine Lebenszeit und kann sie nutzenmaximierend einsetzen. Zu lernen hat das angehende enterprising self vor allem, sich selbst als Firma zu begreifen und mit den Augen potenzieller Kunden zu betrachten. (...) Nur in dem Maße, in dem er sich selbst als unverwechselbare Marke kreiert, hebt er sich von der Masse ab und vermag die Wettbewerber auszustechen. Für genormte und normalisierte Disziplinarsubjekte ist in der Unternehmenskultur kein Platz, gefordert sind Artisten des Alltags, die Exzentrik mit Effizienz verbinden“ (Bröckling 2004b: 275).
Gewünscht sind also gerade nicht mehr Persönlichkeiten, die nach einem bestimmten Normalitätsmodell geformt sind. Vielmehr werden Individuen benötigt, die sich durch eine beständige Flexibilität, Mobilität und Anpassungsbereitschaft auszeichnen. Lindenberg und Schmidt-Semisch (1995, 4) sprechen in diesem Zusammenhang von der Verhaltensanforderung der „Modulation“. Sie meinen damit „die situationsspezifische Anpassung in einer Gesellschaft, die nicht mehr von einem relativ homogenen Wertekanon beschattet wird“. Die Aufgabe des Einzelnen besteht gegenwärtig weniger darin, eine stabile Identität zu entwickeln, sondern vielmehr zu verhindern, dass die eigene Identität zukünftige Optionen beschränkt oder gar blockiert. Allerdings darf aus diesen vermehrten Freiheitsspielräumen und Möglichkeiten der Selbstentfaltung, die dem Individuum innerhalb der betrieblichen Logik zugestanden werden, noch lange nicht die Schlussfolgerung eines postmodernen „anything goes“ gezogen werden. Weiterhin ist die „Deckungsgleichheit der Interessen von Betrieb und Individuum“ (Dollinger 2003: 95) zu gewährleisten. Dem Arbeitnehmer ist es nur dann möglich, seine Individualität ins Spiel zu bringen, wie dies kompatibel ist mit den betrieblichen Erwartungshaltungen. Solange er das Gesollte will, d.h. solange er die gewünschte Arbeitsleistung erbringt, kann darauf verzichtet werden, seine Persönlichkeit durch ein rigides System der Außensteuerung zu restringieren. Dadurch, dass sich Arbeitnehmer „zu sich selbst wie ein herrschaftsausübender Unternehmer verhalten“ (Voß/Pongratz 1998: 151), ergibt sich für den Betrieb ein erhöhtes Maß an Effektivität und Effizienz, „denn kein Vorgesetzter kann seine Mitarbeiter so gut zur Leis-
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tung bewegen und im Detail fachlich steuern, wie sie selbst“ (ebd.). Die Stärkung von Selbstverantwortung und Eigeninitiative macht die Individuen produktiver „als äußere Autoritäten es je vermöchten. Der Autonomiegewinn steht unter dem heteronomen Zwang zum ökonomischen Erfolg. Die Freiheit vom Gehorsamszwang wird eingetauscht gegen die Pflicht zur permanenten Optimierung und Selbstoptimierung“ (Bröckling 2004c: 61). Diese hier nur ansatzweise auf der organisatorischen Ebene des Betriebes skizzierten Transformationen können mühelos auch auf eine höhere gesellschaftliche Ebene transportiert werden. Im Rahmen des Vordringens neoliberaler Rationalitäten können Entwicklungen identifiziert werden, die als ein „Regieren über Freiheit“ (Krasmann 1999) zu dechiffrieren sind. Das Verhalten des Einzelnen wird nunmehr unmerklich durch „sanfte“ und „weiche“ Technologien eines Regierens aus der Distanz gelenkt, beispielsweise durch die Aussicht auf beruflichen Erfolg oder durch die Mobilisierung von Konsumanreizen, aber auch durch die Sorge angesichts einer drohenden Arbeitslosigkeit oder Krankheit. Im neoliberalen Regime wird auf direkte Einflussnahme im Normalfall weitgehend verzichtet, während zugleich die Selbstführung der Einzelnen in Dienst genommen wird. Die neuen Normen der Selbstverantwortung und Selbstführung sind insofern „Elemente indirekter Steuerung, die vor allem an der Beziehung zu sich selbst ansetzt und so ihren Zwangscharakter subtiler werden lassen, ohne ihn einzubüßen“ (Duttweiler 2004: 86). Wie Krasmann (2003: 203) darlegt, ist ein Ende des Regimes von Vorschriften und direkten Reglementierungen keineswegs gleichbedeutend mit einem Mehr an Autonomie: „In dem Maße, in dem eine neoliberale Rhetorik Wahlfreiheit postuliert, sind wir ,gezwungen, frei zu sein’, und in dieser Freiheit gezwungen, uns selbst abzusichern und zu vergewissern, während die Verantwortung für die gewählte Lebensweise, gleich auf welchen tatsächlichen finanziellen und sozialen Möglichkeiten sie beruht, auf denjenigen zurückfällt, der die Entscheidungen getroffen hat“.
Ebenso wie es sich für den Betrieb als wenig effektiv und effizient erweist, die Freiheiten des Arbeitnehmers zu begrenzen, so stellt sich auch auf einer höheren gesellschaftlichen Ebene die Frage, warum es nötig sein sollte, individuelle Möglichkeiten der Lebensgestaltung einzuschränken, wenn sich politische Ziele auch mittels individueller Selbstverwirklichung realisieren lassen (vgl. Lemke u.a. 2000: 30). Mit den Worten von Miller und Rose (1990: 104): „Politische Autoritäten versuchen nicht länger, durch Instruktionen die Individuen in allen Sphären ihrer Existenz, von den intimsten bis zu den öffentlichsten, zu regieren. Die Individuen selbst, als Arbeiter, Manager und Familienmitglieder können im Bündnis mit poli-
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tischen Zielen mobilisiert werden, um Wirtschaftswachstum, erfolgreiches Unternehmen und optimales persönliches Glück zu schaffen“ (zit. nach Lemke 1997: 255).
Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, dass es zu einfach ist, die beschriebenen Transformationen als eine Schwächung oder gar als einen Rückzug des Staates zu charakterisieren. Die Übertragung von staatlicher Verantwortung auf individuelle und kollektive Akteure bedeutet keineswegs eine Abnahme der Souveränität und Planungskapazität des Staates. „Die ,Macht des Staates‘ (...) kann vielmehr gestärkt werden, weil durch die Delegation von Aufgaben und vor allem Verantwortlichkeiten Kräfte gebündelt eingesetzt und rationalisiert werden können, während bestimmte Befugnisse (beispielsweise für entscheidende Interventionen) und die Aufsicht über bestimmte Ressourcenverteilungen nach wie vor staatlich gebunden bleiben“ (Krasmann 1999: 112). Neoliberale Konzepte zivilgesellschaftlicher, staatsferner oder informeller Formen von Autorität und Kontrolle sind in diesem Sinne vielmehr eine Umgestaltung denn eine Aufhebung von Herrschaftsstrukturen (vgl. Lemke u.a. 2000: 28). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass durch das Vordringen neoliberaler Rationalitäten neue Grenzziehungen der Ordnung geschaffen werden, was gleichzeitig auch bedeutet, dass es neue Möglichkeiten gibt, aus dieser Ordnung herauszufallen. Wenn sich der „Unternehmer seiner Selbst“ als neue gesellschaftliche Leitfigur herauskristallisiert, der dazu angehalten wird, sich selbst unter dem Signum von Eigenverantwortung, Initiative und Anpassungsfähigkeit zu regieren und wenn diese Verhaltenserwartungen vor dem Hintergrund einer egalitären Weltsicht von allen Individuen abverlangt werden, dann bedeutet dies im Umkehrschluss: All diejenigen, die nicht willens oder nicht in der Lage sind, diesen Anforderungen gerecht zu werden, sind von sozialer Ausgliederung bedroht, weil unter dem Diktat einer moralischen Ökonomie der Selbstsorge nur interessiert, wer mithalten kann. „Wer herausfällt, hat damit bewiesen, dass ihm oder ihr der nötige Wille fehlt“ (Krasmann 2000a: 201). Die im Rahmen der wohlfahrtsstaatlichen Regulationen der sozialen Ordnung typische Repräsentation des Deprivierten als „Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse“ verliert vor dem Hintergrund der Unterstellung eines universalistischen Egalitarismus sukzessive an Bedeutung. Stattdessen werden soziale Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit oder Krankheit auf einen Mangel an persönlicher Eigenverantwortung zurückgeführt, so dass der „In-Aktive“ als neuer und veränderter Prototyp des Abweichlers in einem aktivierenden Staat erscheint (vgl. Lutz/Ziegler 2005: 132; Ziegler 2005a: 63f.). Die folgenden Ausführungen sollen am Beispiel des Drogenkonsums zeigen, wie sich der gesellschaftliche Umgang mit abweichenden Personengruppen verändert, wenn diese Mechanismen einer versicherungsmathematischen Gerech-
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tigkeit auf das Rechtswesen der Gesellschaft übergreifen und die Formen der sozialen Kontrolle durchdringen.
8
Drogenkonsum und soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert
8.1
Die Spaltung des kriminologischen Diskurses: „criminology of the self“ vs. „criminology of the other“
Verfolgt man die wissenschaftliche Diskussion bezüglich der gegenwärtigen Transformationen sozialer Kontrolle, dann ist eine Vielzahl von konträren und z.T. auch widersprüchlichen Diagnosen festzustellen. Exemplarisch kann dieser Sachverhalt am Diskurs über die momentane Relevanz der Gefängnisstrafe veranschaulicht werden. Auf der einen Seite wird angesichts technologischer Neuerungen wie dem elektronischen Halsband ein rapider Bedeutungsverlust „totaler Institutionen“ registriert und in Anlehnung an den französischen Philosophen Deleuze von einem Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft gesprochen (vgl. Lindenberg/Schmidt-Semisch 1993; 1995). Auf der anderen Seite werden – besonders in den USA, aber auch in anderen westlichen Ländern – ein gigantisches Wachstum der Bestrafungsindustrie und ein dramatischer Bedeutungsaufschwung der Gefängnisstrafe beobachtet (vgl. Bauman 1997; 1998; Christie 1995; Wacquant 1997; 2000). Diese konträren Zeitdiagnosen provozieren folgerichtig die Frage, wer die soziale Wirklichkeit angemessener beschreibt. Dabei lässt sich die paradoxe Feststellung treffen, dass beide Diagnosen eine gewisse Relevanz besitzen und spezifische Momente gesellschaftlicher Realität adäquat dargestellt werden. Es zeigt sich nämlich, dass die Entwicklungsdynamiken sozialer Kontrolle durch widersprüchliche Gleichzeitigkeiten gekennzeichnet sind. In dieser Hinsicht ist sowohl eine Zunahme repressiver Kontrollstrategien als auch ein Aufkommen „weicher“ Kontrollformen zu beobachten (vgl. Ziegler 2003a). Die gegenwärtigen Gesellschaften werden demgemäß nicht mehr durch ein einheitliches Kontrollmoment reguliert. Demgegenüber hat sich ein differenziertes Kontinuum an institutionalisierten Kontrollmechanismen verfestigt: „An dessem ,oberen‘ Ende finden sich vor allem präventive Maßnahmen, beratende, therapierende und sozialstrukturelle Angebote und Projekte, am ,unteren‘ hingegen (...) kommt es (...) zur Ausweitung von Strafmaßnahmen und Inhaftierung, zur Propagierung und Anwendung von zero tolerance- und law and order-Konzepten sowie zur Initiierung von Moralpaniken zur Legitimation der Straf- und Ausschließungspraktiken“ (Beckmann 2001: 55). Der britische Kriminologie David Garland (2008) hat in den letzen Jahren diese Veränderungen im politischen und administrativen Umgang mit Krimina-
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lität und Devianz ausführlich beschrieben. Er zeigt auf, dass sich zwei neue kriminalpolitische Kontrollformen herauskristallisiert haben, während parallel dazu die auf Integration und Behandlung abzielenden Kontrollmechanismen sukzessive in den Hintergrund gedrängt werden1. Nogala (2000b: 76) fasst diese beiden Kontrollstrategien prägnant zusammen: „Einerseits eine ,criminology of the self‘, deren Kern eine Politik der ,Responsibilisierung‘, oder weniger euphemistisch ausgedrückt, ein Zurückwerfen der Individuen auf ihre privaten Ressourcen, bildet – dieses ,Pattern‘ ist auf die Integrierten des gesellschaftlichen Zentrums und die Integrierbaren der näheren sozialen Peripherie gerichtet. Daneben existiert eine ,criminology of the other‘, die auf Exklusion und deren Legitimierung zielt und in erster Linie die Marginalisierten der äußeren sozial- wie geoökonomischen Peripherie im Visier hat“2.
Im Rahmen des Diskurses der „criminology of the self“ wird dabei die „Abweichung der Angepaßten“ (Frehsee 1991) verhandelt. Folgt man Garland, dann ist die gegenwärtige Gesellschaft angesichts ständig steigender Deliktzahlen und persönlicher Viktimisierung in zunehmendem Maße durch Kriminalitätserfahrungen geprägt. Die Behörden und weite Bevölkerungsteile haben sich auf die Belastung durch hohe Kriminalitätsraten eingestellt. Bestimmte Kriminalitätsformen (z.B. Steuerhinterziehung oder Diebstahl) werden deshalb als eine nicht zu verhindernde soziale Tatsache betrachtet. Kriminelles Verhalten wird dabei nur noch selten auf individuelle Pathologien zurückgeführt, sondern mit ökonomischen Kosten-Nutzen-Ansätzen zu erklären versucht. Es wird davon ausgegangen, dass der durchschnittliche Mensch immer dann eine Straftat begeht, wenn er die Gelegenheit dafür als günstig erachtet und wenn er den Ertrag der strafrechtlich relevanten Handlung höher einschätzt als die mit dieser Handlung verbundenen Kosten. Diese veränderte gesellschaftliche Wahrnehmung von Kriminalität hatte auch Veränderungen im Bereich der kriminalpolitischen Reaktion zur Folge. Seit den 1970er Jahren ist – besonders im Bereich der „leichten“ und „mittleren“ Straftaten – eine Rücknahme des Strafrechts zu beobachten. Im Rahmen von Diversionsmaßnahmen und der Institutionalisierung des Täter-Opfer-Ausgleichs werden die einer Straftat verdächtigen Personen immer häufiger bereits vor der Einleitung eines formellen Sanktionsverfahrens aus dem Kriminaljustizsystem herausselektiert (vgl. Lamnek 1997: 271ff.). Der Strafrechtswissen1
2
Für eine ausführliche Diskussion der Garlandschen Thesen vgl. die Rezension von Hess (2001) sowie die Beiträge im 9. Beiheft des Kriminologischen Journals (vgl. Hess/Ostermeier/Paul 2007), das sich explizit mit den Texten Garlands auseinandersetzt. In Analogie zu diesen Erkenntnissen spricht Albrecht im Bereich der Strafrechtsentwicklung von einer Aufspaltung in ein „Bürger-“ und ein „Feindstrafrecht“ (vgl. Albrecht 2005: 69ff.).
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schaftler Albrecht (2005: 192) spricht von einer „Informalisierung des Rechts“, die sich dadurch auszeichnet, dass gegenwärtig mehr als die Hälfte aller anklagefähigen Verfahren von Seiten der Staatsanwaltschaft eingestellt werden. Dahingehend ist die Zahl der Freiheitsstrafen von ca. 221.000 im Jahr 1968 auf 128.000 im Jahr 1994 gefallen. Zwischen 1968 und 1990 ist dafür im Gegenzug die Zahl der Probanden der Bewährungshilfe von ca. 28.700 auf 131.000 angestiegen und die Zahl der Geldstrafen hat sich zwischen 1968 und 1994 von ca. 361.000 auf 578.000 erhöht (vgl. Brusten 1999: 536) 1. Eine andere Entwicklung im Feld der Kriminalitätskontrolle beschreibt Fritz Sack (2003b). Nach seiner Diagnose hat sich im Bereich der Inneren Sicherheit in Analogie zu den Veränderungen in der Wirtschaftspolitik eine Verschiebung von einer nachfrage- zu einer angebotsorientierten Politik vollzogen. Der Hinweis der Kritischen Kriminologie auf die Ubiquität, Normalität und Episodenhaftigkeit des delinquenten Verhaltens stehe, so die zentrale Annahme, im fundamentalen Widerspruch zu der für die moderne Strafrechtskonzeption typischen Repräsentation des Abweichlers als „homo criminalis“ (Pasquino 1991: 238). Wenn alle Individuen abweichendes Verhalten zeigen und wenn dies auch nicht zu verhindern ist, dann verliert eine Rehabilitationsorientierung, die von der Annahme geleitet ist, dass Kriminalität und Devianz auf einer defizitären Andersartigkeit des Normbrechers beruhen, ihre Legitimationsgrundlage. Je mehr sich diese Erkenntnis der Normalität von Kriminalität und Devianz als „Common-Sense-Wissen“ (Ziegler 2003a: 434) im öffentlichen, medialen und politischen Diskurs verbreitet und eine gewisse Anerkennung erfährt, desto häufiger kommt es dazu, dass die Normalität zur Vorstufe der Kriminalität wird und dementsprechend die Gesellschaft als Ganze unter Verdacht gerät (vgl. Kreissl 2004a). Kriminelles Verhalten wird nicht mehr einzelnen pathologischen Individuen zugeschrieben, sondern prinzipiell bei allen Bevölkerungsteilen als Möglichkeit in Betracht gezogen. Vor diesem Hintergrund wandeln sich Probleme der Kriminalität in Probleme der Sicherheit (vgl. Krasmann 2003: 241). Parallel zum Wechsel von der traditionellen täterorientierten zur kritischen täterabgewandten Kriminologie vollzieht sich einer Verlagerung von einer täterorientierten zu einer täterabgewandten (Kriminalitäts-)Kontrolle (vgl. Schmidt-Semisch 2002: 62). Soziale Kontrol1
Gerade das Beispiel der Geldstrafen zeigt jedoch, dass die Rücknahme des Strafrechts nicht unbedingt in „liberalen“ Motiven begründet liegt. Vielmehr haben die Strategien der Entkriminalisierung in vielen Fällen einen fiskalischen Effekt, da sich durch die Steigerung der Anzahl der Geldbußen die Staatseinnahmen erhöhen lassen, während gleichzeitig die Kosten für die Gefängnisaufenthalte reduziert werden können: (...) „administrative Rationalisierung ist der Begriff, mit dem dieser Teil des strafrechtlichen Reaktionsspektrums am besten gekennzeichnet werden kann“ (Ludwig-Mayerhofer 2000a: 340).
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le verwandelt sich „von dem bislang üblichen reaktiven Modus – indem sie nur aktiviert wird, wenn Regeln verletzt wurden – in den proaktiven: Antizipation, Vorhersage, Kalkulation im voraus“ (Cohen 1993: 220). Wenn nach den Prämissen des Kosten-Nutzen-Ansatzes Individuen immer dann Straftaten begehen, sobald sie die Gelegenheit dafür als günstig einschätzen, dann müssen im Gegenzug die Kosten der Kriminalität auf eine Weise erhöht werden, dass es sich für den Durchschnittsmenschen nicht mehr lohnt, deviantes Verhalten zu zeigen. Konkret bedeutet das, dass das Entdeckungsrisiko einer Straftat zu erhöhen ist, damit der Aufwand, um an das Objekt oder Ziel zu gelangen, den erwarteten Nutzen der strafbaren Handlung überschreitet. „Beispielsweise, indem die Fahrgastsitze in öffentlichen Verkehrsmitteln mit bunten Stoffen bezogen werden, der dem Graffitisprühen den Anreiz nimmt; oder über Absperrungen und Zäune, die einen Aufenthalt unwirtlich oder den Zugang zu bestimmten Zonen nicht durch Verbote, sondern rein technisch und praktisch nahezu unmöglich machen“ (Krasmann 2000b: 302). Im Vordergrund der neuen Kontrollogik steht also nicht mehr der Täter, sondern die schlichte Reduzierung von Tatgelegenheiten im Zuge einer situationsorientierten Kriminalprävention. Dieses Risikomanagement trägt dazu bei, dass Kriminalität und Devianz tendenziell entdramatisiert und entpathologisiert werden: „An Stelle der moralischen Verurteilung des abweichenden Verhaltens tritt eine eher technische Bewertung der Folgen, die dann unter Effizienzgesichtspunkten begrenzt werden müssen. Die Risikoorientierung führt in diesem Sinne tendenziell zu einer Entmoralisierung abwei1 chenden Verhaltens“ (Groenemeyer 2003b: 34) . Diese Veränderungen der Modalitäten der sozialen Kontrolle betreffen jedoch nicht nur den Umgang mit Tätern, sondern sie schließen auch potentielle Opfer von Kriminalität ein. Der Staat zeigt sich immer weniger dafür zuständig, Probleme der Kriminalität ursächlich zu lösen und die Sicherheit vor Kriminalität zu garantieren. Ehemals staatliche Verantwortlichkeiten im Bereich der Kriminalitätskontrolle werden „privatisiert“, so dass das (potentielle) Opfer einer strafrechtlich relevanten Handlung responsibilisiert wird, sein eigenes „Viktimisierungsrisiko“ (Schmidt-Semisch 2000: 184) vorbeugend abzusenken. In demselben Maße, wie es nicht mehr genügt, erst nach dem Eintreten einer Krankheit zum Arzt zu gehen, so scheint es auch nicht mehr ausreichend zu sein, erst nach einer registrierten Straftat die Polizei herbeizurufen. Durch Selbstverteidigungskurse, Alarmanlagen, Überwachungskameras, Opferliteratur, Versicherungen gegen Diebstahl usw. gilt es, sich selbst „aufzurüsten“ und sich davor zu schützen, Opfer einer kriminellen Handlung zu werden. Auf diese Weise wird der Bürger aktiviert und in die Verantwortung für das kriminelle Übel, das ihm 1
Ein Rechtschreibfehler im Original wurde korrigiert.
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widerfahren könnte, einbezogen: „Nur wer selbst alles getan hat, kann darauf hoffen, nicht selbst schuld(ig geworden) zu sein“ (ebd.: 186). Gleichzeitig existiert jedoch neben der Repräsentation des Täters als rational handelnden Akteur eine „criminology of the other“. Diese Kriminologie beschäftigt sich mit der bedrohlichen und befremdlichen Kriminalität, die außerhalb des gewöhnlichen Alltags angesiedelt ist. Bestimmte Tätergruppen werden hier als gefährlich, bestialisch oder unmenschlich stilisiert. Parallel zur Entmoralisierung des abweichenden Verhaltens im Rahmen des Risikomanagements zeigt sich also eine gewisse Tendenz zur Remoralisierung der Kriminalität und zur Diabolisierung von Kriminellen. „Erneut entsteht das Stereotyp von den ,gefährlichen Klassen‘, gegen die es sich zu schützen gilt, ob es sich dabei nun um die schwarzen Ghettobewohner einer US-amerikanischen Großstadt handelt, die beurs in Frankreich, die Sinti und Roma in Deutschland bzw. die Angehörigen jener mysteriösen ,organisierten Kriminalität‘, die ,uns‘ die Autos stehlen“ (Legnaro 1997: 278). Während sich auf der einen Seite der Bürger als „responsibilized, security-conscious crime preventing subject“ (Garland 1997: 190, zit. nach Krasmann 2003: 64) zu begreifen hat, scheinen auf der anderen Seite exkludierende Strategien der sozialen Kontrolle die einzige Möglichkeit zu sein, um der Bedrohung der „gefährlichen Klassen“ Einhalt zu gebieten. Diese „Hochrisikogruppen“ sollen nicht mehr resozialisiert oder behandelt werden, sondern zur Gewährleistung allgemeiner Sicherheit am besten für immer im Gefängnis sitzen (z.B. Sexual- oder Gewaltstraftäter) oder durch eine rigide Abschiebungspraxis aus der Gesellschaft ausgegliedert werden (z.B. kriminelle Ausländer). Nur diese Maßnahmen scheinen wirkliche Sicherheit vor den „kriminellen Energien“ dieser Individuen zu garantieren, denn wer im Gefängnis ist oder in seinem Heimatland, kann keine Straftaten verüben – „Strafe pur ohne 1 rhetorischen Firlefanz“ (Sack 1995: 454) . Während also die „criminology of the self“ den Täter als rational handelnden Akteur repräsentiert, stellt die „criminology of the other“ diesen als Sicherheitsrisiko für die ganze Gesellschaft dar. Dabei unterscheiden sich beide Kriminologien, so verschieden ihr jeweiliger Stil auch ist, deutlich von einer auf Disziplinierung und Inklusion ausgerichteten Politik sozialer Probleme: „Die erste Form erkennt die Grenzen des Staates (...) an und versucht, sich darauf einzurichten; die zweite Form leugnet diese Grenzen und versucht, mit brutaler Punitivität (...)
1
Verhandelt wird dieser Sachverhalt unter dem Schlagwort der „selective incapacitation“: „Incapacitation promises to reduce the effects of crime in society not by altering either offender or social context, but by rearranging the distribution of offenders in society. If the prison can do nothing else, incapacitation theory holds, it can detain offenders for a time thus delay their resumption of criminal activity in society“ (Feeley/Simon 1994, 174).
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die Ordnungsfunktion des Staates doch noch durchzusetzen. Bei den einen verkünden die Schilder hinter der Autoscheibe ,No Radio‘, bei den anderen ,No Surrender‘ (...). Beide Formen sind nicht mehr auf Rehabilitation und Integration von Straftätern aus, sondern auf Gefahrenabwehr und Kontrolle“ (Hess 2001: 232).
Legnaro (1997) hat die Gesamtheit dieser Entwicklungen, deren Bedeutung für den Bereich der Drogenkontrolle im Folgenden näher beleuchtet werden soll, prägnant unter dem Schlagwort der „Sicherheitsgesellschaft“ zusammengefasst. Eine Sicherheitsgesellschaft zeichnet sich dadurch aus, „daß nicht nur staatliche, sondern in zunehmendem Maße auch private Akteure an der Produktion von Sicherheit teilnehmen, daß die Überwachung nicht nur dem Staatsschutz im engeren Sinne gilt, sondern Aktivitätskontrollen von allen Bürgern – tendenziell durch alle Bürger – mit dem Ziel der Risikominimierung für alle angestrebt werden und daß schließlich die Produktion von Sicherheit nicht nur eine staatliche Aufgabe ist, sondern eine permanente gesellschaftliche Anstrengung, ein Régime des täglichen sozialen Lebens“ (ebd.: 271). In einer solchen Sicherheitsgesellschaft muss abweichendes Verhalten nicht mehr gänzlich zu verhindern versucht werden. Aus einer reaktiven Kriminalpolitik, die am Strafrecht und am Individuum orientiert war, wird eine präventive Kontrollpolitik, die das Kriminalitätsaufkommen beziehungsweise Gefährdungen der Sicherheit zu regulieren versucht (vgl. Krasmann 2003: 242). Solange die öffentliche Sicherheit gewährleistet ist, können Maßnahmen der sozialen Kontrolle explizit auf den Anspruch verzichten, bestimmte Formen des abweichenden Verhaltens „auszumerzen“. Devianz wird als gegeben hingenommen, wobei jedoch gleichzeitig deren bedrohliche Seiten durch geeignete Sicherheitsmechanismen – Responsibilisierung auf der einen und Exklusion von „Risikogruppen“ auf der anderen Seite – aufgefangen werden sollen. Mit Lemke, Krasmann und Bröckling (2000: 13) lässt sich dementsprechend von einer Verschiebung von Disziplinarzu Sicherheitstechnologien sprechen: „Die Disziplinartechnologie installiert hierachisierende Trennungen, die zwischen Ungeeignetem und Geeignetem, Normalem und Anormalem unterscheiden. Sie funktioniert über den Entwurf eines optimalen Modells und seiner Operationalisierung, das heißt sie setzt Techniken und Verfahren ein, um Individuen an dieser Vorgabe auszurichten und sie daran anzupassen (...). Die Sicherheitstechnologie repräsentiert das genaue Gegenteil des Disziplinarsystems: Geht diese von einer (präskriptiven) Norm aus, so ist der Ausgangspunkt des Sicherheitssystems das (empirisch) Normale, das als Norm dient und weitere Differenzierungen erlaubt. Statt die Realität an einem zuvor definierten Soll auszurichten, nimmt die Sicherheitstechnologie die Realität selbst als Norm: als statistische Verteilung von Häufigkeiten, als Krankheits-, Geburten- und Todesraten etc.“.
Die folgenden Ausführungen sollen diese Transformationen im Bereich der Kriminalpolitik auf das Feld der Drogenkontrolle übertragen. Es wird gezeigt, dass
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sich die beschriebenen Kontrollstrategien auch in diesem Bereich antreffen lassen und dass die Soziale Arbeit hierbei eine bedeutsame Rolle spielt: In neueren Konzeptionen zur Suchtprävention wird das Individuum in die Lage versetzt, das Risiko des Drogenkonsums aktiv und autonom zu regulieren. Gleichzeitig hat sich das sozialpädagogische Handlungsfeld der akzeptierenden Drogenarbeit als Exklusionsraum für marginalisierte Drogenkonsumenten institutionalisiert. Neben den gesellschaftlichen Transformationsprozessen, die in Kap. 7 beschrieben wurden, waren es dabei im Wesentlichen zwei Phänomene, die zu diesen Wandlungen der Drogenkontrolle beigetragen haben: das Aufkommen der Infektionskrankheit Aids in den 1980er Jahren und die Entdeckung der synthetischen Substanz Ecstasy in den 1990er Jahren.
8.2
Aids und Ecstasy als Impuls für einen partiellen Wandel der deutschen Drogenpolitik
Seit geraumer Zeit lässt sich in Deutschland ein Wandel im gesellschaftlichen Umgang mit dem Konsumenten illegaler Drogen konstatieren. War die soziale Kontrolle des Drogengebrauchs bis in die Mitte der 1980er Jahre relativ einfach strukturiert – Drogenkonsumenten wurden strafrechtlich verfolgt und/oder mit dem Ziel einer drogenabstinenten Lebensführung in stationären Einrichtungen therapiert –, so gestaltet sich die Situation heute wesentlich differenzierter. Beispielsweise bleibt der Drogenbesitz kleinerer Mengen unter gewissen Umständen ohne strafrechtliche Konsequenzen, in neueren Konzeptionen zur Suchtprävention rückt die Zielvorstellung der lebenslangen Enthaltsamkeit von illegalen Drogen in den Hintergrund und neben die auf Abstinenz ausgerichteten Behandlungsprogramme sind die Angebote der akzeptierenden Drogenarbeit getreten. Wie bereits dargelegt (s. Kap. 6.2), haben die traditionellen, ausschließlich auf Abstinenz ausgerichteten Behandlungsprogramme der Drogenhilfe im Laufe der 1980er Jahre eine zunehmende Kritik erfahren. Als „Gegenbewegung“ (Stöver 1999b: 11) zu den abstinenzorientierten Arbeitsansätzen kam es zu dieser Zeit zur Konstituierung akzeptanzorientierter Initiativen. Deren Protagonisten problematisierten nicht nur die bisherigen Methoden und Konzepte der Drogenhilfe, sondern sie fungierten auch als moralische Unternehmer: Die herrschende Drogenpolitik wurde kritisiert und drogenpolitische Forderungen nach „Humanisierung, Legalisierung und Entkriminalisierung“ (Jacob u.a. 1999: 279) vorgetragen. Als „Motor der Akzeptanz“ (Eisenbach-Stangl u.a. 2000: 158) und als „Anlaß (...) zu einem Umdenken innerhalb der Drogenarbeit“ (Kähnert 1999: 170) ist dabei besonders das Aufkommen der Infektionskrankheit AIDS zu Beginn
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der 1980er Jahre zu betrachten. Die Entdeckung des HIV-Virus bedeutete eine grundlegende Veränderung der kontextuellen Bedingungen, in die der Diskurs der Drogenpolitik und Drogenarbeit eingebettet war. Die bislang wenigen Kritiker der repressiven Ausgestaltung der Drogenpolitik bekamen nun Unterstützung von der sozialen Bewegung, die sich im Zusammenhang mit AIDS formiert hatte (vgl. Schmid 2003: 190ff.). Die Diskurse von Aids und Drogen begannen sich zu überlappen, da angesichts riskanter Konsumformen wie etwa dem gemeinsamen Gebrauch eines Spritzbestecks hauptsächlich die in der Großstadt öffentlich sichtbaren Drogenszenen als Risikogruppen für eine Infektion mit dem HIV-Virus eingestuft und somit auch als eine Gefahr für die restliche Gesellschaft thematisiert wurden. „HIV in der Drogenszene machte vielen Menschen mehr Angst als die Drogenszene an sich, weil sie glaubten, dass gerade von dieser Gruppe die größte Gefahr der Ansteckung ausgehen würde“ (Bader/Heckmann 2001: 317). Die Vertreter der akzeptierenden Drogenarbeit konnten angesichts der Aidsproblematik in der Öffentlichkeit auf die negativen Einflüsse der Prohibitionspolitik aufmerksam machen und so einen Handlungsdruck in Richtung einer Veränderung des Drogennormensystems erzeugen. Analog zu den „Safer-Sex“-Kampagnen wurden unter dem Motto von „Safer-Use“ vergleichbare Maßnahmen im Bereich der Drogenarbeit eingefordert. Der abstinenzorientierten Drogenhilfe wurde angesichts ihrer hochschwellig organisierten Hilfsangebote und ihrer „ideologischen Blockaden“ (Michels/Stöver 1999a: 149) die Vorhaltung gemacht, dass sie das „Drogenelend“ (Quensel 1982) nicht beseitigen könnten. Viele Konsumenten, so die Anklage, würden nicht erreicht und folgerichtig auch nicht ausreichend über die Übertragungswege des HIV-Virus informiert. Dem traditionellen Drogenhilfesystem wurde vorgeworfen, ihren allein auf die Abstinenz des Konsumenten ausgerichteten Behandlungsansatz auf der Basis einer „simplifizierenden Kausalkette“ (Schneider 2005: 269) zu legitimieren, die sich aus Persönlichkeitsdefizit, Sucht, Betreuung, Therapie und Abstinenz zusammensetzt. Dabei waren es in erster Linie die Zwangstherapie und die oftmals von Vertretern der traditionellen Drogenhilfe 1 befürwortete Theorie des Leidensdrucks , die kritisiert wurden (vgl. Böllinger 1995 u.a.: 280ff.; Gerlach/Engemann 1999: 30f.). Die „unheilvolle Koalition“ (Stöver 1999b: 12) zwischen Justiz und Drogenhilfe wurde problematisiert, wo1
Die „Leidensdrucktheorie“ besagt, dass nur derjenige die notwendige Therapiemotivation aufbringt, der wirklich am Tiefpunkt angelangt ist. Wer rückfällig wird oder keine Hilfe annimmt, hat demnach diesen Tiefpunkt noch nicht erreicht. In diesem Sinne werden auch die Verelendung oder Haftstrafen des Drogenkonsumenten als therapeutische Hilfsmittel stilisiert, da angenommen wird, dass erst eine Verschlechterung der Lebensbedingungen die Therapiemotivation des Drogenabhängigen befördert (vgl. Böllinger u.a. 1995: 280ff.; Gerlach/Engemann 1999: 30f.; Kähnert 1999: 169).
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bei man hier besonders die Ineffizienz und Ineffektivität der Zwangstherapie im Rahmen des § 35 BtMG beklagte. Stattdessen forderten die Protagonisten der akzeptierenden Drogenarbeit dazu auf, sich vom „Mythos der drogenfreien Gesellschaft“ (ebd.: 13) zu verabschieden und das Drogenhilfesystem an den Bedürfnissen der Klienten auszurichten. Diese müssen so akzeptiert werden, „wie sie sind“ (Schneider 2005: 271). Die Arbeit mit Drogengebrauchern sollte auf „Freiwilligkeit“ (ebd.) basieren, „möglichst nicht bevormundend“ (ebd.) sein, die „eigenverantwortliche Erarbeitung menschenwürdiger Lebensperspektiven mit oder ohne Drogen (...) ermöglichen“ (Gerlach/Engemann 1999: 54) und somit gerade denjenigen Drogenkonsumenten Unterstützung anbieten, „die ihren Konsum nicht einstellen wollen oder können“ (ebd.: 61). Sucht wurde dabei nicht mehr als statischer, einmal erreichter und nur über langzeittherapeutische Maßnahmen zu korrigierender Zustand, sondern als Prozess betrachtet. Es sollte „eine Abwendung vom linearen oder polaren Denken hin zu einem zirkulären Verständnis individueller Drogenkonsumverläufe“ (Stöver 1999b: 13) erfolgen. Vor diesem Hintergrund drängten die Vertreter einer akzeptanzorientierten Drogenarbeit auf eine Erweiterung des traditionellen Drogenhilfesystems durch niedrigschwellige und klientenorientierte Angebote, so „dass wenig Hemmschwellen Drogengebrauchende von der Hilfsangebotsnutzung abschrecken bzw. ausschließen“ (Schneider 2005: 271). Nicht mehr eine drogenabstinente Lebensführung wurde als das vorrangige Ziel der Drogenarbeit ausgegeben. Vielmehr sollten die Unterstützungsleistungen darauf ausgerichtet sein, die gesundheitlichen Risiken des Substanzkonsums durch Angebote wie etwa die Substitutionsbehandlung, die Verteilung von sterilen Spritzbestecken, die Einrichtung von Kontaktläden und Gesundheitsräumen, kostenlose Hepatitisimpfungen oder die Vermittlung von Informationen über risikoarme und gesundheitsschonende Gebrauchsvarianten zu reduzieren (vgl. Gerlach/Engemann 1999: 60f.). Die Sicherung des Überlebens bzw. die Sicherung eines möglichst „gesunden“ Überlebens sollte an die Spitze der Zielhierarchien in der Arbeit mit drogenabhängigen Personen rücken. Blickt man heute auf die rund 25jährige Geschichte der akzeptierenden Drogenarbeit zurück, so scheint man auf den ersten Blick sicherlich davon sprechen zu können, dass die moralische Unternehmung ihrer Protagonisten von Erfolg gekrönt war. So wurde im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre das Drogenhilfesystem diversifiziert und ausgebaut: Die akzeptierende Drogenarbeit hat gegenwärtig „als ein Baustein, als eine Methode und Organisation von Hilfe ihren festen Platz“ (Jacob u.a. 1999: 280) im Bereich der Drogenhilfe. Die „innige Feindschaft“ (Evers/Kurz-Lund 1999: 227) zwischen den Lagern der abstinenzund der akzeptanzorientierten Drogenarbeit hat sich tendenziell aufgelöst und
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die beiden Angebotsstrukturen bestehen heute zunehmend nebeneinander oder werden sogar, wie Evers und Kurz-Lund (1999) unter dem Stichwort der Vernetzung am Beispiel Bremen zeigen, miteinander verbunden. Wurde ehemals einer Drogenabhängigkeit nur mit der Maßnahme der stationären Langzeittherapie begegnet, so lässt sich heute ein differenziertes Spektrum an Beratungs- und Hilfsangeboten verzeichnen. Dahingehend ist etwa die heftig umstrittene Maßnahme der Substitutionsbehandlung seit 1991 als kassenärztlich anerkannte Behandlungsform für Drogenabhängige etabliert und seit 1992 auch durch § 13 Abs.1 BtMG rechtlich institutionalisiert (vgl. Michels/Stöver 1999b: 179f.), wobei Methadon als Drogenersatzstoff auch in das Therapiekonzept der eigentlich auf Abstinenz ausgerichteten stationären Therapie integriert ist (vgl. am Beispiel Bremens Evers/Kurz-Lund 1999: 233f.). Angesichts eines hohen Problemdrucks wurden vor allem die Großstädte „zum Experimentierfeld und Motor drogenpolitischer Innovationen“ (Raschke/Kraus 1999: 13), so dass die Hilfsangebote der akzeptierenden Drogenarbeit größtenteils im großstädtischen Kontext angesiedelt sind (vgl. Jacob u.a. 1999: 280). So existieren heute in vielen Metropolen Kontaktläden, die einen niedrigschwelligen Zugang für meist schon seit längerer Zeit auf der Szene lebende Drogenabhängige anbieten und dabei alltags- und lebenspraktische Hilfen und spezifische Maßnahmen zur Gesundheitsförderung offerieren. Die Vergabe von Kondomen, der Spritzentausch oder eine Beratung ohne verpflichtende Terminabsprache und ohne Festlegung auf ein Abstinenzziel sind Hauptbestandteile der Angebotsstruktur dieser niedrigschwellig organisierten Anlaufstellen (vgl. Michels/Stöver 1999a). Darüber hinaus sind Fixerbzw. Gesundheitsräume, deren Institutionalisierung jahrelang zu „einer Polarisierung von Gegnern und Befürwortern“ (Stöver/Michels 1999: 158) geführt hat, ein fester Bestandteil des Drogenhilfesystems, wobei der Betrieb dieser Räume seit dem Jahr 2000 im § 10a BtMG auch rechtlich fixiert ist. Die Protagonisten der akzeptierenden Drogenarbeit hatten sicherlich einen großen Anteil an diesen legislativen Normanpassungen, da sie lange Zeit auf eigenes Risiko im rechtlichen Graubereich gearbeitet und infolgedessen immer wieder gesetzliche Normen übertreten haben – etwa durch die Vergabe von Methadon oder durch das Tolerieren des Drogenkonsums in niedrigschwelligen Einrichtungen – , um auf diese Weise für einen Normwandel einzutreten (vgl. Jacob u.a. 1999: 285f., Stöver 1999a: 9). Trotz dieser Errungenschaften ist allerdings Skepsis angebracht, ob tatsächlich von einer erfolgreichen Initiative der Vertreter einer akzeptanzorientierten Drogenarbeit zu sprechen ist. So bescheinigen ihnen manche Autoren gerade keinen Erfolg, sondern vielmehr ein zumindest partielles Scheitern ihrer Bemühungen (vgl. Amendt 2003: 174ff.; Dollinger 2001: 95ff.; 2002: 312; SchmidtSemisch/Wehrheim 2005). Dies liegt nicht nur darin begründet, dass die erwar-
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teten Zielsetzungen und die erzielten Veränderungen von zentralen Projekten wie etwa der Substitutionsbehandlung divergieren und deswegen auch vielfach kritisch beurteilt werden1. Oder dass die drogenpolitische Strategie der Akzeptanz eine unklare Aufgabenstellung und Zielperspektive für die Soziale Arbeit hinterlässt (vgl. Vogt 1999) und damit Tendenzen einer Entprofessionalisierung im Bereich des Drogenhilfesystems mit sich bringt (vgl. Schmidt 2003: 225f.). Weitaus bedeutsamer erscheint dagegen, dass die niedrigschwellig organisierten Einrichtungen nur vordergründig etwas mit wirklicher Akzeptanz von Drogenkonsumenten zu tun haben. Kontaktläden und Gesundheitsräume sind vielmehr zu einem festen Bestandteil einer spätmodernen Kontroll- und Ordnungspolitik geworden (s. Kap. 8.3.4). Besonders in den Großstädten werden nämlich „die Grenzlinien von Inklusion und Exklusion (...) auf eine neuartige Weise markiert, nicht nur sozial, sondern unter dem Gesichtspunkt von Sicherheit auch geographisch“ (Legnaro 1997: 278). Ebenso wie dem Arbeitslosen bei fehlender Aktivierungsbereitschaft keinerlei Unterstützung mehr zugebilligt wird und sich infolgedessen die Möglichkeiten an gesellschaftlicher Partizipation für ihn verringern, so schließen sich auch im städtischen Raum die Zugänge für gesellschaftlich „inaktive“ Randgruppen und damit auch ihre Chancen an sozialer Teilhabe. Während die „Inaktiven“ aus bestimmten Räumen oder Systemen ausgegrenzt werden, werden ihnen parallel dazu klar umgrenzte Räumlichkeiten zugewiesen. Anstelle des Wohlfahrtsstaats scheint es gegenwärtig „eine Vielzahl von Mikrosektoren >zu geben@, in denen sich diejenigen aufhalten, die unfähig oder nicht willens sind, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen oder Risikomanagement zu leisten, die nicht in der Lage sind, verantwortlich ein selbstbestimmtes Leben zu führen“ (Rose 2000: 103). Inwieweit die Einrichtungen der akzeptierenden Drogenarbeit diesen Mikrosektoren zugeordnet werden können, soll an späterer Stelle expliziert werden (s. Kap. 8.3.4). War Aids in den 1980er Jahren der Motor für eine Veränderung im gesellschaftlichen Umgang mit Drogenkonsumenten, so ist für die 1990er Jahre ähnliches für die Droge Ecstasy zu konstatieren. Im Bereich der Suchtforschung wurde am Ende des 20. Jahrhunderts auf eine Trendwende beim Konsum illega1
Während etwa Gerlach und Engemann (1999: 37) mit Rückgriff auf Forschungsergebnisse aus den 1990er Jahren noch von einer eindrucksvollen Effektivität von Substitutionsbehandlungen sprechen, stellt Viethen (2005: 299) bei einer Auswertung verschiedener Evaluationsstudien zur Methadonsubstitution „merkliche Diskrepanzen zwischen ursprünglichen Zielen und tatsächlich erreichten Veränderungen“ fest. So würden die beiden wichtigsten Behandlungsziele, nämlich die Verbesserung der gesundheitlichen Situation und die berufliche Integration, selten erreicht. Zwar habe sich die Zahl der HIV- Infektionen reduziert, dafür lasse sich aber im Gegenzug eine starke Erhöhung der Hepatitisinfektionen feststellen (vgl. ebd.: 286). Hinsichtlich der beruflichen Integration seien die Ergebnisse „geradezu enttäuschend“ (ebd.: 288). Nur wenigen Probanden gelänge ein eigenständiger Beitrag zum Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit.
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ler Drogen aufmerksam gemacht. Immer weniger, so die These, würden Jugendliche von sedierenden und betäubenden Substanzen Gebrauch machen, sondern vielmehr leistungssteigernde Drogen wie etwa die Designerdroge Ecstasy in Anspruch nehmen (vgl. z.B. Gerhard 2004: 27; Thomasius 1999: 5; Schroers 1998: 213; v. Wolffersdorff 2001: 333)1. Dabei steht die Figur des Ecstasykonsumenten dem in öffentlichen und massenmedialen Diskursen, aber auch in weiten Teilen der Wissenschaft produzierten Bild des „pathologischen Drogenkonsumenten“, das sich aus amotivationalem Syndrom, Verelendung und gravierenden Persönlichkeitsdefiziten zusammensetzt, diametral entgegen: „Ihr Bildungshintergrund und Lebensstil verweist nämlich eher auf gesicherte familiäre und berufliche Unterstützungssysteme. Der typische Konsument lebt in festen sozialen Beziehungen, steht in einem Ausbildungs- bzw. Arbeitsverhältnis und ist gesellschaftlich integriert“ (Silbereisen 1999: 75; s.a. Gantner 1999: 168).
Wo sozialwissenschaftliche Arbeiten schon seit langer Zeit auf die Möglichkeit eines kontrollierten und sozial integrierten Konsums auch der „harten Drogen“ hingewiesen haben (s. Kap. 6.2), da wird gegenwärtig mit großem Erstaunen festgestellt: „Ecstasy-Konsumenten sind i.d.R. Wochenendkonsumenten“ (Flüsmeier/Rakete 1999: 84). Wenn sie Drogen konsumieren, dann nicht alleine, sondern zusammen mit anderen Personen und hier besonders „mit rekreativer Zielsetzung im Rahmen einer Party- und Ausgehkultur“ (Schroers 1998: 214). Zudem würden die meisten Konsumenten mit der Übernahme von Erwachsenenrollen den Substanzgebrauch beenden (vgl. Silbereisen 1999: 75). Letztendlich führt dies dazu, dem Ecstasykonsumenten eine qualitative Differenz zum Haschisch- und Opiumkonsumenten der Protestgeneration früherer Jahre zu attestieren. Sei dieser noch durch „Kontemplation, Passivität und Ausstieg“ (v. Wolffersdorff 2001: 333) gekennzeichnet gewesen, so lege die heutige Konsumentengeneration „eine explizit modernisierungsbejahende Haltung an den Tag“ (Schroers 1998: 214). Nach Gantner (1999: 172) werden Leistungsbereitschaft, Anpassungsfähigkeit, Streben nach Perfektion, Attraktivität und Schönheit und die Betonung von Individualität und Einzigartigkeit unter den Partykonsumenten als ranghohe Normen und Werte betrachtet. In dieser Hinsicht eignet den Techno- und Raver-Szenen demnach „nicht mehr das subkulturelle Selbstverständnis von Außenseitern. Es handelt sich vielmehr um jugendkulturelle Teilgruppen, die allenfalls einen partiellen und temporären Ausstieg – mit ,gesichertem Rückfahrtschein‘ (Negt) und kalkuliertem Risiko – aus den Zu-
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Zur Kritik an der These der Trendwende vgl. Dollinger 2002: 64ff.; zum Begriff der Designerdroge und zur Geschichte von Ecstasy vgl. Schmidt-Semisch 1997.
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sammenhängen der Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft praktizieren“ (Ger hard 2004: 31). Allerdings hat nicht nur das Phänomen des Ecstasykonsumenten zu einer tendenziellen Neubewertung des Drogengebrauchs geführt. Allem Anschein nach sind auch die Erkenntnisse der Kritischen Kriminologie in den Diskurs der modernen Jugendrisikoforschung diffundiert, so dass die Ubiqutiät und Normalität abweichenden Verhaltens im Verlauf der Jugendzeit Berücksichtigung findet. Exemplarisch können hierzu die Aussagen von Nickels (2000: 293) herangezogen werden, nach deren Meinung „die moderne Jugendforschung die funktionale Bedeutung von jugendlichem Risikoverhalten anerkennt (...). Dabei wird jugendliches Risikoverhalten nicht nur als Betäubungs- und Fluchtversuch, sondern als normale Phase des Erwachsenwerdens gesehen. Dazu gehört auch das Ausprobieren von Erfahrungen mit psychotropen Substanzen“. Nach Franzkowiak (1999: 63) kann Risikoverhalten „zweifellos den Einstieg in eine irreversible Selbstschädigung, in Suchtgefährdung oder Delinquenz markieren, muß aber nicht unbedingt dazu führen. Eher gehört es, im Rahmen der Bewältigung von alterspezifischen Entwicklungsaufgaben, als Durchgangsstation zur normalen Entwicklung zwischen Pubertät, Rollenauseinandersetzung, Identitätsbildung, Berufseintritt und Sexualität/Partnerbindung“. In diesem Zusammenhang kommen Freitag und Hurrelmann (1999) zu der Erkenntnis, dass die illegalen Substanzen angesichts der Normalität ihres Gebrauchs als „die neuen Alltagsdrogen“ zu bezeichnen sind: „Der Begriff ,Alltagsdrogen‘ soll unterstreichen, wie selbstverständlich die Existenz, die Bekanntheit und die Nutzung dieser Stoffe für Jugendliche in ihrem täglichen Verhalten und insbesondere bei der Auseinandersetzung mit ihren alterstypischen Entwicklungsaufgaben ist“ (ebd.: 8). Wenn nun aber die Feststellung getroffen wird, dass der Konsum psychoaktiver Substanzen im Jugendalter eine gewisse Normalität besitzt und die heutige Konsumentengeneration gerade nicht mehr die zentralen gesellschaftlichen Normen und Werte in Frage stellen will und ihr damit, wie Schmidt-Semisch (1997: 37) es polemisch ausdrückt, die „Feindbildeignung“ fehlt, dann kann auch sukzessive darauf verzichtet werden, ihren Drogengebrauch unter allen Umständen zu verhindern. In diesem Zusammenhang lässt sich auf die Cannabis-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1994 hinweisen, in der zwar die prohibitive Gesetzgebung im Großen und Ganzen bestätigt, gleichzeitig aber die Strafverfolgung zur Diversion verpflichtet wurde. Ohne dass es zu einer Verhandlung kommen muss, kann demnach nach § 31a BtMG das Ermittlungsverfahren bei Delikten mit einer „geringen Menge“ zum Eigenverbrauch schon durch die Staatsanwaltschaft eingestellt werden. Zwar lässt sich in diesem Zusammenhang nicht von einer wirklichen Entkriminalisierung von Drogenkon-
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sum sprechen, da „effektive Sanktionswahrscheinlichkeiten“ (Koenen 1999: 259) weiterhin aufrecht erhalten werden. Allerdings ist mit Kemmesies (2004: 210f.) darauf hinzuweisen, dass die Implementierung des § 31a BtMG eine gewisse Entdramatisierung des Cannabiskonsums nach sich gezogen hat. Es wurde eine Einstellung gegenüber dieser Substanz „als eine weitgehend gesellschaftlich akzeptierte – zumindest oft geduldete – Droge“ gefördert, so dass Konsumenten gegenwärtig immer seltener Stigmatisierungsprozessen ausgesetzt sind, sollte ihr Konsum sichtbar werden. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts lässt sich demnach als „Symptom für eine zögerliche Verwandlung der rechtlichen Bewertung des Drogenkonsums von einer devianten zu einer angepaßten Abweichung lesen“ (Koenen 1999: 259) und reiht sich damit – freilich inkonsequent – in die Wahrnehmung des abweichendem Verhalten ein, die vorab als „criminology of the self“ beschrieben wurde (s. Kap. 8.1). Es erscheint auch kaum plausibel, dass in einer Gesellschaft, die immer weniger auf genormte und normalisierte, sondern vielmehr auf flexible, zur autonomen Eigensteuerung fähige und sich unternehmerisch inszenierende Persönlichkeiten angewiesen ist, ein staatliches Verbot einzelner Substanzen aufrecht erhalten wird. Mit den Worten von Ronneberger (2000: 317): „Es ist offensichtlich, daß heute die soziale Position der Individuen nicht nur von der Stellung im Produktions- und Arbeitsprozeß abhängt, sondern zunehmend auch von symbolischen Formen der Distinktion (...). Zur Wahrung der gesellschaftlichen Stellung der Subjekte sind bestimmte Konsummuster inzwischen unerläßlich geworden. Die Unterhaltungsindustrie und der Einzelhandel versuchen wiederum für diese Formen der Identitätsbildung, die notwendigen Symbole und Zeichen mitzuliefern, indem sie die Waren und Dienstleistungsprodukte als ,Erlebnis‘ oder ,Lifestyle‘ anbieten“.
Wenn aber die Symbolisierung von Einzigartigkeit und die Kultivierung und Optimierung von Differenz als ranghohe Verhaltensanforderungen einer „Unternehmer-Gesellschaft“ (Krasmann 2000b) gelten, dann ist gleichzeitig auch „Unangepasstheit (...) zu kultivieren, weil sie ökonomisch gesehen ein Alleinstellungsmerkmal darstellt“ (Bröckling 2004b: 275). In dieser Hinsicht verspricht dann auch Drogenkonsum als ein Abweichen von einem erwarteten, durchschnittlichen Verhalten „einen Distinktionsgewinn (...), der die Prämie für unauffälliges Verhalten übersteigt“ (Koenen 1999: 246). Darüber hinaus widerspricht der Gebrauch illegaler Drogen keineswegs der mit dem Begriff „Wellness“ umschriebenen Gesundheitsnorm (s. Kap. 7.2.2), ist doch die „duty to be well“ keineswegs gleichbedeutend mit einer asketischen Lebensführung. Vielmehr verkörpert sie die Abkehr von einer krankheitszentrierten hin zu einer gesundheitsorientieren Sichtweise und damit auch die Hinwendung zu einer „hedonistischen Moral“ (Keupp 1995: 68). „Wellness“ als die aktiv und demonstra-
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tiv zur Schau gestellte Gesundheit impliziert in diesem Sinne keinesfalls die Abstinenz von Drogen. „Sie impliziert aber die Fähigkeit zur Unterscheidung, aktiven Aneignung und stilisierten Darstellung der distinktiven Symbolik, die sich mit unterschiedlichen Drogen verbindet. Mit dem Konsum von ’life-style-Drogen‘ reklamiert man Zugehörigkeit und stellt sich als eine Verkörperung des Typus cooler Modernität dar“ (Legnaro 2001: 125). Natürlich kann Drogenkonsum nicht an allen Stellen und zu jeder Zeit gezeigt werden. Worauf es ankommt, ist die modulierende und selbstkontrollierte Einwirkung auf sich selbst, d.h. die situationsgerechte und angemessene Stilisierung des Rausches an den dafür vorgesehenen Orten (in Diskotheken und nicht am Arbeitsplatz) und zu den dafür vorgesehenen Zeiten (am Wochenende und nicht während der Schul- oder Arbeitswoche). Vor diesem Hintergrund kann man die Feststellung treffen, dass die konkrete Ausgestaltung der gegenwärtigen Drogenkontrolle nicht nur durch die sukzessive Implementierung akzeptierender Hilfsangebote einer Veränderung unterzogen wurde, sondern dass sich auch im Hinblick auf die „Abweichung der Angepaßten“ (Frehsee 1991) ein tendenzieller Kontrollwandel vollzogen hat. Natürlich bleiben Kriminalisierung auf der einen und das Abstinenzparadigma auf der anderen Seite allein schon durch die rechtliche Differenzierung von legalen und illegalen Drogen weiterhin erhalten. Jedoch hat das Drogenstrafrecht sukzessive seinen „exklusiven, dogmatisch-sanktionierenden Charakter“ (Franzkowiak 1999: 68) verloren. Das „heimliche Curriculum des Abstinenzdogmas“ steht nach Franzkowiak (2002: 114) „mehr und mehr in der Kritik“ und auch Schmidt-Semisch (2001: 136) stellt fest: „Vom Ziel einer ,drogenfreien Gesellschaft‘ mit all ihren begleitenden Mythen, wie etwa der ,Einstiegsthese‘, dem ,Anfixen‘ oder der Rede von der sofortigen Sucht nach einmaligem Gebrauch, ist immer seltener zu hören“.
Vor allem im Bezug auf Ecstasy hat sich eine Akzentverschiebung gegenüber der bisherigen Drogenpolitik vollzogen. „Der Ruf nach neuen, strengeren Gesetzen ertönt im Zusammenhang mit Ecstasy so gut wie gar nicht“ (Kalke/ Michels 1999: 277). Stattdessen ist ein „partieller Wandel in der bundesdeutschen Drogenpolitik“ (Nickels 2000: 292) festzustellen. Dabei wird Prävention zum „Zauberwort“ (Kalke/Michels 1999: 276). Während die repressiven Elemente im Bereich der Drogenpolitik zum Teil zurückgefahren werden, ist parallel dazu eine verstärkte Implementierung suchtpräventiver Hilfsangebote auszumachen, wobei das Motto „Vorbeugen ist besser als heilen“ (Drogen- und Suchtbericht 2003: 19) als zentrale Legitimationsformel für diesen drogenpolitischen Wandel herangezogen wird.
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8.3
Drogenkonsum und soziale Kontrolle zwischen Risikomanagement und punitiver Segregation
8.3.1
Suchtprävention – ein Ende der sozialen Kontrolle?
Prävention ist in Anlehnung an Arbeiten des Mediziners Caplan durch drei Teilbereiche charakterisiert, die sich hinsichtlich der zeitlichen Strukturiertheit unterscheiden lassen (vgl. Freitag 1999: 84ff.; Kim 2003: 95ff.; Schmidt 1998: 15ff.): Unter Primärprävention werden Interventionen verstanden, die noch vor Beginn einer Erkrankung ansetzen und an die gesamte Bevölkerung gerichtet sind. Primärpräventive Maßnahmen in der Drogenarbeit setzen folglich bereits vor dem Konsumbeginn an. Sie verfolgen das Ziel, den Einstieg in den Gebrauch psychoaktiver Substanzen zu verhindern oder hinauszögern. In dieser Hinsicht sollen vor allem Kinder und Jugendliche durch den Erwerb von individuellen Kompetenzen zur Bewältigung von Problemen und durch Aufklärungsarbeit vom Gebrauch illegaler Drogen ferngehalten werden. Unter Sekundärprävention wird die Früherkennung bereits in Erscheinung getretener, im Anfangsstadium befindlicher Erkrankungen verstanden. Zielgruppen sind folglich erkrankungsgefährdete Personen. Sekundärpräventive Maßnahmen im Drogenbereich richten sich an Personengruppen, die bereits Erfahrungen mit Drogen gesammelt haben. Mit Hilfe von Maßnahmen der Frühintervention soll problematischer Konsum identifiziert und die Entwicklung von Missbrauchsverhalten und Drogenabhängigkeit verhindert werden. Unter dem Begriff der Tertiärprävention werden Maßnahmen der Rückfallprophylaxe und der Rehabilitation zusammengefasst. Zielgruppen sind damit bereits erkrankte Personengruppen. Tertiärpräventive Interventionen in der Drogenarbeit zielen auf Personen, die als drogenabhängig klassifiziert wurden. Primäre Zielorientierung der tertiären Prävention ist seit der Implementierung akzeptierender Hilfsangebote nicht mehr unbedingt die Abstinenz von Drogen. Vielmehr sollen die negativen Konsequenzen, die aus der Drogensucht resultieren, möglichst umfassend minimiert werden. Im Verlauf der Geschichte der Drogen- und Suchtprävention haben sich unterschiedliche Konzeptionen etabliert, die heute in einem vielgestaltigen Feld nebeneinander und zum Teil auch gegeneinander existieren. Es gibt gegenwärtig 1 keine umfassende und einheitliche Zielorientierung in der Suchtprävention . Auffallend ist, dass in neueren Ansätzen ein Perspektivenwechsel zu beobachten ist: Im Gegensatz zu den althergebrachten Präventionsstrategien, die sich in erster Linie aus Abschreckungskonzepten und dem Postulat der lebenslangen 1
Zu unterschiedlichen Konzepten im Rahmen der suchtpräventiven Arbeit vgl. Sting/Blum 2003.
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Drogenabstinenz zusammensetzen, findet in neueren Konzepten der Umstand der Normalität und des transitorischen Charakters jugendlichen Drogenkonsums Berücksichtigung. Besonders seit dem Aufkommen der synthetischen Substanzen rücken prophylaktische Interventionsmaßnahmen wie das Konzept des „Drugchecking“ (vgl. z.B. Schroers 1999) und sekundärpräventive Strategien wie der Ansatz der „harm-reduction“ oder „safer-use-Kampagnen“ in den Vordergrund (vgl. z.B. Harrach/Kunkel 1997; Rabes 1999). Mit diesen Präventionskonzepten soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die meisten Konsumenten kontrollierte Konsumformen praktizieren und nur wenigen Drogengebrauchern die Kontrolle des Konsums entgleitet. Statt der Verhinderung des Drogengebrauchs wird ein eigenverantwortlicher und risikoreduzierender Umgang mit Drogen als Zielvorgabe suchtpräventiver Angebote postuliert. Dem „Just say no“ der herkömmlichen Kampagnen soll mit einem pragmatischen „Just say know“ begegnet werden (vgl. Harrach/Kunkel 1997: 295).
„Risikokompetenz“ und „Drogenmündigkeit“ als Mechanismen eines „Regierens über Freiheit“ Am nachdrücklichsten haben diese Position in letzter Zeit Peter Franzkowiak (1999; 2002) und Gundula Barsch (2008) vertreten. Der Drogenabstinenz räumen diese Autoren zwar immer noch eine wichtige Stellung ein, allerdings sollte sie „nicht die einzige Option bzw. die conditio sine qua non der primären Suchtprävention sein“ (Franzkowiak 1999: 65). In dieser Hinsicht plädiert Franzkowiak mit den Schlagwörtern der „Risikokompetenz“ und des „Risikomanagements“ für die neue Leitorientierung eines eigenverantwortlichen Umgangs mit psychoaktiven Substanzen, um auf diese Weise ein längerfristiges Missbrauchsverhalten zu verhindern. Parallel dazu sollen repressive Maßnahmen der sozialen Kontrolle nicht mehr handlungsleitend sein (vgl. Franzkowiak 2002: 114f.). Risikokompetenz setzt sich dabei aus mehreren Komponenten zusammen, wie etwa „ein informierteres Problembewusstsein gegenüber Drogenwirkungen und Suchtgefahren“, eine eigenverantwortliche „Entwicklung von Gebrauchsnormen, die das persönliche Risiko und schädliche Folgen für die Lebensumwelt und die Gesellschaft weitgehend mindern“ oder „konsequente Punktnüchternheit für ausgewählte Lebensräume und Entwicklungsstadien“ (ebd.: 113). Auch Barsch (2008: 5) möchte mit dem Verweis auf das Schlagwort der „Drogenmündigkeit“ Bildungsprozesse initiieren und Konsumenten mit dem entsprechenden Wissen, den Fähigkeiten und Einstellungen ausstatten, um einen „geglückten Umgang mit psychoaktiven Substanzen“ zu ermöglichen: „Das heißt, die Menschen werden unterstützt, zu einer variantenreichen Praxis mit
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höchst flexiblen Konsummustern zu finden, die sich nach Ort, Zeit, Person und Situation unterscheiden und sowohl Substanzkonsum als auch Substanzabstinenz beinhalten“ (ebd.: 6). Auf den ersten Blick erweckt es den Anschein, als ob das Moment der sozialen Kontrolle in diesen neueren Konzeptionen der Prävention verschwunden ist, versprechen sie doch ein Mehr an individueller Entscheidungsfreiheit und eine weitestgehend autonome Regulierung des Drogenkonsumgeschehens. Der zweite Blick offenbart allerdings, da sich die Ansätze der „Risikokompetenz“ und der „Drogenmündigkeit“ mühelos jener neuartigen Kontrollkultur zuordnen lassen können, die in Kap. 7.3 als ein „Regieren über Freiheit“ (Krasmann 1999) charakterisiert wurden. Auch wenn Drogenkonsum akzeptiert wird, bedeutet das noch lange nicht die Auflösung von Machtbeziehungen und Normativität, sondern lediglich deren Modifikation. Externe Mechanismen der sozialen Kontrolle werden zwar zurückgefahren, gleichzeitig werden aber die Selbstkontrollpotentiale des Einzelnen in Anspruch genommen. Indem das Individuum mit den entsprechenden Informationen versorgt und in die Lage versetzt wird, sich hinsichtlich der Risiken des Lebens kompetent und „klug“ zu verhalten, wird es aus der fürsorglichen wohlfahrtsstaatlichen Belagerung in die Freiheit der Selbstsorge entlassen. Und dieses „kluge“ Verhalten bedeutet dann allem Anschein nach wiederum die Aufforderung zu einer lebenslangen Drogenabstinenz (vgl. Franzkowiak 2002: 115), mit dem Unterschied, dass diese Enthaltsamkeit nicht mehr durch massive Strafandrohungen und Mechanismen der Disziplinierung erzwungen werden soll. Vielmehr sollen die Individuen durch „>p@ädagogischpräventive Risikobegleitung“ (Franzkowiak 1999: 67) und durch die Bereitstellung des entsprechenden Risikowissens dazu angeleitet werden, von sich aus zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Dem Klienten der Suchtprävention wird nicht mehr anhand von direktiven Ratschlägen und Verboten ein bestimmtes Verhalten aufgedrängt, sondern das Sicherheitsmanagement der akzeptanzorientierten Prävention basiert darauf, dass der Konsument Risikoinformationen erhält, mittels derer er sein persönliches Risikopotential einschätzen kann. Damit wird die Aufforderung verbunden, sich möglichst um eine Risikovermeidung zu bemühen. Das Individuum wird so befähigt, „mit Hilfe der Begriffe und Normen von Experten die Wahrheit über sich zu sagen und sich zum Subjekt und Objekt der Selbstführung zu machen. Die Domäne des Selbst kann so normalisiert werden, ohne dass seine formale Autonomie durchbrochen würde“ (Duttweiler 2004: 86f.). Ebenso wie der „Arbeitskraftunternehmer“ (Voß/Pongratz 1998) unter dem Signum von Autonomie und Eigeninitiative seine Individualität ins Spiel bringen kann, wie dies den betrieblichen Erfordernissen entspricht, so wird auch bezüglich des Drogenkonsums die Identität der Interessen von Subjekt und Gesellschaft vorausgesetzt. Mit den Worten von Franzkowiak (2002:
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120): „Die neue Sachlichkeit in der Betrachtung von jugendlichem Risikoverhalten, Drogen und Drogenwirkungen findet ihren Ausdruck in einer gemeinsam geteilten Sicherheitsphilosophie“. Über Normen wie Selbstverantwortung und Selbstführung werden in dieser Hinsicht die Selbstkontrollpotentiale der Subjekte „angezapft“. Die Konsequenzen, die hieraus resultieren, liegen auf der Hand: In demselben Maße wie das Kriminalitätsopfer bei mangelnder Vorsorge in die Verantwortung für das kriminelle Übel, das ihm widerfährt, einbezogen wird, so wird auch der Drogenkonsument verantwortlich gemacht, sollte er an den normativen Vorgaben der akzeptanzorientierten Präventionskonzepte scheitern. Dieses Scheitern verweist dann aber „nicht auf Defizite der Risikovorgaben – die in diffusen Expertenschaften und statistischen ,Wahrheiten‘ gleichsam abgesichert sind –, sondern es lässt sich retrospektiv eine Inkompetenz konstituieren, eine individuelle, bis zum Lebens- und Erziehungsstil zurückreichende Anamnese und eine am Einzelnen festzumachende Verantwortung für ,seine‘ Abhängigkeit“ (Dollinger 2002: 179). Ob in diesem Zusammenhang jedoch überhaupt noch von Sucht und Drogenabhängigkeit gesprochen werden kann, erscheint zumindest zweifelhaft. Versteht man unter Sucht im klassischen Sinne „den (weitgehenden) Verlust der Fähigkeit zum mäßigen, willens- bzw. vernunftgesteuerten Konsum (...) eines Suchtmittels hinsichtlich Menge, Frequenz, Intensität und/oder Situation“ (Kellermann 2005: 17), so lässt sich in Anbetracht der neoliberalen Regierungstechniken jeder Ausdruck von Sucht und Abhängigkeit auch im Sinne des KostenNutzen-Ansatzes und damit als eine rationale Wahlentscheidung interpretieren. Erste theoretische Konzeptionen einer solchen Denkrichtung sind bereits seit längerer Zeit im Umfeld der Vertreter einer akzeptanzorientierten Drogenarbeit vorhanden, beispielsweise bei Herwig-Lempp (1994: 114ff.), der das Erklärungsprinzip der „Abhängigkeit“ dekonstruiert und durch das Erklärungsprinzip der „Autonomie“ substituiert wissen will: „Es ist möglich, das Verhalten der Konsumenten aller möglichen Drogen als von ihnen selbst gewählt und ihrem Willen gemäß zu verstehen und zu erklären. Die Aufgabe der professionellen Helfer besteht damit darin, diese denkbare Interpretation dem Konsumenten zu vermitteln. (...) Das Leiden an der ,Abhängigkeit‘ gilt es zu vermeiden, dem Konsumenten soll wieder die Kompetenz der Autonomie und Selbstbestimmung zugesprochen werden, damit auch er sich als autonom und kontrolliert erlebt. Damit käme er in die Lage, eingefahrene Verhaltensmuster aus eigener Kraft zu verändern – sofern er es will. (...) Der Gewinn für die bisherigen ,Abhängigen‘ ebenso wie für die Gesellschaft läge darin, daß sie sich wieder als aktiv handelnde, ihr Verhalten selbst verantwortende Subjekte erleben könnten“.
Die Folgen einer solchen Sichtweise, wie sie Herwig-Lempp empfiehlt, sind mehr als offensichtlich und werden vom Autor auch selbst genannt:
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„Freilich bedeutet dieses Wieder-in-den-Stand-der-Verantwortung-setzen, daß Drogenkonsumenten für das, was sie tun, auch zur Rechenschaft gezogen werden, da sie es selbst sind, die entscheiden und handeln“ (ebd.: 113).
Bietet das klassische Konzept der Suchtkrankheit für den Drogenabhängigen die Vorteile, dass er – zumindest teilweise – von moralischen Degradierungen verschont wird, dass er durch die Zuweisung der Krankenrolle von vielen Verhaltensanforderungen der Außenwelt geschützt ist und dass er auf professionelle Hilfe und nicht zuletzt auch auf finanzielle und rechtliche Unterstützung bauen kann, so gingen diese Schutzfunktionen des Erklärungsprinzips „Abhängigkeit“ verloren, wenn dieses vollständig durch das Erklärungsprinzip „Autonomie“ ersetzt würde. „Sucht“ erscheint im Rahmen dieser Betrachtungsweise als eine selbst verschuldete Angelegenheit, für die das betroffene Individuum mit allen seinen Konsequenzen auch selbst verantwortlich ist. Dass mit einer solchen Sichtweise, wie Herwig-Lempp sie vorschlägt, wiederum neue Formen der Stigmatisierung verbunden sind, darauf macht Degkwitz (1999: 50) mit eindeutigen Worten aufmerksam: „Es scheint so, als würde Herwig-Lempp zu einer säkularisierten Form der Suchtentstehung zurückkehren, wie sie vor der Krankheitsvorstellung herrschte: Aus dem Sünder der Vergangenheit, der sich an Gebote nicht hält, nicht halten will, wird jetzt der Versager, der den Anspruch an ,Autonomie‘ nicht einlösen kann, einlösen will“. Die Vertreter akzeptanzorientierter Suchtprävention kommen aber zu dem Fazit, dass das Konzept der „Risikokompetenz“ bzw. der „Drogenmündigkeit“ nicht für alle Individuen erreichbar ist. Nach Silbereisen (1999: 75) gibt es „eine kleine Minderheit (...), die auch jenseits der Jugendzeit weiter Problemverhalten zeigen werden“. Vor diesem Hintergrund sind im Rahmen der suchtpräventiven Arbeit die „Problemkonsumenten“ von den „normalen“ Jugendlichen zu differenzieren. Von Bedeutung müsse, so Franzkowiak (1999: 67), „die Entwicklung einer präventiven Doppelstrategie“ sein: „Problemkonsumenten und ihre Settings benötigen eigenständige Aufklärungs- und Begleitungsstrategien, die nicht mit denen der Mehrheitsjugend im Risiko-Durchgangsstadium vermischt werden dürfen“ (Franzkowiak 2002: 118). Die Schwierigkeit besteht freilich darin, die problembelasteten Individuen zuverlässig zu erkennen, um diese rechtzeitig von den mehrheitlich problemunbelasteten Jugendlichen zu trennen. Schmidt (1998: 104) bietet hierfür einen Lösungsweg an: „Zuverlässiges Screening ist erforderlich, damit ,harmlos‘ experimentierende Jugendliche selektiert und nicht mit überdimensionierten Unterstützungsangeboten verunsichert oder stigmatisiert werden und damit riskant konsumierende Jugendliche eindeutig identifiziert werden und für diese spezifische Zielgruppe ein Hilfsangebot bereitgestellt werden kann. (...) Da nicht alle drogenkonsumierenden Jugendlichen schädliche Gebrauchsmuster entwickeln, (...) liegt die besondere Herausforderung der Prävention in der Identifizierung
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von Jugendlichen, die auf dem Weg sind, Probleme zu entwickeln und in der Verhütung eines Abgleitens in mißbräuchliches Verhalten“.
Die Suchtprävention steht damit aber, wie jede andere Form der Prävention auch, vor einer gewissen Problematik: Da präventives Handeln zu unterbinden versucht, dass ein bestimmter, als unerwünscht erachteter Zustand eintritt, muss sie die Bedingungen kennen, welche die Genese dieses als problematisch definierten zukünftigen Zustands begünstigen. Präventionsmaßnahmen unterliegen damit, da sie ihrer Logik nach immer auf die Verhinderung eines vermuteten, aber noch nicht manifesten Ereignisses abzielen, einem probabilistischen Kalkül, d.h. präventives Handeln „ist ausschließlich auf einer wahrscheinlichkeitsprognostischen Basis möglich“ (Ziegler 2005a: 61). Suchtprävention hat folglich diejenigen Bedingungen und Faktoren zu benennen, die die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer Sucht erhöhen oder verringern. Vor diesem Hintergrund isoliert und korreliert die Präventionsforschung Risikofaktoren, um diejenigen Personengruppen zu identifizieren, die ein „Hochrisiko“ (Schmidt 1998: 107) für die Entwicklung einer Drogenabhängigkeit tragen. Zwar existieren bislang in Deutschland noch keine adäquaten Früherkennungsverfahren für gefährdete Jugendliche (vgl. Farke/Broekmann 2003: 7; Schmidt 1998: 111), jedoch kann am Beispiel des sog. INdex SUchtgefährdung (INSU) dargestellt werden, wie so ein Diagnoseinstrument zur „Identifizierung von Hochrisikojugendlichen“ (Schmidt 1998: 108) aussehen könnte. Dieser INSU könnte nach Meinung der Autoren Farke und Broekmann (2003: 16) „zukünftig in allen medizinischen und psychosozialen Einrichtungen, in denen die Zielgruppe vorstellig wird, eingeführt werden“. Auf der Basis einer explorativen Faktorenanalyse bestimmen die Verfasser dabei 21 Risikofaktorenvariablen, die sie dann in fünf Indikatoren (Umfeld, Drogen, Schule, Familie, Persönlichkeit) zusammenfassen (vgl. ebd.: 8ff.). Jedem dieser Variablen wird dabei ein Punktwert zugeordnet, wobei die Summe aller Risikofaktorenpunktwerte 100 ergibt. So gelten etwa folgende Bedingungen und Verhaltensweisen als Risikofaktoren für problematischen Drogenkonsum, wobei die Zahl in Klammern den jeweiligen Gewichtungspunkten entspricht: „drogenkonsumierender Freundeskreis“ (15), „häufiger Aufenthalt in der Clique“ (10), „wöchentliches Schulschwänzen“ (8), „häufiger Aufenthalt an öffentlichen Plätzen“ (5), „häufiger Konsum mindestens einer Droge“ (5), „Gewalterfahrungen in der Familie (4), „Einstieg in den Zigarettenkonsum im Alter von unter zwölf Jahren“ (2,5) „geringes Selbstvertrauen“ (2) usw. Eine Person, die alle Risikofaktoren trägt, erhält dementsprechend einen Punktewert von 100. Dabei werden drei Kategorien gebildet, um die unterschiedlichen Suchtgefährdungsgrade bestimmen zu können. Als „gering gefährdet“ gilt man mit weniger als 30 Punkten, von 31 bis 66
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Punkten erscheint man als „gefährdet“ und hat man über 66 Punkte, dann wird die betreffende Person als „stark gefährdet“ eingestuft. Auf den ersten Blick scheint dieses Früherkennungsverfahren ein wünschenswertes und sinnvolles Diagnoseinstrument darzustellen. Könnte nicht etwa der Praktiker der Drogenberatungsstelle auf diese Weise suchtgefährdete Jugendliche mit ziemlicher Sicherheit erkennen, um diesen rechtzeitig Hilfe zu Teil werden zu lassen, bevor es zu spät ist? Ist es nicht wünschenswert, künftige Übel durch geeignete Interventionen bereits im Hier und Jetzt zu vermeiden, als sie erst dann zu bekämpfen, wenn sie bereits manifest geworden sind? Alltagssprachlich ist der Begriff „Prävention“ so positiv besetzt, dass es nahezu schon frevelhaft ist, Vorbehalte gegenüber vorbeugenden Bemühungen zu haben. Auch in der aktuellen Praxis der Sozialen Arbeit gilt Prävention unhinterfragt als eine bedeutende, wenn nicht sogar als die wichtigste Maxime, wobei kritische Bemerkungen kaum noch vorzufinden sind. Im achten Jugendbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 1990 wurde eine präventive Orientierung als erstes Strukturprinzip der Jugendhilfe verankert (vgl. Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit 1990). So sehr vorbeugendes Handeln alltagspraktisch und professionspolitisch kaum in Frage gestellt wird, so sehr ist es notwendig, sich kritisch mit der Rationalität von Präventionsmaßnahmen auseinanderzusetzen, allen voran dann, wenn die sozialpädagogische Praxis zunehmend von präventiven Denkweisen durchdrungen wird. Die folgenden Ausführungen sollen deshalb zeigen, dass vorbeugendem Handeln immer mit Skepsis begegnet werden sollte, denn Prävention, so plausibel sie auch immer erscheinen mag, unterliegt nicht nur einer bestimmten Denklogik, die kritisch hinterfragt werden muss, sondern produziert immer auch nicht-intendierte Nebenfolgen und damit neue Risiken.
Zur Problematik (sucht-)präventiver Interventionsstrategien Da die Beziehung von sozialer Kontrolle und Drogenkonsum in dieser Arbeit eine konstitutive Bedeutung besitzt, ist zunächst die Frage zu klären, inwieweit präventives Handeln überhaupt als eine Maßnahme der sozialen Kontrolle betrachtet werden kann. Während in vielen Bereichen der Drogenarbeit aufgrund rechtlicher Regulierungen das Kontrollmoment offen zu Tage tritt – man denke nur an die § 35ff BtMG („Therapie statt Strafe“) –, liefert Prävention das Versprechen, ungewollte Entwicklungen bereits im Voraus zu verhindern, und dies ohne jegliche Form der Bevormundung und Normativität, sondern nur zum Besten der Klientel. Auch Lüders und Winkler (1992: 364) stellen in Frage, dass es eine Verbindung von sozialer Kontrolle und Prävention gibt. Nach Meinung
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der Autoren habe die Sozialpädagogik ihr früheres „Schmuddel-Image“ abgestreift und befinde sich auf dem Weg der „Normalisierung“. Diese These belegen sie u.a. mit dem Hinweis, dass die Soziale Arbeit ihren Kontrollcharakter abgelegt hat, indem sie sich von einer reaktiven zu einer präventiven Institution gewandelt hat. Die Plausibilität dieser Thesen kann jedoch schon allein aufgrund der bisherigen Ausführungen als wenig überzeugend eingestuft werden. Versteht man unter sozialer Kontrolle alle Maßnahmen, die – auf der Basis der Wahrnehmung einer Differenz zwischen einem Ist-Zustand und einem vorab definierten SollZustand (vgl. Nogala 2000a: 126) – darauf ausgerichtet sind, Normalität sicherzustellen, dann erweist sich Prävention als eine „Subkategorie der sozialen Kontrolle“ (Lamnek 1997: 216), die sich dadurch auszeichnet, dass sie „antizipatorisch vor dem jeweils praktizierten Verhalten“ erfolgt (ebd.). Vorbeugendes Handeln zielt immer darauf ab, den Eintritt eines als problematisch erachteten zukünftigen Zustands (z.B. Drogenkonsum, Sucht, Krankheit) bereits im Hier und Jetzt durch geeignete Maßnahmen zu verhindern. „Jede Prävention führt damit – implizit oder explizit – bestimmte Normalitätsannahmen mit sich“ (Lindner/Freund 2001: 82), so dass Präventionsanstrengungen zu „Orten sozialer Kontrolle durch Normsetzung (Abstinenz, gesunde Lebenskompetenz, Standfestigkeit, Risikokompetenz etc.)“ (Schneider 2004a: 205) werden. Eine präventive Orientierung Sozialer Arbeit bedeutet demnach keineswegs ein Ende ihrer klassischen Funktionsbestimmung als soziale Kontrollinstanz. Vielmehr bedeutet Prävention eine Ausweitung und Intensivierung dieses Funktionsprinzips, da mit der Konstruktion des „Risikojugendlichen“ eine neue Klientel gewonnen wurde, die vorher durch die Maschen des Hilfenetzes gefallen ist. Im Gegensatz zu reaktiven Kontrollmaßnahmen – hier wird interveniert, nachdem eine bestimmte Norm verletzt wurde – zielen präventive Interventionsstrategien auf ein vermutetes, derzeit allerdings noch nicht manifest gewordenes Ereignis. Aus der Tatsache, dass vorbeugendes Handeln immer auf die Zukunft bezogen ist, folgt demnach, dass die Bedingungen eruiert werden müssen, die das Auftreten des unerwünschten Zustands wahrscheinlich machen. Prävention ist damit eine Intervention in Phänomene, die als Risiko konzipiert werden. Sie richtet sich nicht direkt auf ein Problem als solches, sondern auf die Wahrscheinlichkeit seines zukünftigen Eintritts. Damit steht jegliche Form der Prävention vor einer spezifischen Problemkonstellation, da Zukunft allein als Prognose und über Wahrscheinlichkeitsaussagen antizipiert werden kann. „Eine solche Antizipierung ist nur da einfach, wo Ist-Zustände linear fortgeschrieben werden müssen. Offene und multiple/heterogene Prozesse vorauszusehen ist dagegen sehr viel komplizierter, weil einer bestimmten Gegenwartskonfiguration nicht eindeutig Effekte zugeschrieben werden können, da sich diese erst im Ver-
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lauf ihrer Entwicklung und unter ständiger Selbstbeeinflussung formieren“ (Schülein 1983: 17f.). Im Gegensatz zu relativ „unkomplizierten“ präventiven Interventionsstrategien, wie etwa gegen die Tuberkulose, der man mit ziemlicher Sicherheit durch eine Impfung vorbeugen kann, lassen sich komplexe soziale Phänomene und Prozesse, wie eben die Genese einer Suchterkrankung, nicht auf eindeutige Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge reduzieren. Präventives Handeln ist folglich „stets willkürlich“ (Schneider 2004a: 192) und immer selektiv angelegt, da aus einer nahezu unendlichen Vielzahl von möglichen Bedingungskonstellationen und Risikofaktoren für die Entstehung einer Drogenabhängigkeit nur einige ausgewählt und als problematisch eingestuft werden, während andere ausgeschlossen bleiben und nicht beachtet werden. Präventionswissen ist damit stets lückenhaft, macht aber gleichzeitig immer weitere Forschungsprogramme notwendig: „Wer vorbeugen will, weiß nie genug“ (Bröckling 2004a: 62). Im Rahmen von Prävention sind also stets nur probabilistische Zusammenhänge zu identifizieren, da angesichts ungeklärter Kausalitäten und komplexer Lebensbezüge keine eindeutig vorhersagbaren Entwicklungsrichtungen festgestellt werden können. Gerade sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse zur Suchtgenese zeigen, dass ein lineares, eindimensionales Abhängigkeitsmodell nicht der empirischen Realität entspricht. Biographische Verlaufsentwicklungen einer Drogenkarriere unterliegen einem Kontingenzaspekt, was bedeutet, dass sich immer alles auch ganz anders entwickeln kann, als es gegenwärtig den Anschein hat. „Es gibt weder ,die‘ Verlaufsform einer Drogenabhängigkeit, ,den‘ Drogenabhängigen oder gar die ,Suchtpersönlichkeit‘, noch gibt es ,die‘ Ursachen für deren Entstehung. Kein Lebenslauf führt unweigerlich zur Abhängigkeit, selbst wenn er ungünstige personale, soziale oder materielle Prognosedaten anhäuft“ (Schneider 2005: 269). Bei den meisten Konsumenten wird der Drogengebrauch wieder aufgegeben, ohne dass sich eine Abhängigkeit einstellt. Im Rahmen suchtpräventiver Maßnahmen werden diese empirischen Erkenntnisse allerdings nicht gewürdigt. Der vorübergehende Charakter jugendlichen Drogenkonsums findet ebenso wenig Berücksichtigung wie die sozialen Mechanismen, die zur Entstehung von Sucht beitragen. Vielmehr wird auf der Basis einer substanzzentrierten Sichtweise davon ausgegangen, dass Sucht generell vorprogrammiert ist, wenn die Risikofaktoren des Individuums nicht frühzeitig einer pädagogischen Einwirkung unterstellt werden. Während die meisten Jugendlichen einen genussorientieren und unproblematischen Konsum praktizieren, werden die extremen, aber relativ seltenen Konsumformen (Rausch bzw. Sucht) als Legitimationsgrundlage des eigenen professionellen Handelns dargestellt. Auf diese Weise wird Suchtprävention mit dem Verweis auf die entsprechenden Bedrohungsszenarien und Eskalationsunterstellungen als legitimes Vorgehen
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ausgewiesen. Drogenkonsumenten werden als defizitäre und hilfsbedürftige Wesen dargestellt, die keine Kompetenzen besitzen und deshalb „lebenskompetent“ und „stark“ gemacht werden müssen1. Damit werden im Rahmen der Wissenschaft Negativzuschreibungen generiert, die das Bild vom Drogenkonsumenten in Medien und Öffentlichkeit festlegen und Stigmatisierungen vom handlungsinkompetenten Drogengebraucher zementieren. Generell unterliegt vorbeugendes Handeln immer einer notorischen Defizitorientierung. Um der eigenen Profession eine Legitimationsgrundlage zu verschaffen, werden Kinder und Jugendliche als defizitäre Wesen konstruiert, die einer pädagogischen Hilfestellung bedürfen, um sich „normal“ zu entwickeln. Präventive Programme sind von der generellen Annahme geleitet, jugendliche Entwicklung und Entfaltung sei gefährdet und von Risiken geprägt. „Der Prävention sind Mängel, Defizite, Devianzen, Gefahren, Abweichungen oder sonstige Beeinträchtigungen immanent. Sie benötigt diese Kategorien geradezu existenziell – nämlich, um ihnen zuvorzukommen (...): Ohne Gefährdungen keine Prävention. Damit aber ist die Logik der Prävention unausweichlich strukturiert als notwendig misstrauens- und verdachtsgeleitete Wirklichkeitskonstruktion“ (Lindner/Freund 2001: 70). Im präventiven Blickwinkel erscheint die Freundesgruppe als ein Ort der Gefährdung und des Risikohandelns, die Familie als eine Stätte der Gewalt und Disharmonie, der Einzelne als eine schwache Persönlichkeit ohne Selbstwertgefühl und Frustrationstoleranz. Prävention nimmt also alles das in den Blick, was Kinder oder Jugendliche nicht können oder haben. Sie will nichts hervorbringen, sondern sie will nur verhindern. Zwar sollen auch innerhalb der Präventionslogik Stärken und Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen gefördert oder Lebensbedingungen verbessert werden, dies jedoch nur, um die Wahrscheinlichkeit devianten Verhaltens zu vermindern und nicht, weil es in einer demokratischen Gesellschaft ein Wert an sich sein sollte, Le2 bensverhältnisse zu gestalten und positive Lebensumstände zu fördern . Darüber hinaus ignoriert Prävention durch ihren permanenten „Vorschuss an Misstrauen“ (Dollinger 2002: 305) geradezu die innovative Funktion von abweichendem Verhalten, auf die bereits Durkheim (1974: 7) hingewiesen hat, wenn er sich die 1
2
„Kinder stark machen“ ist der Name eines Präventionsangebots der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, das auf dem Konzept der Lebenskompetenzförderung basiert (vgl. Drogen- und Suchtbericht 2008) Wenn heute die Behauptung aufgestellt wird, dass die moderne Suchtprävention ihre Defizitorientierung abgelegt hat, weil sie sich vermehrt auf die Förderung protektiver Faktoren konzentriert (so Seifert 1999: 284), dann kann diese These schlichtweg als falsch bezeichnet werden. Der Defizitblickwinkel bleibt auch hier weiterhin erhalten, da die sog. Schutzfaktoren nur insoweit eine Rolle spielen, als ihnen die Aufgabe zugeschrieben wird, potentielle Risikofaktoren auszugleichen und eine Suchtentstehung zu verhindern.
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
Frage stellt: „Wie oft ist das Verbrechen wirklich bloß eine Antizipation der zukünftigen Moral, der erste Schritt in dem, was sein wird“. Devianz hat immer auch eine Schrittmacherfunktion für sozialen Wandel, da grundlegende Veränderungen einer Gesellschaft und ihrer moralischen Integrationsformen zwangsläufig mit Verstößen gegen gesellschaftlich institutionalisierte Normen verbunden sind. Im Rahmen der Defizitperspektive wird also der risikobelastete Jugendliche als zukünftiger Süchtiger betrachtet. Suchtprävention unterliegt dabei stets der Gefahr, dasjenige Verhalten erst zu produzieren, welches sie eigentlich zu verhindern trachtet. Durch die Zuweisung von „Risiko-Labels“ (Hellerich/ Wambach 1983: 132) werden Prozesse der Stigmatisierung in Gang gesetzt, was zur Konsequenz hat, dass ein verändertes Beziehungs- und Interaktionsmuster zu der betroffenen Person aufgebaut wird. Vor allem primärpräventive Maßnahmen – da hier per definitionem noch kein Drogenkonsum stattgefunden hat – sind immer der Gefahr ausgesetzt, diese Prozesse bereits dann einzuleiten, bevor Drogenkonsum überhaupt stattgefunden hat. „Risikojugendliche“ müssen von einem Problem überzeugt werden, mit dem sie noch überhaupt keine Erfahrung gemacht haben, das also noch gar nicht existent ist. Durch die Vergabe von Risiko-Labels werden zukünftige und kontingente Entwicklungsprozesse, Erwartungen und Wahrnehmungsstrukturen nach der Logik der Risikoprognose strukturiert. Ausgrenzungsprozesse gehen für stigmatisierte Personen in dieser Hinsicht mit einer Einbuße an Handlungs- und Partizipationsmöglichkeiten einher, so dass die Wahrscheinlichkeit gegeben ist, dass eine allmähliche Übereinstimmung zwischen tatsächlichem Verhalten und Risikoprognose herbeigeführt wird: Der „Hochrisikojugendliche“ verhält sich letztendlich so, wie man es von einem „Hochrisikojugendlichen“ erwarten kann. Präventives Handeln operiert also auf der Basis eines defizitären Kinderund Jugendbilds, wobei dieses durch die Konstruktion von Risikopopulationen und der damit verbundenen Dichotomisierung in „normale Jugendliche“ und „Risikojugendliche“ vor allem auf letztere projiziert wird. Suchtpräventive Ansätze erwecken den Anschein, als ob Drogenkonsum nur bei denjenigen Personen problematisch werden kann, die sich durch ein spezifisches Konglomerat an Risikofaktoren auszeichnen. „Der ,normale‘ Konsument, der aus einer vollständigen Familie stammt, eine Hochschule besucht oder eine Lehrstelle besitzt, nie polizeilich auffällig wurde u.ä., scheint dagegen kaum Probleme zu befürchten haben, selbst wenn Konsum stattfinden sollte“ (Dollinger 2002: 296). Auf diese Weise wird gesellschaftliche Benachteiligung quasi verdoppelt (vgl. Hellerich/ Wambach 1983: 133). Während dem „normalen Konsumenten“ sukzessive ein eigenverantwortlicher Konsum zugestanden wird, scheint dies beim Problemkonsumenten, der aus marginalisierten Verhältnissen stammt oder keinen Schul-
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abschluss besitzt, nicht möglich zu sein. Für ihn müssen gesonderte Kontrollmaßnahmen implementiert werden, was daran liegen mag, dass er uns ja nicht nur als gefährdet, sondern gleichzeitig auch als gefährlich erscheint. Prävention hat damit grundsätzlich einen konservativen Charakter, da sie darauf abzielt, die normativen Grundstrukturen der Gesellschaft auf Dauer zu stellen (vgl. Bröckling 2004a: 57; Dollinger 2002: 304; Ziegler 2003a: 93). Sie ist strukturerhaltend und herrschaftsstabilisiernd, da durch ihre Interventionen das gesellschaftliche Ungleichheitsgefüge zementiert wird und bestehende Machtverhältnisse gefestigt werden (vgl. Hornstein 2001: 31; Schülein 1983: 17). Wenn heute Programme entwickelt werden, um „Risikosubjekte“ bereits im Kindergartenalter ausfindig zu machen1, dann besteht hier nicht nur die oben beschriebene Gefahr der selbsterfüllenden Prophezeiung, sondern es werden auch soziale Exklusionsprozesse in Gang gesetzt, so dass die sozialen Trennlinien zwischen den Gesellschaftsschichten frühzeitig verfestigt werden. „Das Konzept der Abhängigkeit wird auf der Ebene präventiver Diskurse nicht länger per se mit dem Konsum illegaler Drogen in Zusammenhang gebracht, es wird dagegen deutlicher an soziale Randgruppen (...) gebunden. Die Differenz zwischen Risikofaktoren und ,faktischer‘ Drogenabhängigkeit wird geringer“ (Dollinger 2002: 299). „Auffällige“ und „unangepasste“ Kinder und Jugendliche aus „Problemfamilien“ werden von Geburt an unter die Beobachtung präventiver Risikoexperten gestellt. Die allseits vorgetragene Legitimationsformel, Lebenschancen und Partizipationsmöglichkeiten benachteiligter Kinder und Jugendliche mittels präventiver Angebote verbessern zu wollen, wird auf diese Weise konterkariert. Der Außenseiter-Status von „Risikogruppen“ wird frühzeitig vorprogrammiert, da Stigmata in der individuellen Personalakte fortgeschrieben werden. Präventive Maßnahmen werden auf diese Weise zu einem wirkmächtigen Instrument gesellschaftlicher Herrschaftsabsicherung. Dies gilt umso mehr, je weniger die Prävention eine strukturelle Ausrichtung erhält, sondern auf individuelles Verhalten fokussiert wird. Einer Verhaltensprävention geht es nicht um das unbelastete Offenlassen zukünftiger Optionen; sie orientiert sich nicht an der Vorstellungen der Klienten für ein „gelingendes Leben“, sondern an den Normalitätsdefinitionen der Hauptkultur.
1
Vgl. etwa das Projekt „Papilio“, das speziell für Kindergartenkinder entwickelt wurde (Drogenund Suchtbericht 2008: 101).
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Suchtprävention als Kontrollstrategie des Risikomanagements Die vorangehenden Ausführungen haben gezeigt, dass sich mit der verstärkten Implementierung präventiver Programme der Modus der sozialen Kontrolle auf entscheidende Weise gewandelt hat. Es ist gegenwärtig offenbar nicht mehr notwendig, eine soziale Norm zu übertreten, um sich verdächtig zu machen. Es ist ausreichend, einige Merkmale oder Eigenarten aufzuweisen, die vorher von Experten als Risikofaktoren für ein unerwünschtes Verhalten definiert wurden. Die präventiven Politiken sind dabei durch eine „Gleichzeitigkeit von Dezentrierung und Rezentrierung des Subjekts“ (Bröckling 2004a: 65) gekennzeichnet: Während auf der einen Seite Kontrollpotentiale auf das Subjekt verlagert werden, um dieses unter dem Signum von Autonomie und Eigeninitiative als eigenverantwortlichen Unternehmer seiner selbst in die Pflicht zu nehmen, trägt die vorbeugende Praxis auf der anderen Seite zu einer Auflösung des Subjekts bei: „Die präventiven Politiken befassen sich nicht mehr in erster Linie mit Individuen, sondern mit Faktoren, mit statistischen Korrelationen heterogener Elemente. Sie dekonstruieren das konkrete Subjekt der Intervention und konstruieren ein Kombinatorium aller risikoträchtigen Faktoren. Ihre Hauptabsicht besteht nicht darin, eine konkrete Gefahrensituation anzugehen, sondern alle denkbaren Formen des Gefahreneintritts zu antizipieren. In der Tat eine ‚Prävention‘, die dem Verdacht die wissenschaftliche Dignität einer Wahrscheinlichkeitsrechnung verleiht“ (Castel 1983: 61).
Im Rahmen dieser neuen Form der Kontrolle wird die bessernde Intervention durch die Strategie des Risikomanagements ersetzt (vgl. Feeley/Simon 1994: 173). Galt es vormals, die Ursachen für die Genese einer Drogenabhängigkeit in der Tiefe der Biographie zu ergründen, um auf dieser Grundlage normalisierende Eingriffe an der Persönlichkeit des Drogenabhängigen vorzunehmen und diesen mehr oder minder schonungslos in die Gesellschaft zu resozialisieren, so setzt sich aktuell immer mehr die Tendenz durch, Personengruppen „auf der Basis aggregierter Daten und gebündelter Statistiken“ (Krasmann 2000a: 196; hier bezogen auf kriminelles Verhalten) unter der Maßgabe von Sicherheit und zum Zweck der Kontrolle in verschiedene Risikopopulationen einzuteilen, um diese Risikogruppen bereits vor dem Eintritt eines unerwünschten Verhaltens effizient zu steuern. Der Lebenslauf des Einzelnen wird damit immer häufiger fremdbestimmt: „Mehr und mehr funktioniert in einer Reihe von Situationen die medizinisch-psychologische Beurteilung wie eine Begutachtung, die dazu dient, ein Individuum zu kennzeichnen, es mit einem Profil zu versehen, das ihm eine bestimmte Laufbahn vorschreibt“ (Castel 1983: 63). Die statistische Selektion nach Risikoklassen folgt damit der Logik einer versicherungsmathematischen Gerechtigkeit, die jedem Individuum auf eine
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„objektive“ Art und Weise dokumentiert, was es in seinem Leben erreichen kann, welche Lebenschancen es hat, welche Arbeitsstelle es bekommt oder in welches Land es einreisen darf (vgl. Bertrand/Kuhlmann 1995: 53). Eine solche Form der Kontrolle, die in der Lage ist, das Verhalten des Einzelnen sanft und unmerklich zu beeinflussen, muss sich bei ihren Interventionen scheinbar auch nicht mehr moralisch legitimeren, da soziale Exklusionsprozesse mit dem Verweis auf statistische „Wahrheiten“ und auf das jeweilige Risikoprofil vollzogen werden können. Der exzessive Gebrauch illegaler Drogen erscheint nicht mehr als ein Stigma, welches die ganze Persönlichkeit eines Individuums prägt, sondern Drogenkonsum stellt lediglich „einen Risikofaktor dar, der in Verbindung mit anderen risikobehafteten Lebensumständen die Wahrscheinlichkeit erhöht, etwa straffällig zu werden und nicht kompatibel für den Arbeitsmarkt zu sein“ (Krasmann 2003: 243). Diese Verschiebung des Kontrollmodus lässt sich am Beispiel der präventiven Drogentests illustrieren, die besonders in den USA zur Anwendung kommen. „Waren diese früher vor allem dazu bestimmt, Abweichungen zu identifizieren, um daran anknüpfend (bessernd) zu intervenieren, so fungieren sie heute vorrangig als Indikator für die soziale Gefährlichkeit bzw. Risikoungleichheit der jeweiligen Person in ihrem Verhältnis zu anderen. Es geht nicht mehr darum, Drogenkonsum als individuelle Form der Abweichung auszumerzen, sondern die Feststellung des Konsum dient vorrangig der Verortung des Individuums in einer Risikopopulation“ (Schmidt-Semisch 2000: 180). So überprüfen beispielsweise Unternehmen – was in den USA auf etwa 80% der größeren Betriebe zutrifft (vgl. Schmidt-Semisch/Wehrheim 2005: 230f.) – innerhalb des Bewerbungsverfahrens ihre zukünftigen Mitarbeiter auf Drogenkonsum. Liegt der Nachweis des Substanzgebrauchs vor, so kann dieser in Verbindung mit anderen Indikatoren – wie etwa Wohnort, Vorstrafen, Familienstand, Bildung usw. – in die Erstellung von Gefährlichkeitsprofilen integriert werden (vgl. Feeley/ Simon 1994: 179). Der Zugang zum Arbeitsplatz wird folglich denen verwehrt sein, die angesichts ihres individuellen Risikokombinatoriums eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine unzureichende Erbringung der Arbeitsleistung aufweisen. Niemand wird dem Drogenkonsumenten angesichts des Gebrauchs der verbotenen Substanzen einen Vorwurf machen oder ein positives Testergebnis zum Anlass eines normalisierenden Eingriffs machen. „Hier wird nur klassifiziert und Berechtigung verteilt oder versagt, aber keine Aussage über den moralischen Wert oder Unwert getroffen (...); positive Testergebnisse können zum Ausschluß führen, doch das exkludiert nur partiell, von einem bestimmten Marktsegment. Ansonsten sind alle frei, ihr Angebot auf anderen Märkten zu machen, und über die Darstellung des Selbst wird mithilfe dieses Kontrollme-
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
chanismus bar jeder Generalisierung einzig das Urteil gefällt, daß eine solche Darstellung in dieser Situation unerwünscht ist“ (Legnaro 2001: 127). In dieser Hinsicht kann die Behauptung formuliert werden, dass sich die Zieldimension von sozialer Kontrolle verschoben hat. Lag ehemals das vorrangige Bestreben darin, drogenabhängige Individuen zu normalisieren und eine drogenfreie Gesellschaft herzustellen, so scheint dies im Rahmen der vorbeugenden Praxis nicht mehr zentral zu sein. Präventive Maßnahmen der sozialen Kontrolle zielen nicht darauf ab, abweichendes Verhalten umfassend zu beseitigen. Vielmehr soll dieses auf einem bestimmten Niveau reguliert und stabilisiert werden. So liegen etwa mögliche Zieldimensionen von Suchtpräventionsprogrammen darin, die Prävalenzrate des Drogenkonsums zu senken oder das Einstiegsalter des Substanzkonsums so weit wie möglich hinauszuzögern (vgl. Hüllinghorst 2000: 280; Hurrelmann 2002: 17f.). Es geht also, mit Foucault (1983) gesprochen, um eine Form der Biomacht, die sich vom Pol der Disziplinierung des Individualkörpers zur Regulation von Populationen verschoben hat. Präventive Programme sind in dieser Hinsicht mit einer konsequenten Absage an Gesellschaftspolitik verbunden. Wenn nämlich die Freundesgruppe und die Gewalt in der Familie als wesentliche Risikofaktoren für Drogenabhängigkeit ausgemacht sind, dann erweist es sich als eine wesentlich einfachere und bezogen auf den fokussierten „Outcome“ – die Senkung der Prävalenzrate unerwünschten Verhaltens in einer bestimmten Gruppe – wesentlich effektivere Interventionsstrategie, das betroffene Individuum vom Freundeskreis und von der Familie zu isolieren als etwa dafür Sorge zu tragen, dass der sozio-ökonomische Status von Familien oder Jugendlichen verbessert wird (vgl. Ziegler 2003b: 109; hier bezogen auf Kriminalprävention). Daraus resultiert dann auch eine Entwertung der Figur des Professionellen, da die Frage, warum und unter welchen Bedingungen sich irgendwelche Risikofaktoren „clustern“, „eine mehr oder weniger belanglose akademische Sophisterei“ (ebd.) wird. An die Stelle des professionellen Fachmanns, der auf der Basis des überlegenen Expertenwissens am besten weiß, wie der Umgang mit abweichenden Personengruppen ausgestaltet werden sollte, tritt dann der „Verwaltungsfachmann, der die Orientierungen plant und diesen die Menschenprofile anpaßt“ (Castel 1983: 70).
8.3.2
Punitive Strategien der Drogenkontrolle
Repressive Inhaftierungspolitik in den USA Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die „Abweichung der Angepassten“ (Frehsee 1991) durch Strategien der Responsibilisierung und durch ein
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„Regieren aus der Distanz“ reguliert werden. Präventive Strategien wurden dabei als „weiche“ Formen der sozialen Kontrolle beschrieben, die es möglich machen, das einzelne Individuum sanft und unmerklich zu steuern. Im Rahmen dieser Strategien des Risikomanagements kommt es somit zu einer tendenziellen Entdramatisierung von Kriminalität und Devianz. Parallel dazu können jedoch auch Entwicklungen im Bereich der Drogenkontrolle beobachtet werden, die sich im oben beschriebenen Sinne als eine „criminology of the other“ dechiffrieren lassen (s. Kap. 8.1). Exemplarisch kann an dieser Stelle auf die Situation in den USA verwiesen werden, wo seit einigen Jahrzehnten, insbesondere auf der Basis von Drogengesetzen, von einer rigiden Inhaftierungspolitik gegenüber marginalisierten und vom Arbeitsmarkt exkludierten Bevölkerungsgruppen Gebrauch gemacht wird. Einige empirische Belege sollen an dieser Stelle genügen, um diese Entwicklung zu illustrieren: War die Gefängnisrate in den USA zwischen 1925 und 1975 mehr oder weniger konstant, so nahm die Zahl der Gefangenen seit den 1970er Jahren in den USA jährlich um durchschnittlich 6,3% zu (vgl. Dinges/ Sack 2000: 30f.). Waren im Jahr 1970 200.000 Menschen inhaftiert, so überstieg die Zahl der Insassen im Jahr 2002 erstmals die Zwei-Millionen-Grenze (vgl. Sack 2003a: 16). Bezogen auf 100.000 Erwachsene waren im Jahr 1992 ca. 2000 schwarze US-Amerikaner im Gefängnis, während es im Gegenzug „nur“ ca. 300 weiße US-Amerikaner waren (im Vergleich: Deutschland 80, Niederlande 49, Japan 39) (vgl. Western/Beckett 1998: 165). Die Zahl der afroamerikanischen Gefangenen hat sich seit 1970 verfünffacht, wobei die schwarze Bevölkerungsgruppe 12% der Gesamtbevölkerung der USA ausmachen, aber 53% der Gefängnisinsassen (vgl. Wacquant 1997: 58). Mehr als ein Drittel aller Schwarzen zwischen 18 und 29 Jahren befindet sich fortwährend in Haft, in einem Berufungsverfahren, unter Beobachtung eines Bewährungshelfers oder in Erwartung eines Prozesses (vgl. Wacquant 2000: 84). „Als kumulierte, auf die Lebensdauer gerechnete Wahrscheinlichkeit besteht für einen Schwarzen die Chance von 1:4, daß er ein Jahr in Haft zubringt; für einen Latino beträgt die Wahrscheinlichkeit 1:6 und für einen Weißen 1:23“ (ebd.: 83). Der Hauptgrund für den Anstieg der Gefängnisrate liegt dabei in erster Linie im amerikanischen „Krieg gegen Drogen“ begründet. Zwischen 1980 und 1993 ist die Anzahl der Personen, die man wegen eines Vergehens gegen die Drogengesetzgebung inhaftierte, um 880% gestiegen, wobei sich die durchschnittliche Haftdauer für diese Gruppe von 13 auf 30 Monate verlängert hat (vgl. Groenemeyer 2003c: 62). „1970 betrug das Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen bei Drogendelikten zwei zu eins, 1991 fünf zu eins“ (Wacquant 1997: 59).
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
Rigide Kriminalisierung des Drogenhandels in Deutschland Zwar findet hierzulande diese „Masseninhaftierung der Machtlosen“ (Reinarman 2005: 37) nicht im gleichen Ausmaße statt, jedoch ist auch beinahe in ganz Europa „die Tendenz einer repressiven Wende“ (Dinges/Sack 2000: 34) erkennbar: „Im Wechselspiel zwischen medialer Aufbereitung und ordnungspolitischer Intervention werden bestimmte Submilieus zum Feind der (...) Gesellschaft erklärt. (...) Aus der Sicht der Mehrheitsgesellschaft formieren sich Obdachlose, Dealer, Drogenkonsumenten oder junge Migranten zu ,unerwünschten‘ bzw. ,gefährlichen‘ Gruppen. Bevorzugtes Thema dieses Diskurses ist der Ausländer nicht als Angehöriger fremder Kulturen, sondern als Krimineller und Drogendealer oder, umgekehrt, der Kriminelle als Ausländer“ (Jahn u.a. 1997: 142).
Auch hier sollen einige empirische Belege ausreichen, um diesen Trend zu veranschaulichen: Zwischen 1992 und 2002 sind die Inhaftierungsraten in den Niederlanden um 90% gestiegen, in England um 55%, in Spanien um 48% und in Deutschland um 39% (vgl. Sack 2004: 32). In Deutschland sind von diesem Anstieg insbesondere Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit betroffen (vgl. Bussmann 2003: 112f.; Groenemeyer 2003c: 63; Jahn u.a. 1997: 144; Wacquant 2000: 100; Wehrheim 2002a: 44f.; Ziegler 2003a: 415ff.). Die Inhaftierungsrate von Personen ohne deutschen Pass war im Jahr 2000 mehr als fünf mal so hoch wie die Inhaftierungsrate deutscher Staatsangehöriger (vgl. Ziegler 2003a: 418). Lag der Anteil nichtdeutscher Strafgefangener in den 1980er Jahren noch etwa bei 10% aller Inhaftierten, so liegt er heute bei ca. 30% (vgl. Groenemeyer 2003b: 63). Zudem sind es häufig Personengruppen aus unteren Schichten mit nur einer geringen Schulbildung, die überproportional von Kriminalisierungsprozessen betroffen sind (vgl. Geißler 1996: 330f.; Ziegler 2003a: 418f.). Darüber hinaus können verschiedene Untersuchungen zeigen, dass Arbeitslosigkeit „nicht nur die Wahrscheinlichkeit >steigert@, (...) für eine längere Dauer in Haft genommen zu werden, sondern ein Arbeitsloser wird, im Gegensatz zu einem nicht arbeitslosen Straftäter, für ein vergleichbares Delikt häufiger zu Freiheitsentzug verurteilt als zu einer Bewährungs- oder Geldstrafe“ (Wacquant 2000: 98). Während allerdings in den USA repressiv und rigide gegen Drogenkonsumenten vorgegangen wird, lässt sich in Deutschland gegenwärtig eher von einer 1 gemischten Strategie bei der Anwendung des Drogenstrafrechts sprechen . So 1
Der Anteil der wegen eines Drogendelikts Verurteilten an der Gesamtzahl der Gefangenen beträgt in Deutschland etwa zwischen 13 und 15% (vgl. Bussmann 2003: 113; Groenemeyer 2003c: 62; Wacquant 2000: 107).
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bleiben Drogengebraucher, die als drogenabhängig klassifiziert werden, in vielen Fällen von einer Gefängnisstrafe verschont, unterliegen im Gegenzug aber gleichzeitig der therapeutischen Kontrolle, wobei hier das Drogenhilfesystem in den letzen Jahren durch die Hilfsangebote der akzeptierenden Drogenarbeit erweitert worden ist. Dass Drogenabhängigkeit als Exklusionskategorie beschrieben werden kann, die mit sozialer Ungleichheit assoziiert ist und die in dieser Hinsicht besonders marginalisierten Personengruppen zugewiesen wird, wurde bereits geschildert (s. Kap. 6.2.3). Während einerseits Drogenkonsumenten also vielfach straffrei bleiben, trifft dies andererseits nicht auf den Handel mit und den Verkauf von verbotenen Substanzen zu. Der Drogenhandel wird gegenwärtig – im Gegensatz zu früheren Jahren, in denen der Vertrieb der heute als illegal klassifizierten Substanzen ein „,ehrbares Gewerbe“ (Mach/Scheerer 1998: 60) darstellte – immer rigider kriminalisiert1. Mit Schmidt-Semisch und Paul (1998: 18) kann man in diesem Zusammenhang im Bereich der Drogenkontrolle von der „Strategie einer gleichsam repressiven Homöostase“ sprechen: „Was man an Repression aus dem Konsumentenbereich abzog, wurde erklärtermaßen in die Schlacht gegen die Dealer geworfen; die Brutalität, die man den Konsumenten stückchenweise ersparte, wurde gebündelt gegen die Dealer gerichtet“ (ebd.)2. Dabei soll an dieser Stelle zum wiederholten Male darauf verwiesen werden, dass die Entstehung eines illegalen Marktes die paradoxe Folge einer staatlichen Regulation ökonomischer Prozesse ist. Ein Schwarzmarkt bedient immer die Nachfrage nach Produkten, die aufgrund von staatlichen Verboten auf dem legalen Markt nicht verfügbar sind bzw. deren Preise durch staatliche Restriktionen stark in die Höhe getrieben werden (vgl. Krasmann/Lehne 1998: 81; Pilgram 1980: 128f.). In dieser Hinsicht „sind es erst die Normen des BtMG, die die Drogenkriminalität hervorbringen und das Bild des Dealers entstehen lassen“ 1
2
Diese hier vorgenommene Differenzierung zwischen Drogenhandel und Drogenkonsum erweist sich in der empirischen Realität als wenig trennscharf. Angesichts der strafrechtlichen Kontrolle geht Drogenkonsum in vielen Fällen zwangsläufig mit Drogenhandel einher. Nach Kemmesies (2004: 41) „wird kaum eine Untersuchung veröffentlicht, in der nicht auf die Bedeutung des Drogenhandels im Beschaffungsmuster der Konsumenten hingewiesen wird (...). Angesichts neuerer Untersuchungen ist davon auszugehen, dass etwa zwei von fünf (38%) Konsumenten harter Drogen im Umfeld der offenen Drogenszene ihren Finanzbedarf über Aktivitäten im Drogenhandel (teilweise) decken“. „Die Strafen für Dealer sind die härtesten, seit Murad IV. im 17. Jahrhundert Kaffeetrinker und Tabakraucher köpfen und säcken ließ“ (Mach/Scheerer 1998: 72). So kann nach § 29 BtMG der Handel mit Betäubungsmitteln mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 5 Jahren belegt werden. Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit werden nach § 47 I Nr. 3 AuslG bei einer Verurteilung wegen Drogenhandels zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren ohne Bewährung sofort ausgewiesen. „Während im Strafrecht Mord als das am schwersten wiegende Delikt gekennzeichnet ist, könnte man angesichts der Ausweisungsregelungen meinen, bei Ausländern sei es der Drogenhandel“ (Graebsch 1998: 119).
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
(Graebsch 1998: 109). Der Drogenhändler ist folglich ein Produkt der strafrechtlichen Kontrolle des Drogenkonsums. Im öffentlichen Drogendiskurs wird der illegale Drogenhandel jedoch nicht aus dieser systemischen Perspektive in den Blick genommen, sondern mit dem moralisch verwerflichen Handeln bestimmter Personengruppen assoziiert. Mit Quensel (1998: 9) kann das öffentliche Meinungsbild des Dealers treffend charakterisiert werden: „,Dealer‘ sind (...) heute eine der wenigen noch verbliebenen Teufel, die – anders als psychopathische Massenmörder und Kinderschänder – wissen, was sie tun. Zwitterwesen also zwischen rational handelndem Geschäftsmann einerseits und moralisch abartigem Dämon andererseits“. Nur am Rande soll dabei erwähnt werden, dass wohl niemand auf die Idee kommen würde, den Kioskbesitzer um die Ecke als skrupellos, geldgierig und gefährlich zu bezeichnen. Obwohl er ebenfalls gesundheitsschädliche Substanzen wie Tabak oder Alkohol mit dem Ziel einer maximalen Profiterwirtschaftung verkauft, wird er doch in den meisten Fällen als ehrenwertes Mitglied der Gesellschaft anerkannt. In politischen und massenmedialen Diskursen über den illegalen Drogenhandel wird eben häufig nicht berücksichtigt, dass angesichts fehlender rechtlicher Grundlagen der Konfliktregulierung erst die Verbotspolitik zu besonderen unternehmerischen Tätigkeiten und zu bestimmten Geschäftspraktiken – etwa die Androhung und Anwendung von Gewalt – veranlasst (vgl. genauer Krasmann/Lehne 1998: 81ff.). Allerdings ist auch darauf hinzuweisen, dass empirische Untersuchungen zum illegalen Drogenhandel das oftmals in den Medien gezeichnete Bild vom skrupellosen und gewalttätigen „Drogenhai“ (Christie/Bruun 1991: 79) nicht bestätigen können. Schmidt-Semisch und Paul (1998: 25f.) kommen nach einer Durchsicht verschiedener empirischer Studien zu dem Ergebnis, „daß auch im illegalen Bereich ein hohes Maß an moralischer Verhaltensorientierung und Verantwortung besteht: Grundsätzlich finden sich bei Dealern aller Couleur individuelle Verantwortungspflichten, die je nach persönlicher und subkultureller Ausgestaltung für unverzichtbar erklärt werden (...). Hierzu gehört z.B. die moralische Verpflichtung, Drogen nicht an Personen zu verkaufen, die den Konsum nicht handhaben können (etwa Kranke oder ,Verwirrte‘). Ein anderer Grundsatz ist die Nichtabgabe an Minderjährige oder auch an Schwangere“. Darüber hinaus kommt Drogenhändlern oftmals auch eine wichtige Funktion für Konsumenten zu. Da sie oftmals selbst drogenerfahren sind, geben sie ihre Erfahrungen über potentielle Konsumrisiken auch häufig an ihre Kunden weiter und können in diesem Sinne als Vermittler von SaferUse-Strategien aufgefasst werden (vgl. Schmidt-Semisch/Paul 1998: 26f.; Schroers 1998: 221f.). Im hegemonialen Drogendiskurs finden diese Studien allerdings keine Berücksichtigung. Wie Stehr (1998: 98) darlegt, werden Drogenhändler hier über-
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221
wiegend als Fremde und Ausländer typisiert, so dass der Diskurs über den Drogendealer maßgeblich den Diskurs über den „gefährlichen Fremden“ konstruiert: „,Ausländische Kriminelle‘ im Ausland und ,kriminelle Ausländer‘ im Inland werden als Dealer vorgeführt, die Produktion und Vertrieb von Drogen gemeinsam organisieren, sich gegenseitig vor Strafverfolgung schützen und so den Markt ausweiten“. Über die Berechtigung eines harten Vorgehens gegen den Drogenhandel scheint es dabei gegenwärtig keine zwei Meinungen zu geben, wobei vom Anspruch auf Resozialisierung für diese Personengruppe schon lange nichts mehr zu hören ist. Stattdessen sind innerhalb der Bevölkerung Einstellungen verbreitet, dass Drogendealer „eigentlich eine lebenslange Freiheitsstrafe oder gar die Todesstrafe verdient hätten“ (Mach/Scheerer 1998: 71). Angesichts dieser für demokratische Rechtsstaaten höchst bedenklichen Entwicklungen sind die Fragen zu stellen, weshalb es seit den 1970er Jahren zu dieser enormen Steigerung der Inhaftierungsrate gekommen ist und aus welchen Gründen eine Politik, die zunehmend auf Ausgrenzung und Strafe statt auf Besserung und (Re-)Integration setzt, auf eine so breite Zustimmung der Bevölkerung stößt, wo sich doch noch vor kurzer Zeit „massenhafter bürgerrechtlicher Widerstand“ (Dinges/Sack 2000: 39) gegen jegliche repressive Form von sozia1 ler Kontrolle breit gemacht hat . Die „konventionelle Erklärung“ (Christie 1995: 69) für diese Entwicklungstrends, die auch häufig von den politischen Akteuren herangezogen wird, könnte darin gesehen werden, dass das Wachstum der Gefangenenzahlen ursächlich auf eine Zunahme der Kriminalität zurückzuführen ist. Dieses Erklärungsmodell scheint auf den ersten Blick selbstverständlich zu sein, da schließlich Individuen in demokratischen Rechtsstaaten nur inhaftiert werden, wenn sie kriminelle Delikte begangen haben. Dass die Sachlage wesentlich komplizierter ist, wird der folgende Abschnitt zeigen.
1
Dieser Wandel in der Einstellung gegenüber Repression und Ausgrenzung lässt sich auch durch zwei Ergebnisse einer repräsentativen Studie aus dem Jahr 2002 belegen, die u.a. die Strafbereitschaft der deutschen Bevölkerung untersuchte. So stimmten etwa zwei Drittel der Befragten der These zu, dass Verbrechen härter bestraft werden sollten und ca. 80% stimmen ganz oder im Prinzip zu, dass härter gegen Außenseiter und Unruhestifter vorgegangen werden müsse, um Recht und Ordnung zu bewahren (vgl. Sack 2003a: 21; 2004: 37).
222 8.3.3
Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums Erklärungsmodelle für die Ausweitung einer Politik der Exklusion
Punitivität und Exklusion als Folge einer „objektiven“ Zunahme von Kriminalität und Devianz?
„Wer frei leben will, braucht Sicherheit. Diese Sorge bewegt die Menschen, nicht die Theorie vom allmächtigen Überwachungsstaat“(Otto Schily, ehemaliger deutscher Innenminister).
Strafrechtliche Aufrüstung und ein zunehmender Rückgriff auf repressive und exkludierende Formen der sozialen Kontrolle werden in politischen Diskursen häufig mit dem Verweis auf zwei zusammenhängende Argumente gerechtfertigt (vgl. Berner/Groenemeyer 2003: 90ff.; Sack 2004: 39): Einerseits wird auf Statistiken verwiesen, die den Nachweis einer „objektiven“ Zunahme der Kriminalität erbringen und im Anschluss daran wird dann andererseits die Feststellung getroffen, dass die Bevölkerung angesichts dieses Kriminalitätsanstiegs verängstigt sei und dass man deshalb sicherheitsvorkehrende Maßnahmen treffen müsse, da man als Regierungsverantwortlicher das subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung ernst zu nehmen habe. Die Angemessenheit dieser Aussagen lässt sich auch jenseits der „alten“ kriminologischen Erkenntnis, dass Kriminalstatistiken als Beweis für etwaige Steigerungsraten der Devianz ein denkbar schlechter Indikator sind, leicht entkräften. Wenn man sich die Situation genauer vor Augen führt, dann ist festzustellen, dass die politische Skandalisierung von Kriminalität und abweichendem Verhalten nicht von deren „tatsächlichem“ Ausmaß abhängig ist. Nirgendwo wird dies wohl deutlicher als beim Tatbestand des „sexuellen Missbrauchs von Kindern“. Hier sind die Fallzahlen im Jahr 1998 um 50% niedriger als 35 Jahre zuvor (vgl. Dinges/Sack 2000: 45). Im gleichen Zeitraum hat aber die gesellschaftliche Dämonisierung von Sexualstraftätern in einem beträchtlichen Ausmaß zugenommen und das Sexualstrafrecht ist enorm verschärft worden (vgl. Sack 2004: 33f.). So hat sich die Anzahl der Gefangenen, die wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt wurden, zwischen 1984 und 1998 nahezu verdoppelt (vgl. Groenemeyer 2003c: 62). Ein wie auch immer festzustellender Anstieg delinquenten Verhaltens stellt also keine unabdingbare Voraussetzung dar, um eine repressivere Ausgestaltung des Strafrechts zu legitimieren. Auch am Beispiel Drogenkonsum lässt sich dieser Sachverhalt deutlich nachweisen. So sind die Konsumraten der illegalen Substanzen in den USA langfristig gefallen (vgl. Groenemeyer 2003c: 68; Silbereisen 1999, 72; Reinarman/Levine 1997b: 29ff.; Wacquant 1997: 58), während gleichzeitig sowohl die Anzahl
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der wegen Drogenkonsums Inhaftierten als auch die Thematisierung der Drogenproblematik in Medien und Politik enorm in die Höhe geschnellt sind (vgl. Kaulitzki 1995: 147ff.; Reinarman/Levine 1997a; 1997b). Der amerikanische „war on drugs“, der in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre initiiert wurde, erfolgte damit parallel zu einem Rückgang des Drogenkonsums. Darüber hinaus kann auch die Masseninhaftierung der afroamerikanischen Bevölkerungsgruppe nicht auf häufigeren Drogenkonsum zurückgeführt werden, da die Afroamerikaner nur dreizehn Prozent aller Drogenkonsumenten stellen, was ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht (vgl. Wacquant 2000: 85). In dieser Hinsicht lässt sich mit Groenemeyer (2003c: 69) die Behauptung formulieren: „Kriminalpolitik hat offenbar doch sehr viel weniger mit Kriminalität zu tun, als in der Öffentlichkeit vielfach angenommen wird“. In diesem Zusammenhang stellen Dinges und Sack (2000: 49f.), die bei ihren Ausführungen auf eine Studie der amerikanischen Kriminologin Beckett zurückgreifen, fest, dass es „keine statistische Beziehung zwischen der Kriminalitätsrate und der öffentlichen Kriminalitätsbesorgnis, wohl aber eine hochsignifikante Beziehung zwischen den ,law and order‘-Programmen der Politik und den dadurch ausgelösten Sorgen der Öffentlichkeit“ gibt (s.a. Dollinger 2002: 157; Groenemeyer 2003c: 66; Krasmann 2003: 256; Ronneberger u.a. 1999: 176f.; Sack 2004: 39f.). Dieser Sachverhalt lässt sich auch anhand einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen aus dem Jahr 2004 illustrieren. Eine repräsentative Gruppe von 2000 Personen wurde gebeten, die Entwicklung der Kriminalität in Deutschland einzuschätzen. Zentrale Erkenntnis war es, dass die Befragten den Zuwachs der Kriminalität enorm überbewerteten. Während beispielsweise die Anzahl der Sexualmorde im Untersuchungszeitraum um 37% gesunken ist, überschätzten die Befragten die Zahl um das Sechsfache und vermuteten einen Anstieg um 260% (vgl. Rückert 2006: 17). In diesem Sinne kann mit Frehsee (1997: 29) die oftmals von Politikern vorgetragene Argumentation, dass eine Verstärkung sicherheitsbezogener Vorkehrungen und ein damit verbundener Abbau rechtsstaatlicher Grundprinzipien auf dem expliziten Wunsch der Bevölkerung beruht, als „perfide“ charakterisiert werden, „denn die Bereitschaft der Bevölkerung zur Beschränkung von Freiheit zugunsten von Sicherheit gedeiht auf der Grundlage der von eben dieser amtlichen Kriminalpolitik selbst erzeugten Sicherheitspanik“ (s.a. Albrecht 2005: 337; Ronneberger 1998: 31). Wenn nun aber die Entwicklung der Punitivität nicht unbedingt durch einen „objektiven“ Zuwachs der Kriminalität und Devianz „verursacht“ wurde, dann kann aus dieser Tatsache nur die Schlussfolgerung gezogen werden, dass das Ansteigen der Inhaftierungsrate auf die politische Entscheidung zurückgeführt werden muss, Strafrechtstatbestände auszuweiten und rigider gegen Kriminalität
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Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums
und Devianz vorzugehen. Die Logik ist einfach: Je höher die Kontrolldichte in einem bestimmten Gebiet ist und je mehr Verhaltensweisen unter Strafe gestellt werden, desto größer ist auch die Anzahl der Personen, die strafrechtlich auffällig werden. So sind beispielsweise in Deutschland seit 1992 42 Vorschriften im Strafgesetzbuch verschärft worden, was bedeutet, dass etwa alle vier Monate eine Verschärfung des Strafgesetzes beschlossen wurde (vgl. Rückert 2006: 17). In den USA können politische Kontrollstrategien wie „zero-tolerance“ ,„war on crime and drugs“ oder „three strikes and you are out“ als die zentralen Rhetoriken betrachtet werden, die die Grundlage für eine neue Form der Punitivität bilden. In diesem Zusammenhang ist demnach die Frage zu stellen, welche Triebkräfte und Mechanismen diese kriminalpolitische Maßnahme eines „getting tough on crime“ evoziert haben. Konkret: Wieso erfahren repressive Kriminalisierungsstrategien gegenwärtig eine derartig beträchtliche Ausweitung und wieso sind hiervon vor allem gesellschaftlich marginalisierte Personengruppen betroffen? Warum ist diese Entwicklung immer häufiger mit Exklusionsprozessen und immer seltener mit Reintegrationsbemühungen verbunden?
Neoliberalismus und Exklusion Einige Autoren versuchen, die steigenden Inhaftierungsraten und die Exklusion gesellschaftlicher Randgruppen direkt und ursächlich mit dem neoliberalen Umbau der Gesellschaft in Verbindung zu bringen. Drei Thesen sollen im Folgenden näher beleuchtet werden. Zum einen können Western und Beckett (1998) in ihrer Untersuchung nachweisen, dass sich – im Gegensatz zu den Thesen der Verfechter des Neoliberalismus – die Überlegenheit des unregulierten US-amerikanischen im Vergleich zum europäischen Arbeitsmarkt als „Mythos“ erweist. Werden die unterschiedlichen Inhaftierungsraten der beiden Kontinente berücksichtigt, dann zeigt sich, dass für den Zeitraum von 1975 bis 1994 die Arbeitslosenrate der Vereinigten Staaten über der durchschnittlichen europäischen Rate lag. In den USA wird folglich ein hohes Maß an Arbeitslosigkeit verschleiert, da erwerbsfähige Personen durch die Inhaftierung aus der Kategorie der „Arbeitssuchenden“ herausgenommen werden. Auf diese Weise werden kurzfristig die Werte der offiziellen Arbeitslosenstatistik reduziert. Langfristig zieht dies jedoch den gegenteiligen Effekt nach sich, da die Beschäftigungschancen der inhaftierten Personengruppen nach der Haftentlassung angesichts der negativ stigmatisierenden Wirkungen der Gefängnisstrafe stark eingeschränkt werden. Viele ehemalige Inhaftierte sind in dieser Hinsicht massiv von Arbeitslosigkeit bedroht, so dass die Arbeitslosenrate steigt. Die Autoren sehen in dieser Gegebenheit eine wesentliche Ursache für die inflationäre Ausweitung des Strafvollzugs
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in den USA, da immer mehr Menschen inhaftiert werden müssen, um die Werte der Arbeitslosenstatistik künstlich niedrig zu halten. „Die anhaltend geringe Arbeitslosigkeit resultiert zum Teil nicht nur aus einer enormen staatlichen Intervention durch Inhaftierung, sondern daraus, daß das Ausmaß dieser Intervention kontinuierlich steigt“ (ebd.: 176). Ein weiteres Erklärungsmodell, das einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und steigenden Inhaftierungsraten herzustellen versucht, wird vom norwegischen Kriminologen Nils Christie (1995) geliefert. Der Autor weist darauf hin, dass sich die Kriminalitätskontrolle – allen voran die Kontrolle des Drogenkonsums – im Zuge von Privatisierungsprozessen zu einem lukrativen Wirtschaftszweig entwickelt hat, der mehr und mehr expandiert und keine Wachstumsgrenzen zu kennen scheint. Besonders in den USA ist neben dem staatlich organisierten Sicherheitswesen eine private Sicherheitsindustrie entstanden, so dass Sicherheit in zunehmendem Maße zu einer florierenden Ware wird, die wie andere Waren auch auf dem Markt angeboten und verkauft wird. Sowohl die private Gefängnisindustrie als auch die allgemeine Vermarktung von Sicherheitsprodukten kann in dieser Hinsicht als ein wichtiger Arbeitsmarktsektor und ein wirksames Instrument der Wirtschaftsentwicklung betrachtet werden. Christie (ebd.: 76) bringt es auf eine einfache Formel: „Gefängnis bedeutet Geld. Viel Geld. Viel beim Bauen, viel bei der Lieferung der Ausstattung. Und viel beim Betrieb“. Der Autor weist darauf hin, dass diese Prosperität der Sicherheitsindustrie vor allem im spezifischen Charakter der Kriminalität als einer nicht erschöpfbaren und beliebig regenerierbaren Ressource begründet liegt: „Verglichen mit den meisten anderen Wirtschaftszweigen befindet sich die Kriminalitätskontrollbranche in einer höchst privilegierten Position. Es gibt keinen Mangel an Rohstoffen, Kriminalität scheint endlos lieferbar“ (ebd.: 1). Enorme Wachstumsraten werden nach Christie vor allem durch die Kriminalisierung des Drogenkonsums erzielt. Mit Scheerer (1997: 10f.) lässt sich dies folgendermaßen erklären: „>W@ährend die Nachfrage nach Kühlschränken oder Autos irgendwann an Grenzen stößt, ist die Nachfrage nach Verbrechensbekämpfung eine Funktion der Größe ,Kriminalität‘. Je mehr Kriminalität, desto mehr (private) Waren und Dienstleistungen kann die Sicherheitsindustrie absetzen (...). Kriminalitätsentwicklung, Kriminalitätsfurcht und Nachfrage nach Sicherheit – bis hin zum Bau zusätzlicher Gefängnisse – all das liegt in den Händen hochaggregierter und hochinteressierter ökonomischer Akteure mit unbegrenztem Appetit. Und weil die Kriminalitätsmenge natürlich dort am disponibelsten ist, wo Aspekte abweichender Lebensstile kriminalisiert werden – wie etwa der Genuß bestimmter psychoaktiver Substanzen – lassen sich die Wachstumsraten der registrierten ,Kriminalität‘ schon durch bloße Vermehrung der mit diesen Delikten befaßten Ermittler jederzeit vorausplanen und beliebig steigern“.
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Nach Bussmann (2003) liegt in diesen ökonomischen Strukturzwängen ein wichtiger Grund, dass trotz ihrer enormen kontraproduktiven Effekte weiterhin an einer Drogenverbotspolitik festgehalten wird. Da sich gerade durch die Kriminalisierung im Drogenbereich enorme Gewinne erzielen lassen, sind die wenigsten ökonomische Akteure einer privaten Sicherheitsindustrie an einer Rücknahme des Drogenstrafrechts interessiert. „Das Subsystem Gefängniswirtschaft entwickelt massive Selbsterhaltungstendenzen bis hin zur politischen Einflußnahme (...). Jede drogenpolitische Vernunft bedeutet mittlerweile für dieses Subsystem wirtschaftliche Unvernunft. Es drohen Milliardenverluste“ (ebd.: 115). Nun haben diese Thesen sicherlich eine gewisse Schlagseite, allerdings sind sie für sich genommen kaum in der Lage, die dramatisch steigenden Inhaftierungsraten in den USA zu erklären. Darüber hinaus ist die Aussagekraft dieses Erklärungsmodells für die deutsche Situation gleich null, da hierzulande die Privatisierung des Gefängniswesens (noch) kaum eine Rolle spielt (vgl. Ludwig-Mayerhofer 2000a: 336f.). Außerdem kann auch nicht geklärt werden, wieso in Deutschland die repressiven Elemente der Drogenkontrolle tendenziell zurückgefahren wurden und sich „Prävention“ und „Akzeptanz“ als neue Strategien etablieren konnten. Im Folgenden wird deshalb eine weitere These angeführt, die einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem ökonomischen Strukturwandel und der Exklusion gesellschaftlich marginalisierter Randgruppen herstellt. Die zentrale Annahme lautet dabei, dass im Zuge der krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklung und eines damit verbundenen „Überflüssigwerdens“ einer wachsenden Zahl von Menschen Kriminalpolitik immer stärker als Äquivalent für Sozialpolitik sowie als Kontrolle der Unterschichten und ethnischen Minderheiten verstanden werden muss (vgl. Bauman 1997; 1998; Garland 2008; Wacquant 1997; 2000). Die Opfer des wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozesses, d.h. all diejenigen, die nicht willens oder in der Lage sind, den Anforderungen in einer „Gesellschaft der Unternehmer“ (Krasmann 2003: 187) nachzukommen, sind in dieser Hinsicht massiv von exkludierenden Maßnahmen der sozialen Kontrolle bedroht. Für eine Illustration dieser These soll exemplarisch auf ein längeres Zitat von Zygmunt Bauman (1997: 121ff.) zurückgegriffen werden, in welchem dieser mit drastischen Worten auf die gegenwärtige Situation und soziale Stellung marginalisierter Personengruppen aufmerksam macht: „Die zeitgenössischen Gesellschaften nehmen ihre Mitglieder in erster Linie als Konsumenten in die Pflicht, erst in zweiter Linie und nur teilweise in der Rolle von Produzenten. Um die gesellschaftliche Norm zu erfüllen, um ein voll anerkanntes Mitglied der Gesellschaft zu sein, muß man heutzutage schnell und effizient auf die Versuchungen des Konsumentenmarktes reagieren; man muß seinen Beitrag zu einer ’angebotsangepaßten Nach-
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frage‘ leisten und im Fall ökonomischer Krisen Teil des ’konsumentengeleiteten Aufschwungs‘ sein. All dies können die Armen nicht, fehlt es ihnen doch an einem anständigen Einkommen, an Kreditkarten und an Aussichten auf bessere Zeiten. (...) Somit sind die Armen erstmals in der überlieferten Geschichte einfach und ausschließlich nichts als ein Ärgernis und eine Plage. Sie haben keine Verdienste, die ihre Mangelhaftigkeit mildern, geschweige denn ausgleichen könnten. (...) Die Armen sind völlig nutzlos. Niemand – niemand von denen, die wirklich zählen, die ihre Meinung sagen und gehört werden – braucht sie. Für sie gilt: Null Toleranz. (...) Die Armen werden nicht gebraucht, und deshalb sind sie unerwünscht. Und weil sie unerwünscht sind, kann man sie ohne Bedauern und Gewissensbisse im Stich lassen. Unnütz, unerwünscht, im Stich gelassen – wo ist ihr Platz? Die kürzeste Antwort ist: aus den Augen. (...) Und so kommt man zu dem Schluß, daß das Problem der Armut in erster Linie, wenn nicht sogar ausschließlich ein Problem von Law and Order ist, dem man auf dieselbe Weise begegnen sollte wie anderen Formen des Gesetzbruchs“.
Die zentrale These Baumans lautet also, dass – im Gegensatz zu modernen Gesellschaften, in denen die unteren Schichten durch die Einbeziehung in den industriellen Produktionsprozess sozial integriert wurden – in spätmodernen Gesellschaften das Gefängnis und andere Institutionen wie z.B. die akzeptierende Drogenarbeit (s. Kap. 8.3.4) die Aufgabe übernommen haben, die nicht mehr integrierbaren Bevölkerungsgruppen zu kontrollieren und unsichtbar zu machen, um auf diese Weise das Bedrohungspotential, das diese für die normative Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung darstellen, zu minimieren. Die verstärkte Kriminalisierung der marginalisierten Bevölkerungsteile und die kontinuierliche Ausweitung von Strafrechtstatbeständen dient dann letztlich gleichermaßen dazu, so Wacquant (1997: 53), den „Rückzug des wohltätigen Staates“ und den wachsenden sozialräumlichen und ökonomischen Abstand zwischen den verschiedenen Bevölkerungsschichten zu legitimieren: „Das Ziel besteht darin, die Randgruppen eben am Rand der Gesellschaft zu fixieren, um über die Nachlässigkeit der sozialen Einrichtungen hinwegzutäuschen, die weder den Wunsch haben, sich um diese Gruppen zu kümmern, noch dazu in der Lage wären“ (ebd.: 61). Auch Garland (2008: 195) kommt in seiner auf britische und usamerikanische Verhältnisse bezogenen Studie über die Transformationen sozialer Kontrolle zu einer ähnlichen Feststellung: Nach seiner Meinung fungierte „Kriminalität – sowie damit verbundene ‚Unterschichtsverhaltensweisen‘ wie Drogenmissbrauch, Teenagerschwangerschaften, alleinerziehende Eltern und Abhängigkeit vom Sozialstaat – (…) als rhetorische Legitimation für eine Sozial- und Wirtschaftspolitik, die letztlich die sozial Schwachen bestrafte, und als Rechtfertigung für die Schaffung eines starken Disziplinarstaates“. Das bedeutet auch, dass Haftanstalten nicht mehr im Sinne Foucaults als „Fabriken der Disziplin“ (Bauman 1998: 12) zu betrachten sind. Vielmehr müssen sie als „Fabrik[en] des Auschlusses“ (ebd.: 14) charakterisiert werden.
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Bauman (ebd.: 10ff.) demonstriert diesen Wandel am Beispiel des Pelican BayGefängnisses in Kalifornien, einer hochtechnisierten und automatisierten Haftanstalt, in der die Inhaftierten so gut wie keinen Kontakt mehr zu anderen Insassen oder zu den Wärtern haben und in der auch keine Werkstätten existieren, so dass berufliche Ausbildung ebenfalls nicht vorgesehen ist (s.a. Christie 1995: 65ff.). Cremer-Schäfer und Steinert (2000: 46) verdeutlichen den Unterschied zwischen „Disziplinierung“ und „Ausschließung“: „In der Disziplinierung wird eingeschlossen und kontrolliert, im einzelnen das Handeln reguliert, die disziplinierte Person wird damit nützlich zu machen versucht, was zugleich heißt: Sie wird gebraucht, ist zumindest brauchbar. In der Ausschließung werden Überflüssige eliminiert, Unbrauchbare davon abgehalten, zu einer Last für die Gesellschaft zu werden, wird (untermenschlicher) Rohstoff geplündert“. Nun sind diese Thesen sicherlich recht vage und auf einem sehr allgemeinen Erklärungsniveau angesiedelt. Sie lassen sich jedoch konkretisieren und mit empirischem Anschauungsmaterial untermauern, wenn man sie mit den Diagnosen stadtsoziologischer Arbeiten in Verbindung bringt. Gerade in den Großstädten werden sozialräumliche und politische Formierungsprozesse sichtbar, die für die Umstrukturierung der gesamten Gesellschaft von Bedeutung sind (vgl. Ronneberger 1998: 36). In diesem Zusammenhang kann die Stadtsoziologie auf eine veränderte Form der sozialen Kontrolle gegenüber gesellschaftlich marginalisierten Randgruppen aufmerksam machen, die angesichts einer Kommerzialisierung und Privatisierung des öffentlichen Raums immer häufiger von ökonomischen Interessen hervorgerufen wird (vgl. Beste 2004; Jahn u.a. 1997; Ronneberger 1998; 2000; Ronneberger u.a. 1999; Wehrheim 2002a; 2002b). Mit Wehrheim (2002a: 24ff.) lassen sich drei zentrale Tendenzen feststellen, die für heutige Städte kennzeichnend sind: Standortpolitik, Tertiarisierung und sozialräumliche Polarisierung. Angesichts fiskalischer Krisen werden die Metropolen seit den 1980er Jahren zu einer verstärkten Standortpolitik gedrängt, wobei man überwiegend darum bemüht ist, in Konkurrenz zu anderen Städten Anreize für gewinnträchtige Unternehmen und finanzkräftige Arbeitnehmer zu schaffen. Im Rahmen dieser Entwicklung zählen dabei nicht mehr nur harte Standortfaktoren wie beispielsweise eine gute Verkehrsanbindung, sondern für das Image einer Stadt werden auch weiche Standortfaktoren wie Sauberkeit und Sicherheit bedeutsam (vgl. Beste 2004: 161). Darüber hinaus ist eine zunehmende Ausrichtung auf den dritten Sektor der Wirtschaft zu beobachten. Besonders der Freizeit- und Unterhaltungskomplex entwickelt sich zu einem wichtigen ökonomischen Faktor, von dem neue Beschäftigungseffekte und zusätzliche Steuereinnahmen erwartet werden (vgl. Beste 2004: 157; Ronneberger 2000: 315; Wehrheim 2002a: 25). Vor diesem Hintergrund werden bestimmte städtische Segmente zu „,Konsumfestungen‘“ (Ronneberger 1998) transformiert, so
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dass immer häufiger Shopping Malls, Themenparks und Einkaufspassagen das Stadtbild prägen. Diese Örtlichkeiten können als ein „neuer Raumtypus“ (Jahn u.a. 1997: 138) betrachtet werden, der – und dies gilt zumindest für die USA, aber in zunehmenden Maße auch für Deutschland (vgl. Wehrheim 2002a) – die klassischen Orte der Öffentlichkeit (Straße, Park, Platz) sukzessive substituiert. Dabei produzieren diese neuen „Erlebnisräume (...) eine Art von Öffentlichkeit, die sich am Mythos der heilen Kleinstadt oder des friedvollen Suburbia orientiert: keine Gewalt, keine Obdachlosen, keine Drogen“ (Jahn u.a. 1997, 138). Service, Sicherheit und Sauberkeit sind demnach die zentralen Prinzipien, nach denen diese neuen Raumtypen strukturiert werden1. Die Tatsache, dass der öffentliche, städtische Raum immer stärker kommerzialisiert wird, zieht eine Zunahme und Verdichtung von Privatbesitz in den Städten nach sich, wobei in einigen Fällen bereits ganze Stadtareale von privater Hand erworben werden (vgl. Voß 1997: 41). Diese Räume werden aus dem staatlichen Hoheitsrecht ausgegliedert und sind fortan der Gültigkeit eines privaten Hausrechts unterstellt (vgl. Wehrheim 2002a: 52). Im Zusammenhang dieser Arbeit ist dabei vor allem von Bedeutung, dass die privaten Betreibergesellschaften die Funktionslogik ihres jeweiligen Raums mit dem verstärkten Einsatz von privaten Ordnungskräften und Sicherheitsdiensten gewährleisten. Demnach ist es schon lange nicht mehr nur die Polizei, die – „als staatliches Exekutivorgan (...) durch Gesetz legitimiert, in Prozesse demokratischer Überwachung eingebunden und gerichtlicher Kontrolle unterworfen“ (Voß 1997, 39) – für die Sicherheit und Ordnung des öffentlichen Raums Sorge trägt. Vielmehr lässt sich im Bereich der urbanen Sicherheitspolitik von „einem diffusen öffentlichen, profitorientierten und privaten Kontrollmix“ (Beste 2004: 163) sprechen. Die privaten Sicherheitsdienste sind nicht mehr an universelle rechtliche Normen gebunden und auch nicht der Allgemeinheit verpflichtet, wie dies dem Grundgedanken nach bei der Polizei der Fall sein sollte, sondern ihre Interventionen richten sich primär nach den Hausordnungen der privaten Auftraggeber (vgl. Voß 1997: 47). Und diese sind in den meisten Fällen Geschäftsleute und Unternehmer, deren hauptsächliches Interesse „an der Optimierung von Betriebssicherheit und Umsatzzahlen orientiert“ ist (Jahn u.a. 1997: 139). In dieser Hin1
Service, Sicherheit und Sauberkeit – besser bekannt als das „3-S-Programm“ – sind die Maximen, mit denen die Deutsche Bahn AG ihr neues Marketingkonzept etablieren will. Bahnhöfe sollen nicht mehr nur Orte des Transits, sondern auch Orte des Konsums sein, so dass in den Bahnhofsgebäuden immer häufiger auch Geschäfte, Restaurants und Konsumeinrichtungen angesiedelt werden (vgl. genauer Ronneberger u.a. 1999: 94ff.; Wehrheim 2002a: 134ff.). Da die Deutsche Bahn AG enorme Flächen in überwiegend zentralen Lagen besitzt, die sie profitabel vermarkten will (vgl. Jahn u.a. 1997: 140; Ronneberger 2000: 314f.), nimmt sie als „neuer Akteur in der sicherheitspolitischen Landschaft der Städte“ (Ronneberger 2000: 323) eine wichtige Rolle ein.
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sicht hat sich neben dem offiziellen Strafrecht ein „neues Privatstrafrecht“ (Beste 2004: 163) etabliert, was nach Voß (1997: 47) zur Konsequenz hat, dass bereits „devianzbegünstigendes Handeln“ in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät: „Die Partikularnormen, die private Auftraggeber ihren Sicherheitsdiensten vorgeben, definieren zugleich neue, situativ und zeitlich hoch variable Devianzformen. (...) So sind es in dem einen städtischen Areal lärmende Kinder, in dem anderen Bettler, Raucher oder Trinker, an anderer Stelle ambulante Händler, Musikanten oder Drogenabhängige, bisweilen auch nur Menschen, die wie Musikanten oder Trinker aussehen, die im Raster partikularer Normen erfaßt und von privaten Sicherheitsdiensten ausgesondert werden. (...) Konstrukte eines betriebsloyalen Normpersonals oder kaufkräftiger Normkunden werden zu einem positiven Normalitätsmaßstab, der einen höchst diffusen Devianzbegriff erzeugt“ (ebd.: 47f.).
Im Rahmen der urbanen Transformationsprozesse bekommt der Begriff der Sicherheit somit eine weit gefasste Bedeutung. Sicherheit bedeutet nicht mehr unbedingt den Schutz, Opfer einer strafrechtlich relevanten Handlung zu werden, sondern Sicherheit meint in dieser Hinsicht in erster Linie den Schutz der zahlungskräftigen Kundschaft vor jedem Anblick, der ihre Konsumlust beeinträchtigen könnte: Also die „Sicherheit davor, angebettelt zu werden, beim shopping Betrunkene sehen zu müssen, die Straße mit Herumlungernden zu teilen, also in einem ganz allgemeinen Sinne Sicherheit vor der Konfrontation mit Armut und Andersartigkeit“ (Legnaro 1997: 279). In dieser Hinsicht geraten vor allem diejenigen Verhaltensweisen und Personengruppen ins Blickfeld der Akteure der sozialen Kontrolle, „die dem Klischee von der ,sauberen und sicheren Stadt‘ widersprechen“ (Ronneberger 2000: 324). So wird in den Metropolen gegenwärtig von einer rigiden Vertreibungs- und Verdrängungspolitik – für die sich hinsichtlich des Umgangs mit Angehörigen der offenen Drogenszene der despektierliche Begriff des „Junkie-Jogging“ etabliert hat (vgl. Kreissl 2000: 39; Simon 2005: 156) – gegenüber gesellschaftlich marginalisierten Randgruppen Gebrauch gemacht. So wurden beispielsweise in Hamburg zwischen 1995 und 1999, also in einen Zeitraum von fünf Jahren, insgesamt etwa 300 000 Platzverweise ausgesprochen (vgl. Wehrheim 2002a: 57ff.). Neben der Erteilung von Platzverweisen finden sich in Hamburg weitere Maßnahmen, die gegen Mitglieder der offenen Drogenszene gerichtet sind, wie etwa der Abbau von Sitzbänken oder die Sperrung von Fußgängertunneln (vgl. Lehne 1998: 114). Dass die Situation in Hamburg keinen Einzelfall darstellt, belegen Beispiele aus anderen Städten. So wird in Bremen Dealern und Drogenabhängigen verboten, bestimmte Stadtteile zu betreten. Die entsprechenden Personengruppen erhalten dafür einen Stadtplan an die Hand, in dem diejenigen Bereiche farblich markiert sind, die fortan nicht mehr betreten werden dürfen (vgl. Michels/Stöver 1999c: 296; Wehrheim
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2002a: 55). Eine weitere Kontrollstrategie der Bremer Polizei besteht darin, störende Personen an den Stadtrand zu fahren und dort auszusetzen (vgl. Ronneberger 1998: 26). In Frankfurt werden Forderungen vorgebracht, das Bahnhofsgebiet als Sperrbezirk für Drogenkonsumenten und Obdachlose auszuweisen und in Berlin hat die Polizei 30 „gefährliche Orte“ (vor allem innenstadtnahe Plätze und große Einkaufsstraßen) festgelegt, an denen ohne weitere Begründung die Personalien „gefährlicher“ Personen überprüft, Leibesvisitationen vorgenommen oder Platzverweise erteilt werden können (vgl. Ronneberger 2000: 323ff.). Sichtbare Armut, Verelendung, Störung und Belästigung durch öffentliches Trinken oder Betteln führen in dieser Hinsicht zu sozialem Ausschluss. Dabei dominieren bei der Beantwortung der Frage, was als Störung im öffentlichen Raum wahrgenommen wird, „eindeutig neue klassenspezifische Konnotationen. Die Event-, Festival-, Party- und Erlebniskultur der ,alten und neuen Mitte‘ – also jene zwischen Oktoberfest und Love-Parade – werden ungeachtet ihrer Sucht- und Belästigungsdimensionen schon allein deshalb anders behandelt, weil auf jeden Fall ein Argument sich zwingend durchsetzt: das der Ökonomie“ (Simon 2005: 156). Das primäre Ziel dieser neuen Form der Kriminalpolitik besteht demnach – und hier kann ein Anschluss an die obigen Ausführungen Baumans gefunden werden – darin, unerwünschte Phänomene und Verhaltensweisen unsichtbar zu machen. Räumliche Exklusion – sei es, indem man von einer rigiden Inhaftierungspolitik Gebrauch macht oder aber unerwünschte Personengruppen von bestimmten Orten vertreibt – wird in dieser Hinsicht zu einem zentralen Merkmal einer spätmodernen (urbanen) Kontrollpolitik (vgl. Schmidt-Semisch/Wehrheim 2005: 225). Nicht mehr in erster Linie Personen stehen im Fokus der sozialen Kontrolle, sondern vielmehr bestimmte Räume oder Systeme, deren Zugänge mittels Risikoabschätzungen reguliert werden (vgl. Legnaro 1997: 274; Scheerer 1997: 16). Dem Einzelnen ist der Zutritt und der Aufenthalt erst gestattet, wenn sein Risikoprofil mit den vorab formulierten Ordnungskriterien des Raums kompatibel ist (vgl. Schmidt-Semisch 2000: 178ff.). Im Vordergrund steht nicht mehr die politische Strategie, unter dem Vorzeichen von sozialer Gerechtigkeit abweichende Personengruppen durch Maßnahmen der Heilung und Besserung zu reintegrieren, um auf diese Weise eine inklusive soziale Ordnung herzustellen. Vielmehr geht es darum, „Gefährlichkeiten zu managen und Risiken zu reduzieren“ (Krasmann/de Marinis 1997: 181), wobei das vorrangige Ziel darin besteht, auf der Basis versicherungsmathematischer Gerechtigkeit „eine selektive soziale Homogenität“ (Ronneberger 1998: 36) und Risikogleichheit im Inneren eines Raums zu generieren. Dabei werden bereits – zumindest in den USA, aber zunehmend auch in Deutschland – ganze Stadtviertel („gated communities“) nach den Kriterien von sozialer Homogenität und Risikogleichheit struk-
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turiert (vgl. genauer Nogala 2000b: 57ff.; Legnaro 2000b: 206ff.; Wehrheim 2002a: 168ff.; 2002b: 30ff.). Solange sich das Individuum diesem situationsorientierten Kontrollmodus unterwirft, scheint es den Akteuren der sozialen Kontrolle gleichgültig zu sein, was der Einzelne macht und in dieser Hinsicht kommt der Moral, wie Lindenberg und Schmidt-Semisch (1995: 10) darlegen, nur noch eine marginale Bedeutung: „Ist (...) Sicherheit erst einmal hergestellt, braucht der ohnehin zerbröckelnden umfassenden Moral nicht mehr gehorcht zu werden: du kannst tun, was du möchtest, aber tue es in dem dafür vorgesehenen Raum, in der dafür vorgesehenen Weise – das gewährt dir Sicherheit vor uns und uns Sicherheit vor dir“1.
Im Rahmen dieser Form der Kriminalpolitik werden Kriminalität und Devianz als gegeben hingenommen, während parallel dazu deren bedrohliche Seiten durch geeignete Sicherheitsmechanismen aufgefangen werden sollen. Diese neue Form der Kontrolle legitimiert sich „weniger über Moral (...), sondern vielmehr über einen technokratisch aufgefaßten Begriff von Sicherheit. Und dieser Sicherheitsbegriff erlaubt es, Phänomene nicht ausrotten zu wollen, sondern sie in bestimmbaren, umgrenzten Räumen zu gewähren“ (ebd.: 3). Die bisherigen Ausführungen legen allerdings den Schluss nahe, dass die steigenden Inhaftierungsraten und die zunehmende Verdrängung und Vertreibung sozialer Randgruppen ausschließlich auf den ökonomischen Strukturwandel und den neoliberalen Umbau der Gesellschaft zurückzuführen sind. Es muss jedoch immer beachtet werden, dass sich Veränderungen im Bereich der Kriminalpolitik nicht funktional auf die Imperative der Ökonomie beziehen und ursächlich aus wirtschaftlichen Transformationsprozessen ableiten lassen. Punitivität ist das Ergebnis von politischen Entscheidungen und politische Akteure müssen diese Entscheidungen in demokratischen Rechtsstaaten legitimieren, d.h. sie müssen der Öffentlichkeit eine Erklärung anbieten und den Nachweis erbringen, warum es notwendig ist, Strafrechtstatbestände auszuweiten und härter gegen Kriminalität und Devianz vorzugehen. Das bedeutet, dass diskursives Problemwissen, d.h. das Wissen über den Charakter sozialer Probleme und deren Ursachen, das innerhalb und außerhalb des politischen Systems produziert und artikuliert wird, Einfluss auf politische Programme und Strategien ausübt. 1
„Um es anhand eines Beispiels zu verdeutlichen: Der ,abgewrackte Drogenabhängige‘ interessiert die Akteure formeller sozialer Kontrolle nur wenig, wenn er sich in einem städtischen Außenbezirk vor seinem Wohnheim aufhält – egal was er dort tut. Hält er sich jedoch mit mehreren anderen ,heruntergekommenen Drogenabhängigen‘ vor oder innerhalb einer städtischen Einkaufspassage auf, so zieht er höchste Aufmerksamkeit der Akteure sozialer Kontrolle auf sich – ebenfalls egal, was er tut, und auch egal, ob er wirklich Drogenabhängiger ist, oder nur ein übernächtigter und schlecht gekleideteter ,Normalbürger‘“ (Schmidt-Semisch/Wehrheim 2005: 224; s. Kap. 8.3.4).
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Für die Institutionen der Kriminalpolitik stellt dieses Problemwissen eine Ressource der Legitimation dar (vgl. Groenemeyer 2003c: 76f.). „Vor diesem Hintergrund sind wissenschaftliche Theorien und Deutungen von ,Kriminalität‘ gegenwärtig nicht mehr nur Texte, die in der Abgeschiedenheit des akademischen Betriebs quasi folgenlos formuliert werden, sondern mögliche Bezugspunkte von Versuchen, jeweilige Politiken und Strategien der ,Kriminalitätsbekämpfung‘ durchzusetzen, diese wissenschaftlich zu legitimieren“ (Scherr 1997 257).
Zur krisenhaften Konstruktion sozialen Wandels: „Broken-windows“ und „Regieren durch community“ Die konkrete Ausgestaltung von sozialer Kontrolle und demgemäß auch die spezifische Repräsentation devianten Verhaltens sind immer fundamental abhängige Größen der jeweiligen Beschaffenheit einer sozialen Ordnung. Wenn sich eine Gesellschaft grundlegend wandelt, dann hat dies folgerichtig auch Rückwirkungen auf die Kontur von sozialer Kontrolle und Devianz. Ob und wie sich jedoch eine Gesellschaft verändert, liegt nicht in einer wie auch immer gearteten Natur der Sache, sondern ist ein Produkt diskursiver Konstruktionen von Realität. Konkret bedeutet das also, dass Reflektionen über den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft, die von verschiedenen Akteuren – von der Wissenschaft bis hin zu den Medien – vorgetragen werden, maßgeblichen Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse und damit auch auf die Implementierung der entsprechenden kriminalpolitischen Kontrollformen besitzen. Soll nachvollzogen werden, aus welchen Gründen sich die konkrete Praxis der sozialen Kontrolle in eine punitive Richtung entwickelt hat, dann ist es unabdingbar, sich die spezifischen Ordnungsdiskurse vor Augen zu führen, mit denen sich eine Gesellschaft selbst beschreibt. In den Diskursen über soziale Ordnung werden nämlich Grundannahmen und Anschauungen über die Konstitution der Gesellschaft artikuliert, die Rückwirkungen haben auf die Wahrnehmung sozialer Probleme und demgemäß auch auf Modifikationen sozialer Kontrollmaßnahmen. In dieser Hinsicht kann die Feststellung getroffen werden, dass gerade in der heutigen Zeit gesellschaftliche Veränderungen oftmals im Rahmen von Krisenszenarien beschrieben und als Verfallsprozess thematisiert werden (vgl. Kreissl 2000: 24ff.). So ist es ein häufig in wertkonservativen Kreisen vorzufindendes Wahrnehmungsmuster, angesichts von Prozessen der Individualisierung und einer Pluralisierung von Lebenslagen, einen Verlust allgemein geteilter Werte und eine Erosion sozialer Milieus zu beklagen. Eine in Deutschland wirkmächtige Diagnose lautet, dass Menschen gegenwärtig in einer „Risikogesellschaft“
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(Beck 1986) leben, in der sich die klassischen Sozialmilieus aufgelöst haben, in der der Einzelne ein autonomer Konstrukteur seiner Biographie ist und in der es deshalb starke Tendenzen der Entsolidarisierung gibt. Im Rahmen dieser krisenhaft konnotierten Zeitdiagnosen wird so etwa der Niedergang der Familie und der Verfall gemeinschaftlicher Beziehungsmuster beklagt, wobei diese meistens unter der Kategorie des „Werteverfalls“ diskutierten Gegebenheiten im Bereich der subjektiven Lebensführung als eine Einbuße an Orientierungsvorgaben verhandelt werden. Es wurde bereits erörtert, dass es gegenwärtig eine dominante Überzeugung darstellt, dass diese Entwicklungen vorrangig durch den Wohlfahrtsstaat verursacht werden, da dieser verantwortungsloses Verhalten und einen radikalen Individualismus gefördert und damit eine Zerstörung solidarischer Werte gefördert habe (s. Kap. 7.1). Gerade in der Sozialpädagogik erfahren derartige Gesellschaftsdiagnosen, wie etwa die Individualisierungstheorie Becks, eine breite Resonanz, was in erster Linie daran liegen dürfte, dass solche Theorien eine Legitimationsgrundlage für sozialpädagogisches Handeln liefern: Die Soziale Arbeit kann sich durch die theoretische Adaption dieser Wissensbestände als handlungsmächtige gesellschaftliche Instanz präsentieren, die in der Lage ist, die verloren geglaubten Stabilisatoren des Lebensverlaufs und der Biographiekonstruktion zu substituieren (vgl. kritisch Dollinger 2006b). Im Zusammenhang dieser Arbeit sind nun allerdings die Implikationen von Bedeutung, die sich ergeben, wenn derartige Gesellschaftsanalysen als Ordnungsmodell für soziale Kontrolle und für deviantes Verhalten herangezogen werden. Im Rahmen der Gegenüberstellung einer idealisierten und moralisch als wertvoll erachteten Vergangenheit auf der einen und einer durch Krisen und Verfallsprozesse geprägten Gegenwart auf der anderen Seite wird die Ansicht vertreten, dass in Gemeinschaften einer früheren Zeit Integration, soziale Kontrolle und die Reproduktion sozialer Ordnung fraglos existiert und naturwüchsig einfach vorhanden waren. Die ideale Gemeinschaft wird dabei als überschaubar beschrieben; die Menschen kennen sich, unterhalten solidarische Beziehungen zueinander und üben damit immer auch einen starken Druck auf das einzelne Individuum aus, sich konform zu verhalten. Demgegenüber wird festgestellt, dass sich in modernen Sozialeinheiten angesichts einer gesteigerten Anonymität der sozialen Beziehungen die „moralische Stimme der Gemeinschaft“ (Etzioni 1998: 37) aufgelöst hat. Als Indikator für diese Zeitdiagnosen gilt dabei u.a. eine Zunahme von Kriminalität und „unsozialen“ Verhaltensweisen. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, müssen, so die zentrale These, „die früher problemlos funktionierenden Netze informeller sozialer Kontrolle (...) von den Kommunalpolitikern und Ordnungskräften mühsam durch neue Formen formeller sozialer Kontrolle ersetzt werden“ (Franz 2000: 75). Den verloren gegangenen moralischen Standards soll also durch eine klare Verdeutlichung der Normen
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und Werte der Gesellschaft eine neue Verbindlichkeit verliehen werden. Auf diese Weise soll das frühere Zusammenleben, das als harmonisch und konfliktfrei beschrieben wird, restauriert werden. Dieser Zusammenhang zwischen fehlenden informellen Kontrollmechanismen, Unordnung und der hohen Kriminalitätsrate in einer Gemeinschaft wird explizit in der sog. „Broken-windows“-Theorie der amerikanischen Kriminologen Wilson und Kelling (1996) thematisiert, deren Thesen auch in Deutschland breit diskutiert wurden. Die Autoren gehen dabei „von einer empirisch fragwürdigen und jedenfalls simplifizierten Unterstellung“ (Legnaro 1998: 275) aus: Wird ein zerbrochenes Fenster nicht repariert, dann ist dies ein eindeutiges Zeichen für den Zusammenbruch informeller sozialer Kontrolle, was zur Konsequenz hat, dass innerhalb kürzester Zeit auch die übrigen Fenster des Gebäudes zerstört werden. Wilson und Kelling ziehen deshalb die Schlussfolgerung, dass bereits bei kleinsten Regelverstößen präventiv und konsequent interveniert werden muss, da die Billigung von geringfügigen Verstößen die Basis von weiteren, schwereren Straftaten bilde. Ein hartes Vorgehen gegen „unsoziale“ Verhaltensweisen und gegen Personengruppen, die mit diesen Phänomenen zu assoziieren sind – die Autoren nennen etwa „Bettler, Betrunkene, Süchtige, randalierende Jugendliche, Prostituierte, Herumhängende und psychisch Kranke“ (ebd.: 122) – sei erforderlich, um die Ordnung des Gemeinschaftslebens wiederherzustellen. Dabei stellen sie folgenden Zusammenhang fest: „Der ungehinderte Bettler ist in diesem Sinne das erste zerbrochene Fenster. (...) Wenn Bürger nicht einmal einen lästigen Bettler davon abhalten können, die Passanten zu belästigen, wird der Dieb meinen, es sei sogar noch unwahrscheinlicher, daß sie die Polizei rufen werden, um einen potentiellen Straßenräuber zu identifizieren“ (ebd.: 129).
Die „Broken-windows“-These hatte entscheidenden Einfluss auf die kriminalpolitische Strategie der „zero-tolerance“, die Anfang der 1990er Jahre in New York initiiert und in der Folge auch in anderen Ländern angewandt wurde (vgl. Wacquant 2000). Selbst „alltägliche“ Ordnungswidrigkeiten – Schwarzfahren in der U-Bahn, Trinken und Betteln im öffentlichen Raum, Graffiti-Sprayen – wurden von den Sicherheitsorganen rigide kriminalisiert1. Die „broken-windows“-Theorie hatte aber auch Einfluss auf zentrale Programme, die in Deutschland gegenwärtig Konjunktur haben, beispielsweise auf die Konzepte der Kommunalen Kriminalprävention (vgl. Berner/Groenemeyer 2003; Frehsee 1998; Lehne 1998) oder auf die Programme des Quartiersmanagements (vgl. Eick 1
Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass die kriminalpolitischen Strategie der „zero-tolerance“ massive Verletzungen der Menschenrechte nach sich gezogen hat, wobei von den polizeilichen Übergriffen vor allem Schwarze und Latinos betroffen waren (vgl. Ronneberger u.a. 1999: 134).
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2005). Der zentrale Grundgedanke dieser Ansätze ist es, eine Bekämpfung der Kriminalität auch ohne Bearbeitung ihrer tiefergehenden gesellschaftsstrukturellen Ursachen allein durch ordnungspolitische Maßnahmen und durch die Bearbeitung von Oberflächenerscheinungen innerhalb des gemeinschaftlichen Nahraums zu erreichen (vgl. Franz 2000: 79; Ronneberger u.a. 1999: 135). „Nicht in der politisch-ökonomischen Organisation einer kapitalistischen Klassengesellschaft, so die These, sondern in der nahräumlichen Gemeinschaft würden Probleme und Konflikte entstehen und folglich könnten sie auch nur hier gelöst werden“ (Ziegler 2005a: 66). Soziale Probleme wie Armut oder Obdachlosigkeit werden auf diese Weise in Kriminalitätsprobleme umdefiniert und Sozialpolitik wird unter das Primat der Kriminalprävention gestellt (vgl. Frehsee 1998: 150ff.). Die innerhalb der wohlfahrtsstaatlichen Regulation der sozialen Ordnung typische Repräsentation des Abweichlers, innerhalb derer Kriminalität und Devianz als Ausdruck oder Symptom eines tieferliegenden sozialstrukturellen Problems verhandelt wurden, beginnt sich an dieser Stelle aufzulösen. Kriminelles Verhalten wird „individualisiert und als moralisches und ethisches Defizit, bzw. als persönlicher Mangel an Eigenverantwortlichkeit verstanden“ (Lutz/ Ziegler 2005: 132). Es findet in dieser Hinsicht „eine weit gehende Absage an Gesellschaftspolitik im umfassendsten Sinne als eine relevante Größe im vorbeugenden Kampf gegen die Kriminalität“ statt (Sack 2003b: 271). Warum der Obdachlose bettelt oder der Drogenabhängige sich in der Öffentlichkeit aufhält, ist irrelevant bzw. ist gemäß der neoliberalen Doktrin insofern nicht von Bedeutung, da Armut oder Drogenabhängigkeit als selbst zu verantwortende Erscheinungsformen begriffen werden. Viel bedeutsamer ist jedoch, dass Betteln oder öffentlicher Drogenkonsum nicht zu tolerieren sind, da sie riskante Verhaltensweisen repräsentieren, die angeblich schwerere Formen der Devianz nach sich ziehen. Auf diese Weise wird die Legitimation hergestellt, soziale Kontrolle auf diejenigen Verhaltensweisen auszudehnen, die durchsetzungsfähige Gruppen in ihrem jeweiligen Raum als störend empfinden. Nicht mehr konkrete Straftaten, sondern subjektive Befindlichkeiten werden zum Gegenstand politischer Interventionsstrategien (vgl. Ronneberger 2000: 324). Dabei geht es allerdings „gar nicht (nur) und nicht einmal vorrangig um Kriminalität (...), sondern um Beförderung von Ordnung in einem unbestimmten und variablen Sinne (...). Von der Strafverfolgung im Sinne nachgehender Ahndung stattgefundener Gesetzesverletzungen verlagert sich das amtliche Kontrollinteresse immer stärker auf Prävention im Sinne umfassender und ausgreifender Zugangsansprüche, Strukturierungen von Lebensraum, Regulierung von Partizipation und Einengung von Aneigungsmöglichkeiten im Vorfeld eventuell möglicher Störungen“ (Frehsee 1998: 130). Es handelt sich also um eine „Form der Kontrolle, die nicht mehr
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auf Verhinderung von Abweichung, sondern auf Durchsetzung von Normalität abzielt“ (Kreissl 1987: 281). Mit Rose (2000: 81) lässt sich die Gesamtheit dieser Entwicklungen als ein „Regieren durch Community“ bezeichnen. Ehemals staatliche Verantwortlichkeiten werden auf Stadtteile, Nachbarschaften oder nicht-staatliche, zivile Einrichtungen verlagert, die mobilisiert werden sollen, sich in aktiver Eigenregie an der Lösung sozialer Probleme zu beteiligen. Der „aktive“ Bürger soll für die Sicherheit, Ordnung und Lebensqualität seines Lebensraums verantwortlich gemacht werden. Im Gegenzug sind all diejenigen Personengruppen von sozialen Exklusionsprozessen bedroht, die dieser Verantwortung nicht gerecht und als „Hochrisiko“ für die moralische Integrität der Gemeinschaft wahrgenommen werden. Indem die Bewohner der Gemeinschaft dazu gebracht werden, sich gegenseitig zu kontrollieren und damit auch systematisch zum wechselseitigen Misstrauen erzogen werden (vgl. Kreissl 1987: 278), „kann sich der Staat zurückhalten und Ordnung geschehen lassen; an die Stelle hierarchischer, zentraler, exekutiver Kontrolle tritt der Versuch einer indirekten Herrschaft, einer ,Herrschaft auf Distanz‘“ (Frehsee 1998: 143). Dabei ist mit Ziegler (2001: 31) auf die zentrale Problematik aufmerksam zu machen, wenn in Programmen wie der kommunalen Kriminalprävention oder dem Quartiersmanagement der „ordentliche“ und „honorige“ Bürger gegen die Unordnung in seinem Lebensraum mobilisiert wird. Installiert wird hier eine „Form der Herrschaft, die nicht im geringsten demokratisch legitimiert ist und die im Gegensatz zum oft und zu Recht gescholtenen Sozialstaat gar nicht erst so tut als interessiert sie sich für die Frage sozialer Rechte und sozialer Gerechtigkeit. Sie interessiert sich für ,Lebensqualität‘, und zwar die jener Gruppen, die am durchsetzungsfähigsten sind. Dies sind aber, soviel ist gewiss, gerade nicht diejenigen, die der Hilfe bedürfen. Im Gegenteil: Die Lebensqualität eines Raums nimmt, pointiert formuliert, dadurch zu, dass Ratten, Taubendreck, Penner, Berber, Asoziale und Gesindel entfernt werden“ (Ziegler 2001: 31). In diesem Zusammenhang muss auch die oben erwähnte These einer „Entmoralisierung der Kontrolle“ (Lindenberg/Schmidt-Semisch 1995: 9) relativiert werden. Dadurch, dass die exkludierenden Maßnahmen nicht nur die Verhinderung von Kriminalität und Devianz, sondern vor allem die Herstellung einer moralischen Gemeinschaft der „Wohlanständigen“ als Zielpunkt haben, können sie nicht als entmoralisiert beschrieben werden (vgl. Legnaro 1998: 272). Der Strafe und der sozialen Exklusion bestimmter Personengruppen kommt bei der „Simulation“ (Kreissl 1987) der Gemeinschaftsidee eine wichtige symbolische Funktion zu: Sie ermöglichen die Etablierung eine Grenzziehung zwischen Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, da der Inhalt dessen, was als moralisch wertvoll erachtet wird, rein logisch nur durch das Gegenteil angegeben werden
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kann, und zwar über das, was nicht erlaubt ist (vgl. Coser 1974: 24). Folglich zielen die Kriminalisierungs- und Ausschließungsprozesse nicht (nur) auf die Täter, sondern sie sind „als Teil einer Integrationsstrategie“ (Ronneberger 2000: 327) an die allgemeine Öffentlichkeit gerichtet: „Formen der Vergemeinschaftung über ein geteiltes und verinnerlichtes System von Werten bedürfen zur Stabilisierung der Ordnung eines Mechanismus der expressiven Symbolisierung moralischer Grenzen. (...) Die Interpretation einer moralischen Krise und der Notwendigkeit einer moralischen Grenzerhaltung setzt die Konstruktion von Abweichungstypen voraus, an denen ein Exempel statuiert werden kann. Bestimmte Personenkategorien, insbesondere Fremde oder Minoritäten, werden auf diese Weise zu ,Sündenböcken‘ für den moralischen Verfall der Gemeinschaft“ (Groenemeyer 2003b: 23).
Auf diese Weise wird die Abwehr von Kriminalität und Devianz zum „Agens neuer Vergemeinschaftung“ (Frehsee 1998: 143). Durch die Schaffung von Feindbildern und die binäre „Schematisierung von Wir und Ihr“ (Kreissl 2004b: 37) kann ein moralischer Konsens kommuniziert und eine gemeinsame Wertebasis konstruiert werden. Da eben die gesellschaftlichen Kriterien und Vorstellungen von Moral, Normalität und Ordnung erst durch das Reden über deviantes und anormales Verhalten sichtbar werden, erfüllen die aus dem Mediendiskurs importierten Angst- und Schreckensfiguren gerade in Zeiten (vermeintlich) unklarer Normalitätsstandards eine wichtige soziale Funktion. Sie dienen als Negativfolie für die Herstellung kollektiver Identität und erzeugen Verhaltenssicherheit in unsicheren und unbestimmten Situationen (vgl. Stehr 1998). Dabei bietet es sich aus vielfältigen Gründen gerade für den politischen Sektor an, der Bevölkerung spezifische Personengruppen als Feinde der Gesellschaft zu präsentieren. Eine repressive Sicherheitspolitik, dies sollen die folgenden Ausführungen zeigen, resultiert auch aus der Interessenlage der Politik, sich als eine handlungsmächtige Institution zu inszenieren, die in der Lage ist, der Bevölkerung wirksamen Schutz zu gewähren.
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“Governing through crime“: Drogenpolitik als Mittel symbolischer Politik
„Die Polen sind vor allem in der organisierten Autoschieberei aktiv; die Prostitution wird von der russischen Mafia beherrscht, die meisten Drogenhändler stammen aus Südosteuropa und Schwarzafrika. Wir dürfen kriminelle Ausländer, die wir zu fassen bekommen, nicht mehr mit Nachsicht behandeln. Wer unsere Gastfreundschaft mißbraucht, für den gibt es nur eine Lösung: raus und zwar schnell“ (Wahlkampfrede des Ex-Bundeskanzlers Gerhard Schröder im Juli 1997).
Seit geraumer Zeit ist zu beobachten, dass die Kriminalpolitik für Zwecke des politischen Machterhalts oder Machterwerbs instrumentalisiert wird. War Kriminalpolitik bis in die 1970er Jahre hinein kein Wahlkampfthema (vgl. Groenemeyer 2003c: 69), ja „>m@achten sich vor einigen Jahren Parteien noch lächerlich, wenn sie im Wahlkampf – so etwa die Münchner CSU in den 80er Jahren – mit Law & Order-Kampagnen hausieren gingen“ (Ludwig-Mayerhofer 2000b: 13), so lässt sich gegenwärtig die Feststellung treffen, dass sich der Diskurs über die innere und öffentliche Sicherheit „zu einem symbol- und polarisierungsträchtigen Thema der Hohen Politik von Kabinettswürde, mit Wahlkampfwert und Gesellschaftsbrisanz entwickelt“ hat (Sack 1995: 445). Mit Sack (2003a) lassen sich diese Moralkampagnen des politischen Sektors als ein „Governing through crime“ bezeichnen (s.a. Dinges/Sack 2000: 49, Kreissl 2004a: 14). Damit ist gemeint, dass die Regierungsverantwortlichen durch eine Politik von „law and order“ und durch „Null-Toleranz“ im „Kampf gegen Unordnung“ ihre Handlungsfähigkeit bei der Bearbeitung sozialer Probleme zur Schau stellen können. Mit den Worten von Bauman (1998: 16): „Die Popularität einer Regierung steigt, wenn sie neue Gefängnisse baut und Gesetze erläßt, die dafür sorgen, daß noch mehr Gesetzesbrüche mit Gefängnis geahndet und die Haftstrafen verlängert werden, denn solche Maßnahmen zeigen an, daß sie hart, mächtig und entschlossen agiert, und vor allem, daß sie ,etwas tut‘ (...) und daß sie es auf eine hochdramatische, auf eine faßbare und sichtbare (und damit überzeugende Weise) tut. Gewandtheit, Strenge und prompte Reaktion, kurz: ihr Schauspielcharakter spielt bei Bestrafungsaktionen eine größere Rolle als ihre Effektivität“.
Generell wird das Strafrecht zunehmend als „Mittel symbolischer Politik“ (Albrecht 2005: 64) funktionalisiert. Je mehr sich das Gesellschaftssystem in hochgradig komplexe Teilbereiche ausdifferenziert, desto häufiger werden auch die staatlichen Steuerungs- und Einflussmöglichkeiten auf diese gesellschaftlichen Subsysteme als nur noch gering diskutiert. Wenn aber, wie etwa in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, massive politische Steuerungsverluste konsta-
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tiert werden, dann ist im Gegenzug „die innere Sicherheit ein Politikbereich, für den der Staat noch originäre Zuständigkeit reklamieren kann. In der Kriminalpolitik kann man noch Gestaltungsinitiative demonstrieren, während überall sonst nur Rückzugsgefechte geführt werden“ (Frehsee 1997: 34). Strafrechtsgesetzgebung reduziert folglich den akuten politischen Steuerungsdruck. „Während die strafgesetzgeberische Aktivität rasch zu konkreten Ergebnissen führt und politische Effekte setzt, können strukturpolitische Interventionen – oder das Eingeständnis der Unlösbarkeit eines Problems – über den Rand des politischen Relevanzhorizonts (Wahlperiode) gedrängt werden“ (Voß 1993: 139). Die ständige Betonung einer Bedrohung der inneren Sicherheit und der kontinuierliche Hinweis, dass Kriminalität und Devianz ein dringendes soziales Problem darstellen, dienen in dieser Hinsicht dazu, die Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols sicherzustellen (vgl. Groenemeyer 2003c: 72ff.; Kreissl 2004a: 24). Gerade in der heutigen Zeit, in der viele Menschen angesichts prekärer Beschäftigungsverhältnisse und eines Abbaus staatlicher Sicherheitsgarantien ihre aktuelle Lebensgestaltung als unsicher, bedrohlich und riskant erfahren und infolgedessen ein Vertrauensverlust der Bevölkerung im Bezug auf die Handlungsfähigkeit und Steuerungskapazitäten des politischen Systems festzustellen ist, können die politischen Akteure – quasi als Substitut einer integrativ wirkenden, sozialstaatlichen Form der Absicherung – eine „Bedrohung durch suitable enemies“ (Kreissl 2004a: 14) beschwören und rigide gegen Kriminalität und Devianz vorgehen, um den Bürgern ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, welches sie in anderen Lebensbereichen verloren haben. Je mehr die Individuen unter den Bedingungen einer neoliberal organisierten Ordnung dazu angeleitet werden, sich unter dem Signum von Freiheit selbst zu regieren und aufgefordert werden, die Risiken und Unwägbarkeiten, die das geforderte Unternehmertum impliziert, in aktiver Eigenregie zu bearbeiten, desto bedeutsamer wird folglich auch ein Verlangen nach Sicherheit sein, die eben durch diese Art der Freiheit permanent gefährdet wird. Nach Bauman (1998: 15ff.) beinhaltet der deutsche Begriff „Sicherheit“ all jene Elemente, die im englischen Sprachraum als „safety“(= Unverletzlichkeit des Körpers), „security“ (= das Fehlen existentiell bedrohlicher Risiken) und „certainty“ (= die Gewißheit der Erwartung) verhandelt werden. Je weniger „security“ und „certainty“ durch eine sozialstaatlich konzipierte Form der Risikoabsicherung gewährleistet werden (sollen), desto mehr werden Fragen der „safety“ – also die Fragen der persönlichen Sicherheit – in den Mittelpunkt des politischen Handelns gestellt. In dieser Hinsicht wird im Rahmen einer „law and order Politik“ Unsicherheit auf die Angst um die persönliche Sicherheit („safety“) reduziert, während parallel dazu die Frage nach „security“ und „certainty“ ausgeblendet wird. Eine solche Politik profiliert sich dann als bürgernah, schreibt sie sich doch auf ihre
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Fahnen, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen. Dass diese Ängste in erster Linie aus dem ökonomischen und sozialen Strukturwandel resultieren und eine Folge der Prekarisierung der Lebensverhältnisse sind, kann auf diese Weise kaschiert werden. Scherr bringt diesen „gesellschaftlichen Nutzen von Law and Order“ (Bauman 1998) treffend auf den Punkt: „Diskurse über die vermeintlich zunehmende Kriminalität und Gewalt lassen sich vor diesem Hintergrund interpretieren als ein spezifischer Modus der Artikulation und Bearbeitung von Sicherheitsbedürfnissen, als quasi magische Versuche, Unsicherheit zu bannen, denen die – ihrerseits in politischen und massenmedialen Diskursen erzeugte – Wahrnehmung zugrundeliegt, daß es z.B. nicht primär Prozesse der Globalisierung der Ökonomie, sondern ,Kriminelle‘ sind, von denen gesellschaftliche Unsicherheit ausgeht, eine Unsicherheit, die man durch einfach darzustellende sozial- und ordnungspolitische Maßnahmen bewältigen kann“ (Scherr 1997: 259; im Original hervorgehoben).
Im Rahmen symbolischer Politik wird also die Unsicherheit, die die Menschen infolge des soziokulturellen und ökonomischen Wandels erfahren, in eine Angst vor „gefährlichen Gruppen“ umdefiniert. Dass viele Menschen auf diese Kampagnen ansprechen – exemplarisch können an dieser Stelle die Erfolge von rechts-populistischen Strömungen im Ausland (z.B. Frankreich, Dänemark, Österreich oder Niederlande), aber auch im Inland (z.B. Schill-Partei in Hamburg) angeführt werden –, ein Bedürfnis nach Strafe artikulieren und sich für repressive Maßnahmen gegen gesellschaftliche Randgruppen aussprechen, ist demzufolge auch im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklungsdynamik zu betrachten. Je mehr Menschen von Arbeitslosigkeit und Ausgrenzungsprozessen bedroht sind und ihre eigene Position als verwundbar erfahren, desto häufiger wird dieses Gefühl der eigenen Statusunsicherheit in „Denormalisierungsängste“ (Jahn u.a. 1997: 142) und damit auch in Ressentiments gegen gesellschaftliche Gruppen umschlagen, die als Konkurrenten im direkten Statuswettbewerb wahrgenommen werden. Punitive Reflexe der Bevölkerung resultieren demnach aus der Prekarität von Inklusion und Exklusion. Die Furcht vor Kriminalität und Devianz sowie eine allgemeine Politik der Strafverschärfung auf der einen Seite und die Freiheit der Selbstsorge des „Unternehmers seiner Selbst“ auf der anderen Seite stehen also, so lässt sich mit Legnaro (2000b) festhalten, unter den Bedingungen neoliberal organisierter Regulierung in einem engen Wechselverhältnis zueinander. An dieser Stelle können auch die obigen Fragestellungen (s. Exkurs II) näher beleuchtet werden, weshalb trotz ihrer enormen kontraproduktiven Effekte an der Drogenverbotspolitik festgehalten wird und aus welchen Gründen der Problemdiskurs über die illegalen Drogen in Politik und Medien, aber auch in großen Teilen der Wissenschaft, vorwiegend in der Form eines Gefahrendiskurses ge-
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führt wird, wo doch sozialwissenschaftliche Erkenntnisse eigentlich zu einer Entdramatisierung des Drogenphänomens beitragen müssten. Ein Rückgriff auf die mit Drogenkonsum assoziierten Problemlagen besitzen für das politische System durchaus eine nutzbringende Funktion: „Das amoralische Subjekt ,Drogenkonsument‘ ist überaus nützlich als Projektionsfläche für verschiedene Maßnahmen, die geeignet scheinen, die moralische Integrität der ,normalen‘ Bevölkerung zu stärken und staatliche Handlungsfähigkeit zu demonstrieren“ (Dollinger 2001: 97). Insbesondere die Figur des (ausländischen) Drogendealers und seine Einbindung in organisierte Kriminalitätsstrukturen bietet sich als „Verkörperung des idealen Feindes“ (Christie/Bruun 1991, 79) geradezu an1. Hier kommt „ein ,Sündenbock-Mechanismus‘ zum Tragen, der unmittelbar an die Überlegungen von Durkheim zur Strafe anschließt. Die Schaffung eines gemeinsamen internen Feindes – ,street crime‘ –, über deren Existenz weitgehend Einigkeit hergestellt werden kann, funktioniert mit der Etablierung eines ,war on crime‘ oder eines ,war on drugs‘ als Mechanismus der sozialen Integration genauso wie die Schaffung eines ,externen‘ Feindes und legitimiert damit auch das nationalstaatliche Gewaltmonopol“ (Groenemeyer 2003c: 74). Werden gesellschaftliche Konfliktsituation im Rahmen von Moraldiskursen thematisiert, dann wird der Blick von den sozioökonomischen Strukturen der Gesellschaft auf das Verhalten von einzelnen Personen gelenkt, die dabei als „gefährlich“ und „amoralisch“ markiert werden. Soziale Probleme werden als kulturelles Ordnungsproblem verhandelt, während die Fragen nach den Möglichkeitsbedingungen und den Chancen sozialer Teilhabe aus dem Blickfeld geraten. Die gesellschaftsstrukturellen Hintergründe sozialer Probleme werden verschleiert, da ihnen eine personalisierbare und identifizierbare Ursache zugewiesen wird (vgl. Albrecht 2005 66f.; Voß 1993: 138f.). Sozialpolitische Ver1
Damit soll nicht ausgedrückt werden, dass bestimmte Phänomene (z.B. Waffenhandel, Zwangsprostitution, Menschenhandel), die unter das Konstrukt „Organisierte Kriminalität“ subsumiert werden, nicht existieren oder dass diese Erscheinungen zu verharmlosen sind. Kritisiert werden soll an dieser Stelle allerdings die häufig zu verzeichnende Instrumentalisierung des Phänomens „Organisierte Kriminalität“ durch politische Akteure und eine damit einhergehende Personalisierung sozialer Problemlagen. Wenn etwa der ehemalige Präsident des Bayerischen Landeskriminalamts die Behauptung formuliert, dass der Drogenhandel „von ausländischen Tätergruppierungen, insbesondere aus dem ehemaligen Jugoslawien (...), aus der Türkei, aber auch aus Schwarzafrika“ (Ziegenaus 1999: 134) dominiert wird, die bei ihren Aktivitäten „flexibel, rücksichtslos und gewalttätig vorgehen“ (ebd.: 133), so erfolgt hier eine Individualisierung gesellschaftlicher Phänomene bei gleichzeitiger Ausblendung ihrer strukturellen Hintergründe. So wird eben in solchen Diskursen nicht berücksichtigt, dass beispielsweise illegale Einwanderer oder Asylbewerber angesichts ihres rechtlichen Status praktisch keinen Zugang zum legalen Arbeitsmarkt haben und in dieser Hinsicht nahezu zwangsläufig auf die Erwerbsmöglichkeiten der illegalen Wirtschaft angewiesen sind (zu einer kritischen Analyse der illegalen Ökonomie im Prozess der Globalisierung vgl. Krasmann/Lehne 1998).
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antwortlichkeiten können durch eine Individualisierung sozialer Probleme zurückgewiesen werden. Durch einen an Strafrecht und an der Therapie orientierten Zugriff auf gesellschaftlich marginalisierte Drogenkonsumenten lassen sich komplexe soziale Problemlagen auf die Persönlichkeit des Substanzgebrauchers reduzieren und „vereigenschaften“. Ökonomische und soziale Konflikte, die aus dem strukturellen Wandel der Gesellschaft resultieren, werden auf diese Weise psychologisiert und als Kontroll- und Ordnungsproblem bearbeitbar gemacht. „Der Sicherheitsdiskurs dient damit in erster Linie der Legitimierung der Ausschließung sozialer Gruppen, die als ,gefährliche‘ Gruppen definiert werden. Aus Menschen, die in Armut, ohne Wohnung, ohne Erwerbsarbeit leben (müssen), macht er eine besondere Spezies: Sie werden zu ,Abweichlern‘, ,Störern‘, ,Kriminellen‘, ,Gewalttätern‘, gegen die legitimiert vorgegangen werden kann“ (Stehr 2008: 323). Dem Diskurs der Wissenschaft kommt an dieser Stelle eine zentrale Bedeutung zu, kann doch seine Erkenntnisproduktion als Legitimationsbasis für Exklusionsprozesse herangezogen werden. Gerade in der traditionellen Drogenforschung wird Drogenabhängigkeit primär als eine Kombination aus Persönlichkeitsdefizit und Droge verhandelt. Parallel dazu werden die sozialen Faktoren, die zur Suchtentstehung und zur Verelendung führen, weitgehend ausgeblendet. Unter Rückgriff auf diesen Drogendiskurs der Wissenschaft können Politik und Medien die randständige Position eines Drogenkonsumenten ursächlich mit seinem Substanzgebrauch assoziieren oder als persönliches, defizitäres Bewältigungsverhalten interpretieren, während andere Ursachen, allen voran die negativen Effekte der Drogenverbotspolitik, aber auch allgemeine gesellschaftsstrukturelle und ökonomischen Veränderungen, ausgeklammert und einer Bearbeitung entzogen werden können. „Wenn Armut durch Drogen erklärt wird, erübrigt es sich, die ernstere Diskussion des Versagens von Wohlstandsregelungen aufzugreifen“ (Christie 1995: 45). Indem die ökonomische Krise des Sozialstaats auch als eine Krise der Normen und Werte verhandelt wird, kann der wachsende sozialräumliche und ökonomische Abstand zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen legitimiert werden. Bestimmte Phänomene wie beispielsweise Armut oder Arbeitslosigkeit werden vollkommen von ihrem sozialen Kontext abgelöst und stattdessen als Folge einer moralisch unangemessenen Lebensführung präsentiert. Im Hinblick auf Verantwortung und Schuld steht damit, so Bauman (1998: 8), „das Urteil gegen die Exkludierten schon a priori fest. Nur ihr Verhalten – falsches Verhalten – hat sie in die Lage von Ausgeschlossenen gebracht. Im Prozeß der Exklusion wird dem Ausgeschlossenen selbst die Rolle des Hauptakteurs, wenn nicht gar des einzigen Akteurs zugeschrieben. Exklusion wird als Ergebnis eines sozialen Selbstmordes, nicht einer sozialen Hinrichtung präsentiert“.
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Besonders in Zeiten, in denen die Anzahl der von Armut betroffenen Personengruppen ansteigt, bietet es sich für die politischen Akteure geradezu an, die subjektiven Lebensführungsweisen der von Ausgrenzungsprozessen besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen moralisch zu diskreditieren und auf diese Weise als Ursache für ihre Randständigkeit auszuweisen. Gerade am Beispiel der USA kann dies verdeutlicht werden: Hier ist seit der „konservativen Wende“ in den 1980er Jahren und dem damit verbundenen Abbau sozialstaatlicher Programme eine beträchtliche Zunahme der politischen und massenmedialen Dämonisierung der illegalen Drogen zu registrieren. Die finanziellen Budgets im „Krieg gegen Drogen“ wurden mit immer größeren Mitteln ausgestattet (vgl. Kurzer 2005: 361), während zur gleichen Zeit die Armutsrate enorm angestiegen ist (vgl. Wacquant 1997: 53ff.; 2000: 65f.). Dabei wurde der Gebrauch der verbotenen Substanzen in Politik und Medien vor allem als „Laster von GhettoJugendlichen afro-amerikanischer Herkunft“ (Kaulitzki 1995: 150) thematisiert. Das Phänomen des Drogenkonsums wurde folglich mit einer Bevölkerungsgruppe in Verbindung gebracht, die am härtesten von den Einschnitten in das soziale Netz betroffen war. Hierzu Reinarman und Levine (1997b: 18f.): „There was no orgy of media and political attention in the late 1970s when the prevalence of cocaine use jumped sharply, or even after middle-class and upper-class users began to use heavily (...). In 1986, politicians and the media focused on crack – and the drug scare began – when cocaine smoking became visible among a ’dangerous‘ group. Crack attracted the attention of politicians and the media because of its downward mobilitiy to and increased visibility in ghettos and barrios. The new users were a different social class, race and status“.
Der Konsum der illegalen Drogen diente den politischen Akteuren „als ideologisches Feigenblatt“ (Kaulitzki 1995: 152), um die durch die Kürzung der Sozialausgaben verschärften sozialen Problemlagen zu kaschieren: „For the New Right, people did not so much abuse drugs because they were jobless, homeless, poor, depressed, or alienated; they were jobless, homeless, poor, depressed, or alienated because they were weak, immoral, or foolish enough to use illicit drugs. For the right wing, American buisness productivity was not lagging because investors spent their capital on mergers and stock speculation instead of on new plants and equipment (...). Rather, conservatives claimed that buisness had difficulty competiting partly because many workers were using drugs. In this view, U.S. education was in trouble not because it had suffered demoralizing budget cuns, but because a ’generation‘ of students was ’on drugs‘ and their teachers did not ’get tough‘ with them. (...) ,The drug problem‘ served conservative politicians as an all-purpose scapegoat. They could blame an array of problems on the deviant individuals and then expand the nets of social control to imprison those people for causing the problems“ (Reinarman/Levine 1997b: 37f.).
Drogenkonsum und soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert 8.3.4
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Akzeptierende Drogenarbeit als Bestandteil spätmoderner Kontrollpolitik
Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Ausführungen wird verständlich, wieso manche Autoren der akzeptierenden Drogenarbeit ein zumindest partielles Scheitern attestieren (vgl. Amendt 2003: 174ff.; Dollinger 2001: 95ff.; 2002, 312; Schmidt-Semisch/Wehrheim 2005). Die drogenpolitische Strategie der Akzeptanz, die u.a. zur Einrichtung von Fixer- und Gesundheitsräumen geführt hat (s. Kap. 8.2), kann als Bestandteil einer spätmodernen Kontrolllogik charakterisiert werden, einer Kontrolllogik, die weniger darauf angelegt ist, abweichendes Verhalten umfassend zu beseitigen als vielmehr dessen Gefährlichkeit zu managen (s. Kap. 8.3.3). Anstatt dem Phänomen des Drogenkonsums mit kostenintensiven Rehabilitations- und Therapiemaßnahmen zu begegnen, erweist es sich als eine wesentlich effizientere Strategie, das unerwünschte Verhalten an bestimmten Orten zum Verschwinden zu bringen und dem Drogenabhängigen im Gegenzug klar umgrenzte Räumlichkeiten zuzuweisen. „Die Logik ist einfach: Wenn es eine Belästigung des öffentlichen Raums durch drogenkonsumierende Personen gibt und wenn es sich gleichzeitig als unrealistisch erwiesen hat, Heroinkonsum in nennenswertem Maße zu verhindern, dann besteht eine gleichermaßen Erfolg versprechende wie ökonomische Maßnahme darin, einen bestimmten Teil des Raumes abzutrennen, ihn als ‚Ort der Andersheit‘ zu deklarieren, das belästigende Verhalten an diesen Orten zu konzentrieren und damit die Abweichung ‚kontrolliert‘ zu neutralisieren“ (Schmidt-Semisch 2000, 181). Gesundheitsräume haben in dieser Hinsicht eine eindeutig ordnungspolitische Zwecksetzung: „Sie werden zu ,Räumen für Fixer‘, die sich deutlich von jenen Räumen unterscheiden, die ,nicht für Fixer‘ sind: bestimmte Stadtteile, Einkaufszentren, zentrale Plätze etc. Fixerräume bedeuten deshalb auch keineswegs (nur) Schutz und Akzeptanz, sondern – und vor allem im Kontext einer urbanen Ordnungspolitik – immer auch Ausgrenzung und Vertreibung, polizeilich verhängtes und durchgesetztes Platz- und Durchquerungsverbot u.ä.: Die vermeintliche Akzeptanz des Fixerraums legitimiert hierbei ein Verständnis des öffentlichen Raums als No-Go-Area für diesen Personenkreis“ (Schmidt-Semisch/Wehrheim 2005: 229).
Dieses Faktum zeigt sich schon allein darin, dass die Hilfsangebote der akzeptierenden Drogenarbeit in vielen Fällen in den Außenbezirken einer Stadt eingerichtet werden (vgl. am Beispiel Hamburgs Dworsky 1999; am Beispiel Bielefelds Schmidt-Semisch/Wehrheim 2005: 227). Für die Errichtung neuer Fixerräume ist laut Amendt (2003: 176) die Entfernung vom Innenstadtbereich eines der wichtigsten staatlichen bzw. kommunalen Förderungskriterien. Die Drogenszene soll dadurch möglichst unsichtbar gemacht werden, indem sie auf die
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Außenbezirke einer Stadt verteilt und damit von den repräsentativen Orten ferngehalten wird. Die akzeptanzorientierte Drogenarbeit kann damit als Bestandteil einer symbolischen Politik verstanden werden. Ohne dass die strukturelle Ausrichtung der Drogenpolitik einer Veränderung unterzogen wird, kann sich die Politik durch die Anerkennung der drogenpolitischen Strategie der Akzeptanz als liberale Instanz inszenieren. Der Öffentlichkeit kann demonstriert werden, dass man bereit ist, drogenabhängigen Personen Hilfe zu Teil werden zu lassen. Dabei darf allerdings hinsichtlich der Etablierung akzeptanzorientierter Arbeitsansätze nicht von einer wirklichen Akzeptanz von Drogenkonsumenten oder gar von einer Entkriminalisierung des Drogenkonsums gesprochen werden. Vielmehr ist mit Schmidt-Semisch und Wehrheim (2005: 222) darauf hinzuweisen, „dass sich die akzeptierende Drogenarbeit durch ihr Arrangement mit Kriminalisierung und Kontrolle selbst zur Alternative einer wirklich anderen Drogenpolitik gemacht hat. Dieses Arrangement war gleichsam der Preis, den die akzeptierende Drogenarbeit zahlte, um im Umkehrschluss staatliche Gelder für ihre Projekte zu erhalten. Auf diese Weise wurden ihre Projekte und Ideen zwar finanziell abgesichert, aber eben nur unter jenen Bedingungen, die staatlicherseits vorgegeben wurden – und welche die beabsichtigte inkludierend gemeinte Akzeptanz schon bald in eine Art real exkludierende Toleranz verwandelten“. Zwar können Abhängige in den Gesundheitsräumen Drogen konsumieren, ohne strafrechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen. Gleichzeitig wird aber ihr Aufenthalt oder potentieller Konsum an anderen Orten umso härter bestraft (vgl. Kreissl 2000: 39). Drogenkonsum wird also nicht generell, sondern nur innerhalb stark reglementierter Bedingungen einer räumlichen Ordnung zugelassen. Die akzeptanzorientierte Drogenarbeit konnte sich nur deswegen als ein Bestandteil des Drogenhilfesystems erfolgreich etablieren, weil sie in der Lage ist, Drogengebraucher im öffentlichen Raum unsichtbar zu machen und deren Bedrohungspotential zu managen (vgl. Schneider 2005: 273). „Es ist ein Irrtum, dies für Sozialoder Gesundheitspolitik im eigentlichen Sinne zu halten; vielmehr handelt es sich um urbane Strukturpolitik, die sich eines gesundheitspolitisch rationalisierbaren Instruments bedient“ (Legnaro 2001: 124). Um die Hilfsangebote der akzeptierenden Drogenarbeit nutzen zu können, muss sich der Drogenkonsument als „pathologisches Subjekt“ ausweisen (vgl. Dollinger 2001: 95f.). Wer sich gesundheitlich schützen will, hat sich den Regeln des Fixerraums zu unterwerfen. „Die Nutzer werden damit einem sozialpädagogischen Regime unterworfen, dessen Regelwerk sich nicht an ihrer Lebenswelt und ihren Bedürfnissen orientiert, sondern an herrschaftlichen Vorstellungen eines geregelten Konsums. (...) Die Einrichtung von Drogenkonsumräumen begründet sich (...) durch die Unterwerfung unter ein Modell der Lebensfüh-
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rung, das sich an anderen Maßstäben mißt als den eigenen und damit auch das Eingeständnis des individuellen Scheiterns an den Ansprüchen einer selbstbestimmten Lebensführung verlangt“ (Prömmel 2002: 251). Was sich für den Drogengebraucher verändert, ist in erster Linie sein „Stigmatisierungs-Status: Er wird vom verfolgten und gegebenenfalls inhaftierten ’Kriminellen‘, dem der Kontakt mit der Droge grundsätzlich untersagt ist und den man zur Abstinenz erziehen will, zum staatlich registrierten und kontrollierten ’Kranken‘, dem es einerseits zwar erlaubt ist, eine bestimmte Substanz zu konsumieren, aber anderseits eben nur an einem Ort, der die Kontrolle über seinen Konsum ermöglicht“ (Lindenberg/Schmidt-Semisch 1993: 44). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb manche Autoren der moralischen Unternehmung der Vertreter einer akzeptanzorientierten Drogenarbeit ein zumindest partielles Scheitern attestieren. Wenn sich die akzeptierende Drogenarbeit „von einer politischen Bewegung zum sozialen Dienstleistungsangebot“ (Jacob u.a.1999: 281) wandelt und in dieser Hinsicht von „einer politischen Zähmung vieler ehemals drogenpolitisch aktiver Vereine“ (ebd.: 285) gesprochen werden kann, dann wird damit auch der eigene Anspruch aufgegeben, im Rahmen einer politischen Anwaltschaft die Interessen von Drogenkonsumenten zu vertreten: Es wird nicht mehr auf die Problematik der weiterhin bestehenden repressiven drogenpolitischen Praxis aufmerksam gemacht und es werden immer seltener Forderungen nach einer strukturellen Veränderung des Drogennormensystems vorgetragen. In dieser Hinsicht wird auch eine der zentralen Handlungsprinzipien der akzeptierenden Drogenarbeit – die Senkung des Konsumrisikos durch Strategien der Gesundheitsförderung – nicht realisiert. Solange die kontraproduktiven Effekte der Drogenverbotspolitik nicht aufgehoben werden, betreibt die akzeptierende Drogenarbeit lediglich eine Form der „Elendsverwaltung“ (Böllinger u.a. 1995: 51; Schneider 2005: 273). Sie bearbeitet die negativen Begleiterscheinungen des Konsums auf der Konsumentenebene, ohne die primären Ursachen des „Drogenelends“ – das rigide Drogenstrafrecht – zu beseitigen. Statt Gesundheitsrisiken zu senken, wird Drogenkonsum unter dem ständigen Vertreibungsdruck sogar mit noch stärkeren Gesundheitsgefährdungen praktiziert (vgl. Simon 2005: 156). Außerdem trägt die akzeptierende Drogenarbeit – da die Sichtbarkeit eines Phänomens eine wesentliche Bedingung für die Thematisierung eines sozialen Problems darstellt – dazu bei, den akuten Handlungsdruck auf die politischen Akteure zu reduzieren. Wird der Konsumakt nicht mehr in der Öffentlichkeit vollzogen, sondern in Gesundheitsräumen unsichtbar gemacht, dann führt dies dazu, dass Drogenabhängige von der öffentlichen Bildfläche verschwinden und dem Auge des Betrachters entzogen werden. „Mit dem Verschwinden der Armen verschwinden auch Themen aus der Öffentlichkeit und damit Chancen auf Gegensteuerung: Aus den
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Augen – Aus dem Sinn. Einer Armut, die nicht wahrgenommen wird, muss auch nicht begegnet werden“ (Wehrheim 2002b: 33f.). Angesichts der Tatsache, dass die akzeptierende Drogenarbeit wesentliche Kontrollpotentiale im Drogenbereich aufrechterhält, ist abschließend auf Michel Foucault (1994: 395) zu verweisen, der allem Anschein nach einmal mehr mit seiner für die Soziale Arbeit vernichtenden Bemerkung Recht hat, dass das justizielle und politische System sich durch einen partiellen Sanktionsverzicht nur deshalb liberal in Szene setzen kann, weil Institutionen wie die Soziale Arbeit einen Teil ihrer Kontrollfunktionen zu übernehmen in der Lage sind: „In dem Maße, in dem die Medizin, die Psychologie, die Erziehung, die Fürsorge, die Sozialarbeit immer mehr Kontroll- und Sanktionsgewalten übernehmen, kann sich der Justizapparat seinerseits zunehmend medizinisieren, psychologisieren, pädagogisieren. (...) Inmitten dieser dichter werdenden Normalisierungsnetze verliert das Gefängnis an Bedeutung“.
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Schlussbetrachtung: Plädoyer für eine kritischreflexive Soziale Arbeit
In der ältesten Nürnberger Bettelordnung aus der letzten Hälfte des 14. Jahrhunderts heißt es: „Erstens soll (...) niemand in den Kirchen und in der Stadt betteln, es sei denn er besitze das Zeichen der Stadt. Und dieses Zeichen soll Pignot Weigel im Auftrag des Rates vergeben. Des weiteren soll man auch niemandem ein Zeichen geben, noch ihn betteln und bitten lassen vor den Kirchen, es sei denn er bringe mindestens zwei oder drei Personen zu dem vorher genannten Pignot mit, die auf ihren Eid nehmen, daß jener des Almosens bedürfe. (...) Aber dem, welcher nicht bedürftig ist, soll er das Zeichen abnehmen und sich an Eides Statt von ihm versichern lassen, daß er für ein Jahr die Stadt meidet (...). Wenn fremde Landstreicher oder unverschämte Abbettler kommen, die länger als drei Tage hier verweilen, soll man sie hindern und auf ein Jahr aus der Stadt verweisen” (zit. nach Sachße/Tennstedt 1980: 63f.).
In einer Verfügung des Bremer Stadtamtes aus dem Jahr 1995, die sich an Mitglieder der „offenen Drogenszene“ richtet, wird folgende Anweisung gegeben: „1. Hiermit wird Ihnen verboten, a) sich in dem Bereich der Stadtgemeinde Bremen aufzuhalten, der in dem beigefügten Plan farblich markiert ist, b) in dem beigefügten Plan farblich markierten Bereich in öffentlichen oder privaten Verkehrsmitteln (Bus, Straßenbahn, Taxi, Kfz, Fahrrad usw.) bzw. zu Fuß zu durchqueren. Diese Verbote gelten zunächst bis zum Ablauf von 6 Monaten nach Bekanntgabe dieser Verfügung. (...) 1.1 Die Verbotsverfügung stützt sich auf den § 10 des Bremischen Polizeigesetzes (BremPolG) vom 21.03.1983 (...), um eine im einzelnen Fall bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit abzuwehren“ (zit. nach Michels/Stöver 1999c: 297).
Es wird zwar immer wieder behauptet, dass sich Geschichte nicht wiederholt, aber wenn diese beiden Verordnungen, die in einem zeitlichen Abstand von etwa 600 Jahren ausformuliert wurden, gegenüber gestellt werden, treten Zweifel auf, ob diese These angemessen ist. Zeichnete sich die spätmittelalterliche Stadt dadurch aus, dass sie sich gegenüber der Außenwelt abgrenzte und den Zuzug von auswärtigen Bettlern erschwerte, so ist es wohl nicht allzu unzutreffend, wenn einige Autoren hinsichtlich der gegenwärtigen Transformationen der Mechanismen sozialer Kontrolle die unter veränderten Bedingungen stattfindende Wiederkehr bereits überwunden geglaubter Muster gesellschaftlicher Ordnungsbildung beschreiben. So sprechen beispielsweise Jahn, Ronneberger und Lanz (1999: 215) davon, dass sich ein „Typus von ständischer Bürgerstadt“
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herausgeschält hat, Nogala (2000a: 77) registriert eine „Gesellschaft mit neofeudalen Zügen“ und Butterwegge (2005: 33) stellt fest, dass die sozialpolitische Postmoderne mittelalterliche Züge aufweist und dass sich auch im Einzugsbereich der Sozialen Arbeit Tendenzen einer „Refeudalisierung“ erkennen lassen. Darüber hinaus konstatiert Legnaro (2001: 130), dass gegenwärtig eine ständische Ordnung durch räumlichen Ausschluss simuliert wird und Albrecht (2005: 69ff.) verzeichnet einen Prozess der kontinuierlichen Rechtserosion und ein Ende der Aufklärung, da marginalisierte Personengruppen teilweise entrechtet werden und diesen der Bürgerstatus aberkannt wird. Psychoaktiven Substanzen und deren Symbolik kommt bei diesen Vorgängen der Ordnungskonstitution seit jeher eine herausragende Bedeutung zu. Drogen sind, dies sollte in dieser Arbeit mehr als deutlich geworden sein, niemals einfach nur chemisch-pharmakologische Stoffe, die quasi von Natur aus mit einem bestimmten Suchtpotential ausgestattet und daher gefährlich oder ungefährlich sind. Vielmehr werden sie erst im Rahmen gesellschaftlicher Diskurse zu „Drogen“ im gebräuchlichen Sinne des Wortes gemacht und damit auch als ein für verschiedene Interessen verwertbares Symbol produziert. Ob Kaffee und Tabak im 16. Jahrhundert, Alkohol und Opium während der Industrialisierung, Cannabis und LSD in den späten 1960er Jahren oder Kokain und Crack in den 1980er Jahren, stets kann die Drogensymbolik, d.h. die symbolische Auszeichnung einer Droge als „Übel“, gerade in Zeiten gesellschaftlicher Transformationsprozesse von definitionsmächtigen Gruppen als herrschaftsstabilisierendes Medium eingesetzt werden, etwa um eine gesellschaftliche Minderheit moralisch zu diskreditieren, die strukturellen Hintergründe sozialer Problemlagen zu kaschieren oder die eigene Position innerhalb der Sozialstruktur zu festigen. Aber in demselben Maße, wie die Drogensymbolik als ein Mittel der Herrschaftssicherung herangezogen wird, so kann der Konsum gesellschaftlich negativ bewerteter Substanzen auch zu einem Zeichen des Protests und des Widerstands gegen eben diese Herrschaftsstrukturen werden. Nahezu alle Substanzen, die im Rahmen dieser Arbeit zum Gegenstand der Betrachtung gemacht wurden, waren zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte einem Verbot unterstellt. Die Grenze zwischen erlaubtem und verbotenem Genuss ist historisch und geographisch prekär und der geschichtliche Rückblick zeigt, dass es niemals nur medizinische und gesundheitliche Beweggründe waren, die eine Prohibitionspolitik veranlassten. Vielmehr lieferten medizinische und gesundheitliche Motive kollektiven Akteuren schon immer eine wichtige Grundlage, um die eigene Problemdefinition mit der entsprechenden Legitimation zu versehen. Besonders das Beispiel der heute als illegal klassifizierten Drogen demonstriert, dass deren Verbot auf eine Vermengung von Interessenlagen zurückzuführen ist. Die Gebraucher der verbotenen Substanzen be-
Schlussbetrachtung
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finden sich angesichts der repressiven drogenpolitischen Praxis immer noch in einer extrem verwundbaren Situation, auch wenn seit der „Entdeckung“ des Ecstasy-Konsumenten eine gewisse Entdramatisierung des Drogenkonsumphänomens zu beobachten ist und Drogengebrauch gegenwärtig immer häufiger als normale Erscheinung des Jugendalters wahrgenommen wird. Dessenungeachtet werden weiterhin strafrechtliche Sanktionspotentiale aufrecht erhalten, so dass Konsumenten nach wie vor mit den Konsequenzen der prohibitiven Ausgestaltung der Drogenpolitik konfrontiert sind: Drogenkauf und Drogenkonsum müssen geheimgehalten werden, es fehlen rechtliche Möglichkeiten der Konfliktregulierung und es gibt im Vergleich zu den legalen Drogen keine Kontrollinstanzen, die die Substanzen auf Qualität überprüfen. Außerdem werden Personen ohne eine entsprechende finanzielle Ressourcenausstattung zur Beschaffungskriminalität veranlasst und das Sichtbarwerden des Drogengebrauchs geht noch immer mit zum Teil dramatisch anmutenden Prozessen der sozialen Ausschließung einher. Eine strafrechtliche Drogenkontrolle wirkt dabei nicht nur kontraproduktiv, indem sie Konsumenten von Integrationsverhältnissen ausschließt, sondern es kann auch der empirische Nachweis erbracht werden, dass drogenpolitische Repression kaum Einfluss auf das Konsumverhalten der Bevölkerung hat (vgl. Reuband 2007). Gerade vor diesem Hintergrund sollte es sich die Soziale Arbeit im Bereich der Drogenhilfe zur Aufgabe machen, zu einer Entdramatisierung des Drogenkonsumphänomens beizutragen. Mit den Worten von Quensel (1995: 25): „Das beginnt bei der Aufklärung der ängstlichen Eltern wie der besorgten Politiker und vielleicht auch der interessierten Experten; führt dann über eine schrittweise durchzusetzende Entkriminalisierung und verlangt schließlich anstelle bisheriger Prävention eine allgemeine Aufklärung, bei der die Ambivalenz aller Drogen im Vordergrund steht, – als auch die Aufklärung über deren ,positve‘ Seiten, wie man diese maximiert, und wie man am besten deren Risiken verhindert“.
Wird die Drogenpolitik repressiv ausgestaltet, dann verpuffen auch die Unterstützungsangebote einer auf Integration abzielenden Drogenhilfe, besteht doch immer die Gefahr, dass die auf Hilfe ausgerichteten Einrichtungen Problemlagen bearbeiten, die weniger durch Drogenkonsum, sondern vielmehr durch Kriminalisierungs- und Exklusionserfahrungen bedingt sind. Allerdings besteht gegenwärtig kaum Hoffnung, dass die strukturelle Ausrichtung der drogenpolitischen Praxis in der näheren Zukunft einer nachhaltigen Veränderung unterzogen wird. Zu groß ist die Anzahl der „Nutznießer“ (Christie/Bruun 1991), die von der Dramaturgie der Sucht und der Dämonisierung der verbotenen Substanzen profitieren: Vom politischen Sektor, der sich nicht nur als handlungsmächtige Instanz bei der Bearbeitung sozialer Probleme präsentieren, sondern auch Ex-
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klusionsprozesse legitimieren kann, indem er diese als moralisches Defizit und damit als einen Akt der Selbstmarginalisierung erscheinen lässt bis hin zu den Organisationen und Professionen helfender Berufe, die durch die Darstellung kompetenter Interventionsmächtigkeit in der Lage sind, ihre eigene Position bei der Problembearbeitung zu rechtfertigen. Zu nennen ist aber auch der „normale“ Bürger, der anhand der Negativfolien des „verelendeten Drogenjunkies“ und des „skrupellosen, ausländischen Drogenhändlers“ die legitimen Vorstellungen von Moral und Normativität herausarbeiten und somit die Rechtschaffenheit der eigenen sozialen Identität bestärken kann. In dieser Hinsicht ist die vorliegende Arbeit auch als eine Aufforderung zu verstehen, die Evidenzen und Plausibilitäten des herrschenden Drogendiskurses und die damit einhergehenden Grenzziehungen von „Normalität“ und „Abweichung“ kritisch zu hinterfragen. Das Ziel dieser Untersuchung war nicht, das Wesen und die innersten Gesetze von Drogen und Drogenkonsum zu erhellen, sondern vergangene und aktuelle Wahrheitsdiskurse in ihrer Historizität erscheinen zu lassen und zu dekonstruieren. Evidente Denkmuster und typisierte Problemdeutungen sollten problematisiert und die Möglichkeit alternativer Deutungsschemata und Erklärungsprinzipien aufgezeigt werden. Wie mit Drogen und deren Konsumenten umgegangen wird, liegt nicht in einer wie auch immer gearteten Natur der Sache, sondern steht im Zusammenhang mit den soziokulturellen Wertungen einer Gesellschaft sowie den innerhalb dieser Gesellschaftsordnung sich wandelnden Fassungen von legitimer und illegitimer Identität. Die dem Drogenkonsum zugeschriebenen Bedeutungen bilden sich erst im Kontext gesellschaftlicher Entwicklung und sind nicht adäquat zu verstehen, wenn nicht gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse und damit zusammenhängende interessenpolitische Bestrebungen berücksichtigt werden. Die jeweilige Kontrollform des Drogenkonsums hat ihren Ursprung nicht in einer der Droge inhärenten Qualität, sondern sie ist die Folge eines Prozesses machtbasierter Auseinandersetzungen. Das gesellschaftlich vorfindbare Drogenwissen und die alltägliche Drogenwirklichkeit sind somit als historisch wandelbare Konstruktionen zu dechiffrieren. Im Mittelalter war der Rausch angesichts einer geringen gesellschaftlichen Ausdifferenzierung noch ein weitgehend normaler und gebilligter Bewusstseinszustand und ein bedeutsames Medium zur Herstellung einer kollektiven Identität. Die Auffassung, dass der Konsum psychoaktiver Substanzen zur Sucht führen kann, wurde erst mit der Durchsetzung der kapitalistischen Industriegesellschaft und den damit verbundenen Prinzipien der Lebensführung zu einem dominanten Interpretationsschema. Die Aufrechterhaltung von Gesundheit wurde jetzt erstmals zu einem sozial bedeutsamen Massenphänomen und zur notwendigen Voraussetzung für die Instandhaltung des Gesamtsystems. Die mangelnde Fähigkeit des Individuums, sich dauerhaft nüchtern zu halten,
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wurde zu einem strukturellen Problem, da man angesichts einer hohen wechselseitigen Abhängigkeit auf das selbstkontrollierte Verhalten jedes Einzelnen angewiesen war. Persönliche Autonomie war spätestens im Zeitalter der Aufklärung eine allumfassende Verhaltensanforderung und Sucht als die exzessive Abweichung hiervon erschien nur noch als Krankheit plausibel. Bei einem generellen Glauben an die Gestaltbarkeit der Gesellschaft wurden Rehabilitation und Therapie im 19. und 20. Jahrhundert zum Ideal der Politik sozialer Probleme. Das klassische Krankheitskonzept der Sucht kann dabei als Instrument der Normalisierung verstanden werden, da bestimmten Personengruppen, die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen und Normalitätsstandards nicht entsprechen, nahe gelegt wird, ihren Konsum durch die Interpretationsfolie des Konstrukts der Drogenabhängigkeit zu erklären und sich einer Therapie zu unterziehen. Unter den Bedingungen einer neoliberal regulierten Gesellschaftsordnung, wie sie sich seit den 1970er Jahren in den westlichen Industrieländern etabliert hat, wird der Einzelne zu permanenter Flexibilität, Anpassungsbereitschaft und unternehmerischer Inszenierung aufgefordert. Vor diesem Hintergrund verlieren Normalisierung und Inklusion als dominante Zielvorstellungen von Kontrolle und damit auch die Vorstellung von Sucht als Krankheit tendenziell an Bedeutung. Es hat sich eine heterogene und in sich widersprüchliche Kultur der Kontrolle herausgebildet, in der abstinenzorientierte Therapien und das Prinzip der Normalisierung abweichenden Verhaltens zwar weiterhin von Bedeutung sind, in der jedoch gleichzeitig über Normen wie Selbstverantwortung und Selbstführung Kontrollpotentiale auf die Subjekte verlagert werden. Diese sollen unter der Anleitung pädagogischer „Risikoexperten“ zu einem risikobewussten und „klugen“ Umgang mit psychoaktiven Substanzen geführt werden. Zugleich sind suchtpräventive Angebotsstrukturen ausfindig zu machen, die anhand differenzierter Risikoprofilierungen in der Lage sind, die Subjekte effizient zu steuern. Das Verhalten und die Einstellung des Einzelnen werden hier unmerklich und „sanft“ gesteuert und das Individuum wird frühzeitig auf eine bestimmte soziale Position festgelegt. Daneben existieren aber auch „harte“ und repressive Strategien der sozialen Kontrolle, die in erster Linie ökonomisch deprivierte und kulturell subdominante Bevölkerungsgruppen betreffen. Während in Deutschland vor allem der Handel mit Drogen rigide kriminalisiert wird, wird in den USA auf der Basis von Drogengesetzen von einer repressiven Inhaftierungspolitik gegenüber gesellschaftlich marginalisierten Bevölkerungsgruppen Gebrauch gemacht. Als exkludierende Maßnahme der sozialen Kontrolle muss auch die drogenpolitische Strategie der Akzeptanz charakterisiert werden, die sich seit gut zwei Jahrzehnten etabliert hat. Die Institutionen der akzeptierenden Drogenarbeit sind zum Bestandteil einer urbanen Kontrollpolitik geworden, in deren Zentrum pragmati-
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sche Strategien des Problemmanagements stehen. Solange das Risiko des Drogenkonsums kalkulatorisch reguliert und der Drogenabhängige unsichtbar gemacht werden kann, kann allem Anschein nach auch darauf verzichtet werden, abweichendes Verhalten gänzlich zu verhindern. Responsibilisierung und Exklusion lassen sich vor dem Hintergrund einer moralischen Ökonomie der Selbstsorge und der Unterstellung eines universalistischen Egalitarismus als neuartige Mechanismen der sozialen Kontrolle beschreiben, während parallel dazu Normalisierung als dominantes Ziel der Kontrolle an Bedeutung verloren hat. In diesem Zusammenhang ist im Kontext einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Thematik des Drogengebrauchs eine reflexive Herangehensweise unabdingbar (vgl. Dollinger/Schmidt-Semisch 2007a). Die Kontingenz der gesellschaftlich akzeptierten Problemdeutungsweisen des Drogenkonsums und der daran angebundenen Interventionsrationalitäten sind stets im Blick zu behalten:Eine kritische Form der Reflexivität fordert dazu heraus, das naturwissenschaftlich-medizinische Modell der Sucht in seiner vermeintlichen Plausibilität kritisch zu hinterfragen. Es ist in dieser Hinsicht ein großes Verdienst der sozialwissenschaftlichen Drogenforschung, die Blindstellen des klassischen Suchtkonzepts einer Kritik zu unterziehen. Untersuchungen zum kontrollierten und sozial integrierten Drogengebrauch und zum Selbstausstieg zeigen deutlich die Unzulänglichkeiten des Krankheitsmodells. Es ist vor diesem Hintergrund unumgänglich, auf die Problematik einer Entmündigung von Drogenkonsumenten hinzuweisen, etwa durch die verallgemeinernde Zuschreibung von Störungsdiagnosen, die dem Individuum seine Eigenständigkeit und Handlungsfreiheit absprechen und ihn alleine auf defizitäre Kategorien des Misslingens und Versagens festlegen. Anstatt die eigenen Handlungs- und Selbstwirksamkeitskompetenzen aufzuzeigen, untergräbt die Problemdeutung „Drogenabhängigkeit“ die Handlungs- und Selbstkontrollfähigkeit der Klienten und führt nicht selten dazu, dass der anvisierte Interventionserfolg in sein Gegenteil verkehrt wird. Das klassische Suchtmodell kann als ein fatalistisches Konzept aufgefasst werden (vgl. Kolte/Schmidt-Semisch 2003), da es dem Konsumenten nur wenig Raum bietet, sich jenseits einer defizitären Perspektive des Scheiterns wahrzunehmen, die eigenen Handlungskompetenzen zu entdecken und die selbstbestimmten Steuerungsmöglichkeiten des Drogenkonsums im Blick zu behalten. Und es gilt immer noch und immer wieder darauf aufmerksam zu machen, dass Sucht unter den Bedingungen der repressiven drogenpolitischen Praxis weniger auf das chemisch-pharmakologische Wirkungspotential der verbotenen Substanzen, als vielmehr auf den spezifischen Umgang mit Drogenkonsumenten und die Dämonisierung der illegalen Drogen zurückzuführen ist. Dass die medizinisch-psychiatrischen Institutionen im Umgang mit den Konsumenten illegaler
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Substanzen eine so wichtige Funktion besitzen, ist eine Folge der gesellschaftlichen Stigmatisierung und Ausgrenzung, die viele Drogengebraucher physisch und psychisch an einen Punkt bringt, an dem sie im klassischen Sinne medizinische Fälle werden. Werden diese Erkenntisse der sozialwissenschaftlichen Sucht- und Drogenforschung im Bereich der Drogen- und Suchthilfe zur Kenntnis genommen, dann muss es ein professioneller Anspruch in diesem Handlungsfeld sein, die in der alltäglichen Berufspraxis institutionalisierten Deutungsroutinen und typisierten Ursachenkonstruktionen stets mit Skepsis zu bedenken und der Kritikmöglichkeit zugänglich zu machen (vgl. Dollinger/Schmidt-Semisch 2007b). Eine solche Form der reflexiven Professionalität fordert dazu auf, Drogenkonsumenten nicht mehr per se als Drogenabhängige zu betrachten bzw. als behandlungsbedürftige, „andersartige“ Wesen zu kategorisieren. Demgegenüber sind sie als Personen wahrzunehmen, die ihr Konsumverhalten mit Sinn ausstatten und die in der Lage sind, eine selbstverantwortliche drogenbezogene Lebensführung zu realisieren, sofern die drogenpolitische Praxis jenseits von Repression und Stigmatisierung ausgestaltet wird. Allerdings ist auch im Rahmen einer solchen Argumentationsführung wiederum eine reflexive Herangehensweise unumgänglich. Es ist immer in Rechnung zu stellen, dass eine Soziale Arbeit, die die Förderung der autonomen Handlungspraxis und die Erhöhung der Partizipationschancen ihrer Adressaten als Maßstab einer gelingenen Professionalität ausweist, der entsprechenden (sozial)politischen Kontextbedingungen bedarf, um dieses Professionsideal realisierungsfähig zu halten. Gerade vor dem Hintergrund einer Ökonomisierung des Sozialen ist nun aber zu bedenken, dass viele Konzepte (Autonomie, Empowerment, Prävention usw.), die bislang als Kennzeichen professioneller Sozialer Arbeit galten, zum Bestandteil neoliberaler Regierungsweisen geworden sind. In dieser Hinsicht sind die veränderten Rahmenbedingungen zu beachten, in dem die Soziale Arbeit ihre Theoriemodelle artikuliert. Aufgrund der gegenwärtigen (sozial-)politischen Rahmung Sozialer Arbeit sind Zweifel angebracht, ob es ein guter Tausch wäre, das Erklärungsmodell der „Drogenabhängigkeit“ durch das Erklärungsmodell der „Autonomie“ zu substituieren, wie es von kritischen Vertretern einer akzeptanzorientierten Drogenarbeit gefordert wird. Es ist hier zu bedenken, dass Drogenkonsumenten zwar nicht „von Natur aus“ krank sind, aber eben auch nicht ursprünglich autonome, mündige und selbstbestimmte Individuen. Eine solche Sichtweise ignoriert die normativen Implikationen und Handlungsaufforderungen, die mit jeder Setzung eines Menschenbilds verbunden sind. Eine Sichtweise, die den Menschen als freies und selbstbestimmtes Wesen betrachtet, ignoriert, dass wesentliche Elemente für eine Realisierung dieser Verhaltensanforderung dem Zugriff des Einzelnen nicht zugänglich sind.
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Es wird damit verkannt, dass die Realisierung von Autonomie abhängig ist von der jeweiligen Chancenstruktur einer Gesellschaft. Gerade vor dem Hintergrund der neoliberalen Ökonomisierung des Sozialen werden die bestehenden sozialstrukturell ungleich verteilten Teilnahme- und Lebenschancen verschleiert. Die sozialen Rechtsansprüche auf staatliche Unterstüzung, die das Individuum bislang im Konfliktfall geltend machen konnte, werden gegenwärtig teilweise zurückgenommen. Im Rahmen aktivierungspolitischer Wohlfahrtsstaatsreformen zieht sich der Staat immer häufiger aus der Verantwortung für die Bearbeitung sozialer Risiken zurück. War die Etablierung des Sozialstaats eine wichtige Errungenschaft der modernen Gesellschaft, so wird er gegenwärtig von neoliberalen und neokonservativen Interessengruppen im Rahmen krisenhaft konnotierter Zeitdiagnosen für die gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte verantwortlich gemacht und deshalb sein Abbau eingefordert. Im Gegenzug wird der Einzelne zur Selbstsorge und zur Nutzung seiner privat verfügbaren Ressourcen aufgerufen. Um in den Genuss sozialstaatlicher Unterstützungsangebote zu gelangen, muss das Individuum erst seine Bereitschaft zur Eigeninitiative unter Beweis stellen. Gesellschaftliche Ausgrenzung wird somit im Rahmen individualistischer Verantwortungszuschreibungen als Mangel an Vorsorge und Anstrengung und als selbst verschuldeter Vorgang ausgewiesen. Dabei ist diese neue Aktivierungspolitik für ihre praktische Umsetzung auf die Soziale Arbeit angewiesen, bedürfen die Klienten für die Ausbildung der eingeforderten „employability“ doch der pädagogischen Beratung und Qualifizierung („Fördern“) ebenso wie der erzieherischen Kontrolle und Disziplinierung („Fordern“). Die Soziale Arbeit ist in dieser Hinsicht aufgefordert, sich kritisch mit den aktivierungspolitischen Vorgaben auseinanderzusetzen. Unterstellt man, dass das sozialpolitische Sicherungssystem und die in ihm eingebaute Soziale Arbeit immer auf zwei Seiten bezogen ist – die Herstellung von Handlungskompetenz auf Seiten des Individuums und die Verbesserung der Chancenstruktur auf Seiten der Gesellschaft –, so zeigt sich, dass dieses Verhältnis im Rahmen einer Aktivierungspolitik einseitig auf eine Seite – die des Individuums – verlagert wird. Lässt sich die Soziale Arbeit ohne Strategien der Gegenwehr vor den Karren des aktivierenden Sozialstaats einspannen oder bietet sie sich sogar aus freien Stücken als „aktivierungspädagogischer Transformationsriemen“ (Kessl 2005b) an, dann besteht die Gefahr, dass sie wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts alleine auf eine ordnungspolitische Funktion reduziert wird. Soziale Arbeit hat sich deshalb im Sinne einer „reflexiven Professionalität“ (Dollinger 2007) mit den aktivierungspolitischen Vorgaben auseinanderzusetzen, da bei einer unreflektierten Adaption und Umsetzung derartiger Wissensbestände und Programme die Möglichkeit gegeben ist, dass die gesellschaft-
Schlussbetrachtung
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liche Benachteiligung der eigenen Klientel durch individuelle Verantwortungszuweisung und Stigmatisierung verdoppelt wird. Gegenüber den vorherrschenden und politisch akzeptierten Ursachenkonstruktionen von sozialen Problemen sind die Repräsentanten der Sozialen Arbeit dazu aufgerufen, die Kontingenz der gegenwärtig vorherrschenden Problemdeutungen aufzuzeigen und alternative Problemmuster in die öffentliche Diskussion einzuspeisen. So könnte beispielsweise gezeigt werden, dass es nicht primär die individuelle Leistung ist, die die Position von Individuen im sozialen Raum bestimmt, sondern dass diese vielmehr abhängig ist vom Besitz ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals (vgl. Bourdieu 1983). Um diese Tatsache empirisch zu untermauern, ist reichlich Stoff für Gegeninszenierungen vorhanden: So kann etwa belegt werden, dass Bildungschancen ungleich verteilt sind, schichtspezifische Unterschiede von Gesundheit und Sterblichkeit in den letzten Jahren noch markanter geworden sind, die politischen Partizipationsmöglichkeiten mit Schichtmerkmalen variieren, der Abstand im Lebensstandard zwischen armen Gesellschaftsschichten und dem Durchschnitt der Bevölkerung kontinuierlich größer wird und Kriminalität schichtspezifisch attribuiert wird (vgl. Geißler 1996; 2006). Will Soziale Arbeit ihren eigenen professionellen Ansprüchen, wie etwa den Grundsätzen von Lebensweltorientierung und Partizipation, gerecht werden, dann hat sie in der Öffentlichkeit eine Gesellschaftspolitik einzufordern, die für eine sozial gerechte Verteilung von Chancen und Risiken Sorge trägt und dem Einzelnen zu jeder Zeit die im Alltag benötigten Ressourcen für seine Lebensführung gewährt.
Abkürzungsverzeichnis Im Text verwendete Abkürzungen: BKA: BtMG: DVMG: INSU: RJWG: WHO:
Bundeskriminalamt Betäubungsmittelgesetz Deutscher Verein zum Mißbrauch geistiger Getränke INdex SUchtgefährdung Reichsjugendwohlfahrtsgesetz World Health Organisation
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