DIE WENDE VON DER AUFKLÄRUNG ZUR ROMANTIK 1760-1820
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DIE WENDE VON DER AUFKLÄRUNG ZUR ROMANTIK 1760-1820
A COMPARATIVE HISTORY OF LITERATURES IN EUROPEAN LANGUAGES SPONSORED BY THE INTERNATIONAL COMPARATIVE LITERATURE ASSOCIATION HISTOIRE COMPARÉE DES LITTÉRATURES DE LANGUES EUROPÉENNES SOUS LES AUSPICES DE L’ASSOCIATION INTERNATIONAL DE LITTÉRATURE COMPARÉE VOLUME I EXPRESSIONISM AS AN INTERNATIONAL LITERARY PHENOMENON (Ed. Ulrich Weisstein) VOLUME II THE SYMBOLIST MOVEMENT IN THE LITERATURE OF EUROPEAN LANGUAGES (Ed. Anna Balakian) VOLUME III LE TOURNANT DU SIÈCLE DES LUMIÈRES 1760–1820 LES GENRES EN VERS DES LUMIÈRES AU ROMANTISME (Dir. György M. Vajda) VOLUME IV LES AVANT-GARDES LITTÉRAIRES AU XXe SIÈCLE: HISTOIRE (Dir. Jean Weisgerber) VOLUME V LES AVANT-GARDES LITTÉRAIRES AU XXe SIÈCLE: THÉORIE (Dir. Jean Weisgerber) VOLUME VI EUROPEAN-LANGUAGE WRITING IN SUB-SAHARAN AFRICA (Ed. Albert Gérard) VOLUME VII L’ÉPOQUE DE LA RENAISSANCE (1400–1600) I. L’AVÈNEMENT DE L’ESPRIT NOUVEAU (1400–1480) (Dir. Tibor Klaniczay, Eva Kushner, et André Stegmann) VOLUME VIII ROMANTIC IRONY (Ed. Frederick Garber) VOLUME IX ROMANTIC DRAMA (Ed. Gerald Gillespie) VOLUME X A HISTORY OF LITERATURE IN THE CARIBBEAN (Vol. 1) (Ed. A. James Arnold) VOLUME XI INTERNATIONAL POSTMODERNISM (Eds. Hans Bertens and Douwe Fokkema) VOLUME XII A HISTORY OF LITERATURE IN THE CARIBBEAN (Vol. 3) (Ed. A. James Arnold) VOLUME XIII L’ÉPOQUE DE LA RENAISSANCE (1400–1600): IV. CRISE ET ESSORS NOUVEAUX (1560–1610) (Dir. Tibor Klaniczay, Eva Kushner et Paul Chavy) VOLUME XIV DIE WENDE VON DER AUFKLÄRUNG ZUR ROMANTIK 1760-1820: EPOCHE IM ÜBERBLICK (Hg. von Albert Glaser und György M. Vajda)
DIE WENDE VON DER AUFKLÄRUNG ZUR ROMANTIK 1760–1820 EPOCHE IM ÜBERBLICK
Herausgegeben von HORST ALBERT GLASER Universität GH Essen/Università di Pisa GYÖRGY M. VAJDA Hungarian Academy of Sciences
JOHN BENJAMINS PUBLISHING COMPANY AMSTERDAM/PHILADELPHIA
Coordinating Committee for A Comparative History of Literatures in European Languages Comité de Coordination de l’Histoire Comparée des Littératures de Langues Européennes 1992-96 Honorary Members/Membres d’honneur Henry H.H. Remak, György M. Vajda, Jacques Voisine, Jean Weisgerber President/Président Mario J. Valdés Vice-President/Vice-Président Mihály Szegedy-Maszák Secretary/Secrétaire Daniel F. Chamberlain Treasurer/Trésorier Djelal Kadir Members/Membres assesseurs A. James Arnold, Anna Balakian, Ziva Ben-Porat, Jean Paul Bier, Theo L. D’haen, Wlad Godzich, Margaret Higonnet, Linda Hutcheon, John Neubauer, Józef Pál, Mihai Spariosu, Jürgen Wertheimer Published on the recommendation of the International Council for Philosophy and Humanistic Studies with the financial assistance of UNESCO
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TM
The paper used in this publication meets the minimum requirements of American National Standard for Information Sciences — Permanence of Paper for Printed Library Materials, ANSI Z39.48-1984.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760–1820 / hrsg. von Horst Albert Glaser ; György M. Vajda. - Amsterdam ; Philadelphia : Benjamins. (A comparative history of literatures in European languages ; Vol. 14) Epoche im Überblick. - 2001 ISBN 90-272-3447-7 ISBN 1-55619-671-7 0101 Deutsche buecherei Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760–1820 : Epoche im Überblick / herausgegeben von Horst Albert Glaser, György M. Vajda. p. cm. -- (A Comparative history of literatures in European languages = Histoire comparée des littératures de langues européennes, ISSN 0238-0668 ; v. 14) Includes bibliographical references and index. 1. European literature--18th century--History and criticism. 2. European literature--19th century--History and criticism I. Glaser, Horst Albert. II. Vajda, György Mihály. III. Title. IV. Series. PN754.W46 2000 809’.894’09033--dc21 00-062101 ISBN 90 272 3447 7 (Eur.) / 1 55619 671 7 (US) (Hb; alk. paper) CIP © 2001 - John Benjamins B.V./Association Internationale de Littérature Comparée No part of this book may be reproduced in any form, by print, photoprint, microfilm, or any other means, without written permission from the publisher.
Inhalt
Vorwort
ix
Einleitung: Das Zeitalter der Revolutionen François Crouzet
1
Literatur und Gesellschaft Weltumsegler und ihre Reiseberichte Horst Albert Glaser
15
Autobiographien, autobiographische Schriften Ralph-Rainer Wuthenow
23
Literatur und Politik Gislinde Seybert
35
Die französische Revolution im Spiegel der Literatur Christiane Leiteritz
53
Lesestoffe, Leseorte, Leserschichten Erich Schön
77
Akademien, literarische Salons und Cafés David Williams
115
Lesende Frauen Fritz Nies
129
Schreibende Frauen Gislinde Seybert
141
Annex: Alexander von Humboldt Ralph-Rainer Wuthenow
153
Annex: Giacomo Casanova Horst Albert Glaser
161
Ideengeschichte Naturphilosophie und Naturwissenschaften Ursula Winter
173
Protestantismus und Aufklärung Anne-Marie Mercier Faivre
209
vi
Inhalt
Kampf des Katholizismus gegen die Aufklärung Jacques Domenech
219
Freimaurer Jacques Lemaire
231
Die hermetischen Tendenzen József Pál
241
Toleranzidee Gisela Schlüter
251
Entstehung der Soziologie Hans Erich Bödeker
259
Konzepte der Medizin Michel Delon
293
Annex: Marquis de Sade Horst Albert Glaser
305
Entstehung der Psychologie Roland Galle
313
Historiographie und historisches Denken Michael Maurer
337
Ästhetik und Poetik Von der Ästhetik des Geschmacks zur Ästhetik des Schönen Carsten Zelle
371
Wandel des Schönen Marc-Mathieu Münch
399
Ästhetik des Hässlichen Sabine Kleine
411
Das Groteske Claude Gandelman †
433
Mimesis und Imagination Sabine Kleine
443
Theorie und Subversion der Gattungen Remo Ceserani
461
Ut pictura poesis — ut musica poesis György M. Vajda
475
Inhalt
vii
Oper Jean-Pierre Barricelli †
489
Historien- und Genremalerei Anne Larue
501
Landschaftsmalerei Oskar Bätschmann
515
Sprachen und Textstrukturen Sprachphilosophie Monika Schmitz-Emans
545
Romantische Sprachästhetik Monika Schmitz-Emans
567
Umbrüche und Wandlungen der Rhetorik Rüdiger Campe
589
Shakespeare und seine Übersetzer Norbert Greiner
613
Übersetzungstheorien Wilhelm Gräber
633
Rekonstruktionen des Vergangenen Vom ›edlen Wilden‹ zum ›homme naturel‹ Manfred Gsteiger
649
Griechenland und das klassische Ideal Eva Kocziszky
663
Annex: Friedrich Hölderlin Horst Albert Glaser
673
Rom und das klassische Ideal Claude Foucart
685
Christliches Rittertum: Mythifizierung und Demythifizierung Michael Bernsen
715
Epilog: Wandel des literarischen Kanons Thomas Bleicher
739
Die Autoren
759
Vorwort
Es is bekannt, daß alle Bücher ihre Schicksale haben. Auch das vorliegende bildet keine Ausnahme. Um den Leser zu informieren, muß dazu einiges gesagt werden. Dieser Band ist der zwölfte einer Serie, die bisher aus französisch- oder englischsprachigen Bänden bestand, die Epochen oder Strömungen in einer Vergleichenden Geschichte der Literaturen Europäischer Sprachen (Histoire Comparée des Littératures de Langues Européennes — A Comparative History of Literatures in European Languages) darstellten, wohl aber der erste Band der Serie, der in deutscher Sprache vorliegt. Seine Entstehung verdankt er dem Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Gesamthochschule Essen, wo die Organisationsarbeiten, das Lektorieren und die Übersetzungsarbeiten vorgenommen worden sind — unter der Kontrolle dessen, der den Band als erster Herausgeber zeichnet. Der Mitherausgeber war zu einer zweisemestrigen Gastprofessur 1989–90 in Essen eingeladen, und während seines Aufenthalts ist die Idee entstanden, die Herausgabe eines Bandes der oben genannten Reihe zu übernehmen. Übersprünglich war die Präsentation der Periode 1760–1820 der europäischen Literaturgeschichte auf vier Bände geplant, deren einer unter dem Titel »Des Lumières au Romantisme. Genres en Vers« bereits 1982 erschienen ist. Die Bände »Genres en Prose« und »Théâtre« stehen noch aus, dafür versucht der hier präsentierte Band »Epoche im Überblick« die Probleme etwas weitgreifender und tiefer darzustellen als vorher geplant. Solcherweise bekommt der Leser in der Tat einen Überblick über sechzig Jahre europäischer Literaturgeschichte, in denen die deutsche Klassik mit der Entstehung der Romantik (vorerst der deutschen und der englischen) zusammenfällt. Im Mittelpunkt dieser sechzig Jahre europäischer Geschichte und Geistesgeschichte steht die französische Revolution, die, wie man weiß, für die Welt der europäischen Sprachen von entscheidender Wichtigkeit ist. Das ganze Unternehmen steht unter der Ägide der AILC (Association Internationale de Littérature Comparée), und ein internationales Koordinationskomitee ist für dessen Planung, Leitung und Ausführung verantwortlich. Auch die Bände selbst sind auf internationale Zusammenarbeit gegründet, so haben zum Beispiel für den Band »Epoche im Überblick« deutsche, französische, englische, italienische, schweizerische, israelische, amerikanische und ungarische Forscher Beiträge geliefert. Eine so breite Zusammenarbeit von Experten verschiedener Nationen weist hoffentlich in eine friedliche Zukunft.
H. A. Glaser und Gy. M. Vajda
Einleitung Das Zeitalter der Revolutionen François Crouzet
Nach allgemeinem Konsens reicht das ›Zeitalter der Revolutionen‹ von Rousseaus (1712–1778) Nouvelle Héloïse (1761) bis zu Shelleys (1792–1822) Prometheus Unbound (1820). Seltsamerweise entspricht diese Periode genau der langen Regierungszeit von George III. von England — einem der Länder, die keine politische Revolution gekannt haben. Andererseits mangelte es nicht an Revolutionen während dieser sechs Jahrzehnte: die Amerikanische Revolution, die mit der offiziellen Unabhängigkeitserklärung der dreizehn englischen Kolonien am 4. Juli 1776 endete und der mehrere Jahre mit Unruhen und Zusammenstössen vorangegangen waren; dann (nicht mit Erfolg gekrönte) Revolutionen der Vereinigten Niederlande (1786–1787) und Brabants (1789) und schliesslich die Französische Revolution, deren bewaffnete Auswirkungen ›revolutionäre‹ Veränderungen in den Nachbarstaaten zeitigen sollten. Zwar wurde die revolutionäre Hydra von Napoleon gebändigt, und mit dessen letztendlicher Niederlage 1815 schienen alle Köpfe des Ungeheuers abgeschlagen zu sein. Dennoch erschien sie ab 1810 jenseits des Atlantiks in den spanischen Kolonien Amerikas wieder, die sich eine nach der anderen gegen ihr Mutterland erhoben und 1820 auf dem besten Wege waren, endgültig die Vorherrschaft abzuschütteln und — wie Brasilien — ihre Unabhängigkeit zu erreichen. So kam die erste grosse Welle der ›Entkolonialisierung‹ zum Erliegen, die — von 1776 bis 1824 — der europäischen Souveränität im grössten Teil Amerikas (einschliesslich Santo Domingos, später Haiti) ein Ende setzte; die zweite Welle sollte nicht vor 1947 beginnen. In Europa selbst zeigten die ›pronunciamentos‹ in Spanien und Neapel des Jahres 1820, sowie die Unruhen in Grossbritannien, Frankreich und Deutschland, dass der revolutionäre Geist nicht restlos ausgelöscht worden war. Die Revolutionen in Westeuropa einerseits und in Amerika andererseits führten zur Vorstellung einer ›Atlantischen Revolution‹. Wenn auch von den Verteidigern der Französischen Revolution hart kritisiert, hat die ›Atlantische Revolution‹ doch den Vorteil, dass man die lokalen Revolutionen deutlicher akzentuieren kann. Tatsächlich gab es ein Phänomen, das bedeutend stärker die Gesamtheit der Einwohner Europas und Amerikas berührte: es war der Krieg, genauer eine Folge von Kriegen. Das Zeitalter der Revolutionen war auch ein Zeitalter der grossen bewaffneten Konflikte. Diese beiden Sachverhalte waren eng miteinander verbunden, da die wichtigsten Kriege durch Revolutionen hervorgerufen wurden. Unabhängig von den ›Revolutionen‹ waren allerdings sowohl der Siebenjährige Krieg, der 1756 begann und 1763 endete, als auch der bayrische Erbfolgekrieg zwischen Preussen und Österreich (1778–1779) oder die fortwährenden Kriege zwischen Russland und der Türkei bzw. Russland und Schweden und die polnischen Teilungen. Doch der amerikanische Unabhängigkeitskrieg stellt eine unmittelbare Folge der Revolution dar. Um einiges mehr galt das für die
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François Crouzet
›Kriege der Revolution und des Kaiserreichs‹, den ›Krieg der 23 Jahre‹. Von 1792 bis 1815 befand sich Frankreich beständig im Krieg mit einer oder mehreren europäischen Mächten — ausgenommen die kurzen Waffenstillstandszeiten des Friedens von Amiens (1802–1803) und der ersten Restauration (1814–1815). Was England anbetrifft, so lag es vom 1. Februar 1793 an (mit kurzen Unterbrechungen) im Krieg mit Frankreich. Im Unterschied zum Jahrhundert 1815–1914 fand in unserer Epoche kein allgemeiner Krieg statt, sondern nur Zweikämpfe von kurzer Dauer zwischen grossen Mächten (ausser im Krimkrieg, wo sich drei Parteien gegenüberstanden). Die Europäer bekämpften sich nicht nur auf ihrem eigenen Terrain, sondern auch in Nordamerika und auf den Antillen (und gelegentlich sogar in Südamerika), in Indien, ja sogar kurz in Ägypten und Palästina, während ihre Geschwader sich auf fast allen Meeren Gefechte lieferten. Insgesamt haben die Europäer und die Amerikaner während der hier zu behandelnden sechzig Jahre zur Hälfte im Schatten des Krieges gelebt — mal näher, mal weiter entfernt. Der Siebenjährige Krieg und der 23jährige Krieg ergriffen fast ganz Europa. Man schlug sich von Cadiz bis Moskau, von Kalabrien bis Finnland, und in diesem riesigen Gebiet waren nur wenige Regionen ganz ausgespart von militärischen Operationen, Invasionen, fremden Besetzungen und Bürgerkriegen. Überall gab es wiederholt hinundher flutende Armeebewegungen — insbesondere auf den traditionellen Schauplätzen der europäischen Kriege: den Niederlanden, Mittel- und Süddeutschland und Norditalien. Mit Ausnahme von Sankt Petersburg, Stockholm und London gab es keine europäische Hauptstadt, die nicht wenigstens einmal vom Feind besetzt gewesen wäre. Kopenhagen wurde zweimal von der Royal Navy bombardiert, Moskau niedergebrannt (von den Franzosen oder den Russen — darüber streitet man noch), und 1814 zündeten die Briten Washington einschliesslich des Weissen Hauses an. Man stellt oft die Kriege der Revolution und des Kaiserreichs den sog. Kabinettskriegen gegenüber, die eine Besonderheit des 18. Jahrhunderts gewesen seien. Und in der Tat nahm 1792 der Krieg auf seiten Frankreichs — etwas später bei seinen grossen Feinden — einen neuen, ›nationalen‹ und ›patriotischen‹ Charakter an, der den voraufgegangenen Kriegen der Söldnerheere gefehlt hatte. Nach den Aufrufen der Freiwilligen und der ›levée en masse‹ von 1793 wurde 1798 die Wehrpflicht in Frankreich eine wichtige Ausgangsbasis, die in der Folge von einigen anderen Staaten übernommen wurde. In Kriegen sah man sich nun einer Menschenmasse von noch nie dagewesener Grösse gegenübergestellt: zu Beginn des Jahres 1794 hatte es der Nationalkonvent geschafft, eine Million Menschen zu mobilisieren; 1812 fiel Napoleon mit 900.000 Menschen in Russland ein. Es gab Neuerungen in Strategie und Taktik: die aus der Französischen Revolution hervorgegangenen Generäle (wie auch der brillanteste unter ihnen — Bonaparte) verzichteten auf die Manöver und Belagerungsstrategien ihrer Vorgänger zugunsten von schnellen Bewegungen, Massenangriffen und der Suche nach Entscheidungsschlägen. In diesen Strategien sah man später die Voraussetzung für den ›totalen Krieg‹, der im 20. Jahrhundert wüten sollte. Die Kriegspraxis war nicht barbarischer, als sie es im Jahrhundert der Aufklärung war, und das Dekret des Nationalkonvents, das vorschrieb, keine englischen Gefangenen zu machen, wurde realiter nicht angewandt. Man tötete die Verwundeten nicht, schlug die Gefangenen nicht nieder. Es stimmt allerdings, dass die britische Regierung, die darum bemüht war, Frankreichs Potential an Seeleuten zu reduzieren, Pontons baute, auf denen man die französischen Gefangenen (und besonders die Matrosen) internierte — ein Vorläufer der Todescamps.
Einleitung
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Andererseits entliess sie ›auf Ehrenwort‹ — d.h. auf das Versprechen hin, England nicht zu verlassen — viele gefangene französische Offiziere. Gleichwohl waren die Kriege mörderisch: Eine grosse Schlacht forderte Zehntausende von Toten und Verletzten, wobei die Letzteren oft Tote auf Raten darstellten, weil die Medizin jener Tage machtlos war und die Zustände in den Militärhospitälern grauenhaft. Der Einfachheit halber wurde häufig die Amputation praktiziert — mit einem grossen Glas Alkohol und einem Kinnhaken als Narkose. Ausserdem töteten die Krankheiten mehr Soldaten als die Kugeln. Man schätzt heute, dass die Napoleonischen Kriege eine Million Tote in der französischen Armee gefordert haben (einschliesslich derer, die aus den Frankreich angeschlossenen Ländern kamen) und dass die Revolution und ihre Kriege noch einmal genauso viele Leben forderten — also eine Summe von zwei Millionen Toten. Wahrscheinlich gab es ebensoviele Tote auf seiten der Gegner Frankreichs. Vier Millionen Tote — das ist viel, aber die Zahl bezieht sich auf fast ein Viertel des Jahrhunderts. Freilich litt auch die Zivilbevölkerung unter den Kriegen, besonders aber unter den Plünderungen. Die französischen Armeen — häufig völlig mittellos — lebten von dem Land, in dem sie sich aufhielten. Die Proklamation von Bonaparte an seine Soldaten zu Beginn des Italienfeldzugs 1796 war de facto ein Aufruf zur Plünderung, und 1814 und 1815 plünderten sodann die Koalitionstruppen halb Frankreich. Hinzu kamen noch die üblichen Kriegslasten, die Garnisonen, die Vergewaltigungen und die diversen übermässigen Forderungen. Nach der Schlacht von Jena wäre Goethe beinahe von betrunkenen französischen Soldaten getötet worden. Trotzdem waren die Beziehungen zwischen Besatzern und Besetzten nicht generell gespannt. Die Besatzer wurden sogar manchmal willkommen geheissen, wenn es auf seiten der Besetzten eine ideelle Sympathie gab. Die ›feindlichen‹ Offiziere wurden in der besseren Gesellschaft empfangen — so die Franzosen 1796–1797 in Norditalien und die Alliierten in Paris 1814. Man darf nicht vergessen, dass die Kriege, die wir hier behandeln, (und insbesondere die Napoleonischen Kriege) sich vor einem Hintergrund von relativem ökonomischen Reichtum abspielten, wenn man von Frankreich in den Jahren um 1790 absieht. Das milderte die Lasten der Steuererhöhungen und der sonstigen Kriegsforderungen. Es ist wahr, dass es Grausamkeiten gab — ›Kriegsverbrechen‹ oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie wir heute sagen würden — aber nur in Einzelfällen, und zwar dann, wenn es zu Volkserhebungen kam, die sich gegen die regulären Armeen richteten. Diese Volkserhebungen richteten sich entweder gegen die Armee des eigenen Landes (Bürgerkriege) oder gegen fremde Armeen (Befreiungskriege). Zum Typus Bürgerkrieg gehört der Aufstand in der Vendée oder die ›föderalistischen‹ Revolten in Lyon, Marseille und Bordeaux gegen die Herrschaft der Montagnards im Pariser Konvent. Den Typus Befreiungskrieg findet man 1798 im irischen Aufstand gegen die englische Vorherrschaft, im flandrischen Bauernkrieg zur Zeit des Directoire oder im Aufstand der spanischen Guerillas während des Spanienkrieges. In allen Fällen war die Bestrafung unerbittlich: Massenhinrichtungen der ›Räuber‹ und Guerilleros, Einäscherung der Dörfer, Geiselnahme und Hinrichtung der Geiseln. Die Grausamkeit kulminierte, als der Aufstand in der Vendée niedergeschlagen wurde und die republikanischen ›colonnes infernales‹ alles auf ihrem Weg massakrierten und niederbrannten — Frauen und Kinder eingeschlossen. Ist also der Ausdruck vom ›Völkermord in der Vendée‹ gerechtfertigt? Man kann darüber streiten, doch die Realität der Massaker, die Zehntausende von Toten forderten
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François Crouzet
(demgegenüber waren die 2.639 guillotinierten Personen in Paris während des Terrors eine bescheidene Zahl), kann nicht geleugnet werden. Dass die ›Weissen‹, wie später die spanischen Guerilleros, ihrerseits Verbrechen an den ›Blauen‹ oder den französischen Militärs verübten, ist keine Entschuldigung. Man kann jedoch nicht übersehen, dass fast alle Volksaufstände die Tat katholischer Bauern waren, die häufig vom Klerus gegen das ›aufgeklärte‹, religionsfeindliche oder protestantische Regime aufgestellt wurden. In Irland sah man 1798 anglikanische Geistliche den Vorsitz bei Folterungen und Massenhinrichtungen führen. Es versteht sich von selbst, dass der 23jährige Krieg direkt das Leben in Europa und sogar Amerika berührte, einschliesslich der von den militärischen Operationen ausgesparten Gebiete. Viele der englischen Arbeiter wurden in die Arbeitslosigkeit und ins Elend gestürzt, als es Napoleon gelang, die Märkte des Kontinents für britische Produkte zu schliessen. Reeder, Kaufleute, Landwirte und Pflanzer in den Vereinigten Staaten lernten den Wohlstand oder die Rezession als Auswirkung der Blockademassnahmen Englands und Frankreichs und der Gegenmassnahmen ihrer eigenen Regierung kennen. Obwohl der Sklavenaufstand auf Santo Domingo der einzig erfolgreiche war, gab es auf den Antillen und anderen Inseln Nachahmer. Schliesslich folgte der Aufstand der spanischen Kolonien direkt auf den Gewaltstreich, mit dem Napoleon die spanischen Bourbonen entthront hatte. Männer und Frauen lebten also zwischen 1760 und 1820 (nahe oder entfernt) im Schatten von Kriegen. Selbst während der Friedensjahre 1763–1778 und 1783–1791 gab es Krisen, drohende Anzeichen von Krieg. Ohne die Bedeutung des Krieges für die europäischen Literaturen beurteilen zu wollen, kann man feststellen, dass es unter den bekannteren Schriftstellern wenige gab, die wirklich kämpften. Nur Choderlos de Laclos (1741–1803) war Karriereoffizier, und auf englischer Seite sehen wir Marryat (1792–1848) als Marinekapitän. Chateaubriand (1768–1848) diente 1792 einige Monate in der Armee der Prinzen; Stendhal (1783–1842) durchreiste Europa mit den Armeen Napoleons — aber als Verwaltungsoffizier. Allerdings nahmen mehrere junge deutsche Dichter leidenschaftlich am Befreiungskrieg von 1813 teil, und Theodor Körner (1791–1813) wurde dabei getötet. Oft ist bemerkt worden, dass der Krieg in der Literatur jener Zeit selten vorkam. So sind bei Jane Austen (1775–1817), der bewunderswerten Chronistin des Lebens der englischen ›gentry‹, die Anspielungen auf den Krieg selten und kurz: ein ›Gentleman‹, der von einer Inspektion seiner Plantagen auf den Antillen zurückkehrt, stellt fest, dass sein Schiff von einem französischen Kaperschiff verfolgt wurde; ein Admiral ist auf der Suche nach einem schönen Landgut — dank der lukrativen Einnahmen des von ihm kommandierten Geschwaders. Erst viel später tauchen die Kriege in literarischen Werken auf: bei Balzac (1799–1850), Stendhal oder Thackeray (1811–1863) (in Vanity Fair 1847–1848). Thackeray war übrigens bei Schlachten ebensowenig anwesend wie der Autor der Chartreuse (1839). Die Terreur hat Victor Hugo (1802–1885) zu Quatre-vingt-treize (1847) inspiriert und Dickens (1812–1870) zu A Tale of Two Cities (1859); den Staatsstreich vom Fructidor behandelt die Novelle Laurette ou le Cachet rouge (1833) von Vigny (1797–1863). Auch Krieg und Frieden (1868 / 1869) und Les Dieux ont soif sind erst nach Austerlitz und dem Thermidor geschrieben worden. Die Revolution und Napoleon spielen eine überragende Rolle erst in der Literatur des 19. Jahrhunderts, von den Filmen des 20. Jahrhunderts gar nicht zu reden. Zudem haben Generäle, Marschälle und Politiker, die die Guillotine überlebt hatten, massenhaft Memoiren, Briefe und andere Dokumente über die Revolution, das Kaiserreich und
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deren Kriege verfasst. Einige dieser Texte sind übrigens höchst unzuverlässig und andere faktisch fragwürdig. Stellt man die Frage nach dem Einfluss der Kriege auf die Entwicklung der Literatur, wird oft der Anfang der Confession d’un enfant du siècle (1836) zitiert. Wie bei Musset wurde die Jugend vieler Franzosen vom fernen Schlachtenlärm und den Siegeserklärungen der Grande Armée beherrscht; sie schwärmten für eine Offizierslaufbahn, die sie mit dreissig Jahren zu Generälen machen oder töten würde. Doch als sie die Schule verliessen, war das Kaiserreich bereits zusammengebrochen, und der Müssiggang oder eine Laufbahn als Federfuchser war ihre einzige Perspektive. Von daher stammen die Verwirrung, die Unruhe, die Angst, aber auch die Träumerei, die zur Romantik führten. Das ist eine ebenso verlockende wie simplifizierende Erklärung, die aber nur für die französische Romantik gelten kann. Sie wurde verstärkt durch einen Nationalismus, der im Krieg einen mächtigen Elan entwickelt hatte. Der Topos ›Vive la nation‹ war einer der frühesten und typischsten Slogans der Französischen Revolution; das muss nicht besonders betont werden. Stolz, im Land der Freiheit zu leben, den Koalitionen der ›Despoten‹ widerstanden zu haben und schliesslich, von Sieg zu Sieg fortschreitend, einen grossen Teil Europas erobert zu haben, veranlassten die Franzosen, sich — in aller Bescheidenheit — als ›grande nation‹ auszugeben. Als das grosse Kaiserreich zusammenbrach, sagten sie sich, dass es nur dem Gewicht der Übermacht unterlegen sei: »D’un côté c’est l’Europe, et de l’autre la France«, dichtete Hugo. Auf lange Zeit noch bewahrten die Franzosen das Heimweh nach dem Vorrang in Europa, den Napoleon ihnen für kurze Zeit verschafft hatte. Auch die Klage über die eroberten, dann aber verlorenen »natürlichen Grenzen« gehört in diesen Zusammenhang. Sie lehnten es ab, die Realitäten des neuen europäischen Gleichgewichts zu sehen, in dem Frankreich sich deklassiert wiederfand. Infolge geringer ökonomischer Dynamik und sinkender Geburtsraten setzte im politisch instabilen Frankreich ein langer Niedergang ein. Im Gegensatz dazu sahen sich die Briten als die grossen Sieger. In den Rang einer Supermacht befördert, waren sie noch mehr als vorher von ihrer Überlegenheit überzeugt und sahen sich dazu bestimmt, ihre Ordnung Europa und den Kontinenten in Übersee aufzuzwingen. Andererseits entwickelte sich in jenen Völkern, die die Besatzung und den Machtmissbrauch der Franzosen ertragen hatten (insbesondere den Deutschen und den Italienern) ein starkes Nationalgefühl, das nach neuen politischen Strukturen verlangte, die vor einer neuen Fremdherrschaft bewahren sollten. Bei einigen setzte sich ein dauerhafter Hass gegen Frankreich fest. Hie und da liessen die Leiden der Gegenwart eine Sehnsucht nach einer glorreichen Vergangenheit wiederaufleben — nach der Zeit des Heiligen Römischen Reiches oder der italienischen Stadtstaaten. Diese Sehnsucht nährte die romantische Literatur und den ›gothic revival‹, trug aber auch zur Entwicklung der historischen Studien bei — insbesondere der deutschen Wissenschaft. Später ergriff der erwachende Nationalismus auch die Völker des Habsburgerreiches und den Balkan. Im unglücklichen Polen, geteilt und durch seine grossen Nachbarn von der Landkarte ausgelöscht, war die patriotische Leidenschaft niemals erloschen. Die Kriege der Jahrhundertwende zerstörten den Kosmopolitismus, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts so mächtig gewesen war (schon der Siebenjährige Krieg hatte den Hass zwischen Briten und Franzosen wiederaufleben lassen. Trotzdem verkehrte die europäische Aristokratie weiterhin brüderlich miteinander und blieb das Französische die Gelehrtensprache Europas. Aber der Kosmopolitismus war nicht das einzige Opfer dieser bewegten Epoche. Der Geist der
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François Crouzet
Aufklärung, sein optimistisches Ideal, war angeschlagen, vielleicht sogar tödlich getroffen — doch weniger durch die Kriege als durch das Ereignis der französischen Revolution selbst. Über die französische Revolution ist schon alles und nichts gesagt worden, und nach den Possen der Zweihundertjahrfeier von 1989 könnte man jedes weiteren Wortes überdrüssig sein. Sie war vor allem ein französisches Phänomen, das den Rest Europas nicht ernstlich berührte — ausser mit dem ›Missionarsstiefel‹. Gewiss hat die Revolution besonders in ihren enthusiastischen Anfängen Bewunderer in ganz Europa gehabt. Die englischen, schottischen, batavischen, deutschen, schweizerischen und italienischen Jakobiner waren niemals mehr als winzige Minderheiten, die unfähig waren, ernsthaft die bestehende Ordnung zu bedrohen und die Macht aus eigenen Kräften zu erobern. Es waren nur die französischen Eroberungen, die politische Grüppchen in sog. ›Schwester-Republiken‹ und anderen Staaten an die Macht brachten. Sie fungierten dort als nützliche Kollaborateure Napoleons. Es war dieser Prozess der Annektion und der Schaffung von Satellitenstaaten (mit einem Nachahmungseffekt in den mehr oder weniger unabhängig gebliebenen Staaten), der für den ›Export‹ der ›Prinzipien‹ und der ›Institutionen‹ der Französischen Revolution sorgte. Wie dem auch sei: die Revolution war für Frankreich der wichtigste Einschnitt in seiner Geschichte. Mit einem Schlag war es von seiner Vergangenheit abgeschnitten — und von dem grössten Teil seines künstlerischen Erbes. Für den einen Teil der Franzosen existierte das Frankreich vor 1789 nicht mehr, für den anderen Teil das Frankreich nach 1789 nicht mehr. Die Revolution war das Gründungsereignis für das heutige Frankreich: Es war eine Gründung auf einer tabula rasa. Könnte der Sinn darin liegen, dass sie zugleich Triumph und Scheitern der ›Utopie der Aufklärung‹ war? Ein Beispiel mag genügen: die Deputierten der verfassunggebenden Versammlung waren überzeugt, dass die emanzipierten Bürger des neu konstituierten französischen Verfassungsstaates sich beeilen würden, die Steuern (und nicht mehr die verabscheuten Abgaben) zu entrichten, für die ihre gewählten Vertreter im Pariser Konvent gestimmt hatten. Doch man musste bald klein beigeben: Die Steuereinnahmen brachen zwischen 1789 und 1791 zusammen. Der junge Staat überlebte nur dank der wachsenden Ausgabe von Geldscheinen, die alsbald eine katastrophale Inflation erzeugten, deren Auswirkung die armen Bürger am härtesten spürten. Am Ende der Revolutionsepoche musste man die Finanzverwaltungen bürokratischer wiederaufbauen, als sie es zur Zeit des ›Ancien Régime‹ gewesen waren. Auch wurden die verachteten indirekten Steuern wieder erhoben. Die Französische Revolution war von Grund auf liberal. Sie verkündete die Menschenrechte — von der Gewissensfreiheit bis zur Unternehmensfreiheit — und wollte sie von Beginn an solide ›institutionalisieren‹. Es gelang ihr freilich nicht, denn die liberale Basis wurde oft verfälscht. Zuerst — und das war selbstverständlich — durch das Abrutschen in die Radikalisierung, die die Revolution vom Beginn an bestimmte und die im Terrorregime des Jahres II mündete. Die jakobinisch-marxistischen Schule machte aus der ›Terreur‹ den Kulminationspunkt, die Essenz der Revolution selbst. Die Diktatur einer Minderheit, die die Masse der Franzosen terrorisierte, wurde dargestellt als die ›demokratische‹ und ›volkstümliche‹ Phase der Revolution. In Wirklichkeit ging es für viele marxistische ›Historiker‹ darum, die bolschewistische Revolution und die Verbrechen des stalinistischen Regimes zu rechtfertigen, wobei die ›Terreur‹ als eine ›Vorwegnahme‹ dargestellt wurde. Auf alle Fälle haben sie die
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Revolution in ein schlechtes Licht gerückt, indem sie die vorübergehende Herrschaft der blutrünstigen Utopisten mit den Schrecken der Gulags parallelisierten. In dieser Hinsicht stellten die Revolutionen im Osteuropa des Jahres 1989 die Legitimität jener von 1789 wieder her und zeigten, dass sie eine Revolution der Freiheit war, die in Frankreich und anderswo die Saat für die Demokratie des 20. Jahrhunderts gelegt hatte. Es soll nicht abgestritten werden, dass die Terreur von Anfang an die Revolution begleitete, dass sie schon 1789 in Reden und Taten vorhanden war. Gewiss war auch die Rousseauistische Ader des revolutionären Denkens potentiell totalitär. Aber die alte ›théorie des circonstances‹ bleibt die beste Erklärung für das Abrutschen des revolutionären Prozesses in die Terreur. Im übrigen war die jakobinische Terreur nur eine Episode, die weniger als zwei Jahre dauerte: vom 10. August 1792 bis zum 28. Juli 1794 — und nicht siebzig Jahre wie das sowjetische Regime. Die Revolution war kein monolithischer Block, und Frankreich hatte nach dem 9. Thermidor die Chance seiner ›Befreiung‹. Zudem verschlang die Revolution ihre Kinder: zahlreiche ›leaders‹ und Kämpfer »expièrent leurs forfaits sur l’échafaud« oder während der ›Terreur blanche‹. Doch zahlreicher noch waren die Politiker, hohen Funktionäre und Militärs, die unbeschädigt den revolutionären Schmelztiegel überstanden und allen Regimes nacheinander dienten, um ihre Karriere — schliesslich — unter Louis Philippe oder gar Napoleon III. zu vollenden. Auf jeden Fall ›illuminierte‹ der Abglanz der Terreur nicht das ganze 19. Jahrhundert, wie E. Labrousse meinte (als Abschreckung für die Konservativen und Verlegenheit für die ›Linke‹), sondern hinterliess Chaos und Instabilität. Indem sie auf Bergen abgeschlagener Köpfe ein Tugendregime errichten wollten, hatten Robespierre und Saint-Just die Terreur und die Tugend zugleich diskreditiert. Nach ihnen kam eine ›bürgerliche‹ Republik — geleitet von Bürgern mit liberalen Prinzipien, aber in Wirklichkeit korrupt und mittelmässig. Sie lavierte zwischen der Charybdis des Jakobinismus und der Scylla der wiedergeborenen Monarchie und überlebte, indem sie ihre eigene Legitimität mit aufeinanderfolgenden Staatsstreichen verletzte. Sie konnte weder den Krieg im Äusseren beenden noch Frieden schaffen. Wahrscheinlich wäre die Revolution ohne den Eingriff Bonapartes untergegangen. In einem gewissen Sinn bedeutete sein Regime den Triumph der Revolution und damit auch den der Aufklärung. Napoleon war der letzte und grösste der aufgeklärten Despoten. Es wird von allen Historikern zugegeben, dass er im Inneren des Landes auf unumkehrbare Weise einen Teil der ›Errungenschaften‹ oder ›erworbenen Rechte‹ der Revolution konsolidierte. Nach aussen exportierte er die Französische Revolution in einen grossen Teil Europas, ein Werk, das mit dem blitzartigen Italienfeldzug 1796 in Angriff genommen wurde und sich mit seinen Siegen und Eroberungen ausdehnte. In den Vasallenstaaten wurde das alte Regime ganz oder teilweise abgeschafft — so die Leibeigenschaft, die feudalistische oder Lehnsherrschaft, die Zünfte. Die Verwaltungen wurden der Verwaltungs- und Justizhierarchie Frankreichs angeglichen, desgleichen das Steuerwesen und die Rechtsprechung. Den Code Napoléon übernahmen viele Staaten, und in einigen blieb er auch nach dem Fall des Kaiserreichs in Kraft. Die politische Karte Europas wurde auf drakonische Weise vereinfacht, indem Napoleon hunderte von kleinen Staaten auslöschte. Man könnte mit Fug und Recht behaupten, dass das napoleonische Kontinentalsystem ein Vorgänger der Europäischen Gemeinschaft war, indem es zum ersten Mal einem grossen Teil Europas eine gemeinsame Wirtschaftspolitik aufzwang.
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So aufgeklärt Napoleon war, so sehr war er ein Despot. Der napoleonische Staat war autoritär, bürokratisch und zentralistisch, in mancher Hinsicht sogar ein Polizeistaat. Wenn er die revolutionären ›Errungenschaften‹ konsolidierte und exportierte, so doch erst, nachdem er ihnen seinen Stempel aufgedrückt hatte. Er war weit entfernt vom ›Minimalstaat‹ und jenem ›selfgovernment‹, das die Verfassunggebende Versammlung wollte, und noch weiter entfernt von der direkten Demokratie, wie sie die Sansculotten erträumt hatten. Nicht zufällig bewahrten die Nachfolge-Regimes in Frankreich und anderswo das autoritäre und bürokratische Modell, das er ihnen hinterliess. Gleichwohl gestanden die wieder eingesetzten Bourbonen den Franzosen eine Verfassung und eine parlamentarische Regierung zu — jedoch nur zum Vorteil einer Minderheit der reichsten Bürger. Das Verlangen nach einer konstitutionellen Regierung dieses Typs war nach 1815 in Kontinentaleuropa nicht selten. Auch auf der geistigen (und nicht nur der politischen) Ebene verkehrte sich die Offensive der Aufklärer — so wie die Revolution sie verkörperte — in einen Misserfolg. Da sie den Offenbarungsreligionen gegenüber feindselig eingestellt waren, stürzten sich die französischen Revolutionäre zunächst auf die katholische Kirche, stellten sie durch die weltliche Investitur des Klerus unter Kuratel und beraubten sie auch ihrer Güter. Wenn auch Napoleon den religiösen Frieden wiederherstellte, so blieb doch Frankreich weitgehend entchristianisiert. Anders in England und Deutschland. Dort waren der Methodismus und der Pietismus bereits vor der Revolution erwacht und verstärkten alsbald die Reaktion gegen die Revolution — insbesondere beim Adel. Infolgedessen gab es nach 1815 innerlich erneuerte und durch den Liberalismus des 18. Jahrhunderts geläuterte Kirchen; doch waren sie unbeugsam in ihrer Opposition gegenüber dem Erbe der Aufklärung. Gegen den Unglauben suchten sie die Stütze der Staatsmacht und plädierten für eine Allianz von Thron und Altar. Anders als im 18. Jahrhundert hatten die »Philosophen« keine freie Bahn mehr. Edmund Burke (1729–1797) liess 1790 seine konterrevolutionären Reflections (1790) erscheinen, die alsbald zur Quelle aller gegenüber der Französischen Revolution feindlich eingestellten Autoren wurden. Joseph de Maistre (1753–1821), Bonald (1754–1840) und Chateaubriand (Génie du Christianisme, 1802) sollten bald folgen. In der Tat ging ein Teil der Intelligenzia (wenn man diesen Ausdruck benutzen darf) von der Aufklärung zur Reaktion über. Man kann das deutlich an den englischen Dichtern Wordsworth (1770–1850), Coleridge (1772–1834), Southey (1774–1843) und anderen zeigen. Zunächst Bewunderer der Französischen Revolution, schlossen sie sich aber nach 1790 den konservativen Philosophien an. Die deutsche Spätromantik und die französische Frühromantik waren deutlich gegenrevolutionär. Dennoch passt der Begriff ›Restauration‹ schlecht für jenes Europa, das aus der Niederlage Napoleons hervorging. Gewiss, es wurden viele der entthronten Herrscher — beginnend mit den Bourbonen — wieder ›eingesetzt‹. Aber praktisch wurde das ›Ancien Régime‹, wo es einmal abgeschafft war, nicht erneuert. In Frankreich wurden weder die feudalen Rechte, noch die Provinzen wiederhergestellt — und in Deutschland weder die mediatisierten noch die kirchlichen Fürstentümer. Dessen ungeachtet blieb Europa nach 1815 wesentlich monarchistisch und aristokratisch — einschliesslich Frankreichs und Grossbritanniens. Es herrschten weiterhin die adeligen Grossgrundbesitzer und die ›gentry‹, selbst nach der Wahlreform von 1832. Zwar hatte der Adel seine Privilegien und einen Teil seiner Güter verloren, dennoch aber blieben die Grossgrundbesitzer die herrschende Klasse, wenngleich vor der Bourgeoisie langsam zurückwei-
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chend. Überdies wurde der alte Adel verstärkt durch den neuen Adel des Kaiserreichs, mit dem er sich zu versöhnen und zu verbinden suchte, auch wenn zum neuen Adel einige der Königsmörder und Haudegen gehörten, die aus dem Mannschaftsstand hervorgegangen waren. Der alte Adel war durch die Revolution traumatisiert — auch wenn die Zahl der hingerichteten Adeligen relativ bescheiden war — und ging aus ihr steifer, strenger und religiöser hervor, als er es vor 1789 war. Einige seiner Mitglieder — empört über die Kompromisse und Blossstellungen von 1814 und 1815–zogen sich zurück und verweigerten die Gefolgschaft. Talleyrand hatte sicherlich recht, als er sagte, dass die Süsse des Lebens mit 1789 verschwunden war. Gewann die ›Reaktion‹ also auf der ganzen Linie? Nein, denn sie war von einer im Grunde stärkeren Bewegung als sie die Armeen der Heiligen Allianz darstellten, umgeben: den gegen Napoleon vereinigten Siegermächten zur Aufrechterhaltung der neu errichteten Ordnung. Das Paradoxe nämlich ist, dass der Umsturz aus dem Land kam, das der erbittertste und konstanteste Feind des revolutionären und imperialen Frankreichs gewesen war: aus Grossbritannien, dessen Ausnahmestellung ebenso unterstrichen werden muss wie die Auswirkungen dieser Ausnahmestellung. Grossbritannien als das einzige unbesiegte Land, in das die französischen Armeen niemals eingefallen waren, war der grosse Sieger von 1825 und schickte sich an, die einzige Supermacht des 19. Jahrhunderts zu werden. Obwohl es Grossbritannien schwerfiel, die Ordnung unter seinen eigenen Jakobinern und irischen Republikanern wiederherzustellen, so hatte es während der langen Zeit der Kriege doch seine parlamentarische und liberale Regierung aufrechterhalten, die — nach dem Schiffbruch des französischen Systems in Europa — die einzige Alternative zum bürokratischen Absolutismus der kontinentalen Monarchien blieb. Es war ein Modell, das die ausländischen Liberalen mit Bewunderung und Neid betrachteten. Grossbritannien hatte seit dem Ende des 17. Jahrhunderts durch Technologie und Wirtschaftsstruktur ein Vorsprung vor den Ländern des Kontinents erlangt — ausgenommen vielleicht den Vereinigten Niederlanden. Anfang 1760 hatten die Briten ihre technischen Erfindungen vermehrt — Maschinen zum Spinnen von Wolle, Dampfmaschinen, mechanische Webstühle, Maschinen zum Bedrucken von Stoffen usw. Diese Erfindungen sorgten für enorme Produktionsvorteile, wenn sie im ›factory system‹, den Fabriken, benutzt wurden. Beträchtliche Veränderungen in der Landwirtschaft, dem Transport- und Finanzwesen waren dieser ›industriellen Revolution‹ vorangegangen oder hatten sie begleitet. Kurzum: das Bruttosozialprodukt wuchs rascher als auf Kontinent — trotz starker Bevölkerungszunahme. Es ist möglich, dass diese Wachstumsbeschleunigung sich nach 1780 stärker verlangsamte, als man lange Zeit annahm; sie ist gleichwohl unbestreitbar und erlaubte Grossbritannien, der bevölkerungspolitischen Falle zu entkommen. Zum ersten Mal in der Geschichte stieg die Bevölkerungszahl schnell, ohne dass die Realeinkommen sanken. Dieses Wachstum setzte sich im grossen und ganzen während der Kriege gegen Frankreich fort (trotz der enormen Kosten), und es beschleunigte sich sogar, nachdem der Frieden wiederhergestellt war. Die industrielle Revolution löste die alte Ordnung auf, indem sie zwei neue Klassen schuf: das industrielle Bürgertum und das Arbeiterproletariat. Die waren einerseits zwar Antagonisten, andererseits aber dazu geneigt, sich mit der Gegenseite gegen die Vorherrschaft der Grossgrundbesitzer zu verbünden. Ohne Revolution — aber nicht ohne Unruhen — konnte somit die englische Bourgeoisie bei der Aristokratie nach und nach Umverteilungen der politischen Macht erreichen, wovon die erste die Wahlreform von 1832 war.
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Zu Umverteilungen desselben Typs kam es im 19. Jahrhundert auch auf dem Kontinent. Die industrielle Revolution war in der Tat ansteckend: bedroht vom Ruin durch die Konkurrenz der billigeren englischen Produkte, waren die Fabrikanten des Kontinents — manchmal von ihren Regierungen unterstützt — gezwungen, englische Maschinen und Methoden zu übernehmen. Dieser Prozess hatte in Frankreich bereits in den Jahren vor der Revolution begonnen. Unterbrochen durch die Revolution, setzte er sich Ende der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts und energischer noch unter dem Kaiserreich weiter fort. Infolge der Protektion, für die die Kontinentalsperre sorgte, breitete sich die Industrialisierung auch auf andere Länder aus: Belgien (allerdings annektiert durch Frankreich), einige Regionen Deuschlands (Rheinland, Sachsen) und die Schweiz. Der Prozess sollte sich nach 1815 intensivieren (vor allem in den bereits aufgeführten Regionen), so dass ein schon im 18. Jahrhundert spürbarer Kontrast zwischen dem Nordwesten und dem Rest Europas noch deutlicher wurde. Gewiss waren die kontinentalen Industrien Zwerge im Vergleich zu den britischen Industriegiganten, aber ihre Entwicklung hatte die gleichen sozialen Folgen wie in England. Die industrielle Revolution liess auch die liberale Ideologie wiedererstarken, der die Misserfolge der Französischen Revolution und des grossen Kaiserreichs sehr geschadet hatten. Englands Triumphe in Industrie und Handel ermöglichten es, ein Liberalismusprinzip immer weiter auszudehnen, dessen erste Prinzipien Adam Smith (1723–1790) schon 1776 formuliert hatte. Der Wirtschaftsliberalismus im Inneren verlangte nach einer Ergänzung durch den Freihandel. Es entstand eine neue Utopie, derzufolge der Freihandel universellen Wohlstand und Frieden sichere. Gegen sie musste sich nach den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts die sozialistische Utopie behaupten — genährt durch die Leiden der Arbeiterklasse. Vergessen wir nicht den ›amerikanischen Mythos‹: nach Anfangsschwierigkeiten und einem ›zweiten Unabhängigkeitskrieg‹ gegen England (1812–1814) wuchsen die Vereinigten Staaten schnell an Territorium, Bevölkerung und Reichtum, und lieferten so das Beispiel für den Erfolg einer Republik, die gleichwohl demokratischer wurde. Die amerikanische Revolution, die Französische Revolution und die industrielle Revolution haben unsere Welt geschaffen. Das ist die Bedeutung der hier in ihren Kräftefeldern nur unvollständig dargestellten Epoche.
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Literatur und Gesellschaft
Weltumsegler und ihre Reiseberichte Horst Albert Glaser
Dem Optimismus der europäischen Aufklärung verdanken wir Rousseaus (1712–1778) Begriff von der ›bonté naturelle‹ und Lessings (1729–1781) Idee von der ›Perfektibilität des Menschengeschlechts‹. Die Namen Lessings und Rousseaus seien stellvertretend für die dominante Tendenz des 18. Jahrhunderts genannt — eine Tendenz, die meinte, soziale Konflikte beurteilen und vielleicht sogar lösen zu können, indem man sich auf die ursprünglich gute Natur des Menschen berief. Die didaktische und sentimentale Briefliteratur des 18. Jahrhunderts basiert — in der Mehrzahl ihrer Produktionen — auf dieser (zumeist) unbezweifelten Annahme, dass die Weltordnung eine göttliche und die menschliche Natur infolgedessen eine gute sein müsse. Betrachtet man jedoch das Werk jener Autoren genauer, in denen die communis opinio des Jahrhunderts begrifflich artikuliert wird, so überrascht, wie schwankend der Grund ist, von dem aus die ›bonté naturelle‹ verkündet wird. Lessing und Rousseau argumentieren beide aprioristisch, d.h. sie setzen aus Vernunftgründen einen Naturzustand voraus, aus dem sie sodann Folgerungen für die gerechte und richtige Einrichtung der Welt ziehen. Im Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755) statuiert Rousseau1 sogar, dass der von ihm verehrte Naturzustand kein historischer gewesen sei, sondern eine vernunftlogische Konstruktion darstelle. Car ce n’est pas une légère entreprise de démêler ce qu’il y a d’originaire et d’artificiel dans la Nature actuelle de l’homme, et de bien connoître un Etat qui n’existe plus, qui n’a peut-être point existé, qui probablement n’existera jamais […].2
Nichtsdestotrotz stützte sich Rousseau bei seinen Spekulationen über den Naturzustand auf empirisches Material, von dem er gehofft haben mag, dass es ihm Aufschlüsse über die ursprüngliche Natur des Menschen geben könne. Aus den Anmerkungen zum erwähnten Discours wissen wir, dass Rousseau viel aus der mehrbändigen Histoire générale des voyages exzerpiert hat, die der Abbé Prevost (1697–1763) kompiliert hatte und seit 1746 herausgab. Diese Kompilation enthielt Zusammenfassungen zahlreicher Reiseberichte, in denen sich der Leser über Erfahrungen unterrichten konnte, die Weltreisende in den aussereuropäischen Ländern gesammelt hatten. Zumeist handelte es sich um Reisen zu dem sog. Wilden in Afrika und Amerika, die Rousseau gelesen und exzerpiert hatte. Die Wilden verkörperten ja Zivilisationsstufen, die historisch vor der Stufe der europäischen Zivilisation lagen. Wenn man bedenkt, dass die meisten der wilden Stämme die Schriftsprache nicht kannten, kann vermutet werden, dass ihre Entwicklungsstufe — eine lineare Entwicklungsgeschichte der Menschheit vorausgesetzt —
1. Zitiert wird nach der Ausgabe: Rousseau, Jean-Jacques, Œuvres complètes, Gagnebin, Bernard / Raymond, Marcel (eds.), Bd. III: Du Contrat social. Ecrits politiques, Paris 1964. 2. Ibid., S. 123, Kursivsetzung durch den Verfasser.
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zumindest zwei- bis dreitausend Jahre vor der Stufe der europäischen Aufklärung anzusiedeln war. Seltsamerweise machte Rousseau von den Reiseberichten — die zu den begehrtesten Büchern des Jahrhunderts gehörten — recht sparsamen Gebrauch. Er beruft sich auf die Erfahrungen der Weltreisenden meist dann, wenn nachgewiesen werden soll, dass die sog. Wilden kräftiger, gesünder und geschickter seien, als man es an den verweichlichten Europäern beobachten könne. Auf die sozialen Strukturen und Verhaltensweisen der sog. Wilden geht Rousseau so gut wie gar nicht ein, obgleich die Autoren darüber ausführlich Bericht erstatten. Eigentlich hätte es nahegelegen, die Organisationsformen primitiver Gesellschaften zu studieren, wenn man sich vorgenommen hat, einen in Europa verlorengegangenen Naturzustand zu rekonstruieren. Mit einiger Wahrscheinlichkeit hätte man ja vermuten können, dass die Organisationsstrukturen von Indianerstämmen dem angepeilten Naturzustand näher gewesen sein dürften als Rousseaus eigene Zeit. Doch verliert Rousseau hierüber kein einziges Wort. Im Gegenteil: In der 10. Anmerkung zum Discours begegnet der Leser einem Ausfall Rousseaus, in dem er die Weltreisenden bezichtigt, falsche Berichte von den sog. Naturvölkern geliefert zu haben. Diese unzuverlässigen und voreingenommenen Leute hätten alles, was ihnen auf der Erde begegnete, durch ihre europäische Brille betrachtet. Hierdurch sei ein Bild fremder Gesellschaften entstanden, das einer Karikatur europäischer Verhältnisse ähnlicher sehe als einem wissenschaftlich zuverlässigen Expeditionsbericht: Depuis trois ou quatre cens ans que les habitants de l’Europe inondent les autres parties du monde et publient sans cesse de nouveaux recueils de voyages et de rélations, je suis persuadé que nous ne connoissons d’hommes que les seuls Européens; encore paroît-il aux préjugés ridicules qui ne sont pas éteints, même parmi les Gens de Lettres, que chacun ne fait guéres sous le nom pompeux d’étude de l’homme, que celle des hommes de son pays. Les particuliers ont beau aller et venir, il semble que la Philosophie ne voyage point […].3
Die Kritik an der Zuverlässigkeit der Reiseberichte ähnelt frappant jener, die Diderot (1713– 1784) Jahre später an Bougainvilles (1729–1811) Voyage autour du monde (1771) üben sollte. Die Autoren der Reiseberichte — so erläutert Rousseau seine Vorbehalte — seien Seeleute, Kaufleute, Soldaten und Missionare. Ihnen sei allesamt nicht zu trauen. Seeleute, Kaufleute und Soldaten seien »keine guten Beobachter«, und was die Missionare anbetreffe, so seien sie zu sehr mit der Predigt des Evangeliums beschäftigt, als dass sie sich um andere Dinge viel Mühe geben würden. So erkläre es sich, dass diese bornierten Leute nur das berichtet haben, que chacun savoit déjà, n’ont su apperçevoir à l’autre bout du monde que ce qu’il n’eût tenu qu’à eux de remarquer sans sortir de leur rue, […].4
Man ahnt, was Rousseau an den Reiseberichten wirklich verdrossen hat, wenn man wenig später von »la tourbe philosophesque« liest, die nicht müde würden, die alberne Behauptung zu verbreiten, »que les hommes sont partout les mêmes«.5 Wenn man diese Worte Rousseaus buchstäblich nimmt, so müssen die Reisenden bei den
3. Ibid., S. 212. 4. Ibid. 5. Ibid., S. 148.
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Naturvölkern Verhältnisse angetroffen haben, die sich nicht wesentlich von denen unterschieden, die Rousseau an den zivilisierten Nationen seiner Zeit kritisierte. Das bedeutete mit anderen Worten: selbst wenn man zwei-, drei- oder gar viertausend Jahre in der Menschheitsgeschichte zurückging, also bei den Südsee-Insulanern landet, ist man dem verheissenen Naturzustand — der Welt des ›bon sauvage‹ — keinen Schritt näher gekommen. Die Reiseberichte der Zeit mussten Rousseaus Hoffnung vereitelt haben, dem Naturzustand historisch näher zu kommen. Und somit dürfte es sich leicht erklären, warum im Discours der Naturzustand nicht empirisch aufgesucht, sondern apriorisch deduziert wird. Nicht die Wilden in Südamerika besitzen ihn, sondern die Historiker des antiken Roms haben ihn vor Augen gehabt. Im Emile (1762) kann Rousseau freilich nicht umhin, einen bestimmten Naturzustand plastisch auszumalen. Um zu zeigen, wie ein zwölf bis dreizehn Jahre alter Junge seine Umwelt durch Arbeit erobert, lässt er ihn Werkzeuge machen und mit diesen Werkzeugen einfache Dinge und Gerätschaften produzieren. Für diese vorpubertäre Entwicklungsphase genügt Rousseau keine aprioristische Konstruktion von aufeinanderfolgenden Naturzuständen, die Lebensaltern parallelisiert werden — er benötigt vielmehr die Schilderung eines Naturzustands. Und er findet ihn weder bei Grotius, noch bei Pufendorf, sondern in einem Roman. Es ist der Robinson Crusoe (1719) Defoes (1660–1731), den Rousseau von seinem Emile lesen lässt, auf dass der hoffnungsvolle Zögling wie der Schiffbrüchige lerne, sich mit eigener Hände Arbeit alles Lebensnotwendige zu erzeugen. In nachgerade schwärmerischen Worten schildert Rousseau das Vergnügen und die Befriedigung, die Emile wohl empfinden müsse, wenn es ihm wie Robinson auf seiner einsamen Insel ergehe: Il pense être Robinson lui-même, qu’il se voye habillé de peaux, portant un grand bonnet, un grand sabre, tout le grotesque équipage de la figure, au parasol près dont il n’aura pas besoin. Je veux qu’il s’inquiette des mesures à prendre si ceci ou cela venoit à lui manquer, qu’il examine la conduite de son Heros; qu’il cherche s’il n’a rien omis, s’il n’y avoit rien de mieux à faire; qu’il marque attentivement ses fautes, et qu’il en profite pur n’y pas tomber lui-même en pareil cas: car ne doutez point qu’il ne projette d’aller faire un établissement semblable; c’est le vrai château-en-Espagne de cet heureux age, où l’on ne connoit d’autre bonheur que le necessaire et la liberté.6
Defoes Roman erschien zwar schon 1719, da er aber zur Vorgeschichte von Rousseaus Erziehungsroman aus dem Jahr 1762 gehört, seien einige Worte auf ihn verwendet. Sie sind auch nützlich im Hinblick auf Schnabels (1692–1750) Robinsonade von der Insel Felsenburg aus dem Jahre 1731. Populär wurde Defoes Roman in Deutschland allerdings erst durch Johann Hendrik Campe (1746–1818), der ihn 1779 / 80 für jugendliche Leser bearbeitete. Campes Robinson der Jüngere wird heute noch aufgelegt und gelesen, und man sagt nicht zu viel, wenn man feststellt, dass Campes Jugendbuch eines der erfolgreichsten Jugendbücher der deutschen Literatur überhaupt gewesen ist. Rousseau fingiert in seinem Emile, dass Defoes Roman den wahren Naturzustand gebe — wahrerer, als er in den verachteten Reiseberichten geschildert wird. Freilich unterschlägt Rousseau, dass Robinson seinen Aufenthalt auf der Insel nicht als das Wohnen in einem
6. Rousseau, Émile, Bd. IV, S. 455, Paris 1969.
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glückseligen »Luftschloss« empfindet, sondern als das Vegetieren im tiefsten Elend. Sein einziges Streben geht darauf, die Insel, an der er gestrandet ist, wieder zu verlassen — was freilich erst nach achtundzwanzig Jahren gelingt. Defoes Robinson musste also die kindliche Entwicklungsstufe, die Rousseau mit dem Naturzustand synchronisierte, bis ins hohe Alter fortsetzen. Was Rousseau ausserdem vergisst zu erwähnen, ist der Umstand, dass der Naturzustand, den Robinson auf der Insel antrifft, der des Kannibalismus ist. Denn Freitag wird von Robinson errettet, da ihn ansonsten andere Wilde gefangen und verspeist hätten. Die »bons sauvages« sind also für Defoe wilde Kannibalen, deren tierische Natur erst durch christliche Erziehung geläutert werden muss. Diese christliche Erziehung exerziert Robinson an Freitag, indem er ihm Abschnitte aus der anglikanischen Bibel vorliest, die er als Kulturgut des zivilisierten Europas aus dem Schiffbruch gerettet hat. Und ein vollkommener Mensch wird der Wilde erst dann, wenn er den Verhaltenskodex eines Engländers aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verinnerlicht hat. Als ›Schwulst‹ schob Rousseau auch beiseite, dass es sich bei Robinson um einen brasilianischen Plantagenbesitzer handelt, der Schiffbruch erlitt, als er nach Afrika segeln wollte, um dort Sklaven für andere Plantagenbesitzer einzukaufen. Robinson Crusoe ist also von Defoe nicht als pädagogisches Vorbild ersonnen worden, sondern als Inbild neuzeitlicher Eroberungslust und Geschäftstätigkeit. Er kann als Agent des wirtschaftlichen Dynamismus und der kolonialen Expansion betrachtet werden, die im 18. Jahrhundert das englische Kolonialreich entstehen liess. Im zweiten Teil des Romans schildert Defoe, wie Robinson nach Europa zurückkehrt, aber seine Insel vor der Mündung des Orinoko zuvor in eine kleine Privat-Kolonie verwandelt. Schon im letzten Jahr seines Aufenthalts auf der Insel war Robinson dort nicht mehr allein: mit ihm lebten zwei Wilde und ein schiffbrüchiger Spanier, über die Robinson als eine Art InselGouverneur herrschte: My people were perfectly subjected: I was absolute Lord and Law-giver; they all owed their Lives to me, and were ready to lay down their Lives, if there had been Occasion of it, for me.7
Defoes Roman basiert auf der Geschichte eines gewissen Alexander Selkirk, der 1704 auf einer Insel im Pazifik ausgesetzt wurde. Von ihm konnte Defoe im Bericht des Kapitäns Woods Rogers lesen, der Selkirk von der Insel Mas y Tierra auflas und hierüber unter dem Titel A Cruising Voyage round the World (1712) Bericht erstattete. Doch mit Selkirks Elendsgeschichte im Pazifik wollte sich Rousseau schon gar nicht befassen. Die Kapitäne Dampier und Rogers, die beide vom Vorbild der Robinson-Gestalt berichten, gelten Rousseau als plumpe Reisende, auf die sich nur sehr einfältige Leser verlassen würden. Vielmehr fordert er seine Epoche auf, eine wissenschaftliche Expedition auszurüsten, die in aller Ruhe und Genauigkeit »les mœurs« der Wilden studiere. Am besten sollten Montesquieu, Buffon, Diderot, d’Alembert und Condillac gleich selbst mitfahren, denn nur durch solche herkulischen Weltreisenden erstünde eine neue Welt — also der verlorengegangene
7. Defoe, Daniel, The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner, Crownley, Donald J. (ed.), Oxford / New York 1988, S. 241.
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Naturzustand — durch den wir unsere eigene Welt kennenlernen würden.8 Solch wissenschaftliche Expeditionen sind später unternommen worden. Ende der sechziger Jahre starteten Bougainville und Cook (1728–1779) zu ihren berühmten Expeditionen, und an Bord waren zahlreiche Wissenschaftler, die exakten Bericht über die Naturvölker geben sollten. Bougainvilles und Cooks Berichte erschienen Anfang der siebziger Jahre, aber auch in ihnen ist nichts von paradiesischen Zuständen zu lesen, die bei den Insulanern der Südsee etwa zu beobachten gewesen wären. Rousseau nahm von diesen Berichten keine Notiz mehr, freilich aber Diderot. In seinem Supplément au voyage de Bougainville wiederholt er den alten Vorwurf Rousseaus, den dieser gegen die Berichte der früheren Seeleute, Kaufleute, Soldaten und Missionare erhoben hatte: sie hätten wieder nur alles durch Europas Brille beobachtet. Freilich ergänzte er Rousseaus Vorwurf durch einen weiteren: Wenn Bougainville Kriege, Prostitution und Krankheiten bei den Insulanern beobachtet habe, dann seien diese keine Charakteristika des Naturzustandes gewesen, sondern Resultate ihrer Kolonisierung durch degenerierte Europäer. Diderots Kritik, die erst nach seinem Tode (1796) publiziert wurde, hatte Bougainville freilich schon in seinem Vorwort vorweggenommen. Darin mokiert sich der Kapitän und Expeditionschef über europäische Philosophen, die aus ihrer Schreibstube heraus angeben wollten, wie die Welt ausserhalb Europas beschaffen sei. Darüber könnten sie jedoch nicht mitreden, da sie nicht dort gewesen seien: Alles was sie könnten, sei, brave Seeleute als Lügner zu verdächtigen, die von den Naturvölkern Schilderungen gaben, die nicht mit in Europa ausgedachten Systemen übereinstimmten. Liest man Bougainvilles Bericht genau, so drängt sich der Eindruck auf, als sei er wirklich mit einer europäischen Brille auf der Nase zu seiner Weltumseglung aufgebrochen. Es war aber nicht eine jener falschen Brillen, an die Rousseau gedacht hatte, sondern offenkundig Rousseaus Brille selbst. Als Bougainvilles Schiffe in Tahiti eintrafen, gibt der Kapitän einen Bericht von den Schönheiten der Insel und ihrer Bewohner, der durchaus aus Rousseaus Feder hätte fliessen können. Der französische Kapitän sah sich in einen Garten Eden versetzt, nennt Tahiti eine »Nouvelle Cythère« und »Champs Elysées«. Langsam fielen Bougainville erst die Rousseauschen Schuppen von den Augen: Hinter dem irdischen Paradies, in dem die Brotfrüchte den Menschen in den Mund wachsen, tauchte eine andere, finstere Realität auf — eine Realität, in der sich Bougainville sogleich wieder zu Hause fühlte. Er erfuhr, dass die Bewohner Tahitis Kriege mit den Bewohnern der Nachbarinseln führen, dass sie dem Kannibalismus frönen und einer ausgeprägten Kastenstruktur unterworfen sind. Mit anderen Worten: von der Gleichheit aller und der Hilfsbereitschaft für alle war keine Spur zu entdecken. Die Gastfreundschaft der Leute Tahitis enthüllte sich als Prostitution, und die libertine Sexualität musste mit der Prämie der Syphilis bezahlt werden. Ähnlich idyllisch lesen sich die Berichte, die der junge Georg Forster (1754–1794) verfasste, der an Cooks zweiter Expedition teilnahm. Cook selbst erlaubte sich keine hymnischen Ausschweifungen, sondern gab in seiner trockenen englischen Art einen kritischen Bericht über die Naturvölker der Südsee. Am Ende seines dritten und letzten Aufenthalts auf Tahiti gelang es Cook, an einem rituellen Menschenopfer teilzunehmen. Es handelte sich — selbstverständlich —
8. Rousseau, op. cit., Bd. III, S. 149.
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um einen Mann der niederen Stände, der einen Schlag auf den Kopf bekam und sodann in ritueller Weise tranchiert wurde. Dass der vermutete Naturzustand nicht nur paradiesische, sondern auch barbarische Seiten besass, durfte Cook auf seiner letzten Reise am eigenen Leibe erfahren. Auf Hawai wurde er von Insulanern erschlagen — aus einem Irrtum gewiss, aber doch erschlagen. Was von ihm übrig blieb, nachdem man ihn gefunden hatte, waren ein paar verbrannte Gliedmassen. Das übrige hatten die Insulaner wohl als willkommenen Braten verzehrt. Den Star gestochen hat dem Optimismus der europäischen Aufklärung erst Sade (1740– 1814), auch wenn Europa es nicht wahrhaben wollte und Sade im Irrenhaus von Charenton gefangenhielt. Wie Diderot sich mit Bougainvilles Bericht auseinandersetzte, so Sade mit den Tagebüchern von James Cook. Versuchte Diderot Bougainvilles Bericht zu diskreditieren, da er die Naturvölker ins Negative verzeichnet habe, so unternahm Sade mit Cook Umgekehrtes. Die desillusionierenden Berichte von Kriminalität und Prostitution der Insulaner verzerrte Sade ins masslos Negative. Im Briefroman Aline et Valcour (1793) präsentiert uns Sade ein Reich von Menschenfressern, das er im Innern Afrikas lokalisiert. Das Königreich Butua bietet den bei Sade vertrauten Anblick einer Terrorutopie. Es herrscht dort nicht die Rousseausche »bonté naturelle«, sondern das Reich der schwarzen Menschenfresser scheint dazu bestimmt, sich binnen kurzem selbst auszurotten. Die Selbstausrottung ist Resultat der extremen Verachtung, in der die Frauen leben. Sie sind die täglich geprügelten Sklaven, die am empfindlichsten von den Männern gestraft werden, wenn sie das Pech haben, schwanger zu werden. Die Kinder, die sie gebären, werden in der Regel getötet. Es scheint, als bestehe die männliche Bevölkerung in diesem zentralafrikanischen Reich aus Homosexuellen, denen weder die Existenz der Frauen noch die Aufgabe der Fortpflanzung einleuchtet. Sade war nicht nur der grosse intellektuelle Gegenspieler der Enzyklopädisten sondern insbesondere Rousseaus. Mit ihm bricht eigentlich der Optimismus der Aufklärung zusammen, wie denn Aline et Valcour 1793 gedruckt wurde, vier Jahre nach Ausbruch der Französischen Revolution. Aus dem Zusammenbruch hat die deutsche und die englische Romantik ihre Konsequenzen gezogen. Shelley in England und E. T. A. Hoffmann (1776–1822) in Deutschland parodieren auf ihre Weise die Begriffe der Aufklärung und greifen auf vorrationale Zustände der Begeisterung oder des Grauens zurück. Die Parodie der Aufklärung in Hoffmanns Märchen von Klein Zaches genannt Zinnober (1819) wäre genauer zu untersuchen. Hier macht sich im Namen der ›anderen Vernunft‹ ein Romantiker über die Vernunft lustig. Doch übten die Berichte der Weltumsegler weiterhin Wirkung aus, und es erschienen stets neue Inselromane, in denen die Autoren Wunsch- oder Schreckensbilder von menschlichen Gesellschaften entwarfen. Zu erwähnen ist etwa Heinses Roman Ardinghello und die glückseligen Inseln (1785). Verkündete Sade den Triumph männlicher Homosexualität, so Heinse den der Frauenemanzipation. Auf den Kykladen Naxos und Pares herrscht Gütergemeinschaft und Polygamie. Die Frauen gleichen Amazonen, die an den Kriegszügen und Kaperfahrten der Insulaner teilnehmen. Bei den Insulanern handelt es sich freilich nicht um Wilde, sondern um vornehme Italiener, die aus den tyrannischen Stadtstaaten des 16. Jahrhunderts ausgewandert sind, um auf den Kykladen eine freiheitliche Inselrepublik zu gründen. Von der Notdurft werden sie nicht geplagt, da es ihnen ihr mitgebrachtes Vermögen erlaubt, allen Zwängen der Realität zu entkommen. Gepriesen wird in Heinses Inselutopie — wie bei Sade — die Stärke und die Vitalität. Sie dürfen sich jeweils über Schwache und Unfreie hinwegsetzen. Die christlichen
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Gebote des Judenlykurgs (d.i. Moses’) sollen auf den glückseligen Inseln nicht gelten. Expressis verbis ausser Kraft gesetzt sind die Gebote »Du sollst nicht töten« und »Du sollst nicht ehebrechen«. Denn die reichen Insulaner sind nicht nur Anhänger der Polygamie, sondern auch kriegerischer Natur. Man nennt sie die Sekte der »Todesleugner«, denn sie glauben, »dass die Natur ein ewiger Quell von Leben und der Trieb alles Daseins Freude sei«. Das Leben der müssiggängerischen Insulaner gleicht einer Kette von Liebensabenteuern — Abenteuer, in die sich jeder mit ganzer Leidenschaft und existentiellem Engagement hineinstürzt. Man kann Heinse so etwas wie einen Rousseauisten der freien Liebe nennen — und damit steht er in der deutschen Tradition singulär. Aber erst Melville (1819–1891) liquidierte alle Hoffnung, die das 18. Jahrhundert auf Naturvölker gesetzt hatte. 1846 veröffentlichte er sein Buch über Polynesien: Typee. A peep at Polynesian Life. Es handelt sich um eine Art von letztem Reisebericht über eine veränderte Südseewelt, in dem Melville eigene Erlebnisse als Seemann auf den Marquesas-Inseln (nördlich von Tahiti) beschreibt. Auch dieser Bericht hebt wieder rousseauistisch getönt an: der amerikanische Seemann glaubt, in einem Inselparadies angekommen zu sein, in dem ihm jedermann zu Willen ist und er nur die Hand auszustrecken braucht, um zu erlangen, was immer er haben möchte. Doch eines Tages dämmert ihm, dass der gehätschelte und gepflegte Fremde, dem man jeden Wunsch von den Augen abliest, wohl nur eine Art Mastschwein darstellt, das längere Zeit gemästet wird und Fett ansetzen soll, bis es geschlachtet und verzehrt werden kann. Hinter der rousseauistischen Idylle taucht ein quasi-Sadescher Terrorstaat auf, in dem die Bewohner sich gegenseitig verzehren. Melville gelingt es, auf einem australischen Walfängerschiff zu fliehen, doch die Flucht droht im letzten Augenblick zu scheitern, da die Insulaner es mit Gewalt verhindert wollen, dass der so lange gemästete Gast entschwindet. Sie schwimmen dem Boot nach, und man kann sie nur abschütteln, indem die Insassen einem der nachschwimmenden Chiefs mit dem Bootshaken einen Schlag auf den Kopf geben. It struck him just below the throat, and forced him downwards. I had no time to repeat my blow, but I saw him rise to surface in the wake of the boat, and never shall I forget the ferocious expression of his countenance.9
Mit Melville befinden wir uns mitten im 19. Jahrhundert, und es ist Autoren wie Lesern klar, dass es mit der Aufklärung und ihrem Optimismus vorbei ist. Die Welt wird anders angesehen, als sie noch Rousseau und Diderot angesehen hatten, aber wie es schon Sade bestritten hatte. Doch vielleicht rettet Rousseau vor Sade auch die Einsicht, dass die Natur des Menschen nicht in der Geschichte, nicht in Afrika und nicht auf Tahiti gefunden werden kann, sondern dass sie letztlich — wie Kant es nahelegte — aus vernunftmässigen Überlegungen bloss zu postulieren ist.
9. Melville, Herman, Typee. A peep at Polynesian life (= The Writings of Herman Melville; 1), Hayford, Harrison (ed.), Evanston / Chicago 1968, S. 252.
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Autobiographien, autobiographische Schriften Ralph-Rainer Wuthenow
Das autobiographische Genre umfasst im weitesten Sinne des Begriffs Memoiren, Berichte über das individuelle Leben, Selbstanalysen ebenso wie diaristische Bemerkungen. Der erstaunliche Aufschwung dieser Schriften erklärt sich aus dem neu erwachten Interesse des Individuums an seiner eigenen Existenz, seinem einzigartigen Charakter, seiner Subjektivität. Diese Neugierde richtete sich schliesslich auf die Rolle, die es in der Welt spielt. Sie steht im Mittelpunkt des Interesses der Gattung der Memoiren, die sich von den Autobiographien unterscheiden. Vorläufer dieser Art von Schriften finden sich bei Pertrarca, Cardano, Platter, Cellini und selbst Montaigne (1533–1592), dessen Essais (1580) ständig diese Neugierde sich selbst gegenüber, diese erste, oft sehr beunruhigende Entdeckung des Ichs enthüllen. Dennoch scheinen deren Texte angesichts der Zeugnisse des 18. Jahrhunderts eher ›vorbereitend‹. Offenbar wurde eine Schwelle überschritten, ein neues Gebiet der Menschenkenntnis eröffnet. Die Faszination geht weniger von der Anzahl als vielmehr von der Qualität der Zeugnisse aus. Diese ist gebunden an ein Bewusstsein von sich selbst, das klarer und komplexer ist als zuvor. Es handelt sich hier nicht mehr einzig um einen Entdeckungszustand, wie man ihn bei Cardano und Montaigne findet, sondern man begann bereits, das Gebiet auszumessen und zu sondieren, um sich so seiner Grenzen und des Reichtums seiner Möglichkeiten bewusst zu werden. Zu berücksichtigen sind auch die verschiedenen Motive der Schriften dieses Genres: Die religiösen Texte sind normalerweise durch ihren Konfessionscharakter gekennzeichnet (z.B. Hamann); auf der säkulären Ebene soll der Text Rechenschaft ablegen gegenüber der Epoche, der Nachwelt oder auch sich selbst gegenüber (so Franklin); der Rechenschaftsbericht unterscheidet sich nicht immer klar von der Selbsterforschung des Ich: Die Autobiographie dient der oft wenig gewissen Kenntnis des Individuums, das sich an die Stationen seines Lebens und seines Denkens erinnert. Wenn also der Bericht der Erkenntnis dient, steht jene im Dienst einer gewissen Befreiung. Die durch die Autobiographie erworbene und exemplarisch gemeinte Autonomie ist dennoch sehr begrenzt. Nicht zu vergessen sind die Zeugnisse, die aus verschiedenen Gründen einem schockierten oder erstaunten Publikum deutlich die Krise eines Individuums vorführen. Das versuchte Rousseau (1712–1778), vor ihm A. Bernd und auf unvergleichliche Weise K. Ph. Moritz (1756–1793). Die für dieses Unterfangen nötige Aufrichtigkeit des Bewusstseins und die Authenzität der Erzählung beansprucht zwar jeder Autor für sich, dennoch führen sie nicht zwingend zu dokumentarischer und historischer Wahrheit: Offenheit und Wahrhaftigkeit beziehen sich auf die Absicht des Autors und auf seine Weise, das erlebte Leben zu sehen, zu beurteilen und zu interpretieren. Eine Objektivität der biographischen Tatsachen ist niemals garantiert. Es wird immer einen Hiatus zwischen der Art der Selbstdarstellung und dem dokumentarischen Bericht geben. Sich zu erzählen beinhaltet, sich so zu schildern, wie man sich an sich selbst erinnern will. Das impliziert auch die Notwendigkeit der erneuten Selbstfindung, ja Selbsterfindung.
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Es ist deshalb nicht weniger wahr, dass das Rätsel des Ich sich als Bewusstsein von sich selbst aufdrängt, entblösst von allem, was die Funktion über das Individuum und seine Subjektivität stellt, wie es uns die höfischen Memoiren lehren. Die Befreiung, die sich hier ankündigt, ist zugleich eine Isolation. Aber genau in dieser Isolation beginnt das Individuum sich zu entdecken, wie es uns die Texte mit einer unbestreitbaren Unruhe, aber auch mit einer durchaus nicht naiven Neugierde überliefern. Das moderne, einsame Subjekt macht sich zum Objekt seiner eigenen Beobachtung. Es stellt sich auf einmal in Frage, anstatt sich vorzuschreiben, wie es zu sein hat. Die Wahrhaftigkeit dieses Prozesses wird der Analyse seines Lebens, seines Charakters dienen, den er als beständiges und starres Objekt zu lieben wünschte, was schwerlich gelingt. Es ist vor allem der Wille zur Analyse, der die Autobiographie von den Memoiren unterscheidet, die fast ein anderes Genre sind, gleich wie verwandt die Textarten auch scheinen mögen. Die Perspektive ist eine andere, ebenso wie die Absicht und der Mittelpunkt des Interesses andere sind. Denn das Ich des Erzählers zeigt sich in den Memoiren darin, dass es die Ereignisse seiner Epoche und seiner eigenen Existenzsphäre bezeugt; die Vergangenheit scheint eher beobachtet als erlebt. Die Autobiographie im strengen Sinne zeigt ihren Erzähler als Zeugen seiner häuslichen und inneren Entwicklung, seiner exakt erlebten Vergangenheit, deren Bedeutung und Einheit er sucht. Beide sind die Garanten einer Identität des Individuums, das sich für einzigartig hält. Zugleich ist es bereit, jedem anderen diese Einzigartigkeit gleichfalls zuzugestehen: Der individuelle Charakter ist ein allen menschlichen Existenzen gemeinsamer. Es zeigt sich dergestalt, dass die Memoiren vielmehr der Welt des Hofes, der Feudalität und den öffentlichen Aktivitäten verbunden sind, während die Autobiographie uns die private Sphäre des Einzelnen, des ›bürgerlichen‹ Individuums zeigt. Eine weitere Unterscheidung bezieht sich auf den speziellen Charakter der diaristischen Eintragungen, die nicht weniger im Dienst der individuellen Autopsie stehen, aber denen notwendigerweise die narrative Qualität fehlt. Die chronologische Vorgehensweise, die sporadischen Notizen in der kontinuierlichen Diskontinuität, die vieles ausklammern, sowie die Erinnerung und die Interpretation durch ein retrospektives und erweitertes Bewusstsein, führen zu einer gewissen Unordnung. Diese Unordnung ist die des gegenwärtigen Lebens und führt daher zu einer Iuxtaposition der Tatsachen und Gefühle. Die wiederum lässt das Gedächtnis, das die Autobiographie ausführlich erzählt, auf geschickte Weise nicht zu. Es ist offensichtlich, dass die immense Zahl autobiographischer Texte weit die Möglichkeiten einer Darstellung übersteigt, die kaum anders als exemplarisch ist. Sie muss sich daher mit den wertvollen und in verschiedenen europäischen Literaturen ausgewählten Zeugnissen begnügen. Diese reichen dennoch dazu aus, retrospektiv auch die Gültigkeit der Zeugenaussagen der Renaissance zu bestätigen. Denn die verfügbaren Quellen enthüllen uns die Unterschiede, die immer zwischen Memoiren und Autobiographien, Analyse des eigenen Ich, Familienchronik und persönlichem Tagebuch existieren. So überliefern uns die Memoiren von Katharina der Grossen (1729–1796) oder die der Markgräfin von Bayreuth (1709–1758) eine Beschreibung der repräsentativen Existenz des höfischen Lebens, das nur selten eine private und individuelle Existenz zuliess. Alles war Rolle und Funktion, Protokoll, Zeremoniell und — Intrige. Das Fehlen individueller Freiheit in dem betörenden Glanz des luxuriösen Lebens bedrückte. Dieses wog fast so schwer wie die
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Beschränkung, die durch das Elend bedingt war, das auf brutalere Weise den Aufschwung eines eigenen, individuellen Lebens verhinderte. Aber der spezielle Charakter der feudalen und höfischen Existenz lässt besser das revolutionsähnliche Wirkungsausmass der Einsprüche Rousseaus verstehen. Es gibt jedoch noch die Memoiren der Privatleute, zu denen die berühmte Histoire de ma vie (1826–1838) von G. Casanova (1725–1798) zählt. Sie wurde nicht als gefällige und erotische Anekdotensammlung geschrieben, sondern vielmehr, damit der Autor erneut sein Leben, wie es das Gedächtnis dem zurückgezogenen Greise präsentiert, geniessen konnte. Casanova hatte das Gefängnis kennengelernt, den Salon und den Hof. Er gab sich den Betrügereien, dem Spiel und vor allem den Liebesintrigen hin. Die Liebe war der Mittelpunkt seines Lebens. Wenn der grosse Abenteurer seine Geschichte niederschreibt, wird er von seinen Erinnerungen mitgerissen. So erklärt sich die aussergewöhnlich hohe Geschwindigkeit seiner Erzählung. Indem er sein Leben erzählt, spricht er hemmungslos und ohne Reue von sich selbst. Schenkt man seinem Motto glauben, so will er sich wiedererkennen: »Nequidquam sapit qui sibi non sapit« — nichts weiss, wer sich nicht kennt. Trotz dieser Maxime muss er bekennen, dass er niemals ein bestimmtes Ziel verfolgt hat. Es scheint ihm, als sei er herumgetrieben worden, als habe er sich vom Zufall mitreissen lassen, der ihm gnädig gewesen ist. Letzteres war für ihn ob seines grossen Selbstvertrauens ganz natürlich. Stets wusste er sich in den Händen des Glücks. Er bekennt seine Fehler, seine Irrtümer und das Opfer seiner eigenen Sinnlichkeit gewesen zu sein. Doch gibt er zu, dass diese Fehltritte die Garanten seines Glücks waren. Zwar bezeichnet er die Veröffentlichung seiner Autobiographie selbst als Verrücktheit, doch gesteht er zugleich, dass es ihm angenehm ist, seine Zeit damit zu verbringen, von seinen Erlebnissen, Reisen, Intrigen und Liebschaften zu erzählen. Ohne Zweifel weiss er die Fülle seiner Erfolge zu geniessen. Erneut durchlebt er seine Vergangenheit. Man kann konstatieren, dass er stolz auf sie ist, so heisst es dann ›vixi‹, ich habe gelebt. Allenthalben vernimmt man den Ton der Zufriedenheit, nicht den der Resignation. Es interessiert ihn wenig, dass sein Naturell ihn immer mitgerissen und über den Verstand gesiegt hat. Es ist also erlaubt anzunehmen, dass er sich gefiel, als er die Memoiren schrieb — so wie er sich selbst gefallen hat, als er sie erlebte. En me rappelant les plaisirs que j’ai eus, je les renouvelle, j’en jouis une seconde fois, et je ris des peines que j’ai endurées et que je ne sens plus. Membre de l’univers, je parle à l’air, et je me figure rendre compte de ma gestion, comme un maître d’hôtel le rend à son maître avant de disparaître.1
Es zeigt sich hier noch Ehrlichkeit bis in das Gebiet hinein, aus dem er den Vergleich holt. Man weiss oft nicht, ob das verstärkte Interesse dazu beigetragen hat, die Zahl der Dokumente dieses autobiographischen Genres zu erhöhen, oder ob es die Zahl ist, die das Interesse beeinflusst hat. In jedem Fall wurde das Genre im Lauf des 18. Jahrhunderts bevorzugt. Intensiv beschäftigte man sich mit ihm und brachte ihm grosse Aufmerksamkeit entgegen. Diese verdankte sich zu einem grossen Teil den spirituellen Bewegungen wie dem Quietismus von
1. Casanova, Giacomo, Mémoires, Paris 1964, Bd. I, S. 4.
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Madame de Guyon oder dem deutschen Pietismus (Jung-Stilling, Francke, Spener). Sie trugen zur Beobachtung und Analyse des Selbst bei und ermunterten zu einer skrupellosen Überwachung des täglichen Verhaltens und der Regungen der Seele. Das musste zu einer wiederholten Rechtfertigung vor dem Schöpfergott führen. Die Konfession ist immer die Basis der Schriften über das persönliche Leben mit seiner spirituellen Erhöhung und seiner schmerzhaften Erfahrung vom Fehlen des heilsamen Lichtes. In diesem, wenngleich ins Weltliche gewendeten Sinne, griff Rousseau den berühmten Titel der Schriften des Heiligen Augustinus auf. Er führte ihn an, wobei er sich gegen das unbestrittene Beispiel erhob, das immer noch die autobiographische Absicht dominiert. Aber das Ziel ist ein anderes, wenn es sich um eine Autobiographie oder um einen weltlichen Bericht handelt. Die Suche nach sich selbst scheint nun wichtiger als die nach Gott. Zudem galt diese Suche des Ich nicht ebensoviel wie die Erinnerung an die Ereignisse eines erlebten Lebens, die oft der Inhalt einer mehr oder weniger zum privaten Gebrauch bestimmten detaillierten Erzählung war. Die humanistische Autobiographie (Vico, Gibbon, Michaelis) unterscheidet sich von den religiösen Berichten, die sich um die Bewegungen der Seele und ihre Bestimmung drehen. Wenngleich der Inhalt ein anderer ist, so sind die beiden Typen dennoch Vorstufen dessen, was sich als die »echte« Autobiographie entwickeln wird. Ein hervorragendes Beispiel für eine solche echte Autobiographie wird später Goethe liefern. Er verbindet die individuelle Geschichte mit der Beschreibung historischer und allgemeiner Ereignissen, wie wir sie von den Memoiren her kennen. Diese Ereignisse tragen dazu bei, das Individuum zu formen, das immer nicht alleine Kind der Familie, sondern gleichsam seiner Epoche bleibt. Die konfessionell determinierte Autobiographie will hingegen die Reue, Bekehrung und Erlösung, also den Bruch mit dem irdischen Leben zeigen, das künftig ein reines und ruhiges Leben sein wird. Die profane Autobiographie jedoch zielt auf die Fülle eines erlebten Lebens, auf eine humanistisch gemeinte Erziehung und eine Sozialisation, welche die individuelle Existenz vollendet und die der Garant einer Identität des Individuums zu sein scheint, das der Prosa des Lebens unterworfen ist. Aber wenn diese Etappe der individuellen Entwicklung — wie dem autobiographischen Bericht — ein Ende zu setzen scheint, wird man daraus zu schliessen wissen, dass das Individuum, das sich nicht integrieren kann und das seine Rolle nicht findet, seinen Bericht fortsetzen oder den Faden verlieren wird (Laukhard, Bräker). Der Bericht löst sich auf. Andere Autobiographien enden dagegen ziemlich unerwartet wie die von Hippel, der seine Karriere als Funktionär oder seine Rolle als Autor nicht preisgibt oder wie die von Goethe, der seinen Bericht mit seiner Abfahrt an den Weimarer Hof beschliesst. Der Bericht von Madame Roland (1754–1793), zuerst Autobiographie, wechselt schnell zu einer Folge von Erinnerungen an die Revolution. Sie bricht nach dem Sturz der Gironde und in der Erwartung der Exekution ab. Ein anerkannter Autor wie Marmontel (1723–1799) erzählt nur die Memoiren seines privaten und literarischen Lebens. Das Niedergeschriebene soll als Unterrichtsmaterial für seine Kinder dienen, wohingegen Goldoni (1707–1793), der als Dramatiker Erfolg erfahren hat, uns vor allem von den äusseren Umständen berichtet, ohne uns in seine intellektuelle Entwicklung oder seine gefühlsmässige Erziehung einweihen zu wollen. Die Zustände der Seele sind sozusagen eine Entdeckung Rousseaus, der sich ihrer bediente, um sich gegen die reellen oder imaginären Vorwürfe seiner Freunde und Kollegen zu verteidigen. Seine advokatorische Rhetorik steht
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immer im Dienste der Selbstverteidigung, die schon der erste Schritt seiner emphatischen Exkulpation ist. Denn er ist der grosse Rhetoriker, der sich bezichtigt, um sich freizusprechen. Er richtet sich an Gott und die Nachwelt, aber in Wirklichkeit spricht er zum zeitgenössischen Publikum; die ersten Sätze der Confessions belegen dies auf erstaunliche Weise. Er glaubte sich verfolgt. Darum entblösste er sich, um sich zu verteidigen und zugleich das Bewusstsein, dass seine Seele rein ist, zu bewahren. Aber so zeigt er auch, in welchem Grad das isolierte Individuum das Bedürfnis empfindet, anerkannt zu werden, um sich selbst zu akzeptieren. Eingehend befasste sich Moritz mit diesem Problem in dem »psychologischen Roman«, in dem das Selbstverständnis oft nur der Widerschein der Sicht des anderen, also der Fremdwahrnehmung, ist. Moritz zeigt in seinem Anton Reiser (1785–1790), dass das Individuum, das versucht, sich aller lästigen Fesseln, der religiösen Autorität und der sozialen Beklemmung zu entledigen, in seiner Selbstwahrnehmung und geleitet von seinem Erinnerungsstrom die Realität seines Ich und die Kontinuität der gelebten Jahre finden wird. So erlangt es die Kenntnis und das Verständnis seiner selbst. Das Individuum glaubt, sich in Selbstreflexionen und mittels seiner Erinnerungen an sein Leben, egal wie schlecht sie auch sein mögen, zu erfassen. Dieser Akt jedoch ist nicht ganz ungefährlich. Die Entdeckung des Ich, deren Berichte ohne Zweifel manchmal die erlebte Realität übertreffen, ist sehr oft stark beunruhigend. Aus ihr resultiert eine tiefe Unruhe, deren erste pathologische Probe der Prediger Adam Bernd lieferte, der ständig seinen Imaginationen, seiner Angst, seinen reellen oder fiktiven Krankheiten ausgesetzt war. Sein Bericht ist ungewöhnlich minutiös. Das zweite wichtige Beispiel stammt aus Rousseaus Feder, Moritz hat das dritte hinterlassen. Die Biographie und die Analyse des Individuums führen zu einer Art Pathographie und zu einer Analyse der deformierten Existenz. Die Imagination zerfrisst die Zukunft, und die Besessenheiten verderben die zu kostenden Früchte. Die psychische Biographie siegt über das äussere Leben. Dieser Punkt blieb bisher stets verborgen, weil man diesen Vorgang für eine diabolische Manipulation und Frucht der Sünde hielt, die, kaum dass sie dem Beichtvater bekannt war, öffentlich angeprangert wurde: Das Werk der Dämonen wird nunmehr als mentale Krankheit behandelt werden. Die Sünde verschwindet in dem Entwurf einer aufkeimenden experimentellen Psychologie. Rousseau, der Verfolgte, zugleich Erzähler und Anwalt seiner Existenz, lässt sich durch das hohe Bewusstsein seiner Subjektivität mitreissen: Seine Wendung hin zu sich selbst stellt er dar als die der ganzen Menschheit im gegenwärtigen Zivilisationszustand. Sie zeigt den Kampf der Natur gegen die sie bedrohende Korruption an. Es handelt sich um die Krise der Authentizität des reinen Gefühls in einer Gesellschaft, die nur noch Hypokrisie, Lüge und Verleumdung kennt. Das moderne Individuum, Jean-Jacques mit dem unschuldigen Herzen, ist ein romantischer Mensch, gekennzeichnet durch Zerrissenheit und Verirrungen. Vielleicht ist er sich des Triumphes, den er für sich in Anspruch nehmen will, gar nicht sicher. Die Confessions tragen sichtbare Spuren der Unsicherheit und Irritation. Seine Verkündigungen sind allzu laut und schrill. Rousseau legt gleich zu Beginn seines Berichts ein Geständnis ab. Er erwähnt den Tod seiner Mutter, die nach seiner Entbindung starb und zieht daraus den Schluss: »ma naissance fut
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le premier de mes malheurs.«2 In demselben Sinn spricht er von der extremen Empfindlichkeit seines Herzens, die er seinen Eltern verdankt. Normalerweise ein Glücksfall, ist diese Empfindlichkeit für Jean-Jacques eine nie versagende Quelle des Unglücks und Kummers. Er verstärkt die Akzente und gibt Beispiele, um es zu beweisen. Im ersten Buch der Confessions findet sich bereits eine Szene voll paranoider Besessenheit, die kaum mehr ist als ein extremes Selbstmisstrauen. Die Verwirrbarkeit des empfänglichen Geistes vergiftet die natürlichsten Freuden. Die Imagination transformiert die Objekte der Begierde in einen Zustand, der ihren Erwerb unnütz und sogar ablehnenswert macht: Das Ei ist nicht frisch, die Früchte könnten verfault sein, und das Mädchen ist verdorben. Die Vorwegnahme der Realität durch eine krankhafte Einbildungskraft beraubt ihn jeden noch so einfachen Vergnügens. Sie siegt so nicht nur über alle Erfahrungen, sondern macht sie unmöglich. Zum Extrem vorangetrieben, wird sie darüberhinaus sogar das Leben unmöglich machen. Rousseau, der guten Wein liebt, weiss plötzlich nicht mehr, ob er ihn nehmen soll: Veux-je absolument être bien servi? Que de soins, que d’embarras! Avoir des amis, des correspondants, donner des commissions, écrire, aller, venir, attendre; et souvent au bout être encore trompé. Que de peine avec mon argent! Je la crains plus que je n’aime le bon vin.3
Der vorausschauende Blick transformiert die begehrten Dinge in verdorbene oder minder wertvolle Objekte. Also kann man hier wohl kaum von einer freien und autonomen Entscheidung, sondern muss vielmehr von einer beinahe unüberwindbaren Besessenheit sprechen. Diese Art der fieberhaften Imagination ist durchaus nicht ungewöhnlich. Sie findet sich bei vielen deutschen Autoren (z.B. bei Jean Paul) wieder und in den Momenten der religiösen Angst bei den Autoren des englischen Tagebuchs (mitunter bei J. Boswell). Allerdings kann man sich auch fragen, ob es nicht ebenso quälend ist, dem von Benjamin Franklin aufgestellten, rigorosen Tugendkatalog gerecht zu werden, obgleich zugestanden werden muss, dass er dadurch eine respektable Selbstkontrolle erlangt: Ein fester Wille hat sich in Franklin gegen die Geissel der Imagination verteidigt. Es ist sehr wohl ein Beweis der Emanzipation, dass einige Autoren sich diese Stadien der Besessenheit wie Krankheitssymptome zu beschreiben trauten, anstatt sie als Wirkung bösartiger Geister oder Früchte der Sünde zu sehen. Der Exorzismus machte der Therapie, die Theologie der Psychologie Platz. Der bekannte Prediger Bernd lehnte es ab, ungeordnete Seelenbewegungen als Teufelswerk zu deklarieren. Er entschied sich für das deutliche Aussprechen der Ängste. Damit wollte er denen helfen, die dasselbe Problem hatten, es aber nicht wagten, ein Sterbenswort darüber zu verlieren. So verwandelte sich das Bekenntnis in Unterweisung und so veröffentlichte man es absichtlich. Es handelte sich um einen langsamen und schweren Anfang, der noch durch manche Vorsichtsmassnahmen gekennzeichnet war. Nichtsdestoweniger ist er bemerkenswert und zeigte
2. Rousseau, Jean-Jacques, Les Confessions, Beyer, Adam van (ed.), Paris 1930, S. 11; siehe auch: Ralph-Rainer Wuthenow, »Le Passé composé«, in: Calle-Gruber, Mireille / Rothe, Arnold (eds.), Autobiographie et Biographie, Colloque Franco-Allemand de Heidelberg, Paris 1989, S. 39. 3. Rousseau, op. cit., S. 51
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sich im Mut dieses Autors, seiner Offenheit und seiner Beobachtungspräzision. Moritz benutzte diese Genauigkeit bei der Veröffentlichung des Magazins für Erfahrungsseelenkunde (1783–1793). Darin versammelt er Auszüge aus Tagebüchern, Teile von Autobiographien, Briefe, Dokumente der psychischen Pathologie, medizinische Erklärungen, Kommentare, Geschichten des menschlichen Herzens und Kindheitserinnerungen. Er vermittelt die Säkularisation der religiösen Autobiographie, besonders des Pietismus, besser als irgendjemand sonst. Das Interesse des Psychologen und Moralisten wird evident. Die übliche Kontrolle des alltäglichen psychischen Lebens, diese Überwachung, sei sie konstant oder wie bei Bernd, Haller, Lavater sowie Franklin nicht kontinuierlich, hat sich erst in psychologische Beobachtung, dann in einen literarischen Rechenschaftsbericht verwandelt. Die beunruhigenden Selbstgespräche nehmen die Form des Berichts des persönlichen, durch die Erinnerung modifizierten Lebens an. Die Tendenz der Apologie, durch welche die Confessions von Rousseau charakterisiert sind, ist also verschwunden. Ziel ist die Kenntnis von sich selbst und damit die des Menschen im allgemeinen. Die Analyse oder der Bericht der eigenen Seelengeschichte wird folglich ein Beitrag sein zur Kenntnis der Menschheit, die man als die Aufgabe der Epoche ansieht. »The proper study of mankind is man« (A. Pope), ist das oft zitierte Motto. Die Autobiographie enthüllt, dass die schmerzhafte Entwicklung des Selbstbewusstseins mittels der aktiven Hilfe des Gedächtnisses vollkommener wird. Sie steht im Zentrum des autobiographischen Berichts von Moritz, der zugleich Therapie und Unterweisung ist. Denn Moritz, der Erzähler des Anton Reiser, nimmt ihn ihm die Rolle eines Kommentators und Interpreten seiner eigenen, objektiv gemachten Geschichte an. Er zeigt sich als ein strenger Kritiker der Illusionen und kindischen Reaktionen des Protagonisten. Doch zielt seine Kritik nicht minder auf die sozialen Umstände, welche die mentale Entwicklung des jungen Anton bedroht haben. Sein Streben nach einer imaginären Unermesslichkeit ist ständig blockiert durch die Hindernisse einer Existenz, die sowohl durch materielles als auch durch mentales Elend eingeschränkt ist. Aber der unterdrückte junge Mensch nimmt eine illusorische Rache: Er lässt zwei feindliche Armeen aus Kirsch- und Pflaumenkernen antreten, auf die er dann mit geschlossenen Augen einen Eisenhammer fallen lässt. In der Vernichtung imaginärer Existenzen ahmt er das blinde und grausame Schicksal nach. Ein anderes Vergnügen dieses Jungen ist es, eine kleine Stadt in Brand zu setzen, die er sich aus einigen Papierhäusern geschaffen hatte, »und dann nachher mit feierlichem Ernst und Wehmut den zurückgebliebenen Aschenhaufen betrachten«4 zu können. Gelegentlich bereitet ihm die Vernichtung einiger Fliegen Vergnügen: Selbst der Gedanke an seine eigne Zerstörung war ihm nicht nur angenehm, sondern verursachte ihm sogar eine Art von wollüstiger Empfindung, wenn er oft des Abends, ehe er einschlief, sich die Auflösung und das Auseinanderfallen seines Körpers lebhaft dachte.5
Es gibt im Leben des jungen Anton zwei Kräfte, die sich unaufhörlich gegenüberstehen: die des
4. Moritz, Karl Philipp, Anton Reiser, Ein psychologischer Roman, in: Werke, Günther, Horst (ed.), Frankfurt a.M. 1981, Bd. I, S. 52 f. 5. Ibid., S. 52 f.
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sozialen Elends und die der Einbildungskraft. Diese erlaubt es ihm, sich eine Welt nach eigenem Gefallen zu schaffen. Hieraus entstehen natürlich Konflikte. Selbst reale Orte verwandeln sich unter seinem Blick in Traumobjekte: Auch pflegte sich dies bei ihm zu ereignen, wenn er in irgendeiner Strasse ging, die ihm eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Strasse in Hannover zu haben schien. — Dann deuchte ihm einige Augenblicke sein Zustand in Hannover wieder gegenwärtig; die Szenen seines Lebens verwirrten sich untereinander.6
Als er endlich zu verstehen beginnt, dass die Erinnerung ihm eine gewisse Existenzkontinuität garantieren kann, lernt er, um sich selbst zu wissen. Er wird somit fähig, Stück für Stück seinen beängstigenden Zustand zu verlassen und sich seiner gramvollen Existenz zu entreissen. Die aufeinanderfolgenden Erinnerungen sind der rettende Faden. Er hat selbstverständlich noch Rückfälle, aber dieser Faden entgleitet ihm nicht mehr gänzlich. Dennoch ist das weder eine endgültige Lösung, noch eine Erlösung aus dem allgemeinen Elend. Trotzdem ist es das einzige Mittel, um eine relative Stabilität und ein relatives Gleichgewicht zu finden, das allerdings allzeit ungewiss ist. So hat Moritz den Mut, ein positives, belehrendes Ende und die Sicherheit eines prospektiven Ausgangs abzulehnen: Das Ende der Erzählung bleibt offen. Nach einem neuen Misserfolg findet sich der Protagonist in der Unsicherheit wieder, die der Leser teilen muss, d.h. Moritz erzählt nicht bis zu jenem Moment, wo er seine Erzählung anfängt. Man hat den Eindruck, dass diese Erzählung im Dienste der Erinnerung das bewirken muss, was das Leben selbst bisher nicht zugelassen hat. Von daher erklärt sich auch die Objektivität der Erzählung, zu welcher sich noch die strikte Ablehnung aller Apologie fügt. Zudem überschreitet Moritz die Confessions noch durch die penetrante Selbstanalyse, durch die Selbstkritik ebenso wie durch die Luzidität, mit der er die sozialen Phänomene erkennt. Diese tragen dazu bei, das Selbstbewusstsein zu formen. So versteht er, dass Verhalten und Charakter oft nur der Widerschein der Einstellung seiner Umgebung sind. Wenn Rousseau von Beginn seiner Erzählung an vehement seine Identität verkündet, überzeugt, das zu besitzen, was er vorführt, sucht Moritz sie schmerzensreich über seinen »psychologischen Roman«. Er teilt sie uns mit als ein noch zweifelhaftes Resultat einer Erfahrung, dessen einziger Garant die Erzählung ist. Man muss zugeben, dass der Rousseau der Confessions sich auf eine Weise beschrieben hat, die absolut nicht seiner psychischen Realität entsprach. Das wird an anderen autobiographischen Schriften von ihm noch deutlicher. Endlich kommt er zu einem Resultat, das bereits bei Moritz auf subtile Weise anklingt, »qu’on n’y parvient jamais à jouir de soi sans le concours d’autrui«.7 Die Romantik hat uns nur wenige autobiographische Berichte hinterlassen; der von J. W. Ritter bleibt ein beeindruckendes, einzigartiges Beispiel der Gattung. Er ist anders als das Werk Chateaubriands, das von grosser Erfindungsgabe und Selbstsicherheit und von einem Rousseaus würdigen Egozentrismus zeugt. Wie es heisst, wurden die Erinnerungen Byrons verbrannt. Gestützt auf viele Dokumente verfasste Goethe (1749–1832) in der Epoche der Romantik
6. Moritz, Werke, op. cit., Bd. I, S. 98. 7. Rousseau, Jean-Jacques, Les rêveries du promeneur solitaire, Roddier, H. (ed.), Paris 1960, S. 9.
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Dichtung und Wahrheit (1811–1822). Er schrieb mit sehr grossen Distanz und in dem Bewusstsein einer sichtlich begünstigten Existenz. Dies offenbart er dem Leser gleich zu Beginn seines Berichts. Er zitiert dort sein Horoskop, das die höchst gefährlichen Hindernisse und den mehr oder minder gloriosen Ausgang vorwegnimmt. Es ist möglich, dass Goethe Rousseau entgegnen wollte, dessen »schöne Organisation«, die sich in Unordnung bringen musste, er durchaus verstand. Dieser Gefahr glaubte er durch die konstante und exakte Beobachtung der Gegenstände der Natur entkommen zu sein.8 Denn die Natur lehrt ihn die Objektivität, mit deren Hilfe er sein eigenes Leben ebenso wie die Epoche, die sehr viel zu seiner Bildung beigetragen hat, betrachtet und Revue passieren lässt. Dass die Dichtung über die Wahrheit der Tatsachen gesiegt hat, zeigt vor allem der Titel an, den Goethe gewählt hat. Die Wahrheit ist ein Produkt der Erinnerung. Sie hat sich nur mit Hilfe der Einbildungskraft entwickelt. Die Wahrheit liegt also in der Subjektivität. Die Grenzen dieser Subjektivität sind klar, durch den objektiven Rahmen der Bedingungen, die das Individuum nicht wählen konnte, gekennzeichnet. Goethe suchte nicht den Triumph einer Autonomie des Subjekts, sondern das Gleichgewicht zwischen einer individuellen Freiheit und einer allgemeinen Notwendigkeit. Goethe beschreibt sich selbst tatsächlich mit grosser Bescheidenheit. Er führte den Persönlichkeitskult, den man ihm zuschreibt, nicht ein. Ganz im Gegenteil hütete er sich vielmehr vor einer allzu aufmerksamen, einseitigen und festgehaltenen Introspektion. Dichtung und Wahrheit bleibt die Geschichte einer glücklichen Jugend. Reiseberichte schlossen sich an, ohne dass Goethe eine komplette Geschichte seines Lebens referieren wollte. Und wenn man ihm in seinen Schriften des autobiographischen Genres, denen ein Konfessionscharakter gänzlich fehlt, eine aussergewöhnliche Objektivität konstatiert, bemerkt man, dass die epische Eigenart des Berichts überwiegt. Mehr noch: Bevor er überhaupt die Balance zwischen individueller Besonderheit und eigenem sowie allgemeinem Charakter der Epoche suchte, war er in der Lage, sich selbst als ein Naturphänomen zu betrachten. Andererseits enthalten die eher wissenschaftlich geprägten Schriften über die Natur viele Überlegungen autobiographischer Herkunft. Goethe erörtert oft die persönlichen Umstände seiner Beobachtungen und Entdeckungen. Denn er will das Subjekt angesichts der Naturphänomene nicht auslöschen. Vielmehr besteht er auf der engen Beziehung zwischen der Naturwissenschaft und dem Individuum, das sich mit ihr beschäftigt. Goethe ist das Objekt seiner Erzählung, aber er bleibt Subjekt angesichts der Natur. In dem Ausmass, in dem die subjektiven Beziehungen die Schriften über die Natur charakterisieren, haben die eigentlichen literarischen Werke Goethes die Tendenz, sich zu entpersonalisieren. Jedoch bleibt die Art, sein Leben zu sehen und zu beschreiben, individuell, kein anderer könnte sich dessen jemals bemächtigen. Die Aufgabe bleibt immer schwierig, trotz der sorgfältigsten Kenntnis. Nach einer Überlegung Goethes handelt es sich um die Ambition, sich eine zweite Gegenwart »aus Trümmern von Dasein und Überlieferung« zu verschaffen.9 Man könnte versucht sein, seine Worte als ein für alle Autobiographien gültiges Motto
8. Goethe, Johann Wolfgang von, Italienische Reise, München 1962, S. 189, Bemerkung vom 17. März 1787. 9. Goethe, Johann Wolfgang von, Wiederholte Spiegelungen, in: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 12, S. 323.
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aufzufassen. Sie ist dann wohl kaum die zuverlässige Erzählung eines ganzen Lebens, auch kann sie nicht die Vielfalt eines erfahrenen und erlebten Lebens wiedergeben. Die Autobiographie findet ihre Authentizität und ihre Einheit in der Erzählung selbst, in einem solchen Masse, dass man sich fragen kann, ob das sprechende Ich oder das gewollte Ergebnis die vorausgehende Bedingung dieser erzählten Erkundung der Vergangenheit ist. Wenn das so ist, wird das wiedererlangte Ich weit mehr literarisch und fiktiv als reell sein. In welchem Ausmass, fragt man sich, ist die Autobiographien ebenso wie die sogenannte Identität nur eine faszinierende Konstruktion? Selbst wenn dies der Fall ist, drängt uns die Geschichte der Gattung die Überzeugung auf, dass die Konstruktion notwendig ist.
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Literatur und Politik Gislinde Seybert
Die Epoche begann mit der Zeit des Siebenjährigen Krieges, der den Zerfall des Vielvölkerstaats Österreich durch den Verlust Schlesiens vorbereitete und den Aufstieg Preussens zur militärischen Weltmacht einleitete. Frankreich verlor seine Kolonialgebiete in Nordamerika an England, das zum imperialen Weltreich wurde. Das Ende der Epoche markierte die Konsolidierung der auf dem Wiener Kongress beschlossenen Restauration der alten Monarchien mit dem verstärkten Bündnis von Thron und Altar auch in den protestantischen Ländern. Die revolutionären Hoffnungen auf Öffnung der Presse und Lockerung der Zensur werden sich erst wieder im Frankreich von 1830 durchsetzen mit der Einsetzung von Louis-Philippe als Bürgerkönig. Inmitten der Epoche lag das Grossereignis der französischen Revolution von 1789, das alle europäischen Länder erschütterte und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in allen Ländern verschärfte. Im Verlauf der französischen Revolution setzte sich im politischen Bereich der Zentralismus durch, eine Staatstheorie und -praxis, die die Effizienz der Verwaltung straffte und sich auf die Idee der einen unteilbaren Republik auch in der Sprachenpolitik stützte. Das waren Konsequenzen der Revolution, die sich kaum mit der humanitären Regierungsform vereinbaren liessen, die doch von den Revolutionären beabsichtigt war. Literatur und Philosophie, deren aufklärerische Ideen die Revolution vorbereitet hatten, mussten nach der Revolution erleben, dass die Publikationsmöglichkeiten stärker als vorher beschnitten wurden. Es ist hier nicht der Ort, die Umsetzung der revolutionären Ideen in der Revolutionszeit zu verfolgen. Doch sind Voltaire (1694–1778) und Rousseau (1712–1778), die beiden Antipoden der Aufklärung, geradezu die Säulenheiligen der Revolution geworden, deren Werke bei der Umsetzung in politische Aktion tragisch missbraucht wurden. Voltaires cartesianischer Bezug auf die Vernunft und Rousseaus — die Romantik vorwegnehmende — Beschreibung der Gefühle und Sehnsüchte nach Zuneigung und Verstehen wurden im Missbrauch der Vernunft und in der Steigerung des Gefühls zu Ausbrüchen der Rache und der Zerstörungswut pervertiert. Besonders Rousseaus Tugendbegriff diente dazu, jegliche individuelle Meinungs- und Lebensäusserung terroristisch zu unterdrücken. Die Beeinflussung der öffentlichen Meinung im Hinblick auf Toleranz und menschenfreundliche Herrschaft der Vernunft war in Deutschland hauptsächlich mit Lessing (1729–1781) und in Frankreich mit Voltaire verbunden. Beide gingen aus von Montesquieus (1689–1755) Vorstellung der Gewaltenteilung, die von aufgeklärten Monarchen praktiziert werden sollte. Die Karriere von Beaumarchais (1732–1799) als eines in die Händel der Politik und der Finanzen verstrickten ›homme de lettres‹ zeigt hingegen ein neues Paradigma: Beaumarchais stellt die Vertreter staatlicher Gewalt sowohl in seiner politischen Praxis als auch in seinen Theaterstücken in Frage. In Figaros Hochzeit (1783) sind die entscheidenden, die Sympathie der Zuschauer teilenden Helden die Dienstboten, die sich im Gegensatz zur Standesklausel des klassischen
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Theaters als die erfolgreich Handelnden gegen die unfähigen Herren erweisen. Vielleicht konnte der Hofadel über Beaumarchais‹ Stücke lachen, weil Beaumarchais mit seinen DienstbotenHelden die bürgerliche Klasse übersprang, die sich anschickte, ihre Macht mit der Übernahme der politischen Führung auch institutionell umzusetzen. Seit den sechziger Jahren baute Voltaire kontinuierlich eine intellektuelle Gegen-Macht auf, abgesichert durch die Übersiedlung auf das von Frankreich unabhängige Schweizer Territorium (wie nach ihm Mme de Staël). Das humanitäre Engagement von Voltaire für protestantische Bürgerliche und gegen die katholische Rechtsprechung der ›Parlements‹ (Calas, Sirven u.a.) setzte Beaumarchais in den siebziger und achtziger Jahren fort. Als Financier beteiligte er sich am Sklaven-, Zucker- und Waffenhandel, der durch den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg eine Blüte erlebte. Politisch betätigte er sich als Agent für das Aussenministerium von Choiseul. Mit den Mémoires contre Gözman (1774) gelang Beaumarchais die Entlassung des korrupten ›Conseiller du parlement‹. In der Affäre ›Kornmann‹ erreichte er die Verurteilung eines Ehemannes aufgrund der Beschwerden der Ehefrau. In den Skandal um die ›Compagnie des Eaux‹ war Beaumarchais selbst verwickelt, wurde aber durch Calonne gedeckt. Der Kampf der Aufklärungsphilosophen und -intellektuellen gegen die korrupten Magistratsbeamten der ›Parlements‹ ist infolge der Reformen des Kanzlers Maupeou zunächst erfolgreich; nach der Thronbesteigung Ludwigs XVI. und der Entmachtung Maupeous wurden die Reformen allerdings rückgängig gemacht. Dass Voltaire eine kritische Geschichte der Parlements (Histoire du parlement de Paris, 1769) und die Tragödie Les Lois de Minos (1773) über die Abschaffung der Parlamente schrieb, was man als einen Staatsstreich Maupeous bezeichnete, verdient Beachtung im Hinblick auf die innenpolitische Entwicklung in Richtung Revolution. Mit der Veröffentlichung von L’Ingénu (1767) wollte Voltaire gegen die Willkür der königlichen Lettres de cachet protestieren. Mit der öffentlichen Verteidigung aufrührerischer junger Adliger wie Etallondes’, dessen Freund, der Chevalier de la Barre, 1766 in Arras wegen Blasphemie aufs Rad geflochten wurde, verstärkte Voltaire die Opposition gegen den Absolutismus. Der Fall des Chevalier de la Barre zeigt eine gewisse Nähe zu den Verfolgungen des Marquis de Sade, dessen Vater und Onkel mit Voltaire befreundet waren. Sie müssen von Voltaires Schriften und politischen Einstellung beeinflusst gewesen sein und haben diesen Einfluss wohl an den Sohn und Neffen weitergegeben. Im Gefängnis besass Sade eine kleine Bibliothek, die die damalige Gesamtausgabe von Voltaires Werken enthielt. Die dringend angeforderte Ausgabe von Rousseaus Confessions (1782 / 1788) verweigerte ihm die Gefängnisverwaltung. Voltaire und Rousseau bildeten als Philosophen das Gegensatzpaar, das die Aufklärung bestimmte. Sie wurden alsbald zu Intimfeinden, die sich umso verletzender bekämpften, je besser sie sich kannten. Vereinfacht gesagt steht Voltaire in der Regel für den Rationalismus. Rousseaus ›sensibilité‹ führte hingegen zu einem Erziehungskonzept, das sich im Emile (1762), der von seinem Erzieher ständig, auch im Schlaf, überwacht wird, im Kern als totalitär erwies. Der rousseauistische Naturbegriff wurde zwar zur Grundlage des Naturrechts, war aber missbrauchbar für pseudo-sozialrevolutionäre Bewegungen. Die Fortschrittsgläubigkeit der modernen Naturwissenschaften erhielt ihren Ausdruck mit der Enzyklopädie von Diderot (1713–1784) und d’Alembert (1717–1783). Als das Unternehmen politisch missliebig wurde, schied d’Alembert aus, und Diderot führte es allein zum Erfolg. Die
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Encyclopédie des Arts et Métiers (1751–1780) als enzyklopädische Zusammenfassung des technischen und allgemeinen kulturellen Wissens des 18. Jahrhunderts (d.h. der noch nicht getrennten »Künste und Handwerke«) verstärkte den technischen und industriellen Aufschwung der Epoche. In kritiklosem Optimismus sollten sich wirtschaftliche und technische Kräfte zum Fortschritt in allen Bereichen verbinden: von der Medizin bis zum Eisenbahnbau, dessen unübersehbare Zeichen die Pariser Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts und der Eiffelturm sein werden. Doch es war schon die französische Revolution von 1789, welche die Widersprüche der Philosophie der Aufklärung praktisch austrug. Die anfängliche Revolutionsbegeisterung auch der deutschen Intellektuellen schlug nach der blutigen Radikalisierung in Entsetzen um. Georg Forster (1754–1794) reiste, als Klopstock und Schiller zu Ehrenbürgern der französischen Republik erklärt wurden, als Gesandter der Mainzer Republik, der ersten Republik auf deutschen Territorium, revolutionsselig nach Paris. Seine Briefe aus der Hauptstadt verzeichnen den blutigen Verlauf der Entwicklung von den Septembermorden des Jahres 1792 über die Vernichtung der Girondisten und der Terreur des Wohlfahrtsausschusses bis zur Hinrichtung Dantons, Robesspierres und seiner Montagne-Partei. Schon am 13. April 1793 schrieb Forster, den vorher die Einnahme von Mainz durch die preussische Armee enttäuscht hatte, entsetzt an seine Frau Therese über die Situation in Paris: Je mehr man in die Geheimnisse der hiesigen Intrigue eingeweihet — oder besser, je näher man mit dem ekelhaften Labyrinthe bekannt wird, worin sich hier alles windet und dreht, desto mehr kalte Philosophie bedarf man, um nicht an allem, was Tugend heisst, zu verzweifeln… Es fehlte noch, dass mir die Überzeugung in die Hand käme, einem Undinge meine letzten Kräfte geopfert, und mit redlichem Eifer für eine Sache gearbeitet zu haben, womit es sonst niemand aufrichtig meint, sondern die ein blosser Deckmantel der rasendsten Leidenschaften ist!1
Um den historisch-politischen Kontext von Literatur in der Epoche zu kennzeichnen, will ich Leben und Werk eines französischen und eines deutschen Schriftsteller präsentieren. Der erste ist der Jesuitenschüler de Sade, der sich mit Romanen, Theaterstücken und politischen Schriften vom Hochadel zum Homme de lettres hinab- bzw. hinauf- (in das Reich des Geistes und der Freiheit) katapultiert hatte. Der zweite, Hölderlin (1770–1843), wurde vom renitenten Schüler des Tübinger Stifts, über den Magister der Theologie im Zentrum des schwäbischen Pietismus zum vielleicht bedeutendsten Sprachschöpfer des Deutschen. Seine Hymnen, Gedichte, theoretischen Schriften und nicht zuletzt die Übertragungen aus dem Griechischen wurden von Nietzsche begierig rezipiert. Mit Sade wie mit Hölderlin stehen wir an der Epochenschwelle, die vom Ancien Régime über die Französische Revolution zum Napoleonischen Kaiserreich führte. Insofern kann man sie den ›point de repère‹ der Moderne nennen.
1. Enzensberger, Ulrich, Georg Forster, Ein Leben in Scherben, Frankfurt a.M. 1996, S. 258.
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D. A. F. de Sade (1740–1814) Die radikale Modernität Sades zeigt sich in der provokanten Darstellung des double bindMechanismus, der in der Metaphernsprache der Sexualität die Gewalterfahrung des Individuums und den von der Gesellschaft geduldeten Machtmissbrauch enthüllt. Die Erfahrung, dass die Ordnungen des menschlichen Zusammenlebens scheitern, schlug sich in glühenden Blasphemien gegen einen Gott nieder, der als Garant von Gerechtigkeit dergleichen Ungerechtigkeit zuliess. Die individuelle Sehnsucht nach Freiheit und dem Ende von Unterdrückung wird in einem umfassenden literarischen Vernichtungsrausch ausagiert, der vor der Vernichtung der eigenen Kinder und des ganzen Volkes nicht zurückschreckt. Den üblicherweise den Juden vorgeworfenen Kindermord einschliesslich Brunnenvergiftung lässt Sade von seinen überdimensionalen Libertins und Libertinen begehen. Donatien Alphonse François Marquis de Sade stammte aus mittelalterlichem Adel der Provence und war über seine Mutter mit den Bourbonen verwandt. Er sass in den Gefängnissen von drei Regierungen: in Lyon und Miolans, der Bastille und der Tour de Vincennes, in Sainte Pélagie und Bicêtre; sein Alter und das Ende seines Lebens verbrachte er im Hospice de Charenton. Die Einsperrungen während des Ancien Régime durch Lettres de cachet des Königs (Louis XV und Louis XVI) waren relativ komfortabel, teilweise mit eigenem Diener, eigener Zimmereinrichtung und Bibliothek. Je nach politischer Lage konnten freilich härtere mit milderen Formen der Behandlung abwechseln. Abgesehen von dem später revidierten Todesurteil durch das Parlement d’Aix hatten sie auf weite Strecken den Charakter einer politischen Schutzhaft für einen Deliquenten, der für Kirche, Staat und Familie gleichermassen ein Ärgernis war und daher aus der Öffentlichkeit verbannt werden sollte. Es ist zu vermuten, dass viele Sexualdelikte, dem Zustand der Justiz entsprechend, durch bezahlte Zeugenberichte verschlimmert und zur Ausschaltung von Oppositionellen benutzt wurden. Gilbert Lely gibt schon in seiner Biographie von Sade den Hinweis darauf, dass sowohl das Urteil des Parlement de Paris als auch das Todesurteil des Parlement d’Aix die Unterschrift von Maupeou trugen, des Parlamentspräsidenten und Kanzlers von Frankreich.2 Maupeou war als Präsident des Parlement de Paris politischer Rivale von Sades’ Schwiegervater de Montreuil, welcher der Cour des Aides, einer Vorform des Finanzministeriums, vorsass. Die gerichtliche Verfolgung Sades war das einfachste Mittel, den Rivalen Montreuil zu diskreditieren. Interessanterweise wird die Parlamentsreform, die Maupeou als Kanzler unter Louis XV durchführte, je nach Autor als Staatsstreich oder als Revolution bezeichnet. Dieses Schwanken in der Einschätzung der politischen Ziele Maupeous verweist auf eine gewisse Undurchdringlichkeit seiner Persönlichkeit, der möglicherweise alle Mittel zur Stärkung seiner persönlichen Macht recht waren. Die Parlamentsreform, die der Verbesserung von Missständen dienen sollte, verstärkte jedenfalls die zentralistische Macht der absolutistischen Monarchie und musste von dem schwachen Louis XVI zurückgenommen werden. Dass die Maupeou’sche Reform die Magistratsbeamten entmachtete, deren Ämter in den alten Familien vererbt wurden, bedeutete die Beseitigung einer Cliquen- oder Gerontenherrschaft, die mit Recht und Gesetz nicht viel im
2. Lely, Gilbert, Vie du Marquis de Sade, Paris 1967, S. 98.
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Sinn hatte. Nach seiner Befreiung aus der Tour de Vincennes durch die Aufhebung der Lettre de cachet 1790 bekannte sich Sade zu den Zielen der Revolutionäre und wurde Sekretär der Pariser Section des piques. Wenn er jedoch als Präsident des Revolutionstribunals Todesurteile unterzeichnen sollte, weigerte er sich und gefährdete sich damit selbst. Die Familie de Montreuil, die auf einer Liste zum Tod Verurteilter stand, schützte er vor Verfolgung, obwohl er allen Anlass gehabt hätte, sich für die Verfolgungen durch seine Schwiegermutter, Madame de Montreuil, zu rächen. Als ehemaliger, libertiner Adliger wurde er 1793 von der Revolutionsregierung wieder eingesperrt. Der Hinrichtung entkam er wieder einmal durch die Flucht. Mit der Erklärung Déclaration des droits de l’homme wollten die Revolutionäre eine Welt der Gerechtigkeit gegen die schlechte Praxis des korrupten ›Ancien Régime‹ schaffen. Die neue Gleichheit sollte nur Unterschiede anerkennen, die sich auf die ›Fähigkeiten‹ der Bürger bezogen und die sich als Tugenden und Talente auswiesen. Das alte, auf den Privilegien von Adel und Klerus sowie auf sozialem Einfluss beruhende System sollte zerstört und durch die ausschliessliche Geltung individueller Fähigkeiten ersetzt werden — einem Wert der bürgerlicher Ideologie. Dass Individuen bestimmte Voraussetzungen benötigen, um ihre Fähigkeiten zu entwickeln, geriet der Erklärung der Menschenrechte nicht ins Blickfeld. In seinen Reden vor der Convention und im Jakobinerclub, die in der Regel vom Moniteur universel veröffentlicht wurden, bestand Robespierre (1758–1794), einer der bedeutendsten und zugleich umstrittensten Führer der Französischen Revolution, auf der Tugend als der Grundlage revolutionärer Politik. Im Ton moralischer Entrüstung griff er die Feinde der Republik, die alliierten Monarchien und ihre bezahlten Agenten an. Sein System republikanischer Werte entsprach den Geboten der christlichen Religion — inklusive des Ausschlusses der Ungläubigen. Die Freunde der Republik wurden mit dem ganzen Spektrum der Attribute von Tugend und Reinheit (»vérité pure«, »zèle pure«) identifiziert, während die republikanischen Werte von »liberté, courage, civisme« gleichzeitig als »vertu républicaine« und »vertu civique« bezeichnet wurden. Auf dem Dualismus dieser Welt von Schwarz und Weiss, Gut und Böse kommt das Laster, der Begriff, mit dem die alliierten Monarchien, die das revolutionäre Frankreich bedrohen, gleichgesetzt wurden. Mit anderen Worten: der politische und militärische Antagonismus wird mit dem religiösen und moralischen Dualismus von Gut und Böse, Tugend und Laster gleichgesetzt. Die revolutionäre Ideologie erscheint als Säkularisierung christlicher Mythologie und gleichzeitig als ›Renaissance‹ der römischen Tradition. Republik und ›Vater‹land wurden in quasi-religiöser Weise mit dem Ideal der Tugend und heroischer Männlichkeit verbunden. Die lateinische ›virtus‹ bedeutete Tugend und Tapferkeit bzw. Tugend durch Tapferkeit. Robespierre, dessen Stil und Rhetorik von antiker Geschichte und Mythologie geprägt waren, personifizierte die Laster als Götter des Stolzes und der Ausschweifung. Auch die Tugend wurde als Person angesprochen und als mächtige Göttin verehrt: O vertu des grands cœurs! que sont devant toi toutes les agitations de l’orgueil et toutes les
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Gislinde Seybert prétentions des petites âmes! O vertu, es-tu moins nécessaire pour fonder une république que pour la gouverner dans la paix?3
Nach Robespierre bestimmt Tugend das Verhalten des niederen Volkes, dessen Armut zwangsläufig zu Bescheidenheit und Unwissenheit führe. Im Gegensatz dazu stimme das Laster überein mit Reichtum, Wollust, Untreue und Verbrechen; das heisst die Reichen werden moralisch verurteilt. Sie brauchen angeblich die moralischen Gesetze nicht zu befolgen, da sie sich Freiheit und Immunität erkaufen können. Robespierre versah die niederen Klassen, die von der republikanischen Regierung profitieren wollten und deren Unterstützung er gewinnen wollte, mit dem lobenden Prädikat der Tugend; während die höheren Klassen, die die Herrschaft der Tyrannen (die Monarchie) akzeptieren, als lasterhaft getadelt und als Feinde der Republik denunziert wurden. Mithilfe moralischer und religiöser Begriffe (Tugend und Laster, gut und Böse) sollte also politische Praxis begründet und motiviert werden. Diese Unterscheidung führte in der politischen Argumentation zu einer Freund-Feind-Rhetorik, die die Politik der Revolutionsregierung argumentativ trug; die politische Praxis erwies sich allerdings als weniger trennscharf. In der bereits zitierten Rede denunzierte Robespierre all jene, die die Gegensätze verwischen als: »des sophistes stupides ou pervers qui cherchent à confondre les contraires.«4 Interessant ist die Konstruktion, die Dummheit mit Perversion gleichsetzte und mit dieser Gleichsetzung sodann die moralische und physische Auslöschung von Menschen rechtfertigte. Die politische Praxis der wachsenden ›Terreur‹ bedurfte klarer Unterscheidungskriterien zwischen republikanischen Bürgern und monarchistischen Agenten. Der Höhepunkt der ›Terreur‹, der gleichzeitig Höhepunkt der Unsicherheit, Korruption und Denunzierung war, sollte eine grosse Anzahl von Opfern fordern. Schliesslich mussten auch die führenden Köpfe der ›Montagne‹ (mit Robespierre selbst) das Scheitern ihrer Politik mit dem Leben bezahlen. Diese Rhetorik der Aufklärung und der Revolution beeinflusste Sade bei der literarischen Erfindung einer neuen Moral. Die neunziger Jahre hindurch arbeitete er unermüdlich an immer neuen Fassungen und Erweiterungen der Romane Justine (1791) und Juliette (1790); die Begriffe Tugend und Laster gingen in den Titel ein: Justine ou les malheurs de la vertu und Juliette ou les prospérités du vice. Beide Romane können als Antwort auf die revolutionäre Politik verstanden werden. Sades Umkehrung von Tugend und Laster, in der Laster und Verbrechen die höchsten Werte darstellen, wirkt insbesondere heute in einer Welt, in der das Unterste zu oberst gekehrt ist, einer ›verkehrten Welt‹ der ›Karnevalisierung‹. Adjektive mit positiver Bedeutung wie »malheureux« und solche mit negativer Bedeutung wie »exécrable, impudent, scélérat« werden in einer zur christlichen Moral konträren Perspektive verwendet und verwirren damit das moralische und affektive System der Lesenden. Sie geben Sades Texten die Wirkung von emotionalem Terror. Die Moralisierung der Politik, die die Reden Robespierres und anderer Revolutionäre eher Predigten gleichen lässt, provozierte Sades Reaktion nicht nur auf die revolutionäre Phraseologie sondern auch auf die ihrer klerikalen Vorgänger, von denen sie sich doch absetzen wollte. Die revolutionäre Politik hatte ihr Ziel, mehr Gerechtigkeit in einer besseren Welt zu erreichen, verfehlt, zumindest zu Lebzeiten von Sade. Schon die
3. Robespierre, Maximnilien, Textes choisis, Poperen, Jean (ed.), Paris 1974, Bd. III, S. 110. 4. Ibid., S. 100.
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vorrevolutionäre Situation wirkte auf die privilegierten Klassen wie eine Welt, in der das Unten zum Oben wurde, ganz zu schweigen von den Ereignissen während der Revolutionszeit, die zeitweilig einem kollektiven Wahnsinn glichen. Die literarische Reaktion Sades auf solch eine Welt bestand in der Erfindung einer bewusst phantasmagorischen Welt, die den Mächtigen unbeschränkte Verfügungsgewalt über die Schwachen gibt, ohne jede Einschränkung durch das Gesetz. Die lange Isolation im Gefängnis und die unvergleichliche Veränderung der äusseren Welt müssen einen bedeutenden Einfluss auf Sades Bewusstsein wie sein Unbewusstes ausgeuebt haben, so dass er imstande war, Phantasien von archaischer Regression zu produzieren und die Normen des Über-Ich in Frage zu stellen. Die Desintegration von Ich und Über-Ich erzeugen die Identifikation des Ich mit dem Aggressor und setzen die sadistische Straflust des Über-Ich und die masochistische Lust des Ich am Bestraftwerden frei; d.h. das Über-Ich fungiert durch die hohe libidinöse Besetzung und die damit verbundene Entwertung des Ich nur noch sadistisch. Sades Angriff auf jede Art von rechtlicher und religiöser Beschränkung, die er mit der Figur des Libertin verband, ist als rational und emotional motivierter Widerstand gegen Unterdrückung und Einsperrung allerdings auch ohne tiefenpsychologische Begründung verständlich. Der Begriff der Tugend spielte als säkularisierter religiöser Wert in Literatur und Politik der Französischen Revolution eine hervorragende Rolle. Er wurde an dieser Schaltstelle der Geschichte, die die Ambivalenz der ›Modernen Zeiten‹ einleitete, ausgeschöpft und erschöpft. Zentralisierung in allen Bereichen, Säkulärisierung der staatlichen Institutionen und des Erziehungswesens, angeblich freier Zugang zu den einflussreichen Positionen, individuelle Freiheit bei gleichzeitiger Bedeutungslosigkeit des Individuums, Bürokratisierung und Rationalisierung der Produktion setzten sich als ›Bürgertugend‹, ›vertu civique‹, durch. Im Namen der Tugend wurde von den Individuen soziale Integration durch fremdbestimmte Selbstkontrolle erzwungen, wenn es an den ›Segnungen‹ der Gemeinschaft, und das heisst der Zivilisation, teilnehmen wollte. Tugend als politischer Begriff, der gute von schlechten Bürgern unterscheidet, wurde von den klerikalen Einrichtungen auf die revolutionären Institutionen der ›Convention‹, des ›Comité de salut public‹, des ›Comité de sûreté générale‹ und des ›Tribunal révolutionnaire de Paris‹ und auf dessen Chefankläger Fouquier-Tinville übertragen und geriet somit zur handlungsrelevanten Konzeption. Das ›Comité de sûreté générale‹ stellte Pässe, Bürgerschaftszertifikate und Haftbefehle aus. Die revolutionäre Institution war die Instanz, die die Anerkennung des Menschen als Staatsbürger bestimmte, indem sie öffentlich seine Tugend bescheinigte. Während der Zeit der ›Terreur‹ wurde diese Anerkennung zu einer Angelegenheit von Leben und Tod. Die Institution kontrollierte Denken und Fühlen der Individuen durch die immer mögliche Verweigerung des Etiketts der Tugend. Mit der Französischen Revolution wurde Kontrolle und Fremdbestimmung als Entfremdung ins Innere des Menschen verlagert, wodurch die Selbstkontrolle als Vorbedingung des Überlebens ins Unbewusste eingeht. Die ambivalente Wirkung der Französischen Revolution, um deren Erbe sich die politischen Gegner streiten, führte einerseits zur Staatsform der Republik, die die Menschenrechte zwar proklamiert, aber nicht verwirklicht, andererseits zur Entfesselung der Produktivkräfte, die das 20. Jahrhundert vorbereitete und das Individuum auf seine ökonomischen Funktionen reduzierte. Sade erkannte als der ewige Kriminelle aller Regierungsformen nicht nur die Gefahr, die
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von der falschen Anwendung der Begriffe von Tugend und Laster ausgeht, sondern auch die unvermeidliche Ungerechtigkeit, zu der die Denunziation und der Ausschluss aus der Gemeinschaft der Bürger führt. Er erfuhr das neue politische System, das auf dem Naturrecht gründen sollte, nur als andere Form der Ungerechtigkeit, setzte ihn doch das Revolutionstribunal als radikalen Gegner der Todesstrafe auf die Liste der zum Tod Verurteilten — trotz seines Dienstes an der Revolution in der ›Section des Piques‹. In unendlichen Erzählungen des Schreckens drückte er seine Verachtung für jede soziale Organisation aus, die auf Gesetz und Strafe basiert, indem er deren Normen umkehrte und damit seine weitere Verfolgung provozierte. Das Begehren, das Sade in seinen Texten beschreibt, ist die andere Seite des Gesetzes, das die Tugend vorschreibt. Als Folge des Verbots begehrt das Individuum die Freiheit von erstickenden Normen. Nach Lacan (1901–1981) ist das Begehren der Freiheit erstmals in der Französischen Revolution aufgetreten, da diese dem Willen entsprungen sei, für die Freiheit des Begehrens zu kämpfen. Robespierres Forderung nach Tugend trug über Dantons Kampf für eine Freiheit des Begehrens zunächst den Sieg davon. (Dantons Freiheitsdurst schien sich am Ende in der Akkumulierung von Reichtum zu erschöpfen.) Schliesslich siegte über beide die Gruppe, die den kollektiven Konsens durch den Einsatz von Gewalt erzwang. Pierre Klossowski behandelt das Problem der revolutionären Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in seinem Essay Sade et la Révolution. Im vierten Kapitel mit dem Titel De la société sans Dieu à la société sans bourreau führt er das Beispiel der aufständischen Sklaven an, die vorgeben, eine Gemeinschaft der Schuldlosen zu errichten. Als Referenz zitiert er Robespierres Rede zum Prozess des Königs: Lorsqu’une nation a été forcée de recourir au droit d’insurrection, elle rentre dans l’état de nature à l’égard du tyran. Comment celui-ci pourrait-il invoquer le pacte social? Il l’a anéanti: la nation peut le conserver encore si elle le juge à son propos.5
Die Revolutionäre, die für den ›Königsmord‹ verantwortlich waren, hatten Schwierigkeiten, das neue revolutionäre Gesetz zu begründen, da der König als Verkörperung von Gesetz und Gerechtigkeit galt. Mit der Eliminierung des Königs hatten sie die weltliche Gewalt und das heisst die Gewalt ›tout court‹ von jedem transzendenten Prinzip getrennt und damit nicht nur, wie Sade in seinen theoretischen Schriften ausführt, die Relativität aller menschlichen Werte bewiesen, sondern auch die Schuld jener, die im Namen der neuen Machthaber Recht sprachen. Das in La Philosophie dans le Boudoir (1795) eingefügte Pamphlet Français, encore un effort si vous voulez être républicains schien die revolutionären Werte von 1789 in Frage zu stellen, indem es sie propagierte. Klossowski nimmt an, dass Sade bereit war, die Philosophie der Aufklärung zu übernehmen, um ihre dunklen Ursprünge zu enthüllen. Horkheimer / Adorno haben in der Dialektik der Aufklärung die Positionen der Aufklärung in vergleichbarer Weise kritisch reflektiert. Klossowski führt aus, dass Sades politischer Nihilismus dem kollektiven Prozess der Epoche entsprochen und seine Apologie des Verbrechens versucht habe, den politischen Instinkt zu pervertieren, der immer der Instinkt der Selbsterhaltung des Kollektivs sei. Ein Volk vernichte diejenigen, die sich diesem Instinkt feindlich entgegenstellen mit tiefster
5. Klossowski, Pierre, »Sade et la Révolution«, in: Œuvres complètes du Marquis de Sade, Paris 1973, Bd. 3, S. 76.
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Befriedigung. So verwechsle es mit Leichtigkeit Grausamkeit und Gerechtigkeit und erfinde die Rituale, mit denen es das Schaffot umgibt. Car le peuple se livre à l’extermination de ceux qui lui sont contraires avec une satisfaction profonde; la collectivité fait toujours ce qui lui est nuisible à tort ou à raison et c’est pourquoi elle peut confondre […] la cruauté et la justice sans en éprouver le moindre remords, les rites qu’elle est susceptible d’inventer au pied de l’échafaud la libérant de la cruauté pure dont elle sait travestir la figure et les effets.6
Aus der Sicht Klossowskis denunzierte Sade die dunklen Mächte, die den gesellschaftlichen Werten zugrundeliegen und die mit Mechanismen der kollektiven Abwehr maskiert werden. devons-nous lui (Sade) attribuer une fonction dénonciatrice des forces obscures camouflées en valeurs sociales par les mécanismes de défense de la collectivité.7
In Deutschland verfolgten Klopstock, Herder und die Weimarer Klassiker die revolutionären Ereignisse zunächst mit begeisterter Zustimmung, später mit Entsetzen. Für die Entwicklung einer demokratischen Gesinnung in Deutschland, besonders im 19. Jahrhundert, kann die Wirkung der Dramen Schillers nicht hoch genug angesetzt werden. Hinter dem grossen Erfolg der Räuber (1782 UA) mit ihrem Motto In tyrannos blieb allerdings Die Verschwörung des Fiesko zu Genua (1783 UA) weit zurück — trotz der gleichen Haltung: »Wer soll fallen?« — »Die Tyrannen« (III,5). Der Misserfolg hing wohl mit der differenzierteren Problematik des Stücks zusammen, die dem positiven Helden, dem strengen Republikaner Verrina, nicht die gleiche zentrale Stellung in der Handlung zukommen liess wie dem Karl Moor der Räuber. Arthur Kutschers Gleichstellung von Karl Moor, Fiesko und Wallenstein als »erhabene Verbrecher« muss jedenfalls widersprochen werden, sind doch Fiesko und Wallenstein in Motivation und Handeln als Renaissance-Machtmenschen deutlich vom Räuberhauptmann unterschieden. Sie eignen sich nicht als Vorkämpfer demokratischer Gesinnung,8 da ihr Machtstreben vom Gemeinwohl unabhängig ist und keine sittliche Vermittlung (wie in den Räubern) bietet.
Hölderlin Hölderlins Sehnsucht nach Freiheit hatte eine andere Ausrichtung. Die intensiv durchgearbeitete Sprache, insbesondere der Syntax, transportiert einen kindlichen Glauben an die Allmacht der »Himmlischen Götter« und damit eine in die Antike zurückverweisende Utopie, die die Moderne nicht einlösen konnte. Hölderlins Sprache schraubt sich in immer neuen Ansätzen und syntaktischen Verschränkungen zum unerreichbaren blauen Äther der Freiheit und Offenheit empor, die zunächst nicht nur geistig gemeint sind.
6. Ibid., S. 86. 7. Ibid., S. 87. 8. Kutscher, Arthur (ed.), Schillers Werke, Bd. 4, S. 15.
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Hölderlin unter den Deutschen (Robert Minder)9 und Der arme Hölderlin (Gerhard Wolf)10 sind Titel der neueren Hölderlin-Forschung, die auf den Umgang der Deutschen mit ihrem grössten Dichter verweisen. Während der Verfolgung und Verhaftung seines wohl engsten Freundes Isaac von Sinclair wegen republikanischer Aktivitäten und der Teilnahme am Rastätter Kongress (Hochverrat) war Hölderlin selbst aufs Äusserste gefährdet. Die ›geistige Umnachtung‹ kann sich sehr wohl aus einer Verwirrung durch die Gefahr an Leib und Leben entwickelt haben, die selbst in Homburg, wo er durch den Fürsten einigermassen geschützt war, durchaus real war. Präzedenzfälle gab es genug, wie in deutschen Ländern mit oppositionellen Geistern umgesprungen wurde; in Württemberg, Hölderlins Heimat, waren Schubart und Schiller die prominentesten unter den Verfolgten. Der Freitod seines Verlegers und Freundes Stäudlin (drei Jahre nach dessen Ausweisung aus Württemberg), der Mittelpunkt eines Kreises von kritischen Geistern war, machte Hölderlins Möglichkeiten der Veröffentlichung in einer wichtigen Phase seiner Entwicklung zunichte. Stäudlin hatte in seinem Musenalmanach für die Damen der höheren Stände mehrere Tübinger Hymnen Hölderlins gedruckt. Auf der frühen Reise in die Schweiz (1791) mit Hiller und Memminger besuchten die Freunde den Theologen und Physiognomen Lavater. Die Schweiz stand für die Zeit der Französischen Revolution als Land der Freiheit, in dem sich Arkadien und Freiheitskampf vorbildhaft verbanden. Lavater hatte die Französische Revolution zunächst wie andere Prominente des Geisteslebens (Klopstock, Schiller) enthusiastisch begrüsst, sich jedoch im späteren Verlauf enttäuscht abgewandt. Lavaters Schriften standen in enger Verbindung mit dem schwäbischen Pietismus (Genie-Theorien, Zentralfeuer).11 Nach der Abreise Hölderlins 1801 nach Bordeaux, die durchaus die Züge einer auch politisch motivierten Flucht nach der Trennung von Suzette Gontard trug, wurden ausser Isaac von Sinclair mehrere seiner Homburger Freunde (Emerich 1802, Böhlendorf 1803, Schmid 1806) für wahnsinnig erklärt — wohl in gleicher Weise zum Schutz der Betroffenen, wie es für Hölderlin vermutet wird. Durch die Verhaftung und den Hochverratsprozess von 1805 gegen Sinclair waren sie wohl alle gefährdet.12 In der Dichtung Hölderlins lässt sich der Augenblick ablesen, an dem der Bruch geschieht und das Ich sich »ganz ins Innere hinein« wendet. Als die Umsetzung der Utopie gescheitert war, wurde der Augenblick der Enttäuschung festgehalten. Diotima, des Dichters intimste Figur, verkörpert sein höchstes Ideal. Sie lässt sich sterben, nachdem sie durch den (vermuteten) Tod des Geliebten hindurchgegangen ist. Auch dessen Lebenszeichen ändert nichts mehr. Sie stirbt Hyperion nach, wenngleich dieser überlebt. In dieses Tod /Leben-Paradox verschlüsselt Hölderlin seinen vernichteten Glauben an aktive Änderung. In der Zeit der Abfassung des ersten HyperionFragments, um 1794, waren die Würfel schon gefallen, das Scheitern der idealen Vorstellungen in der Französischen Revolution evident. Die Revolutionsheere waren als »Räuberbanden« der Menschheitsbefreiung entlarvt, trotz Hölderlins zeitweiliger Napoleonbegeisterung.
9. Minder, Robert, ›Hölderlin unter den Deutschen‹ und andere Aufsätze zur deutschen Literatur, Frankfurt a.M. ²1970. 10. Wolf, Gerhard, Der arme Hölderlin, Darmstadt ²1985. 11. Häussermann, Ulrich, Friedrich Hölderlin in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1977, S. 64. 12. Ibid., S. 125.
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Ein Leben in Knechtschaft erlaubt keine Liebe. So wär es hier im höchsten Sinne wahr …., dass ohne Freiheit alles tot ist.13
Diotimas Erkenntnis ist die Erkenntnis Hölderlins: O es ist so ganz natürlich, dass du nimmer lieben willst, weil deine grösseren Wünsche verschmachten. Ich wusste es bald, ich konnte dir nicht alles sein.14
Wenn Hölderlin im Hyperion (1798–1799) das Scheitern der Liebe mit dem Scheitern politischer Aktivitäten verknüpfte, so tat er das, bevor er selbst das Scheitern der eigenen politischen Ideale und den Verlust der persönlichen Freiheit in der Tübinger Irrenanstalt erleben musste. Das endgültige Zerbrechen aller Wünsche kam zum Ausdruck in dem ständig wiederholten Ausruf, der als Ausweis der Verrücktheit überliefert und als Erkenntnis der tödlichen Bedrohung zu verstehen ist: Ich will kein Republikaner mehr sein.
In der Rezeptionsgeschichte wurde Hölderlins Dichtung als Innerlichkeit mit dem Prädikat Tatenarm, doch gedankenvoll15
versehen. Die Not der erzwungenen Wendung nach innen, die auch als stummer Protest des sanften Hölderlin verstanden werden kann, wird mit dem Begriff der Flucht in die Innerlichkeit verkannt. Wo kein Aussen mehr möglich ist, verschliesst sich das Ich zum Schutz in sich selbst. Die Wendung nach innen ist im Pietismus geistesgeschichtlich angelegt, die Entwicklung zur beschränkten Selbstgerechtigkeit und zur sozialen Durchsetzung der Triebfeindlichkeit schon vor Hölderlin vollzogen. Die entsetzliche, von Adorno so genannte »Fügsamkeit« Hölderlins,16 die insbesondere in den Briefen an die Mutter schmerzhafte zum Ausdruck kommt, mündete nach dem endgültigen Abgeschnittenwerden vom »Grösseren« in der »geistigen Umnachtung«. »Das Grössere«, eine von Hölderlin oft gebrauchte Formulierung, ist wohl als gleichbedeutend mit der Unbestimmtheit der Wünsche und Utopie zu verstehen (auch in Brod und Wein und passim). Die Erfahrung, dass die Welt nicht so ist, wie sie in tradierten Wert- und Normvorstellungen vermittelt wurde, hatte ihn zum Anhänger von Rousseau17 und der französischen Revolution schon im Kreise der
13. Hölderlin, Friedrich, Hyperion, in: Sämtliche Werke, Berlin / Darmstadt 1960, S. 542. 14. Ibid., S. 531. 15. Mörchen, Hermann, Adorno und Heidegger. Untersuchung einer philosophischen Kommunikationsverweigerung, Stuttgart 1981, S. 456. 16. Adorno, Theodor W., »Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins«, in: Noten zur Literatur III, Frankfurt a.M. 1961, S. 189. 17. Cf. das Gedicht Rousseau, in: Hölderlin, Friedrich, Sämtliche Werke, op. cit., S. 226.
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Tübinger Stifts-»Brüder« gemacht.18 Das Losungswort von der »unsichtbaren Kirche« verband die Stiftsbrüder schon früh als geistiges Band. Von Herder über Schiller erreicht es die Stiftszöglinge Hegel, Schelling und Hölderlin. Die Disziplinierung erfolgte, als die Betroffenen siuch weigerten zu widerrufen. Die Verweigerung der Unterwerfung bei äusserer Fügsamkeit, erkennt Adorno in der sprachlichen Struktur der Hölderlin’schen Dichtung wieder. In seinem Aufsatz Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins von 1964 reagiert Adorno auf Heideggers Hölderlin-Erläuterungen und die »Attraktion, die Hölderlins Hymnik auf die Seins-Philosophie ausübt«.19 Hölderlins Parataxe als reihende Technik führt Adorno auf in Hölderlins Geist angelegte Verhaltensstrukturen zurück. Die Parataxe als »Auflehnung wider die Synthesis« und gegen die »synthetische Funktion von Sprache überhaupt« umgeht nach Adorno die zwanghaften Formen, die in der Sprache angelegt sind. Ob sich Hölderlin dieses seines sprachlichen Verfahrens bewusst gewesen ist oder nicht, auch ob die als »angelegt« postulierten »Verhaltensstrukturen« bewusst waren oder nicht, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Ich würde sie beiden Bereichen zuordnen, dem Bewusstsein und dem Unbewussten, da die Grenzen fliessend sind und der Akt des Dichtens aus beiden gespeist wird. In diesen Zusammenhang gehört auch die ›Passivität‹ und ›Objektivität‹ Hölderlins, die es vermeidet, sich auf Subjektivität reduzieren zu lassen. Die dichterische Welt Hölderlins, gespannt zwischen den ›Sterblichen‹ und den ›Himmlischen‹, umfasst das ganze Spektrum der Gefühle, des Leidens an der Welt und der Freude in der Welt. Die Metaphorik der Offenheit und der Freiheit, das »Komm ins Offene, Freund« (Hyperion) wie das Ihm zeigt ein Gott ins Freie (Rousseau-Gedicht) verbindet Welt und Über-Welt zum idealen vor-sokratischen Kosmos. Die Entwicklung in der Dekade von 1790 bis 1800 beginnt mit der Hymne an die Unsterblichkeit von 1790, deren erste Strophe die unverhüllte Revolutionsbegeisterung im Aufstand gegen die »Despoten, Tirannenketten und jeden Fürstenknecht« ausdrückt — verbunden mit der kriegerischen Begeisterung »Muthig, bis die Heldenarme splittern«.20 Das Gedicht Tod fürs Vaterland führt die patriotische Thematik weiter über den Hyperion und Empedokles (entstanden 1797–1800) bis zu dem Entwurf Das untergehende Vaterland, das im Manuskript im Wechsel mit dem Plan zur Fortsetzung des Empedokles steht. Der frühere Titel Das Werden im Vergehen ist ein Beispiel für die entpolitisierende Rezeption, die vor Textfälschungen nicht zurückschreckte. Die Hymne an die Unsterblichkeit ist von Neuffer in einer zweifelhaften Fassung 1832 veröffentlicht worden. Die erste Strophe ist jedoch authentisch und durch ein HölderlinManuskript gesichert.21 Der Entwurf Das untergehende Vaterland zeigt in vorbildlicher Weise die Entwicklung der geschichtsphilosophischen Reflexion ausgehend von der Lebenserfahrung der Heimat, die in Gedichten wie Heimkunft / An die Verwandten, Der Rhein und der Patmos-Hymne weitergeführt
18. Wolf, Gerhard, Der arme Hölderlin, op. cit., S. 175. 19. Adorno, Theodor W., »Parataxis«, op. cit., S. 162. 20. Hölderlin, Friedrich, Sämtliche Werke, Kritische Textausgabe, Sattler, D.E. (ed.), Darmstadt / Neuwied 1979, Bd. 7, S. 48. 21. Ibid., Bd. 2, S. 47.
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wird. Der Aufsatz Das untergehende Vaterland ist aufgebaut auf der Dichotomie von alt und neu, alt und jung. Die Hoffnung des Dichters richtet sich auf den Untergang oder Übergang des Vaterlandes.22 Das neue, jetzt wirklich gewordene Leben soll aus der Auflösung des Alten entstehen, aus dem eigentümlichen Charakter der Auflösung zwischen Sein und Nicht-Sein. Überall wird das Unmögliche real und das Wirkliche ideal als ein »furchtbarer aber göttlicher Traum«.23 Die Vermischung des Irdischen mit dem Göttlichen zeigt sich in der Durchdringung der Gegensätze von Schmerz und Freude, Streit und Frieden, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Ungestalt. Die idealische Auflösung ist als Hölderlins geschichtsphilosophisches Vermächtnis, als Ankunft des kommenden Gottes zu verstehen, die er in Heimkunft ins Individuelle der persönlichen Freude gewendet und im Land seiner Geburt und Kindheit (Süvien) lokalisiert hat. Insofern ist seine Utopie beheimatet. Die das Werk Hölderlins bestimmende Gräkophilie ist zu verstehen als Flucht vor den geistlosen Philistern, die die Ordnung der Verhältnisse bestimmen. Der Dichter als Priester führt mit seiner Rätselsprache in die Geheimnisse einer Spiritualität des Untergrunds (Underground) ein, die historisch anschliesst an Freimaurertum und Rosenkreuzer. Mit seiner Dichtung öffnet Hölderlin eine andere Welt für die Eingeweihten, die einer neuen Religion und neuen Göttern in der Verbindung von antikischem Dionysos mit dem christlichen Erlöser dienen. Religionsgeschichtlich ist die Verbindung von Dionysos und Christus unbestritten, Traube und Weinstock sind auch Attribute von Christus.
Von der Gothic Novel zu Lord Byron (1788–1824) Wordsworth (1770–1850) und Coleridge (1772–1834) waren beide beeinflusst von revolutionärem Gedankengut. Das spezifisch Neue an den 1798 veröffentlichten Lyrical Ballads war die im Rückgriff auf die volkstümliche Balladenform gestaltete Poesie der bäuerlichen Lebensform. Lord Byron, den ich nach Sade und Hölderlin in den Vordergrund dieser vergleichenden Untersuchung stellen möchte, äusserte sich abfällig über diese Lake Poets. Seine Fortführung der mystischen Traditionen von John Milton (1608–1674) und William Blake (1757–1827) gipfelte im Satanismus, der bestimmend wurde für die schwarze Romantik von E. A. Poe (1809–1849) und Baudelaire (1821–1867). Die Gothic Novel artikulierte schon eine Kritik an den nicht nur psychologischen Verbrechen der Institution Kirche, die die Gläubigkeit missbraucht habe. Der Mönch, der eine Frau verführt, missbraucht und vergewaltigt, war eine ihrer wichtigsten Figuren neben dem Wanderer, dem Vampir und dem Sucher nach der verbotenen Wahrheit. In der Gothic Novel, die in den meisten europäischen Ländern weite Verbreitung fand, werden tiefliegende Ängste thematisiert, die in der Verbindung von Schönheit und Schrecken zum Ausdruck kommen. Schon bei Blake ist deutlich, dass diese Ängste aus einer Verfassung der Gesellschaft entstanden, die auf der Trennung der Klassen und Geschlechter basierte. Die von Schiller in den Räubern explizit politisch begründete Position des Aussenseiters, des Outlaw, ist
22. Ibid., Bd. 14, Zeile 5 / 6, S. 140. 23. Ibid., Bd. 14, S. 144.
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den obengenannten Figuren gemeinsam. Vielleicht ist die Gothic Novel diejenige Gattung, die in den Kernländern Westeuropas wie England, Frankreich und Deutschland wichtige Vertreter fand. Lord Byrons Cain (1821) verherrlicht das Prinzip des Bösen und bereitet das Verständnis für den abtrünnigen Engel vor, das die französische Romantik schon vor Baudelaire bestimmt (cf. Vignys Eloa). Die Gothic Novel be- und verarbeitete die Ängste, die im kollektiven Bewusstsein durch tiefgreifende Veränderungen der Gesellschaft entstanden. An dieser Gattung zeigt sich, wie Literatur auf sozial- und individualpsychologischer Ebene in Produktion und Rezeption kathartisch wirksam werden konnte. David Punter charakterisiert die Gothic Novel als die Gattung, in der das Unvorstellbare vorgestellt wird, »[…] a way of imagining the unimaginable.«24 Das ›Gothic‹ überschritt nicht nur die Grenzen der Gattung des Romans, sondern prägte auch die Lyrik. Es griff in die Tiefen der Geschichte ebenso wie in die Tiefen des Unbewussten zurück. Im Schrecken vor dem Verfolger wird die Todesangst wiedergeweckt, die das Kind vor der archaischen Macht der Eltern und später der Erwachsene vor der Allmacht von Staat und Gesellschaft durchlebt. Die Zeit der ›Terreur‹ war der historische Augenblick, in dem das Ausgeliefertsein des Individuums an die atavistischen historischen Kräfte am deutlichsten wurde und keine Partei vor Verfolgung geschützt war. In der Griechenbegeisterung, die bis zur Gräkomanie ging und deren utopischen Gehalt Goethe im persischen Orient wiederfand, trafen sich Hölderlin und Lord Byron. Der Ort scheint austauschbar: Italien, Griechenland, Ägypten, Persien, naher und ferner Orient. Für Hölderlin ist er das Vaterland im allgemeinen bis zum Süvien der Kindheit. Diese Utopie zieht die psychische Energie der Imagination und Sehnsucht an sich. Dass Italien in der Gothic Novel das Land wurde, aus dem der Verfolger kommt (Radcliffes The Italian (1797)), bestätigt die Ambivalenz der psychischen Attraktion. Was anzieht, macht gleichzeitig Angst. So verschob die Gothic Novel die Vaterlands- bzw. der Paradieses-Sehnsucht auf die individualpsychologische Ebene der Liebes-Suche und des Schreckens, wenn sich der vermeintliche Liebhaber als Verfolger herausstellt. Das Aufbrechen des Schreckens im Alltäglichen war eines der wirkungsvollsten Verfahren der Gothic Novel. In der Person von Lord Byron sind, wie bei Rousseau und vielen nachfolgenden Romantikern, Leben und Werk untrennbar verbunden. Der Byronsche Held, Nachkomme aus Ann Radcliffes (1764–1823) Gothic novel, dessen Stolz und Melancholie zynisch reflektiert sind, galt als erste gesamteuropäische Kunst- und Kultfigur. Von seiner ersten Mittelmeer- und Orientreise kam Byron mit den ersten Teilen von Childe Harold’s Pilgrimage zurück, deren Veröffentlichung im März 1812 ihn mit einem Schlag berühmt machte. Die Griechenbegeisterung ist im zweiten Canto in unsterblichen Versen verewigt. Byron ist der Engländer, der die persönliche und politische Freiheit zu Beginn des Jahrhunderts optimal zu nutzen verstand. Wenn man seine Griechenbegeisterung mit derjenigen Hölderlins vergleicht, so kann man vielleicht sagen, dass sie bei Hölderlin — trotz der Genialität des sprachlichen Entwurfs — im Kopf stecken bleibt, während Byron sie in politische Aktivität umsetzt. Das Gefangensein in den deutschen Duodezfürstentümern war für Hölderlin auch geistige
24. Punter, David, The Literature of Terror, London 1980, S. 111.
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Gefangenschaft, aus der er sich mental nicht zu befreien vermochte. Die Reise nach Bordeaux scheiterte kläglich. Zerlumpt und gebrochen kehrte er in die Heimat nach Nürtingen zurück und die Nachricht von Suzette Gontards Tod erreichte einen durch die Trennung schon Verstörten. Die zeitliche Nähe von Hölderlin und Lord Byron verblüfft. Hölderlins frühes Scheitern scheint auch mit dem Unverständnis und der mangelnden Unterstützung durch den Weimarisch-Jenär Kreis zusammenhängen. Ein in Jena ansässiger und akzeptierter Hölderlin hätte nicht das württembergische Inferno durchleiden müssen. Byrons Weltläufigkeit steht der Hölderlin-Sehnsucht nach Heimat gegenüber. Das Griechentum Hölderlins war ein geistiges, das nicht in die Verwirklichung auszugreifen wagte. Der Hyperion hatte den Lebenskreis Hölderlins bereits ausgeschritten. Die letzte grosse Reise, von der er nicht mehr zurückkommen sollte, trat Byron 1816 nach der Niederlage Napoleons an. Jetzt ist der Kontinent für die Durchreise frei. Nach der gescheiterten Ehe und dem Skandal, den die Beziehung zur Halbschwester auslöste, macht Byron das Exil zur letzten Chance seines Lebens. Während des Aufenthalts am Genfer See schrieb er sein erstes grosses politisches Gedicht als Eingangssonett zu The Prisoner of Chillon (1816): Eternal Spirit of the chainless Mind! Brightest in dungeons, Liberty, thou art! For these thy habitation is the heart The heart which love of thee alone can bind, […]25
Fast gleichzeitig schrieb er sein erstes Drama Manfred (1834 UA), beeindruckt von Goethes Faust, Erster Teil, dessen Übersetzung Shelley ihm vorlas. Manfred steht als grosses Gedicht über die menschlich-männliche Identität in einer Reihe mit Hamlet, Werther, Oberman, Faust und René. George Sand schrieb in den Dreissiger Jahren die weibliche Fassung mit Lélia. Als er die Alpenwelt idealisierte, übernahm Byron das Freiheitspathos der Schweizerischen Republik und der Schillerschen Freiheitsdramen (Wilhelm Tell, Die Räuber, Don Carlos). Mit Cain nahm Byron das mittelalterliche Mysterienspiel wieder auf. Cain ist der Mensch, der nie Gott angebetet hat, deshalb zählt ihn Lucifer unter seine Anhänger. Auffallend ist, dass Lucifer die Kinderlosigkeit als Ausweis seiner Anhängerschaft sieht: »My brotherhood’s with those who have no children.«26 Das verweist zurück auf Sade, der gegen Ende von Juliette ou les propérités du vice zeigt wie das libertine Protagonistenpaar Juliette und Noirceuil die je eigenen Kinder ins Feuer wirft. Mit diesem Akt der äussersten Grausamkeit und Sinnlosigkeit stellt Sade das Ende der Menschheit dar. Wenn es bis dahin noch Zweifel am provokativen Einsatz der Grausamkeit im Sadeschen Werk gab, dann schafft diese Szene Klarheit: Des Kindermords und des Genozids durch Brunnenvergiftung wurden traditionell Juden und der Hexerei Verdächtige bezichtigt. So gründet das Sadesche Fantasma in sehr realen geschichtlichen Gegebenheiten. Wenn Michel Foucault die »folie, comme absence d’œuvre« versteht, den Wahnsinn in Abwesenheit des Werkes, so ist der Umkehrschluss erlaubt, dass das Werk in vielfältiger Weise
25. Lord Byron, Byron’s Poems, London / New York 1963, Bd. 1, S. 350. 26. Lord Byron, Poetical Works, Oxford 1970, S. 535.
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enthält.27 Lord Byrons Cain endet in dem Sinne versöhnlich, als Cain bedauert, die ungeborenen Kinder des von ihm erschlagenen Abel nicht mit seinen Kindern verbinden zu können. And might have temper’d this stern blood / of mine, Uniting with our children Abel’s offspring!28
Das Verbrechen, das Faust und Cain von Lucifer eingeflüstert wird, bringt nicht die absolute Bosheit hervor. Die blieb dem Sadeschen Libertin im Sinne einer negativen Utopie vorbehalten. Man kann sie auch als Warnung vor den Möglichkeiten eines nur noch rationalen Männer- und Menschenbildes verstehen. Denn die zum Äussersten getriebene Raison schlägt bekanntlich in die Dé-raison um. Mit dem Gedicht On this day I complete my thirty-sixth year, Missolonghi, 22nd Jan 1824, Seek out — less often sought then found — A soldier’s grave, for thee the best; Then look around, and choose thy ground, And take thy Rest.
schrieb sich Byron die eigene Totenklage; er starb drei Monate später im April 1824. Hölderlin verbrachte trotz Handlungsverzichts einen grossen Teil seines Lebens in »geistiger Umnachtung« (was immer das heissen mochte) unter der Obhut des Freundes und Tischlermeisters Zimmer. Für Sade war der Aufenthalt in Festungshaft, Gefängnis und im Hospiz von Charenton zur wütend ertragenen Normalsituation geworden, aus der er sozusagen das Beste gemacht hat. Der Hauptteil seines Werkes ist im Gefängnis entstanden, wie auch die Spitzen der Pariser Gesellschaft anlässlich der Aufführungen seiner Dramen zum Irrenhaus von Charenton hinausfuhren.
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27. Foucault, Michel, »La folie, l’absence de l’Œuvre«, in: La Table ronde, Mai 1964, S. 11–21. 28. Byron’s Poems, op. cit., S. 545.
Literatur und Politik
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Die französische Revolution im Spiegel der Literatur Christiane Leiteritz
In ästhetischer Hinsicht verursachte die Revolution keinen Bruch, keinen Neubeginn, sondern setzte die literarischen Traditionen der Aufklärung fort. Dies betrifft besonders die Themen und Präsentationsformen des Dramas. Gezeigt wurden vor einem vorwiegend kleinbürgerlichen Publikum Stücke vom Typus des larmoyanten Dramas und vor allem solche mit dem Motiv der ›vertu persécutée‹, in denen grundsätzlich eine bürgerliche Unschuld oder ein bürgerlicher Held von adligen Unholden gehetzt wird. Genutzt wurde das Schauspiel als Medium politischer Propaganda und kam folglich in den Genuss staatlicher Finanzierung. Gefördert wurden besonders ›patriotische‹ Stücke; der Eintritt war frei. Diese ideologisch konformen Texte genossen solch eine Hochschätzung, dass man sie dem Marschgepäck der Revolutionsheere beigeben wollte.1 Die Bedeutung, die führende Politiker der Literatur für die Revolution zuerkannten, ermisst man aus den Worten Mirabeaus (1749–1791): »Die gegenwärtige Revolution ist das Werk der Literatur und der Philosophie […] Hüten wir uns davor zu glauben, dass die Künste ein politischen Überlegungen fremder Schmuck seien«.2 Wie sehr literarische Darstellungsweisen die Politik der Zeit prägten, zeigt sich in der Rhetorik der Revolutionäre. Mit ihrem Appell an Vernunft, Tugend und Freiheit und der steten Evokation der Heroen der römischen Republik brachten sie eminent theatralische Darstellungsformen in die Politik ein. Abgesehen von vereinzelten frühromantischen Schreibweisen wie z.B. bei Charles Nodier blieb die Literatur auch während der napoleonischen Ära traditionell. Propagiert wurde die Orientierung an klassischen Schreibweisen, da deren Normen des guten Geschmacks und der Autorität eine systemstabilisierende Funktion einnehmen sollten. Die französische Romantik rebellierte schliesslich gegen die Dominanz des klassischen Ideals. Sie erprobte neue Formen gerade in Auseinandersetzung mit den tiefgreifenden politischen und sozialen Auswirkungen der Revolutionszeit. Wohl einer der bekanntesten französischen Autoren der Revolutionszeit ist Louis Sébastien Mercier (1740–1814). Der Verfasser des Tableau de Paris (1781–1789) und Verfechter des bürgerlichen Dramas versuchte auch in der Politik seine Ideale zu verwirklichen. Er stritt als Abgeordneter des Nationalkonvents auf der Seite der Girondisten gegen die radikale Politik der Jakobiner, wurde 1793 verhaftet, nach dem Sturz Robespierres am 27.7.1794 freigelassen und später in den Rat der Fünfhundert gewählt.
1. Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich, »Skizze einer Literaturgeschichte der Französischen Revolution«, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, See, Klaus von (ed.), Bd. 13: Europäische Aufklärung III, Stackelberg, Jürgen von (ed.), Wiesbaden 1980, S. 298. 2. Graf Mirabeau in einer Rede vor der französischen Nationalversammlung vom 10. September 1791. In: Archives parlementaires de la France, 1er série 1787–1799, Paris 1899, Reprint Liechtenstein 1969.
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Sein Bericht über die Revolutionszeit, Le nouveau Paris, erschien 1798 /99 und steht auf der Schwelle zwischen der Erlebnisschilderung eines Augenzeugen und einer historiographischen Erzählung. Die fanatische Suche nach den Schuldigen, nach den Feinden der Revolution, kennzeichnete den aktiv beteiligten Revolutionär. Mercier stilisierte den politischen Gegner zum Schauspieler, der unter der Larve der Humanität, »sous le masque populaire«,3 seine eigensüchtigen, d.h. konterrevolutionären Interessen verbirgt. In der emotionalen und masslos übertriebenen Darstellung Merciers wurden die Jakobiner zu blutrünstigen Figuren verformt, zu »monstres d’ineptie et de cruauté qui tuèrent la révolution«.4 Das Projekt ›Revolution‹, die Beherrschbarkeit der Zukunft durch menschliche Vernunft, liess sich nur retten, wenn ein Sündenbock für die Entgleisung der Ereignisse haftbar gemacht werden konnte. Die Festlegung eines ›Täters‹ erwies sich als notwendig, um das Primat des Handelns in Freiheit aufrechtzuerhalten. Die historiographische Perspektive des Berichts erwies dieses Postulat jedoch schon als illusionär. Rückblickend erschien das revolutionäre Geschehen als irreales, chaotisches Treiben von unkontrollierbarer Selbstläufigkeit. Um die Fatalität des Revolutionsverlaufs darzustellen, griff Mercier zu einem alten Topos, dem Theater als Bild für die gescheiterte Revolution, die in den pessimistischen Geisteshaltungen des 19. Jahrhunderts eine Konjunktur erlebt: Aristote a défini l’homme un animal risible, mais on ne peut pas imaginer à quel point il l’est et peut le devenir, si l’on n’a point vu ces scènes facétieuses, ces imaginations burlesques, ces fantasques délires de l’extravagance, qui annonçoient un peuple subitement licencié, et voulant réparer dans un jour la pénible contrainte où il avoit gémi pendant plusieurs siècles: et l’on peut m’en croire; tous les spectateurs, comme assistant à une nouveauté inouïe, partageoient la bruyante allégresse de la multitude, et ses marottes. (…) On donne dans les spectacles la farce après la tragédie; mais ici c’étoit la farce qui précédoit les scènes tragiques.5
Der berüchtigste Autor der Revolutionszeit war Donatien Alphonse François Marquis de Sade (1740–1814). Seine Romane sind recht konventionell nach dem Muster des Empfindungsromans konzipiert, inhaltlich aber bemerkenswert, da Sade rigoros aufklärerische Prämissen invertiert. Rousseaus Lehre von der natürlichen Güte des Menschen wendet er ins natürliche Böse, das Primat der Vernunft über die Religion denkt er konsequent zu Ende und zeigt, dass die Vernunft keine Ethik zu begründen vermag. Sein Traktat Français! Encore un effort si vous voulez être républicains, in den fünften Dialog der Philosophie dans le boudoir (1795) eingefügt, postuliert die Negation sämtlicher gesellschaftlicher Normen, einschliesslich des Tötungsverbots, und setzt an ihre Stelle alles vormals Verbotene. Die Gesellschaftstheorie Sades weist voraus auf konservative Theorien des 19. Jahrhunderts. Die Herrschaft der Starken über die Schwachen beruht auf der freien Konkurrenz untereinander und dem gemeinsamen Terror gegen die zahlenmässig überlegene Schicht der sozial Schwachen.6
3. Mercier, Louis-Sébastien, Le nouveau Paris, Braunschweig / Paris 1798 / 99, IV, S. 179. 4. Ibid. II, S. 5. 5. Ibid. III, S. 23 6. Vgl. Brockmeier, Peter, »Die Revolution in der Phantasie eines aristokratischen Aufklärers: Das Werk des Marquis de Sade«, in: Die Revolution in Europa — erfahren und dargestellt, Internationales Kolloquium an der UniversitätGH-Duisburg vom 19-21 April 1989 (=Europäische Aufklärung in Literatur und Sprache. Bd. 3), Jüttner, Siegfried (ed.),
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Entflammt von den Ideen der Revolution bemühte sich André Chénier (1762–1794), der Literatur eine gesellschaftspolitische Funktion zuzuweisen. In seinem Essai sur les causes et les effets de la perfection et de la décadence des lettres et des arts (postum 1819) betont er die wechselseitige Bedeutung von Staatsform und Kunst füreinander. Während unter der Aristokratie oder gar unter einer Tyrannei, die gute Kunst erstickt oder korrumpiert würde, fördere die Demokratie die Entfaltung der Talente: Qu’il ne peut y avoir que des talents oisifs et inutiles dans la tyrannie, encore moins dans l’aristocratie, et que tous les talents sont de l’essence de la démocratie, vraie république.7
Umgekehrt vermag die gute Literatur die Entwicklung des Gemeinwohls zu befördern. Ihr kommt eine aktive gesellschaftliche Rolle zu: Ce sont les grandes actions qui soutiennent la chose publique, et les bons écrits qui l’éclairent. (…) souvent un bon livre est lui-même une bonne action; et souvent un auteur sage et sublime [est] la cause lente de saines révolutions dans les mœurs et dans les idées.8
Im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder Marie-Joseph, der in vielen Tragödien die Revolution verherrlichte, distanzierte sich André Chénier wegen ihrer zunehmenden Radikalisierung. Gedichte der neunziger Jahre, meist Hymnen und Oden, bezeugen diesen Gesinnungswandel. Chénier gehörte zu den Verfassern der Verteidigungsrede für Louis XVI und starb 1794 als eines der letzten Opfer Robespierres unter der Guillotine. Marie-Joseph Chénier (1764–1811) schuf immerhin das wohl meistdiskutierte Theaterstück der Revolutionsjahre. Das 1788 entstandene Stück Charles IX ou l’école des rois spiegelt auf der historischen Folie der Bartholomäusnacht die aktuellen politischen Diskussionen. Die Figur Karls bezog sich deutlich auf Ludwig XVI. und warnte ihn gleichsam davor, die Interessen der Generalstände zu missachten zugunsten derer des Hofes. Zunächst von der Zensur verboten, entfachte das Stück den als ›Bataille de Charles IX‹ bekannten Streit um die Aufführung, der bis 1791 andauerte und den Ruhm des Stückes stiftete. Die vorwiegend konservative Truppe der Comédie Française weigerte sich nämlich noch nach dem Sturm auf die Bastille, ein Stück zu inszenieren, das die Monarchie angriff. Der Streit, der die Kulturpolitik der Nationalversammlung nachhaltig beeinflusste,9 endete mit der Spaltung der berühmten Theatergruppe. Der beliebte Schauspieler François Joseph Talma, der bei der Uraufführung im November 1789 die Rolle Karls gespielt hatte, gründete mit der prorevolutionären Fraktion des Ensembles das Théâtre de la République. Charles Nodier (1780–1844), ein Schüler Merciers, begeisterte sich als Kind für die Revolution. Bereits der Zehnjährige war aktiver Jakobiner, der Zwölfjährige hielt politische
Frankfurt a.M. / Bern et al. 1991, S. 27 ff. 7. In: Œuvres complètes d’André Chénier, Walter, Gérard (ed.), Paris 1958 (Bibiothèque de la Pléiade 57), S. 630. 8. Ibid., S. 622. 9. Gumbrecht, Hans Ulrich, »Skizze einer Literaturgeschichte der Französischen Revolution«, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, op. cit., S. 302.
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Reden.10 In steter Auseinandersetzung mit der Revolution verfasste er aber keine Propagandaliteratur, sondern entwickelte sich mit seinen an Traum, Phantastischem und Unbewusstem orientierten Romanen und Erzählungen zum ersten Vertreter der Romantik in Frankreich. Die Helden seiner Romane verweisen mit ihrer problematischen Identität und in ihrer gesellschaftlichen Heimatlosigkeit in symptomatischer Weise auf die nachrevolutionäre Realität, die mit ihren uneingelösten Versprechen und ihrer Kontingenz als äusserst bedrohlich erfahren wurde. Die Revolution thematisierte er in seinem Tagebuchroman Les Proscrits (1802). Der Protagonist der Geschichte, Gegner des Jakobinismus und aus der revolutionären Gemeinschaft ausgeschlossen, verkörpert einen im gesellschaftlichen Abseits lebenden Anti-Helden, den allein seine ästhetische Empfindsamkeit davor bewahrt, faule Kompromisse mit einer schlechten nachrevolutionären Realität, nämlich der des napoleonischen Konsulats, zu schliessen. Eine Satire auf Napoleon, La Napoléone, die 1802 anonym in London erschienen war und alsbald heftig in Paris diskutiert wurde, brachte Nodier zwei Jahre später nach einer Selbstanzeige ins Gefängnis.11 Nodiers von Schillers Geisterseher inspirierter Roman Jean Sbogar (1818) — der zunächst seinem Freund Benjamin Constant zugeordnet wurde — spielt zwischen Triest und Venedig und idealisiert einen als Räuberhauptmann ausserhalb der Gesellschaft stehenden Rebellen, der aus Widerstand gegen die französischen Besatzer in den Untergrund gegangen ist. Sbogar ist ein typisch romantischer Held. Überdrüssig der unzulänglichen Schöpfung Gottes, angewidert vom aufklärerischen Primat der Vernunft lebt er eine schillernde Doppelexistenz und sucht in der Negation der bestehenden Gesellschaft und ihrer Werte einen Ausweg. Sein Versuch, ein gesellschaftliches Ideal herzustellen, endet tödlich. So skeptisch Nodier den Verlauf der Revolution betrachtete, mass er ihr doch eine entscheidende Bedeutung für die Entwicklung einer neuen Ästhetik zu und sah in ihr »le commencement d’une double ère littéraire et politique.«12 Er verteidigte diese Sicht gegen die Tendenz, mit Hinweis auf die blutigen Zeiten auch den Gedanken einer revolutionären Literatur zu verwerfen, denn das Pathetische, Grossartige und Erhabene finde sich oft neben dem Schrecklichen:13 Si la révolution est un état exceptionel dans les formes de la société, la littérature qui s’est développée avec elle sera un état exceptionnel dans les formes de l’esprit humain. Emportée par le torrent qui l’apporta, elle ne laissera point de vestiges. C’est l’opinion générale, et le nom seul de la littérature révolutionnaire paroît impliquer un horrible contre-sens aux yeux des entrepreneurs brévetés de la critique; mais, de cette prétendue exception, il est sorti une forme nouvelle de société, et par conséquent, si je ne me trompe, une forme nouvelle de littérature.14
François René de Chateaubriand (1768–1848) zählt zu den Säulenheiligen der Konterrevolution
10. Vgl. Hofer, Hermann, »Die Vor- und Frühromantik in Frankreich«, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 15, S. 116. 11. Vgl. Sainte-Beuve, C.-A., Portraits littéraires., Bd. I., Paris o.J., S. 463. 12. Nodier, Charles, »Recherches sur l’éloquence révolutionnaire«, in: Œvres complètes, 12 Bde, Paris 1832–1837, hier: Bd. 7, S. 229. 13. Ibid. 14. Ibid., S. 228.
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in Europa. Seine Laufbahn als Dichter ist eng verschlungen mit seinem politischen Werdegang. Er kämpfte auf der Seite der Emigranten gegen die Revolution und wurde unter Napoleon Gesandter und Minister. Nach der Entzweiung mit Napoleon (1804) setzte er seine politische Karriere erst in der Restaurationszeit fort und vertrat dort die Position der Legitimisten. Zunächst Anhänger von Rousseau und dessen Lehre vom »bon sauvage« sowie durchaus Sympathisant revolutionärer Theorie, distanzierte er sich Anfang der 90er Jahre, nach seiner Rückkehr aus Amerika, vom liberalen Gedankengut der Aufklärung. Den ersten Teil seines Essai sur les révolutions (1797) beschliesst er mit den Worten: Tout gouvernement est un mal, tout gouvernement est un joug; mais n’allons pas en conclure qu’il faille le briser. Puisque c’est notre sort que d’être esclaves, supportons notre chaîne sans nous plaindre, sachons en composer les anneaux de rois ou de tribuns selon les temps, et surtout selon nos mœurs. Et soyons sûrs, quoi qu’on en public, qu’il vaut mieux obéir à un de nos compatriotes riche et éclairé, qu’à une multitude ignorante, qui nous accablera de tous les maux.15
Chateaubriand besiegelte seine Wende mit seinem Übertritt zum katholischen Glauben, für den das apologetische Werk Génie du christianisme ou beautés de la religion chrétienne (1802; begonnen 1798) Zeugnis ablegt. In dem darin enthaltenen Roman Atala ou les amours de deux sauvages dans le désert zeigt sich in der Entwicklung der beiden Protagonisten ein merkwürdiger Zwiespalt zwischen einem emphatisch besetzten rousseauistischen Naturbegriff und einem religiös gefassten Naturbegriff. Dem Christentum wies eist Chateaubriand eine staatstragende Funktion zu, weil es die Gefühlswelt des Individuums prägte. Geboren 1790, steht Alphonse de Lamartine, Autor der einflussreichen Histoire des Girondins (1847), eigentlich ausserhalb des hier behandelten Zeitraums. Dennoch verdient er eine kurze Betrachtung,16 weil er im Gegensatz zu den Zeitgenossen der grossen Französischen Revolution eine umgekehrte Entwicklung einschlug: Wendeten sich die Intellektuellen der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts in der Regel aus enttäuschten Erwartungen vom Revolutionsprojekt ab und verwiesen es in den Bereich einer rigiden Utopie, wandelte sich Lamartine, Kind der nächsten Generation, vom Legitimisten zum Befürworter der Revolution. Persönliche Motive bestimmten seine frühen elegischen Dichtungen, die noch vollkommen unberührt vom tagespolitischen Geschehen geschrieben sind (vgl. die Méditations poétiques; 1820). Aufgewachsen in einer monarchistisch geprägten Umgebung, bekannte sich Lamartine erst unter dem Eindruck der Julirevolution zu den Prinzipien von 1789. Seine Dichtung Les Révolutions (1832) deutet diese als unaufhaltsames Fortschreiten der Völker zur Humanität: L’humanité n’est pas le bœuf à courte haleine qui creuse à pas égaux son sillon dans la plaine et revient ruminer sur un sillon pareil: C’est l’aigle rajeuni qui change son plumage, Et qui monte affronter, de nuage à nuage,
15. Chateaubriand, François René, Essai sur les révolutions, Paris 1978, S. 269. 16. Lamartines Verhältnis zur Revolution bespricht ausführlich Fernand L’Huillier, »Lamartine et la Révolution Française«, in: Revolution und Gegenrevolution 1789–1830. Zur geistigen Auseinandersetzung in Frankreich und Deutschland, Dufraisse, Roger (ed.) unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, München 1991, S. 237–250.
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Emphatisch prophezeite er den Umsturz Europas. Wenn er den Begriff der Revolution im Plural benutzte, rekurrierte er damit nicht auf seine vormoderne Bedeutung mit ihrem naturalen Hintergrund, sondern er verwendete ihn im Sinne einer permanenten Revolution, der er allerdings einen positiven, eher evolutionären Charakter zuwies: »La Révolution française a été le tocsin du monde. (…) elle n’est pas finie.«18 Revolutionen folgten nach Lamartines Auffassung einem quasi teleologischen Prinzip. Ähnlich wie Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden (1795) ging Lamartine von einem Fortschritt in der Geschichte aus, ungeachtet aller Brüche und Grausamkeiten. Er verteidigte das Prinzip der Revolution gegen die schlechte Praxis, wie sie sich in der Zeit der Terreur gezeigt hatte, die aber nur von marginaler Bedeutung gewesen sei. In Jocelyn (1836), einem als »histoire du genre humain«19 angelegten Epos, schildert Lamartine am Beispiel des Priesters Jocelyn, der vor den Schergen der Terreur flüchtet, wie die Revolutionen über einen blutigen Abgrund hinweg (»cet abîme sanglant des révolutions«) einem humanitären Ideal entgegenschreiten. Die politische Situation in England im ausgehenden 19. Jahrhunderts unterschied sich in mancherlei Hinsicht von derjenigen Frankreichs. Grossbritannien, im Zuge der ›Glorious Revolution‹ bereits 1689 unblutig reformiert, besass mit seiner konstitutionellen Monarchie ein politisches System, das den Vertretern der französischen Aufklärung als Ideal erschienen war. Dennoch radikalisierten der Unabhängigkeitskrieg und die Französische Revolution Reformbestrebungen innerhalb Grossbritanniens. Den Kampf der amerikanischen Kolonien gegen das Mutterland empfanden radikale Geister als Stellvertreterkrieg und begrüssten entsprechend den Sieg der Kolonien. Im Juni 1780 schüttelten bürgerkriegsähnliche Aufstände London, die unter dem Namen ›Gordon Riots‹ in die Geschichte eingingen und beinahe die revolutionären Ereignisse Frankreichs vorweggenommen hätten. In vorderster Front unter den Rebellen, die erfolgreich das Newgate-Gefängnis stürmten und dabei 2000 Insassen befreiten, befand sich William Blake (1757–1827). Das Ereignis verherrlichte er in seinem Kupferstich The Dance of Albion.20 In der jugendlichen Gestalt des Albion allegorisiert Blake den Heros des Widerstands. Albion verkörpert eine prometheische Figur, den ungebrochenen ewigen Rebellen. Die beiden Epen The French Revolution (unvollendet 1791) und America. A Prophecy (1793) reflektieren das historische Geschehen aus kosmischer Perspektive. Die amerikanische und die französische Revolution markieren in dieser Vision Anfangs- und Endpunkt des erstmals nach dem Sündenfall wiedererwachten Freiheitsverlangens der Menschheit. Der Sieg Amerikas bedeutet das Ende von Urizens Herrschaft, der Personifikation des Ancien Régime. Seinen definitiven Untergang besiegelt schliesslich die französische Revolution. Sie steht für den Sieg des Aufstands, dem eine universale Bedeutung zukommt, weil er die politische Landschaft ganz Europas, ja der Welt
17. Lamartine, Alphonse de, Les Révolutions, in: Œuvres poétiques, Guyard, Marius-François (ed.), Paris 1963, S. 517. 18. In seinem Résumé politique (1835). Zitiert nach: L’Huillier, Fernand, »Lamartine et la Révolution Française«, op. cit., S. 243. 19. L’Huillier, Fernand, »Lamartine et la Révolution Française«, op. cit., S. 244. 20. Vgl. Meller, Horst, »Die frühe romantische Dichtung in England«, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 15, S. 192.
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verändern soll. Die ersten Vertreter der englischen Romantik wie William Wordsworth (1770–1850), S. T. Coleridge (1772–1834) und Robert Southey (1774–1843) dichteten inspiriert von den Ideen der Französischen Revolution. Zusammen mit Byron und Keats zählt Shelley (1792–1822) zur ›revolutionären Romantik‹. Verfemt und verfolgt als Aufrührer und Atheist, stellte er die wenigen Jahre seines dichterischen Schaffens in den Dienst der revolutionären Ideale. Wie Coleridge und Southey beeindruckte ihn die sozialutopische Gesellschaftstheorie seines Schwiegervaters William Godwin (1756–1836), des wichtigsten Repräsentanten des englischen Radikalismus. Godwins An Enquiry Concerning the Principles of Political Justice and Its Influences on General Virtue and Happiness (1793) übte einen grossen Einfluss auf die politischen Vorstellungen der englischen Romantiker aus, indem es das Modell eines durch gesellschaftliche Veränderung entstehenden neuen Menschen skizzierte. Shelleys Lyrik ist durchdrungen von revolutionärem Pathos, wie es kennzeichnend ist für die gesamte radikale jüngere Romantikergeneration, nicht nur in England. Oft verbinden sich mystisch-prophetische Erzählweisen mit affektiv aufgeladenen Naturschilderungen. So dachte Shelley daran, sein hymnisch angelegtes Gedicht To the Republicans of North America (1812; ED unvollst. 1870) gezielt zur politischen Agitation einzusetzen. Es war inspiriert vom Freiheitskampf im späteren Mexiko und weckte mittels suggestiv eingesetzer Naturmetaphorik Kampfgeist und Solidarität: Brothers! between you and me Whirlwinds sweep and billows roar Yet in spirit oft I see On the wild and winding shore Freedom’s bloodless banner wave (…) Catopaxi! bid the sound through thy sister mountains ring, Till each valley smile around At the blissfur welcoming! And, O thou stern Ocean-deep, Whose eternal billows sweep Shores where thousands wake to weep Whilst they curse som villain king, On the winds that fan thy breast Bear thou news of Freedom’s rest!.21
Shelley stufte die Französische Revolution (Brief an Byron vom 4. September 1816) als master theme of the epoch in which we live ein. Shelleys Mask of Anarchy22 (1819) weist sogar die
21. Shelley, Percy Bysshe, Ausgewählte Werke. Dichtung und Prosa, Einleitung von Höhne, Helmut (ed.), Frankfurt a. M. 1990, S. 70. 22. Das Gedicht trägt den Untertitel »Written on the occasion of the massacre at Manchester« und nimmt Bezug auf das bezeichnenderweise »Massaker von Peterloo« getaufte Gemetzel, das berittene Polizei am 19. August 1819 unter den Teilnehmern einer grossen Demonstration anrichtete.
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Anarchie, den Inbegriff des schlechthin Bösen weil Gesetzlosen in der Restaurationsära, nicht etwa den Aufwieglern und Freiheitsfreunden zu — sondern der Dreieinigkeit von Gott, König und Gesetz zu: Last came Anarchy: he rode On a white horse, splashed with blood (…) like Death in the Apocalypse (…) On his brow this mark I saw ›I am God, and King, and Law‹23
Die Dreifaltigkeit von Kirche, Regierung und Justiz soll (in Gestalt einer apokalyptischen Christusfigur) die Anarchie symbolisieren. Die provokative Inversion rechtfertigt Shelley, indem er die Institutionen als jene brandmarkt, die Unrecht, Gewalt und Unterdrückung konsolidieren. Die letzte Strophe des in volkstümlicher Sprache gefassten Gedichts ruft in revolutionärer Emphase, und der üblichen Metaphorik — erwachende Löwen als Sinnbilder der Kraft und Morgentau als Symbol des Anfangs — zum Widerstand auf: Rise like Lions after slumber In unvanquishable number Shake your chains to earth like dew Which in sleep had fallen on you Ye are many — they are few.24
Die zum politischen Slogan avancierte Schlussformel ›Ihr seid viele — sie sind wenige‹ hat appellativen Charakter, da sie Überlegenheit vermittelt und so den unvermeidlichen Sieg garantiert. Shelley wies den Dichtern stets eine aktive gesellschaftliche Funktion zu. In seinem Essay Defense of Poetry (1840) heisst es: But poets, or those who imagine and express this indestructible order, are not only the authors of language and of music, of the dance and architecture, and statuary, and painting; they are the institutors of laws, and the founders of cicil society, and the inventors of the arts of life.25
Burkes (1729–1797) Reflections on the Revolution in France (1790) speisten sich aus der Furcht, die Funken des revolutionären Feuers in Frankreich möchten bis nach England sprühen und dort ebenfalls eine Revolution entflammen. Zum Ruhm dieser Schrift trug vor allem die ausgefeilte Rhetorik bei, die in emotionaler Weise gegen die Ideale der Revolution zu agitieren suchte. Für Burke war die Französische Revolution eine Katastrophe, die er in ihrem philosophischen Ursprung anprangerte als Ergebnis einer »barbarous philosophy, which is the offspring of cold hearts and muddy understandings«.26 Eine gute Staatsverfassung könne nicht auf Prinzipien
23. Shelley, Ausgewählte Werke, op. cit., S. 458. 24. Ibid., S. 488. 25. In: The Complete Works of Shelley, 10 Bde., Ingpen, Roger / Peck, Walter E. (eds.), Bd. 7, S. 112. 26. Burke, Edmund, Reflections on the Revolution in France, London 1910, Reprint 1960, S. 74.
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gegründet sein, sondern nur auf Erfahrungen. Die Staatskunst sei eine auf praktisches Wissen gerichtete, durch Erfahrung begründete Wissenschaft. Burke bevorzugt ein evolutionäres Modell: Plots, massacres, assassinations, seem to some people a trivial price for obtaining a revolution. A cheap, bloodless reformation, a guiltless liberaty, appear flat and vapid to their taste.27
Lächerlich erscheinen die Motive der Revolutionäre, denn »humanity and compassion are ridiculed as the fruits of superstition and ignorance«.28 Und lächerlich seien die Akteure selbst, weil die Nationalversammlung, »their organ, acts before them the farce of deliberation with a little decency as liberty. They act like the comedians of a fair before a riotous audience.«29 Burkes Schrift hatte fulminanten Erfolg. Innerhalb eines Jahres gab es elf Auflagen und bereits 1791 erschienen Ausgaben in Wien und New York. In Amerika heftig diskutiert, erfuhren die Reflections im eigenen Land vorwiegend Ablehnung. Sie verursachten gar — nach der Entzweiung mit dem ehemaligen Aussenminister und Parteifreund Charles Fox — einen Verlust von Burkes politischem Einfluss.30 In England fassten weite Kreise der gebildeten Öffentlichkeit die französischen Ereignisse von 1789 als Weiterführung eines Reformprozesses auf, der bereits mit der ›Glorious Revolution‹ von 1688 eingesetzt hatte.31 Schon ein Jahr nach Erscheinen der Reflections publizierte Thomas Paine, durch Burkes Thesen herausgefordert, seine berühmte Gegenschrift The Rights of Man. Burkes politischen Auffassungen folgten am ehesten die preussischen Reformer wie der Freiherr vom Stein und der Fürst von Hardenberg,32 mit denen auch Kleist sympathisierte. Novalis (1772–1801) zeigte sich so beeindruckt von Burkes Thesen, dass sie ihn zu einem euphorischen Aphorismus in der Zeitschrift Athenaeum veranlassten: »Es sind viele antirevolutionäre Bücher für die Revolution geschrieben worden. Burke hat aber ein revolutionäres Buch gegen die Revolution geschrieben.« Besonders die Anhänger eines extremen Konservatismus — in Frankreich Joseph de Maistre, Verfechter eines katholischrestaurativen Monarchismus, in Deutschland der Staatsphilosoph Adam Müller — rezipierten Burkes Schrift und liessen hierbei deren liberale Elemente ausser Acht. Über Müller, Befürworter eines korporativen Ständestaats, beeinflussten die Reflections die romantische Staatsphilosophie. Im Gegensatz zu Frankreich verfügte das in zahllose Kleinstaaten zersplitterte Deutschland über keine dem französischen Bürgertum vergleichbare Schicht, die sich selbst als Träger des Fortschritts definierte und das Programm einer revolutionären Umwälzung geliefert hätte. Zwar
27. Ibid., S. 62. 28. Ibid., S. 66. 29. Ibid. 30. Vgl. Dietrich Henrich in seiner Einleitung zur deutschen Ausgabe von Edmund Burke, Betrachtungen über die französische Revolution, in der dt. Übertr. von Friedrich Gentz bearbeitet und mit einem Nachwort von Lore Iser, Frankfurt a. M. 1967, S. 9. 31. Reincke, Olaf, »Zur Wirkung von Edmund Burkes Betrachtungen über die Französische Revolution auf die literarischen Fronten in der Debatte um eine klassische deutsche Nationalliteratur am Ausgang des 18. Jahrhunderts in Deutschland«, in: Literatur zwischen Revolution und Restauration. Studien zu literarischen Wechselbeziehungen in Europa zwischen 1789 und 1835, Streller, Siegfried (ed.) in Zusammenarbeit mit Tadeusz Namowicz, Berlin /Weimar 1989, S. 32. 32. Ibid., S. 21.
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gab es nach 1789 eine Reihe von Bauernaufständen, aber die Konflikte zwischen Feudalklasse und Bürgertum verdichteten sich nicht zu einer revolutionären Situation. Immerhin veranlasste die Französische Revolution enthusiastische Beifallskundgebungen des gebildeten Bürgertums und aller deutschen Dichter. Die ambivalente Reaktion vieler deutscher Schriftsteller auf das epochale Ereignis der Französischen Revolution lässt sich folgendermassen formulieren: einerseits uneingeschränkte Zustimmung zu den revolutionären Ideen und Theorien, da man in ihnen die Fortentwicklung aufklärerischen Gedankenguts sah, aber andererseits strikte Ablehnung revolutionärer Aktionen. Einzige Ausnahme bildeten die wenigen Vertreter des literarischen Jakobinismus. Die Revolution fassten sie alle als Triumph der Aufklärung auf, soweit sie naturrechtliche Prinzipien in einem republikanischen Staatswesen zur Geltung bringen wollte. Die ältere Generation, die mit dem Gedankengut der Aufklärung aufgewachsen war, distanzierte sich aber früher von den Konsequenzen der Revolution als die jüngere, romantische Generation. Diese bekannte sich über das Jahr 1792 hinaus zur Revolution, ungeachtet der Septembermorde und der Hinrichtung des Königs. Die Repräsentanten der Weimarer Klassik, Goethe und Schiller, bezogen anfangs eine unterschiedliche Position. Während Schiller sich erst mit den Ereignissen von 1793 gegen die Revolution wendete, erklärte sich Goethe zu jeder Zeit gegen sie. Dennoch verwahrte er sich dagegen, als ein Verfechter des status quo eingestuft zu werden. Ergebnis seiner »grenzenlose(n) Bemühung dieses schrecklichste aller Ereignisse in seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu bewältigen«33 war eine Reihe kleinerer Dramen, die die Kritik nicht gerade zu seinen gelungensten rechnet. Einigen Stücken gab er die Form der Komödie, versah sie mit grotesken Elementen und wendet damit einen Metaphernkomplex auf die Revolution an, der gern von ihren Gegnern als Mittel der Denunziation eingesetzt wurde.34 Die Interpretation der Revolution als Komödie, Farce oder Groteske sollte der herrschenden Auffassung entgegenwirken, die den Ereignissen trotz aller Greuel die Grösse einer Tragödie, die Erhabenheit und Zwangsläufigkeit gleichsam einer Naturkatastrophe zubilligte. Diese konkurrierenden Sichtweisen fasste Friedrich Schlegel (1772–1829) im Athenaeumsfragment Nr. 424 (1798) zusammen: Man kann die Französische Revolution als das grösste und merkwürdigste Phänomen der Staatengeschichte betrachten, als ein fast universelles Erdbeben, eine unermessliche Überschwemmung in der politischen Welt; oder als ein Urbild der Revolutionen, als die Revolution schlechthin. Das sind die gewöhnlichen Gesichtspunkte. man kann sie aber auch betrachten (…) als die furchtbarste Groteske des Zeitalters, wo die tiefsinnigsten Vorurteile und die gewaltsamsten Ahndungen desselben in ein grauses Chaos gemischt, zu einer ungeheuren Tragikkomödie der Menschheit so bizarr als möglich verwebt sind. Zur Ausführung dieser historischen Ansichten findet man nur noch einzelne Züge.35
In der Bürgergeneral (1793), einer Burleske in einem Akt, schilderte Goethe (1749–1832)
33. Goethe, Hamburger Ausgabe, XIII, S. 39. 34. Vgl. Verf., Revolution als Schauspiel. Zur Geschichte einer Metapher in der europäisch-amerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin / New York 1993. 35. Schlegel, Friedrich, Athenaeumsfragmente. Nr. 424, zitiert nach Träger, Claus (ed.), Die Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur, Frankfurt a. M. 1979, S. 401.
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satirisch die Auswirkungen der Französischen Revolution im Milieu eines deutschen Dorfes. In der Gestalt des dummdreisten Barbiers Schnaps wird das Betrügerische vorgeblicher Weltverbesserer blossgestellt. Die Moral des Stücks verlautbart der Repräsentant des Adels, der paternalistisch den dörflichen Streit schlichtet und sich damit auch den Vertretern der bürgerlichen Rechtsinstitutionen, dem Richter und der Polizei, überlegen erweist. Sein betulicher Rat, der die Hierarchie des Ancien régime in der Eltern-Kind-Metaphorik bestätigt, ist von biedermännischer Einfalt nicht weit entfernt: »Kinder, liebt euch, bestellt euren Acker wohl und haltet gut Haus. (…) Fremde Länder lasst für sich selber sorgen, und den politischen Himmel betrachtet allenfalls einmal Sonn- und Festtags.«36 Ähnlich konzipierte Goethe die Vertreter der verschiedenen Stände in dem Fragment Die Aufgeregten. Politisches Drama in fünf Akten (1793), das im deutschen Kleinbürgermilieu spielt. Eitelkeit, Gewinnsucht und heillose Selbstüberschätzung charakterisieren den politisch ehrgeizigen Bürgerlichen, gegen den die Gräfin als Repräsentantin des Adels positiv kontrastiert. Ihre Position ist von Weitblick, Gerechtigkeit und Fürsorge geprägt. Goethe gedachte mit diesem Stück sein politisches Glaubensbekenntnis jener Zeit zu formulieren: Als Repräsentantin des Adels hatte ich die Gräfin hingestellt und mit den Worten, die ich ihr in den Mund gelegt, ausgesprochen, wie der Adel eigentlich denken soll. Die Gräfin kommt soeben aus Paris zurück, sie ist dort Zeuge der revolutionären Vorgänge gewesen und hat daraus für sich selbst keine schlechte Lehre gezogen. Sie hat sich überzeugt, dass das Volk wohl zu drücken, aber nicht zu unterdrücken ist und dass die revolutionären Aufstände der unteren Klassen eine Folge der Ungerechtigkeiten der Grossen sind.37
Das Trauerspiel Die natürliche Tochter (1803) zeigt ein verändertes Verhältnis zur Französischen Revolution. Hier tritt die Stilisierung der Revolutionäre als dumm, dreist und gewalttätig in den Hintergrund zugunsten einer geschichtsphilosophischen Sehweise, die der Revolution die Zwangsläufigkeit und Grösse eines Naturereignisses zubilligt. Im Bild des Erdbebens und der Überschwemmung erscheint die Revolution zwar als destruktives, aber unaufhaltsames Ereignis. Sie ist nur Episode im historischen Wandel der Zeiten und von Belang ist einzig die Frage, welcher Stand und welches Staatsgebilde geeignet ist, »das Element zu bändigen.«38 Gekränkt durch die ablehnende Kritik, die seine Revolutionstücke erfuhren, beklagte sich Goethe, dass »Schiller, der (…) weit mehr ein Aristokrat war als ich, (…) das merkwürdige Glück [hatte] als besonderer Freund des Volkes zu gelten.«39 In der Tat schien Schiller (1749–1805) weit eher in seinen Stücken einem emphatischen
36. Goethe, Der Bürgergeneral, Berliner Ausgabe, Berlin / Weimar 1965ff, Bd. 6, S. 156. 37. Goethe im Gespräch mit Eckermann am 24. Januar 1824. Zitiert nach Träger, Claus (ed.), Die Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur, op. cit., S. 253. 38. »Da stürmt ein Brausen durch die düstre Luft, / Der feste Boden schwankt, die Türme schwanken, / Gefugte Steine lösen sich herab, / Und so zerfällt in ungformten Schutt / Die Prachterscheinung. Wenig Lebendes / Durchklimmt bekümmert neuentstandene Hügel, / Und jede Trümmer deutet auf ein Grab. / Das Element zu bändigen vermag / ein tief gebeugt, vermindert Volk nicht mehr, / Und rastlos wiederkehrend füllt die Flut / Mit Sand und Schlamm des Hafens Becken aus.« Zit. nach Goethe, Berliner Ausgabe, Bd. 6, S. 246. 39. Im Gespräch mit Eckermann vom 4.1.1824, zitiert nach Träger, Claus (ed.), Die Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur, op. cit., S. 254.
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Freiheitsbegriff Gestalt zu geben als Goethe. Seine Stücke thematisierten fortwährend den Kampf um Freiheit. In dem Drama Don Carlos. Infant von Spanien (1787) richtet sich Posas Forderung »Geben Sie Gedankenfreiheit« gegen die rückständigen deutschen Fürsten. Posa fordert die radikale Einlösung aufklärerischer Ideale, was die Auflösung der politischen Ordnung impliziert: »Als Bürger dieser Welt (…) liebe er die Menschheit, und in Monarchien dürfe er niemand lieben als sich selbst« (III,10). Adressat dieses ergreifenden Plädoyers von Posa ist jedoch nur der Monarch, von dem er die Durchführung der Reformen erhofft. Schiller präferierte in diesem Drama ähnlich wie Goethe eine aufgeklärte Monarchie und durchaus keine Volksrepublik. Das späte Drama Wilhelm Tell (1803) scheint wieder eine prorevolutionäre Einstellung zu bezeugen. In der Tat war es während der 48er Revolution eines der meistgespielten Theaterstücke in Deutschland. Der Kampf der Eidgenossen schien die künstlerische Antizipation der aktuellen politischen Situation zu sein und unverhohlen zum Widerstand aufzurufen. Das Volk in Wilhelm Tell hat nicht nur die Rolle eines Statisten inne, ist nicht wie in Goethes Revolutionsstücken auf einige brave oder philiströse Repräsentanten ohne gesellschaftspolitisches Urteilsvermögens reduziert, sondern wird als aktiver und kompetenter Gestalter der staatlichen Ordnung dargestellt. Doch gerade dieses Stück Schillers, das am reinsten revolutionären Geist zu atmen scheint, lässt sich schlechterdings nicht für dessen Ziele reklamieren. Erstens avanciert der Titelheld Tell gleichsam wider Willen zum Volkshelden. Sein Aufbegehren ist persönlich motiviert, und den Eintritt in die Gemeinschaft der Verschworenen lehnt er ab. Zum RütliSchwur »wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern / (…) wir wollen frei sein wie die Väter waren / eher den Tod als in der Knechtschaft leben« (III, 1), tritt er nicht an. Zweitens verstösst der Tyrann Gessler in solch eklatanter Weise gegen unverbrüchliche Naturrechte, dass die Wiederherstellung der natürlichen Ordnung den Mord geradezu erheischt. Drittens erweist sich die natürliche Ordnung keineswegs als Republik, sondern als Restituierung einer Idylle,40 die die Rechtmässigkeit der alten Feudalverhältnisse eher noch unterstreicht. Schillers Horror vor der jakobinischen Revolution belegen viele Zitate. Das Gedicht Der Antritt des neuen Jahrhunderts (1801) enthält eine eindeutige Stellungnahme: Edler Freund! wo öffnet sich dem Frieden , Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort? Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden Und das neue öffnet sich mit Mord (…) Ach umsonst auf allen Länderkarten Spähst du nach dem seligen Gebiet, Wo der Freiheit ewig grüner Garten, Wo der Menschheit schöne Jugend blüht (…) In des Herzens heilig stille Räume Musst du fliehen aus des Lebens Drang
40. Vgl. Kaiser, Gerhart, »Idylle und Revolution. Schillers Wilhelm Tell«, in: Deutsche Literatur und Französische Revolution, Sieben Studien von Richard Brinkmann, Claude David u.a., Göttingen 1974, S. 87–129.
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Freiheit ist nur in dem Reich der Träume Und das Schöne blüht nur im Gesang.
Schiller propagierte nicht den politischen Aufstand, sondern verfolgte — wie auch später die Vertreter der deutschen Romantik — das Ideal einer ästhetischen Erziehung, die sowohl das Volk als auch den Fürsten erreichen sollte. Der politischen Aktion in Gestalt eines gewaltsamen Aufstands erteilte er eine Absage: »Wenn sich die Völker selbst befrein, da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn«.41 Die weiteren Zeilen offenbaren Schillers Abscheu vor revolutionärer Aktion nach französischem Vorbild. Ihre anthropophage Metaphorik erinnert an die antirevolutionäre Greuelpropaganda englischer Karikaturen: Weh, wenn sich in dem Schoss der Städte / der Feuerzunder still gehäuft, Das Volk, zerreissend seine Kette, Zur Eigenhilfe schrecklich greift (…) Freiheit und Gleichheit! hört man schallen, Der ruhige Bürger greift zur Wehr, Die Strassen füllen sich, die Hallen, Und Würgerbanden ziehn umher, Da werden Weiber zu Hyänen Und treiben mit Entsetzen Scherz Noch zuckend mit des Panthers Zähnen Zerreissen sie des Feindes Herz.
Einig waren sich die Repräsentanten der Weimarer Klassik in der Abneigung gegen das Treiben ihrer Mainzer Kollegen, insbesondere gegen Georg Forster. Dieser verwirkte die Hochachtung, die er aufgrund seines wissenschaftlichen wie auch literarischen Schaffens genossen hatte, als er, führendes Mitglied des Jakobinerclubs, seine literarischen Tätigkeiten in den Dienst seiner politischen Überzeugungen stellte.42 Dennoch glaubte Forster, dass das deutsche Volk für eine Revolution nicht reif genug sei, und befürwortete deshalb eine vorübergehende Beibehaltung der bestehenden Verfassung: Ich bleibe dabei, dass Deutschland zu keiner Revolution reif ist. (…).Unser rohes, armes, ungebildetes Volk kann nur wüten, aber nicht sich konstituieren. (…) Von oben herab liesse sich jetzt so schön eine Verbesserung friedlich und sanft verbreiten und ausführen, man könnte so schön, so glücklich von den Vorgängen in Frankreich Vorteil ziehen, ohne das Gut so teuer erkaufen zu müssen. Der Vulkan Frankreichs könnte Deutschland vor dem Erdbeben sichern.43
Die Bevölkerung des Rheinlandes war ohnehin revolutionärer Aktion abgeneigt. Sie misstraute den Freiheitsparolen, nachdem sie merkte, dass die Franzosen nicht nur die Befreiung gebracht hatten, sondern das Gebiet auch als Einnahmequelle betrachteten und die Bewohner mit Kontributionen und Dienstleistungen belasteten. Forster teilte diese Skepsis gegenüber den
41. In: Das Lied von der Glocke. 42. Vgl. Stephan, Inge, Literarischer Jakobinismus in Deutschland (1789–1806), Stuttgart 1976, S. 121 ff. 43. Georg Forster in einem Brief an den Buchhändler Voss, Mainz 21.12.1792. In: Die Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur, op. cit., S. 493.
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Franzosen nicht, glaubte an ihre sittliche Überlegenheit und die uneigennützige Eroberung der linksrheinischen Gebiete. Forster forderte den Anschluss des Rheinlands an Frankreich, d.h. die politische Verschmelzung mit Frankreich, weil dieses den Gipfel des gesellschaftlichen Fortschritts verkörpere. Als Kosmopolit schien ihm Frankreich das Vaterland aller Citoyens zu sein und deshalb auch aller deutschen Freiheitsfreunde. Nicht eine deutsche Revolution sollte die Willkürherrschaft der Fürsten vernichten, sondern die Heere der französischen Brüder, d.h. eine Revolution von aussen und oben.44 Im Gegensatz zu diesen oft nur in Briefen offenbarten Überlegungen äusserte sich Forster öffentlich optimistischer. In seiner Rede im Mainzer Jakobinerklub vom 15. November 1792 erklärte er: Noch neulich glaubte ich, Deutschland jenseits des Rheins sei zur Freiheit nicht reif, aber die Hand des Schicksals tut Wunder, und nichts kann dort die privilegierten Stände noch erhalten als schleuniger Friede, Aufopferung dessen, was schon verloren ist (…) Der Druck eines neuen Feldzuges wird die lang duldende Menschheit empören; endlich wird sie losbrechen und an ihren Henkern gerechte Rache nehmen!45
Im Gegensatz zu den Klassikern und Romantikern verwarfen die jakobinischen Autoren — neben Forster gehörten dazu vor allem Rebmann und Knigge — eine Literatur, die nur auf die sittliche Veredelung des einzelnen abzielte und die Revolution in den Bereich des Geistes verlagerte. Die Jakobiner verzichteten auf Literaturtheorie und handhabten Literatur als Instrument der politischen Einflussnahme.46 Ihre literarische Praxis bestand vor allem in publizistischer Tätigkeit, der ein volkstümlicher Literaturbegriff zugrundelag. In Flugschriften und Zeitungen kommentierten sie das politische Tagesgeschehen unter Aufweis revolutionärer Alternativen. Vorrangig bewerteten sie nicht die sittliche Emanzipation des einzelnen, sondern die politische der Allgemeinheit. Die jakobinische Publizistik zielte auf die Politisierung der Massen. Sie versuchte, durch konkrete Beispiele, die zeigen sollten, wie die Mechanismen der Unterdrückung funktionieren, auf das Bewusstsein des Volkes einzuwirken. Innerhalb der Publizistik war rasch eine fortschreitende Demokratisierung zu bemerken, denn überall im deutschen Sprachraum tauchten Flugblätter auf, die aus der Feder der unteren Volksschichten stammten. Der Inhalt der Zeitungen und Journale bestand aus Reden, Briefen, Essays, Gedichten und Dialogen, die meistens ein Gespräch zwischen einem Demokraten und Aristokraten oder einem Demokraten und einem Mann aus dem einfachen Volk wiedergaben. Ferner lieferten Gedichte und Lieder eine weitere Variante operationaler Literatur. Sie waren stets emotional angelegt, melodisch eingängig und realistisch. Johann Heinrich Voss übersetzte die Marseillaise ins Deutsche. Es kursierte ein Fülle weiterer Lieder radikalen Inhalts wie »Zerbrecht das Joch, zerreisst die Ketten oder Die Zeiten, Freunde, sind nicht mehr, wo Kron und Zepter galten.« Viele Schriften riefen unverhohlen zum Umsturz auf. Verbreitet waren auch anderen literarische Gattungen wie Satiren, Reisebeschreibungen, Romane.
44. Vgl. Grab, Walter, Ein Volk muss seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner, Frankfurt a. M. / Olten / Wien 1984, S. 192–197. 45. Forster, Georg, »Über das Verhältnis der Mainzer gegen die Franken«, in: Die Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur, op. cit., S. 493. 46. Vgl. Stephan, Literarischer Jakobinismus, op. cit., S. 134.
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Sogar das Theater wurde — wie in Frankreich — als Mittel der Propaganda eingesetzt. Es handelte sich zumeist um eine aktuelle und aggressive Dramatik, die den absolutistischen Staat anprangerte und die Volkserhebung propagierte. Hier einige Titel aus dem Spielplan des ›BürgerNational-Theaters‹ in Mainz: Der Aristokrat in der Klemme von Nikolaus Müller, Der Freiheitsbaum von Heinrich Zschokke, Der klägliche König, Posse eines anonymen Verfassers, Das Zölibat ist aufgehoben, Satire des Pfarrers und Jakobiners Jakob Bohl. Der Bühne kam eine grössere Bedeutung als der Presse zu, da sie — infolge des Analphabetentums — breitere Volksschichten erreichte und mit demokratischen Gedanken vertraut machen konnte.47 Wegen der rigiden Verfolgung — oftmals bis in den Tod — fanden die Jakobiner oft keinen Verlger für ihre Schriften und waren gezwungen, sie illegal und anonym herauszugeben. Etliche Gedichte und Aufrufe liegen nur in handschriftlicher Form vor. Die Forschung hat das Vorurteil korrigiert, demzufolge sich die Vertreter der Frühromantik nach anfänglicher Begeisterung für die Revolution in Verfechter der Reaktion verwandelten. In der Tat waren die Frühromantiker wie z.B. Tieck, Kleist, Friedrich Schlegel, Schleiermacher, Novalis und andere noch glühende Verehrer der Ereignisse in Frankreich, als sich die Dichterfürsten in Weimar, Goethe und Schiller, wie auch die älteren Autoren der Aufklärung schon mit Horror von ihnen abgewandt hatten. Einer jüngeren Generation zugehörig, beirrten sie weder die Hinrichtung König Ludwigs XI. noch die Septembermorde. Bis zum Ende der neunziger Jahre hielten sie dem französischen Experiment die Treue, obwohl sie es zumeist nicht aus eigener Anschauung, sondern nur aus den Berichten der Presse und aus Erzählungen von Augenzeugen kannten. Die Umkehr war zum einen motiviert durch die schockierenden Greuel der Terreur, andererseits durch die aggressive Expansionpolitik Napoleons. Ausserdem wuchs die Skepsis, ob denn die propagierten Ideale nicht nur altem Despotismus im neuen Gewand den Weg bereiteten. Begeistert von der französische Revolution zeigten sich Friedrich Schlegel (bis 1796), Schleiermacher (bis 1793) und Joseph Görres (bis zum Staatsstreich Napoleons 1799).48 Die konstatierte Abkehr von der politischen Sphäre führte die Frühromantiker aber nicht in Konservatismus und Weltflucht, sondern sie wendeten die Kategorien der Revolution ins Ästhetische. Friedrich Schlegels Versuch über den Begriff des Republikanismus wird von der Forschung einerseits als wohlwollende andererseits als kritisierende Stellungnahme zur Revolution beurteilt. Schlegel transformierte politische Begriffe in ästhetische, um so den revolutionären Schwung aufrechtzuerhalten. Politische Implikationen weisen Arnims Armut, Reichtum, Schuld und Busse der Gräfin Dolores (1810) wie auch Eichendorffs Ahnung und Gegenwart (1815) auf, sowie Tiecks frühe Literatursatiren. Der Gestiefelte Kater (1797) und die Verkehrte Welt sind Satiren auf neue Formen des Despotismus, der im Gewande des Jakobinismus oder in Gestalt von Friedrich II erscheint. Novalis’ Kritik an der Revolution galt ihrem Verlauf, nicht ihrem Ziel. Er stellte der politischen Realität das utopische Konzept eines »poetischen Staates« entgegen. Kleist (1777–1811) verstand sich als Rousseauist und teilte Schillers Plan einer ästhetischen Erziehung des Menschen als Voraussetzung für die Befreiung der Menschheit. Nach seinem
47. Vgl. Grab, Walter, Ein Volk muss seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner, op. cit., S. 57 f. 48. Vgl. Romantik-Handbuch, S. 477–507, hier: S. 482.
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Parisbesuch 1803 verabschiedete er sich vom optimistischen Menschenbild der Aufklärung und dem rationalistischen Geschichtsbegriff. Seinen Zweifel an der Kultur formulierte er später in den Betrachtungen über den Weltlauf und nahm dort eine Position ein, die bereits Nietzsches Kulturkritik vorwegnahm. In seinen letzten Lebensjahren knüpfte Kleist enge Beziehungen zur neuen literarischen Schule in Deutschland, zur Romantik. Neben Adam Müller war es vor allem der Kontakt zu Arnim, Tieck und Brentano, der bedeutsam wurde. Mit ihnen verband ihn zunächst die gleiche Beurteilung der politischen Lage und das Misstrauen in die beginnende industrielle Revolution. Angesichts der Bedrohung Preussens durch Napoleon beschloss Kleist, den Boden zur nationalen Erhebung, zum Befreiungs- und Volkskrieg zu bereiten. Gipfel dieser Bestrebungen war das tagespolitische Schlüsseldrama Die Hermannsschlacht (1821). Das aggressive Hegemonialstreben Napoleons und die wachsende Bereitschaft, sich dagegen aufzulehnen, veranlassten nicht nur Kleist, den Widerstand zu schüren. Vergleichbar dem Cheruskerfürsten Hermann schloss Prinz Wilhelm von Preussen im September 1808 eine Konvention in Paris ab, die als strategische List diente, hinter dem Rücken eines scheinbaren Bündnisses den Aufstand zu betreiben.49 Auch der Reformpolitiker Freiherr vom Stein agierte im Sinne eines Befreiungskrieges gegen Napoleon und sah sich diesem gegenüber nicht mehr an die Gesetze der Moral gebunden. Einiges spricht dafür, dass Kleist in der Figur Hermanns bewusst Züge Steins verarbeitet hat.50 Im Gegensatz zu den Dichtern, deren Verhältnis zur Revolution mehr oder weniger ambivalent erscheint, bezogen die Philosophen der Zeit eine uneingeschränkt positive Stellung. Kant (1724–1804) verteidigte in seiner Schrift Der Streit der Fakultäten (1798) das Ereignis in Frankreich und sah darin sogar den Beweis für die moralische Tendenz des Menschengeschlechts. Der junge Fichte (1762–1814), Theoretiker der Revolution und philosophischer Jakobiner,51 bekannte sich zu den Postulaten der Vernunft, die die Aufklärung in ihren Naturrechtslehren verankert hatte. Er begeisterte sich für die Revolution in Frankreich, weil sie die Wendung zum obersten Ziel seiner Philosophie vollzog, zur subjektiven Freiheit und zum autonomen, allein seinem Gewissen unterworfenen Ich. Fortschritt bedeutet in diesem Zusammenhang das Fortschreiten zur Freiheit und besitzt die Qualität eines Naturgesetzes, das sich, will man es einschränken, gewaltsam Durchbruch verschafft. Die Französische Revolution erscheint aus dieser Perspektive als natürliche Antwort auf die Repression eines Naturrechts durch den Staat.52 Hegel verstand die Revolution als einen ruckhaften Schritt des Geistes zur Freiheit. Pathetisch schrieb er, »dass der Mensch sich auf den Kopf, das ist, auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem baut.«53 Die Revolution war für ihn eines der »wechselnden
49. Günzel, Heinrich von Kleist. Ein Lebensbild, S. 258. 50. Vgl. Samuel, Richard, »Kleists Hermannsschlacht und der Freiherr vom Stein«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 5, 1961, S. 64–101. 51. Willms, Bernhard, »Einleitung zu Fichtes Revolutionsschriften«, in: Fichte, Johann Gottlieb, Schriften zur Revolution, Willms, Bernhard (ed.), Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1973, S. 19 f. 52. Vgl. Fichte, »Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten. Eine Rede (1793)«, in: Schriften zur Revolution, op. cit., S. 53–80. 53. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie-Werkausg., Frankfurt a. M. 1970, XII, S. 529.
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Schauspiele« der Weltgeschichte, in denen sich die »Idee der Freiheit« verwirklichte.54 Welthistorische Bedeutung habe das Ereignis erlangt, weil damit etwas grundlegend Neues in der politischen Realität verankert wurde: das Recht auf Freiheit und Gleichheit, hinter das die Geschichte nicht mehr zurück konnte.55 Auch im Vielvölkerreich der Habsburger wurde 1794 eine Jakobinerverschwörung, die nur ein Vierteljahr existiert hatte, aufgedeckt. Es kam zu zahlreichen Verhaftungen in Wien, Ofen und Pest. Die Mitglieder der Bewegung wurden zum Tode oder zu schweren Haftstrafen verurteilt. In Österreich wurde Franz Hebenstreit, dessen lateinisches Lehrgedicht Homo hominibus wegen seiner an Rousseau orientierten sozialutopischen Züge als Kapitalverbrechen eingestuft wurde, zum Tode verurteilt.56 Hebenstreit zählte zu den bedeutendsten philosophischen Köpfen der Bewegung. Seine Motive waren moralischer Natur. Er litt an der Not der Massen und betrachtete die Französische Revolution als einen Schritt der Gerechtigkeit, der den Leidenden ihre Menschenwürde zurückgab. Sein in Wiener Dialekt geschriebenes Eipldauerlied (1793) überbot an Radikalität alles zuvor Dagewesene. Was denkts enk denn, dass gar so schreit Und alles auf d’Franzsosen? Den Louis haben’s köpft —, Ja nun mich freuts Er war schlecht bis in d’Hosen. (….) Drum schlagt die Hundsleut alle tot Nit langsam wie d’Franzosen, Sonst machen’s enk noch tausend Not ’S ist nimmer auf sie z’losen.
Hebenstreits Lied fand eine ausserordentliche Verbreitung und wurde auch ausserhalb Wiens gesungen. Die Behörden befürchteten gar, dass dieses Lied eine Revolution entfachen könnte. Hebenstreit wurde 1795 wegen seiner sozialutopischen Ideale hingerichtet. Die Jakobiner Mitteleuropas rekrutierten sich aus einer kleinen Gruppe von Intellektuellen, die oft dem mittellosen Adel oder dem Bürgertum entstammten. Sie besassen keine Massenbasis, genossen jedoch die Sympathie von Künstlern und Literaten.57 Wien und Pest waren Zentren der jakobinischen Bewegung, doch auch in den grossen Städten des Habsburger Reiches entstanden revolutionär eingestellte Lesezirkel und Klubs. Der Jakobinismus in Mitteleuropa war eng mit der literarischen Praxis verknüpft. Die Literatur sollte helfen, den Revolutionierungsprozess anzuschieben. Oft in Mundart geschriebene literarische Kurzformen signalisierten Volksverbundenheit und richteten sich besonders an die Bauern und Bürger.58 In Wien
54. Ibid., S. 540. 55. Vgl. Ritter, Hegel und die französische Revolution, S. 30 f. 56. Vgl. Vajda, György M., Wien und die Literaturen der Donaumonarchie, Zur Kulturgeschichte Mitteleuropas 1740–1918, Wien / Köln / Weimar 1994, S. 67. 57. Vgl. ibid., S. 70. 58. Vgl. Reinalter, Helmut, Der Jakobinismus in Mitteleuropa. Eine Einführung, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1981, S. 109 ff.
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kursierten zahlreiche kleinere Schriften, Lieder, Katechismen, Gedichte und Gebete, die der Agitation dienen sollten. Die Bewegung blieb jedoch auf die Intellektuellen beschränkt. Es gelang ihnen nicht, mittels der Literatur die Kluft zwischen sich und dem Volk zu schliessen.59 In Ungarn gab es eine starke liberale Bewegung, befördert durch die Reformpolitik von Joseph II schon vor der französischen Revolution. Das Gedankengut der französischen Aufklärung war weitverbreitet. So ebnete der Vorromantiker György Bessenyei (1747–1811) schon frühzeitig mit Übersetzungen und an Voltaire geschulten philosophisch-moralischen Schriften der literarischen und nationalen Erneuerung Ungarns den Weg. Die Jakobinerbewegung in Ungarn organisierte der Mönch Ignác Martinovics nach dem Vorbild einer Freimaurergesellschaft, in der sich reformerisch eingestellte Adlige und radikale Bürgerliche versammelten. Die Organisation zielte auf die Unabhängigkeit Ungarns und auf eine bürgerlich-demokratische Umgestaltung der Gesellschaft. Zu ihr gehörten auch die Dichter János Batsányi und Ferenc Kazinczy. Kazinczy, Herausgeber der ersten ungarischen Zeitschriften, wurde 1794 im Zuge der Jakobinerprozesse zunächst zum Tode verurteilt, aber dann begnadigt und bis 1801 eingekerkert. Die unglaubliche Härte der Verfolgung kommentierte er mit den Worten: »Es war ein Exempel nötig, um das Land in Schrecken zu versetzen.«60 Der ungarische Dichter János Batsányi (1763–1845), ebenfalls als Mitwisser der Jakobinerverschwörung inhaftiert, widmete seine Dichtung dem revolutionären Kampf. In seinem Gedicht Auf die Wandlungen in Frankreich begrüsste er die Revolution und prophezeite den Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung nicht nur Europas: »(…) auch ihr, Tyrannen eurer Untertanen, / Schaut, um euer Schicksal im voraus zu ahnen, / Auf Paris61«. Sein Gedicht Der Seher von 1791 sprüht von revolutionärer Begeisterung und verheisst eine glückliche Zukunft: Freut euch, Menschen, freut euch! Alles hat ein Ende! Andre Zeiten bringt uns die Jahrhundertwende! (…) Die Nation Europas, die jetzt aufgestanden beider Hemisphären Herren macht zuschanden Zeigt, was Völker können, die den Kampf nicht scheuen, Um von ihren Quälern selbst sich zu befreien …62
Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis 1796 lebte János Batsányi in Österreich. In deutscher Sprache verfasste er die Ode Der Kampf, die anonym 1803 in Herders Zeitschrift Adrastea erschien. Wenngleich hier resignative Töne den früheren Optimismus zu überlagern scheinen, wird der revolutionäre Gestus aufrecht erhalten. Das lyrische Ich des ersten Teils, ein desillusionierter Dichter, verbannt seinen Jugendtraum von den Idealen des Jahres1789 ins Reich der Fiktion:
59. Vgl. Benda, Kálmán, »Probleme des Josephinismus und des Jakobinertums in der Habsburgischen Monarchie«, in: Reinalter, Helmut (ed.), Jakobiner in Mitteleuropa, Innsbruck 1977, S. 278. 60. Zitiert nach Gergely, András, »Geschichte Ungarns«, in: Kósa, László (ed.), Die Ungarn; ihre Geschichte und Kultur, op. cit., S. 85–205, hier: S. 143. 61. Übers. von Martin Remané, in: Ungarische Dichtung aus fünf Jahrhunderten, Hermlin, Stephan /Vajda, György M., Berlin 1970, S. 32. 62. In: Ungarische Dichtung aus fünf Jahrhunderten, op. cit., S. 33.
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Dass aber Wahrheit, Recht und Vernunft, dass einst Der hohe Werth der sanfterern Menschlichkeit nach diesem wilden Kampf mit hellern Lieblichern Strahlen noch glänzen müssten63
Seine Muse jedoch klagt ihn wegen dieser resignativen Haltung an. Die Preisgabe des Ideals wird als unsittlich angeprangert: (…) dieser muthig ringende Mann — warst Du! bereit, für Recht und Wahrheit und Vaterland, (…) als Opfer hinzusinken — Bürger der Welt und Athlet der Menschheit64
Aufklärerischer Kosmopolitismus (»Bürger der Welt und Athlet der Menschheit«) und romantischer Patriotismus (ringend fürs »Vaterland«) gipfeln im Appell der Ode, es gelte, »im Sturmgedräng der Zeit, / Das jetzt die Erde mit Ruinen deckt« — gemeint sind wohl die Koalitionskriege — den Glauben an Gerechtigkeit, an »Tugend« nicht aufzugeben. Der Dichter solle sich dem Bund der Edlen beigesellen, jenem Bund, der Bei jedem bessern Volk, zu jeder Zeit, Der Menschheit zarte Blüthe sorgsam hegt. Im Stillen säen Sie den Saamen aus, Der (…) langsam stets, Doch einst gewiss, zum Glück der Welt, gedeiht.
Die an Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) erinnernde Metaphorik suggeriert einen Fortschritt des Menschengeschlechts, der — den Zeitgenossen zwar unsichtbar — doch den »Enkeln« Ertrag bringen werde. Doch trotz strenger Zensur blieb in Russland Kritik an Despotismus und Leibeigenschaft ein Gegenstand der Literatur. Ivan Andreevic Krylov (1769–1844) unterlief die staatliche Kontrolle, indem er Fabeln — formal am Vorbild Äsops und LaFontaines orientiert — als Maske für scharfe Sozialsatire benutzte. Seine Erzählung Kaib (1792) prangerte nachdrücklich die Situation der leibeigenen Bauern an. Besonders Aleksandr Radiscev (1749–1802) zog mit seinem anonym veröffentlichten Reiseroman Putesestvie iz Petersburga v Moskvu (dt: Reise von Petersburg nach Moskau; 1790, vollständ. erst 1905) die staatlichen Sanktionen auf sich. Der ganze Roman, ein loser Verbund verschiedenartiger Texte, ist eine Kampfansage gegen den Absolutismus. Unverhüllt radikal-revolutionäre Thesen verkündet das Kapitel Zaicovo. Dort rechtfertigt der Erzähler einen Bauern, der seinen Gutsherrn erschlagen hat. Dieser hatte — vergleichbar mit Schillers Gessler in Wilhelm Tell–in grober Weise gegen das Naturrecht verstossen, so dass die Tat des Bauern als die Wiederherstellung der natürliche Ordnung verteidigt werden konnte. In gleicher Weise argumentierte Radiscev in der Ode Die Freiheit (Vol’nost’): Ein Heer von Rächern wird entstehen
63. Batsányi, János, »Der Kampf. Fragment eines lyrischen Gedichts«, in: Adrastea, Teil 3, 1803, S. 113. 64. Ibid., S. 118.
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Christiane Leiteritz (…) Frohlockt, Gefesselte und Knechte: Man führt kraft angebor’nem Rechte den Zaren selbst auf das Schafott.65
Katharina II bezichtigte Radiscev der Anstiftung zum Aufruhr und liess seinen Roman konfiszieren. Der Autor wurde zunächst zum Tode verurteilt, aber später zu Verbannung in Sibirien ›begnadigt‹. Die Entwicklung der russischen Nationalliteratur war bis 1825 eng verbunden mit liberalen Zielsetzungen. Die Schriftsteller hofften auf einschneidende Reformen in der politischen und gesellschaftlichen Ordnung, auf das Ende der Autokratie, besonders auf die Abschaffung der Leibeigenschaft und auf die Garantie bürgerlicher Freiheiten. Das blutige Ende des von Adligen und Offizieren organisierten Dekabristenaufstands von 1825, mit dem u.a. Puschkin (1799–1837) und Alexander Gribojedew (1795–1829) sympathisierten, vereitelte solche Hoffnungen allerdings. Russland blieb in Europa Hort der legitimen Ordnung. Spanien und Portugal, traditionell dem Konservatismus verhaftet, galten im 18. Jahrhundert als Festen der Gegenaufklärung. Unters Joch von Zensur und Inquisition gezwungen, bildeten sie — so die bis heute sich erhaltende Perspektive mitteleuropäischer Aufklärung — die Heimstatt finsterster Reaktion. Diese Bestandsaufnahme trifft auf Portugal weitgehend zu.66 Unter dem Eindruck der Revolution in Frankreich forcierte das Regime unter Maria I. seinen Despotismus und brachte aufklärte Dichter, wie z.B. Manuel Barbosa Bocage, rasch zum Schweigen.67 Erst 1820 erlebte Portugal seine Revolution, die aber weit mehr vom englischen Liberalismus als vom französischen Vorbild inspiriert war. Für die spanischen Aufklärer blieben die Postulate der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ein zu verwirklichendes Ideal, das allerdings ›ohne‹ Revolution realisiert werden sollte. Spaniens Revolutionen von 1808 und 1820 speisten sich aus dem Traum einer unblutigen Revolution, die sich von derjenigen Frankreichs abgrenzte, welche die Spanier durch die Invasion Napoleons schmerzvoll erlebt hatten. Die Autoren der neu entstehenden Literaturen waren entweder Afracesados oder Liberale. Für die kurze Zeit zwischen 1812 und 1820 avancierte Spanien gar zum bewunderten Vorbild jener deutschen Romantiker, die im Widerstand gegen Napoleon für einen deutschen Nationalstaat kämpften. Ernst Moritz Arndt übersetzte die antinapoleonische Schrift des Spaniers Pedro Cevallos zur Ermutigung der deutschen Streitgenossen ins Deutsche.68 Kleist bezog sich explizit auf das spanische Modell im Katechismus der Deutschen abgefasst nach dem Spanischen zum Gebrauch für Kinder und Erwachsene. Politisches Engage-
65. Radistschew, Alexander N., Reise von Petersburg nach Moskau, Berlin 1961, S. 84. 66. Zur Situation der Schriftsteller in Portugal an der Wende zum 19. Jahrhundert vgl. Siepe, Hans. T., »Portugiesische Erfahrungen mit der französischen Revolution. Annäherungen an ein Thema: Der Tableau de Lisbonne en 1796 von Carrère«, in: Die Revolution in Europa: erfahren und dargestellt, op. cit., S. 203–220. 67. Vgl. Siepe, Hans T., »Portugiesische Erfahrungen mit der französischen Revolution«, op. cit., S. 205. 68. Vgl. Jüttner, Siegfried, »¡Divina Libertad! — Spaniens Aufklärer im Bannstrahl der Revolution«, in: Die Revolution in Europa: erfahren und dargestellt, op. cit., S. 84–120.
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ment bezeugen besonders die Schriften von Gaspar Melchior de Jovellanos, Alvarez de Cienfuegos und Manuel José Quintana, aber auch die reiche propagandistische Literatur, die im Zuge der Guerra de la Independencia (1808–1814) das tagespolitische Klima prägten.69 Die Invasion napoleonischer Truppen in Italien beseitigte dort das Ancien Régime und unterwarf fast das ganze Land der französischen Vorherrschaft. Der napoleonische Despotismus enttäuschte die revolutionären Erwartungen und weckte die Forderung nach Freiheit und nationaler Einheit Italiens. Sie sollte die liberale demokratische Ideologie des Risorgimento prägen. Eng mit diesen politischen Zielen verknüpft war die italienische Romantik. Dennoch behielt Frankreich in der Meinung vieler italienischer Intellektueller seine Vorbildfunktion für die Errichtung eines modernen Staats- und Rechtssystems; die Fremdherrschaft Napoleons fassten sie häufig »als Vorstufe des Risorgimento«70 auf. Vittorio Alfieri (1749–1803) feierte 1789 mit seiner Ode Parigi sbastigliata den Sturm auf die Bastille. Die hohe Stillage dieser klassizistischen Poesie erreichte aber nicht ihren Adressaten, das Volk.71 Später distanzierte sich Alfieri von der Französischen Revolution mit der Satire Il Misogallo (1793–1798). Auch seine Tragödien thematisieren unentwegt den Konflikt zwischen Gewaltherrschaft und Freiheitsverlangen, doch argumentieren sie nicht politischhistorisch, sondern inszenieren eher ein » ›zeitloses‹ Strukturmodell«.72 Politische Gelegenheitsdichtung par excellence verfasste der als Opportunist verachtete Vicenzo Monti (1754–1828). Monarchie und Kirche verherrlicht sein Epos Bassviliana (Il morte di Ugo Bassville, 1793), das den Mord an dem Diplomaten Hugo de Bassville, des Propagandisten der französischen Revolutionsregierung in Rom 1793 schildert.73 Doch unerwarteterweise mit einer siegreichen Revolution konfrontiert, mischte sich Monti unter die Jakobiner, begab sich nach Mailand und avancierte dort zum Hofdichter Napoleons.74 Immerhin verweist die Wendigkeit, mit der Monti seine Dichtung der aktuellen politischen Situation anpasste, auf die Indienstnahme der Literatur durch die Politik.75 Der junge Ugo Foscolo (1778–1827) verklärte Napoleon, in dem er den Befreier von der verhassten österreichischen Macht sah, länger als andere Autoren. Er feierte ihn in der Ode Bonaparte liberatore (1797) und trat als Offizier in napoleonische Dienste. Seine durch Goethes
69. Vgl. Lope, Hans-Joachim, »Das Bild der Franzosen im Theater der spanischen Unabhängigkeitskriege. Bemerkungen zum spanischen Propagandatheater 1808–1813«, in: Die Revolution in Europa: erfahren und dargestellt, op. cit., S. 148–162. 70. Lill, R., Geschichte Italiens vom 16. Jahrhundert bis zu den Anfängen des Faschismus, Darmstadt 1980, S. 62. Hier zit. nach Kapp, Volker, »Revolution und Rhetorik in Italien«, in: Die Revolution in Europa: erfahren und dargestellt, op. cit., S. 131. 71. Ibid., S. 132. 72. Leube, Eberhard, »Die italienische Literatur an der Wende vom Sette- zum Ottocente«, in: NHL, Bd. 15: Europäische Romantik II, Heitmann, Klaus (ed.) in Verbindung mit Peter Börner, Wiesbaden 1982, S. 265–290, hier: S. 274 f. 73. Vgl. ibid., S. 278. 74. Vgl. Hausmann, Frank-Rutger, »Vicenzo Monti (1754–1828) und die Auswirkungen der Französischen Revolution auf Italien«, in: Die Revolution in Europa — erfahren und dargestellt, op. cit., S. 52–63. 75. Ibid., S. 61.
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Werther inspirierten Ultime lettere di Iacopo Ortis (1802) zeugen von romantischem Weltschmerz, der Not und Knechtschaft der Nation beklagt. Die Instabilität der politischen Situation erzeugt die lebensmüde Stimmung des Titelhelden. So beginnt der Roman mit dem Hinweis auf die Annektierung Venedigs durch Österreich: »Il sacrificio della nostra patria è consumato: tutto è perduto; e la vita, (…) non ci resterà che per piangere le nostre sciagure, e le nostre infamie«.76 (Brief vom 11.10.1797) Ugo Foscolo setzte sich für die Freiheit der italienischen Nation ein und verlangte die Reinheit der italienischen Sprache. Gegen die französischen Besatzer richteten sich Carlo Portas satirische und in Mailänder Dialekt verfassten Dichtungen. Selbst Giacomo Leopardis (1798–1837) patriotische Gedichte nährten sich aus dem Geist der Revolution, wenngleich sein idealisiertes Italien keinerlei historische Anbindung besass. Auch Alessandro Manzoni (1785–1873) brach mit der klassizistischen Tragödie und wollte mit dem Conte di Carmagnola (1820) dem Ideal des Risorgimento dienen.
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Lesestoffe, Leseorte, Leserschichten Erich Schön
Der literatursoziologische Grundriss Die Bedeutung der Zeit um 1800 für die Geschichte des Lesens und damit der Literatur hat ihre Ursache in epochalen literatursoziologischen Veränderungen: In der zweiten Jahrhunderthälfte entstand das moderne, erstmals mit dem heutigen vergleichbare Publikum der Literatur; sachlich fällt damit zusammen die Entstehung des heutigen Literaturbegriffs. Das gilt für ganz Mitteleuropa, also den deutschsprachigen Raum, die Niederlande, Frankreich, Grossbritannien. Allerdings ist die sozialgeschichtliche und literatursoziologische Situation, sind die Institutionen des literarischen Lebens in den einzelnen Ländern im Detail oft so verschieden, dass der Versuch einer generalisierenden Darstellung fast unverantwortlich ist. Sozialgeschichtlicher Hintergrund der literatursoziologischen Veränderungen ist jener vielschichtige Prozess, dessen Facetten als »Industrielle Revolution«, »Genese der modernen Industriegesellschaft«, »Entstehung und Aufstieg des modernen Bürgertums« oder als »Sattelzeit« (Koselleck) benannt werden. In ganz Mitteleuropa zeichnete sich dieser Prozess schon Anfang des 18. Jahrhunderts ab, er verlief sehr langfristig, als Prozess der »longue durée«. Die Differenzen zwischen einzelnen Ländern liegen in der verschiedenen Geschwindigkeit des Prozesses und in der Unterschiedlichkeit seiner konkreten Erscheinungsformen, die es z.B. trotz der zeitlichen Priorität Englands verbieten, Frankreich und Deutschland nur als ›kontinentale Varianten‹ zum ›Modellfall der englischen Entwicklung‹ anzusehen. Sehr pauschal sind die literatursoziologischen Veränderungen zurückzuführen auf die Entwicklung des modernen Bürgertums, das nicht mehr wie das alte Bürgertum, das im wesentlichen eine durch das Bürgerrecht in einer Stadt gegebene Rechtsposition und somit einen ›Stand‹ meinte, in die ständische Gesellschaft integriert und auch nicht mehr integrierbar war. Gebildet wurde dieses neue Bürgertum einmal durch Wirtschaftsbürger, die in der deutschen Situation der absolutistischen Kleinstaaten oft versehen mit Privilegien der absolutistischen Souveräne und in Interessenkongruenz mit ihnen die wirtschaftliche Entwicklung ausserhalb der traditionellen Zünfte und Gilden vorantrieben. In England und Frankreich erfolgte die Genese des modernen Bürgertums in diesem Sinne stärker aus den wirtschaftlichen Zusammenhängen des Manufaktur- und Verlagssystems heraus. Stärker als in den anderen Ländern machten in Deutschland Beamte dieses neue Bürgertum aus. Schon vor 1800 zeichnete sich die Entstehung jener sozialen Formation ab, die dann im 19. Jahrhundert als Bildungsbürgertum in allen europäischen Ländern wichtigster Träger des kulturellen Lebens sein sollte. Ihr Merkmal war vornehmlich Bildung, im 18. Jahrhundert zunächst zur Erlangung eines Amtes, dann auch in Profilierung gegenüber dem Adel (die Beamten-Bürger standen ja in einem ambivalenten Verhältnis sowohl der Konkurrenz
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wie der Affinität besonders zum niederen Adel, mit dem sie im Bereich der Beamtentätigkeit auf demselben Felde zusammentrafen); im 19. Jahrhundert immer mehr auch als ideeller Wert an sich. Erscheinungsform, Grösse und Bedeutung dieses Bildungsbürgertums waren in den einzelnen Ländern verschieden, gemeinsames Merkmal war aber doch, dass eine über die akademische Fach- bzw. Berufs-Ausbildung hinausgehende Bildung Grundlage ihrer gesellschaftlichen Identität war. Dabei waren aber letztlich die Grenzen zwischen den beiden Fraktionen des Bürgertums, dem Wirtschaftsbürgertum und dem oft beamteten Bildungsbürgertum, wegen ihrer faktischen Verschränkungen auch noch im 19. Jahrhundert nie strikt. Paradigmatisch sei die Entwicklung, die literatursoziologisch zur Herausbildung des modernen Publikums führte, dargestellt an der deutschen Entwicklung, obwohl und: gerade weil sie sich von der in Frankreich und England unterschied. Dass in Deutschland gebildete bürgerliche Beamte die literatursoziologisch zentrale Rolle spielten, ist aus den Bedingungen des Wiederaufbaus nach dem 30jährigen Krieg wie auch durch die territoriale Zersplitterung zu erklären: Der Absolutismus bedeutete die faktische Entmachtung des niederen Adels; realisiert wurde dies u.a. durch die Zusammenarbeit des Souveräns mit den wirtschaftlich aktiven Bürgern seines Gebietes auf der Basis paralleler ökonomischer Interessen, aber auch dadurch, dass die zahlreichen Territorialherren und die Reichsstädte Bürgerliche als Verwaltungs-, Finanz- und Wirtschaftsfachleute in ihren Dienst nahmen: Ein bürgerliches Beamtentum entstand, das zunächst gute Aufstiegschancen bis hin zur Nobilitierung bot. Diese Chancen beruhten auf einer qualifizierten Ausbildung, die der Adel zunächst nicht aufzuweisen hatte. (In Frankreich hatte eine vergleichbare Entwicklung schon früher, seit dem 16. Jahrhundert, zur Differenz von ›Noblesse d’épée‹ und ›Noblesse de robe‹ geführt.) Als Möglichkeit für sozialen Aufstieg war diese Situation zu der Zeit zu Ende, als der Wiederaufbau nach dem 30jährigen Krieg abgeschlossen war, in den 1720er Jahren. Selbstrekrutierung der etablierten Beamtenschaft und inzwischen auch akademisch ausgebildete Adlige beendeten diese soziale Mobilität. Damit waren im 18. Jahrhundert wieder verstärkt die Führungspositionen in der absolutistischen Verwaltung Adligen vorbehalten. Bürgerliche mussten nun um die Ämter selbst sowie innerhalb des Beamtenapparates um Befugnisse mit Adligen konkurrieren. Für neue Aufstiegswillige aus dem Kleinbürgertum, aber auch oft für Söhne des Bürgertums, war im 18. Jahrhundert der Zugang zum Beamtentum wieder verschlossen und eine akademische Ausbildung nicht mehr Garantie für ein Amt, so dass diese Gruppen wieder auf die alte via regia für sozialen Aufstieg, das Theologiestudium, verwiesen waren. Aus diesen Gruppen mit akademischer Ausbildung, aber ohne Aussicht auf entsprechende berufliche Positionen, rekrutierten sich die kritischen Intellektuellen (auch Theologen) und Literaten der zweiten Jahrhunderthälfte. Historisches Ergebnis ist, dass die politisch-gesellschaftliche Situation in Deutschland, dass gerade die vielen ganz oder teil-souveränen Territorialherrschaften die Entstehung einer zahlreichen Beamtenschaft bewirkten. Auch für Frankreich greifen Erklärungen zu kurz, die als soziale Trägerschicht der Aufklärung (und der Revolution) eine den Adel ablösende ›kapitalistische Klasse‹ ansetzen; seit dem 17. Jahrhundert waren Adel und Bourgeoisie verschränkt. Faktische Träger der Aufklärung waren gar oft die seit der Gegenreformation zunehmend gebildeteren Geistlichen. (Das war auch in Deutschland so; hier wurde die Volksaufklärung sogar ganz überwiegend von ihnen getragen.) »Der Bon curé, den es trotz aller aufklärerischen Kritik am Pfarrklerus und der Kirche durchaus
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gab, setzte sich mehr für die Volksbildung ein als ein Voltaire oder Diderot.«1 Freilich verloren sie in der zweiten Jahrhunderthälfte an Bedeutung (»Dechristianisation«) gegenüber den Bürgerlichen. Diese bürgerlichen Träger der Aufklärung waren zunächst noch eher Angehörige der »bourgeoisie d’Ancien Regime«, also Grund-, Amts- und Rentenbesitzer. (Bezeichnenderweise kamen die Wortführer der Revolution vor allem aus den freien akademischen Berufen.) Die Differenz zu Deutschland wurde in und nach der Revolution verstärkt sichtbar: In höherem Masse waren es Wirtschaftsbürger, die das neue Publikum bildeten. Selbst für England, wo das ›klassische‹ Modell des Aufstiegs des Wirtschaftsbürgertums am ehesten zutrifft, ist zu fragen, ob von einer Ablösung der kleinadligen Gentry als Träger der literarischen Kultur durch das neue Bürgertum zu sprechen ist. Gewiss kann man mit Blick auf den gesellschaftlichen Wandel und die Differenz zwischen der meist ländlichen Gentry und den Wirtschaftsbürgern der industriellen Revolution das ›alte‹ Bild des Squire, der im ›Manor House‹ mit dem anglikanischen Dorfgeistlichen zusammensass, trank und konversierte oder sich mit den lokalen Honoratioren im ›inn‹ zum ›reading club‹ traf, ersetzen durch das ›neue‹ Bild jener Leser (und vermehrt Leserinnen), die sich in den jungen Industriestädten ihre Lektüre aus den ›proprietary libraries‹ holten, zu denen jeder Zugang hatte, der den Beitrag bezahlen konnte. Und gewiss gab es mentale Unterschiede zwischen der Gentry und dem wachsenden städtischen Bürgertum. Doch ist das konkrete kulturelle Verhalten nicht einfach auf eine ›Klassenzugehörigkeit‹ zurückzuführen. In der historischen Realität waren die Übergänge zwischen ›neuer‹ bürgerlichen Oberschicht und ›alter‹ Gentry fliessend, zumal ihr bereits zahlreiche nobilitierte Bürger angehörten, die durch ihren wirtschaftlichen Erfolg in diese Position gekommen waren. Andererseits gab es auch in England die angedeutete Fraktionierung innerhalb des neuen Publikums zwischen jenen, die ihre soziale Identität aus ihrer Wirtschaftstätigkeit zogen und jenen, deren berufliche und gesellschaftliche Position auf ihrer Bildung beruhte. Die industrielle Revolution wurde nicht nur getragen von ›Unternehmern‹, sondern brauchte Juristen für die öffentliche Verwaltung, Ingenieure, Ärzte, kurz: Akademiker. Das zutreffende Schlagwort vom Aufstieg des Bürgertums im 18. Jahrhundert sollte nicht zu Täuschungen verleiten über die tatsächliche Grösse dieser Gruppe und damit auch des potentiellen Publikums: Als soziale Gliederung um etwa 1780 / 1790 ist anzunehmen, dass der Anteil der Adligen in Deutschland max. 1% betrug, in Frankreich war er mit ca. 1,5% höher, höher wegen der Bedeutung der ›Gentry‹ auch in England. Der Klerus machte gut 0,5% der Bevölkerung aus; bürgerliche Beamte und vergleichbare akademische Berufe, Offiziere etc. knapp 2,5%, d.h. mehr als in England und Frankreich, wo allerdings die gehobenen Beamten mit zur Bourgeoisie gerechnet werden. Der Anteil ›alter‹ und ›neuer (= nicht-ständischer) Wirtschaftsbürger‹ (reichere Kaufleute und Wirte, ›Unternehmer‹) mag in Deutschland ca. 2% betragen haben. Der Anteil dieser Gruppe war in England und Frankreich erheblich höher: Für Frankreich wurde der Anteil der ›Bourgeoisie‹ mit 8% bzw. 8,4% berechnet: die Rentenbourgeoisie, die ›grosse Geschäftsbourgeoisie‹ (Grosshändler, Manufakturbesitzer etc.) und die
1. Gumbrecht, Hans-Ulrich / Reichardt, Rolf / Schleich, Thomas, »Für eine Sozialgeschichte der französischen Aufklärung«, in: dies. (eds.), Sozialgeschichte der Aufklärung in Frankreich, München / Wien 1981, Teil I, S. 3–51, hier: S. 12.
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›kleine Geschäftsbourgeoisie‹, die 65% dieses Besitzbürgertums ausmachte (selbständige Handwerker und Ladenbesitzer), freie Berufe wie Justiz- und Finanzbeamte, Rechtsanwälte, Mediziner, Lehrer etc. Alle diese Gruppen waren die ›Oberschicht‹. Zur Mittelschicht zählten u.a. die ›Kleinbürger‹, abhängige Handwerker, Unteroffiziere, Amtsdiener etc., in Deutschland etwa 7,5%, in Frankreich ca. 11%. Nur diese Gruppen kommen, von Ausnahmen abgesehen, als Leser überhaupt in Frage. Für die soziodemographische Identifikation des ›neuen Publikums‹ ist weiter zu bedenken, dass es vor allem in den Städten zu finden war. Dabei machte die sesshafte(!) Stadtbevölkerung in Deutschland etwa 10% der Gesamtbevölkerung von 20–22 Millionen am Ende des Jahrhunderts aus; in Frankreich etwa 16% der ca. 26 Millionen, davon über 600.000 allein in Paris. (Bei allen Schätzungen ist weiter zu bedenken: Die Gesellschaften Mitteleuropas in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren jung: In Deutschland heisst dies, dass 40% der Gesamtbevölkerung jünger als 15 Jahre war; in Frankreich war im Jahr der Revolution 75% der Bevölkerung nicht mehr als 40 Jahre alt.) Und eine Irritation für Demographen ist die Gruppe der NichtSesshaften, die in zeitgenössischen Statistiken, weil ausserhalb der Gesellschaft stehend, meist gar nicht auftauchen. Für Frankreich wurde diese Gruppe für 1783 auf 20% der Bevölkerung geschätzt; in Deutschland ist etwa der gleiche Anteil anzunehmen, er könnte aber nach den Hungersnöten 1770–1772 über 30% betragen haben. Wenn wir also die Ober- und Mittelschicht mit ca. 13–23% der Bevölkerung als jene Gruppe identifizieren, die überhaupt als potentielles Publikum in Frage kommt, dann heisst das noch keineswegs, dass sie tatsächlich gelesen habe. Die Frage ist: Wieviele konnten lesen, wieviele davon flüssig, wieviele davon lasen tatsächlich regelmässig, wieviele davon aber waren nicht zugleich Gelehrte oder Literaten (die aus professionellen Gründen lasen), und wieviele der regelmässigen Leser wiederum lasen nicht nur pragmatische oder religiöse Texte, sondern Belletristik?2 Konkretisiert man die sozialgeschichtlichen Entwicklungen zur Frage nach der Veränderung des literarischen Publikums, so bedeuten sie, dass eine Schicht mit neuer materieller und geistiger Lebensweise und insofern neuer Mentalität entstand. Neben dem zentralen Merkmal der Bildung schuf Geld eine für Lektüre offene Situation. Das Bürgertum besass im Gegensatz zu anderen, oft kaum schlechter gestellten, aber noch stärker naturalwirtschaftenden Gruppen, wie reichen Bauern oder kleinen Adligen, am ehesten disponibles Geld zum Kauf von Büchern, für die Mitgliedschaft in einer Lesegesellschaft oder für die Gebühr in einer Leihbibliothek.3 Und die Lebenssituation des Wirtschafts- wie des Beamten-Bürgertums begünstigte es, dass sich hier die moderne Differenzierung der Geschlechtercharaktere früher und deutlicher ausbildete als in anderen Schichten. Das bedeutet eine spezifisch bürgerliche Verteilung von Tätigkeiten auf Mann und Frau und die damit mögliche Freisetzung der von produktiver Tätigkeit entlasteten Frauen für die Lektüre von Literatur; darüber hinaus die Ausbildung einer spezifisch bürgerlichen Bedürfnis- und Interessenstruktur.4 Für die Belletristik ist dies näherhin
2. Cf. Abschnitt 2 und 3. 3. Cf. Abschnitte 4, 6, 7. 4. Cf. Abschnitt 5.
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eine spezifisch weibliche Bedürfnis- und Interessenstruktur. Denn die Geschlechterrollenverteilung ergab klare Zuordnungen: Die Männer lasen — von berufsbezogener Lektüre abgesehen — vor allem die Zeitung, politische und Sachliteratur; das Publikum der belletristischen Literatur waren im 18. Jahrhundert — und dann auch im 19., und bis heute — überwiegend die Frauen. Bei ihnen hängt dies mit ihrer Konzentration auf häuslich-konsumtive Tätigkeiten zusammen. Aber auch die Männer des neuen Bürgertums verfügten über ›freie Zeit‹ im Sinne disponibler Zeit als Voraussetzung für Lektüre oder Theaterbesuch; ihre berufliche Situation ausserhäuslicher Tätigkeit liess die moderne kategoriale Trennung von Arbeit und Freizeit entstehen.5 Dieses neue Publikum — das in Bezug auf Belletristik weitgehend weiblich war — wird sichtbar in der Nachfrage nach einer neuen Literatur. Diese Nachfrage traf im frühen 18. Jahrhundert zunächst auf eine Literaturproduktion, die sie zunächst weder ideell noch materiell befriedigen konnte. Dies bewirkte einerseits die Entstehung des ›freien Schriftstellers‹, der in der Arbeit für dieses neue und zahlungskräftige(!) Publikum sein Einkommen suchte, andererseits die Ausweitung der gesamten Buchproduktion, wie sie im Anstieg der jährlich neu erschienenen Titel erkennbar wird. Die absoluten Zahlen sind schwer zu ermitteln;6 sicher ist aber die für ganz Europa geltende Tendenz: ein Anstieg der jährlich produzierten Titel in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts etwa auf das Drei- bis Vierfache.
Wieviele konnten lesen, wieviele lasen tatsächlich? If John goes to town with a load of hay, he is charged to be sure not to forget to bring home Peregrine Pickle’s Adventures; and when Dolly is sent to market to sell her eggs, she is commissioned to purchase The History of Pamela Andrews. In short all ranks and degrees now READ. (1791)7 Tout le monde lit à Paris. Chacun, surtout les femmes, a un livre dans sa poche. On lit en voiture, à la promenade, au théâtre dans les entr’actes, au café, au bain. Dans les boutiques, femmes, enfants, ouvriers, apprentis lisent; le dimanche les gens qui s’assoient à la porte de leurs maisons lisent; les laquais lisent derrière les voitures, les cochers lisent sur leurs sièges, les soldats lisent au poste et les commissionaires à leur station (Ende 18.Jh.)8 In den jetzigen gesellschaftlichen Verhältnissen sind die Romane ein Bedürfniss, wie das Theater. Sie haben, wie dieses, ein grosses, gemischtes Publikum; die ganze weibliche Welt wenigstens, von der Prinzessin bis zum Kammermädchen und zur Nähterin, liest Romane. (1829)9
5. Cf. Abschnitt 8. 6. Cf. Abschnitt 4. 7. Lackington, zitiert nach Leavis, Queenie D., Fiction and the Reading Public, London 1932 / 1965, S. 132. 8. So der deutsche Reisende H. Storch, zitiert nach Schleich, Thomas, »Die Verbreitung und Rezeption der Aufklärung in der französischen Gesellschaft am Beispiel Mably«, in: Gumbrecht / Reichardt / Schleich (eds.), Sozialgeschichte, op. cit., Teil II, S. 147–170, hier: S. 162. 9. Schreyvogel, Joseph, Über Romanen-Lektüre, in: ders., Gesammelte Schriften von Thomas und Karl A. West, 2. Abt., 2. Teil, Braunschweig 1829, S. 42–63, hier: S. 58.
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In ganz Europa war in den Jahrzehnten um 1800 das allgemeine Lesen, vor allem das Romanelesen, für die zeitgenössischen Beobachter ein Phänomen; zumal es, im ersten Anschein ihrer Äusserungen, alle gesellschaftliche Schichten zu erfassen schien. Freilich sind in Betrachtung solcher Äusserungen einige Einschränkungen zu machen: Zum ersten blendeten solche Diskurse des 18. Jahrhunderts — und nicht nur hier — ganze soziale Gruppen einfach aus, als gäbe es sie gar nicht: »Tout le monde lit«, ebenso wie »Alles liest Romane, bis auf den niedrigsten Stand im Publikum« (1787)10 meinte nicht die gesamte Bevölkerung, sondern bezog sich nur auf ein bestimmtes soziales Milieu, das zugleich der Erfahrungsbereich der Verfasser war. Dennoch ist es ein sozialgeschichtliches Indiz für die Ausweitung des Publikums, dass nun von der »ganzen weiblichen Welt«, von »tout le monde« oder »tout Paris« gesprochen wurde, wo ein Jahrhundert vorher »la cour et la ville« eine soziodemographisch winzige Gruppe meinte. Zum zweiten darf man solche Äusserungen nicht als Beleg verstehen für eine allgemeine Rezeption der Aufklärer oder (in Deutschland) der Weimarer Klassik; selbst wo entsprechende Werktitel oder Autorennamen erwähnt werden, ist dies eher Beleg für eine gewisse Selbstüberschätzung des Kollektivs von Intellektuellen; tatsächlich verbreitet gelesen wurden eher Produkte, die kaum in die Literaturgeschichte eingingen. Andererseits artikulieren solche Diskurse zeitgenössische Irritationen: Auch ein Anstieg von beispielsweise 1% auf 2% regelmässiger Belletristik-Leser(innen) an der Bevölkerung ist ein relativer Anstieg um 100%, also für die Zeitgenossen eine grosse Zunahme. Zu diesen Irritationen, in denen sich dann doch neue Realitäten spiegeln, gehört das Lesen der Frauen und der Dienstboten. Gerade letztere (sie machten Ende des 18. Jahrhunderts 10% bis 20% der Bevölkerung in den Städten aus) stellen eine hochinteressante Gruppe mit doppelter sozialer Bindung dar: Eigentlich einer illiteraten Schicht angehörend bzw. oft aus illiteratem Milieu stammend, lebten sie in einem literaten Milieu und konnten teilweise an dessen Standards partizipieren.11 Obwohl in den letzten Jahren zahlreiche Studien zu Lesefähigkeit und Buchbesitz (oft als lokale Fallstudien) vorgelegt wurden, sind nur sehr grobe Schätzungen möglich. Aus den Detailstudien ist zu generalisieren: Erstens, dass die regionalen Unterschiede noch grösser waren, als man früher schon annahm: Sie reichen bereits innerhalb des deutschen Sprachraums z.B. bei den Lesefähigkeitsquoten gegen Jahrhundertende von fast völligem Analphabetismus in einigen Regionen (z.B. in Ostelbien) bis zu Lesefähigkeitsquoten von 80 oder 90% in anderen (z.B. im Zürcher Oberland), sodass jede Verallgemeinerung eine fast unzulässige Abstraktion ist; das Gleiche gilt für die Quoten des tatsächlichen Lesens. Diese regionalen Differenzen gehen über die bekannten konfessionellen Differenzen, nach denen seit je (und übrigens bis heute!) Protestanten mehr lesen als Katholiken, hinaus bzw. sind nicht einfach damit zu verrechnen. Die Daten der um 1800 beginnenden Etablierung der Schulpflicht bieten für die Schätzung der Lesefähigkeit wenig Hilfe: Erlasse bedeuteten weder, dass es überall Schulen gab, noch, dass
10. Kindervater, Christian Viktor, »Was nutzen oder schaden die Romane?« In: Philosophische und litterarische Monatsschrift für Menschen in allen Ständen und Verhältnissen zur Bildung des Verstandes und Herzens, 2. Bd., Januar — April 1787, S. 78–89, hier S. 78. 11. Vgl. Engelsing, Rolf, »Dienstbotenlektüre im 18. und 19. Jahrhundert«, in: ders., Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten, Göttingen 1973, S. 180–224, S. 297–304. Zuerst erschienen in: International Review of Social History XIII, 1968, S. 384–429.
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alle Kinder sie besuchten; und wenn, dann unregelmässig, oft insgesamt nur ein oder zwei Jahre; viele Kinder konnten wegen der unzureichenden Schulpraxis am Ende des Schulbesuchs nicht lesen oder gar schreiben; sehr viele, die nach der Schule mehr oder weniger lesen konnten, verlernten es mangels Übung wieder (›Sekundäranalphabetismus‹), etc. Andererseits lernten sehr viel mehr als heute auf irgendeine Weise ausserhalb der Schule lesen. Zu differenzieren ist zwischen den Geschlechtern. Überall hatten — mit leichten Unterschieden — die Frauen geringere Bildungsschancen. Bei der Elementarbildung besuchten Mädchen die Schule weniger zahlreich, unregelmässiger, und verliessen sie früher wieder als Jungen; zur höheren Bildung waren sie auch im Bürgertum nicht zugelassen. Für die Frauen des Kleinbürgertums ist deshalb oft eine unvollständige Ausbildung in dem Sinne anzunehmen, dass sie zwar mehr oder weniger flüssig lesen, aber nicht oder jedenfalls nicht flüssig schreiben konnten; das änderte sich erst nach den 1820er Jahren. Der Grund dafür ist, dass in allen drei hier verglichenen Ländern (und darüber hinaus überall in Europa) bis ins 19. Jahrhundert Lesen und Schreiben getrennte Fähigkeiten waren; man lernte zuerst lesen, erst, wenn man dies beherrschte, wurde das Lernen des Schreibens begonnen. »If acquired at all, they were acquired — and offered by teachers — in sequence: reading before writing, writing before arithmetic.«12 Das führt zu einem Quellenproblem: Lesefertigkeit allein hinterlässt selten Zeugnisse, das Fehlen von Zeugnissen der Schreibfähigkeit zeigt aber nicht, wie man fälschlich lange annahm, zugleich fehlende Lesefähigkeit an. Das bedeutet, dass bei den Quoten der Schreibfähigkeit, auch der blossen »Signierfähigkeit« (also der Fähigkeit, z.B. bei Gelegenheit der Eheschliessung mit dem eigenen Namen unterschreiben zu können — aber sonst vielleicht nichts anderes schreiben zu können) der Unterschied zwischen den Geschlechtern grösser war als bei der Lesefähigkeit, da die Mädchen oft Lesen, aber nicht Schreiben lernten. Deshalb war vermutlich die Lesefähigkeit der Frauen höher, als es die direkten Zeugnisse vermuten lassen; insgesamt lag die formale Lesefähigkeit vermutlich nicht viel unter der der Männer. Im Bürgertum trennten sich die Bildungsverläufe auf höherem Niveau. Hier endete die Ausbildung der Frauen an einem Punkt jenseits der formalen Lesefähigkeit, aber vor dem Erwerb jener Kompetenz, die den Männern in ihren weitergehenden Bildungsgängen als adäquat für den Umgang mit literarischen Texten vermittelt wurde. Die unterschiedlichen Einschätzungen der Lesefähigkeit haben ihren Grund auch darin, dass der Begriff ›Lesefähigkeit‹ nicht ein ›Entweder-Oder‹ meint, sondern ein sehr breites Spektrum abgestufter Qualifikationen umfasst. Die Differenzen in den Schätzungen weisen hin auf die Vielen, deren Lesefähigkeit ausreichte, um beispielsweise langsam ein Stück im Kalender oder in einem Erbauungsbuch oder die Perikope für die Predigt am nächsten Sonntag lesen zu können, und die im Vollzug dieses Lesens ein religiöses Erlebnis hatten, und die zunächst noch
12. Sutherland, Gillian, »Education«, in: Thompson, Francis Michael L. (ed.), The Cambridge Social History of Britain, 1750–1950, Bd. 3, Cambridge et al. 1990, S. 119–169, hier S. 119 f. Vgl. Schön, Erich, Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart 1987, Neuausgabe 1993, S. 33 et passim; ders., »Weibliches Lesen: Romanleserinnen im späten 18. Jahrhundert«, in: Gallas, Helga / Heuser, Magdalena (eds.), Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800, Tübingen 1990, S. 20–40; Quéniart, Jean, »Alphabetisierung und Leseverhalten der Unterschichten in Frankreich im 18. Jahrhundert«, in: Gumbrecht / Reichardt / Schleich (eds.), Sozialgeschichte, op. cit., Teil II, S. 113–146; Viguerie, Jean de, L’institution des enfants: l’education en France, XVIeXVIIIe siècle, Paris 1978 (Kap. 5).
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Wenigen, die schnell und flüssig in kurzer Zeit einen Leihbibliotheksroman lesen konnten und daraus ein ganz anderes, auch auf der zügigen Erfassung des Inhalts beruhendes Erlebnis zogen. Die divergierenden Schätzungen weisen zudem darauf hin, dass potentielles ›Lesen-Können‹ nicht gleichbedeutend ist mit tatsächlichem Lesen, noch weniger mit dem Lesen von Belletristik. Dies ist zugleich der Unterschied zwischen dem grossen Publikum etwa der Zeitungen und dem kleinen ›anspruchsvoller‹ Literatur. Schenda hat geschätzt, welcher Bevölkerungsanteil in Mitteleuropa von der Lesefähigkeit her als potentielle Leser in Frage kommt: 1770: 15%; 1800: 25%; 1830: 40%; 1870: 75%; und 1900: 90%.13 Doch gibt es Hinweise, dass am Ende des 18. Jahrhunderts bereits die Masse der Bevölkerung elementar lesekundig war, was nicht flüssiges Lesen, sondern eher ›Buchstabieren‹ meint. Bezieht man sich nicht auf die ›fliessende Lesefähigkeit‹, sondern auf die ›elementare Lesefähigkeit‹, was nicht der Schreibfähigkeit korrespondiert, sondern höchstens der Signierfähigkeit, dann könnte im deutschsprachigen Raum die Quote für 1700 ca. 10–20% betragen haben, zumal der Stand vor dem 30jährigen Krieg erst gegen 1740 wieder erreicht wurde; und 1800 ca. 50%. Das sind aber nicht die regelmässig oder wenigstens gelegentlich Lesenden, diese sind für die Zeit um 1500 auf 1–2% zu schätzen, für 1600 auf max. 2–4% und für 1700 auf kaum mehr: Martino hat für das frühe 18. Jahrhundert für den deutschen Sprachraum eine theoretische Zahl von 2760 Personen als (Käufer-) Publikum der Belletristik ermittelt, auch wenn bei dieser Zahl die erhebliche Multiplikatorfunktion von Schul-, Kirchen- und Klosterbibliotheken vernachlässigt wird.14 Um 1800 schliesslich könnten, je nach Bedeutung der Begriffe ›regelmässig‹ bzw. ›gelegentlich‹ und je nach dem, ob man von Belletristik oder von Lesen allgemein spricht, die regelmässigen oder gelegentlichen Leser ca. 1% bis max. 10% der Erwachsenen-Bevölkerung betragen haben; eine Quote, die sich bis 1850 höchstens verdoppelte. Oder anders: Für das Ende des 18. Jahrhunderts, die Zeit der Weimarer Klassik, ist die Zahl derer, die — entsprechend der Kategorisierung in der heutigen Leseforschung — mindestens einmal im Jahr ein belletristisches Buch lasen, mit kaum 1% der Erwachsenen-Bevölkerung oder höchstens 120.000 Personen anzunehmen.15 (Zum Vergleich: Heute lesen in Deutschland ca. 40% der Erwachsenen mindestens 1 mal pro Woche in einem »Buch zur Unterhaltung«.) Auch in Frankreich stieg die Zahl der Lesefähigen im 18. Jahrhundert, wo die Stadt-LandDifferenz noch stärker war als in Deutschland. Schätzungen sprechen von einem Schub in der Jahrhundertmitte und davon, dass die Lesefähigkeit im Laufe des Jahrhunderts von 25% auf 50% bei den Städtern, von 20 auf 37% auf dem Lande stieg; andere Schätzungen beziehen sich nur auf die Erwachsenen und sprechen von einem Drittel Lesefähiger insgesamt und etwa 75% in
13. Schenda, Rudolf, Volk ohne Buch, München 1970, ³1988, S. 444. 14. Martino, Alberto, »Barockpoesie, Publikum und Verbürgerlichung der literarischen Intelligenz«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur I, 1976, S. 107–145; Szyrocki, Marian, »Buchproduktion und das literarische Publikum im 17. Jahrhundert«, in: Höhle, Thomas /Sommer, Dietrich (eds.), Probleme der Literatursoziologie und der literarischen Wirkung, Halle 1978, S. 19–28. 15. Vgl. Schön, Erich, »Publikum und Roman im 18. Jahrhndert«, in: Jäger, Hans Wolf (ed.), Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert. Akten der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts, Meersburg Nov. 1992, Göttingen 1997, S. 295–326.
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den Städten am Ende des Ancien Régime.16 Auch hier ergibt sich die breite Spanne in den Schätzungen daraus, dass sie sich oft auf ganz verschiedene Niveaus der Lesefähigkeit beziehen: Einerseits waren in den 80er Jahren etwa 9,6 Mio. Franzosen von knapp 26 Mio. signierfähig (»signatures au marriage«); die Quote der Signierfähigkeit (die zugleich die Mindest-Quote der elementaren Lesefähigkeit, aber nur auf Personen im Heiratsalter zu beziehen ist!) stieg zwischen 1686 / 1690 und 1786 / 1790 von 21% auf 37% an; 47% der Männer, 27% der Frauen unterschrieben zur Zeit der Revolution bei der Heirat mit ihrem Namen. Andererseits ergibt die Berechnung derer, die von ihrer Bildung her das ›potentielle Publikum‹ für Belletristik darstellten, eine weit geringere Zahl: La France du dix-huitième compte encore 90% de paysans; le public potentiel des écrivains se recrute dans la partie privilégie ou relativement privilégie de la population urbaine: aristocratie, bourgeoisie […]. Mais si l’on admet que les collèges des jésuites, lors de leur suppression, dépassaient la centaine, et si l’on estime grossièrement les effectifs de ces institutions et des institutions similaires à une centaine de milliers d’élèves masculins, on peut admettre que la population lettrée du sexe fort comporte 5 à 600.000 individus. En y ajoutant un nombre correspondant de femmes, plus ou moins ouvertes aux préoccupations de leurs époux, on obtient un chiffre d’un million de personnes parmi lesquelles se recrutaient le public lettré, les lecteurs de l’Encyclopédie […]. C’est-à-dire moins de 4% de la population de royaume, qui devait atteindre 26 millions d’habitants à la veille de la Révolution.17
Für England sind die Einträge in den ›parish registers‹ seit dem Marriage Act von 1753 auswertbar: Von 1753 bis ca. 1820 unterschrieben relativ konstant etwas mehr als 60% der Männer mit ihrem Namen; 1840 waren es 66%; dann stieg die Quote schneller. Bei den Frauen waren es 1753 knapp 40%; bei ihnen stieg die Quote langsam, aber kontinuierlich auf etwas mehr als 50% im Jahr 1840.18 Für Grossbritannien (England, Schottland und Wales), dessen Einwohnerzahl von ca. 7,5 Mio. im Jahr 1750 über 10,5 Mio. 1801 auf 20,8 Mio. 1851 anstieg und in jenem Jahr ca. 12 Mio. betrug, schätzte Francis Jeffrey, der Herausgeber der Edinburgh Review (1812), es gebe »not less than 200.000 persons who read for amusement or instruction, among the middling classes of society«, und in der Oberschicht »not as many as 20.000«.19 In diesem Sinne stellt sich — korrespondierend der auf ganz Mitteleuropa bezogenen zitierten Schätzung Schendas — Mitteleuropa trotz grosser lokaler und regionaler Unterschiede als ein Raum zwar bei weitem nicht gleicher, aber doch vergleichbarer Bedingungen hinsichtlich der Alphabetisierung und Literarisierung dar.
16. Nach Gumbrecht, Hans-Ulrich, »Skizze einer Literaturgeschichte der französischen Revolution«, in: Stackelberg, Jürgen von (ed.), Europäische Aufklärung, III. Teil, Frankfurt a.Nu. 1980, S. 269–328. Cf. auch Furet, François / Ozouf, Jacques, Lire et écrire. L’alphabétisation des Français de Calvin à Jules Ferry, 2 Bde, Paris 1977; Quéniart, Jean, »Alphabetisierung«, op. cit.; ders., Culture et Société Urbaines dans la France de l’Ouest au XVIIIe siècle, Paris 1978. 17. Gusdorf, George, »Préface« zu: Paul Hoffmann, La femme dans la Pensée des lumières, Paris 1977, S. 13. Zu den Collèges siehe auch Harten, Hans-Christian, Elementarschule und Pädagogik in der Französischen Revolution, München 1990. 18. Schofield, nach Sutherland, Gillian, »Education«, op. cit. 19. Nach Sutherland, James, »Readers and Writers«, in: ders., A Preface to Eighteenth Century Poetry, London 1948 / 1966, S. 48 f.
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Deutlich anders ist die Situation in West- und Südeuropa und in Osteuropa; hier liegen die Quoten der Lesefähigkeit deutlich niedriger, in ganz Osteuropa liegt um 1800 die elementare Lesefähigkeit bei höchstens 20% der Erwachsenenbevölkerung.20 Leider ist hier kein Raum, um auf die Situation in den einzelnen anderen Ländern Europas einzugehen. Nehmen wir Ungarn nur als ein Beispiel dafür, wie verschieden (schon von der Sozialstruktur her) die Situation in den anderen Ländern war. Eine Volkszählung im Jahr 1787 ermittelte 3.239.708 männliche Einwohner, davon 155.519 Adlige und 75.385 Angehörige des Bürgertums; 3.792 Personen werden als Beamte, Gelehrte u.a. bezeichnet. Die Zahl der Bürger und Beamten stieg zwar in den folgenden Jahrzehnten, doch blieb Ungarn ein ›Land der Adligen‹. Die Lektüre und damit auch der Buchmarkt war gespalten: Auf Ungarisch erschienen in den 70er Jahren 100–500 Titel pro Jahr, 1795 waren es 258, 1800 224; als durchschnittliche Buch-Auflage wurde 500 angegeben. Ein grosser Teil derjenigen, die von ihrer Bildung her überhaupt als Leser in Frage kamen, las aber französische und vor allem deutsche Literatur in der Originalsprache; die deutschsprachige Stadtbevölkerung las auch im 19. Jahrhundert sogar ungarische Literatur in deutscher Übersetzung. In Deutschland war es nur die kleine Schicht des Adels, die es vorzog, auf Französisch zu lesen (das Bürgertum las auch um 1800 schon lieber in Übersetzung); hier war es aber nahezu das gesamte potentielle Lesepublikum, das in einer anderen als der Nationalsprache las. Wenn ›Aufklärung‹ etwas anderes sein sollte als ein Aspekt der österreichischen Herrschaft, dann musste eine Bestrebung der zeitgenössischen Intellektuellen allererst die Übersetzung der ausländischen Literatur sein, als Vorstufe für eine eigene nationalsprachige Literatur. György Bessenyei forderte 1778 (damit zugleich dokumentierend, welche Autoren rezipiert wurden): Wenn Volfius, Fleury, Montesquieu, Wieland, Cronegk und Milton in ungarischer Sprache gelesen werden können, gehe ich jede Wette ein, dass in ein paar Jahren auch die Frauen mehr Wissen und Verstand haben, als jetzt viele Doktoren im Land. Was würde es schaden, wenn der Deutsche Gellert von den Bürgerfrauen in Debrecen, Kecskemét und Kaschau ungarisch gelesen werden könnte?21
Dies war ein Problem, das den mitteleuropäischen Ländern fremd war, das aber sicher typisch war auch für die anderen Länder Osteuropas.
Wer las Belletristik? Ich möchte drei Gruppen unterscheiden. Die erste Gruppe soll im folgenden ausdrücklich nicht näher betrachtet werden: Es ist jene Gruppe, die zwar nicht immer explizit, aber doch de facto
20. Cf. Wittmann, Reinhard, »Der deutsche Buchmarkt in Osteuropa im 18. Jahrhundert — Voraussetzungen und Probleme«, in: ders., Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert, Tübingen 1982, S. 93–110, hier: S. 108; ders., »Der lesende Landmann«, in: ders., Buchmarkt und Lektüre, op. cit., S. 1–45, hier: S. 4 et passim. 21. Zitiert nach Fried, István, »Leserschaft und literarische Produktion während der Aufklärung in Ungarn«, in: Göpfert, Herbert G. / Kozielek, Gerard / Wittmann, Reinhard (eds.), Buch- und Verlagswesen im 18. und 19. Jahrhundert, Essen 1987, S. 295–302, hier S. 301.
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für die (v.a. für die rezeptionsästhetische) Philologie lange die wichtigste war: die professionellen Leser wie Literaten, Publizisten, semi-professionelle Rezensenten, Theologen, Pädagogen. Dies könnten — bei Belletristik, aber verschieden bei einzelnen Werken — 5%–10% des Publikums eines Werkes, manchmal auch mehr, gewesen sein. Der Ausschluss dieser Gruppe aus der Betrachtung ist nicht unproblematisch. Zum einen, weil er vom historischen Material her ohnehin kaum völlig gelingt. Zum anderen, weil eben diese Gruppe Träger des in der Presse oder sonst in Publikationen oder auch Predigten vorgetragenen ›öffentlichen‹ Räsonnements über Literatur war (wenn es auch Indizien gibt, dass gerade sie oft die Romane, gegen die sie polemisierten, gar nicht gelesen hatten). Dennoch ist dieser Ausschluss nötig, um nicht im rezeptionsästhetischen Zirkel zu verbleiben, für den als ›aufnehmende Leser‹ nur ›reflektierende Kritiker‹ und ›selbst wieder produzierende Schriftsteller‹ auftreten. Gerade, dass im 18. Jahrhundert ein nicht gelehrt-professionelles Lesepublikum entstand, verweist darauf, entsprechend einer treffenden zeitgenössischen Bezeichnung, nicht den ›gelehrten Professionsverwandten‹ des Autors zu betrachten, sondern den Blick zu lenken auf den ›blossen LeseDilettanten‹. Die zweite Gruppe des Belletristik, v.a. Romane, lesenden Publikums waren männliche Jugendliche bis zur Adoleszenz, genauer, bis zum Eintritt ins Berufsleben. Das hat einen historischen Grund: Im 17. und frühen 18. Jahrhundert gab es eine gewisse Akzeptanz der Poesie im allgemeinen und des Romans im besonderen im Rahmen der rhetorischen Ausbildung. Ebenso wie die Teilnahme an schulischen Theateraufführungen den für eine Beamtenlaufbahn vorgesehenen Schüler in seinem Habitus auf ein Leben als öffentliche Person vorbereitete, so wurde auch den Romanen von ihren Verteidigern eine entsprechende Funktion zugeschrieben, in Übereinstimmung mit der Poetologie (d.h.: dem Selbstverständnis) der barocken Romane. Diese Akzeptanz endete in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Hieronymus Freyer 1730: Will […] ein ander […] dencken, er könne doch aus Romanen höflich conversiren, artig komplimentiren und zugleich den Lauff der Welt erkennen lernen: der tue es auf eigene Gefahr; […] Conversiren lernet man besser an lebendigen Exempeln, als aus den Büchern: und die von den Romanen erborgten Complimente verrathen sich ohnedem unter vernünftigen Leuten gar bald und sind den Steltzen nicht ungleich, worauf man an statt gesunder Füsse gehen will.22
Von dieser alten Funktionszuordnung her gehörte also für junge Männer eine mässige(!) Lektüre von Romanen zur beruflichen Qualifikation in der Perspektive einer Tätigkeit als öffentliche Person. Und deshalb wurde literarisches Lesen — solange es ein bestimmtes Mass nicht überschritt — bis ins 19. Jahrhundert hinein trotz des grundsätzlichen Bedeutungsverlusts der Rhetorik in der Ausbildung für sie noch akzeptiert. Für Männer galt aber ganz klar, dass diese Lizenz zur Lektüre von Belletristik präzise an einem bestimmten Punkt in der Biographie endete: mit dem Eintritt ins Berufsleben. Dann begann der ›Ernst des Lebens‹, und spätestens dann hatte die Romaneleserei aufzuhören. Dementsprechend lassen sich vom mittleren 18. Jahrhundert an (und bis ins 20.) zahlreiche normative Äusserungen versammeln mit einem doppelten Tenor. Erstens: Das Romanelesen (und
22. Freyer, Hieronymus, »Das XX Programma Vom Romanenlesen den 29 Martii 1730«, in: ders., Programmata LatinoGermanica etc., Halae Magdeburgicae 1737, S. 449–478 et Addendum, hier S. 476.
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die dadurch bewirkte Empfindsamkeit, die wir ja heute mit ›Empathie‹ historisch übersetzen) mache untüchtig zu tatkrätigem praktischen Leben. Zweitens: Romanelesen sei ›unmännlich‹. Ein Beispiel aus dem Jahr 1788: Des Romanlesers Empfindungs- und Handlungsart ist grade jene […] der Romanenpersönchen. Empfindeley macht unfähig zu jedem Geschäfte; spannt alle Sennkraft, Federschnelle und Thätigkeit ab, und macht aus dem Mann ein schwaches kränkelndes Weib.23
Das wird dann für das ganze 19. Jahrhundert gelten: Männer, die einen Beruf haben, würden sie nicht ein wenig den Glauben an ihren Ernst und ihre Tüchtigkeit erschüttern, wenn sie offen eingestehen wollten, dass sie sich in ihren Mussestunden auch mit der Lektüre von Romanen, Theaterstücken etc. beschäftigen, […]?24
Als sozial- und mentalitätsgeschichtliche Basis für das Leseverhalten der männlichen Jugendlichen, speziell für die Lizenz zum Romanelesen wurde seit dem späten 18. Jahrhundert ein anderes Moment charakteristisch: das sich allmählich herausbildende Moratorium ›Jugend‹. Es zeichnete sich bereits in den Jugendkulturen von Empfindsamkeit und Sturm und Drang ab; die hier feststellbaren Leser sind nach modernen Kategorien Jugendliche. (Das betrifft die empirischen wie die in den Texten als positiv vorgeführten.) In dem Moratorium ›Jugend‹ war — im 18. Jahrhundert zunächst für die Jugendlichen des Bürgertums, im 19. allmählich auch des Kleinbürgertums — nicht nur Raum für die allgemeine ›Pubertät‹, sondern damit auch für eine ›Kultur-Pubertät‹. Die Etablierung dieses Moratoriums ›Jugend‹ als einer Lebensphase vorübergehender gesellschaftlicher Entpflichtung begann im 18. Jahrhundert. Ich nehme das Beispiel einer ›Lesesucht‹-Phase als bis heute geläufiges Phänomen der literarischen Pubertät. 1789 lässt der Verfasser eines fingierten ›Familiengesprächs‹ den Mann zu seiner romanelesenden Ehefrau sagen: »Ich bin auch jung gewesen, Emma, und habe verschlungen, was zu lesen war.«25 Aber als Erwachsener liest er eben keine Romane mehr, und betrachtet auch die Romaneleserei von Frau und Tochter mit Misstrauen. Für die dritte Gruppe, die Frauen — ich rede von derselben sozialen Schicht, dem Bürgertum und dem Kleinbürgertum — verlief die biographische Entwicklung gerade umgekehrt: Für sie gehörte die Beschäftigung mit Literatur nicht zur Ausbildung. Jenseits einer bestimmten Qualifikationsstufe musste eigene Lektüre die formale Bildung sogar ersetzen. Stets aber war das Regulativ nicht das Sollen z.B. der rhetorischen Ausbildung, sondern das Dürfen nach Massgabe inhaltlicher Kriterien. Und da wurden für die Frauen — ebenfalls in einer biographischen Passage — die Freiheiten in einem Moment schlagartig grösser: im Moment der Verheiratung. Einer verheirateten Frau war schliesslich manches zuträglich, was für ein junges Mädchen unschicklich gewesen wäre. Sieht man ab von denjenigen, die aus professionellen Gründen damit befasst waren, —
23. D - r, »Winke über Lektüre, und Einiges über das Romanenlesen insbesondere«, in: Münsterisches gemeinnützliches Wochenblatt, 4. Jg 1788, XVI-XVII. Stück, S. 62–71, hier: S. 68. 24. Megede, zitiert nach Ludwig Hamann, Der Umgang mit Büchern und die Selbstkultur, Leipzig ²1899, S. 76. 25. »Familiengespräch. Wilhelm und Emma«, in: Hannoverisches Magazin 27, 1789, Hannover 1790, 46. St., Sp. 721–736; 47. St., Sp. 737–752; 48. St., Sp. 753–758; hier: Sp. 747.
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vielleicht auch: denen es gelungen war, aus ihrer Neigung Profession zu machen, — dann findet man fast nur bis zur Adoleszenz Männer als Romanleser, sonst überwiegend Frauen. (Der Grundriss wird auch für das 19. Jahrhundert gelten; er gilt auch heute noch.)26 Auf die Geschlechtsspezifik des Leseverhaltens in älteren Phasen der Geschichte des Lesens kann hier nicht eingegangen werden.27 Für das 18. Jahrhundert und für das in seinem Verlaufe entstehende moderne Publikum ist jedenfalls von Anfang an festzustellen, dass zwar Männer insgesamt deutlich mehr lasen, aber eben kaum Belletristik.28 Auch die zeitgenössischen Autoren, vor allem aber Verleger oder Herausgeber waren sich sehr wohl dieser Zusammensetzung des tatsächlichen literarischen Publikums bewusst. So belegt — nur als Beispiel — die Korrespondenz der Herausgeber der Quartausgabe der Werke Goethes, dass sie wussten, dass ihr »Publicum […] zum grössern Theil aus Frauen und Mädchen, Jünglingen und Knaben« bestand.29
Buchproduktion, eigener Buchbesitz Umfangreicher als die aller anderen europäischen Länder war die Buchproduktion in französischer Sprache. Eine Schätzung der jährlich neuen Titel spricht von einem Anstieg von etwa 300 neuen Titeln 1715 auf über 800 im Jahr 1785 in Frankreich (!). Die gesamte Buchproduktion (also inklusive Neuausgaben etc.) erreichte aber schon um die Mitte des Jahrhunderts in einigen Jahren 1.500 Titel und mehr; in den Jahren 1760 bis 1775 sollen mehrmals 2.000 Titel erreicht worden sein. Eine zuverlässige, auf Autopsie beruhende Untersuchung ermittelte für 1764 1.548 verschiedene Titel. Während der napoleonischen Kriege ging — wie überall in Europa — die Produktion zurück. Nach den Angaben der Bibliographie de la France erreichte die Produktion 1821 5499 Titel und war später nie wieder niedriger. Für das Ancien Régime sind alle Berechnungen aus einem besonderen Grund sehr schwierig: Darnton hat gezeigt, dass die Produktion im Untergrund und vor allem die jenseits der Grenzen produzierten und heimlich ins Land gebrachten Titel einen grossen Anteil an der tatsächlich gelesenen Literatur ausmachten. Nach seinen Ergebnissen wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts möglicherweise eines von zwei französischen Büchern, oder sogar noch mehr, ausserhalb des Königreiches verlegt und illegal ins Land gebracht. Der Grund war die
26. Siehe Schön, »Weibliches Lesen«, op. cit.; ders., »Die gegenwärtige Lesekultur in historischer Perspektive«, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes XL, 1993, H. 2, S. 4–16. 27. Siehe Schön, Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart 1987 (Sprache und Geschichte 12), Abschnitt »Geschichte des Lesens«, S. 31–61; Gauger, Hans-Martin, »Die sechs Kulturen in der Geschichte des Lesens«, in: Goetsch, Paul (ed.), Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich, Tübingen 1994, S. 27–47. 28. Siehe Schön, »Leser und Lektüre im 18. Jahrhundert. Die Ausleihbücher der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (1714–1799) und ihr Nutzen für die Erforschung des Lesens im 18. Jahrhundert«, in: Das achtzehnte Jahrhundert, XVIII, 1994, H. 2, S. 151–159. 29. Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR (ed.), Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken, Teil 3: Die nachgelassenen Werke und die Quartausgabe, bearb. von Edith und Horst Nahler, Berlin (DDR) 1986, S. 386 (Brief Riemers an v. Müller).
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Zensur im katholischen, monarchistisch-zentralistischen Frankreich und die Möglichkeit ihrer Vermeidung in den protestantischen Nachbarländern. Durch den ›commerce sous le manteau‹ und den Schmuggel über die Grenzen waren nicht zu erlangende Druckerlaubnisse oder gar explizite Verbote zu umgehen. So wurden Amsterdam, Genf oder Neuchâtel zu wichtigen ›französischen‹ Druckorten. Orientierte man sich nur an den ›offiziellen‹ Titeln, wie sie in amtlichen Listen erscheinen, dann erhielte man ein falsches Bild vom tatsächlichen literarischen Leben. »[…] it is too easy to assume that the French of the eighteenth century read what passes today for eighteenth-century French literature.«30 Dies gilt, obwohl gerade die ›Literatur‹ oft ebenfalls zu den ›verbotenen Büchern‹ gehörte: »Yet most of what passes today for eighteenth-century French literature circulated on the shady side of the law in eighteenth-century France.«31 In Deutschland, das in der Buchproduktion Ende des 18. Jahrhunderts England, Spanien und Italien übertraf, stieg (nach Angabe der Buchmesskataloge) die Produktion neuer (!) Titel von 755 im Jahr 1740 über 1144 im Jahr 1770 auf 2569 im Jahr 1800. Die tatsächliche Gesamtproduktion betrug jedoch nach der von Wittmann für 1780–1782 angestellten Berechnung der nicht in den Messkatalogen enthaltenen, aber in den Buchhändlerzeitschriften annoncierten Titel in diesen drei Jahren über 15.000 Titel. Dies sind aber nur die gewissermassen ›offiziellen‹ Publikationen. Nicht erfasst sind dabei zum Beispiel lokale Publikationen oder Gelegenheitsdrucke, wobei nach einer Schätzung von Hans-Wolf Jäger etwa ein Drittel der gesamten Belletristik-Produktion Gelegenheitspoesie von Dilettanten war. Nicht erfasst sind in den deutschen Buchmess-Katalogen auch die süddeutsche Produktion, nicht das Volksschrifttum, Kalender etc. Vor allem fehlt die seit den sechziger Jahren und der Verlagerung der Buchmessen von Frankfurt am Main nach Leipzig wichtig gewordene Produktion der Nachdrucker. Und diese Raubdrucker druckten ja gerade die erfolgreichen Bücher nach! (In England hiessen sie ›pirates‹.) Entsprechend verbargen sich hinter Zensurverboten oft lediglich merkantilistisch motivierte Einfuhrverbote, die aber in der Regel leicht zu umgehen waren. Der französische ›commerce sous le manteau‹ und der Schmuggel über die Grenzen nach Frankreich hinein hat ein korrespondierendes Phänomen in Deutschland: bei der deutschen Kleinstaaten-Landschaft waren aufgrund der stets nahen, kaum im moderen Sinne kontrollierbaren Grenzen Bücherverbote leicht zu umgehen. Im Ergebnis dürfte die Gesamtproduktion also ein Mehrfaches der aus den Messkatalogen zu ermittelnden Zahlen betragen haben. Entsprechendes gilt für England. Die ältere Forschung ermittelte zunächst einen Anstieg neuer Titel pro Jahr in der zweiten Jahrhunderthälfte von etwa 100 auf fast 400. Inzwischen weiss man, dass die Produktion um die Mitte gegenüber dem Anfang des Jahrhunderts leicht gesunken war. The English Catalogue of Books, unvollständig bei billigen Druckwerken und der Produktion ausserhalb Londons, gibt dann für die 1820er Jahre über 900 Titel pro Jahr an, andere Quellen (wie die Stationers Hall list) um 1.300. Ohne dass dies das Faktum der Steigerung tangiert, muss man aber für die tatsächliche Gesamtproduktion mit Blick auf die grosse Zahl ephemerer Schriften wie in Deutschland das Mehrfache annehmen: The Eighteenth-
30. Darnton, Robert, The Literary Underground of the Old Regime, Cambridge / London 1982, S. 147. 31. Darnton, The Literary Underground, op. cit., S. VI.
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Century Short-Title Catalogue, die elektronische Auswertung von Bibliotheksbeständen, hatte 1992 etwa 340.000 Titel erfasst, die im 18. Jahrhundert nur in England (!) gedruckt worden sind. Die Belletristik machte an der Gesamtproduktion einen geringeren Teil aus, als man aus der Perspektive der Literaturgeschichte lange glaubte. Dennoch ist der Anstieg der Romanproduktion Indiz für die Entwicklung des literarischen Publikums. In Frankreich erschienen im 17. Jahrhundert etwa 1.000 Romane, ebensoviele in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts; und doppelt so viele neue Romane (plus ca. 5.000 Nachauflagen) in seiner zweiten Hälfte. Für Deutschland zeigt sich ein Anstieg der jährlichen Erstausgaben von 28 Titeln im Jahr 1750 auf 375 Titel im Jahr 1800, also eine Steigerung etwa auf das 13-fache; insgesamt sind es von 1750 bis 1800 über 5.008.32 Die durchschnittliche verkaufte (!) Auflage der Romane betrug maximal 700 Exemplare. Bekannt sind hohe Auflagen einzelner erfolgreicher Werke. Doch hat bereits Rousseaus (1750–1814) Nouvelle Héloïse (1761) mit 4.000 Exemplaren (in Frankreich) als Erfolgsroman zu gelten; die 24.000 Exemplare von Diderots Encyclopédie (in ihren verschiedenen Ausgaben) sind eine ganz ungewöhnliche Ausnahme. In England sind die Romane von Richardson, Fielding oder Smollett, die gelegentlich mehr als 4.000 Auflage erreichten, und dann später Walter Scott (dieser sogar auf dem Kontinent in Übersetzung) und Dickens Beispiele für solche Erfolge mit Ausnahmecharakter. »The usual first printing of a novel at this time […] was 500. The first printing for a work of non-fiction normally ranged from 500 to 1.000 or at the most 2.000.«33 In Deutschland sind es weniger die Werke der Weimarer Klassik als Johann M. Millers (1750–1814) Werther-Epigone Siegwart (1776); sind es die Familienromane von August Lafontaine (1758–1831), die Geistergeschichten von Christian H. Spiess (1755–1799) oder der Räuberroman Rinaldo Rinaldini (1798) von Christian A. Vulpius (1762–1827), die hohe Auflagen erzielten. Doch diese Ausnahmen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass wie heute auf wenige Erfolgsromane mit hoher Auflage viele mit sehr kleiner kamen. 1788 wird, schon eher generalisierbar, den Leipziger Verlegern in der ›Nürnberger Schlussnahme‹ von den süddeutschen Verlegern vorgeworfen: Sie »drucken 500 Exemplare [und] taxieren wegen der kleinen Auflage einen hohen Preiss«. Hohe Auflagen für Belletristik gab es erst im 19. Jahrhundert. In Deutschland galten um 1820 Almanache wie Claurens Vergissmeinicht mit Auflagen zwischen 4000 und 8000 als grosse Erfolge; von einer 1822 begonnenen ›wohlfeilen‹ Schillerausgabe im Verlag Cotta wurden 50.000 Exemplare verkauft, doch hatte dies bereits seinen Grund im Reputationswert bürgerlichen Bildungs-›Besitzes‹. Was wir heute als Massenproduktion bezeichnen, prägte die literatursoziologische Situation erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die technischen Innovationen der materiellen Literaturherstellung, die diese Massenproduktion erst möglich machten, lagen erst im 19. Jahrhundert, als Ergebnisse einer gezielten Suche nach Möglichkeiten, um der gestiegenen Nachfrage entsprechen zu können. Als Beispiele: Die Schnellpresse für kontinuierlichen Druck wird erst 1812 erfunden; erst 1843 bzw.
32. Nach: Hadley, Michael, Romanverzeichnis: Bibliographie der zwischen 1750 und 1800 erschienenen Erstausgaben, Bern u.a. 1977. Hadleys Zahlen sind im Zweifel eher nach oben zu korrigieren. 33. Altick, Richard D., The English Common Reader: A Social History of the Mass Reading Public 1800–1900, Chicago / London 1957 / 1963, S. 50.
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1860 wurden die Verfahren entwickelt, um Zellulose zu gewinnen und Lumpen durch Holz als Rohstoff für die Papierherstellung zu ersetzen. Für Sach- und Fachbücher allerdings lagen auch Ende des 18. Jahrhunderts die Auflagen in der Regel deutlich höher als für Belletristik. Die Formel von der ›Etablierung des modernen Literaturbetriebs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts‹ steht also auch dafür, dass sich die durchschnittlichen belletristischen Auflagenhöhen bis heute nicht sehr verändert haben. Es ist jedenfalls nicht so, dass ein zahlenmässig grösseres Publikum höhere Auflagen für einzelne Titel bedeutet, weder im Vergleich der Länder im 18. Jahrhundert noch im historischen Vergleich von damals und heute. Die Zahl der Leser pro Exemplar ist — vor allem durch den Multiplikatoreffekt der Leihbibliotheken — etwa auf 5 bis 10 zu schätzen (als Faktor bezogen auf die Verkaufsauflage). Zwar rechnet man für Zeitungen im 18. Jahrhundert mit 10 Lesern pro Exemplar, v.a. durch die Lesegesellschaften, durch Ausliegen bzw. Vorlesen in Wirtschaften und die Kenntnisnahme durch die ganze Familie. Für Erfolgsromane ist dieser Faktor 10 übertragbar oder liegt noch höher, aber es wäre sicher zu hoch angesetzt, ihn als Durchschnittswert für alle Romane anzunehmen, zumal gerade der Roman nicht mehr für eine Gruppenkultur des Vorlesens, sondern — in Deutschland vielleicht stärker als in den anderen Ländern — für individuelle Lektüre steht.34 Folge der steigenden Nachfrage war ein Anstieg der Bücherpreise in der zweiten Hälfte, verstärkt gegen Ende des 18. Jahrhunderts und bis ins 19. Jahrhundert, dem noch nicht die Reaktion folgen konnte, dass die Produktion stieg und daraufhin durch Massenproduktion die Preise wieder zurückgehen konnten. In Deutschland kostete am Messeplatz Leipzig 1 Alphabet (= 23 Bogen) um die Jahrhundertmitte durchschnittlich 4–5 Groschen, nach 1760 (bei allmählicher Ausschaltung der Frankfurter Konkurrenz durch die Leipziger Buchhändler) 16 Groschen und 1785 24–36 Groschen. Das war eine Verteuerung in etwa 35 Jahren um das 8–9 fache! In England verdoppelten sich in den 80er Jahren in kurzer Zeit die Preise; der Preisanstieg erreichte hier seinen Höhepunkt erst um 1830. Auch die Preise für Zeitungen und Zeitschriften waren hoch; das monatlich in ca. 2.500 Exemplaren erscheinende Journal des Luxus und der Moden z.B. kostete pro Jahr »vier Rthlr in Gold«; dafür musste ein Handwerksmeister mindestens zwei Wochen arbeiten. Überhaupt machen Preisangaben nur Sinn in Relation zu anderen Ausgaben und zum Einkommen derjenigen, die sozial die potentiellen Käufer waren: »If a man bought a shilling pamphlet he sacrificed a month’s supply of candles. A woman in one of the London trades during the 1770’s could have bought a three-volume novel in paper covers only with the proceeds of a week’s work.«35 Abgesehen davon, dass in manchen Regionen ohnehin oft nur die Produktion der Nachdrucker (›pirates‹) erhältlich war, heisst das für den privaten Buchbesitz, dass man von der auf Osteuropa bezogenen Feststellung Wittmanns wohl nur wenig Abstriche machen muss, um sie auf ganz Europa zu beziehen:
34. Cf. Schön, »Vorlesen, Literatur und Autorität im 18.Jahrhundert. Zum Wandel von Interaktionsstrukturen im Umgang mit Literatur«, in: Bödeker, Hans Erich (ed.), Histoire du livre Nouvelles orientations, Paris 1995, S. 199–224; ders., Verlust, op. cit.; Steinlein, Rüdiger, »Vom geselligen Hörer zum einsamen Leser. Über die Verbürgerlichung mündlicher Erzählkommunikation«, in: Merkel, Johannes / Nagel Michael (eds.), Erzählen, Reinbek 1982, S. 156–171. 35. Altick, The English Common Reader, op. cit., S. 52.
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Für Kleinstadthonoratioren, ja sogar einen Grossteil der gebildeten Mittelschicht (Pfarrer, Lehrer, Ärzte, Advokaten, Beamte) dürfte der Erwerb eines Buches nur in Sonderfällen möglich gewesen sein, denn die Relation zwischen den allgemeinen Lebenshaltungskosten und den Bücherpreisen war ausgesprochen ungünstig und verschlechterte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts fortwährend.36
So kamen für eigenen Besitz einerseits am ehesten Zeitungen, Kalender und Kolportageschriften in Frage, andererseits für langen Gebrauch bestimmte Hausbücher wie hauswirtschaftliche oder medizinische Ratgeber sowie für durch den Beruf des Mannes motivierte Fachliteratur. Sachbücher zur allgemeinen, z.B. politischen Information nutzte man — zusammen mit entsprechenden Periodica — in der Lesegesellschaft oder fand man in der Leihbibliothek. Der Privatbesitz von Belletristik, besonders von Romanen oder gar von aktuellen Produktionen muss nahezu als unüblich gelten; hierfür war die Leihbibliothek die wesentlichste Bezugsquelle. Daraus erklärt sich die grosse literatursoziologische Bedeutung der Leihbibliotheken; die Verlage kalkulierten bereits ihre Auflagen auf die Leihbibliotheken als Käufer. Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts rechneten die Verlage mit ca. 500 Leihbibliotheken (von sehr viel mehr bestehenden) als sicheren Abnehmern für ihre Deckungsauflage. Für alle Länder gilt, dass der private Buchbesitz selbst kaum sicher zu rekonstruieren und noch weniger aus den Archivalien auf die tatsächliche Lektüre zu schliessen ist. Ein Beispiel: Darnton wertete Listen der Subskribenten der Encyclopédie aus; danach konnte festgestellt werden, dass die Encyclopédie in deren Nachlassverzeichnissen nicht erscheint: Buchbesitz, der hätte kompromittieren können, erscheint in solchen Verzeichnissen nicht. Ebensowenig enthalten sie Kolportage, ›Schundliteratur‹, erotische oder gar pornographische Literatur, und so fort. Und schliesslich, darauf hat schon Schenda hingewiesen, ist die Nennung von Büchern in Nachlässen (manchmal sogar desselben Buches über mehrere Generationen!) eher ein Hinweis darauf, dass sie gerade nicht gelesen wurden, weil wirklich gelesene leicht verschwinden. Im Ergebnis ist zu vermuten, dass einerseits mehr vorhanden und sehr viel mehr gelesen wurde, als aus solchen Archivalien zu ersehen ist, dass aber andererseits diese Lektüre eine weit ›trivialere‹ war, als die auf einen reputierlichen Buchbesitz hin stilisierten Nachlassverzeichnisse glauben machen könnten. Quantitativ wichtiger als die auf die (grösseren) Städte beschränkten Buchhandlungen war der Kolporteur. Der Kolportagehandel mit Druckwerken entwickelte sich seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts, zunächst auch in den Städten. Im 19. Jahrhundert wird der Kolporteur zum Lesestofflieferanten für die Unterschicht; im 18. war er noch nicht so einseitig sozial zugeordnet: Er besuchte sogar die Landadligen, deren Güter fern waren von den Städten und damit von Buchhandlungen oder Leihbibliotheken; »les colporteurs vendaient partout, et même dans les châteaux«.37 Er war der Lesestofflieferant schlechthin für die ländlichen Regionen; zu einer Zeit, in der es in ganzen Amtsbezirken oder Départements keine Buchhandlung gab, kam er regelmässig in die Dörfer, verkaufte Kalender, Bilder, ›Canards‹, Gebet- und Erbauungsbücher, vielleicht einen ›Viehdoktor‹ oder ein Rechenbuch, aber eben auch die populäre Unterhaltungs-
36. Wittmann, Der dt. Buchmarkt in Osteuropa, op. cit., S. 108. 37. Sauvy, Anne, »Le livre aux champs«, in: Martin, Henri-Jean / Chartier, Roger (eds.), Histoire de l’édition française, Bd. II: Le livre triomphant. 1660–1830, Paris 1984, S. 430–443, hier: S. 432. Cf. auch Schenda: Volk, op. cit.
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literatur. Dazu gehörten die Büchlein der ›Bibliothèque bleu‹ (in England sind es die ›chapbooks‹), in der aber nicht etwa von vornherein ›triviale‹ Werke für einfache Leser erschienen, sondern ursprünglich für Gebildete geschriebene Texte durch Kürzungen und Vereinfachungen für ein breiteres Publikum adaptiert wurden. Bei all diesen preiswerten Produkten waren die Auflagen um ein Vielfaches höher als bei den Büchern der Buchhandlungen; sie wurden in vielen tausend, oft über hunderttausend Exemplaren gedruckt, oft nur leicht variiert von verschiedenen Druckern, und über Jahrzehnte immer wieder nachgedruckt. Die Oberschicht allerdings hatte seit je noch auf andere Weise Zugang zu Büchern. Nichtkommerzielle öffentliche Bibliotheken entstanden zwar erst nach 1820, doch heisst das nicht, dass die Bibliotheken des 18. Jahrhunderts im heutigen Sinne nicht-öffentlich, nur ihren Besitzern zur Nutzung vorbehalten waren. Professionelle Leser konnten für ihre beruflichen Zwecke Rats-, Schul-, Kirchen- oder Klosterbibliotheken benutzen, auch wenn sie nicht direkt der betreffenden Institution angehörten. Und für das gebildete Bürgertum gehörte es zur kollektiven Identität als ›res publica literaria‹, sich gegenseitig Zugang zu den eigenen Büchern zu gewähren; das galt auch für Fremde. Und schliesslich übernahm das Bürgertum auch insofern Standards, die ehedem zum gentilen Habitus gehört hatten, als es Mode wurde, auf Reisen ›sehenswerte‹(!) Bibliotheken zu besuchen, auch solche von Privatleuten. Hier ist bürgerlich transformiert, was früher zur Repräsentationsfunktion der adligen bzw. generell barocken Bibliothek gehört hatte. Es ging dabei um das Anschauen einer Vollkommenheit (perfectio): die Seltenheit und Kostbarkeit, das Aussergewöhnliche der Gegenstände, die Vollständigkeit einer Sammlung. Deshalb wurden hierbei auch Bibliotheken nicht getrennt von Kunst-, Raritäten- oder Naturalienkabinetten. Lektüre der Bücher, gar Ausleihen war damit nicht verbunden. Das sieht man beispielhaft an der HerzogAugust-Bibliothek in Wolfenbüttel, die seit 1666 ›bibliotheca publica‹ war, und deren Ausleihbücher von 1714 bis 1799 nur 1648 Entleiherinnen und Entleiher verzeichnen, während das Besucherbuch im 18. Jahrhundert mehr als 20.000 Eintragungen aufweist.
Das neue Lesen: neue Präferenzen, neue Art des Lesens, neue Funktionen Eine für ganz Europa geltende globale Tendenz in der Buchproduktion der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist zunächst der Rückgang der lateinischen Titel zugunsten der nationalsprachlichen, Indiz dafür, dass die Adressaten der steigenden Buchproduktion anteilmässig immer weniger Gelehrte waren und immer mehr Laien, eben die ›blossen Lese-Dilettanten‹. Ich gebe als Beispiel die Zahlen für Deutschland (soweit annäherungsweise solche Zahlen rekonstruierbar sind). Ohne Berücksichtigung der Titel in anderen Sprachen war das Verhältnis der deutschen Titel zu den lateinischen in den Messkatalogen 1700: 62 /38%; 1740: 72 /28%; 1770: 86 /14%; 1800: 96 / 4%. Der Rückgang lateinischer Titel zeigt freilich auch den Bedeutungsverlust des gesamteuropäischen Buchmarktes und der »lingua franca« des gelehrten Europa. Daneben ist globale Tendenz der Rückgang des Anteils der für Laien publizierten kirchlichtheologischen Literatur an der Gesamtproduktion. Die Literaturgeschichte sieht dies zunächst als eine komplementäre Entwicklung zu der teilweise explosionsartigen Ausweitung der Belletristik, vor allem der Romanproduktion. Diese Ausweitung betrifft den Anstieg in absoluten Zahlen (wie in Abschnitt 4 beschrieben). Diese Ausweitung der Belletristik betrifft andererseits den
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relativen Anteil der Belletristik an der Gesamt-Titelproduktion. Obwohl die Zahlen nur mit Vorbehalt untereinander vergleichbar sind, stellen sie doch die Grössenordnungen vor Augen: Von 1600 bis 1700 schwankte in Deutschland der Anteil der »Poesie« an der Titelzahl der Messkataloge zwischen 3% und 5%, derjenige der Theologie hingegen zwischen 40% und 46%. Im 18. Jahrhundert stieg der Anteil der »Schönen Künste u. Wissenschaften« von 5,8% im Jahre 1740 (Romane: 2,6%) über 16,4% (Romane 4,0%) im Jahr 1770 auf 21,4% (Romane 11,7%) im Jahre 1800; der Anteil der für Laien bestimmten religiösen Literatur (Erbauungs-, Predigt- u. Andachtsliteratur) ging geradezu gegenläufig parallel von 19,1% über 10,8% auf 5,8% zurück. Hinsichtlich ihres Anteils an der wachsenden Gesamtproduktion scheinen die Erbauungsliteratur und die »Schönen Künste« somit bei fast gleichbleibendem Anteil beider Sparten zusammen quasi ihre Plätze zu vertauschen. In absoluten Zahlen heisst das jedoch: Die Erbauungsliteratur blieb von 1740 über 1770 bis 1800 nach Titeln (144–124–149) etwa gleich, aber die »Schönen Künste« und speziell die »Dichtung« entwickelten sich durch die Zunahme der Titel von 32 über 153 auf 424 im Verhältnis 1:13 (Romane allein: 20–46–300). — Die Berechnung der Zahlen nach 1800 ist etwas anders, aber doch nicht so sehr anders, dass die Zahlen gar nicht vergleichbar wären: In den Jahren von 1801 bis ca. 1812 /1815 pendelte der Anteil der »Schönen Künste« an der Gesamt-Titelproduktion sogar um ca. 30% (Romane ca. 10%). Das heisst nichts weniger, als dass dieser Bereich nicht in dem Masse vom allgemeinen Rückgang der Buchproduktion während der napoleonischen Kriege betroffen war wie andere Sparten. Die Belletristik erreichte damit zugleich in den ersten anderthalb Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts einen Anteil an der Gesamt-Titelproduktion wie später nie wieder.38 Dass der Rückgang der religiösen Buchproduktion weniger ein absoluter als vielmehr ein relativer war, gilt auch für Frankreich mit seiner oft konstatierten »déchristianisation« in der zweiten Jahrhunderthälfte; hier hat die Produktion von religiösen Druckwerken sogar erst um 1770 ihren Höhepunkt. Ein zweites Moment in der Entwicklung der Romanproduktion sei beispielhaft an der Entwicklung in Deutschland skizziert: Es ist das qualitative Moment der Veränderung im Charakter der Romane selbst. Diese Veränderung ist auf den Nenner zu bringen, dass der ›neue‹ Roman, wie er sich seit der Jahrhundertmitte entwickelte, zum ›alten‹ Roman nicht im Verhältnis einer kontinuierlichen Entwicklung stand, sondern dass die Gattung Roman quasi ganz neu entstand. Aufgrund seiner breiten Rezeption in ganz Europa sind Prototyp für den neuen bürgerlichen Roman, einen moralischen Liebes- und Familienroman, Samuel Richardsons (1689–1761) Pamela (1740 /1741) und Clarissa (1747 /1748). In Deutschland ist prototypisch für diesen Neubeginn der Gattung Christian F. Gellerts (1751–1769) Leben der Schwedischen Gräfin
38. Cf. zu den Zahlen: Schwetschke, Gustav, »Einleitung«, in: Codex nundinarius Germaniae literatae bisecularis, Bd. 2: continuatus: Mess-Jahrbücher des Deutschen Buchhandels von dem Erscheinen des ersten Mess-Kataloges im Jahre 1564 bis zur Gründung des ersten Buchhändler-Vereins im Jahre 1765, Halle 1850, 1877, Reprint: Nieuwkoop 1963; Jentzsch, Rudolf, Der deutsch-lateinische Büchermarkt nach den Leipziger Ostermess-Katalogen von 1740, 1770 und 1800 in seiner Gliederung und Wandlung, Leipzig 1912; Rarisch, Ilsedore, Industrialisierung und Literatur. Buchproduktion, Verlagswesen und Buchhandel in Deutschland im 19. Jahrhundert in ihrem statistischen Zusammenhang, Berlin 1976.
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von G*** (1747 f.).39 Dieser Bruch wird dadurch etwas verdeckt, dass der Galante Roman hier eine gewisse Zwischenstellung einnahm. Von seiner Rezeption her ist der Galante Roman teilweise schon dem ›neuen Publikum‹ zuzuordnen; er wurde aber für die Diskussion um den Roman zum Exponenten des ›alten‹ Romans und diente zu seiner Abgrenzung. Dieser Bruch — in Form einer Abgrenzung vom »Roman«, mit dem der alte, v.a. der Galante Roman gemeint ist, — spielte für die Diskussion um den Roman, um Nutzen und Schaden der Romanlektüre, eine wichtige Rolle. Dieser ›neue‹ Roman bezog seit der Mitte des Jahrhunderts seine Legitimation aus seiner Funktion als aufklärerische Zweckform zur Belehrung und Erbauung. Nachdem er sich aber einmal etabliert und sein Publikum gefunden hatte, emanzipierte er sich von dieser Funktionsbeschränkung; das Lesen von Romanen trug nun seine Funktion in sich selbst. Diesen Veränderungen im Charakter der produzierten Texte wie in der Akzeptanz, d.h. in den Lesegewohnheiten des Publikums korrespondierten die Romanrezensionen, in denen etwa seit den 70er Jahren allmählich das Werturteilskriterium ihrer ›Nützlichkeit‹ durch ästhetische Kriterien abgelöst wurde. In den weniger professionellen, meist allgemein publizistischen Argumentationen war es im Unterschied dazu aber v. a. das Kriterium, ob man aus den Texten »Welt- und Menschenkenntnis« lerne, das von den ›Nützlichkeits‹-Argumenten des mittleren 18. Jahrhunderts bis weit ins 19., ja 20. Jahrhundert hinein Kontinuität herstellt. In Frankreich liegt der entsprechende Bruch zeitlich etwas früher; hier waren es etwa Marivaux’ (1688–1763) Marianne (1731–1741) oder Prévosts (1697–1763) Manon Lescaut (1731), die die Differenz zu den älteren, heroisch-galanten Romanen setzten. Gemeinsamer Nenner der qualitativen Veränderungen war die soziale, zeitliche und lokale Annäherung der Romanhelden an die Lebenswelt der neuen Leserinnen und Leser; in Frankreich wurde der »homme de qualité«, in Deutschland der »mittlere Mann« (Lessing) zur Norm; zusammen mit der Privatisierung der Konflikte war dies eine Voraussetzung dafür, dass sie für das bürgerliche Publikum zu Identifikationsfiguren werden konnten. Im »äusseren Verhältnis« des Publikums zum Roman finden diese Wandlungen ihren mentalitären Niederschlag in dem — historisch so neuen — Bewusstsein, dass der literarische Geschmack ständigem Wandel, ›Moden‹ unterworfen ist. Das ist n.b. nicht einfach eine popularisierte Version der in der Ästhetik seit der ›Querelle des anciens et des modernes‹ erarbeiteten Vorstellung, dass sich Literatur statt an zeitlos-absoluten Vorbildern am zeitgenössisch-relativen Geschmack zu orientieren habe. Es ist vielmehr Ausfluss jener ›modernen‹ Mentalität, für die ständiger Wandel zur Lebenserfahrung und Lebensperspektive gehört. Ein Beispiel aus dem Jahr 1787: Denn soviel ich beobachtet habe, ist jetzt ›Siegwart‹ und Konsorten, bei dem vor sechs und mehrern Jahren die feinere Welt Ströme von Thränen vergoss, unter die niedere Volksklasse gerathen. Warum? ist leicht zu begreifen. — So wie die Mode in Kleidern und Hausgeräthen
39. Cf. Schön, Erich, »Aufklärung der Affekte — Christian F. Gellerts Leben der Schwedischen Gräfin von G***«, in: Der Deutschunterricht, XLIII 1991, H.6, S. 31–41.
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allemal einige Jahre später unter die niedern Stände sich einführen; so geht es auch mit der Art Modebüchern.40
Und in einem (fiktionalen) Damengespräch Anfang des 19. Jahrhunderts heisst es: Auch unsere Mütter lasen in ihrer Jugend Romane: aber diese Romane waren züchtig, wie sie selbst, und lehrreich, wie das Beispiel der Tugenden, welches sie uns zur Nachfolge zurück liessen. Den ›Alfred‹, z.B., den ›Usong‹, die ›Geschichte der schwedischen Gräfin v. G***‹, fiel Serena lächelnd ein. Die ›Pamela‹ und den ›Grandison‹ habe ich selbst noch gelesen. — Allen Respekt für unsere Mütter und Grossmütter; doch bei der Wahl meiner Lektüre habe ich eben so wenig Lust, sie mir zum Muster zu nehmen, als in der Art, meinen Kopf aufzuputzen, oder meine Taille auszustaffieren.41
Die neuen Leser lasen also auch auf neue Art: Das alte Lesen war Wiederholungslektüre: Dieselben wenigen Bücher, die eine Familie besass, wurden im Laufe eines Lebens immer wieder gelesen. Solches Lesen war Teil einer Mentalität, die auf dem Andauern des Bestehenden gründete; Veränderung, Wandel gehörte weder zur Erfahrung noch zur Lebensperspektive des einzelnen: Die Texte, die schon für die Eltern Autorität waren, verloren ihren Wert nicht, weil sie keine Aktualität zu verlieren hatten, weil ihre Aussagen zeitlos gültig waren. Ehrfurcht vor dem Buch bestimmte dieses alte Lesen, zumal Texte mit kirchlicher Autorität im Zentrum standen. An die Stelle der Wiederholungslektüre trat — in einem Prozess von grosser sozialer Ungleichzeitigkeit — nun die einmalige Lektüre immer neuer Texte.42 Das alte Lesen in diesem Sinne war zugleich exemplarisches Lesen: Es war gesteuert von einem stofflichen Interesse, orientiert an der Vermittlung nützlicher Kenntnisse und praktischer Lebensklugheit; die Handlung des Buches galt als unmittelbar übertragbar, seine ›Lehre‹ oder ›Moral‹ als anwendbar in der Lebenspraxis der Leser. Exemplarisches Lesen wandte vor allem die Rezeptionsmuster der Belehrung und Erbauung an; Ergebnis war eine vom Text als ›Lehre‹ unmittelbar angebbare und grundsätzlich begrifflich aussprechbare handlungslenkende Nutzanwendung. Das neue Lesen war demgegenüber orientiert am Leseerlebnis selbst; bei der Lektüre der neuen Romane war dies vor allem die Erfahrung identifikatorischer, möglichst sogar empathischer Teilhabe an den fiktionalen Charakteren. Denn dies war wesentliche Funktion des neuen Lesens: die phantasiehafte »Theilnehmung an anderer ihrem Zustande«,43 wie es in der Empfindsamkeits-Definition Kants heisst. Als Praktizierung und damit Einübung von Empathie in der Lektüre der neuen Romane betraf dies die Frauen und damit die Ausbildung des
40. Kindervater, Christian V., »Was nutzen oder schaden die Romane?«, in: Philosophische und litterarische Monatsschrift für Menschen in allen Ständen und Verhältnissen zur Bildung des Verstandes und Herzens, 2. Bd., JanuarApril 1787, S. 78–89. 41. Schreyvogel, Joseph, »Über Romanen-Lektüre«, in: ders., Gesammelte Schriften von Thomas und Karl A. West, 2. Abt., 2. Teil, Braunschweig 1829, S. 42–63; hier: S. 50 et passim. 42. Ich vermeide bewusst die Begriffe ›intensive‹ und ›extensive‹ Lektüre, weil nicht jede Wiederholungslektüre ›intensiv‹ war, nicht jede einmalige Lektüre auch ›nicht-intensiv‹ ist. Cf. Schön, Verlust, op. cit., S. 298–300. 43. Aus der Empfindsamkeitsdefinition Kants, 1798. — Zum Empathiebegriff im Blick auf die literarische Sozialisation cf. Schön, Erich, »La ›fabrication‹ du lecteur«, in: Caudron, Martine /de Singly, François (eds.), Identité, lecture, écriture, Paris 1993, S. 17–44.
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modernen weiblichen Geschlechtscharakters; das betraf ebenso die männlichen Jugendlichen und etablierte damit die sozialisatorische Funktion des Moratoriums ›Jugend‹; als geforderte Qualität des Lesens sollte empathisches Lesen konstitutiv zur ›Lesekultur« des 19. Jahrhunderts gehören. Allerdings sind bei dieser Konzentration auf die historische Entwicklung der belletristischen Literatur gern gehegte Vorstellungen zu korrigieren: Über der von der Literaturgeschichte ins Zentrum der Betrachtung gestellten Zunahme des literarischen Lesens, ablesbar an der Zunahme der Titelproduktion fiktionaler Literatur, wurde gerne übersehen, dass diese Zunahme anteilsmässig nur auf Kosten der populär-theologischen Literatur geht. Die eigentliche ,Leserevolution‹ fand aber nicht im Bereich der belletristischen Literatur statt, sondern im Bereich der (eher von Männern gelesenen) Sach- und Fachliteratur: Zwar stieg in den Jahren 1740–1770–1800 die Titelzahl der »Schönen Künste und Wissenschaften« von 44 über 188 auf 551 Titel, also im Verhältnis 1:12,5. Das Gros der Buchproduktion betraf aber — wie heute! — Sach- und Fachbücher; und ihr Anteil stieg stärker an: Allein die kleine Rubrik »Landwirtschaft, Gewerbe etc.« stieg in dieser Zeit (Titel:) 8–59–220, also im Verhältnis 1:27,5; ihr Anteil an der Gesamtproduktion stieg 1,06%–5,24%–8,06%.44 Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde also nicht nur das Interesse an religiöser Erbauungsliteratur abgelöst vom zunehmenden Interesse an Belletristik, besonders an Romanen. Dazu kam das wachsende Interesse an Sachbüchern, genauer: an einer neuen Art von Sachliteratur. Das meint einmal das für das Bürgertum oder vielmehr für die Männer dieses Bürgertums entsprechend ihren Berufen höhere Interesse an berufsbezogener Fachliteratur. Das meint noch mehr, dass — und eben vor allem im Bürgertum, sehr viel weniger im Adel! — neben die alten ›Hausbücher‹, neben religiöse Literatur, populärmedizinische und hauswirtschaftliche Ratgeber jetzt auch immer mehr Sachliteratur zur allgemeinen Information trat: das war bereits vor der Revolution in Frankreich, aber dann beschleunigt, politische Literatur. Politische Bücher — die Zeitgenossen redeten meist von ›moralischen‹, da der Begriff des Politischen für das Bürgertum einen negativen Klang hatte — waren zu dieser Zeit historische Werke, ökonomisch-statistische Darstellungen und geographische; die letzten beiden noch überwiegend in der äusseren Form von Reisebeschreibungen. Entsprechend mag für Frankreich, neben dem Indiz des privaten Buchbesitzes, der Anteil von 60% »sciences et arts« an den Themen der Preisausschreiben der Akademien ein Indiz für den naturwissenschaftlich-pragmatischen und nicht etwa literarischbelletristischen Charakter der Aufklärung und damit der Lesebedürfnisse ihrer Träger sein. Dazu kamen jene Werke, deren Besitz durch die Kategorie der ›Bildung‹ motiviert war. Ihr Umfang stieg im Laufe des 18. Jahrhunderts an; ihr Inhalt veränderte sich und sollte sich im beginnenden 19. Jahrhundert noch stärker verändern. Hier, in der Trennung einer als zweckfrei gedachten ›Bildung‹ und einer zweckorientierten ›Ausbildung‹, wie sie sich seit der Mitte des Jahrhunderts abzuzeichnen begann (genauer: seit eine akademische Ausbildung keine Garantie für eine entsprechende berufliche Position mehr war und stattdessen Bildung als solche bürgerliche Identität stiftete), hatte ein wichtiges Merkmal des kulturellen Verhaltens dieses neuen Publikums seinen Ursprung: Das Auseinanderfallen von reputierlichem Bücher-Besitz und tatsächlicher Lektüre, von repräsentativen Werken zur Ausstattung des Salons und zerlesenen
44. Cf. Jentzsch, Der deutsch-lateinische Büchermarkt, op. cit. (Tabellenteil).
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Leihbibliotheksromanen im Hinterzimmer. Die Dichotomisierung von ›hoher‹ und ›trivialer‹ Literatur gegen Ende des Jahrhunderts korrespondiert sozialen Differenzen; sie korrespondiert aber auch einem Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit des bürgerlichen kulturellen Verhaltens. Auch das Bürgertum las nicht nur das, was sich in der Dichotomisierung um 1800 als ›hohe‹ Literatur etablierte: … the Old Regime put »Charlot et Toinette«, »Vénus dans le cloître«, d’Holbach, and Rousseau in the same boxes and shipped them under the same code name. ›Livres philosophiques‹ to the dealers, ›mauvais livres‹ to the police, it made little difference.45
Die Differenz, die wir heute sehen, war noch nicht etabliert; auch zwischen den Romanen Wielands oder Goethes und den Liebes- und Familienromanen August Lafontaines oder dem Rinaldo Rinaldini von Christian A. Vulpius sahen die Zeitgenossen zwar einen Qualitätsunterschied, aber keine kategoriale Differenz. Und für reputierlichen Besitz und Repräsentation im Salon werden die unzähligen »Livres qu’on ne lit que d’une main« (Rousseau)46 kaum gekauft worden sein. — Andererseits steht hinter diesem Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit als Praxis oft das unterschiedliche kulturelle Verhalten von Männern und Frauen. Ein Erfolgsroman wurde der Werther (1774) nicht wegen dem, was heutige Literarhistoriker darin finden, sondern aufgrund seiner Rezeption als sentimentaler Liebesroman durch das weibliche Publikum. An die ›politische‹ Literatur schliesst sich ein Bereich an, der von den Zahlen zur Veränderung der Buchproduktion gar nicht mit erfasst ist: Die Zeitungen. Der Aufstieg der Zeitungen begann in Deutschland bereits im frühen 17. Jahrhundert; die Zeit des 30jährigen Krieges war dann vor allem eine Zeit kurzer, oft einblättriger Flugschriften gewesen. Und nach dem 30jährigen Krieg vollzog sich die Wieder- bzw. Neuentstehung eines Lesepublikums vor allem am Medium der Zeitungen; sie waren es, die sehr bald ein breites Publikum erreichten. Im letzten Drittel des 17.Jahrhunderts bestanden bereits 50 bis 60 deutschsprachige Zeitungen nebeneinander, das waren mehr, als im übrigen Europa zusammen. Sie erreichten — wenn man zehn Leser bzw. Zuhörer auf ein Exemplar rechnet — über 250.000 Rezipienten. Um 1750 dürften es dann bereits 100 bis 120 Zeitungen gewesen sein; kurz vor 1800 erreichten über 200 deutsche Zeitungen mit einer Gesamtauflage von über 300.000 Exemplaren etwa drei Millionen Rezipienten.47 Die meisten deutschen Zeitungen erschienen im 18. Jahrhundert drei- bis sechsmal pro Woche, meist im Umfang eines halben Druckbogens. Bei diesen Zahlen ist zu bedenken, dass die deutsche Zeitungsproduktion, gerechnet nach der Zahl gleichzeitig bestehender Unternehmen, seit 1725 zwar relativ kontinuierlich und dann besonders in den 1780er Jahren angestiegen war, dass jedoch die Diskussion der Französischen Revolution ein Informations-
45. Darnton, Literary Underground, S. 207, op. cit. 46. Cf. Goulemot, Jean Marie, Ces livres qu’on ne lit que d’une main. Lecture et lecteurs de livres pornographiques au XVIIIe siécle, Aix-en-Provence 1991; Darnton, Literary Underground, op. cit. 47. Cf. Welke, Martin, »Die Legende vom ›unpolitischen Deutschen‹. Zeitungslesen im 18. Jahrhundert als Spiegel des politischen Interesses«, in: Jahrbuch der Wittheit zu Bremen, XXV, 1981, S. 161–188; ders., »Gemeinsame Lektüre und frühe Formen von Gruppenbildung im 17. und 18. Jahrhundert: Zeitungslesen in Deutschland«, in: Dann, Otto (ed.), Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich, München 1981, S. 29–53.
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bedürfnis schuf, das nicht nur die Auflage der Zeitungen erhöhte, sondern auch die Zahl der Rezipienten pro Zeitungsexemplar. Vorher bloss potentielle Leser wurden zu tatsächlicher Lektüre aktiviert. 1792: Jezt aber ist wirklich der Fall eingetreten, wo eine neue, allgemeine und weit mächtigere Mode=Lectüre, als alle vorhergehenden, sich nicht allein über Teutschland, sondern sich über ganz Europa verbreitet hat, alle Stände und Classen der Societät anzieht, und fast jede andere Lectüre verdrängt; und dies ist die Lectüre der Zeitungen und fliegenden politischen Blätter.48
In Frankreich scheint der Anstieg noch steiler im Laufe des 18. Jahrhunderts zu erfolgen, von etwa 15 Periodika um 1700 auf über 200 im Jahre 1789. Doch hatten die Zeitungen nach Zahl und Auflage in Frankreich (und auch in England) insgesamt eine geringere Breite als in Deutschland. In Frankreich erschienen die meisten Blätter mit einer Auflage von 300–500 Exemplaren, nur wenige erfolgreiche Tageszeitungen erreichten mehr als 5.000. Höhere Auflagen waren ein Phänomen der Revolutionszeit: Marats L’Ami du Peuple erschien in 2.000, der L’Ami du Roi in 5000 Exemplaren, Mirabeaus Zeitung in ca. 10.000, die Révolutions de Paris sollen zeitweilig sogar 200.000 erreicht haben, die Tageszeitung Le Patriote français 10.000.49 Wenig später geht die Bedeutung der Zeitungen wieder zurück: 1790 betrug die Zahl der täglich in Paris erschienenen Blätter 335, 1791 236, 1792 216 und 1793 nur noch 113; in der Provinz 52, 44, 29 und 31. Auch in England waren Anzahl und Auflage geringer. Während zum Beispiel die auflagenstärkste Zeitung, die Times, selbst Anfang des 19. Jahrhunderts nur ca. 8.000 Exemplare auslieferte, hatte der Hamburgische unpartheyische Correspondent bereits 1798 ca. 30.000 und 1808 ca. 56.000 Auflage. Die These, das Buch sei das Medium der Aufklärung gewesen, trifft also eher auf Frankreich zu als auf Deutschland, und eher, wenn man eine kleine intellektuelle ›Aufklärerelite‹ im Blick hat, als wenn man sie auf allgemein verbreitete Lektüre und damit auf breite Bewusstseinsveränderungen bezieht. Sonst sind Zeitungen und Journale die Medien der Aufklärung. Ein wichtiges Mittel, mit dem sich ein breiteres bürgerliches Publikum diese Zeitungen und Journale zugänglich machte, und durch das auf ein Exemplar eine grössere Zahl von Lesern kommt, waren die Lesegesellschaften.
48. Ragotzky, »Über Mode=Epoken in der Teutschen Lektüre«, in: Journal des Luxus und der Moden, November 1792, S. 549–558, Zusatz der Herausgeber, S. 557. 49. Cf. Darnton, Robert / Roche, Daniel (eds.), Revolution in print. The press in France 1775–1800, Berkeley / Los Angeles / London 1989; Rétat, Pierre (ed.), La Révolution du Journal 1788–1794, Paris 1989.
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Lesegesellschaften, Book Clubs, Sociétés littéraires Das Anwachsen des Publikums in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geschah auch dadurch, dass das Bürgertum für sich zwei Institutionen entwickelte, die die Zahl der Leser pro Buch vervielfachten: Lesegesellschaften und Leihbibliotheken. Obwohl es verschiedene Zwischenformen, auch Transformationen von einer Institution zur anderen gab, man oft sogar nur vom Namen her nicht weiss, welchen Charakter eine bestimmte Einrichtung hatte, ist doch folgende Typisierung möglich: Lesegesellschaften (Lesekabinette, Book Clubs / Reading Societies, Sociétés littéraires /Chambres de lecture) waren nicht-kommerzielle Selbstorganisationen des Publikums, oft mit Übergang zu anderen Formen von Aufklärungsgesellschaften (bis zu Freimaurerlogen). Die Leihbibliotheken (cabinets de lecture, loueurs de livres, circulating libraries, proprietary libraries als Zwischenform) waren gewerbsmässige Einrichtungen eines Unternehmers, oft in Zusammenhang mit einem anderen Geschäft, z.B. einer Buchhandlung.50 Die Formen des Umgangs mit Literatur wären auch anders zu typisieren als nach dieser ökonomischen Unterscheidung, zum Beispiel zwischen den Polen von Öffentlichkeit und Privatheit oder zwischen den Polen gemeinsamen und individuellen Lesens; doch würde dies spezifischere Darstellungen erfordern, als sie hier möglich sind.51 Die Lesegesellschaften waren nicht nur Instrumente zur Vervielfachung der zur Verfügung stehenden Bücher; sie hatten auch politische Funktionen im Prozess der Identitätsbildung und Emanzipation des Bürgertums. Die englischen Clubs waren hier seit Beginn des Jahrhunderts Vorbild, das sich bis zum Ende des Jahrhunderts nicht nur auf Mitteleuropa, sondern bis weit nach Osteuropa erstreckte.52 Der Anlass für die Entstehung der Lesegesellschaften war zunächst ein materieller: Der starke Anstieg des Leseinteresses beim bürgerlichen Publikum führte zu einem Anstieg der Nachfrage, die Produktion konnte diese Nachfrage aber nur unzureichend decken. Zwar gab es für die späteren, entwickelteren Formen der Lesegesellschaften auch weitergehende Motivationen als nur die der Geldersparnis; aber die ersten Lesegesellschaften entwickelten sich aus dem Gemeinschaftsabonnement von Journalen, damit der Preis für den einzelnen erschwinglich wurde. Von Anfang an ist mit dem gemeinschaftlichen Abonnement von Zeitungen und Journalen jedoch auch das Gespräch darüber verbunden, zuerst z.B. in Form studentischer ›Zeitungs-Compagnien‹. Die nächsten, sich ab den 1750er Jahren allmählich etablierenden und institutionalisierenden Formen waren dann Lesezirkel, die mehrere Periodika hielten und von Haus zu Haus zirkulieren liessen. Ab den 50er Jahren gab es, zunächst begründet mit den Unbequemlichkeiten und Verzögerungen beim Herumschicken der Journale, Lesebibliotheken mit fester Räumlichkeit, wo Journale und vereinzelt auch Bücher auslagen. Etwa ab 1775 entstanden in Deutschland ›Lesekabinette‹, oft als Umwandlung früherer
50. Das französische ›Cabinet de lecture‹ meint zu dieser Zeit i.d.R. einen gewerblichen Verleih von Zeitschriften oder / und Büchern; das deutsche ›Lesekabinett‹ dagegen meist eine Form der Lesegesellschaft; ›Lesebibliothek‹ ist i.d.R. eine gewerbliche Leihbibliothek. 51. Cf. Schön, Verlust, op. cit.; Schön, »Vorlesen«, op. cit.; Schön, »Publikum«, op. cit. 52. Cf. Dann, Lesegesellschaften, op. cit.
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Lesezirkel und Lesebibliotheken. Ihr Unterschied zu den früheren Formen bestand darin, dass die Literatur nicht mehr ausgeliehen und mit nach Hause genommen, sondern an Ort und Stelle in eigens eingerichteten Räumlichkeiten gelesen wurde. Diese Formen sind die eigentlichen, für das bürgerliche Lesen des 18. Jahrhunderts historisch signifikanten Lesegesellschaften. Der Zweck der Einrichtung war nun zugleich auch die Diskussion über das Gelesene, und zwar eine Diskussion im Rahmen eines allgemeinen ›gesellschaftlichen Umgangs‹. Insofern verstanden sie sich weitgehend auch mehr als eine Art Club (entsprechend dem englischen Vorbild). Dabei waren »das Spielen und Tobacksrauchen, ingleichen anstössige Gespräche gegen die Religion, den Staat und die guten Sitten, nebst den Büchern und Schriften solcher Art« nach den eigenen Satzungen verboten.53 Anhand der Mitgliederstruktur dieser Lesegesellschaften werden sie erkennbar als Selbstorganisationen des Bürgertums. Aufgenommen werden konnten nach der Satzung der Aschaffenburger Lesegesellschaft: § 1.
Das a. b. c. d. e.
in diese Lesegesellschaft zuläsige Personale männlichen Geschlechts bestehet aus der hiesig- und benachbarten Geistlichkeit ohne Unterschied. aus hiesig- und benachbarten Beamten-Amts-Stadt- und Vogteischreiberen. aus charakterisirten Personen, welche dermalen dahier privatisiren. aus Advokaten, und stiftischen Officiaten. aus sonstigen Honoratioribus litteratis aus dem bürgerlichen Standte, welche dahier sesshaft sind …
§ 3.
Junge in Studiis noch begriffene, oder ohne sichere Bestimmung sich dahier aufhaltende Leute sind so, wie alle uibrigen! zu obigen Stand Klassen nicht gehörigen Personen geringeren Standtes gänzlich ausgeschlossen.
Teilweise war es durch Statuten ausdrücklich geregelt, sonst wissen wir es aus Aufnahmeprotokollen oder ähnlichen Quellen: Nahezu ausnahmslos waren Frauen ausgeschlossen, ebenso Studenten und vergleichbare Nicht-Etablierte. Sozial erfolgte eine Abschliessung nach unten entweder ausdrücklich in ihrer Satzung oder über den Mitgliedsbeitrag. Bemerkenswert ist andererseits die regelmässige Teilnahme von Adligen, aber vor allem solcher Adliger, die zugleich Beamte waren. Die Lesegesellschaften waren spezifisch bürgerliche Institutionen, die dazu dienen sollten, jedenfalls innerhalb des Freiraumes der Lesegesellschaft die Rangunterschiede, d.h. gegenüber dem Adel, zu verwischen. In den Statuten der Bonner Lesegesellschaft heisst es 1789: Jeder Litteratur Freund kann in die Gesellschaft aufgenommen werden. Nur die Studenten der hiesigen hohen Schule werden um ihres eigenen Vorteils willen ausgeschlossen. Rang kömmt gar nicht in Anschlag.
Historisch bemerkenswert ist neben der Struktur der Mitglieder, dass die Aufnahme neuer Mitglieder meist ausdrücklich geregelt war und dabei die vorhandenen ein gemeinsames Mitspracherecht hatten. Die Mitgliedsbeiträge lagen bei diesen Lesekabinetten zwischen 4 und 8 Rthlrn. Das war
53. Aus den Statuten der Mainzer Lesegesellschaft, zitiert nach Prüsener, Lesegesellschaften im 18. Jahrhundert, Sonderdruck aus dem Archiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. 13, Lieferung 1–2, Sp. 369–594, Frankfurt a.M. 1972, Sp. 406. Von hier, Sp. 407, auch das folgende Zitat.
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viel, wenn man bedenkt, dass ein Handwerker im Jahr ca. 100–150 Rthlr. verdiente, und man auch im mittleren Bürgertum ein Jahreseinkommen von ca. 200–300 Rthlrn ansetzen muss. Das war wenig, wenn man bedenkt, dass das Abonnement einer 2 oder 3 mal pro Woche erscheinenden Zeitung etwa 5 Rthlr. kostete. Der Zweck der Lesekabinette war nicht Lektüre zur Unterhaltung, sondern zur Weiterbildung, aber nicht im Sinne der individuellen, berufsspezifischen Aus- bzw. Weiterbildung, sondern als ›Bildung‹ — hier im Sinne einer als gesellschaftlicher Aufgabe des Bürgertums bewusst gewordenen Allgemeinbildung — ›Aufklärung‹ also. Von diesem Zweck her sind die Bestände der Lesegesellschaften zu verstehen, aber auch Details der Einrichtung, wie etwa, dass in Beschreibungen oft darauf hingewiesen wird, dass eigene Pulte und Schreibmaterial zur Verfügung stehen, um Exzerpte anzufertigen. — Lesen nicht zum »blossen Vergnügen« (wie es die Kritiker des Lesens, hier Joachim H. Campe, verurteilten) — sondern als Bildungs-Arbeit. Den allergrössten Teil der Bestände machten Periodika aus, in vielen gab es überhaupt nur Periodika. Der Grundstock an Büchern war der Journal-Lektüre zugeordnet, als NachschlageLiteratur: Lexika, Atlanten, Wörterbücher für fremdsprachige Zeitungen. Bücher anderer Art, soweit überhaupt nennenswert, entsprachen ebenfalls dem politischzeitgeschichtlichen Interesse, zeitgeschichtliche Literatur zur Französischen Revolution oder zum Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg beispielsweise; historische Literatur, zum guten Teil als Biographien und Briefberichte; geographische Literatur, überwiegend als Reisebeschreibungen. Das allgemeinbildende Interesse schloss die eigentlich wissenschaftliche Fachliteratur aus. Belletristik kam nur als Ausnahme vor; die Anschaffung von Romanen gar wurde nach Zeugnis von Protokollen ausdrücklich abgelehnt. Wo sich doch einige Romane fanden, da nicht zur Unterhaltung, nicht als literarische Texte, sondern wegen der ›praktischen Nützlichkeit‹ der Texte. Der Roman hatte seine Legitimation — in Übereinstimmung mit der aufklärerischen Literaturtheorie — nicht als ästhetische Form, sondern als Zweckform zur Vermittlung nützlicher Kenntnisse und wegen seines ›moralischen Nutzens‹. Für Dramen galt entsprechendes; Lyrik gab es praktisch gar nicht. Die ablehnende Haltung gegenüber Belletristik änderte sich erst in der Spätzeit der Lesegesellschaften. Gegen 1800 wandelten sich die Lesegesellschaften in Geselligkeitseinrichtungen. Und da gingen dann die Umwandlung der Lesegesellschaften in Vereinigungen für gesellige Unterhaltung, ihre Öffnung für Frauen und ihre Öffnung für Belletristik Hand in Hand: Es musste wegen der Veränderung der Mitgliederstruktur und des Zwecks der Gesellschaft »für Damen … auch gesorgt werden«.54 Die Funktion der Lesegesellschaften lag also nicht bei der Verbreitung belletristischer Literatur, sondern darin, dass sie ihren Mitgliedern aktuelle Information und aufklärerische Bildung zugänglich machten. Noch mehr wird ihre Bedeutsamkeit in ihrer Organisationsform gesehen: Darin nämlich, dass sie in ihren Statuten eine ›Verfassung‹ fixierten (zu einer Zeit, als der Staat dies noch nicht tat), dass sie Gleichheit unter den Mitgliedern proklamierten und demokratische Entscheidungs- und Interaktionsstrukturen erprobten und dass sie auf diese Weise der neuen bürgerlichen Vereinigungsform der Assoziation zum Durchbruch verhalfen, die die alte Form der Korporationen historisch ablöste. Es ist also zwar richtig, dass sich in diesen
54. Zitiert nach Prüsener, op. cit., Sp. 485.
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Lesegesellschaften ein räsonnierendes bürgerliches Publikum versammelte. Aber sie räsonnierten dabei nicht etwa über Literatur, es war keine ›literarische‹ Öffentlichkeit. So wird es inzwischen eher als Irrtum gesehen, dass den Lesegesellschaften eine Funktion für die Entwicklung der Literatur zugeschrieben wurde, aber auch generell wird ihre Bedeutung wohl überschätzt; das hängt sicher damit zusammen, dass von diesen Gesellschaften archivalische Zeugnisse erhalten blieben, während derlei bei individuellen Lesern sehr viel weniger der Fall ist: Sie erfassten trotz der zunächst eindrucksvollen Zahl von ca. 430–450 Lesegesellschaften im deutschen Sprachraum, die aber nicht alle gleichzeitig bestanden, nur etwa 50.000 Mitglieder, das sind nur etwa 2% der regelmässigen Zeitungsrezipienten.55 Anders ist das Bild der Institution in England.56 Hier hatten die ›Book Clubs‹ (›Reading Clubs‹, ›Book Societies‹, ›Reading Societies‹) eine vergleichbare soziale Zusammensetzung: […] the typical club consisted of the upper middle class, that is, the professional group of the clergy, schoolmasters, physicians and apothecaries, attorneys, the gentry, some shop proprietors, an occasional millowner, and various persons of private means.
Die Mitglieder sind ebenfalls ganz überwiegend, wenn auch nicht so ausnahmslos männlich wie in Deutschland: »Occasionaly a feminine name is found in the roster«; gelegentlich findet sich sogar ein ›Ladies’ Book Club‹’. Eine wesentliche Differenz besteht darin, dass sie um Bücher zentriert sind: The book ›club‹ per se meets regularly, usually once a month, and in one common prevailing form sells off its stock annually, but it may accumulate some if not all its acquisitions, usually stored in its clubroom at the local inn, its headquarters.
In den Book Clubs wurde, oft per Subscription, der gemeinsame Kauf von Büchern beschlossen, diese wurden von den Mitgliedern zu Hause gelesen und durften nur in der Familie weitergegeben werden; die Diskussionen bei den Treffen beschränkten sich aber nicht auf die Bücher als Gegenstand. Die Bücher selbst waren die »current reflective literature, especially in the political and social areas«; »fiction« bezog man auch hier eher aus der Leihbibliothek, doch war der Ausschluss von Belletristik weniger rigide als in den deutschen Lesegesellschaften. Einzelne Book Clubs gab es seit 1700, nach 1750, v.a. aber nach 1780 nahm ihre Zahl zu, und für 1821 nennt ein zeitgenössischer, aber von der Forschung bestätigter Artikel im Monthly Magazine die Zahl von 500 Clubs. Rechnet man für jeden 15 Mitglieder und dazu je ein Familienmitglied, so erfassten sie einen grösseren Teil derer, die regelmässig lasen, als die deutschen Lesegesellschaften. Diese entsprechen ohnehin weniger den ›book clubs‹ als den allgemeinen Clubs, insofern dort auch Zeitungen und Journale gelesen wurden. Die Übergänge waren fliessend, auch zu Einrichtungen, die zu Leihbibliotheken tendierten (z.B. proprietary libraries). In Frankreich gab es gegen Ende des Jahrhunderts allein in der Provinz etwa 80 ›sociétés littéraires‹ oder ›chambres de lecture‹; bezeichnenderweise entstanden ›sociétés‹ dort, wo es keine ›académies‹ gab. Doch war in Frankreich wohl die wichtigere Form das kommerzielle
55. Nach der Berechnung von Welke. 56. Cf. v.a. Kaufman, Paul, »English Book Clubs and their Role in Social History«, in: Libri, XIV, 1964, S. 1–31. Von hier auch die folgenden Zitate.
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›cabinet de lecture‹, in dem eine Zahl von ›abonnés‹ z.B. im Nebenzimmer einer Buchhandlung Bücher und Journale lesen konnte. Die zahlenmässige Bestimmung der ›sociétés littéraires‹ ist schwierig; einerseits waren die Grenzen zu anderen ›sociétés‹, ja sogar ›académies‹ fliessend: »Ein Vergnügungsverein kann sich durchaus zu einer ›société de pensée‹ entwickeln, ein Lesezimmer im hinteren Teil einer Buchhandlung zu einer öffiziösen Akademie werden.«57 Andererseits waren hier offenbar auch die Übergänge zwischen gewerblichen und nichtgewerblichen Einrichtungen noch fliessender als etwa in Deutschland. In den Lesegesellschaften tauschten sich also im wesentlichen die Männer über ihre Lektüre von Journalen und Sachbüchern aus. Gemeinsam gelesen und über ihre Lektüre ausgetauscht haben sich auch die Frauen, und bei ihnen heisst dies Belletristik. Neben dem anderen Gegenstand der Lektüre war die wesentliche Differenz wohl, dass dies in weniger institutionalisierter Form geschah. Die Grenzen zwischen allgemein verbreiteten informellen Zirkeln oder Kränzchen und selteneren ›Frauenzimmer-Lesegesellschaften‹ oder ›literarischen Damengesellschaften‹ sind hier fliessend. Die fehlende formelle Institutionalisierung machte sie aufgrund der deshalb fehlenden archivalischen Quellen für die historische Forschung lange unsichtbar und verweist zugleich auf ihren verschiedenen Charakter und ihre verschiedene Funktion. Sophie v. La Roche (1731–1807) beschreibt 1776 diesen Umgang mit Literatur in einem Damen-Kränzchen: Jeden Donnerstag kommen sie mit ihrer Arbeit, Nachmittags um drey Uhr, artig geputzt zusammen; trinken eine Tasse Caffee, aber nicht heiss, weil heisser Caffee der Schönheit und Reinigkeit der Gesichtsfarbe schadet. Nach diesem geben sie einige Teller mit Obst und Confekt; von dem letzten muss allezeit etwas von der Kranzgeberinn selbst gemacht seyn. […] Der Putz wird auch durchgegangen, die Unkosten und die Art der Verfertigung werden gesagt, der wohlfeilere Kaufmann genannt; darauf erzählt, was man schönes und nützliches gelesen oder erfahren, und sich eigen gemacht hat. Nachdem etwas aus dem »Schauplatz der Natur« etwas aus einer Wochenschrift, eine Comödie oder Poesie gelesen, und darüber geredet worden, sammlet man zuletzt einiges Geld für Arme.58
In mehreren Dimensionen profilieren sich hier also unterschiedliche Räume männlichen und weiblichen Lesens: Die Männer, die ohnehin kaum Belletristik lasen, pflegten in den nur ihnen zugänglichen Lesegesellschaften ein »öffentliches« räsonierendes Reden über Informationsliteratur. Die Frauen, die Belletristik lasen und sich darüber austauschten, taten dies nicht ›öffentlich‹, oder jedenfalls in einer nach anderen Kriterien als die männliche konstituierten ›weiblichen Öffentlichkeit‹, und sie taten es nicht ›räsonierend‹, sondern als Austausch empathischer Lese-Erfahrungen.59
57. Roche, Daniel, »Die »Sociétés de pensée« und die aufgeklärten Eliten des 18. Jahrhunderts in Frankreich«, in: Gumbrecht / Reichardt / Schleich (eds.), Sozialgeschichte, op. cit., Teil 1, S. 77–115, hier: S. 85. 58. LaRoche, Sophie von, Freundschaftliche Frauenzimmer-Briefe, 20. Brief, in: Jacobi, G.H. (ed.), Iris, 5. Sammlung, 5. Bd., 1. Stück, Jenner 1776, S. 9 et passim. 59. Cf. Schön, »Publikum und Roman«, op. cit.
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Leihbibliotheken, cabinets de lecture, circulating libraries Die Lesestoff-Quelle für Belletristik war nicht der individuelle Kauf, es war auch nicht die Lesegesellschaft; es war die Leihbibliothek. Nach einer Berechnung von Martino gingen etwa drei Viertel(!) der gesamten Belletristik-Produktion hierhin. Das bedeutet, zumal man bei den individuellen Käufen auch noch einen gewissen Anteil professioneller Leser berücksichtigen muss. Ihre Romane, den Werther oder einen der beliebten Familienromane Lafontaines lasen die zeitgenössischen Leser — oder vielmehr: Leserinnen — aus der Leihbibliothek. Dass die Leihbibliothek erst in jüngster Zeit in ihrer Bedeutung für das literarische Leben auch des späten 18. Jahrhunderts gesehen wird, könnte denselben Grund haben wie die lange herrschende Meinung, die Leihbibliothek sei zu dieser Zeit im Gegensatz zur Lesegesellschaft die Leseanstalt der unteren Schichten gewesen: Es wurde die soziale Abwertung der Institution seit ihrem Niedergang zu Ende des 19. Jahrhunderts tradiert und so das negative Bild der gewerblichen Leihbibliotheken, wie sie noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestanden, auch auf die frühere Zeit übertragen. Zu Unrecht: Die Leihbibliothek des 18. (und auch der ersten Hälfte des 19.) Jahrhunderts wurde — soweit überhaupt gelesen wurde — von allen Gesellschaftsschichten frequentiert, wobei freilich deutliche Differenzen zwischen verschiedenen Typen mit sozialen Differenzierungen korrespondierten. Entsprechend schwankte die Relation von Einkommen und Bibliotheksgebühren: Ein Handwerksgeselle hätte um 1800 für ein Jahresabonnement zwischen 3 und 12 Prozent seines jährlichen Einkommens ausgeben müssen. Unabhängig von den konkreten Usancen bei den Gebühren (tageweise oder wochenweise für einzelne Bände, Abonnnement für eine bestimmte Zeit mit dem Recht zur Ausleihe jeweils eines Buches oder mehrerer etc.) waren die Gebühren je nach Bibliotheks-Typ jedenfalls nicht unerheblich. In Deutschland ist die quantitative Bedeutung der Leihbibliothek besonders eminent: Sie verbreitete sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts; um 1800 gab es fast in jeder Stadt des deutschen Sprachraumes eine Leihbibliothek, und damit kaum weniger als Lesegesellschaften. Und am Ende ihrer Blütezeit, also um die Mitte des 19. Jahrhunderts dann, gab es ca. 1.500– 2.000 Institute. Spezielle Bedeutung hatten die Leihbibliotheken für fremdsprachige Lektüre. Eher als Curiosität wurde um 1780 aus Paris von einem »Cabinet de Litterature Alemande« in der rue Saint-Honoré‚ berichtet oder 1794 aus London über »The Deutsche Lese-Bibliothek« in Charing Cross. In Deutschland waren die Institute sehr zahlreich, die auf englische und französische Literatur (oder beides) spezialisiert waren oder solche Abteilungen hatten, vermehrt in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Die Bestände der Leihbibliotheken waren am Ende des 18. Jahrhunderts noch nicht so ausschliesslich belletristisch, wie sie dies im 19. Jahrhundert wurden. Typisch für die Aufklärung und Spätaufklärung war die allgemeinwissenschaftliche Leihbibliothek. Erst in der Restaurationszeit (1815–1848) trat die wissenschaftliche und fachliche Literatur zurück, während die Belletristik und insbesondere die Romane sich ausbreiteten. Zwar war das Publikum der Leihbibliotheken nicht ebenso exklusiv weiblich, wie die Mitglieder der Lesegesellschaften männlich waren, doch insofern die Frauen überhaupt ganz überwiegend das Publikum der Belletristik stellten, waren sie auch die wesentlichen Kunden der
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Leihbibliothek, jedenfalls für die literarische Produktion, die ja ihrerseits wiederum aus den Lesegesellschaften fast völlig ausgeschlossen war. Die Institution entwickelte sich, von historischen Vorformen abgesehen, in ganz Europa seit Beginn des 18. Jahrhunderts. In England sind für die zweite Jahrhunderthälfte 112 ›Circulating Libraries‹ in London und 268 im übrigen Königreich nachgewiesen; schon im Annual Register (1761, S. 207) heisst es: »The reading female hires her novels from some country circulating library which consists of about a hundred volumes«. 1800 betrug die Zahl nach einer verlässlichen zeitgenössischen Schätzung in England »not less than one thousand«. Viele davon bestanden freilich nur kurze Zeit; die Zahl der gleichzeitig bestehenden war viel niedriger; 1820 werden für London 28 namentlich aufgelistet. Der Höhepunkt liegt auch hier in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Ein Artikel im Monthly Magazine stellt 1821 fest: It is computed, that there are in the united kingdom at least 1500 of them [circulating libraries], supported on the average by 70 subscribers and supplying with books at least 100.000 individuals regularly and another 100.000 occasionally.
Eine Zwischenform zu den ›clubs‹ waren die (nicht sehr zahlreichen) ›proprietary libraries‹ (subscription libraries, library societies): Die ›book clubs‹ waren sozial geschlossene Gesellschaften einer kleinen Gruppe, die neben dem Lesen einen geselligen Zweck verfolgten (Treffen im ›local inn‹, gemeinsames Essen) und die gelesenen Bücher wieder verkauften. Demgegenüber standen die ›proprietary libraries‹, die meist in den jungen Industriestädten entstanden, allen offen, die die Eintrittsgebühr und einen Jahresbeitrag bezahlten. Mit der Eintrittsgebühr erwarben die Mitglieder, manchmal mehrere hundert, und zu einem kleinen Teil auch Frauen, einen Anteil an dem wachsenden Bücherbestand. Zwar wurden Buchanschaffungen etc. von einem gewählten Komitee getätigt, doch benutzten die Mitglieder die Einrichtung fast wie eine gewerbliche Leihbibliothek. Entsprechend war hier schon in den 1770er /1780er Jahren etwa ein Drittel der Bestände Romane, bis 1850 verdoppelte sich ihr Anteil. Das Institut der Frau Tribu, der »fameuse loueuse de livres« des jungen Rousseau in Genf, bestand mindestens seit 1717. In Paris gab es »une sorte de cabinet de lecture« seit 1759, in Frankreich wurden die »loueurs de livres« aber erst in den 70er und 80er Jahren und dann nach der Revolution zahlreich. Wie in Deutschland hatten sie ihre grosse Zeit während der Restauration; Zeitgenossen berichten: De toutes les nouveautés qu’on peut remarquer dans Paris, le cabinet de lecture, sans contredit, frappe aussitôt les regards de l’observateur.« »Dans chaque carrefour, aux passages, aux ponts, sur les quais, dans toutes les rues … ces boutiques fourmillent.« »On en trouve dans tous les quartiers de la ville … dans presque toutes les promenades, dans presque tous les jardins publics, on aperçoit une échoppe ou un large parapluie … l’ombre desquels une femme tient une volumineuse collection de feuilles du jour, qu’elle loue aux promeneurs pour en prendre lecture … raison de 5 ou 10 centimes par journal.60
Die Zeitgenossen übertrieben nicht, allein für Paris sind 500 ›cabinets de lecture‹ zu schätzen,
60. Zitiert nach Parent, Françoise, »De nouvelles pratiques de lecture«, in: Martin, Henri-Jean (ed.), Histoire de l’édition, op. cit., S. 606–621, hier: S. 614.
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463 sind für 1815–1830 nachgewiesen. Hier las man, als abonné oder gegen eine Einzel-Gebühr, vor allem Zeitungen und Zeitschriften, je nach Institut auch jene so interessanten, über die Grenze geschmuggelten oder ›sous le manteau‹ gehandelten ›livres philosophiques‹, die man wegen des Preises oder ihrer blossen Tagesaktualität selten kaufte, aber manchmal auch, weil man sich nicht durch ihren Besitz kompromittieren wollte. Man las an Ort und Stelle, so war der Übergang zum Gespräch über das Gelesene leicht; insofern war dies eine ›lecture publique‹. Von den ›loueurs de livres‹ wurden die Bücher, meist tageweise berechnet, mit nach Hause genommen: die Lektüre von Romanen war eine individuellere, intimere. In dieser Differenz zeichnen sich, obwohl die Trennung nicht strikt war und es Ausnahmen gibt, und obwohl die Quellen dies selten explizit machen, unterschiedliche Räume männlichen und weiblichen Lesen ab. Jedenfalls zeigen Quellen unterschiedlichster Art bei der ›lecture publique‹ immer wieder Männer, bei der ›lecture du for privé‹ immer wieder Frauen.
Die Frauen und die Literatur: Männer und Frauen »Wie oft kann man in Gesellschaften, besonders von gebildet seyn wollenden Frauenzimmern […] kommen, wo nichts anderes gesprochen wird, als eine immerwährende Rezensirung dieses und jenes und anderer der neuesten Romane […].« (1789)61 Männliche und weibliche Lektüre unterliegen verschiedenen Mustern. Das meint zunächst die Gegenstände: Männer lesen vor allem, von berufsbezogener Lektüre abgesehen, die Zeitung, politische oder überhaupt Fach- und Sachliteratur, also eher zweckbezogen. Frauen haben gewissermassen die Lizenz zum Lesen von Belletristik. In der bürgerlichen Lebenssituation zeigte sich früher und klarer als in anderen Schichten die moderne Polarisierung der Geschlechtercharaktere, die kultursoziologisch für die Frauen die Freistellung für Lektüre mit sich brachte sowie die Ausbildung einer spezifisch weiblichen literarischen Bedürfnisstruktur:62 Den in der Polarisierung der Geschlechtercharaktere für den Bereich der emotiven Beziehungsarbeit (als Gattin, als Mutter) zuständig gewordenen Frauen lieferten die Romane ein für diesen Bereich spezifisches Phantasiematerial. In projektiver wie in empathischer Teilnahme63 an emotiven Interaktionen der Protagonistinnen fanden die Leserinnen Ausgleich und Ersatz für Defizite in der realen emotiven Beziehungsarbeit, fanden sie Material für antizipatorisches oder ersatzhaftes Phantasieren. Zwar nötigte das sozialgeschichtlich inzwischen etablierte Modell der »Zärtlichen Ehe« die »grossen Leidenschaften« des »amour passion« zur Fiktionalisierung, aber gerade deshalb erlaubte die Lektüre der Romane den Frauen die Bearbeitung emotiver Problemsituationen, bis hin zum phantasiehaften Umschreiben der eigenen Biographie unter Verwendung von Material, das aus dem Code des »amour passion« stammte. Diese literarischen Bedürfnisse schlugen sich ja auch in einer Veränderung des
61. Mauchart, Immanuel D., »Untersuchungen über das Vergnügen am Historischen, besonders an Romanen«, in: ders., Phänomene der menschlichen Seele, Stuttgart 1789, S. 151–174; hier S. 157 et passim. 62. Näheres cf. Schön, »Weibliches Lesen«, op. cit. 63. Zum Begriff identifikatorischer bzw. empathischer Lektüre cf. Schön, »La ›fabrication‹ du lecteur«, op. cit.
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Charakters der Texte nieder. Die Forderung Blankenburgs (1774), der Roman habe die innere Entwicklung eines Subjekts darzustellen, seine Bestimmung: »Es kömmt überhaupt […] nicht auf die Begebenheiten der handelnden Person, sondern auf ihre Empfindungen an«, ist Reflex der Entwicklung von den handlungsbetonten Texten des frühen 18. Jahrhunderts zu den empfindsamen, auf die Teilnahme an fiktiven Charakteren angelegten Texten des späten,64 die wiederum gerade den Bedürfnissen ihrer Leserinnen(!) entsprach. Oberflächlich wäre aber die blosse Feststellung, dass in überwiegender Rollenverteilung Frauen Romane, Männer aber Sachliteratur und die Zeitung lasen: Auch für Männer hatte Lektüre nicht nur die Funktion einer rein sachlichen ›Information‹, sondern konnte zu einem Teil auf einer zweiten Ebene auch die Funktion haben, Material für Phantasien bereitzustellen. Auch für die Männer gab es auf der Ebene psychischer Bedürfnisse Zusammenhänge zwischen der eingeschränkten Lage und zum Beispiel den bei den männlichen Lesern der Zeit so beliebten Reisebeschreibungen, zwischen faktischer Handlungsohnmacht und politischen, militärischen und technischen Informationen der Zeitungen. Ein ebenso unscheinbares wie sicheres Indiz für diese Funktion männlicher Lektüre ist es, wenn in den Lesegesellschaften Landkarten angeschafft wurden, um Kriegsereignisse, von denen man in den Zeitungen las, oder die Reiseberichte Forsters in der Phantasie nachvollziehen zu können. Dass männliche und weibliche Lektüre verschiedenen Mustern unterliegen, meint weiterhin die unterschiedliche Einbettung der Lektüre ins Alltagsleben: Das Lesen der Frauen fand im häuslichen Bereich der Entlastung von produktiver Tätigkeit bzw. in einer ›gemischten‹ Arbeitssituation statt; im Erfahrungsbereich der Männer wurde dagegen die Denkform der ›freien Zeit‹ ausgebildet. Ihre berufliche Situation ausserhäuslicher Tätigkeit liess ja die heute geläufige kategoriale Trennung von Arbeit und Freizeit entstehen; solche ›freie Zeit‹ ist Voraussetzung für Lektüre oder Theaterbesuch. Das gilt nicht nur für ihre objektiv-quantitative Verfügbarkeit; wichtiger noch ist, dass diese Zeit in der Mentalität der Menschen als disponible ›Freizeit‹ kategorial von ›Arbeit‹ unterschieden wird und typischerweise nach dieser situiert ist. Denn auch dies macht eine Differenz des bürgerlichen Lesens zu den früheren Verhaltensweisen aus: Die Diskussion um Nutzen und Schaden des Lesens von Belletristik ging im frühen 18. Jahrhundert noch um die Alternative ›Lektüre oder Arbeit‹, um 1800 ging es mit dem Stichwort ›Lesen nach getaner Arbeit‹ um die Integration des Umgangs mit Literatur in den bürgerlich-prosaischen Alltag. In Pierre D. Huets einflussreichem Traité de l’origine des romans (1670) galt der Roman noch als »agréable amusement des honestes paresseux«. 1806 dagegen heisst es: »Dann erst ist die Lectüre zu gestatten, wenn wir unsere Berufsgeschäfte mit Sorgfalt abgewartet haben, um damit die mässigen Abend- oder Sonntagsstunden auszufüllen.«65 Diese verschiedenen Räume weiblichen und männlichen Lesens sind als Folie für die gegen Ende des 18. Jahrhunderts anschwellende ›Lesesucht‹-Diskussion wichtig, da diese sich am männlichen Modell der Trennung von Arbeit und Freizeit orientierte, nicht an der ›gemischten‹ Arbeitssituation der Frauen:
64. Zu dieser Differenz cf. Schön, »Aufklärung der Affekte«, op. cit. 65. Beobachtende Blicke auf Leihbibliotheken und Lesecirkel. In: Schlesische Provinzialblätter, 1806, S. 433–451; hier: S. 439.
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Im frühen 18. Jahrhundert wurde v.a. in den Moralischen Wochenschriften gegen das Lesen der Frauen polemisiert.66 Es war genauer eine Polemik gegen die Übernahme adliger Standards durch die Frauen jenes Bürgertums, das im sozialen Aufstieg über Beamtenpositionen in der absolutistischen Verwaltung bis hin zur Nobilitierung sozial mit dem Adel konkurrierte. Sie entzündete sich daran, dass das in den Galanten Romanen dargestellte Verhalten und die Funktion ihrer Lektüre nicht mit den bürgerlichen moralischen und Arbeitsnormen vereinbar waren. Die Polemik gegen das Lesen der Galanten Romane könnte freilich gerade ein Indiz für ihre tatsächliche Lektüre sein. In den mittleren Jahrzehnten sah man das Lesen der Frauen positiver, aber nun bezogen auf die neuen Romane, die ihre Legitimation nur als aufklärerische Zweckform zur Vermittlung nützlicher Kenntnisse oder moralischen Besserung hatten. Die Lesepropädeutik musste sich also mit dem Tenor, nicht zum Vergnügen, sondern nur zur Belehrung und Erbauung solle man lesen, auf die Lesehaltung beziehen und mit der Aufstellung von ›Frauenzimmerbibliotheken‹ auf die Auswahl der Texte. Aber schon ab den 60er /70er Jahren war diese Art der Lesepropädeutik vom realen Lesen und von der Veränderung des Romans in seiner textuellen Qualität überholt. Er hatte sich von seiner Beschränkung auf Belehrung und Erbauung emanzipiert und wurde um der in der Lektüre selbst zu erlangenden Gratifikationen willen gelesen. Dies war die Zeit der eigentlichen ›Lesesucht‹-Diskussion. Die Hauptvorwürfe gegen weibliches Lesen betrafen nun das Lesen als solches: das verschwendete Geld, die verschwendete Zeit und der vernachlässigte Haushalt, die ungesunde sitzende Lebensweise. Sie betrafen das Lesen als Evasion im Kontrast von fiktiver und Alltagswelt: Die Frau könnte mit ihrer Beschränkung auf den Bereich des Hauses unzufrieden werden. Doch trat dieser Vorwurf gegen Jahrhundertende bereits wieder zurück; insofern ›Bildung‹ inzwischen als bürgerliche Identitätsarbeit immer mehr auch bei den Frauen akzeptiert wurde, wurde zunehmend mit dem 19. Jahrhundert immer mehr kritisiert, das weibliche Romanelesen geschehe »bloss zum Vergnügen« und trage eben gerade nichts zur bürgerlichen Identitätsarbeit bei, die bezogen auf Lektüre zwischen dem neuhumanistischen Ideal individueller Bildung und demonstrativem Konsum changierte. Denn vor allem betrafen die Vorwürfe den Roman als Gegenstand weiblichen Lesens: Seine idealischen Figuren vermittelten ein falsches Bild von der Welt und machten unfähig, sich prosaischeren Bedingungen, etwa des Ehelebens, anzupassen. Sie übten eine allzu empfindsame Haltung ein und machten zu praktisch-tatkräftigem Leben untauglich. Und immer noch: Sie regten erotische Phantasien an. Als reale Befürchtung der Kritiker stand hinter diesen Vorwürfen am Ende des Jahrhunderts weniger das alte Argument der Verlockung der Frauen zur Unmoral, als vielmehr nun zweierlei: dass sie sich ihrer Funktion in der bürgerlichen Statusarbeit entziehen und dass sie sich zudem im Lesen von ihrer sozialen Umgebung durch die Ausbildung eigener, individualisierender Erfahrungshintergründe entfremden könnten. Für die Frauen des Kleinbürgertums und der Unterschichten aber blieben auch im späten 18. und im 19. Jahrhundert, ja oft bis ins 20., das Argument des Geldes, der Zeit, der versäumten Arbeit in der Sicht der bürgerlichen, männlichen Kritiker die zentralen Vorwürfe.
66. Cf. Martens, Wolfgang, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968 / 1971.
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Die Rollenverteilung in diesen Diskursen über das Lesen von Romanen korrespondiert der beim Lesen selbst: Die (nicht-professionellen) Leser der Romane waren ja überwiegend männliche Jugendliche und Frauen. Sie waren damit auch die Objekte dieser Diskurse; deren Subjekte aber waren Männer, und wohl nicht nur jene Männer, die als professionelle Leser zugleich gelegentlich auch Romane lasen (wenngleich auf andere Art): Auch andere Männer beargwöhnten misstrauisch jenes weibliche Lesen, an dem sie selbst nicht teilhatten. Der zwischen Männern und Frauen geführte Diskurs über das Lesen war also höchst asymmetrisch: Vor dem Hintergrund ihrer in der Regel höheren formalen Bildung und im Rahmen ihrer allgemein ›Vormundschaft‹ gegenüber den Frauen traten sie ihnen gegenüber auch als ›Leselehrer‹ auf. Die männliche Argumentation war ambivalent. Einerseits schrieb die auf der Basis höherer formaler Bildung formulierte Kritik an den weiblichen Leseweisen den Frauen zu, bei einem stofflichen Interesse stehenzubleiben, ästhetisch inkompetent, ›trivial‹ zu rezipieren. Andererseits stand eine um ästhetisch kompetente Rezeption bemühte weibliche Rezeption unter dem Verdikt über das ›Gelehrte Frauenzimmer‹: Ich nehme mir die Freyheit, Ihnen meine Beobachtungen hierüber aus einer deutschen Stadt mitzutheilen, […] worin sich […] gegen zwanzig etablirte deutsche und französische Lesegesellschaften befinden […]. Vornemlich grassiert die Pest der Lectüre dort unter dem andern Geschlecht. Es wird daselbst wenige Frauenzimmer von der Geheimeräthinn bis zum geringen Bürgermädchen herunter geben, welche nicht die neuesten Romane gelesen haben sollten. Man spricht in den Damengesellschaften stundenlang von gelesenen Büchern und Journalen, recitirt Stellen daraus her, und rechnet diejenigen Frauenzimmer zur Classe unkultivirter, geschmackloser Weiber, die es wagen können, bisweilen einen Bücherdiscours mit einem Gespräch über das Hauswesen zu unterbrechen. (1788)67
Frauen sollten lesen, aber nicht zu »gelehrten Frauenzimmern«, zu ›Pedantinnen‹ werden. Hintergrund dafür ist, dass sich für das Bürgertum in der zweiten Jahrhunderthälfte ›Bildung‹ und ›Ausbildung‹ trennten: Der weiblichen Rollenaufgabe im Rahmen bürgerlichen Identitätsarbeit entsprach nur das Lesen zur ›Bildung‹, das im Interesse der bürgerlichen Familie für ihre Aussendarstellung funktional werden konnte. L[ouise]. Eine Dame, die mit leerem Kopf von Haus geht, bringt wenig Beytrag zur Unterhaltung in grosse Gesellschaft. K[arl]. Vorher also mag sie zu Haus, wie für die äussere also auch für die innre Verzierung ihres Kopfes besorgt seyn.(1788)68
Es verlässt die weibliche Rolle, »von Gelehrsamkeit Profession zu machen«, die Bildung in einer Weise zu betreiben, die nur als erwerbsorientierte Sinn macht. Genau dies taten Frauen aber seit dem 18. Jahrhundert; immer mehr versuchten, das Schreiben von Belletristik zum Erwerb zu machen, freilich oft, ohne sich dazu bekennen zu können: als Autorinnen von literarischen
67. Pockels, Carl Friedrich, »Über Frauenzimmerlectüre«, in: ders., Fragmente zur Kenntnis und Belehrung des menschlichen Herzens, Hannover 1788, S. 61–70; hier S. 63 et passim. Pockels zitiert einen (fingierten?) anderen Autor. 68. Meister, Leonhard, »Über die weibliche Lectüre«, in: Beneken, Friedrich B. (ed.), Jahrbuch für die Menschheit oder Beyträge zur Beförderung häuslicher Erziehung, häuslicher Glückseeligkeit etc., 2. Band, Hannover 1788, S. 35–50, hier: S. 46.
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Journal-Beiträgen und von Romanen. Gerade bei den Leihbibliotheken und den für sie produzierten Romanen schloss sich oft ein Kreis weiblicher Produktion und Konsumtion. Man findet in den Beständen der Leihbibliotheken, deren Massenware viele heute unbekannte Autoren aufweist, viele weibliche Autoren; ihr Anteil ist hier weit höher als unter den von der Literaturgeschichtsschreibung kanonisierten Autoren. Freilich sind hier wenig sichere Aussagen zu machen, da den Namen allein nicht zu trauen ist, solange man nicht die Autorinnen bzw. Autoren identifiziert. Einerseits gab es Frauen, die aus Scheu, sich mit namentlichen Publikationen ›öffentlich‹ zu machen, anonym oder unter männlichem Pseudonym publizierten. Andererseits gab es männliche Autoren, die weibliche Pseudonyme benutzten, da sie sich davon versprechen konnten, damit beim weiblichen Publikum, das sich von einer Geschlechtsgenossin eine spezifischere Befriedigung der weiblichen literarischen Bedürfnisse erwartete, mit grösserer Sicherheit Erfolg zu haben.
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Akademien, literarische Salons und Cafés David Williams
Trotz augenscheinlicher Interessenunterschiede und ernstzunehmender Kommunikationsschwierigkeiten, die auf den sprachlichen Verschiedenheiten beruhten, war das Konzept einer Gelehrtenrepublik im intellektuellen Leben Europas in den Jahrzehnten des Übergangs allgegenwärtig. Es drang lange vor 1760 in jeden Winkel der kulturellen und wissenschaftlichen Landschaft ein. Dank neuerer Recherchen ist es inzwischen möglich, die geographischen Grenzen jener neuen supranationalen Republik abzustecken und die wichtigsten Markierungspunkte anzugeben, zu denen vor allem die Akademien gehörten. Unsere Kenntnis der Topographie des akademischen Lebens im 18. Jahrhundert verdanken wir weithin den Arbeiten von Mornet, Roche und Voss,1 und kürzlich wurde erneut die Frage nach der Realität der Gelehrtenrepubliken auf der europäischen Landkarte aufgeworfen.2 Zur Lokalisierung hat McClellan folgende grosse Linien vorgeschlagen: »de la Kongelige Norske Videnskabers Selskab (1760) de Trondheim dans le nord à la Reale Accademia delle Scienze e Belle-Lettere (1778) de Naples dans le sud, de l’Academia Scientarium Imperialis Petropolitanae (1724) de Saint Pétersbourg à l’est, à l’Academia Real das Ciências de Lisboa (1779) à l’ouest.«3 Danach waren die Provinzen Europas reichlich mit solchen Akademien ausgestattet, und McClellan hebt die Wichtigkeit ihrer »kolonialen Ausdehnung« hervor. Es gab eine American Philosophical Society of Philadelphia (1768), eine Bataviaasch Gnootscap van Kunsten en Wetenschappen (1778) in Batavia und eine Société Royale des Sciences et des Arts du Cap François (1784) in Santo Domingo. Hahn, der von einem »Zeitalter der Akademien« spricht, hat so etwas wie eine europäische Akademiebewegung nachgezeichnet.4 Die europäischen Akademien der Aufklärung unterschieden sich, was ihre Organisation und ihre Modalitäten betrifft, deutlich von den vorausgegangenen Institutionen; ihre Existenz verdankten sie meistens dem Wohlwollen eines einflussreichen Mäzens. Patronage gab es zwar auch weiterhin, wie Roche in seiner Analyse der französischen Provinzakademien gezeigt hat, aber die Patronage äusserte sich nun weniger in Gestalt anerkannter Potentaten. Die Akademien des 18. Jahrhunderts mussten den spezialisierteren
1. Mornet, Daniel, Les Origines intellectuelles de la Révolution française, Paris 1933. Roche, Daniel, Le Siècle des lumières en province: académies et académiciens provinciaux 1680–1789, Paris 1978. Voss, J., »Die Akademien als Organisationsträger der Wissenschaft im 18th Jahrhundert«, Historische Zeitschrift 231, 1980, S. 3–74. Vgl. auch Amburger, Erik / Ciesla, M. / Sziklay, L. (eds.), Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa, Berlin 1976. 2. Vgl. vor allem McClellan, James E., »L’Europe des académies«, Dix-huitième siècle 25, 1993, S. 152–165. Ders., Science Reorganized: Scientific Societies in the Eighteenth Century, New York 1985. Daston, Lorraine, »The Ideal and Reality in the Republic of Letters in the Enlightenment«, Science in Context 4, 1991, S. 367–386. 3. McClellan, James E., »L’Europe des académies«, Dix-huitième siècle 25, 1993, S. 182–205. 4. Hahn, Roger, The Anatomy of a Scientific Institution: The Paris Academy of Sciences, 1660–1803, London 1971.
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Gruppierungen des folgenden Jahrhunderts weichen, die sich an einer professionelleren und wissenschaftlicheren Art von Aktivitäten ausrichteten, vor allem im Falle von Institutionen internationalen Formats wie der Royal Society in London oder der Académie Française in Paris. Es unterschieden sich schon die Akademien der letzten Jahre des 18. Jahrhunderts grundsätzlich voneinander, was die Gegenstände betrifft, denen sie sich widmeten. Manche Institutionen, wie die Königliche Akademie Berlin,5 boten eine bemerkenswerte Palette von Aktivitäten an, während andere sich auf ein einziges Gebiet beschränkten. Die Nachforschungen von Roche zeigen uns, dass 1760 die Leuchttürme der Akademien fast im gesamten Frankreich erstrahlten; die alten wissenschaftlichen Gesellschaften waren beinah vollständig verschwunden. Im übrigen Europa sah man besonders in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Akademien sich auf bemerkenswerte Art vermehren; sie entwickelten eine überraschende Dynamik und entwarfen von Mal zu Mal präzisere Programme.6 Die supranationale Dimension der Akademien wurde durch den kosmopolitischen Geist ihrer Mitglieder garantiert, die oft Mitglieder verschiedener Akademien waren. Die Aktivitäten berühmter Wissenschaftler wie Euler (Berlin und Sankt Petersburg), La Grange (Turin, Berlin und Paris) und Deluc (Genf, London, Göttingen), Stars wie Voltaire und die Anwesenheit von ausländischen Mitgliedern bei den Sitzungen der grossen nationalen Institutionen wie der Royal Society7 stärkten den europäischen Geist, der das akademische Leben während des Jahrhunderts der Aufklärung von dem der vorangegangenen Jahrhunderte unterscheidet. So entstand lange vor der Jahrhundertwende ein zuvor nicht dagewesenes vibrierendes Netz von korrespondierenden Mitgliedern sowie ein Kommunikations- und offizielles Beziehungsgeflecht. Es verband zum Beispiel die Kaiserliche Akademie in Sankt Petersburg mit ungefähr zwanzig anderen Institutionen und erleichterte so den Austausch von Neuigkeiten, Erinnerungen und Transaktionen.8 Durch Korrespondenz und Publikationen wurden gemeinschaftliche Projekte entwickelt: die im Laufe der sechziger Jahre durchgeführten astronomischen Beobachtungen, die während der achtziger Jahre ins Leben gerufenen meteorologischen Projekte und 1784 die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Observatorien von Greenwich und Paris unter der Ägide der Royal Society.9 Vor der Jahrhundertwende besass jedes Land seine ›offizielle‹, d.h. mit einem Schutzbrief versehene Akademie. Die Académie Française, 1635 von Richelieu gegründet, war eine der ältesten unter ihnen. Nach ihr entstand die Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, von
5. Terrall, M., »The Culture of Science in Frederick the Great’s Berlin«, History of Science 28, 1990, S. 333–364. 6. Vgl. Schalk, F., »Die Akademien und die Entstehung neuer Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung«, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, I, 1977, S. 37–42. Mousnier, Roland, Les Institutions de la France sous la monarchie absolue 1598–1789, Paris 1974. Shafer, R., The Economic Societies in the Spanish World, New York 1958. 7. Vgl. Lamoine, G., »L’Europe de l’esprit ou la Royal Society de Londres«, Dix-huitième siècle 25, 1993, S. 206–237. 8. Vgl. McClellan, J., »L’Europe des académies«, S. 188–190; Lamoine, op. cit., S. 220. 9. Das Projekt von 1761 und 1769, den Durchgang der Venus zu untersuchen, das 151 Forscher an 77 Stellen einbezog, war vielleicht das ehrgeizigste. Die Drahtzieherrolle übernahm für die Amerikaner indirekt die American Philosophical Society, die 1771 in ihren Transactions die Ergebnisse der Beobachtungen für ganz Europa veröffentlichte.
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Colbert gegründet, und gleichzeitig die Académie des Sciences. Diese drei Akademien wurden durch den Konvent 1793 abgeschafft, um 1795 von einer neuen Gruppierung unter dem Namen des Institut de France ersetzt zu werden. 1803 von Napoleon umorganisiert, erhielten sie 1816 durch eine Anordnung von Louis XVIII. ihre dauerhafte Form. In der Tat hatte die Académie Française in den fünfziger Jahren sich schon ernsthaft zu wandeln begonnen. 1755 wurde der Abt Duclos zum Präsidenten gewählt, was den zunehmenden Einfluss der Philosophen widerspiegelte, die die Tätigkeiten der Académie Française bis zu ihrer Abschaffung im Jahr 1793 bestimmen sollten. Nach dem Tod Duclos’ im Jahre 1772 kam es zu Kontroversen über die Wahl seines Nachfolgers d’Alembert, die mit dem Sieg der ›parti de l’humanité’ und der Rückkehr Voltaires nach Paris 1778 endeten. In dieser Zeit erlebten die inneren Zwistigkeiten zwischen den ›bonnets‹ und den ›chapeaux‹ der philosophischen Partei ihre hitzigste Phase.10 Die Geschichte der Académie Royale des Sciences war weniger stürmisch als die der Académie Française. Die Aktivitäten der Wissenschaftsakademie waren in offensichtlicherer Weise ›nützlich‹, so dass ihr die utilitaristische und materialistische Ideologie des ausgehenden Jahrhunderts vorübergehend als Schutzschild dienen konnte.11 Dennoch wurde die Wissenschaftsakademie, ganz wie die Académie Française selbst, enger und kompromittierender Bindung an die Wertsetzungen des Ancien Régime bezichtigt. Die neue Pressefreiheit und die Abschaffung des Privilegiensystems schwächte das Monopol der Akademien, wissenschaftliche Berichte zu veröffentlichen, und schadete auch der Autorität ihrer Mémoires und ihrer Sitzungsprotokolle.12 Mit dem Zeitalter der Privilegien endete die Macht der Akademien, Urteile abzugeben. Sie wurden auf eine neue, mehr beratende als autoritäre und gesetzgebende Rolle reduziert. Andere nach 1789 gegründete Vereinigungen, wie das Lycée, die Société Philomatique und die Société d’Histoire Naturelle machten ihnen Konkurrenz.13 Die Einstellung der Aktivitäten der Wissenschaftsakademie wurde am 8. August 1793 proklamiert, vier Tage vor dem Dekret, das die Türen der Académie Française schloss. Die Subvention vom 14. August 1790, die Le Brun vorgeschlagen hatte, erforderte eine administrative und konstitutionelle Reform der alten Akademien. Mehrere von ihnen, wie zum Beispiel die Akademie der Schönen Künste, waren sofort in der Lage, mit reformatorischen
10. Vgl. Castries, René, Duc de, La Vieille Dame du Quai Conti: une Histoire de l’Académie française, Paris 1978, S. 220–223; Maclaren Robertson, D., History of the French Academy 1635(4)-1910, London 1910, S. 272–274; AlbertBuisson, F., Les Quarante au temps des lumières, Paris 1960; Boissier, Gaston, L’Académie française sous l’ancien régime, Paris 1909; Caput, Jean P., L’Académie française, Paris 1986; Racevskis, Karlis, »L’Académie française vue par Grimm«, in: Bray, Bernard (ed.) et al., Correspondance littéraire de Grimm et de Meister, Colloquium in Saarbrücken (22.- 24. Februar 1974), Paris 1976; siehe auch den ironischen Kommentar von Montesquieu über ›eine Art Gerichtshof, mit Namen Academie française‹, Lettres persanes (Brief 73, in: Montesquieu, Charles de, Œuvres complètes, Caillois, Roger (ed.), 2 Bde., Paris 1949–51, hier: Bd. 1). 11. Vgl. Castries, op. cit., S. 250–256; Hahn, op. cit., S. 126–158. 12. Vgl. Ranc, A., »Les Débuts de la presse quotidienne à l’Académie des sciences«, in: Etudes de presse 10, 1958, S. 38–45; ders., »La Presse scientifique sous la Révolution française«, La Nature 76, 1948, S. 31–32; Hahn hat die Masse an neuen Fachzeitschriften wie das Journal d’histoire naturelle, die Annales de chimie, das Journal de chirurgie, das Journal d’agriculture, das Journal des sciences, arts et métiers usw. inventarisiert, die in jener Epoche zum ersten Mal auftauchten (op. cit., S. 174–176). Vgl. Ranc, »La presse scientifique…«, op. cit., S. 33–37. 13. Was die vollständige Liste der Sociétés betrifft, siehe Hahn, op. cit., Appendix I.
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Vorschlägen zu antworten. Die anderen, darunter die Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, die Académie d’Architecture, die Académie de Peinture et de Sculpture, die Académie de Chirurgie und die Académie de Médicine, spalteten sich für lange Zeit. Abgesehen von der Akademie der Schönen Künste zeitigten die angestrebten Reformen wenig Fortschritte, und Talleyrand schlug der Nationalversammlung vor, alle Entscheidungen über Akademien und »sociétés« bis zum Zeitpunkt der Formulierung eines Reformprogramms zurückzustellen. Dieser Vorschlag stellte das entscheidende Moment in der Geschichte der Pariser Akademien während der Revolution dar.14 Ein Jahr später hatten Talleyrands Anstrengungen Erfolg, und der Plan eines nationalen Instituts konkretisierte sich. 1792 wurde er infolge des Projekts von Concordet und Lavoisier zur Wahrung der Unabhängigkeit der Wissenschaftsakademie abgeändert. In Paris mussten zur Jahrhundertwende die allgemeinen Akademien und die Salons den komplexeren und spezialisierteren Instituten und Forschungszentren weichen. Was die französische Provinz betrifft, so waren auch hier die wissenschaftlichen Akademien tiefgreifenden Veränderungen unterworfen. Nach 1760 gab es in fast allen wichtigen Städten eine Akademie, doch die evolutionäre Dynamik, die die Akademie-Bewegung während der ersten Hälfte des Jahrhunderts kennzeichnete, war vergangen, und wir finden wenig neue Gründungen.15 Die akademischen Aktivitäten verlangsamten sich, und die Kreise des akademischen Lebens neigten dazu sich abzukapseln, was angesichts der Konkurrenz zahlloser ›Logen‹, ›Lesezirkel‹ (chambres de lecture) und ›literarischer Gesellschaften‹ nicht verwundert. Ausserdem muss man die beachtliche Ausbreitung der wissenschaftlichen ›Gesellschaften‹ auf regionaler Ebene berücksichtigen, deren Organisation in den katholischen Ländern mehr zum Formellen neigte. Unter den renommiertesten Gesellschaften finden sich auch private Gründungen wie die Naturforschende Gesellschaft in Danzig.16 Die Blütezeit der ›Gesellschaften‹ in Frankreich, wie z. B. die der Société Royale des Bonnes-Lettres, verdankte sich in den Jahren 1820–1822 dem Einfluss der Politik auf das literarische Leben. Dieser wuchs nach der Ermordung des Herzog von Berry, 1820, an. Ursprünglich eine antirevolutionäre und antiliberale Gesellschaft, liessen sich die Bonnes-Lettres in der Rue de Grammont nieder; ihre Gründer waren die Chefs der konservativen Partei, und zum ersten Präsidenten wurde Louis de Fontanes gewählt. Sein Schützling Chateaubriand folgte ihm 1822. Zu den Mitgliedern gehörten Adlige wie der Marquis d’Herbouville, der Herzog von Fitzjames, der Herzog von Maillé, Berryer, Jules de Polignac, Vitrolles sowie Akademiker und Gelehrte wie Brifaut, Chauvet, Chenedollé, Emile Deschamps, Duvicquet, Genoude, Edmond Géraud, Hugo, Lamartine, Nodier, Patin, Soumet, Véron, Vigny und Villemain; am Leben der Akademie beteiligten sich auch viele korrespondierende Mitglieder. Sitzungen, dreimal wöchentlich im Zeitraum Januar bis Mai, sollten alsbald nicht nur Debatten und Lesungen, sondern auch
14. Vgl. Caubisens-Lesforgues, C., »Le Salon de peinture pendant la Révolution«, Annales historiques de la Révolution française 33, 1961, S. 197. Siehe auch Hemmings, Frederick W., Culture and Society in France, 1789–1848, New York 1987, S. 63, Anm. 20. 15. Vgl. Roche, op. cit., I, S. 55. Laut Roche können nur die Akademien von Agen (1776), Grenoble (1780), Valence (1784) und Orléans (1784) als Neugründungen angesehen werden. 16. Vgl. McClellan, »L’Europe des académies«, op. cit., S. 192.
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Seminare beinhalten. Am 28. Februar 1821 las Hugo seine Ode auf Quiberon vor. Im März wurden Seminare in Geschichte, französischer Literatur, spanischer Literatur und auch ein PhysiologieSeminar veranstaltet. 1823 wurden Preise für Beredsamkeit und Dichtung ausgelobt.17 Für Grossbritannien sollte man unter den wissenschaftlichen Gesellschaften die Lunar Society of Birmingham nennen. Man kann sie einen exzellenten Mikrokosmos nennen, der aus Fabrikanten, Privatgelehrten und Vorreitern der industriellen Revolution bestand. Ihnen gelang es, aus dem ländlichen England ein modernes, urbanes Land zu machen. Matthew Boulton, Erasmus Darwin, Thomas Day, Richard Lovell Edgeworth, Samuel Galton, James Keir, Joseph Priestley, James Watt und Josiah Wedgewood waren alle Mitglieder der Lunar Society, deren Aktivitäten das Jahrhundert der Aufklärung und noch die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts umspannten.18 ›Gesellschaften‹ dieser Art waren übrigens keineswegs nur wissenschaftlicher Natur. In Genf z. B. versammelten sich nach dem Zeugnis der Madame d’Epinay Männer und Frauen (und sogar Kinder), zu sogenannten ›Zirkeln‹ oder ›Gesellschaften‹, die regelmässig Sitzungen in Privathäusern — etwa von Bonnet und Huber — abhielten. Sie ähnelten eher den französischen Salons als wissenschaftlichen Gesellschaften oder den Berufsvereinigungen anderer Länder.19 Überall in Europa orientierten sich die akademischen Aktivitäten in Richtung einer praktischen Anwendung nützlicher Forschungen. Sie entsprachen damit jener Allianz von Wissenschaft und Macht, wie sie von Intellektuellen gefordert wurde. Gleichzeitig verbreiteten sich nach 1750 die wissenschaftlichen Versammlungen in privaten Kreisen — ohne staatliche Aufsicht. Sie expandierten vor allem nach 1780.20 Fügen wir die Freimaurerei, die Sociétes Royales d’Agriculture, die Akademien für Bildende Künste, die Musikakademien usw. hinzu, so wird der Konkurrenzdruck verständlich, dem die Provinzakademien in der letzten Jahrhunderthälfte ausgesetzt waren. Roche weist darauf hin, dass man nicht zu stark die soziale Hierarchie in den französischen und den anderen Akademien hervorheben solle. Gewiss, die Akademien in allen Ländern rivalisierten miteinander, doch die ideologische Solidarität war nicht weniger ausgeprägt. Auch gab es gemeinsame Interessen: die Verbreitung des Wissens zu befördern und das Bewusstsein, einer Gemeinschaft des intellektuellen Austauschs anzugehören. Sie charakterisierten das akademische Leben in Europa viel stärker als die sozialen Unterschiede, die das Salonleben bestimmt hatten. Während in Frankreich die Jahre der Revolution eine Zeit des geordneten Rückzugs und der tiefen Krise waren, die bis in die Konsulats- und Direktoriumszeit anhielt, nahm das akademische Leben in anderen Ländern eine andere Entwicklung. Dort behielten die Akademien mit Willen der Regierungen ihre privilegierte Stellung als Symbole des nationalen Prestiges.
17. Vgl. Bray, René, Chronologie du romantisme, 1804–1830. Paris 1932, S. 58–64. 18. Vgl. Schofield, R. E., The Lunar Society of Birmingham. A Social History of Provincial Science and Industry in Eighteenth-Century England, Oxford 1963. 19. Das Zeugnis von John Moore ist in dieser Hinsicht besonders interessant; vgl. Coulson, M., Two Hundred Years of English Travellers, Gloucester 1988. Siehe auch Candaux, J., Voyageurs européens à la découverte de Genève, 1685–1792, Genf 1966. 20. Vgl. Karte 4 in Roche, op. cit., II, S. 477; siehe auch Roche, I, S. 63–74.
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Besonders in den deutschen Ländern gab es ein Verlangen nach einem gemeinsamen Identitätsgefühl. In diesen Zusammenhang gehört die wichtige Gründung einer Vereinigung der deutschen Akademien, die in Gotha 1794 beschlossen wurde. In den deutschen Ländern gab es im 18. Jahrhundert mehr als zweihundert wirtschaftlich orientierte und ›patriotische‹ Gesellschaften, die weithin nationalistisch ausgerichtet waren.21 In der Tat waren die Aktivitäten der deutschen Akademien zu jener Zeit bemerkenswert; sie hatten ein hohes wissenschaftliches Niveau und waren oft von brillanter Originalität. Genannt werden muss die kaiserliche Leopold-Akademie, ein Zentrum berühmter medizinischer Forschungen, in dem u.a. G. E. Stahl (›Olympiodorus‹) arbeitete. Diese Akademie diente auch den Universitäten der Region als Versammlungsort. M. B. Valentini (›Thessalus I‹) wurde zum ›Fellow‹ der Royal Society in London ernannt, und zu den weiteren Mitgliedern von internationaler Reputation muss I. C. Lehmann (›Antenor II‹), Chef-Konservator des naturgeschichtlichen Museums in Sankt Petersburg und erster Titularprofessor für Chemie und Metallurgie in Upsala, gezählt werden. Aus den neuen Universitäten in Göttingen und Erlangen erwuchsen weitere Gesellschaften. Albrecht von Haller gründete dort 1751 die Königliche Gesellschaft der Wissenschaften. Alle grossen Akademien in Frankreich, Italien, Grossbritannien, Preussen, Schweden und Russland entsprangen patriotischen Gefühlen. Italien und die Niederlande sind unter diesem Gesichtspunkt besonders interessant.22 Nach der französischen Revolution und bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts verstärkte sich der Nationalismus in den akademischen Aktivitäten Europas. Auch vor 1789 hatten die Akademien miteinander rivalisiert, doch waren die internationalen Beziehungen noch von Solidarität gekennzeichnet. In dieser Hinsicht spielte die Royal Society in London eine vorbildliche Rolle auf dem europäischen Terrain. 1662 direkt nach der Krönung Karls II. gegründet, empfing die Royal Society (anders als die Académie Française in Paris oder die Akademie in Sankt Petersburg) in ihrem Räumen Gelehrte (gens de lettres) und (Natur-) Wissenschaftler zugleich. Nach Lamoine kamen die Fellows aus allen europäischen Ländern von Skandinavien bis Sizilien und Griechenland. Auch gehörten ihr (vor und nach 1776) einige amerikanische Mitglieder an.23 Ausserhalb Frankreichs wurde die Tradition der europäischen Akademien nicht durch die politischen und sozialen Erschütterungen der Revolution von 1789 unterbrochen. Ihre Aktivitäten wurden zwar ›nützlicher‹, aber insgesamt diente ihnen die utilitaristisch-materialistische Ideologie
21. Siehe McClellan, »L’europe des académies«, op. cit., S. 195–196. McClellan zitiert die Doktorarbeit von Lowood, Henry, Patriotism, Profit and the Promotion of Science in the German Enlightenment: The Economic and Scientific Societies, 1760–1815, New York 1991. 22. Die Recherchen von Dooley und Mijnhardt eröffnen faszinierende Perspektiven für das Studium des Phänomens; siehe Dooley, Brendan, Science, Politics and Society in Eighteenth-Century Italy: the Giornale de’ letterati d’Italia and its World, New York 1991; Mijnhardt, W. W., Tot Heil van’t Menschdom: Culturele genootschappen in Nederland, 1750–1815, Amsterdam 1988. Im Falle von Italien siehe auch die Magisterarbeit von Maylender, M., Storia delle Accademie d’Italia, Bologna 1926–1930. 23. »La Société Royale de Londre fut probablement pour l’époque des lumières la seule réunion de tant de gens d’esprit à faire cohabiter hommes de lettres, de sciences, et autres activités, et ce jusque vers le milieu du dix-neuvième siècle.« (Lamoine, op. cit., S. 220).
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des ausgehenden Jahrhunderts als Schutzschild. Doch der Geist gleichmacherischer Reformen erzwang in ganz Europa eine immer engere Verbindung von Akademie und Staat. Die Salons nahmen den beachtlichsten Aufschwung in Frankreich, und folglich waren sie es, die sich die meisten europäischen Länder zum Vorbild ihrer Salons nahmen. Glotz und Maire haben einige Charakterzüge hervorgehoben, von denen die wichtigsten die Rolle der Frau betreffen;24 ohne jeden Zweifel verfügten die grossen Damen selbst nach 1789 noch über eine unvergleichliche Macht.25 Zwar weiterhin an der Spitze der wichtigen Zentren der intellektuellen und literarischen Aktivitäten, waren die Herrinnen der französischen Häuser aber nach 1750 nicht länger ohne Rivalen. Um sich gegenüber der Konkurrenz der Cafés und anderer Begegnungsstätten zu behaupten, hatten die Salons bereits am Ende der Regierungszeit Ludwigs XIV. begonnen, sich vom Einfluss des Hofes zu entfernen. Auch brachte die Verbürgerlichung der Salons andere Themen in ihr Leben. Von Schiedsrichtern des Geschmacks, die sich nach dem Hof in Versailles richteten, wandelten sie sich in Kampfstätten der Meinung und der gewagteren Information. Damit ersetzten sie die Presse, die man ihrer Freiheit beraubt hatte. Was den Austausch von Ideen in den Salons betrifft, kann man nicht genug die Wichtigkeit der Lektüre in den Lesekabinetten hervorheben. Die Lektüre von Briefen, Manuskripten, Zeitschriften, Erzählungen und Essays erfüllte nicht nur das Salon-, sondern auch das Caféleben.26 Literarische, künstlerische oder politische Salons, die unter der Leitung einer adligen oder einer Dame aus dem Grossbürgertum standen, tauchten nach dem 17. Jahrhundert in vielen europäischen Städten auf. In Preussen befanden sich die lebendigsten Salons zumeist in Berlin. Ihr kulturelles Leben war, im Unterschied zu den französischen Salons, selbst in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts für ein relativ breites Publikum geöffnet.27 Über ihre Sitzungen wurde regelmässig in der Tagespresse berichtet. In Zentren wie Berlin nahm zur Wende des Jahrhunderts der europäische Salon seinen Aufschwung, besonders dank der Aktivitäten grosser Damen wie Marianne von Eyberberg, Sara von Grotthüss, Henriette Herz, Rahel Varnhagen und Dorothea von Kurland.28 Der Salon der Henriette von Crayen, beschrieben von Fontane in
24. Glotz, Marguerite /Maire, Madeleine, Salons du XVIIIe siècle, Paris 1949, S. 13. Vgl. Picard, R., Les Salons littéraires et la société française 1610–1789, New York 1943; Gougy-François, M., Les Grands Salons féminins. Du salon de la marquise de Rambouillet à celui de Rachilde, Paris 1965; Grand, Serge, Ces Bonnes Femmes du dix-huitième siècle. Flâneries à travers les salons littéraires, Paris 1985; Jullian, P., »Le Salon de l’Europe et l’Italie au dix-huitième siècle«, in: Revue des deux mondes, 1961, S. 674–686. 25. Goodman, D., »Enlightenment Salons: The Convergence of Female and Philosophic Ambitions«, Eighteenth-Century Studies 22, 1989, S. 337–339. Siehe auch Zmijewska, H., »La Critique des salons en France du temps de Diderot (1759–1789)«, in: Gazette des beaux-arts 86, 1970, S. 1–144; Roche, D., »Encyclopédistes et académiciens. Essai sur la diffusion sociale des lumières«, in: Livre et société dans la France du XVIIIe siècle, La Haye 1970, II, S. 73–92. 26. Vgl. Young, A., Travels in France during the Years 1787, 1788, 1789, Bethan-Edwards, M. (ed.), London 1924, S. 134 ff. 27. Vgl. Wilhelmy, Petra, Der Berliner Salon im 19ten Jahrhundert (1780–1914). Berlin / New York 1989, S. 2–7. 28. Die beschreibende und analytische Liste der Berliner Salons, die D. S. Hertz aufgestellt hat, enthält sehr wertvolle Details; vgl. The Literary Salon in Berlin 1780–1806: The Social History of an Intellectual Institution, University of Minnesota 1979. Vgl auch vom selben Autor »Salonnières and Literary Women in Late Eighteenth-Century Berlin«, in: New German Critique 14, 1978, S. 97–108.
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seinem Roman Schach von Wuthenow (1883), verband die französische mit der deutschen Salontradition während der letzten Jahre des Ancien Régime, der Revolution und der Restauration, wobei letztere einen grossen Zustrom französischer Flüchtlinge brachten. Der Salon von Sara Levy, so scheint es, nahm wie der Salon der Madame von Kurland sowohl Franzosen als auch Deutsche auf. Preussen hatte übrigens sein eigenes Ancien Régime, das sich bis 1806 hielt und Frankreich bewunderte. Im Jahr 1800 war der Salon von Henriette Herz — ein bekannter Zufluchtsort der französischen Kolonie in Berlin — der berühmteste, der besonders aus der Anwesenheit von Jean Paul und Madame de Staël seine Anziehungskraft bezog. Der aktivste Salon am Ende des Jahrhunderts war indessen der von Rahel Varnhagen (geb. Levin).29 All diese Salons blühten in einer kulturellen Umgebung, die von der Aufklärung, dem Sturm und Drang und dem deutschen Klassizismus geprägt war und die den Personenkult liebte. Der deutsche Patriotismus, der sich schon 1806 infolge des Kriegs verstärkt hatte, spielte in den zwanziger Jahren eine dominante Rolle, als das Salonleben sich eng mit der romantischen Bewegung und der Suche nach der deutschen Identität verband. Hier muss man insbesondere den Salon der Luise von Voss nennen, in dem sich — nach dem Zeugnis Brentanos — Soldaten, Staatsminister, Akademiker, Prinzen und Dichter einfanden.30 Von 1815 an trugen die preussischen und besonders die Berliner Salons eine wachsende politische Tendenz zur Schau; sie diskutierten, was andernorts in Europa passierte. Diese Diskussionen beeinträchtigten jedoch nicht die literarischen Aktivitäten der Salons von Luise Radziwill, Amalie von Helding, Albertine von Waldow, Elise von Hobenhausen und anderer ästhetischer ›Teetische‹. Die preussischen Salons zeichneten sich durch enge persönliche Bindungen und ein unprätentiöses, ja sogar familiäres Ambiente aus. Sie nahmen einen ganz und gar bürgerlichen Stil an, waren ungezwungen, selten extravagant. Oft entfalteten sie musikalische Aktivitäten, was mit dem Aufblühen des musikalischen Lebens in Berlin nach 1815 einherging. Im Salon von Amalie von Helvig lauschte man, dank der Teilnahme von Adolf Lindblad, schwedischer Musik. Um 1814 / 1815 fanden die bemerkenswertesten musikalischen Soireen im Salon Elisabeths von Stägemann statt, wo Berufsmusiker wie Pierre Rode und Franz Lauska gemeinsam mit anderen Salonmitgliedern spielten. Selbstverständlich blieb die Konversation immer im Zentrum des Salonlebens, aber die mondäne Konversation des vorangegangenen Jahrhunderts wurde durch eine ernsthaftere Konversation ersetzt, die sich an intellektuellen Ansprüchen ausrichtete. Goodman erinnert daran, dass es sich um eine Konversation handelte, die vielfach durch das Verlesen von Briefen genährt wurde. Die neue Gelehrtenrepublik, der die Salons des 18. Jahrhunderts oftmals als sozialer Ort dienten, verdankte gewisse Aspekte ihrer Dynamik dem Briefwechsel ihrer Mitglieder. Viele Verbindungen zwischen der relativ privaten Welt des Salons und der Öffentlichkeit ergaben sich im Zusammenhang mit dem Postwesen.31 Vor 1789 bildeten die Zirkulation und die Lektüre von Briefen, in Nachahmung der Akademien, das kommunikative Netz, das die intellektuellen
29. Vgl. Wilhelmy, op. cit., S. 77–93. 30. Ibid., S. 105. 31. Vgl. Goodman, op. cit., S. 340–343.
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Kontakte und die Bewegung transeuropäischer und transatlantischer Ideen sicherte. Die korrespondierenden Mitglieder vermittelten den Salons und dem akademischen Leben zudem eine gewisse Weltläufigkeit.32 Der Salon der Aufklärung entwickelte sich in einem intellektuellen und sozialen Bereich, der sich völlig von dem unterschied, was das Wesen und die Funktionen des Salons im 17. Jahrhundert ausgemacht hatte. Goodman weist auf die Wichtigkeit der neuen Salonbesucher hin, durch die sich die Salons an dem sozialen Leben ihres Jahrhunderts orientierten — je nach den intellektuellen und moralischen Bedürfnissen der Besucher.33 Dorothea Schlözer in Göttingen ist ein treffendes Beispiel für die wachsende intellektuelle Präsenz von Frauen in der europäischen Kultur jener Epoche.34 Nachdem die Salons, vor allem nach 1760, ihre traditionelle Rolle als mehr oder weniger mondäne Zentren der Musse und Plauderei aufgegeben hatten, wandelten sie sich zu kulturellen Institutionen, die vor allem die Bewegung der ›philosophes‹ begünstigten.35 Die beiden Salons Necker markieren Wendepunkte im kulturellen Leben Frankreichs. Der
32. Vgl. Habermas, Jürgen, L’Espace public: Archéologie de la publicité comme dimension constitutive de la société bourgeoise (Übers.: M. B. de Launay). Paris 1986, S. 40–41; Goodman, op. cit., S. 341–343. Horace Walpole war korrespondierendes Mitglied im Salon von Madame Du Deffand. Der Abbé Galiani korrespondierte regelmässig mit dem Salon der Madame d’Epinay, und man denke auch an die Rolle, die Friedrich der Grosse und Katharina II in dem »Briefhandel« spielten, der für das intellektuelle Leben in Europa von integraler Bedeutung war, ohne die unersetzbare Rolle von Briefen in dem »Salon« von Voltaire in Ferney zu vergessen — vgl. Glotz / Maire, op. cit., S. 137. Die Correspondance littéraire von Grimm und Meister enthält vielleicht das berühmteste Beispiel des epistolaren Dynamismus, vgl. Nisard, C., Mémoires et correspondances historiques et littéraires inédits de 1726–1816, Paris 1858; Weinreb, R. P., »Mme d’Epinay’s Contributions to the Correspondance littéraire«, in: Studies in Eighteenth-Century Culture 18, 1988, S. 389–403; vgl. auch Morellet, A., Eloges de Mme Geoffrin, contemporaine de Mme Du Deffand, Paris 1812, S. v-vi (zitiert nach Goodman, S. 332, Anm. 11). Vgl. Badinter, Elisabeth, Emilie, Emilie: l’ambition féminine au XVIIIe siècle, Paris 1983. 33. »Rather than social climbers, the salonnières of the Enlightenment must be viewed as intelligent, self-educated and educating women who reshaped the social forms of their day to their own social, intellectual and educational needs. The initial and primary purpose behind salons was to satisfy the self-determined educational needs of the women who started them.« (Goodman, op. cit., S. 332–333). 34. Vgl. Kern, Bärbel /Kern, Horst, Madame Doctorin Schlözer; Ein Frauenleben in den Widersprüchen der Aufklärung. München 1990, S. 90–113. 35. Vgl. Goodman, op. cit., S. 337–340. Indem er den Begriff des intellektuellen Raums im Kontext der Londoner Cafés, ebenso wie der Pariser Salons, präzisiert, unterstreicht Habermas die Rolle der Philosophen für die »Befreiung« der Salons von der Autorität ihrer aristokratischen Gastgeber und bestätigt, dass diese Befreiung des Salonlebens von allererster Wichtigkeit bei der Errichtung einer wirksamen Basis war, die ihre Arbeit erleichtern konnte (Habermas, S. 43); siehe auch Picard, S. 139–140; Glotz / Maire, S. 49; Delorme, Suzanne, »Le Salon de la marquise de Lambert, berceau de l’Encyclopédie«, in: Delorme, Suzanne / Taton, René, L’Encyclopédie et le progrès des sciences et des techniques, Paris 1952. Das Salonleben dauerte fort bis zum Ende des Ancien régime. Der Tempel des Prinzen von Conti ist ein gutes Beispiel eines geschlossenen Salons, der jeweils die Nostalgie des Stils Louis’ XIV. hervorrief und der besucht wurde von Prévost, dem Prinzen von Ligne, der Gräfin von Boufflers, so leuchtend dargestellt in einem Gemälde des Banketts von l’Isle-Adam im Jahr 1776 durch Michel-Bartélémy Ollivier und erfüllt von »charmanten, kurzlebigen Mondänen, die im goldenen Duft eines schönen Sommerabends tanzten, ohne zu ahnen, dass die Nacht sich näherte« (Glotz / Maire, S. 157). Goodman sieht im Salon der Mademoiselle Lespinasse eine echte Parodie der traditionelleren Salons; die Salondame ist in diesem Fall zu einem von den Mitgliedern geformten ›Produkt‹ geworden und teilte ohne Reserve die kollektive männliche Mission der sie umgebenden Gruppe (Goodman, S. 39). Siehe auch Goodman, D., »Julie de Lespinasse: A Mirror for the Enlightenment«, in: Keener, Frederick M. / Lorsch, S. E. (eds.), Eighteenth-Century Women and the Arts, New York 1988, S. 3–10.
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Salon von Madame Necker und ihrem Ehemann, dem Schweizer Bankier Jacques Necker, befand sich in der Nähe des Marais, rue Michel Le Comte, gleich neben dem Hôtel Leblanc, rue de Cléry. Es verkehrten dort Marmontel, Raynal, Morellet, Grimm, Suard, Arnaud, Thomas, SaintLambert, d’Holbach, Diderot, Helvétius, Buffon, d’Alembert, Gluck, Chastellux, Schomberg und Talleyrand. Ihr Salon war das Vorzimmer der Revolution und muss zu den wichtigsten und einflussreichsten der Epoche gerechnet werden. 1786 zog sich Germaine Necker, die Frau des Baron von Staël, zurück. Der Kreis um Madame de Staël, zu dem u. a. Condorcet, La Fayette und Talleyrand gehörten, hatte das Ancien Régime und die Jahre des Terrors gründlich kennengelernt und war der letzte und in vielerlei Hinsicht funkelndste der europäischen Salons um die Jahrhundertwende. Doch die politische Landschaft und sogar die kulturelle änderte sich schlagartig mit der Einberufung der Generalstände. Die Neckers beschlossen, sich im Schweizerischen Coppet niederzulassen, aber Madame de Staël blieb bis zum August 1792 in Paris. Sie kehrte dorthin 1795 in Begleitung von Benjamin Constant zurück, um ihren Salon neu einzurichten, diesmal auf die Aktivitäten Napoleons zentriert, zu dessen leidenschaftlichen Bewunderinnen sie damals gehörte. Doch die Zeit der grossen Salondamen im Stil des Ancien Régime war schon vorbei. Die Salonwelt musste die Initiative der neuen Welt der Clubs und der Zirkel überlassen. Interkultureller als selbst der Salon von Madame de Staël, repräsentierten die neuen Clubs, wie der von Joseph Auberman, Albert Stapfer, Emmanuel Viollet-le Duc und Délécluze, die kulturelle Welt des Föderalismus. Emile Deschamps begann 1814 im Haus seines Vaters eine Gruppe von Freunden um sich zu sammeln, zu denen Henri Latouche, Alexandre Soumet und Alexandre Guirard gehörten. Vigny und Hugo trafen sich dort, etwas später folgte Jules de Renéguier. Als sich im August 1820 Soumet nach achtzehnmonatiger Abwesenheit wieder in Paris niederliess, konnte der Freundeskreis der rue Saint-Florentin Anspruch auf den Ruf des ersten Romantiker-Clubs erheben. Was die liberalen Aktivitäten der Restauration anbetrifft, so begannen gewisse Clubs, die Rolle der eher traditionellen Salons fortzuführen. Zu Beginn der zwanziger Jahre war der wichtigste Club ohne Zweifel die Künstlergruppe um Stendhal. Zu ihm gehörten Charles de Rémusat, Cavé, Dittmer, Leclercq, Sautelet, Duvergier de Hairaut, Bertin, Loève-Veimars, Magini, Patin, Cerclet, Jacquemart und später Mérimée. Dieser Zirkel setzte sich hauptsächlich aus jungen Leuten zusammen, die von neuen kosmopolitischen Ideen und von enzyklopädischem Geist erfüllt waren. Manche von ihnen teilten ihre Zeit auf mehrere Salons auf, wie dem der Lady Morgan oder dem von Stapfer. Anderswo konnten sie noch Constant, Maine de Biran, Augère, Cousin und verschiedene Ausländer und Reisende treffen. Doch der Star, dessen Anwesenheit die grosse Zahl der Kreise miteinander verband, war gerechterweise Stendhal. Die meisten Zirkel trennten ihre literarischen nicht von den politischen Interessen, und die Politisierung des Salonlebens erreichte ihren Höhepunkt mit der romantischen Revolution von 1820–22. Sowohl Royalisten wie Duvicquet, Nodier, Hugo und Vigny, allesamt Anhänger von Gesellschaften wie der der Schönen Künste, als auch Liberale wie Délécluze, Magnin, Dubois, Rémusat und Stendhal, Anhänger von Salonzirkeln, definierten sich nämlich unter eher
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politischen als ästhetischen Begriffen.36 Das Salonleben in Frankreich, zuerst in Form von Clubs und Zirkeln wiederhergestellt, aber ohne die Wohltaten einer renommierten Gastgeberin, spiegelte die grosse kulturelle Rückorientierung jener turbulenten Jahre. Der freie Gedankenaustausch war vor der französischen Revolution nur dort möglich, wo informelle oder formelle Begegnungsstätten existierten. In dieser Hinsicht waren die Salons des Ancien Régime wichtiger als die Cafés, vor allem in den katholischen Ländern wie Frankreich und Italien. In anderen Ländern wie Grossbritannien waren es jedoch gerade die Cafés mit ihrem ausschliesslich männlichen Publikum, und nicht die ›drawing rooms‹ der Frauen, wo man eine intellektuelle Arbeitsatmosphäre und freien Gedankenaustausch antraf. Von Anfang an37 sahen die Behörden in den Cafés Zentren gefährlicher oder gar aufrührerischer Intrigen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden die englischen Cafés im Zusammenhang der Postdienste kontrovers diskutiert. Diese Dienste wurden 1794 von Edward Johnson reorganisiert, aber das Briefvolumen war so gross, dass die Ressourcen des offiziellen Postdienstes hierfür nicht ausreichten. Infolgedessen erfüllten bis 1827 Londoner Kaffeehäuser die Funktion der Post — ungeachtet der von den Behörden gegen sie unternommenen Aktionen. Was die geschäftlichen Angelegenheiten der Banken und der Versicherungsgesellschaften anbetraf, so wurden sie häufig im Kaffeehaus Lloyd in der Lombard Street, im Café Garraway und im Café Jonathan in der Exchange Alley erledigt. Auch die Mediziner und Scharlatane aller Art machten aus den Cafés eine unersetzliche gesellschaftliche Institution. Der Finanzskandal der Südsee-Geschäfte von 1720 war tief im Geschäftsleben der Londoner Cafés verwurzelt. Kurz, die englischen Cafés des 18. Jahrhunderts spielten eine bemerkenswerte Rolle in den geschäftlichen, sozialen, wissenschaftlichen und politischen Aktivitäten. Die Zeitschriften der sechziger und siebziger Jahre bezeugen sogar den Verkauf von Sklaven in den Cafés.38 In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts dienten die Cafés in zunehmendem Masse als Begegnungsstätten, die sich vor allem pädagogischen und wissenschaftlichen Zielen widmeten. Die Londoner Cafés dienten sogar als Orte für Vorträge. John Harris, Autor einer der ersten technischen Enzyklopädien, und der hugenottische Mathematiker Abraham de Moivre hielten im Café Marine regelmässig Vorträge vor Steuermännern, die einen Bedarf an mathematischen Kenntnissen hatten. Auch Versicherungsmakler, die sich für Wahrscheinlichkeitstheorien interessierten, wurden bedient. Im Café Marine hatte sogar die London Assurance Company bis 1748 ihren Gesellschaftssitz. Ellis nennt Cafés dieser Art insofern zu Recht »penny universities«. Berühmte Botaniker trafen sich im Café Rainbow, Watling Street, wo sie die Botanische Gesellschaft gründeten. Andere Gäste gründeten am selben Ort die Society for the Encourage-
36. Vgl. Bray, S. 61–65; Knieff, N. J. S. , The Parisian Salon of the Second Empire. A Cultural Institution in Historical Perspective, vgl. Dissertation Abstracts 43, 1982–1983. 37. 10. Mai 1637. Vgl. Ellis, A., The Penny Universities. A History of the Coffee-Houses, London 1956, S. 19. Siehe auch Robinson, E. F., The Early History of Coffee-Houses in England. With Some Account of the First Use of Coffee and a Bibliography of the Subject, London 1893, und Lilleywhite, B., London Coffee-Houses. A Reference Book of CoffeeHouses of the Seventeenth, Eighteenth and Nineteenth centuries. London 1963, S. 17. Lilleywhite hat eine kommentierte Liste von 2.034 Cafés in London für die Zeit zwischen dem Ende des 17. und der Mitte des 19. Jahrhunderts erstellt. Ellis schätzt, dass mehr als 2.000 Cafés vor dem Ende des 17. Jahrhunderts existierten (S. xiv). 38. Lilleywhite zitiert den Fall von Thomas Lewis 1770 / 71, S. 24.
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ment of Learning. Die Mitglieder der Aurelian Society versammelten sich bis 1745 im Wirtshaus Swan, Cornhill. Sie verwandelte sich 1788 in die Linnaean Society, deren Sitzungen im Café York, Saint James Street, stattfanden. Über die Cafés drangen die neuesten Nachrichten von wichtigen Erfindungen und Experimenten an die grosse Öffentlichkeit. Covent Garden eröffnete ein Labor, das sich metallurgischen Experimenten widmete. 1782 hielt die Gesellschaft der Chemiker Sitzungen im Café Chapter ab. Einer der Vorsitzenden der Royal Society, Martin Folkes, besuchte das Café Rawthmell in der Saint James Street, wo er unter den Gästen der Gesellschaft die Ratsmitglieder auswählte. Im Café Rawthmell studierten übrigens die ›Fellows‹ die Vorschläge eines gewissen Shipley aus Northampton, der Preise auf Erfindungen auszusetzen verlangte. Die Vorschläge führten zur Gründung der Society for the Encouragement of Arts, Manufactures and Commerce, heute besser bekannt unter dem Namen Royal Society of Arts. Im Café Button in der Russell Street, Covent Garden, gab es einen Briefkasten, der die Gestalt eines Löwenkopfes hatte und der Artikel und Anmerkungen verschlang, die für den Guardian bestimmt waren. Man sollte die Rolle von Kaffeehäusern, wie des Café Button, für die Entwicklung der englischen Presse im Lauf des 18. Jahrhunderts nicht unterschätzen.39 Der berühmte Löwenkopf fand sich später im benachbarten Café Bedford wieder, einem universitären Forum, wo John Stirling und J. T. Desaguliers Vorträge über experimentelle Philosophie hielten. Viele dieser englischen Cafés verloren in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts nach und nach an kultureller Bedeutung, so dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts nichts mehr von ihnen zu sehen war. Es waren die Clubs, die sich ihrer politischen und literarischen Funktionen bemächtigten. Diese Tendenz zeigte sich bereits in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts an den Aktivitäten geschlossener Zirkel wie dem Rota Club ab. Seine Mitglieder trafen sich entweder im Café Miles oder White’s Chocolate House oder in prosperierenden politischen Clubs wie dem Cocoa Tree, dem William’s und dem Saint James. Im Lauf des Jahrhunderts setzte sich die Kundschaft der Londoner Cafés immer mehr aus Freunden oder Kollegen zusammen, die Geschmack, Beruf oder Interessen teilten. Als berühmteste Beispiele können der Anti-JakobinerClub Mug-house, Lincoln’s Inn Fields und der Kit-Kat-Club der Whigs genannt werden. Auch in der Provinz entstanden politische und literarische Clubs nach dem Vorbild der Hauptstadt, die danach strebten, sich unter dem Dach von Wirtshäusern und Herbergen zu treffen — wie der Headstrong Club in Lewes, dem Sitz der Gesellschaft von Thomas Paine. Gewisse Cafés verwandelten sich in politische, literarische oder wissenschaftliche Clubs bereits vor Beginn des 19. Jahrhunderts. Der Kaffeekonsum sank übrigens zugunsten des Tees. Der Genuss von Tee begünstigte die Teilnahme von Frauen an den öffentlichen Aktivitäten, was im Rahmen des von Männern bestimmten Cafélebens der vorangegangenen Jahre nicht möglich gewesen war. Am populärsten waren die Gärten von Vauxhall und andere dem Teegenuss geweihte Versammlungsstätten, die Frauen ebenso wie Männer aufnahmen. In Frankreich war dank der Initiativen des Palermitaners Francesco Procopio di Cotelli oder Coltelli, der 1689 für Menschen aller sozialer Schichten das Café Procope eröffnet hatte, der
39. Vgl. Ellis, S. 162–16; The Guardian, Nr. 71, 85, 93, 114, 142.
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Erfolg der Pariser Cafés als Orte der Begegnung gesichert.40 Wie in Grossbritannien nur für Männer vorgesehen, verwandelten sich die Cafés in Frankreich sehr schnell in Institutionen des gesellschaftlichen, politischen und literarischen Lebens, wo man trinken, schwatzen, Zeitung lesen, Briefe schreiben, Freunde treffen, Karten spielen und die neuesten literarischen sowie Nachrichten aus dem Theaterleben diskutieren konnte. Nach 1715 gab es laut Roustan ungefähr 300 Cafés in der Hauptstadt, eine Ziffer, die man für den Vorabend der Revolution mit drei multiplizieren muss. Die Cafés verbreiteten sich in der Provinz vor allem nach 1770. Die französischen Cafés beherbergten ein radikal intellektuelles Publikum, und viele Schriftsteller der Epoche haben uns Zeugnisse der ideologischen Schlachten hinterlassen, die dort ausgetragen wurden.41 Nicht anders als in England und Italien wurde auch nicht darauf verzichtet, die Cafés mit einer Armee von Spitzeln und Polizisten überwachen zu lassen. Die Geheimpolizei, die aus mehr als 30.000 Spitzeln bestand und von ihrem Präsidenten d’Argenson straff organisiert war, erhielt allabendlich Berichte, die sorgfältig im Ministerium abgelegt wurden.42 Aber das Überwachungssystem konnte nicht viel an dem zunehmend ungehorsamen Kaffeehausleben ändern.43 Das Café de Foy, das Café de Chartres oder das Café Chrétien entwickelten sich zu wahren Herden der politischen Intrige. Ersteres, ein nach 1760 wohlbekanntes Etablissement, wurde vor allem von Politikern besucht. Camille Desmoulins tauchte dort am 13. Juli 1789 auf, um sodann — am Tag vor der Erstürmung der Bastille — in den Gärten des Palais Royal eine Ansprache an die Menge zu halten. Während der Restauration diente das Café de Foy als wichtiger Treffpunkt für Künstler und Schriftsteller. Während das Café de Chartres Gruppen royalistischer Verschwörer beherbergte, zog das Café Chrétien Mitglieder des Jakobinerclubs wie La Harpe und Marie-Joseph Chénier an. Auch nach der Revolution zeigten die ›politischen‹ Cafés rund um den Palais Royal eine aussergewöhnliche Dynamik, die bis in die sechziger Jahre des folgenden Jahrhunderts anhalten sollte. Die Cafés wurden übrigens nicht nur von Schriftstellern und Philosophen besucht. Man fand dort eine Melange aus Politikern, Schöngeistern, Schauspielern, Journalisten, Abenteurern, Ausländern und Reisenden. Sie gaben den Cafés eine besondere kosmopolitische Qualität. Durch sie erweiterte sich der Kulturhorizont der französischen Aufklärung. Und man kann sagen, dass hier und in den Salons der revolutionäre Aufruhr des Jahrhunderts begann. Andere Cafés waren eher dem literarischen Leben verbunden und dienten als Redaktionen
40. Vgl. M. Roustan, »Essai sur les cafés littéraires«, Revue de Lyon et du sud-est, 2, April–Juni 1906, S. 25–49, 116–136, 179–197. Procopio hat seinen Namen französisiert zu FranVois-Procope Couteaux. 41. Z. B. Lesage in La Valise trouvée (Lettre X), Œuvres de A. René Lesage, Paris 1828, XII, S. 210–212; vgl. auch Prévost, Le pour et le contre (Anm. CCVI). 42. Vgl. Roustan, S. 122–125. 43. Vgl. Didier, Beatrice, La Littérature de la Révolution française, Paris 1988. Die Pressefreiheit war vom 14. Juli 1789 bis zum 10. August 1792 uneingeschränkt, trotz einiger vergeblicher Reglementierungsversuche durch die Stadtverwaltung von Paris und verschiedener rechtlicher Projekte. Das Loi Thouret vom 23. August 1791 über die Delikte der Presse, zum Beispiel, wurde angenommen, aber niemals angewandt. Das Gesetz vom 4. Dezember 1792 und vom 23. März 1793 setzte dem Liberalismus in dieser Hinsicht mit aller Kraft ein Ende, und die Verfassung aus dem Jahre III enthielt sehr vorsichtige Formulierungen. Eine repressive Politik folgte mit der Machtergreifung des Direktoriums, und das Prinzip der Pressefreiheit war schon Makulatur, lange bevor Napoleon die Macht ergriff.
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und Verbreitungszentren neuer Zeitschriften. Unmittelbar vor der Revolution wechselte das berühmteste Café des Ancien Régime seinen Eigentümer und hiess nun Café Zoppi. Mit dem neuen Eigentümer kam eine neue, revolutionäre Kundschaft. Man konnte dort nicht nur Robespierre, Danton, Fabre d’Eglantine, Hébert und Marat sehen, sondern wahrscheinlich auch zum ersten Mal eine rote Mütze. Auch im 19. Jahrhundert blieb das Café Zoppi ein blühendes Zentrum, seine Bedeutung dokumentierte die Anwesenheit Balzacs, Gautiers, Gambettas, Verlaines, Huysmans’ und Wildes.
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Lesende Frauen Fritz Nies
Schriftstellerinnen und Heldinnen Meine Skizze bildet ein Triptychon: Auf dem Mittelteil die Leserinnen, auf den Seitenflügeln die Schriftstellerinnen sowie die Frauen als Thema der Literatur. Beginnen wir mit den Damen, die sich zu Lebzeiten1 einen Ruf als Schriftstellerin erworben haben,2 und beschränken wir uns auf rund zwanzig der bekanntesten Namen. In England fanden Radcliffe und Edgeworth, Hemans und Austen öffentliche Beachtung, in Deutschland die Laroche, Naubert und Merau, die Bernhardi, Veit und Günderode, in Russland Kaiserin Katharina II., eine gebürtige deutsche Prinzessin. Zahlreicher noch sind die Französinnen, von denen ich hier nur Madame de Staël, Madame de Genlis und Madame Cottin nennen will. Erwähnen wir weiterhin die Niederländerin Elisabeth Bekker sowie die beiden Schweizerinnen Madame de Charrière und Madame de Montolieu. Abgesehen von der portugiesischen Weltbürgerin Marquise d’Alorna, einem in mehrfacher Hinsicht atypischen Fall, bleibt festzuhalten, dass das nördliche Randgebiet des Kontinents mit Skandinavien noch ebenso fehlt wie das südliche mit den grossen katholischen Ländern (Italien, Spanien). Wie einige der genannten Namen bereits durch die Adelspartikel erkennen lassen, gehörten gut dreissig der bekannten Schriftstellerinnen, vor allem in Frankreich und Deutschland, dem aristokratischen Milieu an. Nicht wenige von ihnen wirkten im Bannkreis berühmter Literaten ihrer Epoche — so in Deutschland von Mendelssohn, Wieland, Schlegel, Tieck, Creuzer und Brentano,3 in Frankreich des Mitgliederkreises von Madame Neckers Salon. Was die praktizierten Genres betrifft, lässt sich feststellen, dass die Autorinnen in allen genannten Ländern die Prosagattungen oder die als traditionell nichtkanonisch geltenden Gattungen bevorzugten. Der Roman nimmt mit Hunderten von Bänden den Spitzenrang ein, mit einem zahlreichen Gefolge kürzerer Erzählformen — Novellen, ›moralischen‹ Erzählungen, Feenmärchen. Demgegenüber ist weniger als ein Dutzend Lyrikerinnen in Erinnerung geblieben — etwa die Deutschen Bernhardi, Mereau und Günderode, die Engländerinnen Radcliffe und Hemans oder Madame de Charrière, Elisabeth Bekker und die Marquise d’Alorna. Noch weniger Frauen schliesslich wagten es, als Dramatikerin hervorzutreten: Kaiserin Katharina schrieb einige
1. Unerwähnt bleiben deshalb Frauen wie z.B. Karoline v. Humboldt, deren Berühmtheit auf einem erst 1901 veröffentlichten Briefwechsel beruht. 2. Allein in Frankreich lassen sich über fünfzig weniger bekannte Autorinnen anführen. Nennen wir etwa Mlle Aïssé, Mlle d’Albert, Mme Balard, Mlle Thomas de Bazincourt usw. 3. Sophie v. Laroche, Dorothea Veit, Sophie Bernhardi, Sophie Mereau; zum Folgenden: Marquise d’Alorna und Mme de Staël oder Felicia Hemans.
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Komödien, die Comtesse de Genlis und Mary Edgeworth verfassten Stücke mit pädagogischer Zweckbestimmung; doch Karoline von Günderode und Sophie Bernhardi trauten sich als einzige, mit Udohla und der Tragödie Egidio und Isabella, sich den Anforderungen des hohen Genres zu stellen. Die übrigen Ausdrucksformen, an denen Frauen ihren Anteil reklamierten, gehörten entweder in den Bereich der Erziehung,4 wie Fabel und »Historiette«, oder in die Sphäre des Privat-Intimen, so vor allem die authentische oder fiktive Korrespondenz oder gesammelte Erinnerungen.5 Einige Titel aus der nachrevolutionären Periode signalisierten bereits klar feministische Ziele: So fügte in England Mary Edgeworth (1767–1849) ihren Letters for literary ladies 1795 einen Essay of noble science of self-justification hinzu, Anne Radcliffe (1764–1823) veröffentlichte 1799 The female advocate, or An attempt to recover the rights of women from male usurpation, und die Comtesse de Genlis rühmte die Influence des femmes sur la littérature comme protectrices des lettres et comme auteurs (1811). Erinnern wir schliesslich an eine letzte literarische Tätigkeit, die bei der Osmose zwischen den europäischen Nationen eine wesentliche Rolle spielt, aber allzuoft unerwähnt bleibt: die Übersetzung, in der sich viele Schriftstellerinnen jener Zeit auszeichneten. So übersetzte die Marquise d’Alorna Goldsmith, Gray und Ossian ins Portugiesische, Madame de Montesson und Madame de Chastenay veröffentlichten französische Fassungen von Goldsmith und Anne Radcliffe, die Baronne de Montolieu einen Robinson suisse auf Französisch, Dorothea Veit übertrug für ihre Landsleute französische Gedichte aus dem Mittelalter, die Geschichte der Jeanne d’Arc und der Marguerite de Valois sowie Madame de Staëls Corinne, und Sophie Mereau übersetzte die Princesse de Clèves. Kommen wir aber kurz auf die Romanschriftstellerinnen zurück, denen wir den grössten Teil weiblicher Literaturproduktion verdanken und die mitunter stolze Erfolge verbuchen konnten. So zählte der Roman Elisabeth von Madame Cottin, mit einer Auflage von zwanzig- bis fünfundzwanzigtausend Exemplaren, sowie Madame de Staëls Corinne zu den Bestsellern im Frankreich der Jahre 1816–1820.6 Auch die Romane Marie Cottins und vieler anderer erzielten eindrucksvolle Verkaufszahlen. Die genannten Beispiele deuten bereits darauf hin, dass der Titel von Frauenhand verfasster Romane dem Lesepublikum oftmals weder die Geschichte eines Paares noch die eines Mannes ankündigt, sondern die eines Frauenlebens und -geschicks. Auch wenn dies damals kein Charakteristikum war, das nur weibliche Romanschriftsteller auszeichnete,7 schienen sie diese Variante der Titelgebung deutlich zu bevorzugen. Oft gehören die durch den Titel hervorgehobenen Frauenfiguren, wie die meisten Schriftstellerinnen selbst, dem aristokratischen Milieu an. In der französischsprachigen Romanproduktion wimmelt es von Namen wie Madame de
4. Benedictine Naubert und Sophie v. Laroche, Mme de Genlis, Mary Edgeworth und andere; zum Folgenden: MarieElisabeth de Polier, Sara Trimmer oder Sophie de Maraise (zur pädagogischen Zielrichtung der Gattung »Historiette« im Frankreich des beginnenden 19. Jahrhunderts siehe F. Nies, »Das Ärgernis ›Historiette‹«, in: Zeitschrift für Romanische Philologie 98, 1973, S. 421–439). 5. Sophie v. Laroche, Mme de Staël, Mme de Genlis, Mlle Aïssé usw. (cf. auch F. Nies, »Un genre féminin?«, in: Revue d’histoire littéraire de la France 78, 1978, S. 994–1003). 6. Siehe Chartier, Henri-Jean / Chartier, Roger, Histoire de l’édition française, Bd. III, Paris 1985, S. 373. 7. Erinnern wir nur an die Titel von Rousseau (Julie), Sade (Justine), Chateaubriand (Atala), Constant (Cécile) oder Fr. Schlegel (Lucinde).
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Palastro, Madame de M**, Claire d’Albe, Amélie de Mansfield, Adèle de Sénange, Duchesse de la Vallière, Mademoiselle de Clermont.8 Die Deutschen, so Sophie Bernardi (1775–1833) oder Sophie von Laroche (1731–1807), folgten ebenfalls dieser Mode, wogegen bei ihren Kolleginnen jenseits des Ärmelkanals dieser Titeltypus wenig beliebt war. Bei einer zweiten Form der Titelgebung, die seit der französischen Revolution in Grossbritannien ebenso wie in Frankreich oder Deutschland Verbreitung fand, wird die Heldin immer häufiger lediglich beim Vornamen genannt, d.h. von ihrem familären und sozialen Umfeld isoliert. Erwähnen wir nur Corinne, die bekannteste Verkörperung der ›femme supérieure‹, gefolgt von einer stattlichen Schar mit Namen Delphine, Malvina, Valéry, Irma, Thecla, Elisabeth, Belinda, Emma usw.,9 die vom Bestreben nach einer oft zum Scheitern verurteilten Emanzipation zeugen. Erinnern wir daran, dass sich die Schriftstellerinnen nicht immer in literarischem Ruhm sonnen konnten. So veröffentlichten einige ihre Texte anonym10oder unter einem Pseudonym, die literarischen oder paraliterarischen Werke anderer wurden erst posthum veröffentlicht;11 einige wenige Frauen allerdings konnten bereits vom Ertrag ihrer Feder leben.12 Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zeigte der französische Verleger Maradan eine auffällige Vorliebe für Romane aus Frauenhand und zählte unter anderen die Damen Cottin und Genlis, Colleville und Bon zu seiner Autorenschar. Kommen wir nun zum Mittelteil des Triptychons, zu den Leserinnen, die durch ihren jeweiligen Leseakt den Text erst von der Virtualität in die Realität überführen. Natürlich ist zur damaligen Zeit der durchschnittliche Alphabetisierungsgrad von Frauen geringer als der von Männern;13 eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Belege14 dokumentiert jedoch, dass vor allem in den sozialen Eliten die Frauen, weit weniger durch Beruf oder Familienpflichten in Anspruch genommen als männliche Familienmitglieder, häufiger als diese zu ›literarischen‹ Lesestoffen griffen. Viele zeitgenössische Autoren wandten sich deshalb ausdrücklich an die ›femmes du monde‹, an die ›jeunes‹ oder ›belles dames‹ oder an die ›young ladies‹.
8. Romane vn A.-I.-J. de Brécy, A.-H. de Colleville, S. R. Cottin, Mme de Genlis, A. de Souza, Mme de Montolieu, M. Cottin. Zum Folgenden: Fräulein von Sternheim u.a. 9. Romane der Autorinnen de Staël, Cottin, Krüdener, Méré, Naubert, Edgeworth, Austen. 10. Jane Austen, Benedictine Naubert usw. Zum Folgenden: Karoline von Günderode. 11. Karoline von Humboldt, Marquise d’Alorna. 12. Ein bekanntes Beispiel dieses neuen Typs der Romanschriftstellerin ist Mme Cottin. Siehe zu alledem auch Garside, P. /Franklin, C., British Women Novelists 1750–1850, 12 Bde, Routledge 1992; Turner, Cheryl, Living by the Pen. Women Writers in the 18th Century, Routledge 1994. 13. Siehe z.B. Furet, François /Ozouf, Jacques, Lire et écrire. L’alphabetisation des Français, de Calvin à J. Ferry, Bd. 1, Eds de Minuit 1977, S. 241. 14. Zeitgenössische Zeugnisse in Memoiren, Zeitungen, Briefen usw., pädagogischen Werken; Vorworte oder LektüreDarstellungen in fiktionalen Werken; Ausleihverzeichnisse von Lesekabinetten und -gesellschaften. Zur Bedeutung der Ikonographie des Lesens siehe F. Nies, Bahn und Bett und Blütenduft. Eine Reise durch die Welt der Leserbilder, Darmstadt 1991 (französische Übersetzung unter dem Titel Imagerie de la lecture ist in Vorbereitung und wird bei P.U.F. erscheinen). Zum Folgenden siehe Belege ibid., Kap. 4.4. und 4.5.
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›Ancien Régime‹-Leserinnen Beginnen wir mit einem Überblick über die erste Hälfte des von uns untersuchten Zeitraums, der mit den letzten Jahrzehnten des Ancien Régime zusammenfällt und sich in vielerlei Hinsicht deutlich vom nächsten Jahrhundertviertel unterscheidet. Porträts aus dieser Zeit belegen, dass sich Frauen der sozialen Eliten gerne als Leserinnen darstellen liessen; dies vor allem in Frankreich, nicht selten aber auch in Deutschland, Italien oder in Kreisen des englischen Landadels. Gleiches gilt selbst für den Hochadel: Königin Marie-Antoinette lässt sich mit einem Buch in der Hand auf der Leinwand verewigen, ebenso wie die Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar oder eine Landgräfin von Hessen. Nebenbei bemerkt, umfasst die Palette derartiger Leserinnen-Porträts sogar Apotheker- und Uhrmacherfrauen bis hin zur Manufakturarbeiterin Christiane Vulpius, der Geliebten Goethes. Eine merkwürdig anmutende Ausnahme bilden hier nur die Porträts junger Oberschicht-Mädchen in heiratsfähigem Alter. Sie scheinen anzudeuten, dass ihre Familien diese Mädchen keinesfalls als leidenschaftliche Leserinnen dargestellt sehen wollten. Hatten selbst die Frauen zuvor gerne mit umfangreichen, grossformatigen und sorgfältig gebundenen Büchern posiert, begnügen sich nun die Porträts vieler englischer, französischer und deutscher Aristokratinnen mit einem kleinformatigen, schmalen, oft ungebundenen Bändchen: Zeichen für einen ähnlich leichtgewichtigen Inhalt. Ferner demonstrieren sie mit ihrem Verzicht auf einen schützenden Einband, so Madame Adelaïde de France, die Dauphine Maria Josepha, die Marquise de Pompadour oder sogar eine Kunsttischlers-Gattin, dass sie den Aktualitäts- und Verbrauchswert ihrer Bücher höher einschätzen als deren zeitüberdauernden Wert. Ein Porträt der Fürstin Juliane von SchaumburgLippe aus dem Jahr 1780 zeigt sie sogar mit einer Zeitung in der Hand und versinnbildlicht damit ihr Interesse für einen bislang den Männern vorbehaltenen Lesestoff. Als Beispiele für das Lesen in niederen sozialen Schichten sei ein Zimmermädchen genannt, das in einem Liederbuch liest,15 oder eine ihrem Herrn vorlesende Dienerin.16 In Frankreich standen nicht zuletzt Kurtisanen und Kokotten im Ruf, eifrige Buchleserinnen zu sein.17 Noch blieb das Lesen jedoch vorwiegend den Städterinnen vorbehalten. In Deutschland scheinen vereinzelte Darstellungen von Leserinnen aus der Landbevölkerung — Bäuerin oder Schäferin — eher philantropischer Aufruf zur Volksbildung als Reflex historischer Realität zu sein. Diesen Schluss legt nicht nur ein Vierzeiler nahe, der in Deutsch und Latein (!) den Stich einer lesenden Junghirtin begleitet: Wann Esel Ochs und Schaf im kühlen Schatten stehn Und bei dem klaren Bach der stillen Ruh geniessen Pfleg ich mir meine Zeit durch Lesen zu versüssen
15. Siehe Maza, Sarah Crawford, Domestic Service in 18th Century France, Diss. Princeton 1978, Ann Arbor / London, S. 269 (Buchhandelsausgabe u.d.T. Servants and masters in eighteenth-century France, Princeton 1978). 16. Sie gehört zu einer Gruppe, deren Alphabetisierungsgrad und Lektüreaffinität deutlich über dem Durchschnitt der »niederen« sozialen Schichten liegt. 17. Siehe Restif de la Bretonne, Lucile (1768) oder J.B. Nougaret, Lucette (1765 / 66); zu diesem Leserinnen-Typus cf. F. Nies, »Filles perdues und femmes publiques«, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 8, 1984, S. 394–403.
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Um nicht in gleichem Paar mit meinem Vieh zu gehn.18
Wie in diesem Beispiel heben zahlreiche weitere Belege die Einwirkung der Umwelt auf die Sinne der Leserin hervor; der Einfluss, den solche Rahmenbedingungen der Lektüre auf die Sinne ausüben, wird stärker betont als je zuvor. So evozieren zahlreiche Leserbilder den besonderen Komfort epochentypischer neuer Polstermöbel — Stühle, Armsessel oder Kanapees — und deuten damit an, rechte Lektüre setze (vor allem bei Frauen) völliges körperliches Wohlbehagen voraus. Eine ganze Reihe von Bildingredienzen sind immer wieder unverkennbar dazu bestimmt, die Sinne der Leserin anzusprechen — sei es Musik, Kaffee oder ein anderes Getränk, sogar eine komplette Mahlzeit. Weit häufiger als zuvor wird die Lektüre am wärmenden Ofen oder Kamin evoziert. Das Lesen im Freien hingegen erscheint überwiegend als ein den Männern vorbehaltenes Wagnis: Sie werden beispielsweise auf dem Rasen liegend in unberührter Naturlandschaft dargestellt; soweit bereits einige Frauen die Lektüre im Freien riskieren, ziehen sie den gepflegten und geschützten Park vor,19 sitzen fast immer auf einem Stuhl oder einer Bank, und manchmal gehört sogar ein Tisch zu ihrer Ausrüstung. Aber offenbar war es eher der geschützte Innenraum, vor allem das Boudoir, das der Frau als Lebensraum und damit als Ort ihrer Lektüre zugewiesen wurde. In diesem Zusammenhang findet sich eine zukunftsträchtige Variante, die ikonographische Dokumente als typisch weiblich darstellen: die Lektüre im Bett oder auf einem Ruhebett auch und gerade dann, wenn nicht Krankheit oder Schwäche die Lesende am Aufstehen hindern. Oft lassen dabei weiche Kissen, duftende Rosen und ähnliche Requisiten, vor allem aber die teilweise entkleidete, lässig hingestreckte Leserin erotische Konnotationen entstehen.20 Die so geschaffene sinnliche Atmosphäre wird nicht selten verstärkt durch weitere Faktoren: die Anwesenheit eines Liebhabers, den Körperkontakt mit dem Verehrer, mehr noch aber durch die Art der Lektüre: Entweder handelt es sich um einen ›gefährlichen Roman‹ oder genauer um Goethes Werther, um Klopstocks Oden oder die Briefe von Heloisa und Abélard. Das ikonische Motiv der Bettlektüre deutet so in massiver Weise das Lesen junger Frauen als erotisches Stimulans, als Vorspiel erotischer Aktivitäten oder erotische Ersatzhandlung. Selbst ausserhalb des Bettes stellen (überwiegend, wenn auch keineswegs ausschliesslich) französische Texte21 und Kupferstiche weit häufiger als in früheren Epochen die Lektüre junger Leserinnen in eindeutig erotische Verweisungszusammenhänge. Mögen sie auch stehen oder sitzen, das von der Bettlektüre vertraute Motivarsenal wird ihnen, in meist luxuriöser Umgebung, unverändert zugeordnet: Négligé und tiefes Dekolleté, Anwesenheit oder Berührung des Werbers oder Liebhabers, Amorstatue und brennende Kerze, als Lesestoff ein ›love song‹ des Strassenhändlers oder ein Liebesroman und — immer wieder — Rosen. Liegen sie nicht auf dem Boden oder Nachttisch verstreut, dann stehen sie in Kübeln oder Vasen neben der Lesenden, werden von ihr träumerisch entblättert, umkränzen die
18. Nach Schauer, Georg Kurt, Der wohltemperierte Leser, Frankfurt a.M. 1964, S. 45. 19. Siehe dazu ikonographische Belege von Gainsborough, Thönert, Nilson, Debucourt. 20. Siehe dazu etwa die Bilder von L. M. van Loo (1767), P. Malœuvre (1774), N. de Launay nach Lavreince (1777), Chodowiecki (1782). 21. Siehe z.B. »Le danger des romans« im Mercure de France von 1770, zit. nach Michel Delon in Krauss, Henning (Hg.) u.a., Offene Gefüge, Tübingen 1994, S. 75 f.
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Vorhänge als Girlanden oder werden vom Kavalier überreicht. Verschränkt mit dieser ständigen Liebessymbolik erscheint die Genusssteigerung von Lektüre durch duftende Blumen als Vorrecht blühender junger Frauen. Dies gilt selbst dann, wenn die Gattung des Porträts plumpe erotische Anspielungen ausschliesst. Insgesamt gesehen spiegeln die Bilder jener Epoche die Überzeugung, eine ideale Leseatmosphäre müsse die Frauen auch und gerade als Sinnenwesen ansprechen, und angenehme Eindrücke auf ihre unterschiedlichen Sinne sollten jenes uneingeschränkte körperliche Wohlbefinden erzeugen, das die Wirksamkeit von Lektüre so offensichtlich erhöht. Selbst wenn es sich nicht um ein ›liederliches Mädchen‹ im Bett handelt, wird das einsame Lesen als für Frauen schädlich angesehen: ein Symptom für das berühmt-berüchtigte ›WertherFieber‹, ein gefährlicher Ersatz für sexuelle Genüsse. Generell bleibt die positiv bewertete Frauenlektüre eine Tätigkeit, die sich mit der Vorstellung menschlichen Beisammenseins verbindet — man liest zu zweit, in Gegenwart von Freunden oder im Kreis der Familie. Bei Gesellschafts- oder Konversationsstücken ist die Vorlese-Rolle auf Frauen und Männer etwa gleich verteilt. Eine Reihe von Bildern zeigt, wie Zuhörerinnen ihren Lektüregenuss mit typisch fraulichen Tätigkeiten verbinden: In Frankreich sind sie mit ihrer Toilette beschäftigt22 oder, im Kleineleutemilieu, mit dem Stillen; in deutschen Bürgerfamilien mit Spinnen, Nähen, Sticken oder Stricken. Nicht ausschliesslich auf französische Stiche begrenzt, aber für diese besonders charakteristisch sind Gesellschaftsstücke, die ein Personenpaar unterschiedlichen Geschlechts in erotischem Kontext zeigen. Hier liest fast immer die Frau, und die Rolle des sie unterbrechenden Nichtlesers fällt dem werbenden Kavalier zu. Daneben finden sich Karikaturen von Leserinnen, die selbst nach Sonnenuntergang nicht von ihrem im doppelten Wortsinn brandgefährlichen Laster lassen können und mit ihrer Kerze gedankenlos Brände auslösen. Lektüre bei Kerzenlicht erscheint nur dann als gerechtfertigt, wenn zwei oder mehr Personen, die die Flamme überwachen können, zu erbaulichem Lesen versammelt sind und der Verbrauch des kostbaren Lichts nicht nur das Bedürfnis einer einzelnen Leserin stillt. Zahlreiche Belege führen vor Augen, welch katastrophale Folgen ein Lesen zur falschen Zeit oder ein Zuviel davon haben können — etwa bei einer Rabenmutter, die aus Leidenschaft für Romanlektüre die eigenen Kinder vernachlässigt. Betrachten wir noch kurz die Leserinnen-Typen in Hinblick auf ihr Lebensalter: Was den Typus der Jungleserin betrifft, signalisiert die häufige bildliche Warnung vor den Gefahren des Lesens, dass das Erlernen dieser Fähigkeit in der Realität nicht nur Jungen vorbehalten war. Denn das Lesen von Büchern wird als Teil einer ›guten Erziehung‹ junger Mädchen angesehen: Richtiges Lesen steht im Ruf, den ›Gebrauch der Vernunft‹ zu fördern und Liebe zur Tugend zu wecken. Da jedoch nicht wenige junge Frauen dazu neigen sollen, der Bibel oder erbaulichen Werken Liebesgeschichten vorzuziehen, prophezeit man ihnen unablässig, sie würden dies eines Tages bitter bereuen. Als für Frauen und vor allem junge Mädchen nützliche und angemessene Literaturgattungen galten neben Andachtsbüchern Gedichte, moralische Erzählungen, sogar Philosophie- und Geschichtsbücher und schliesslich Dramen.23 Doch selbst der sonst zumeist
22. Siehe Delon (Anm. 21) oder die Bildbelege in Nies (Anm 14). Zum Folgenden: Nies a.a.O. 23. Siehe, zitiert bei Lange, Victor, Die Lyrik und ihr Publikum im England des 18. Jahrhunderts, Weimar 1935: Ladies Poetical Magazine, 1781 f., Poems for Ladies, 1777; Poems for Young Ladies, 1767; Sophie v. Laroche, Pomona für
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als ›gefährlich‹ eingestufte Roman fand seine ersten Verteidiger. So rühmt die Legende eines englischen Kupferstichs von 1783 Laurence Sternes Sentimental Journey als eine »merry story«, die Mütter ihrer ganzen Familie vorlesen sollten.
Revolutionierte Lektüren und zeitresistente Einstellungen Die französische Revolution und das Kaiserreich Napoleons mit ihren Auswirkungen auf ganz Europa bringen tiefgreifende Veränderungen des weiblichen Leseverhaltens mit sich. Eine besondere Funktion erhält in Frankreich das gebundene kleinformatige Buch, dessen Einband farblich auf die Kleidung abgestimmt ist, als Accessoire der emanzipierten Dame auf Modekupfern und in den neuentstehenden Modejournalen. Mit Haarbändern in den Farben der Trikolore, mit prächtigen Kleidern in den Modefarben Blau, Weiss und Rot, demonstrieren die Modebilder-Damen der neuen bürgerlichen Eliten nun ihren Anspruch nicht nur auf ständig wechselnde Toiletten, sondern auch auf das alte aristokratische Vorrecht langer Stunden lektüreerfüllter Musse — im kostbar ausgestatteten Interieur, im Park, auf der Hafenpromenade. Doch schon 1791 zeigt eine Gouache auch mehrere Frauen mit Haube, die im patriotischen Frauenclub die neuesten politischen Nachrichten lesen. Wie gezielt republikanische Propaganda das traditionelle Medium populärer Kalenderliteratur einzusetzen wusste, um die Frauen in ländlichen Gebieten zu erreichen, illustriert 1794 das Frontispiz von Bulards Almanach d’Aristide ou du vertueux républicain. Es zeigt die Titelfigur, wie sie inmitten einer andächtig lauschenden Dorfgemeinde die »principes de la morale« vorliest. So bringt Aristide dem dürstenden Volk geistige Muttermilch und ergänzt damit die leibliche Nahrung der rousseauistisch stillenden Mutter unter seinen Zuhörern. Im Frankreich der Revolutionszeit ist der Glaube an die Notwendigkeit und die erzieherische Wirkung des Lesens durch nichts zu erschüttern. Mehr noch: Lesen wird als Symbol revolutionärer Befreiung verstanden — auch und gerade der Frauen. In England wirken sich die Ereignisse auf dem Kontinent eher indirekt aus: Gleich mehrfach zeigen englische Karikaturen vornehme Damen, die mit wohligem Schrecken, am gebändigten Feuer ihres Kamins in luxuriöser Wohnung, den Prototyp der ›gothic novel‹ verschlingen, deren durchschlagenden Erfolg Georg Lukács nicht von ungefähr aus dem Revolutionsgeschehen ableitet. Auch im Deutschland der Jahrhundertwende liehen die ›verheirateten Damen‹ Gespenster- und Geistergeschichten im Lesekabinett aus.24 Aufgeschreckt liest eine festlich aufgeputzte Deutsche des Jahres 1792 so auch das Journal de Paris. Dessen Schauermeldungen aus dem Epizentrum der Revolution erreichen sie im geschützten, mit erotischen Emblemen überladenen Alkoven, auf wohlgepolstertem Prachtsofa, zu ihren Füssen ein gutdressiertes Schosshündchen: einer Umwelt also, in die einzig diese ›Modelektüre‹ erste
Teutschlands Töchter, 1783 / 84; Marquis de Lezay-Marnésia, Plan de lecture pour une jeune dame, Paris 1784 (21800). Verwiesen sei hier auch auf die speziell für ein weibliches Publikum verfassten deutschen Sammlungen und Zeitschriften: Pomona oder Iris von J.G. Jacobi (1774–76) sind nur zwei bekannte Beispiele von vielen (cf. dazu H. Lachmanski, Die deutschen Frauenzeitschriften, Diss. Berlin 1900). 24. Siehe z.B. M. Wellnhofer, Die Anfänge der Leihbliotheken und Lesegesellschaften in Bayern, o.O. 1953, S. 6 f.
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Vorahnungen einer neuen Ära bringt.25 Bestimmte Leserinnen-Typen, die zur Zeit des Rokoko häufig begegneten, werden nun seltener. Nur in England weiterzuleben scheint der Bildtypus stark dekolletierter oder halbnackter Leserinnen in erotisierter Atmosphäre.26 Andere aus vorrevolutionärer Zeit überkommene Leserinnen- und Lektüre-Typen beweisen dagegen eine unerwartete Zählebigkeit. In Deutschland preisen Abbildungen von Arbeiterinnen oder Hirtinnen nach wie vor die Möglichkeiten sozialen Aufstiegs der Unterprivilegierten durch Bildung und propagieren damit ein reformistisches Gegenmodell zur revolutionären Lösung der westlichen Nachbarnation. Andere Bilder und Begleittexte demonstrieren, dass in England und Deutschland traditionelle Lesestoffe wie die Bibel oder Andachtsbücher in Gebrauch bleiben, in Deutschland auch Gedichtbände und die Dramen Shakespeares.27 Und zu Dutzenden werden nun die für Frauen und junge Mädchen lange Zeit als verderblich geltenden Romane evoziert. Ein Kupferstich aus dem schwäbischen Taschenbuch für Damen lastet die — durch Lektüre hervorgerufene oder unterstützte — moralische Korruption von Adel und Geistlichkeit dem französischen Ancien Régime an: Er zeigt einen »Abbé«, der »Madame la Présidente« bei ihrer Toilette als »Morgenandacht« anregende Liebesabenteuer vorliest.28 Von Montesquieu zu Fénelon, Scott, Goethe und Wieland über Bernardin de Saint-Pierre, Clauren und Lafontaine bis hin zu den Werken der oben erwähnten Schriftstellerinnen: die in den Dokumenten auftauchenden Autorennamen und Titel sind Legion. Doch wird solch weibliche Romanlektüre inzwischen weit wohlwollender beurteilt als früher. In Frankreich empfiehlt der Marquis de Lezay-Marnésia jungen Frauen sogar ausdrücklich die Romane von Mme de Souza und Mme de Montolieu,29 und Reynouard ist der Meinung, dass die junge Frau angesichts der Verpflichtung, in den höchsten Kreisen der Gesellschaft in distinguierter Weise aufzutreten, in einigen, allerdings ungemein seltenen, dieser guten Romane die Möglichkeit entdecken kann, ihre Pflichten mit den sozialen Anforderungen in Einklang zu bringen. Häufig zielen die Romanautoren eben dieses Publikum ausdrücklich an. Bernardin de SaintPierre bemerkt, er habe die erste Ausgabe von Paul et Virginie (1787) — »cet ouvrage, Dieu merci, aimé des femmes« — verfasst für »des dames qui désirent mettre mes ouvrages dans leur poche«.30 Andere Vorworte locken die Leserinnen mit dem Versprechen an, dass sie »furent de tout temps les héroïnes« dieses Genres gewesen, das durch »sages conseils«, durch Warnun-
25. Stich von Malvieux, in: Lesewuth … Das Buch der Goethezeit, Ausstellungskatalog, Düsseldorf 1977, Nr. 330. 26. Siehe z.B. die Stiche »Die liederliche Tochter« (1796) von J. Northcote oder »Luxury or the Comforts of a Rumpford« (in: Hanebutt-Benz, Eva-Maria, Die Kunst des Lesens, Frankfurt a.M. 1985, Abb. 174). 27. Siehe Engelsing, Rplf, »Der Bürger als Leser«, in: Archiv für die geschichte des Buchwesens 3,1960 / 61. Zum Vorangegangenen und Folgenden siehe auch das Register von Ward, Albert, Book production, fiction and the German reading public 1740–1800, Oxford 1974, unter dem Stichwort »Women readers, and their tastes in literature«. 28. Siehe Stich von Fr. Catel, 1803 (Abb. in: Wunderlich, Heinke / Klemt-Kozinowski, Gisela, Leser und Lektüre, Dortmund 1985, S. 162). 29. A. a.O. (Anm. 23), Inhaltsverzeichnis. Zum Folgenden siehe De l’influence des romans sur les mœurs, Paris 1818, S. 24. 30. Zit. nach Hudde, Hinrich, Bernardin de St.-Pierre, »Paul et Virginie«. Studien zum Roman und seiner Wirkung, München 1975, S. 113.
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gen vor Koketterie und seine »modèles que toutes les femmes devraient imiter« zu ihrer Erziehung beigetragen habe. Ja man leitet daraus sogar die Forderung ab, dass »la mère en prescrira la lecture à sa fille«.31 In Deutschland mahnt selbst ein Pastor, Verfasser eines Erziehungsbuchs für junge Mädchen: »Bereichern Sie Ihre Phantasie durch die Klarissen, Pamelas, Lotten, Julchen Janssens und Klotilden, wo Sie sie finden… Dies Ideal mag täglich vor Ihrer Seele schweben.«32 Zahlreiche ähnliche Zitate belegen die über die Landesgrenzen hinwegreichende Wirkung der Romane Richardsons und seiner Landsleute beim weiblichen Publikum,33 aber auch die des Don Quijote oder der Werke Shakespeares. Dieses Publikum wuchs nicht nur zahlenmässig immer stärker an, sondern umfasste auch — vor allem beim Roman — immer breitere soziale Schichten. 1801 zählt Pujoulx auf, wer alles in Frankreich zu den Romanleserinnen gehörte: »l’actrice sans rôles, … la courtisane luxurieuse et éhontée, la fausse dévote en cachette«, sogar das Hausmädchen, »la fermière des environs (de Paris) lorsque son mari est dans les champs« und »la cuisinière en écumant son pot«.34 Diese Galerie von Romanleserinnen wird durch andere Aussagen weiter bereichert; Erwähnung finden die Wirtin einer französischen Dorfschenke,35 in Deutschland eine Kammerzofe und eine junge Schneiderin,36 die sich in den Bibliotheken ihrer Dienstherrschaft, in Leihbüchereien oder Lesekabinetten mit Lektürestoff versorgen. Was das von den Leserinnen angeblich bevorzugte Ambiente betrifft, so stellt das Lesen in der Einsamkeit nach wie vor eine Ausnahme dar und ist weiterhin schlecht angesehen.37 Lesen, Vorlesen und Sprechen über das Gelesene bedeutet mehrheitlich noch Eingebundensein in menschliches Miteinander und menschliche Nähe. Nicht selten drückt es sich aus in engem Körperkontakt. In Frankreich sind die Leserinnen immer Teil einer grösseren Gruppe. In Deutschland dagegen zeigt sie ein weit höherer Anteil der Bilder nur in Gesellschaft von einer oder zwei Personen: des Liebhabers, von Schwester und Bruder oder des Sohnes;38 dazu
31. Etwa L.-P. Legay, A.H. Cabet de Dampmartin, L. Damin, Mme de Genlis, Adelaïde-I.-J. de Brécy (nach Heyden, Ulf, Zielgruppen des Romans. Analysen französischer Romanvorworte des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1987, S. 72–93). 32. Ewald, Johann Ludwig, Die Kunst, ein gutes Mädchen, eine gute Gattin, Mutter und Hausfrau zu werden, Frankfurt a.M. 1798 (zit. nach Engelsing, Anm. 27, S. 349). 33. Siehe z.B. Sauder, Gerhard, »Gefahren empfindsamer Vollkommenheit für Leserinnen und die Furcht vor Romanen in einer Damenbibliothek«, in: Leser und Lesen im 18. Jahrhundert, Heidelberg 1977, S. 87, 89; Beyer, Hildegard, Die deutschen Volksbücher und ihr Lesepublikum, Frankfurt a.M. 1961, S. 101. Zum Folgenden siehe Engelsing (Anm. 27), S. 355. 34. Paris à la fin du XVIIIe siècle, An IX-1801, S. 25 f.; zu den Freudenmädchen in Frankreich siehe auch Nies (Anm. 17). 35. Montfermeil bei Paris (siehe Hugo, Victor, Les Misérables. Fantine, Imprimerie Nationale 1942, S. 157; die Handlung spielt zu Beginn des 19. Jahrhunderts). 36. Den Erinnerungen von H. Laube zufolge lesen sie die Romane Claurens, beispielsweise Mimili, 1816 (siehe H. Bausinger, »Zur Kontinuität und Geschichtlichkeit trivialer Literatur«, in: Catholy, Ekkehard / Hellmann, Winifred, Festschrift für Klaus Ziegler, Tübingen 1968, S. 405). 37. Für Deutschland siehe Beyer (Anm. 33), S. 124, 127; vgl. dazu auch Engelsing, Rolf, »Dienstbotenlektüre im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland«, in: International Review of Social History 13, 1968, S. 423. Für Frankreich siehe Pujoulx (Anm. 34). 38. Er liest seiner kranken Mutter vor, der Frau des Steuereinnehmers Klöden, 1799 (siehe Engelsing, Anm. 27, S. 301).
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kommen verheiratete Frauen, die das von Lektüre bereicherte ›häusliche Glück‹ im Familienkreis geniessen, wobei sie das Lesen oder Zuhören nicht selten mit Spinnen oder entspannenden Nadelarbeiten kombinieren oder sich um ihre Kinder kümmern. Insofern demonstrieren die Bilder — zumindest in Sicht der Künstler — einen stärkeren Hang der französischen Leserin zum Eintauchen in das erregende ›Bad in der Menge‹, der deutschen zum Rückzug in Zweisamkeit und familiäre Idylle. Fassen wir die wesentlichen Ergebnisse meiner Skizze kurz zusammen: Natürlich konnte sie auch nicht annähernd Europa in seiner ganzen Spannweite und in allen Details erfassen oder alle nationalen Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten. Ich hoffe jedoch gezeigt zu haben, dass die Frauen unseres Kontinents von der Aufklärung bis zur Romantik in vielen Bereichen der Literatur auf dem Vormarsch waren. Dies gilt sowohl für die in Bildern und Texten widergespiegelten Leitvorstellungen als auch für die historische Realität, es gilt für Schriftstellerinnen wie Leserinnen, für ihre Anzahl wie für ihre soziale Herkunft. Dieser Fortschritt ist unverkennbar im Hinblick auf die Bandbreite des literarischen Schaffens, der tatsächlichen oder empfohlenen Lesestoffe, auf den zeitlichen und räumlichen Gewinn im Umgang mit dem Buch, auf die zunehmende Nachsicht der Männer gegenüber Lesestoffen und Leseweisen, die ihnen lange verdächtig oder verderblich erschienen waren. Kurz gesagt: Wenn auch verschiedene althergebrachte Verhaltensweisen und Einstellungen überlebten — um 1820 sollte nichts mehr ganz so sein wie zuvor.
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Wie Madame de Sévigné und Madame de Lafayette legte Germaine de Staël geb. Necker (1766–1817) Wert auf ihre Seriösität und gesellschaftliche Stellung und liess sich mit Madame ansprechen. Sie verstand sich als politische und belletristische Schriftstellerin sowie als Kosmopolitin aus Neigung und Notwendigkeit. Den einen war sie Gegenstand des Spottes, den anderen der Verehrung und Bewunderung — wie nach ihr George Sand. On sait comment les grands hommes la fuyaient parce qu’elle était tellement intrusive et tellement sûre d’elle-même que ça frisait le ridicule en effet […]1
sagt selbst Julia Kristeva, die fern jeder Voreingenommenheit ist. Hierbei spielte gewiss die offene politische Parteinahme eine Rolle, aufgrund derer Germaine de Staël in Frankreich als nationale Nestbeschmutzerin diffamiert wurde, und die die Geheimdiplomaten der europäischen Fürstenhöfe in Verlegenheit brachte. Zur gleichen Zeit schrieb in der englischen Provinz von Hampshire als Pfarrerstochter und ›alte Jungfer‹ Jane Austen (1775–1817) ihre Romane über die Schicht der verarmten Landadligen und kinderreichen Pastoren, die den verlorenen Kampf um Besitz mit der hypochondrischen Sorge um Gesundheit und Moral der zu verheiratenden Töchter kompensierten. Der Einbruch der Zeitgeschichte erfolgte in Romanen, in denen die Heldin die Gefahr der gesellschaftlichen Situation erkennt und sich in spontanen Akten dagegen wehrt. Die Überwindung der anerzogenen Selbstkontrolle, die durch soziale Gewalt erzwungen wurde, erschreckte in dem Roman Die Familie Seldorf (1795 /96) von Therese Heyne-Forster-Huber, einer Göttinger Professorentochter. Insbesondere tadelte die Kritik, dass die Romanheldin wegen ihrer Exzesse nicht verurteilt wird, sondern diese wegen erlittener Ungerechtigkeiten entschuldigt werden. In ihrem Buch über die deutschen Schriftstellerinen zwischen 1790 und 1815 La Rage d’écrire, dessen Titel in Analogie zu der besonders Frauen zugeschriebenen Lesewut formuliert ist, beschreibt Marie-Claire Hook-Demarle die Entwicklung der Schriftstellerin zu einem immer enger artikulierten Bezug auf Zeitgeschichte.2 (Besonders im Kapitel Du goût des femmes pour la violence.) Und Therese Hubers Werdegang ist besonders aufschlussreich im Hinblick auf die Schwierigkeiten des Zugangs der Frau zu literarischen Institutionen. Ihre Redaktionstätigkeit im Morgenblatt für die gebildeten Stände3 war begleitet von Angriffen der Vorgänger, potentieller Nachfolger und von Auseinandersetzungen mit dem Verleger Cotta. Die eminente Wirkung, die von ihrer Redaktionstätigkeit ausging, ist unbestritten und wird verbürgt nicht nur durch die
1. Gölter, Waltraud, »Interview mit Julia Kristeva«, Fragmente 1994 / 95. 2. Hoock-Demarle, Marie-Claire, La rage d’écrire: femmes-ecrivains en Allemagne de 1790 à 1815, Aix-en-Provence 1990. 3. Morgenblatt für die gebildeten Stände, Stuttgart / Tübingen 1807.
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grosse Zahl der Beiträger, sondern auch durch die Erhöhung der Auflagen- und Verkaufszahlen. Die enge Freundin von Therese Heyne, verh. Forster, verh. Huber war Caroline Michaelis, verh. Böhmer, verh. Schlegel, verh. Schelling. Zusammen mit Dorothea Schlözer waren sie die drei berühmten Göttinger Professorentöchter. Die vielleicht verständnisvollste Würdigung Carolines kommt von Friedrich Schlegel, dem Theoretiker der Jenär Frühromantik und Bruder von Carolines zweitem Ehemann August Wilhelm Schlegel (1772–1829). Caroline wird heute als Modell für Friedrich Schlegels Lucinde gesehen, die Albernheit und Mutwillen mit einer schauspielerischen Begabung für Gefühl und Witz verbindet. In ihrer Korrespondenz sah Friedrich Schlegel das Rhapsodistische des ironischen Stils, der im Gegensatz zur systematischen Philosophie stehe und jede Systematik verweigere. Von Carolines Romanen ist nur das (biographisch motivierte) Fragment Gabriele erhalten.
Sophie Mereau (1770–1806) In Frankreich war es Olympe de Gouges (1748–1793), die 1791 die Déclarations des droits de la femme herausgab; in England folgte ihr ein Jahr später Mary Wollstonecraft mit A Vindication of the Rights of Woman. Die französische Revolution schloss zu offensichtlich die Frauen aus der Revolutionsregierung und später auch von allen politischen Aktivitäten aus, obwohl die Frauen des Volkes und zahlreiche bürgerliche Frauen auf Seiten der Revolution standen und entscheidend in die Entwicklung eingriffen, wie zum Beispiel Marion Phlippon-Roland, die später wie Olympe de Gouges guillotiniert wurde. Von Olympe de Gouges stammt der Ausspruch, dass die Frau das Recht haben müsse, auf der Tribüne der Nationalversammlung zu sprechen, da sie das Recht habe, unter der Guillotine zu sterben. Im idyllischen Herzogtum Weimar schrieb derweil Sophie Mereau unter dem Schutz der Klassiker Goethe und Schiller; der letztere veröffentlichte ihre Gedichte in den Horen und fungierte ausserdem als Ratgeber in der Ehemisere mit dem Juristen Mereau. In Altenburg / Thüringen 1770 geboren, lebte Sophie im aufgeklärten Beamtenmilieu, zuletzt unter der Vormundschaft des ältesten Bruders. Dort nahm sie früh die literarischen Aktivitäten von Weimar und Jena auf und spielte bald als reizende Ehefrau des Juristen Mereau, der in Jena Leiter der Universitätsbibliothek war, eine glänzende Rolle als Gastgeberin berühmter Geistesgrössen ihrer Zeit. Mit Mereau verbanden sie philosophische Interessen wie sie auch als einzige Frau die Kollegs von Fichte besuchte. Was uns heute an Sophie Mereaus Romanen wie Das Blüthenalter der Empfindung (1794) und Amanda und Eduard (vollendet nach der Scheidung von 1801) interessiert, ist ihre Haltung gegenüber den Geschlechtsrollen und der Ehe. Die Natur- und Liebesreligion der Jenär Frühromantik hat sie am Ort selbst mitgetragen, hierbei von den Mäzenen Goethe und Schiller gefördert, die sie gönnerhaft als unsere Dichterin bezeichneten. Sie begann mit klassizistischen Gedichten wie Bey Frankreichs Feier (zum 14. Juli 1790 geschrieben, 1791 von Schiller in der Zeitschrift Thalia gedruckt), in dem sie den Sturm auf die Bastille verherrlichte und endete mit Romanen, deren Misogamie eine öffentliche Kritik an der Institution der Ehe auslöste. Mann-Frau-Beziehung wurden als gesellschaftliche Konflikte beschrieben, die sich individuell nicht lösen lassen. Die Romane zeigen, wie von den Vertretern beider Geschlechter einerseits ideales Handeln gefordert, das andererseits die Verhältnisse
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verhindern. Die Ambivalenz, die aus Mereaus Werk spricht, »reflektiert«, so formuliert Katharina von Hammerstein, »die erfahrenen Widersprüche zwischen den aufklärerischen Idealen und ihrer die Lage der Frau betreffenden defizitären Umsetzung.«4 Für die Schriftstellerin Mereau bot sich als Romanstoff die bittere Erfahrung an, die sie in der Ehe mit Mereau machen musste. Die Romanhandlungen sind dergestalt konstruiert, dass die jungen Liebenden ihre Liebe nicht leben können, weil die gesellschaftlichen Zwänge in Gestalt des Vaters und der Revolutionszeit dies nicht erlauben. Die Figur der Protagonistin hat gleiches Gewicht wie die des Protagonisten. In den späteren Romanen übernimmt sie die führende Rolle, nicht nur was die innere Motivierung anbetrifft. In dem ersten (1794 anonym erschienenen) Roman Das Blüthenalter der Empfindung lässt Sophie Mereau den männlichen Protagonisten selbst den Anspruch der Frau auf freie Liebe verkünden. Damit hielt sie die von Herder geforderte Schicklichkeit der weiblichen Figur ein und verlieh den Forderungen der Frau Nachdruck. Die Freiheit, den Mann, den sie liebt, selbst zu wählen, ohne sich durch eine Ehe zu binden, war eine revolutionäre Forderung, die bis dahin von einer Schriftstellerin nicht erhoben worden war. Die Forderung nach freiem Miteinanderleben ohne Zwang der Ehe war eine Vorstellung der Aufklärung, die mit der Ehe die Unterprivilegierung der Frau abschaffen wollte. Eine Fehlannahme, wie sich heute herausgestellt hat. Doch schmälert dies nicht Sophie Mereaus Verdienst, die Forderung nach den Menschenrechten, gerade auch für die Frau, erhoben zu haben. Im Blüthenalter der Empfindung erklärt das liebende Paar: Unser Bund besteht durch eigene Kraft. Nicht die zerbrechlichen Stüzzen von priesterlichem Seegen, von bürgerlicher Ehre, von kränkelnder Gewissenhaftigkeit halten ihn. Wir selbst sind uns Bürge für uns selbst.5
Im späteren Roman Amanda und Eduard (geschrieben 1804 nach der Scheidung) ging Sophie Mereau noch weiter und erörterte die Möglichkeit, mehrere Männer zu lieben. Die Behauptung, dass wir nur Einmal, nur Einen einzigen Gegenstand lieben können, ist ein phantastischer, ja schädlicher Irrthum. Wir begegnen im Leben mehrern Wesen, zu denen uns die Neigung hinzieht, und die wir lieben könnten […]6
Die Liebes- und Naturreligion der Frühromantik hat Sophie Mereau mit ihren Vorstellungen von der sinnlichen Gewissheit und der symbolisierenden Einbildungskraft, die die Spaltung von Denken und Fühlen überwinden, nicht nur vorbereitet, sondern auch radikalisiert. Die Ähnlichkeit von Mereaus Blüthenalter der Empfindung mit Friedrich Schlegels fünf Jahre später erschienener Lucinde fällt auch der Biographin Dagmar von Gersdorff auf, die im Blüthenalter eine Inspirationsquelle Schlegels vermutet. Im Blüthenalter wird die Frau als die stärkere Gestalt eines Paares gezeichnet, die den Beginn der Französischen Revolution leidenschaftlich begrüsst. Die Liebenden suchen einen neuen Lebensraum zuerst in Paris, dann in der republikanischen Schweiz, zuletzt in Nordamerika, das als Hort der Freiheit galt. Mit der Idealisierung der
4. Mereau, Sophie, Werke, Hammerstein, Katharina von (ed.), Stuttgart 1997. 5. Das Blüthenalter der Empfindung, zitiert nach Hammerstein, S. 14. 6. Amanda und Eduard, in: Mereau, Sophie, Werke, op. cit., Bd. 2: 190 / 91, zitiert nach v. Hammerstein, S. 25 n. 76.
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Vereinigten Staaten schlug Sophie Mereau ein Thema an, das mit Therese Hubers Die Familie Seldorf, Tiecks William Lovell und Sophie de la Roches Erscheinungen am See Oneida noch eine erfolgreiche Zukunft haben sollte. Amanda und Eduard entwickelt die Verbindung von Liebe und Freiheit im Rahmen der Paarbeziehung weiter. Die Entwürfe sozialer und individueller Emanzipation gewinnen in Mereaus Romanwerk einen Wert als Konzepte menschlichen Zusammenlebens, dessen gesamtgesellschaftlicher Status quo um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert als veränderungswürdig und veränderbar dargestellt wird.7
Katharina von Hammerstein, die neue Herausgeberin der Werke Sophie Mereaus betont die Beteiligung Sophie Meraus an der »zeitgenössischen Diskussion über Revolution, Freiheit, Liebe und Geschlechterrollen«,8 die dem Publikum der Goethezeit »alternative Denkansätze« vorgestellt habe. In diesem Zusammenhang sei an Goethes Drama Stella (1776) erinnert, dessen ursprünglicher Schluss sogar die Dreierbeziehung, allerdings mit der Dominanz der männlichen Position, darstellt. Sophie Mereaus Entwicklung von der pathetischen Begrüssung der Freiheit im Gedicht Bey Frankreichs Feier zum Emanzipationsgedanken im Romanwerk war der selbstbestimmte und selbstgefundene Weg vom Klassizismus zur Frühromantik und über diese hinaus zu Denk- und Lebensformen, die erst im 20. Jahrhundert ihre immer noch umstrittene praktische Umsetzung finden werden. Mereaus frühe Gedichte entsprachen vollkommen den Vorstellungen Schillers (1749–1805), der ihr als höchstes Lob schrieb: »Ihre Phantasie liebt zu symbolisieren und alles, was sich ihr darstellt, als einen Ausdruck von Ideen zu behandeln.«9 Umso erstaunlicher ist die selbständige Entwicklung Sophie Mereaus in den Romanen und der späteren Lyrik zu eigenen Positionen und Formen. Das Lebensgefühl der Autorin ist geprägt von Heiterkeit und Selbstgefühl, die den Genuss des Augenblicks favorisieren. Ihre hedonistischen Erneuerungsbestrebungen zielen auf eine freie Lebensgestaltung der Frau. Ihr Leitbild war Ninon de Lenclos, Freundin und Geliebte bedeutender Männer des 17. Jahrhunderts, deren Salon Libertins wie Saint-Evremond und Autoren wie Molière besuchten. Über Ninon, die »das Ideal einer kultivierten Geselligkeit mit dem der freien Liebe zu verbinden wusste« schrieb Sophie Mereau einen Essay, der wohl der eigenen Selbstvergewisserung diente.10 Die tragische Entwicklung ihrer Ehe mit Brentano (1778–1842) zeigt ein Zerstörungswerk des Mannes zuerst an der Schriftstellerin und dann, als diese sich ihm unterworfen hat, auch an der Frau. Die Kinder, die Sophie Mereau mit Brentano hatte, waren nicht lebensfähig, am letzten starb sie. Die höhnischen bis hämischen Äusserungen Brentanos in den Briefen an Achim von Arnim beweisen eine völlige Missachtung des schriftstellerischen Werks von Sophie Mereau. Die Grösse Sophies, die Bedingung ihres Verständnisses für den Ehemann war, konnte Brentano
7. v. Hammerstein, S. 8 n. 31. 8. Ibid., S. 29. 9. Ibid., S. 35 (Hervorhebungen G.S. ). 10. Ibid., S. 34 (Hervorhebungen G.S. ).
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nicht ertragen. Ihr selbst schrieb er 1803: So sind Sie denn gänzlich von sich selbst unterjocht, das freie, genialische, der unendliche Liebreiz in Ihnen, die Misterie Ihres Leibes und Ihrer Seele, sind regulirt … weil Sie so dichten, wie Sie eine Dichterin sich dichtend denken können … Sie haben nicht das erste Reine Bild Ihrer Selbst hervorgebracht, Sie haben die Verstümmelungen nur grade so gut, und so schlecht ergänzt, als Sie konnten.11
In diesem aggressiv-anklagenden Ton geht es weiter bis zu gewalttätigen Phantasien: … dass ich dem Bilde das Haupt abschlagen, und das gipserne Gewand vom Schoss reissen möchte …12
Mit der Selbstaufgabe als Schriftstellerin entäusserte sich Sophie ihrer selbst und erfüllte damit das Stereotyp der liebenden Frau. Auffällt an den Vorwürfen Brentanos die Forderung nach Reinheit, in der Grossschreibung des Adjektivs betont, und nach Vollkommenheit der Frau in der Metapher der Verstümmelung. Eine merkwürdige Mischung aus Selbstanklage und Verachtung der Schriftstellerin zeigte Brentano in einem Brief an Arnim von 1804, wohlgemerkt zwei Jahre vor Sophies Tod. Der Brief klingt, als habe er selbst Sophie schon getötet: Sophie ist immer traurig, kummervoll und hart; ihr poetisches Streben, welches nie ein echtes war, ist mir ihrem Leiden und in meiner Nähe zu Grund gegangen.13
Germaine de Staël (1766–1817) Sie schrieben fast gleichzeitig. Doch mutet die Jenaer Welt der Sophie Mereau an wie ein Puppenheim im Vergleich zur europäischen Weltbühne, auf der Germaine Necker de Staël Politik machte und Napoleon bekämpfte. Sie schrieb in der Haltung eines grossbürgerlichen Liberalismus, der mit der Verfügung über ein beträchtliches Vermögen verbunden ist. Während der September-Morde 1792 gelang es de Staël in die Schweiz zu entkommen, denn mit der Liquidierung der Girondisten 1793 war ihre Sicherheit definitiv gefährdet. Im Sommer schrieb sie einen flammenden Aufruf gegen den Prozess Marie Antoinettes. Anonym veröffentlicht — »Von einer Frau« — bestand kein Zweifel darüber, wer die Autorin war. Der Beginn liest sich, als habe Karl Marx ihn für das Kommunistische Manifest abgeschrieben: O vous, femmes de tous les pays, de toute les classes de la société, écoutez-moi avec l’émotion que j’éprouve!14
Am Ende fordert sie:
11. Ibid., S. 50 (Hervorhebungen G.S. ). 12. Ibid. (Hervorhebungen G.S. ). 13. Ibid., S. 183, n. 45. (Hervorhebungen G.S. ). 14. Staël-Holstein, Germaine de, »Réflexions sur le Procès de la Reine«, in: Œuvres complètes, Paris 1861, Reprint Genf 1967, Bd. 1., S. 24–32, hier: S. 25.
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Sie sagte voraus, dass mit der Hinrichtung eine Bestialität zur Herrschaft gelangen werde, die dann gegen alle Frauen gerichtet sei. Sie verteidigte Marie Antoinette als Frau und Ausländerin, deren Status mit dem ihren vergleichbar war. Offensichtlich erkannte sie eine gemeinsame geistige Qualität, die aus dem kosmopolitischen Ancien Régime stammte. Die gegen Marie Antoinette erhobenen sexistischen Anklagen erkannte sie als tief verwurzelte, der männlichen Potenzangst entstammende Phantasien. Von einem royalistischen Kritiker spöttisch als »la femme universelle« bezeichnet, womit er mehr Recht hatte, als er zu haben meinte, verfolgte de Staël Napoleon Bonaparte mit allerlei Anträgen, die auf die Bedeutung hinweisen, die sie ihm im politischen Machtspiel zuschrieb. Nachdem es ihr gelungen war, Talleyrand sozusagen aus dem Stand zum Aussenminister zu machen (Fructidor 1797), wollte sie ihren persönlichen und politischen Einfluss auf den »kleinen General« ausweiten, dessen Machtelite sich in ihrem Salon versammelte. Doch ihre unablässige Propagierung der Freiheit störte dessen Herrschaftsanspruch. Die Veröffentlichung von De la Littérature (1800) und Constants Jungfernrede als Tribun waren der Anlass, de Staël endgültig aus Paris zu verbannen. Zwei Kontrahenten, der eine als Vertreter der Macht der Gewehre, die andere als Vertreterin der Macht des Wortes und des Geistes hatten sich gegenseitig erkannt. Mit der Veröffentlichung von De l’Allemagne (1810) wurde de Staël endgültig zum geistigen Haupt der Opposition gegen Napoleon. Die Vernichtung der ersten Auflage stürzte den Verleger Nicolle in den Konkurs, aber steigerte de Staëls Ruhm. Ihre Verfolgung und die Suche nach restlichen Abzügen des Werkes reichte bis zur Bespitzelung durch bestochene Dienstboten in Coppet. Für Christopher Herold steht De l’Allemagne zwischen Voltaires Les lettres sur les Anglais (1734) und Toquevilles De la démocratie en Amérique (1836–1839). Wie Voltaires Briefe ist es ein Protest gegen die Unterdrückung intellektueller Freiheit in Frankreich und ein erfolgreicher Versuch, französisches Denken durch eine Injektion neuer ausländischer Ideen wieder aufzufrischen; wie Toquevilles Buch trachtet es, einen ganzen Kulturkreis zu interpretieren und ein selbstgefälliges Publikum mit neuen Richtungen bekannt zu machen.16
Vergleichbar mit Tacitus’ De Germania werden die Deutschen von de Staël als die ›edlen Wilden‹ Europas vorgestellt. Das idealisierte Deutschland, das als Folie für die Kritik an der intellektuellen Friedhofsruhe in Frankreich dienen sollte, wurde der Anlass zu konsequenterer Verfolgung der Autorin. Der Roman Corinne ou l’Italie (1807), üblicherweise als Gegenstück zu Constants Adolphe (1816) verstanden, zeigt viele Berührungspunkte mit Napoleon. Am häufigsten ist die Deutung der Corinne als Double von Germaine de Staël, insofern Corinne die Antinomie von patrizentrischer Macht und Selbstbestimmung der Frau erfährt. Ihre Herkunft aus England versucht Corinne mit der Flucht nach Italien, ins Land einer nicht nur weiblichen Utopie, zu überwinden. Das Land des Nebels und der Industrialisierung bot nicht die Möglichkeit zur Realisierung einer Liebe, die die Frau als Künstlerin und als kreatives Subjekt respektiert. Die in Rom gefeierte
15. Ibid., S. 32. 16. Herold, Christopher, Madame de Staël, Dichterin und Geliebte, München 1960, S. 382.
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Dichterin Corinne gerät durch die heimliche Liebe zu dem englischen Lord Oswald in die Falle des Privaten. Ihre Überlegenheit im Bereich der Kunst schützt sie nicht vor dem Verlassenwerden durch einen Geliebten, der im Bann des verstorbenen Vaters und seiner gesellschaftlichen Position steht. Corinnes Resignation wirkt destruktiv-masochistisch und entspricht den Schemata des traditionellen Romans. Insofern bildet Corinne den Parallelroman zu Benjamin Constants männlicher Perspektive in Adolphe. Das Versinken Corinnes in Resignation und Trauer, das nur kurz durch die Erziehungs- und Bildungsarbeit an der Nichte Juliette, der Tochter von Oswald und ihrer Halbschwester unterbrochen wird, entspricht gleichsam osmotisch der Selbstaufgabe Oswalds »im Namen des Vaters«. Das Leben durch die Kunst und mit der Kunst, das de Staël in einem fiktiven Italien als zeitloses Glück evoziert, zeigt sich an der Gestalt der Corinne als flüchtige Phantasmagorie. Oswalds Verzicht auf Selbstverwirklichung mit einer durch Kunst befreiten Frau führt in die alten Strukturen der väterlichen Ordnung zurück, die sich zwar als ökonomisch fortschrittlich präsentiert, jedoch nur mit Gewalt (Symbol ist das englische Kriegsschiff) durchsetzt.
Jane Austen (1775–1817) Jane Austen, 1775 in Hampshire / England geboren, ist die Jüngste der hier vorgestellten Schriftstellerinnen. Zugleich ist sie die Autorin, die bis heute Anerkennung gefunden hat. Interessanterweise thematisieren ihre Romane, die über die Verhältnisse im angeblich fortgeschrittensten Land Europas Auskunft geben, am wenigsten die Emanzipation der Frauen. Alles spielt sich in der Enge eines angeblich weiblichen Horizontes ab, der von den materiellen Lebensbedingungen und dem Bildungsstand der jeweiligen Schicht bestimmt wird. Meisterhaft sind Jane Austens Dialogführungen, die das teils kritische, teils verletzte Bewusstsein junger Frauen aufdecken, die geheiratet werden wollen (und sollen). Präsentiert wird in der Regel eine mittellose Protagonistin, die ohne oder mit geringer Mitgift versucht, eine Chance zur durch Freundschaft vermittelten Heirat zu finden. In der Ausgestaltung der Klassengegensätze lässt Jane Austen keine Möglichkeit zur Blossstellung von verknöcherten und unfähigen Adligen bzw. gefühllosen und ungebildeten Neureichen aus. Jane Austens erste Veröffentlichung mit Sense and Sensibility (1797 begonnen) erfolgte erst spät im Jahre 1811. Nach ihrem Tod wurden 1818 die beiden wichtigen Romane Northanger Abbey und Persuasion veröffentlicht. Die Tatsache der verzögerten Publikationen kann in Richtung persönlicher Vorsicht und objektiver Schwierigkeiten interpretiert werden. In Sanditon, einem ihrer letzten Romane, geht Jane Austen deutlicher auf die ökonomischen Verhältnisse ein. Im Zentrum steht ein kleiner Küstenort, der von einem geschäftstüchtigen Einwohner zum Badeort entwickelt wird. Der Grundstücksmakler und Vermieter von Ferienhäusern wirkt mit seinen Methoden der klugen Vorteilsnahme und Profitmaximierung sehr aktuell. Die Herzenskälte der Titelfigur in Lady Susan scheint von Laclos’ Liaison dangereuses (1782) beeinflusst zu sein — doch mit dem Unterschied, dass im englischen Roman die junge und unschuldige Protagonistin von der eigenen Mutter korrumpiert wird. Austens Gesellschaftskritik, die als theoretischer Traktat zu ihren Lebzeiten schwerlich akzeptiert worden wäre, wird in den Schicksalen ihrer Protagonistinnen gestaltet. Die Vor-
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bildhaftigkeit einiger positiv gestalteter Frauenfiguren, denen es trotz Verleumdung gelingt, den insgeheim, manchmal auch nur unbewusst, begehrten reichen Erben zu gewinnen, wird später in Frankreich von George Sand weitergeführt und wirkt auf George Eliot nach England zurück. Dass das Begehren der Protagonistin unbewusst ist, ja diese selbst naiv und unberührt ist, wird von der Autorin stets verkündet. Dieser merkwürdige Sachverhalt verdiente eine eigene Untersuchung. Der Leser, der in der Regel eine Leserin ist, wird identifikatorisch in die affektive Struktur des Textes einbezogen, so dass die Leserin genauer als die Heldin weiss, worin das Ziel des Begehrens besteht. Mit Charlotte Heywad, der Protagonistin von Sanditon, zeichnete Jane Austen ein weibliches Bewusstsein, das anders als die vom Gefühl geleitete Emma Bovary urteilsfähig ist. In der Auseinandersetzung mit dem Repräsentanten des verarmten Adels zeigt sich Charlotte frei in ihrem Urteil, ungefährdet durch die Verführungskünste eines Villain, der nach dem Modell der Gothic Novel die junge Frau gegen ihren erklärten Willen mit allen psychologischen Tricks verfolgt und auch vor Vergewaltigung nicht zurückschreckt. Sir Edward Lenham, vom Vertreter eines funktionslosen Adels zum monomanischen Romanleser degradiert, reduziert all seine Energien auf die Gewinnung der Frau: »hazard all, dare all, acheive (sic!) all, to obtain her.«17 Das Fatale an dieser Auffassung ist, dass sich der Mann selbst gegen den Willen der Frau, mit Gewalt durchsetzen soll: »Man’s determined pursuit of woman in defiance of every opposition of feeling and convenience.«18 »Illimitable Ardour« und »indomptible Decision« führt Sir Edward als Motive seines Handelns an.19 Lovelace, der sich rücksichtlos gegen die Frau durchsetzende Held in Richardsons Clarissa, ist Vorbild für Sir Edwards Vorstellungen. Indem sie betont, dass diese Vorstellungen aus dem mittelalterlichen Rittertum kommen, zeigt Jane Austen wie die historische Entwicklung den männlichen Helden von politischer und moralischer Handlungsfähigkeit entleerte. Mit der Reduktion des Handelns auf die Gewinnung der Frau werden die ritterlichen Tugenden dysfunktional. Das Feuer, das schon immer zur Liebesmetaphorik gehört, bezeichnet bei Sir Edward eine Macht, die die Frau in die Selbstzerstörung des Mannes hineinzieht; es ist nicht mehr das göttliche Feuer, das die Seelen verbindet. Das Wüten von Richardsons Lovelace und aller folgenden Villains der Gothic Novel setzt die Frau als Objekt, als nicht-denkendes und nichtfühlendes Wesen. Jane Austens Protagonistin durchschaut die Position Sir Edwards sofort als frauen- und menschenfeindlich. Die Begegnung mit Sir Edward, der Charlotte zunächst durchaus gefällt, endet somit nachteilig für den Kavalier, dessen Missbrauch romantischer Liebesdichtung zur Verführung die Umworbene irritiert. Der »illimitable ardour«, das grenzenlose Begehren der Liebesglut, richtet sich somit paradoxerweise gegen die Frau, die er gewinnen möchte. In der Auseinandersetzung der Gothic Novel und ihrem typisierten Helden lässt die Autorin die Begegnung der Geschlechter scheitern, wobei sie der Frau Vernunft und natürlichen Durchblick zuschreibt. Der Vertreter männlicher Stärke und Macht verrät durch seine Identifikation mit dem
17. Austen, Jane, The Complete Novels, Oxford / New York 1994, hier: Sanditon, Kap. 8, S. 1522. 18. Ibid., S. 1523. 19. Ibid., S. 1522.
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Bösewicht der Gothic Novel das moralische Fundament, auf dem sich Mann und Frau verständigen können. Sir Edward betont ausdrücklich, dass die Frau als Frau die Erfahrung des Mannes nicht nachvollziehen kann: nor can any Woman be a fair Judge of what a Man may be propelled to say, write or do, by the sovereign impulses of illimitable Ardour.20
Am Ende des 8. Kapitels deckt die auktoriale Erzählerin die Triebfeder von Sir Edwards Verführungskünsten: Es geht nicht um Liebe und Leidenschaft, sondern nur um eine Erbschaft. Damit erweist er sich als echter Villain der Gothic Novel, dessen Motive jenseits von Sexualität und Liebe im Bereich von Besitz und Macht liegen. Die Kunstfertigkeit, mit der Jane Austen die typisierte Figur des Villain der Gothic Novel als Tiefenstruktur der Romanhandlung nutzt, ist erstaunlich. Sie erweist sich damit als Vorläuferin für die Reflexion des Romans im Roman und dessen Montagecharakter. Mit C. G. Jung liesse sich sagen: Die Romanautoren projizieren in die Beziehung der Geschlechter jene Angst, die aus der verstärkten Rivalität zwischen den Männern entsteht. Die verfolgte Unschuld in Gestalt der jungen und begehrenswerten Frau würde in diesem Sinne den unterlegenen Konkurrenten im gesellschaftlichen Machtkampf personifizieren. Die Projektion der aus der Konkurrenz entstandenen Angst auf die heterosexuelle Beziehung macht aber diese Angst ohne Beschädigung des männlichen Ideal-Ich darstellbar.
Bettina von Arnim (1785–1859) Im Salon von Sophie von La Roche, ihrer Grossmutter, traf Bettina deutsche Jakobiner und französische Emigranten. Wie Caroline Schlegel war Bettina von Arnim eine grossartige Briefschreiberin. Ihre Korrespondenz mit dem Bruder Clemens Brentano, der zusammen mit dem Ehegatten Achim von Arnim die Volksliedersammlung Aus des Knaben Wunderhorn (1806– 1808) herausgab, verband sie zu dem berühmt gewordenen Briefroman Frühlingskranz (1844); die Korrespondenz mit der früh verstorbenen Karoline von Günderode hingegen zum Briefroman Die Günderode (1840). Bettinas Engagement für die Unterdrückten liess sie gegen subtile Diskriminierung wie gegen die Vorurteile des Standesdenkens argumentieren. In ihren Briefen verwirklichte sie den romantischen Stil der lockeren Assoziation, des Hin- und Herspringens, den »Flug der Gedanken«. In den beiden Bänden des Königsbuches (1843 und 1852), entstanden aus der frühen Freundschaft mit dem ursprünglich liberalen Kronprinzen, kritisierte Bettina den Staat als »den einzigen Verbrecher am Verbrechen«. Die Königsbücher enthalten ihr politisches Vermächtnis, das für Aussenseiter und Minderheiten (Juden, Polen, die Armen) das Recht auf Abweichung einklagt.21 In ihrem Aufruf An die aufgelöste preussische Nationalversammlung von 1848 bezog
20. Ibid., S. 1519. 21. Cf. Rosa Luxemburg. Dischner, Gisela, Bettina von Arnim: Eine weibliche Sozialbiographie aus dem 19. Jahrhundert, Berlin 1977, S. 36.
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Bettina eindeutig Stellung für eine preussische Verfassung. Ihr Armenbuch, in dem sie die miserablen Existenzbedingungen der schlesischen Weber dokumentierte, konnte sie aus politischen Gründen nicht veröffentlichen. Die enge geistige Verbindung mit Karoline von Günderode zeigt sich im Briefroman Die Günderode. Die Auflösung des Individuums im Kosmos war eine Vorstellung, die beide aus der Jenaer Frühromantik und deren Hinwendung zum Orient und zur indischen Philosophie nahmen und in ihr poetisches Lebensgefühl umsetzten. Die Rückwendung zur »Vorwelt«, zu matriarchalen Gesellschaftsstrukturen, bestimmte Günderodes (1780–1806) historisches Denken. In den Briefen an Eusebio (ihren Freund, den klassischen Philologen und Historiker Creuzer) übte die Günderode Kritik an der Ökonomie und dem zeitgenössischen Protestantismus, die vieles von Max Webers Theorien vorwegnahm. »Reichtum und Fülle der poesiereichen Darstellungen« der Vorwelt sollten auch für Frauen Möglichkeiten zur Entfaltung der Phantasie und zur Gestaltung eines lebenswerten Leben bieten.22
George Sand (1804–1876) Sie schrieb gegen die Mysogynie des 19. Jahrhunderts und stand im Kontakt mit den grossen Männern ihrer Zeit. Da das allgemeine Interesse oft nur der emanzipierten Zigarrenraucherin und Hosenträgerin gilt, soll hier auf das literarische Werk eingegangen werden. Es setzte mit dem Eheroman Indiana (1832) ein, der Liebe in der Ehe fordert. Alsbald folgte Lélia (1833), ein Roman über eine romantische Melancholikerin, die das mal du siècle aus der weiblichen Perspektive durchspielt. Später erschienen Sozial- und Landromane, in denen die weibliche Misere mit der jeweiligen Klassenlage verknüpft wird. Aus dem Alterswerk sind der Revolutionsroman Nanon (1872) und der bittere Eheroman Le Dernier Amour hervorzuheben. Neben den romantischen Briefen der Lettres d’un voyageur und der grossartigen Histoire de ma vie (1854 f.) steht von jeher der grosse Künstlerinnenroman Consuelo / La Comtesse de Rudolstadt (1843–1845) im Zentrum der Aufmerksamkeit. Zum einen beschreibt er den emanzipatorischen Lebenslauf der in Venedig aufgewachsenen und vaterlosen Sängerin Consuelo. Zum anderen gestaltet er die Epoche des 18. Jahrhunderts, indem Consuelo an den Hof von Maria Theresia und Friedrichs des Grossen kommt. Als Musikroman behandelt er ausserdem Probleme der geistlichen und weltlichen Musik. Der Roman setzt voraus, dass Künstlerinnen immer schon die Chance der emanzipatorischen Selbstbestimmung hatten, wenn sie nur ihre Fähigkeiten entschieden genug entfalteten. Consuelo, nach dem idealisierten Vorbild der befreundeten Sängerin Pauline Garcia, verheiratete Viardot, entwickelt, enthält die Summe der persönlichen und politischen Lebenserfahrung der Autorin. Die frei vagabundierende Künstlerfamilie muss realiter die Spannung der gesellschaftlichen Widersprüche aushalten, während sie doch in einer romantisch freigestellten, vorgeblich autonomen Kunst versöhnt werden sollen. Die Sängerin, die nach dem Verlust ihrer Stimme zur Komponistin wird, bildet später den Mittelpunkt einer matriarchalen Familie in ländlicher Gesellschaft. Dort wird sie als Vertreterin
22. Ibid., S. 65.
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einer allgemein verstandenen Volkskunst sowie als ›Göttin der Armut‹ verehrt. Die Geschichte von der Trennung und dem geheimnisvollen Wiederfinden eines füreinander bestimmten Paares spielt mit der traditionellen LeserInnenerwartung. Consuelo bekommt die Willkür des Ancien Régime zu spüren, wird aber von der geheimen Loge der Unsichtbaren und dem wundersam vom Tod auferstandenen Geliebten gerettet. Die verschlungenen Wege des Romans nehmen das barocke Muster des spanischen Picaro-Romans wieder auf und nutzen es — wie Grimmelshausen im Simplicissimus (1669) — zur Epochenkritik des Ancien Régime und der Restauration. Kurz vor der achtundvierziger Revolution erschien der Roman in der zusammen mit Pierre Leroux und Louis Viardot gegründeten Revue Indépendante. In Albert de Rudolstadt verkörperte George Sand die häretische Tradition eines christlichen Sozialismus der ›Gleichheit und Brüderlichkeit‹. Dieser kennzeichnete ihre eigene politische Haltung, die sie mit Pierre Leroux und Lamennais verband. Gleichheit und Brüderlichkeit ist die Devise für die Loge der Unsichtbaren, die mit dem Geschlecht derer von Rudolstadt eine Verbindung nach Böhmen und zu den Hussiten herstellt. Letztlich soll die grenzen- und sprachenüberwindende Musik die Kinder Consuelos und den Ehemann mit dem Volk zu einem Gesamtkunstwerk vereinen.
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Annex: Alexander von Humboldt Ralph-Rainer Wuthenow
Alexander von Humboldt (1769–1859) war nicht allein der Naturforscher und bedeutende, aber beispielhafte Reisende, als der er heute noch in manchen Ländern mehr als nur dem Namen nach bekannt ist. Er war, was man in Deutschland nur ausnahmsweise wahrgenommen hat, überdies ein bedeutender Schriftsteller der deutschen wie der französischen Sprache, ein Mann von historischem Weitblick, politischer Einsicht wie diplomatischem Geschick, ein republikanisch gesinnter Aristokrat, ein scharfer Kritiker der kolonialen Unterdrückung wie der einheimischen Restauration, kurz, ein Mann der Wissenschaften und ein Künstler, ein philosophischer Reisender und daher, weit über das 19. Jahrhundert hineinwirkend, der letzte Repräsentant der europäischen Aufklärung. Gemeinsam mit Georg Forster unternahm er 1790 die durch dessen Beschreibung berühmt gewordene Reise rheinabwärts in die Niederlande und nach England, doch stimmte er keineswegs mit allen Urteilen, die Forster in den Ansichten vom Niederrhein (…) (1791–1794) fällte, überein. Nichtsdestoweniger und obwohl sich die zunächst engen Bindungen bald lockern sollten, hat er ihm stets ein treues Andenken bewahrt. Er war zu grossherzig, um undankbar, zu überlegen, um ungerecht zu sein; er war auch zu vornehm, um sich für unfehlbar zu halten. Er war eine deutsche Gestalt von europäischem Zuschnitt und für lange Zeit auch von weltweiter Bedeutung. Seine Leistung ist das Ergebnis seiner Geisteshaltung, einer ihm eigentümlich zugehörigen Idee sowie eines in dieser Weise nicht wiederholbaren Entschlusses. Hierbei hatte der stets doch mitwirkende Zufall weniger Anteil als Absicht, Planung und Beständigkeit. So wird bei ihm die Entdeckung zur schöpferischen unwiederholbaren Leistung, und insofern sind nur einzelne Teile seines Werkes als korrigierbar und, nach einiger Zeit überholt, wissenschaftlich uninteressant geworden; das meiste vermögen wir um seinetwillen zur Kenntnis nehmen (und korrigieren ihn dann höchstens im Stillen). Hinzu kommt, dass Alexander von Humboldt die vielen naturwissenschaftlichen Disziplinen, die in den letzten zweihundert Jahren reich entfaltet und vervielfältigt, aufgespalten in Spezialdisziplinen und unübersehbar geworden sind, noch einmal zusammfassend zu übersehen, z.T. auch zu beherrschen vermochte, so dass man ihn einer ganzen Universität verglichen, ja, ihn einen neuen Aristoteles genannt hat. Aber nicht der Umfang des sog. Wissens ist entscheidend, sondern die Art und Weise mit ihm umzugehen, die Tatsachen und ihre Interpretationen zu überblicken, sie zu entwickeln und neue Verbindungen herzustellen, und gerade dies kann man an Humboldt erkennen, so dass dem anders gearteten Bruder früh schon auffiel, dass er, Alexander, gegen das Einzelne als ein Isoliertes einen »wahren Abscheu« hege. Vielleicht erklärt dies ein wenig die wahrhaft unermüdliche geistig aktive Gegenwärtigkeit dieses Mannes vor jedem Gegenstand, der ihm der Aufmerksamkeit wert erschien; nicht schlicht meditierend und nicht verloren in fortwährendem Sammeln und Katalogisieren, besass er die Gabe der Zusammenschau, der bedeutenden Kombination, die dennoch dem Einzelnen sein Recht belässt. Die
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überlieferten, eng gewordenen Denkformen und Definitionen, halbrichtigen Konstruktionen und teleologischen Sinnbilder schob er bald schon beiseite. Doch das hierfür unerlässliche Vertrauen in den erkennenden und ordnenden Intellekt wurde ausgewogen durch das stets wache Bewusstsein von den der Vernunft offenkundig gezogenen Grenzen, der Unzugänglichkeit mancher Bereiche des Naturgeschehens. Humboldt wusste genau, dass jeder Schritt, der den Forscher seinem Ziele (das ist bei ihm die Einheit des Naturbegriffs) näher zu bringen verheisst, ihn gleichzeitig an die Eingänge neuer, zuvor nicht wahrgenommener Labyrinthe führt. Die Fülle der Zweifel vermindert sich kaum, sie verlagert sich vielmehr. Manches verdankte Humboldt nicht so sehr den zeitgenössischen Naturforschern und dem disziplinierenden Denken Immanuel Kants, als vielmehr der Freundschaft mit Goethe: Bestätigung zumindest im Hinblick auf Haltung, Sehweise, Gesinnung und Stil. Dass die Natur gültig nur als ein Ganzes zu erkennen, die Fülle ihrer Äusserungen als Folge der gleichen Lebenskraft, einer unerschöpflich Dasein hervorbringenden Potenz anzusehen ist, dass es immer wieder gilt, von der einzelnen Erscheinung auf den allgemeinen Typus zu schliessen, dass die Beobachtung stets Vorrang haben muss vor der Berechnung, dies sind auch Grundsätze, die Goethe bei seinen botanischen, zoologischen, osteologischen, mineralogischen und optischen Studien leiteten. Sehen, Prüfen, Vergleichen — dies unter ständiger Vergewisserung des eigenen Standpunktes — führen zu einer Stufe der Gewissheit, die man nur mit grösster Vorsicht als Resultat einer ›Schau‹, wohl aber als das einer von Schwärmerei vollkommen gereinigten Einsicht bezeichnen darf. Es gab fast nichts, was Humboldts Aufmerksamkeit in den Tropen nicht fesselte, eben dies macht seine grosse, wiewohl unvollendete, Darstellung der Reise in die Äquinoctialgegenden des neuen Continents1 wie auch die Ansichten der Natur (1808) so anschaulich, so fesselnd, so unerschöpflich reich. Die Elektrizität der Gymnoten (Zitteraale), der auf- und abschwellende eindringliche Rhythmus der Tierstimmen im nächtlichen Urwald, die Quellengebiete des Orinoco, das Leben der sog. Eingeborenen, die Rolle der Missionstationen, die Steppen, die Minerale, die überwältigende Fülle der Flora des unerforschten Kontinents, die gefährliche Fauna und die niemals endende Feindschaft der Gattungen, alles drängte sich ihm auf, er nahm es intensiv wahr, und alles wurde Wort. Diese intensive Aufmerksamkeit war mehr als nur ein Drang zu wissen, man ist geradezu versucht, von einem heimlichen Einverständnis, von einer ebenso seltenen wie unerklärbaren Sympathie mit den Erscheinungen der Natur zu sprechen. So trat auch für ihn (dem willkürliche Spekulationen und mystifizierende Analogien gleich fremd waren, der über eine Chemie spottete, die sich die Hände nicht nass machen möchte) neben die politisch-geistige Geschichte, die der Menscheit also, die zwiefache Geschichte der Natur: uralte Erdgeschichte zum einen, auf dieser aber dann zeigen sich die Spuren, die den Eingriffen des Menschen zu verdanken sind und welche die Erde auf entscheidende, meist unwiderrufliche und oftmals auch gefährliche Weise mitgeprägt haben. Seine Tropenfahrt, über weite Strecken hin mit dem Boot auf unbekannten und gefährlichen Wassern unternommen, wurde zu einer nicht abreissenden Kette von Entdeckungen, Erkundungen, Strapazen und Abenteuern, über die er teils, indem er aus dem Tagebuch zitierte, teils aus
1. Französisch 1805ff. Deutsche Übersetzung 1859.
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grossem zeitlichen Abstand, stets nüchtern zugleich und farbig berichtete. Neben unvergleichlich scharf und anschaulich gezeichneten Bildern, Ausschnitten, Szenerien stehen dann auch warnenden Worte, die von noch heute nachwirkender grundsätzlicher Bedeutung sind: »On ne doit pas être surpris«, heisst es unterwegs von Cumaná nach La Guaria, […] que des îles fertiles, si rapprochées de la Terre-Ferme, ne soient pas habitées aujourd’hui. Ce n’est qu’à la première époque de la découverte, lorsque les Indiens Caribes, Chaymas et Cumanagotes étoient encore maîtres des côtes, que les Espagnols firent des établissements à Cubagua et à la Marguerite. Dès que les indigènes furent soumis ou repoussès au sud vers les savanes, on préféra se fixer sur le continent, où l’on eut le choix des terres et celui des Indiens, qu’on pouvoit traiter comme des bêtes de somme.2
Wenn er Teneriffa und Madeira als Orte bezeichnet, an denen das Gemüt Frieden zu finden vermag, so gibt er als Gründe nicht allein Lage und Klima an, sondern […]; ils sont dus surtout à l’absence de l’esclavage, dont l’aspect est si révoltant aux Indes et partout où les Colons européens ont porté ce qu’ils appellent leurs lumières et leur industrie.3
Auch auf Teneriffa fragt man sich, wie auf Cuba, Santo Domingo und Jamaica, was aus den Ureinwohnern der Inseln geworden ist, bemerkt Humboldt, und sieht die Antwort darin, dass die Kolonialherren sich von dort mit Sklaven versorgten. Die christliche Religion, heisst es weiter, […] qui, dans son origine, a favorisé si puissamment la liberté des hommes, servoit de prétexte à la cupidité des Européens. Tout individu, fait prisonnier avant d’avoir reçu le baptême, étoit esclave.4
Aber er kann nicht umhin, den Blick weiter auf die zerstörerische Tätigkeit der Indianer selbst zu lenken: Les habitants mettent le feu aux forêts pour améliorer les pâturages et détruire les arbustes qui étouffent l’herbe déjà si rare dans ces contrées. Souvent aussi d’énormes embrasements sont causés par l’insouciance des Indiens, qui négligent, en voyageant, d’éteindre le feu auquel ils avoient préparé leurs alimens. Ces accidents ont contribué à diminuer le nombre des vieux arbres dans le chemin de Cumana à Cumanacoa, et les habitans observent avec raison que, sur plusieurs points de leur province, la sécheresse a augmenté, non-seulement parce que le sol devient d’année en année plus crevassé par la fréquence des tremblemens de terre, mais aussi parce qu’il est aujourd’hui moins garni de bois qu’il ne l’étoit à l’époque de la conquête.5
Brandrodung ist es nicht allein, und die Indianer allein sind es auch nicht, die durch zerstörerische Akte die Grundlage gefährden, auf der sich das Leben erneuert: Lorsqu’on détruit les fôrets commune les colons européens le font partout en Amérique avec une imprudente précipitation, les sources tarissent entièrement ou deviennent moins abondantes.
2. Humboldt, Alexander von, Relation historique du Voyage aux Régions équinoxiales du Nouveau Continent, 2 Bde., Beck, Hanno (ed.), Stuttgart 1970, hier: Bd. I, S. 539. 3. Ibid., Bd. I, S. 109. 4. Ibid., Bd. I, S. 189. 5. Ibid., Bd. I, S. 364 / 365.
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Ralph-Rainer Wuthenow Les lits des rivières, restant à sec pendant une partie de l’année, se convertissent en torrens chaque fois que de grandes averses tombent sur les hauteurs. Comme avec les broussailles, on voit disparoître le gazon et la mousse sur la croupe des montagnes, les eaux pluviales ne sont plus retenues dans leurs cours: au lieu d’augmenter lentement le niveau des rivières par des filtrations progressives, elles sillonnent, à l’époque des grandes ondées, le flane des collines, entraînent les terres éboulées, et forment ces crues subites que dévastent les campagnes.6
Aber nicht weniger hatte Humboldt Raum für die Reflexionen auf die Naturwahrnehmung. Wenn ich, gesteht er mit der Erinnerung an ferngerückte Landschaftsbilder, mitten in Europa j’essaie à mon tour de dépeindre les sites du Nouveau-Monde, je ne crois pas offrir au lecteur des images plus nettes, des idées plus précises en comparant nos paysages à ceux de la region équinoxiale. On ne sauroit assez le répéter, sous chaque zone la nature agreste cultivée, riante ou majestueuse, offre un caractère individuel. Les impressions qu’elle nous laisse sont variées à l’infini, comme les émotions que produisent les ouvrages du génie, selon les siècles qui les ont enfantés et la diversité des langues auxquelles ils empruntent une partie de leur charme. On ne compare avec justesse que ce qui tient aux dimensions et aux formes extérieures; (…).
Doch ein solcher Vergleich gibt uns nur wenig; wissenschaftlich von Nutzen, sagt er über den eigentümlichen Charakter der Natur nichts aus: »Ce qui parle a notre ame, ce qui nous cause des émotions si profondes et si variées, échappe à nos mesures, comme aux formes de langage.«7 Aber die Landschaft ist nicht nur reizvoll, sie ist auf stets wechselnde Weise machtvoll, verzehrerisch, unheilvoll. Mit dem Blick auf eine wüste Gebirgslandsschaft gibt Humboldt zu, dass man es kaum bedauern kann, …on regrette à peine de ne pas voir les solitudes du Nouveau-Monde embellies de l’image des temps passés. Partout où, sous la zone torride, la terre, hérissée de montagnes et jonchée de végétaux, a conservé ces traits primitifs, l’homme ne se présente plus comme le centre de la création. Loin de dompter les éléments, il ne tend qu’à se soustraire à leur empire. Les changemens que les sauvages ont faits depuis des siècles à la surface du globe, disparoissent auprès de ceux que produisent, en quelques heures, l’action des feux souterraines, les débordemens des grands fleuves, l’impétuosité des tempêtes. C’est la lutte des élémens entre eux qui caractérise dans le Nouveau-Continent le spectacle de la nature. Un pays sans population se présente à l’habitant de l’Europe cultivée comme une cité délaissée par ses habitans.8
Doch wenn man vermutet, Humboldt hätte den vielgesuchten, vielgepriesenen edlen Wilden nun endlich entdecken müssen (der doch immerhin auch bedenkenlos auf die Landschaft einwirkt und Raubbau nicht scheut), so hat man sich geirrt. Sollte es sich je um edle Wilde gehandelt haben, so sind sie — nicht selten durch die Behandlung, also: Unterdrückung, die sie von den Europäern erfahren haben — längst zu wirklichen Barbaren geworden:
6. Ibid., Bd. II, S. 72. 7. Ibid., Bd. II, S. 67. 8. Ibid., Bd. I, S. 611.
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Qu’on a de peine à reconnoître, dans cette enfance de la société, dans cette réunion d’Indiens mornes, silencieux, impassibles, le caractère primitif de notre espèce! On ne voit point ici la nature humaine sous les traits de cette douce naïveté dont les poètes ont tracé, dans toutes les langues, des tableaux si ravissans. (…) On aime à se persuader que ces indigènes, accroupis près duu fue ou assis sur de grandes carapaces de tortures, le corps couvert de terre et de graisse, fixant stupidement leurs yeux, pendant des heures entières, sur la boisson qu’ils préparent, loin d’être le type primitif de notre espèce, sont une race dégénérée, les foibles restes de peuples qui, après avoir été long-temps dispersés dans des forêts, ont été replongés dans la barbarie.9
Wenig später liefert Humboldt auch schon eine Erklärung für dieses Phänomen und damit eine Rechtfertigung für das scheinbar so harte Urteil: L’homme, pour profiter des avantages de l’état social, doit sacrifier sans doute une partie de ses droits naturels et de son ancienne indépendance. Mais, si le sacrifice qu’on lui impose n’est pas compensé par les advantages de la civilisation, le sauvage, dans sa simplicité sensée, conserve le désir de retourner vers les forêts qui la plupart des missions, c’est parce qu’il n’y jouit pas du fruit de ses travaux, que les établissemens chrétiens de l’Orénoque restent déserts.10
Die grosse Reisebeschreibung war also nicht nur eine Folge von Abenteuern und ›schönen‹ Szenen, sie ist nicht zuletzt ein kritisches Buch. Wie Humboldt auf die Darstellung selbst einen methodisch zu nennenden Wert legte, wie er sich der sich erhebenden Forderungen als Autor bewusst war, das zeigt noch einmal exemplarisch die folgende Reflexion: Plus les objets sont imposans et majestueux, plus il est essentiel de les saisir dans leurs moindres détails, de bien arrêter les contours du tableau que l’on veut offrir à l’imagination du lecteur, de décrire avec simplicité ce qui caractérise les grands et impérissables monumens de la nature.11
Freilich beschränkte er sich nicht immer nur auf die »schlichte Manier«, seine Schilderungen sind so lebhaft wie glanzvoll, mögen sie auch in seinen Augen unendlich hinter dem Wahrgenommenen zurückbleiben. Alexander von Humboldt, der seine grosse Reise ohne Auftrag, gemeinsam mit Aimé Bonpland, auf eigene Kosten unternahm und sein ganzes, nicht geringes Vermögen in dieses einmalige Unternehmen und noch in die sich anschliessende mühselige Auswertung der Materialien steckte, dazu seine Arbeitskraft und fast sein ganzes Leben, war als Forscher, Reisender, Organisator zugleich ein Meister der Darstellung, ein Schriftsteller, ein Meister rhetorischer Prosa, dem es stets gelang, die Ergebnisse wie die Wege seines Denkens wie die Eigenart der zu schildernden Gegenstände in einer Weise objektiv sichtbar zu machen, dass sie ausser den überholten, rein wissenschaftlichen Fakten, die sie enthalten, Anspruch erheben können auf das, was der Zeit zumindest lange widersteht: auf Form und Stil. Seine Welterforschung, die ihn für manche zu einem neuen Columbus werden liess, kann zugleich eine geistige
9. Ibid., Bd. II, S. 258. 10. Ibid., Bd. II, S. 269. 11. Ibid., Bd. II, S. 308.
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Welterwerbung genannt werden. Als er nach Südamerika gelangte, war er von der Fülle der Pflanzenwelt, ihrem Reichtum, ihrer Variationsbreite wie überwältigt, zunächst fast unfähig, selbst die Pflanzen wiederzuerkennen, die ihm aus botanischen Gärten und Gewächshäusern Europas durchaus bekannt waren. Er liess sich in intensiver Anschauung geduldig durch die Erscheinungen belehren; eine wahrhaft neue und schwer nur überschaubare Welt tat sich auf, so dass das System Linnés zur Bestimmung der Pflanzenfülle nicht mehr ausreichte. Die Entdeckung musste daher zur Benennung werden, d.h. auch zur Begriffsbildung, was einen schöpferischen Akt darstellt. Die Wissenschaft, die er im Sinne hatte, ist die ›Naturgeschichte der Welt‹ oder eine ›Physische Geographie‹, im unvollendeten Kosmos (1845 ff.) hat er dann die Summe seiner Einsichten und Bestrebungen gezogen. Unter dem Eindruck der Gewalt des Lebens, der den Menschen übermächtigenden Naturkräfte blieb sein Empfinden niemals unkontrolliert, er verwandelte es in Erkenntnis und Darstellung. Humboldt hütete sich vor Spekulation, er wollte auch nicht nur Fakten sammeln und registrieren. Ausgerichtet auf den Zusammenhang von Himmel und Erde, in dem Gesteine, Pflanzen, Tiere und Menschen gleicherweise ihren Platz haben, erschien er Goethe gleich »einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefässe unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt.«12 Aufmerksamkeit, Behutsamkeit in der sinnlichen Wahrnehmung, ihrer Wiedergabe wie ihrer Deutung machen es, dass Humboldt neben den Naturwissenschaftlern von heute beinahe als ein Dichter erscheint. Denn sein Wissen ist gekennzeichnet vom Glanz der Einmaligkeit seiner persönlichen Erfahrung, so dass seine Wissenschaft niemals zur bloss quantifizierenden, technisch orientierten teilnahmlosen Objektivität entartet. Die Natur ist ihm eben nicht nur ›Gegenstand‹, sondern als Ganzes ein in sich vollkommenes Gebilde, gewissermassen ein Kunstwerk. So konnte die Landschaft zum Sujet künstlerischer Darstellung werden, wie es erst mit Rousseau und Goethe, seit der Befreiung des Naturgefühls möglich geworden war. Aus dem Zeremoniell der französischen Gartenarchitektur, der Staffagen-Funktion traditioneller Schäferdichtung, wurde die so lange unterworfene Landschaft gleichsam erlöst. Der Blick hatte sich verändert, auch die Darstellungsweise, sogar für die Wissenschaft, die sich freilich hier nicht notwendig mit der Poesie in Widerstreit weiss. Die Lösung mancher ästhetischen und moralischen Probleme erblickte Humboldt in der Erfahrung der Naturschönheit und diese wiederum im Zusammenhang mit den Mitteln, durch welche Landschaftsmalerei und beschreibende Literatur ihre Wirkung üben. Das bedeutete eben nicht, beim Genuss stehen zu bleiben; Zusammenhänge aufspürend, leitete Humboldt von einer Geographie der Pflanzen über zu den Anfängen des Ackerbaus, zur Einwirkung von Klima und Vegetation auf den Charakter eines Volkes. Die Geschichte der Naturgegenstände mag Naturbeschreibung sein, Naturveränderungen aber besitzen selbst wiederum eine historische Bedeutung, wenn sie Einfluss ausüben auf die moralischen Begebenheiten. Seine Aufmerksamkeit war ständig produktiv. Im Kosmos, den man sein Vermächtnis nennen kann, gibt er als Absicht an, »den Geist der
12. Eckermann, Johann Peter, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Houben, Heinrich Hubert (ed.), Wiesbaden 1959, S. 142.
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Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt.«13 Er spricht wiederholt auch von Columbus und könnte sich selbst gemeint haben, wenn er erklärt, »dasz die schaffende Phantasie des Dichters sich auch im Entdecker wie überhaupt in jeglicher Grösze des menschlichen Charakters bezeugt.« Was dergestalt vom ersten Entdecker Amerikas gesagt wird, gilt für den zweiten allemal.
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13. Humboldt, Alexander von, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Stuttgart 1869, Bd. I, S. 6.
Annex: Giacomo Casanova Horst Albert Glaser
Einen »citoyen du monde« nannte sich Casanova (1725–1798) und meinte damit, dass er so frei sei, keinem Staat als Bürger anzugehören. In der Tat reiste er häufig mit fremden Pässen, denn einen Pass seiner Heimatstadt besass er nicht. Venedig hatte ihn zweimal ausgewiesen — ein andermal war er selbst geflohen — so dass er letzten Endes nur die ›lettres de recommendation‹ vorweisen konnte, wenn er durch die Teilstaaten Europas reiste. Sie aber genügten, dass sich Schlagbäume hoben und auf eine Inspektion seines Gepäcks verzichtet wurde. Ausgestellt hatten diese ›lettres‹ hochmögende Gönner und Freunde, von denen Casanova viele in Europas Hauptstädten besass. So wurde er protegiert nicht nur von zwei Aussenministern Frankreichs, dem Kardinal de Bernis und dem Duc de Choiseuil sondern auch vom Kardinal Aquaviva, dem Botschafter Spaniens im Vatikan, oder dem Senator Bragadin in Venedig. Seine Beziehungen reichten überall hin, und er kam auch überall hin. Man kann sagen, dass dieser Giacomo Casanova — »Venezianer« wie er seinem Namen stets hinzufügte — einer der grössten Reisenden des 18. Jahrhunderts war. Von seinem 16. bis zum 60. Lebensjahr sehen wir ihn mit wenigen Pausen unterwegs. Seine erste Reise führt ihn bereits nach Konstantinopel, andere nach London, Paris, Barcelona, Amsterdam, Köln, St. Petersburg oder Neapel. Ausgelassen hat er von Europas Staaten allein die nordeuropäischen und Portugal. Man könnte ihn einen Europäer der ersten Stunde nennen, wenn Europa damals ein Begriff gewesen wäre. Für den »citoyen du monde« meinte »le monde« eben jene Region der Welt, die wir heute Europa nennen. Sie war für ihn die einzige, da sie die einzig zivilisierte war. Nicht, dass er von Welten ausserhalb Europas nichts gewusst hätte. Ihm war sehr wohl bekannt, dass er in einem Jahrhundert lebte, das sich anschickte, die letzten weissen Flecken auf dem Globus zu erforschen. Während Bougainville und Cook — zwei der grossen Weltumsegler des 18. Jahrhunderts — die neue Welt der Südsee erforschten, durchreiste Casanova die alte Welt. Zuerst reiste er aus Neugier, später in diplomatischer Mission, zuletzt auf der Suche nach einer festen Stelle. Wahrscheinlich ist, dass er viele Reisen auch als Spion verschiedener Regierungen unternahm. Genannt werden die französische, die holländische und die Regierung seiner Heimatstadt Venedig, der er sich späterhin auf vielerlei Weisen andiente, um die Möglichkeit einer Rückkehr zu erhalten. Mannigfaltig sind auch die Geschäfte, die er hier und dort aufzog, aber bald wieder aufgab, wenn sie nicht von selbst fallierten. In Paris war er dabei, als eine staatliche Lotterie organisiert wurde. Katharina II., der russischen Zarin, schlug er in St. Petersburg eine Reform des russischen Kalenders vor. In Frankreich gründete er eine Fabrik, die Seidenstoffe herstellte. In Warschau betrieb er das Projekt einer Seifenfabrik. In Kurland wollte er die Eisen- und Kupferminen neu organisieren. In Spanien entwarf er Pläne für die Kolonisation der Sierra Morena, und in Madrid wollte er eine Tabakfabrik gründen. Aus den meisten Plänen wurde nichts, manche waren wohl von vornherein als Bluff angelegt. Dass er aber nicht nur als Industrieller und Finanzier sich
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betätigte, sondern auch als Zauberer und Wahrsager reiste, sei am Rande erwähnt. Ausgedehnte Kenntnisse der Alchemie verschafften ihm die Gunst und die Protektion der Marquise d’Urfé in Paris — einer älteren Dame, der er peu à peu — wie man sagte — ein Vermögen von ungefähr einer Million Francs entlockte.1 Doch wenn man sich heute noch an Casanova erinnert, so meint man nicht den Projektemacher oder den Diplomaten. Es ist der ›homme à femmes‹, den man sich unter dem Namen Casanova vorstellt. Er gilt als einer der grossen Liebhaber und Abenteurer des 18. Jahrhunderts, und die Histoire de ma vie (1826–1838),2 seine Lebensgeschichte, enthält eine lange Kette von Liebesaffairen mit Frauen aller Stände und vieler Länder. Somit ist der Name Casanova nicht von ungefähr zum Synonym für einen geworden, dessen Sinn allein auf Liebesabenteuer gerichtet ist und der Frauen in grosser Zahl erobert. Insofern ist er häufig als Verkörperung einer literarischen Gestalt angesehen worden, die eigentlich in Spanien zu Hause ist, aber in einer Oper Mozarts wohl Unsterblichkeit erlangt hat. Don Giovanni, dessen Libretto Casanovas Landsmann Da Ponte schrieb, geht auf Tirso de Molinas (1584–1648) Tragikomödie des Burlador de Sevilla (1630) zurück. Don Juan — so der Name ihres Protagonisten — ist der erste grosse Frauenverführer, den die moderne Literatur Europas hervorgebracht hat. In diesem Stück, das zur spanischen Gegenreformation gehört, gelingen Don Juan freilich nicht viele Eroberungen. Die gelingen, geraten ihm eher zum Unheil und sind Ursache seiner endlichen Höllenfahrt. In Mozarts (1756–1791) Oper gibt sich Don Giovanni ruhmrediger und lässt den Diener Leporello die berühmte ›Lista‹ verlesen — den Katalog aller Schönen, die sein Herr in Europas Ländern betört hatte. Dort heisst es: Madamina, il catalogo è questo Delle belle che amò il padron mio, Un catalogo egli è che ho fatt’io, Osservate, leggete con me. In Italia seicento e quaranta, In Lamagua due cento e trent’una, Cento in Francia, in Turchia novant’una, Ma in Ispagna son già mille e tre.
Hinter diesen Bestleistungen des spanischen Burlador bleibt der Venezianer bescheiden zurück. Kommt Don Juan auf insgesamt 2.065 Eroberungen, so gelingen Casanova nur etwa 120. Rechnet man sie um auf ungefähr 40 Jahre Praxis, so ergeben sich im Jahr ungefähr drei Affairen — keine besonders hohe Anzahl. Aber das Leben hat es schwer, die Literatur einzuholen. Hinter dem fingierten Weiberheld bleibt der wirkliche Casanova weit zurück. Man weiss, dass Casanova zur selben Zeit in Prag weilte, als dort im Jahre 1787 der Don Giovanni seine Uraufführung erlebte. Ja, man darf sogar vermuten, dass er an der Einstudierung der Oper beteiligt war. Lorenzo Da Ponte (1749–1838) konnte sie nicht selbst überwachen, da er nach Wien zu den Proben für eine andere seiner Opern gerufen wurde. Was lag näher, als den befreundeten Casanova zu bitten, die Einstudierung des italienischen Textes zu überwachen. Im
1. Vgl. Luna, Marie-Françoise, »Casanova à travers l’Europe«, Dix-Huitième Siècle 25, 1993. 2. Zitiert wird nach: Casanova, Jacques de Seingalt, Histoire de ma vie, 6 Bde., Wiesbaden / Paris 1960 ff.
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Nachlass Casanovas fand sich vor einiger Zeit ein Textfragment, das eine Variante zum Libretto Da Pontes darstellt. Sie zieht das Sextett und das Quintett der 8. und 9. Szene des 2. Aktes zu einer einzigen Szene zusammen und erweitert den Text beträchtlich. Da Mozart Wert darauf legte, dass die Sänger in der Aufführung improvisierten, ist es nicht unwahrscheinlich, dass Casanovas Text in Prag auch gesungen wurde. In der Histoire de ma vie erfahren wir nichts von Casanovas letzten Jahren in Böhmen. Als Mozarts Oper in Prag uraufgeführt wurde, war Casanova 62 Jahre alt und lebte seit zwei Jahren auf Schloss Dux in Böhmen — als Bibliothekar des Grafen Waldstein. Mit der Niederschrift der Histoire de ma vie begann er aber erst im Jahre 1790. Er redigierte und korrigierte den Text bis zu seinem Tode 1798. Die Histoire ist dennoch unvollständig geblieben; sie berichtet Casanovas Leben nur bis zum 49. Lebensjahr. Mit dem Jahr 1774, da Casanova in Triest lebte, bricht der Text ab. Man nimmt an, dass der Tod ihm die Feder aus der Hand nahm. 13 Jahre verbrachte er im entlegenen Dux — fern der eleganten Welt in Europas Städten, wo er sich so gern aufhielt. Es war eine Eremitage, aber doch günstig für die literarische Produktion. Neben den vielen tausend Seiten der Histoire de ma vie entstanden in der Verlassenheit von Dux sein utopischer Roman Icosaméron und eine Reihe philosophischer Diskurse. Ein Raisonnement d’un spectateur sur la Révolution française bleibt unvollendet. Die letzte Arbeit, die Casanova selbst publizierte, entstand auch in Dux — die anrührende Lettre à Léonard Snetlage. Die Histoire de ma vie ist erst ein Vierteljahrhundert nach seinem Tode gedruckt worden — in deutscher Sprache und in einer entstellenden Übersetzung (die sog. Version Schütz). Einige Jahre später brachte der Brockhaus Verlag, der das Manuskript besass, eine wiederum bearbeitete Version des französischen Originaltextes heraus (sog. Version Laforgue). Den integralen Text durfte das interessierte Publikum erst 1960 lesen, als Brockhaus und der französische Verlag Plon zum ersten Mal den Originaltext drucken liessen — mehr als anderthalb Jahrhunderte nach dem Tode des Autors. Im Vorwort zur Histoire de ma vie gesteht Casanova, was er mit der Autobiographie wollte — ein »renouvellement« seines Lebens und seiner Abenteuer. Das Leben auf Dux bot dem alt gewordenen Libertin keine Abenteuer mehr, somit begann er, sich an ehedem erlebte zu erinnern. In viele Städte, die er in früheren Jahren bereist und wo er seine Triumphe gefeiert hatte, konnte er nicht mehr zurück. Er war nicht nur aus seiner Heimatstadt verbannt worden, gleiches geschah ihm auch in Paris, in Barcelona, in Madrid, in Wien, in Warschau und in andren Orten. Manchmal waren es Spielschulden, manchmal Ehrenhändel, manchmal Liebesaffairen mit Ehefrauen hochgestellter Männer, die seine Ausweisung veranlassten. Auch besass er ein keckes Mundwerk und eine spitze Feder, die ihm die Feindschaft manch eines Mächtigen eintrugen. Was Casanova in seiner Histoire versucht, ist ein aufrichtiger Bericht seines Lebens — von dessen Licht- und Schattenseiten, von seinen Höhen und Tiefen. Dennoch muss man annehmen, dass nicht überall Aufrichtigkeit waltet. Gar zu deutlich ist an vielen Stellen, dass der Autor sich für diese und jene Handlung rechtfertigt oder dieses oder jenes Ereignis beschönigt. Falschspielerei, Abtreibungen, ja sogar Giftmorde sind Thema der Histoire. Nicht immer ist Casanova Täter, aber auf undurchsichtige Weise doch immer verwickelt. Glanzpunkt der Histoire ist die Beschreibung von Casanovas Flucht aus den »Piombi« von Venedig. Verhaftet wegen Glücksspiels, Freimaurertums und unmoralischen Lebenswandels, wurde er im Gefängnis des Dogenpalastes gefangengehalten, bis ihm nach anderthalb Jahren die
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tollkühne Flucht gelang. Sie machte ihn mit einem Schlage in Europa berühmt, und er musste die Geschichte, wohin er auch kam, jedesmal erzählen. Als Vorabdruck aus der Histoire de ma vie erschien die Histoire de ma fuite des prisons de la République de Venise, qu’on appelle les Plombs 1787 in Prag. Aus dem Gesagten wird deutlich geworden sein, dass Casanova nicht nur ein aventurier, sondern auch ein écrivain, politicien, entrepreneur — und sogar espion war. Infolgedessen stehen neben der Histoire de ma vie gewichtige andere Werke sei’s literarischer sei’s wissenschaftlicher Art. Abhandlungen zur Politik und zur europäischen Geschichte verfasste er zahlreiche — aber auch Dramen, Romane und Verse. Vor allem aber war er — wenn man seinem Nachleben Glauben schenken darf — ein amant. Wenn man ihn gelegentlich einen Libertin genannt hat, so war er doch einer von der harmloseren Sorte. Mit den roués der Régence will er nicht verwechselt werden. Wenn er Frauen eroberte, so konnte er es nur, wenn er sie liebte. Er liebte sie nicht lange, aber er liebte sie intensiv, solange er sie liebte. Für ein paar schwarze Augen war er bereit, alles stehen und liegen zu lassen, um ihrer Besitzerin den Hof zu machen. Seinen Erfolg verdankte er wohl weniger seinem guten Aussehen, seinem Charme oder dem italienischen Temperament als vielmehr einer mimetischen Anpassungsfähigkeit. Molluskenhaft schmiegte er sich an, indem er die geheimen Interessen und Wünsche der Frauen ertastete. Mit der Lesewütigen sprach er über Literatur und Philosophie, von der Falschspielerin liess er sich finanziell ruinieren. Er verstand sich auf jeden Diskurs und führte sie alle mit Verve. Und was die Frauen an ihm besonders schätzten, war wohl nicht nur seine Verschwiegenheit sondern auch die chevalereske Haltung, mit der er Demütigungen ertrug und Ausgaben finanzierte, die er sich eigentlich nicht leisten konnte. Nicht alle, die er umwarb, konnte er auch erobern. Häufig waren es diejenigen, die er am längsten belagerte, die sich ihm letztlich entzogen — oder denen er sich selbst entzog, um sie nicht mit einer Geschlechtskrankheit anzustecken. Seine Reisen führten ihn nicht nur quer durch Europa, sondern auch durch alle Höhen und Tiefen der Gesellschaft. Er war an Fürstenhöfen so gut anzutreffen wie in Häusern wohlhabender Patrizier, Klöstern oder Bordellen. Hie und da verbrachte er auch Tage oder Monate in Gefängnissen. Als ›philosophe‹ führte er Gespräche mit Voltaire, d’Alembert, Haller und Rousseau; doch nachts traf er sich gern mit Prostituierten oder Nonnen, die auf ein Abenteuer lüstern waren. Am Hofe Ludwigs des XV. wurde die Pompadour seine Gönnerin, doch gleichzeitig verführte er unschuldige Bürgerstöchter und erprobte (oft erfolgreich) die Treue braver Ehefrauen. Der horizontalen Bewegung durch die Gesellschaft entsprach auch eine vertikale. Casanova war überall zu Hause — hier und dort sowie oben und unten. Nicht gelang es ihm in einer Stadt, in der er wirklich gern gelebt hätte: seiner Heimatstadt Venedig. Dem aventurier stellen sich keine Standesgrenzen entgegen: Er kann sozial aufsteigen wie ein Korken, im nächsten Augenblick sinken wie ein Stein. Aufstieg und Fall teilte Casanova mit vielen aventuriers seiner Zeit. Manchen von ihnen begegnete er dort, wo er auch gerade sein Glück versuchte. Der berühmte Ange Goudar und der falsche Graf von Saint-Germain waren darunter, aber auch depossedierte Aristokraten, die wie Casanova ihre Existenz mit Glücksspiel, Galanterie und ominösen Geschäften zu erhalten suchten. Casanova war Sohn eines Schauspielerpaares, und infolgedessen könnte man ihn einen Bürgerlichen nennen, den freilich ein gebrochenes Verhältnis zum Bürgerlichen kennzeichnete. Von geregelter Arbeit und zweckrationalem Verhalten wollten die aventuriers, die dem Bürgertum entstammten, nicht viel wissen. Ihre
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Karriere betrieben sie, indem sie versuchten, sich der Aristokratie zu assimilieren. Den Titel eines Chevalier de Seingalt legte sich Casanova zu und spielte so auf der Bühne des Lebens eine Rolle, die seine Eltern nur auf der Bühne probierten. Dass die Aristokratie bürgerliche aventuriers an sich heranliess und mit ihnen verkehrte, führt Michel Delon auf den Umstand zurück, dass die aventuriers »hommes sans conséquences« waren.3 Willkommen als witzige Plauderer, diskrete Liebhaber und Vermittler fragwürdiger Geschäfte konnte man sich ihrer rasch erledigen, wenn sie Ansprüche zu stellen begannen oder ansonsten lästig wurden. Am Gleiten und Fallen der bürgerlichen aventuriers lässt sich studieren, wie sehr das ancien régime bereits in den Zustand der Zersetzung getreten war, als es sich noch ungefährdet sah. So gut er sich mit Schauspielern, Tänzern und Sängerinnen verstand, am wichtigsten war Casanova aber die »bonne compagnie« der Aristokraten, denen er sich umstandslos zurechnete. Seine bürgerliche Herkunft sah er stets als einen lächerlichen Zufall an, den er durch aristokratisches Rollenspiel wettzumachen suchte. Dass um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Standesgrenzen zu fluktuieren begannen, ist auch an Diderots (1713–1784) Jacques le fataliste (1796) abzulesen. In dieser Parodie einer Abenteurerexistenz können einfache Soldaten zu Herren aufsteigen, während vertrottelte Aristokraten über den Löffel balbiert werden. In gewisser Hinsicht könnte man das ancien régime eine offene Gesellschaft in Poppers Sinne nennen, da in ihr alles möglich war. Wer skrupellos und geschickt war, konnte zum Schlossherrn aufsteigen, wer dumm und unbeweglich war, konnte sein Schloss rasch an Betrüger und Spekulanten verlieren. Ein Freund der Revolution war Casanova infolgedessen nicht. Den Untergang seiner Welt, des ancien régime, überlebte er fast um zehn Jahre. Vereinsamt im böhmischen Schloss sitzend, schimpfte er auf die ehemals geliebten Franzosen, die seine chers amis auf die Guillotine geschickt hatten.4 Mit der Niederschrift der Histoire de ma vie begann er — vielleicht nicht zufällig — ein Jahr nach Ausbruch der grande révolution. Man kann sie infolgedessen lesen als Erinnerung an eine historische Epoche, die 1789 unterging und die Casanova im fernen Dux überlebte. Geschrieben ist sie in französischer Sprache, deren sich Casanova ausschliesslich bediente, nachdem er 1782 zum zweiten Mal und zwar endgültig aus Venedig verbannt worden war. Casanovas zupackender Stil liefert ein farbiges und facettiertes Bild des ancien régime, wie wir kaum ein zweites besitzen. Als kulturhistorisches Dokument wird es von anderen Memoiren des 18. Jahrhunderts nicht übertroffen. Es ist besonders die bunte Vielfalt des gesellschaftlichen Lebens, wie es sich auf allen sozialen Stufen präsentiert, die Casanovas Histoire zu einem Tresor historischer und soziologischer Forschung macht. Aber auch die Psychoanalytiker werden zufriedengestellt, da sie sich mit den Komödien, Verkleidungen und Intrigen von Casanovas Liebesleben befassen dürfen. Denn berühmt geworden sind Casanovas Memoiren nicht als Epochengemälde, sondern als Darstellung staunenerregender Liebesaffairen. Ungewöhnlich war nämlich nicht nur die grosse Zahl der Affairen, sondern verblüffend auch die gewagten Situationen, verwickelten Intrigen und das rasante Tempo, in dem die Affairen sich anbahnten, vollzogen und wieder zerfielen. Eingebettet sind die Affairen in Reisen, die Casanova quer
3. Delon, Michel, »Casanova et le possible«, in: Europe 65, Nr. 697, Mai 1987, S. 41 f. 4. Vgl. Kapp, Volker, »Der Abenteurer als Demonstrationsobjekt und Skandalon der französischen Aufklärung«, in: Euphorion 79:3–4, 1985, S. 232–250.
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durch Europa führten. Nicht immer wird deutlich, zu welchem Zweck sie unternommen wurden. Manchmal suchte er Vergnügungen, ein andermal werden diplomatische Missionen, Aktivitäten des Freimaurers oder schlicht Spionagetätigkeiten im Hintergrund sichtbar. Oft fallen Affairen in die Pausen, die Casanova auf seinen Reisen einlegen musste, es gab aber auch Reisen, die in Szene gesetzt wurden, um überhaupt eine Affaire haben zu können. Im sechsten Band reiste er von Zürich aus keinem andren Grund nach Solothurn, als dort eine junge Dame zu verführen, die er in einem Gasthof flüchtig kennengelernt hatte. Da sie ihn »vêtue en ce qu’on appelait amazone« (Bd. 6, S. 97) faszinierte, änderte er die Reiseroute und fuhr statt nach Bern ins nahegelegene Solothurn, wo sie mit ihrem gerade angetrauten Gatten lebte. Der eigentliche Grund der Reise wurde jedoch der Umgebung verschwiegen, statt dessen erreichte Casanova es durch die Vermittlung der Marquise d’Urfé, dass der Herzog von Choiseul dem französischen Botschafter in Solothurn einen Brief schrieb, den Casanova überbringen wollte. Der Botschafter selbst veranstaltete Diners, auf denen Casanova — wie zufällig — der Schönen von Zürich begegnete. Seine Liebe konnte er während einer Liebhaber-Aufführung von Voltaires L’Ecossaise gestehen. Casanova spielte die Rolle des Murray, der die schöne Schottin Lindane liebt, und durfte ihr auf der Bühne den Satz zurufen: »Oui, je vous adore, et je le dois« (V, 3). Da er die Worte in »un ton si touchant« sprach, war der Beifall des Publikums stürmisch. »Le bis de quatre cent voix me forcèrent à les répliquer« (Bd. 6, S. 116). Wenig später simulierte er eine Krankheit, die ihn nötigte, vom Gatten der geliebten Schönen ein Haus ausserhalb der Stadt zu mieten — mit der geheimen Absicht, dass sie ihn dort zweifellos werde besuchen können, ohne dass ein Verdacht sich rege. Die Komödie erlebt ihren Höhepunkt, als Casanova glaubte, die Geliebte nachts in den Armen zu halten, hierbei aber nur Opfer eines andren Theatercoups wurde, den eine hässliche Konkurrentin der Schönen mit ihm veranstaltete. Kaum war die Komödie an ihr farcenhaftes Ende gelangt, wurde der Aufenthalt in Solothurn abgebrochen und die Reise nach Bern fortgesetzt. Doch dorthin begleitete ihn schon eine schöne Haushälterin, die ihm der Botschafter für das Haus vermittelt hatte, in dem er dessen Besitzerin verführen wollte. Die Histoire gehorcht der Struktur des Pikaroromans. Abenteuer reiht sich an Abenteuer, und interessant ist stets das nächste Abenteuer, aber nicht das gerade beendete. Wie ein lebender Gil Blas reiht Casanova Affaire an Affaire, als sei sein Lebensfaden eine Perlenkette, auf der Damen, Minister und Bediente aufgefädelt sind. Insofern jedes Abenteuer vergessen ist, sobald das nächste sich ergibt, gleicht Casanovas Lebenslauf dem seines literarischen Pendants — Don Juans. In Tirsos Stück wie in Da Pontes Libretto eilt Don Juan von Abenteuer zu Abenteuer, ohne sich viel um Folgen zu scheren. Ob in Neapel Ehechancen einer Herzogin zunichte gemacht werden oder in Sevilla ein Vater mit dem Degen niedergestossen wird, als er die Ehre seiner Tochter verteidigen will, stets ertönt das übermütige Lachen des Verführers, der bereits zu neuen Abenteuern unterwegs ist. Was Casanovas Lebenslauf aber (soweit er ihn selbst beschreibt) von dem seines literarischen Pendants unterscheidet, ist die Folgenlosigkeit seiner Affairen. Wird Don Giovanni von enttäuschten Ehefrauen und geschändeten Jungfrauen samt deren männlichem Anhang verfolgt und letztlich zur Strecke gebracht, so bewegt sich Casanova ohne sichtbare Spuren durch seine Welt. Nicht dass keine Opfer am Wegesrand liegenblieben — seine unehelich geborenen Kinder hat niemand je gezählt, und er hat sich auch nicht für sie interessiert — die Opfer und die Verlassenen machen sich nicht weiters bemerkbar. Stumm fallen die meisten von ihnen dem Vergesssen anheim, wenn es sich nicht um die grossen
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Liebenden handelt, denen Casanova Jahre später wieder begegnet. Waren sie glücklich verheiratet, wollten sie ihn nicht mehr kennen; endeten sie als Prostituierte, deren Dienste sich Casanova zunutze macht, so gibt er nicht zu erkennen, dass er sie als junge Mädchen einmal geliebt hatte. Stets faszinierten ihn Verkleidungen, Tausch der Geschlechterrollen und homoerotische Konstellationen. Drei der grossen Liebenden sind es wohl nur aus dem Grunde gewesen, weil Casanova sie in Verkleidung oder angenommener Rolle kennenlernte. Teresa sah er lange für einen schönen Kastraten an, der fürs Theater seine helle Stimme bewahren sollte. Die französische Henriette begegnete ihm zuerst in der Verkleidung eines jungen Offiziers. Und die schönste Geliebte, die er je besass, die Venezianerin M. M., war eine Nonne. Je unerreichbarer die Personen erschienen, desto stärker entflammte Casanova für sie. Wie Don Giovanni schien er den »odor di femine« unter den seltsamsten Verkleidungen zu wittern. Andererseits muss ihn aber auch die Ambivalenz der Personen fasziniert haben. Männliche Uniformen, die wie Nonnentrachten weibliche Glieder verbargen, mussten seinen »désir« aufs höchste gereizt haben. Die einfache Nacktheit liess ihn kalt. Eh quoi! me disais-je, cette servante est belle, ses yeux sont bien fendus, ses dents sont blanches, l’incarnat de son teint est le garant de sa santé, et elle ne me fait aucune sensation? Je la vois toute nue, et elle ne me cause la moindre émotion? Pourquoi? Ce ne peut être que parce qu’elle n’a rien de ce que la coquetterie emprunte pour faire naitre l’amour. Nous n’aimons donc que l’artifice et le faux, et le vrai ne nous séduit plus lorsqu’un vain appareil n’en est pas l’avant-coureur. (Bd. 6, p. 182)
Doch selbst von seinen grossen Lieben fiel Casanova der Abschied nicht sonderlich schwer. Chantal Thomas nennt ihn überhaupt den Meister des Abschieds. Niemals kommt er zu früh, niemals zu spät. Und sobald er eine Geliebte verlassen und einige Tränen, falls überhaupt, geweint hat, wird ihrer nicht länger gedacht. Als habe es sie niemals gegeben, verschwinden sie im Styx des Vergessens.5 Delon hat nicht unrecht, wenn er die Kette von Casanovas Affairen unter den Begriff der Flucht stellt. Was den Libertin unruhig macht, ist die Affaire, die an Dauer gewinnt. Die statische Beziehung verlor rasch an Leben, und im Namen der Freiheit sprang er auf wie sein Zeitgenosse, der junge Goethe, und eilte davon. »Viva la libertà« ist auch der Schlachtruf Don Giovannis, mit dem er einen Maskenball eröffnet. Die Flucht aus den venezianischen Gefängnissen präfiguriere eine Haltung, die bereit ist, im Namen der Freiheit jede Beschränkung, jede Last von sich zu werfen. «Les plombs symbolisent tout ce qui est de l’ordre de la prison, de la pesanteur, de la poisse. L’évadé proclame les pouvoirs de la liberté, de la grâce et du plaisir. »L’Histoire de ma vie«, toute entière, a l’image de cet episode, devient une fuite.« (S. 44 f.) Auffällt, wie sich die Abschiede gleichen. Sie sollen rasch und glatt vorübergehen, damit sie das neue Leben nicht lange aufhalten, das hinter ihnen wartet. «J’ai aimé les femmes à la folie, mais je leur ai toujours préféré ma liberté. Lorsque je me suis trouvé dans le danger de la sacrifier, je ne me suis sauvé que par hasard.« (Bd. 3, S. 184) So endete denn die stürmische Leidenschaft zum Kastraten Bellino, der sich als eine Teresa entpuppte, indem Casanova einen Brief schrieb. »J’ai écrit à Thérèse d’aller à Naples, et d’être
5. Thomas, Chantal, Casanova. Un voyage libertin, Paris 1985, S. 161 ff.
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sûre que j’irais la rejoindre ou dans le mois de juillet, ou à mon retour de Constantinople« (Bd. 2, S. 47). Nun, Casanova kam nicht, sondern fuhr statt dessen nach Venedig, wo ihn andre Abenteuer gefangennahmen. Die Affaire wird abgeschlossen mit dem Satz: »Mon amour a cédé à ma raison; mais mon amour n’aurait pas été si complaisant une semaine avant ce moment-là« (Bd. 2, S. 47). Am tiefsten traf Casanova die Trennung von Henriette, einer Gräfin aus der Provence. Dennoch liess er sich von ihr zum Abschied »cinq rouleaux de cent louis chacun« geben, die er ironisch als einen »faible consolation à mon cœur« bezeichnet, das »trop accablé par une si cruelle séparation« (Bd. 3, S. 75) war. Er weinte vierundzwanzig Stunden lang, fühlte aber danach eine solche Erschöpfung, dass »la pensée même que s’augmentant il pourrait me coûter la vie ne me parut pas consolante« (Bd. 3, S. 78). Er nahm also eine Fleischbrühe und fühlte sich »deux ou trois jours après« (Bd. 3, S. 79) wieder kräftig genug, um das Theater zu besuchen. Die Affaire mit der schönen Nonne M. M. endete, indem diese in ihr Kloster auf Murano zurückkehrte, wo ihr Casanova ab und zu Besuche abstattete. »Je ne suis retourné à Venise que vers la fin d’avril d’abord que j’ai vu M. M. à la grille, que j’ai trouvée fort changée« (Bd. 4, S. 154). Die Nacht verbrachte er jeweils in seinem kleinen Haus, wo er bis zum nächsten Tag in den Armen einer jungen Dienerin, »ma chère Tonine« (Bd. 4, S. 155), lag. Chantal Thomas fasst die Vergesslichkeit Casanovas in die Worte: »L’oubli libertin est une licence provisoire que l’on accorde à soi-même et à autrui pour multiplier la chance des rencontres.« (S. 187) Doch die neuen Abenteuer scheinen nur die alten Abenteuer zu wiederholen, ohne dass es der Abenteurer bemerkte. Stets ist er zur Gänze fasziniert und sieht nur diese neue Frau, als sei es die einzige, die es für ihn je gebe. Doch in der Wiederholung gleichen sich die Frauen an. Dass die eine gut für die andre eintreten kann, erfährt Casanova schreckhaft am eigenen Leibe, als er im Dunkel der Nacht die Frauen verwechselt, die verachtete Hässliche für die geliebte Schöne nimmt und glaubt, mit der Abwesenden eine der glühendsten Vereinigungen erlebt zu haben, die ihm je beschieden war. Die Erkenntnis der Verwechslung trifft Casanova im Innersten. Madame Roll von Emmenholtz, die in Solothurn vergeblich auf ihn die ganze Nacht gewartet hatte, macht dem Verdutzten am nächsten Tag die bittersten Vorwürfe. Mais comment, me dit-elle, avez-vous pu passer deux heures avec cette femme-là sans vous apercevoir, malgré qu’à l’obscur, que ce n’était pas moi? Je suis humiliée de ce que la différence qui passe entre elle et moi n’a fait aucun effet sur vous. Elle est plus petite que moi, beaucoup plus maigre, elle a dix ans plus que moi, et ce qui m’étonne c’est qu’elle a l’haleine forte. Vous n’étiez pourtant privé que de la vue, et tout vous a échappé. C’est incroyable. (Bd. 6, S. 173)
Casanovas Antwort klingt schwächlich: Sûr d’être entre vos bras, comment pouvais-je trouver en vous quelque chose de dégoûtant? La rudesse même de la peau, ni le cabinet trop commode n’eurent la force de me faire douter, ne de diminuer mon ardeur. (Bd. 6, S. 173)
Es war, wie er gesteht, die »force de l’imagination« (Bd. 6, S. 173), die ihn die Vettel für die jungen Geliebte halten liess. War es aber so, so hat er niemals eine Frau geliebt, sondern stets seine Vorstellung von ihr. Für diese Vorstellung erschuf er sich stets neue Exemplare, die reihenweise für sie eintreten mussten. Wie die Vorstellung wohl sich gleich blieb, so blieben es im Wiederholungszwang auch die Exemplare, auf die er seine wollüstige Vorstellung projizierte.
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Aber da keines mit der Vorstellung zusammenfallen konnte, ergab sich der Zwang zu ihrer endlosen Ersetzung. Ironisch verglich er Frauen mit »pièces« (Bd. 12, S. 69), deren Inhalt immer gleich sei, aber deren Titel wechsle. Mais en parvenant à la posséder, m’apercevais-je que c’était la même dont j’avais joui tant d’autres fois? (Bd. 12, S. 69)
Dass Frauen für Casanova leere Manuskriptflächen waren, hat als einzige wohl die geliebte Henriette gewusst. Als Casanova ihr viele Jahre später auf dem Weg nach Avignon begegnete, erkannte er sie nicht wieder. Sie aber, die ihn sehr wohl im Gedächtnis behalten hatte, verbrachte statt mit ihm die Nacht mit Marcolina, seiner Geliebten. Als beide am nächsten Tag Avignon fast erreicht hatten, übergab Marcolina ihm einen Brief Henriettes. Er enthielt nur seine Adresse und ihren Namen. Das Blatt selbst aber war leer. Sechzehn Jahre waren vergangen, seit Henriette ihn verlassen hatte. Nachdenklich sinniert der Autor, was die Geliebte von ehedem veranlasst haben könnte, sich vor ihm in Aix zu verbergen. Sollten ihre ihre »charmes puissent avoir perdu la force« (Bd. 9, S. 86), die ihn einst gefesselt hatte? Später beschleicht ihn der Gedanke, dass er selbst es hätte sein können, dessen Alter einem »renouvellement« im Wege stand. Mit sechsundvierzig Jahren fühlt er sich nicht mehr jung und bemerkte, dass ihm der Magnetismus fehlte, der ehedem die Frauen an ihn zog. Sein Gesicht begann Runzeln zu zeigen, und Zähne fielen ihm aus. J’avais beau faire, les femmes ne voulaient plus devenir amoureuses de moi; il fallait me résoudre à y renoncer, ou à me laisser mettre en contribution, et la nature me força à prendre ce dernier parti, que l’amour de la vie me fait enfin rejeter aujourd’hui. (Bd. 12, S. 149)
Siege, die Casanova einst spielerisch errungen hatte, musste er nun mit Geld und Demütigungen erkaufen. Die Lebensbahn des Abenteurers neigt sich dem Ende zu, und wo früher Siege lachten, starrten ihn jetzt trübselige Niederlagen an. Geliebte, die er nach zwanzig Jahren wieder aufsuchte, da sie längst verheiratet und sesshaft geworden sind, haben eher Mitleid mit ihm, als dass sie sich für eine Fortsetzung alter Affairen begeisterten. Er ist nicht nur älter, sondern auch ärmer geworden. Manch eine gibt ihm die Juwelen oder das Geld zurück, die er ihnen geschenkt hatte. Dieses blamable Ende seiner Siegesbahn hatte er lange herannahen sehen — noch zu einer Zeit, da ihm gar manche Eroberung glückte. Gleich einem barocken Melancholiker sah der aufgeklärte Libertin hinter heiteren Abenteuern und schönen Gesichtern »la vieillesse, la misère, le repentir toujours tardif, et la mort« (Bd. 12, S. 160) stehen. So kann er denn, als er sich dem Ende seiner Lebensbeschreibung nähert, deren Motiv preisgeben. Die Gedanken an den Tod »tueraient si je ne m’ ingéniais à tuer le temps cruel« (Bd. 12, S. 161). Und so setzt er sich im einsamen Böhmen hin und füllt den Rest seines Lebens damit aus, es zu beschreiben. J’écris pour ne pas m’ennuyer, et je me réjouis, et me félicite de ce que je m’en complais; si je déraisonne, je ne m’en soucie pas (Bd. 12, S. 161)
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Ideengeschichte
Naturphilosophie und Naturwissenschaften Ursula Winter
Jeder Wissenschaft liegt eine metaphysische Entscheidung zugrunde, so betonte Hegel (1770– 1831). Jede wissenschaftliche Aussage trage letztlich einen metaphysischen Charakter. Für Kant (1724–1804) setzte eigentlich so zu nennende Naturwissenschaft zuerst Metaphysik der Natur voraus.1 Gadamer stellte die Frage, ob nicht sogar heute »der einzig legitime Sinn von Philosophie der der Theorie der Wissenschaft« sei.2 Im 18. Jahrhundert, als einem Zeitalter der naturwissenschaftlichen Umbrüche lassen sich enge Verflechtungen von philosophischen und wissenschaftstheoretischen Konzepten nachweisen, ebenso Verbindungen philosophischer und literarischer Strukturen. Schwerpunkte der Darstellung sollen die Naturkonzepte der französischen Aufklärung um 1760 und Positionen der deutschen Naturphilosophie zu Beginn des 19. Jahrhunderts bilden. Philosophie und Naturtheorie der französischen Aufklärung erscheinen bei genauerer Analyse weit komplexer als allgemein dargestellt. Die häufig zu ihrer Charakterisierung verwendeten Termini ›unhistorisch‹, ›mechanistisch‹, ›deskriptiv‹ haben nur partielle Geltung für das philosophische Denken; der vorgeblich naive Glaube der Aufklärer an das unbeschränkte Fortschreiten der menschlichen Erkenntnis wird relativiert durch eine starke erkenntniskritische Strömung, die bereits einige der Fragestellungen von Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) vorwegnimmt. Der Begriff Ambivalenzen umfasst sinnvoll die Vielfalt der Denkansätze der Aufklärung, die, durch Hoffnung in das unbegrenzte Fortschreiten der Vernunft und damit auch von Gesellschaft, Ethik, Kunst und Wissenschaften geprägt, implizit auch die Widersprüchlichkeiten, Relativitäten und Grenzen des eigenen Denkens, vor allem im Bereich der Naturforschung, kritisch zu hinterfragen suchte. Sowohl die Herrschaftsstruktur der modernen Naturwissenschaften gegenüber ihrem Erkenntnisobjekt ›Natur‹, als auch ihre Experimentalstruktur im Bereich des ›bios‹, des Lebenden, wurde bereits in Denkansätzen problematisiert. Das Experimentieren jedoch enthielt schon als Technik »eine philosophische Theorie der Wissenschaft vom Leben, die auf eine Philosophie der Einwirkung der Wissenschaft auf das Leben verweist«.3 Ein Jahrhundert später proklamierte Claude Bernard (1813–1878), dass mit Hilfe dieser aktiven experimentellen Wissenschaften der Mensch zu einem »Erfinder von Phänomenen« werde, zu
1. Kant, Immanuel, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in: Kant, Immanuel, Werkausgabe, Weischedel, Wilhelm (ed.), Frankfurt a. M. 1977 ff., Bd. 9: Schriften zur Naturphilosophie, S. 13 f., Frankfurt a. M. 1996 (9. Auflage); siehe auch Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Einleitung in die Geschichte der Philosophie, Hoffmeister, Johannes (ed.), Hamburg ³1959, S. 41 ff. 2. Gadamer, Hans-Georg, Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1976, S. 125. 3. Siehe Canguilhem, Georges, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie, Lepenies, Wolf (ed.), Frankfurt a. M. 1979, S. 87. Canguilhem spricht hierzu von einer »wahrhaft prometheischen Idee der experimentellen Medizin und der Physiologie« bei Bernard (ibid).
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einem »wahrhaften Vorarbeiter der Schöpfung«. Man könne »in dieser Hinsicht der Macht, die er durch die künftigen Fortschritte der experimentellen Wissenschaften über die Natur erringen wird, keine Grenzen zuweisen«. Diese Grenzen sollten auch in der Folge nicht gesetzt werden, weder im Makrokosmos des Universums noch im Mikrokosmos, der experimentellen Veränderung von Atomkern und Zellkern. Ausgehend von kritischen Texten der Zeit muss die Frage gestellt werden, inwieweit in diesem Zeitraum die Sprache der Mathematik, ursprünglich ein Diskurs der Erkenntnis, sich zu einem Herrschaftsdiskurs innerhalb der Wissenschaften entwickelt, der andere Diskursebenen nicht mehr zulässt, somit Methode und Gegenstand von Forschung mit dem Alleinanspruch auf Wissenschaftlichkeit eingrenzt. Die Bestrebungen zu einem Wechsel des Paradigmas in der Naturforschung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, die dem Konzept einer durch Materie und Bewegung geprägten, nach mathematisch-quantitativen Prinzipien erfassbaren Wirklichkeit das Konzept einer dynamischenergetischen, durch Eigengesetzlichkeit der Lebensprozesse und durch Genese in der Zeit geprägten, mit latenten Gestaltungs- und Bewusstseinsstrukturen ausgestatteten Natur gegenüberstellten, sind sowohl bei Vertretern der französischen Aufklärung — Maupertuis (1698–1759) und Diderot (1713–1784) — wie auch in der deutschen Naturphilosophie — so bei Goethe (1749–1832) — nachzuweisen, jeweils auch in Auseinandersetzung mit Leibnizschen Konzepten und Entdeckungen der biologischen Wissenschaften. Ein unmittelbarer Austausch philosophischer Ideen zwischen Deutschland und Frankreich wurde neben den Akademieberichten ermöglicht durch die Correspondance littéraire, von Goethe wie folgt definiert: »Die oft genannte und noch jetzt respektable Korrespondenz, womit Herr von Grimm sein Paris in Verbindung mit der übrigen Welt zu erhalten wusste«.4 In der Philosophie und Wissenschaftstheorie des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts bestand ein enger Kontext innerhalb der europäischen »République des lettres«, eine Art Vernetzung von Denkstrukturen, Problemhorizonten und epistemologischen Fragestellungen, denn, so Goethe, es dürfe »keine patriotische Kunst und keine patriotische Wissenschaft« geben. Beide müssten, »wie alles hohe Gute, der ganzen Welt [angehören] durch allgemeine freie Wechselwirkung aller zugleich Lebenden«.5 Kennzeichnend für dieses Zeitalter grundlegender wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Umbrüche sind das Experimentieren mit neuen Formen und die Priorität der offenen philosophischen und literarischen Form. Essai de Cosmologie (1750) nennt Maupertuis seine naturwissenschaftliche Studie über den Kosmos, Essai sur la formation des corps organisés benennt er in der zweiten Auflage seine Schrift zur Naturforschung. Die Tradition der Montaigneschen Essais wird teilweise bewusst aufgenommen, um sowohl eine literarische Form, als auch eine Form der Erkenntnis zu bezeichnen, die sich als »enquestante et non resolutive« versteht. Als eine grundlegende Einflussebene des philosophischen Denkens muss die Entwicklung in Astronomie und Physik angesehen werden. Der Umsturz der traditionellen Kosmologie durch das kopernikanische Weltbild — »from the closed World to the infinite Universe«, so die
4. Goethe, Johann Wolfgang, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, Richter, Karl / Göpfert, H. G. / Miller, N. / Sander, G. (eds.), München 1985 ff., Bd. 7 (1991), S. 707. 5. Goethe, Johann Wolfgang, Werke, op. cit., Bd. 17, S. 698.
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Formulierung Koirés —, zerstörte die traditionelle Vorstellung der Welt als eines endlichen, geschlossenen und hierarchisch geordneten Ganzen.6 Durch die Entdeckung der Gravitationsgesetze gelang es Isaac Newton (1643–1727), die neue Unendlichkeit des Universums in mathematischen Gesetzmässigkeiten zu erfassen, ein ungeheurer Triumph der menschlichen Erkenntnis. Aus der Unendlichkeit des Raumes werden die Planeten mittels des Teleskops an das menschliche Auge ›herangerückt‹, die Planetenbahnen werden der Berechnung durch die menschliche Ratio zugänglich. Das von Newton formulierte Gravitationsgesetz wurde in England als das kosmische Grundgesetz gefeiert. In seinem Geleitwort zu den Principia bezeichnet Edmund Halley (1656–1742) Newton als denjenigen Sterblichen, der den Göttern am nächsten stehe. Für Pope (1688–1744) in Essay on Man (1733 / 1734) war es Newton, der in das Dunkel der Natur das Licht brachte, hatte er doch die Unendlichkeit des Universums dem Zugriff der Forschung unterworfen. Der Naturforscher wird zur Gottähnlichkeit stilisiert: Newton, den Göttern nahe, Franklin, der neue Prometheus. Stolz betont Rousseau (1712–1778) im Discours sur les Sciences et les arts (1750) die Fähigkeit des Menschen, er könne, der Sonne gleich »parcourir, à pas de géant, ainsi que le soleil, la vaste étendue de l’univers.«7 Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1755 trägt den bezeichnenden Untertitel: Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprünge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt. Der Philosoph solle, so Kant, der Natur »durch alle Unendlichkeit der Zeiten und Räume hindurch [folgen›] die ganze grenzenlose Weite der unendlichen Räume mit Welten ohne Zahl und ohne Ende« zu erfassen suchen. Der Unendlichkeit des Universums entspricht die »Unendlichkeit der Zeitabläufe«: »Millionen, und ganze Gebürge von Millionen Jahren.«8 Ähnlich auch Diderot 1753 in De l’Interprétation de la nature: Auf die Entwicklung der Tierarten bezogen sieht er »des millions d’années entre chacun de ces développements«, im Kommentar zur Philosophie von Hemsterhuis in demselben Kontext »quelques centaines de milliards d’années.«9 Die Dimension der Unendlichkeit des Wirklichen bestimmt als eine der Kategorien das philosophische und wissenschaftstheoretische Bewusstsein. Newtons Forschungsergebnisse, von der Royal Society längst anerkannt und durch die Schriften Voltaires, Maupertuis’ und Mme du Châtelets dem französischen Publikum früh vermittelt, fanden nur zögernd Eingang in die französische Académie des Sciences. Unter dem Einfluss Fontenelles hatte die Tourbillon-Theorie Descartes’ (1596–1650) lange in der Akademie
6. Siehe auch Lovejoy, Arthur O., Die grosse Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens (The great Chain of being. A study of the History of an Idea), Frankfurt a. M. 1985, S. 125, der nach der Würdigung mittelalterlicher Raumvorstellungen dennoch urteilt: »Aber obgleich so die mittelalterliche Welt, verglichen mit dem Menschen und seinem Planeten, gewaltig war, so blieb sie dennoch eindeutig endlich und eingehegt.« Ebenso ibid: »Die Menschen […] lebten noch in einem ummauerten Universum.« 7. Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur les sciences et les arts, Paris, 1971, S. 27 8. Kant, Immanuel, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, in: Werkausgabe, op. cit., Bd. 1, S. 335. 9. Diderot, Denis, Pensées sur l’Interprétation de la nature (Titel der Erstausgabe von 1753: De l’Interprétation de la nature), in: ders., Œuvres complètes, Varloot, Jean u.a. (eds.), Paris 1981, Bd. 9, S. 95. Siehe auch Diderot in: Hemsterhuis, François, Lettres sur l’homme et ses rapports, avec le commentaire inédit de Diderot, May, Georges (ed.), New Haven 1964, S. 219.
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dominieren können. Überdies entstanden wissenschaftstheoretische Bedenken: Die Gravitation sei eher eine »qualité occulte« denn eine wissenschaftliche Kategorie, da sie voraussetzt, dass die Materie fähig sei, über die Entfernung hinweg auf andere Materie einzuwirken. Erst nach Vorliegen der Ergebnisse der berühmten Lappland-Expedition, von Maupertuis, Clairaut und anderen Wissenschaftlern 1737 zur Messung des Meridians am Pol zum Beweis Newtonscher Theorien unternommen, dann auch durch die Ergebnisse der Peru-Expedition bestätigt, entschied sich die Mehrheit der Akademie-Mitglieder nach und nach zur Übernahme der Newtonschen Konzepte. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich im Bereich des Mikrokosmos: Durch die wissenschaftliche Nutzung des Mikroskops seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird die Welt der Mikroorganismen erschlossen. Für den Menschen, so betont Lovejoy, sei dies »eine sich eröffnende ZWEITE Unendlichkeit der Natur.«10 Im 18. Jahrhundert mussten so zwei grundlegende wissenschaftliche Revolutionen, in der Astronomie und in den biologischen Wissenschaften, in das Bild der Wirklichkeit integriert werden. Die Philosophie Descartes’ stellt eine weitere Einflussebene philosophischen und naturwissenschaftlichen Denkens in der Aufklärung dar. Trotz der scharfen Kritik der Aufklärer am metaphysischen Systemdenken, in Condillacs (1714–1780) Traité des Systèmes (1749) systematisch zusammengefasst, prägte das Denken Descartes’ weiterhin die Problemstellungen und den Fragehorizont der Naturphilosophie. So setzt sich noch Kant in seinen Frühschriften, so der Wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1746 / 1747), mit Descartes’schen und Leibnizschen Modellen der Naturtheorie — in partiell sehr positiver Einschätzung Descartes’ — auseinander. Für Descartes erschien wahrhaftes philosophisches Wissen nur dann gesichert, wenn es der Vernunft gelingt, nach der ersten Phase radikalen Zweifels von einer höchsten, durch eingeborene Ideen erkannten Grundgewissheit aus die Gesamtheit der Wirklichkeit abzuleiten. Dies geschieht — in Analogie zur Mathematik — durch die Methode des Beweises und der strengen Schlussfolgerung, in deduktiver Ableitung aus den ersten Prinzipien. So gab es für Descartes im Universum — durch die eingeborenen Ideen verbürgt — zwei essentiell verschiedene Substanzen, res extensa und res cogitans. Von ihnen her, so Descartes in den Principia philosophiae (1644), sollen allein alle Naturerscheinungen erklärt werden können, und zwar so, dass ihre Wahrheit nicht bezweifelt werden könne. Dieser absolute Wahrheitsanspruch beruht auf Gott als Garant der Erkenntnis, der dem Menschen die eingeborenen Ideen als lumen naturale »eingepflanzt« habe, darunter auch die mathematischen Prinzipien. So sehr Descartes’ dualistische Substanzenlehre allgemein im Aufklärungsdenken angegriffen wurde, so nachhaltig beeinflusste dagegen seine Physik, seine Kosmologie, von dem epistemologischen Ansatz und vom Materiekonzept her das philosophische und naturwissenschaftliche Denken. Für Descartes ging die Physik von den rein geometrischen Eigenschaften der Materie aus und sucht zu zeigen, wie in ihnen alle anderen Bestimmungen der Körperwelt vollständig enthalten sind. Alle Eigenschaften der Materie, einschliesslich der Undurchdring-
10. Lovejoy, Arthur O., op. cit., S. 187. Hierzu siehe auch Bachelard, Gaston, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes (La formation de l’esprit scientifique), Lepenies, Wolf (ed.), Frankfurt a.M. ³1984, S. 307, der betont, dass nach der kopernikanischen Revolution »das ganze 17. und 18. Jahrhundert hindurch […] sich mit den mikroskopischen Entdeckungen am anderen Ende der Erscheinungen das gleiche Problem gestellt« habe.
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lichkeit und der Schwere, lassen sich auf die blosse Ausdehnung, also eine geometrische Funktion, zurückführen, die Mathematik wird methodisch bestimmend für die Physik. In seiner Kosmologie erkennt Descartes noch einen Gott als ›Beweger‹ an, der die Materie erstmals in Bewegung setzt. Die Materie wird jedoch — nach diesem ersten Anstoss — von unveränderlichen mathematischen Gesetzmässigkeiten bestimmt. Auch die Lebensphänomene werden von Descartes als nach mechanistischen Prinzipien strukturiert angesehen, der tierische Körper als eine Maschine. Descartes’ mathematische Methode der Naturerkenntnis, ebenso sein mechanistischer Materiebegriff prägten wesentliche Strömungen des 18. Jahrhunderts, nach Ansicht Capras sogar grundlegende Strukturen des wissenschaftlichen Denkens der Neuzeit überhaupt.11 Voltaires Konzepte, in denen die Welt als Maschine, Gott als der »éternel machiniste« bezeichnet wird, der, nachdem er der Welt den ersten Bewegungsimpuls gegeben hat, nicht mehr aktiv in die nach Naturgesetzlichkeiten ablaufenden Mechanismen eingreift, sind ebenso von Descartes’ Kosmologie beeinflusst wie die Strömung des mechanistischen Materialismus. Selbst Rousseaus religiös-metaphysisches Denken, im Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikars im vierten Buch von Emile (1762) dargestellt, enthält Elemente Descartes’schen Denkens. Rousseau sieht in dem unermesslichen Weltall nur Materie und ihre Bewegung. Da er sich die Materie nicht anders als tot, unbelebt, empfindungslos vorstellen kann, könne es nicht nur eine einzige Substanz, die Materie, geben, denn die Freiheit des Menschen beweise die Immaterialität der Seele, die den Körper überlebt. Da die ersten Ursachen der Bewegung nicht in ihr selbst liegen, muss es einen obersten Willen geben, der ihr Bewegung verliehen hat, ebenso weist die Gesetzmässigkeit des Universums auf einen Schöpfer. In der Tiefe der Seele verfügen wir über ein angeborenes Prinzip, das Prinzip der Gerechtigkeit, nach dem wir nicht nur unsere Handlungen, sondern auch die der anderen als wertvoll oder böse anerkennen. Zum mechanistischen Materialismus kann man neben einigen Manuskripten der »littérature clandestine« den Arzt La Mettrie (1709–1751) mit seinen Hauptschriften L’Homme-Machine und Histoire naturelle de l’Ame (1748) und den Baron d’Holbach (1723–1789) rechnen, der 1770 sein Système de la nature publizierte. Im mechanistischen Materialismus wurde die Materie nunmehr als bereits mit Bewegung begabt konzipiert, ein in der Aufklärung — so bei Toland — heftig diskutiertes Theorem. Wurde die Bewegung als eine essentielle Eigenschaft der Materie anerkannt, so entfiel die ›Funktion‹ Gottes als des ersten Bewegers, »le monde se suffit«. La Mettrie weitete diese auf Descartes’ kosmologischem Denken beruhenden Konzepte von Materie und Bewegung auf den Bereich des menschlichen Bewusstseins und der Ethik aus: »Posé le moindre principe de mouvement, les corps animés auront tout ce qu’il leur faut pour se mouvoir, sentir, penser, se repentir et se conduire, en un mot, dans le physique et dans le moral, qui en dépend.« Wenn Vaucanson, so La Mettrie, mehr Kunst darauf verwenden musste, um seinen mechanischen Flötenspieler als seine Ente zu konstruieren, so hätte eine abermalige Steigerung seiner Kunstfertigkeit genügt, ein sprechendes Wesen als mechanische Konstruktion
11. Capra, Fritjof, Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild, München ³1988, S. 107 ff. und S. 123 f.; siehe hierzu auch Heisenberg, Werner, Physik und Philosophie, Berlin 1959, S. 120 f.
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zu erschaffen, denn der menschliche Körper sei nichts anderes als eine ungeheure und mit höchster Kunsttechnik und Geschicklichkeit gebaute Uhr.12 Wegen der Skandalwirkung seiner — sofort verbotenen — Schrift musste La Mettrie zu Friedrich II. nach Preussen flüchten, wo ihm, wie vielen anderen, intellektuelles Asyl gewährt wurde. La Mettries Philosophie beruht auf medizinischen und physiologischen Theorien, die auf Galilei und Descartes zurückgehen und als »Iatromechanismus« bezeichnet werden. Die Entdeckung des Blutkreislaufes durch Harvey unterstützte den Standpunkt der mechanistischen Physiologie, von Canguilhem auch als »die Methode der mathematischen Medizin«13 bezeichnet. Der Mediziner Baglivi sagt in seiner Praxis Medica von 1696: »Der menschliche Körper besteht wie in den davon abhängigen Wirkungen aus Zahl, Gewicht und Mass.« Der Physiologe F. Hoffmann spricht in seiner Schrift De natura morborum medicatrice mechanica von 1699 sogar der heilenden Natur die Kräfte und Gesetze künstlicher Maschinen zu, während die gleichzeitig in England »moderne« Richtung der Physiologie in Newtons Anziehungskraft ein Erklärungsmodell für Lebensphänomene wie Ausscheidung und Muskelkontraktion suchte. Holbach, ebenfalls ein Vertreter des mechanistischen Materialismus, betont im Système de la nature, Existieren bedeute nichts anderes als der Bewegung fähig und in Bewegung begriffen zu sein, sie in sich zu erhalten, zu empfangen und weiterzugeben, die Stoffe, die geeignet seien, das eigene Wesen zu stärken, an sich heranzulassen, und diejenigen, die es schwächen könnten, von sich abzustossen. Das Sein einschliesslich das des Menschen ist hier evident als Funktion von Materie und Bewegung konzipiert, Anziehen und Abstossen — Grundprinzipien der bewegten Materie — bestimmen das menschliche Verhalten. Zu diesen mechanistischen Ansätzen der Erklärung menschlicher Bewusstseinsstrukturen entwirft Claude Adrien Helvétius (1715–1771) in den beiden Schriften De l’Homme (postum 1773) und De l’ Esprit (1758) ein ebenfalls auf mechanistischen Prinzipien beruhendes Konzept der ›Ethik‹: Die Motive menschlichen Handelns lassen sich letztlich darauf reduzieren, Reize zu vermeiden, die als unangenehm empfunden werden, und Reize zu suchen, die als angenehm konzipiert werden, auch hier evident die Analogie zur bewegten Materie mit den ihr zugeschriebenen Kräften von Anziehung und Abstossung, zum Prinzip der Gravitation. Dieses dem Materiemodell analoge Muster menschlicher Verhaltensstrukturen lehnt bereits Diderot in seinen zu beiden Schriften verfassten Réfutations (1773 /1774) scharf ab. Interessant hierzu ist die Tatsache, dass er bereits vor seiner literarischen Schaffensphase in Anmerkungen zu Silhouettes Pope-Übersetzung des Essay on Man, die 1736 erschien, in der Kritik einer Passage den Begriff »machine« für den Bereich des Lebenden ablehnte, eine Auslassung des Begriffes für die Übersetzung vorschlug.14 Ebenfalls in Analogie zu mathematisch-naturwissenschaftlichen Denkformen, wenn auch
12. La Mettrie, Julien Offray de, L’Homme machine, Vartanian, Aram (ed.), Princeton 1960, S. 190; siehe auch ibid S. 186 ff. Zur Entwicklung der Maschinenmetapher siehe: Maschinenmenschen. Referate der Triestiner Tagung, Glaser, Horst Albert / Kämpfer, Wolfgang (eds.), Frankfurt a. M. 1988. 13. Canguilhem, op. cit., S. 71. 14. Diderot, Œuvres complètes, op. cit., Bd. 1 (1975), Observations sur la traduction de An Essay on Man de Pope par Silhouette, S. 219.
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von anderen philosophischen Positionen ausgehend, entwarf Maupertuis, Präsident der Preussischen Akademie der Wissenschaften, ein Modell der Ethik, in dem er die Prinzipien der Moral in einer mathematischen Formel zu erfassen sucht, explizit in Parallele zum Newtonschen Gravitationsgesetz: »En général, l’estimation des moments heureux ou malheureux est le produit de l’intensité ou du plaisir ou de la peine par la durée«,15 das menschliche Glück wird konzipiert als mathematisch definierte Relation der Grössen, Intensität und Dauer. In der Psychologie sollten die Begriffe von Lust und Unlust ihrer bisherigen Unbestimmtheit entkleidet und auf eine sichere ›wissenschaftliche‹ Grundlage gestellt werden. Man musste — als festen Massstab — eine Skala aufstellen, auf die sich die einzelnen Werte von Lust und Unlust beziehen. Nur eine Verbindung von Psychologie und Mathematik konnte die Begrifflichkeit für einen streng-exakten Ausdruck dieser Relationen bieten. Kant verwirft in seiner Frühschrift Versuch den Begriff der negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen (1763) in Maupertuis’ Thesen den Einsatz mathematischer Kriterien. Die Summe könne nur von gleichartigen Komponenten gezogen werden, für die »Mannigfaltigkeit der Rührungen« träfe dies nicht zu. Einen weitaus breiteren Publikumserfolg als die Schriften des mechanistischen Materialismus hatte die Vielzahl der Schriften, die dem Beweis Gottes aus den Wundern der Natur galten, zu verzeichnen. Lovejoy spricht in The great Chain of Being (1933) von einer ›kosmischen Begeisterung und Frömmigkeit‹16 des 18. Jahrhunderts. Von Popes Essay on Man wurden allein zwischen 1736 und 1739 drei Übersetzungen ins Französische mit je mehreren Auflagen publiziert. Eine der bekanntesten Schriften dieser Richtung, Nieuwentyts L’Existence de Dieu démontrée par les merveilles de la nature, fand eine Fülle von Nachfolgern, die Gott in immer weiteren Phänomenen der Natur glaubten beweisen zu können, so Derhams Théologie physique ou démonstration de l’existence de Dieu et des attributs de Dieu tirés des œuvres de la création (1713) und Lessers Veröffentlichungen, von denen hier nur die 1742 ins Französische übertragene Théologie des insectes benannt werden soll: Selbst im Bau der Insekten sieht man die waltende Hand Gottes. Von der englischen Philosophie, von Toland und Clarke wurde ein neues Konzept der Religion auf natürlicher Grundlage unterstützt. Die Naturphilosophie Shaftesburys (1671–1713), die auch durch die Diderotsche Übersetzung, von An Inquiry concerning Virtue, or Merit (1699), die Naturkonzepte des 18. Jahrhunderts mit prägen konnte, verband in weit komplexerem philosophischem Ansatz den Natur- und Gottesbegriff. Ästhetik, Naturphilosophie und Religion sind im Denken Shaftesburys eng verbunden. Wahrheit und Schönheit treffen in ihren letzten Prinzipien zusammen in der ihnen gemeinsamen Kategorie der Form. Dass alles Wirkliche an der Form teilhat, nicht ungeordnete Masse ist, sondern inneres Ebenmass besitzt, Formung, rhythmische Ordnung und Regelhaftigkeit: An diesem Phänomen zeigt sich die »übersinnliche« Herkunft der Natur, das Göttliche in ihr. Der Mensch ist das einzige Wesen, das die Form der Dinge als Schönheit wahrnehmen kann. Diese Erkenntnis von Schönheit und Form erwächst nicht aus dem Begehren von etwas, sondern aus dem reinen Schauen. An dieser Fähigkeit der Betrachtung, gemischt mit Wohl-
15. Maupertuis, Pierre Louis Moreau de, »Essai de philosophie morale«, in: ders., Œuvres, Tonelli, Giorgio (ed.), Hildesheim / New York 1974, Bd. 1, S. 195. 16. Lovejoy, op. cit., S. 228
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gefallen, von jedem Interesse frei, entwickelt sich sowohl das Glück des Menschen als auch das künstlerische Schaffen. Es ist das Prometheische Element, das freie innere Entwerfen und Wirken, in dem sich das Göttliche im Menschen und im Universum manifestiert. In Shaftesburys Denken zeigt sich — neben Platos Einfluss — der der neuplatonischen Schule von Cambridge. Eine weitere wesentliche Einflussebene des philosophischen Denkens der Aufklärung ging vom englischen Empirismus aus, dessen philosophische Problemstellung sich bis zu einer radikalen Infragestellung grundlegender Erkenntnisvoraussetzungen verdichtete. Gemäss den Theorien John Lockes (1632–1704), dessen Schrift Essay concerning human understanding bereits 1700 durch Pierre Coste in französischer Übersetzung publiziert wurde, ist das menschliche Bewusstsein bei der Geburt eine Tabula rasa. In Anlehnung an das aristotelische Axiom »Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu« beruht für Locke alle menschliche Erkenntnis allein auf den Sinneswahrnehmungen. Von hier aus musste eine der wesentlichen epistemologischen Problemstellungen des 18. Jahrhunderts die Frage nach Struktur und Objektivität der sinnlichen Wahrnehmung sein, von konkreten Fragen der Blindenoperationen und der Übereinstimmung von Gesichts-, Tastsinn und Gehör, problematisiert in Diderots Lettre sur les Aveugles (1749) und Lettre sur les Sourds et Muets (1751), bis zur Entwicklung aller bewusstseinsmässigen und intellektuellen Prozesse allein aus den Sinneswahrnehmungen, von Condillac am Beispiel der durch fortschreitende Sinneswahrnehmungen belebten Statue dargestellt, die zu immer differenzierteren Lebensformen hingeführt wird. Dem Baconschen Postulat folgend, den gesamten menschlichen Verstand neu zu erschaffen, um seine Struktur zu verstehen, bezeichnet Condillac dieses Gedankenexperiment als ›Naturgeschichte der Seele‹. Der Sensualismus der Aufklärung übte in Frankreich bestimmenden philosophischen Einfluss bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus. Der Nationalkonvent hatte 1796 im Nationalinstitut eine besondere Abteilung für ›die Analyse der Empfindungen und der Ideen‹ geschaffen. Destutt de Tracy (1754–1836) schlug vor, den Namen durch ›Ideologie‹ zu ersetzen, daher die Namensgebung ›Idéologues‹ für die Gruppe der Denker. In seinem Hauptwerk Eléments d’Idéologie von 1801 glaubt er, die Realität der Wahrnehmungen durch den Begriff des Widerstandes der äusseren Welt sichern zu können, erklärt Gefühle und Moral aus den physiologischen Zuständen des Nervensystems. Cabanis (1757–1808), ein weiterer Vertreter der Idéologues, publiziert 1802 Les rapports du physique et du moral de l’homme, in denen er die physiologischen Ursprünge der Sinnesempfindungen, die beständigen Beziehungen der physiologischen und psychischen Vorgänge stringent verfolgt. Jede Infragestellung und Kritik der Sinneswahrnehmungen musste vom sensualistischen Denken her als eine grundlegende Kritik an der Objektivität der menschlichen Erkenntnis begriffen werden. Die radikale Fragestellung Berkeleys (1685–1753), ob wir berechtigt seien, über unsere Sinneswahrnehmungen hinaus überhaupt auf eine unabhängig von unserem Bewusstsein existierende reale Aussenwelt Schlüsse zu ziehen, und die radikale Fragestellung David Humes (1711–1776) in der Enquiry concerning human understanding (1748), inwieweit wir über das in der Erfahrung gegebene zeitliche Nacheinander von Ursache und Wirkung hinaus überhaupt deren notwendige Abfolge und Gesetzlichkeit behaupten können — diese beiden Problemstellungen wurden relevant vor allem für den Bereich der Naturerkenntnis und stellten deren
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Grundlagen überhaupt in Frage. Das Forschungssubjekt, der Mensch, wurde von Hume nunmehr als ein »bundle or collection of different perceptions«17 definiert. Neben der Infragestellung der Realität der Aussenwelt und der Gültigkeit des Kausalitätsprinzips entwickelte sich in der Aufklärung eine dritte Form grundlegender Erkenntniskritik: die Frage nach der Übereinstimmung der Sinneswahrnehmungen - nunmehr einzige Erkenntnisquelle — mit dem zu erkennenden Objekt und die Frage nach der Objektivität des Raumes. Bereits der homogene Raum erweist sich in der Auswertung der Experimente bei Operationen an Blindgeborenen, — in ihrer epistemologischen Bedeutung von Locke, William Molyneux, Berkeley, Cheselden, Voltaire, Condillac, Diderot problematisiert — als eine Abstraktion: Es gibt ebenso viele Raumvorstellungen, wie es Sinne gibt, jeweils mit einer ihnen eigentümlichen Struktur. Der optische Raum, der Tastraum und der Raum für Bewegungsempfindungen stehen in rein empirischer Verbindung, keiner von ihnen kann mit dem Wahrheitsbegriff äquivalent erfasst werden. Auch für die Übereinstimmung von Sinnesempfindung und Objekt gibt es keinen Garanten: Die Objektivität der Sinneswahrnehmungen wird radikal von Maupertuis (1698–1759) in seinen Lettres (IV: De la maniere dont nous appercevons, 1752) infragegestellt: »L’étendue, comme ces autres [sensations] n’est qu’une perception de mon âme transportée à un objet extérieur sans qu’il y ait dans l’objet rien qui puisse ressembler à ce que mon âme apperçoit.«18 Wir können nur Erscheinungen wahrnehmen, die nichts über die Dinge aussagen. Dies gilt auch für die Zuordnung der Dinge im Raum. Die menschliche Erkenntnis beruht lediglich auf Perzeptionen des menschlichen Bewusstseins, auf dessen Modifikationen, die nichts über die Objekte der Aussenwelt aussagen. Ähnliche Aussagen lassen sich in der Correspondance d’Alemberts (1717–1783), in Voltaires (1694–1778) Schrift Le philosophe ignorant (1766) und in Rousseaus Emile nachweisen. Strömungen der heutigen Wissenschaftstheorie, so Kuhn, gehen ebenfalls von grundlegender Relativität der menschlichen Wahrnehmung aus, und zwar situiert zwischen dem Empfang eines Reizes und dem Gewahrwerden der Empfindung durch modifizierende Prozesse im Nervensystem.19 Maupertuis’ Aussage: »Nous vivons dans un monde où rien de ce que nous appercevons ne ressemble à ce que nous appercevons. Des ètres inconnus excitent dans notre âme […] toutes les perceptions qu’elle éprouve«,20 entsprechen dem Konzept Diderots in der Lettre sur les aveugles, »les sensations n’ayant rien qui ressemble essentiellement aux objets«21 ebenso wie Condillacs Aussagen im Traité des Sensations, unsere Wahrnehmungen seien nur Beschaffenheiten, »manières d’être«,22 unseres Selbst. Ob wir uns in den Himmel erheben oder in Abgründe hinabsteigen, so Condillac, wir können immer nur unser eigenes Denken wahrnehmen.
17. Hume, David, A Treatise of Human Nature, Selby-Bigge, L. A. (ed.), Oxford ²1978, S. 252. 18. Maupertuis, op. cit., Bd. 2, S. 232. Zur Erkenntniskritik der französischen Aufklärung siehe auch Cassirer, Ernst, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932. 19. Kuhn, Thomas S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 1993 (12. Auflage), S. 207. 20. Maupertuis, op. cit., Bd. 2, S. 232. 21. Diderot, Denis: Lettre sur les aveugles, in: ders.: Œuvres philosophiques, Paris 1964, S. 145 22. Condillac: Traité des sensations, Traité des animaux, Fayard 1984, S. 67
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In der Kritik der reinen Vernunft, einem Werk, dessen grundlegende Bedeutung für die Philosophie in diesem Rahmen nur angedeutet werden kann, untersucht Kant nicht die Natur als Erkenntnisobjekt, vielmehr werden das Erkenntnisvermögen und seine Strukturen zum Untersuchungsobjekt bezüglich der grundlegenden Bedingungen, von denen her allein für den Menschen Erkennen möglich sein kann: Raum, Zeit, Kausalität sind nicht Strukturen der Wirklichkeit an sich, sie sind vielmehr Strukturen unseres Erkenntnisvermögens, durch deren Raster wir allein Wirklichkeit wahrnehmen können, unter die wir im Erkenntnisakt selbst alles Wahrgenommene stellen. Natur können wir demgemäss nur als bereits durch unser Erkenntnisvermögen vorgeprägte, innerhalb der Parameter von Raum, Zeit, Kausalität wahrnehmen. Natur an sich bzw. die Dinge an sich sind uns in der Erfahrung unzugänglich. Auf der Basis des Sensualismus musste eine Kritik der Sinneswahrnehmungen den grundlegenden Zugang zur Objektwelt, zur Natur, und damit die Möglichkeit der Naturerkenntnis infragestellen. Diese kritischen Ansätze zur Subjektivität der individuellen Wirklichkeitsvorstellung beinhalteten überdies Kritik an den sprachlichen Zeichen als Ausdrucksinstrument der multiplen Ansätze subjektiver Wirklichkeitsvorstellungen. Ausgehend von der Erkenntniskritik mussten auch traditionelle Konzepte der Ästhetik infragegestellt und neu reflektiert werden. So war die Kunst nicht mehr Darstellung der Wirklichkeit, vielmehr Darstellung einer Vielfalt von individuellen ›Wirklichkeiten‹. Experimentell wurden im 18. Jahrhundert die Möglichkeiten neuer Formen erprobt, die es erlauben, die Vielfalt der »visions subjectives« adäquat künstlerisch darzustellen, so der Briefroman, der eine kaleidoskopartige Beleuchtung verschiedener Perspektiven der Wirklichkeit ermöglicht. Von der Vielfalt der philosophischen und naturwissenschaftlichen Strömungen des Jahrhunderts geprägt ist auch die Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers (1751–1772), ein intellektuelles und kommerzielles Unternehmen der Aufklärung, in dem die Summe aller bisherigen Kenntnisse der Menschheit von einem Spezialistenteam, einer ›société de gens de lettres‹, inventarisiert und der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden sollte. Leiter des Unternehmens waren der Schriftsteller und Philosoph Denis Diderot und sein Freund, der Mathematiker Jean Le Rond d’Alembert, der auch den programmatischen Discours préliminaire zur Enzyklopädie verfasste, später jedoch zurücktrat. Die Mitarbeiter an der Encyclopédie, obwohl dem gemeinsamen Unternehmen verbunden, gehörten unterschiedlichsten philosophischen und naturwissenschaftlichen Richtungen an. Die theologischen Artikel wurden vorwiegend von Vertretern der Sorbonne verfasst, gewagte Kritik an Religion und Kirche wurde oft nur — durch eine Vernetzung von Verweissystemen — indirekt eingefügt. Dasselbe gilt für philosophisch gewagte oder materialistische Thesen, die die Herausgabe weiterer Bände gefährdet hätten. So wurden die philosophischen Artikel vorwiegend aus der angesehenen Philosophiegeschichte Bruckers übernommen, teilweise mit eingefügten Kurzkommentaren, so in den von Diderot verfassten Artikeln. Einen Schwerpunkt stellen neben den Naturwissenschaften die Artikel zu den »métiers«, dem Handwerk, dar, für deren exakte Darstellung Diderot als Herausgeber selbst die Werkstätten der Handwerker aufsuchte. Sowohl in den Artikeln als auch in den Zeichnungen, den »Planches«, werden die Bewegungsabläufe der handwerklichen Tätigkeiten sowie die Funktionsabläufe der Maschinen minutiös und detailgetreu aufgezeichnet. Hier, und keineswegs im Hinblick auf die auf Brucker beruhenden philosophischen Artikel, setzt Goethes bekannte Kritik an der Encyclopédie in
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Dichtung und Wahrheit (1811–1814) an, an der nahezu pedantisch-ausführlichen Darstellung der Maschinenabläufe und Werkzeugfunktionen: Wenn wir von den Enzyklopädisten reden hörten, oder einen Band ihres ungeheuren Werks aufschlugen, so war es uns zu Mute, als wenn man zwischen den unzähligen bewegten Spulen und Weberstühlen einer grossen Fabrik hingeht, und vor lauter Schnarren und Rasseln, vor allem Aug’ und Sinne verwirrenden Mechanismus, vor lauter Unbegreiflichkeit einer auf das mannigfaltigste in einander greifenden Anstalt [die Ateliers], in Betrachtung dessen, was alles dazu gehört um ein Stück Tuch zu fertigen, sich den eignen Rock selbst verleidet fühlt.23
Goethe identifiziert Diderot als Philosophen keineswegs mit den kritisierten Handwerks-, Maschinen- und Atelierdarstellungen oder dem Gemeinschaftsunternehmen Encyclopédie, er widmet ihm vielmehr als Denker in demselben Kapitel einen positiven Sonderabschnitt: Er beurteilt ihn »als mit uns verwandt«, also der deutschen Philosophie der Zeit verwandt, »aber sein Standpunkt war schon zu hoch, sein Gesichtskreis zu weit, als dass wir uns […] an seine Seite setzen können«.24 Goethe begeht auch nicht den Fehler, Diderot mit Holbachs Système de la nature, das Goethe schärfstens ablehnt, gleichzusetzen. Obwohl mit Holbach, Helvétius, D’Alembert, Rousseau befreundet, lässt sich Diderots Denken keineswegs mit den — auch untereinander extrem divergierenden — Konzepten seiner persönlichen Freunde identifizieren. Die Fehlinterpretation dieses Passus aus Dichtung und Wahrheit verstellt den Zugang zu einer Würdigung des Verhältnisses Goethes zu Diderot. Für Descartes war die Geometrie methodisch bestimmend für die Naturforschung. Newton suchte zwar ebenfalls nach universellen mathematischen Prinzipien des Naturgeschehens, jedoch ergänzt durch das Experiment und die Methode des Induktionsschlusses. Sein Erkenntnisweg führt ausgehend von der Erfahrung zu mathematischen Gesetzmässigkeiten. Nicht nur Newtons Naturtheorie, sondern auch seine Regulae philosophandi wurden als modellhaft für Philosophie und Naturforschung angesehen, hatte Newton doch beweisen können, dass das Universum tatsächlich durch die exakten Begriffe der mathematischen Erkenntnis adäquat erfassbar ist. Kant referiert die Ansicht, dass »Gott beständig die Geometrie ausübet […] und dieses auch in den Wegen der allgemeinen Naturgesetze hervor leuchtet.«25 D’Alembert hält die philosophische Entwicklung mit Newton für abgeschlossen, denn »Newton […] parut enfin, et donna à la philosophie une forme qu’elle semble devoir conserver.«26 Gegenüber dem Prioritätsanspruch der mathematischen Naturerklärung klingt es wie eine Ketzerei, wenn Diderot erklärt: »Le règne des mathématiques n’est plus.«27 Gegenüber dem Primat der mathematisch-physikalischen Naturerklärung setzte um die Mitte des Jahrhunderts eine zweite, grundlegende Wende in der Naturforschung ein, von Yvon Belaval
23. Goethe, op. cit., Bd. 16, S. 520. 24. Ibid., S. 520 25. Kant, op. cit., Bd. 1, S. 362. 26. D’Alembert, Jean le Rond de, Discours préliminaire de l’Encyclopédie, Picavet, F. (ed.), Paris 1904, S. 100. 27. Diderot, Denis, Correspondance, Roth, Georges (ed.), Paris 1955, Bd. 11, à Voltaire, fevr. 1758.
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als »crise de la géométrisation de l’univers« gekennzeichnet.28 Die Naturansicht der Chemie, der Biologie,29 der Physiologie war grundsätzlich der Reduktion der Natur auf quantitativ messbare Beziehungen zwischen den Naturerscheinungen entgegengesetzt. In den Lebensprozessen wurde man sich eines Gebietes der Natur bewusst, das den Denkmöglichkeiten der mathematisch-physikalischen Naturerklärung verschlossen war. Kant betont bereits 1746 kritisch in der Schrift Von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, die Körper der Mathematik seien von ihr selbst definiert und festgelegt: »Folglich ist der Körper der Mathematik ein Ding, welches von dem Körper der Natur ganz unterschieden ist, und es kann daher etwas bei jenem wahr sein, was doch auf diesen nicht zu ziehen ist«,30 ähnlich Diderots Kritik, die Objekte der Mathematik seien abstrakt-ideale Konstrukte ohne Bezug zur Erfahrungswelt »un monde intellectuel où ce que l’on prend pour des vérités rigoureuses perd absolument cet avantage quand on l’apporte sur notre terre«, denn »c’est une espèce de métaphysique générale où les corps sont dépouillés de leurs qualités individuelles.«31 Ähnliche Aussagen kann man heute in einer von Relativitäts- und Quantentheorie veränderten Physik nachweisen: »Eine mathematische Theorie an sich sagt nichts über unsere Welt aus, da die benutzten Begriffe und Axiome willkürlich sind und keinen anschaulichen Inhalt haben.«, und zur theoretischen Physik: »Physik konstruiert im Experiment und mehr noch in der Theorie die Objekte, um die es ihr in ihrer Wirklichkeit geht.«32 Goethe präzisiert, es sei nicht eine Kritik der Eigenleistungen, sondern des Herrschaftsanspruches der Mathematik über andere Wissenschaften: »So wird es niemand einfallen, das Verdienst der Mathematiker gering zu schätzen […] indem sie alles, was der Zahl und dem Mass im höchsten Sinne unterworfen ist, zu regeln, zu bestimmen und zu entscheiden wissen«. Jedoch müsse sich der Mathematiker »des Dünkels entäussern, als Universalmonarchen über alles zu herrschen, sie werden sich nicht mehr beigehen lassen, alles für nichtig für inexact, für unzulänglich zu erklären, was sich nicht dem Calcul unterwerfen lässt.«33 Klarer kann man den mathematischen Diskurs als Herrschaftsdiskurs nicht definieren. Gemäss dem doppelten Anspruch der Mathematik, zum Monopol der Forschungsmethode
28. Belaval, Yvon, »La Crise de la géométrisation de l’univers dans la philosophie des Lumières«, in: Revue internationale de philosophie VI, 1952, S. 337–355 29. Der Begriff »Biologie« wird erstmalig zwischen 1800 und 1802 gebraucht. Siehe hierzu Lepenies, Wolf, Das Ende der Naturgeschichte, Frankfurt a. M. 1978, S. 29. 30. Kant, Immanuel, op. cit., Bd. 1, S. 169. 31. Diderot, op. cit., Bd. 9, S. 29. Vergleiche hierzu auch Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes, Moldenhauer, Eva / Michel, Karl Markus (eds.), Frankfurt a. M. 1986, S. 44: »Die Evidenz dieses mangelhaften Erkennens, auf welches die Mathematik stolz ist und womit sie sich auch gegen die Philosophie brüstet, beruht allein auf der Armut ihres Zwecks und der Mangelhaftigkeit ihres Stoffs […] Ihr Zweck oder Begriff ist die Grösse […] Das Wirkliche ist nicht ein Räumliches, wie es in der Mathematik betrachtet wird; mit solcher Unwirklichkeit, als die Dinge der Mathematik sind, gibt sich weder das konkrete sinnliche Anschauen noch die Philosophie ab.« 32. Die andere Hälfte der Wahrheit. Naturwissenschaft. Philosophie. Religion, Audretsch, Jürgen (ed.), München 1992, S. 43 ff. Siehe hierzu auch Heisenberg, op. cit., S. 144 f. 33. Goethe, op. cit., Bd. 17, S. 950. Vergleiche hierzu auch ibid., S. 931 (Aus dem Nachlass) über die Mathematiker: »[D]urch das Grosse was sie leisteten haben sie sich zur Universal Gilde aufgeworfen und wollen nichts anerkennen als was in ihren Kreis passt.«
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wie zum Monopol der Definition von Wissenschaft, musste ein neues Konzept der Natur wie auch eine andere Methode der Naturforschung entworfen werden. Das Bewusstsein eines wissenschaftlichen Bruches, eines grundlegenden Paradigmenwandels um die Jahrhundertmitte lässt sich an einer Vielzahl von Texten der Aufklärung nachweisen. Während d’Alembert im Essai sur les éléments de philosophie (1750) in allgemeinerer Form ein »changement remarquable dans nos idées« und eine »révolution de l’esprit humain«34 konstatiert, spricht Diderot explizit vom Beginn einer wissenschaftlichen Revolution: In seiner 1753 erstmals, dann 1754 in zweiter Auflage erschienenen Schrift Pensées sur l’Interprétation de la nature verkündet er den Bruch: »Nous sommes au moment d’une grande révolution dans les sciences.« Für die Naturforschung als »art expérimental« müssen die »lois de l’investigation« formuliert werden, als deren konstitutive Elemente Beobachtung, Hypothese und Experiment benannt werden, nicht mehr Zusammenfassung des Wirklichen in mathematischen Formeln.35 Ausgehend von der Beobachtung der Natur, bildet der Naturinterpret Hypothesen mit positiver Erkenntnisfunktion, die wiederum der systematisch-kritischen experimentellen Prüfung unterworfen werden. Die oberste Entscheidungsinstanz in dieser Methodologie ist ohne Zweifel die Experimentation, die selbstkritisch, unvoreingenommen, gründlich, systematisch, sorgfältig und vollständig durchgeführt werden soll. Eine Fülle von Vorschriften zur Experimentation durchziehen die Interprétation de la nature sowie andere Schriften Diderots, so den dritten Entretien des Rêve de d’Alembert. Die Natur wird als Einheit in der Mannigfaltigkeit und im Wechsel postuliert bzw. axiomatisch vorausgesetzt, wobei der Begriff der Einheit sowohl strukturell als auch kausal aufgefasst wird. Hypothesen und Theorien, oft auf Analogieschlüssen beruhend, entstehen aus der »intuition«, auch als »pressentiment«, »divination«, »anticipation« bezeichnet. Die Einsichten des Forschers, die sich oft ›blitzartig‹ dem Naturforscher als Einheitskonzept oder verbindende Struktur offenbaren, sind keineswegs irrationalen Ursprungs, sie beruhen vielmehr auf einer, durch lange Naturbeobachtung erworbenen Kenntnis der Naturphänomene, die, im Unterbewusstsein latent gespeichert, plötzlich assoziativ in sein Bewusstsein dringen und eine Gesamtansicht, eine Theorie, eine Reduzierung von Phänomenen auf ein Grundphänomen erkennen lassen. Dies erinnert an Kants Unterscheidung von diskursiver und intuitiver Erkenntnis, ein Konzept, das Goethe in bezug auf die Naturerkenntnis reflektiert. Diese Aufwertung der Hypothesen steht in evidentem Gegensatz zu Newtons Postulat »Hypotheses non fingo« und wurde dank seines ungeheuren Ansehens von seinen Anhängern zum methodischen Axiom aufgewertet. Der Bereich der Wirklichkeit, der nicht von der mathematischen Forschung beherrscht war, wurde als »sciences des faits« oder »sciences d’observation« definiert, mit dem ausschliesslichen Anspruch des Auflistens und Inventarisierens des immer umfangreicher werdenden Materials, so in Linnés gigantischem Klassifizierungswerk.36 So ist für d’Alembert, Diderots engem Freund, nicht nur Wissenschaft, sondern auch die Philosophie eine »science des faits«, in der — in Anlehnung an Newtons Postulat — jede Form von Hypothesen radikal ausgeschlossen sein sollte.
34. D’Alembert: Essai sur les éléments de philosophie ou sur les principes des conaissances humaines, Fayard 1986, S. 9 35. Diderot, Pensées sur l’Interprétation de la nature, op. cit., S. 30. 36. Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, op. cit., S. 23 ff.
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Diderot vertritt eine wissenschaftliche Form des Denkens, die sich selbst als immer nur approximativ, als Suche nach der Wahrheit in der Naturforschung sieht, in dialektischer Beziehung von Theorien und experimenteller Verifizierung, aus der jeweils ein Denkmodell, nicht eine absolute Aussage über die Natur hervorgeht. In diesem Zusammenhang weist Georges Canguilhem in seiner Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie Diderot einen bedeutsamen Platz für die »fortschreitende Befreiung der Physiologie aus der Hörigkeit der Mathematik und für die Konstituierung einer begrifflich wie technisch eigenständigen und ihrem Gegenstand angemessenen Wissenschaft« zu. Canguilhem warnt explizit, »Diderots Wissensstand und Scharfblick zu verkennen.«37 Das Wesentliche in Diderots Methodologie ist — neben der Erkenntnisfunktion der Hypothesen — die Betonung der Experimentalstruktur der Wissenschaften vom Lebenden, der Physiologie und der späteren Biologie. Dies bedeutet jedoch ein neues Verhältnis des Menschen gegenüber der Natur, die nicht mehr — wie in der Beobachtungswissenschaft — in ihrer Integrität respektiert wird: Claude Bernard definiert die Zielsetzung der Beobachtungswissenschaften am Beispiel der Astronomie als »découvrir et prévoir les lois des phénomènes naturels«. In den Experimentalwissenschaften jedoch unterliegt das Verhältnis Forscher-Natur einer entscheidenden Wandlung: Die Zielsetzung ist nicht mehr nur »prévoir«, sondern »les régler à son but et de s’en rendre maître«. Durch die Methode sanktioniert, finden vielmehr Eingriffe, Veränderungen statt, die Natur wird für das Experiment ›präpariert‹, verändert, letztlich beherrscht. Diderot vereinigt in seiner Methodologie drei Tendenzen naturwissenschaftlicher Forschung, deren langfristige Folgen erst heute definiert werden können: einmal die des experimentellen Zugangs auf die Natur, bei Bacon angelegt, dessen drastische Formulierungen zur Naturforschung und Herrschaft über die Natur: »Dissecare naturam! Naturam operando vincere! Regnum hominis!« berühmt geworden sind. Sie zeigen die enge Verbindung von Forschungsstrukturen und Machtstrukturen schon sehr früh. Die zweite Tendenz ging vom Materialismus und Naturalismus des 18. Jahrhunderts aus, in dem die Möglichkeit formuliert wird, den Menschen als hochdifferenzierte Molekül- bzw. Zellverbindung in die Natur mit einzubeziehen als eine Gattung unter anderen. Die dritte Tendenz ist das starke wissenschaftliche Interesse an der Genetik, so die Kreuzungsexperimente mit verschiedenen Tierarten. Auch die ›philosophes‹ selbst beschäftigten sich mit Kreuzungsversuchen, um Einblicke in die Gesetzmässigkeiten der Vererbung zu erhalten. Mittler für den experimentellen Ansatz ist die Chemie, die strukturell eine experimentierende und verändernde Wissenschaft ist. Sie kombiniert die Elemente, die sie in der Natur findet, mit der Zielsetzung, neue Verbindungen zu schaffen. Maupertuis gilt als ein Vorläufer der Genetik, der die Phänomene von Mutation und Selektion klar formuliert und bereits ein transformistisches Konzept auf der Grundlage von Vererbung und Mutationen erarbeitet habe. Maupertuis’ Schriften weisen auf Gefahren und extreme Möglichkeiten der Weiterentwicklung der experimentellen Naturwissenschaften in Medizin, empirischer Psychologie und Genetik hin, so in der Lettre sur le Progrès des sciences. Im Système de la nature legt Maupertuis ein philosophisches Erklärungsmodell für die Entstehung von Organismen dar, die Vénus physique, eine wissenschaftliche Studie, die eine
37. Canguilhem, op. cit., S. 69; siehe auch ibid., S. 72.
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kompetente Darstellung aller bisherigen Vererbungs- und Fortpflanzungstheorien sowie aller bekannten Forschungsergebnisse in kritischer Analyse enthält. Er schlägt systematische Serien von Sektionen an Weibchen in verschiedenen Entwicklungsstadien des Embryos vor, um die Entwicklung der Eizelle im Körper der Mutter zu studieren. Zu den Experimenten des englischen Anatomisten Harvey, dem König Charles I. alle Tiere seines Parks für Sektionen überlassen hatte, weist Maupertuis bereits auf die, die Neuzeit charakterisierende klinisch-emotionslose Distanz zum experimentellen Objekt hin, die Gefahren eines »massacre savant« aufzeigend: »immolant tous les jours aux progrès de la Physique quelque biche […] disséquant leurs matrices et examinant tout avec des yeux les plus attentifs.«38 Für den Bereich Vererbung, Monstrositäten, Kreuzung der Arten schlägt er selbst gewagte Kreuzungsexperimente vor, so mit Menschen am Beispiel Vater Neger — Mutter Weisse, dann, direkt folgend, Kreuzungen von Stute und Esel. Ähnliche Experimente problematisiert Kant in Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788): Er spricht von »einem Probeversuch, der die Verwerflichkeit meines Prinzips beweisen soll, nämlich dass der schwarzbraune Habessinier mit einer Kafferin vermischt, der Farbe nach keinen Mittelschlag geben würde, weil bei der Farbe einerlei, nämlich schwarzbraun ist. Nimmt man jedoch die braune Farbe des Habessiniers als angeboren an, und zwar so, dass in vermischter Zeugung mit einer Weissen notwendig eine Mittelfarbe geben müsste so würde der Versuch freilich so ausschlagen, wie Herr F. will.«
Dieser »projektierte Versuch« beweise nichts und »bestätigt die Rechtmässigkeit meiner Forderung, Zeugungen von denselben Eltern im Auslande zu diesem Behuf vorziehen.«39 Wohlgemerkt handelt es sich bei Kant um fiktive Experimente. Maupertuis dagegen fordert zu Kreuzungen der Arten neue, gezielte und gewagtere Experimente in der Realität. »Pousser plus loin les expériences«, ist sein Postulat. Maupertuis selbst hatte jahrelang systematisch mit Tierkreuzungen experimentiert und wies gern die Produkte dieser Kreuzungen vor, die »l’art et les générations« in neue Gattungen, »des espèces«, verwandelt habe. Adanson und Charles Bonnet berichten von erfolgreichen Kreuzungen, Bonnet 1762 von Hahn und »canard«. Réaumur (1683–1757) berichtete, die Experimente erfolgreich fortgeführt zu haben und erfolgreich »lapin« und »poule« gekreuzt zu haben, was von Albrecht von Haller bestritten wird. Er sagt in seinen 1774 ins Französische übersetzten Eléments de physiologie, obwohl er sich der Freundschaft des bekannten Herrn Réaumur rühme, könne er diese »copulation« keineswegs für möglich halten.40 Die Kreuzungsversuche und die Schaffung neuer Tierarten werden von namhaften Naturforschern der Zeit in Theorie und Praxis ernst genommen. In Kapitel 3, der Produktion neuer Spezies gewidmet, fordert Maupertuis, über zufällige Kreuzungen in der Natur hinaus, die ihn wissenschaftlich nicht zufriedenstellen, gezielte und planmässige Experimente in Analogie zu den Tierzüchtungen und -kreuzungen auch mit
38. Maupertuis, op. cit., Bd. 2, S. 36. 39. Kant, op. cit., Bd. 9, S. 154 f. (Kursivsetzungen von Kant). 40. Maupertuis, op. cit., Bd. 2, S. 108 ff. (chap. III: Productions de nouvelles especes). Siehe auch Guyénot, Emile, Les Sciences de la vie aux XVIIe et XVIIIe siècles. L’idée d’ évolution, Paris 1941, S. 64 ff. und S. 384 ff. sowie Ehrard, Jean, L’Idée de nature en France dans la première moitié du XVIII siècle, 2 Bde., Paris 1963.
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Menschen. Der Mensch wird hier evident als potentielles Objekt, ja Material genetischer Forschung konzipiert. Für Kreuzungsexperimente mit Menschen schlägt Maupertuis als optimales Experimentierfeld den Serail eines Sultans vor: »Pourquoi ces Sultans blasés dans des sérails qui ne renferment que des femmes de toutes les especes connues, ne se font-ils pas faire des especes nouvelles?«41 Noch weiter gehen seine Vorschläge zu experimentellen Kreuzungen in der Lettre sur le progrès des sciences. »Rendre possible des générations forcées« sei ein Ziel, indem man erst in derselben Gattung diese »unions artificielles« vornehme, dann die Experimente ausweite auf die Gattungen »que la Nature porte le moins à s’unir«. Er erwartet die Schaffung neuer Monstren, neuer Tiere und — eventuell — sogar neuer Gattungen »que la nature n’a pas encore produites«.42 Durch die »unions artificielles« soll eventuell sterilen Individuen die Fortpflanzung ermöglicht werden. Maupertuis erwägt weiterhin an Kriminellen experimentelle Eingriffe in die menschliche Gehirnstruktur zu Forschungszwecken: »[D]es découvertes sur cette merveilleuse union de l’âme & du corps, si l’on osoit en aller chercher les liens dans le cerveau d’un homme vivant.«43 Dieser Gedanke wird von Diderot als Einschub in den Artikel Anatomie der Encyclopédie aufgenommen. Eine weitere Zielsetzung der experimentellen Forschung soll die Bewusstseinsmanipulation durch Experimente sein, die experimentelle Zielsetzung: »modifier l’âme« erscheint als eine erschreckende Voraussicht der Möglichkeiten künftiger Wissenschaftsentwicklung. Bei experimentell gezielter Anwendung von Bewusstseinsdrogen wie Opium sollen die psychischen Wirkungen getestet werden. Zur experimentellen Prüfung von Sprachverhalten und Begriffsbildung regt er Experimente an, die jahrelange Isolierung von Kindergruppen verschiedener Nationen ohne jeden Aussenkontakt beinhalten. Die Thesen Maupertuis’ zur künftigen Entwicklung der experimentellen Naturwissenschaften belegen, dass hier Gefahren und Ambivalenzen vorausgesehen werden. Im Konzept des »mélange des espèces«, auf den Menschen ausgeweitet, liegt evident der Berührungspunkt zwischen biologisch-experimenteller Forschung und Konzepten von Moral und menschlicher Würde. In diesem Zusammenhang steht Diderots gedanklicher Entwurf der Kreuzung und Züchtung einer neuen Nutztier-Nutzmensch-Kombination im dritten Teil des Rêve de d’Alembert: gezielte Serien von Experimenten, sorgfältig vorbereitet, die äusseren Bedingungen angleichend, mit dem Ziel der experimentellen Kreuzung von Mensch und Ziege wegen ihrer für die Gesellschaft nützlichen Eigenschaften, zur Entlastung des Menschen von unwürdiger Arbeit. Die Erschaffung einer neuen Gattung ist für Diderot ein ›schöpferischer Akt‹. Wer mag angesichts der Entwicklung der Genetik mit Züchtung abstrus deformierter Nutztierarten und Nutzpflanzen hier noch von Absurdität sprechen? Diderot weist hier klarsichtig auf inhärente Möglichkeiten einer wert ›freien‹ experimentellen Forschung hin; trotz seines Postulats einer uneingeschränkten Forschung jedoch scheint ihm hier eine Grenze erreicht, wenn Bordeu im
41. Maupertuis, op. cit., Bd. 2, S. 110. Siehe hierzu Winter, Ursula, »Quelques aspects de la méthode expérimentale chez Diderot«, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 263, 1989, S. 504 ff. 42. Maupertuis, op. cit., Bd. 2, S. 420 f. 43. Ibid., S. 410 f.
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Dialogue sagt: »La question de morale marchait la première.«44 Der Mensch, bisher Höhepunkt der Schöpfung, wird Objekt, Material der Experimentation. Wie bereits bei Maupertuis’ Vorschlägen zu Kreuzungen ist der Mensch in diesem Kontext zum Testmaterial reduziert; er trägt — so Horkheimer — als Objekt der modernen Wissenschaft ›die Beliebigkeit des Exemplars‹ in sich.45 Die Erschaffung einer neuen Gattung ist für Diderot ein ›schöpferischer Akt‹: »L’art de créer des êtres qui ne sont pas, à l’imitation de ceux qui sont, est de la vraie poésie.«46 Dem ›den Göttern nahen‹ Physiker Newton, dem ›neuen Prometheus‹ Franklin folgt nunmehr der erschaffende, schöpferische Genetiker. Diderot weist auf die Gefahren dieser ›schöpferischen Akte‹ der Genetik hin: Durch die enorme Fruchtbarkeit und hierdurch bedingte schnelle Vermehrung dieser neuen Spezies würden sie den Menschen zum Untergang verurteilen: Sie müssten — im Interesse des Menschen — rechtzeitig wieder zerstört werden. »A la longue il faudra les assommer ou leur obéir.«47 Wer denkt hier nicht an die Warnung des Mephisto angesichts der Erschaffung des künstlichen Menschen aus der Retorte, des homunculus: »Am Ende hängen wir doch ab von Kreaturen die wir machten?«48 Sicher hat hier Diderot — wie so häufig — ein Paradox formuliert, jedoch — ähnlich Goethes Zauberlehrling — mit ernsthaften Implikationen. So beurteilt Goethe diesen Teil des Rêve de d’Alembert keineswegs als Scherz, als müssige Salonplauderei, vielmehr als die gewagten Vorschläge des »verwegene[n] Diderot«.49 Gleichzeitig mit der sich entwickelnden Kritik an der mathematischen Methode überschreiten neue Forschungsergebnisse im Bereich des Organischen evident das mechanistische Erklärungsmodell lebender Strukturen und die mathematischen Modelle der Medizin, so das Phänomen der Regeneration des Polypen, von dem englischen Forscher Abraham Trembley entdeckt, eine Sensation innerhalb der Naturforschung, die sofort wegen ihrer philosophischen Implikationen Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen wurde. Keineswegs handelt es sich hier um Freude an Monstrositäten im Sinne des Kuriosen, vielmehr ging es in den 1744 in Leyden publizierten Mémoires pour servir à l’histoire d’un genre de polype d’eau douce à bras en forme de corne um die wissenschaftlich-experimentelle Erforschung der Funktionen lebender Organismen. Trembley ist ein Schüler Réaumurs, der seine Entdeckungen begeistert rezensiert. Réaumur hatte bereits 1712 in einer Mémoire vor der Académie des Sciences einen Beitrag zu Regenerationsphänomenen gehalten: Sur les diverses reproductions qui se font dans les écrevisses, les homards, les crabes etc. et entre autres sur celle de leurs jambes et de leurs écailles. Maupertuis, als Mathematiker und Astronom bereits sehr angesehen, fragt, wie Diderot, nach naturphilosophischen Implikationen: »La vie, divisible comme la matière, sera-t-elle réunissable comme elle?« und schlägt systematische Experimente mit allen Tiergattungen vor, um ihre
44. Diderot, Denis, Œuvres philosophiques, Vernière, Paul (ed.), Paris 1964, S. 381. 45. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1971, S. 13. 46. Diderot, Denis, Œuvres philosophiques, op. cit., S. 374 f. 47. Ibid., S. 384. 48. Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, München, 1970, S. 130 49. Goethe, Werke, op. cit., Bd. 12, S. 19 (Zur Morphologie. Der Inhalt bevorwortet).
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Glieder auf mögliche Regenerationsfähigkeit zu prüfen. Die Forschungen Trembleys werden fortgeführt von dem ebenfalls namhaften Spallanzani (1729–1799), der 1768 seine Forschungsergebnisse über die Regeneration der Regenwürmer, Schnecken und Salamander vorlegen konnte, wurde doch hier eine bisher ungeahnte Gestaltungskraft der Natur, die Eigengesetzlichkeit organischer Prozesse, eine Art ›Schöpferkraft‹ der Natur in der Erneuerung zerstörter Partien experimentell belegt. Hätten sich Maschinen, hätte sich der von Vaucanson konstruierte Flötenspieler selbst reparieren, verlorene Teile aus sich selbst ersetzen können? Réaumur berichtet, dass er, als er erstmals die Polypenexperimente selbst wiederholte, seinen Augen nicht zu glauben wagte — und dass das gleiche Erstaunen auch nach dem einhundertsten Experiment noch bei ihm vorhanden war. Forschungsergebnisse, die ein komplexeres Naturkonzept voraussetzen, werden von Haller (1708–1777), Needham und Vertretern der Ecole de Montpellier vorgelegt: In Hallers Elementa physiologiae corporis humani, zwischen 1757 und 1766 veröffentlicht, 1771 ins Französische übersetzt und mit lebhaftem Interesse aufgenommen, werden Phänomene der »irritabilité« nachgewiesen, von Haller als nicht mechanistische Phänomene des lebenden Organismus ausgewertet. John Tuberville Needham publiziert 1745 seine New microscopical discoveries, 1750 bereits ins Französische übersetzt, arbeitet dann seit 1746 mit dem berühmten Naturalisten Buffon (1707–1788), dem Verfasser der Histoire naturelle générale et particulière (1749–1788) zusammen an einer Experimentenreihe, in deren Verlauf sie — in einer anorganischen Flüssigkeit — die Entstehung lebender Mikroorganismen nachweisen konnten. Maupertuis kommentiert in der Lettre sur le progrès des sciences: »Les observations microscopiques de M. de Buffon & de M. Needham nous ont découvert une nouvelle nature.«50 Die Entdeckungen werden im 18. Jahrhundert nicht nur aus Sensationslust oder Neugier auch von der gebildeten Gesellschaft so interessiert aufgenommen: Es ist, wie Maupertuis es treffend formuliert, eine vollkommen neue Natur, die sich in diesen Experimenten zeigt. Erst Pasteur konnte dieses Experiment endgültig widerlegen. Auch hier, in den sofort berühmt gewordenen Buffon-Needhamschen Experimenten, scheint — wie in den Ergebnissen Trembleys zum Polypen — die Natur eine schöpferische Kraft zu zeigen, die die mechanistischen Kategorien überschreitet. Bedeutsam sind auch die Entdeckungen neuer Eigenschaften der Materie: Boerhaave setzte die Energien der physikalischen Elemente mit denen des lebenden Organismus in Zusammenhang. Durch die Experimente Franklins und Priestleys zur Elektrizität wurden bisher unbekannte Energien der Materie nachgewiesen. Mit der Entdeckung der statischen Elektrizität und der Möglichkeit, die elektrische Kraft zu speichern, bewiesen durch die Konstruktion der Leydener Flasche von 1746, zeigen sich von neuem bisher unbekannte Energien in der scheinbar leblosen Materie. Ein weiteres Element in Richtung auf eine komplexere Definition der Natur stellt das von der medizinischen Schule von Montpellier entdeckte Phänomen der »sensibilité« lebender Organismen dar: wieder ein nicht auf mechanistische Denkkategorien reduzierbares Phänomen des Lebendigen.
50. Maupertuis, op. cit., Bd. 2, S. 422. Zur Entwicklung einer »Scienza dell’uomo« auf der Basis von Physiologie und Anatomie im 18. Jahrhundert vgl. Moravia, Sergio, Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung (La Scienza dell’Uomo nel Settecento), München 1973.
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Kant hat diese Problematik in der Allgemeinen Naturgeschichte (1755) präzisiert. In Bewunderung Newtons könne man ohne Vermessenheit sagen: »Gebet mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen.« Die Frage jedoch: »Gebt mir Materie, ich will euch zeugen, wie eine Raupe erzeuget werden könne?«, wird von ihm verneint. Eher könne der Ursprung der ganzen gegenwärtigen Verfassung des Weltbaues eingesehen werden, »ehe die Erzeugung eines einzigen Krauts oder einer Raupe, aus mechanischen Gründen deutlich und vollständig kund werden wird.«51 Hiermit setzte ein grundlegender Wechsel des Paradigmas in den Wissenschaften vom Lebenden ein. Die Gestaltungskräfte der Natur, ihre formgebenden Strukturen werden sowohl bei Maupertuis und Diderot, als auch bei Kant und Goethe als Grundphänomen der Natur angesehen. Wir beobachten eine Kontinuität von Fragestellungen von der Naturphilosophie der französischen Aufklärung bis zum Sturm und Drang. Dem Bereich der belebten Natur werden gegenüber dem Anorganischen qualitativ andere Bestimmungen zugesprochen, deren verschiedene Ausprägungen oft an den Entelechie-Begriff des Aristoteles sowie an das Monadenkonzept von Leibniz erinnern. Entelechie und Monade werden sowohl in der französischen Aufklärung als auch bei Goethe neu interpretiert. Die Leibnizsche Monadologie hat sowohl die Naturkonzepte des französischen Naturalismus als auch die des Sturm und Drang beeinflusst. Maupertuis, dessen Système de la nature von Diderot in der Interprétation de la nature 1753 zum Ausgangspunkt seines eigenen Natur- und Materiekonzeptes gemacht wird, setzt sich intensiv mit der Leibnizschen Monadologie auseinander: Ein grosser Teil seiner Lettres sind der kritischen Prüfung des Monaden-Konzeptes gewidmet. Sehr positiv bewertet Diderot im Artikel »Leibnitzianisme« der Encyclopédie die Leibnizsche Philosophie. Zu untersuchen ist, aus welchen Gründen in einer veränderten historisch-gesellschaftlichen Situation mit neuen Frage- und Problemhorizonten eine bestimmte Begrifflichkeit wieder aufgenommen wird. Um einen Einfluss zu konstruieren, reiche nicht die Übernahme eines Begriffes, so Canguilhem, vielmehr müsse eine Identität des Begriffssystems, aus dem die Begriffe ihren Sinn herleiten, bestehen.52 Da das Leibnizsche Monadenkonzept die Grundbausteine des Seienden nicht als ›inerte‹, sondern als ›Entelechien‹, als gestaltende Kräfte, ansieht, bot die Monadologie ein theoretisches Konzept, das im wesentlichen mit den neuen Entdeckungen im Bereich der Wissenschaften vom Lebenden Übereinstimmungen aufwies. So konnten Grundelemente des Monadenbegriffs modifiziert und in ein neues Konzept von Natur und lebenden Organismen aufgenommen werden. Es liegt jedoch hierbei ein Begriffssystem vor, das essentielle Unterschiede zur Leibnizschen Monade aufweist. Diderots und Maupertuis’ Naturtheorien beziehen sich auf physische, nicht auf metaphysische Einheiten. Auch geht es nicht um das Erfassen absoluter philosophischer Wahrheit, sondern um approximative Denkmodelle, einen referentiellen Rahmen der Forschung. So urteilt Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, die Monaden seien nicht »die epikuräischen Atome […] sondern sie sind substantielle Formen […]
51. Kant, op. cit., Bd. 1, S. 237, Kursivsetzung im Original. 52. Canguilhem, op. cit., S. 22 ff.; siehe auch S. 34 ff.
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sie sind Entelechien, nicht materiell, nicht ausgedehnt.«53 Insofern werden — bei Leibniz, Maupertuis und Diderot — Elemente eines metaphysischen Begriffs in ein jeweils anderes naturtheoretisches Begriffssystem integriert. In Auswertung der neuen Forschungsergebnisse in Chemie und Biologie trat neben das Konzept der in mathematischen Gesetzen erfassbaren, quantitativ definierbaren und mechanistisch bestimmten Materie ein Konzept der Materie, das die Natur insgesamt als dynamisch, energetisch und in fortlaufender Entwicklung begriffen konzipiert und eine Einheit der Natur in der Mannigfaltigkeit der sich entwickelnden Formen und Spezies postuliert. Das energetische Materiemodell ist durch Begrifflichkeiten und Denkstrukturen der Chemie geprägt. Bereits 1753, dann in den Pensées philosophiques sur la matière et le mouvement, definiert Diderot die kleinsten Materieteilchen nicht als geometrische Punkte, als bewegungslose, homogene Masse, sondern als heterogene, mit Bewegung begabte, energetische Einheiten, die aus den ihr innewohnenden Eigenenergien heraus zum Träger der Entwicklung in der Zeit werden: »[D]’où je conclus […] qu’ilexiste une infinité d’éléments divers dans la nature; que chacun de ces éléments. […] a sa force particulière […] d’où naît le mouvement ou plutôt la fermentation générale de l’univers.«54 Die Materie, »pleine d’action et de force«, wird von Diderot hier als Energiezentrum, als Kraftzentrum definiert. Diderot geht von der Unableitbartkeit der Lebensphänomene aus dem Anorganischen aus: Eine mechanistische Erklärung der Lebensphänomene, ein »arrangement de parties« anorganischer Moleküle könne nie Leben der Organismen entstehen lassen. Seine Grundhypothese lautete bereits 1753: Man müsse die Grundphänomene des Lebens in die kleinsten Teilchen der Materie verlegen. Diderot sieht den grundlegenden Einschnitt in der Natur nicht wie Locke und Voltaire zwischen Materie und Geist; der grundlegende Einschnitt ist für ihn die Trennung der Materie in belebte und unbelebte, ist die Entstehung des Lebens. Bei der Bildung der Organismen wird die latente Sensibilität aus der Materie entbunden. Im Rêve de d’Alembert wird diese These in Analogie zur Unterscheidung von potentieller und kinetischer Energie gesetzt: eine latente Sensibilität im Anorganischen, eine entbundene, aktive Sensibilität im Organischen. Der Begriff der ›sensibilité‹, von der vitalistischen medizinischen Schule in Montpellier geprägt, wird als die einheitliche Kraft definiert, die alle Lebenserscheinungen vom Bereich des Anorganischen unterscheidet. Insofern müsste »sensibilité« in diesem gedanklichen Kontext eher als ›Lebenskraft‹ definiert werden, womit allerdings ein ganz konkreter biologischer Sachverhalt, bezogen auf die Struktur der Organismen, umschrieben werden soll. Im Rêve de d’Alembert definiert Diderot Leben und »sensibilité« als fast identisch: »Deux qualités presque identiques: la vie est de l’agrégat; la sensibilité est de l’élément.«55
53. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Teil 4, Garniron, Pierre /Jäschke, Walter (eds.), Hamburg 1993, S. 131. 54. Diderot, Denis, Principes philosophiques sur la matière et le mouvement, in: ders., Œuvres complètes, op. cit., Bd. 17, S. 18; siehe auch ibid., S. 14. 55. Diderot, Œuvres philosophiques, op. cit., S. 367. Siehe hierzu Moravias Forschungskritik, für das 18. Jahrhundert würden »Schlüsselbegriffe wie Organismus, Empfindungsvermögen, Leben nicht eingehend untersucht« (op. cit., S. 11).
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Diderot entwirft zwei Denkmodelle zur Entstehung des Lebens aus der Materie: die »sensibilité générale« als allgemeine Eigenschaft der Materie, in jeder Form der Materie latent vorhanden und in höheren Entwicklungsstufen aus ihr entbunden, oder »la sensibilité produit de l’organisation«. Beide Konzepte sind je einem anderen philosophischen Standpunkt zuzuordnen: Die »sensibilité« als »produit de l’organisation« entspricht einem materialistischen Standpunkt, indem eine qualitative Veränderung bei der Kombination anorganischer Moleküle, eine dialektische Entwicklung von der Quantität zur Qualität, als möglich angesehen wird. Diese Hypothese lehnt Diderot persönlich ab, kann sie jedoch als wissenschaftliche Möglichkeit nicht ausschliessen. Die »sensibilité générale« jedoch stattet die Materie mit Kraft zur Gestaltung in allen ihren Formen aus, auch im Anorganischen. Sie entspricht Diderots Überzeugung. Beide Thesen stehen im Rêve de d’Alembert nebeneinander, oft mit dem Vorwurf der Widersprüchlichkeit und mangelnder logischer Stringenz kommentiert. Doch in der heutigen Physik werden doppelsträngige Modelle akzeptiert, so die Natur des Lichts als Welle oder Korpuskel, die gleichberechtigt — obwohl sich für den Laien gegenseitig ausschliessend — nebeneinander bestehen und jeweils geeignet sind, eine Reihe von Phänomenen zu erklären. Es sei hier an den von Nils Bohr geprägten Begriff der Komplementarität erinnert, der inzwischen zu einem festen Bestandteil des begrifflichen Rahmens geworden ist, in dem Physiker über die Natur nachdenken. Diderots Materiekonzept ist eingebettet in ein Konzept der Natur und des Universums als Einheit, als organisches Ganzes, in dem jeder Teil den anderen bedingt und mit ihm verknüpft ist. Schon 1745 in der Übersetzung Shaftesburys betont er die Einheit des Universums. »Dans l’univers tout est uni. Cette vérité fut un des premiers pas de la philosophie, et ce fut un pas de géant.« Die Einheit wird axiomatisch gesetzt als eine der Grundlagen philosophischen Denkens. »Plus on voit loin dans la nature et plus on y voit d’union.«56 Die Gesamtheit der Phänomene, die miteinander durch das Band der Kausalität verknüpft sind, konstituieren die Einheit der Natur. »L’indépendance absolue d’un seul fait est incompatible avec l’idée de tout; et sans l’idée de tout, plus de philosophie.«57 Für Diderot umfasst die Naturforschung notwendig eine historische Dimension, Naturforschung ist gleichzeitig Geschichte der Natur. In der Interprétation de la nature (1753) wird explizit der Entwicklungsgedanke in die Naturforschung eingeführt, zukünftigen naturtheoretischen Fragestellungen — gleichsam als Vorbedingung — vorangehend: »[P]ourquoi j’ai fait entrer dans quelques-unes de mes propositions les notions du passé, du présent et de l’avenir; et pourquoi j’ai inséré l’idée de succession dans la définition que j’ai donnée de la nature.«58 Diderot bezieht den Entwicklungsgedanken auf die Geschichte des Universums und auf die Entwicklung der Tierarten: Es entwickelten sich in Millionen von Jahren aus der Materie Organismen, die Sinnesempfindungen, Ideen, Denken, Bewusstsein usw. in immer differenzierterer Form, bis hin zum Menschen. Jahrmillionen liegen zwischen den einzelnen Entwicklungsstufen, im Kommentar zu Hemsterhuis heisst es sogar Milliarden von Jahren. Die Umformungen der Materie zu immer differenzierteren Entwicklungsstufen werden ad infinitum angesetzt —
56. Diderot, »Essai sur le Mérite et la vertu«, in: ders., Œuvres complètes, op. cit., Bd. 1, S. 313. 57. Diderot, op. cit., Bd. 9, S. 35. 58. Ibid., S. 93 f.
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auch unser heutiger Status stellt nur einen Punkt in der Entwicklung dar, in der der Mensch — als Teil der Natur — ebenso vergänglich ist wie jede andere Spezies. Jede Finalität, jedes teleologische Denken wird scharf von Diderot als ein Erkenntnishindernis aus der Naturforschung ausgegrenzt. Das Postulat der Kausalverbindung der Naturerscheinungen konstituiert das Universum als Einheit, verknüpft ist es mit dem Gedanken des Werdens, einer Evolution ohne Telos. Bei Diderot ermöglicht die in der Materie latent vorhandene »sensibilité« die Entwicklung von Leben und differenzierten Organismen. Maupertuis geht im Système de la nature ou Essai sur la formation des corps organisés ebenso von der Einsicht aus, dass Leben, Bewusstsein und Denken niemals aus der Koordination unbelebter und unbewusster physikalisch definierter Einheiten entstehen könnten. Hierin berührt er sich mit Kant und Goethe. »Qualques philosophes ont cru qu’avec la matiere et le mouvement ils pouvoient expliquer toute la Nature.« Es folgt die Schlussfolgerung: »Jamais on n’expliquera la formation d’aucun corps organisé par les seules propriétés physiques de la matière.«59 Zur Erklärung der Bildungs- und Formungskräfte in der Natur stattet daher Maupertuis die kleinsten Teilchen der Materie mit Ansätzen von Bewusstsein und Gedächtnis aus: »quelque principe d’intelligence, […] quelque chose de semblable à ce que nous appelons désir, aversion, mémoire.« Der Begriff einer latenten Intelligenz, auch durch den Begriff Instinkt ersetzbar, soll die Fähigkeiten auch der kleinsten Insekten, Pflanzen, Kristalle und Mineralien zur Selbststrukturierung und zum Bau bestimmter Ordnungsstrukturen ausdrücken. Von Korallen und den wunderbaren Formationen der Unterwasserinsekten heisst es: »Dans les unes, les ouvriers batissent avec des matériaux étrangers; dans les autres, [d.i. seine Theorie], les matériaux sont les ouvriers eux-memes.« Maupertuis hält es für legitim, die Selbstgestaltungskräfte, bisher auf die Organismen angewandt, auf die Samen der Pflanzen, sogar auf chemische Substanzen, anzuwenden wegen ihrer Fähigkeit, bestimmte Strukturen zu bilden: »ces corps réguliers, cubiques, pyramidaux.«60 Dies gilt schon für Salze, aufgelöst in einer Flüssigkeit, die sofort wieder Tendenzen zur Formung aufweisen und sich strukturieren. Ähnlich legte Goethe das Schwergewicht auf die Formungs- und Gestaltungskräfte der Natur. Als schönste Metamorphose des anorganischen Reiches bezeichnet er es, »wenn beim Entstehen das Amorphe sich ins Gestaltete verwandelt 〈’〉 jede Masse hat hiezu Trieb und Recht. Der Glimmerschiefer verwandelt sich in Granaten«.61 Auch der Verweis auf kristalline Strukturen zeigt parallele Denkansätze hinsichtlich der Gestaltungskraft des Anorganischen: «Nicht allein der freie Stoff, auch das Derbe und Dichte drängt sich zur Gestalt; ganze
59. Maupertuis, Système de la Nature, in: ders., Œuvres, op. cit., Bd. 2, S. 155 f. 60. Ibid., S. 167; vergleiche ibid. auch zur Gestaltungskraft im Anorganischen: »Broyez ces corps, réduisez-les en poudre, […] ces parties divisées […] auront bientôt repris leur premier arrangement! Ces corps réguliers seront bientot reproduits.« 61. Goethe, op. cit., Bd. 17, S. 928 (Maximen und Reflexionen, zitiert als M R.); vergleiche hierzu Goethe, Die Schriften zur Naturwissenschaft, Leopoldina-Ausgabe, 1. Abteilung, Bd. 2: Schriften zur Geologie und Mineralogie, Schmid, Günther (ed.), Weimar 1949, S. 111: »Alles Materielle kommt uns formlos vor, wenn wir unaufmerksam sind. Aber es hat eine unwiderstehliche Neigung, sich zu gestalten.«
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Massen sind von Natur und Grund aus krystallinisch; in der gleichgültigen formlosen Masse entsteht […] die porphyrartige Erscheinung.«62 Es sei hier betont, dass eine enge Vernetzung von Ideen, Entdeckungen und wissenschaftlichen Fragestellungen zwischen Deutschland und Frankreich besteht. Wenn Buffon im zwölften Band seiner Histoire naturelle die Natur darstellt als »une puissance vive, immense, qui embrasse tout, qui anime tout«,63 dann trennen ihn keine Abgründe vom Sturm und Drang. Das Universum als Maschine, als Uhrwerk, bildet nicht mehr das bestimmende Konzept: Es sind Kraft, Energie und Aktivität, die die Natur prägen. Auch das Universum Diderots ist eine dynamische Einheit, zusammengesetzt aus sensiblen und energetischen Molekülen. Die Begriffe »force active«, »activité«, »action«, »énergie«, die Diderot seit 1753 den kleinsten Teilchen der Materie zuschreibt, konstituieren sein Universum, eine dynamische universelle Vernetzung von energetischen und sensiblen Molekülen, die dauernde Bewegung und Entwicklung im Universum erzeugen. Dies sind die strukturierenden Elemente selbst der anorganischen Natur in den Principes philosophiques sur la matière et le mouvement (1770) Diderots. In der Forschung verlagerte sich das Schwergewicht vom »physicien« zum »physiologue«, die Naturkonzepte entwickeln sich vom Mechanismus zum Organismus, vom Maschinenkonzept zu energetischen Strukturen. Wie Michel Delon in seiner Studie über den Energiebegriff nachweist, prägt dieser ursprünglich naturwissenschaftliche Begriff, durch die Chemie in die Naturtheorien eingeführt, zum Ende des Jahrhunderts weite Bereiche der Literatur und Kunst.64 Zwischen der naturalistischen Philosophie der Aufklärung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts — mit der Betonung der Eigengesetzlichkeit des Organischen — und der deutschen Philosophie des Sturm und Drang besteht kein absoluter Bruch; vielmehr stimmen im naturphilosophischen Bereich einige Fragehorizonte und Problemstellungen überein. Die Ideen von Leibniz, Spinoza, Newton, Pope und Shaftesbury bildeten in Deutschland und Frankreich den Ausgangspunkt philosophischer Spekulationen, ebenso auch die sich in der ›République des Lettres‹ schnell verbreitenden naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse, die — so Lovejoy — durch die Erkenntnisse der Mikrobiologie eine unerschöpfliche Fruchtbarkeit der Natur nachwiesen: Überall, so schien es, gab es Leben. Kein Materieteilchen war so klein, dass es nicht Nahrung und Behausung für noch kleinere Lebewesen bieten konnte. Roy Pascal weist darauf hin, in wie starkem Masse die naturphilosophischen Ideen des Sturm und Drang durch die neuen naturwissenschaftlichen Entdeckungen geprägt wurden. Diese Aussage gilt ebenso für die zweite Phase des Aufklärungsdenkens. Goethe weist auf Gemeinsamkeiten der Entwicklung hin: »Die Franzosen haben dem Materialismus entsagt und den Uranfängen etwas mehr Geist und
62. Goethe, Werke, op. cit. (Münchner Ausgabe), Bd. 12, S. 927 f.; siehe auch ibid., S. 631: »Da der Naturforscher überzeugt ist, dass alles nach Gestalt strebt und auch das Unorganische erst für uns wahren Wert erhält, wenn es eine mehr oder weniger entschiedene Bildsamkeit […] offenbart […].« Siehe auch Goethe, Leopoldina-Ausgabe, op. cit., 1.Abt., Bd. 2, S. 113, CXXII: Entstehung unorganischer Formen: »Wir sagen also: es gibt ein allgemeines Gesetz, nach welchem alle materiellen Massen sich gestalten.« 63. Buffon, Georges Louis Leclerc de: Histoire naturelle et particulière: avec la description Cabinet du Roi, Paris, 1764 (Nachdruck), S. 369 64. Delon, Michel, L’Idée d’énergie au tournant des Lumières (1770–1820), Paris 1988.
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Leben zuerkannt.«65 Auch Buffon und Bonnet, bedeutende Vertreter des französischen Naturalismus, werden von Herder und Goethe geschätzt. Zeitschriften wie die Allgemeine deutsche Bibliothek und der Teutsche Merkur kommentierten regelmässig kürzlich erschienene naturwissenschaftliche Werke. Weitere Vernetzungen wurden durch die französische Kolonie in Preussen hergestellt, sowie durch Maupertuis’ Tätigkeit als Präsident der Akademie der Wissenschaften, der sich bemühte, in der preussischen Akademie namhafte Denker über die Landesgrenzen hinaus zur Zusammenarbeit zu bewegen. Auch Kant zeigt sich in seinen Frühschriften als genauer Kenner der französischen Aufklärung. Er zitiert nicht nur mehrfach Maupertuis, sondern auch Mairan und Mme du Châtelet, ist über deren wissenschaftliche Kontroversen bestens informiert und nimmt selbst dazu Stellung. In der ›République des Lettres‹ nimmt man über die Grenzen hinweg an wissenschaftlichen und philosophischen Neuheiten Anteil. Mme de Staël (1766–1817) sucht in Frankreich Interesse für die literarische Entwicklung in Deutschland zu wecken. Goethe und Schiller tauschen die Neuheiten aus Frankreich aus, mehrfach auch Manuskripte Diderots. Wilhelm von Humboldt (1767–1835) schreibt über Diderot in seinem Brief an Goethe vom 18. März 1799, er habe gerade »die ganze neue Ausgabe seiner Werke [in 15 Bänden] gelesen.« Ein sicher nicht geringes Interesse! Trotz recht kritischer Einschätzung Diderots zieht Humboldt das Fazit, die Lektüre Diderots habe ihn »immer in eine regere Geistestätigkeit versetzt«; ähnlich habe auch Schiller geurteilt.66 Goethe berichtet ausführlich, in welch intensivem Masse in seinem Kreis die intellektuellen Neuigkeiten aus Frankreich, durch die Correspondance littéraire vermittelt, aufgenommen, durchdacht und diskutiert wurden. Durch den Abdruck der Diderotschen Schriften wurde das Interesse an der Correspondance littéraire »höchlich gesteigert«. Da die Schriften »stückweise« kamen, wurden »diese bedeutenden Werke gleich in besondere Hefte abgeschrieben und in jenem Kreise, zu dem ich auch zu gehören das Glück hatte, mitgeteilt«. In den Pausen zwischen den Folgeveröffentlichungen war Zeit, »den Gehalt dieser sukzessiven Trefflichkeiten zu bedenken und durchzusprechen, wodurch wir sie uns auf eine Weise zu eigen machten von welcher man in der spätern Zeit kaum einen Begriff haben möchte«.67 In einem Gespräch mit dem Kanzler von Müller am 24. April 1830 weist Goethe rückblickend noch einmal auf die intensive Form der Auseinandersetzung mit Diderotschen Schriften hin: »Die Franzosen bekommen doch kein 18. Jahrhundert wieder, sie mögen machen, was sie wollen. Wo haben sie etwas aufzuweisen, das mit Diderot zu vergleichen wäre?« Goethe beurteilt das französische 18. Jahrhundert hier sehr positiv. »Als uns dies [Diderots Erzählungen] durch Grimms Korrespondenz in einzelnen Fragmenten zukam, wie begierig fasste man es auf, wie wusste man es zu schätzen! Ja, das war noch eine Zeit, wo etwas Eindruck machte.«68 Sowohl zu dem Naturkonzept Diderots als auch demjenigen Maupertuis’ lassen sich in Goethes Schriften Parallelen aufweisen. Meines Erachtens liegt über Goethes Übersetzungen des
65. Goethe, Werke, op. cit., Bd. 17, S. 692 (Aus Makariens Archiv). 66. Goethes Briefwechsel mit den Gebrüdern von Humboldt 1795–1832, Bratranek, Theodor (ed.), Leipzig 1876, S. 59 ff. 67. Goethe, Werke, op. cit., Bd. 7, S. 707. 68. Ibid., S. 1033.
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Essai sur la Peinture (1765) und des Neveu de Rameau (1761) hinaus ein direkter Bezug zu Diderots Naturphilosophie vor, da Diderots naturphilosophisches Werk, der Rêve de d’Alembert nach Jacques le Fataliste und La Religieuse 1782 in der Correspondance littéraire veröffentlicht wurde. Wie oben dargestellt, hat Goethes Kreis diese Veröffentlichungen in Folgen »begierig« aufgenommen, abgeschrieben und diskutiert. Überdies spricht Goethe in der Morphologie von gewagten Gedanken des »verwegenen« Diderot, den dritten Dialog kommentierend, so dass von hier aus die Kenntnis des Rêve de d’Alembert als ausreichend belegt erscheint. Darüber hinaus gibt es in Goethes Werken eine Reihe von Textstellen, die es wahrscheinlich erscheinen lassen, dass er auch die Pensées sur l’Interprétation de la nature gekannt hat. Diese Schrift war — als eine der wenigen — von Diderot publiziert worden. Hier hatte er sich mit Maupertuis’ Theorie der Entstehung der Organismen und der latenten Bewusstseinsstruktur der Materie auseinandergesetzt und dieser seine eigenen Theorien zur Entstehung der Organismen aus den mit »sensibilité« begabten Teilchen gegenübergestellt.69 Goethe weist auf die fruchtbaren Gespräche mit Freunden hin, die ihren wissenschaftlichen Besitz jeweils im Mitteilen neuer Kenntnisse gegenseitig bereicherten, mit der Wirkung, dass »manches von daher Entsprungene, durch Tradition in der wissenschaftlichen Welt fortgepflanzte« nun Früchte trage, »deren wir uns erfreuen, ob man gleich nicht immer den Garten benamset der die Pfropfreiser hergegeben.«70 Die naturphilosophischen Gedanken erscheinen hier als gemeinsames Eigentum innerhalb der »République des Lettres«. Goethe stellt im zweiten Kapitel seine Arbeitsweise beim Übersetzen des Essai sur la peinture als einen Dialog mit Diderot dar: Er habe erst einmal Diderots Aphorismen und Gedanken »in eine andere Ordnung zusammengestellt« und zur Übersetzung seine Anmerkungen hinzugefügt. Es folgt ein lebhaftes »Gespräch«: «Ich unterhalte mich mit ihm auf neue, ich tadle ihn, wenn er sich von dem Wege entfernt, den ich für den rechten halte, ich freue mich, wenn wir wieder zusammentreffen, ich eifre über seine Paradoxe […] sein Vortrag reisst mich hin, der Streit wird heftig, und ich behalte freilich das letzte Wort, da ich mit einem abgeschiednen Gegner zu tun habe.«71 Anhand von Textvergleichen, im einzelnen mit teilweise wörtlicher Übereinstimmung, ist nicht auszuschliessen, dass Goethe auch Diderots Schrift zur Naturinterpretation rezipiert hat. Zu verweisen wäre überdies darauf, dass 1794 Schiller mit Goethe über ein »Produkt Diderots« spricht, dessen Titel nicht angegeben ist. Der Vergleich einiger gedanklicher Ansätze bei Goethe und Diderot weist auf eine Reihe von konzeptuellen Ähnlichkeiten bezüglich naturtheoretischer, auch methodischer Konzepte hin. Freilich ist hierbei Vorsicht geboten, denn die Frage muss gestellt werden, inwieweit auch in diesem Falle Methodenkonzepte, Begriffe und gedankliche Ansätze bei Goethe in ein letztlich
69. Diderot, op. cit., Bd. 9, S. 77 ff. 70. Goethe, Werke, op. cit., Bd. 12, S. 20 (Zur Morphologie: Der Inhalt bevorwortet). 71. Goethe, Werke, op. cit., Bd. 7, S. 520. Die teilweise wörtliche Übereinstimmung Goethescher Gedanken zur Naturforschung mit Konzepten, die Diderot in der Interpretation de la nature äussert, müssen Gegenstand einer gesonderten Untersuchung sein, zumal die entsprechenden Passagen sich verstreut in Goethes naturwissenschaftlichen Schriften finden.
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anderes kosmologisches Begriffsgefüge eingefügt werden. Wenn Goethe Begriffe und Fragestellungen aufnimmt, so geht doch sein naturphilosophisches Denken weit über die Ansätze des Aufklärungsdenkens hinaus. Wie allgemein bekannt, nahm Goethe seine Tätigkeit als Naturforscher ausserordentlich ernst und war häufig enttäuscht über die geringe Resonanz auf seine naturwissenschaftlichen Veröffentlichungen. In dem ausgezeichneten Sammelband Goethe und die Natur zum Kongress von Triest bemühen sich einige Wissenschaftler, darunter auch Naturwissenschaftler, zu Recht, Goethe als Naturforscher neu zu bewerten.72 Goethe ist seit den frühen achtziger Jahren verstärkt bemüht, über Formen und Wege des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses Rechenschaft abzulegen. Die Methode der Naturforschung, die Goethe in Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt und in einer Vielzahl von weiteren kleinen Schriften darlegt, entspricht — in der Dreiteilung von Beobachtung, Experiment, Hypothese — der von Diderot in der Interpretation de la nature entworfenen Methode. Goethe verweist ebenfalls auf den Wert der erkenntnisleitenden Hypothese, die bei ihm bereits vor der Beobachtung stehe, diese strukturiere und leite, jedoch immer nur approximativen Charakter trage. Den experimentellen Charakter der Naturforschung betont Goethe in starkem Masse. Nicht nur nimmt er selbst an Sezierübungen teil, er entwickelt auch eine Fülle von Vorschriften zum Versuch, dessen wissenschaftliche Funktion er ausserordentlich hoch ansetzt. Sorgfalt, Vervielfältigung der Experimente unter mannigfachen Aspekten und Ausschluss von Voreingenommenheit durch Theorien beurteilt er als wesentlich (Brief an Jacobi, 29. Dez. 1794): «Die Phänomene zu erhaschen, sie zu Versuchen zu fixieren, die Erfahrungen zu ordnen, und die Vorstellungsarten darüber kennen zu lernen, bei dem ersten so aufmerksam, bei dem zweiten so genau als möglich zu sein, beim dritten vollständig zu werden und beim vierten vielseitig genug zu bleiben.«73 Der Erkenntnisweg führt vom empirischen Phänomen zum wissenschaftlichen, d.h. zum experimentell befragten Phänomen, dann letztlich zum »reinen Phänomen«. Zur Erläuterung dieses Begriffes soll Goethes Konzept der »Urphänomene« herangezogen werden, als den »letzten elementaren Gegebenheiten, zu denen Erkenntnis vorstossen kann.« «Wer nicht gewahr werden kann, dass ein Fall oft tausende wert ist, und sie alle in sich schliesst, wer nicht das zu fassen […] imstande ist, was wir Urphänomene genannt haben, der wird weder sich noch anderen jemals etwas zur Freude und zum Nutzen fördern können.«74 Die Reduzierung der Komplexität der Phänomene fordert Diderot ebenfalls. Wirkungen und Ursachen seien auf Grundphänomene zu reduzieren. Wie eine mathematische Kurvengleichung alle Phänomene und Erscheinungsformen einer Kurve erfassen kann, werden sich auch die Phänomene von Magnetismus, Elektrizität und Attraktion als verschiedene Seiten desselben
72. Goethe und die Natur. Referate des Triestiner Kongresses, Glaser, Horst Albert (ed.), Frankfurt a. M. ²1988. In diesem Sammelband erfolgt eine ausgezeichnete grundlegende Neubewertung Goethes als Naturforscher, teilweise unter dem Aspekt neuerer naturwissenschaftlicher Paradigmen. 73. Goethes Briefe, Bd. II, Hamburg 1964, S. 192 74. Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Trunz, Erich (ed.), Hamburg 1969, Bd. 14, S. 91 f., Geschichte der Farbenlehre (in der Folge wird wieder ausschliesslich die Münchner Ausgabe zitiert).
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Grundphänomens erweisen. Diderot erwägt die Möglichkeit, dass es »un phénomène central« gebe, das alle, auch zukünftige Phänomene in sich vereinen würde. Doch da dieses gemeinsame »centre de correspondance commune« noch nicht bekannt sei, blieben die Phänomene isoliert.75 Ähnlich, jedoch auf biologische Phänomene bezogen, hält Goethe es für möglich, »dass sich Klassen, Gattungen, Arten und Individuen wie die Fälle zu einem Gesetz verhalten, [das] als geheimer Bauplan durch sie hindurchgeht.« Die Zurückführung aller Formen auf ein Grundphänomen ist der gemeinsame Leitgedanke: physikalische, pflanzliche und tierische Strukturen sollen auf das Grundphänomen, die Urpflanze, das Urtier zurückgeführt werden, als Modell einer gemeinsamen Struktur. Wahrscheinlicher als die platonisierende Interpretation Schillers, der zu Goethe spontan sagte, die Urpflanze sei eine Idee, erscheint die Heisenbergsche (1901–1976) Interpretation. Er schlägt vor, die Termini Urphänomen, Urpflanze in moderne Begrifflichkeit zu übertragen und von Grundstruktur und Grunderscheinung zu sprechen, da es sich in beiden Fällen um die Zurückführung der gestaltenden Kräfte der Natur auf etwas Einfaches, allen lebenden Gestalten Gemeinsames handle. Auch Buffon und Diderot sehen die Möglichkeit einer Grundstruktur der Tiere. »Quand on voit les métamorphoses successives de l’enveloppe du prototype«, wer würde nicht geneigt sein zu glauben, »qu’il n’y a jamais eu qu’un premier être prototype de tous les êtres?« Der von Diderot verwandte Terminus »Prototyp« weist auf die Funktion des konkret Modellhaften in seinem Konzept hin.76 Ein weiteres Konzept ist die Verbindung bzw. Verknüpfung von allem mit allem im Universum. »In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe, und wenn die Erfahrungen nur isoliert erscheinen, wenn wir die Versuche nur als isolierte Fakta anzusehen haben, so wird dadurch nicht gesagt, dass sie isoliert seien.«77 Auch diese universelle Verknüpfung im Universum charakterisiert Diderots Naturkonzept: Das »tout se tient« ist beinahe ein Leitmotiv seines Denkens. »C’est que, dans la science ainsi que dans la nature, tout [se] tient, et qu’une idée stérile, qu’un phénomène isolé sont deux impossibilités.«78 Giuliano Toraldo Di Francia weist in seiner Untersuchung zu Goethe auf ähnliche Konzepte in der Quantentheorie hin: dass es nicht möglich sei, irgendeinen beliebigen Teil des Universums zu isolieren und unabhängig von allen anderen Teilen, mit denen er bisher zusammengewirkt hat, zu untersuchen. Die untrennbare quantitative Verknüpfung des gesamten Universums sei die Grundtatsache, während die Teile in ihrem relativ unabhängigen Verhalten nur spezielle und nebensächliche Formen innerhalb dieser Ganzheit seien.79 Ähnlich der Forderung Diderots und Maupertuis’ nach Freiheit der Forschung sieht es Goethe als das »schädlichste Vorurteil«, dass »irgend eine Art Naturuntersuchung mit dem Bann
75. Diderot, op. cit., Bd. 9, S. 73 f. 76. Ibid., S. 37f. 77. Goethe, Werke, op. cit., Bd. 12, S. 690. Zu Goethes Kategoriensystem im Bereich der Naturwissenschaften siehe die ausgezeichneten Kommentare John Neubauers und anderer in der Münchner Ausgabe, Bd. 12. 78. Diderot, Denis, Salon de 1767, in: ders., Salons, Seznec, Jean / Adhémar, Jean (eds.), 4 Bde., Oxford 1957–1967, Bd. 3, S. 158. 79. Di Francia, Giuliano Toraldo, »Goethe und die moderne Naturwissenschaft«, in: Glaser, Horst Albert (ed.), Goethe und die Natur. Referate des Triestiner Kongresses, op. cit., S. 83–91.
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belegt werden könne.«80 Weitere Gemeinsamkeiten stellen die Ablehnung teleologischen Denkens, der ›Endursachen‹ für die wissenschaftliche Forschung dar. Ein wichtiger Schritt zur Befreiung der Forschung war die Kritik am Herrschaftsanspruch der Mathematik. In einer Vielzahl von Texten reflektiert Goethe unter verschiedenen Aspekten Rolle und Gefahren des mathematischen Denkens in den Wissenschaften. »Wir müssen erkennen und bekennen, was Mathematik sei, wozu sie der Naturforschung wesentlich dienen könne, wohingegen sie nicht hingehöre und in welche klägliche Abirrung Wissenschaft und Kunst durch falsche Anwendung, […] geraten sei.«81 Wieder wird der mathematische Diskurs als partiell die Naturforschung behindernder Herrschaftsdiskurs benannt, der nur bestehen lässt, was mathematisch erfassbar ist, also nurmehr eine reduzierte Definition von Wirklichkeit und Natur zulässt. «Die grosse Aufgabe wäre die mathematisch philosophischen Theorien aus den Teilen der Physik zu verbannen in welchen sie Erkenntnis anstatt sie zu fördern nur verhindern und in welchen die mathematische Behandlung durch Einseitigkeit der Entwicklung der neuern wissenschaftlichen Bildung eine so verkehrte Anwendung gefunden hat.«82 Immer wieder spricht Goethe vom »Dünkel« der Mathematik, als »Universalmonarch über alles zu herrschen«, dass sie sich zur »Universal Gilde aufgeworfen« habe, nichts anerkenne, »als was in ihren Kreis passt«83 und von ihrem Kalkül her jede andere Form wissenschaftlichen Denkens »für nichtig, für inexact, für unzulänglich zu erklären«.84 Er referiert den Ausspruch eines Mathematikers, »da man ihm ein physisches Capitel andringlich empfehlen wollte: aber lässt sich denn gar nicht(s) auf den Calcul reduzieren.«85 Als Ursachen für dieses Phänomen benennt Goethe bewundernswerte Leistungen der Mathematik, durch die »der menschliche Geist seine Selbständigkeit und unabhängige Tätigkeit gewahr wird, und dieser ohne weitere Rücksicht ins Unendliche zu folgen sich geneigt fühlt, so flösst er zugleich der Erfahrungswelt ein solches Zutrauen ein, dass sie es an gelegentlichen Aufforderungen nicht fehlen lässt.«86 Die Gegensätze der quantitativen und qualitativen Sichtweisen der Natur, des dynamischen und statischen Denkansatzes werden von Goethe problematisiert: »denn eben, wenn man Probleme, die nur dynamisch erklärt werden können, bei Seite schiebt, dann kommen mechanische Erklärungsarten wieder zur Tagesordnung.«87 «Der Mathematiker ist angewiesen aufs Quantitative, auf alles was sich durch Zahl und Mass
80. Goethe, op. cit., Bd. 17, S. 700 (Aus Makariens Archiv). Es sei betont, dass die Aphorismen gemäss Goethes Selbsteinschätzung seine Ideen konzentriert zusammenfassen, dass sie nach und nach für ihn ein Medium zur Klärung grundsätzlicher Fragen werden. 81. Goethe, op. cit., Bd. 17, S. 932 (Aus dem Nachlass). 82. Ibid., S. 932. 83. Ibid., S. 931. 84. Ibid., S. 950. 85. Goethe, op. cit., Bd. 12, S. 690 (Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt). 86. Goethe, op. cit., Bd. 17, S. 931 87. Ibid., S. 931 (Aus dem Nachlass).
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bestimmen lässt«, ihm erscheine alles mechanisch. Betrachten wir jedoch das Universum, so »erkennen wir, dass Quantität und Qualität als die zwei Pole des erscheinenden Daseins gelten müssen«.88 Wie im Naturalismus der französischen Aufklärung wird die Chemie als Leitwissenschaft definiert: »Ganz das Entgegengesetzte ist von der Chemie zu sagen, welche von der ausgebreitetsten Anwendung und von dem grenzenlosesten Einfluss aufs Leben sich erweist.«89 Die Mathematik, so eine weitere Ebene der Kritik, vermag »nichts von allem Sittlichen«, für sie habe »nichts Wert als die Form«.90 Zur Methode der Naturforschung, zum Verhältnis Mensch und Natur analysiert Goethe eine weitere Ebene: die Machtstruktur von Wissenschaft gegenüber der Natur und die durch die Sittlichkeit gegebenen Grenzen der Forschung — auch für die heutige Forschung noch wesentliche Problemhorizonte. Von Jugend an, so Goethe, gewöhne man uns, »die Wissenschaften als Objekte anzusehen, die wir uns zueignen, nutzen, beherrschen können.« Der »zur Beobachtung der Natur aufgeforderte Mensch« fühle, so Goethe, zuerst einen »ungeheuren Trieb, sich die Gegenstände zu unterwerfen«,91 dann erst lerne er, ihre Macht anzuerkennen und ihre Einwirkung zu verehren. Gegenüber der Verbindung von Wissenschaft und Herrschaft, bereits von Bacon betont, ist für Goethe das Herangehen an die Natur auch in der Wissenschaft die Anschauung, also eine die Integrität der Natur respektierende Form der Erkenntnis. Der Ablösungsprozess der Wissenschaften von jedem transzendenten Bezug und von den traditionellen Werten beinhaltet gravierende Konsequenzen. Wo liegen — nach Ausschaltung der Theologie -nunmehr die Grenzen experimenteller Forschung? Experimente, bei denen traditionelle Wertbegriffe und ethische Kategorien explizit ausgeklammert sind, können letztlich auch nicht mehr die menschliche Würde als Grenze der Forschung respektieren. Gegenüber den Gefahren unbegrenzter wissenschaftlicher Forschung fordert Goethe: »In der Naturforschung bedarf es eines kategorischen Imperativs so gut als im Sittlichen.«92 Das Konzept der Einheit der Natur in der Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungsformen ist Goethe und Diderot ebenso gemeinsam wie der Gedanke beständiger Wandlungen in der Natur. Immer wieder setzt sich Goethe mit dem Begriff der Leibnizschen Monade, der Aristotelischen Entelechie auseinander, um die Strukturierungskräfte in der Natur zu beschreiben: »Die Frage über die Instinkte der Tiere lässt sich nur durch den Begriff von Monaden und Entelechien auflösen. Jede Monas ist eine Entelechie, die unter gewissen Bedingungen zur Erscheinung kommt.«93 An anderer Stelle unterscheidet er zwischen »potentia« und »actu« in der Natur, potentiellen und aktualisierten Kräften. Seine Morphologie geht aus von einer organischen Einheit alles Lebenden, aus denen die Teile sich entwickeln. Ebenso solle in der Zoonomie »den Gesetzen, wonach eine organische Natur zu leben bestimmt ist«, nachgeforscht werden. Diesem
88. Goethe, op. cit., Bd. 17, S. 852. 89. Ibid., S. 704 (Aus Makariens Archiv). 90. Ibid., S. 933. 91. Ibid., S. 827 92. Ibid., S. 829. 93. Ibid., S. 824.
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Leben, so Goethe, müsse zu Recht eine Kraft unterlegt werden, die man annehmen müsse, da »das Leben in seiner Einheit« sich »als Kraft äussert, die in keinem seiner Teile besonders enthalten« sei. Als Grundtendenzen der Natur sieht Goethe Polarität und Steigerung, aus deren Spannungsverhältnis die Entwicklung in der Natur hervorgehe. Ausgangspunkt ist — wie bei den Denkern des 18. Jahrhunderts — die Eigengesetzlichkeit des Organischen, die Gestaltungskräfte und die Dynamik der Natur, die Formungskräfte selbst des Anorganischen. Für ihn, wie auch für Schelling, ist Natur mit »Produktivität« gleichzusetzen. Auch Goethes Ablehnung, den Reichtum der Natur in ein metaphysisches System zu pressen, seine Aussage, die Naturbetrachtung sei »endlos«, korrespondiert mit Thesen der Aufklärung. Hypothesen und Theorien liefern immer nur approximatives Wissen. Jedes Phänomen im Universum ist mit unzähligen anderen verknüpft, jede Veränderung auch des Kleinsten zieht Veränderungen des Ganzen mit sich. Aufgabe der Naturbetrachtung ist es, die Verknüpfung der Phänomene und die Reduzierung der Vielzahl von Phänomenen auf ein einfaches Prinzip zu finden. Daher kommt auch sein Wille nach Erkenntnis der Natur als Einheit, »die Natur wirkend und lebendig, vom Ganzen in die Teile strebend, darzustellen«. Er strebt eine intuitive Form der Erkenntnis an, die Kant, von Goethe zitiert, in der Kritik der Urteilskraft folgendermassen darstellt. Ein Verstand, der »nicht wie der unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom synthetisch Allgemeinen, also der Anschauung eines Ganzen als eines solchen, zum Besonderen geht, das ist von dem Ganzen zu den Teilen.«94 Im Zentrum der Goetheschen Naturphilosophie stehen der Begriff des Organischen und die »ununterbrochene Wandlung und Selbsterneuerung« der Natur. Wieder finden wir die Problematik des Organischen als nicht reduzierbar auf Zahl, Mass und Quantität. »Eine Materie […] von Ewigkeit her bewegt, und sollte nun mit dieser Bewegung rechts und links und nach allen Seiten, ohne weiteres die unendlichen Phänomene des Daseins hervorbringen.« Derselbe Denkansatz liegt hier vor, der bei Maupertuis, Buffon und Diderot zur Ausbildung eines reicheren und komplexeren Natur- bzw. Materiebegriffes geführt hat. Das Organische kann nicht auf quantitative Prozesse reduziert werden: »Die Anwendung mechanischer Prinzipien auf organische Naturen hat uns auf die Vollkommenheit der lebendigen Wesen nur desto aufmerksamer gemacht.«95 Sein Ziel ist es, »die mechanische und atomistische Vorstellungsart in guten Köpfen ganz verdrängt und alle Phänomene als dynamisch und chemisch erscheinen und so das göttliche Leben der Natur immer mehr bestätigen«.96 Dass Gott der Natur inhärent sei, weist auf den Einfluss der Philosophie Spinozas hin. Deren philosophische Implikationen wurden in Deutschland intensiv diskutiert. Im sogenannten Spinoza-Streit differenzieren sich die einzelnen naturphilosophischen Stellungnahmen der deutschen Philosophen vor allem bezüglich des Gottesbegriffes. Zum Spinoza-Streit und seinen Implikationen für Goethe, Schelling, Herder und Jacobi ist auf die ausgezeichnete Darstellung
94. Ibid., S. 951. 95. Goethe, op. cit., Bd. 12, S. 98 (Anschauende Urteilskraft). 96. Goethe, op. cit., Bd. 17, S. 952.
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in Alfred Schmidts Goethe-Studie zu verweisen.97 In Goethes Briefwechsel mit dem Kantianer Schiller scheint die Frage nach der Erkennbarkeit einer ausserhalb unseres Bewusstseins liegenden Wirklichkeit auf. Sie war schon vor Kant eine Fragestellung der Aufklärung. Goethe konzediert, dass die Natur nur nach gewissen Formen und Fähigkeiten unseres Geistes von uns aufgenommen werde und dass selbst die Erscheinung vom Beobachter nicht losgelöst werden könne. Die philosophische Bedeutung des Goetheschen Naturkonzepts sowie seiner naturwissenschaftlichen Studien verdienen sorgfältigere Untersuchung, als es in diesem Rahmen möglich ist. Wenn man sein Denken im Sinne des Kuhnschen Paradigma-Begriffes nicht als metaphysisches Denken, sondern als referentiellen Rahmen für die biologische (und in den Schriften zur Mineralogie auch für die mineralogische) Naturforschung ansieht, so ist Goethes Kritik an mathematisch-physikalischen Ansätzen in der Biologie, an der mechanistischen »Marterkammer«, in die die Natur gezwängt wird, zukunftsweisend. Dasselbe gilt für Diderots und Maupertuis’ Hypothesen zur Struktur von Materie und Natur. Durch die Relativitätstheorie und die Quantentheorie hat die Physik eine neue Entwicklung genommen die, wie Heisenberg in Physik und Philosophie erläutert, sich weitgehend vom Newtonschen Denkansatz gelöst hat. Die Definitionen, die Heisenberg und sein Schüler Capra von dem der neuen Physik zugrundeliegenden Konzept der Materie geben, verweisen eher auf die nicht-mechanistischen Erklärungsmodelle in der Geschichte der Naturtheorien. Nach der Entdeckung, dass Masse eine Form von Energie sei, erkennt man, »dass Kraft und Materie ihren gemeinsamen Ursprung in den dynamischen Strukturen haben, die wir Elementarteilchen nennen.« Diese »Energiebündel der subatomaren Welt« bauen die Materie auf und geben ihr den makroskopisch festen Aspekt, der uns glauben lässt, es handle sich um feste Körper. Es bestehe in der Theoretischen Physik heute ein grosses Mass an Übereinstimmung darüber, »dass der Strom unserer Erkenntnisse sich in Richtung einer nicht-mechanischen Wirklichkeit bewegt; das Universum beginnt mehr wie ein grosser Gedanke, denn wie eine grosse Maschine auszusehen.«98 Eine der Strömungen der modernen Physik vertritt die Vorstellung eines Universums als eines ineinander verwobenen Netzes von Zusammenhängen, das grundsätzlich dynamisch ist. Die Relativitätstheorie habe gezeigt, dass die Existenz der Materie nicht von ihrer Aktivität getrennt werden könne.99 Hier liegen — mit aller Vorsicht sei dies bemerkt — ähnliche gedankliche Ansätze wie in Goethes Konzept des Universums vor, ebenso auch zu Diderots Konzept der anorganischen Teilchen als »énergie«, »activité«, »force«, die in ständiger Bewegung und Umwandlung begriffen sind. Auch Goethes Konzept der Gestaltungskräfte der Natur, der »geprägten Form, die lebend
97. Schmidt, Alfred, Goethes herrlich leuchtende Natur. Philosophische Studie zur deutschen Spätaufklärung, München / Wien 1984. Zu Goethes Spinoza-Rezeption und zum Spinozismusstreit siehe ibid., S. 83 ff. 98. Aus Bohm, David, Quantum Theory, Englewood Cliffs 1951, zit. in Capra, op. cit., S. 90. Zur Ablösung der Quantentheorie von der Newtonschen Mechanik siehe Einstein, Albert /Infeld, Leopold, Die Evolution in der Physik, Wien 1950, S. 256 ff. 99. Heisenberg, op. cit., S. 132: »Eine klare Unterscheidung zwischen Materie und Kraft […] kann in diesem Teil der Physik nicht mehr gemacht weden, da jedes Elementarteilchen nicht nur selbst Kräfte hervorbringt und durch Kräfte beeinflusst wird, sondern da es zur gleichen Zeit selbst ein gewisses Kraftfeld repräsentiert.« Siehe auch ibid.: »Die Energie tritt als materielle Realität durch die Form in Erscheinung.«
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sich entwickelt« und die er selbst im Amorphen sieht, weist Parallelen zu neuen Richtungen innerhalb der Biologie auf, die sich nicht mehr die von Goethe abgelehnte »Zerstückelung« der Natur, sondern die Untersuchung von Gesamtstrukturen zum Ziel setzen. Hier seien nur Forscher wie Prigogine und Erich Jantsch genannt, der in Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist (1982) von dem Gedanken der Selbstorganisation der Systeme, ja sogar der Selbstüberschreitung der biologischen Systeme ausgeht, in deren Verlauf physikalische und biologische Systeme gleichsam »schöpferisch« seien.100 Einer der Grundgedanken dieser Forschungsrichtung besteht darin, dass das Ganze jeweils mehr ist als die Summe der Einzelteile: Die Summe aller Gene erklärt nicht vollständig das Genom. Der Biologe Friedrich Cramer führt in Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen diese Gedanken weiter und weist darauf hin, dass mit der Einführung der Selbstorganisation als Grundeigenschaft der Materie auch gesagt sei, dass jede Materie a priori ideenträchtig sei: Sie habe die Idee ihrer Selbstorganisation, ihrer Entfaltung, ihrer Baupläne und Ausformungen bereits in sich. Eine Materie ohne die Idee ihrer Selbstorganisation könne es nicht geben, ebenso wie es keine schwerelose Materie geben könne.101 Hier liegt — mit aller Vorsicht sei dies ausgesprochen — ein ähnlicher Gedanke zugrunde wie bei den Materie- und Naturkonzepten von Goethe und Maupertuis. Für die Naturphilosophie der Aufklärung in Deutschland seien stellvertretend Kants Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften (1786), von Goethe etwa 1792 mit grossem Interesse gelesen und mit Anmerkungen versehen, herangezogen. Kant präzisiert, dass »eigentlich so zu nennende Naturwissenschaft« eine Metaphysik der Natur voraussetze. Der Begriff der Wissenschaft wird bei Kant dergestalt eingegrenzt, dass »in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist«,102 bzw. als Mathematik in ihr angewendet werden kann. Hieraus folgte die Ausgrenzung des Nicht-Wissenschaftlichen: Solange für die »chymischen Wirkungen der Materien auf einander kein Begriff ausgefunden wird, der sich konstruieren lässt, d.i. kein Gesetz der Annäherung oder Entfernung der Teile angeben lässt, nach welchem etwa in Proportion ihrer Dichtigkeiten u.d.g. ihre […] Bewegungen im Raum«, »so kann Chymie nichts mehr als systematische Kunst, oder Experimentallehre, niemals aber eigentliche Wissenschaft werden […] weil sie der Anwendung der Mathematik unfähig sind.«103 Noch vernichtender ist Kants Urteil zum Wissenschaftsanspruch der Psychologie. Weiter als »selbst Chymie« muss die »empirische Seelenlehre« vom Rang einer Naturwissenschaft entfernt bleiben, »erstlich weil Mathematik auf die Phänomene des inneren Sinnes und ihre Gesetze nicht anwendbar ist.« «Aber nicht einmal als systematische Zergliederungskunst, oder Experimentallehre, kann sie der Chymie jemals nahe kommen, weil sich in ihr das Mannigfaltige der inneren Beobachtung nur durch blosse Gedankenteilung voneinander absondern, nicht aber abgesondert aufbehalten
100. Jantsch, Erich, Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist, München 1982. 101. Cramer, Friedrich, Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen, Stuttgart 1989. 102. Kant, op. cit., Bd. 9: Schriften zur Naturphilosophie, S. 14 (bei Kant sind »eigentliche« und »Mathematik« gesperrt gedruckt). 103. Ibid. S. 15
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und beliebig wiederum verknüpfen, noch weniger aber ein anderes denkendes Subjekt sich unseren Versuchen der Absicht angemessen von uns unterwerfen lässt.«104 Sie kann nur »eine Naturbeschreibung der Seele«,105 ja nicht einmal psychologische Experimentallehre werden. Kant definiert in dieser Phase seines philosophischen Denkens die Methode der Naturwissenschaften — in Übernahme Newtonscher Kategorien — als Anwendung der Mathematik auf äussere Erscheinungen. Er stellt eine mathematisch-mechanische Erklärungsart der Materie einer »metaphysisch-dynamischen« gegenüber, benennt jedoch den Nachteil einer bloss mathematischen Physik, die der Wissenschaft einen »leeren Begriff« zugrunde lege, und somit »alle der Materie eigene Kräfte«106 aufgebe. Die mechanische Naturphilosophie, so Kant, erkläre die »Verschiedenheit der Materien durch die Beschaffenheit und Zusammensetzung ihrer kleinsten Teile, als Maschinen. […] diejenige aber, welche aus Materien, nicht als Maschinen, d.i. blossen Werkzeugen äusserer bewegenden Kräfte, sondern ihnen ursprünglich eigenen bewegenden Kräften der Anziehung und Zurückstossung die spezifische Verschiedenheit der Materie ableitet, kann die genannt werden.«107 Kant verbleibt hier im Rahmen quantifizierender Erklärungen.108 Seine mathematische Methode führt ihn zum Ausschluss von Entwicklung, »die man nicht einräumen kann, weil sie dem Gesetz der Natur (in der Erhaltung ihrer species in unveränderlicher Form) zuwider läuft.«109 Für Johann Gottfried Herder (1744–1803) ist, wie für Goethe, die Natur ein lebendiger Organismus, an dem sie teilhaben. Für Herder ist die Natur zugleich Geschichte. Dichtung wird als eine Naturgewalt gesehen, die in menschlicher Sprache das Göttliche in individuellhistorischen Formen ausdrückt. Shakespeare ist für den Sturm und Drang unter dem Einfluss Herders gleichsam menschgewordene Schöpferkraft der Natur. Herder interpretiert Spinozas Philosophie in eigenen Kategorien und kritisiert in seinem Denken das Fehlen von Werden und Entwicklung. Die Materie ist für Herder — wie auch für einige Naturalisten des französischen 18. Jahrhunderts — mehr oder minder stark belebt. Die der Welt innewohnende Gottheit ist für Herder eine durch zahllose organische Kräfte wirkende Urkraft. Zu den pantheistischen Elementen des naturphilosophischen Denkens sei an die Definition Heines erinnert, der Pantheismus sei die »Rehabilitation der Materie«. Das Fortschreiten der Geschichte beruht auf einem Fortschrittsgesetz der Natur, das schon in den anorganischen Naturkräften verborgen tätig ist und sich sowohl in der aufsteigenden Reihe der organischen Wesen als auch in den geistigen Bestrebungen der Menschen zeigt. Schelling, ursprünglich von Kant zu seinen naturphilosophischen Theorien angeregt, setzt sich ebenfalls mit Spinozas Philosophie auseinander und wird für Goethe zu einem Vermittler der Philosophie Spinozas (1632–1677). Spinoza habe, so Schelling (1775–1854), erkannt, dass
104. Ibid., S. 15f 105. Ibid., S. 16. 106. Ibid., S. 85 107. Ibid., S. 96. 108. Schmidt, op. cit., S. 142. 109. Kant, op. cit., Bd. 9, S. 145.
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allem Entstehenden und Vergehenden etwas aus sich selbst Bestehendes zugrunde liegen müsse. Die Wirklichkeit, die Natur, ist für Schelling ein einheitlicher grosser Organismus, dessen Entwicklung sich in bestimmten Stufen vollzieht. Der Natur wohnt ein Lebensprinzip inne, welches die anorganischen und die organischen Wesen zu einem Gesamtorganismus verknüpft. Dieses Prinzip nennt Schelling die Weltseele. Die Kräfte der anorganischen Natur wiederholen sich in höherer Potenz in der organischen. Schlüsselbegriff Schellings ist der einheitliche Organismus. Natur, Tier- und Pflanzenwelt, Staat, Geschichte und Kunst sind Teile des Weltorganismus. Natur ist für Schelling, wie auch für Goethe, uneingeschränkte Produktivität. Schellings Spinozismus ist die Natur als Subjekt, das Sein oder die Produktivität selbst. In einer weiteren Phase seines Denkens entwickelt Schelling eine Philosophie der Mythologie und eine der Offenbarung. Für die Naturtheorie wesentlich sind die Ideen zur Philosophie der Natur (1797) und der Erste Entwurf eines Systems der Naturphilosophie von 1799. Durch die hier dargelegten Anschauungen gilt Schelling als der Theoretiker einer »Dialektik der Natur« innerhalb der klassischen deutschen Philosophie. Das Sein ist für ihn ein Hervorbringen, eine »continuirlich wirksame Naturthätigkeit«.110 In jedem Produkt der Natur liege — so Schelling — der Keim eines Universums. Die Materie ist in seinem Denken dynamisch, sie enthält anziehende und abstossende Kräfte und ist mit potentieller Intelligenz begabt. Die sogenannte tote Natur ist für ihn »eine unreife Intelligenz, daher in ihren Phänomenen noch bewusstlos schon der intelligente Charakter durchblickt.«111 Schellings Konzept der Materie — als mit potentiellem Bewusstsein begabt — weist Parallelen zu Denkstrukturen des französischen Naturalismus auf, ebenso seine Unterscheidung von spekulativer und experimenteller Physik sowie deren Erkenntnisfunktionen. Schelling bezeichnet sein Denken als Identitätssystem: alle Gegensätze wie Geist-Natur, Subjekt-Objekt lösen sich auf im Absoluten. Das Organ zur Wahrnehmung des Absoluten ist weder Wahrnehmung noch Verstand, sondern die intellektuelle Anschauung. In Deutschland entwickelte sich nach Kant eine Philosophie der grossen Systeme, von Fichtes Wissenschaftslehre 1794 bis zu Hegels Tod im Jahre 1831, die sich mehr und mehr von den Problemen der Naturtheorie und der konkreten Empirie abwenden. Die gesamte Erfahrungswelt besteht für Fichte nur aus Vorstellungen, hinter denen keine Realität steht; Aufgabe seiner Wissenschaftslehre ist es, das System jener notwendigen Vorstellungsweisen zu entwickeln. Kant lehnt die Fichtesche Interpretation seiner Philosophie scharf ab. Mit apriorischen Deduktionen und einer Aussenwelt nur als Vorstellung entfernte sich Fichte weit von dem Kontext naturwissenschaftlicher Erfahrung und Theorie. Mit der Entwicklung der neuen spekulativen Systeme wird wieder Erkenntnis nach Art der Mathematik gefordert. Das 18. und beginnende 19. Jahrhundert wurde in grossem Ausmass durch den naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Diskurs geprägt. Astronomie, Chemie, biologische
110. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von, Schellings Werke (Münchner Jubiläumsdruck, Nachdruck 1927), 6 Bde., Schröter, Manfred (ed.), München 1965, 2. Hauptband: Schriften zur Naturphilosophie 1799–1801, hier: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, S. 1–268, Zitat S. 13. 111. Schelling, Werke, op. cit., 2. Hauptband, hier: System des transzendentalen Idealismus, S. 327–634, Zitat S. 341.
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Wissenschaften und Teilgebiete der Physik, wie die Elektrizität, boten ständig neue Entdeckungen, die jeweils die Grundkonzepte von Materie und Natur infragestellten. Zwei wissenschaftliche Revolutionen, in der Astronomie und in den biologischen Wissenschaften, prägten das Jahrhundert, an dessen Ende ein erneuter Paradigmenwechsel durch die Chemie Lavoisiers (1743–1794) erfolgte. Eine der bestimmenden Denkkategorien in Naturwissenschaft und Philosophie wird die Dimension der Unendlichkeit, im Makrokosmos des durch die Astronomie erschlossenen Universums, wie auch im Mikrokosmos, in der neuen Welt der Mikroorganismen. Offenheit und ständige Erweiterung der wissenschaftlichen Erkenntnisse scheinen metaphysisches Systemdenken auszuschliessen. Erkenntnis, als Annäherung an die Wahrheit konzipiert, kann immer nur Fragmente aus dem »grossen Buch des Universums« erhellen. Die Einheit der Natur bleibt als Denkkategorie bestehen, jedoch als der menschlichen Erkenntnis — noch — nicht zugänglich. Im philosophischen Diskurs dominierten neben Pensées, Dialogen und Aphorismen die Essais, als literarische Form dem neuen Erkenntnisbegriff adäquat, wie auch der Briefroman, der die Möglichkeit bot, die subjektiven »visions du monde« darzustellen, die Wirklichkeit kaleidoskopartig zu reflektieren. Eine zweite wesentliche Kategorie des Denkens ist die Kategorie des Experimentalen, die das Element der Erkenntnis mit dem des Willens zur Macht über die Wirklichkeit verbindet. Der experimentelle Forschungsansatz überschreitet die Grenzen von Physik und Chemie zum Bereich des »Bios«, des Lebenden, hin. Experimente zum Phänomen der Regeneration, zur Genetik, zur Gnoseologie und Psychologie mit Bewusstseinsmanipulation durch Drogen oder Eingriffe in die Gehirnstruktur, auch Experimente zur Sprachentwicklung wurden für die Zukunft als möglich angesehen, so die Fragestellung nach den ethischen Grenzen der Forschung berührend. Der Naturforscher wird als der »neue Prometheus« definiert, als »den Göttern nahe«, im Experiment eine neue Natur, ja neue Spezies erschaffend. Die Psychologie wurde als »histoire naturelle et expérimentale de l’homme«, die Ethik als »morale expérimentale« definiert. Dem konkreten wissenschaftlichen Experiment korrespondierte für Philosophie, Ethik und Psychologie das »fiktive Experiment«, so die Condillacsche Statue. Die Literatur schliesslich bot die optimale Form fiktiver »Experimentation«: zu moralischen Fragen, zu menschlichen Affinitäten,112 zum Theodizee-Problem, zu Determinismus und Freiheit.
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112. Zum Experimentalcharakter der Wahlverwandtschaften siehe die Untersuchung von Horst Albert Glaser, »Pflanzen, Schnauzenknochen, Physiognomien und Leidenschaften. Goethes Naturbegriff«, in: ders. (ed.), Goethe und die Natur, Referate des Triestiner Kongresses, op. cit., S. 189–202.
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In den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts legten die meisten europäischen Länder — geographisch gesehen — die Einflussgebiete der Hauptreligionen fest. In Preussen wurde 1817 die ›Evangelische Union‹ der Lutheraner und Calvinisten, befürwortet vom Kurfürsten von Brandenburg und dessen Nachfolger, Friedrich II., trotz heftigen Widerstands (besonders in Schlesien) von Friedrich III. realisiert. Sie brachte das Fürstentum von Hanau (1818), das Grossherzogtum Baden (1821), das rheinische Hessen (1822), Hessen (1823) und einige andere Gebiete1 auf die protestantische Seite. Diese Toleranzpolitik galt auch für Sekten (die preussischen Souveräne hegten Sympathien für den Pietismus) und für die Katholiken, denen die Religionsausübung 1788 und 1794 gestattet wurde. Diese Toleranz bewirkte, dass in Deutschland zahlreiche Strömungen entstanden, die das Denken der Zeit bereicherten. Die Universitäten (Halle, Göttingen usw.) wurden zum Ursprung und Widerhall der modernen Gedankenwelt. In Schweden praktizierte Gustav III. (1771–1792), gleichfalls Lutheraner, dieselbe Toleranz gegenüber den böhmischen und den swedenborgischen Brüdern. Die Thronbesteigung von Bernadotte (1818) war weit davon entfernt, diese Tendenz zu ändern, sie bestätigte sie vielmehr. Der neue Souverän, gekrönt als Karl XIV., entschied sich für die Religion seiner Vorgänger. In der Schweiz bekannte man sich nach dem Krieg der Kantone von Zürich und Bern gegen die Katholiken (1712) zur Toleranz. In der helvetischen Gesellschaft (1759) fanden sich Intellektuelle, Denker und Ökonomen zu einer Union zusammen. Am Ende des Jahrhunderts wurden zwei Schweizer zu gemässigten Apologeten des Protestantismus, indem sie dem Gefühl die oberste Priorität gaben: Madame de Staël (De l’Allemagne, 1813) und Benjamin Constant (De la Religion considerée dans sa source, ses formes et ses développements, 1824–1831 und Du développement progressif des idées religieuses, 1824). Zur Erneuerung des religiösen Bewusstseins, dem ›Erwachen‹, kam es in Genf Anfang 1810. Was die mit den Protestanten verbundenen Verfechtern der auf Pierre Valdo zurückgehenden Häresie betrifft, so eroberten sie einen Teil ihrer Dörfer mit einer militärischen Expedition zurück. Hierbei gelangten sie vom deutschen Refugium bis zu den Tälern um Turin. In England dominierte der Pluralismus. Pope war katholisch, Newton Unitarier, Hume Skeptiker, Sterne und Swift waren Pfarrer.2 Das Schicksal der Katholiken und der nichtanglikanischen Protestanten verbesserte sich langsam. Unter der Herrschaft von Königin Anna hatten die Dissidenten zwar einige Auseinandersetzungen mit den Machthabern, doch die Thronbesteigung Georgs von Hannover brachte ihnen die Duldung. Der Methodismus von John Wesley oder der Evangelismus provozierten feindselige
1. Léonard, Emile G., Histoire générale du protestantisme, Paris 1964, Neuauflage 1988, Bd. 3, S. 163. 2. Vgl. Gusdorf, Georges, Les Sciences humaines et la pensée occidentale, Paris 1971, Bd. IV, S. 71 f.
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Reaktionen, die jedoch im Schoss der englischen Kirche blieben. Die von den schottischen Presbyterianern erzeugten Turbulenzen legten sich in den Jahren 1780, dem Deismus (nach Hume) noch genug Platz lassend. Danach jedoch setzte das religiöse Erwachen des Protestantismus ein, wie es an der Familie Haldane am Ende des Jahrhunderts geschildert wurde.3 Was die dezimierten Katholiken betrifft (in der Mitte des 18. Jahrhunderts vereinigte diese Religion nicht mehr als 1% der englischen Bevölkerung4 auf sich), so profitierten sie von der ersten RomanCatholic Relief Bill, 1778, die freilich antipapistische Krawalle provozierte. Eine zweite Bill gestand 1788 Religionsfreiheit zu und erlaubte es den Katholiken, freie Berufe auszuüben: allerdings nur in England, nicht in Irland. Im Schutz der Religionsfreiheit gründeten Katholiken und Dissidenten Schulen. Die Krönung der Bewegung war die Gründung zweier nicht-konfessioneller Universitäten in London: des University College (1826) und des King’s College (1829). In den katholisch gebliebenen Gebieten versuchten aufgeklärte Herrscher Ähnliches: Joseph II. gewährte den Nicht-Katholiken Österreichs durch das Edikt vom 30. Juni 1781 die Religionsfreiheit und die Ausübung aller Berufe. Ungarn und Böhmen erlebten die Wiedergeburt der protestantischen Religion, aber in anderen Regionen verhinderten lokale Widerstände die Anwendung des Toleranzedikts (besonders in Tirol). Auch die Polen zeigten sich störrisch: Das Toleranzedikt von 1766, dem Land zwei Jahre später durch die Zarin auferlegt, wurde nicht angewandt. Die liberale Religionspolitik war zum grössten Teil aufgeklärten Herrschern zu verdanken, aber ebensosehr dem religiösen Pluralismus ihrer Länder, dem sie entsprechende Zugeständnisse machten. Der Fall Frankreich ist hingegen gesondert zu betrachten. Obgleich die Protestanten nur ein Zwanzigstel der französischen Bevölkerung zur Zeit der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685)5 ausmachten, hatte sich ihre Situation seit Jahren durch Schikanen wie den Kauf von Bekehrungen,6 Beschränkung der Religionsausübung, Berufseinschränkungen, Institutsschliessungen und endlich ›Dragonnaden‹ verschlechtert. Seit der Affäre Calas (1762) verhandelten die Protestanten direkt mit der Macht. Bereits 1753 hatte Antoine Court in Genf Le Patriote français veröffentlicht, der von der Toleranz in praktischer Hinsicht handelte. 1755 druckte man eine Abhandlung des Generalstaatsanwalts Ripert de Montclar, der eine bürgerliche Trauung nach holländischem Vorbild vorschlug. Paul Rabaut, Pastor in Nîmes, und Court de Gébelin, Pastor und einflussreicher Freimaurer in Paris, standen in Kontakt mit Maleherbe, Franklin, La Fayette u.a. Ihre Versuche, den Protestantismus politisch zu etablieren, dauerten bis zum Tod von Court de Gébelin (1784) an. In vorsichtiger Form wurde 1787 ein Toleranzedikt erlassen: Man bewilligte den Protestanten einen zivilrechtlichen Personenstand, den Zugang zu allen Stellungen sowie die Gewissensfreiheit, nicht aber die Freiheit öffentlicher Religionsausübung. Auch die Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution war, aufgrund einer
3. Léonard, Emile G., Histoire générale du protestantisme, op. cit., S. 181. 4. Ibid., S. 4. 5. S. Morus zählt in der Mitte des 18. Jahrhunderts 856.000 Protestanten in den Ländern, ausgenommen das Elsass, Sedan, Metz und die Ländern von Gex, während die Historiker der Epoche (und Voltaire) ihre Zahl mit zwei Millionen veranschlagen. 6. 6. 50.000 1682 und oft für eine minimale Summe.
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gewaltsamen Reaktion des Klerus, nicht viel vorteilhafter: »Nul ne doit être inquiété pour ses opinions, même religieuses, pourvu que leur manifestation ne trouble point l’ordre public établi par la loi.« Dennoch wurde am 20. März 1790 einer der bedeutendsten Protestanten, der aus Nîmes stammende Pastor Rabaut Saint-Etienne (Sohn von Paul Rabaut), zum Präsidenten der Konstituante gewählt. Infolgedessen befriedigte das Gesetz vom 12. Juli 1790 die meisten der protestantischen Reformer: Sie sahen in der Nominierung der katholischen Priester durch LaienKomitees einen Reformschritt und unterstützten die bürgerliche Verfassung bis zu dem Moment, in dem ihre Religion sich genau so wie jene der Katholiken bedroht sah. Abschwörungen, heimliche Religionsausübung und Verhaftungen berühmter Pastoren (Oberlin und Paul Rabaut) erinnerten sie an die Zeiten des Widerrufs. Erst das Konsulat gab ihnen die lang erwarteten Freiheiten. Bonaparte, der es strikt ablehnte, den Protestantismus als offizielle Religion zu etablieren, erlaubte den Protestanten doch einen gewissen Einfluss auf das Gesetz des 18. Germinal im Jahr X (8. April 1802).7 Es brachte die Gleichstellung der protestantischen Pastoren mit den vom Staat bezahlten Beamten. Mit anderen Worten: Der Protestantismus ging als Sieger aus einem langen Kampf hervor. Der Widerruf des Edikts von Nantes hatte eine grosse Fluchtbewegung französischer Protestanten veranlasst und gab hierdurch der protestantischen Aufklärung eine europäische Dimension. Über die Affäre Calas empörte sich Voltaire (1694–1778), wie er sagt, »parce que je suis homme et que je vois tous les étrangers indignés« (Brief an d’Argental, 27. März 1762). Das Bemühen um Humanität vermischte sich mit der Scham, Franzose zu sein: die Reputation des Landes war im Ausland — was die religiöse Toleranz anbetraf — gleich Null. Voltaire sah in Calas einen Unschuldigen, der zu Unrecht durch das Urteil des Parlaments von Toulouse hingerichtet wurde (man hatte ihn beschuldigt, seinen Sohn ermordet zu haben, um zu verhindern, dass er katholisch wurde). Im selben Jahr wurde der Pastor Rochette zusammen mit drei Adeligen, den Brüdern Grenier, exekutiert. Diese wurden des Vergehens bezichtigt, ihn unterstützt zu haben. Im Traité sur la tolérance (1763) von Voltaire heisst es über die Verfolgung der Protestanten: Nous les avons égorgés, brûlés en foule, sans distinction d’âge ni de sexe. […] C’est nous qui avons détruit cent villes, le crucifix ou la Bible à la main, et qui n’avons cessé de répandre le sang et d’allumer des bûchers, depuis le règne de Constantin jusqu’aux fureurs des cannibales des Cevennens: fureurs qui, grâces au ciel, n’existent plus aujourd’hui. Nous envoyons encore quelquefois à la potence de pauvres gens du Poitou, du Vivarais, de Valence, de Montauban. Nous avons pendu, depuis 1745, huit personnages de ceux qu’on appelle prédicants ou ministres de l’Evangile, qui n’avaient d’autre crime que d’avoir prié Dieu pour le roi en patois, et d’avoir donné une goutte de vin et un morceau de pain levé à quelques paysans imbéciles. On ne sait rien de tout cela dans Paris, où le plaisir est la seule chose importante, où l’on ignore tout ce qui se passe en province et chez les étrangers.8
Man sieht: Die mythische Figur des französischen Protestanten, bis dahin in den fanatischen und
7. Léonard, Emile G., Histoire générale du protestantisme, op. cit., S. 146 f. 8. Paris 1989, S. 79 f.
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gewaltsamen Menschen aus den Cevennen verkörpert, verändert sich und wird zum Symbol der unterdrückten Schwäche selbst. Voltaire schrieb an einen Ratgeber des Parlaments von Toulouse hinsichtlich der Familie Sirven »je n’ai jamais vu tant d’innocence accompagnée de tant de malheurs« (19. April 1765). In L’Ingénu, erschienen 1767, trifft Huron auf Hugenotten, die von (zumeist) jesuitischem Fanatismus verfolgt werden und verspricht, den Fall dieser Unschuldigen zu verfechten. Quand il fut à Saumur, il s’étonna de trouver la ville presque déserte, et de voir plusieurs familles qui déménageaient. On lui dit que, six ans auparavant, Saumur contenait plus de quinze mille âmes, et qu’à présent il n’y en avait pas six mille. […] Plusieurs protestants étaient à table: les uns se plaignaient amèrement, d’autres frémissaient de colère, d’autres disaient en pleurant […] »Nous abandonnons nos douces compagnes, nous fuyons notre patrie.[…] Alors un petit homme noir prit la parole, et exposa très savament les griefs de la compagnie. Il parla de la Révocation de l’Edit de Nantes avec tant d’énergie, il déplora d’une manière si pathétique le sort de cinquante mille familles fugitives et de cinquante mille autres converties par les dragons, que l’Ingénu à son tour versa des larmes.9
Fenouillot de Falbiare liess sich von der Geschichte des Jean Fabre inspirieren, der 1762 befreit wurde (und zu dessen Gunsten auch Voltaire intervenierte)10 und den L’Honnête criminel schrieb. Hierin zeichnete er das Portrait eines jungen Protestanten, der sich selbst ausliefert, um seinen Vater auszulösen, der aus religiösen Gründen zu einer Galeerenstrafe verurteilt worden war. Obgleich dieses Versdrama erst 1788 aufgeführt wurde, zeugt es von der Popularität eines neuen literarischen Paradigmas: der protestantische ›fanatique‹ machte ergreifenden Charakteren Platz. Das Bild der schwachen und unglücklichen Unschuld wurde zum Inbild des Hugenotten. Bis dahin hatte man im Protestanten der Cevennen einen gänzlich anderen Charakter gesehen: provinziell und oft bäuerlich. Als Fanatiker wurde er von den Intellektuellen gehasst, als Unschuldiger und Unglücklicher aber bedauert. In jedem Fall hielt man ihn auf Distanz, er war der »andere«. Vertrieben aus den Akademien, gezwungen, zur katholischen Bildung Zuflucht zu nehmen oder zu emigrieren, tritt der Protestant wieder im repräsentativsten Vorhaben des aufgeklärten Frankreichs auf: der Encyclopédie (1751–1780). Dank des Chevalier de Jaucourt, eines Nachkommen der Hugenotten, der die Bekehrung abgelehnt hatte, wurden in der Encyclopédie Gedanken geflüchteter Autoren wie Bayle, Basnage, Lechre, Barbeyrac und Elie Benoit vertreten. Wie Thesen protestantischer Schriftsteller des Auslands (Leibniz, Pufendorf, Haller, Tronchin, Bonnet, Grotius, Linné, Locke, Warburton…)11 erlangten auch ihre Gedanken nun weiteste Verbreitung. Neben Jaucourt, der ein Viertel der Beiträge zur Encyclopédie lieferte, kann man als Autoren die Protestanten Elie Bertrand, Louis Necker, Jean Romilly, Pierre Soubeyran, Georges-Lois Lesage, Théodore Tronchin und Jean-Jacques Rousseau nennen. Doch behandelten sie meistens Themen, die — wenn überhaupt — nur wenig mit Religion zu tun hatten. Auch blieben ihre Beziehungen zum Protestantismus problematisch. Nach J. Proust
9. Romans et contes, Paris 1979, S. 307 f. 10. Léonard, Emile G., Histoire générale du protestantisme, op. cit., Bd. III, S. 27. 11. Vgl. Morris, Madeleine F., Le Chevalier de Jaucourt, un ami de la terre (1704–1780), Genf 1979, S. 38–59.
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können nur die Artikel von Formey, Romilly, Polier de Bottens und Jaucourt als protestantische Teile der Encyclopédie angesehen werden. Während Polier ganz und gar heterodox ist, sprechen freilich Jaucourts Artikel Prédestination, Samaritains, Mystique, Quakers und einige zensierte Artikel für sich.12 Voltaire, d’Alembert, Naigeon, Diderot aussi sans doute, se sont […] trompés (de bonne foi) sur l’évolution prévisible du protestantisme de leur temps. Jaucourt, dont la marque personnelle est fortement empreinte sur plus du quart du dictionnaire, témoigne paisiblement mais fermement et à visage découvert, de la capacité de résistance spirituelle qu’avait l’élite protestante restée en France malgré tous les périls encourus. Ses armes n’étaient pas celles de l’Eglise du Désert, mais elles n’étaient pas moins efficaces, comme l’a montré la destinée ultérieure des Eglises de la Réforme en France.13
Ohne als solche erkannt zu werden, konnten die Protestanten also publizieren und für ihre Sache in mehr oder weniger direkter Form werben. Des weiteren haben sie von Strukturen profitiert, die sich ihnen mit der Freimaurerei anboten. Die von protestantischen Pastoren wie Desaguliers und Anderson begründete moderne Freimaurerei wurde in Frankreich durch die Jakobiten eingeführt. Anlässlich der Gründung der Loge Grand Orient de France wurden 1773 erneut die Prinzipien der Toleranz betont. Französische Protestanten haben oft wichtige Rollen in den Logen gespielt. Man findet sie nicht nur in der Sternloge, die hauptsächlich der Verteidigung des Protestantismus gewidmet ist, sondern auch in einigen der berühmtesten Logen. Court de Gébelin, Verteidiger der französischen Protestanten, Sohn eines Pfarrers und selbst auch Pfarrer, ist Sekretär der Loge der Neuf Sœurs und Präsident ihres akademischen Ablegers, dem Musée de Paris, einer der am meisten beachteten Gesellschaften des vorrevolutionären Frankreich. Aber wie Jaucourt wurde er von vielen Zeitgenossen nicht als Protestant wahrgenommen (oder erkannt). Als Protestant war man schlecht angesehen, und so übten sie ihren Einfluss im Verborgenen aus. Der ausländische Protestantismus war hingegen geachtet, und die Franzosen erkennen gerne an, was sie ihm schulden. Ist dies ein Zeichen von Snobismus? Vielleicht, aber dies rührt vor allem daher, dass die berühmten Flüchtlinge nicht mehr als solche wahrgenommen werden, wie noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts, als sich die Protestanten Frankreichs nicht mit dem literarischen Milieu der Zeit vertrugen und lieber emigrierten. Dazu kam das Missverständnis, dass man den ausländischen Protestantismus oft als eine Form der natürlichen Religion ansah. Gleichzeitig wurden die Franzosen sich der intellektuellen Schuld bewusst, die sie den nordischen Ländern (z.B. dem englischen Empirismus) gegenüber hatten; doch kümmerte es sie wenig, dass sie diese Schuld den eigenen Flüchtlingen verdankten, durch die Europa verändert wurde. Die ersten Spuren der Aufklärung finden sich hauptsächlich auf protestantischem Boden. Diderot (1713–1784) führte im Essai sur les études en russie (1775–1776) die Länder des Nordens als Modell vor:
12. Proust, Jacques, »Le Protestantisme dans l’Encyclopédie«, in: XVIII e siècle 17, 1985, S. 53–66. 13. Ibid., S. 65.
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Anne-Marie Mercier Faivre […] après la Renaissance des lettres en Italie, la bonne culture, les meilleurs écoles se sont établies dans les pays protestants, de préférence aux pays qui ont préféré la religion romaine […]. On voit que depuis l’époque de la réformation, tous les protestants ont fait des pas rapides vers un meilleur police, que les préjugés contraires au bon sens y ont diminué sensiblement et qu’il n’en existe pas un seul qui, respectivement, ne soit plus florissant que tel pays catholiques qu’on voudra lui comparer […] On peut même ajouter que les pays catholiques ont profité du reflet des lumières que les pays protestants leur ont envoyé […] Il est clair que sans les Anglais la raison de la philosophie seraient encore dans l’enfance la plus méprisable en France.14
Im Brief 117 der Lettres persanes (1721) zeichnete Montesquieu (1689–1755) ein schon recht düsteres Portrait der katholischen ›Wissenschaft‹. Quant aux pays catholiques, non seulement la culture des terres y est abandonnée, mais même l’industrie y est pernicieuse: elle ne consiste qu’à apprendre cinq ou six mots d’une langue morte. Dès qu’un homme a cette provision par devers lui, il ne doit plus s’embarraser de sa fortune: il trouve dans le cloître une vie tranquille, qui, dans le monde, lui auroit coûté des sueurs et des peines.15
Auch wenn man von Karikatur und Vereinfachung bei den Autoren absieht, es bleibt doch die Tatsache, dass die protestantischen Länder auf dem Gebiet der Lehre einen Vorsprung besassen. Nach dem Konzil von Trient wurde in den katholischen Ländern die Philologie der Ketzerei verdächtigt, und die grossen Gelehrten (Scaliger, Saumaise, Casaubon) mussten fliehen. Selbst trotz der beachtlichen Arbeiten der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres (Fréret, de Guignes, Bartélémy etc.) spielte Frankreich nicht mehr dieselbe Rolle in den Wissenschaften. Zensur behinderte selbst die katholischen Gelehrten. Während Italien sich seinen Platz auf dem Gebiet der Musik, Malerei und Architektur bewahrte, Frankreich auf dem Gebiet der Literatur dominierte, waren die deutschen Universitäten (Halle, gegründet 1694, und Göttingen, gegründet 1734) und die Universität von Strassburg auf dem Gebiet der Rechtswissenschaften, der Philologie, der Epistemologie, der historischen und politischen Wissenschaften führend. Auch hinterliess die Unterdrückung der Jesuiten (1773 gerichtlich durch den Papst bestätigt) in den katholischen Ländern eine empfindliche Lücke in der Lehre. Die Männer der ersten Stunde hatten Frankreich verlassen, um ins Exil zu gehen, den ›Refuge‹. Das finanzielle, moralische und intellektuelle Gewicht dieser protestantischen Flüchtlinge war immens. Man schätzt die Zahl derer, die gegangen sind, auf ungefähr 200.000. Andere nehmen an, dass es 300.000 waren. Andererseits begann der Exodus wohl schon vor 1685. Die Aufnahmeländer wurden unter dem Aspekt ihrer Nähe und der Verkehrsverbindungen ausgewählt. Daher bevorzugten Einwohner von Paris, Bordeaux und Poitevin das nahegelegene England, wo Jakob II. sich ihrer Einreise nicht widersetzen konnte. Seine Nachfolger waren etwas gastfreundlicher. Man schätzt, dass 50.000 bis 70.000 Personen16 dorthin geströmt sind
14. Zitiert von Gusdorf, Georges, Les sciences humaines et la pensée occidentale, Paris 1971, Bd. IV, S. 102. 15. Montesquieu, Charles de, Lettres persanes, in: Œuvres complètes, Caillois, Roger (ed.), 2 Bde., Paris 1949–51, Bd. 1, S. 305–307, hier: S. 306. 16. Diese Zahlen ebenso wie die in diesem Abschnitt folgenden wurden von Myriam Yardeni festgesetzt, Le Refuge protestant, Paris 1985, S. 73, 66, 90.
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und an der Gründung der Bank von England sowie am Handel beteiligt waren (man findet in England die ›Dynastien‹ der Courtauld und der Romilly). Andere brachten — bescheidener gesagt — ihr Wissen als Weber, Zeichner und Juweliere mit, während 10.000 und mehr auszogen, um die protestantischen Kolonien in Irland zu vergrössern. In Amerika wurden sie von den Puritanern und der hugenottischen Ehefrau Peter Stuyvesants, des Gouverneurs von NeuAmsterdam (dem späteren New York) willkommen geheissen. Ähnlich war es in Holland (50–70.000 Flüchtlinge), einem anderen Aufnahmeland von Franzosen. Die Einrichtung von Hilfsfonds und die Integration in die ortsansässige Bourgeoisie (z.B. in Utrecht) zeigen, dass die Franzosen meistens brüderlich aufgenommen wurden. Man findet Hugenotten sogar in der Leitung der Ostindien-Kompanien. Jene, die aus dem Zentrum und dem Süden Frankreichs stammten, reisten zumeist in die Schweiz. Von den 16.511 Einwohnern, die Genf 1693 zählte, waren 3300 Flüchtlinge. Doch mit Vorliebe liessen sie sich in Lausanne nieder oder gingen weiter nach Deutschland, wo der preussische König und Calvinist Friedrich Wilhelm ihnen durch das Edikt von Potsdam (16. Oktober 1685) Gastfreundschaft anbot. Im Jahre 1700 war einer von drei Berlinern Franzose; die preussische Armee verdankte diesen Emigranten viel. Sie gründeten Manufakturen, wie die bekannte Tuchmanufaktur von Magdeburg. Dörfer, die zu Städten werden sollten, wurden den Hugenotten von Karl von Hessen-Kassel angeboten. Schliesslich fand man die Flüchtlinge überall, von St. Petersburg und Moskau bis zum Kap der guten Hoffnung. Der Exodus bedeutete einen enormen Verlust für das Königreich von Louis XIV. Antoine Court (Lettre d’un patriote) und Voltaire (Traité sur la tolerance, XXIV, 1763) erwähnten diesen Punkt. Einige Historiker17 stellen den Umfang des Verlustes in Abrede und unterstreichen die Tatsache, dass doch acht von zehn Reformierten in Frankreich blieben und die grossen Unternehmer und Bankiers (wie Samuel Bernard, der grösste Bankier Europas in der ersten Hälfte des Jahrhunderts) verschont wurden. Schliesslich seien die Güter der Geflüchteten, wenn sie aus einflussreichen Familien stammten, oft gerettet worden — dank vieler Prozesse der Zurückgebliebenen.18 Wenn einige Kapitalien abwanderten, so seien andere dafür zurückgekommen: Ende des 18. Jahrhunderts erfolgte die Rückkehr vieler im Ausland reich gewordener Bankiers. Zahlreiche Zeugen weisen auf das Geld hin, das aus Frankreich in die Zufluchtsländer floss: 1788 schrieb Baron de Rulhières, dass La Rochelle und seine nächste Umgebung den exilierten Hugenotten zweieinhalb Millionen an jährlichen Renten schickten.19 Andererseits waren die Berufsverbote bezeichnend — selbst wenn sie schlecht angewandt und ihr wirtschaftliches Gewicht schwach war. Es gingen in erster Linie diejenigen, die durch ihren Beruf die mobilsten waren oder denen die Ausübung ihres Berufes untersagt war: Offiziere, Drucker, Schriftsteller u.a. Bayle, Le Clerc, Sainte-Hyacinte und Prosper Marchand in Holland, La Chapelle und des Maiseaux ebenda und in England, Bourguet in der Schweiz, La Beaumelle in Dänemark und
17. Scoville, Warren Chandler, The persecutions of Hugenots and french economic development, Los Angeles 1960, und Deursen, Arie Th. Van, Professions et métiers interdits, Groningue 1960 (vgl. Delumeau, Jean, Naissance et affirmation de la Réforme, Paris 1968, S. 354). 18. Richard, Michel, La Vie quotidienne des protestants sous l’Ancien Régime, Paris 1966, S. 253–255. 19. Ibid.
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viele andere gründeten einige der führenden europäischen Zeitschriften und Zeitungen. Sie liessen zum ersten Mal die Macht der Presse bewusst werden — eine Macht, die Tausende von Menschen retten oder vernichten konnte. Coste, der Übersetzer von Locke, Barbeyrac, Pufendorf und Grotius, hatten ebenfalls beachtlichen Einfluss. Wenn man heute die Wirkung bezweifelt, die der Widerruf des Edikts von Nantes auf die französische Wirtschaft angeblich hatte, so weiss man, dass dieses Jahrhundert auch das Glück der protestantischen Bankiers machte: in Frankreich konnten sie ihre Aktivitäten fortsetzen oder sie wiederaufnehmen (Bernard, Thélusson, Mallet); Necker, ausländischer Protestant, wurde Finanzminister unter Louis XVI., Perrégaux ist der grösste Revolutionsbankier, Hottinger wird einer der ersten Direktoren der Banque de France. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die französische Gedankenwelt breitete sich mit den Vertriebenen in Europa aus. Erman und Reclam, die die Situation Preussens am Ende des Jahrhunderts analysierten, bestätigen, dass »la littérature allemande a certainement des obligations au refuge qui a transporté en quelque sorte la France en Allemagne. A la solidité, à la profondeur de raison et de jugement qui ont de tous temps caractérisé l’écrivain allemand, se sont réunies la délicatesse et la facilité qui distinguent l’écrivain français«.20 Selbst wenn am Ende des 18. Jahrhunderts die Assimilation der Hugenotten an ihre Zufluchtsländer fast perfekt21 war — die wirtschaftliche und kulturelle Wirkung dieser massiven Emigration nach Nordeuropa und in die Kolonien hatte eine dauerhafte Wirkung zur Folge: beschleunigte Zirkulation. Das Durcheinander der Bevölkerungen, des Geldes und der Ideen, die Krisen des Protestantismus und seine verschiedenen Formen liessen Europa wachsen. Sie bestimmten das religiöse Bewusstsein, rückten das Toleranzproblem in den Vordergrund und bewirkten ein neues europäisches Bewusstsein. Aus allen diesen Konfrontationen und Wechselwirkungen wurde die Aufklärung geboren. Wenn Frankreich dabei eine wichtige Rolle spielte, so nicht trotz des protestantischen Einflusses, sondern gerade wegen desselben. Die Flucht der Protestanten, entstanden aus katholischer Intoleranz, war eine der Hauptursachen für die Verbreitung des Protestantismus und für die Geburt unseres modernen Europas.
Auswahlbibliographie Cassirer, Ernst, La Philosophie des Lumieres, Paris 1966. Delumeau, Jean, Naissance et Affirmation de la Reforme, Paris 1965. Deursen, Arie Th. van, Professions et métiers interdits, un aspect de l’Histoire de la Révocation de l’Edit de Nantes, Groningue 1960. Gargett, Graham, Voltaire and Protestantism, Oxford 1980. Gusdorf, Georges, Les Sciences humaines et la pensée occidentale, Bd. IV, Paris 1971. ———, »L’Europe protestante au siècle des Lumières«, in: Dix Huitième Siècle 17, 1985, S. 13–40. Haase, Erich, Einführung in die Literatur des Refuge, Berlin 1959.
20. Zitiert von Yardeni, Myriam, Le Refuge protestant, op. cit., S. 175. 21. Vgl. Yardeni, Myriam, »Refuge et intégration, la cas d’Erlangen«, in: Magdelaine, Michelle /Thadden, R. von (eds.), Le Refuge huguenot, Paris 1985, S. 161–278.
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Joutard, Philippe, »Une Mentalité du 16e siècle au temps des Lumières: Les Protestants du Vivarais«, in: Dix Huitième Siècle 17, 1985, S. 67–74. Lauriol, Claude, La Beaumelle, un protestant cévenol entre Montesquieu et Voltaire, Genf 1978. Léonard, Emile G., Histoire générale du protestantisme, Paris 1964, Neuauflage 1988. Luethy, Herbert, La Banque protestante en France de la Révocation de l’Edit de Nantes à la Révolution, Paris 1959. Rétat, Pierre, Le Dictionnaire de Bayle et la lutte philosophique au XVIIIe siècle, Paris 1971. Sayous, Pierre-Andre, Le dix-huitième siècle à l’étranger: histoire de la litterature française dans les divers pays de l’Europe depuis la mort de Louis XIV. jusqu’à la Révolution française, Bd. II., Paris 1861. Scoville, Warren Candler, The persecution of Huguenots and French economic development. 1680–1720, Los Angeles 1960. Weber, Max, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Tübingen 1934. Yardeni, Myriam, Le Refuge protestant, Paris 1985.
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Das Gefühl, dass die Kirche und ihre Dogmen in grosser Gefahr waren, erklärt die Schärfe ihrer Schmähschriften gegen die Philosophen der Aufklärung. In Europa bekämpften besonders die Jesuiten die neuen Ideen, und ihr Kampf, der sich kurz vor 1760 verschärft hatte, fand mit der Unterdrückung der Jesuiten keineswegs ein Ende. Die Kirche wandte sich über ihre Institutionen hinaus gegen die neuen Ideen, da sie ihre Herrschaft im Ancien Regime bedroht sah. Frankreich war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der natürliche Kampfplatz zwischen Katholizismus und Aufklärung. Ein Lagebericht würde Folgendes besagen: ›L’Infâme’ zog auf ihre Art die Lehre aus der skandalösen Affäre des Abts von Prades. Es darf nicht vergessen werden, dass die Kirche, so lange es ihr möglich war, d.h. bis zur Französischen Revolution, Zuflucht zum weltlichen Arm nahm. So war das Parlament von Toulouse, das 1762 den Pfarrer Rochette durch den Strang hinrichten, die drei Brüder Grenier enthaupten und Calas rädern liess, keine Erfindung von Voltaire. Der Patriarch von Ferney dachte sich auch nicht jene andere Schmach aus, die zur Affaire des Chevalier La Barre (1766) geriet. Bereits vor diesen barbarischen Akten kam es infolge einer Anklage des Staatsanwalts Omer Joly de Fleury vor dem Parlament in Paris zum Verbot mehrerer philosophischer Werke, darunter des De l’Esprit (1758) von Helvétius (1715–1771), der Encyclopédie (1759) und des Poème sur la loi naturelle von Voltaire (1694– 1778). Der Härte der Repression gegen die Philosophen und andere Personen kontrastierte eine ungewöhnliche theoretische Schwäche der Apologeten. Die acht Bände der Préjugés legitimes et réfutation de l’Encyclopédie avec un Examen critique du livre De l’Esprit (1758) von Abraham Joseph de Chaumeix dienten zwar als intellektuelle Stütze der Unterdrückung, aber sie konnten lediglich die Anhänger der frommen Partei überzeugen. Man hat von dieser erfolglosen Periode der katholischen Apologetik nur die Namen derer in Erinnerung behalten, denen Voltaire eine gewisse Bekannheit verschaffte, indem er sie mit Verbissenheit als Zielscheiben benutzte: wie »le pauvre diable« Chaumeix, Fréron (1718–1776) und sein Année littéraire (1754 / 75) oder Berthier (1753–1815), den Direktor des Journal de Trévoux. Ihn hatte Voltaire schon 22 Jahre vor seinem natürlichen Tod in seiner Relation de la maladie, de la confession, de la mort et de l’apparition du jésuite Berthier begraben. Zu den anderen katholischen Apologeten, die Voltaire im wesentlichen ihre Bekanntheit verdanken, gehören Patouillet1 und Nonnotte, der mit seinen Erreurs de Voltaire,2 mehrfach im 18. und 19. Jahrhundert wieder aufgelegt, einen gewissen Erfolg bei den Wohlmeinenden erzielte. Doch die Zuflucht zum weltlichen Arm entlarvte das wahre Kräfteverhältnis: der katholischen Apologetik mangelte es an Gelehrten, an Leuten des
1. Patouillet, Histoire du Pélagianisme (1767). 2. Nonnotte, Erreurs de Voltaire, 2 Bde., Avignon 1762.
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Geistes, mit einem Wort an: Philosophen. Die Enzyklopädisten fanden keine angemessenen Gegner ihres Formats, und die Dogmen profitierten allein vom Schutz der Institutionen. Genau das illustriert der Erzbischof von Paris Christophe de Beaumont in seinem Mandement de Mgr l’archeveque de Paris, portant condamnation d’un livre qui a pour titre ›Emile‹ (1762). Die Antwort Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) machte zwar diesen Bischof berühmt, half aber weder gegen das Parlament, das den Emile (1762) am 9. Juni 1762 verdammte, noch gegen die Sorbonne, die das Werk unter Zensur stellte. Unabhängig von den brudermordähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den Jesuiten und Jansenisten, die man auch in Spanien mit der Enrique Florez zugeschriebenen Schmähschrift Delacion de la doctrina de los intitulados Jesuitas (1768) wiederfindet, erscheint die Verwirrung, die damals im Inneren der Kirche selbst herrschte, beachtlich. Papst Benedikt XIV. hatte 1758 die Troisième partie de l’Histoire du peuple de Dieu ou Paraphrase littérale des Epitres des apôtres des Jesuiten Berruyer in Den Haag, den die Brüder Tournemine und Berthier vom selben Orden bekämpft hatten, verurteilt. Die Werke der katholischen Apologeten sind vor allem durch das rückschrittliche und mittelmässige Niveau ihrer Argumentation charakterisiert. Trotz ihres Mangels an Inspiration hatten gewisse apologetische Werke bei den Gläubigen Erfolg, wie etwa das Buch des Klosterbruders de Lamare La foi justifiée de tout reproche de contradicition avec la raison et l’incrédulité convaincue d’être en contradiction avec la raison…3 (1766, 1769, 1773 und 1817 neuaufgelegt). Die Zahl der Werke, die der Verteidigung der Orthodoxie gewidmet waren, konnte trotz vieler Neuauflagen eine Tendenz nicht verschleiern, die unumkehrbar schien: der Verfall in der Lehre der Apologetik. Demgegenüber kämpften die Philosophen mit Erbitterung, und zwar vom Antichristentum im Dictionnaire philosophique (1764) des Deisten Voltaire bis zum kühnen Atheismus des Système de la nature (1770) von d’Holbach. Die Verteidiger des Glaubens wie der Père Fidele de Pau, Autor des Philosophe dithyrambique4 (1765), mussten ihre Anstrengung verdoppeln. Dieser Apologet zeigte in seinem Werk, dass er die Philosophen gelesen hatte. In einer vorangestellten Ode Le déisme confondu heisst es: Secte, fille et mère du crime! Ton noir système est confondu: Du haut de la voûte sublime Le tout-puissant est descendu. Avec les fait évangeliques confronte les chants prophétiques, Tes ténèbres vont s’éclaircir: Aveugle! peux-tu méconnoître Un Dieu que tes yeux virent naître, Et que ton orgueil fit mourir?5
Dieser in Vers und Prosa eifrige Apologet zeigte jedoch die Neigung, Schimpfrede und
3. De Lamare, La foi justifiée de tout reproche de contradiction avec la raison et l’incrédulité…, Paris 1762. 4. Fidele de Pau, Philosophe dithyrambique, Paris 1765. 5. Ibid., S. 10 f.
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Verleumdung gleichermassen zu praktizieren. So klagte er die Philosophen von Montesquieu bis Helvétius an, »la cause des calamités de la terre«6 zu sein. Der weniger heftig argumentierende Abt Bergier (1718–1790) publizierte im selben Jahr Le Déisme réfuté par lui-même, ou Examen des principes d’incrédulité répandus dans les divers ouvrages de M. Rousseau en forme de lettres (1765). Wenn es sich darum handelte, diesen oder jenen Punkt detailliert zu widerlegen, konnte Bergier zum beachtlichen Polemiker werden. Er brachte seine Argumente immer sorgfältig und mit einer bestimmten Hartnäckigkeit vor. Jedoch darf man sich ob Bergiers Intelligenz keine Illusionen machen. So demonstrierte er am Ende des Briefes V Sur la tolérance seinen begrenzten Geist, der ihn stark in Fidèle de Paus Nähe rückte: Avec le beau systême de la tolérance, la France seroit devenue le réfuge de tous les visionnaires & de tous les libertins de l’Univers, toujours prêts à s’y introduire. Nous serions réduits à tolérer l’Athéisme, & à vivre en société avec des Monstres. Après avoir oublié les loi de l’Evangile, nous aurions vu abolir nos propres loi, les séditions renaître sans cesse, le trône, dont la Religion est le plus ferme appui, toujours chancelant & peut-être renversé, les peuples devenir la proie & le jouet du premier usurpateur. Instruits par l’exemple de nos voisins & par nos propres dangers, nous bénissons le Ciel d’avoir sauvé par un même prodige la Religion & la Monarchie.7
Die Union von Thron und Altar pries der Abt Bergier als ein Gut, während sie für Rousseau und Voltaire einen der grössten Nachteile im Jahrhundert der Philosophie zur Folge hatte: die Intoleranz. In gleicher Geisteshaltung unternahm der Abt Guénée in den Lettres de quelques juifs portugais, allemands et polonais, à M. de Voltaire (1769) eine systematische Widerlegung der Schriften von Voltaire, insbesondere von dessen Traité sur la tolérance (1763). Wie Nonnotte und Bergier stürzte sich Guénée auf das Toleranzkonzept: L’intolérance et la sévérité de nos lois sur le culte vous surprend et vous révolte. Vous vous figurez sans doute que l’adoration des dieux étrangers était pour les Hébreux une faute legère. Erreur, Monsieur: ce n’était pas seulement un pêché grave contre la conscience, une coupable infraction d’une des premières lois naturelles, c’était encore un délit public et le délit public le plus digne de châtiment.8
Die für Voltaire wichtige Frage des jüdischen Volkes als Beispiel nehmend präsentierte sich der Abt Guénée als ein Theoretiker der Intoleranz. Er pries einen Konfessionsstaat, den man als theokratisch bezeichnen musste — wenn nicht sogar als totalitär. Das Werk wurde häufig nachgedruckt, doch konnten Werke der strikten katholischen Orthodoxie das Terrain nicht wiedergewinnen, das an die Schriften der aufgeklärten Philosophen verlorengegangen war. Trotz der Verurteilungen und der Zensur war es sehr schwierig, den Fortschritt der philosophischen Ideen zu verhindern. Leicht erkennbar sind Vergeblichkeit oder doch Unzulänglichkeit der Unterdrückungsversuche. Die Verteidiger des Katholizismus versuchten in dieser
6. Ibid., S. 350. 7. Abt Bergier, Le Déisme réfuté par lui-même, ou Examen des principes d’incrédulité répandus dans les divers ouvrages de M. Rousseau en forme de lettres, 1771, S. 254–255. 8. Abt Guénée, Lettres de quelques juifs portugais, allemands et polonais, à M. de Voltaire, 1817, S. 103.
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Periode, in der die Philosophie triumphierte, sie mit apologetischer Feder herauszufordern. Das Neue bestand darin, dass sie nach dem Erscheinen des Système de la Nature (1770) von d‹Holbach (1723–1789) bestimmte Argumente von Voltaire und Rousseau entlehnen mussten. In zahlreichen apologetischen Werken wurden die Thesen eines Mirabeau zugeschriebenen Werks bekämpft. Es erschienen La nouvelle philosophie dévoilée et pleinement convaincue de lèse-majesté divine et humaine (1770) von Pineault, dann 1771 die Principes contre l’incrédulité à l’occasion du Système de la Nature von Camuset und die Pensées diverses contre le système des matérialistes à l’occasion d’un écrit intitulé: Système de la Nature von Guillaume de Rochefort. Auch Abt Bergier begriff die Gefahr. Er antwortete auf d’Holbach schnell mit dem Examen du matérialisme ou Réfutation du Système de la Nature (1771). Jedoch ging von diesem dichten Werk, in dem Bergier mit der Argumentation von d’Holbach kämpft, keine innere Überzeugungskraft aus, die zum Verstand des Menschen das Gefühl fügt. Bergier wurde sogar zu Rousseaus Schuldner, den er vorher getadelt hatte, indem er zu Gefühlsbekundungen Zuflucht nahm, um die Existenz Gottes zu beweisen. In derselben Periode erschienen die Reflexions philosophiques sur le Système de la Nature9 des deutschen protestantischen Philosophen Holland. Die Arbeit gefiel, und Riballier druckte sie erneut, doch so sehr der katholischen Sicht angepasst, dass der Autor sich über diese Einvernahme empörte. Eine solche Anekdote lässt die Ratlosigkeit ahnen, in der sich die katholische Apologetik befand. Es ist jedoch zu beobachten, dass sich schon vor Chateaubriand bestimmte Vorläufer einer ›moderneren‹ oder wenigstens biegsameren Apologetik durch einen übertriebenen Opportunismus in der Polemik auszeichneten, die sie gegen die Philosophen führten. Diese Apologeten sahen die Vorteile, die man aus dem Werk von Rousseau ziehen konnte, und sahen — allgemein gesprochen — die Widersprüche zwischen den Philosophen, vor allem nach dem Erscheinen des Système de la Nature. Das war das Paradox der katholischen Apologetik: Sie erneuerte sich, sie gewann Kräfte durch die systematische Ausbeutung von Rousseau, einem theistischen Philosophen protestantischen Ursprungs. Die Gedanken des Bürgers von Genf wurden überprüft, korrigiert und an die Dogmen der Kirche angepasst. Die Apologeten lehnten es auch nicht mehr ab, bei passender Gelegenheit Voltaire zu zitieren. Den Stil der Nouvelle Héloïse (1761) imitieren die Briefromane des Pfarrers Jacob Vernes — so etwa La Confidence philosophique10 (1771). Andere Plagiate waren Le comte de Valmont ou les égarments de la raison, lettres recueillies et publiées par M…11 (1774) des Abts Gérard und Les Helviennes ou Lettres provinciales philosophiques12 (1781) des Abts Barruel, die den Leser vor die Alternative des belohnenden oder rächenden Gottes der Bibel oder den Amoralismus stellen. In diesen Briefromanen erscheinen junge sympathische Helden — wie der Comte de Valmont in den Helviennes. Sie sind für den Zeitgeist empfänglich und werden von der neuen Philosophie angezogen, handeln sich dadurch aber nur Enttäuschungen ein. Nach zahlreichen Briefen, die ihre Irrtümer ausführlich darlegen, und nach den Antworten der fromm gebliebenen Personen,
9. Holland, Reflexions philosophiques sur le Système de la Nature, Neuchâtel 1772. 10. Vernes, Jacob, La Confidence philosophique, 2 Bde., London 1771. 11. Abbé Gérard, Le comte de Valmont …, 3 Bde., 1774, Neuauflage 1834. 12. Abbé Barruel, Les Helviennes …, 4 Bde., 1781.
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die Predigten gegen alle Aspekte der Philosophie der Aufklärung darstellen, finden sie auf direktem Weg in den Schoss der Kirche zurück. Der Leser wird eingeladen, solch schlimmen Prüfungen zu entgehen, indem er den Dogmen der römisch-katholischen Kirche treu bleibt. Der Comte de Valmont findet unterm Kopfkissen von Lausane, seines Freundes und eingebildeten Rivalen, der seine Neigung zur Philosophie verloren hat, eine fiktive Schrift des Autors Gérard, in der dieser den Geist der Aufklärung karikiert, indem er gegen das Système de la Nature polemisiert. In ihrer Kontroverse erdichteten die Apologeten also Beweise, um den Amoralismus ihrer Gegner besser verdammen zu können. Der Comte de Valmont zieht reumütig die Lehre aus den Ereignissen: Ah! quel fléau pour l’humanité que nos sages si, selon la reflexion que vous en avez faite, la nature n’avait mis dans le cœur des hommes cet instinct moral qui combat avec force leurs dogmes impies, et si d’ailleurs ils ne finissaient par se combattre et se détruire eux-même! Quelle perte pour nous que celle de la religion s’ils avaient pu réussir à nous la ravir pour toujours!13
Es war sicher Rousseaus berühmte Formulierung »Conscience! instinct divin, immortelle et céleste voix«, die den Gedanken vom verirrten Schaf, das die Herde wiederfindet, angeregt hat. Wenn man das Schicksal einiger Nebenfiguren vernachlässigt, die der Philosophie zum Opfer gefallen sind, endet alles zum Besten, weil es »un paradis pour les bons« und »un enfer pour le matérialiste« gibt. Das hinderte den Abt Gérard dennoch nicht daran, seinem Briefroman eine zweibändige Fortsetzung folgen zu lassen. Die Zuflucht zur Fiktion, genauer zum Roman, kennzeichnet eine besondere Form der christlichen Apologetik vor der Französischen Revolution. Diese Romane konstruieren negative Helden, die in ihren Reden die wichtigsten Themen der Philosophie der Aufklärung nachäffen. Mit angeblich philosophischen Argumenten und ausschweifendem Lebenswandel bereiten sie das Terrain für die Sade’sche Fiktion vor. Wir wissen, dass Sade Bergier gelesen hat, und nichts hindert uns daran zu vermuten, dass er auch die Werke des Pfarrers Jacob Vernes und der Äbte Barruel und Gérard, die ein ziemliches Aufsehen erregten, in Händen hielt. Ist das Werk des göttlichen Marquis nicht zu einem guten Teil Reaktion auf seine erbauliche Lektüre? Erzeugte nicht die christliche Apologetik durch die Verbissenheit, mit der sie die Philosophie der Aufklärung bekämpfte, einen besorgniserregenden Amoralismus? Hatten diese guten Äbte also eine ebenso unerwartete wie illegitime Nachkommenschaft? Mit Lamourette (1742–1794), der Bischof von Lyon wurde, bevor er auf dem Schafott endete, schien jedoch eine Versöhnung zwischen der Kirche des Ancien Régime und Frankreich am Ende der Revolution möglich zu sein. Lamourette publizierte 1788 Les Délices de la religion ou le pouvoir de l’Evangile pour nous rendre heureux, in denen der Autor, noch vor Chateaubriand, Naturschilderungen gibt, die Frömmigkeit anregen und durch die Idee der Religion beruhigen sollen. Der Titel eines Werks, das er 1789 veröffentlichte, zeigt deutlich seinen besonderen Beitrag zur Auflösung gewisser Widersprüche: Pensées sur la philosophie de la foi, ou le système du Christianisme entrevu dans son analogie avec les idées naturelles de l’entendement humain. Weit entfernt von Pascal, aber darum bemüht, dem Christentum treu zu bleiben, arbeitete Lamourette eine neue Kosmologie, eine bahnbrechende Theologie aus, so dass man in ihm mehr als nur einen
13. Abbé Gérard, Le comte de Valmont, op. cit., Bd. 3, S. 328.
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Vorläufer Chateaubriands sehen sollte. Hat Lamourette die Kirche verraten oder muss man ihn als einen Erneuerer wie Teilhard de Chardin verstehen? Die Prônes civiques, ou le Pasteur patriote, die 1790–1791 erscheinen, verdeutlichten seine Konzeption eines sozialen Christentums, das sich der Lektüre der Philosophen so gut wie derjenigen Malebranches verdankte: O hommes, qui que vous soyez, puissants et faibles, riches et pauvres, maîtres et serviteurs, songez que ce n’est pas à un centre de néant et de bassesse que nous voulons vous rappeler: c’est à une unité d’excellence, d’indestructibilité, d’immutabilité; nous voulons vous faire rentrer dans l’esprit d’égalité, non en vous disant que vous n’êtes tous que des insectes sur qui l’Etre suprême n’a aucune vue, mais en vous disant que vous êtes tous des substances incorruptibles, appelées à s’incorporer et à se confondre dans les immensités de l’Infini.14
Das tragische Schicksal von Lamourette verleiht seinem eigentümlichen Versuch, den Glauben an die katholische Kirche mit den Idealen der französischen Revolution zu vereinbaren, ein gewisses Pathos. Die anderen, nach 1789 erschienenen Schriften waren zugleich antiphilosophisch und antirevolutionär. Zu ihnen zählen die Arbeiten des Abts Barruel Le patriote véridique ou discours sur les vraies causes de la révolution actuelle15 (1789), Joseph de Maistres Considérations sur la France16 (1796), La Harpes Du fanatisme dans la langue revolutionnaire ou de la persecution suscitée par les barbares du 18 e siècle contre la religion chrétienne et ses ministres17 (1797+1821) und endlich Louis de Bonalds Théorie du pouvoir politique et religieux dans la société civile (1796). Nach der Wiedereröffnung der Kirchen im Jahre 1796 versammelten sich die verfassungsmässigen Bischöfe Frankreichs auf dem nationalen Konzil von 1797. Dieses Treffen war die Folge des Dekrets über die Religionsfreiheit vom 3. Ventôse im Jahre 3 der Revolution: »L’exercise d’aucun culte ne peut être troublé. La République n’en salarie aucun.« Die so versammelten Bischöfe wollten eine religiöse Wiedergeburt im Lande befördern. Dazu sei es erforderlich, so meinten sie, dass man: – – –
den Fanatismus vom Katholizismus zu unterscheiden lerne; die katholische Kirche und die offenbarte Religion zu verteidigen, indem man zeige, die Überlegenheit der Moral des Evangeliums zu zeigen.
Zahlreiche Apologeten gaben sich Mühe, dies Programm zu verwirklichen. Nicolas Bergasse war eine der Figuren, die nur der aussergewöhnliche Erfolg von Chateaubriand (1768–1848) in Vergessenheit geraten liess. Seine Arbeit De la Loi des Êtres et de leur destinée blieb unveröffentlicht, doch gehört er zu den bedeutendsten Gestalten der religiösen Restauration, die mit Napoléon Bonapartes Machtübernahme anhob. Wir erinnern noch an einen angeblich rousseauistischen, aber vor allem antiphilosophischen und antirevolutionären Katechismus mit dem Titel Théorie du bonheur, eine Fortsetzung des Comte de Valmont, den der Abt Gérard gleichfalls 1801 publizierte, d.h. ein Jahr vor Chauteaubriands Génie du christianisme ou beautés de la religion chrétienne (1802). Chateaubriand, Autor
14. Lamourette, Prônes civiques, ou le Pasteur patriote, Bd. 4, S. 42. 15. Abbé Barruel, Le patriote véridique …, Paris 1789. 16. Maistre, Joseph de, Considérations sur la France, London / Lausanne 1796. 17. La Harpe, Du fanatisme dans la langue revolutionnaire …, Paris 1796, neu aufgelegt 1797 und 1821.
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des Essai sur les révolutions (1797), der mit den Philosophen abrechnet, las sicherlich Ballanche und den Abt Gérard, wie er auch das Spectacle de la nature des Abts Pluche kannte. Mit einem gewissen Opportunismus und reichlich Talent erneuerte Chateaubriand die christliche Apologetik und bediente sich hierbei der romantischen Ästhetik, die er zugleich — mehr Künstler denn Philosoph — beförderte. Mit den Martyrs (1809) setzte Chateaubriand sein Werk fort. Mit de Bonald und Joseph de Maistre (1753–1821) traten Katholizismus und politische Reaktion gleichzeitig auf: ersterer veröffentlichte seine Legislation primitive (1802), der andere seinen Essai sur le principe générateur des institutions humaines (1810). Es folgten Des délais de la justice divine (1815), Du Pape (1819) und De l’Eglise anglicane (1821). Der Anfang des 19. Jahrhunderts wurde durch zahlreiche Neuauflagen apologetischer Werke des vorangegangenen Jahrhunderts gekennzeichnet. Jean-Etienne-Marie Portalis, Anfang 1801 Religionsminister, spielte in der religiösen Restauration Frankreichs eine grosse Rolle. Letztere machte das Konkordat möglich, das Portalis zwischen dem Heiligen Stuhl und Napoléon Bonaparte vermittelte. Eine seiner Arbeiten De l’usage et de l’abus de l’esprit philosophique durant le XVIII e siècle (1820), also dreizehn Jahre nach seinem Tod erschienen, drückt schon im Titel die Ziele des Autors aus. Portalis war, um es deutlich zu sagen, kein katholischer Apologet. Jedoch übernahm er den Ton und die Vorgehensweise der Apologetik. Er wies »la stérile et turbulente metaphysique du Contrat social« von Rousseau ebenso zurück wie Die Kritik der reinen Vernunft von Kant, während er »les admirables Essais de Nicole et les excellents Traités de Bossuet et de Fénélon«18 schätzte. Für den Religionsminister konnte die Moral nicht ohne Religion begründet werden: Je ne conçois pas quel degré de certitude aurait la morale, et quelle pourrait être la garantie des devoirs, si l’on faisait abstraction de toute idée religieuse.19
Lamennais (1782–1854) veröffentlichte 1817 den ersten Teil seines Essai sur l’indifférence en matière de religion, in dem er sich unzweifelhaft als ein furchterregender Erbe der katholischen Apologeten des 18. Jahrhunderts zeigt. Die Fortsetzung sollte 1820 erscheinen. Der ›frühe‹ Lamennais glaubte an die Dogmen der Kirche sowie an einen belohnenden und rächenden Gott. Jede Moral, die nicht von Gott sanktioniert war, übergross er mit Hohn. »La sécurité publique n’aura d’autre garant que le bourreau et l’on proclamera la justice au nom de la mort, pour n’avoir pas voulu la proclamer au nom de Dieu.«20 Die Entwicklung dieses aussergewöhnlichen katholischen Denkers berührt aber nicht mehr unseren Zeitraum. In Spanien entwickelte sich die katholische Apologetik, um das Fortschreiten von ›las luces‹, und des ›Enciclopedismo‹ zu verhindern. Von Geburt Portugiese publizierte Luis José Pereira 1771 in Madrid seine Theodicea, o la Religión Natural, defendida contra sus enemigos, los antiguos y nuevos Philosophos, con demostraciones Metaphysicas que otrece el Systema Mechanico, dispuestas con metodo geometrico. Hierin versuchte er insbesondere den
18. Portalis, Jean-Etienne-Marie, De L’usage et de l’abus de l’esprit philosophique durant le XVIII e siècle (1820), Neuauflage 1837, S. 37. 19. Ibid., S. 74. 20. Ibid., S. 150.
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Sensualismus mit den Prinzipien der geoffenbarten Religion in Einklang zu bringen. Als Antwort auf die ungläubigen Naturalisten veröffentlichte Pater Antonio Joseph Rodriguez vom Kloster Veruela El Philoteo en conversaciones del Tiempo21 (1776). Das Werk griff die Deisten an, die die Authentizität des Pentateuch in Abrede stellten. Als Zisterzienser verteidigte er die Offenbarung, die Wunder, die Prophezeiungen und die Evangelienkonkordanz. Zu den Verteidigern des katholischen Glaubens in Spanien gehörte auch Pater Fernando de Cevallos y Mier (1732–1802). Zu erwähnen ist besonders seine umfangreiche Falsa filosofía, o el Ateísmo, Deísmo, Materialismo, y demás neuvas sectas, convencidas de crimen de Estado contra los Soberanos y sus Regalías, contra los Magistrados y Potestades legitimas. Se combaten sus máximas sediciosas, y subversivas de toda Societad, y aun de la Humanitad22 (1774–1776). Diese imposante Fleissarbeit zeigt das Vorhaben des Autors in seinem ganzen Ausmass. Sie wurde beim sechsten Band unterbrochen, weil die Druckgenehmigung verweigert wurde. Einige Kommentatoren nehmen an, das Eingreifen Voltaires und seiner Schüler in Spanien gegen einen Gegner nachweisen zu können, der die französischen Philosophen gut kannte und sich im speziellen auf Voltaire gestürzt hatte. Man denke an eine Arbeit, die 1778 von demselben Cevallos geschrieben, aber nicht vor 1856 gedruckt wurde: el Judicio final de Voltaire. Ausser der Person und dem Werk Voltaires ist es die Philosophie der Aufklärung, die hier angegriffen wird. Beccaria hatte indessen mehr Grund, sich über Cevallos zu beschweren, da dessen Análisis del libro intitulado Delitos y Penas und die Angriffe in La Falsa Filosofia zur Verdammung von Beccarias Buch durch die Inquisition 1777 beitrugen. Insofern scheint Cevallos weniger ein Opfer von Voltaire als vielmehr ein Agent des weltlichen Arms der Kirche zu sein, der immer noch in ganz Europa gefürchtet war. Die Internationalisierung des Konflikts zwischen dem Katholizismus und der Aufklärung bleibt also eine unbestreitbare Tatsache. Der Erzbischof von San Juan de Compostela, Francisco Alexandro Bocanegra y Xivaga, griff gleichfalls die französischen Philosophen in zwei Pastoralen an. Voltaire und Rousseau werden darin im Detail beleuchtet. Die Declamación opportuna contra el libertinage del tiempo23 (1777) und die Saludable medicina para las dolencías del Siglo24 (1778) zeigen zwar einen beachtlichen antiphilosophischen Eifer, aber man konstatiert eine gewisse Differenz zu den französischen apologetischen Schriften, die damals vor allem auf die Veröffentlichung des Système de la Nature des Barons d’Holbach reagierten. Juan Pablo Forner, schärfster Polemiker seiner Zeit, liess 1786 sein Oración Apologética por la Espana y su merito Literario erscheinen, in dem »les Rousseau, les Voltaire, les Helvétius«25 stigmatisiert werden. Den Philosophen und der Encyclopédie feindlich gesonnen, war Juan Pablo ein Nacheiferer von Palissot, aber im Gegensatz zu dessen Les Philosophes (1760) wurde El Ateísta weder aufgeführt noch veröffentlicht. Nach der französischen Revolution veröffentlichte
21. Rodriguez, Antonio Joseph, El Philoteo en conversaciones del Tiempo, Madrid 1776. 22. Cevallos y Mier, Fernando de, Falsa filosofia …, Madrid 1774–1776. 23. San Juan de Compostela 1777. 24. Madrid 1778. 25. Forner, Juan Pablo, Oración Apologética por la Espana y su merito Literario, 1786, S. 8.
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Forner sein Preservativo contra el Ateísmo26 (1795). Nach 1789 wurde die spanische Apologetik antirevolutionär. Es handelte sich darum, sowohl den wahren Glauben als auch das Ancien Régime gegen die Französische Revolution zu verteidigen, die die Köpfe jenseits der Grenzen verwirrte. Das meint das burleske Gedicht La Galiada o Francia revuelta (1793) von Gonzáles del Castillo. Wurden diese Werke gelesen? Hatten sie ein Publikum? Einen grossen Erfolg auf der iberischen Halbinsel konnte das Werk des portugiesischen Paters Teodoro de Almeida aus Lissabon verbuchen. Es wurde ins Spanische übersetzt und mehrere Male neu aufgelegt, besonders sein Armonía de la razón y de la religíon, o Teología natural, contra las absurdas opiniones de los filosofos del día27 (1789). Olavide, eine umstrittene Persönlichkeit und ein Beobachter der französischen Revolution, erlangte eine Art Gelegenheitsruhm mit den zahlreichen Editionen seines Evangelio en triunfo, ó Historia de un filosofo convertido28 (1798). In England versuchten die anglikanischen Apologeten, insbesondere die Argumente von Hume zurückzuweisen. Im theologischen Lager gab es die »common-sense school«, die mit John Oswalds An Appeal to Common Sense on behalf of Religion29 (1766) eine Antwort auf Humes Skeptizismus geben wollte. Für diesen schottischen Theologen musste ein Atheist ein Verrückter sein. Als philosophischen Begriff hatte T. Reid den »common sense« bereits im An Enquiry into the Human Mind30 (1764) verwandt. Eine vulgäre Verwendung fand der Begriff in J. Beatties An essay on Truth (1770). Eine andere apologetische Strömung stellten die ›Hutchinsonians‹ dar, so benannt nach ihrem geistigen Mentor und Autor von Moses’s Principia. In Oxford setzten sich George Horne und William Jones (1746–1794) dem Rationalismus im selben Augenblick entgegen, als Newton das Gesetz der Gravitation formulierte. Diese Theologen hielten mit fanatischem Respekt an der Bibel fest, weil deren Inhalt die Dogmen des Christentums bezeuge — insbesondere den Begriff der Trinität. Horne griff in seinen Letters on Infidelity (1784) Humes Skeptizismus an. Die Kontroverse gegen Hume nahm einen besonderen Verlauf, als drei Apologeten auftraten, die sich durch Humes Angriffe auf ihren Glauben beleidigt fühlten. Der erste, George Campbell, schrieb eine Dissertation on miracles (1763), die lange Zeit für die beste Kritik Humes gehalten wurde. In demselben Geist schrieb William Adams einen Essay on Hume (1752) und einen Essay in answer to Mr. Hume’s Essay on Miracles. Für diese beiden Autoren gab es keinen gültigen Grund, nicht an die Existenz eines unsichtbaren, übernatürlichen Wesens und dessen Eingreifen in die Welt zu glauben. Man muss diesen beiden Theologen noch John Douglas zugesellen, der The Criterion, or Miracles examined (1754) veröffentlichte. Hierin wurde gegen neue Wunder argumentiert, ohne dass der Autor die Gefahr seines Argumentierens für vergangene Wunder erkannte. Die Doktrin der drei Apologeten ist eine Art Semirationalismus, obwohl dabei zutiefst christlich. Der beste englische Apologet der Epoche war vermutlich William Paley (1743–1805). Der
26. Forner, Preservativo contra el Ateísmo, Sevilla 1795. 27. Almeida, Teodoro de, Armonía de la razón y de la religíon …, Madrid 1789. 28. Almeida, Evangelio en triunfo …, 4 Bde., Valencia 1798. 29. Oswald, John, An Appeal to Common Sense on behalf of Religion, Edinburgh 1766. 30. Hume, David, An Enquiry into the Human Mind, Edinburgh 1764.
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Erzdiakon von Carlisle unterrichtete Moral, Metaphysik und Theologie am Christ College von Cambridge. Er schrieb 1785 The Principles of Moral and Political Philosophy. Sein originellstes Werk bleibt aber Horae Paulinae, or the Truth of the Scripture History of St. Paul evinced (1790), neben vielleicht A View of the Evidence of Christianity (1794). Um seine apologetische These zu verteidigen, berief er sich auf das Erbe von Nathaniel Lardner, d.h. auf die fünf Bände von Credibility of the Gospel History (1727–1743), die das Grundbuch der Orthodoxie darstellte. Paleys Natural theology, or Evidences and Attributes of the Deity collected from the appearances of Nature (1802) wurde 1808 ins Italienische und 1825 ins Spanische übersetzt. Zur Existenz Gottes meinte Paley, dass wir sie auf die eine oder andere Weise wissenschaftlich beweisen könnten, wenn wir über den sechsten Sinn verfügten, der dem Menschen fehle. Ist das der Köder, der den Rationalismus mit der göttlichen Transzendenz versöhnen soll? Man muss an die Ironie denken, mit der ein Helvetius Gefühle bedachte, aber der Methode von Paley fehlte es nicht an Geschicklichkeit. Während Hume argumentierte, dass wir keinen Grund haben, an einen unsichtbaren Gott zu glauben, nahm Paley diesen Gott als Ausgangstheorem wieder an. Er verteidigte die Idee des belohnenden und rächenden Gottes, denn die Absicht der christlichen Religion sei es, »la preuve d’un état futur de récompenses et de punitions«31 zu geben. Die Moral besitze ihr Fundament in den christlichen Dogmen. Die Hölle erwarte jene, die böse handelten. Seine Antwort auf Hume war in Bezug auf die Wunder von extremer Einfachheit. Er stiess zum Wesentlichen vor, ohne sich wie Adams und Campbell in Details zu verlieren. Wenn man glaube, dass Gott existiert, dann seien Wunder nicht unglaubwürdig, schrieb er. Für die Entwicklung des bayerischen Katholizismus nach der Aufklärung und nach der Französischen Revolution spielte Michael Sailer eine Rolle. Bis zum Verbot der Jesuiten gehörte er als Novize der Gesellschaft an; danach hatte er von 1799 bis 1822 Professuren für Moral- und Pastoral-Theologie an den Universitäten von Ingolstadt, Dillingen und Landshut inne. Man wird seinem 42bändigen Werk einen bleibenden ökumenischen Wert bescheinigen. Auch wenn Gorres Dollinger (1776–1848) seine Histoire de l’Eglise nicht vor 1836 veröffentlicht hat, muss man sich auf ihn als auf jemanden beziehen, der dem einfachen religiösen Gefühl eine grosse Bedeutung zugestand. Ohne seine Wirkung als besonders gross zu veranschlagen, muss man jedoch zugestehen, dass auch das Papsttum eine Rolle im Kampf des Katholizismus gegen die Aufklärung spielte. Es ist wichtig, kurz auf das Verhalten der verschiedenen Päpste einzugehen. Clemens XIII. erliess 1765 die Bulle Apostolicum pascendi munus, die sich gegen den Geist der Epoche stellte. Unter dem Pontifikat von Clemens XIV. (1769–1774) wurde der Orden der Jesuiten 1773 aufgelöst. Aber es sind vor allem die Taten seines Nachfolgers Pius VI., die zählen. Die Geschichte seines Pontifikats vermischt sich mit dem Kampf gegen die Aufklärung und zeigt viele überraschende Wendungen. Nach 1789 hielt die Inquisition die in Rom residierenden Franzosen für Feinde der Kirche; sie wurden verdächtigt, den Philosophen und Freimaurern wohlgesonnen zu sein. Die Inquisition ging gegen Römer vor, die verdächtigt wurden, ähnliche Sympathien zu hegen. Die diplomatischen Beziehungen Frankreichs zum Papst wurden im März 1791 unterbrochen. Im September desselben Jahres wurden Avignon und die Grafschaft
31. Paley, William, Works, 1802, Bd. 3, S. 211.
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Venaissin annektiert. Pius VI. wandte sich an mehrere Souveräne Europas und forderte sie zu einer gemeinsamen Verteidigung gegen Frankreich und zum Schutz des Kirchenstaats auf. Dem ideologischen Kampf folgte ein echter Krieg mit zuweilen komischen Zügen: Pius VI. bat Katharina II. von Russland inständig, dass diese Voltaire und Diderot nahestehende ›aufgeklärte Despotin‹ ihre Flotte im Mittelmeer postiere. Im Auftrag des Direktoriums befahl Napoleon dem General Berthier, auf Rom zu marschieren: am 10. Februar 1798 rückten die französischen Truppen in Rom ein, und am 15. Februar wurde der Freiheitsbaum feierlich auf dem Kapitol aufgestellt. Pius VI. wurde als weltlicher Souverän abgesetzt und die römische Republik gegründet. Zwar von der Armee bewacht, spielte der Papst dennoch eine nicht zu unterschätzende Rolle. Er veröffentlichte einige wichtige Breven: Jenes vom 30. Juni 1799 verbot das Gebet von »de haine éternelle à la royauté«. Aber war die ›Infâme‹ denn nicht für immer vernichtet? Es gab viele vor allem unter den französischen Revolutionären, die annahmen, dass die Kirche sich niemals wieder von der Papst Pius VI. zugefügten Niederlage erholen werde. Doch dieser Papst wusste seine Nachfolge geschickt durch die — vor seinem Tod in Kraft gesetzte — Verfassung vom 11. Februar 1797 vorzubereiten. Diesen neuen Regeln zufolge konnte nach dem Tod von Pius VI. der älteste Kardinal das Konklave in jedem Königreich einberufen, das von einem katholischen Souverän regiert wurde. So tagte denn das Konklave im Konvent auf der Insel San Giorgio in Venedig und wählte am 14. März 1800–unter dem Schutz des Herrschers Franz II. von Österreich — den Benedektiner Barnabé Chiaramonti zum Papst Pius VII. Wenig später wurde der neue Papst durch Ferdinand IV. von Neapel nach Rom eingeladen. Es war auch dieser Pius VII., der mit Napoléon Bonaparte das Konkordat von 1802 unterzeichnete. Damit waren die Grundlagen der katholischen Restauration gelegt, der Traum der Revolutionäre löste sich auf. Der Orden der Jesuiten wurde 1814 neugegründet: war das ein Symbol für die Rückkehr zur Vergangenheit schon vor dem Wiener Kongress? Hat also der Katholizismus seinen Kampf gegen die Aufklärung gewonnen, da insbesondere Frankreich katholisch blieb? Oder ist das Gegenteil der Fall: dass die Philosophie der Aufklärung, die Französische Revolution und die Erklärung der Menschenrechte definitiv einer alten Welt ein Ende gesetzt haben, die auf der Union von Thron und Altar beruhte? Ohne sich für das Eine oder das Andre zu entscheiden, wird man sich doch über die Entwicklung eines Katholizismus Gedanken machen müssen, der weiterhin in einem Europa besteht, das mehr und mehr von den Ideen der Aufklärung beherrscht wird. Gibt uns nicht die Karriere zu denken, die so bedeutende Figuren des Katholizismus wie Chateaubriand und Lamennais nach 1820 machten? Welch einen Kontrast bilden sie zu den ängstlich zusammengescharten Apologeten des 18. Jahrhunderts, aus denen allein Lamourette hervorragt.
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Freimaurer Jacques Lemaire
Die Illuminaten befanden sich oft am Rand der vernünftigen Welt und formierten sich bevorzugt als begrenzte Elite — mit Ausnahme des ›Bayrischen Illuminatenordens‹, der an Aufklärung und Rationalismus zugleich partizipierte. Die Gruppe der bayerischen Illuminaten, die am 1. Mai 1776 im bayerischen Ingolstadt vom Rechtsprofessor Adam Weishaupt gegründet wurde, sieht sich im Kielwasser der Aufklärung. Seine Anhänger, zu denen man auch Adolf von Knigge, Jean Bode und für einige Zeit Goethe (1749–1832) zählt, bekannten öffentlich deistische Ideen und verteidigten im Sinne Rousseaus die Ideale von Freiheit und Gleichheit, da sie der menschlichen Natur eingeboren seien. Um ihr ehrgeiziges Programm zu realisieren, setzten die Illuminaten auf Geheimgesellschaften, die sie zu den einzigen Erben der wahren Lehre Christi erklärten, deren ursprünglicher Inhalt durch Kirche und Prälaten entstellt worden sei. So dem Sozinianismus zugeneigt, bekämpften die Illuminaten den ›Betrug‹ der positiven Religionen auf dieselbe Weise wie die Philosophen der Aufklärung, indem sie wie diese auf den Verstand, den Fortschrittsglauben und die Macht der Erziehung vertrauten. Aber ihre Ambitionen erzeugten auch Ängste: Nach 1789 hat das katholische Bayern sie zu Unrecht als Anhänger grosser politischer Umwälzungen angesehen und sie als gefährliche Revolutionäre denunziert. Auf diese Weise trug es zu ihrem Verschwinden von der intellektuellen Szene bei. Die anderen Illuminaten-Gruppen tendierten eher zu irrationalen Bräuchen. Die Anhänger der ›Strikten Oberservanz‹ glaubten etwa an übernatürliche Kräfte und knüpften an die Mythen der Templer an. Die Aufklärer von Avignon praktizierten die Alchemie, die Martinisten waren verbunden mit der gnostischen Philosophie und die Mesmeristen vertrauten auf die Kraft des Magnetismus. Mit anderen Worten: Durch die kleine freimaurerische Tür trat die Magie wieder in die Geschichte des europäischen Denkens ein. Obgleich der von den Freimaurern hervorgebrachte ›Hauptmagier‹ aus Italien kam, war der Irrationalismus freimaurerischen Ursprungs hauptsächlich in Frankreich und Deutschland, in geringerem Masse in England anzutreffen. Am Ausgangspunkt einer Strömung, die die Revolution von 1789 überleben wird, findet sich ein gnostischer Denker, der aus Grenoble stammt: Martinés de Pasqually (1727–1774), Gründer des ›Martinésismus‹ (nicht zu verwechseln mit dem ›Martinismus‹, zu dem es erst später kam). Seine Doktrin machten sich viele freimaurerische Autoren Deutschlands und Frankreichs zu eigen, und sie ist in Pasquallys Traité de la réintégration des êtres dans leurs premières propriétés (1772–1773) formuliert. Angeblich beruht sie auf den Lehren der göttlichen Weisheit und behauptet, dass der Mensch durch Wissen und Nachforschung eine Reintegration erlangen könne. Das menschliche Sein rührt von Gott her, aber als Folge von Adams Sündenfall sei der Mensch an die Materie gekettet und sterblich geworden. Um sich aus seiner Knechtschaft zu befreien, müsse das Individuum versuchen, innere Perfektion zu erlangen. Hierfür bietet sich ein spiritueller Weg an: die Suche nach Kontakt mit der Gottheit oder deren Mittlern, den Engeln.
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Um zum erstrebenswerten Zustand der Reintegration zu gelangen, könnten alle Menschen die Hilfe der ›Auserwählten‹ Cohens erhalten. Hierbei handelte es sich um eine Art freimaurerischer Gruppierung mit priesterlicher Berufung, die Askese mit rigoroser Moral verband und auf magische Bräuche zurückging, die den Eingeweihten zu seinem ursprünglichen Zustand als ›Mensch-Gott‹ zurückführen wollten. Dom Antoine Pernéty (1716–1796), der Begründer der ›Illuminaten von Avignon‹, fühlte sich nicht nur von der Alchemie, der Mythologie und der Physiognomie sondern auch von der Theosophie angezogen. Er war überzeugt von der Kraft der hermetischen Chemie, die nicht nur die Natur perfektionieren könne, sondern die auch auf dem Wissen der Alten Welt beruhe (vgl. Les fables égytiennes et grecques dévoilées et réduites au même principe von 1758). Ausserdem schenkte Pernéty der physiognomischen ›Wissenschaft‹ sein besonderes Vertrauen (der Züricher Pastor Johann Lavater (1741–1801) wollte sie sogar in den Rang wahrer Wissenschaft erheben). Die Physiognomie stellt eine Beziehung zwischen der Physis und der Moral der Person her, und versucht Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Charakter und Gesichtszügen zu entdecken. Das Studium solcher Analogien kann nach Pernéty das Glück des Menschen begünstigen, wenn sie zugleich den Prinzipien von Emmanuel Swedenborgs (1688–1772) Religion folgen. Der schwedische Theologe, der selbst niemals zur Freimaurerei gehörte, stellt in den Arcanes célestes (1747–1758) und der Nouvelle Jérusalem et de sa doctrine céleste (1763) die Fundamente der modernen Theosophie dar. Seine mystische Doktrin wollte das innere Leben ergründen, um die Erkenntnis Gottes zu erreichen. Hierbei werden auch übernatürliche Mittel der Einwirkung auf die sinnlich wahrnehmbare Welt nicht abgelehnt. Glauben bestehe für den Gläubigen nicht mehr darin, seinem Verstand angesichts der göttlichen Mysterien zu entsagen, vielmehr könne er mittels des Denkens und des Herzens die göttliche Liebe erreichen. Gleichzeitig verteidigt Swedenborg die Vorstellung von der Auferstehung des Menschen als Engel. Auf diese Weise erneuerte er die christliche Doktrin von der Auferstehung der Körper. Nach dem Tod werden die Guten in der Welt des Geistes geläutert, aber die Bösen sind verloren. Doch Gut und Böse sind nur zwei Formen der all-einen Natur. In der gleichen Tradition steht Jean-Baptiste Willermoz (1730–1824), literarisch gesehen zwar ein zweitrangiger Autor, aber ein Denker ersten Ranges im intellektuellen Kosmos der Freimaurer. Dieser überzeugte Christ wurde sowohl von theosophischen Ideen des Martinés de Pasqually als auch von den hermetischen Bestrebungen der deutschen Rosenkreuzer geleitet. Aufgenommen in den Orden der Auserwählten und eingeweiht in die Mysterien der Rosenkreuzer, sah Willermoz im freimaurerischen System (von mitunter phantastischen Zügen) Wege zu seiner geistigen Befreiung. Zentrale Gestalt des Konvents von Wilhelmsbad im Juli 1782, machte er die Bestrebungen Adam Weishaupts zunichte, die deutschen Logen aus der Vereinnahmung durch die Politik zurückzugewinnen und bekämpfte somit die antiklerikalen und antimonarchistischen Intentionen der bayrischen Illuminaten. Als Begründer des Rektifizierten Schottischen Ritus hing Willermoz auch dem Mesmerismus an und nahm in Lyon an der Arbeit der Loge La Concorde teil, die auf der Grundlage der Theorien des Freimaurers Franz Mesmer (1734–1815) mit dem Magnetismus experimentierte. Diese ursprünglich medizinische Lehre wollte die ›Flüssigkeiten‹ des menschlichen Körpers beherrschen und mit ihrer Hilfe die universelle Harmonie realisieren. Man weiss heute um die Bedeutung der Mesmerischen Experimente für die Entwicklung der Wissenschaften (ins-
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besondere der Physik) zur Zeit der Aufklärung. Das Zusammentreffen des Mesmerismus mit der Freimaurerei war nicht zufällig: Wissenschaften und Geheimgesellschaften gehen auf die geheimen Kräfte der Natur zurück und gelangen damit zu einer gewissen Esoterik. Die Mesmeristen von Lyon misstrauten allerdings dem animalischen Magnetismus, weil man ihn als zu materialistisch beurteilte. Sie setzten mehr auf den Somnambulismus, um die Geheimnisse des Seins zu entdecken. Er sollte als Leitfaden in den metaphysischen Labyrinthen dienen. Okkultismus, Parapsychologie und Hermetismus hatten gleichermassen teil an der spiritualistischen Vorstellung menschlichen Lebens, wie ihr auch Willermoz, bekanntester Theoretiker der Freimaurer in seinem Jahrhundert, anhing. Dieser Vater der modernen Freimaurerei hatte so sehr an die Transzendenz geglaubt, dass er sich in Betrügereien verwickeln liess und in zweifelhafte Prophezeiungen mehr Vertrauen setzte als in die philosophischen Werte, auf denen der Symbolismus der Freimaurerei beruhte. Als vielschreibender Freimaurer der ersten Stunde erfuhr Louis-Claude de Saint-Martin (1743–1803) ein ähnliches Schicksal wie Willermoz. Auch er war in die Mysterien der Auserwählten eingeweiht und durch die Schriften des deutschen Mystikers Jacob Böhme (1575–1624), dem ›Unbekannten Philosophen‹, wie man ihn zu seiner Zeit nannte, angeregt. Auch er versuchte, Philosophie und Theologie zu versöhnen, um sie in Theosophie münden zu lassen. Sein Illuminismus glaubte an die Einheit von Gott, Mensch und Universum und forderte zur Askese auf, damit die verlorene Weisheit wiedergefunden werden könne. Der ›Martinismus‹ lehnte alle Formen des Materialismus ab und behielt die Glaubenstatsachen einigen Eingeweihten vor, die über eine besondere mystische Gnade verfügen. In Le Nouvel Homme (1796) hofft er auf die Erneuerung der menschlichen Natur, wenn der Mensch in Gott zurückkehrt oder Gott sich in der menschlichen Natur auflöst. Diese Wiederherstellung soll sich in der Suche nach der Weisheit vollenden; die Suche selbst sei die Theosophie. Mit L’Homme de désir (1790), einer der Abhandlungen, die den grössten Einfluss auf die romantische Religion ausgeuebt haben, distanzierte sich Saint-Martin vom freimaurerischen Symbolismus und integrierte den Mystizismus in das alltägliche Leben. Es seien nicht Liturgien oder Rituale, die den Menschen spirituell bereicherten, denn sie übersetzten die göttliche Erleuchtung nur auf unvollkommene Weise. Es gehe vor allem um die mystische Gemeinschaft mit Gott, der Quelle des Lebens. Der ›Unbekannte Philosoph‹, der das Abstrakte über das Konkrete, den Geist über das Ritual stellte, hatte sich auch in seinem Traktat Von den Zahlen (postum 1843) in pedantischer Zahlenmystik versucht. Dennoch forderte er eine Christlichkeit, die ganz der Innerlichkeit zugeneigt ist und stellte auch Christus ins Zentrum aller Reflexionen und Handlungen: Der Christ soll zu einer Art ›Grossmeister‹ werden, der den Zusammenhalt aller geistigen Gruppen sichert, die sich auf die christliche Botschaft berufen. Obwohl von Geburt Aristokrat durchquerte Saint-Martin unbehindert die revolutionäre Periode. Er sah in den sozialen und politischen Umwälzungen seiner Zeit eine Art Züchtigung für den Verfall des Christentums und die Auflösung der Monarchie. Er glaubte, dass aus der Revolution eine neue Religion geboren werde, eine Theokratie, in der Mensch und Gott sich treffen. Als Ratgeber Joseph de Maistres (1753–1821) beeinflusste Saint-Martin später das religiöse Denken von Lamennais bis Balzac. Im Laufe der Zeit entfernten sich die freimaurerischen Denker vom Christentum: die einen, indem sie wie die bayerischen Illuminaten die Kirche ablehnten, die anderen, indem sie, wie
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Dom Pernéty, Willermoz und Saint-Martin, dem Mystizismus anhingen. Dennoch gingen nicht alle freimaurerischen Spiritualisten diesem Weg: Martinés de Pasqually, geborener Jude, bekehrte sich zum Katholizismus; der deutsche Schriftsteller Ludwig Werner (1768–1823), Autor des Dramas Les Templiers (dem die Ehre einer Aufführung niemals zuteil wurde), verliess den Esoterismus, konvertierte in Rom und wurde Priester (1814), und es war vor allem Joseph de Maistre, Anhänger von Saint-Martin, der sich im Schmuck eines katholischen Theokraten zeigte. Als Maistre in den Jahren 1779–1780 mit Willermoz in Kontakt trat, stimmte er seinen Rationalismus schlecht mit dem Mystizismus seines Briefpartners ab. In seinen Augen sollte sich die Freimaurerei nur als »Science de l’homme« (Mémoire au duc de Brunswick von 1782) behaupten. Das Ritual war ihm nicht mehr als eine Garantie guter Logenarbeit, und der Symbolismus der Ateliers nur eine allegorische Interpretation der Heiligen Schrift, die als »christianisme transcendant«, einen Zusammenschluss der verschiedenen christlichen Konfessionen befördern konnte. Doch Maistre konnte sich diese Synthese nur als eine im Katholizismus vorstellen. Diese Idee griff er in den Soirées de Saint-Pétersbourg (1824) wieder auf; die Entretiens IX, X und XI beziehen sich direkt auf den Freimaurer-Orden und erklären seine Unfähigkeit, dem Individuum Zugang zu den erhabensten Wahrheiten zu erschaffen. Zu den mystischen Freimaurern an der Wende des Jahrhunderts muss man noch eine der pittoreskesten Gestalten der Epoche rechnen: Giuseppe Balsamo, genannt Cagliostro (1743– 1795). Sein literarisches Werk ist unbedeutend, doch sein Einfluss auf die Literaten in Frankreich, Deutschland, Belgien und England war beachtlich. Die Biographie dieses Mannes entwickelte sich fast romanhaft. 1777 mit den höheren Weihen in London versehen, aufgenommen in die Logen von Lüttich, Den Haag, Leipzig, Lyon (wo er J. B. Willermoz trifft) und Paris (wo er Bekanntschaft mit Saint-Martin schliesst) wirkt er teils faszinierend, teils abstossend. Gewandt in Rhetorik und Psychologie, verlieh er sich übernatürliche Kräfte und behauptete, alchemistische Geheimnisse zu kennen. Wie die anderen Eingeweihten seiner Zeit bediente er sich der Physiognomie und glaubte an eine elitäre Organisation des Sozialkörpers. Beeinflusst vom Roman Séthos des Abts Terrasson (1660–1750) begründete Cagliostro den ägyptischen Ritus, der Echos in der Zauberflöte von W. A. Mozart und E. Schikaneder hervorrufen sollte. Cagliostros System zielte ausschliesslich auf freimaurerische Meister und konstituierte so ein Ensemble von hohen Würdenträgern, wie man es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts häufig antraf. Die Eingeweihten sollten zum Glauben an Gott und an die Unsterblichkeit der Seele zurückgeführt werden. Das Ziel der freimaurerischen Einweihung bestehe darin, den Menschen zur Wiedereroberung seiner verlorenen Würde zu veranlassen, indem man ihm die physische und moralische Vollkommenheit zurückgebe. Die Doktrin grenzt an die Theosophie, zu der der Mystagoge jedoch die Lehre der magischen Techniken hinzufügt. Viele seiner Zeitgenossen sahen in Cagliostro nur einen Scharlatan und Schwindler, der allein dazu tauge, sich auf Kosten der Naiven zu bereichern. Statt als Autor eines interessanten Buches aufzutreten, erfuhr Cagliostro eher ein aussergewöhnliches literarisches Schicksal: Goethe stellt ihn im Grosskophta (1790) und Schiller (1749–1805) im Geisterseher (1787) dar, Gérard de Nerval (1808–1855) erwähnt ihn in seinen Illuminés (1852), George Sand (1804–1876) macht aus ihm eine Figur in La comtesse de Rudolfstadt (1843 / 1845) und Alexandre Dumas (1802–1870), Vater und Sohn, bedienen sich seiner als Figur ihrer Romane und Theaterstücke.
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Man sollte die Schriftsteller, die zur Freimaurerei gehörten, sie aber in ihren Büchern nicht darstellten, von jenen unterscheiden, die — wie die meisten Repräsentanten der illuministischen Strömung — den Orden hervorhoben und ihre Leser einluden, über seine Ziele, seine Symbolik und seine moralische Bestimmung nachzudenken. Erstere finden sich vor allem in Italien, England und Frankreich, letztere hingegen in Deutschland. Sie sind ohne Ausnahme berühmte Gelehrte und stellen für die europäische Ideengeschichte bedeutende Namen dar. Für Italien kann man nur einen einzigen freimaurerischen Schriftsteller hervorheben: Jacques Jérôme Casanova de Seingalt (1725–1798), besser bekannt als Abenteurer, Betrüger und Erfinder des Glückspiels denn als Literat. Seine Histoire de ma vie (1826–1838), in Französisch abgefasst, zeichnet das Bild einer zu Ende gehenden Epoche: die Welt grosser Geister und durchtriebener Roués, der leichten Mädchen und der prunkliebenden Aristokraten. Seine Kenntnis der menschlichen Psychologie bescherte ihm eine beeindruckende Zahl an amourösen Eroberungen und erlaubte es ihm, treffend eine dekadente Gesellschaft zu beschreiben, die in den letzten Atemzügen liegt. Angeregt von Rousseaus (1712–1778) Ideal der natürlichen Güte und der Rückkehr zur primitiven Unschuld repräsentiert Casanova zwar eine Minderheitstendenz, die aber doch lebhaft in der Literatur der Zeit vertreten ist. Sie wird vom Libertin verkörpert, der zwischen Philosophie und Schamlosigkeit steht. In England finden wir nicht weniger interessante Persönlichkeiten. Der Schotte James Boswell (1740–1795), der die Ämter des Abgeordneten Grossmeisters Schottlands von 1765 bis 1778 ausübte, war ein ebenso spielerischer wie neugieriger Charakter. In seiner Jugend dem mondänen Milieu Londons verhaftet, traf er dort den vielseitigen Schriftsteller Samuel Johnson (1709–1784) und wurde sein Freund. Ihm widmete er The life of Samuel Johnson (1791), ein Meisterwerk der Biographie in englischer Sprache. Er unternahm zahlreiche Reisen (nach Korsika, zu den Hebriden), versuchte eine politische Rolle zu spielen und ertränkte seine existentiellen Sorgen und finanziellen Schwierigkeiten schliesslich in denkwürdigen Saufereien. Sein Journal enthält zwar eine grosse Anzahl schlüpfriger Details, erinnert aber in der präzisen Beobachtung und der Tiefe der Reflexion an die autobiographischen Werke Jean-Jacques Rousseaus. Robert Burns (1759–1796) zeichnete sich durch ein unbeschwertes Temperament und viel Lebenslust aus. Seine Songs und seine Poems (1786) spiegeln Erotisches und Bacchantisches in ironischem oder phantastischem Ton. Die wenigen freimaurerischen Gedichte, die er verfasste (vielleicht aus Anlass seiner Berufung zum Logenmeister in Manchline), loben insbesondere die philadelphischen Aspekte des Ordens und das Vergnügen bei der Wiederbegegnung von Freunden. Doch The Jolly Beggars bezeugen hingegen ein entschiedenes politisches Bewusstsein, das möglicherweise von den Ereignissen der französischen Revolution beeinflusst wurde. Insgesamt zeichnete ihn ein satirischer Geist aus, der auch die Religion nicht verschonte. Mit Lord Chesterfield (1694–1773) verfügten die englischen Autoren über einen Repräsentanten anderer Willenskraft. Als Absolvent von Cambridge, Abgeordneter des Unterhauses, dann Mitglied des Oberhauses und Botschafter in Den Haag kannte dieser Grand Seigneur die intellektuelle Elite seiner Zeit. Der Freund von Alexander Pope (auch ein Eingeweihter) und John Arbuthnot, des Mathematikers und Musikwissenschaftlers, fühlte sich eng mit Voltaire, Rousseau und Montesquieu verbunden, dem er mit einer Patenschaft Zugang zu einer englischen Loge verschaffte. Seine Letters to his son Philip Stanhope (1774–1778) belegen seine Qualitäten als Autor und Moralist, dem man nichtsdestotrotz seine sexuellen Freiheiten und einen gewissen
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aristokratischen Zynismus vorwarf. Der Archäologe William Hutchinson (1732–1814) veröffentlichte 1775 The Spirit of Masonry, das den Symbolismus der Freimaurer im Deismus des 18. Jahrhunderts verankerte. Dennoch lehnte Hutchinson nicht das Christentum ab: Er reservierte im Gegenteil den Zugang zur Loge allein den Anhängern des Dogmas der Dreifaltigkeit und sah in der Wissenschaft (d.h. der Geometrie, die durch das freimaurerische G symbolisiert wird) das sicherste Mittel zur Entdeckung Gottes. In Frankreich wie in England haben sich gleichzeitig sowohl grosse Intellektuelle als auch unbedeutende Autoren der Freimaurerei angeschlossen und so zumindest auf indirekte Weise eine Verbindung zwischen Gelehrtenwelt und Freimaurertum etablieren können. Anders als das Publikum gelegentlich annimmt, engagierten sich die Hauptakteure der Aufklärung nicht oder nur sehr wenig für die von den Logen entworfenen spirituellen Wege. Diderot, Rousseau und Condorcet gehörten nicht zu den Empfängern einer ›Erleuchtung‹; Voltaire wurde erst spät — und zwar einige Monate vor seinem Tod — von der Pariser Loge der Neuf Sœurs aufgenommen. Das Aufnahmeritual glich mehr einer Feier seines Genius als der allen Kandidaten auferlegten Einweihungsprüfung. Von den prominenten Schriftstellern erfuhren allein Helvétius und Choderlos de Laclos eine Einweihung. Doch das hatte keine greifbaren Auswirkungen auf ihre Werke. Claude Helvétius (1715–1777) schrieb als Mann von Welt, der einerseits den Hedonismus und andererseits die Pädagogik propagierte (so in De l’homme von 1772), aber nicht als Freimaurer. Dagegen legte Pierre Choderlos de Laclos (1741–1803) einen ziemlich langen Weg als Freimaurer zurück. Er wurde in den Rosenkreuzer-Orden aufgenommen und unterstützte die Politik von Philippe d’Orleáns, dem Grossmeister des Grand Orient de France. Seine Liaisons dangereuses (1782), einer der grossen französischen Romane des 18. Jahrhunderts, enthalten jedoch keine Anspielung auf die Angelegenheiten der Freimaurer. Stattdessen präsentiert der Roman eine präzise Analyse des Bösen und seiner philosophischen Aspekte. Mit dem Bösen setzte sich auch der Marquis de Sade (1740–1814) auseinander, dessen Namen 1791 auf der Liste der Loge Les Amis de la liberté stand. Anders als Choderlos de Laclos forderte er das Recht zur Ausschweifung, sowohl auf dem Gebiet der Philosophie als auch auf dem der Moral. In der absoluten Ablehnung aller Autoritäten war ihm bereits Louis-Sébastian Mercier (1740–1814), Mitglied der Loge der Neuf Sœurs seit 1778, vorangeschritten. L’An 2440 (1771) ist eine Art Zukunftsroman, in dem der Autor die Hoffnungen seiner Epoche ausmalt. Sein sozialreformatorisches Engagement drückt sich deutlicher in dem Tableau de Paris (1781–1788) aus, wenn er den Konservatismus des Adels kritisiert und für Religionsfreiheit plädiert. Auch am anderen Ende der politischen Skala findet man den Logen verbundene Autoren. Prinz Charles Joseph de Ligne (1735–1814), Eingeweihter der Loge von Gent, gehörte nicht zu den Vertretern der neuen politischen Ideale. In den Mémoires und den Lettres et pensées (1809) zeigt er sich durchaus als ein Angehöriger des Ancien Regime. Enzyklopädisch gebildet verfügte er über einen preziösen Scharfsinn. Anderes gilt für Sébastien Chamfort (1741–1794), Mitglied der Loge der Neuf Sœurs. Ruhmsüchtig begrüsste er enthusiastisch eine Revolution, die ihn ruinieren sollte, indem sie ihn seiner Einnahmequellen beraubte. Mit beissendem Spott attackierte er die neuen Machthaber nicht anders, als er die alten angeprangert hatte. Wiederholt wurde er von der Polizei verdächtigt und bedroht. Er entkam ihr, indem er sich umbrachte. Sein Bruder in den Neuf Sœurs, Bernard de Lacépède (1756–1825), sollte mit der zivilen Macht geschickter
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umgehen: 1791 Deputierter, wurde er 1804 Staatsminister und 1814 Pair von Frankreich, gab aber langsam seine Arbeit als Schriftsteller und Musiker zugunsten öffentlicher Wirksamkeit auf. Die Beziehungen zwischen Literatur und Freimaurerei stellen sich in Deutschland anders dar, wo der Symbolismus der Logen und die Moral der Freimaurer ein besonderer Aspekt der romantischen Bewegung war. Es gab praktisch keinen deutschen Autor der Epoche, der nicht der Brudergesellschaft angehörte oder nicht über sie geschrieben hätte. Der ohne Zweifel wichtigste unter ihnen ist der sächsische Autor Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781). Eingeweihter der Loge Zu den drei Rosen seit dem 14. Oktober 1771, scheint er sich vom freimaurerischen Denken erst Anfang 1780 entfernt zu haben. Was Lessing an den Freimaurern faszinierte, war, dass sie alle philosophischen Systeme im Geiste der Toleranz anerkannten. Hiermit gehörte er in die Ahnengalerie des Ritters André de Ramsay (1686–1743), dem französischen Fürsprecher einer universellen Religion. Lessing hat in seinem letzten wichtigen Werk, dem Nathan der Weise (1779), für Humanität und religiöse Toleranz plädiert und damit dem universalen Geist das Wort gegeben. Das Drama kulminiert in der Parabel von den drei Ringen, mit der die christliche, jüdische und die islamische Religion als gleichwertig dargestellt werden. Seine Synthese von Rationalismus und Gefühl bezeichneten einen bedeutenden Schritt in der Geschichte der abendländischen Geisteswelt. Lessings Meinung zufolge entspringen die Religionen dem Zufall: Doch eine einzige enthüllt sich als die ideale, der Deismus. Er entsprach dem Denken der meisten Freimaurer in Deutschland. Lessing propagierte ihn in Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780), einer Folge von hundert Kapiteln, in der nachgewiesen wird, dass nur die natürliche Religion (der Deismus) es erlaube, die historischen Religionen zu verstehen. In den Freimaurergesprächen (1778–1780) unterhalten sich zwei Personen; die eine, Ernst, ist Freimaurer und erklärt der anderen, Falk, die Ziele des Ordens: Respekt vor dem Nächsten, Toleranz und Liebe zu den Menschen. Das freimaurerische Geheimnis meint nichts anderes, als dass es den Freimaurern nicht erlaubt ist, ihre Ideen und ihre Projekte öffentlich zu erklären. Um ihre Funktion als ›Sammler‹ zu erfüllen, müssen die Eingeweihten stattdessen aktiv werden. Ihre Taten sind eine Wohltat für die Welt, und insofern beweisen sich die Freimaurer als Weltbürger. Der Begriff »was verstreut ist, zu sammeln« zielt jedoch nicht auf eine Vereinheitlichung der menschlichen Natur. Lessing rät Freimaurern vor allem, sich weder den Vorurteilen zu unterwerfen, von denen die Masse der Menschen geprägt ist, noch sich von deren Lage verblenden zu lassen. Ähnliche Gedanken finden wir im Werk Goethes, der seinen von der Freimaurerei angeregten Schriften grössere Bedeutung zumass, als das seine Vorgänger mit den ihrigen taten. 1780 als Eingeweihter der Loge ›Amalia zu den drei Rosen‹ in Weimar aufgenommen, versuchte Goethe auch, Mitglied des Illuminatenordens zu werden. Ihm gehörte er dann seit 1784 an. Doch wie Lessing strebte er dort nicht nach höheren Ämtern und scheint alle Teilnahme an den Arbeiten der Loge abgelehnt zu haben. Die Themen der Kraft, Schönheit und Weisheit tauchen beständig auf und deuten auf Goethes ewiges Streben nach der verlorenen Einheit. Die zwei Faust-Dramen symbolisieren dieses Streben. Da die Freimaurer jedoch auch dem Ideal des freien Worts verbunden sind, zögerte Goethe nicht, auch Lügner und Heuchler in der Freimaurerei lächerlich zu machen. In Der Gross-Kophta verspottete er sogenannte Weise, die nichts als Auszeichnungen suchen und
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sich um die lächerlichsten Titel streiten. Die Freimaurerei selbst wird in Symbolum (1814) und in Fünfzig Jahre sind vergangen (1830) behandelt; die Erzählung Die grüne Schlange beruht auf dem Symbolismus der freimaurerischen Einweihung. Ein anderer Schriftsteller und Eingeweihter des Ordens sah in der Freimaurerei eine Gesellschaft, die in der Stille für das Wohl der Menschheit handelt: Johann Gottfried Herder (1741–1803). Er war der einzige unter den Autoren dieser Generation, der in intellektuellem Verkehr mit den Vertretern der Aufklärung in Paris (Diderot, d’Alembert) und zahlreichen Freimaurern stand. Doch auch seine Verbindungen zu grossen deutschen Autoren waren nicht weniger zahlreich: Er war Schüler von Kant, traf Lessing und verkehrte lange Zeit mit Goethe. Die ideologische Position Herders ist widersprüchlich: als Anhänger des Sturm und Drang plädierte er für das Recht der Persönlichkeit und der Empfindsamkeit, förderte die alte deutsche Kultur und verteidigte die Werte des Irrationalismus. Das hinderte ihn aber nicht, bei den Freimaurern die Einführung der Alchemie und der Magie zu verdammen oder unklare Theorien zu attackieren, die die Freimaurerei auf den Orden der Templer zurückführen wollten. Freimaurerische Gedanken werden in den Briefen zur Beförderung der Humanität (1793–1797) artikuliert, und in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) fordert er einen Humanismus, der an die von Lessing in der Erziehung des Menschengeschlechts entwickelten Ziele erinnert. Von den Idealen der Freimaurer glaubte er, dass sie zum Leben im goldenen Zeitalter zurückführen könnten — ein wenig auf Jean-Jacques Rousseaus Weise. Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) formulierte seine Vorstellungen von der Freimaurerei, die denen Lessings und Goethes ziemlich nah stehen, in verschiedenen Vorlesungen — unter dem Titel Philosophie der Maurerei vereint. Der Freimaurer-Orden habe die Aufgabe, den Menschen eine Erziehung zu geben und sie über ihren gegenwärtigen Zustand zu erheben. Denn nur wenn die Individuen sich entwickelten, könnte die Menschheit voranschreiten. Wegen seines Nationalismus sah Fichte jedoch — anders als Goethe — im Weltbürgertum kein erstrebenswertes Ideal. Mit Novalis (1772–1801), Pseudonym des Friedrich von Hardenberg, endet die PortraitGalerie der grossen schriftstellernden Freimaurer in Deutschland. Novalis war zwar ein Schüler von Fichte, doch zugleich am weitesten einer mystifikatorischen Schreibweise zugeneigt, die nur noch wenig an die aufgeklärten Theosophen des 18. Jahrhunderts erinnerte.
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Die hermetischen Tendenzen József Pál
Zur Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts gehört nicht nur die Philosophie der Aufklärung, sondern auch der Hermetismus. Er steht nicht durchwegs in Opposition zur Aufklärung, sondern weist zu dieser manche Analoga und Übereinstimmungen auf. Die hermetischen Tendenzen weisen im grossen und ganzen folgende Charakteristika auf: 1.
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Existenz und Bewusstsein sind an einen transzendenten Geist gebunden, dessen Erkenntnis einerseits unabhängig ist vom Rationalismus, andererseits aber auch über die institutionalisierten Religionen oder den Begriff des ›Glaubens‹ hinausweist. Besondere Eigenschaften ermöglichen einzelnen Menschen die Beziehung zu diesem allgemeinen Geist. Die Geheimnisse der göttlichen Schöpfung offenbaren sich also nur in Menschen mit aussergewöhnlichen Fähigkeiten; diese ›Erwählten‹ können sich zu einer — formellen oder informellen — Gemeinschaft zusammenschliessen. Hinsichtlich des Glaubens unterscheiden sie sich von den institutionalisierten Religionen, da sie eine andere Sapientia Sacra verkünden. Obwohl der Hermetismus bestimmte (pseudo)wissenschaftliche Elemente (Alchimie) bewahrt, ›überschreitet‹ er sie und verlässt sich ganz auf das ›Eingreifen‹ der Transzendenz. Wie das Christentum zeichnet sich der Hermetismus durch einen ausgeprägten Sinn für das Gemeinwohl aus. Seine Anhänger erhoffen die Umbildung der Gesellschaft im Hinblick auf eine bessere Zukunft. Im Goldenen Zeitalter, das da kommen soll, wird eine erleuchtete Elite tätig, und ihre Mitglieder werden die Macht erlangen. Diese Macht ist abhängig von dem Grad, in dem die Mitglieder in die Geheimnisse eingeweiht sind. Diese Einweihung besteht aus mindestens drei Phasen: Lehrling — Geselle — Meister.
In ideengeschichtlicher Perspektive geht das hermetische Denken zurück auf die (pseudo)ägyptische Philosophie, die persische, jüdische und christliche Mystik sowie die apokryphen Schriften der Bibel und die Häretiker. Was die historischen Hermetisten betrifft, so knüpfen sie an die mittelalterlichen Orden und die von der Römischen Kirche verfolgten Templerorden an. Seit 1770 vermehrten sich in Europa die Geheimgesellschaften rapide. Sie organisierten sich, um magische Lehren zu entwickeln und zu verbreiten. Die Tätigkeit ihrer Mitglieder reicht weit über den geschlossenen Kreis hinaus. Obwohl sie stark an die Aristokratie und das Grossbürgertum gebunden waren, gehörten sie doch auf politischer Ebene zu den Wegbereitern der Revolution. Einige ihrer Parolen und Devisen stimmten mit denen der Jakobiner überein (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit), auch gab es wichtige personelle Überschneidungen zwischen beiden Bewegungen. Im Frankreich der Revolution waren 477 der 605 Abgeordneten der Nationalversammlung Freimaurer.1 Erwähnt werden können auch die bayrischen Illumina-
1. Bayard, Jean-Pierre, La symbolique de la Rose-Croix, Paris 1975.
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ten, die Adam Weishaupt (1748–1830) am 1. Mai 1776 vereinte und deren Ziele unter anderem die Verringerung des kirchlichen Einflusses war. Zu den Mitgliedern oder Sympathisanten der genannten Gruppen gehörten Saint-Martin, Goethe, Herder, Madame de Staël, König Wilhelm Ferdinand von Preussen, Karl August von Sachsen-Weimar, König Gustav II. von Schweden, der Herzog von Burgund, mehrere Mitglieder des Hauses Orléans und sogar der russische Zar Alexander I. In Paris gerieten Mirabeau, Robespierre, Lavoisier unter den Einfluss des freimaurerischen Denkens, das sich von den bayrischen Illuminaten anregen liess. Obwohl Papst Clemens XII. die Geheimgesellschaften mit der Bulle In Eminenti 1738 von der Kommunion ausschloss, konnte er ihre Zunahme nicht verhindern. In den Jahren nach 1770 bildeten sich in mehreren Städten Frankreichs (in Avignon, bei Lyon und in Paris) Zentren der Freimaurer und Rosenkreuzer. Als Vorläufer sind die Tempel der Erwählten von Cohen zu nennen, die in Toulouse (1760) und Bordeaux von Martinez Pasqualis gegründet wurden, oder der Dictionnaire mythologique (1758) von Dom Pernety, der vor den Verfolgungen der Kirche fliehen musste. Die Mutterlogen des Schottischen Ritus, die 1776 in Paris und in Avignon gegründet wurden, beruhen hauptsächlich auf ›hermetischen‹ Grundlagen; sie kennen Ritter mit dem Goldenen Schlüssel oder mit dem Goldenen Vlies. Die Loge Saint-Lazare übernahm 1778 die Bezeichnung ›Contrat Social‹ und bekundete auf diese Weise ihre Ansicht zu den sozialen Fragen des 18. Jahrhunderts. Der Ungar Kazinczy Ferenc war im übrigen von freimaurerischen Vorstellungen beeinflusst, als er Rousseaus Werk übersetzte, bevor er es später verbrannte. Auch verbreiteten ungarische Freimaurer Rousseaus Ansichten über die soziale Gleichheit, wobei sie zweifellos politische Absichten verfolgten. Die Epoche wurde praktisch von zwei kaum zu unterscheidenden Tendenzen beherrscht: Rosenkreuzertum und Freimaurerei. Zwar existierten weitere okkulte Lehren und Geheimgesellschaften, aber ihre Bedeutung war gering. Die Wirksamkeit der beiden grossen Gruppen bestand darin, die ›milieux civilisés‹ in Europa zusammenzuschliessen, um auf diese Weise zur Völkerverständigung und zur Aufklärung beizutragen. Bei einer der herausragenden Persönlichkeiten, dem Grafen Saint-Germain (1707–1778), wissen wir nicht, ob er portugiesischer Jude oder spanischer Jesuit war. Bekannt war jedoch, dass er alle Weltsprachen beherrschte, überall zugegen war, seine Ideen vertrat und Bewunderung hervorrief. Er dominierte den Okkultismus des 18. Jahrhunderts, ohne doch einer seiner Sekten anzugehören. Puschkin zufolge besass der Graf prophetische Gaben; noch 1883 erwähnt er in seiner Novelle Pique Dame bewundernd den Namen Saint-Germain und lässt ihn behaupten, er sei der Ewige Jude und habe den Stein der Weisen gefunden. Wer die Rosenkreuzer von den Freimaurern abgrenzen möchte, nimmt eine fast unlösbare Aufgabe in Angriff. Erstere banden sich nicht an feste Formen oder schlossen sich organisierten Gruppen an. Sie knüpften an das mittelalterliche Templertum an sowie an okkulte Tendenzen vom Beginn des 17. Jahrhunderts — die Fama Fraternitatis von Valentin Andreae und die Schriften des Ordensgründers Christian Rosenkreutz (Confessio Fraternitatis, 1615; Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz, 1616). Es ging bei den Rosenkreuzern um ein Gefühl der Einweihung, um einen geistigen Zustand, der jedoch nicht den Anspruch erhebt, dass man formell einer der Gesellschaften angehört. Der Definition René Guénons zufolge bedeutet das Symbol des Rosenkreuzes »la reintegrazione dell’essere al centro di questo stato e la piena espansione delle sue possibilità individuali a partire da questo centro; è la restaurazione dello
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stato primordiale«.2 Die Freimaurerei bildete hingegen eine straffe Organisation aus, deren Sensibilität für soziale Probleme stark ausgeprägt war. Die Offenbarungen der hermetischen Traditionen waren von Beginn an eng mit der sogenannten Geheimphilosophie des antiken Ägypten verknüpft. Die Corpus Hermeticum genannten Dokumente, die vorwiegend auf Griechisch und Koptisch verfasst sind und wahrscheinlich aus dem zweiten Jahrhundert stammen, besagen, dass die Quelle des geheimen, göttlichen Wissens der ägyptische Magier und Priester Hermes Trismegistos gewesen sei, der 3000 Jahre vor Jesu Christi gelebt habe. Er sei es gewesen, der den Juden und Griechen Magie und okkulte Wissenschaften beigebracht habe. Später machte sich der Hermetismus der Renaissance nicht nur das geheime Wissen Ägyptens sondern auch die Lehren von der göttlichen Offenbarung zu eigen (Marsilio Ficino, Pico della Mirandola etc.). Obwohl die Aufklärung die Vorliebe der Renaissance für die Hieroglyphen nicht teilte, kann man sagen: the old conviction that Egypt was the source of occult and mystic revelations was difficult to kill; indeed, this conviction lived on as an undercurrent mainly in secret societies such as Rosicrucians and Freemasons. In this connection Mozart’s Magic Flute and the name of Cagliostro come to everybody’s mind. Egyptological research was divorced from such survivial esoteric beliefs.3
Als Beispiel lässt sich die Ausschmückung des Caffé Inglese in der Nähe der Piazza di Spagna in Rom anführen. Es war der Lieblingsort deutscher, französischer und englischer Künstler, die sich in Rom aufhielten; Piranesi schmückte es nach 1760 mit pseudo-ägyptischen Malereien und Stuckarbeiten aus. Um 1780 ist in den Plänen des französischen Architekten Boullée der Einfluss der monumentalen Architektur Ägyptens spürbar; Napoleon liess sich während seines Feldzugs nach Ägypten von Archäologen und Wissenschaftlern begleiten, und dass es Champollion genau zu dieser Zeit gelang, die Hieroglyphen zu entziffern, ist nicht reiner Zufall. Der Italiener Cagliostro (1743 -1795) befolgte die Memphis-Misraim-Riten, deren geistiger Ursprung in Ägypten liegt. Er wurde wahrscheinlich 1777 in London eingeweiht, von wo er sich nach Lyon begab, um dort — den ägyptischen Riten entsprechend — eine Mutterloge zu gründen; in seinem Rituale della Massoneria egiziana stellte er eine Verbindung zwischen den Riten der Freimaurer und den magisch-alchimistischen Handlungen her. Er gründete nicht nur Logen in Brüssel, Holland, Strassburg und Rom, sondern gehörte auch zu den einflussreichsten Personen der politischen Elite. Während seiner Italienreise (1787) sammelte Goethe (1749–1832) zahlreiche Informationen über Cagliostro und beabsichtigte, aus seinem Leben eine komische Oper zu machen. Doch schrieb er 1791, als der Italiener noch lebte, nur eine Komödie über ihn: Und auf den Höhen der indischen Lüfte Und in den Tiefen ägyptischer Grüfte Hab ich das heilige Wort nur gehört: ›Töricht, auf Bessrung der Toren zu harren!
2. Guénon, René, Aperçus sur l’initiation, Paris 1973, S. 242. 3. Wittkower, Rudolf, Studies in the Italian Baroque, London 1975, S. 265, Piranesi and Egyptomania.
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József Pál Kinder der Klugheit, o habet die Narren Eben zum Narren auch, wie sich’s gehört!‹4
Zur selben Zeit beschied das Schicksal Cagliostro grausame Leiden, die seine Getreuen später als Martyrium deuteten. Im Verlauf der unglückseligen Halsbandaffäre wurde er aus Frankreich vertrieben, der Häresie, der Freimaurerei sowie des öffentlichen Skandals angeklagt und 1789 auf Befehl des Papstes verhaftet. Die Inquisition verurteilte ihn 1791 zu lebenslänglicher Haft und liess ihn im Castel Sant’Angelo in Rom einsperren. Wir wissen bis heute nicht, warum das Urteil so hart war. Nach qualvollen Leiden starb er 1795; wahrscheinlich wurde er erdrosselt.5 Insgesamt weist die hermetisch-mystische Tradition einen gewissen Dualismus auf. Immanenz und Transzendenz, significans et significatum, Mensch und Gott: das Verhältnis der beiden Opponenten unterscheidet sich grundlegend vom Gewohnten und Erfahrbaren. Rationale Erkenntnis weicht vor der nicht nachprüfbaren Einmaligkeit der individuellen Erfahrung zurück. Der Mensch, dem die Gabe der göttlichen Emanation zugute kommt, ist gleichzeitig Objekt und Subjekt: er wird von der transzendenten Kraft durchdrungen und ihm werden Wissen und Macht verliehen. Diese enge Beziehung zwischen Transzendenz und Realität ist nicht an die Zeit gebunden; die Erfahrung der Transzendenz kann weder empirisch noch durch Syllogismen bewiesen werden. Wesentlich ist die ursprüngliche Gemeinschaft von Gott und Mensch, die ausserhalb der Zeit liegt und im Vergleich zu der die Rationalität der materiellen Welt nebensächlich ist. In den Augen William Blakes (1757–1827), der Anhänger des Sturm und Drang und der neuen manichäischen Sekten im 18. Jahrhundert gleicht der Rationalismus einer wahren Katastrophe. Die Rückkehr zum Stadium der ungeteilten Seele soll eine Vorwärtsbewegung, eine Überschreitung der Grenzen von Raum und Zeit sein. Sie bedeutet die Wiedereroberung der ewigen Gegenwart der Seele. Über die wahre Religion schreibt Friedrich Schleiermacher in seinen Vorlesungen über die Religion, »[…] Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.«6 Poesie und Musik sind die Künste par excellence, durch deren Hilfe der Mensch mit dem Unendlichen Kontakt aufnehmen oder Teil von ihm werden kann. Für E. T. A. Hoffmann ist [die Musik] die romantischste aller Künste, beinahe möchte man sagen, allein echt romantisch, denn nur das Unendliche ist ihr Vorwurf. — […] Die Musik schliesst dem Menschen ein unbekanntes Reich auf, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äussern Sinnenwelt, die ihn umgibt, und in der er alle bestimmten Gefühle zurücklässt, um sich einer unaussprechlichen Sehnsucht hinzugeben.7
Und Hölderlin lässt seinen Hyperion, für den der Mensch, wenn er träumt, Gott ist und, wenn er denkt, ein Bettler, ausrufen: »Eines zu seyn, mit Allem, das ist Leben der Gottheit, das ist der
4. Goethe, Johann Wolfgang von, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe), Richter, Karl (ed.), 29 Bde., hier: Bd. 3.1 Italien und Weimar 1786–1790, Der Cophta (als Oper angelegt), Miller, Norbert / Reinhardt, Hartmut (eds.), München 1990, S. 238. 5. Petraccione, Cagliostro, Rom 1922. 6. Schleiermacher, Friedrich, Über die Religion — Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, II. Rede: Über das Wesen der Religion, Hamburg 1958, S. 30. 7. Hoffmann, E.T.A., Fantasie- und Nachtstücke, Fantasiestücke in Callots Manier, Darmstadt 1978, Müller-Seidel, Walter (ed.), hier: Kreisleriana, No. 4, S. 41.
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Himmel des Menschen.«8 Auch das L’Infinito benannte Gedicht Leopardis könnte man anführen.9 Das Gedicht durchläuft den umgekehrten Weg der antiken Schöpfungsmythen, indem es von den Sinnen und dem rationalen Denken ausgeht, um zur ursprünglichen Einheit zurückzukehren, die der Erfahrung vorausgeht »Così tra questa / Immensità s’annega il pensier mio: / E il naufragar m’è dolce in questo mare«. Die lyrische Poesie, das Prinzip des ut musica poesis und die Erhöhung des ineffabile in den Rang eines künstlerischen Prinzips sind Teil dieses allgemeinen Subjektivismus, der mit dem Hermetismus des 18. Jahrhunderts im Zusammenhang steht. Die Immanenzdoktrin der Renaissance, die These der universalia sunt in rebus sowie das wissenschaftliche und rationale Denken haben den Weg zur Transzendenz und zur individuellen Erfahrung der Göttlichkeit verschlossen. Das ästhetische Problem des Unaussprechlichen und des Unendlichen trat im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auf, zur gleichen Zeit wie der Irrationalismus. Nach Ansicht von Auguste Viatte nahm das Interesse für Theosophie gerade um 1770 deutlich zu: Ainsi, même en dehors des cercles proprement théosophiques, une attention croissante se portait vers tout ce qui dépasse, d’en haut ou d’en bas, l’ordre naturel: le terrain était apte à recevoir de nouveaux germes; vers 1770, débute une recrudescence d’illuminisme, avec Martines de Pasqually, Swedenborg, Saint-Martin.10
Trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen waren die Theosophen des 18. Jahrhunderts den Philosophen der Aufklärung gegenüber nicht feindlich gesonnen. In dem Artikel »Théosophes« der Encyclopédie konnte Diderot (1713–1784) seine Sympathie für sie nicht verbergen. Wenn er auch auf die notwendige Distanz zu ihnen achtete, so schlug er sie letzten Endes doch der Aufklärung zu: Voici peut-être l’espèce de philosophie la plus singulière. Ceux qui l’ont professée regardaient en pitié la raison humaine: ils n’avaient nulle confiance en sa lueur ténébreuse et trompeuse, ils se prétendirent éclairés par un principe intérieur, surnaturel et divin, qui brillait en eux et s’y éteignait par intervalles […] qu’ils ne maîtrisaient pas, mais dont ils étaient maîtrisés, et qui les conduisait aux découvertes les plus importantes sur Dieu et sur la nature.11
Die Theosophen griffen gerne auf die Lichtsymbolik zurück, wobei sie das Wort ›Licht‹ fast immer im Singular gebrauchten, im Gegensatz zu den ›lumières‹ der Philosophen. Sie nannten Paracelsus und dessen Schüler »précurseurs«, »frères égarés«, die sich auf halbem Weg zwischen Genialität und Wahnsinn befunden hätten. Die Sekte der Illuminaten von Kopenhagen sprach von »une lumière d’espèce phosphorique«, deren Quelle und Macht schwierig zu bestimmen sei.12 Terminologie und Symbolik der Sekte haben tiefen Einfluss auch auf Lavater und sogar Goethe ausgeübt.13 Sie versuchte beim Licht des Mondes, nicht dem der Sonne, ihre Entdeckungen zu machen.
8. Hölderlin, Friedrich, Sämtliche Werke, Beissner, Friedrich (ed.), Stuttgart 1957, Bd. 3 Hyperion, S. 9. 9. Pál, József, »L’Infinito«, in: Studi Leopardiani 3, 1992, S. 15–22. 10. Viatte, Auguste, Les sources occultes du Romantisme, 2 Bde., Paris 1928, S. 44. 11. Mortier, Roland, Clartés et ombres du siècle des Lumières, Genf 1969, S. 52. 12. Viatte, Auguste, op. cit., S. 133. 13. Ibid., S. 132.
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Der innere Dualismus, den der Hermetismus während seiner ganzen Geschichte hindurch bewahrte, verlor sich auch im 18. Jahrhundert nicht. Neben der philosophischen Hermetik, die an die griechisch-römische Welt gebunden war, lässt sich noch eine weitere Tendenz erkennen, die an Magie, Astrologie oder Alchimie anknüpfte. Deren Schriften, wie die vom Mittelalter angeregte Picatrix, enthalten unter anderem Vorschriften, Anweisungen und Ratschläge in bezug auf magische Praktiken. Der ›gelehrte‹ und der ›populäre‹ Hermetismus unterscheiden sich grundlegend voneinander. Ersterer beruht auf intellektueller Tätigkeit und Abstraktion und stellt den höchsten Teil des heiligen Wissens jenseits des Rationalismus dar. Letzterer besteht darin, transzendente Kräfte für irdische Zwecke verfügbar zu machen. Die mystische Offenbarung, die der Gelehrte erlebt, unterscheidet sich erheblich sowohl von den deistischen Lehren als auch von den christlichen Dogmen der Vorsehung. (Die Schüler von Hermes Trismegistos, Zoroaster und Orpheus im 18. Jahrhundert leugnen sogar »la possibilité d’aucune idée d’une Divinité quelconque sans révélation.«)14 Magie, Spiritismus und Alchimie sprechen den Elementen, Symbolen, Werkzeugen und bestimmten Wörtern eine geheimnisvolle Bedeutung zu. Diese ›Zeichen‹ beschwören und übermitteln verborgene Kräfte. Man braucht in diesem Zusammenhang nur auf Goethes Faust zu verweisen: Die Erfahrung der Unzulänglichkeit des rationalen Wissens, die Anrufung des irdischen Genies, das Sinnbild des Makrokosmos und die magischen Formeln beweisen, dass Swedenborgs Lehre von den Analogien hier gewirkt hat. Unter den magischen Objekten nimmt das Pentagramm, das Mephisto fesselt, einen besonderen Platz ein. Die Veränderung seiner Proportionen zerstört die Harmonie des Geistigen und Irdischen. Es existieren also Embleme und Zeichen, deren Macht die menschliche Intelligenz für ihre Zwecke nutzen kann. Hier ist der Mensch im magischen, nicht im christlichen Sinne, das Abbild Gottes. In seinem Studierzimmer bezeichnet Faust Mephisto zu Recht als »des Chaos vielgeliebter Sohn«. Das bedeutet in der Tradition des Hermetismus, dass er Jaldabaot ist — der vierte, der göttlichen Dreifaltigkeit gegenübergestellte Demiurg, der die Seele des höchsten Menschen an sich genommen hat. In der Unterhaltung mit dem Studenten spricht Mephisto wenig später von seiner »Muhme der Schlange«,15 das ist wiederum eine Anspielung auf den hermetischalchimistischen Begriff der serpens Mercurii. Sie ist Teil des ursprünglichen Chaos, der massa confusa oder globosa, die in der Schöpfung verborgen ist.16 Selbst die Idee, eine Encyclopédie zu veröffentlichen, wird erstmals in Freimaurerkreisen formuliert. In einer Rede von 1737, die von Voltaire zitiert wird, formulierte André-Michel Ramsay die vier Pflichten der Freimaurer: »la philosophie sage, la morale pure, le secret inviolable, le goût des beaux-arts« und bewog die Mitglieder der Société des Arts, die Ausarbeitung einer Encyclopédie in Angriff zu nehmen:
14. Ibid., S. 25. 15. Goethe, Johann Wolfgang, von, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, op. cit., Bd. 6.1 Weimarer Klassik 1798–1806, hier: Faust I, Lange, Victor (ed.), München 1986, S. 590. 16. Jung, C. G., Gesammelte Werke, Zürich / Olten 1960–1995, hier: Bd. 11: Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion (1979), S. 108.
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Tous les grands Maîtres en Allemagne, en Angleterre, en Italie, et par toute l’Europe exhortent tous les sçavants et tous les artistes de la confraternité de s’unir pour fournir les matériaux d’un Dictionnaire universel des tous les Arts libéraux et de toutes les Sciences utiles.17
Neben Paris war Wien das zweite grosse Zentrum der europäischen Geheimgesellschaften. Die Experimente des Magnetiseurs Franz Anton Mesmer (1734–1815), der als einer der ersten die Hypnose zu Heilzwecken anwandte, begeisterten die Einwohner der kaiserlichen Hauptstadt. Dort komponierte auch Gluck, der sich 1752 in Wien niedergelassen hatte, die hermetistisch inspirierte Oper Orfeo ed Euridice. Wenig später brachte Mozart die Zauberflöte heraus (1791). Aber Wien beherbergte auch Rosenkreuzer, unter ihnen den ungarischen Schriftsteller und Offizier der kaiserlichen Garde Sándor Báróczy, der erfolglos alchimistische Versuche unternahm, um sich von der Syphilis zu heilen. Goethes Gedicht Urworte. Orphisch (1817) handelt von der Notwendigkeit der Naturgesetze und den Beziehungen zwischen Schicksal und menschlichem Willen. 1820 fügte Goethe dem Gedicht Erklärungen hinzu, in denen er die astrologische Determiniertheit der Charaktere entwickelt.18 Der Mensch mit seinen Veranlagungen und Charakterzügen, die bei seiner Geburt von höheren Mächten bestimmt werden, erfüllt auf seiner irdischen Reise gewissermassen einen ›Auftrag‹. Das Schicksal und der universale Geist verbinden sich mit individueller Existenz und Bewusstsein; der ›daimon‹ führt den Menschen zu inneren Suggestionen, die durch den Charakter geprägt sind. Das meint: Trotz der Abhängigkeit von astrologischen Konstellationen kann ein bewusstes Wesen niemals nur Objekt und passiver Betrachter seines eigenen Schicksals und des Laufs der Welt sein. Der Mensch kann die Freiheit erlangen, indem er fünf aufeinanderfolgende Stufen ersteigt: Daìmon (Seele), Tyché (Macht), Eros (Liebe), Ananke (Schicksal), Elpis (Hoffnung). Das heisst: die natürliche Welt liegt nicht mehr mit der geistigen im Widerstreit. Die göttliche Emanation wird nicht mehr ›erstickt‹ vom passiven Widerstand der Materie, wie bei den Neuplatonikern des 15. Jahrhunderts (besonders Ficino). Lichtdurchflutet bietet die Natur ein geeignetes Gebiet für den Fortschritt der menschlichen Erkenntnis; sie kann insofern als Ausdruck des göttlichen Willens betrachtet werden, als der Mensch dank seines Verstandes und seiner magischen Objekte über sie herrschen kann. Hierhin gehören die Lehren aus Mozarts Zauberflöte. Im Universum, das auf dem Dualismus der Prinzipien Sonne und Nacht, Gut und Böse beruht, gibt es einen Gegenstand mit magischen Qualitäten — die Flöte des Tamino, die Leier des Orpheus oder das bereits erwähnte Pentagramm des Faust. Die Kraft dieses symbolischen Objekts verleiht dem Menschen nicht nur die Fähigkeit zu wählen, sondern auch einen freien Willen, der auf das Gute gerichtet ist. Die Bestrebungen der Aufklärung und des Hermetismus decken sich hier zweifellos. Das italienische Wort illuminismo bedeutet nicht zufällig sowohl Erleuchtung als auch Aufklärung, will sagen: in der Praxis stimmten die Bestrebungen der Illuminaten, Spiritisten und Jakobiner oft mit denen der aufgeklärten Philosophen überein.
17. Zitiert nach Venturi, Franco, Le origini dell’Enciclopedia, Turin 1964, S. 23 / 24. 18. Goethe, Johann Wolfgang von, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, op. cit., Bd. 13.1 Die Jahre 1820–1826, Henckmann, Gisela / Schneider, Irmela (eds.), München 1992, S. 500–505.
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Die Mauern, die der Empirismus und die Nützlichkeit zwischen Gott und dem Menschen errichtet hatten, sollen einstürzen, um diesem eine »communauté immédiate avec la Divinité« zu gewähren. Weit davon entfernt, Gottheit zu sein, erkennt der Verstand seine Grenzen in bezug auf den daìmon. Die »Lehrjahre« des Wilhelm Meister gleichen der Einweihung in ein Geheimnis, wenn im neunten Kapitel des siebten Buches der Held seinen Freilassungsbrief erhält, nachdem er im rötlichen Licht der aufgehenden Sonne (Böhme) die Schriftrollen seiner eigenen Lehrjahre entdeckt hat: Deine Lehrjahre sind vorüber, die Natur hat Dich losgesprochen.19
Die Rollen schildern den Weg, den die Mitglieder bis zur Einführung in die Gesellschaft zurücklegen mussten. Lothario führt den jungen Wilhelm Meister noch »von fern« durch die Schwierigkeiten des Lebens, während Faust, der bereits einen Teil der Natur beherrscht, von Mephisto »direkt« geleitet wird. Auch Blake liess sich häufig mit geistigen Wesen in ein Gespräch ein, die seine künstlerische Inspiration lenken sollten. Der Einfall stammt von Plutarch: »Socrate avait aussi pour guide, dès sa naissance, un esprit protecteur divin, une apparition, qui marchait devant lui en l’éclairant et lui donnant des avertissements.«20
Auswahlbibliographie Abbott, Scott, »’Des Maurers Wandeln / Es gleicht dem Leben’: The Freemasonic Ritual Route in Wilhelm Meisters Wanderjahre«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 58:2, 1984, S. 262–288. ———, Fictions of Freemasonry: Freemasonry and the German Novel, Detroit 1991. Ambrose, Elizabeth Ann, Self and Cosmos in Thoth Hermes Trismegistus, Meister Eckhart und Paracelsus, Ann Arbor 1993. Bayard, Jean-Pierre, La symbolique de la Rose-Croix, Paris 1975. Beeler, Stanley W., The Invisible College: A study of the three original Rosicrucian texts, New York 1991. Fritz, Horst, Hermetismus, Tübingen 1994. Guénon, René, Aperçus sur l’initiation, Paris 1973. Le Forestier, René, La Franc-Maçonnerie templière et occultiste: aux XVIIIe et XIXe Siècles, Paris 1970. Mortier, Roland, Clartés et ombres du siècle des Lumières, Genf 1969. Neveu, Bruno, »La ›Science divine‹ du Chevalier Ramsay«, in: Leduc-Fayette, Denise (ed.), Fenelon: Philosophie et spirtualité, Genf 1994, S. 177–196. Petraccione, Cagliostro, Rom 1922. Plutarkhosz, Daimon de Socrate. Szokratész daimonja, Budapest 1985. Ramsay, Andrew, Voyages de Cyrus; suivis d’un Discours sur la Mythologie (1826), Paris 1977. Roos, Jaques, Aspects litteraires du Mysticisme philosophique et l’influence de Böhme et de Swedenborg au début de Romantisme: William Blake, Novalis, Ballanche, Strasbourg 1951. Sahlberg, Oskar N., »The Alchemist’s Love Story: The Creation of the Homunculus-Growth and Birth of the Self«, in: Pereira, Frederico (ed.), Twelfth International Conference on Literature and Psychoanalysis, Freiburg 1995, S. 65–68.
19. Ibid., Bd. 5: Wilhelm Meisters Lehrjahre, Schings, Hans-Jürgen (ed.), München 1988, S. 499. 20. Plutarkhosz, Szokratész daimonja. Daimon de Socrate, Budapest 1985, S. 72.
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Schuchard, Martha Keith, »The Secret Masonic History of Blake’s Swedenborg Society«, in: Blake: An Illustrated Quarterly 26:2, 1992, S. 40–51. Vaglianti, Bruna, »L’ocultismo e Cagliostro alla luce dell’esperienza massonica di Goethe«, in: Cristallo 36:2, 1994, S. 29–34. Venturi, Franco, Le origini dell’Enciclopedia, Turin 1964. Viatte, Auguste, Les sources occultes du Romantisme, 2 Bde., Paris 1928.
Toleranzidee Gisela Schlüter
1763 veröffentlichte Voltaire (1694–1778) seinen Traité sur la tolérance, in dem er sich für die politische Emanzipation der Hugenotten einsetzt. Zu jener Zeit war die öffentliche Meinung bereits für die Anliegen der Protestanten sensibilisiert, obwohl deren politische und rechtliche Situation sich seit 1685 nicht verändert hatte.1 Am 17. Oktober 1685 hatte Ludwig XIV. mit seinem Edikt von Fontainebleau das im Jahre 1598 von Heinrich IV. erlassene Edikt von Nantes aufgehoben.2 Diese Revokation betraf das Schicksal von ungefähr einer Million französischer Protestanten, das heisst fünf bis sechs Prozent der gesamten Bevölkerung. Sie wurden ihrer religiösen Freiheiten sowie ihrer politischen Rechte beraubt: Den Protestanten wurden Versammlungen jeglicher Art verboten, ihre Kirchen und Schulen zerstört, alle Pastoren, die eine Konversion ablehnten, verbannt, und alle Laien zur Teilnahme am katholischen Gottesdienst gezwungen. Kurzum, die Hugenotten waren geächtet: Der Zivilstand wurde ihnen aberkannt, da ihre Namen nicht mehr in den von den katholischen Pfarreien geführten Registern auftauchen durften. Indem der Staat weder Geburt noch Taufe, weder Heirat noch Tod eines Protestanten registrierte, hörte der französische Bürger protestantischer Konfession auf zu existieren. Mitte des 18. Jahrhunderts wurde die Debatte über die religiöse Toleranz wiederaufgenommen, als die protestantischen Ehen, die sogenannten ›mariages au désert‹, rechtlich anerkannt werden sollten. Die Lage der Hugenotten war im Jahr 1763 unverändert. Doch gab es Diskussionen und und Rivalitäten innerhalb der katholischen Kirche, bei denen Jansenisten3 und Jesuiten sich weder über ihre tiefgreifenden theologischen und ideologischen Differenzen, noch über Prinzipien und Praxis der religiösen (In-)Toleranz verständigen konnten.4 Gleichzeitig erlebte das Zeitalter der Aufklärung den Beginn eines Philosemitismus. Dieser fand Verbreitung durch die Lettres juives (1736) des Marquis d’Argens (1736–1738),5 das Manifest Mirabeaus Sur
1. Für die gesamte Darstellung cf. Cheymol, Guy, La Notion de tolérance en Europe à l’aube des Lumières (1670–1734), Dissertation Üniversité de Provence, Centre d’Aix, 6 Bde., Aix-en-Provence 1980 sowie Schlüter, Gisela, Die französische Toleranzdebatte im Zeitalter der Aufklärung: Materiale und formale Aspekte, Tübingen 1992; cf. auch Guggisberg, Hans R. (ed.) Religiöse Toleranz: Dokumente zur Geschichte einer Forderung, Stuttgart — Bad Cannstatt 1984, und Schreiner, Klaus / Besier, Gerhard, Art. »Toleranz«, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1990, Bd. 6, S. 445–605. 2. Cf. Orcibal, Jean, Louis XIV et les protestants, Paris 1951. 3. 1711: Zerstörung von Port-Royal; 1713: Bulle Üngenitus. 4. Cf. O’Brien, Charles, »Jansenists on Civil Toleration in Mid-Eighteenth-Century France«, in: Theologische Zeitschrift 37, 1981, S. 71–93; ders., »The Jansenists Campaign for Toleration of Protestants in Late Eighteenth-Century France: Sacred or Secular?«, in: Journal of the History of Ideas, Okt.-Dez. 1985, S. 523–538. 5. D’Argens, Jean Baptiste de Boyer, Lettres juives […], 6 Bde., Den Haag 1736–1738.
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Moses Mendelssohn, sur la réforme politique des juifs (1787)6 sowie den Essai sur la régénération physique, morale et politique des juifs, der der Société royale des Sciences et des Arts in Metz vom Abbé Grégoire vorgelegt und 1789 veröffentlicht wurde.7 Das bedeutet: Seit den ersten Dekaden des 18. Jahrhunderts fand das Judentum Beachtung in der Kontroverse um die richtige Religionspolitik in Frankreich.8 Dennoch blieb die Debatte auf die Emanzipation der Hugenotten ausgerichtet, im Gegensatz zur heftigen Diskussion der Judenfrage, die in Deutschland geführt wurde. Obwohl der Traité sur la tolérance 1763 erschien, zögerte der aufgeklärte Absolutismus noch rund zwanzig Jahre, bevor er sich zu einer Liberalisierung in Sachen Religion entschloss. 1781 gewährte Joseph II. in Österreich den Protestanten die Freiheit des Kultus und gestand ihnen die Bürgerrechte zu, gleichzeitig erleichterte er die Situation der Orthodoxen und der Juden.9 In Frankreich stellte Ludwig XVI. mit dem Toleranzedikt vom 17. Oktober 1787 den Zivilstatus der Hugenotten wieder her, und hob hiermit die Berufsbeschränkungen auf, unter denen die Protestanten seit der Aufhebung des Edikts von Nantes gelitten hatten. Ausgenommen waren allein die Bereiche der Rechtsprechung und des Erziehungswesens, die den Protestanten verschlossen blieben.10 Erst die französische Revolution brachte den Sieg der Toleranzkampagne. Die von der Aufklärung geführte Toleranzdebatte hatte die philosophischen, theologischen und polemischen Traditionen des 17. Jahrhunderts geerbt und setzte konkret bei der Idee der Toleranz an, die der Staat den Hugenotten gewähren sollte. Jedoch traten zunehmend allgemeinere Fragen an die Stelle des religiösen Themas, und man begann, eine weiter gefasste Toleranz, eine ›tolérance universelle‹ zu entwerfen. Betrachtet man die verschiedenen Argumente zugunsten der Toleranz, so stellt man fest, dass die religiöse Toleranz anfangs mit theologischen und biblischen Argumenten gefordert wurde, die entweder zur älteren Tradition gehörten oder im Zeitalter der Reformation entwickelt wurden.11 Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurden sie von naturrechtlichen Argumenten verdrängt; doch im 18. Jahrhundert tauchten Argumente pragmatischer Art auf. Man berief sich auf die ökonomischen, politischen und nationalen Interessen Frankreichs, um die Abschaffung der Toleranz zu
6. Mirabeau, Honoré Gabriel de, Sur Moses Mendelssohn, sur la réforme politique des Juifs: Et en particulier sur la révolution tentée en leur faveur en 1753 dans la grande Bretagne, London 1787, Reprint Paris 1968. 7. Grégoire, Abbé Henri-Baptiste, Essai sur la régénération physique, morale et politique des Juifs, Paris 1988. 8. Cf. Meyer, Paul H., »The Attitude of the Enlightenment towards the Jew«, in: StV 26, 1963, S. 1161–1205; Yardeni, Myriam, »Les Juifs dans la polémique sur la tolérance des protestants en France à la veille de la Révolution«, in: Revue des études juives, Jan.-Juni 1973, S. 79–93; Hertzberg, Arthur, The French Enlightenment and the Jews, New York / London 1968. 9. Cf. O’Brien, Charles, Ideas of Religious Toleration at the Time of Joseph II. A Study of the Enlightenment among Catholics in Austria (=Transactions of the American Philosophical Society, New Series, vol. 59, part 7), Philadelphia 1969; Schneider, Rudolf, Von Pierre Bayle zu den Publizisten des Josephinismus. Die Toleranzidee in der gesellschaftlichen Kommunikation des Aufklärungszeitalters, Dissertation, Wien 1976; Im Zeichen der Toleranz. Aufsätze zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jahrhunderts in den Reichen Joseph II., ihren Voraussetzungen und ihren Folgen, Barton, Peter F. (ed.), Wien 1981. 10. Cf. »Actes des journées d’étude sur l’Edit de 1787«, in: Encrevé, A. /Lauriol, C., Bulletin de la Société de l’Histoire du Protestantisme Français, 134, April-Juni 1988. 11. Cf. Lecler, Joseph, Histoire de la tolérance au siècle de la Réforme, 2 Bde., Paris 1955.
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fordern. Toleranz war nicht länger nur unrechtmässig, irrational oder unmoralisch; sie geriet bei den Pragmatikern in Misskredit, weil sie politisch unvorsichtig, sozial schädlich und vom wirtschaftlichen Standpunkt aus ineffektiv war. Mit anderen Worten: Die Toleranz war fortschrittsfeindlich. Doch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts setzte eine heftig und massiv werdende Kampagne für die Toleranz ein, genauer gesagt: für die Emanzipation der Protestanten. 1785 erinnert sich Jacob-Nicolas Moreau (1717–1803) in seiner Lettre […] sur les principes, les règles et les bornes de la tolérance: »Depuis trente ans les Philosophes nous prêchent la tolérance«, und er kann nicht umhin, ironisch fortzufahren: »qu’ils pratiquent peu.«12 Die Jahrhundertmitte, die üblicherweise als Beginn der produktivsten Phase der Aufklärungsphilosophie betrachtet wird, markierte somit den Anfang einer aktiven Kampagne zugunsten der Protestanten, die durch den Skandal der sogenannten ›mariages au désert‹ ausgelöst wurde. Zu den Toleranzgegnern, die sich meistens auf Augustinus und Bossuet beriefen, zählen in erster Linie Lefranc de Pompignan, Novi de Caveyrac, der Abbé Malvaux, der Abbé Gauchat; zu den protestantischen Vorkämpfern für Toleranz gehören Antoine Court und sein Sohn Court de Gébelin, der Chevalier de Beaumont, Rabaut Saint-Etienne,13 jedoch auch Katholiken wie der Abbé Morellet. Von Politikern, die sich für die religiöse Toleranz einsetzen, sind vor allem Turgot und Malesherbes zu nennen; von den Schriftstellern Voltaire und Marmontel. Rousseau dagegen kann nicht eindeutig zu den Anhängern der Toleranz gerechnet werden. Er erörtert zwar die Toleranzfrage ausführlich, doch bleibt seine Position ambivalent.14 Als Voltaire 1763 seinen Traité sur la tolérance veröffentlichte, kannte er nicht nur die Religionsgeschichte Frankreichs seit Ludwig XIV., sondern auch die französischen und englischen15 Debatten über Kultus- und Gewissensfreiheit.16 Anlass seines Pamphlets war die Hinrichtung des Hugenotten Jean Calas in Toulouse.17 Voltaire wollte Calas als Opfer des religiösen Fanatismus und als Märtyrer der Aufklärung darstellen. Es gelang ihm, die Affäre zu einem Justizskandal auszuweiten, sodass Calas’ Rehabilitierung als Sieg der Vernunft über Intoleranz und Fanatismus begrüsst werden konnte. Auf der einen Seite war also der Traité sur la tolérance eine Intervention zugunsten der Familie Calas auf politischer und rechtlicher Ebene; auf
12. Moreau, Jacob-Nicolas, Essai sur les bornes des connaissances humaines, Neuausgabe, der ein Brief des gleichen Autors über die Toleranz angefügt wurde, Lausanne / Paris 1785, Microfiche BN 1988, S. 120. 13. Rabaut Saint-Etienne, Jean-Paul, »Le Vieux Cévenol, ou Anecdotes de la vie d’Ambroise Borély, mort à Londres, âgé de 103 ans, 7 mois et 4 jours« (1784), ders., Œuvres, Bd. 2, Paris 1826. 14. Cf. Voltaire, Rousseau et la tolérance. Actes du Colloque Franco-Nederlandais des 16 et 17 novembre 1978, Lille 1981; Boss, Ronald Ian, »Rousseau’s Civil Religion and the Meaning of Belief. An Answer to Bayle’s Paradox«, in: StV 84, 1971, S. 123–193; Leigh, Ralph Alexander, Rousseau and the Problem of Tolerance in the Eighteenth Century, Oxford 1979. 15. Cf. Jordan, Wilbur K., The Development of Religious Toleration in England, 4 Bde., London 1932–1940, ²1965. 16. Cf. auch die Artikel zu dem Thema, die er 1764–1765 in seinem Dictionnaire Philosophique und 1772 in den Questions sur l’Encyclopédie veröffentlicht. 17. Cf. Bien, David D., The Calas Affair. Persecution, Toleration and Heresy in Eighteenth Century Toulouse, Princeton, New Jersey 1960; Nixon, Edna, Voltaire and the Calas Case, London 1961; Van den Heuvel, Jacques, »Voltaire et l’affaire Calas«, in: Actualité du XVIIIe siècle, Brest 1982, S. 5–28.
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der anderen Seite gelang es Voltaire damit, öffentlich zur Toleranz und Emanzipation der Protestanten aufzurufen.18 Die Argumente, die Voltaire zugunsten der religiösen Toleranz anführte, gehören alle zur »Topique de la question de la tolérance«, von der Bayle (1647–1706) bereits in seinem Commentaire philosophique (1686) gesprochen hatte.19 Insgesamt sind Voltaires Argumente systematischer, historischer und pragmatischer Art. Weder sollten religiöse Intoleranz20 noch staatsgefährdende Überzeugungen oder Handlungen geduldet werden. Indem er sich um Toleranz gegenüber den Hugenotten bemühte, entwarf Voltaire die Idee einer allgemeinen Toleranz, einer universalen sozialen Tugend. In diesem Sinne rückte die Toleranz in die Nähe von Höflichkeit, Grosszügigkeit, Urbanität und wurde zum Ausdruck der »politesse morale«, von der Felice in seinen Elémens de la police générale d’un Etat spricht.21 Die Virtuosität und der literarische Einfallsreichtum, mit denen Voltaire sein Toleranzideal vertrat, kontrastiert deutlich mit der weitschweifigen und schwerfälligen Form von Bayles Commentaire philosophique und Beaumonts L’accord parfait. Nach der Lektüre von Beaumonts Traktat schrieb er am 2. Januar 1763: »Il faut être très court, et un peu salé, sans quoi les ministres et madame de Pompadour, les Commis et les femmes de Chambre, font des papillotes du livre.«22 Im zweiundzwanzigsten Kapitel des Traité bedient sich Voltaire einer Parabel, um den Leser auf behutsame und heitere Art aufzuklären und seine Vorurteile zu zerstreuen, ohne dass dieser sich dessen bewusst wird. Il ne faut pas un grand art, une éloquence bien recherchée, pour prouver que des chrétiens doivent se tolérer les uns les autres. Je vais plus loin: je vous dis qu’il faut regarder tous les hommes comme nos frères. Quoi! mon frère le Turc? mon frère le Chinois? le Juif? le Siamois? Oui, sans doute; ne sommes-nous pas tous enfants du même père, et créatures du même Dieu?23
Unter der Perspektive Gottes sind alle Menschen Brüder. Aber, so wenden die Christen wie der Leser ein, diese fremden Völker verachten uns, sie behandeln uns wie Götzendiener. Nun gut, erwidert der Autor, um den Leser zu beschwichtigen und ihn — unmerklich — von seinen eigenen Vorurteilen zu befreien:
18. Es darf nicht vergessen werden, dass seine Haltung den Protestanten gegenüber nicht eindeutig ist, cf. Gargett, Graham, »Voltaire and Protestantism«, in: StV 188, 1980. — Was die Religion bei Voltaire im ganzen betrifft, cf. Pomeau, René, La Religion de Voltaire, Paris ²1969. 19. »Il faut avouer qu’en ce tems-là de Castalion on ne connoissoit pas bien la TOPIQueE de cette question, je veux dire les principes, & les sources des preuves par où il faut accabler le dogme de l’intolérance totale ou partiale.« Bayle, Pierre, Œuvres diverses, Reprint der Ausgabe den Haag 1727 et passim, Einleitung von Elisabeth Labrousse, 5 Bde., Hildesheim 1964, Bd. 2, S. 497a. 20. Zweifellos denkt er vor allem an die Jesuiten. Diese werden 1764 aus Frankreich vertrieben, wozu Voltaire 1765 im Anhang seines Traité Stellung nimmt: »On chassait les jésuites; on abolissait leur société en France: ils avaient été intolérants et persécuteurs; ils furent persécutés à leur tour.« Voltaire, Mélanges, Van den Heuvel, Jacques (ed.), Paris 1961, S. 647 (Traité su la Tolérance). 21. Felice, Fortuné Barthélemy de, Elemens de la police générale d’un Etat, 2 Bde., Yverdon 1781, Bd. 2, S. 83. 22. Voltaire, The Complete Works / Œuvres complètes, Besterman, Theodore (ed.), Genf / Oxford 1968, Bd. 51, Best. D 10885 (Brief vom 2. Januar 1763 an Moultou). 23. Voltaire, Mélanges, op. cit., S. 635.
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Il me semble que je pourrais étonner au moins l’orgueilleuse opiniâtreté d’un iman ou d’un talapoin, si je leur parlais à peu près ainsi:24
Die Lektion, die sich in direkter Rede anschliesst — nennen wir sie ›erste Geschichte‹ — wird einem Andersgläubigen erteilt; der christliche Leser ist hierbei Zeuge. Der Andersgläubige soll lernen, dass jede Sicht der Welt relativ ist und somit auch seine eigene Sicht. Der Erzähler und Autor wendet sich an einen fiktiven »iman ou […] talapoin«: Ce petit globe, qui n’est qu’un point, roule dans l’espace, ainsi que tant d’autres globes; nous sommes perdus dans cette immensité. L’homme, haut d’environ cinq pieds, est assurément peu de chose dans la création.25
Angesichts der »pluralité des mondes« erscheint die Welt hier unten sehr klein und der Mensch winzig. Du bist dieser winzige Mensch, suggeriert der Autor dem fiktiven Iman und fährt fort: Möchtest du mit dem Universum in Konkurrenz treten, indem du Anspruch erhebst auf objektive und absolute Wahrheit? Der Erzähler nimmt die Geschichte wieder auf: Un de ces êtres imperceptibles dit à quelques-uns de ses voisins, dans l’Arabie ou dans la Cafrerie:
Was nun in direkter Rede folgt, ist eine ›zweite Geschichte‹, die eine ironische Lektion über die Relativität aller Dinge beinhaltet. Bezogen auf die erste Geschichte richtet sich diese Lektion an den Iman; bezogen auf die Parabel, die der Autor für den Leser erfunden hat, richtet sie sich an diesen, den christlichen Leser. Ecoutez-moi, car le Dieu de tous ces mondes m’a éclairé: il y a neuf cents millions de petites fourmis comme nous sur la terre, mais il n’y a que ma fourmilière qui soit chère à Dieu; toutes les autres lui sont en horreur de toute éternité; elle sera seule heureuse, et toutes les autres seront éternellement infortunées.26
Der Erzähler erteilt diesem winzigen Geschöpf, das er auftreten liess, das Wort, und enthüllt dessen Wahrheitsanspruch als absurd und lächerlich. Indem er die erste Geschichte wieder aufgreift, fährt der Erzähler fort: Ils [c.-à-d. l’iman ou le talapoin] m’arrêteraient alors, et me demanderaient quel est le fou qui a dit cette sottise. Je serais obligé de leur répondre: »C’est vous-mêmes.« Je tâcherais ensuite de les adoucir, mais cela serait bien difficile.27
Als der Erzähler dem Iman und dem Talapoin eröffnet, es sei ihr eigener absoluter Wahrheitsanspruch, der in der zweiten Geschichte lächerlich gemacht wird und ihnen vorhält: »C’est vousmêmes«, erleiden sowohl der Iman und der Talapoin als auch der christliche Leser einen Schock. Sie müssen begreifen, dass sie die Lektion der Relativität auf sich selbst beziehen sollen. Romilly wird diese Lektion in seinen Artikel Tolérance, der zwei Jahre später in der
24. Ibid. 25. Ibid. 26. Ibid. 27. Ibid.
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Encyclopédie (1751–1780) erschien, folgendermassen in Worte fassen: »Nul n’a droit de donner sa raison pour règle.«28 Mit seinen zwei Geschichten enthüllt Voltaire nicht nur die Absurdität des Begriffs Orthodoxie, sondern er entwirft auch eine ›Orthopraxie‹, die den Menschen erlaubt, sich in einer neuen Pluralität der Wahrheiten einzurichten. In D’Holbachs (1723–1789) Système de la nature (1770) heisst es: Enfin si l’on consultait la morale et la droite raison, tout devrait prouver à des êtres qui se disent raisonnables, qu’ils sont faits pour penser diversement, sans cesser pour cela de vivre paisiblement, de s’aimer, de se prêter des secours mutuels, quelles que soient leurs opinions sur des êtres impossibles à connaître ou à voir des mêmes yeux […]; tout devrait ramener les mortels à la douceur, à l’indulgence, à la tolérance […].29
Ähnliche Gedanken wie Voltaire vertrat wenig später Lessing (1729–1781) in dem Drama Nathan der Weise (1779). Dessen ›Ringparabel‹ verweist den Absolutheitsanspruch der drei grossen monotheistischen Religionen in das Reich der Chimären. Da niemand die göttliche Wahrheit wissen könne, seien alle Religionen zu achten und die Toleranz das gemeinsame Gut der Gläubigen. Wie die Revolution das Ancien Régime hinwegfegte, so auch den Toleranzgedanken, den es an seinem Ende hervorgebracht hatte. Die Toleranz wurde als autoritär und anachronistisch diskreditiert und vom Ideal der Freiheit verdrängt, die nach Auffassung der Revolutionäre jedem Menschen und Bürger zukomme. Jean-Paul Rabaut Saint-Etienne, einer der leidenschaftlichsten Vorkämpfer der religiösen Toleranz gegenüber den Protestanten, bietet hierfür ein schönes Beispiel. In der Debatte um die Kultusfreiheit, die am 28. August 1789 in der Nationalversammlung geführt wurde, erinnerte er an das Toleranzedikt aus dem Jahr 1787, an dem er selbst mitgewirkt hatte. Von dessen Botschaft distanzierte er sich nun aufs Entschiedenste: […] messieurs, ce n’est pas même la tolérance que je réclame; c’est la liberté. La tolérance! le support! le pardon! la clémence! idées souverainement injustes envers les dissidents, tant qu’il sera vrai que la différence de religion, que la différence d’opinion n’est pas un crime. La tolérance! Je demande qu’il soit proscrit à son tour, et il le sera, ce mot injuste qui ne nous présente que comme des citoyens dignes de pitié, comme des coupables auxquels on pardonne […].30
Einige Tage vorher hatte am selben Ort der Comte de Mirabeau ebenfalls Freiheit anstelle von Toleranz gefordert und das Toleranzideal als eines der zahlreichen Überbleibsel des Ancien Régime verworfen:
28. Romilly, Jean-Edme, Art. »Tolérance«, in: Encyclopédie […], Reprint der Ausgabe Paris 1751–1780, Stuttgart-Bad Cannstatt 1966 / 67, Bd. 16, S. 390–395 (1795). 29. D’Holbach, Paul Henri Thiry de, Système de la nature ou des lois du monde physique et du monde moral, Reprint der Ausgabe Paris 1821, Belaval, Yvon (ed.), 2 Bde., Hildesheim 1966, Bd. 1, S. 222. 30. Rabaut Saint-Etienne, Jean Paul, Œuvres, Paris 1826, Bd. 2, S. 143.
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Je ne viens pas prêcher la tolérance; la liberté la plus illimitée de religion est à mes yeux un droit si sacré que le mot de tolérance, qui voudrait l’exprimer, me paraît en quelque sorte tyrannique lui-même, puisque l’autorité qui tolère pourrait ne pas tolérer.31
In der Tat scheint das Toleranzprinzip von Beginn an problematisch zu sein, wenn nicht gleichzeitig Freiheit im Rahmen der Rechtsordnung garantiert war. Insofern gehörte Toleranz im Ancien Régime zur Macht des Herrschers, der sie nach Belieben gewährte oder widerrief. Das Toleranzideal verlor also während und nach der Revolution an Prestige. Revolutionäre und Konterrevolutionäre, Republikaner und Theokraten (so etwa Bonald)32 verachteten die Toleranz. Es sollte einige Zeit dauern, bis sie von den Liberalen rehabilitiert wurde. Dass das Ideal immer abstrakter und unbestimmter wurde, scheint mit zu ihrem Verschwinden am Ende des 18. Jahrhunderts geführt zu haben. Auf der politischen Ebene wurde es von der Gewissensfreiheit ersetzt, die als eines der Grundrechte der Bürger garantiert wurde. In dieser Perspektive war das Ideal mit Sicherheit von Anfang an verfälscht worden. Doch schon 1694 konnte man im Dictionnaire de l’Académie Française zur »tolérance« lesen: »Ce n’est pas un droit, mais une tolérance. Il ne jouit de cela que par tolérance.«33 Die Definition der Académie Française setzte sie mit »condescendance« gleich. Das bedeutet: Sie war schon immer gewesen, was Goethe mehr als hundert Jahre später in ihr sah: eine höfliche Form der Verachtung.34 Die gegenseitige Anerkennung der Menschen, die zwar verschieden sind, jedoch die gleichen Rechte besitzen, sollte an ihre Stelle treten.
Auswahlbibliographie Adams, Geoffrey, Les Huguenots and French opinion 1685–1787: The enlightenment debate on toleration, Waterloo 1991. Basnage de Beauval, Henri, Tolérance des religions, mit einer Einleitung von Elisabeth Labrousse, Rotterdam 1684, Reprint New York / London 1970. Bayle, Pierre, Œuvres diverses, mit einer Einleitung von Elisabeth Labrousse, 5 Bde., Den Haag 1727, Reprint Hildesheim 1964. ———, Ce que c’est que la France toute catholique, sous le règne de Louis le Grand, Labrousse, E. /Himelfarb, H. / Zuber, R. (eds.), Paris 1973. ———, Pierre Bayle’s Philosophical Commentary: A Modern Translation and Critical Interpretation, ed. und übers. von Godman Tannenbaum, A., New York et al. 1987. Bodin, Jean, Colloquium Heptaplomeres […], Reprint der Ausgabe Schwerin 1857, Noack, L. (ed.), Stuttgart 1966. Böhmer, Justus Henning, De tolerantiae religiosae effectibus civilibis, Halle / Magdeburg 1726.
31. Mirabeau, Discours du 22 août 1789, zitiert nach Cheymol, Guy, »Tolérance et histoire à l’aube des Lumières«, in: Histoire au XVIII siècle, Colloque d’Aix-en-Provence, 1–3 mai 1975, Aix-en-Provence 1980, S. 208. 32. Cf. Bonald, Louis de, »Réflexions philosophiques sur la tolérance des opinions«, in: ders., Œuvres complètes, Paris 1895, Bd. 3, S. 485–504. 33. Dictionnaire de l’Académie Française (1694), Bd. 1, S. 569. 34. »Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heisst beleidigen.« Goethe, Johann Wolfgang von, Sophien-Ausgabe, Weimar 1887 et passim, Bd. 42, S. 221 (Maximen und Reflexionen. Aus dem Nachlass).
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Bonald, Louis de, »Réflexions philosophiques sur la tolérance des opinions«, in: ders., Œuvres complètes, Migne (ed.), Paris 1895, Bd. 3, S. 485–504. Bossuet, Jacques Bénigne, Avertissemens aux protestans, sur les lettres du ministre Jurieu contre L’Histoire des variations, 2 Bde., Liège ³1710. Crell, Johann / Gordon, Thomas / Trenchard, John (eds.), De la Tolérance dans la religion, ou de la liberté de conscience. L’Intolérance convaincue de crime et de folie, Paris 1972. Erspamer, Peter R., The Elusiveness of Tolerance: The ›Jewish Question‹ from Lessing to the Napoleonic Wars, Chapel Hill 1997. Freimark, Peter (ed.), Lessing und die Toleranz, Detroit 1986. Lanoix, Louis, »La Petite flamme de l’Aufklärung: La Naissance de la tolerance sous l’obscurantisme du RoySoleil à travers la correspondance allemande de la duchesse d’Orléans. Selected Proceedings from the Canadian Society for Eighteenth-Century Studies /Travaux choisis de la Societé Canadienne d’Étude du Dixhuitième Siècle, XII«, in: Mydlarski, Henri / Oakleaf, David (eds.), Lumen XII, Edmonton 1993. Mautner, Thomas, »Moses Mendelssohn and the Right of Toleration«, in: Albrecht, Michael / Engel, Eva J. / Hinske, Norbert (eds.), Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit, Tübingen 1994. Röser, Volker, Politik und religiöse Toleranz vor dem ersten Hugenottenkrieg in Frankreich, Basel 1985. Schlüter, Gisela, Die französische Toleranzdebatte im Zeitalter der Aufklärung: Materiale und formale Aspekte, Tübingen 1992. ———, »L’Orthodoxie, l’héterodoxie et la genèse de la tolérance«, in: Neohelicon: Acta Comparationis Litterarum Universarum 21:1, 1994, S. 341–357. Schöps, Julius H., »Moses Mendelssohn Writes Jerusalem, oder Über religiöse Macht und Judentum, Which Addresses the Relationship between State, Church, and the Individual and Refines the Notion of Religious Toleration«, in: Gilman-Sander, L. / Zipes, Jack (eds.), Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture 1096–1996, New Haven 1997. Schwarzfuchs, Simon, »Les Lumières chez les juifs en France«, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 263, 1989, S. 429–432.
Entstehung der Soziologie Hans Erich Bödeker
Die Soziologie, die Wissenschaft von der Gesellschaft und der Formen der Vergesellschaftung entstand als eine eigenständige und systematische wissenschaftliche Disziplin erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts.1 Die Entstehung der Soziologie verdankte sich der Entdeckung der Gesellschaft als eines distinkten Gegenstandsbereichs. Ursache der Entwicklung der Soziologie als Wissenschaft war das Entstehen eines neuen Typus von Gesellschaft, nämlich der modernen, arbeitsteiligen, warenproduzierenden, sich kommerzialisierenden Klassengesellschaft, die sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert abzuzeichnen begann.2 Anlass der Entstehung der Soziologie war also eine neuartige gesellschaftliche Wirklichkeit, die durch Auflösung der alten Ordnungen Freiräume des Handelns schuf. Das gesellschaftstheoretische Erkenntnisinteresse richtete sich auf solche geselligen, intellektuellen oder ökonomischen Beziehungen, »welche die Herrschaftsordnung der societas domestica überspielten und die Herrschaftsordnung der societas civilis unterliefen.«3 ›Gesellschaft‹ als ein prinzipiell freigesetzter dynamischer Eigenbereich bedingte den strukturellen Wandel des Denkens über Gesellschaft.4 Die Ansätze dieser Verwissenschaftlichung der Reflexion des Gesellschaftlichen lagen im Gegensatz zu häufigen Behauptungen über die Ursprünge der Soziologie deutlich vor der Französischen Revolution und der Industriellen Revolution sowie ihrer Auswirkungen.5 Bereits die europäischen Aufklärer der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begannen, die Gesellschaft als eigenständigen Untersuchungsgegenstand zu entdecken. Sie initiierten das Projekt der modernen Gesellschaftswissenschaften, indem sie die Verwissenschaftlichungen der mensch-
1. Darin stimmen die vorliegenden Forschungen überein. Vgl als ersten Überblick Pankoke, Eckart, »Soziologie, Gesellschaftswissenschaften«, in: Brunner, Otto /Conze, Werner /Koselleck, Reinhart (eds.), Geschichtliche Grundbegriffe. Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1993, S. 997–1032 sowie die jüngste Darstellung von Heilbron, Johan, The Rise of Social Theory, Minneapolis 1995. 2. Vgl. Tenbruck, Friedrich H., »Emile Durkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie«, in: Zeitschrift für Soziologie 10, 1981, S. 333–350. 3. Pankoke, Eckart, »Fortschritt und Komplexität. Die Anfänge moderner Sozialwissenschaft in Deutschland«, in: Koselleck, Reinhart (ed.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S. 352–374, S. 355. 4. Zu der wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamen Einsicht der Historizität der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis sowie ihres Gegenstandes vgl.vor allem Habermas, Jürgen, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Tübingen 1967, S. 19 ff. Für eine Wissenschaftsgeschichte der Soziologie ist methodisch wichtig Lepenies, Wolf, »Einleitung. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität der Soziologie«, in: ders. (ed.), Geschichte der Soziologie, Frankfurt 1991, Band 1, S. I ff. 5. Dass die gesellschaftswissenschaftliche Fragestellung im 18. Jahrhundert entstand, wird inzwischen weitgehend anerkannt; vgl etwa Hawthorn, Geoffrey, Enlightenment and Despair. A History of Sociology, Cambridge et al. 1976, S. 8 ff, oder Bierstedt, Robert, »Sociological Thought in the Eighteenth Century«, in: Bottomore, Tom /Nisbet, Robert (eds.), A History of Sociological Analysis, London 1979, S. 3 ff, oder Swingewood, Alan, A Short History of Sociological Thought, London 1984, sowie jüngst Heilbron, Johan, The Rise of Social Theory, op. cit.
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lichen Lebenswelten einleiteten. Die jüngste Forschung hat überdies die lange vorherrschende Behauptung eines strikten Unterschieds zwischen der Aufklärung und ihren Kritikern, die lange Zeit als die eigentlichen Initiatoren des soziologischen Denkens angesehen wurden, infragegestellt, waren sie tatsächlich doch ebenso Erben wie Kritiker der Aufklärung.6 Das aufklärerische gesellschaftstheoretische Erkenntnisinteresse sollte als Beginn der vordisziplinären Geschichte der Wissenschaft von der Gesellschaft anerkannt7 werden. Vico, Montesquieu, Ferguson und andere begründeten den ›soziologischen Blick‹ und die ›soziologische Denkweise‹. Sie warfen bereits die essentiellen Probleme der menschlichen Vergesellschaftung auf. Dazu gehörten u.a. etwa die natürlichen, die nicht-vertraglichen Ursprünge der Gesellschaft, die geschichtlichen Ursprünge von Eigentum, Herrschaft und Recht, die Rolle von Einstellungen wie Wohlwollen und Sympathie als die zentralen Voraussetzungen der menschlichen Vergesellschaftung, die Ursprünge und Implikationen der Arbeitsteilung, der Einfluss der Eigentumsverhältnisse und der unterschiedlichen Subsistenzverhältnisse auf die Rechtssysteme, der Einfluss physischer Ursachen wie Klima, geographische Lage oder geschichtlicher Prozesse auf menschliche Verhaltensformen, das Ausmass, in dem Menschen, Ideen, Geschmack und Eindrücke von der Gesellschaft geprägt werden. Das Konzept der Gesellschaft als ein sich selbst organisierendes System, das sich durch Gesetzlichkeit und Stadien der Entwicklung definierte, setzte sich allmählich durch. Ohne diese Ansätze gesellschaftswissenschaftlicher Systembildung, in denen sich Erkenntnishorizonte ausformten, die die Theoretiker des 19. Jahrhunderts aufgriffen, erweiterten, abwandelten, ausgrenzten oder auch vergassen, lassen sich die Anfänge der Soziologie als Wissenschaft kaum interpretieren. Mit der These der aufklärerischen Wissenschaft von der Gesellschaft als der Ursprung und der Beginn der ›Soziologie‹ soll keineswegs eine disziplingeschichtliche Kontinuität behauptet werden. Ein disziplingeschichtlicher Ansatz zur Rekonstruktion der Anfänge der Soziologie verbietet sich methodisch von vornherein.8 Allerdings kann auch nicht länger an der These eines radikalen epistemischen Bruchs festgehalten werden, übersieht er in seinem Bestreben, die Diskontinuität herauszuarbeiten, die Kontinuität in Fragestellung und Methoden vom ausgehenden 18. zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Obgleich die aufklärerische Wissenschaft von der Gesellschaft sich natürlich von der Soziologie späterer Epochen unterschied, war sie gleichwohl nicht so fundamental verschieden, um nicht doch theoretische Relevanz für die Perspektiven und Fragestellungen des 19. Jahrhunderts zu haben. Damit wird keineswegs unterstellt, dass die aufklärerischen gesellschaftswissenschaftlichen Theorien die Soziologie unmittelbar konstituierten. Vielmehr blieb der aufklärerische Diskurs über die Gesellschaft noch immer eine lebendige Synthese aus — modern formuliert — politischer Philosophie, Geschichtswissenschaft, politischer Ökonomie und Gesellschaftswissenschaft. Dieser Diskurs wahrte trotz erheblicher
6. Vgl. dazu vor allem Seidman, Steven, Liberalism and the Origins of European Social Theory, Berkeley, Los Angeles 1983, S. 42 ff. 7. Dafür hat eindringlich und überzeugend gegen die überkommene Interpretation Heilbron, Johan, plädiert in The Rise of Social Theory. 8. Zur disziplingeschichtlichen wissenschaftshistorischen Perspektive vgl vor allem Graham, L. / Lepenies, Wolf / Weingart, Peter (eds.), Functions and Uses of Disciplinary History, Dordrecht 1983.
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Unterschiede der einzelnen Theoretiker noch einen inneren Zusammenhang durch den Bezug auf einen gemeinsamen moralphilosophisch-praktisch-politischen Diskurs und durch eine gesellschaftstheoretische und geschichtsphilosophische Sichtweise.9 Ein modellgeschichtlicher Überblick der Entfaltung soziologischer Fragestellungen in ihrer ›vordisziplinären‹ Phase muss die Entstehung des Konzepts von Gesellschaft als eines distinkten Problembereichs nachzeichnen (III). In dieser Diskussion kristallisierten sich alsbald zentrale gesellschaftswissenschaftliche Thematiken heraus (IV). Diese Themenstellungen, die eine bedeutende Rolle in den Auseinandersetzungen in der aufklärerischen sozialen Theorie spielten, wurden zunächst paradigmatisch in Frankreich und Schottland formuliert. Hand in Hand mit der Reflexion der vielfältigen gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnisinteressen ging eine methodische Auseinandersetzung um den wissenschaftlichen Charakter der frühen Gesellschaftswissenschaften als Erfahrungswissenschaften (V). In diese Richtung wiesen bereits frühzeitig konzeptuelle Anstrengungen, die in der Auseinandersetzung mit den alteuropäischen Lehren von der Natur, der Moral und der Politik ein neues Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft vorbereiteten (VI). Hinter diesem Anspruch auf Erkennbarkeit und Planbarkeit, d.h. auch Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse durch den Menschen, aber stand ein neues anthropologisches Konzept (II).
II Eine der wichtigsten theoretischen Voraussetzungen für das Entstehen der Soziologie war die aufklärerische Anthropologie.10 Sie konzeptualisierte den Menschen als selbstdenkendes, selbsttätiges und weltsetzendes Subjekt und machte ihn zum Zentrum der gesellschaftlichen Entwicklung. Die aufklärerische Anthropologie leitete eine positivere Einschätzung der menschlichen Leidenschaften, seiner Begierden, seiner Wünsche, seiner Bedürfnisse usw. ein.11 Die in der christlichen Tradition unterstellte Anarchie der Leidenschaften, die entweder durch strikte religiöse Auflagen oder durch politische Vorschriften geordnet werden musste, wurde Schritt für Schritt durch ein völlig anderes Konzept ersetzt. Leidenschaften galten nicht mehr länger als sündige Verfehlungen des Menschen, sondern wurden vielmehr als Ursachen und als Motivationen menschlichen Handelns begriffen. Der Mensch wurde nicht mehr länger als ein Opfer seiner Leidenschaften interpretiert, sondern als ein Wesen, das seine Interessen in vernünftiger Weise kontinuierlich verfolgte. Nach dieser Auffassung war zudem das menschliche Verhalten weitaus stabiler und planvoller als die christlichen Lehren unterstellten. Damit setzten sich die Aufklärer von der überkommenen christlich-orthodoxen Anschauung der menschlichen Natur ab. Sie ersetzten das Dogma der Erbsünde durch das Konzept einer ursprünglich offenen
9. Vgl. hierzu allgemein Medick, Hans, Naturzustand und bürgerliche Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith, Göttingen ²1981. 10. Vgl. noch immer Moravia, Sergio, Filosofia e scienze umane nell’età dei lumi, Firenze 1982. 11. Zum Folgenden vgl. Heilbron, Johan, The Rise of Social Theory, op. cit., S. 47 ff.
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Natur des Menschen, die sich selbst überlassen werden konnte. In diesem Kontext konnten dann auch Konzepte von Selbsterhaltung, Geselligkeit, Eigeninteresse, Selbstliebe, Eigenliebe und andere formuliert werden, die entscheidend zur theoretischen Fundierung der neuen gesellschaftstheoretischen Ansätze beitragen sollten.12 Diese menschlichen Anlagen legten weder eindeutige Ziele menschlichen Handelns noch die Mittel zu ihrer Befriedigung fest. Sie formulierten lediglich die Handlungsorientierung. Der Aufwertung des Selbsterhaltungstheorems13 korrespondierte die Rehabilitierung und Verteidigung der »Selbstliebe«,14 die zu einem Schlüsselbegriff bei der Konstituierung aufklärerischer Anthropologie aufstieg. Selbstliebe wurde als stärkstes menschliches Handlungsmotiv ausgelegt. In ihr schlugen sich eine Fülle verschiedener Aspekte in den Beziehungen Gesellschaft-Individuum nieder. Die an sich moralisch indifferente ›Selbstliebe‹, die sowohl Quelle alles Guten wie alles Bösen werden konnte, wurde zum Einheits- und Lebensprinzip des affektiven und moralischen menschlichen Lebens. In ihr kam zugleich ein Selbstwertgefühl zum Ausdruck, in das Elemente gesellschaftlicher Normativität eingelagert waren. Gutes erzeugte sie, wenn das von ihr bewirkte Verhalten gleichzeitig den religiösen und ethischen Werten der Gesellschaft — zeitgenössisch: Gottesliebe und Gemeinwohl — entsprach. Moralisch schlecht wurde die Selbstliebe erst dann, wenn sie keine Rückbindung an jene Werte mehr hatte und zum sozialen Egoismus umschlug. Die gelungene Synthese von Selbstliebe und Sozialität wurde etwa von den deutschen Aufklärern bereits frühzeitig u.a. im sich herauskristallisierenden Begriff der »vernünftigen Selbstliebe« formuliert.15 Diese Begrifflichkeit entwickelte sich auf der Grundlage eines optimistischen Harmonisierungsdenkens: »Das freie Spiel der Einzelinteressen führte nicht mehr zum Krieg aller gegen alle, sondern — wenn die Selbstliebe durch die Vernunft daran erinnert werde, dass zu ihrer Befriedigung der gesellschaftliche Rahmen unabdingbar war — zu einer wohlgeordneten Einheit.«16 Der Grund für die differierende Interpretation der Möglichkeiten der Selbstregulierung der antagonistischen Egoismen durch die europäischen Aufklärer waren die historisch — gesellschaftlichen Unterschiede in der Entwicklung des Bürgertums, näherhin des wirtschaftlichen Aufschwungs des 18. Jahrhunderts und des daraus resultierenden Glaubens an die freie Entfaltung der Privatinteressen in einer bürgerlichen Gesellschaft. Die »vernünftige Selbstliebe« als gleichsam natürlicher, unzerstörbarer Glückstrieb
12. Grundlegend für diese Interpretation ist Fuchs, Hans-Jürgen, Entfremdung und Narzissmus. Semantische Untersuchungen zur Geschichte der »Selbstbezogenheit« als Vorgeschichte von französisch »amour-propre«, Stuttgart 1977. Für den englischen vgl. vor allem Schrader, Wolfgang H., Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung. Der Wandel der moral-sense-theory von Shaftesbury bis Hume, Hamburg 1984. 13. Zum theoretischen Hintergrund vgl. die Zusammenfassung bei Mulsow, Martin, »Selbsterhaltung«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Stuttgart 1995, Bd. 9, Sp. 393–406. 14. Vgl. neben Fuchs, Hans-Jürgen, Entfremdung und Narzissmus, op. cit., den zusammenfassenden Überblick von S. Knoche, »Selbstliebe«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, op. cit., Bd. 9, Sp. 465–487. 15. Zum europäischen Kontext vgl. Fuchs, Hans-Jürgen, Entfremdung und Narzissmus, op. cit.; für die deutsche Theorieentwicklung vgl. vor allem Schneiders, Werner, Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius, Hildesheim / New York 1971. 16. Fuchs, Hans-Jürgen, Entfremdung und Narzissmus, op. cit., S. 280.
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gehorchte nicht allein der Berechnung, die den Egoismus aus eigenem Interesse begrenzte und beherrschte, sondern zugleich auch der Absicht, durch ein den gegebenen gesellschaftlichen Normen angepasstes Verhalten die soziale Wertqualität der eigenen Person nicht zu gefährden, sondern vielmehr zu sichern und zu steigern. Diese »vernünftige Selbstliebe« enthielt beispielhaft in Mandevilles (1670–1733) Fable of the Bees17(1714) nicht nur eine Rechtfertigung des Luxus als Quelle ökonomischer Prosperität, darin sollte ihm vor allem Helvétius18 folgen, sondern auch die Hoffnung durch die Entwicklung sozialer Normen wie Scham und Nacheiferung, und zwar aus der »Selbstliebe« heraus, die Egoismen der einzelnen im Zaum zu halten. Diese Hoffnung durchzog trotz der zunehmenden skeptischen Einschätzung der menschlichen Natur das ganze 18. Jahrhundert. Die unterschiedliche Einschätzung der Selbstliebe bei Shaftesbury (1671–1713), für den die Tugend auf natürlicher Neigung beruhte, und Mandeville, der die Selbstliebe zum alleinigen Prinzip der Moral machte, führte vor allem unter unter den schottischen Moralphilosophen zu kontroversen Diskussionen über das zentrale moralische Prinzip. Für Francis Hutcheson (1694–1747) etwa war der Begriff Selbstliebe gleichwohl nicht obsolet: Er bildet vielmehr die notwendige Ergänzung zum stärker christlich inspirierten Begriff des Wohlwollens oder der uneigennützigen Liebe (benevolence).19 Alexander Pope hingegen betonte den politischen Aspekt der Selbstliebe, wenn er festhielt, dass sich im Staatsgefüge der schädliche Eigennutz des Menschen notwendig in eine sich auf das allgemeine Wohl erstreckende Selbstliebe verwandelte.20 Und Adam Smith (1723–1790) wertete die Selbstliebe überwiegend negativ; führte sie doch dazu, die eigenen Interessen über die der anderen Menschen zu stellen. Humes (1711–1776) These von der humanitären Empfindung als der Ursache wohltätiger Handlungen lehnte er ab. Dagegen setzte er seine Auffassung, dass Vernunft und Gewissen über die Fairness des menschlichen Verhaltens entscheiden.21 Bei Adam Ferguson zeigte sich die Relativierung der Selbstliebe in der neuen Gesellschaft der Wirtschaftsbürger. »Consideration of interest« ar für ihn ein legitimes Mittel zur Selbsterhaltung und wurde nur »mproperly termed self-love« denn Liebe war dem Bereich des Privaten, dem inneren Gefühl vorbehalten. Deshalb schlug er statt »self-love« »interest« als geeigneten Begriff vor, da er jene Aufmerksamkeit für die Dinge bezeichnet, die für die »preservation of our animal nature« unbedingt nötig war.22
17. Vgl. Mandeville, Bernard de, The Fable of the Bees: or Private Vices, Publick Benefits, Kaye, F. B. (ed.), 2 Bde., Oxford ²1957; die Konsequenzen dieses Ansatzes leuchtet Hirschman, Albert O., The Passions and the Interests. Political Arguments for Capitalism before its Triumph, Princeton 1977, aus. 18. Vgl. Fuchs, Hans-Jürgen, Entfremdung und Narzissmus, op. cit., S. 281. 19. Vgl. etwa Hutcheson, Francis, An Inquiry into the Origins of Our Ideas of Beauty and Virtue (1725), in: ders., Collected Works, Fabian, Bernhard (ed.), Bd. 1, London 1969, S. VI. 20. Vgl. Pope, Alexander, Essay on Man (1733), III, 315 f. 21. Vgl. Smith, Adam, The Theory of Moral Sentiments (1759), Raphael, D. D. /Macfie, A. L. (eds.), Oxford 1976, Bd. 1, S. 137–139, S. 83. 22. Vgl. Ferguson, Adam, An Essay on the History of Civil Society (1767), Forbes, Duncan (ed.), Edinburgh 1966, S. 12–15. Vgl. jetzt auch ders., Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Batscha, Zwi / Medick, Hans (eds.), Frankfurt 1986, insbesondere deren Einleitung, S. 7–93.
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Das Konzept von ›Interesse‹ war bereits am Ende des 17. Jahrhunderts in den Schriften französischer Moralisten wie La Rochefaucault (1613–1680) und Nicole (1625–1695) entstanden.23 Ausgearbeitet und verbreitet wurde es dann insbesondere durch Mandeville, der wirkungsmässig dem Interessebegriff die Funktion einer anthropologischen Kategorie zusprach.24 Sie sollte eine der wichtigsten Voraussetzungen für die theoretischen Ansätze von Montesquieu, Adam Smith u.a. werden. Schritt für Schritt kristallisierte sich die Auffassung heraus, dass von allen menschlichen Leidenschaften das ›Interesse‹ die beständigste, das Voraussehbarste und Berechenbarste war. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts machte sich eine Fülle von aufklärerischen Autoren zu Fürsprechern von ›intérêt‹. Berühmt geworden als erster Theoretiker des ›wohlverstandenen Interesses‹ ist vor allem Helvétius (1715–1771).25 Dazu haben nicht zuletzt die radikalen Konsequenzen beigetragen, die er daraus zog. ›Amour de soi‹ und ›intérêt‹ wurden von ihm nie ausdrücklich gleichgesetzt; sie waren für ihn zwei leicht zu unterscheidende Aspekte ein- und desselben Phänomens. Aus Selbstliebe erwuchsen zunächst alle Leidenschaften, aus diesen wieder alle Laster und Tugenden. Das ›intérêt‹ war gleichsam der Vermittlungsmechanismus, der dem ›amour de soi‹ die Umsetzung seiner Bedürfnisse erlaubte. So konnte Helvétius die Grundlagen einer vernünftigen Moral sowohl ›amour de soi‹ als auch ›intérêt personnel‹ nennen. ›Intérêt‹ als der Vermittlungsmechanismus zwischen Selbstinteresse und Gemeinwohl wurde von d’Holbach (1723–1789) noch distanzierter betrachtet als von Helvétius. Bei d’Holbach reduzierte er sich auf das Interessenkalkül, das die Bedingungen seiner sozialen Realisierungen permanent mitreflektierte. Gegen Ende des Jahrhunderts waren es in Frankreich neben d’Holbach vor allem die Physiokraten, die die Theorie des »amour des soi (intérêt) bien entendu« vertraten.26 Im schottischen Diskurs ging Adam Smith wie vor ihm bereits Hutcheson vom »self-interest« aus, das, war es doch zu einem allgemein akzeptierten Konzept aufgestiegen, er aber als solches nicht mehr definieren musste.27 Einer der intellektuellen Protagonisten der Anthropologie war in Deutschland Friedrich Buchholz. »Selbstheit« als individualisierendes und »Liebe« als gesellschaftszentrierendes Moment waren die anthropologischen Prämissen seiner Gesellschaftstheorie. Wie schon bei Mandeville hatte der Terminus »Eigennutz« keineswegs einen negativen Bedeutungsgehalt,28 denn auch Buchholz unterstellte, dass individualistisches
23. Zum theoretischen Rahmen vgl. vor allem Orth, Ernst Wolfgang, »Interesse«, in: Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (eds.), Geschichliche Grundbegriffe, Stuttgart 1978, Bd. 3, S. 305–365, sowie Fuchs, Hans-Jürgen / Gerhardt, Volker, »Interesse«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Stuttgart 1977, Bd. 3, Sp. 479–494, und Gerhardt, Volker, »«Interesse« — Terminus technicus des neuzeitlichen Denkens. Exemplarische Überlegungen zur Begriffsgeschichte in Frankreich«, in: Massing, Peter / Reichel, Peter (eds.), Interesse und Gesellschaft, München 1977, S. 36–52. 24. Vgl. zum Kontext etwa Orth, Ernst Wolfgang, »Interesse«, op. cit., S. 318 f 25. Vgl. Fuchs, Hans-Jürgen, Entfremdung und Narzissmus, op. cit., S. 283 ff. 26. Ibid., S. 284 ff. 27. Vgl. Neuendorff, Hartmut, Der Begriff des Interesses. Eine Studie zu den Gesellschaftstheorien von Hobbes, Smith und Marx, Frankfurt 1973, S. 85. 28. Vgl. Buchholz, Friedrich, Hermes oder über die Natur der Gesellschaft — mit Blicken in die Zukunft, Tübingen 1810, S. 1 ff: »Von der Liebe und der Selbstheit«.
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Interesse nur im gesellschaftlichen Bezugsfeld befriedigt werden konnte. Das moralische Paradox dieses Diskurses bestand darin, dass mit dem Interesse einerseits die Unfähigkeit des Menschen zur Tugend festgehalten wurde und andererseits gleichwohl die Möglichkeit tugendhaften Verhaltens behauptet wurde. Der Bäcker backt das Brot, weil es zu seinem eigenen Vorteil war. Dieses Argument, das Adam Smith in Wealth of Nations benutzte, galt als zentrales anthropologisches Theorem für zahlreiche soziale, aber auch ökonomische Theorien der Aufklärung. Die überkommenen religiösen und politischen Vorschriften wurden partiell überflüssig: Interesse konnte als eine ›natürliche‹ und zugleich ausreichende Voraussetzung für das Funktionieren zahlreicher Sektoren der Gesellschaft wie der Gesellschaft selbst gedacht werden. Dabei handelte es sich keineswegs mehr um keine völlig homogenisierte Gesellschaft. Mit anderen Aufklärern machte selbst Lessing (1729–1781) am Interessebegriff die Unmöglichkeit einer völlig homogenisierten Gesellschaft deutlich.29 ›Interesse‹ hatte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts immer mehr moralisch neutralisiert als »die Gesamtheit der Antriebsmomente, die in sozialen Verhaltensweisen zur Geltung kommen«.30 Gerade Rousseau (1712–1778) brachte die soziale Dimension von ›Interesse‹ auf den Begriff. Die Versöhnung von ›intérêt personel‹ und ›intérêt publique‹ wurde für ihn dadurch möglich, dass das Eigeninteresse durch die Vernunft verallgemeinert und zum öffentlichen Interesse werden konnte. »Von den drei Komponenten des Begriffs ›Interesse‹ der Aufklärung — Subjektivität, Reflexivität und Sozialität — waren die beiden letzten wesentlich stärker ausgeprägt als beim Konzept ›Selbstliebe‹.«31 Das Spezifikum des aufklärerischen Konzepts ›Interesse‹ war die ihn prägende Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft; ›Interesse‹ bezeichnete also, zugespitzt formuliert, »Selbsterhaltung unter gesellschaftlichen Bedingungen«. Dabei zeigt die quantitative Verschiebung von ›amour-propre‹ zu ›intérêt‹, dass die sozialen Bedingungen der menschlichen Selbsterhaltung den Aufklärern, und zwar nicht nur den französischen Aufklärern, immer stärker bewusst wurden. Die Erfahrung, dass menschliches Verhalten weit weniger instabil war, als bis dahin angenommen, trug unter den Aufklärern zweifellos dazu bei, die menschliche Natur als weit komplexer zu begreifen. So lässt sich auch die moralistische Tradition nicht länger als bloss individualistisch interpretieren. Soziale Gewohnheiten und individuelles Verhalten waren in den Schriften der französischen Moralisten eng miteinander verknüpft und aufeinander bezogen.32 Die Bewusstheit der wechselseitigen menschlichen Abhängigkeit war ein elementarer Beitrag der moralistischen Moralphilosophie zur Entwickung der Sozialwissenschaften. Geselligkeit wurde als die wichtigste Quelle von Glück angesehen. Glück, Wohlfahrt, Wohlsein war wiederum nicht denkbar ausserhalb der Gesellschaft. Diese Vorstellung von Glück verdrängte allmählich die
29. Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim, Ernst und Falk (1771 /78), in: Sämtliche Schriften, Lachmann, Karl /Muncker (eds.), Berlin ³1968, Bd. 13, S. 352/ 353. 30. Gerhardt, Volker, Vernunft und Interesse. Vorbereitung auf eine Interpretation Kants, Diss. Münster 1974, Münster 1976, S. 305. 31. Ibid., S. 319. 32. Vgl. dazu zuletzt Heilbron, Johan, The Rise of Social Theory, op. cit., S. 65 ff.
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christliche Lehre der Erlösung; die soziale Dimension dieses Strebens nach Glück stieg zu einem zentralen Theorieelement auf und Geselligkeit wurde zusehends als die tragende Fundierung der Moralphilosophie anerkannt. Allerdings warf dieses Konzept der Geselligkeit, in dem Selbstliebe und Moralität ohne grössere theoretische Schwierigkeiten als eine Einheit gedacht wurden, Probleme auf. Falls individuelles Glück nur dann erreicht werden konnte, wenn man das Glück anderer Menschen nicht ausser Acht liess, konnte man auch behaupten, dass Tugend nicht aus einer pflichtbewussten Haltung oder aus Mitmenschlichkeit entstand, sondern aus vernünftigem Selbstinteresse. Das führte zu dem Paradox, dass Tugend aus Laster entstand. Im 18. Jahrhundert war es insbesondere Mandeville, durch den diese Auffassung eine traditionsbildende Bedeutung für die Entwicklung der Moraltheorie gewann. Mandeville unterstellte dabei keineswegs, dass Tugend überhaupt aus Laster entstand, sondern nur, dass private Laster zur öffentlichen Wohlfahrt führen mussten. Diese Einschränkung aber ist zentral.33 War in der moralistischen Literatur des 17. Jahrhunderts Geselligkeit mit Verhaltensstandard und mit menschlichem Verhalten in kleineren Gruppen unmittelbar verknüpft worden, konzipierte das moderne Naturrecht hingegen Geselligkeit als zentralen Leitgedanken der menschlichen Vergesellschaftung überhaupt.34 Diese Perspektive stand natürlich in einem Gegensatz zur traditionellen Auffassung, für die der Staat göttlichen Ursprungs war. Präsentierte das Naturrecht nach Grotius (1583–1645) und Pufendorf (1632–1694) eine rationale und säkulare Theorie der Institutionen Recht und Staat, begründete die moralistische Literatur eine geschärfte Aufmerksamkeit für menschliches Verhalten und für die Bedeutung von Praktiken und Regeln, die ausserhalb der Reichweite des Staates lagen. Die Theoretiker der frühen Soziologie knüpften an diese Traditionen in sehr unterschiedlicher Weise an; aber sie spielten eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Formulierung neuer Einsichten über die sozialen Lebenswelten. Die unterschiedlichen Versuche, Geselligkeit zu konzeptualisieren, stimmten darin überein, die Gesellschaft als die natürliche Umwelt des Menschen auszulegen. «Instead, society was recognized as humanity’s primordial habitat, and the widespread belief in innate sociability made it possible to return to a basically Aristotelian perspective concerning the naturalness of society and government to humankind.«35 Folgerichtig stellte Ferguson (1723–1816) im bewussten Anschluss an Montesquieu fest, dass »the love of company is a principle common to man with all the gregarious animals«. Menschliche Wesen formten natürlich zwangsläufig »manifold troops and companies«, die durch »a social disposition, which receives with favour and love what constitutes the good of mankind, or rejects, with disapprobation and abhorrence, what is of a contrary nature«. Das eigentümliche System für dieses »fellow feeling« war für Ferguson »humanity«, das er als »a feeling of good
33. Vgl. ibid., S. 76. 34. Anregend dazu Gordon, Daniel, Citizens without Sovereignty. Equality and Sociability in French Thought, 1670–1789, Princeton 1994. 35. Carrithers, David, »The Enlightenment Science of Society«, in: Fox, Christopher /Porter, Roy /Wokler, Robert (eds.), Inventing Human Science. Eighteenth-Century Domains, Berkeley et al. 1995, S. 232–270, S. 248.
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will towards all men« beschrieb.36 Frühe schottische Theoretiker wie Hutcheson hatten noch von einer ›universal benevolence‹ als Schlüssel für die menschliche Geselligkeit, für menschliches Zusammenleben gesprochen.37 Zahlreiche Theoretiker des 18. Jahrhunderts wie David Hume, Adam Smith, Adam Ferguson, aber auch J. G. Herder (1744–1803) suchten das Studium der menschlichen Natur mit dem der menschlichen Gesellschaft unmittelbar zu verknüpfen, glaubten sie doch, dass die Erkenntnisse sich wechselseitig bedingten.38 Zugleich begann sich eine stärkere ›soziologische‹ Orientierung zu entfalten, nach der Psychologie und Medizin den individuellen Menschen am besten verstünden, während die ›moral philosopher‹ oder ›politicians‹, um zwei von Humes Lieblingsbegriffen zu benutzen, sich intensiver der sozialen Phänomene annehmen sollten. Gewiss hatte bereits Montesquieu (1689–1755) die Gesellschaft weniger als die gleichsam natürliche Ausdehnung gewisser menschlicher Eigenschaften betrachtet, sondern als Bereich, der seinen eigenen Gesetzlichkeiten folgt und eigene Handlungsmuster entwickelt, die nicht direkt aus dem Handeln der einzelnen Individuen ableitbar waren. Überdies behauptete bereits Montesquieu, dass die menschliche Natur selbst ein soziales Produkt war, geprägt durch eine komplexe Konstellation unterschiedlicher Ursachen, die in jeder gegebenen Gesellschaft wirkten. Montesquieu und seine Anhänger behaupteten wirkungsmächtig, dass der Mensch nicht nur sich selbst bildete und seine Institutionen schuf, sondern auch, dass sie zugleich durch die Umstände bestimmt wurden, in denen die Menschen lebten.39 Diese Betrachtung setzte eine Distinktion zwischen dem Menschen als einem natürlichen und einem sozialen Wesen voraus. Während für das natürliche menschliche Wesen eine gewisse Einförmigkeit und Konstanz in seinen Handlungen charakteristisch war, bildete das soziokulturelle menschliche Lebewesen demgegenüber eine bemerkenswerte Diversität heraus. Hume konstatierte: »There is a general course of nature in human actions as well as in the operation on the sun and climate. There are also characters peculiar to different nations and particular persons.« Obwohl er die Einförmigkeit der menschlichen Natur unterstellte, betrachtete er die individuellen Menschen dennoch als ausgesprochen wandelbar in Hinsicht auf die Entwicklung ihrer Charaktere und ihres Verhaltens. »Man is a very variable being«, konstatierte Hume, »and susceptible of many different opinions, principles, and rules of conduct. What may be true, while he adheres to one way of thinking, will be found false, when he has embraced an opposite set of manners and opinions.«40 In dieser Interpretation war die menschliche Natur eindeutig sozial bedingt. Gesellschaft war
36. Ferguson, Adam, An Essay on the History of Civil Society, op. cit., S. 26. 37. Vgl. Hutcheson, Francis, An Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue, 2 Bde., Dublin 1725, Bd. 1, S. 198f. 38. Vgl. etwa Hume, David, Treatise of Human Nature, Selby-Bigge, L. A. (ed.), Oxford 1975, S. XVff oder auch Ferguson, Adam, Principles of Moral and Political Science, 2 Bde., Edinburgh 1792, Bd. 1, S. 5 ff, 9 ff, 63 ff. 39. Vgl. dazu treffend Meek, Ronald L., Social Science and the Ignoble Savage, Cambridge 1976, S. 1: »Man […] not only made himself and his institutions: he and his institutions were themselves made by the circumstances in which […] he happened to find himself.« 40. Hume, David, »Of the original Contract«, in: ders., Essays Moral, Political, and literary, Miller, Eugene F. (ed.), Indianapolis 1985, S. 255f.
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gleichsam eine Agentur in der Ausbildung und Prägung der kognitiven moralischen Fähigkeiten des Individuums. Hier liegen die vorsichtigen Ansätze einer Theorie der Sozialisation der Aufklärer. Montesquieu war ein aufschlussreicher Ausgangspunkt für die Entwicklung der aufklärerischen Konzeptualisierung der gesellschaftlichen Prägungen des Menschen. «He fully appreciated the extent to which ›customs‹ and ›manners‹ as well as the ›general spirit‹, ›general character‹, or ›national character‹ influence human behaviour […] Montesquieu had narrowed the list of basic components of what he termed the ›general spirit‹ of a society to climate, religion, laws, maxims of government, historical precedents, manners, and customs.«41 Rousseau radikalisierte diese Einsicht. Viele der Differenzen zwischen den Menschen, die traditionell als ›natürlich‹ angesehen wurden, erschienen ihm tatsächlich durch den Einfluss von Gewohnheiten und verschiedenen Lebensformen des gesellschaftlichen Menschen geprägt.42 Die Gesellschaft transformierte die ursprünglichen menschlichen Instinkte. Diese Transformationen durch die Gesellschaft erschienen als so prägend, dass sich ›wilde‹ und ›zivilisierte‹ menschliche Wesen sich nicht länger über das, was unter menschlicher Glückseligkeit verstanden werden konnte, verständigen könnten.43 Rousseau hatte als einer der ersten Aufklärer klar erkannt, dass die Gesellschaft ein Element der Selbstdefinition des Menschen geworden war. Menschliche Natur war dann keineswegs bloss das vollendete Produkt der Natur, die der Organisation der Gesellschaft gleichsam vorauslag. Die Gesellschaften integrierten menschliche Wesen, die allein durch Instinkt regiert wurden, und ermöglichte ihnen das, was Rousseau die ›kultivierte Vernunft‹ genannt hat.44 Daraus schliesst er, es gäbe keinen Grund zu erwarten, dass das menschliche Geschlecht des einen Zeitalters dem anderer ähneln würde. Es waren insbesondere die schottischen Moralphilosophen, die betonten, dass zuweilen die sozialen Lebenswelten die Handlungsweisen der Menschen als soziale Wesen bestimmten.45 Die Entstehung dieser Traditionslinie überrascht kaum. Lockes Ablehnung von eingeborenen Ideen und seine Betonung der Bedeutung sinnlicher Eindrücke als das Rohmaterial für Reflexionen ermöglichte zahlreichen Theoretikern des 18. Jahrhunderts, darunter so unterschiedlichen Aufklärern wie Condillac, Helvetius, Morelli, LaMettrie und anderen zu unterstellen, dass menschliche Wesen unendlich formbar und in ihrer Entwicklung entscheidend von ihrer natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt geprägt würden. Manchmal konnte diese Prämisse zu einem psychologischen Determinismus beitragen. Am Ende des Jahrhunderts aber war das, was Robert Nisbet als »the priority of the social« auf dem Begriff gebracht hat, so etwas wie ein Gemeinplatz des anthropologischen aufklärerischen Diskurses.46
41. Carrithers, David, »The Enlightenment Science of Society«, op. cit., S. 249 / 250. 42. Vgl. Rousseau, Jean Jacques, »Discourse sur l’origine et les fondements de l’inégalité«, in: ders., Œuvres complètes, Gagnebin, Bernard / Raymond, Marcel (eds.), Paris 1959–1995, Bd. 3, 1964, S. 109–237. 43. Vgl. ibid. 44. Vgl. ibid. 45. Die theoretischen Entwicklungen fasst David Carrithers, »The Enlightenment Science of Society«, op. cit., S. 252f, prägnant zusammen. 46. Nisbet, Robert, »Conservatism«, in: Bottomore, Tom / Nisbet, Robert (eds.), A History of Sociological Analysis, op. cit., S. 80–117, S. 98.
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III Zentrale Voraussetzungen für die Entstehung der gesellschaftswissenschaftlichen Fragestellungen waren sowohl die Differenzierungen zwischen einer mundanen und einer transzendenten Ordnung als auch die Unterscheidung der staatlich-politischen von der gesellschaftlich-zivilen Ordnung.47 Im Unterschied zur christlichen Lehre und zur Tradition der politischen Theorie entdeckte die Aufklärung die Gesellschaft als die symbolische Repräsentation der kollektiven menschlichen Existenz und konzeptualisierte sie als den Bereich menschlicher Praxis. Für die Aufklärer gab es also eine deutlich akzentuierte Gesellschaft als einen eigenständigen Bereich, in dem die Menschen, die ihren eigenen Interessen, Neigungen und Vorlieben folgten, es gleichwohl schafften, geordnet zusammenzuleben. Gesellschaft wurde als ein Bereich der Ordnung, des friedlichen Zusammenlebens und der Stabilität verstanden, der nicht gefährdet werden durfte. Und Gesellschaft umfasste zugleich die Teilelemente der Gesellschaft wie die Gesellschaft als Ganzes.48 Die Perspektive der zunehmenden gesellschaftlichen Segmentierung wurde theoretisch so bedeutungsvoll, weil immer mehr menschliche Handlungen und Institutionen nicht mehr unter die staatliche oder kirchliche Rechtsprechung fielen. Dazu gehörten nicht nur die ökonomischen und kulturellen Aktivitäten, sondern auch die neuen Formen der Vergesellschaftungen, wie Assoziationen, Salons usw., die im Laufe des 18. Jahrhunderts zunahmen. Diese soziologische Orientierung der Aufklärer, die die Gesellschaft als eine Institution sui generis anerkannten, lässt sich vor allem bei Montesquieu aber auch bei J. J. Rousseau, D. Hume, A. Ferguson, A. Smith, J. Millar, J. G. Herder und anderen Aufklärern feststellen. Diese Perspektive unterschied sich grundlegend von dem entstehenden Psychologismus, für den die Gesellschaft sich aus den Prinzipien der nach Ort und Zeit als uniform gedachten menschlichen Natur ableiten liess. In diese Richtung etwa argumentierte Denis Diderot (1713–1784), der unterstellte, von einem unterstellten Charakterzug der menschlichen Natur ausgehen zu können, um das Verhalten von Individuen in Gesellschaften deduzieren zu können.49 Während er die angeborene Geselligkeit (sociabilité) des Menschen hervorhob, unterstellten andere Theoretiker das Wohlwollen (benevolence) als grundlegende, sein Handeln bestimmende menschliche Anlage. Francis Hutcheson etwa betrachtete das natürliche Wohlwollen als eine ausreichende Erläuterung für die starken familialen Bindungen zwischen den Clans des schottischen Hochlandes. Gegenüber diesem psychologischen Erklärungsmuster betonte Adam Smiths Erklärung
47. Das betonen in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichen Ansätzen Pankoke, Eckart, »Sozialwissenschaft, Gesellschaftswissenschaft«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, op. cit., Stuttgart 1995, Bd. 9, Sp. 1249–1257; Heilbron, Johan, The Rise of Social Theory, op. cit., S. 86 ff, oder auch Baker, Keith M., »Enlightenment and the Institution of Society: Notes for a Conceptual History«, in: Melching, Willem / Velema, Wyger (eds.), Main Trends in Cultural History. Ten Essays, Amsterdam, Atlanta 1994, S. 95–120. 48. Vgl. etwa Heilbron, Johan, The Rise of Social Theory, S. 91, oder Baker, Keith M., »Enlightenment and the Institution of Society«, op. cit., S. 100, während Tenbruck, Friedrich H., »Emile Durkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie«, op. cit., S. 346, diese Konzeptualisierung erst im 19. Jahrhundert sehen kann. 49. Vgl. Diderot, Denis, »Société«, in: ders., Œuvres complètes, Assézat, J. / Tourneux, M. (eds.), 20 Bde., Paris 1875–1877, Bd. 17, S. 134.
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dieses Verhalten neben den möglichen psychologischen Dispositionen der Hochländer vor allem gesellschaftliche Faktoren. Für ihn gründeten diese Verhaltensweisen vor allem in der Schwäche der zentralen Autorität und der andauernden Notwendigkeit der Selbstverteidigung.50 In diesem Diskurs wurde Gesellschaft, die als Leistung, als Schöpfung menschlicher Handlungen verstanden wurde, nicht als die blosse Summe der jeweils existierenden Individuen konzeptionalisiert.51 Die meisten Aufklärer konzipierten die Gesellschaft mehr oder weniger als eine strukturelle Einheit. Mehr noch, sie suchten spezifische Ursachen für ihre gleichzeitigen sowie ungleichzeitigen differenten Ausprägungen zu ergründen. In De l’esprit des lois (1747) artikulierte Montesquieu als einer der ersten aufklärerischen Theoretiker eine ganzheitliche Aufklärung der Gesellschaft.52 Gesellschaft bestand für ihn gleichsam in den Aktionen und Reaktionen der unterschiedlichen Teile der Gesellschaft. Damit legte er Gesellschaft ansatzweise als ein soziales System aus. Der theoretische Kern von Montesquieus Argumentation war sein Versuch, die zugrundeliegenden Muster der Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Elementen der Gesellschaft zu analysieren. Unterhalb der gegebenen Diversität und des Chaos der empirischen sozialen Realitäten existierte für ihn eine Struktur und ein System, das, die Gründe der unterschiedlichen Phänomene erhellt und auf diese Weise Bedeutung generiert. Diese Auffassung hat er wirkungsmächtig für die Interpretation als Feudalsystem formuliert: «C’est un beau spectacle que celui des lois féodales. Un chêne antique s’élève; l’œil en voit de loin les feuillages; il approche, il en voit la tige; mais il n’en aperçoit point les racines: il faut percer la terre pour les trouver.«53 In den Schriften von Montesquieu und der von ihm beeinflussten Aufklärer zogen nicht mehr das Individuum und individuelle mentale Prozesse die Aufmerksamkeit auf sich, sondern vielmehr das Verhalten von Individuen in unterschiedlichen Gruppen. «General causes affecting large groups of people and culminating in grand historical events were what intrigued Montesquieu both in his historical investigation of the rise and fall of Rome and in his massive treaties on laws. Numerous later theorists caught the gist of his refocusing of social science inquiry from the individual to the group.«54 Das Individuum wurde in dem aufklärerischen soziologischen Diskurs als Mitglied einer Gruppe oder Institution betrachtet. Diese Distanzierung von einem vorherrschenden atomistischen Individualismus prägte auch die Theorie David Humes, der beispielhaft gegen Versuche argumentierte, das gesellschaftliche Leben als ein Aggregat von Individuen zu beschreiben. Hume wies vielmehr nachdrücklich auf die strukturellen Aspekte von Gesellschaft hin: »So great is the force of laws, and of particular forms of governments, and so little dependents have they
50. Vgl. Smith, Adam, Theory of Moral Sentiments (1759), op. cit., S. 22. 51. Vgl. zusammenfassend Carrithers, David, »The Enlightenment Science of Society«, op. cit., S. 249ff, sowie Swingewood, Alan, A Short History of Sociological Thought, op. cit., S. 17 ff. 52. Vgl, zuletzt Carrithers, David, »The Enlightenment Science of Society«, S. 249. 53. Montesquieu, De l’Esprit des Lois ( 1747), in: ders., Œuvres complètes, Caillois, Roger (ed.), Bd. 2, Paris 1951, S. 883 / 84. 54. Vgl. Carrithers, David, »The Enlightenment Science of Society«, op. cit., S. 235, S. 249 ff, und für den deutschen Kontext die ältere noch nicht überholte Studie von Stoltenberg, Hans L., »Die Gruppe in der Vernunftlehre des deutschen Aufklärertums«, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 12, 1933 / 34, S. 21–35.
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on the humors and tempers of man, that consequences […] may sometimes be deduced from them […].«55 Ähnlich unterstellte Adam Ferguson das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen gleichsam als den ›Naturzustand‹ des Menschen. Die Untersuchung dieser Gruppen und ihrer wechselseitigen Beziehungen sah er als den Gegenstand der entstehenden Gesellschaftswissenschaften an. »Mankind are to be taken in groups […] and every experiment to the subject should be made with entire societies, not with single men.« Hier gründet auch Fergusons bereits zitierte berühmte Bemerkung: »Men have always acted in troops or companies.«56 Folgerichtig zählten dann zu den Untersuchungsgegenständen der aufklärerischen sozialen Theorien auch soziale, politische und ökonomische Institutionen. Das Erkenntnisinteresse der aufklärerischen Gesellschaftswissenschaftler richtete sich auf menschliche Verhaltensweisen und Institutionen, auf soziale Strukturen, auf Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Schichten und Klassen sowie auf handlungsleitende Ideen wie Religion oder Sitten. Ihr gesellschaftswissenschaftliches Interesse schloss die Analyse von Familie als sozialer Institution ebenso ein wie den sozialen Status der Frauen, von Sympathie, Gewohnheiten und Gebräuchen. Neben die Familien traten mehr und mehr auch sozioökonomische Gruppierungen als die erste Auswirkung der frühen Arbeitsteilung in das Blickfeld der aufklärerischen soziologischen Analyse rückte.57 Aber auch die anderen neuen Formen der Vergesellschaftung wie Vereine, Sozietäten und Assoziationen, die ihrerseits Anstösse zur Bildung weiterer Vergesellschaftungen auslösten, wurden ausführlich thematisiert. Hier gründen die folgenreichen Ansätze für die Ausdeutung der Gesellschaft als eines Gattungsbegriffs für die Vielheit von Gesellschaften, die nun zu selbständigen Einheiten wurden. Keine Gesellschaft, so wurde mehr und mehr anerkannt, konnte einfach mit der Gesamtsumme der in ihr lebenden Individuen gleichgesetzt werden. Vielmehr schufen erst die Interaktionen der Individuen und der gesellschaftlichen Gruppen, die in ihrer besonderen Lage gemeinsame Bedürfnisse hatten und entwickeln konnten, distinkte moralische, praktische und soziale Strukturen, die wiederum menschliches Verhalten prägten. Die aufklärerischen Denker konnten das Konzept sozialer Beziehungen oder sozialer Institutionen zwar schon denken, ohne es jedoch begrifflich präzise formulieren zu können.58 Neben Montesquieu war es vor allem Rousseau, der die Gesellschaft als gesellschaftliche Beziehungen reflektierte. Eindeutiger als es noch Montesquieu getan hatte, formulierte er die Fundierung dieses neuartigen theoretischen Gedankens: »Il faut étudier la société par les hommes, et les hommes par la société […].«59 Gleichwohl bestand zwischen den Gesellschaftskonzeptionen beider ein gravierender Unterschied. Für Montesquieu war Gesellschaft ein System, das aus objektiven Strukturen oder Elementen entstanden war. Rousseau hingegen begriff die
55. Hume, David, Essential Works, Cohen, Ralph (ed.), New York 1965, S. 467. 56. Ferguson, Adam, An Essay on the History of Civil Society, Forbes, Duncan (ed.), Edinburgh 1966, S. 220. 57. Vgl. Heilbron, Johan, The Rise of Scocial Theory, op. cit., S. 86 ff; Carrithers, David, »The Enlightenment Science of Society«, sowie Tenbruck, Friedrich H., »Emile Durkheim oder die Geburt aus dem Geist der Soziologie«, op. cit. 58. Vgl. Heilbron, Johan, The Rise of Scocial Theory, op. cit., S. 91 ff. 59. Rousseau, Jean Jacques, Emile, in: ders., Œuvres complètes, Gagnebin, Bernard / Raymond, Marcel (eds.), Paris 1959–95, Bd. 4, 1969, S. 524.
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Gesellschaft als einen Organismus, in dem sich die individuellen Willen zu einem quasimythischen ›volonté générale‹ organisierten. Zweifellos wurde das Denken in sozialen Beziehungen durch Rousseau entscheidend angestossen und konnte sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts trotz gegenläufiger Traditionen auch in Frankreich weit verbreiten. Nach der Publikation des Contrat social (1767) etwa gab es ein Ansteigen des Gebrauchs des Adjektivs sozial.60 Rousseau war wahrscheinlich einer der ersten, der ›Gesellschaft‹ als Schlüsselkonzept gebrauchte, um im Konzept der sozialen Beziehungen zu denken und zu argumentieren. Aber auch die weitverbreitete Encyclopédie enthielt zahlreiche Belege für den Trend des Denkens in sozialen Beziehungen.61 In dem Artikel Société62 bezog sich Diderot auf die Familie als Gesellschaft; Dörfer und Städte konstituierten in ähnlicher Weise eine Gesellschaft. Und alle Menschen des gleichen Landes oder gar der ganzen Welt verbanden sich zu einer ›allgemeinen‹ oder ›universalen‹ Gesellschaft. Jede Form des gemeinsamen Lebens, konstatierte Diderot, gründete in dem Prinzip, dass alle Menschen glücklich leben wollten. «But since each individual lives together with other individuals who wanted to be happy as well, it was necessary to pursue means that could provide common happiness, or at any rate would not be detrimental to the happiness of others […] Here the term society acquired an extremely general meaning.«63 Diese Betonung der Gesellschaft als System sozialer Beziehungen schlug sich auch in den Überlegungen der Physiokraten nieder.64 Sie konzipierten die Gesellschaft als ein System wechselseitiger Abhängigkeiten: Die Aktivitäten und Interessen der Individuen und Gruppen bzw. Klassen wurden als komplementär angesehen. Ihre ›science économique‹ »was intended to demonstrate the structure of the system of reciprocal needs and divisions of social labour, and to show how the common interest could be identified.«65 Die Aufklärer konzipierten also Gesellschaft zugleich als Teil und als Ganzes. Sie weiteten das Konzept von Gesellschaft aus, um alle soziale Einheiten des sich dynamisierenden Bereichs ›Gesellschaft‹ zu erfassen. Erst durch die Möglichkeit zu prinzipiell beliebigen und jederzeit mobilisierbaren Vergesellschaftungen auf allen Gebieten und zu allen Zwecken, war ›Gesellschaft‹ als ein dynamischer Eigenbereich entstanden, in dem jede neue Vergesellschaftung wiederum neue Vergesellschaftungen hervortrieb und initiierte. Dabei ersetzte das Konzept zunehmend theologische Begriffe, etwa den des ›corpus mysticum‹ oder auch die traditionellen Begriffe des politischen und öffentlich-rechtlichen Diskurses wie Stand, Status, Korporation.66 Die Ausdehnung des Konzepts von Gesellschaft implizierte die Integration jeder Institution,
60. Vgl. die Forschung zusammenfassend Heilbron, Johan, The Rise of Scocial Theory, op. cit., S. 60. 61. Ibid., S. 92f. 62. Ibid., S. 91. 63. Ibid. 64. Vgl. vor allem Head, Brian W., »The Origins of »La Science Sociale« in France, 1770–1800«, in: Australian Journal of French Studies 19, 1982, S. 115–132, hier: S. 117 ff. 65. Ibid., S. 117. 66. Vgl. zusammenfassend Heilbron, Johan, The Rise of Scocial Theory, op. cit., S. 87.
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jeden Arrangements von sozialen Interaktionen. Diese wurden wiederum als bloss menschliche Angelegenheiten angesehen und als fundamentaler als die politisch-legal definierten Beziehungen gedacht. Schliesslich gewann der Begriff Gesellschaft positive Konnotationen, die mit der ursprünglichen Bedeutung als einer Form von freiwilliger Assoziierung, freiwilliger Vergesellschaftung verbunden wurden, in der die Rechte des Individuums anerkannt wurden. In diesem Sinne war das Konzept der Gesellschaft ein Indikator der friedlichen sozialen Sphäre, man könnte vielleicht sogar formulieren eines moralischen Raumes, der bespielhaft für die ganze soziale Welt gelten konnte. Der Entstehung eines Konzepts einer eigenständigen Gesellschaft korrespondierte die Entgegensetzung von ›Staat‹ und ›Gesellschaft‹.67 Diese Entwicklung des Begriffs der Gesellschaft setzte die moderne Staatsbildung voraus. So konnten Raynal68 und andere etwa Gesellschaft und Staat ausdrücklich als Dichotomie begreifen. Der Begriff Staat wurde immer weniger anwendbar auf das politisch-gesellschaftliche Ganze, denn ein grosser Anteil menschlicher Handlungen entzog sich immer mehr der Autorität des Staates. Damit konnte die politischgesellschaftliche Ganzheit nicht mehr als eine juristisch definierte Einheit von Ständen und Korporationen mit einem absoluten Monarchen an der Spitze definiert werden. Sie bestand vielmehr aus unterschiedlichen Segmenten, die ein sehr komplexes Gebilde ausmachten. Die Beziehungen zwischen ihnen waren durch Ambiguität, Kooperation und Wettbewerb, Abhängigkeiten und Hierarchien, aber keineswegs durch blosse politische Unterordnung definiert. Zwar ging im schottischen Kontext auch Ferguson von einer Trennung von Staat und Gesellschaft aus und beschrieb sie »als Folge der Herausbildung grosser Territorialstaaten, der Verhöflichung und Verrechtlichung des Krieges […] und vor allem einer zunehmenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung als Lebensprinzip der [zeitgenössischen] ›polished‹ oder ›commercial societies‹.«69 Fergusons Vorstellung von ›bürgerlicher Gesellschaft‹ war grundsätzlich verschieden von der ›bürgerlichen Gesellschaft‹, die in der deutschen Rechts-, Staatsund Sozialphilosophie des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts als die vom Staat zu unterscheidende und von ihm abhängige, von ihm begrenzte und beherrschte Sphäre des ökonomischen und geselligen Verkehrs ›staatsbürgerlicher‹ Untertanen und Privateigentümer thematisiert wurde.70 Der politisch berechtigte Bürger war aus dem deutschen Diskurs über ›bürgerliche Gesellschaft‹ bereits im 18. Jahrhundert weitgehend verschwunden, längst vor dem Zeitpunkt, als dieser deutsche Diskurs bei Hegel (1770–1831) auf seinen modernen theoretischen Begriff gebracht wurde. Seine Philosophie des Rechts (1821) wollte die ›Wechselwirkung‹ zwischen der privaten Rationalität des ›Systems der Bedürfnisse‹ und der im Staat repräsentierten allgemeinen
67. Vgl. Angermann, Erich, »Das Auseinandertreten von »Staat« und Gesellschaft« im Denken des 18. Jahrhunderts«, in: Boeckenförde, Ernst-Wolfgang (ed.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976, S. 108–130. 68. Vgl. Raynal, Guilleaume-Thomas Abbé, Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes, Genf 1781, Bd. 9, S. 156. 69. Vgl. dazu weit ausgreifend die Einleitung von Zwi Batscha und Hans Medick zu Adam Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt 1986, S. 7–93, hier: S. 34. 70. Ibid.
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Vernunft bewusst machen.71 Mit der systemtheoretischen Verortung der bürgerlichen Gesellschaft zwischen Familie und Staat wurde zugleich der gesellschaftliche Stellenwert der bürgerlichen Gesellschaft formuliert. Hegels Definition der bürgerlichen Gesellschaft als Differenz zwischen Familie und Staat war der Reflex des modernen Emanzipationsprozesses. Zwar darf eine Dogmengeschichte der Gesellschaftswissenschaft Hegels rechtsphilosophische Deutung der Emanzipation als Ausgangspunkt nehmen; es wäre jedoch problematisch bereits Hegel der modernen »Gesellschaftswissenschaft« zurechnen zu wollen.72 Die politische und soziale ›Doppelrevolution‹ (E. Hobsbawm) im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert führte zur Kritik der theoretischen Voraussetzungen des aufklärerischen Konzeptes von Gesellschaft. Edmund Burke (1729–1797), Louis de Bonald (1754–1840) und Joseph de Maistre (1753–1821) waren drei der einflussreichsten Kritiker der Aufklärung, die die in ihrem Verständnis individualistische Konzeption der von den Aufklärern entwickelten Konzeption von Gesellschaft ablehnten und ihre ›negativen‹ und ›kritischen‹ Prinzipien mit dem Zusammenbruch der traditionellen Formen der Autorität und der unterstellten organischen Natur der sozialen Beziehungen identifizierten.73 Sie wiesen das aufklärerische Konzept von Gesellschaft zugunsten eines Konzepts von Gesellschaft zurück, das wieder Hierarchie, Pflichten und das den individuellen Neigungen und Interessen vorgeordnete, überhistorische Gemeinwohl betonte. Sie ersetzten damit eine angestrebte pluralistische gesellschaftliche Ordnung durch das Ideal der korporativen Ordnung: Segmentierung, Konflikt und Wettbewerb wurden durch das Ideal einer einheitlichen und gemeinsamen Kultur ersetzt, die die Interessen des Individuums und der Gemeinschaft integrierte und harmonisierte. Die antimodernistische und korporative Orientierung verwies auf zentrale Voraussetzungen gegenaufklärerischer Argumentation: die Betonung einer gruppenzentrierten, ständisch verfassten Gesellschaft. Das implizierte eine grundsätzliche Neudefinition des Individualismus. In der gruppenzentrierten, korporativen Gesellschaft lag die Betonung nicht auf der Maximierung individueller Bedürfnisse oder individueller Selbstbestimmung. Das autonom gedachte Selbst wurde vielmehr durch das Ideal des korporativen Individuums ersetzt. Das Ergebnis war das Konzept einer Gesellschaft, das die prägende Rolle der Familie, der Korporationen und einer hierarchischen Struktur von Autorität, nicht unähnlich dem ständischen System des Feudalismus, betonte.74 Allein durch diese Institutionen partizipierte das Individuum am sozialen Ganzen, das ›Ich‹ wurde in ein ›Wir‹ verwandelt. Die moderne Philosophie hatte nach de Bonald die Philosophie des modernen
71. Vgl. Pankoke, Eckart, Sociale Bewegung — Sociale Frage — Sociale Politik. Grundfragen der deutschen »Socialwissenschaft« im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1970, S. 59 ff. 72. Vgl. etwa Swingewood, Alan, A Short History of Sociological Thought, op. cit., S. 34 ff. 73. Zum Hintergrund vgl. die knappe Zusammenfassung bei Swingewood, Alan, A Short History of Social Thought, S. 32ff; aus jüngster Zeit vgl. zu den postrevolutionären gesellschaftswissenschaftlichen Entwicklungen vor allem Reedy, W. Jay, »Language, Counter-Revolution and the »Two Cultures«: Bonald’s Traditionalist Scientism«, in: Journal of the History of Ideas 44, 1983, S. 579–597; ders., »History, authority, and the ideological representation of tradition in Louis de Bonald’s science of society«, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 311, 1993, S. 143–177 sowie ders., »The historical imaginary of social science in post-Revolutionary France: Bonald, Saint-Simon, Comte«, in: History of the Human Science 7, 1994, S. 1–26. 74. Vgl. zusammenfassend Swingewood, Alan, A Short History of Sociological Thought, op. cit., S. 35f.
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Menschen, die des ›Ich‹ entwickelt, er selbst dagegen wollte eine Philosophie des sozialen Menschen, des ›Wir‹ erarbeiten.75 Als ein Organismus wurde die Gesellschaft von den Kritikern der Aufklärung mit den Kategorien ›Geist‹ oder ›Seele‹, also letztlich wesentlich religiös definiert. De Bonald und de Maistre entwickelten ein Konzept des gesellschaftlichen Ganzen, dessen unterschiedliche Teile den ›Charakter‹ und den ›Geist‹ des Ganzen manifestierten. Alle Elemente dieses organischen Ganzen waren als Ausdruck von nicht weiter zu reduzierenden Charakteristika integral verknüpft. Für de Maistre und de Bonald bestand die Gesellschaft also nicht aus Individuen: Gesellschaft war vielmehr der Ausdruck einer ganzen Kultur, eines kollektiven Konzeptes, das den soziologischen Positivismus von Auguste Comte entscheidend beeinflussen sollte. Ebenso wichtig war die Betonung der positiven Rolle der traditionellen Institutionen einschliesslich der Religion als Institution und das Problem der Autorität in der postrevolutionären Welt des frühen 19. Jahrhunderts. Burke, de Bonald und de Maistre bedauerten den Verlust der traditionellen Legitimität der alten Gesellschaft und stellten die Frage nach neuen Formen politischer Obligationen. «It was in this spirit that Saint-Simon wrote of the 18th century as critical and negative, while the 19th would be positive in laying the foundation for social reorganization. Only positivism, wrote Comte, provided the necessary basis for the new society pointing the way forward from critical condition in which most civilized nations are now living. Ideas were of paramount importance either governing the world or throwing it into chaos.«76 Die Unterscheidung zwischen ökonomischen und sozialen Beziehungen war noch nicht zentral für die sozialen Theorien des 18. Jahrhunderts. Es gab noch keine Antizipationen von Comtes und Dürkheims Insistieren auf der Priorität der sozialen über die ökonomische und politische Sphäre. Es war gerade diese noch nicht vollzogene Distinktion zwischen ›sozialer‹ und ›ökonomischer Analyse‹, der den Umfang des aufklärerischen Konzepts der ›Gesellschaftswissenschaften‹, der ›sciences sociales‹, der ›social sciences‹ im ausgehenden 18. Jahrhundert im Unterschied zur ›Soziologie‹ des frühen 19. Jahrhunderts ausmachte.77
IV Für die an der Gesellschaft und ihren Entwicklungen interessierten Aufklärer musste die abstrakte Tradition des Gesellschaftsvertrages78 an Bedeutung verlieren. Seine Protagonisten, die hypothetische menschliche Wesen mit überhistorischen Charakterzügen unterstellten,
75. Zitiert nach Swingewood, Alan, A Short History of Sociological Thought, op. cit., S. 34. 76. Ibid. 77. Vgl. Dierse, Ulrich, »Die Anfänge der »science sociale« bei den französischen Ideologen und in ihrem Umkreis«, in: Gersmann, Gudrun / Kohle, Hubert (eds.), Frankreich um 1800. Gesellschaft, Kultur, Mentalitäten, Stuttgart 1990, S. 104–121, hier: S. 121. 78. Vgl. zusammenfassend Carrithers, David, »The Enlightenment Science of Society«, op. cit., S. 247–249: »The attack on contract«.
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praktizierten deduktive Philosophie, keine empirisch orientierte Gesellschaftswissenschaft. Von der kontraktuellen Prämisse des vorsozialen, natürlichen Menschen, von dem bloss konstruierten Naturzustand der Menschen deduzierten sie die Typologien der Organisationsformen von Herrschaft und Regierung. Die Zurückweisung des Gesellschaftsvertrags war eine der Bedingungen der Möglichkeit soziologischer Betrachtungen der Entwicklungen von Gesellschaften von einem ursprünglichen, unzivilisierten Zustand zu einem fortgeschrittenen der zeitgenössischen im Verständnis der schottischen Moralphilosophie ›commercial societies‹.79 Die Kritik der Konzeption des Gesellschaftsvertrags als des Ursprungs von Staat und Gesellschaft setzte frühzeitig ein. Dafür können P. Bayle und Shaftesbury stehen.80 Mit dem Fortschreiten des Jahrhunderts wuchs die Zahl der Kritiker, auch wenn schottische Theoretiker wie Gershom Carmichael und Francis Hutcheson oder auch deutsche Aufklärer durchaus an der Theorie des Gesellschaftsvertrags festhielten. Montesquieu lehnte das Konzept des Vertrags wirkungsmächtig in einem seiner Lettres persanes (1721) ab.81 Hume nannte in der Auseinandersetzung mit dem Aufschwung dieses politischen Konzepts den Naturzustand »a philosophical fiction«.82 Er hielt den Gesellschaftsvertrag einzig und allein für nützlich, um Gerechtigkeit als menschliche Konvention zu beschreiben.83 Eroberung und Usurpation, nicht Konsens, waren hingegen in seinen Augen die Ursprünge »of almost all the new governments which were established in the world«.84 Im Gegensatz zur Tradition des Gesellschaftsvertrags, die eine Antinomie zwischen den natürlichen Menschen und der künstlichen Gesellschaft unterstellte, suchten die soziologisch interessierten Aufklärer die soziale Natur des menschlichen Individuums festzuschreiben. So hielt etwa Voltaire (1694–1778) gegen Rousseaus kontraktuelle Argumentation in seinen frühen Diskursen ausdrücklich fest: »Je ne crois pas que cette vie solitaire, attribuée à nos pères, soit dans la nature humaine.«85 Dagegen insistierte er: »Le fondement de la société existant toujours, il y a donc toujours en quelque société […].«86 Und auch Ferguson und Smith folgten bewusst nicht Rousseaus Versuch, Individuen im Naturzustand zu
79. Vgl. Forbes, Duncan, »Natural Law and the Scottish Enlightenment«, in: Campbell, R. H. / Skinner, Andrew S. (eds.), The Origins and Nature of the Scottish Enlightenment, Edinburgh 1982, S. 186–204 und ibid. Haakonssen, Knud, »What Might Properly Be Called Natural Jurisprudence?«, S. 205–225; vgl auch Seidman, Steven, Liberalism and the Origins of European Social Theory, Berkeley et al. 1983, S. 25 ff. 80. Zum Kontext vgl. Moore, James, »Michael Silverthorne, Gershom Carmichael and Natural Jurisprudence«, in: Hont, Istvan / Ignatieff, Michael (eds.), Wealth and Virtue. The Shaping of Political Economy in the Scottish Enlightenment, Cambridge 1983, S. 73–87. 81. Vgl. Montesquieu, Lettres Persanes, in: ders., Œuvres complètes, Caillois, Roger (ed.), Paris 1949, Bd. 1, S. 129ff ( S. 269ff: Lettre 94); vgl. Waddicor, Mark H., »Montesquieu et le problème de l’origine des sociétés«, in: Studi francesi 1969, S. 235–246. 82. Hume, David, Treatise of Human Nature, op. cit., S. 493. 83. Nisbet, Robert, »Conservatism«, op. cit., S. 79. 84. Hume, David, »Of the Original Contract«, in: ders., Essays Moral, Political, and Literary, Oxford 1963, S. 452–473. 85. Voltaire, La philosophie de l’Histoire, in: ders., The Complete Works of Voltaire, Besterman, Theodore (ed.), Toronto / Genf 1969, Bd. 59, S. 110. 86. Ibid., S. 112.
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beschreiben. »To be in society«, statuierte Ferguson, »[is] the physical state of the species.«87 Adam Ferguson und zahlreiche andere Aufklärer, unter ihnen auch J. G. Herder, kritisierten Rousseaus Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes (1755), weil Rousseaus Argumentation in Spekulationen und nicht auf Beobachtung gründete. Theoretiker, die sich auf solche Spekulationen einliessen, waren für Ferguson verantwortlich für »many fruitless inquiries« und manche »wild suppositions«. Im Anschluss an Hume folgerte er: »No constitution is formed by consent›« und »no government is copied from a plan.« Die unterschiedlichen Regierungsformen seien vielmehr Ergebnis der Entwicklung der menschlichen Natur. »The seeds of every form of government are lodged in human nature; they spring up and ripen with the season.«88 Die herkömmliche Vertragslehre, die einen gesellschaftlichen Zusammenschluss aufgrund eines fiktiven Kontraktes zwischen Untertanen und Regierung annimmt, wurde zunehmend auch im deutschen Kontext verworfen. Friedrich Buchholz definierte in kritischer Distanz zu Rousseau die Gesellschaft nicht als Vertrag, sondern als »ein Faktum, eine Begebenheit, eine Erscheinung, die sich nicht besser bezeichnen lässt, als wenn man sie eine moralische Agglomeration nennt«.89 Buchholz fasste unter den Begriffen »Moral« bzw. »moralisch« allgemeine soziale Phänomene zusammen.90 Der sich verschärfenden Kritik am Erklärungsgehalt der Theorie des Gesellschaftsvertrages korrespondierte aber ein Konzept der von Natur aus sozialen menschlichen Natur. Die Gesellschaft wurde gleichsam, als die natürliche Umwelt des Menschen angesehen. Und das weitverbreitete komplexe, nicht auf einen Nenner zu bringende Konzept einer angeborenen Geselligkeit des Menschen begründete die unterschiedlichen Interpretationen der Natürlichkeit von Gesellschaft und Regierung. Im Anschluss an die wirkungsmächtigen Anregungen Montesquieus stellte Ferguson fest, dass »the love of company is a principle common to man with all the gregarious animals«. Menschliche Wesen formten zwangsläufig »manifold troops and companies«, die durch »a social disposition, which receives with favour and love what constitutes the good of mankind, or rejects with disapprobation […], what is of a contrary nature.«91 Das eigentümliche Synonym für dieses »fellow feeling« war für Ferguson »humanity«, das er als »a feeling of good will toward all men« beschrieb.92 Frühe schottische Theoretiker wie Hutcheson hatten von einer ,universal benevolence‹ als Schlüssel für die menschliche Geselligkeit, für menschliches Zusammenleben gesprochen.93
87. Ferguson, Adam, Principles of Moral and Political Science, zitiert nach Schneider, Louis (ed.), The Scottish Moralists on Human Nature and Society, Chicago 1967, S. 84. 88. Ferguson, Adam, An Essay on the History of Civil Society, S. 337. 89. Buchholz, Friedrich, Der neue Leviathan, Tübingen, S. 8. Zu Buchholz vgl. zuletzt Schäfer, Rütger, Friedrich Buchholz — ein vergessener Vorläufer der Soziologie. Eine historische und bibliographische Untersuchung über den ersten Vertreter des Positivismus und des Saint-Simonismus in Deutschland, 2 Bde., Göppingen 1972. 90. Ibid., Bd. 1, S. 197 ff. 91. Ferguson, Adam, An Essay on the History of Civil Society, S. 26. 92. Ibid. 93. Vgl. Hutcheson, Francis, An Inqiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue, Bd. 1, S. 198 / 199.
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Trotz seines Bruchs mit der überkommenen politischen Philosophie gelang es auch Montesquieu nicht, eine Interpretation der Umgestaltungen der Gesellschaftsformationen, eine Theorie des sozialen Wandels zu entwickeln. Seine weitgehend synchrone Typologie von Gesellschaften verschloss sich vielmehr dem Problem von Ursprung und Wandel. Die Frage des Übergangs von einer Form der Gesellschaft in die andere warf Montesquieu nie auf.94 Die schottischen Aufklärer, die sich Montesquieu thematisch wie methodisch verpflichtet wussten, waren sich hingegen des Themas des sozialen Wandels und der gesellschaftlichen Transformationsprozesse sehr bewusst. So konnte Millar (1735–1801) schreiben: «In searching for the causes of […] systems of law and government […] we must undoubtedly resort […] to the differences of situation […] the fertility or barreness of the soil, the nature of its productions, the species of labour requisite for producing subsistence, in the number of individuals collected together in one community, their proficiency in the arts […]. The variety that frequently occurs in these and such other particulars must have a prodigious influence upon the great body of the people; as, by giving a peculiar direction to their inclinations and pursuits, it must be productive of corresponding habits, dispositions and ways of thinking.«95 Deshalb suchten sie auch die Elemente in der Gesellschaft zu identifizieren, die den sozialen Wandel begründeten. Charakteristisch für die schottischen Aufklärer war, und das ist ihr wichtigster Beitrag zur entstehenden Soziologie, ihre Interpretation der Gesellschaft als eines Prozesses, als das Ergebnis besonderer ökonomischer, sozialer und historischer Kräfte, die identifiziert und analysiert werden konnten. Das aufklärerische Konzept des sozialen Wandels reflektierte das Handeln der Menschen als Ursache dieses Wandels. Es lehnte jeden Versuch ab, den sozialen Wandel auf einen Faktor zurückzuführen. Sozialer Wandel erfolgte für die Aufklärer sowohl durch ökonomische Faktoren als auch durch die gemeinsamen Anstrengungen der menschlichen Gruppen und Generationen. Sozialer Wandel wurde von den schottischen Aufklärern begriffen als ein kollektives, nicht jedoch als ein individuelles Phänomen, in dem die physische Situation, die ökonomische und politische Organisation sowie die Arbeitsteilung mitgedacht wurde. Wichtig und traditionsbildend war, dass die schottischen Aufklärer den sozialen Wandel als einen Prozess sowohl mit einer objektiven Struktur, besonders einer ›mode of production‹ und als den eines aktiven Subjekts interpretierten. Allerdings haben auch sie den Dualismus, der in dem Konzept eines aktiven Agenten und einer prägenden Struktur gründete, nicht adäquat auflösen können.96 Dabei war für sie der soziale Wandel durchaus ambivalent. Eine der unbeabsichtigten Folgen der gewerblich-industriellen Entwicklung, die Konsequenz einer ›polished society‹, war für die schottischen Aufklärer, dass das menschliche Geschlecht zunehmend Maschinen gleiche, seiner mentalen Kräfte beraubt wurde und zu blossen Arbeitsinstrumenten reduziert wurde.97
94. Vgl. Swingewood, Alan, A Short History of Sociological Thought, op. cit., S. 13 ff. 95. John Millar of Glasgow, 1735–1801. His Life and Thought and his Contributions to Sociological Analysis, Lehmann, W. C. (ed.), Cambridge 1960, zitiert nach Swingewood, Alan, A Short History of Sociological Thought, op. cit., S. 21. 96. Vgl. Swingewood, Alan, A Short History of Sociological Thought, op. cit., S. 25 ff. 97. Ibid.
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Eigentum98 war für die schottischen wie für die zeitgenössischen kontinentaleuropäischen Aufklärer ein Schlüsselfaktor für die Erklärung des sozialen Wandels. Ein solch rigoros deterministisches Konzept des sozialen Wandels umschreibt die Aktivitäten des Menschen als Verursacher dieses Wandels. Und während Millar durchaus akzidentielle Gründe und Anlässe und Individuen in sein Schema des sozialen Wandels einbauen konnte, blieb die vorherrschende Richtung deterministisch. Allerdings betonte Ferguson kontinuierlich die aktive Natur des »human agent«, die natürliche Disposition »to remove inconveniences and improve the situation«.99 Der Mensch, so schrieb Ferguson, war »not made for repose […] every amiable and respectable quality is an active power […] and all the lustre which he casts around him, to captivate or engage the attention of his fellow-creatures […] shines only while his motion continues«.100 Im Gegensatz zu einem utilitären Konzept von Menschheit als wesentlich vergnügungssüchtig stellte Ferguson fest, »the most animating occasions of human life, are calls to danger and hardship, not invitations to safety and ease.«101 Eine andere Ursache des sozialen Wandels, so stellten die schottischen Moralphilosophen heraus, war die Arbeitsteilung.102 Zwar hatten bereits Montesquieu und Hume die ökonomische Bedeutung der Arbeitsteilung erkannt, ihre Auswirkungen jedoch gering geschätzt, minimalisiert, und letztlich ihre strukturelle Bedeutung verfehlt. Ferguson hingegen stellte wirkungsmächtig heraus, dass die Arbeitsteilung eine ökonomische und eine soziale Dimension hatte, die diejenigen, die arbeiteten, von denen trennte, deren Arbeit blosse ›Ingenuität‹ erforderte.103 Arbeit wurde »under total suppression of sentiment and reason« und wenn »ignorance is the mother of industry as well as of superstition« effizienter. In einer berühmten Passage schrieb Ferguson: »Manufactures prosper most where the mind is least consulted, and where the workshop may, without any great effort of imagination be considered as an engine, the parts of which are men.«104 Spezialisierung, das erkannte Ferguson nur zu genau, führte zwangsläufig zum Verlust des Ganzen. Manufakturelle Beschäftigung verdummte den Menschen. Auch in diesem Kontext hob Ferguson die Ambivalenz des sozialen Wandels hervor.105 Der Kulturgrad einer Gesellschaft, die paradigmatisch ihrem Erscheinungsbild nach wie Buchholz einmal formulierte die »Vereinigung von mannichfaltigen Einzelkräften«106 war,
98. Vgl. aus der älteren Literatur Pascal, Roy, »Property and Society. The Scottish Contribution of the Eighteenth Century«, in: Modern Quarterly 1, 1938, S. 167–179, und jüngst Pocock, John G. A., »The Mobility of Property and the Rise of Eighteenth-Century Sociology«, in: Parel, A. /Flanagan, Th. (eds.), Theories of Property: Aristotle to the Present, Waterloo, Ontario 1979. 99. Zitiert nach Swingewood, Alan, A Short History of Sociological Thought, op. cit., S. 25. 100. Ibid. 101. Ibid. 102. Aus der umfangreichen Literatur vgl vor allem Holmes, Stephen, »Differenzierung und Arbeitsteilung im Denken des Liberalismus«, in: Luhmann, Niklas (ed.), Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee, Opladen 1985, S. 9–41. 103. Vgl. Swingewood, Alan, A Short History of Sociological Thought, op. cit., S. 23. 104. Ferguson, Adam, An Essay on the History of Civil Society, op. cit., S. 182f. 105. Ibid. 106. Buchholz, Friedrich, Hermes oder über die Natur der Gesellschaft — mit Blicken auf die Zukunft, op. cit., S. 10.
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richtete sich nach dem jeweiligen Grad der Differenzierung dieser Einzelkräfte. Ein hoher Grad von Differenzierung setzte eine gesteigerte Arbeitsteilung voraus. Die materielle Basis der sozialen Vereinigung bestand, damit knüpfte Buchholz an den zeitgenössischen Diskurs an, daher erstens in der »Fertigkeit oder Geschicklichkeit der Vergesellschafteten in Erfüllung der verschiedenen menschlichen Verrichtungen, ohne welche die Gesellschaft nicht bestehen kann«,107 woraus zweitens »die Abhängigkeit der Vergesellschafteten voneinander« resultiere.108 Interdependenz der Vergesellschafteten, Produktivität und Arbeitsteilung bedingen also das Fundament einer funktionierenden Sozialverfassung. Die aus der Arbeitsteilung für das Individuum resultierenden Probleme hat Buchholz erstaunlich ›modern‹ analysiert.109 Dennoch beurteilte Buchholz Arbeitsteilung und Spezialisierung positiv als naturgewollten Vorgang. Weder Hume noch Montesquieu hatten die soziale Stratifikation intensiv diskutiert. Montesquieu interessierte sich wesentlich für Gesellschaften als organische Ganzheiten und nicht für die möglichen Gründe von Konflikt und Differenzierung in der Gesellschaft. Die soziale Stratifikation hingegen interessierte die schottischen Moralphilosophen. Das Konzept von sozialer Klasse war implizit Element ihrer Analyse, wenngleich sie — natürlich — in ihren Reflexionen weit hinter dem Stand der Soziologie des 19. Jahrhunderts zurückbleiben mussten. Für Adam Smith etwa produzierte die Entwicklung zu der ›commercial society‹ zwangsläufig eine Gesellschaft, die sich in drei Klassen aufteilte: »landowners«, »capitalists« und »laborers«.110 Ebensowenig wie Ferguson und Millar benutzte Adam Smith jedoch explizit den Begriff der sozialen Klasse. Allerdings kann kaum bezweifelt werden, dass in seinem Werk, wie insbesondere auch in Millars Schriften, eine Theorie der sozialen Klasse als soziologischer Kategorie artikuliert wurde. Die Beziehungen zwischen Smiths sozialen ›orders‹ und den ökonomischen Entwicklungsprozessen ist eindeutig: die drei Gruppen gewannen ihre Einkünfte aus ›rent‹, aus ›stock‹ und aus ›wages‹. Eigentum begründet die Basis für soziale Differenzierungen, dieses »natural source of influence and authority« war eng verknüpft mit sozialem Wandel und durchdrang »every corner of society«.111 Konsequent argumentierte Millar, dass soziale Entwicklungen zwangsläufig soziale Ungleichheit hervorbrächten. Eine ökonomische Interpretation von Geschichte drängte sich für die schottischen Aufklärer geradezu auf: «The distribution of property among the people is the principal circumstance that contributed to reduce them under civil government, and to determine the form of their political
107. Ibid., S. 22. 108. Ibid.; vgl. Gerth, Hans, »Friedrich Buchholz. Auch ein Anfang der Soziologie«, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 110, 1954, S. 665–692, hier: S. 675. 109. Vgl. ibid., S. 17f : »Denn es gehört zu den Eigenthümlichkeiten der menschlichen Gesellschaft, dass sie das Bewusstseyn ihrer selbst in eben dem Grade verliert, in welchem die Zahl der gesellschaftlichen Verrichtungen zunimmt. Der Verstand der meisten Menschen […] wird durch die Beschäftigungen gebildet, denen sie sich widmen… Wer, sein ganzes Leben hindurch unausgesetzt einige höchst einfache Operationen wiederholt, deren Erfolg […] wenigstens sehr gleichförmig ist, der kommt, durch den Mangel an Veranlassung zum Nachdenken, sehr leicht dahin, dass er seine ursprüngliche Fähigkeit dazu gänzlich einbüsset… Solche Erscheinungen sind immer nur dadurch möglich, dass sich die gesellschaftliche Arbeit in einem hohen Grade geteilt hat, so, dass sie das gesellschaftliche Getriebe nicht übersehen können, und folglich durchaus nicht wissen, wie sie eingreifen.« 110. Vgl. zusammenfassend Swingewood, Alan, A Short History of Sociological Thought, op. cit., S. 22f 111. Ibid.
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constitution. The poor are naturally dependent on the rich, from whom they derive subsistence; and, according to accidental differences of wealth possessed by individuals, a subordination of ranks is gradually introduced and different degrees of power are assumed without opposition, by particular persons.«112 Erst allmählich kamen die sozialen neuen Konfliktzonen in den Blick der Aufklärer. Die zwischen ›grossem Reichtum‹ und ›grosser Armut‹ sich verschärfenden Gegensätze führen zur industriegesellschaftlichen Polarisierung von ›Kapital‹ und ›Arbeit‹ und zugleich zur Politisierung sozialer Spannungen. Sozialer Wandel verdankte sich im Verständnis der Aufklärer nicht zuletzt dialektisch, als er sich nicht beabsichtigten Folgen menschlicher Handlungen verdankte. Diese Auffassung war weitverbreitet. Sie lässt sich z.B. bei Mandeville, Hume, Ferguson, Smith, Millar aber auch bei Turgot oder Condillac ausmachen. Das Konzept selbst wurde wahrscheinlich zuerst von Vico entwickelt als Teil seiner übergreifenden Theorie des historischen Wandels.113 Auf die Sozialtheorie des 18. Jahrhunderts hatte es grossen Einfluss. »Every step and every movement of the multitude« schrieb Ferguson, »are made with equal blindness to the future; and nations stumble on establishments, which are indeed the result of human action, but not the execution of human design«.114 Damit gab Ferguson Vicos Einsicht eine soziologische Wendung. Umgekehrt wurden in Adam Smiths The Wealth of Nations private und egoistische Interessen durch eine »invisible hand« in ein kollektives soziales Gut verwandelt, die das »interest of society« vorantrieb, ohne es zu beabsichtigen oder gar zu wissen. Für Adam Smith korrigierte der historische Prozess die menschlichen Egoismen und Fehler. Es gab, in anderen Worten, eine historische Logik, die ihren Trägern entging. Smiths Theorie der nichtantizipierten Wirkungen menschlicher Handlungen hat implizite geschichtsphilosophische Prämissen.115 Ferguson argumentiert hingegen empirischer und weit weniger geschichtsphilosophisch.116 Beide aber stehen in den theoretischen Rahmen der ›theoretical‹ oder ›natural history‹ und ihrer Stadientheorie der geschichtlichen Verläufe.117 Nach Adam Smith gelingt es der »hidden hand« die zentrifugalen Tendenzen der ›commercial society‹ zu verknüpfen und zu harmonisieren, die komplexe Struktur des Eigentums, der
112. John Millar zitiert nach Swingewood, Alan, A Short History of Sociological Thought, op. cit., S. 23. 113. Vgl. Vico, Giambattista, La Scienza nuova seconda giusta l’edizione del 1744, con le varianti dell’edizione del 1730 e due redazioni intermedie inedite, 4. Aufl., Bari 1953, § 915; vgl. Pompa, Leon, Vico: A Study of the New Science, Cambridge 1975, S. 75ff; zum weiteren theoretischen Kontext vgl. Meek, Ronald, Social Science and the Ignoble Savage, op. cit.; Hamowy, Ronald, The Scottish Enlightenment and the Theory of Spontaneous Order, Carbondale 1987. 114. Ferguson, Adam, An Essay on the History of Civil Society, op. cit., S. 210, S. 45. 115. Vgl. Swingewood, Alan, A Short History of Sociological Thought, op. cit., S. 26. Den weiteren theoretischen Kontext interpretiert Kittsteiner, Heinz-Dieter, Naturabsicht und unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt et al. 1980. 116. Vgl. ibid. 117. Zum Kontext vgl. Meek, Ronald L., »Smith, Turgot, and the »Four Stages« Theory«, in: History of Political Economy 3, 1971, S. 9–27, sowie Hont, Istvan, »The language of sociability and commerce: Samuel Pufendorf and the theoretical foundations of the »Four- Stages Theory««, in: Pagden, Anthony (ed.), The Languages of Political Theory in Early Modern Europe, Cambridge et al. 1987, S. 253–276.
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Arbeitsteilung und der sozialen Klassen in eine Harmonie und ein Gleichgewicht von gemeinsamen Interessen zu bringen. Smiths Konzeption war wesentlich optimistisch: die Folgelasten der Arbeitsteilung können durch Erziehung und Religion und des kollektiven Zusammenarbeitens der Marktkräfte gemildert werden.118 Ferguson hingegen entwickelte keinen harmonischen Vermittlungsmechanismus zwischen den sozialen Handlungen der Individuen als Mitglieder von sozialen Gruppen und den kollektiven historischen Prozessen.119 «Such convictions of unintended consequences — whether in Vico’s Providential formulation, or in Mandeville’s transformation of private license into public gain, or in Smith’s conception of ›an invisible hand‹ — need not undermine belief in lawfulness and pattern. Such theories merely exclude the conscious design of individuals from being considered the true agents creating those patterns that exist.«120 In der Ansicht der schottischen Moralphilosophen ist das komplexe Verhältnis zwischen dem handelnden Individuum und den Strukturen, in denen es handelte, lag ihr zentraler Beitrag zur entstehenden Sozialwissenschaft. Auch wenn viele ihrer Erkenntnisse im 19. Jahrhundert verlorengehen sollten, hatten sie und zahlreiche andere Theoretiker, an deren Spitze Vico und Montesquieu, die essentiellen Probleme einer Wissenschaft der menschlichen Vergesellschaftungen, ihrer Bedingungen und ihrer Folgelasten, ihrer Strukturen und ihrer Entwicklungen aufgeworfen. Daran konnten Saint-Simon (1760–1825), Comte und die positivistische Tradition anschliessen.121
V Die gesellschaftswissenschaftlichen Ansätze der Aufklärer konstituierten in methodischer Hinsicht eine auf ›Erfahrung‹ gegründete ›Wissenschaft‹, die sich zur Aufgabe stellte, die Gesamtheit der menschlichen Beziehungen und Kulturentwicklungen empirisch-kausal zu erklären. «Nach dem Vorbild der modernen Natur-Forschung geht es nicht mehr um ein Sammeln und Sichern von Tatbeständen (Natur-«Historie« im älteren Sinne von Weltkunde), sondern um ein über Methoden und Hypothesen gesteuertes Erforschen der »Prinzipien« von Systembildung. Quelle von Wahrheit ist nun der bewusst über Experiment und Methode kontrollierte Forschungs- und Lernprozess.«122 Verallgemeinerungen über die im Aufklärungsprozess sich verstärkende Säkularisierung als entscheidender Voraussetzung der entstehenden Sozialwissenschaften sind allerdings problema-
118. Vgl. Swingewood, Alan, A Short History of Sociological Thought, op. cit., S. 26f. 119. Vgl. ibid. 120. Carrithers, David, »The Enlightenment Science of Society«, op. cit., S. 246 / 247. 121. Vgl. Swingewood, Alan, A Short History of Sociological Thought, op. cit., S. 26f. 122. Pankoke, Eckart, »Moderne Gesellschaftslehre 1700–1900«, in: ders. (ed.), Gesellschaftslehre, Frankfurt 1991, S. 815–856, hier: S. 824.
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tisch.123 Die Anfänge der Gesellschaftswissenschaften setzten keineswegs die grundsätzliche Abkehr von Gott voraus. Allerdings haben ihre Protagonisten von Anfang an die Bereiche der Vorsehung und der menschlichen Geschichte säuberlich getrennt, um das Feld für die Humanwissenschaften abzustecken. Diese Tendenzen hat beispielhaft d’Alembert in seiner Einleitung in die Encyclopédie durch seine Unterscheidung zwischen einer »science de dieu«, einer »science de l’homme« und einer »science de la nature« auf den Begriff gebracht.124 Die meisten Aufklärer folgten ihm darin. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die Bedeutung der ersten Seiten in Rousseaus Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité (1755), auf denen er sich bemühte, die biblische Erklärung der frühen Geschichte der Menschen von einer strikt sozioanthropologischen Erklärung zu unterscheiden, um reflektieren zu können, was das menschliche Geschlecht aus sich machen konnte, wenn es sich selbst überlassen blieb.125 Selbst für Vico, für den die Vorsehung eine zentrale Rolle im historischen Prozess spielte, stand eindeutig fest, dass die Menschen selbst ihre Gesellschaft konstituiert hatten.126 Manche der schottischen Moralphilosophen glaubten, in ihren Untersuchungen und Überlegungen über den Menschen und seine Gesellschft gleichsam Gottes Arbeit zu tun.127 Und selbst konservative und religiöse Autoren wie Louis de Bonald oder J. M. de Maistre im frühen 19. Jahrhundert anerkannten keinen Gegensatz zwischen ihrem Glauben und ihrer sozialwissenschaftlichen Arbeit.128 Die frühen sozialwissenschaftlichen Ansätze bemühten sich angestrengt, Spekulationen und Konjekturen zu vermeiden und sich auf empirische Beobachtungen zu gründen. Zumindest in ihrer Rhetorik gründeten die Methoden der frühen Sozialwissenschaftler überwiegend in empirischen Beobachtungen und — wie sie formulierten — im Experiment und keineswegs im deduzierenden Rationalisieren von inhaltlichen Prämissen. Zweifellos war die Distanzierung vom deduktiven Ansatz der cartesianischen Philosophie für die empirischen Untersuchungen menschlicher Gesellschaften ein wirkungsmächtiger Beitrag von Vicos Scienza Nuova (1725– 1744).129 Ähnlich spielte die Kritik des erkenntnistheoretischen Rationalismus eine zentrale Rolle in David Humes Arbeiten über das menschliche Verstehen. »Observation and experience«, notierte er einmal, »form the basis for moral, political, and physical subjects.«130 Und nachdrücklich insistierte er darauf, dass auch die erarbeiteten allgemeinen Prinzipien empirisch fundiert sein müssen. »And though we must endeavour to render all our principles as universal
123. Vgl. Carrithers, David, »The Enlightenment Science of Society«, op. cit., S. 237ff, und die dort angegebene Literatur. 124. Vgl. Jean d’Alembert, »Discours préliminaire des éditeurs«, in: Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, Bd. 1, Paris 1751, S. I — LIJ, S. LIJ. 125. Vgl. Rousseau, Jean Jacques, The First and Second Discourses, Masters, Roger D. (ed.), New York 1964, S. 103. 126. Vgl. Vico, Giambattista, The New Science, Bergin, Thomas / Fisch, Max H. (eds.), Ithaca, N.Y. 1948, S. 52ff; zu dieser Dimension von Vico vgl. Lilla, Mark, G.B. Vico: The Making of an Anti-Modern, Cambridge 1993. 127. Vgl. Stein, Peter, Legal Evolution: The Story of an Idea, Cambridge 1980, S. 9. 128. Vgl. etwa Reedy, W. Jay, »History, Authority, and the Ideological Representation of Tradition in Louis de Bonald’s Science of Society«, op. cit. 129. Vgl. Pompa, Leon, Vico: A Study of the New Science, op. cit., S. 75 ff. 130. Hume, David, Treatise of Human Nature, in: ders., Philosophical Works, Bd. 4, Boston 1854, S. 235.
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as possible, […] it is still certain we cannot go beyond experience […].«131 Es war Descartes Vertrauen auf »supposition upon supposition, without any evidence of reality«, das nach Adam Ferguson, »had produced those whirling vortices of matter eliminating by the superior observation of Newton«.132 Dabei war der vielleicht entscheidende theoretische Ansatz der Aufklärung, auch zahlreicher ihrer sozio-politischen Arbeiten, die Behauptung der Gleichartigkeit von naturwissenschaftlicher und gesellschaftswissenschaftlicher Beobachtung. Nur wenige Ausnahmen wie Vico oder Adam Smith räumten ausdrücklich die Notwendigkeit eines hermeneutischen Ansatzes zur Erforschung der Gesellschaft ein. Um die Motivationen und Handlungen vergangener Akteure zu verstehen, wollten sie sich auf die Fähigkeiten sed Sozialwissenschaftlers verlassen, hatten sie doch die gleiche menschliche Natur wie die untersuchten historischen Subjekte.133 Es war gleichwohl weitaus verbreiteter anzunehmen, dass die Untersuchungen von Menschen sich nur wenig von dem der Natur unterschieden. Paradigmatisch für die epistemologische Bedeutung von Beobachtung in den aufklärerischen Sozialwissenschaften war der Artikel Observation in der Encyclopédie,134 der auch nicht zwischen den später sogenannten Natur- und den sogenannten Humanwissenschaften unterschied. Die erarbeiteten Fakten wurden als zentral behauptet. »L’historien les recueille, le physicien rationel les combine, & l’expérimental vérifie le résultat de ces combinaisons […].« Die Fakten, die keineswegs für sich selbst sprachen, erforderten einen aufmerksamen Beobachter, um die auf den ersten Blick nicht erkennbaren Beziehungen zwischen ihnen herzustellen. Als ein methodisches Vorbild für die Beobachtung in den Humanwissenschaften wurde wie selbstverständlich Montesquieu angeführt. Dessen Geschichte Roms und vor allem dessen De l’esprit des Lois »ne sont presque qu’un immense recueil d’observations fait avec beaucoup de génie, de choix, & de sagacité, qui fournirent à l’illustre auteur des réflexions d’autant plus justes, qu’elles sont plus naturelles.« Beobachtung wurde als zentral für die Fortschritte der Humanwissenschaften anerkannt, da »l’homme enfin de quelque côté qu’en l’envisage est le moins propre à être sujet d’expérience.« Ein kritisches Vertrauen auf die erhobenen Fakten prägte die sozialtheoretischen Reflektionen der Aufklärer. Diese Rehabilitierung der Beobachtung, hinter der eine regelrechte Epistemologie des Sehens stand,135 reflektierte eine Konzeption menschlichen Wissens, die aufs engste mit dem individuellen empirischen Faktum verbunden war. Das entsprach durchaus zeitgenössischen epistemologischen Tendenzen, entwickelten doch einige Aufklärer, etwa Vico und Leibniz, die theoretischen Voraussetzungen einer Wissenschaft des Partikularen gegen Abstraktionen und
131. Hume, David, Inquiry concerning Human Understanding, Hendel, Charles W. (ed.), Indianapolis 1955, S. 57f. 132. Ferguson, Adam, Principles of Moral and Political Science, op. cit., Bd. 1, S. 118. 133. Vgl. Carrithers, David, »The Enlightenment Science of Society«, op. cit., S. 239. 134. Anonymous, Artikel »observation«, in: Encyclopédie, Bd. 11, Paris 1755, S. 314, 315, 313. 135. Das hat Moravia, Sergio, Filosofia e Scienze umane nell’età dei Lumi, op. cit., eindringlich hervorgehoben; zum theoretischen Hintergrund vgl. auch Poser, Hans, »Die Kunst der Beobachtung. Zur Preisfrage der Holländischen Akademie von 1768«, in: ders., Erfahrung und Beobachtung. Erkenntnistheoretische und wissenschaftshistorische Untersuchungen zur Erkenntnisbegründung, Berlin 1992, S. 99–119.
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Generalisierungen.136 Gleichzeitig waren die Aufklärer jedoch auch in der Lage, das Moment des Partikularen und der konkreten Beobachtung mit der Konstruktion von — modern gesprochen — ›Idealtypen‹ zu verknüpfen. »Loin de moi«, so schrieb etwa Dégérando, »la pensée de vouloir discrediter l’observation. Je serois condamné par la saine philosophie, je serois en contradiction avec moi-même. Je veux dire seulement que la science consiste moins dans le nombre des observations, que dans leur choix, dans l’ordre qu’on a su mettre entre elles […].«137 In diesem Kontext tauchte im entstehenden sozialwissenschaftlichen Diskurs des 18. Jahrhunderts häufig auch der Terminus ›Experiment‹ auf. Natürlich wussten die Aufklärer, insbesondere Hume genau, dass von ›Experiment‹ in den Sozialwissenschaften nur im übertragenen Sinne gesprochen werden konnte. Gleichwohl konnte das Konzept benutzt werden, um die erkenntnistheoretische Bedeutung der induktiven Methode herauszustellen. In Humes «view, the science of man proceeds from observation of particular effects, observed in different situations to experimentation, which establishes general principles or laws of cause — effect relation. Hume made it clear, that these general principles must be empirically grounded«.138
Für ihn stand fest, dass »though we must endeavor to render all our principles as universal as possible […], it is still certain we cannot go beyond experience […].«139 Deshalb schlug er vor, dass »wars, intrigues, factions, and revolutions [are] so many collections of experiments by which the politician or moral philosopher fixes the principle of his science, in the same manner as the physician or natural philosopher becomes acquainted with the nature of plants, minerals and other objects«, seien.140 Hume unterstellte, dass die Beobachtung typischer Handlungen von Menschen, wenn sie in den unterschiedlichen »situations and circumstances« gestellt würden, es erlaubte, in einer ähnlichen Situation wie ein Experiment in einem Laboratorium, »the constant and universal principles of human nature« zu konzipieren als »the regular springs of human action and behaviour«.141 Diese Ansicht über die Zweckmässigkeit von ›Experimenten‹ in der Analyse und Beschreibung der menschlichen Natur und der menschlichen Gesellschaft, die Hume vorbereitet hatte, wurde etwa von Ferguson weiterentwickelt, der in seinen Principles of Moral and Political science (1792) vorschlug, dass die Umstände, in den Menschen handelten, ausreichend variierten, um Auswirkungen auf das menschliche Geschlecht zu haben, auf »external accommodations, diversity of manners, and forms of policy«.142 Es gehört in diesen Zusammenhang, dass er seine Leser und Studenten anhielt, sorgfältig empirische
136. Vgl. Seifert, Arno, Cognitio Historica. Die Geschichte als Namensgeberin der frühneuzeitlichen Empirie, Berlin 1976. 137. Dégérando, J.-M., De la génération des connaissance humaines, Berlin 1802, S. 218f. 138. Vgl. Hume, David, On Human Nature and the Understanding, Flew, Anthony (ed.), New York 1962, S. 174. 139. Hume, David, Enqiries concerning Human Understanding and concerning the Principles of Morals, Selby-Bigge, L. A. (ed.), Oxford ³1975, S. 83/ 84. 140. Ibid. 141. Ibid. 142. Ferguson, Adam, Principles of Moral and Political Science, op. cit., Bd. 1, S. 97.
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Daten zu sammeln und nicht Konjekturen anzubieten. Gerade ihre induktive, empirische Perspektive trennte die schottischen Aufklärer in ihren sozialwissenschaftlichen Theorien sowohl von Montesquieu, aber auch von Vico und von Mandeville einerseits, als auch von ihren Zeitgenossen wie Herder und Condorcet andererseits. In diesem Zusammenhang muss das intensive Bemühen der Aufklärer um die vergleichende Methode erwähnt werden.143 Eine grosse Anzahl der Aufklärer beobachteten, analysierten, vor allem jedoch verglichen sie. »Pour peu qu’on ait réfléchi sur l’origine de nos connoissances«, schrieb Buffon (1707–1788) einmal, »il est aisé de s’aperçevoir que nous ne pouvons en acquérir que par la voie de la comparaison; ce qui est absolument incomparable, est entièrement incompréhensible […].«144 Dabei beschränkte sich die komparative Methode keineswegs auf die kulturübergreifenden Vergleiche unterschiedlicher Völker. Die Aufklärer benutzten diese Methode auch um Regierungsformen zu vergleichen. Der herausragende Protagonist dieses Ansatzes war natürlich Montesquieu, der Idealtypen herausarbeitete, um die Charakteristika republikanischer, aristokratischer und monarchischer Regierungsformen zu analysieren.145 Montesquieu war sich dabei durchaus bewusst, dass jede der Regierungsformen in ihren eigenen Strukturen zu untersuchen war. Gleichwohl hob er traditionsbildend die Bedeutung der typologischen Klassifikation für vergleichende Untersuchungen heraus. Das Vergleichen war zweifellos eine der zentralen kognitiven Aktivitäten in den entstehenden Sozialwissenschaften. Es stand gleichsam zwischen der Beobachtung und der abstrakten Formalisierung. Die Aufklärer wussten nur zu genau, dass sie sich nicht mit der blossen Beobachtung individueller Daten zufrieden geben konnten, sondern dass sie zwischen den erhobenen Fakten Beziehungen herstellen mussten, um die Bedeutung der Fakten zu verstehen, um schliesslich gewisse Strukturen oder Konstanten herausarbeiten zu können. Der Vergleich war diesem Zusammenhang eine wichtige theoretische Handlung innerhalb der entstehenden Gesellschaftswissenschaften. Es ist sehr bedeutsam, dass er insbesondere im Zeitalter der Aufklärung ausgearbeitet wurde. Hinter der eindringlichen Betonung von Beobachtung, Experiment und Vergleich stand bei den Aufklärern die Überzeugung, dass soziale Phänomene erkennbare Muster und Kausalitäten spiegelten. Die entstehende Sozialwissenschaft gründete in der Voraussetzung, dass es in der sozialen Wirklichkeit eine Gleichförmigkeit gab. Dieses Problem der Gleichförmigkeit hat die frühen Sozialwissenschaftler stark beschäftigt. Sie hielten daran fest, die für sie bedeutsamen Gleichförmigkeiten in der sozialen Welt nur empirisch finden zu können. Auch in dieser Hinsicht prägte Montesquieu die theoretischen Entwicklungen der frühen Sozialwissenschaft entscheidend, hatte er doch nachdrücklich seine Überzeugung einer rationalen Erklärung der sozialen Phänomene herausgearbeitet.146 Es lässt sich kaum eine bedeutendere Perspektive für
143. Vgl. zur kognitiven Bedeutung der Kategorie des Vergleichs im Diskurs der Aufkärung vor allem Moravia, Sergio, La scienza dell’uomo nel settecento, Bari 1978, passim. 144. Buffon, G.-L. L. de, Histoire naturelle de l’homme, in: ders., Œuvres philosophiques, Piveteau, J. (ed.), Paris 1954, S. 293. 145. Vgl. Montesquieu, De L’esprit des lois, op. cit., Bücher 2–8. 146. Vgl. Aron, Raymond, German Sociology, Glencoe, Ill. 1964, S. 109 ff.
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die Entwicklung der Sozialwissenschaften denken. Vor Montesquieu hatte bereits Vico wirkungsmächtig unterstellt, dass die beobachteten sozialen Fakten kausale Beziehungen repräsentierten. Auch wenn diese Beziehungen nicht unmittelbar einleuchteten, konnten, so insistierte Montesquieu, sorgfältige Beobachtungen die zugrundeliegenden Beziehungen demonstrieren. «Lorsqu’une loi paroît bizarre, et qu’on ne voit pas que le Législateur ait eu intérêt à la faire telle (ce qu’on peut présumer lorsque cette loi n’est fiscale ni tyrannique), on doit croire qu’elle est plus raisonnable qu’elle ne paroît, et qu’elle est fondée sur une raison suffisante.«147 Es sei nicht Zufall, was die Welt regiere, brachte er diese breit geteilte Überzeugung auf den Begriff.148 Bekanntlich hat er zwei unterschiedliche Ursachen unterstellt, die das menschliche Handeln beeinflussten, die »causes physiques« und die »causes morales«.149 Auch wenn er die »causes morales« für weitaus einflussreicher ansah als die »causes physiques«, ging er letztlich bei seinen Überlegungen von einer Kombination beider als des Ursachengeflechts menschlicher Handlungen aus. Diese Sichtweise wurde nicht von allen Aufklärern geteilt. Einige seiner Nachfolger gingen durchaus von unterstellten überhistorischen menschlichen Wesenszügen aus, um die Gesellschaft und ihre Entwicklungen zu analysieren. Für manche aufklärerischen Theoretiker wurde die Suche nach einer Ordnung in der sozialen Welt fast zu einer Obsession. Dafür können die theoretischen Anstrengungen der Physiokraten stehen.150 Gleichwohl durchzog die Forderung nach der Beobachtung von Gesetzmässigkeiten in der sozialen Welt, die sich analog zu den physikalischen Vorgängen vollziehen sollten, wesentliche Teile des sozialwissenschaftlichen Diskurses. Ein Ausdruck dieser Bestrebungen waren sicherlich auch die zeitgenössischen Bemühungen um eine stadiale Entwicklungsgeschichte der Gesellschaften.151 Die Diskussion einer erfahrungswissenschaftlichen Gesellschaftstheorie wurde in Deutschland, vorbereitet in der moralwissenschaftlichen Populärphilosophie, wesentlich durch Kants Abhandlung Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1723) angestossen.152 Hintergrund dieser Diskussion war eindeutig die durch die Französische Revolution hervorgerufene neue Erfahrbarkeit der Wechselwirkung von Theorie und Praxis. Die in diesem Kontext erhobene Forderung der Ergänzung einer ›Theorie aus Prinzipien‹ durch eine neuartige ›Theorie aus Erfahrung‹ schloss das ›Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse‹ ausdrücklich ein, so fasste Friedrich Gentz (1764–1832) als einer seiner wichtigsten Vertreter zusammen,
147. Montesquieu, »Pensée 410«, in: ders., Œuvres complètes, Caillois, Roger (ed.), Bd. 2, Paris 1951, S. 1111. 148. Montesquieu, Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence, in: ders., Œuvres complètes, op. cit., Bd. 2, S. 69–224. 149. Vgl. Montesquieu, Essai sur les causes qui peuvent affecter les Esprits et les Caractères, in: ders., Œuvres complètes, op. cit., Bd. 2, Paris 1951, S. 39–68. 150. Vgl. Carrithers, David, »The Enlightenment Science of Society«, op. cit., S. 245f. 151. Vgl. Meek, Ronald L., »Smith, Turgot, and the »Four Stages« Theory«, op. cit. 152. Vgl. Kant, Immanuel, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: ders., Akademie Ausgabe, Bd. 8, Berlin 1968.
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«kann den Stoff zu den praktischen Veranstaltungen, ohne welche das vollkommenste System der Rechte ewig nur ein reizendes Schattenbild bleibt … Nur Kenntnis des Menschen, der einzelnen und grosser Massen, Kenntnis menschlicher Fähigkeiten, Neigungen und Schwachheiten und Leidenschaften, anhaltende Beobachtung, Vergleichung mannigfaltiger Lagen, Umstände, Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse und vielleicht erst eine lange Reihe kostbarer Versuche kann sie beantworten.«153 Gleichzeitig erschien diese ›Theorie aus Erfahrung‹, die sich auf Beobachtungen gründen sollte, nicht nur als Korrektur der naturrechtlichen ›Theorie aus Prinzipien‹, sondern auch als Voraussetzung einer Kontrolle einer sonst »blinden Praxis […] welche blossen Naturtrieben und Gewohnheitsregeln folgt.«154
VI Die Entstehung der Soziologie war nicht allein das Ergebnis eines theoretischen Fortschritts in der Interpretation zeitloser Erscheinungen. Das traf eher auf die Entfaltung der Naturwissenschaften zu. Die neuartige soziologische Perspektive, die die Gesellschaft zu ihrem Forschungsgegenstand machte, war Resultat der Entstehung einer prinzipiell unberechenbaren Gesellschaft. In den frühen gesellschaftswissenschaftlichen Entwürfen manifestieren sich mehrere sich wechselseitig bedingende und nur analytisch zu trennende Einsichten. In ihnen schlug sich zum einen das wachsende Bewusstsein von der Geschichtlichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse nieder. «Gesellschaftliche Ordnungen [waren] nicht mehr geschichtlich vorgegeben und [konnten] sich nicht mehr an traditionellen Mustern orientieren. Sie [waren] vielmehr zum Problem geworden und [mussten] deshalb neu gedacht werden. Ihre Verwirklichung [war] die Aufgabe für die Zukunft.«155 Diesem Bewusstsein von der Künstlichkeit und Gestaltbarkeit der menschlichen Lebenswelt korrespondierte die Entstehung des Bewusstseins der Verantwortlichkeit für die Einrichtungen der Gesellschaft. Anders formuliert: Der Mensch war für die Erhaltung der Gesellschaft zum Zwecke der inneren und äusseren Sicherheit und des Friedens selbst verantwortlich geworden. Damit war aber auch andererseits der Grund für krisenhafte Zusammenbrüche der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnungen innerweltlich bei den Menschen zu suchen. Und unter dem Eindruck der Auswirkungen der politisch-sozialen Revolution in Frankreich und der industriellen Revolution in England gewannen deshalb gesellschaftswissenschaftliche Fragen entscheidend an Gewicht. «Die Konsequenz dieser Überantwortung gesellschaftlicher Verhältnisse an die menschliche Vernunft war die Forderung nach wissenschaftlicher Durchdringung und wissenschaftlicher
153. Gentz, Friedrich, Nachtrag zu dem Räsonnement des Herrn Professor Kant über das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis (1793), zitiert nach: Kant, Gentz, Rehberg. Über Theorie und Praxis, Henrich, Dieter (ed.), Frankfurt 1967, S. 102f. 154. Rehberg, August Wilhelm, Über das Verhältnis der Theorie zur Praxis (1794), zitiert nach: Kant, Gentz, Rehberg. Über Theorie und Praxis, op. cit., S. 127. 155. Dierse, Ulrich, Die Anfänge der ›Science sociale‹ bei den französischen Ideologen und in ihrem Umkreis, op. cit., S. 121.
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Kontrolle der staatlichen Konstruktion gesellschaftlicher Verhältnisse.«156 In dem neuartigen sozialwissenschaftlichen Diskurs ging es also nicht mehr um die vernünftigen Nachvollzüge des vorgegebenen ›Bauplans‹ gesellschaftlicher Ordnungen, sondern um die Reflektion der Ansprüche des Subjekts auf den schöpferischen Entwurf und die Planung seiner eigenen Welt, auf die selbstbewusste Konstruktion und Organisation auch der menschlichen Lebenswelten. Der damit artikulierte Anspruch, die Gesellschaft verstehen und erklären zu wollen, um sie veränderbar und verfügbar zu machen, schlug sich europaweit in der Verknüpfung der Begriffe ›Gesellschaft‹ und ›Wissenschaft‹ nieder. Hinter der neuen Begrifflichkeit der Science sociale, der Social science, der Gesellschaftswissenschaft — und später auch der Sozialwissenschaft — stand die Erwartung, dass durch die Wissenschaft nun auch gesellschaftliche Verhältnisse für planmässige Gestaltung und Steuerung berechenbar und kontrollierbar würden. Der programmatische Bezug von Wissenschaft auf Gesellschaft sollte im Sinne der Entwicklung und Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse praktisch wirksam werden. Gleichwohl sollten diese Anfänge der Verwissenschaftlichung nicht überinterpretiert werden. Der Begriff Wissenschaft und seine europäischen Äquivalente hatte im 18. Jahrhundert noch keineswegs die positivistische und empirische Bedeutung, die er dann im 19. Jahrhundert gewinnen sollte. Noch wurde der Begriff häufig in einem sehr allgemeinen Sinne benutzt, um Untersuchungen eines bestimmten Gegenstandes zu beschreiben, ohne dass damit bereits eine moderne empirische Untersuchung impliziert war. Zum anderen war in den Fällen, in denen der Versuch gemacht wurde, empirische Methoden anzuwenden und allgemeine Gesetze zur Erklärung menschlicher Handlungen zu entwickeln, die empirische Orientierung erkenntnistheoretisch noch immer begrenzt. Zugespitzt formuliert: Die Gesellschaftswissenschaften des 18. Jahrhunderts gehen nicht unmittelbar in die moderne positivistisch-pragmatische Gesellschaftswissenschaft des beginnenden 19. Jahrhunderts über. Gleichwohl beanspruchten auch diese frühen gesellschaftswissenschaftlichen Entwürfe nach der Ablösung der traditionellen moralisch-theologischen Soziallehren die Erklärung der Gesetzmässigkeiten und Regelmässigkeiten von Gesellschaft im Modus wissenschaftlich kontrollierter Beobachtung und den Anspruch auf wissenschaftliche Kontrolle und Beherrschung der menschlichen Lebenswelt. Bereits im Kombinationsbegriff Gesellschaftswissenschaften und seiner europäischen Äquivalente beschränkten sich der Anspruch der »scientifischen« Wissenschaftlichkeit mit dem praktischen Interesse an soziotechnischer Umsetzung und gesellschaftspolitischer Wirkung. Durch die Auswirkungen der Französischen Revolution und der industriellen Revolution verschärften sich die Probleme der wissenschaftlichen Kontrolle gesellschaftlicher Entwicklung. Das führte im revolutionären Frankreich folgerichtig zu einer ersten Institutionalisierung gesellschaftswissenschaftlicher Forschung und Lehre, die M.-J.-A. de Condorcet bereits 1792 eingefordert hatte.157 Innerhalb des französischen »nationalen Instituts« arbeitete zwischen
156. Pankoke, Eckart, »Soziologie, Gesellschaftswissenschaften«, op. cit., S. 1004. 157. Vgl. Pankoke, Eckart, »Wissenschaft, Gesellschaftswissenschaft«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Stuttgart 1995, Bd. 9, Sp. 1249–1257, hier: Sp. 1251.
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1795 und 1803 die Klasse der Moral- und Politikwissenschaften.158 Vor dem Hintergrund der ausser Kontrolle geratenen Gesellschaften Europas wurde die Gesellschaftswissenschaft überwiegend als ein Werkzeug einer gezielten Veränderung der Gesellschaft gedeutet. In diesem Führungsanpruch wissenschaftlicher Rationalität sah die überwiegende Mehrheit der Zeitgenossen die geschichtliche Überwindung der Revolution durch Steuerung, Kontrolle und Planung der Gesellschaft. Auf diese Verbindung von Analyse und Kontrolle setzte auch A. Comte (1798–1857), der Schöpfer des Begriffs ›Soziologie‹. Mit dieser neuen Begriffsbildung begründete er zugleich auch einen neuen Anspruch auf disziplinäre Autonomie.159 «Von Beginn an erscheint die Soziologie als eine besondere Wissenschaft, die mit der Erforschung sozialer Gruppen, kollektiver Institutionen und Organisationen befasst war, und die den Ursachen und Konsequenzen des Wandels in diesem Bereich der geschichtlich gesellschaftlichen Welt nachging. Analysen der sozialen Strukturen und Interaktionen innerhalb von Gesellschaften wurden dabei für ebenso wichtig erachtet wie der Vergleich zwischen den Gesellschaften.«160
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158. Vgl. Staum, Martin S. , »The Class of Moral and Political Sciences, 1795–1803«, in: French Historical Studies 3, 1980, S. 371–397. 159. Vgl. Pankoke, Eckart, »Soziologie, Gesellschaftswissenschaften«, op. cit., S. 1004 ff. 160. Acham, Karl, »Soziologie«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, op. cit., Bd. 9, Sp. 1270–1282, hier: Sp. 1270.
Entstehung der Soziologie
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In Les Amours de Faublas, einem zwischen 1787 und 1790 in Paris publizierten Roman von Louvet de Couvray, erscheint die Medizin gelegentlich als komisches Thema, und ihre Karikierung ist von den Ausfällen der klassischen Komödie gegen die Ärzte nicht weit entfernt: Der (Roman-)Held fällt in die Hände einer Sekte von Magnetiseuren; später verkleidet er sich als Arzt, um in der schwarzen Robe zu fliehen, während einer seiner Freunde — als Doktor verkleidet — einem impotenten Ehemann einen possenhaften Krankenbesuch abstattet. Weit entfernt von aller Komik endet der Roman indes für den Helden mit einem Anfall von Wahnsinn; doch auf wunderbare Weise wird er dank der Liebe einer Frau und dank des Geschicks eines englischen Arztes — sehr wahrscheinlich Francis Willis (1717–1807) — gerettet. Derselbe Text führt die Medizin nicht nur als Farce, der man keinen Glauben schenken dürfe, sondern auch als segensreiche Praxis vor, die die Kirche in ihrer traditionellen Rolle — der Anleitung zu guten Sitten — ersetzt. Dies ist charakteristisch für den Wandel einer Disziplin, die von einer untergeordneten zu einer zentralen Rolle in der Gesellschaft aufsteigt und gleichzeitig von der Beschäftigung mit körperlichen Krankheiten zu einer psychosomatischen Therapie gelangt. Genügt die Natur sich selbst als ein dem kirchlichen Einfluss entzogenes Gebiet (ohne dass es nötig wäre, sich an die ständig als Scharlatane verdächtigten Mediziner zu wenden) — oder machen die Widersprüche zwischen Natur und Gesellschaft vielmehr aus dem Menschen ein denaturiertes Tier, das auf die Hilfe des Therapeuten angewiesen ist? Man kann die Phänomene, die an der Wende des Jahrhunderts der Aufklärung im Gebiet der Medizin heraufkamen, um drei Achsen gruppieren: 1. 2. 3.
Rückgang verallgemeinernder Theorien gegenüber Beobachtung und Analyse Bestätigung der Medizin als sozialer Praxis und politische Forderung nach einem Recht auf Gesundheit Frage nach den Kategorien, die die Grundlage der medizinischen Diskurse bildeten: die Probleme von Leben und Tod, Körper und Seele, Vernunft und Wahnsinn.
Lange Zeit waren die medizinischen Theorien nichts anderes als eine mehr oder weniger direkte Anwendung philosophischer Lehren auf die Funktionen des Körpers; Emile Guyénot bezeichnet dies als »la physiologie spéculative«.1 Bis zum 18. Jahrhundert standen sich ›a priori‹ zwei Doktrinen gegenüber: die ›Iatrochemie‹, die das Leben vermittels chemischer Phänomene erklärte, und der ›Iatromechanismus‹, der die Erklärung durch mechanische Phänomene vorzog. Für den weit zurückliegenden Ursprung der Iatrochemie beschwört man oft die Namen Paracelsus und Van Helmont; ihr eigentlicher Begründer war jedoch François de Le Boe, genannt Sylvius (1614–1678), der das Leben analog dem Modell des Feuers mit der
1. Guyénot, Emile, Les Sciences de la vie aux XVIIe et XVIIIe siècles. L’Idée d’évolution, Paris 1957, S. 148.
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Verbrennung und analog der Wasserbewegung mit einem Gärungsprozess verglich. Der Tod entspricht dann dem Stillstehen dieses Prozesses aufgrund eines Mangels an Nahrung oder an Luft. Die Ideen Le Boes, Professor an der Universität Leyden, waren damals in ganz Europa verbreitet. — Der ›Iatromechanismus‹ seinerseits hat seinen Ursprung bei Descartes (1596–1650), der die Lebensphänomene vollständig auf die Begriffe von Bewegung und Wärme zurückführte: So soll beispielsweise die Umwandlung des Blutes in Galle, Urin oder Milch ganz einfach durch Teilung, Auswahl und Verbrennung geschehen. Der menschliche Körper kann dann mit einer Reihe bekannter Maschinen verglichen werden. Die wichtigsten Vertreter des ›Iatromechanismus‹ waren der Italiener Michelotti sowie der Schotte Pitcairn (1652–1713) und ein weiterer Leydener Universitätsprofessor, Boerhaave (1668–1738). — Die Lehre des Iatromechanismus blieb bis zum Ende des 18. Jahrhunderts lebendig. Der Franzose Vicq-d’Azyr schreibt in seinem Discours anatomique: »Des expériences exactes prouvent que le sang contient les différentes humeurs qui sont filtrées dans les glandes. Un chirurgien moderne y a trouvé la bile toute formée. On ne peut douter que l’urine n’en fasse aussi partie. On peut dire la même chose du lait.« Gegen solche Vereinfachungen wandten sich der Animismus Stahls von der Universität Halle (1660–1734) und der Vitalismus der Ärzte von Montpellier, die auf der Besonderheit der Lebenphänomene beharrten, da diese stets mit einer zentralen, dem Lebenden eigentümlichen Instanz verbunden seien. Diese Instanz nannte Stahl die ›Seele‹, die Schule von Montpellier das ›Lebensprinzip‹ (»principe vital«). Obwohl sie die mangelnde wissenschaftliche Präzision der Stahl’schen Seele ablehnten, bezogen Mitglieder der Schule von Monpellier wie Barthez (1734–1806) oder Théophile de Bordeu (1722–1776), der aus dem Süden Frankreichs nach Paris gekommen war, von Stahl doch die Idee der Selbstregulation des lebenden Organismus. In diesem Zusammenhang spricht man auch von ›Organizismus‹. — Der Animismus schrieb sich in einen religiösen Zusammenhang ein, der Vitalismus von Montpellier hielt Abstand von der religiösen Lehre, und der Pariser Organizismus wird oft zur materialistischen Philosophie in Beziehung gesetzt. Diese Tradition blieb bei François Xavier Bichat (1771–1802) spürbar, der im Jahre 1800 die Recherches physiologiques sur la vie et la mort veröffentlichte. In diesem Werk plädierte er für die besondere Stellung der Physiologie: Il est facile de voir d’après cela que la science des corps organisés doit être traitée d’une manière toute différente de celles qui ont les corps inorganisés pour objet. Il faudrait, pour ainsi dire, y employer un langage différent; car le plupart des mots que nous transportons des sciences physiques dans celles de l’économie animale ou végétale, nous y rappellent sans cesse des idées qui ne s’allient nullement avec les phénomènes de cette science […] La physique, la chimie, etc. se touchent parce que les mêmes lois président à leurs phénomènes; mais un immense intervalle les sépare de la science des corps organisés parce qu’une énorme différence existe entre ces lois et celles de la vie.
Auf diese Weise bereitete der Vitalismus das Terrain für eine Physiologie, die sich auf Erfahrung und Analyse gründet und vorgefertigte Systeme anders wie einen kurzsichtigen Empirismus zurückweist. Das Ende des 18. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch die erstens Arbeiten über die Verdauung — hier besonders durch diejenigen von Spallanzani (1729–1799), dem der erste Versuch in künstlicher Verdauung gelang — zweitens durch die Studien zur Irritabilität von Albrecht von Haller (1708–1777) und drittens durch die bahnbrechenden
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Arbeiten Joseph Priestleys (1733–1804) und Antoine Laurent Lavoisiers (1734–1794) zur Atmung (Respiration). Priestley entdeckte verschiedene Arten von ›Luft‹ (d.h. Sauerstoff und Stickstoff in der aktuellen Terminologie) und untersuchte deren Einwirkungen auf das Blut und das Leben. In Zusammenarbeit mit Priestley gelang es Lavoisier, die Austauschprozesse und die Transformation von Sauer- und Stickstoff, die während der Atmung stattfinden, exakt zu berechnen. Lavoisier nannte das, was Priestley als ›dephlogistische Luft‹ bezeichnet hatte, »oxygène« (»Sauerstoff«) und schlug eine Erklärung des Lebens vor, die die frühere Trennung zwischen Mechanismus und Chemie hinter sich liess: La machine animale est principalement gouvernée par trois régulateurs principaux; la respiration qui consomme de l’hydrogène et du carbone et qui fournit du calorique; la transpiration qui augmente ou qui diminue, suivant qu’il est nécessaire d’emporter plus ou moins de calorique; enfin la digestion qui rend au sang ce qu’il perd par la respiration et la transpiration.
An der Wende der Aufklärung entwickelte sich noch einmal eine letzte Allgemein-Theorie — diejenige Franz Mesmers (1734–1815). Sie ist zweifellos zu den alten Lehren zu rechnen, aber ihr Erfolg ist aufschlussreich für die Ängste und Hoffnungen der europäischen Gesellschaft am Vorabend der Französischen Revolution. Der Mesmerismus erscheint archaisch in seinem Anspruch, die physiologischen und die kosmischen Phänomene zu umgreifen; er erklärt, sie vermöge der Elektrizität, des »fluide universel« (der sog. »Allflut«), der die Einheit und die Bewegung des Universums sicherstellte. Der Erfolg des Mesmerismus verdankte sich dem Geschmack am Wunderbaren und Irrationalen, das bald Einsprüche der Ärzteschaft in Wien und später die Missbilligung der 1784 in Paris eingesetzten Untersuchungskommission zeitigte. Doch bezeugt der Mesmerismus auch die Kluft zwischen den akademischen Institutionen und den Wünschen der Öffentlichkeit; er verweist auf die zunehmende Politisierung des Gesundheitproblems und antwortet auf die Forderung nach einer Medizin, die sowohl für den Körper als auch für die Seele sorgt und die Wechselbeziehungen von Psychischem und Somatischem, von Individuum und Gesellschaft kennt. Insofern steht der Mesmerismus für den Wunsch nach einer gesellschaftlichen und medizinischen Harmonie und nach einer Medizin, die die Gesundheit aller, der Reichen und Armen, will.2 Als Mesmer nach seiner ›Verurteilung‹ Paris verliess, blieben zahlreiche seiner Schüler aktiv. Der Marquis de Puységur (1751–1825) veröffentlichte die Mémoires pour servir à l’histoire et à l’établissement du magnétisme animal und beschäftigte sich insbesondere mit dem Somnambulismus. Die Idee eines »fluide universel« (»Allflut«) ist keine Eigentümlichkeit Mesmers. Sie durchzieht die gesamte Epoche. Das aufgeklärte Europa — so hat man gesagt — elektrisierte sich im wörtlichen und übertragenen Sinne.3 Die praktischen Ärzte erprobten die therapeutischen Kräfte der Elektrizität, unter ihnen der Abbé Bertholon, Autor der Abhandlung De l’électricité du corps humain dans l’état de santé et la maladie (1780), und Jean-Paul Marat (1744–1793), Autor eines Mémoire sur l’électricité médicale (1784). Die Theoretiker schlugen vor, die Elektrizität mit den Lebensgeistern oder mit den durch nervöse Einwirkung verursachten
2. Vgl. Darnton, Robert, Mesmerism and the End of Enlightenment, Cambridge 1968. 3. Vgl. M. Pera, La Rana ambigua. La Controversia sull’electricita animale tra Galvani e Volta, Turin 1986; Bossi, Laura, »L’âme électrique«. In: L’Ame au corps. Arts et sciences, 1793–1993, Clair, Jean (ed.), Paris 1993.
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Phänomenen zu identifizieren. Luigi Galvani (1737–1798) veröffentlichte 1791 in der Schrift De viribus electricitatis in motu musculari die Ergebnisse seiner Experimente an Fröschen. Der Galvanismus weckte nicht nur die Hoffnung, Kranke mit Hilfe elektrischer Schläge behandeln zu können, sondern auch die Ertrunkenen, die Erstickten, wenn nicht gar alle Toten wiedererwecken zu können. Der Gelehrte Frankenstein, den die junge Mary Godwin Shelley (1797– 1851) erfunden hatte, wurde 1816 zum ›modernen Prometheus‹, der über die Macht verfügte, mit Hilfe einer galvanischen Batterie Leben zu geben. Doch der Ausgang des Romans legt nahe, mit der Anwendung dieser neuen demiurgischen Kraft des Menschen vorsichtig zu sein. Das Beispiel des Romans Frankenstein zeigt zur Genüge, dass die Debatten über das Leben nicht auf die akademischen Kreise beschränkt blieben. Die Kritik am Mesmerismus griff auf die Öffentlichkeit über: Karikaturen und Pamphlete aller Art zogen magnetische Trancen, das Baquet und die weibliche Begeisterung für den Wiener Arzt ins Lächerliche. Ohne sich zum Iatromechanismus zu äussern, stellte Vaucanson (1709–1782) Automaten aus, die das Tier und dann den Menschen auf verblüffende Weise imitierten. Die Akademiker neigten dazu, in dem Ingenieur nur einen ›faiseur de machines‹ zu sehen, doch das Publikum schwärmte für seine verdauende Ente und für den Flötenspieler. Später gab Marie-Antoinette bei Röntgen + Kinzing eine Tympanon-Spielerin in Auftrag. Die Experimente mit der Elektrizität und über die Atmung liefern dem Roman Pauliska ou la perversité moderne von Révéroni Saint-Cyr4 (1767–1829) Szenen von besonderer traumhafter Wirkungsmacht. Mit der »perversité moderne« ist das Streben gemeint, die menschliche Natur nach Belieben umzuformen. Die Heldin (des Romans) wird nacheinander das Opfer von zwei verrückten Gelehrten. Der erste versucht sich in der Inokulation der Liebe und legt sie danach unter eine Glasglocke, um Atmungsexperimente durchzuführen. Der zweite hat eine elektrostatische Maschine erfunden, in der zwei gläserne Kissen gegen ein Rad aus Glas reiben, um ein Fluidum zu produzieren. Diese Kissen werden sodann durch lebende Körper ersetzt — junge Männer und junge Frauen. Der Experimentator entzieht ihnen auf diese Weise ihr Lebensfluidum, das er sich selbst als einen Quell der Jugend einflösst. Wie der Roman Mary Shelleys vermengt der Roman Révéronis alte Mythen mit modernen wissenschaftlichen Forschungsmethoden. Auf gleiche Weise könnte man die Wirkungen und den Einfluss dieser Experimente in der Malerei untersuchen. Bei Jaques-Louis David findet man dafür ein leuchtend »helles« Beispiel: Im Portrait Lavoisiers und seiner Frau (Metropolitan Museum of Art, New York) werden dessen Versuche, die menschliche Atmung zu messen, durch Ballons und andere Utensilien aus durchsichtigem Glas veranschaulicht. Der Boden ist bereitet, die Wissenschaft wird vom Menschen beherrscht. Dagegen ist die Atmosphäre von L’Expérience sur un oiseau dans une pompe à air (National Gallery, London), das Joseph Wright of Derby (1734–1797) um 1768 malte, düster, der Raum überladen. Einige Amateure beobachten — eher um sich zu zerstreuen, als um sich zu bilden — einen weissen Kakadu, der, eingesperrt in eine Luftpumpe, je nach Belieben des Experimentators, dessen Hand auf dem Luftaustrittshahn ruht, ersticken oder überleben wird. Die Betrachter sind teils vom Los des Tiers gerührt, teils bleiben sie ihm gegenüber gleichgültig. Vor der Kugel der Luftpumpe befindet sich ein Gefäss, das den Teil
4. Révéroni Saint-Cyr, Pauliska, ou la perversité moderne (1798), Neuauflage Paris 1991.
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eines menschlichen Gehirns in einer durchsichtigen Flüssigkeit enthält. Hierdurch entsteht eine symbolische Beziehung zwischen dem durch das Experiment mit dem Tod bedrohten Tier und dem Menschen her, dessen Vorrechte ihm gegenüber möglicherweise so gross nicht sind. D.h. es wird der Vorstoss der modernen Wissenschaft der traditionellen Meditation über die Vergänglichkeit (›vanitas‹) konfrontiert, die üblicherweise mit Schädel und Wachskerze symbolisiert wird. Der Kontrast zwischen den Bildern von David und Wright of Derby charakterisiert die Zwiespältigkeit der Einstellungen zu einer Medizin, die einerseits als beunruhigend und andererseits als segenbringend empfunden wurde. Befürchtungen dieser Art teilten auch die Kritiker der Hospitäler, die am Ende des 18. Jahrhunderts an Zahl zunahmen; sie wurden immer weniger gut geführt und waren immer weniger den gesellschaftlichen Bedürfnissen angepasst. Das Hospital wurde — nach einem Ausspruch von Jean-Charles Sournia — eine »institution d’hébergement, sans spécification pathologique«.5 Es beherbergte Bettler, Bedürftige, Alte, Verrückte, Kriegsverletzte und Kranke unter Bedingungen, die Ansteckungen mehr begünstigten, als dass sie sie verhinderten. LouisSébastien Mercier (1740–1814) verfiel in einen apokalyptischen Ton, als er die Lebensbedingungen im Hospital Bicêtre bei Paris anprangerte: Ulcère terrible sur le corps politique, ulcère large, profond, sanieux, qu’on ne sauroit envisager qu’en détournant les regards. Jusqu’à l’air du lieu, que l’on sent à quatre cent toises, tout vous dit que vous approchez d’un lieu de force, d’un asyle de misère, de dégradation, d’infortune. Bicêtre sert de retraite à ceux que la fortune ou l’imprévoyance ont trompés, et qui étoient forcés d’aller mendier le soutien de leur dure et pénible existence. C’est encore une maison de force, ou plutôt de tourmens, où l’on entasse ceux qui ont troublé la société.6
Die ›cahiers de doléances‹, die im vorrevolutionären Frankreich abgefasst wurden, antworteten auf solche Kritik. Sie forderten eine besser angepasste und aus den überreichen Mitteln der Kirche finanzierte Sozialfürsorge. Sie entwickelten die Idee einer Medizin als soziale Praxis und Gesundheitspolitik. Der Gesundheitsausschuss, der unter der Revolution mit diesen Fragen beschäftigt war, regte an, die Hospitäler aufzuteilen und zu spezialisieren. Es geht in diesen Debatten um das ›Grundgesetz‹ der Medizin. Während der französischen Revolution war die Konkurrenz zwischen zwei Instanzen — dem ›Comité de suppression de la mendicité‹ und dem ›Comité de santé‹ — heikel. Jenes wurde auf die Initiative des Grafen La Rochefoucauld-Liancourt hin gegründet, für den die Medizin ein Palliativ und das Hospital ein Zufluchtsort blieb, »un pis-aller d’ordre social« nach der Formulierung von Sournia. Das ›Comité de santé‹ wurde durch den Arzt Guillotin repräsentiert, der meinte, dass die Medizin zuallererst erfolgversprechend arbeiten sollte, und der das Hospital nicht nur für eine therapeutische sondern auch als eine wissenschaftliche Notwendigkeit ansah. Das ›Comité de santé‹ reorganisierte die Studiengebiete der Medizin und versuchte so, die unfruchtbare Opposition
5. Sournia, Jean-Charles, La Médecine révolutionnaire, 1789–1799, Paris 1989, S. 51. 6. Mercier, Louis-Sébastien, Tableau de Paris, Amsterdam 1783, Bd. VIII, S. 1–2. Mercier fährt zum Namen der Bicêtre fort: »Comme il est devenu le réceptacle de tout ce que la société a de plus immonde, de plus vil, et qu’il n’est presque composé que de libertins de toute espèce, d’escrocs, de mouchards, de filous, de voleurs, de faux-monnayeurs, de pédérastes, etc., l’imagination est blessée dès qu’on profère ce mot qui rappelle toutes les turpitudes.«
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zwischen Medizin und Chirurgie, Tradition und Beobachtung, Theorie und Praxis zu überwinden. Zwischen Fakultät und Hospital wurde nicht länger unterschieden. Das Hospital wurde zum Ort von Pflege, wissenschaftlicher Beobachtung und Unterricht. Durch die neue Einstellung der Ärzte zur medizinischen Praxis wird die Entdeckung des Abklopfens bei Leopold Auenbrugger (1722–1809) aus Wien, des Abtastens bei Corvisart (1755–1821) und des Abhorchens mit dem Stethoskop bei Laennec (1781–1826) erst möglich. Corvisart übersetzte Auenbruggers Buch unter dem Titel Nouvelle Méthode pour reconnaître les maladies internes de la poitrine (1806) und wandte diese Methode bei Herzkrankheiten an. Die Praktischen Mediziner der Epoche gingen — gegen das Dogma der medizinischen Fakultäten — auf Hippokrates zurück, ähnlich wie die Künstler sich gegen einen Akademismus, der die Kunst der Antike auf geisttötende Weise konserviert hat, zur Antike zurückwandten; Sergio Moravia bezeichnete dies als »la redécouverte d’Hippocrate«.7 Der griechische Arzt wurde zum Garanten der Autonomie der Medizin und der Verbindung von theoretischer Reflexion und praktischer Kunst. Die Figur des Hippokrates half Cabanis (1757–1808), das wahre Priester- bzw. Richteramt des Arzt-Philosophen zu definieren, der allein der Wahrheit und der Gesundheit des Gesellschaftskörpers verpflichtet sein soll. Die Notwendigkeit, gesammelte Erfahrungen zu vergleichen und wissenschaftliche Hypothesen auszutauschen, führte auf eine Initiative von Vicq d’Azyrs 1776 in Frankreich zur Gründung der ›Société royale de médecine‹; aus ihr ging die ›Société médicale d’émulation‹ hervor, die der ›Société des observateurs de l’homme‹ in der Anthropologie entsprach. Die Medizin und die Anthropologie konstituierten die Wissenschaft vom Menschen, die in der Verbindung von Erkenntnis und gesellschaftlichem Handeln die Summe der Aufklärung sein wollte. Das schlagendste Beispiel für die gesellschaftliche Verpflichtung der Medizin stellte der Kampf gegen die Epidemien dar. Die Pocken blieben im Europa des 18. Jahrhunderts die weitaus häufigste Todesursache: In Frankreich starben hieran jährlich 50–80.000 Menschen, in England 25–30.000. Am Beginn des Jahrhunderts begrüsste Voltaire (1694–1778) in den Lettres philosophiques (1734) die englischen Ärzte, die die Impfung praktizierten, indem sie einen Tropfen Pockeneiter in den gesunden Körper einführten. Letzterer wurde auf diese Weise widerstandsfähiger gegenüber der Krankheit. Bis in die letzten Dezennien des Jahrhunderts blieb England das Land mit der weitaus höchsten Anzahl an Impfungen. In anderen europäischen Ländern war die Impfung ein Privileg der Aristokratie. Die Fürsten gingen mit gutem Beispiel voran: 1768 liess die Kaiserin von Österreich mehrere Erzherzoge impfen, Katharina II. von Russland unterzog sich selbst der Impfung, und 1774 war die Reihe an Frankreich mit Ludwig XVI. und seinen Brüdern. Die Eliten der Gesellschaft folgten diesem Beispiel; viel seltener tat man das im Volk, wo die Widerstände gross waren und wo — wie man festhalten muss — die Zahl der Misserfolge und Todesfälle hoch war. 1798 erschien in London An Inquiry into the causes and effects of the variolae vaccinae von Edward Jenner (1749–1823), der die Heilkräfte der Kuhpocken (der Kühe von Gloucester) entdeckte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde um die Urheberschaft an diesem Verfahren und um dessen Wirksamkeit heftig gestritten. Die
7. Moravia, Sergio, »Philosophie et médecine en France à la fin du XVIIIe siècle«, in: Studies on Voltaire 89, Branbury 1972.
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Vaccination (die Impfung mit Kuhpocken), die die Inokulation (die Impfung mit menschlichem Eiter) ersetzte, verbreitete sich rasch über den Kontinent.8 — Man könnte den Widerhall beider Methoden auch in der schönen Literatur verfolgen, insbesondere eine Spielart — die Inokulation durch die Liebe: In der Nouvelle Héloïse (1761) wird sich Saint-Preux — indem er Julie umarmt — freiwillig anstecken; die Pocken werden zur Metapher für die Liebeskrankheit. Einer der Kerkermeister Pauliskas im Roman Révéroni Saint-Cyrs beabsichtigt, die Heldin in sich verliebt zu machen, indem er ihr die Liebe einimpft. Die Sade’schen Libertins stecken ihre Opfer aus purer Grausamkeit mit der Krankheit an. Die Herrschaft der Epidemien und die Impf-Kampagnen — sie illustrieren eine neue Medikalisierung der Gesellschaft. Der individuelle Körper wurde zum Gegenstand der Medizin, die — besser als der Priester — seine Wahrheit kannte und sein Funktionieren kontrollierte. Auch machte die Medizin die Sexualität zu ihrem Objekt. Die Autoerotik, die jahrhundertelang geduldet und mit Nachsicht behandelt worden war, wurde im 18. Jahrhundert zum Objekt einer wahren Hysterie bei Medizinern und Pädagogen. Bereits zu Beginn des Jahrhunderts erschien in London die anonyme Broschüre Onania, or the heinous sin of self-pollution, and all its frightful consequences in both sexes considered (1715). Die — mehr religiös als sozial, mehr moralisch als medizinisch motivierte — Verwünschung, die hier über die Onanie ausgesprochen wurde, führte sie als Begriff in die einzelnen europäischen Sprachen ein und sorgte für die Verbreitung der medizinischen Themen, die die Ärzte mit der Onanie verbanden. Samuel-Auguste Tissot aus Lausanne (1728–1797), Autor von L’Inoculation justifiée (1754), Avis au peuple sur sa santé (1761) und Avis aux gens de lettres sur leur santé (1767), veröffentlichte 1758 in lateinischer, zwei Jahre später in französischer Sprache die Schrift L’Onanisme, ou Dissertation physique sur les maladies produites par la masturbation. Der repressive Eifer präsentiert sich hier als gelehrter Diskurs — mit der Beschreibung und Analyse von Fallbeispielen, die nicht selten mit dem Tod enden. Tissot, den die Zeitgenossen »l’Hippocrate du Léman« nannten, war vordem nichts andres als »le Berquin de la médecine«. Durch die Propaganda gegen die Masturbation als gesellschaftliche Obsession wurde Tissot jedoch zu einer wissenschaftlichen Autorität. Seine Abhandlung erlebte im 18. Jahrhundert mehr als 30 französische Editionen, acht Übersetzungen ins Deutsche, ebensoviele ins Englische, dazu vier italienische Übersetzungen. Es bedurfte schon des unabhängigen Urteils eines Diderot (1713–1784), um die »actions solitaires« für ungefährlich zu erklären, indem er ausführte, dass Diogenes sie öffentlich ›erledigte‹. Provozieren wir niemals die Natur, schloss der Mediziner Bordeu im Rêve d’Alembert, »mais prêtons-lui la main dans l’occasion«. In der Erfindung von Mitteln gegen die Masturbation rivalisierten dann insbesondere deutsche Ärzte und Pädagogen. Börner behandelte im Werk von der Onanie (1776) die Diät, Bäder und das Bettzeug. Salzmann warnte in Über die heimlichen Sünden der Jugend (1785) vor dem Reiten, langen Mänteln und geschlossenen Räumen. Jalade-Lafon, ein französischer Spezialist für das Verbinden von Brüchen, veröffentlichte Considérations sur la confection des corsets propres
8. Vgl. Raymond, Jean-François de, La Querelle de l’inoculation ou Préhistoire de la vaccination, Paris 1982. Darmon, Pierre, La Longue Traque de la variole. Les Pionniers de la médecine préventive, Paris 1986.
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à s’opposer à la pernicieuse habitude de l’onanisme (1818).9 Zu seinem Besseren oder Schlimmeren war Europa in ein Zeitalter der Medikalisierung des Lebens eingetreten. An das Recht auf Gesundheit — das auch zur gesellschaftlichen Pflicht — des Gesundseins werden konnte — knüpfte eine latente Diskussion über das Experimentieren, die Notwendigkeit des Sezierens und die Berechtigung der Vivisektion an. Traditionell besass — aufgrund der gesellschaftlichen Hierarchie — der Arzt das Recht, ›in anima vili‹ zu experimentieren und die Körper der zum Tode Verurteilten zu sezieren. Der Gedanke aber, das Hospital zu einer universitären Einrichtung zu machen, fachte die öffentlichen Vorbehalte erneut an. Diderot war sowohl für die moralische als auch die wissenschaftliche Seite des Problems sensibel: Im Essai sur Claude et Néron (1778) entrüstet er sich darüber, dass Seneca bereit sei, einen Sklaven für ein »gefährliches Experiment« (»expérience périlleuse«) zu opfern: »Comme si un esclave n’était pas un homme! comme s’il était permis, pour satisfaire une curiosité d’immoler un semblable!« Doch im Artikel Anatomie der Encyclopédie (1751–1780) erkennt er die Nützlichkeit der Vivisektion bei Verbrechern an. Die Anatomen des ausgehenden 18. Jahrhunderts forderten grössere Freiheit in der Verwendung von Leichnamen; doch es waren Gerüchte über Ärzte im Umlauf, die zu den schlimmsten Experimenten an Lebenden bereit seien.10 Im Jahre 1761 wurde die Medizinische Fakultät in Lyon aufgrund solcher Gerüchte durcheinandergebracht. In Neapel beobachteten die Leute argwöhnisch eine Schrulle des Prinzen Raimondo di Sangro: Im Keller seiner Kapelle konnte man zwei in ihrem Blutsystem erstaunlich konservierte Körper sehen. Die Präparate Honoré Fragonards, Cousin des Malers und Lehrer an der veterinärmedizinischen Schule, der die Konservierung tierischer und menschlicher Körper erforschte, riefen ähnliche Befürchtungen hervor. Sade (1740–1814) inszenierte die Phantasmen der Zeit, als er in Justine (1791) einen seiner Libertins, Rodin, eine Vivisektion an einem jungen Mädchen praktizieren lässt (in der Nouvelle Justine (1797) ist sie seine Tochter) — unter dem Vorwand, das Hymen zu untersuchen. Da Leichen zu schnell verwesten, wurde die »Ceroplastik« zur Unterstützung anatomischer Kurse entwickelt. Die anatomischen Wachsfiguren, die in Bologna und Florenz zum ersten Mal gegen Ende des 17. Jahrhunderts zuerst gezeigt wurden, verbreiteten sich über ganz Europa. Das Florentiner Museum La Specola stellte die Wachsfigurensammlung des Grossherzogs der Toskana, Pierre-Léopold, aus. Sein Bruder Joseph II. gab einige Kopien für Wien in Auftrag. Frankreich — monarchistisch, republikanisch und imperialistisch — befasste sich ebenfalls mit der Gründung eines anatomischen Museums in Paris.11 Es war erneut Sade, der diese medizinischen Gegenstände seinem imaginären Museum der Grausamkeit einverleibte, bevor dann die Ceroplastik zum Jahrmarktsspektakel für das breite Publikum wurde. Am Ende des 18. Jahrhunderts waren die Ängste vor der Medizin umso mehr begründet, als die Grenze zwischen Leben und Tod unklar war. Chroniken und fiktionale Literatur wimmelten
9. Vgl. Ussel, Jos Van, Histoire de la répression sexuelle, Paris 1972. Tarczylo, Théodore, Sexe et Liberté au siècle des Lumières, Paris 1983. Stengers, Jean / Neck, Anne Van, Histoire d’une grande peur: la masturbation, Bruxelles 1984. 10. Vgl. Vivisection in historical perspective, Rupke, Nicolaas A. (ed.), London / New York 1987. Le Breton, David, La Chair à vif. Usages médicaux et mondains du corps humain, Paris 1993. 11. Vgl. Lemire, Michel, Artistes et mortels, Paris 1990. »Fortunes et infortunes de l’anatomie et des préparations anatomiques«, in: L’Ame au corps. Arts et sciences, 1793–1993, op. cit.
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von Geschichten über lebendig Begrabene, Gehenkte, die vom Tode wiederauferweckt wurden, ja selbst von Verbrechern, die wieder lebendig wurden. In wissenschaftlichen Abhandlungen diskutierte man Erklärungsmöglichkeiten für solche Fälle. Man sah sich genötigt, zwischen Scheintod und tatsächlichem Tod zu unterscheiden: Die Hysterie oder die Apoplexie konnte beispielsweise die menschlichen Lebensfunktionen ausser Kraft setzen und Frauen wie Männer in einen todesähnlichen Zustand versetzen. Die Medizin suchte — schwankend zwischen Information und Imagination, wissenschaftlicher Beobachtung und Wahnvorstellung — mit diesen Phänomenen ins reine zu kommen. Jacques Bénigme Winslow legte im Jahre 1740 die Abhandlung Quaestio medico-chirurgica vor; sie wurde zwei Jahre später unter dem Titel Dissertation sur les incertitudes des signes de la mort et l’abus des enterrements et embaumements précipités ins Französische übertragen. Winslows Thesen wurden von Jean-Jacques Bruhier weiterwickelt, von Buffon ausgewertet und schliesslich durch Antoine Louis in den Lettres sur la certitude des signes de la mort (1752) widerlegt. Der Tod — als Begriff eigentlich dem religiösen Diskurs zugehörig — wurde auf diese Weise laizisiert. Die Vorstellung eines Zwischenreiches zwischen Leben und Tod veränderte nicht nur die Vorstellung vom Tod — der auf diese Weise gezähmt werden konnte — sondern auch diejenige vom Leben, das Bichat (1771–1802) dann in ein organisches und animalisches aufteilte (Recherches physiologiques sur la vie et la mort). Die Debatte wurde jedoch nicht nur als theoretische geführt: Mme. Necker mischte sich ein und veröffentlichte die Schrift Des inhumations prématurées (1790): Sie regte die Einrichtung von Warte- und Beobachtungssälen an, in denen die Leichen verbleiben sollten, bis sie Zeichen von Verwesung zeigten. Der Vorschlag wurde in Weimar in die Praxis umgesetzt, wo man das erste Azylium dubiae vitae errichtete — eine »véritable traduction architecturale de scepticisme à l’égard des capacités diagnostiques de la médecine« (Claudio Milanesi).12 Die von Guillotin für die Revolution erfundene Hinrichtungsmaschine, die Guillotine, (sie sollte einen schmerzlosen Tod geben) warf die Frage auf, ob in einem Kopf, der sehr schnell vom Rumpf getrennt wird, noch Leben oder Bewusstsein existieren kann. Das Begriffspaar Leben und Tod in Frage zu stellen, bedeutete auch den Dualismus von Körper und Seele, das Fundament des religiösen Denkens, zu verwischen. Die Fortschritte des medizinischen Wissens lieferten einem Materialismus Argumente, wie er sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts etablierte. La Mettrie, Autor des Homme-machine, ist Arzt. Diderot stellte für den Rêve de l’Alembert (1830) — in dem der Arzt Bordeu auf einen Philosophen, dem der Autor den eigenen Namen gab, und den Mathematiker D’Alembert trifft — eine ganze Dokumentation zusammen. Seine Eléments de physiologie begründeten die monistische Hypothese, dass die Entwicklung der Materie zum Leben und des Lebens zum Denken ohne den Rekurs auf Gott oder eine Schöpfung erklärt werden kann. Der Magnetismus Mesmers, der ein elektrisches Fluidum annahm, das den Körper belebt und die Seele magnetisiert, Lavaters Physiognomik, die sich auf die Beziehungen zwischen Charakter und Gesicht, zwischen dem inneren Leben und der äusseren Physiognomie gründete,13 dann auch die Gall’sche Phrenologie, die die Formen des
12. Milanesi, Claudio, Mort apparente, mort imparfaite. Médecine et mentalités au XVIIIe siècle, Paris 1991, S. 190. 13. Zum Einfluss, den die Physiognomik auf die Literatur ausübte, vgl. Jaton, Anne-Marie, Entre le réalisme et la voyance. Lavater et la littérature française, Pisa 1984. Tytler, Graeme, Physiognomony in the european novel. Faces and
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Schödels untersuchte, warteten mit der Entdeckung komplexer Zusammenhänge auf — Zusammenhänge, die Physik und Moral, Leib und Seele verbanden. Auch ein drittes Begriffspaar verlor den Charakter einfacher und offensichtlicher Disjunktion — das von Vernunft und Wahnsinn. Das Ende des 18. Jahrhunderts sah erste Irrenarztschulen in England und Frankreich. Auf das Werk Francis Willis’, der für den englischen König George III. sowie die Königin von Portugal arbeitete, wurde bereits hingewiesen. Michel Foucault hat sich gegen das Bild Epinals gewandt, demzufolge Pinel die Irren aus ihren Ketten befreit habe. Er stellt jedoch nicht in Abrede, dass die Medizin die alte These von der Unheilbarkeit der Irren und die Praxis ihrer Internierung aufgab. Man versuchte allerdings, die verschiedenen Formen des Wahnsinns zu unterscheiden und eine Typologie des Wahnsinns zu erarbeiten, um die dem einzelnen Fall angemessenen therapeutischen Massnahmen anordnen zu können. In La Philosophie de la folie ou Essai philosophique sur le traitement des personnes attaquées de folie (1792) appellierte Louis Daquin an die Solidarität unter den Geisteskranken. Philippe Pinels (1745–1826) Traité médico-philosophique sur l’aliénation mentale ou la manie (1801) unterscheidet als Formen der Geisteskrankheit: die Melancholie und das Delirium, die Manie mit und ohne Delirium, die Demenz und die Idiotie. Er schlägt eine Therapie des Wahnsinns vor. Seine Arbeit sollte zum Ausgangspunkt einer ganzen Schule werden — von Esquirol (1772–1840), dem Autor von Des passions considérées comme causes, symptômes et moyens curatifs de l’aliénation mentale (1805), zu Fodéré (Traité du délire, 1817), Anceaume (De la mélancolie, 1818) und Georget (De la folie, 1820).14 Ende März 1797 entdeckte Victor de l’Aveyron in den Pyrenäen ein Kind, das ausserhalb jeglicher Gesellschaft aufgewachsen war. Es gab der Wissenschaft Anlass für Überlegungen zu den Beziehungen von Angeborenem und Erworbenem, von Physis und Moral, Vernunft und Wahnsinn.15 Auch wenn Victor nicht, wie Kaspar Hauser dreissig Jahre später, zum literarischen Mythos wurde, so begründete sein Wahnsinn doch schon damals — an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert — ein Romanthema, das die Widersprüche zwischen Individuum und Gesellschaft, Bedürfnis und Pflicht, Willen und Verbot auszusprechen gestattete. Die Medizin hatte hier mitunter eine geradezu segensreiche Funktion. Im Esquisse d’un tableau des progrès de l’esprit humain (1794) zögerte Condorcet (1743–1794) nicht, die völlige Aufhebung des Todes in Aussicht zu stellen. Er kündigte beständige Fortschritte — »progrès réels et plus étendu« — der Medizin an und prophezeite eine Zukunft, in der die Krankheiten — »les maladies transmissibles ou contagieuses et ces maladies générales qui doivent leur origine aux climats, aux aliments, à la nature des travaux« — verschwinden lassen. Zu einer Epoche des Umbruchs medizinischen Wissens gehört auch die Veränderung des gesellschaftlichen Bildes vom Arzt. Molières Arzt Diafoirus und Beaumarchais’ Doktor Bartholo schicken sich an, dem Balzac’schen Landarzt zu weichen, und die Idee der
Fortunes, Princeton 1982. 14. Vgl. Foucault, Michel, Histoire de la folie à l’âge classique, Paris 1960. Gauchet, M. / Swain, G., La pratique de l’esprit humain. L’Institution asilaire et la révolution démocratique, Paris 1980. 15. Vgl. Gineste, Thierry, Victor de l’Aveyron. Dernier enfant sauvage, premier enfant fou, Paris 1981. Itard, Jean, Victor de l’Aveyron (rapports 1801 et 1806), Paris 1994.
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Gesundheit wird als Obsession eines Tages das religiöse Heilsstreben ersetzen.
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Richard von Krafft-Ebing (1840–1902) hat in seiner Psychopathia sexualis mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung (1886) den Namen des Marquis de Sade (1740–1814) benutzt, um eine besondere sexuelle Passion zu kennzeichnen. Diesem Umstand hatte es Sade lange Zeit zu verdanken, dass er als pornographischer Schriftsteller angesehen wurde, der sich halt dem Thema des Sadismus gewidmet habe. Beides ist sozusagen falsch. Weder war Sade ein pornographischer Schriftsteller, noch war sein Thema bloss die Zufügung von Schmerz, auf dass Lust entstehe. In den 120 Journées de Sodome (1785) findet sich nicht allein die Darstellung des Sadismus, sondern Sade offeriert vielmehr eine Systematik aller sexuellen Perversionen, die es gebe resp. die sich ausdenken lassen. Er kommt dabei auf die Zahl 600. Sades Systematik der sexuellen Passionen ist somit das Gegenteil von Krafft-Ebings Fallbeschreibungen, in denen auf empirische Weise versucht wird, Ordnung ins Chaos der Triebe zu bringen. Sade wollte mit seinem Lasterkatalog eine naturphilosophische These beweisen: dass die menschliche Natur nicht tugendhaft sei (wie die Enzyklopädisten und insbesondere Rousseau behaupteten), sondern durchaus und immerdar als eine böse Natur zu verstehen sei, die die Menschen von Laster zu Laster und von Verbrechen zu Verbrechen hetze. Diese lasterhafte Natur wollte er beschreiben, ihre einzelnen Züge systematisch ordnen und zugleich darstellen, wie vernünftig es wäre, sich dem lasterhaften Grundzug der Natur zu überlassen, ja diesen vielmehr zum Gesetz der menschlichen Gesellschaft zu machen. Sade ist also zu den Moralphilosophen auch des 18. Jahrhunderts zu zählen, insofern er versuchte, die geltende christliche Moral zu entthronen, um eine der wahren Natur entsprechende Moral an ihre Stelle zu setzen. Und die neue Moral sollte die Moral des Lasters, aber nicht mehr die der Tugend sein. Einen ersten Versuch, seine Philosophie systematisch darzustellen, hat Sade in den 120 Journées de Sodome unternommen, die er schrieb, als er in der Bastille gefangensass. Es ging Sade darum […] de se faire en cette situation raconter avec les plus grands détails, et par ordre, tous les différents écarts de cette débauche, toutes ses branches, toutes ses attenances, ce qu’on appelle en un mot, en langue de libertinage, toutes les passions.1
Vernommen werden die Erzählungen von vier Libertins — einem reichen Financier, einem pensionierten Gerichtspräsidenten, einem Herzog und einem Bischof — des Ancien régime, die hierfür vier Erzählerinnen in Dienst genommen haben, die aus ihrem Schatz lasterhafter Erfahrungen berichten. Mit ihnen und einem Tross sorgsam ausgewählter Knaben und Männer, Mädchen und Frauen haben sich die Libertins in ein abgelegenes Schloss zurückgezogen. Sie
1. Marquis de Sade, Les 120 journées de Sodome ou L’école du libertinage, in: Œuvres complètes du Marquis de Sade, Bd. 13, Paris 1973, S. 27.
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sollen als Objekte den Lastern dienen, von denen die Erzählerinnen den Libertins berichten und die diese anregen sollen, ebensolche oder andere zu begehen. Am Ende des Romans, der aus mehreren Gründen ein Torso geblieben ist, macht der Autor eine Rechnung auf, in der die Zahl derer, die im Verlauf der Orgien getötet wurden, derjenigen gegenübergestellt wird, die aus dem Schwarzwald, wo das Schloss liegt, nach Paris zurückkehren: Cette récapitulation fait voir l’emploi de tous les sujets, puisqu’il y en avait en tout quarante-six, savoir: Maîtres 4 Vieilles 4 A la cuisine 6 Historiennes 4 Fouteurs 8 Jeunes garçons 8 Épouses 4 Jeunes filles 8 Total 46 Que, sur cela, il y en a eu trente d’immolés et seize qui s’en retournent à Paris. Compte du total: Massacrés avant le 1er mars dans les premières orgies Depuis les 1er mars Et ils s’en retournent 16personnes Total
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Aber nicht erst bei der Schlussabrechnung der Kosten der Utopie wird die systematische Konstruktion der 120 Journées de Sodome offenbar. Die 600 Perversionen, die geschildert werden, sind in viermal 150 aufgeteilt, von denen je eine Erzählerin über einen Monat hinweg berichtet, […] et cela dans un tel ordre, que la première, par exemple, placerait dans le récit des événements de sa vie les cent cinquante passions les plus simples et les écarts les moins recherchés ou les plus ordinaires, la seconde, dans un même cadre, un égal nombre de passions plus singulières et d’un ou plusieurs hommes avec plusieurs femmes; la troisième également, dans son histoire, devait introduire cent cinquante manies des plus criminelles et des plus outrageantes aux lois, à la nature et à la religion; et comme tous ces excès mènent au meurtre et que ces meurtres commis par libertinage se varient à l’infini et autant de fois que l’imagination enflammée du libertin adopte de différents supplices, la quatrième devait joindre aux événements de sa vie le récit détaillé de cent cinquante de ces différentes tortures. Pendant ce temps-là, nos libertins, entourés, comme je l’ai dit d’abord, de leurs femmes et ensuite de plusieurs autres objets dans tous les genres, écouteraient, s’échaufferaient la tête et finiraient par éteindre, avec ou leurs femmes ou ces différents objets, l’embrasement que les conteuses auraient produit.3
Als System der menschlichen Leidenschaften sind Les 120 Journées de Sodome gelegentlich als
2. Ibid., S. 431. 3. Ibid., S. 28 f.
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philosophische Antizipation jener Psychopathia sexualis bezeichnet worden, die der Wiener Psychiater Krafft-Ebing mehr als hundert Jahre später zusammenstellte. Was Krafft-Ebing aber mühselig als eine Sammlung von Fällen aneinanderreihte, ist von Sade als theoretische Konstruktion kühn entworfen worden. Bloch, der das seit der Erstürmung der Bastille 1789–in der Sade auf Betreiben seiner Schwiegermutter gefangensass — verschollene Manuskript der 120 Journées de Sodome wieder auffand, hat das Werk Sades zu rechtfertigen gesucht, indem er es als konzentrierenden Sittenspiegel des Ancien régime schilderte. Doch die philosophische Konstruktion der 120 Journées de Sodome lässt sich nicht durch die Enumeration von Skandalen und Historien aus der Zeit vor der Französischen Revolution einholen — selbst wenn unter ihnen so denkwürdige Einrichtungen rangieren wie der Hirschpark Ludwigs XV. Ihr eignet ein utopischer Zug, der sie einerseits den Gesellschaftsentwürfen der Frühsozialisten (insbesondere Fouriers) annähert, andererseits aber über alle mögliche Realität hinausführt. Dies deutet nicht nur die Struktur der 120 Journées de Sodome an, in der die Aberrationen des Sexualtriebs in einer Bewegung der Klimax geordnet sind, sondern mehr noch die Begründung, die Sade für diese Klimax gibt. Sie lautet, dass, wenn die Menschen sich erst einmal ihren Leidenschaften überlassen haben, sie zu stets grösseren Lastern getrieben werden. Jede Befriedigung einer Leidenschaft stillt eine Erregung des Nervensystems; um aber zu einer neuen Erregung und damit neuen Befriedigung zu gelangen, bedarf es jeweils stärkerer Reizungen des Nervensystems, die nur durch immer ausschweifendere Laster zu erzielen seien. […] mais cette route se fait imperceptiblement, on ne la suit que sur des fleurs; un excès amène l’autre; l’imagination, toujours insatiable, nous amène bientôt au dernier terme, et comme elle n’a parcouru sa carrière qu’en endurcissant le cœur, dès qu’elle a touché le but, ce cœur, qui contenait jadis quelques vertus, n’en reconnaît plus une seule.4
An der letzten Grenze, die der Lustmord markiert, stürzt die Sadesche Utopie in ihre entscheidende Antinomie. Sade, der bislang unerkannte grosse Kritiker ihres (d.h. der französischen Aufklärung) Optimismus, trieb die aufklärerische Idee der Freiheit in ihre irrsinnige letzte Konsequenz. […] In seiner permanenten Orgie, als welche die schrankenlose Utopie auftritt, fordern die restlos befreiten Triebe der einen den widerstandslosen Verzicht der anderen. Notwendig führte ihn diese Konsequenz schon früh zur Apologie des Mordes und damit zur Negation aller reinen Utopie, in der doch alle frei leben sollten.5
Dieser Widerspruch, in den die Sadesche Utopie sich hier verwickelt, ist entscheidender als der empiristische Einwand, dass viele Konstellationen der Sadeschen Orgie anatomisch unmöglich seien. Das aus der Anatomie abgeleitete Argument gegen die Validität einer Utopie der Perversion hätte ihn lachen gemacht. Er lässt einen Protagonisten der 120 Journées de Sodome bereits erklären:
4. Ibid., S. 280. 5. Glaser, Horst Albert, »Literarischer Anarchismus bei Sade und Burroughs«, in: Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 1. Grundlagen und Modellanalysen, Stuttgart ²1971, S. 350f.
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Horst Albert Glaser Pour moi, j’avoue que mon imagination a toujours été sur cela au-delà de mes moyens; j’ai toujours mille fois plus conçu que je n’ai fait et je me suis toujours plaint de la nature qui, en me donnant le désir de l’outrager, m’en ôtait toujours les moyens. […] Combien de fois, sacredieu, n’ai-je pas désiré qu’on pût attaquer le soleil, en priver l’univers, ou s’en servir pour embraser le monde? Ce serait des crimes cela, et non pas les petits écarts où nous nous livrons, qui se bornent à métamorphoser au bout de l’an une douzaine de créatures en mottes de terre.6
Man kann über dieser Stelle einsehen lernen, dass das Denken Sades jene blinden Reflexhandlungen weit transzendiert, die das landläufige Bewusstsein Triebverbrechen nennt. Die zwar in einem hyperbolischen Aktus ausschweifende, aber dennoch systematisch konstruierende Phantasie scheint ihren Impetus nicht allein aus verdrängten Triebregungen zu beziehen, sondern nicht weniger aus dem anarchischen Willen, bestehende Normen und Institutionen zu schmähen, zu überschreiten und zu zerstören. Moi qui vous parle, j’ai bandé à voler, à assassiner, à incendier, et je suis parfaitement sûr que ce n’est pas l’objet du libertinage qui nous anime, mais l’idée du mal; qu’en conséquence, c’est pour le mal seul qu’on bande et non pas pour l’objet, en telle sorte que si cet objet était dénué de la possibilité de nous faire faire le mal mous ne banderions plus pour lui.7
Wenn der Mensch ein Tier ist und dieses Tier wie alle anderen einer Maschine gleich funktioniert, dann wirkt in ihm, sofern er sich ihr nur überlässt, die alles bewegende Kraft der Natur. Schon LaMettrie (1709–1751), auf den sich Sade gern und oft beruft, hat die Amoralität des L’Homme Machine (1748) hieraus abgeleitet. C’est de la nature que je les ai reçus, ces penchants, et je l’irriterais en y résistant; si elle me les a donnés mauvais, c’est qu’ils devenaient ainsi nécessaires à ses vues. Je ne suis dans ses mains qu’une machine qu’elle meut à son gré, et il n’est pas un de mes crimes qui ne la serve [….].8
Leicht ist es dennoch nicht, der Stimme der Natur zu folgen, da sie manchmal schwer zu hören ist. Natur und Moral zerfallen auch für Sade nicht cartesianisch in so disparate Teile, wie der Rigorismus der oben zitierten Rede des Herzogs vermuten lässt. Triebregungen des Individuums sind von der Moral über seine Erziehung immer bereits vermittelt und modelliert. In ihnen interferiert die Stimme der Natur mit der Stimme der Erziehungsberechtigten von Anfang an. Solche aber, deren Handlungen buntscheckig in Tugend und Laster verlaufen, trifft der unbarmherzige Spott des Marquis. In einem endlosen […] et passant ainsi leur vie de combats en erreurs et d’erreurs en remords, ils finissent sans qu’il puisse devenir possible de dire précisément quel rôle ils ont joué sur la terre. De tels êtres, continuait-il, doivent être malheureux: toujours flottants, toujours indécis, leur vie entière se passe à détester le matin ce qu’ils ont fait le soir.9
6. Marquis de Sade, Les 120 journées de Sodome ou L’école du libertinage, op. cit., S. 165. 7. Ibid., S. 164. 8. Ibid., S. 9. 9. Ibid., S. 8.
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Dem neurotisierten Zivilisationsmenschen, der zwischen Verdrängung seiner Triebregungen und ihrem deformierten Ausbruch hin und her gehetzt wird, empfiehlt er das moralische Abortivmittel seiner Philosophie. Sie kann ihn lehren, seine Instinkte zu erkennen — ohne dass er allerdings bei der Überlegung sich aufhielte, ob jene 600 Passionen in der Tat auch Naturinstinkten entsprechen oder ob sie nicht bereits Zwitter jener falschen Amalgamation von Natur und Moral sind, die auch für ihn von der Erziehung in der infantilen Psyche vorbereitet wird. Die Bedeutung der Erziehung für den Charakter des Individuums, seine Sympathien und Antipathien für bestimmte Gedanken und Handlungen, wird von Sade unablässig betont. La philosophie dans le boudoir (1795) hat späterhin den Untertitel Les instituteurs libertins: dialogues destinés à l’éducation des jeunes demoiselles erhalten, da Sade mit ihnen die gutgemeinte, aber falsche Erziehung dieser Töchter durch ihre Familien korrigiert wissen will. Dennoch hält er daran fest, dass allein moralische Normen, nicht aber die sexuellen Passionen Produkte falscher Erziehung sein können. Nur in den letzteren sei die Stimme der Natur zu vernehmen — auch wenn sie noch schwach und bildungsbedürftig sei. Dass sexuelle Perversionen keine anthropologischen Konstanten sind, haben erst Freuds Neurosenforschungen gelehrt. Doch Sade ist als erstem ihre Beschreibung zu danken. Dass er meinte, sie seien Produkte einer als Mechanismus vorgestellten Natur, weil sie in der Natur des Menschen angetroffen werden, hat die Plausibilität der Stunde ihrer Entdeckung für sich. Die Welt nach ihnen einzurichten, die eine viel grössere Befriedigung des individuellen Bedürfnisses abwerfen, als es die Befolgung moralischer Normen versprach — solch radikales Denken gehört letztlich dem Geist der französischen Aufklärung an, wie gross auch Sades Distanz zu Diderot (1713– 1784) und Rousseau (1712–1778) gewesen sein mag. Die Schwierigkeiten, die Sade einräumen muss, wenn er angeben will, wie die Inklination zu bestimmten Lastern erkannt werden kann, die doch als natürliches Bedürfnis sinnlich gegenwärtig sein müssten wie nur der Hunger, lassen den Schluss zu, dass seine Laster naturphilosophische Ideen sind. Sie erscheinen als solche allenfalls desultorisch in der Natur und durchmustern sie ansonsten eher als Prinzip ihrer Möglichkeit. Nicht in Les 120 Journées de Sodome, die sie als spekulativen Kanon darstellen wollen, aber in L’Histoire de Juliette (1797) findet sich die nachgerade meditative Versenkung beschrieben, die zur inneren Erfahrung der lasterhaften Inklination führen kann, die des Menschen dunkler Drang darstellt. Soyez quinze jours entiers sans vous occuper de luxures, distrayez-vous, amusez-vous d’autre choses; mais jusqu’au quinzième ne laissez pas même d’accès aux idées libertines. Cette époque venue, couchez-vous seule, dans le calme, dans le silence et dans l’obscurité la plus profonde; rappelez-vous là tout ce que vous avez banni depuis cet intervalle, et livrez-vous mollement et avec nonchalance à cette pollution légère par laquelle personne ne sait s’irriter ou irriter les autres comme vous. Donnez ensuite à votre imagination la liberté de vous présenter, par gradation, différentes sortes d’égarements; parcourez-les toutes en détail; passez-les successivement en revue; persuadez-vous bien que toute la terre est à vous … que vous avez le droit de changer, mutiler, détruire, bouleverser tous les êtres que bon vous semblera. Vous n’avez rien à craindre là: choisissez ce qui vous fait plaisir, mais plus d’exception, ne supprimez rien; nul égard pour qui que ce soit; […] Sans vous en apercevoir, des tableaux variés que vous aurez fait passer devant vous, un viendra vous fixer plus énergiquement que les autres, et avec une telle force, que vous ne pourrez plus l’écarter ni le remplacer. L’idée, acquise par le moyen que je
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Horst Albert Glaser vous indique, vous dominera, vous captivera; le délire s’emparera de vos sens, et vous croyant déjà à l’œuvre, vous déchargerez comme une Messaline. Dès que cela sera fait, rallumez vos bougies, et transcrivez sur vos tablettes l’espèce d’égarement qui vient de vous enflammer, sans oublier aucune des circonstances qui peuvent en avoir aggravé les détails; endormez-vous sur cela, relisez vos notes le lendemain, et en recommençant votre opération, ajoutez tout ce que votre imagination, un peu blasée sur une idée qui vous a déjà coûté du foutre, pourra vous suggérer de capable d’en augmenter l’irritation. Formez maintenant un corps de cette idée, et, en la mettant au net, ajoutez-y de nouveau tous les épisodes que vous conseillera votre tête. Commettez ensuite, et vous éprouverez que tel est l’écart qui vous convient le mieux, et que vous exécuterez avec le plus de délices.10
Wenn die bereits zitierten Sätze es nicht haben deutlich werden lassen: Die Passage über ›das schönste Verbrechen‹ beschreibt nicht simpel ein Triebverbrechen, sondern geht in nachgerade psychoanalytischer Technik den verschlungenen Weg der sexuellen Triebverdrängung zurück, um im Phantasiebild, das aus dem Unbewussten eliminiert wird, den verdrängten Wunsch zu identifizieren. Kaum dürfte ein Triebverbrechen auf solch meditative Weise vorbereitet werden, in der das angespannteste Bewusstsein die dennoch frei flutenden sensomotorischen Reaktionen des Körpers bei der »mémoire involontaire« von Bildern verfolgt. Die Reflexion, die zugleich aufs tiefste sich in die Natur des Körpers versenkt hat, führt die philosophische Konstruktion des Triebverbrechens zutage — nicht es selbst. Hätte Breton (1896–1966) jene Passage über den Mechanismus einer Phantasie, die sich das schönste Verbrechen ausdenkt, in den Manifestes du Surréalisme (1924 / 1930) zitiert, er hätte damit eine Gelenkstelle vorweisen können, die Sade mit dem von den Surrealisten nicht weniger venerierten Freud (1856–1939) verbindet. Denn das surrealistische Programm, das automatisches Schreiben wollte, konnte hier Freuds Theorie des Unbewussten mit Sades »transgression de la loi« (Klossowski) aufs sinnfälligste verknüpfen.
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Entstehung der Psychologie Roland Galle
Der Versuch, die höchst vielfältigen Reflexionen über die Beschaffenheit, die Wirksamkeit und die Funktionsmechanismen der Seele in der Form psychologischer Theorien zu klassifizieren, gewinnt im 18. Jahrhundert zunehmend an Kontur. Dominant ist dabei der Versuch, begriffsmetaphysische Klassifizierungen der Vergangenheit in die Erschliessung empirisch validierter Gesetzmässigkeiten zu übertragen. Wobei diesem Versuch auch erhebliche Widernisse entgegenstehen. Zum einen erweisen sich die der Psychologie affinen Disziplinen — sie reichen von der Erkenntnistheorie bis zur Anthropologie — als durchaus wirkungsmächtig, des weiteren sind die Bestrebungen einer autonomen Installierung der Psychologie wechselnden wissenschaftstheoretischen Rahmenbedingungen unterworfen und führen mithin zu recht divergierenden und bisweilen schwer abgrenzbaren Realisationsformen. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten ist es zu Recht opinio communis, dass die Psychologie mit dem Jahrhundert der Aufklärung erstmals zu einer selbständigen Disziplin wird und damit ein Prozess zu einem vorläufigen Abschluss gelangt, der mit Descartes (1596–1650) einen ersten Höhepunkt und einen für die Folgeentwicklung sehr weitreichenden Referenzpunkt gewonnen hatte. Ohne dass man in Descartes den direkten Begründer der neuzeitlichen Psychologie wird sehen können, bezeichnet sein Werk gleichwohl die Schnittstelle, an der die aristotelisch-scholastisch inspirierte Seelenlehre ihr Fundament verliert und von der aus immer neu stabilisierte Bezugsverhältnisse für die Feststellung und das Verständnis psychischer Operationen ins Leben gerufen werden. Begriffe wie Okkasionalismus, Empirismus, Sensualismus, Materialismus, Erfahrungs-Seelenkunde und Assoziationstheorie markieren einige der besonders berühmt gewordenen Positionen dieses von Descartes ausgehenden Such-Prozesses, der schliesslich, am Ende des Jahrhunderts, durch Kant eine weitreichende Klärung erfährt. Man wird daher gut daran tun, die Epoche von Descartes bis zu Kant in Sachen Psychologie nicht zuletzt unter dem Aspekt zu untersuchen, wie im einzelnen und warum die Exploration der Psychologie mit der Erprobung eines je spezifischen Wissenschaftkonzepts zusammengeht. Aristoteles (384–322 v. Chr.) hatte die Seele als das Lebensprinzip eines (jeden) Organismus verstanden und damit eine Tradition begründet, in der sie als Element verstanden wird, das den Körper in unterschiedlichen Hinsichten — von der Ernährung und Bewegung über die Wahrnehmung bis hin zum Denken — durchwirkt. In dem solchermassen fundierten und bis in die Neuzeit hinein wirkungsmächtigen Aristotelismus wird die Seele weitgehend über ihre Beziehung zum Körper erschlossen und komplementär der Körper erst durch die Seele zu dem gemacht, was ihn ausmacht. Diese Tradition wird im Mittelalter mit platonisch-christlichen Elementen, die auf den göttlichen Ursprung und auf das Göttliche als Ziel der Seele abheben, amalgamiert. Gewonnen wird somit, als Qualität der Seele, über die Durchwirkung des Organischen hinaus ihre Teilhabe an einem überindividuellen Allgemeinen. Vor diesem Hintergrund mag der Wendepunkt deutlich werden, den die Philosophie Descartes’ für die Herausbildung der
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Psychologie bedeutet haben muss. Die Zweisubstanzenlehre, wie Descartes sie über die Dissoziierung von res extensa und res cogitans philosophisch einbringt und durchsetzt, hat vorderhand zur Folge, dass die animistische Naturausstattung, die der aristotelisch-thomistischen Sicht auf die Welt noch eigen geblieben war, vollkommen aufgegeben und durch eine schroffe Opposition zwischen einer entseelten Körperwelt auf der einen und einer auf die Funktionen des Bewusstseins konzentrierten Seele andererseits zugespitzt wird. Die res extensa wird den mathematisch-physikalischen Gesetzmässigkeiten des aufkommenden Wissenschaftsbegriffs subordiniert und kommt nur in den Blick, soweit sie von den damit gestellten Kriterien erfassbar ist. Ergebnis dieses Prozesses ist der Körperautomat. In seiner Konzeption wird greifbar, wie sehr die Entseelung, die der wissenschaftlichen Kodifizierung zuzuschreiben ist, mit einer Gegenstandsreduktion zusammengeht. Auffallender noch mag sein, dass auch auf der Gegenseite eine analog residuale Bestimmung der Seele auszumachen ist. Durch die erkenntnistheoretische Hypostasierung des cogitare nämlich hebt Descartes aus dem Setting der traditionellen Seelenvermögen emphatisch die anima intellectiva heraus und transformiert auch sie durch die vorgenommene Isolierung insofern, als sie nicht mehr in der Durchdringung und Regulierung sinnenhafter Wirklichkeit, sondern in einer gleichsam tautologischen Selbst-Artikulation ihr Wesensziel findet: »sum igitur praecise tantum res cogitans, id est, mens, sive animus, sive intellectus, sive ratio (…)«1 Darüber hinaus macht die berühmte Eröffnung der dritten Meditation dann auch thematisch, dass die angestrebte Selbstversicherung der res cogitans gerade nicht im Austausch mit der Welt, sondern durch eine Ausgrenzung der Sinne und eine erst so ermöglichte Wendung des Bewusstseins auf sich selbst möglich werden kann. Seine Erkenntnisfähigkeit verdankt das so konzipierte Bewusstsein den ideae innatae, nicht einem wie immer gearteten Bezug zur Aussenwelt. Descartes’ eher vermittelnde Affektenlehre ist im 18. Jahrhundert nur schwach rezipiert worden. Die in der Freilegung der res extensa erprobte physikalische Gesetzmässigkeit als Norm wissenschaftlicher Argumentation aber und die mit der Sicherung der res cogitans gewonnene Introspektion als via regia zur Erkenntnis der Seele bilden, so wenig sie vorderhand — und auch im weiteren — auf einen Nenner zu bringen sind, Eckpfeiler aller weiteren Bemühungen um eine Verwissenschaftlichung der Rede über die Funktionen der Seele.
England: Assoziationstheorie Zusammen mit Descartes zählen Bacon (1561–1626), Galilei (1564–1642), Harvey (1578–1657) und Hobbes (1588–1679) zu den grossen Rationalisten des 17. Jahrhunderts. Gemeinsam gehen sie von einem mechanistischen Wirklichkeitsbegriff aus und zielen darauf, Wesensgesetze der Natur, des menschlichen Organismus, des Bewusstseins oder des sozialen Zusammenlebens freizulegen. Für den Perspektivwechsel, der sich mit der Philosophie der Aufklärung ankündigt, war Newtons berühmter Satz »hypotheses non fingo« äusserst aussagekräftig, bezeugt er doch
1. Descartes, René, Meditationes de prima philosophia (Philosophische Bibliothek. 250a), Gäbe, L. (ed.), Hamburg 1992, S. 46 (2. Meditation).
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ein Abrücken von Wesensspekulationen und eine zunehmende Konzentration auf die Phänomene. Musste in der mechanistischen Theorie Descartes’ Bewegung von Gegenständen durch einen sie von aussen treffenden Stoss und letztursächlich durch Gott als ersten Beweger erklärt werden, so verlagert das von Newton aufgestellte Gesetz über Attraktion und Gravitation das Erkenntnisziel von einer Wesensursache in eine als solche behauptete Beobachtungstatsache. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist die zunächst sich aufdrängende Analogie, in der Newtons Naturphilosophie zur Erkenntnistheorie des 18. Jahrhunderts steht: So wie der äussere Raum gleichsam die Szenerie für die Newtonschen Gesetze von Attraktion und Gravitation abgibt, so wird der Geist / die Seele nun zu einem inneren Raum, der seinerseits durch das für ihn massgebliche Gesetz, das der Assoziation, reguliert wird. Gilt die Exploration von Gesetzen der Assoziation auch noch nicht für Locke, sondern erst seit Humes Treatise (1739 /1740), so ist doch beiden Autoren gemeinsam, dass sie dem Wirksamwerden der Assoziationen die Bildung einfacher und komplexer Ideen (bzw. Vorstellungen) aus der Akkumulierung und Verarbeitung von Sinneseindrücken vorausgehen lassen und sie auf diese Art entschieden naturalisieren. So wichtig es für die Entfaltung der Psychologie auch war, dass Descartes die Seele — im Modus des Bewusstseins — oppositiv zur res extensa isoliert und als Substanz proklamiert hatte, erweitert Locke (1632–1704) paradoxerweise das Fundament der Psychologie seinerseits gerade dadurch, dass er gegen Descartes die Entsubstantialisierung des Seelenbegriffs betreibt. Indem er anhand der ›Ideen‹, die sich mittels der sinnenhaften Erfahrung und mittels der ›reflections‹ gebildet haben, schrittweise den Aufbau des Bewusstseins demonstriert, tritt das überkommene Thema ›Wesen und Substanzqualität‹ ganz zurück und wird abgelöst durch die Vorrangstellung empirisch nachweisbarer Operationen: die neuen Bestimmungselemente der Seele. Wobei die Originalität Lockes nicht in der Identifizierung herkömmlicher Bewusstseinsoperationen zu sehen ist — diese haben z.B. unter der Rubrik der sensus interiores (memoria, imaginatio, spiritus) durchaus eine lange Vorgeschichte — sondern in ihrer empirischen Plausibilisierung, die er durch sein reduktionistisches Programm einzubringen bestrebt ist. In dem Masse, in dem es gelingt, Begriffe, Erkenntnisse und Bewusstseinsoperationen auf empirische Vorstellungen zurückzurechnen, verliert die Rede von den ideae innatae, die eine dem Menschen äussere Verursachung einschlossen, ihre Grundlage. An ihre Stelle treten den Bewusstseinsoperationen selbst inhärente Gesetzmässigkeiten. Deren wichtigste ist für unseren Zusammenhang, wie schon angedeutet, die Ideen-Asoziation. Im letzten, erst in der vierten Auflage eingefügten Kapitel des zweiten Buches seines Essay concerning human understanding (1690) eröffnet Locke die Erörterung der Ideen-Assoziation, die — zumal für die englische Tradition — zu einem Schlüsselbegriff für die Frühgeschichte der Psychologie werden sollte. Gegen die natürliche Wechselbeziehung und Vebindung — »Some of our ideas have a natural correspondence and connexion one with another«2 — setzt Locke schon einführend die ihn vor allem interessierende konventionsbedingte Assoziation ab: »Besides this, there is another connexion of ideas wholly owing to chance or custom.«3
2. Locke, John, An Essay Concerning Human Understanding (everyman’s library. 332. 984), Yolton, J. W. (ed.), 2 Bde., London 1961, Bd. 1, S. 336. 3. Ibid.
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Aufklärungsadäquat ist vor allem, wie Locke diese zufalls- und gewöhnungsbedingten Assoziationen, aus denen vermeintlich der Natur eingeschriebene Denkgewohnheiten, Neigungen und Abwehrhaltungen resultieren, in ihrer Arbitrarität aufzudecken, entsprechend zu relativieren und vor allem einer erzieherisch angelegten Revision — einem Hauptbetätigungsfeld zukünftiger Psychologie also — zuzuführen vermag: »I take notice (…) that those who have children or the charge of their education would think it worth their while diligently to watch and carefully to prevent the undue connexion of ideas in the minds of young people.«4 Haben Lockes Anmerkungen zur Ideen-Assoziation noch mehr den Charakter eines Aperçus, so initiiert Hume (1711–1776) deren systematische Erörterung und begründet somit eine Fragerichtung, die seelische Vorgänge über das Prinzip der Assoziation reguliert sieht und später denn auch als Assoziationspsychologie eine wichtige Rolle spielen wird. In seiner Rekonstruktion des menschlichen Erkenntnisvermögens unterteilt Hume — Locke weiterführend — alle von ihm so genannten Perzeptionen, d.h. Bewusstseinsinhalte, in Eindrücke (»impressions«) und Vorstellungen (»ideas«). Die Eindrücke, wie sie im Bewusstsein anzutreffen sind, verdanken sich unmittelbar der Welt der Objekte, die Vorstellungen aber, ihrerseits noch einmal unterschieden in einfache und komplexe Vorstellungen, sind (als einfache) Reproduktionen von Eindrücken, (als komplexe) hingegen ein Resultat der die einfachen Vorstellungen kombinierenden Einbildungskraft (»imagination«).5 Damit bringt Hume eine für die Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts höchst symptomatische Aufwertung der Einbildungskraft ins Spiel, ohne aber deren blosse Autonomie zu proklamieren. Vielmehr kommen an dieser Stelle die Assoziationsgesetze zur Geltung. Diese Gesetze, deren Nutzanwendung neu begründet zu haben Humes eigener Einschätzung nach bereits als Hauptverdienst seines Treatise of Human Nature anzusehen ist,6 funktionieren eben so, dass sie das unendliche Potential der Vorstellungen, das die Einbildungskraft realisieren könnte, in geordnete Bahnen führen und insofern als »cement of the universe«7 anzusehen sind: Our imagination has a great authority over our ideas; and there are no ideas that are different from each other, which it cannot separate, and join, and compose into all the varieties of fiction. But notwithstanding the empire of the imagination, there is a secret tie or union among particular ideas, which causes the mind to conjoin them more frequently together, and makes the one, upon its appearence, introduce the other. Hence arises what we call the apropos of discourse: hence the connection of writing: and hence that thread, or chain of thought, which a man naturally supports even in the loosest reverie. These principles of association are reduced to three, viz. Resemblance; a picture naturally makes us think of the man it was drawn for.
4. Ibid., S. 337. 5. Grundlegend: Hume, David, Enquiries Concerning Human Understanding and Concerning the Principles of Morals, Selby-Bigge, L. A. (ed.), Oxford 151996, S. 4–24. Zur Rolle von »imagination« im Werk von Hume: Hende, Ch. W., Studies in the Philosophy of David Hume, New York / London 1983, S. 72–101. 6. Hume, Enquiries, op. cit., S. 24. 7. Hume, David, An Abstract of a Book Lately Published Entituled A Treatise of Human Nature, &c, London 1740, S. 32 (abgedruckt in: ders., Abriss eines neuen Buches, betitelt: Ein Traktat über die menschliche Natur, etc. (Philosophische Bibliothek. 320), Kulenkampff, J. (ed.), Hamburg 1980).
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Contiguity; when St. Denis is mentioned, the idea of Paris naturally occurs. Causation; when we think of the son, we are apt to carry our attention to the father.8
Locke hatte von den »natural correspondences« die durch »custom and chance« bedingten Assoziationen unterschieden. Die grosse Leistung Humes liegt zweifellos darin, dass er den von Locke als kontingent konzipierten Raum der Assoziationen einem im Prinzip universell gültigen und genau definierbaren Regelsystem unterwirft. Die Regeln, nach denen die Assoziationen organisiert werden — die der Ähnlichkeit, der Kontiguität und der Kausalität — scheinen durchaus apriorische Züge zu tragen. Im Unterschied zu dem hier zitierten Abstract lässt Hume im Treatise selbst aber explizit Raum für Ausnahmen,9 so dass die Assoziationsregeln im allgemeinen zwar das Regulationsprinzip für die Bildung von komplexen Vorstellungen und ihre Weiterführung sind, aber nicht immer. Von daher wird die vorderhand sich aufdrängende Parallelisierung zwischen Humes Assoziationsgesetzen und Newtons Gesetzen der Attraktion und Gravitation auch wieder problematisch. Anheimgestellt sei aber, dass gerade die wissenschaftliche ›Porosität‹ der Humeschen Gesetze für ihre ausserordentliche Konjunktur in Sachen Psychologie einzustehen hat. Wie Hume, so versucht auch David Hartley (1705–1757) eine Untermauerung der Lockeschen Ideen-Assoziation zu bewerkstelligen. Allerdings schlägt er, um dieses Ziel zu erreichen, einen ganz neuen Weg ein. In seinem Hauptwerk Observations on man, his frame, his duty and his expectations (1749) greift er auf Locke zurück, kombiniert dessen Ansatz aber mit gehirnphysiologischen ›Beobachtungen‹, als deren Grundlage ihm die Äther-Theorie Newtons dient. In einem komplizierten Modell, das von einem psychophysischen Parallelismus ausgeht, gleichwohl aber leiblich-physische Vorgänge als Grundlage der geistig-seelischen versteht, erhält die Ideen-Assoziation auf diese Art ein physiologisches Fundament. Der Mediziner Hartley geht von der Beobachtung aus, dass Hirnläsionen die menschliche Kapazität der Vorstellungsbildung sehr spezifisch beeinflussen, konstruiert von daher eine Verknüpfung zwischen Vibrationen von Hirnfibern einerseits, Empfindungen und Vorstellungen andererseits und baut auf dieser Verknüpfung seine Assoziationstheorie auf: »One may expect, that Vibrations should infer Association as their Effect, and Association point to Vibrations as its Cause. I will endeavour, in the present chapter, to trace out this mutual Relation.«10 Entsprechend diesem Programm wird von Schwingungen (»vibrations«) ausgegangen, die vom Wahrnehmungsobjekt herrühren, von dem in der Nervensubstanz erhaltenen Äther aufgenommen und so bis in die Gehirnzellen übertragen werden. Dort schliessen sie an ihnen korrespondierende Empfindungen und Vorstellungen an. Entscheidend ist, dass Hartley die Lehre von den Schwingungen als Erklärungsbasis für seine neue Assoziationstheorie fruchtbar machen kann.
8. Ibid., S. 31 f. 9. »Wir dürfen auch nicht ohne weiteres den Schluss ziehen, dass der Geist nicht (spontan d.h.) ohne von diesem Prinzip geleitet zu sein, zwei Vorstellungen vereinigen könne; denn nichts ist freier als jenes Vermögen; vielmehr dürfen wir das fragliche Prinzip nur als eine sanfte Macht ansehen (…).« Hume, David, Ein Traktat über die menschliche Natur (Philosophische Bibliothek. 283), Brandt, R. (ed.), Hamburg 1973, S. 21. 10. Hartley, D., Observations on man, his frame, his duty and his expectations, London 1749, Nachdruck Hildesheim 1967, S. 6.
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Die ständige Wiederholung gleichartiger Schwingungen (A, B, C), die mit korrespondierenden Empfindungen und Vorstellungen verknüpft sind, hinterlässt Spuren in Form ganz schwacher Schwingungen (a, b, c). Diese durch Habitualisierung ausgeprägten schwachen Spuren prägen so etwas wie eine Prädisposition des Gehirns aus. So erklärt sich, dass — nachdem A, B, C häufig zusammen aufgetreten sind und a, b, c als Erinnerungsvorstellungen hinterlassen haben — das blosse Vorkommen von A ebenfalls b und c als Assoziationskette abruft. Wird also in einer habitualisierten Reihe von Empfindungen eine der sedimentierten Spuren später wieder wirksam, so erzeugt sie allein auch die frühere Empfindungsreihe. Im Unterschied zu Hume ist es die Mitwirksamkeit des physiologisch-nervlichen Prozesses, auf dem Hartley die Ideen-Assoziation und ihre Weiterungen aufbaut. Mit Locke, Hume und Hartley sind die grossen Initiatoren der Assoziationspsychologie benannt und auch wesentliche Grundfelder ihrer Wirkungsweise abgesteckt. Von Th. Reid (1710–1796) und E. Darwin (1731–1802) über J. Priestley (1733–1804) bis hin zu Th. Brown (1778–1820) und W. Hamilton (1788–1856) wäre, um nur einige Namen anzuführen, eine grosse Phalanx von Vertretern der hier nur in ihren Anfängen skizzierten Assoziationstheorie zu nennen. Pointierte Wendungen zum Materialismus, die explizite Gegenstandserweiterung (durch Einbeziehung der Leidenschaften) und vielfältige Ausdifferenzierung der Assoziationsgesetze sind nur einige der Themen, die diese Fortschreibung bestimmen. Mehr als der sachliche Wert der einzelnen Theorien aber zählt aus heutiger Sicht — und jedenfalls für die hier unternommene Darstellung — dass mit ihnen ein entschiedener methodologischer Schritt hin zur Erschliessung psychischer Prozesse als ein Feld empirisch fundierten und regelgeleiteten Geschehens gemacht worden ist.
Frankreich — die Dominanz von Sensualismus und Materialismus Die nationalsprachliche Abgrenzung und die chronologische Ordnung, die der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegen, können der historischen Komplexität des hier zu verhandelnden Gegenstandes nicht wirklich gerecht werden. Wissenschaftsgeschichtliche Prozesse folgen nicht einem schlichten teleologischen Finalitätsprinzip und in dem durchaus offenen Europa des 17. und 18. Jahrhunderts unterliegen sie schon gar nicht einer über Nationalgrenzen bestimmbaren Abkapselung. Zu vertreten ist das hier gewählte Darstellungsverfahren lediglich aufgrund der Vorrangigkeit des Ziels, einzelne Positionen möglichst scharf umrissen zu präsentieren. Zumal dies unter der Vorgabe geschieht, dass die Genese der Psychologie auch unter alternativen Vorgehensweisen nicht definitiv festschreibbar wäre, ist sie doch eher als die selektive Summe der hier präsentierten Strömungen zu verstehen, die - je nach Akzentsetzung - immer wieder neu und anders vollzogen wird. Nicolas Malebranche (1638-1715) ist in besonderem Masse geeignet, diesen selektiven Umgang mit den Vätern der Psychologie zu illustrieren. Den ›philosophes‹ des 18. Jahrhunderts, die sich durch Locke erleuchtet sehen, gilt er vor allem als Vertreter eines obsolet gewordenen
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metaphysischen Cartesianismus.11 Sie begründen damit eine Tradition der Nichtbeachtung, die bis in die neueste Zeit fortwirkt und sich z. B. darin niedergeschlagen hat, dass Malebranche in einer jüngst erschienenen und ansonsten gut dokumentierten Introduction à la psychologie. Histoire et Methodes keinerlei Erwähnung gefunden hat.12 Gegenläufig ist zu bemerken, dass im Erscheinungsjahr dieser Introduction ein Kolloquium über ›Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert‹ stattgefunden hat, in dessen nachfolgender Publikation Malebranche durchaus einen Ehrenplatz innerhalb der Frühgeschichte der Psychologie und gar des Unbewussten zugesprochen bekommt.13 Die Ablehnung und Ignorierung Malebranches stützt sich insbesondere auf den Umstand, dass er philosophiegeschichtlich dem Okkasionalismus zugeordnet wird, einer Theorie, die aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar und schon gar nicht aktualisierbar zu sein scheint. Mit Okkasionalismus nämlich wird eine historisch nur sehr begrenzte Zeit über virulente Antwort auf das von Descartes hinterlassene Problem des commercium mentis et corporis bezeichnet. Während Descartes — insbesondere in seinem Traité (1649) — eine Interaktion zwischen Körper und Seele, vor allem mittels der berühmten Zirbeldrüse (»glande pinéale«), durchaus nahelegt, sind die Okkasionalisten, vereinfacht ausgedrückt, darum bemüht, die Zweisubstanzenlehre gleichsam in Reinform zu restituieren und eine kausale Einwirkung der Seele auf den Körper oder des Körpers auf die Seele jedenfalls auszuschliessen. Bei Malebranche heisst es an zentraler Stelle: Chaque substance demeure ce qu’elle est, et comme l’âme n’est point capable d’étendue et de mouvements, le corps n’est point capable de sentiment et d’inclinations. Toute l’alliance de l’esprit et du corps qui nous est connue, consiste dans une correspondance naturelle et mutuelle des pensées de l’âme avec les traces du cerveau, et des émotions de l’âme avec les mouvements des esprits animaux.14
Für den psychophysischen Parallelismus, wie er hier von Malebranche konzipiert wird, ist aber nicht nur wichtig, dass der Dualismus der Substanzen gewahrt bleibt, sondern nicht weniger, dass res cogitans und res extensa trotz ihrer unüberwindbaren Trennung in einem kontinuierlichen Zusammenspiel — in einer »correspondance naturelle et mutuelle« — gesehen werden. Garantiert werden kann dieses Zusammenspiel nicht durch eine der beiden Substanzen, sondern nur durch eine ausserhalb ihrer und ihnen überlegene Instanz — also durch niemand anderen als Gott selbst. Die Einwirkung der Seele auf den Leib und umgekehrt des Leibs auf die Seele ist nicht aus einem wie immer gearteten Zusammenspiel der beiden Substanzen ableitbar, sondern
11. Voltaire, Traite de métaphysique, in: Mélanges (Bibliothèque de la Pléiade. 152), van den Heuvel, J. (ed.), Paris 1961, S. 157- 202, hier: S. 174. 12. Parot, Françoise / Michelle, Marc, Introduction à la psychologie. Histoire et Methodes, Paris 1992. 13. Behrens, Rudolf, »Die Spur des Körpers. Zur Kartographie des Unbewussten in der französischen Frühaufklärung«, in: Schings, Hans-Jürgen (ed.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart / Weimar 1994, S. 561–583. 14. Malebranche, Nicolas, De la Recherche de la Verité, in: Œuvres I (Bibliothèque de la Pléiade. 278), Paris 1972, S. 1–771, hier: S. 159. Die weiteren Malebranche-Zitate beziehen sich auf dieses Werk und die angegebene Ausgabe. Sie sind im weiteren im Text nachgewiesen.
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setzt Gottes beständige Beihilfe und Intervention voraus. Bei Gelegenheit (= occasio, daher Okkasionalismus) von Körperbewegungen lässt Gott in der Seele eine korrespondierende Vorstellung aufkommen, wie umgekehrt seelische Vorstellungen durch eine jederzeitige göttliche Intervention körperliche Korrespondenzen finden.15 Unter dem so gearteten metaphysischen Schirm des Okkasionalismus treibt Malebranche dann die von ihm beerbte cartesianische Theorie in eine Richtung weiter, die ihre Brisanz für eine Geschichte der Psychologie nicht zuletzt durch den Umstand gewinnt, dass ein Einfluss auf die materialistischen Strömungen des 18. Jahrhunderts unabweisbar ist und Analogien zum Werk von Hartley etwa offenkundig werden. Hauptträger der physiologischen Seite der Argumentation sind die von Descartes schon eingeführten, von Malebranche aber in ihrer Funktion weiter spezifizierten »esprits animaux«. Vorgestellt wird unter diesen »esprits animaux« ein Ferment des Blutes — »les parties les plus subtiles et les plus agitées du sang« (147) — das permanent im Körper zirkuliert und, vor allem, zum Transporteur der auf den Menschen treffenden Aussen- und Innenwirkungen wird: der Sinneseindrücke einerseits und der in seinem Inneren erstellten Bilder, Empfindungen und Bedürfnisse, seiner »imaginations« andererseits. Eine strukturierende Dimension aber gewinnt das so verstandene Zirkulieren der »esprits animaux« erst durch den Umstand, dass sie die von ihnen transportierten Empfindungen und Bilder (»imaginations«) in Form von Spuren (»traces«) den von ihnen durchströmten Gehirnfibern (»fibres du cerveau«) einschreiben und somit eine lebensgeschichtliche Tiefendimension physiologischer Prozesse in die Wege geleitet wird. Ergänzt um das seelische Seitenstück liest sich das skizzierte Grundmodell von Malebranches Konzeption folgendermassen: Cela fait voir clairement que cette puissance qu’a l’âme de former des images renferme deux choses; l’une qui dépend de l’âme même, et l’autre qui dépend du corps. La première est l’action, et le commandement de la volonté. La seconde est l’obéissance que lui rendent les esprits animaux qui tracent ces images, et les fibres du cerveau sur lesquelles elles doivent être gravées.(144)
Mit dieser Ausgangsposition gewinnt Malebranche — wie er im weiteren zu demonstrieren vermag — ein äusserst vielschichtiges Instrumentarium zur Erklärung von Phänomenen, die in ihrer inneren Zusammengehörigkeit vor Augen zu führen als eine seiner weitreichendsten Leistungen betrachtet werden kann. Grundlegend wird zunächst die je unterschiedliche Beschaffenheit von »esprits animaux« und »fibres de cerveau« betrachtet: Wenn Qualitäten wie Überfluss und Ärmlichkeit, Schnelligkeit und Trägheit, Korpulenz und Schmächtigkeit die »esprits animaux« kennzeichnen können, so stossen sie auf nicht weniger facettenreiche Hirnfibern, die nämlich geschmeidig und grob, feucht und trocken, biegsam und starr zu sein vermögen, so dass sich aus der Vielfalt der ableitbaren Bezugsmöglichkeiten eine plausible
15. »Dieser von GOtt einmahl festgesetzte Wille sey so kräftig, dass dadurch in den sich ereignenden Fällen sowohl die Empfindungen in der Seele, als die Bewegungen in dem Leibe erfolgeten. Auf solche Weise ist die Seele eigentlich nicht die Ursache der Bewegungen des Leibes, sondern giebet nur Gelegenheit darzu, und der Leib ist eigentlich nicht Ursache von den Empfindungen der Seele, sondern er giebet gleichfalls nur Gelegenheit dazu; GOTT aber würcket alles in allen beyden.« Ch. Wolff, Gesammelte Werke, École, J. /Arndt, H. W. /Corr, Ch. A. /Hofmann, J.E.† /Thomann, M. (eds.), 119 Bde., 1. Abt., Bd. 2, Vernünfftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (2) (Deutsche Metaphysik), Corr, Ch. A. (ed.), Hildesheim / Zürich / New York 1983, § 763, S. 476.
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Erklärungsbasis für »tous les différents caractères« (146) zu ergeben vermag. So interessant es nun ist, wie im einzelnen Bedingungsfaktoren der »esprits animaux« (Speise / Klima / nervliche Konstitution) ins Spiel gebracht und damit dem Willen weitgehend entzogene Elemente für die Vorgeschichte der Psychologie erschlossen werden, wie weiterhin vor allem die unterschiedlichen Altersstufen für den Wandel der Hirnfibern herangezogen und somit strukturell fruchtbar gemacht werden, wichtiger noch ist für uns, wie Malebranche die Sedimentierung des Zusammenspiels von »esprits animaux« und Hirnfibern, die Spuren (»traces«) also, systematisch auswertet. Die dem Menschen mittels der »traces« zugeschriebene Speicherkapazität ist vertikal und horizontal fundiert. Vertikal ist sie über die Verbindung zwischen den ›Spuren‹ und den ihnen zugeordneten ›Ideen‹ von Natur aus (1.), aufgrund zufälligen zeitlichen Zusammentreffens (2.) und durch den menschlichen Willen (3.) entschieden. Horizontal steht die Verbindung jeweiliger Spuren untereinander (die »liaison mutuelle des traces« (165)) im Vordergrund. Sie trägt das Funktionieren des Gedächtnisses ebenso wie die Habitualisierung von Handlungsabläufen und wird somit zu einem entscheidenden Faktor »d’une infinité d’autres choses de plus grande conséquence dans la morale, dans la politique et généralement dans toutes les sciences« (166). Damit aber gewinnen Prozesse, die durchaus »par machine« (155) ablaufen, und im Vorzeichen einer Ordnung stehen, die als »la structure de leur corps« (158) bezeichnet wird, einen massiven Zugriff auf die kulturelle Organisation des menschlichen Zusammenlebens. Ihre heute interessanteste Dimension aber gewinnen die Ausführungen Malebranches, wenn er die determinierenden Faktoren des menschlichen Lebens in Form einer quasi genetischen Disposition als »traces naturelles« fasst und gegen die »traces acquises« absetzt.16 Nicht nur, dass die »traces naturelles« unauslöschbar dem Menschen zugehören, sich auf seine Kinder vererben und in ihrer Grundform unverändert sind, sie bilden auch »secrètes alliances avec les autres parties du corps« (187) und verstärken vor allem dadurch das von Malebranche durchaus getragene Bild vom Menschen als einem gleichsam selbstlaufenden Funktionszusammenhang. Natürlich gibt es theoretische Gegenwehr in Form der intakt bleibenden metaphysischen Rückversicherung. Unmittelbar unterliegen aber auch die »traces acquises« zumindest teilweise dem menschlichen Willen, vor allem aber einer Art Selbstheilungseffekt des menschlichen Organismus: »On peut comparer ces traces aux plaies ordinaires du corps; ce sont des blessures que notre cerveau a reçues, lesquelles se referment d’elles-mêmes, comme les autres plaies, par la construction admirable de la machine.« (188) Ihre höchste Komplexität gewinnt die benannte »machine« freilich erst im Zusammenspiel von »traces naturelles« und »traces acquises«: Im Zusammenspiel von konstitutiven Charakterdispositionen mit der Prägkraft, die von Angst und Schrecken nicht weniger als von Attacken der Wollust und anderen heftigen Empfindungen auszugehen vermag, zeichnet sich ein Vorgriff auf jenen Konnex ab, den man in unserem Jahrhundert als »Triebschicksal«17 bezeichnen wird, dessen Konzeption aber im 18. Jahrhundert, insbesondere bei Moritz, bereits seinen historischen Ort hat.
16. Malebranche, op. cit., S. 186–192. 17. Cf. Freud, Sigmund, »Triebe und Triebschicksal«, in: ders., Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, 18 Bde., Freud, A. u.a. (eds.), London / Frankfurt 1940–1968, Bd. 10, S. 210–232.
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Eine zeitliche Tiefendimension profiliert auch die Theorie der Seele, wie sie Condillac (1714–1780) verfolgt, ohne dass er deswegen in unmittelbarer Kontinuität mit Malebranche zu sehen wäre. Nicht an Descartes und Malebranche wollen die Aufklärer, zu denen Condillac im weiteren Sinn zu rechnen ist, anknüpfen, sondern — wie Voltaire (1694–1778) mit einem vielzitierten Wort bezeugt hat — an Locke: »Tant de raisonneurs ayant fait le roman de l’âme, un sage est venu, qui en a fait modestement l’histoire. Locke a développé à l’homme la raison humaine, comme un excellent Anatomiste explique les ressorts du corps humain.«18 Dieser Rekurs auf Locke charakterisiert in besonderem Masse Condillac und seine Theorie der Empfindungen. Erkenntnistheoretisch, so Ernst Cassirer, besteht der Grundantrieb der Aufklärung in dem Bemühen, das in Malebranches Philosophie hervortretende Skandalon des Cartesianismus, dass nämlich zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Seele und Körper, zwischen Erkenntnis und Wirklichkeit nur durch eine ihnen äussere Instanz, Gott nämlich, vermittelt werden kann, zu überwinden, das Problem der Erkenntnis auf den Boden der Erfahrung zu holen und mit Hilfe neuer Ansätze zu lösen.19 Vor diesem Hintergrund wird der enorme Erfolg, auf den Locke im frühen 18. Jahrhundert stösst, insofern verständlich, als sein Werk eine Antwort auf dieses die Epoche bewegende Problem darzustellen scheint. Die empiristische Antwort Lockes noch zu verschärfen, vermeintliche Lücken in seinem System zu schliessen und eine vollkommene Ableitung der seelisch-geistigen Funktionen aus den sukzessiv angereicherten Daten sinnenhafter Empfindungen zu gewinnen, das war das Ziel Condillacs. Bekanntlich hatte Locke lediglich die einfachen geistigen Tätigkeiten (»sensations«) unmittelbar aus der Erfahrung gewonnen, die komplexeren geistigen Operationen (»reflexions«) aber unter Zuhilfenahme von dem menschlichen Verstand inhärenten Regulationsmechanismen erklärt. Condillacs Lebenswerk gilt nun dem Ziel, diese Dissoziierung in eine äussere und eine innere Erfahrungsquelle zu überwinden und ein einziges Prinzip als Erklärungsgrund aller geistig-seelischen Operationen durchzusetzen.20 Condillac verhilft bei seinem Bestreben, dieses Ziel zu erreichen, dem im 18. Jahrhundert durchaus geläufigen Bild der Statue, die pygmalionhaft zum Leben erweckt wird, zu besonderem Ruhm. Seine Hauptthese nämlich, dass alle Formen von Empfindungs- und Bewusstseinstätigkeiten ausschliesslich aus den Sinnen zu erklären seien, demonstriert er, indem er diese gewissermassen in Schlaf und Bewusstlosigkeit sich befindende Statue der Reihe nach einzelnen Sinneserfahrungen aussetzt und solcherart ihre sukzessive Belebung entwickelt. Die Demonstration beginnt mit dem einfachsten Sinn, dem Geruchssinn, dem allein über die von ihm ausgelösten Effekte schon die Fähigkeit zugesprochen wird, die Statue von der Wahrnehmung über Gedächtnis und Imagination bis hin zur Urteilsfähigkeit keimhaft mit allen geistigen Vermögen auszustatten. Die lückenlose Kette, die dabei argumentativ erstellt wird, folgt einem geradezu schlichten additiven Verfahren: Wahrnehmungen (»perceptions«) sind von verschiedener Intensität und rufen insofern Aufmerksamkeit (»attention«) hervor; aus dem
18. Voltaire, Lettres philosophiques ou Lettres anglaises, Paris 1964, S. 63 (13. Brief). 19. Cassirer, Ernst, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 31973, S. 128 f. 20. Siehe: Condillac, Etienne de, Extrait raisonné du Traite des sensations, in: ders., Œuvres complètes, 16 Bde., Paris 1821–1822, Reprint Genf 1970, Bd. III, S. 3–36.
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Unterschied zwischen der Aufmerksamkeit, die einer aktualen und einer schon vergangenen Empfindung gilt, entwickelt sich das Gedächtnis (»mémoire«); das bildhaft aktivierte Gedächtnis wiederum führt zur Einbildungskraft (»imagination«) usw. bis hin zur Ausstattung der Statue mit abstraktem Urteilsvermögen und Affekten.21 Interessanter und vor allem für die hier verfolgte Fragestellung folgenreicher als die im einzelnen durchaus konstruiert wirkende Anreicherung der Statue ist aber — mit einer Wendung Cassirers gesprochen — der Anspruch Condillacs, »die Tendenz dieses Werdens sichtbar werden zu lassen und in seine eigentlichen Triebfedern eindringen zu wollen«,22 also die Frage zu verfolgen, was eigentlich der behaupteten sensualistischen Organisation von Empfindung und Bewusstsein — psychodynamisch gesehen — zugrunde liegt. Zur Beantwortung dieser auch von ihm selbst als entscheidend angesehenen Frage greift Condillac noch einmal auf Locke zurück. Hatte Locke mit dem Begriff »uneasiness« die Kraft bezeichnet, die die Seele dazu antreibt, bestehende Zustände zu verlassen und neue zu suchen, die also den Impuls des menschlichen Wollens zu erklären geeignet sein soll,23 so hat für Condillac das Konzept der »inquiétude« eine analoge, aber noch umfassender angelegte Funktion zu übernehmen. Mit ihr wird nicht nur der Ausgangspunkt für das Wollen und Handeln, sondern auch für das Begehren und Wünschen, vor allem auch für das Empfinden und Wahrnehmen, für das Denken und Urteilen bezeichnet, für all die Operationen der Seele also, die sich aus den Sinnesempfindungen (»sensations«) zwar speisen, deren Organisation und sukzessiver Aufbau über sie allein aber nicht zu erklären ist: Si l’homme n’avait aucun intérêt à s’occuper de ses sensations, les impressions que les objets feraient sur lui passeraient comme des ombres, et ne laisseraient point de traces. Après plusieurs années, il serait comme le premier instant, sans avoir acquis aucune connaissance, et sans avoir d’autres facultés que le sentiment. […] Il restait donc à démontrer que cette inquiétude est le premier principe qui nous donne les habitudes de toucher, de voir, d’entendre, de sentir, de goûter, de comparer, de juger, de réfléchir, de désirer, d’aimer, de haïr, de craindre, d’espérer, de vouloir; que c’est par elle, en un mot, que naissent toutes les habitudes de l’âme et du corps.24
Condillac erhebt also die Bedürfnisse, letztlich Lust und Unlust, zu den die »habitudes de l’âme et du corps« strukturierenden Antriebsquellen. Er gibt damit der schon im 17. Jahrhundert durchaus lebendigen Beschäftigung mit Affekten und Leidenschaften eine neue Wendung. Gilt im 17. Jahrhundert — selbst in der moralistischen Einsicht in die Bedeutung der Leidenschaften — generell noch eine normative Ordnung, derzufolge Affekte und Leidenschaften als »perturbationes animi« nur eine mittelbare und eben deviatorische Beziehung zum durch Denken und Bewusstsein bestimmten Wesen der Seele haben (sollten), so schreibt Condillac mit seiner
21. Condillac, op. cit., S. 12–17 und ders., Traite de sensations, in: Œuvres complètes, op. cit., S. 37–501, passim. 22. Cassirer, op. cit., S. 135. 23. Locke, op. cit., Bd. 1, S. 206–217, hier: S. 207: »To return, then, to the inquiry, What is it that determines the will in regard to our actions? And that, upon second thoughts, I am apt to imagine is not, as generally supposed, the greater good in view, but some (and for the most part the most pressing) uneasiness a man is at present under.« (Hervorh. i. Orig.) 24. Condillac, op. cit., S. 7 f.
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Theorie der »inquiétude« sich kraftvoll und systematisch in die im 18. Jahrhundert omnipräsente Aufwertung der Leidenschaften ein. Das ›Lob der Leidenschaften‹ durchzieht das 18. Jahrhundert. Voltaire nimmt Gott selbst zum Zeugen, wenn er in seinem Traité de métaphysique schreibt: »C’est avec ce ressort que Dieu a animé et embelli la nature: les passions sont les roues qui font aller toutes les machines.«25 Kündigt sich eine solche Tendenz zur Aufwertung der Leidenschaften in Condillacs Theorie der »inquiétude« an, so bleibt sein Gesamtkonzept doch bestimmt durch Operationen, die als »konsequenter Empfindungsmonismus« und als »erkenntnistheoretischer Monismus«26 bezeichnet worden sind. Ist dieser Monismus auch vorderhand darauf gerichtet, eine Überwindung von Descartes und Malebranche zu ermöglichen, so liegt ihm doch auch eine Auseinandersetzung mit Lockes Unterscheidung von sensation und reflexion zugrunde. Der Umstand, dass der Vater des Empirismus die höheren Operationen des Denkens nicht allein aus Wahrnehmung und Erfahrung abgeleitet, sondern die Reflexion als zweite eigenständige Erkenntnisquelle angesehen hatte, war wie für die Materialisten so auch für Condillac eine ständige Herausforderung gewesen, auf die dieser mit dem benannten Empfindungsmonismus die bedeutendste Antwort seiner Zeit gegeben hat. Interessanterweise ist es aber das ›surplus‹ seines Gedankengebäudes, die Theorie der ›inquiétude‹ gewesen, die die aussichtsreichsten Anknüpfungen, Fortführungen und Variierungen erfahren hat. Unter dieser Vorgabe ist hier Maine de Birans (1766–1824) Beitrag zu unserem Thema kurz zu skizzieren. Das generelle Interesse an Maine de Biran wird heute auf dem Umstand beruhen, dass er seinerseits die Trennung der Substanzen, wie sie aus der Tradition überliefert war, zu überwinden trachtete, zugleich aber den Monismus Condillacs als eine Sackgasse erkannte. Maine de Biran, von Dilthey als »der hervorragendste psychologische Analytiker Frankreichs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts« bezeichnet,27 ist ganz darauf konzentriert, Descartes’ substantialistische Vorentscheidung zu unterlaufen, die Lehren von Empirismus und Sensualismus sich zu eigen zu machen und doch die ihm evidente Einzigartigkeit und Irreduzibilität des menschlichen Welt-Verhältnisses zur Geltung zu bringen. Dies zu erreichen, vollzieht er, als Kern seiner Theorie, die Hypostasierung eines »fait primitif«, einer Urtatsache, in der sich ihm das Wesen des Menschen enthüllt. Maine de Birans Theorie lässt sich am besten wohl dadurch erläutern, dass man sein Verständnis dieses »fait primitif« zu explizieren unternimmt. Grundlegend für die Konzeption des »fait primitif« ist, dass Maine de Biran programmatisch die Absetzung von Descartes formuliert, indem er dessen metaphysisch fundierte Selbstversicherung des Menschen im Denken durch den entschiedenen Rekurs auf einen Modus der Selbsterfahrung ablöst. An zentraler Stelle seines Werks heisst es: Si Descartes crut poser le premier principe de toute science, la première vérité évidente par ellemême, en disant: je pense, donc je suis (chose ou substance pensante), nous dirons mieux, d’une
25. Voltaire, op. cit., S. 195. 26. Ewald, Oskar, Die französische Aufklärungsphilosophie (Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen. 25, Abt.6, 3), München 1924. 27. Dilthey, Wilhelm, zitiert nach Gerhard Funke, Einführung, in: Maine de Biran, Tagebuch (Philosophische Bibliothek. 296), Weith, O. (ed.), Hamburg 1977, S. XII-XLVIII, hier S. XXIX.
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manière plus déterminée, et cette fois avec l’évidence irrécusable du sens intime: j’agis, je veux ou je pense l’action, donc je me sais cause, donc je suis ou j’existe réellement à titre de cause ou de force. C’est sous ce rapport, très précisément, que ma pensée intérieure est l’expression ou la conception et la production de mon existence réelle, en même temps que la manifestation première et l’enfantement du moi, qui naît pour lui-même en commençant à se connaître.28
An die Stelle von Descartes’ ›cogito ergo sum‹ setzt Maine de Biran mit vergleichbarer Emphase sein ›volo ergo sum‹. Entscheidend ist, dass damit ein Fundierungsprinzip gefunden sein soll, über das der Mensch nicht kraft eines abstrakten Vermögens, sondern einer je erfahrbaren Phänomenalität identifizierbar wird. Der Mensch erfährt sich in seinem Wollen und seinem Handeln und wird sich so seiner selbst gewiss. Mit der Qualität der Evidenz wird nun der »sens intérieur« — eine innere Erfahrung — ausgestattet, die aus dem im »fait primitif« sich realisierenden Wollen und aus dem sich seiner selbst bewusst werdenden Ich speist. Verschärft wird die Kontur, die das Wollen und die Aktivität trägt, noch dadurch, dass Maine de Biran sie an einen Widerstand knüpft, gegen den sie sich jeweils durchzusetzen hat. Alles Wollen ist an einen solchen Widerstand — im Körper des Handelnden oder in der Aussenwelt situiert — gebunden, so dass Wollen und Handeln immer auch von einer ›continuatio resistentis‹ mitgeprägt sind. Der »Gegensatz von Kraft und Widerstand«,29 der damit in das Zentrum von Maine de Birans Theorie tritt, weist den Willen nicht nur als Motor des Lebens, sondern auch als Schlüssel für den Zugang des Menschen zu sich selbst aus. Der Mensch erfährt sich, indem er sich seines — das Leben überhaupt konstituierenden — Willens, der bejahend oder verneinend, billigend oder ablehnend sein kann, immer aber unhintergehbar ist, vergewissert. Diese Willensaktivität kann sich dabei nur über den Organismus äussern und ist doch mit diesem Organismus offensichtlich nicht identisch. Deutlich wird in dieser Konzeption des Willens schon, dass Maine de Biran seine Theorie des »fait primitif« nicht nur gegen Descartes’ Zweisubstanzenlehre formuliert, sondern mit ihr auch Condillacs monistischen Sensualismus hinter sich lässt. Saint-Lambert (1716–1803) hatte für den Sensualismus die treffende Formel gefunden: »l’homme est une masse organisée et sensible; il reçoit l’intelligence de ce qui l’environne et de ses besoins.«30 Angesichts dieser Wendung mag deutlich werden, wie entschieden mit Maine de Biran schon das Zentrum der Argumentation und des Interesses, von dem diese Bestimmung des Sensualismus zeugt, verschoben ist. Die im Sensualismus vorherrschende These, dass das Ich auf ein Bündel von Empfindungen zurückzuführen und konsequenterweise auch den niedrigsten organischen Einheiten die Qualität des Ich zuzuschreiben sei, wird von Maine de Biran entschieden zurückgewiesen:
28. Maine de Biran, Nouveaux essais d’anthropologie ou de la science de l’homme intérieur, in: ders., Œuvres, 18 Bde., Azouvi, F. / Bärtschi, B. / Gouhier, H. / Romeyer-Dherbey, G. (eds.), Paris 1987–1998, Bd. X, 2: Dernière Philosophie — Existence et Anthropologie, Bärtschi, B. (ed.), Paris 1989, S. 1–208, hier: S. 77. 29. Funke, Gerhard, Maine de Biran. Philosophisches und politisches Denken zwischen Ancien Régime und Bürgerkönigtum in Frankreich, Bonn 1947, S. 116. 30. Zitiert nach Funke, op. cit., S. 111.
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Roland Galle Nos philosophes […] ne veulent reconnaître que des assemblages de sensations […]. Personne n’a songé à prendre ce mot substance dans le sens purement expérimental ou réfléchi.31
Resultat der Analyse des »fait primitif« ist gerade, dass das Ich nicht auf eine Agglomerierung von Empfindungen zurückzuführen ist. Indem Maine de Biran ohne Scheu vor einem inneren Widerspruch den Begriff einer ›experimentellen Substanz‹ ins Spiel bringt, macht er deutlich, wie viel ihm — unter Beibehaltung empiristisch gesicherter Verfahren — daran liegt, traditionale Konzepte der Ich-Vergewisserung in das neue psychologisch fundierte Bild des Menschen einzubringen. So spricht er nicht ohne Emphase von »l’unité indivisible du moi: l’identité de la personne.«32 In den Mittelpunkt von Maine de Birans Interesse rückt der Mensch als ein handelndes Wesen, das sich in der Konfrontation mit dem Widerstand, auf welchen es stösst, in seiner Einzigartigkeit erfährt. So sehr der Mensch von der sinnlichen Welt abhängig sein mag, indem er sich handelnd seiner selbst gewiss wird, im »fait primitif« also, hebt er sich über diese Welt doch auch hinaus. Dies geschieht schon durch den Modus der Ich-Erfahrung, der ihm im »fait primitif« zugänglich wird. Indem solchermassen der Mensch über die im Handeln gewonnene Selbst-Erfahrung bestimmt wird und indem aus dieser Konstellation die oben zitierte »production de mon existence réelle« auch als »manifestation première et l’enfantement du moi«33 aufgezeigt werden kann, leistete Maine de Biran eine Grundlegung der Psychologie, die dieser, gerade weil sie fern von allen wissenschaftstheoretischen Ideologemen angesiedelt ist, eine bis heute fortdauernde Aktualität verleiht.
Deutschland: Von Leibniz zu Kant Blickt man von Maine de Biran und seinen auf die Lebensphilosophie und auch die moderne Anthropologie vorausweisenden Positionen auf die Anfänge der Psychologie in Deutschland zurück, so zeichnet sich besonders klar ab, wie sehr deren Grundlegung im Spannungsfeld von Cartesianismus und Empirismus sich vollzogen hat. Die metaphysisch gesicherte Autarkie der Seele auf der einen, die Sogkraft der neuen Wissenschaften auch für die Bestimmungen des Psychischen auf der anderen Seite, dies sind die beiden grossen Kraftfelder, die die Arbeit an der Psychologie im Deutschland des 18. Jahrhunderts bestimmen. Sicher ist es so, dass die ›psychologia empirica‹, die ›Erfahrungsseelenkunde‹, die ›Experimental-Seelenlehre‹, die Lehre
31. Maine de Biran, op. cit., Bd. III, S. 202. 32. Maine de Biran, op. cit., Bd. IX, S. 37. Bernard Bärtschi merkt zu dieser Stelle an: »Cela implique aussi selon Biran que le moi ne peut être réduit à la sensibilité, car il a une unité que celle-ci ne peut ni posséder ni engendrer […]. On voit donc que la conception biranienne du moi veut se garder de deux écueils, qui sont autant de positions extrêmes: si le moi n’est pas une chose substantielle, il ne s’ensuit pas qu’il soit un faisceau de sensations, c’est-à-dire un agrégat de modes; prétendre l’un ou l’autre, c’est manquer la leçon du fait primitif qui nous apprend que la relation statique de mode à substance n’est pas une donnée de la conscience, laquelle appréhende un acte, c’est-à-dire un processus un qui s’étend dans le temps, qui dure.« (Bärtschi, B., Les Rapports de l’âme et du corps. Descartes, Diderot et Maine de Biran, Paris 1992, S. 142) 33. Siehe Anm. 28.
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der philosophischen Ärzte und vergleichbare Aneignungen unseres Gegenstandes, wie sie das 18. Jahrhundert dominieren, ein Übergewicht wissenschaftlicher Sicherstellung des Seelischen und vor allem dessen Konditioniertheit durch die Aussenwelt erkennen lassen. Leibniz (1646–1716) und Kant (1724–1804) als die wuchtigen Eckpfeiler der das ganze Jahrhundert über intensiv geführten Diskussion stehen aber dafür ein, dass das Wissen um die Autonomie der Seele und des Bewusstseins nie ganz verschwindet. Man hat Leibnizens Monadologie (1714) als den gross angelegten Versuch charakterisiert, die Eigengesetzlichkeit der Seele gegen den universalen Geltungsanspruch des kausalmechanischen Denkens, wie es die modernen Naturwissenschaften beherrscht, zu verteidigen.34 Die Monadentheorie bietet für eine solche These in der Tat ausgezeichnete Argumente. Im Verständnis von Leibniz ist die Monade — und mit ihr die Seele — bestimmbar als ein unausgedehnter substantieller Punkt, als ein Kraftatom, das nicht nur den Menschen und höheren Lebewesen, sondern allen Erscheinungsformen der Welt, insofern als sie zusammengesetzt sind, zugrunde liegt. Es gibt eine Hierarchie der Monaden je nach der Ausdifferenzierung ihrer Qualitäten. Besonders hervorzuheben sind ihre Fensterlosigkeit, die sie autark und von allen anderen Monaden sowie der Welt unbeeinflussbar macht, ihre vis repraesentativa, welche die Kraft bedeutet, wie ein lebendiger Spiegel das Universum gemäss ihrem Gesichtspunkt vorzustellen und das Vermögen, der so vorgestellten Welt zum Ausdruck zu verhelfen: »anima vel Entelechia exprimat et suum corpus et per ipsum alia omnia«.35 Mit diesen Qualitäten, die man als Individualität, Vorstellungskraft und entelechiehafte Dynamik rubrizieren kann, führt Leibniz jedenfalls zu einer nicht dualistischen Ebenenunterscheidung zwischen der Welt der Monaden und der Körperwelt. Die Welt der Monaden wird nicht nur eindeutig abgetrennt, sondern auch ontologisch der Körperwelt vorgeordnet. Die Pointe für unsere Fragestellung liegt darin, dass Leibniz den im 17. Jahrhundert wissenschaftlich erschlossenen und unabweisbar gewordenen Gesetzen der Kausalität den angestrebten umfassenden Geltungsanspruch konzediert, ineins mit seiner Monadenlehre aber eine eigene Wirklichkeit setzt, die gegen diesen Geltungsanspruch abgeschirmt ist. Wir haben es also mit zwei hierarchisch gestaffelten Ebenen zu tun. Als grundlegend wird die auf dem Prinzip eigensetzlicher Selbsttätigkeit beruhende Welt der Monaden betrachtet, die selbstredend eine geistig-seelische Welt ist; ontologisch nachgeordnet ist die Welt der phänomenalen Erscheinungsformen, die durch Ausgedehntheit und Zusammengesetztheit bestimmt ist und den Gesetzen der Kausalität unterliegt. Die Seele, in diesem Sinne identifiziert als »fons et fundus idearum ejusdem corporis diversarum, praescripta lege nasciturarum«,36 ist damit von Leibniz, einmal noch, von den Gesetzen der Empirie und Kausalität freigestellt und als ungehemmte Erzeugung eines geistigen und individuellen Prinzips der Körperwelt und den sie dirigierenden Kausalitäts-
34. Siehe hierzu v.a.: Engfer, H. J., »Von der leibnizschen Monadologie zur empirischen Psychologie Wolffs«, in: il cannochiale II-III, 1989, S. 193–215; ders., »Konzeption des Psychischen und der Psychologie zwischen Leibniz und Wolff«, in: Jüttemann, G. (ed.), Wegbereiter der Historischen Psychologie, München / Weinheim 1988, S. 23–27. 35. Brief an B. de Volder, 20.6.1703, in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, Gerhardt, C. J. (ed.), 7 Bde., Bd. 2, Berlin 1879, Reprint Hildesheim 1960, S. 253. 36. Brief an B. de Volder, 24.3. / 3.4.1698, in: Die philosophischen Schriften, op. cit., S. 172.
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gesetzen übergeordnet. Insofern vermochte Leibniz im Bereich der Monadenwelt am teleologischen Begriff des Strebens nach dem Besten festzuhalten und gleichzeitig einen ontologisch abgewerteten Bereich — den der Körperwelt — einzuräumen, in dem den mechanischen Gesetzen Rechnung getragen wurde. Eben diese ontologische Sonderstellung der Monade und also der Seele unterminiert schon Christian Wolff (1679–1754), häufig als der Vater der Psychologie in Deutschland betrachtet. Ist seine notorische Zweiteilung in eine ›psychologia rationalis‹ und eine ›psychologia empirica‹ auch lange Zeit als Fortschreibung von Leibnizens Unterscheidung zwischen einer metaphysisch fundierten und einer phänomenalen Wirklichkeit gelesen worden, wie ja überhaupt Wolff gemeinhin lediglich als Popularisierer von Leibniz verstanden worden ist, so wird in den schon angeführten Arbeiten von Engfer überzeugend aufgewiesen, dass Wolff mit seinem umfangreichen Werk bereits eine Abkehr von der Leibnizschen Vorrangstellung des monadologischen Seelenbegriffs einleitet und über den Zwischenschritt einer Reprise des cartesianischen Dualismus einer Gleichbehandlung von Körper und Seele den Weg bereitet. Letztlich wird damit die Sonderstellung, die Leibniz für die Seele sichergestellt hatte, in Frage gestellt. Wolff kehrt das von Leibniz vorgegebene Fundierungsverhältnis um, indem er das zuvor in der empirischen Psychologie Gefundene über Grundbestimmungen der ›psychologia rationalis‹ ontologisch absichert. So heisst es im Discursus Praeliminaris an entscheidender Stelle: »In Psychologia rationali ex unico animae humanae conceptu derivamus a priori omnia, quae eidem competere a posteriori observantur […]«.37 Der so thematisierten Sequenz entspricht auch der Aufbau der Deutschen Metaphysik (1719). Ganz zum Schluss findet sich die für Wolff (vorab allerdings schon mehrfach umspielte) zentrale Wesensbestimmung der Seele: »Das Wesen der Seele bestehet in der Kraft die Welt vorzustellen, nach dem Stande ihres Leibes in der Welt, und denen daher in den Gliedmassen der Sinnen sich ereignenden Veränderungen.«38 Entscheidend also sind die vis repraesentativa universi und die Einschränkungen dieser Kraft, die — als Veränderungen sich manifestierend — ihren Grund in der leiblichen Bindung der Seele haben. Diese die rationale Psychologie abschliessende Bestimmung aber ist das Ergebnis — und damit fundamental unterschieden von einem Kantischen Apriori — all der Feststellungen und Beobachtungen, mit denen das Kapitel Von der Seele überhaupt, was wir nehmlich von ihr wahrnehmen, programmatisch einsetzt: Ich verlange hier noch nicht zu zeigen was die Seele ist, und wie die Veränderungen sich in ihr ereignen, sondern mein Vorhaben ist jetzund bloss zu erzehlen, was wir durch die tägliche Erfahrung von ihr wahrnehmen. Und will ich hier weiter nichts anführen, als was ein jeder erkennen kann, der auf sich acht hat. Dieses wird uns zum Grunde dienen anderes daraus herzuleiten, was nicht ein jeder sogleich vor sich sehen kann. Nehmlich wir wollen von demjenigen, was wir von der Seele wahrnehmen, deutliche Begriffe suchen, und hin und wieder einige wichtige Wahrheiten anmercken, die sich daraus erweisen lassen. Und diese Wahrheiten, die durch untrügliche Erfahrungen bestätiget werden, sind der Grund von den Regeln, darnach
37. Wolff, Ch., Discursus Praeliminaris de Philosophie in Genere = Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen, Hinske, N. (ed.), Stuttgart 1996, § 112, S. 122. 38. Wolff, Vernünfftige Gedanken von Gott, op. cit., § 1077, S. 665.
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die Kräfte der Seele sowohl in Erkäntniss, als im Wollen und nicht Wollen dirigiret werden, folgends von der Logick, Moral und Politick.39
Ersichtlich wird der Nachdruck in der Darlegung auf ein durchaus in Nähe zum Empirismus stehendes Verfahren gelegt. Im Vordergrund steht die Seele, soweit sie sich über »tägliche Erfahrung« erschliesst. Abstrahierende Schritte und die Einsicht in die »Regeln« des Seelenlebens — näherhin handelt es sich in hierarchisch aufsteigender Linie um die lex sensationum, die lex imaginationis und die lex ratiocinandi sowie in Bezug auf das praktische Handeln um die lex appetitus und die lex aversationis40 — sind aus einer kontrollierten Verarbeitung dieser Erfahrung abgeleitet. Die aufgedeckten Gesetze des Seelenlebens werden jedenfalls aus der Selbstbeobachtung gewonnen, und wie die mechanischen Gesetze in der Physik die Veränderungen in der Natur erklären, so dienen die benannten Gesetze dazu, die Veränderungen der Vorstellungen — also den Gegenstand des Seelenlebens — in einer ununterbrochenen Kette zu rekonstruieren. Die solchermassen grundlegend (und in gewisser Weise auch als vorrangig) eingeführte empirische Psychologie wird denn auch im Discursus explizit an die Erfahrungswissenschaften rückgebunden: »Definio adeo Psychologiam empiricam, quod sit scientia stabiliendi principia per experientiam, unde ratio redditur eorum, quae in anima humana fiunt.«41 In den Vordergrund der Fragerichtung und auch des theoretischen Interesses rückt somit die Seele als ein Gegenstand, der wie der Körper systematisch untersuchbar ist. Insofern wird die Psychologie zu einer der Physik vergleichbaren Disziplin und generell als eine Wissenschaft begriffen, die auf der Erfahrung gründet. Damit ist dann die Voraussetzung für die Entwicklung geschaffen, die die Psychologie im Deutschland des 18. Jahrhunderts nimmt. Diese Psychologie firmiert unter einigen berühmt gewordenen Bezeichnungen wie etwa ›Erfahrungsseelenkunde‹, ›empirische Seelenlehre‹, ›physiologische Psychologie‹ und auch ›Anthropologie‹. Für die Ausprägung dieser Wissenschaften — genereller könnte man auch von Untersuchungsfeldern sprechen — hat Wolff die Richtung vorgegeben. Zusätzliche Einflüsse kommen von aussen: Aus England wirkt der Empirismus Lockescher Prägung und die Assoziationspsychologie, aus Frankreich der Sensualismus und — wenn auch als Skandalon — der Materialismus eines La Mettrie (1709–1751). Zumindest als Substanzmonismus übt er eine erhebliche Faszination aus, ohne aber eine durchschlagende Wirkung zu erlangen. Festzuhalten ist, dass die empirische Psychologie der zweiten Jahrhunderthälfte vorderhand eine Bewusstseinspsychologie ist. Ihre Besonderheit liegt zunächst darin, dass sie sich als Disziplin zunehmend aus der Metaphysik emanzipiert und zu einer philosophischen Grundwissenschaft wird, der die Doppelaufgabe gestellt ist, die Vermögen zu strukturieren, welche die seelische Aktivität ausmachen und die Gesetze zu erstellen, denen diese Vermögen unterliegen. In den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückt dabei der ›innere Sinn‹ (sensus interior / internus) mit seiner ihm für das Seelenleben zukommenden Integrationsfunktion. Die traditionsreiche Kategorie fungierte seit der scholastischen Seelenlehre — komplementär zu den fünf äusseren Sinnen — als Sammelbe-
39. Vernünfftige Gedanken von Gott, op. cit., § 191, S. 106 f. 40. Wolff, Gesammelte Werke, op. cit., II. Abt., Bd. 5: Psychologia Empirica, École, J. (ed.), Hildesheim 1968, § 84 f., S. 49 f.; § 116 f., S. 75 f.; § 373f, S. 279–281; § 903 f., S. 683; § 906 f., S. 684. 41. Discursus Praeliminaris de Philosophia in Genere, § 111, op. cit., S. 120.
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griff für imaginatio, sensus communis und memoria, wird im Zuge der empirischen Psychologie aber zunehmend zu dem zuerst immateriell und dann auch materiell gedachten Organ, vermittels dessen das Ich die eigenen seelischen Zustände auffasst. Selbst unter dem noch fortbestehenden Primat der Bewusstseinspsychologie wird die Insistenz auf dem ›inneren Sinn‹ zum Indiz eines bedeutenden Wandels: Indem man nämlich behauptet, dass die Zustände der Innenwelt einen ›inneren Sinn‹ affizieren müssen, um Bewusstseinszustände zu werden — ganz wie die Aussenwelt die äusseren Sinne affizieren muss, um Wahrnehmungen hervorzurufen — ist ein weiterer entscheidender Schritt zur Physiologisierung der Psychologie getan. Besondere Bedeutung für die Auflösung der rationalistischen Schulphilosophie und des ihr korrespondierenden Seelenkonzepts hat die Aufwertung der ›dunklen Begriffe‹ des menschlichen Erkenntnisvermögens, der perceptiones obscurae, welche nun — als ›sensibilité physique‹ — im allgemeinen Triumph der Empfindsamkeit eine grosse Karriere erfahren. Werden diese perceptiones obscurae von altersher als Bestandteil der Seele geführt, so kommt es im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu einer folgenschweren Umbildung dadurch, dass die überkommene Hierarchie, derzufolge die vis repraesentativa eine Steuerungsfunktion hat und die dunklen Begriffe den klaren und distinkten eindeutig nach- und untergeordnet sind, aufgehoben wird. Einen paradigmatischen Stellenwert für diesen Prozess der Umbildung hat Johann Georg Sulzer (1720–1779). Sulzers Werk kann als Vorgriff auf die Positionen gelesen werden, die in den siebziger und achtziger Jahren dann von Tetens (1736–1807) und Herder (1744–1803), von Meiners (1747–1810) und Tiedemann (1748–1803), von Abel (1751–1829) und Moritz (1756–1793) auf breiter Front vertreten worden sind.42 Ihr Fundament haben die in unterschiedliche Disziplinen ausgreifenden Thesen Sulzers in einer emphatischen Aufwertung der Empfindungskraft, entfaltet in einer Abhandlung aus dem Jahre 1763, unter dem signifikanten Titel Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen, und des Vermögens zu empfinden, sich befindet.43 Die Pointe des Titels liegt darin, dass die Seele nicht mehr unter dem Primat der vis repraesentativa gefasst wird, dass der traditionelle Monismus der Vorstellungskraft durch einen Dualismus abgelöst und dadurch eine Disjunktion eröffnet wird, die ihrerseits zur Einlasspforte für eine neue Theorie der Empfindungen wird. Es vollzieht sich durch diese Gleichstellung von Vorstellungsvermögen und Empfindungskraft nicht weniger als der Richtungswechsel von einer deduktiven zu einer genealogischen Psychologie. Die oberen Seelenvermögen büssen das Potential, wie selbstverständlich Regulationsprinzip seelischer Abläufe zu sein, ein und müssen den Empfindungen ein eigenes, vom »fundus animae« her aufgebautes Terrain einräumen.44 Die jeweilige Eigengesetzlichkeit der beiden sich nun herausschälenden oppositiven Vermögen wird dadurch demonstriert, dass die
42. Riedel, W., »Erkennen und Empfinden: Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer«, in: Schings, Hans-Jürgen (ed.), Der ganze Mensch: Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert (DFG-Symposion 1992), Stuttgart 1994, S. 410–439. 43. In: Sulzer, Johann Georg, Vermischte Philosophische Schriften, Leipzig 1773, Reprint Hildesheim /New York 1974, S. 225–243. 44. Siehe näherhin: Adler, Hans, »Fundus Animae — der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift 62, 1988, S. 197–220.
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Seele als vis repraesentativa vom vorgestellten Gegenstand ganz ausgefüllt und insofern selbst gleichsam zum Verschwinden gebracht ist, im Modus des Empfindens hingegen auf sich selbst zurückverwiesen ist: »Bey dem Nachdenken ist der Verstand mit der Sache beschäfftiget, die er als ausser sich betrachtet; bey der Empfindung ist die Seele bloss mit sich selbst beschäfftiget.«45 Indem aber Empfindungen als Selbstgefühle der Seele, verbunden mit dem Gefühl der Lust und Unlust, gefasst werden, stellen sie sich als substantiell mit dem Körper verquickt dar, als »Evidenzerfahrungen des commercium mentis et corporis«.46 Die einst so machtvoll errichtete Substanzentrennung kollabiert. Die lange Zeit über aufrecht erhaltene Autonomie der Seele wird aufgegeben. Die Seele erweist sich als Kräften ausgesetzt, über die sie nicht mehr verfügen kann. Die von Moritz’ Magazin der Erfahrungsseelenkunde (1783–1793) gesammelten und präsentierten pathologischen Fälle47 führen die Übermacht äusserer Einflüsse über die ehemals autonome Bastion der Seele besonders markant vor Augen. Diese äusseren Einflüsse sind körperlicher Art, sofern die hirnphysiologische Determiniertheit seelischer Prozesse (durch die Läsion von Nervensträngen etwa) zum Thema gemacht wird. Sie können aber auch gesellschaftlicher Natur sein, wenn nämlich die Sogkraft kollektiv bedingter oder vermittelter Reize dem vermeintlich freien Willen keine souveräne Entscheidungsmöglichkeit belässt. Und sie können schliesslich Reaktionsformen hervorrufen, die man als Vorgriff auf das Unbewusste betrachten kann. Wiederum führt Sulzer schon durch den Titel einer Abhandlung auf den hier interessierenden Mechanismus: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: Dass der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichere Gründe sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe handelt und urtheilt.48 Wo dies zu beobachten ist, da zeigt sich die Überlegenheit von verborgenen und unergründlichen Impulsen, die jederzeit ihre Oberhand über das Bestreben des Willens zu erweisen vermögen und die Seele damit tendenziell — eine Grundrichtung der gesamten empirischen Psychologie verdeutlichend — zum Spielball heterogener Kräfte machen. Die angesprochene Empirisierung der Psychologie beherrscht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das wissenschaftliche Bemühen um die Natur des Menschen. Theoretisch bedeutet sie eine Distanzierung von der Zweisubstanzenlehre, wie Descartes sie inauguriert und Malebranche sie in Form des Okkasionalismus, Leibniz in der Form des psychophysischen
45. Sulzer, J.G., Vermischte Philosophische Schriften, op. cit., S. 229. 46. Riedel, W., »Erkennen und Empfinden«, op. cit., S. 417. 47. Programmatisch kündigt Moritz sein Vorhaben zum Magazin folgendermassen an: »Unter allen übrigen Dingen hat der Mensch sich selber seiner eigenen Aufmerksamkeit vielleicht noch am allerwenigsten werth gehalten. Blos weil das dringendste Bedürfniss der Krankheit ihn dazu nöthigte, fing er an, seinen Körper genauer kennen zu lernen. Weil er dieses Bedürfniss bei den Krankheiten der Seele nicht so lebhaft empfand, so vernachlässigte er auch die Kenntniss dieses edelsten Teiles seiner selbst. Tausend Verbrecher sahen wir hinrichten, ohne den moralischen Schaden dieser, von dem Körper der menschlichen Gesellschaft abgesonderten Glieder unserer Untersuchung wert zu halten. Da diese doch ein ebenso wichtiger Gegenstand für den moralischen Arzt und für den nachdenkenden Philosophen, als für den Richter ist, welcher die traurige Operation veranstalten muss.« (Karl-Philipp Moritz, »Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs=Seelenkunde«, in: Deutsches Museum 1782, I, 6, S. 485–503, hier: S. 485 f. 48. Sulzer, Johann Georg, »Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes …«, in: Vermischte Philosophische Schriften, op. cit., S. 99–121.
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Parallelismus (im Zeichen der prästabilierten Harmonie) fortgeführt hatten. Man kann in diesen Theorien Dämme sehen, mit deren Hilfe in Kenntnis der modernen Naturwissenschaft die Eigenständigkeit der Seele gesichert werden sollte. Diese metaphysischen Dämme werden durch die Empirisierung der Psychologie unterspült. Was sich durchsetzt, ist die omnipräsent wirksame Influxionstheorie, derzufolge die Seele vielfältigen körperlichen Einflüssen unterliegt und umgekehrt der Körper durchaus durch die Seele in Bewegungen aller Art gesetzt werden kann.49 Vor dem Hintergrund dieses Siegeszugs des durch den influxus physicus bestimmten commercium mentis et corperis ist der Eingriff Kants in die Diskussion der Zeit zu sehen, sein harsches Diktum gegen die von ihm als »fragmentarisches Herumtappen«50 gegeisselten methodischen Unsicherheiten, denen er seine systematische Klärung in Sachen Seele, Psychologie und Anthropologie entgegenstellt. Dieser Versuch Kants steht in einem vielschichtigen Geflecht. Er betrifft die rationale Philosophie von Descartes und Leibniz ebenso wie die reine Naturwissenschaft, wie er selbst sie freigelegt hat, die empirische Psychologie seiner Zeit und auch die Transzendentalphilosophie. Hauptanliegen von Kant ist die grundlegende Unterscheidung zwischen einem transzendental und einem empirisch ausgerichteten Seelenbegriff, zwischen einem Ich der Apperzeption und einem Ich der Apprehension. Auf den ersten Blick scheint Kant damit Wolffs Unterteilung in eine ›psychologia rationalis‹ und eine ›psychologia empirica‹ fortzuschreiben. Tatsächlich aber ist Kants Ich der Apperzeption insbesondere gegen die rationale Philosophie und deren These von der Substanzqualität der Seele gerichtet. In dem einschlägigen Artikel über die Paralogismen der reinen Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft (1781) weist Kant nach, dass die für die rationale Philosophie zentrale These von der Substantialität der Seele (mit den Eigenschaften der Immaterialität, der Simplizität, der Personalität und der Unsterblichkeit) nicht haltbar ist. Die Seele als transzendentaler Ermöglichungsgrund aller Erkenntnis kann keine Substanz sein, ist gerade nicht objektivierbar und als Gegenstand von Erkenntnis jedenfalls nicht möglich. Das heisst aber nichts weniger, als dass von den beiden Formen der Wolffschen Psychologie nur mehr eine als Erkenntnisgegenstand übrigbleibt: Also fällt die ganze rationale Psychologie […] und es bleibt uns nichts übrig, als unsere Seele an dem Leitfaden der Erfahrung zu studieren und uns in den Schranken der Fragen zu halten, die nicht weiter gehen, als mögliche innere Erfahrung ihren Inhalt darlegen kann.51
Alle Psychologie, die Kant zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen für möglich hält, ist also, will man sich der herkömmlichen Terminologie bedienen, ›psychologia empirica‹. Die nun avisierte Seelenlehre, von Kant auch als »Physiologie der [sic] inneren Sinnes«52 bezeichnet,
49. Vgl. Riedel, W., »Influxus physicus und Seelenstärke. Empirische Psychologie und moralische Erzählung in der deutschen Spätaufklärung und bei Jacob Friedrich Abel«, in: Barkhoff, J. /Sagarra, E. (eds.), Anthropologie und Literatur um 1800, München 1992, S. 24–52. 50. Kant, Immanuel, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders., Werkausgabe in zwölf Bänden, Weischedel, Wilhelm (ed.), Frankfurt 1977 ff., Bd. XII, S. 395–690, hier: S. 400. 51. Kant, I., Kritik der reinen Vernunft (Philosophische Bibliothek. 37a), Schmidt, R. (ed.), Hamburg 1956, A 382, S. 411. 52. Ibid., A 381, S. 410a.
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ist aus allen Verbindungen zu dem nun als gegenstandslos erklärten substantialistischen Seelenbegriff herausgelöst und stellt sich insofern besonders konturiert als Gegenstand empirischer Untersuchungen dar. Zur Abgrenzung dieser Psychologie im Sinne Kants ist allerdings weiterhin von entscheidender Bedeutung, dass die proklamierte »empirische Seelenlehre«53 nicht den Status einer reinen Naturwissenschaft haben kann, da — vereinfachend gesagt — weder Mathematik noch Experiment in ihr anwendbar sind: Sie kann daher niemals etwas mehr als eine historische und, als solche, so viel möglich systematische Naturlehre des inneren Sinnes, d.i. eine Naturbeschreibung der Seele, aber nicht Seelenwissenschaft, ja nicht einmal psychologische Experimentallehre werden […].54
Damit aber erweist sich die ›empirische Seelenlehre‹ als Synonym der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, die Kant, als Summe seiner Menschenkenntnis, im Jahre 1798 unter diesem Titel veröffentlicht. Die Unterscheidung zwischen einer Anthropologie in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht wird in der Vorrede dieses Werks eingeführt, im weiteren aber nicht operationalisiert, da physiologische Nachweise über seelische Zusammenhänge, um die man sich von Descartes bis hin zu den Materialisten doch sehr intensiv bemüht hatte,55 »reiner Verlust«56 seien. Sie gelten als hoffnungsloses Unterfangen: »Daher die subtile und in meinen Augen auf ewig vergebliche Untersuchung über die Art, wie die Organe des Körpers mit den Gedanken in Verbindung stehen, ganz wegfällt.«57 Was bleibt, ist also die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Im Unterschied zur Anthropologie in physiologischer Hinsicht befasst
53. Kant, I., »Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft«, in: ders., Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie. Werke III (Bibliothek deutscher Klassiker. 135), Frank, M. / Zanetti, V. (eds.), Frankfurt 1996, S. 201–319, hier: S. 207. 54. Ibid., S. 208. 55. Hierher gehören die Aktivitäten der »esprits animaux«, die Wirksamkeit der »fibres du cerveau« und die Theorie über den Zusammenhang von »traces« und »mémoire«, wie wir sie oben am Beispiel von Malebranche dargestellt haben. Um die von Kant angesprochene Argumentation in ihrer materialistischen Variante zu demonstrieren, sei hier noch ein zentraler Passus aus L’homme machine angeführt: »Je concluerai seulement ce qui s’ensuit clairement de ces incontestables Observations, 1º. plus les Animaux sont farouches, moins ils ont de cerveau; 2º. que ce visère semble s’agrandir en quelque sorte, à proportion de leur docilité; 3º. qu’il y a ici une singulière condition imposée éternellement par la Nature, qui est que, plus on gagnera du côté de «Esprit», plus on perdra du côté de l’instinct. Lequel l’emporte de la perte, ou du gain? Ne croiez pas au reste que je veuille prétendre par là que le seul volume du cerveau suffise pour faire juger du degré de docilité des Animaux; il faut que la qualité réponde encore à la quantité, et que les solides et les fluides soient dans cet équilibre convenable qui fait la santé. Si l’imbécile ne manque pas de cerveau, comme on le remarque ordinairement, ce viscère péchera par une mauvaise consistance, par trop de molesse, par exemple. Il en est de même des Fous; les vices de leur cerveau ne se dérobent pas toujours à nos recherches; mais si les causes de l’imbécillité, de la folie etc. ne sont pas sensibles, où aller chercher celles de la variété de tous les Esprits? Elles échaperoient aux yeux des Linx et des Argus. Un rien, une petite fibre, quelque chose que la plus subtile Anatomie ne peut découvrir, eût fait deux Sots, d’Erasme, et de Fontenelle, qui le remarque lui-même dans un de ses meilleurs Dialogues. (Julien Offray de La Mettrie, L’homme machine — Die Maschine Mensch [Philosophische Bibliothek. 407], Becker, Claudia (ed.), Hamburg 1990, S. 44). 56. Kant, I., Anthropologie, op. cit., S. 399. 57. Brief aus dem Jahre 1773 an Marcus Herz, in: I. K., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (Philosophische Bibliothek. 44), Vorländer, R. (ed.), mit einer Einleitung von J. Kopper und einem zusätzlichen Anhang von R. Malter, Hamburg 71980, S. 317.
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sie sich nicht mit dem, »was die Natur aus dem Menschen macht«, sondern damit, »was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll.«58 Der Gegenstand einer so verstandenen empirischen Psychologie lässt sich aus dem von Kant (zur Ausgabe B) verfassten Inhaltsverzeichnis zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ablesen. Dort wird zuerst die traditionsreiche Vermögenstrias (»Erkenntnisvermögen« / «Vom Gefühl der Lust und Unlust« /«Vom Begehrungsvermögen«) abgehandelt, bis in einem zweiten Teil der Horizont auf weitergefasste Untersuchungsfelder wie Temperamentenlehre und Physiognomik, ja Geschlechtsund Gattungslehre geöffnet wird. Der Königsweg zu einer so verstandenen »Naturbeschreibung der Seele«59 liegt, nachdem allzu starke Annäherungen an naturwissenschaftlich genaue Verfahrensversuche als undurchführbar verabschiedet sind, in Formen jener »Weltkenntnis, welche auf die Schule folgen muss«,60 getragen durch kultivierte Geselligkeit, Reisen und Literatur. Kants gewichtiger Beitrag zur Geschichte der Psychologie ist insofern als eine Rückbindung der Seelenlehre an die moralistische Tradition zu lesen. Ob die Psychologie dadurch, dass sie den von Kant gewiesenen Weg nicht beschritten hat, die Einsicht in die Natur des Menschen befördert hat, das steht dahin.
Auswahlbibliographie Adler, Hans, »Fundus Animae — der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift 62, 1988, S. 197–220. Bärtschi, Bernard, Les Rapports de l’âme et du corps. Descartes, Diderot et Maine de Biran, Paris 1992. Barkhoff, J. / Sagarra, E. (eds.), Anthropologie und Literatur um 1800, München 1992. Behrens, Rudolf, »Die Spur des Körpers. Zur Kartographie des Unbewussten in der französischen Frühaufklärung«, in: Schings, Hans-Jürgen (ed.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart / Weimar 1994, S. 561–583. Engfer, H. J., »Von der leibnizschen Monadologie zur empirischen Psychologie Wolffs«, in: Il cannochiale II-III, 1989, S. 193–215. ———, »Konzeption des Psychischen und der Psychologie zwischen Leibniz und Wolff«, in: Jüttemann, G. (ed.), Wegbereiter der Historischen Psychologie, München / Weinheim 1988. Ewald, Oskar, Die französische Aufklärungsphilosophie, München 1924. Funke, Gerhard, Maine de Biran. Philosophisches und politisches Denken zwischen Ancien Régime und Bürgerkönigtum in Frankreich, Bonn 1947. Hende, Ch. W., Studies in the Philosophy of David Hume, New York / London 1983. Jüttemann, G. (ed.), Wegbereiter der Historischen Psychologie, München / Weinheim 1988. Parot, Françoise / Michelle, Marc, Introduction à la psychologie. Histoire et Methodes, Paris 1992. Riedel, W., »Erkennen und Empfinden: Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer«, in: Schings, Hans-Jürgen (ed.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1994.
58. Kant, Immanuel, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders., Werkausgabe in zwölf Bänden, Weischedel, Wilhelm (ed.), Frankfurt 1977 ff., Bd. XII, S. 395–690, hier: S. 399. 59. Kant, I., »Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft«, in: ders., Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie. Werke III, op. cit. 60. Kant, Immanuel, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders., Werkausgabe in zwölf Bänden, op. cit., Bd. XII, S. 395–690, hier: S. 399.
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———, »Influxus physicus und Seelenstärke. Empirische Psychologie und moralische Erzählung in der deutschen Spätaufklärung und bei Jacob Friedrich Abel«, in: Barkhoff, J. / Sagarra, E. (eds.), Anthropologie und Literatur um 1800, München 1992, S. 24–52. Schings, Hans-Jürgen (ed.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1994.
Historiographie und historisches Denken Michael Maurer
Als Clio noch eine Muse war Um die Mitte des 18. Jahrhunderts war Geschichte keine wissenschaftliche Disziplin, sondern eine literarische Gattung — nicht ›scientia‹, sondern ›ars‹. Dies sollte sich zwar in den folgenden Jahrzehnten ändern. Doch einstweilen stand Geschichte noch im Zusammenhang der Poetik; eine ›Historik‹ gab es noch nicht.1 Systematisch gesehen, war Geschichte eine Magd entweder der Theologie oder der Jurisprudenz. Auch innerhalb der Philosophie, der ›artes liberales‹, konstituierte sie noch kein eigenes Fach. Geschichte wurde allenfalls innerhalb des Triviums, und zwar unter den Rubriken Rhetorik und Dialektik, gelehrt — eher an protestantischen Universitäten als an katholischen, da unter dem Einfluss der Jesuiten und ihrer ›ratio studiorum‹ der Geschichte kaum Bedeutung zugemessen wurde.2 Fast überall konstituierte sich Geschichte erst im 19. Jahrhundert als eigenes Fach mit eigenen Lehrstühlen, Publikationsorganen, Forschungsinstitutionen. Erst im Zeitalter des Historismus entwickelte sie eine distinkte Methodik und strahlte mit dieser auf die Nachbardisziplinen aus. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts war Geschichte noch Literatur, dementsprechend wurde sie nach Kriterien der klassischen Rhetorik beurteilt (Cicero, Quintilian usw.).3 Was Geschichte war und wie sich grosse Geschichtsschreibung auszeichnete, wusste man im wesentlichen von den klassischen Historikern, die als Muster galten: Herodot wurde allgemein als ›Vater der Geschichte‹ angesehen; Thukydides hatte als erster Zeitgeschichte geschrieben. Polybios und Plutarch standen vermittelnd zwischen griechischer und römischer Kultur. Tacitus, Livius, Caesar und Süton setzten die Tradition bei den Römern fort.4 Wie Geschichte zu schreiben und nach welchen Kriterien die Darstellung zu beurteilen war — dafür lieferten vor allem diese grossen Historiker in eingeschobenen Reflexionen methodische Hinweise. Die europäische Geschichtsschreibung seit dem Humanismus schloss sich hier nahtlos an. Machiavelli und Guicciardini,
1. Zum Begriff vgl. Hedinger, H.-W., »Historik, ars historica«, in: Ritter, Joachim (ed.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel / Stuttgart 1974, Spalte 1132–1137. 2. Jarausch, Konrad H., »The Institutionalization of History in 18th-Century Germany«, in: Bödeker, Hans Erich et al. (eds.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, Göttingen 1986, S. 25–48. Hammer, Karl / Voss, Jürgen (eds.), Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation — Zielsetzung — Ergebnisse, Bonn 1976. 3. Vgl. Muhlack, Ulrich, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991. 4. Überblicksdarstellung: Grant, Michael, The Ancient Historians, London 1970 (dt.: Klassiker der antiken Geschichtsschreibung, München 1973).
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aber auch Montesquieu und Gibbon noch entwickelten ihre Gedanken zur Geschichte in Auseinandersetzung mit den klassischen Mustern.5 Kriterien zur Beurteilung von Geschichte waren zunächst: wahr oder falsch (bzw. ausgeschmückt, überschminkt); ob der Autor Augen- oder zumindest Ohrenzeuge glaubhafter Gewährsmänner war; parteiisch oder unparteiisch; vollständig oder einseitig; glaubwürdig oder unzuverlässig. Des weiteren konnte man dann die Präsentation beurteilen: ob einer weitschweifig oder konzis, in einfachem Stil oder in rhetorischem Ornat geschrieben habe. Man diskutierte immer wieder die klassische Streitfrage, ob man einer historischen Persönlichkeit erfundene Reden zu ihrer Charakterisierung in den Mund legen dürfe. Man urteilte über gelungene Persönlichkeitsdarstellung oder simple Schablonen. Die Vollständigkeit und Materialfülle, Auswahl und Aufbau, wirkungsvolle Inszenierung oder ungeschickte Reihung liessen sich bewerten; die Qualität der eingestreuten Reflexionen, die Beschaffenheit der Perioden, der Wohllaut der Sprache. Kurz: Historische Werke gediehen unter dem Beistand der Muse Clio. Geschichte diente auch als Fundus für Gestaltungen aller Art. Neben der wissenschaftlichen Prosa kam durchaus auch noch das feierliche Epos in Frage zur Darstellung historischer Gegenstände. Noch Voltaire (1694–1778) schrieb nicht nur Heldengeschichte in Prosa (Histoire de Charles XII, 1731), sondern auch in Versen (Henriade, 1722). Noch 1780 träumte Justus Möser vom »Plan einer Reichsgeschichte«, der man »den Gang und die Macht der Epopee« geben müsse.6 Auf der anderen Seite beeinflusste der Aufstieg des Romans als »bürgerliche Epopee«7 im Laufe des 18. Jahrhunderts die Geschichtsschreibung wiederum in anderer Weise. Denn ursprünglich verpönt als lügenhaft und unwahr, wurde der Roman respektabel, indem er sich zur ›wahren Geschichte‹ stilisierte. Der englische realistische Roman der Jahrhundertmitte suchte diese Grenze zu überschreiten; massgebliche Autoren bedienten sich nun des Begriffs der Geschichte schon im Titel ihrer Romane (Henry Fielding: The History of Tom Jones, A Foundling, 1749; Christoph Martin Wieland: Die Geschichte des Agathon, 1766 / 67; Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, 1771).8 Unter dem Einfluss der Systemphilosophie war ein wesentlicher Einwand gegen Geschichte, sie berichte nur kontingente Fakten, die philosophisch unverdaulich seien, wohingegen Romane und andere Dichtungen doch immerhin insofern philosophisch und belehrend seien, als ihre Autoren für die Logik des Berichteten, für Plan und Ausführung verantwortlich gemacht werden konnten.9 Im bürgerlichen Zeitalter wurde jedoch der Realismus normativ. Die herkömmliche Entgegensetzung von ›res
5. Dies lässt sich im einzelnen verfolgen anhand von Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung, op. cit. 6. Möser, Justus, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 4, Schirmeyer, Ludwig /Kohlschmidt, Werner (eds.), Oldenburg / Berlin 1943, S. 132 f. 7. Wezel, Johann Karl, Hermann und Ulrike, 4 Bde., Leipzig 1780, Bd. 1, S. II. 8. Auch quantitativ lässt sich dies belegen, vgl. Singer, Herbert, Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko, Köln / Graz 1963. 9. Heitmann, Klaus, »Das Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung in älterer Theorie«, in: Archiv für Kulturgeschichte 52, 1970, S. 244 ff. Koselleck, Reinhart, »Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs«, in: Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (eds.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 647–717, hier: S. 659 ff.
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fictae‹ und ›res factae‹ unterlag just zu diesem Zeitpunkt einer fundamentalen Umwertung, als die Geschichte sich zu verwissenschaftlichen und ›historia als ars‹ zweifelhaft zu werden begann. Bei diesen Prozessen ist freilich noch der wissenssoziologische Status der Schriftsteller und die öffentliche Bedeutung der Geschichtsschreibung zu berücksichtigen. Im 18. Jahrhundert waren die meisten Verfasser historischer Werke zwar Gebildete, nicht aber Historiker im eingeschränkten Sinne — und schon gar nicht Professoren (Voltaire, Montesquieu, Hume, Robertson, Gibbon …). Dementsprechend entwickelte sich die Geschichte unterschiedlich: In England und Schottland, später auch in Frankreich wurden historische Werke für den Markt verfasst; mit ihnen liess sich ebenso wie mit Romanen Geld verdienen. In Deutschland wurde stattdessen die Professionalisierung der Geschichte als Wissenschaft vorangetrieben: Gatterer, Schlözer, Spittler, Planck und Eichhorn waren Universitätsprofessoren. (In dieser Hinsicht müssen Möser und Herder, Winckelmann und Schiller (1759–1805) auf je eigene Weise als Aussenseiter gelten.) Der entfaltete Historismus schliesslich beruhte auf einer geglückten Verbindung beider Sphären: Methodenbewusste Geschichtsforschung und ein entwickeltes bürgerliches Publikum ermöglichten den Erfolg von Heeren und Ranke, von Mommsen und Niebuhr.
Die Zertrümmerung der heilsgeschichtlichen Auffassung Von den Kirchenvätern an hatte man durch das Mittelalter und die Frühe Neuzeit immer wieder den Versuch gemacht, das gesamte irdische Geschehen im Lichte des Christentums als Heilsgeschichte zu deuten.10 Dieser Versuch war nur konsequent: Wenn sich die Erscheinung Gottes als Eintritt Christi in die Weltgeschichte zugetragen hatte, wozu das Judentum des Alten Testamentes (in christlicher Sicht) nur die Vorgeschichte darstellte, galt es, die seitherige Geschichte wiederum als Gottes Werk mit den Menschen, als Vorlauf zur angekündigten Wiederkunft Christi am Ende der Zeiten, zu verstehen. Diese Auffassung hatte einen ersten Stoss durch säkulare Tendenzen der italienischen Renaissance erhalten, wo etwa Machiavelli und Guicciardini ihre Geschichten der Stadt Florenz rein politisch auffassten — als ob es keinen Gott gäbe. Einen härteren Stoss hatte diese Auffassung im Zeitalter der Reformation und der Glaubenskämpfe erlitten: Jede Seite suchte ihre Bestrebungen als Ausfluss eines göttlichen Plans auch in historischer Perspektive zu legitimieren — von den Magedeburger Centurien der Lutheraner (Ecclesiastica Historia, 1559–1574) bis zum katholischen Gegenschlag des Caesar Baronius (Annales ecclesiastici, 1588–1607).11 Bei den Engländern war seit Elisabeths Zeiten das Bewusstsein erwacht, ein
10. Löwith, Karl, Meaning in History. The Theological Implications of the Philosophy of History, Chicago /London 1949 (dt.: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart et al. 1953, 81983). Klempt, Adalbert, Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung. Zum Wandel des Geschichtsdenkens im 16. und 17. Jahrhundert, Göttingen / Berlin / Frankfurt a.M. 1960. 11. Nigg, Walter, Die Kirchengeschichtsschreibung. Grundzüge ihrer historischen Entwicklung, München 1934, S. 42–74. Zu Flacius Illyricus vgl. Zeeden, Ernst Walter, Deutsche Kultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1968, S. 424 f., sowie Scheible, Heinz (ed.), Die Anfänge der reformatorischen Geschichtsschreibung. Melanchthon, Sleidan, Flacius und
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auserwähltes Volk zu sein (wie die Juden des Alten Bundes). In Deutschland blieb das prophetische Schema der Vier-Reiche-Lehre in Kurs, nachdem es durch Luthers Vorreden zu seiner Bibelübersetzung in jeden Haushalt gekommen war: Danach verstand man das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als Fortsetzung des Römerreiches der Antike.12 Und Frankreich erlebte unter Ludwig XIV. eine letzte Aufgipfelung heilsgeschichtlicher Deutung, in der sich die französischen Könige bruchlos an die fränkischen, diese an Karl den Grossen und das Römerreich, dieses an die biblische Geschichte anschliessen liessen: Jacques Bénigne Bossuets (1627–1704) Discours sur l’histoire universelle (1681). Der Umschlag dieser Entwicklung von anderthalb Jahrtausenden ergab sich in der Rezeption dieses Werkes. Denn als Voltaire zwei Generationen später privatim ältere Geschichte vortrug, folgte er noch Bossuet; aber in seinem Bestreben, diese Geschichte fortzusetzen, entwickelte er seinen rabiaten Anschlag auf das traditionelle christliche Geschichtsbewusstsein, der in der Aufklärungsepoche Schule machen sollte. Nach Friedrich Meinecke war Voltaire der erste, der »ein neues universales Kulturideal zu stützen« vermochte »durch eine neue Deutung der Universalgeschichte«.13 Diese Linie entwickelte er in seiner Auseinandersetzung mit Bossuet. Voltaires Angriff auf die Kirche war nicht zuletzt ein Angriff auf ihre Geschichtsdeutung, die er als wesentlichen Teil der ganzen Weltanschauung verstand. Aus dieser Kampfstellung ist sein überraschendes Interesse für die aussereuropäische Geschichte zu verstehen. Insbesondere die chinesische Kultur gewann im 18. Jahrhundert Züge einer konkreten Utopie.14 Mit dem räumlichen Ausgreifen sprengte Voltaire das christlich-abendländische Geschichtsschema. ›Con gusto‹ attackierte er die alttestamentarische Geschichtsüberlieferung: Das auserwählte Volk Gottes wird zu einer versprengten »horde d’Arabes du désert«; seine Geschichte sei entstellt von Wundern und Grausamkeiten.15 Während Bossuet ein letztes Mal die abendländische Geschichtsschau aus dem Geiste des Christentums zu einem imponierenden Gebäude aufgetürmt hatte, in glänzendem Stil, den auch Voltaire bewunderte, zertrümmerte nun die aufgeklärte Vernunft dieses metaphysische Gebäude. Die intentionale Universalgeschichte wurde abgelehnt mit Hinweis auf ihre empirische Unzulänglichkeit. Die geographischen Entdeckungen von 250 Jahren wurden nun erst in das Geschichtsbild einbezogen. Die räumliche Ausdehnung der Europäer auf Amerika, Afrika und Asien wurde nun — empirisch noch unzulänglich, aber kritisch höchst effektiv — zum Argument. Und, damit zusammenhängend: Die astronomische Chronologie der Ägypter, Inder und Chinesen sprengte die chronologischen Zeiträume, in denen sich die Heilsgeschichte
die Magdeburger Zenturien, Gütersloh 1966. Zu Baronius Jedin, Hubert, Kardinal Caesar Baronius. Der Anfang der katholischen Kirchengeschichtsschreibung im 16. Jahrhundert, Münster 1978. 12. Zeeden, op. cit., S. 415 ff. Lübbe-Wolff, Gertrude, »Die Bedeutung der Lehre von den vier Weltreichen für das Staatsrecht des römisch-deutschen Reiches«, in: Der Staat XXIII, 1984, S. 369–389. 13. Meinecke, Friedrich, Die Entstehung des Historismus, 2 Bde., München / Berlin 1936, S. 83; Meinecke, Friedrich, Werke, Bd. 3, München 1959. 14. Vgl. Guy, Basil, The French Image of China Before and After Voltaire, Genf 1963. 15. Voltaire, Essai sur les mœurs et l’esprit des nations et sur les principaux faits de l’histoire depuis Charlemagne jusqu’à Louis XIII, Pomeau, René (ed.), 2 Bde., Paris 1963, Bd. 1, S. 136.
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angeblich abgespielt hatte.16 Wie die empirische Naturbeobachtung zu einem kritischen Instrument der Aufklärung gegen die religiöse Sicht der Natur geworden war, wurde nun das empirische Ausgreifen auf die Geschichte zum Angriff auf die religiöse Sicht der Geschichte. Voltaire holte hier mit Scharfsinn und kritischer Verve, mit Unbekümmertheit und einer geradezu diebischen Freude aus zum entscheidenden Schlag gegen die Kirche — ›l’infâme‹. Dabei wirkte er weniger durch eigene empirische Forschungen, sondern mehr durch die Verarbeitung des seit langem angehäuften Weltwissens in kritischer Absicht.17 Die Sichtung der überlieferten Fakten erfolgte seltener durch Überprüfung von Urkunden, öfter durch Einsatz des gesunden Menschenverstandes, der universalen Vernunft. Voltaires Bemühen richtete sich auch gegen die geistlosen Stoffhuber und Annalisten. Sein Prüfstein war die vorausgesetzte fundamentale Konstanz der menschlichen Natur zu allen Zeiten und in allen Kulturen.18 Dies ermöglichte eine generelle »Prüfung« aller Überlieferungsbestände: ob möglich oder unmöglich, wahrscheinlich oder unwahrscheinlich. Das Zauberwort lautete »vérités utiles«:19 Nicht historische Fakten als solche sind wissenswert, sondern nur diejenigen, welche im Blick auf die Entwicklung der Menschheit von Belang sind, also technische Erfindungen, geistige Umschwünge, bleibende Kulturschöpfungen. Kriegstaten und Machtkämpfe sollten zurücktreten, Beispiele des Aberglaubens und des Fanatismus nicht mehr die Geschichte ausmachen dürfen.20 Zum Massstab der Geschichte wurde die Gegenwart — die aufgeklärte Gegenwart. Gipfelepochen der Weltgeschichte waren für Voltaire immer Blütezeiten der Kultur, nämlich ein glückliches Zusammentreffen geistig fruchtbarer Situationen mit günstigen politischen Rahmenbedingungen, in denen sich dann eine Fülle kreativer Leistungen auf allen Gebieten gleichzeitig zeigte. Voltaire sah vier solcher Gipfelepochen: Griechenland zur Zeit von Perikles und Alexander, Rom unter Caesar und Augustus, das Florenz der Medici und schliesslich Frankreich im Zeitalter Ludwigs XIV.21 Am Ende der Zertrümmerung des universalen heilsgeschichtlichen Entwurfs steht die positive Leistung einer empirischen Univeralgeschichte als Kulturgeschichte der Menschheit.
Faktum und Kausalität Während im Rahmen des heilsgeschichtlichen Entwurfs vor allem auf die Beglaubigung des Überlieferten geachtet wurde (Offenbarung; auch heidnische Tradition der klassischen Hoch-
16. Dazu sehr instruktiv: Kägi, Werner, »Voltaire und der Zerfall des christlichen Weltbildes«, in: Corona VIII, 1938, S. 76–101. 17. Standardwerk zu Voltaire als Historiker: Brumfitt, John H., Voltaire Historian, London 1958. 18. »L’homme, en général, a toujours été ce qu’il est …« (Voltaire, Essai sur les mœurs, op. cit., Bd. 1, S. 25). 19. Voltaire, Essai sur les mœurs, op. cit., passim (sowie »Remarques pour servir de supplément à l’essai sur les mœurs«, ibid., Bd. 2, S. 900–904). 20. Voltaire, Essai sur les mœurs, op. cit., Bd. 2, S. 901, sowie ders., Le siècle de Louis XIV, Adam, Antoine (ed.), 2 Bde., Paris 1966, Bd. 1, S. 35. 21. Voltaire, Le siècle de Louis XIV, op. cit., Bd. 1, S. 35 f.
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kulturen), bedeutete die Umstellung auf einen empirischen Entwurf von Geschichte auch, dass den Fakten eine neue Dignität zukam — vorausgesetzt, sie hielten kritischer Überprüfung stand. Hier war Pierre Bayle (1647–1706) schon mit seinem Dictionnaire historique et critique (zuerst 1697) vorangegangen. Er sah seine Hauptaufgabe darin, überlieferte Irrtümer zu eliminieren.22 Solchermassen festgeschrieben, wurden Fakten erst zu wirklichen Tatsachen. Damit änderte sich auch der Status des historischen Wissens. Denn in der streng philosophischen Sicht, welche durch die Aufklärung ja auf einen neuen Gipfel gelangt war, war alles Historische zunächst einmal zufällig, kontingent, nicht theoriefähig. Insofern hatten historische Wahrheiten einen minderen Status. Es galt, sie nun in einem säkularisierten Verständnis von Geschichte theoriefähig zu machen: Überprüfen, auswählen, in Beziehung setzen — das waren nun die wichtigsten Tätigkeiten des Historikers. Wie man sich die Natur unterwerfen konnte, wenn man sie zu erklären vermochte, d.h. ihre Gesetze erfassen und anwenden konnte, so galt es auch, die Geschichte dem Bereich des Zufälligen zu entreissen und mit einem Netz von Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu erfassen. Die Durchforstung der Traditionsbestände erst konnte die Geschichte vernünftig machen. Voltaire mokierte sich: Si Jupiter, en couchant avec Alcmène, fait une nuit de vingt-quatre heures, lorsqu’elle devait être de douze, il est nécessaire que la terre s’arrête dans son cours, et reste immobile douze heures entières. Mais comme les mêmes phénomènes du ciel reparaissent la nuit suivante, il est nécessaire aussi que la lune et toutes les planètes se soient arrêtées. Voilà une grande révolution dans toutes les orbes célestes en faveur d’une femme de Thèbes en Béotie.23
Eine Geschichte, die nicht den Naturgesetzen unterworfen wäre, ist unvorstellbar; Gott kann ja nicht die Gesetze aufheben, die er selber gegeben hat. Il ne […] paraît pas possible que Dieu dérange son propre ouvrage; […] tout est lié dans l’univers par des chaînes que rien ne peut rompre. […] Dieu étant immuable, ses lois le sont aussi.24
Die historische Überprüfung der Fakten in der Tradition Bayles wird ergänzt um eine vernünftige Überprüfung »suivant les règles du bon sens«.25 Nur so kann der Traditionsbestand der Menschheit von Fabeln, Wundern und Erdichtungen aller Art gereinigt werden; erst so kann Geschichte vernunftförmig, logisch und wissenschaftlich werden. Die Zeitgenossen nannten das ›pragmatische Geschichtsschreibung‹ — eine solche, wenn möglichst alle Fakten aus Ursachen herleiten sollte. Dabei unterliefen anfangs noch mancherlei Missgriffe und Verengungen. Vor allem deutsche Universitätshistoriker machten Voltaire zum Vorwurf, er übernehme zuviel Anekdotisches ungeprüft, verankere grosse Ursachen in kleinen Wirkungen; leite psychologisch und soziologisch her, was so nicht zu begründen sei.26 Im Zeitalter des Historismus und der Romantik waren solche kausalen Herleitungen verpönt.
22. Vgl. die schöne Darstellung von Cassirer, Ernst, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, ³1973, S. 269–276. 23. Voltaire, Essai sur les mœurs, op. cit., Bd. 1, S. 115. 24. Ibid. 25. Ibid. 26. Vgl. Brockmeyer, Peter /Desné, Roland /Voss, Jürgen (eds.), Voltaire und Deutschland. Quellen und Untersuchungen zur Rezeption der Französischen Aufklärung, Stuttgart 1979.
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Man warf den Aufklärern vor, das Prinzip historischer Entwicklung (Genese) verfehlt zu haben. Doch der aufklärerische Versuch, die ganze Welt, mithin auch die Geschichte des Menschen, nach den Gesetzen der Mechanik zu verstehen, blieb nichtsdestoweniger von tiefgreifender Bedeutung. Denn nur so konnte die in metaphysischer Hinsicht verachtete Geschichte theoretisch respektabel werden; nur so wurde der gewaltige Bereich des kontingent Empirischen zum Raum der (historischen) Wissenschaften. Das historische Verständnis hatte sich bereits im Zuge der Aufklärung ständig verfeinert und vertieft. Insbesondere standen die Aufklärer in einem regen Diskurs über die Validität der Kausalitätsbereiche. Die ältere Aufklärung bis einschliesslich Montesquieu (1689–1755) hatte grossen Wert auf Klimafaktoren gelegt, und zwar nicht nur im Sinne einer beschreibenden Kulturgeographie, sondern in dem viel weitergehenden einer naturalen Determination menschlichen Handelns.27 Der Glaube an die Wirkung von Luft und Boden, Winden und Wärme wurde jedoch bereits von Voltaire und Hume entscheidend eingeschränkt. Mag auch das Klima den Charakter beeinflussen, so doch noch weit mehr der Staat, die Regierungsform, meinte Voltaire.28 Hume (1711–1776) analysierte »physical« und »moral causes«; die Einwirkung von »physical causes« auf den Menschen und die Geschichte minimierte er; »moral causes« spezifizierte er als Regierungsform, »revolutions of public affairs«, Armut und Reichtum, Verhältnis zu benachbarten Nationen.29 In jedem Fall aber, so Hume, dürfe ein Geschichtsschreiber nicht von Hypothesen über letzte Kräfte, Prinzipien oder Eigenschaften der menschlichen Natur ausgehen; er habe empirisch zu verfahren und die Menschen unter verschiedenen Umständen und in wechselnden Situationen zu beobachten. Aufgrund möglichst umfassender Erfahrung seien die Wirkungen zu analysieren und auf eine möglichst geringe Anzahl von Ursachen zurückzuführen.30 In den reifen Werken der Aufklärer ist deshalb Kausalität kein oberflächlicher Rationalismus, kein belächelnswertes Herunterbeten geringfügiger Umstände für letztlich unbegreifliche historische Erscheinungen. Kausalität ist vielmehr ein methodisches Prinzip, dessen sich der Historiker heuristisch und didaktisch bedient, auch wenn er sich damit nur an einer widerständigen Wirklichkeit abarbeitet und oft genug resignieren muss. Friedrich Schiller hat dies klar zum Ausdruck gebracht: Es zieht sich also eine lange Kette von Begebenheiten von dem gegenwärtigen Augenblicke bis zum Anfange des Menschengeschlechtes hinauf, die wie Ursache und Wirkung ineinander-
27. Vgl. Fink, Gonthier-Louis, »De Bouhours à Herder. La théorie des climats et sa réception outre-Rhin«, in: Recherches germaniques XV, 1985, S. 3–63. Maurer, Michael, »»Nationalcharakter« in der frühen Neuzeit. Ein mentalitätsgeschichtlicher Versuch«, in: Blomert, Reinhard /Kuzmics, Helmut /Treibel, Annette (eds.), Transformationen des Wir-Gefühls. Studien zum nationalen Habitus, Frankfurt a.M. 1993, S. 45–81. 28. Voltaire, Essai sur les mœurs, op. cit., Bd. 2, S. 445. 29. Hume, David, Essays Moral, Political, and Literary, Green, Thomas Hill /Grose, Thomas H., 2 Bde., London 1882, Bd. 1, S. 244. 30. Hume, David, Treatise on Human Nature, zitiert nach: Philosophical Works, Green, Thomas Hill /Grose, Thomas H. (eds.), London 1864 ff., Bd. 1, S. 307.
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Michael Maurer greifen. Ganz und vollständig überschauen kann sie nur der unendliche Verstand; dem Menschen sind engere Grenzen gesetzt.31
Diese werden sodann spezifiziert: Unzählige geschehene Ereignisse sind nicht bezeugt. Oder sie sind nur in Form von Sagen auf die Nachwelt gekommen: »alle Begebenheiten vor dem Gebrauche der Schrift« seien »für die Weltgeschichte so gut als verloren«.32 Oder sie seien nicht erhalten: »nur wenige Trümmer haben sich aus der Vorwelt in die Zeiten der Buchdruckerkunst gerettet«.33 Diese wenigen schliesslich seien oft noch durch Torheit und Leidenschaften der Bearbeiter deformiert. Die kleine Summe von Begebenheiten, die nach allen bisher geschehenen Abzügen zurückbleibt, ist der Stoff der Geschichte in ihrem weitesten Verstande. […] Aus der ganzen Summe dieser Begebenheiten hebt der Universalhistoriker diejenigen heraus, welche auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen Einfluss gehabt haben.34
Man erkennt am Beispiel Schillers, wie grundlegende wissenschaftliche Reflexionen über Geschichte, ausgehend vom Kausalitätsproblem, sogleich die Problematik der Quellenkritik erreichen; auch ausserhalb der akademischen Methodenreflexion betrafen solche Probleme in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den praktischen Geschichtsschreiber.
Teleologie und Fortschritt Wo man die Aufklärungshistorie ex post kritisiert hat, hat man ihr gewöhnlich ihren Glauben an die menschliche Vernunft zum Vorwurf gemacht: Sie habe ihr eigenes Zeitalter als Gipfel der Menschheitsentwicklung gesehen, die Massstäbe der eigenen Zeit verabsolutiert, das Organische geschichtlichen Wachstums auf die Flaschen der Kausalität gezogen und der Weltgeschichte einen Weg des Fortschritts vindiziert.35 Diese Vorwürfe sind zu differenzieren und einzuschränken: Der Fortschrittsglauben der älteren Generation der Aufklärer, etwa Voltaires, ist durch skeptische Menschenkenntnis soweit temperiert, dass er keinesfalls mit dem liberalen und technischen Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts verwechselt werden darf.36 Von einem
31. Schiller, Friedrich, »Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?« (1789), zitiert nach: Sämtliche Werke (Säkular-Ausgabe), Stuttgart o.J., Bd. 13, S. 17 f. 32. Ibid. 33. Ibid. 34. Ibid. 35. So z.B. Martin, Alfred von, »Motive und Tendenzen in Voltaires Geschichtsschreibung«, in: Historische Zeitschrift CXVIII, 1917, S. 1–45, S. 11 f. — Zur Fortschrittsproblematik: Bury, John B., The Idea of Progress. An Inquiry into its Origin and Growth, New York 21955. Ginsberg, Morris, The Idea of Progress. A Revaluation, London 1953. Rohbeck, Johannes, Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt / New York 1987. 36. Voltaire hat in seiner Kulturgeschichte nicht nur vier Gipfel der Entwicklung herausgearbeitet (nach denen also mit Notwendigkeit ein Abstieg oder Rückgang angenommen werden muss!), er hat seine Leser auch im Zweifel gelassen, ob von dem von ihm als massgeblich angesehenen Zeitalter Ludwigs XIV. bis zu seiner eigenen Zeit überhaupt ein Fortschritt anzunehmen sei — oder nicht vielleicht eher ein Rückschritt (vgl. Voltaire, Le siècle de Louis XIV, op. cit.).
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wirklichen, nämlich linearen, Konzept des Fortschritts und Aufstiegs der Menschen gehen (vor Comte) einzig Turgot und sein Schüler Condorcet aus. Und das Element der Teleologie in der Geschichte, die Unterstellung eines zielgerichteten historischen Prozesses, ist in der Aufklärung nicht von eigentlichen Geschichtsschreibern wie Voltaire, Hume, Robertson oder der Göttinger Schule entwickelt worden; vielmehr handelt es sich um ein gewissermassen geschichtsfremdes, nicht empirisches Denken, das man eher bei Philosophen und Theologen antrifft, mochten sich diese auch über den christlichen Glauben und über die gewöhnliche Metaphysik hinaus entwickelt haben. Als Repräsentanten solcher teleologischer Geschichtskonstruktionen (vor Hegel) können Lessing (1729–1781) und Kant, mit gewissen Einschränkungen auch Herder, gelten. Gotthold Ephraim Lessing hat in seiner späten Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechtes (1780) hundert Paragraphen zum Thema Vernunft und Offenbarung zusammengestellt, indem er einen Lieblingsgedanken der Aufklärung, nämlich den der Erziehung, zur Basis einer teleologischen Geschichtsanschauung machte. »Was die Erziehung bei dem einzelnen Menschen ist, ist die Offenbarung bei dem ganzen Menschengeschlechte.«37 Das Menschengeschlecht wird als Einheit gedacht, seine Entwicklung als Erziehungsprozess dargestellt. In dieser Schule der Menschheit gilt die Bibel als ›Elementarbuch‹, mit dessen Hilfe das Menschengeschlecht allmählich erzogen wurde, bis er zu einem entscheidenden Umschlag kam: »Die Offenbarung hatte seine Vernunft geleitet, und nun erhellte die Vernunft auf einmal seine Offenbarung.«38 Lessing spricht von Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter des Menschengeschlechtes, die als Stadien einer moralischen Entwicklung ausgedeutet werden: Auf der ersten Stufe tun die Menschen Gutes, weil sie direkt belohnt werden, auf der zweiten, weil sie Belohnung im Jenseits erwarten, auf der dritten schliesslich tun sie das Gute um seiner selbst willen. In dieser eigenartigen kleinen Schrift versucht Lessing, eine neues Verständnis vom Wesen der Heiligen Schrift mit einer kühnen Spekulation über die Entwicklung der Menschheit (ja, gar über Seelenwanderung!) zu verbinden. Die universalhistorische Konzeption ist metaphysisch, nicht empirisch; sie führt zur Philosophie, nicht zur Geschichte. Immanuel Kant (1724–1804) wollte in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) den Versuch unternehmen, einem empirisch arbeitenden philosophischen Kopf einen roten Faden der Geschichte a priori anzubieten. Er ging aus vom Problem der menschlichen Willensfreiheit. Diese scheint der Vorstellung von einem gesetzmässigen Gang der Geschichte entgegenzustehen. Kant löste das Problem so, dass die Willensfreiheit zwar dem Individuum zukomme, nicht aber der Gattung, die vielmehr insgesamt gesetzmässig fortschreite.39 Er ging des weiteren davon aus, dass sich alle Naturanlagen eines Geschöpfes einmal entwickeln müssten, dass sich aber der Mensch als vernünftiges Geschöpf von den übrigen Geschöpfen dadurch unterscheide, dass sich seine Vernunftanlagen nicht in jedem Individuum, sondern erst in der Gattung voll entwickelten.40 Diese Entwicklung sei möglich durch den Antagonismus in der Gesellschaft. Daraus ergebe sich das schwerste Problem der
37. Zit. nach Lessing, Gotthold Ephraim, Werke, Göpfert, Herbert G. (ed.), Bd. 8, München 1979, S. 490 (§ 1). 38. Ibid., S. 498 (§ 36). 39. Vgl. Kant, Immanuel, Werke in zehn Bänden, Weischedel, Wilhelm (ed.), Bd. 9, Darmstadt 1981, S. 49. 40. Ibid., S. 35.
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Menschheit: eine Rechtsordnung der bürgerlichen Gesellschaft (›societas civilis‹). Und diese wiederum sei von einem geordneten Verhältnis der Staaten zueinander abhängig. Man kann die Geschichte der Menschengattung im grossen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich- und, zu diesem Zwecke, auch äusserlich vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann.41
Diese Spekulation bietet Kant den Historikern zur empirischen Ausarbeitung an. In der späten Aufklärung waren teleologische Modelle im Schwange. Doch blieben Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie stets durch einen deutlichen Graben geschieden.
›Geschichte der Menschheit‹ und Kulturmorphologie Die Idee des Fortschritts war gewöhnlich jenen Darstellungen inhärent, welche die Entwicklung des gesamten Menschengeschlechtes zu typisieren suchten. Die Ursachenforschung für spätere Zustände führte zu den frühesten zurück; es galt, das Zusammentreten von Menschen zu gesellschaftlichen Formationen zu erklären. Den Historikern der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts genügte nicht mehr das abstrakte Postulat eines ursprünglichen oder Naturzustands, in dem sich die Menschheit vor dem Gesellschaftszustand befunden habe; allenthalben suchte man die Überlieferung zu verbinden mit vernünftigen Reflexionen über die Notwendigkeit bestimmter Sozialformen im Zusammenhang mit grundlegenden Wirtschaftsformen und Kulturentwicklungen. Dabei ergab sich leicht die Vorstellung eines Aufstiegs vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit der Ackerbauern und Viehzüchter, über die Entwicklung von Handwerken und Handelstätigkeit zu komplexeren Sozialformen, zu Städten und Grossreichen. Am Ende der Zivilisation stand dann die aufgeklärte Gegenwart des 18. Jahrhunderts. Während ein zivilisatorischer Fortschritt allgemein angenommen wurde, waren sich die Autoren nicht einig bezüglich der Frage nach einem Fortschritt der Kultur, etwa der Bildenden Künste. Denn das Problem ästhetischer Wertung lag hier zu offensichtlich als Prämisse im Wege. Freilich war durch die ›Querelle des anciens et des modernes‹, welche das 17. Jahrhundert ausgefochten hatte, eine gewisse Grundlage für das Urteil auch in diesem Feld gegeben. Aber die weithin herrschende klassizistische Auffassung verhinderte zunächst ein klares Fortschrittsdenken im ästhetischen Bereich. Ja, für ästhetisch empfängliche Naturen musste sich gerade aus dieser Reflexion ein Ansatz zu historischem Denken ergeben. Eines der frühesten Werke dieser Art waren Isaak Iselins (1728–1782) Philosophische Muthmassungen über die Geschichte der Menschheit (1764).42 Der Basler Ratsschreiber bot eine aufgeklärte Anthropologie, wobei er sich im ersten Band synchron-analytisch mit dem Wesen des Menschen schlechthin, mit dem Naturzustand und dem Zustand der Wildheit befasste, im
41. Ibid., S. 45. 42. Der Titel lautete ab der zweiten Auflage: Über die Geschichte der Menschheit. — Zu Iselin vgl. Im Hof, Ulrich, Isaak Iselin, 2 Bde., Basel 1947 sowie ders., Isaak Iselin und die Spätaufklärung, Bern 1967.
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zweiten dagegen diachron vorging und die Entwicklung der Menschheit seit den Anfängen darzustellen suchte. Seine Hauptquelle waren nicht mehr die biblischen Schriften, sondern die zeitgenössischen Reisebeschreibungen. Stimulans seines Denkens war Rousseaus Konzept eines glücklichen Naturzustandes und dessen Einspruch gegen den Vernunftstolz der zivilisierten Europäer.43 Das vielfach gepriesene klassische Altertum setzte er in jeder Hinsicht unter die neuren Zeiten herab; die vermeintlichen politischen Tugenden der Griechen betrachtete der Schweizer Aufklärer mit Reserve, und die Kriegstugenden der Römer waren ihm fremd geworden.44 Die kultivierte Freiheit in den komplexen Staaten der Neuzeit, vor allem in England, stellte er weit höher. Er postulierte, nicht anders als Voltaire, eine wechselseitige Abhängigkeit der wirtschaftlichen, politischen und religiösen Bedingungen mit der Entwicklung der Künste und Wissenschaften. Iselin zeigte Ansätze zu politisch-soziologischem Denken mit ausgeprägt bürgerlicher Tendenz: Die kostbare Classe von Bürgern, die zwischen dem Stande, den wir den Adel nennen, und zwischen dem sogenannten Bauernstande das Mittel hält, bildete sich allmählich und gab allen westlichen und nordischen Ländern eine bessere Gestalt. Ohne ihn würde in diesen Ländern die Landwirthschaft immer geschmachtet, keine Kunst sich aus der Nidrigkeit erhoben, und keine beträchtliche Milderung der Sitten, kein merklicher Wohlstand Platz gehabt haben. Ohne Städte und ohne das was man Bürgerstand nennt, würden wir noch alle Barbaren seyn.45
Der Basler Ratsschreiber machte die Funktion des Bürgertums für die europäische Neuzeit deutlich: ›Seine‹ Lebensweise, ›seine‹ Werte, ›seine‹ Vorherrschaft empfand er als Gipfel der Geschichte und leitete sie aus der Vergangenheit her. Die dafür adäquate Form der Geschichte ist die ›Kulturgeschichte‹, und zwar nicht als blosse Geschichte der Künste und Wissenschaften, d.h. als kultursoziologisch einzuschränkende Partialgeschichte, sondern auf der Grundlage der Wirtschafts- und Zivilisationsgeschichte als ›Universalgeschichte der Menschheit‹. Von Iselin liess sich Herder (1744–1803) anregen und provozieren. Doch seine Frühschrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) hat einen ganz anderen Zuschnitt und ein ganz anderes Format. Es handelt sich nicht eigentlich um ein historisches Werk (und schon gar nicht um eine Geschichte des Bürgertums!), sondern um ein kulturkritisches Pamphlet von höchster Bedeutung — für die Nachwelt. Denn die Zeitgenossen fanden es schwer verständlich (sprachlich von Johann Georg Hamann beeinflusst), wirr und im geschichtlichen Entwurf rückschrittlich, nämlich metaphysisch-theologisch. August Ludwig Schlözer, der gleichzeitig mit der Konzeption einer wissenschaftlichen Universalgeschichte beschäftigt war, veröffentlichte einen ganzen Band als Zurückweisung Herders.46 Später jedoch, in der Romantik, im Historismus, in der Konzeptionsphase der Geisteswissenschaften und der philosophischen Hermeneutik wurde diese kleine Schrift zu einem klassischen Dokument des historischen Verstehens, des genetischen Denkens, der Einfühlung und Individualisierung
43. Iselin, Isaak, Über die Geschichte der Menschheit, 2 Bde., 5. Aufl., Basel 1786 (Reprint Hildesheim / New York 1976), Bd. 1, S. 117 f. 44. Ibid., Bd. 2, S. 197 f. 45. Ibid. Bd. 2, S. 272 (vgl. auch S. 288). 46. Schlözer, August Ludwig, Vorstellung seiner Universal-Historie, Bd. 2, Göttingen / Gotha 1773.
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aufgewertet.47 Herders Frühschrift ist beides: wortreicher Protest gegen die Hybris seiner vernunftstolzen Zeitgenossen und rousseauistisches Pamphlet auf der einen Seite, auf der anderen durchaus eine kulturmorphologische Schrift in den Bahnen der Aufklärer, ein »Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts«, wie der Untertitel lautet. Die Eigenart der Schrift liegt in der überbordenden metaphernströmenden Sprache und in einem geradezu mystischen Analogieverfahren, das Natur und Menschengeschichte als zwei analog strukturierte Bereiche göttlicher Offenbarung versteht und sich wechselseitig beleuchten lässt. Die Geschichte der Menschheit im ganzen wird parallelisiert mit den Stufen des menschlichen Lebens: Der Alte Orient als Kindheit der Menschheit, die Kultur der Ägypter und der Phönizier andererseits als Knabenalter, die Epoche der Griechen als Jünglingsalter und die Römerzeit als reifes Mannesalter.48 Dies ist weit mehr als eine spielerische Metapher; es ist auch nicht bloss eine abstruse mystische Spielerei. Die Lebensalteranalogie ist vielmehr zunächst ein Denkmodell, um eine der Grundeinsichten Herders deutlich zu machen — dass nämlich die Geschichte der Menschheit keineswegs als blosse Vorausetzung der Gegenwart, als Stufe zum Glück der aufklärerischen Zivilisation gesehen werden kann, sondern jedes Zeitalter zugleich seinen eigenen, unvergänglichen Wert in sich selbst trägt49 — sodann aber auch ein teleologischer Entwurf der gesamten Weltgeschichte, den man als säkularisierte Fassung des alten Vier-Reiche-Schemas der Tradition auffassen kann.50 Da die Lebensalteranalogie nur bis zum Römerreich trägt, führt Herder die Geschichte der Neuzeit, die nur knapp angedeutet wird, mit anderen organischen Metaphern weiter (Keim – Blüte – Frucht, Tropfen – Fluss – Meer, Wurzeln – Stamm – Äste).51 Logisch und soziologisch waren gegen solches Denken viele Einwände möglich, doch vermochte dieser klassische Text der deutschen Literatur gerade als ›dunkler‹, in eruptiv-rhapsodischem Stil geschriebener, Elemente alten und neuen Denkens zu einer fruchtbaren Verschmelzung zu bringen. Als ›Geschichte der Menschheit‹ und Entwurf einer Kulturmorphologie steht Herders Schrift zwischen Iselin und Adelung (1732–1806). Johann Christoph Adelung veröffentlichte 1782 seinen Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts.52 Dabei legte er besonderes Gewicht auf Klima, Geographie und Bevölkerungsdichte als primäre Faktoren für die Entstehung von Zivilisation und Kultur. Zu Herders Missvergnügen baute Adelung die
47. Vgl. Stadelmann, Rudolf, Der historische Sinn bei Herder, Halle 1928. Meinecke, Friedrich, Die Entstehung des Historismus, op. cit., S. 355–444. Litt, Theodor, Die Befreiung des geschichtlichen Bewusstseins durch J.G. Herder, Leipzig 1942. Gadamer, Hans-Georg, »Nachwort zu Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit«, Frankfurt a.M. 1967. 48. Herders Sämmtliche Werke, Suphan, Bernhard (ed.), 33 Bde., Berlin 1877–1913, Bd. 5, S. 476 ff. 49. Ibid., S. 509. 50. Vgl. Maurer, Michael, »Die Geschichtsphilosophie des jungen Herder in ihrem Verhältnis zur Aufklärung«, in: Sauder, Gerhard (ed.), Johann Gottfried Herder 1744–1803, Hamburg 1987, S. 141–155. 51. Einzelnachweise ibid., S. 151. 52. Zu Adelung vgl. Mühlpfordt, Günter, »Der Leipziger Aufklärer Johann Christoph Adelung als Wegbereiter der Kulturgeschichtsschreibung«, in: Storia della Storiografia XI, 1987, S. 22–45. Van der Zande, Johan, »Zur Geschichtswissenschaft der Aufklärung. Johann Christoph Adelungs Kulturgeschichte der Menschheit (1782)«, in: Melville, Ralph (ed.) et al., Deutschland und Europa in der Neuzeit. Festschrift für Karl Otmar von Aretin zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1988, S. 359–374.
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Lebensalteranalogie zum System aus, mit dem er die gesamte Menschheitsgeschichte in acht Zeiträume gliederte: 1. »Vom Ursprunge des menschlichen Geschlechtes bis auf die Sündfluth. Der Mensch ein Embryo.« 2. »Von der Sündfluth bis auf Mosen. Das menschliche Geschlecht der Cultur nach ein Kind.« 3. »Von Mose bis zur aufgeklärten Cultur der Griechen. Das menschliche Geschlecht ein Knabe.« 4. »Von der blühenden Griechischen Cultur bis auf Christum. Blühendes und rasches Jünglingsalter des menschlichen Geschlechtes.« 5. »Von Christo bis zur Völkerwanderung. Der Mensch ein aufgeklärter Mann.« 6. »Von der Völkerwanderung bis auf die Kreutzzüge. Der Mann in schweren körperlichen Arbeiten.« 7. »Von den Kreutzzügen bis zur völligen Aufklärung im 16ten Jahrhunderte. Der in Einrichtung und Verschönerung seines Hauswesens begriffene Mann.« 8. »Von der völligen Aufklärung im 16ten Jahrhunderte bis auf unsere Zeiten. Der Mann im aufgeklärten Genusse.«53 Entgegen der Absicht Herders gipfelt sich die so konzipierte Kulturgeschichte wiederum in der aufgeklärten Gegenwart auf; die vorausgehenden Epochen werden gewissermassen mediatisiert, indem ihnen nur Bedeutung zuerkannt wird, insofern sie zur Herausbildung der Gegenwart beigetragen haben.54 Diese aufbauende Abfolge von Kulturzeitaltern hatte ihren besonderen Reiz darin, dass die traditionell als gliedernd angesehenen Gegebenheiten der Heilsgeschichte wie auch der politischen Geschichte in ein übergreifendes Konzept von Kulturgeschichte eingeordnet wurden. Sie enthielt mit der Verbindung von Humanismus / Reformation als erster Aufklärung und der Aufklärung des 18. Jahrhunderts ein Konzept der Neuzeit. Eine solche Geschichte ist die wahre Geschichte des Bürgertums, und zwar eines selbstbewusster werdenden Bürgertums, das innerhalb des absolutistischen Staates nicht die erstrebte Entwicklungsfreiheit hat, diese auch noch nicht direkt fordern kann, aber indirekt über die Herausstellung bürgerlicher Verdienste und Leistungen die Definitionsmacht über die Konzeption der Geschichte erringt.
Bürgerliche Geschichte Das späte 18. Jahrhundert liess verschiedentlich Ansätze zu einer thematischen Ausformung der Geschichte erkennen, die auf sozialen Wandel zurückgeführt werden können. ›Eine‹ Möglichkeit ist dabei, die Geschichte nicht mehr als Handeln der Fürsten und Staatsmänner darzustellen, sondern als ›Geschichte der Menschheit‹. Eine zweite, die damit verbunden sein konnte, Geschichte als ›Kulturgeschichte‹, d.h. unter Berücksichtigung der Bildungsbemühungen, der Leistungen für Kunst und Wissenschaft. Eine ›dritte‹ schliesslich, die mit der ersten und zweiten durchaus verflochten sein konnte, liegt in der ›Wirtschafts- und Sozialgeschichte‹, d.h. in der Betonung der materiellen Grundlagen für staatliches Handeln wie auch für kulturelle Entfaltung. Hier zeigten Historiker mit prononciert bürgerlichem Bewusstsein, wie August Ludwig Schlözer
53. Adelung, Johann Christoph, Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts. Mit einem Anhange vermehrt, Leipzig 21800. 54. Ibid. S. 412.
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und Arnold Herrmann Ludwig Heeren, früh ein innovatives Interesse.55 Schlözer veröffentlichte als junger Mann bereits in schwedischer Sprache ein Werk, das dann 1761 auch auf deutsch publiziert wurde: Versuch einer allgemeinen Geschichte der Handlung und Seefahrt in den ältesten Zeiten. Heeren vertiefte diese Studien eine Generation später in seinen Ideen über die Politik, den Verkehr und den Handel der vornehmesten Völker der alten Welt (1793–96). Solche historischen Darstellungen wuchsen zunächst aus spezifischen Bedürfnissen der alten Geschichte heraus, aus der Sachkunde, welche Christian Gottlob Heyne und seine Schule zur Erläuterung der schriftlichen Überlieferung förderten; sie artikulierten aber auch ein eigenes Interesse an den Leistungen der »glücklichen Mittelclasse«, des Bügertums, dem sich der aus einer Handelsstadt (Bremen) stammende Heeren explizit zurechnete.56 August Boeckh, in gewisser Hinsicht ein Antipode Heerens, errang den Triumph seiner althistorischen Forschungen mit seinem Werk über Die Staatshaushaltung der Athener (1817).57 Und Schlözer fasste die Geschichte überhaupt als eine Lektion über die ursprüngliche Gleichheit der Menschen auf. In seiner Vorbereitung zur Weltgeschichte für Kinder formulierte er: Junges gnädiges Fräulein! Dein Stammvater ist auch der meinige. Er heist Adam, nicht Hr. von Adam. Alle Königinnen sind deine Verwandte: — aber sei nicht stolz —, deine Magd, das lumpichte Bettel Mädchen, und die schmierige Hottentottin, ist es auch. Alle Menschen sind Vettern und Basen zusammen.58
Damit artikulierte er ein bürgerliches Menschenbewusstsein, zu dessen Aufweis die Geschichte ungehobene Erfahrungsschätze bereithielt. Die neue Tendenz zur Verwissenschaftlichung schien mit dem sozialen Interesse an der neu gesehenen Einheit von gelehrtem und wirtschaftendem Bürgertum59 vollkommen kompatibel.
Universalgeschichte als empirische Kulturgeschichte Ein selbständiges Werk ganz eigenen Charakters liegt uns in Herders historischem Hauptwerk vor. Dies lässt sich auch als universale Vorgeschichte des Bürgertums lesen: Mit einer speziellen Würdigung von Handwerk und Handel, von Stadtkultur und Hansegeist läuft es auf die vom Bürgertum bestimmte Neuzeit zu und bricht mit einer gewissen Logik zu Beginn des 16.
55. Zu Schlözer: Warlich, Bernd, A.L. v. Schlözer 1735–1809 zwischen Reform und Revolution. Ein Beitrag zur Pathogenese frühliberalen Staatsdenkens im späten 18. Jahrhundert, Diss. Erlangen 1972. Becher, Ursula A. J., »August Ludwig v. Schlözer«, in: Wehler, Hans-Ulrich (ed.), Deutsche Historiker, Göttingen 1980, Bd. 7, S. 7–23. Zu Heeren: Schild, H.-J., Untersuchungen zu Heerens Geschichtsauffassung, Diss. Göttingen 1954. Seier, Hellmut, »Arnold Herrman Ludwig Heeren«, in: Wehler, Hans-Ulrich (ed.), Deutsche Historiker, op. cit., Bd. 9, S. 61–80. 56. Heeren, Arnold Herrmann Ludwig, Historische Werke, Göttingen 1821, Bd. 1, S. XII. 57. Zu August Boeckh siehe Schnabel, Franz, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, 4 Bde., Freiburg i.Br. 1929–37 (Neuausgabe München 1987), Bd. 3, S. 33 ff. 58. Schlözer, August Ludwig, Vorbereitung zur Weltgeschichte für Kinder, Göttingen 1779, Bd. 1, S. 11 f. 59. Maurer, Michael, Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815), Göttingen 1995.
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Jahrhunderts ab.60 In seiner Frühschrift hatte Herder versucht, die einzelnen Epochen der Menschheitsgeschichte in ihrer jeweils eigenen Bedeutung zu erfassen und trotzdem die Möglichkeit einer teleologischen Entwicklung des geesamten Menschengeschlechtes offenzuhalten. Dazu hatte er sich der Analogie der Nationen (Kulturen) mit den Lebensaltern des Menschen bedient. So war ihm ein divinatorischer Vorgriff auf eine Universalgeschichte als empirische Kulturgeschichte der Menschheit möglich geworden. Diese sollte in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–91) praktisch ausgeführt werden.61 Die ersten Bücher geben eine allgemeine Anthropologie; darauf baut sich eine allgemeine Kulturgeschichte der Menschheit auf. Die erste Bemühung gilt einer Harmonie der Kosmologie und Anthropologie der Genesis mit dem empirischen Kenntnisstand der Zeit, wie er vor allem aus Reiseberichten gewonnen wurde.62 Auf die einfachen Kulturstadien, die Herder schon in der Frühschrift nach Art der Aufklärer hergeleitet hatte (Fundierung auf physische Ursachen: Klima, Bodenbeschaffenheit, Luft, Gebirge usw.), folgt die Entwicklung der Hochkulturen. Das grundsätzliche Quellendefizit für die nichtabendländischen Kulturen wird dabei verdeckt durch die Klimatheorie, die gerade im mediterranen Bereich mit Notwendigkeit zu einer Folge von Hochkulturen zu führen schien. Die abendländische Tradition wird so in einen grösseren, naturgeschichtlichen Rahmen eingefügt. Während die Frühschrift ein weitgehend idealtypisches Kulturentstehungsmodell geboten hatte, erfolgt nun eine empirische Ausarbeitung, Differenzierung und Modifizierung. Aber auch hier ist Herders Methode die einer durchgehenden Analogie. Von der wuchernden Metaphorik der Frühschrift ist Herder nun zur disziplinierten Sprache des Naturbeobachters übergegangen, der den Bildungsgesetzen des Lebendigen nachspürt. Die Voraussetzung der Erkenntnis ist der Basissatz von der durchgehenden Gleichartigkeit der Erscheinungen. Es gibt keinen grundsätzlichen Riss zwischen Materiellem und Geistigem, keine Kluft zwischen Natur und Kultur. Der Beobachter sieht überall Zusammenhang und Aufbau, Analogie und Entwicklung. Die geschaute Fülle der Erscheinungen schafft nicht Verwirrung und Verzweiflung, sondern Glück aus der Erkenntnis der Ordnung (Kosmos): Jede Besonderheit erweist sich als legitim; jedes Einzelne zeigt sein Recht. Herder sieht eine genetische Kraft in allem Lebendigen am Werk, die es ihm ermöglicht, Bildungsgesetze des Pflanzenreiches auch auf das Tier- und Menschenreich zu übertragen. Je nach Gelegenheitsursachen werden alle möglichen Formen hervorgebracht. Die Menschheit wird dabei als Einheit betrachtet, die insgesamt teleologisch angelegt ist, auch wenn dies nicht in jedem Einzelleben zum Ausdruck kommt. Der Mensch ist als Mängelwesen
60. Vgl. die wichtige kommentierte Neuausgabe: Herder, Johann Gottfried, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Bollacher, Martin (ed.), Frankfurt a.M. 1989, hier: S. 854–998 (IV. Teil, 20. Buch). 61. Vgl. Rouché, Max, La philosophie de l’histoire de Herder, Paris 1940. Wells, G. A., »Herder’s Two Philosophies of History«, in: Journal of the History of Ideas XXI, 1960, S. 527–537. Rathmann, János, Zur Geschichtsphilosophie Johann Gottfried Herders, Budapest 1978. Förster, Wolfgang, »Johann Gottfried Herder: Weltgeschichte und Humanität«, in: Bödeker, Hans Erich (ed.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, Göttingen 1986, S. 363–387. Bollacher, Martin, » ›Natur‹ und ›Vernunft‹ in Herders Entwurf einer Philosophie der Geschichte der Menschheit«, in: Sauder, Gerhard (ed.), Johann Gottfried Herder 1744–1803, op. cit., S. 114–124. 62. Jäger, Hans-Wolf, »Herder als Leser von Reiseliteratur«, in: Griep, Wolfgang / Jäger, Hans-Wolf (eds.), Reisen im 18. Jahrhundert. Neue Untersuchungen, Heidelberg 1986, S. 181–199.
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organisiert, das des Zusammenlebens mit anderen und der Kultur bedarf, um seine Möglichkeiten zu entwickeln, die erst in der gesamten Gattung im Laufe der Geschichte zur Entwicklung aller Möglichkeiten führen. Durch diesen Blick auf das Ganze kann Herder manche Überlieferungslücke verdecken; die Einsicht in das Entwicklungsprinzip lässt auch kühne Analogieschlüsse zu. Aber auch die Kulturtatsachen werden wie Naturtatsachen behandelt und nach ihren quasi biologischen Entwicklungsgesetzen gedeutet. Auch Gewalt und Krieg, das Böse in der Welt, können so in ihrer Zweckhaftigkeit begriffen werden. Herder tritt auf mit dem Kausalitäts- und Ordnungsanspruch des Aufklärers und rettet die universalgeschichtlichen Konzepte des abendländischen Christentums dergestalt für seine empirisch orientierte Gegenwart in Form einer typologischen Kulturgeschichte der Menschheit. Das Ziel: Verwirklichung der Humanität. — Herders Geschichtswerk blieb ein Torso; er erreichte kaum die Schwelle der Neuzeit. In mancher Hinsicht können spätere Periodika als zwanglose Fortsetzung angesehen werden (Briefe zur Beförderung der Humanität, 1793–1797; Adrastea, 1801–1804).63 Da sich die Geschichtswissenschaft an Universitäten gleichzeitig völlig anders entwickelte, liegt die Bedeutung der Ideen Herders nicht in erster Linie in einer Förderung der Geschichte als Fachdisziplin. Schon dem frühen Historismus erschien Herders Spätwerk eher als Rückfall in die Aufklärungshistorie denn als Vollendung seines Jugendentwurfs. Goethe äusserte 1828, die Ideen hätten »unglaublich auf die Bildung der Nation eingewirkt«, seien aber schon »so gut wie vergessen«.64 Das bedeutet, dass die Wirkung von Herders Ideen weitgehend anonym war. Hegels Geschichtsphilosophie ist ohne diesen Vorläufer kaum denkbar; Herders Panentheismus ist Hegels Panlogismus; Herders »Humanität« ist Hegels »Bewusstsein der Freiheit«. Die Einwirkung auf verschiedene Einzeldisziplinen ist schier unabsehbar (bis hin zur amerikanischen ›Cultural Anthropology‹).65 Darüber hinaus waren Einzelelemente von unerwarteter Brisanz, etwa die Aufwertung der slawischen Völker,66 und überhaupt das Prinzip der Nation als (metaphysisch legitimierte) Kultureinheit, das für die kleinen Nationen Ost- und Südosteuropas im 19. Jahrhundert revolutionäre Bedeutung erlangen sollte.67
Unterwegs zur Nationalgeschichte Es ist wohl kein Zufall, dass gerade deutsche Denker und Historiker des 18. Jahrhunderts die Geschichte der Menschheit besonders kultiviert haben. Denn die Zersplitterung der Nation schien kaum etwas anderes zuzulassen als Geschichte einzelner Territorien und Stände, als Kir-
63. Vgl. Maurer, Michael, »Nemesis-Adrastea oder Was ist und wozu dient Geschichte?«, in: Müller-Vollmer, Kurt (ed.), Herder Today, Berlin / New York 1990, S. 46–63. 64. Goethe 1828, Weimarer Ausgabe, II. Abt., Bd. 41, S. 345. 65. Vgl. Berg, Eberhard, »Johann Gottfried Herder (1744–1803)«, in: Marschall, Wolfgang (ed.), Klassiker der Kulturanthropologie. Von Montaigne bis Mead, München 1990, S. 51–68. 66. IV. Teil, 16. Kapitel, IV. 67. Vgl. Ziegengeist, Gerhard /Grasshoff, Helmut /Lehmann, Ulf (eds.), Johann Gottfried Herder. Zur Herder-Rezeption in Ost- und Südosteuropa, Berlin 1978.
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chengeschichte, Wissenschafts- und Kunstgeschichte. Aspirationen des Bürgertums konnten am ehesten noch in eine allgemeine Geschichte der Kultur oder in die ›Geschichte der Menschheit‹ einfliessen. Soweit es eine Geschichte der Teutschen (diesen Titel verwendete etwa Johann Jacob Mascov 1726!) gab, war sie ›Reichshistorie‹, d.h. Rechts- und Verfassungsgeschichte des Reiches, wie sie von den Juristen traditionell als Hilfswissenschaft gepflegt wurde.68 Unter den späten Reichshistorikern war der bedeutendste Johann Stephan Pütter.69 Aber selbst seine von den Zeitgenossen allgemein geschätzte Leistung galt nach 1789 bzw. 1806 als obsolet.70 Die Kritik richtete sich vor allem darauf, dass hier wohl eine Geschichte der Fürsten und Stände geschrieben wurde, aber keine Geschichte des Volkes. Dabei hatte die ›Reichshistorie‹ ohne Zweifel grosse Bedeutung für die Entwicklung der Geschichte als Wissenschaft. Die Bearbeitung der Quellen, vor allem der Urkunden, die Entwicklung der technischen Hilfswissenschaften zur Klärung von Fragen der Authentizität, Datierung und Einschätzung, bereiteten den Boden für die Historiker künftiger Generationen. Aber auch das Bedürfnis einer wirklichen ›Geschichte der Deutschen‹ wurde im Zeitalter der Aufklärung durchaus erkannt — wenn auch kaum befriedigt. Selbst unter Protestanten fand die erste grosse Darstellung unter diesem Titel Anklang, welche der katholische, am Haus Habsburg orientierte Würzburger Professor Michael Ignaz Schmidt veröffentlichte (die ersten fünf Bände — bis zum Jahre 1544 — erschienen 1778–83; Neuere Geschichte der Deutschen — bis zum Jahre 1657 — in 6 Bänden 1785–93). Eine Fortsetzung in seinem Geist schrieb Joseph Milbiller, der die Geschichte der Deutschen bis an die unmittelbare Gegenwart heranführte. Schmidts Gesichtspunkte »Regententüchtigkeit«, »Kulturhöhe« und »Nationalglückseligkeit« waren wohl Gemeingut der Spätaufklärung; nun fanden sie auf die Historiographie im Rahmen der Nation Anwendung. In mancher Hinsicht weist diese Darstellung auch auf das 19. Jahrhundert voraus, wo sich Schmidt nämlich in warmen Worten um das Mittelalter annahm, wo er die Leistung der Fürsten zensierte und überhaupt Gesichtspunkte einer nicht-dynastischen, am Volk orientierten Geschichtsschreibung ins Spiel brachte.71 Eine Tradition der Nationalgeschichtsschreibung gab es bei den westeuropäischen Staatsnationen. In Frankreich zieht sich eine Kette bedeutender Geschichten der Nation von Paulus Ämilius (der italienische Humanist aus Verona bearbeitete diesen Stoff im frühen 16. Jahrhundert) über François de Mézerays Histoire de France (1643–51) und Gabriel Daniels Histoire de France dépuis l’établissement de la monarchie françoise dans les Gaules (1703) bis zu Voltaires Siècle de Louis XIV (1751). Mit Selbstverständlichkeit war diese Nationalgeschichts-
68. Standardwerk: Hammerstein, Notker, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und 18. Jahrhundert, Göttingen 1972. 69. Link, Christoph, »Johann Stephan Pütter (1725–1807). Staatsrecht am Ende des alten Reiches«, in: Loos, Fritz (ed.), Rechtswissenschaften in Göttingen. Göttinger Juristen aus 250 Jahren, Göttingen 1987, S. 75–99. 70. »Die Reichsverfassung war oft nur in traurigen Spuren ihrer durch Altersschwäche aufgelösten Lebenskraft oder in Pütter’s Lehrbüchern, rechtlichen Darstellungen und vielbesuchten Vorlesungen zu finden; dieses Mannes und einiger seiner treueren Schüler harmloser Formelglaube an sie lieh ihr ein scheinbares Daseyn, welches in der Wirklichkeit nicht vorhanden war […]« Wachler, Ludwig, Geschichte der historischen Forschung und Kunst seit der Wiederherstellung der litterärischen Cultur in Europa, 2 Bde. (5 Teile), Göttingen 1812–20, hier: Bd. 2, S. 763. 71. Berney, Arnold, »Michael Ignatz Schmidt. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Historiographie im Zeitalter der Aufklärung«, in: Historisches Jahrbuch XLIV, 1924, S. 211–239. Degenhard, Gertrud, Das Bild der deutschen Geschichte bei Michael Ignaz Schmidt (1736–1794), Diss. Göttingen 1954.
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schreibung an der Monarchie orientiert, welche die Einheit des Staates garantierte, Kultur und Wissenschaften förderte, sich die Kirche unterwarf und in Krieg und Frieden die entscheidenden Akzente setzte. Allein, das 18. Jahrhundert kannte doch auch bereits ständisch motivierte Auseinandersetzungen, die sich insbesondere um die Entstehung des französischen Staates rankten, damit indirekt Ursprung und Funktion des Adels thematisierten (Henri de Boulainvillier: Histoire de l’ancien gouvernement de la France, 1727; Jean-Baptiste Dubos: Histoire critique de l’établissement de la monarchie françoise, 1734).72 Die Französische Revolution brachte diese Diskussionen zur Reife, indem sie die Frage nach der Bedeutung einzelner Stände für den Staat, nach der Notwendigkeit der Monarchie und nach der Bedeutung des Volkes verschärft stellte. Darüberhinaus boten die Ereignisse seit 1789 selbst den mächtigsten historischen Stoff dar, der erzählt und gestaltet sein wollte. Vor allem aber wurde seit 1789 die Problematik des historischen Bruches, ein forciertes Bewusstsein einer neuen Zeit im Widerstreit mit historischem Denken, in neuer Weise diskutiert. Während die französische nationale Geschichtsschreibung ihr Zentrum in der Monarchie hatte, entwickelte sich die englische um die beiden Pole Monarchie und Parlament. Freilich ist es eine Übertreibung, wenn ein moderner Historiker urteilt: »Before Hume, the writing of history in England was in chaos.«73 Auch England hatte in Polydore Vergil, einem Humanisten aus Urbino, schon im frühen 16. Jahrhundert seinen nationalen Geschichtsschreiber gefunden. Das elisabethanische Zeitalter hatte durchaus Sinn für historische Studien.74 Und das 17. Jahrhundert entwickelte aus den politischen Nöten heraus eine lebhafte zeitgenössische Historiographie, die wohl überwiegend parteiisch war (für den König oder für das Parlament, Whig oder Tory), die aber doch im Werk Clarendons einen mächtigen Gipfel der Darstellungskraft und geistigen Durchdringung erreichte.75 Auch das frühe 18. Jahrhundert stand wesentlich im Zeichen politischer Pamphletistik, die auf die Geschichte ausgriff.76 Wenn man geneigt sein mag, die englische Nationalgeschichtsschreibung mit dem Werk des Schotten David Hume (1711–1776) beginnen zu lassen, hat das im wesentlichen vier Ursachen: 1. Hume begründete seinen Ruhm mit einer Darstellung der Stuart-Zeit (1754), ging in der Folge auf die Tudor-Zeit und schliess-
72. Vgl. Meinecke, Friedrich, Die Entstehung des Historismus, op. cit., S. 167–175. Stadler, Peter, Geschichtsschreibung und historisches Denken in Frankreich 1789–1871, Zürich 1958, S. 26 ff. 73. Mossner, Ernest Campbell, »An Apology for David Hume, Historian«, in: Publications ot the Modern Language Society of America LVI, 1941, S. 657–691, hier: S. 659. — Noch immer lesenswert zu diesem Themenkomplex: Black, J. B., The Art of History. A Study of Four Great Historians of the Eighteenth Century, London 1926, Nachdruck New York 1965 (über Voltaire, Hume, Robertson und Gibbon). Horn, D.B., »Some Scottish Writers of History in the Eighteenth Century«, in: Scottish Historical Review XL, 1961, S. 1–18 (über Andrew Brown, Gilbert Stuart, John Darlrymple, James Macpherson, Robert Watson, William Thompson, Alexander Cunningham). 74. McKisack, May, Medieval History in the Tudor Age, Oxford 1971. Levy, Fred Jacob, Tudor Historical Thought, San Marino, Cal. 1967. Fussner, F. Smith, The Historical Revolution, London 1962. Ferguson, Arthur B., Clio Unbound. Perception of the Social and Cultural Past in Renaissance England, Durham, N.C. 1979. 75. Hay, Denys, Annalists and Historians, London 1977. Trevor-Roper, Hugh, Edward Hyde, Earl of Clarendon, London 1975. 76. Douglas, David Charles, English Scholars 1660–1730, London 21951. Thomson, M. A., Some Developments in English Historiography during the Eighteenth Century, London 1957. Kenyon, John Philipps, The History Men. The Historical Profession in England since the Renaissance, London 1983.
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lich sogar auf das Mittelalter zurück, bis eine komplette History of England from the Invasion of Julius Caesar to the Revolution in 1688 vorlag (1754–1762), mithin also eine englische Nationalgeschichte, die bis fast an die eigene Epoche heranreichte. 2. Hume bemühte sich, eine lesbare Geschichte nach den philosophischen und stilistischen Massstäben seiner Epoche zu schreiben — und er zählt zu Recht unter die klassischen Schriftsteller in englischer Sprache. 3. Er bemühte sich, die Parteigeschichtsschreibung der vorangehenden Zeit zu überwinden, womit er die bis heute diskussionswürdige Frage aufwarf, ob seine Deutung der englischen Geschichte als ›Tory‹ zu gelten habe oder ob ihm die angestrebte Überparteilichkeit einer Geschichte der ›ganzen‹ Nation geglückt sei.77 4. Hume hatte einen ausserordentlichen Erfolg. Obwohl sein Werk von Anfang an umstritten war (aus Gründen der Parteipolitik, aber auch wegen des kirchenkritischen Standpunkts), war seine Darstellung die klassische bis zu Macaulay, fast hundert Jahre lang. Fragt man andererseits nach seinen Schwächen, ergeben sich ebenfalls vier entscheidende Argumente: 1. Wirklich geistig durchdrungen und kenntnisreich dargestellt war nur die StuartGeschichte. Mit seinem Rückgriff auf die Tudor-Zeit stützte er vor allem sein Stuart-Werk, wurde der Epoche aber weniger gerecht, weil er auch wenig Verständnis für die religiösen Verhältnisse der Reformationsepoche hatte. Und sein Mittelalter gilt allgemein als der schwächste Teil. Er brachte kein Verständnis für die Epoche auf, vermochte sie nicht wirklich zu durchdringen und gestalterisch zu bewältigen.78 2. Wie Voltaire war Hume nicht nur Rationalist, sondern auch Skeptiker. Der Mensch schien ihm zu allen Zeiten wesentlich derselbe; einen Fortschritt sah er in der Geschichte nicht. Indem sich aber in den späteren Generationen das Verhältnis zur Zeit und die Einschätzung der Tendenz der Geschichte grundlegend wandelten, musste Hume auch aus mentalitätsgeschichtlichen Gründen an Zustimmung verlieren. 3. Hume intendierte eine umfassende Darstellung aller Bereiche des Historischen; wirklich gestaltet ist aber nur die politische und rechtliche Entwicklung (die übrigen Angaben sind wenig inspiriert kompiliert). 4. Der Haupteinwand gegen Hume war im 19. Jahrhundert seine mangelnde Wissenschaftlichkeit, seine eingeschränkte Quellenbeherrschung. Er hatte sich durchwegs gedruckter Quellen und Darstellungen bedient; seit dem Aufkommen des neuen positivistischen Handwerksgeistes hatte auch die wissenschaftliche Reputation des Aufklärungsschriftstellers gelitten. Sein schottischer Freund und Zeitgenossen William Robertson (1721–1793) war in dieser Beziehung von anderem Zuschnitt.79 Wie Hume um eine lesbare Darstellung bemüht, scheute er nicht die Auseinandersetzung mit entlegenen Quellen und Handschriften. In der Darstellung verbannte er diese jedoch meist in den Anhang, um dem Publikum eine flüssige Darstellung in klassisch knappen Dimensionen bieten zu können. Sein erstes Werk war eine History of Scotland (1759), womit er sich in eine bedeutende schottische Tradition einreihte; aber seine Darstellung stand doch hoch über früheren Historikern (George Buchanan z.B.). Anders als Hume griff
77. Vgl. Mossner, Ernest Campbell, »Was Hume a Tory Historian? Facts and Reconsiderations«, in: Journal of the History of Ideas II, 1941, S. 225–236. 78. Wexler, Victor G., David Hume and the History of England, Philadelphia 1979 (Mittelalter: S. 68–88). Giarizzo, G., David Hume, Politico e Storico, Turin 1962 (Teil II über Hume als Historiker). 79. Smitten, Jeffrey, »Robertsons History of Scotland«, in: Clio XI, 1981, S. 29–47.
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Robertson mit seinen späteren Werken über die britische Geschichte hinaus auf die europäische (History of the Reign of the Emperor Charles V, 1769) und überseeische (History of America, 1777). Von Hume unterschied er sich nicht nur durch seinen Radius und seine Quellenforschung, sondern auch durch höchste Sensibilität für Tendenzen der eigenen Zeit und früherer Epochen. Als Meisterwerk gilt bis heute seine Kurzdarstellung des Mittelalters, die er als Einleitung der Geschichte des Zeitalters Karls V. voranstellte.80 Man hat ihn deshalb in gewisser Hinsicht als Vorläufer des Historismus auffassen können,81 obwohl er im übrigen ein Zeitgenosse der schottischen Aufklärer war, mit denen er beispielsweise eine Vorstellung von der stufenweisen Entwicklung der Zivilisation teilte. Seine Bemühung um empirische Fundierung veranlasste ihn zu dem damals innovativen Schritt, für seine History of America nicht nur eine umfangreiche Korrespondenz mit Missionaren zu führen, sondern ihnen auch Fragebogen vorzulegen.82 Wie Hume intendierte er eine umfassende Geschichtsschreibung, doch während Hume im wesentlichen an Politik und Recht orientiert blieb und in seinen Querschnitten zur Entwicklung der Künste und Wissenschaften, der Bräuche und Sitten nicht viel mehr als ungeordnete Stichwortsammlungen zu liefern vermochte, gelang Robertson eine umfassende Strukturgeschichte unter Einbeziehung auch der Kultur. Während Robertson als historischer Schriftsteller zu seiner Zeit erfolgreich war, hatte er keine Möglichkeit, eine historische Schule zu bilden; ja, er fand für seine Leistungen kaum Nachfolger. Hier wirkte sich die Strukturschwäche der britischen Wissenschaft aus: Robertson hatte zwar eine gesicherte Stellung als ›Principal‹ der Universität Edinburgh (1763 erhielt er ausserdem die Sineküre eines Königlichen Geschichtsschreibers von Schottland),83 aber er kannte noch kein historisches Seminar. In den wichtigsten europäischen Nationalstaaten gab es also im 18. Jahrhundert wohl Synthesen der jeweiligen Nationalgeschichte, doch diese manifestierten sich wesentlich in herausragenden Leistungen einzelner Gelehrter, die zudem noch nicht durchwegs Fachhistoriker waren. Entscheidend war hier nicht die Förderung durch Fürsten oder die Tätigkeit an Universitäten und Akademien; entscheidend war die Ausbildung eines literarischen Marktes.
Ansätze einer Landesgeschichte Was die Humanisten für die Anfänge der Nationalgeschichte in England, Frankreich und den übrigen Nationalstaaten geleistet hatten, kam in den zersplitterten Regionen Italiens und Deutschlands einzelnen Territorialstaaten zugute. Aus humanistischem Geist schufen in Bayern
80. Eine Neuausgabe dieser Einleitung: Robertson, William, The Progress of Society in Europe, Gilbert, Felix (ed.), Chicago 1972. 81. Schlenke, Manfred, »Aus der Frühzeit des englischen Historismus. William Robertsons Beitrag zur methodischen Grundlegung der Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert«, in: Saeculum VII, 1956, S. 107–125. 82. Schlenke, Manfred, »Anfänge einer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung in Grossbritannien im 18. Jahrhundert«, in: Hammer, Karl / Voss, Jürgen (eds.), Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation – Zielsetzung – Ergebnisse, op. cit., S. 314–333; S. 339 f. 83. Horn, D. B., »The Historiographers Royal in England and Scotland«, in: Scottish Historical Review XXX, 1951, S. 15–29, hier: S. 24.
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Johannes Aventinus und in der Schweiz Ägidius Tschudi umfassende Darstellungen historischer Einheiten — um nur stellvertretend diese beiden zu nennen.84 Im Zeitalter des Konfessionalismus und Absolutismus geriet die Geschichtswissenschaft allgemein in den Bann konfessionsbestimmter Landesinteressen, soweit sie nicht einfach dem Lob der jeweiligen Dynastie verpflichtet blieb.85 Die Aufklärung hatte hier Neuansätze zu bieten. Das Vorbild der grossen Aufklärungshistoriker wirkte aber in Deutschland oder Italien, bevor es auch hier zu Ansätzen nationaler Historiographie kam, vor allem im Bereich der Landesgeschichte, d.h. der Geschichte einzelner Territorien und Städte. Johann Daniel Schöpflin (1694–1771), Professor an der Universität Strassburg, sammelte und sichtete kritisch alle damals verfügbaren Quellen zur Geschichte eines geographischen Raumes, in dem verschiedene Herrschaften Interessen hatten, und veröffentlichte schliesslich eine Gesamtdarstellung der elsässischen Geschichte (Alsatia illustrata, 1751–61). Er begründete eine Schule, in der besonders die historischen Hilfswissenschaften gepflegt wurden — durchaus zum Nutzen praktischer ›Geschäftsmänner‹ und Diplomaten. Als 1763 die Kurpfälzische Akademie der Wissenschaften eröffnet wurde, konnte er wesentlichen Einfluss auf dieses Projekt nehmen. Dass dort die landeskundliche Forschung, und zwar unabhängig von den Interessen des Stifters, institutionalisiert werden konnte, ist wesentlich Schöpflin und dann seinem Schüler Andres Lamey (1726–1802) zu verdanken.86 Justus Möser (1720–1794) kam zur Geschichte vom Recht und von der Verwaltungspraxis des Bistums Osnabrück.87 Seine entscheidenden Anregungen empfing er einerseits aus der Reichshistorie, andererseits aus englischem und französischem Aufklärungsdenken, vor allem von Montesquieu. Seine Auffassungen über Geschichte klärten sich in Auseinandersetzung mit dem Werk Humes und Winckelmanns sowie seiner früh verstorbenen Freunde Abbt und Lodtmann. Am meisten trug aber seine diplomatische und Verwaltungstätigkeit im und nach dem Siebenjährigen Krieg dazu bei, denn sie zwang ihn, über die wirklichen Interessen und Gefährdungen der Bürger nachzudenken. Er fand sich eingeklemmt zwischen komplexen Rechtstraditionen und systematisierendem Aufklärungsdenken, zwischen fast unbegreiflich
84. Vgl. Joachimsen, Paul, Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluss des Humanismus, Leipzig 1910 (Repr. Aalen 1968). Dünninger, Ernst, Johannes Aventinus. Leben und Werk des bayerischen Geschichtsschreibers, Rosenheim 1977. Feller, Richard / Bonjour, Edgar (eds.), Geschichtsschreibung der Schweiz. Vom Mittelalter zur Neuzeit, 2 Bde., Basel / Stuttgart 1962. 85. Abriss der Entwicklung: Gerlich, Alois, Geschichtliche Landeskunde des Mittelalters. Genese und Probleme, Darmstadt 1986, »Historiographie der Geschichtlichen Landeskunde«: S. 1–98. 86. Fuchs, Peter, Palatinus Illustratus, Mannheim 1963. Voss, Jürgen, Universität, Geschichtswissenschaft und Diplomatie im Zeitalter der Aufklärung: Johann Daniel Schöpflin (1694–1771), München 1979. 87. Meinecke, Friedrich, Die Entstehung des Historismus, op. cit., S. 303–354. Boeckenförde, Ernst-Wolfgang, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, Berlin 1961, S. 23–41. Schmidt, Peter, Studien über Justus Möser als Historiker. Zur Genesis und Struktur der historischen Methode Justus Mösers, Göppingen 1975. Sheldon, William F., The Intellectual Development of Justus Möser: The Growth of a German Patriot, Osnabrück 1970. Sellin, Volker, »Justus Möser«, in: Wehler, Hans-Ulrich (ed.), Deutsche Historiker, Göttingen 1982, Bd. 9, S. 23–41. Göttsching, Paul, »Justus Mösers Staats- und Geschichtsdenken. Der Nationalgedanke des aufgeklärten Ständetums«, in: Der Staat XXII, 1983, S. 33–61. Knudsen, Jonathan B., Justus Möser and the German Enlightenment, Cambridge et al. 1986.
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scheinenden Verfassungsrealitäten (das Bistum Osnabrück wurde seit dem Westfälischen Frieden abwechselnd von einem katholischen Bischof und einem protestantischen Prinzen aus dem Welfenhause regiert) und dem Bestreben der absolutistischen Fürstenstaaten, das Bistum zu vereinheitlichen und zu säkularisieren. Zur Zeit der prekären Situation Osnabrücks im Siebenjährigen Krieg hatte Möser den entscheidenden Einfluss auf die Regierungsführung, und sein überlegener Geist suchte neben der Bewältigung der praktischen Probleme auch eine historische Reflexion der vorgefundenen Wirklichkeit. Dabei verband er das aufklärerische Modell eines ›Originalkontrakts‹ mit dem praktischen Problem der Steuerkraft und Verteidigungsfähigkeit. In dieser Konstellation ergab sich für ihn der freie Landeigentümer als entscheidendes Element der politisch-sozialen Wirklichkeit: ›Sein‹ Interesse an der Nutzung seines Privateigentums sei es letztlich, das die Aufrechterhaltung des Staates, mithin Frieden und Sicherheit für alle, garantiere. Diesen Grundgedanken trug Möser in die Geschichte und verankerte ihn in der vorkarolingischen Zeit der Landnahme germanischer Stämme (Sachsen). Freie Landeigentümer schlossen sich zur Markgenossenschaft, dann zur ›Mannie‹, schliesslich zum Staat zusammen. Die Landesverteigigung oblag ursprünglich allen gleichermassen, doch wurden einzelne Reiter für besondere Aufgaben abgestellt: die Entstehung des Adels. Obwohl er diese Vorgänge im einzelnen hauptsächlich im Osnabrückischen darzustellen suchte, ging es ihm dabei um eine Basis für die deutsche Geschichte überhaupt: Die Geschichte von Deutschland hat meines Ermessens eine ganz neue Wendung zu hoffen, wenn wir die gemeinen Landeigentümer, als die wahren Bestandteile der Nation, durch alle Veränderungen verfolgen.88
So formulierte es Möser programmatisch in der Einleitung, und diese wurde nicht zufällig (auszugsweise) in die Programmschrift des Sturm und Drang, Von deutscher Art und Kunst (1773) aufgenommen. Die junge Generation sah hier ein neues Wollen am Werk, einen neuen Ton angeschlagen: Geschichte sollte nicht mehr Geschichte der Fürsten und Minister sein, sondern Geschichte des Volkes. In Mösers Programm war der Kaiser nur noch der »Feldherr«, und die Reichsfürsten waren die »Kriegs-Obristen«. Der historische Prozess, für dessen Nachzeichnung sich Möser trotz Urkundenstudiums vielfach auf (teilweise unhaltbare) Hypothesen verlassen musste, wurde auf die harten Fakten des wirtschaftlichen und sozialen Lebens begründet. So suchte Möser zu einer wirklich »pragmatischen« Geschichte zu gelangen, d.h. zu einer möglichst lückenlosen Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen. Dabei ist überall der analytische und konstruktive Geist des Aufklärers hervorstechend, nicht die Pietät überlieferten Zuständen gegenüber. Möser wollte die vorgefundene Realität erklären, d.h. möglichst Schritt für Schritt deduzieren, und zwar aus historischen Prinzipien, deren Verwirklichung oder Modifikation jeweils zu betrachten war. Alle scheinbaren Irregularitäten sollten auf Gelegenheitsursachen und besondere Umstände zurückgeführt werden. Möser charakterisierte seinen Grundsatz einmal an anderer Stelle so: Wenn ich […] auf eine alte Sitte oder alte Gewohnheit stosse, die sich mit den Schlüssen der
88. Möser, Justus, Sämtliche Werke, Göttsching, Paul (ed.), Oldenburg / Hamburg 1964, Bd. 12 / 1, S. 34.
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Neuern durchaus nicht reimen will, so gehe ich mit dem Gedanken: die Alten sind doch auch keine Narren gewesen, solange darum her, bis ich eine vernünftige Ursache davon finde.89
Von diesem Grundsatz ausgehend, entwickelte er vielerlei Erklärungen, die mit dem Denken seiner Zeitgenossen in Widerspruch standen. Beispielsweise verteidigte er (gegen aufklärerisches Humanitätsdenken) die Leibeigenschaft. Er pries das Faustrecht und das Prinzip der Ehre. Nach 1789 entwickelte er (an Burke erinnernde) Rechtfertigungsstrategien für das gute Alte, für das organisch Gewachsene, das wahre Freiheit und sicheres Eigentum in dauerhafterer Weise gewährleiste als blosse Vernunftschlüsse und die Berufung auf ein abstraktes Natur- und Menschenrecht. Solche Vorstellungen ergaben sich jedoch folgerichtig aus seiner Bearbeitung der Geschichte. So wurde er zum Lehrer von Rehberg, Brandes und Gentz sowie zum Ahnherrn der historischen Rechtsschule (Savigny, Stein), der restaurativen Staatswissenschaft (Adam Müller, Haller) und der Volkskunde (Riehl). Mit seiner Osnabrückischen Geschichte gelangte Möser nur bis ins 13. Jahrhundert. Mit Recht gilt Möser als Begründer der verfassungs- und sozialgeschichtlichen Mediävistik. Ludwig Timotheus Spittler (1752–1810), Württemberger, wurde bereits in jungen Jahren Professor der Geschichte in Göttingen. Er wandte sich von der Theologie zur Kirchengeschichte und von dieser zu allgemeinen Staatengeschichte; schliesslich fand er sein eigentliches Feld in der Landesgeschichte (Geschichte Württembergs, 1783; Geschichte des Kurfürstenthums Hannover, 1786). Damit behandelte er zwei deutsche Territorialstaaten mittlerer Grösse, in denen die Stände entscheidendes Mitspracherecht bei der Regierungsführung hatten. Just diese Entwicklung war es, die ihn interessierte: Wie konnten Staaten entstehen, die auch bürgerlichen Kräften Einfluss gaben? Wie konnten Staaten entstehen, die aufgeklärte, rationale Prinzipien bei der Besteuerung und bei der Förderung der Untertanen zugrundelegten? Anders als Schlözer hielt Spittler wenig von der Statistik, von der Datensammlung und Quantifizierung als Bestandteilen historischer Darstellung. Spittler war auch nicht eigentlich methodisch innovativ, kein Pionier der Hilfswissenschaften.90 Grossen Eindruck machte er auf seine Zeitgenossen vor allem durch seinen Stil, durch seine kluge Disposition und Präsentation, auch durch seine staatsmännischen Reflexionen. (1797 wurde er Minister in Württemberg und verliess die Universität.) Nach dem Massstab spätere Zeiten waren seine Quellenforschungen nicht tiefdringend genug. Aber seine Tendenz, Landesgeschichte als Geschichte von Staaten, nicht Dynastien, zu schreiben; den bürgerlichen Anteil an der Geschichte und Politik zu betonen; konfessionelle Sichtweise möglichst zu überwinden: All dies galt seinen Zeitgenossen als nachahmenswert und vorbildlich. Spittlers Werke zeugen vor allem davon, welche bewusstseinsbildende Bedeutung die Landesgeschichte während der Spätaufklärung, vor 1789, gewinnen konnte.
89. Möser, Justus, Sämtliche Werke, Schirmeyer, Ludwig / Crusius, Eberhard (eds.), Oldenburg / Hamburg 1968, Bd. 10, S. 133. 90. Grolle, Joist, Landesgeschichte in der Zeit der deutschen Spätaufklärung: Ludwig Timotheus Spittler (1752–1810), Göttingen 1963. Reill, Peter Hanns, »Ludwig Timotheus Spittler«, in: Wehler, Hans-Ulrich (ed.), Deutsche Historiker, op. cit., S. 42–60. Schubert, Ernst, »Ludwig Timotheus Spittler und Wilhelm Havemann. Die Anfänge der Landesgeschichte in Göttingen«, in: Boockmann, Hartmut /Wellenreuther, Hermann (eds.), Geschichtswissenschaft in Göttingen, Göttingen 1987, S. 122–160.
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Die Verwissenschaftlichung der Geschichte Durch den Anspruch der Philosophie um 1700, Wahrheit komme allein logischen (mathematischen) Aussagen zu, historischen (empirischen) Aussagen könne allenfalls Wahrscheinlichkeit zuerkannt werden, stand die Geschichte in der Gefahr, als unwissenschaftlich angesehen und in ihrer Bedeutung geringgeschätzt zu werden. Wenn die Geschichte ein Jahrhundert später zur Leitwissenschaft aufsteigen konnte, musste ein einschneidender Paradigmenwechsel vollzogen worden sein. Von grosser Bedeutung ist hier das Werk Allgemeine Geschichtswissenschaft (1752) von Johann Martin Chladenius (1710–1759), der zur Zeit der Dominanz der Schulphilosophie eine allgemeine Logik des Erfahrungswissens zu erstellen suchte. Chladenius reflektierte grundlegende Fragen der Hermeneutik, des Erzählens, der Standortgebundenheit und Gewissheit historischer Erkenntnis. Damit wies er der langen abendländischen Tradition der Geschichtsschreibung einen neuen Standort zu und eröffnete auch für Geschichte als universitäre Disziplin neue Möglichkeiten.91 Die Epoche seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ist auch geprägt von intensivierenden Bemühungen um eine Methodik der Geschichtswissenschaften. Freilich: Die Methode der Geschichtswissenschaften war zunächst wesentlich Adaption der Methode der Klassischen Philologie. Doch gilt es, die Interdependenz beider Bereiche und die Prädisposition der Geschichte für die historisch-kritische Methode zu sehen.92 Am Anfang stand die grundlegende Erkenntnis der Differenz zwischen dem normativen Altertum und der eigenen Zeit. Für die Humanisten hatte sich zwischen beide Zeitbereiche eine Verfallszeit (Mittelalter) geschoben. Humanistische Bemühungen um Methode hatten zum Ziel, die Verderbtheit der Zwischenzeit aufzuspüren und aufzuheben. Aus solchem Bemühen erwuchs ein spezifisch kritischer Umgang mit Quellen und der Versuch, Kriterien für ihre Echtheit, Vollständigkeit, zeitliche Einordnung usw. zu erstellen. An diese Bemühungen der Humanisten konnte das 18. Jahrhundert anknüpfen; in diesem Sinne waren seine Bemühungen nicht neu.93 Doch über die Humanisten der älteren Zeit hinausgehend entwickelten die Aufklärer eine historische Sachkritik, eine verstärkte Reflexion der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit des Überlieferten. Vor allem aber suchten sie zunehmend, die Hilfswissenschaften zu entwickeln und die Sachzusammenhänge zu klären, in denen die überlieferten Schriftquellen zu deuten waren. Hier leistete die Göttinger Schule der Philologen und Historiker Entscheidendes; hier ist der Ort von Christian Gottlob Heyne und auch der von Johann Christoph Gatterer, die beide nicht nur durch jahrzehntelanges praktisches Wirken an der Universität Göttingen Generationen von Studenten ausbildeten, sondern auch durch gelehrte Zeitschriften und Seminargründungen die Institutionalisierung der historisch-philologischen Wissenschaften voranzutreiben vermochten.94
91. Vgl. das Vorwort von Reinhart Koselleck und die Einleitung von Christoph Friederich zum Neudruck: Chladenius, Johann Martin, Allgemeine Geschichtswissenschaft, Wien / Köln / Graz 1985. 92. Vgl. Muhlack, Ulrich, »Von der philologischen und historischen Methode«, in: Meier, Christian /Rüsen, Jörn (eds.), Historische Methode, München 1988, S. 154–180. 93. Muhlack, Ulrich, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung, op. cit., S. 347 ff. 94. Ibid., S. 358 ff.
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Von grundsätzlicher Bedeutung für die Entwicklung der Geschichte als Wissenschaft waren (nach der Phase der gelehrten Klöster der Mauriner und Bollandisten, in Deutschland vor allem der Benediktiner)95 die wissenschaftlichen Akademien gewesen. Sie unternahmen weitausgreifende Quellensammlungen, organisierten Forschungskollektive und verfeinerten dabei die Quellenkritik.96 In der Spätaufklärung ging diese Leitfunktion auf die avanciertesten Universitäten über. Professoren wie Gatterer, Schlözer und Spittler unterrichteten Studenten und erbrachten historische Forschungen; sie wurden aber darüberhinaus auch als Herausgeber von Zeitschriften tätig, womit sie das Aufklärungsideal der Diskursivität in gelebte Wirklichkeit umsetzten. Dies hatte für die Verwissenschaftlichung der Geschichte insofern Bedeutung, als nun Forschung und Überprüfung, Darstellung und Revision, Äusserung und Verwerfung von Hypothesen in kleinen Kreisläufen kurzgeschlossen werden konnten. Selbst wenn dieses Zeitalter (in Deutschland) noch nicht viele grossen Synthesen als Darstellungen für ein gebildetes Publikum erbrachte, war durch das Forum der Zeitschriften die schnelle Verständigung unter Historikern wie auch gleichzeitig die Teilhabe grösserer Kreise des Publikums durchweg gegeben. Damit geriet historische Forschung unter die Kriterien öffentlicher Diskussion im allgemeinen. Historiker konnten es etwa von sich weisen, Wundern historische Glaubwürdigkeit zuerkennen zu müssen, indem sie diese in den Kompetenzbereich der Theologen verwiesen.97 Auf diese Weise konnte die historische Überlieferung allmählich von Argumenten der Autorität und der Doktrin freigemacht und zum Medium bürgerlichen Emanzipationsstrebens umgeformt werden. Damit stieg aber auch die Bedeutung des Faktors Methode. Denn in diesem Bereich öffentlicher Kommunikation unter Aufklärern, in dem nicht mehr einfach mit ethischen und religiösen Kriterien über historische Wahrheit entschieden werden konnte und die humanistischrhetorische Komponente des Stils zurücktrat, konnte sich der Historiker fast nur noch unter Verweis auf seine Quellen und ihre wissenschaftliche Behandlung, auf die Operationen seiner Forschungsarbeit und schulgerechte Behandlung der Materien legitimieren. Dieser Prozess der Verwissenschaftlichung der Geschichte, der hier unter Hinweis auf die deutsche Entwicklung herausgestellt wurde, verlief in einzelnen europäischen Ländern unterschiedlich, je nach der Qualität der Institutionen (Akademien, Universitäten), der Medien (Zeitschriften) und des literarischen Marktes. Doch wuchsen aus der deutschen Entwicklung nach der Humboldt’schen Universitätsreform die für das 19. Jahrhundert massgeblichen Tendenzen hervor. Unter der Grundbedingung einer universitätsgestützten Verwissenschaftlichung, der methodischen Ausbildung in Quellenkritik, Hilfswissenschaften und Interpretation in Historischen Seminaren, wurden jene Darstellungen verfasst, die sodann, getragen von einem breiten Bildungsbürgertum, inspiriert durch die Tendenzen des Liberalismus und des Nationalismus, weltweit als gültige Ausprägungen historischer Wissenschaft verstanden und geschätzt wurden.
95. Vgl. die Beiträge von Bruno Neveu, Pierre Gasnault und Ludwig Hammermayer in: Hammer, Karl / Voss, Jürgen (eds.), Historische Forschung im 18. Jahrhundert, op. cit., S. 27 ff., 102 ff., 236 ff. 96. Kraus, Andreas, Vernunft und Geschichte. Die Bedeutung der deutschen Akademien für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft im späten 18. Jahrhundert, Freiburg / Basel / Wien 1963. 97. Blanke, Horst Walter, Historiographiegeschichte als Historik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 175.
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Impulse aus der Erforschung der Antike Die Neuzeit ist insgesamt, seit dem Humanismus, durchzogen von der Auseinandersetzung mit der zunächst als normativ vorausgesetzten Antike. So waren schon am Anfang neuzeitlicher Geschichtsschreibung Fragen der Tradition, Kritik und Methode entscheidend durch diese Auseinandersetzung bestimmt gewesen; und in der Phase der Verwissenschaftlichung der Historie gingen erneut wichtige Impulse von der Erforschung der Antike auf die Konzeptionen von Forschungs- und Darstellungsmethoden aus. Edward Gibbons (1737–1794) Werk The Decline and Fall of the Roman Empire (1776–88) wurde viel gerühmt wegen seines Stils (auch geschmäht),98 aber es waren wohl mehr die brisanten inhaltlichen Momente, der Bezug zum Zeitgeist des 18. Jahrhunderts und die Kritik am Christentum, als Fortschritte der Methodik und Quellenbehandlung, die für den ausserordentlichen Erfolg dieses Werkes verantwortlich waren.99 Immerhin hielt noch Niebuhr (1776–1831) dieses Werk für vorbildlich — jener Barthold Georg Niebuhr, dem man im allgemeinen die Entwicklung der historisch-kritischen Methode zuschreibt; über den Anfang von Gibbons Werk, das Zeitalter Konstantins, gedachte er seine eigene Römische Geschichte (Bd. 1 /2 1811 /12) nicht hinauszuführen. Doch wie Gibbon in seinem Lebensstil und seiner Sensibilität, seiner Kirchenkritik und seinem Vernunftoptimismus ein Mann der Aufkärung war, war Niebuhr ein Mann der Romantik: Auch als Staatsmann und Dipomat eingeflochten in die Zeitläufte der Befreiungskriege, durchdrungen vom Glauben an die Kraft und Gesundheit freien Bauerntums, Anhänger unhaltbarer Theorien über Volkslied und Volkspoesie.100 Sein historisch-kritischer Ansatz liegt im wesentlichen darin begründet, dass er aus tiefer Einsicht in die Unstimmigkeiten der Überlieferung über das frühe Rom — die auch Louis de Beaufort in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts schon deutlich gewesen war101 — nicht grundsätzlich negative, pyrrhonistische Schlussfolgerungen zog, sondern blockhafte Überlieferungen wie das Geschichtswerk des Livius aufzulösen und positiv zu benutzen verstand. Wie Friedrich August Wolf in seinen bahnbrechenden Prolegomena ad Homerum (1795) in der Homer als Autor zugeschriebenen Überlieferung verschiedene Schichten erkannte und Elemente älterer Epen herauskristallisiert hatte, glaubte Niebuhr in den ersten Büchern des Livius ältere volkstümliche Teile erkennen zu können, die er mit grossem Scharfsinn als direkte Zeugnisse über frührömische Anfänge interpretierte. Er sah die altrömische Geschichte im verklärten Licht einer Republik freier und wahrhafter Bauern, zeigte sich aber doch aufgrund seiner Finanz-, Rechts- und Verwaltungserfahrung in besonderem Masse qualifiziert für das Verständnis von Zusammenhängen, die man bis dahin nicht so erkannt hatte. Gibbons Hauptanliegen, als Schriftsteller zu wirken, ging bei
98. Vgl. Füter, Eduard, Geschichte der Neueren Historiographie, München /Berlin 1911, ³1936, S. 371 (französisch unter dem Titel: Histoire de l’historiographie moderne, Paris 1914). 99. Über Gibbon: Momigliano, Arnaldo, »Gibbon’s Contribution to Historical Method«, in: Historia II, 1954, S. 450–463. Christ, Karl, Von Gibbon zu Rostovtzeff. Leben und Werk führender Althistoriker der Neuzeit, Darmstadt 1979, S. 8–25. 100. Über Niebuhr: Schnabel, Franz, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, op. cit., S. 36–49. Christ, Karl, Von Gibbon zu Rostovtzeff, op. cit., S. 26–49. 101. Vgl. Füter, Eduard, Geschichte der Neueren Historiographie, op. cit., S. 327 f.
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Niebuhr ganz verloren, der zwar ein durch seine Persönlichkeit faszinierender akademischer Redner gewesen sein muss, der aber nicht zu einer klar organisierten historischen Darstellung durchzudringen vermochte. Dies liegt ursächlich in der neu entwickelten Finesse der Quellenkritik begründet; Niebuhr bestand darauf, dass quellenkritische Untersuchungen in den Gang der Erzählung selbst eingeflochten werden müssten.102 Leopold von Ranke (1795–1886), der den historisch-kritischen Anspruch auf die Erforschung der Frühen Neuzeit anzuwenden unternahm, zog aus diesem Problem den umgekehrten Schluss (der schon Robertson durch seine Ausgliederung kritischer Anhänge gezogen hatte) — dass nämlich eine historische Erzählung fortlaufend lesbar sein müsse. Konsequent stellte er deshalb in seinem Frühwerk Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535 (1824) neben einen ersten Band mit der Darstellung einen zweiten mit den Untersuchungen zu seinen Quellen. So kamen schliesslich beide Aspekte zusammen: die neue historisch-kritische Methode und die stilistisch anspruchsvolle Darstellung — die Synthese, auf welcher der Erfolg des Historismus beruhte.
Die Entdeckung des Mittelalters Seit dem Humanismus dominierte die Zeitkonzeption, welche die eigene Zeit von der normativen Antike durch eine breite Kluft getrennt sah. Seit Christoph Cellarius (Historia medii aevi, 1688 ff.) hatte man zunehmend diese Zwischenzeit als ›Mittelalter‹ (oder ›mittlere Zeiten‹) zu bezeichnen begonnen und so zu jener dreigliedrigen Auffassung historischer Epochen gefunden, die auch heute noch nicht allenthalben überwunden ist. Daraus folgte zwar keine Aufwertung dieses Mittelteils der Geschichte, wohl aber eine Vorbereitung zur Gleichbehandlung. Allenthalben erkennt man im 18. Jahrhundert, trotz der herrschenden klassizistischen Doktrin, Ansätze zu einer Aufwertung des »finsteren Mittelalters«. Das gilt nun zwar nicht für Historiker wie Hume und Schlözer; wohl aber befasste sich Voltaire recht eingehend mit den Strukturgegebenheiten des Dualismus von Papsttum und Kaisertum, mit den Folgen der Kreuzzüge usw., und Robertson lieferte als Einleitung zu seiner Epoche Karls V. jenen berühmten Aufriss der mittelalterlichen Grundlagen Europas, von dem schon die Rede war. Historiker wie Michael Ignaz Schmidt waren durchaus in der Lage, auch die ›Nationalglückseligkeit‹ gewisser Phasen der mittelalterlichen Geschichte zu taxieren, und von Spittler hat man gesagt, dass er der Erfinder des ›gemütlichen‹ Mittelalters gewesen sei, jener idyllisierenden Ausschmückung des Mittelalters als einer Zeit der Minnesänger und fahrenden Scholaren, der fromen Mönche und irrenden Ritter.103 Entscheidend ist nun, dass solche Keime des 18. Jahrhunderts in der Epoche nach der Revolution von 1789 zu überraschender Entfaltung kommen sollten. Die Jahrzehnte nach 1789 sind geradezu ein Zeitalter eines romantischen Mediävalismus geworden. Dabei standen zunächst noch nicht exakte Forschungen im Vordergrund, sondern eher ein Gefühl des Heimwehs. Romanciers und Historiker träumten sich zurück in jene fernen Zeiten, als Tapferkeit noch
102. Ibid., S. 470 f. 103. Ibid., S. 378.
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Tapferkeit und Ehre noch Ehre war. Teilweise spielte dabei ein Sensorium für frühe Stadien der eigenen Nation mit (das gilt besonders für die germanischen Völker, die sich auf diese Weise von der normativen Antike zu emanzipieren suchten.) Teilweise liess der Mediävalismus soziale Elemente durchblicken, etwa einer Renaissance des Adels. Teilweise enthält er auch religiöse Elemente, indem nach dem Rationalismus der Aufklärung nun eine Rückbewegung zur alten Kirche, zum Katholiszismus, zuweilen mit mystischen Zügen, erkennbar wurde. Die neue Welt der zentralisierten Machtstaaten, der grossen Kriegsheere, der geistigen Freiheit und der alles durchdringenden Rationalität schien manchen bedrohlich. Rousseaus ›Zurück zur Natur!‹ interpretierten nun nicht wenige als ›Zurück in die Vergangenheit!‹ Diese Bewegung nahm zu, je mehr der wirtschaftliche und soziale Wandel die heraufziehende Industriegesellschaft ankündigte. Die gefühlsmässige, lebensweltlich begründete Stimmung für das Mittelalter hatte für die Geschichtswissenschaft höchst wichtige Folgen: Man sammelte und glorifizierte Kunstdenkmäler des Mittelalters (wie die Brüder Boisserée); man sammelte und deutete Literaturdenkmäler früherer Zeiten (Übersetzung und Edition des Nibelungenlieds durch Friedrich Heinrich von der Hagen, 1807 / 1811). Man institutionalisierte Spezialforschungen zum Mittelalter, wie es in den vom Freiherrn Karl vom und zum Stein angeregten Monumenta Germaniae Historica gelang — einem wissenschaftlichen Jahrhundertwerk.104 Für solche Unternehmungen hätte dem im Kern doch klassizistischen 18. Jahrhundert der Sinn gefehlt, aber auch die Unterstützung. Durch Romantik und keimenden Nationalismus entstand nun eine Zeitströmung, welche die historischen Studien um eine zusätzliche, unerwartete Dimension bereicherten. Diese hatte gemeineuropäische Ausmasse: Das Mittelalter wurde allgemein zu einem Bestandteil des 19. Jahrhunderts, sinnfällig in neugotischen Bauten von London bis Budapest.
Die Krise um 1800: Revolution, Romantik und Historismus Die Epoche, als deren Grenzen hier 1760 und 1820 angenommen werden, ist gekennzeichnet durch ein weitverbreitetes Gefühl des Umbruchs: sowohl im Leben einzelner Individuen als auch in der Entwicklung der grossen Einheiten, der Gesellschaft, der Kultur, der Kirche und des Staates. Das sinnfälligste Datum ist ohne Zweifel 1789. Es symbolisiert aber nur den eklatantesten aller Brüche, keineswegs den einzigen. Im Leben vieler Zeitgenossen, vor allem in Deutschland, aber auch anderwärts, zeitigte die immer weiter durchdringende Aufklärung eine religiöse Krise, die auch kollektiv verarbeitet wurde: Innerhalb der eigenen Lebenszeit erfuhren die Protestanten einen schubweisen Wandel ihrer Glaubenslehre, ja ihrer ganzen Kirche.105 Ein weiteres wichtiges Element zum Verständnis der Epoche ist die Reformtendenz der absolutistischen Staaten: Nicht wenige Fürsten hatten eine fast unumschränkte Gewalt erlangt, und von Portugal bis Preussen erhielten nun Aufklärer auf dem Thron oder nahe an demselben die Möglichkeit, durch rationale Reformen einschneidend in traditionale Strukturen einzugreifen. Im Extremfall konnte dies zum Aufstand der Untertanen führen (so in den österreichischen
104. Bresslau, Harry, Geschichte der Monumenta Germaniae Historica, Hannover 1921, Nachdruck Hannover 1976. 105. Vgl. Maurer, Michael, Die Biographie des Bürgers, op. cit., Kapitel IV.
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Niederlanden gegen die Reformen Josephs II.); aber auch umgekehrt konnte auch die Starre der Institutionen, die Friktion zwischen öffentlichem Bewusstsein und realen Herrschaftsverhältnissen (wie in Frankreich), die Revolution herbeiführen. Auf dem einen wie dem anderen Wege begriffen sich Zeitgenossen als Handelnde, als in den Gang der Geschichte Eingreifende. Wo daraus Aufruhr, Gewalt, Terror, Krieg und Bürgerkrieg entstanden waren, folgten komplexe mentalitätsgeschichtliche Verarbeitungsprozesse, die teilweise zu einem ideologischen Rückschwung führten: Wo sich gezeigt zu haben schien, dass die menschliche Vernunft zur Gestaltung der Geschichte nicht geschaffen war, bot sich ein neuer Traditionalismus ebenso an wie der Versuch einer Restauration der alten Verhältnisse. Damit erhielten Denkströmungen die Oberhand, die man vor 1789 nicht als Bestandteil der Zukunft hätte imaginieren können. Von der Rückwendung zum Mittelalter war schon die Rede. Teilweise bedeutete dies auch eine Rechristianisierung, insofern man die Greuel der Zeit einer rationalistischen Hybris zuschrieb. In der Folge entdeckte man literarisch wie künstlerisch das Christliche als Gegensatz zum Heidnischen (Chateaubriand: Le génie du christianisme, 1802; die Schule der Nazarener in Rom). Wo Protestantismus mit Aufklärung gleichgesetzt wurde, setzten nun spektakuläre Konversionen zur römischen Kirche ein. Politisch träumten manche von einer Wiederherstellung des Ständewesens alter Zeiten (›vor‹ dem Absolutismus, ja gar ›vor‹ der Entstehung des neuzeitlichen Staates). Ganz allgemein hatte die Geschichte und alles geschichtlich Gewachsene Konjunktur: Überlebt schien das selbstmächtige Individuum, das sich kraft seiner Vernunft emanzipiert fühlte, in die Verhältnisse umgestaltend einzugreifen; neu entdeckt wurde dagegen die lebensprägende Macht der Verhältnisse, der Überlieferungen aller Art, das Unerklärliche und Geheimnisvolle, das Mystische und Tiefe. Während die Zeit dem Historischen mentalitätsgeschichtlich so aufgeschlossen war wie zuvor lange nicht und seitdem nicht wieder, müssen die Folgen für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung als durchaus ambivalent angesehen werden. Denn die Geschichte wurde teilweise in geradezu religiöser Verehrung erahnt und gefeiert, evoziert und glorifiziert. Die Aufgeschlossenheit der Zeit für alles Historische konnte wohl zu einem Aufschwung archivalischer Forschung und historisch-philologischer Kritik führen, musste dies aber nicht mit Notwendigkeit. Die Romantik entwickelte ein starkes Sensorium für den Zusammenhang aller Lebensbereiche, für die wechselseitige Beeinflussung aller Sparten der Kultur. Insofern wurden nun historische Syntheseleistungen angebahnt, die weit über die Werke der Aufklärungshistoriker hinausführten. Aber nicht wenige Zeitgenossen begnügten sich mit einer bloss rückwärts gewandten Haltung oder mit einem romantischen Gefühl für das unwiderbringlich Verlorene. In dieser Stimmung schlug die Stunde des historischen Romans. Walter Scott erzielte eine europaweite Wirkung mit romanhaften Gemälden aus dem mittelalterlichen England; Historiker wie Auguste Thierry und selbst der junge Leopold Ranke waren davon zutiefst beeindruckt.106 Das romantische Erzählen und Schildern, die Freude an historischen Kostümen und am Lokalkolorit, an alten Ausdrücken und Sprichwörtern, an volkstümlichen Bräuchen und Überlieferungen griff um sich. Wie die Aufklärung den ›Zeitgeist‹ entdeckt hatte, suchte man nun (in neuer Weise!) den ›Volksgeist‹, die unveränderlichen Charakteristika
106. Füter, Eduard, Geschichte der Neueren Historiographie, op. cit., S. 448 f.
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ethnischer Einheiten. Soziale Differenzen wurden eher harmonisierend behandelt. Einfühlend gestaltete man die anonymen Mächte, die dem Eingreifen der Individuen entzogen schienen: Recht, Religion, Sprache, ja Literatur (begriffen als ›Volksliteratur‹, nicht als Produkt von Gelehrsamkeit). Die nationalen Strömungen, die sich etwa in Deutschland und Spanien in den Kriegen gegen das Frankreich Napoleons mächtig gezeigt hatten, förderten die Hinwendung zur jeweiligen Geschichte der eigenen Nation (anstelle der kosmopolitischen Tendenzen der Aufklärung, die den Blick nach Übersee geöffnet hatten). Und diese Tendenz erfasste auch die kleineren europäischen Nationen, insbesondere dort, wo sie sich erst als solche zu begreifen begannen und noch keinen eigenen Staat erlangt hatten.107 Gerade in solchen Fällen verbanden sich politisch fortschrittliche Bestrebungen in brisanter Weise mit nationalen Strömungen; historisches Denken (wissenschaftlich und vorwissenschaftlich) und nationale Historiographie erlangten im postrevolutionären, säkularen und nationalistischen 19. Jahrhundert eine neue Funktion und ungeahnte Sprengkraft.
Auswahlbibliographie Avis, Paul D. L., Foundations of modern historical thought: From Machiavelli to Vico, London 1986. Becker-Schaum, Christoph, Arnold Herrmann Ludwig Heeren: ein Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaft zwischen Aufklärung und Historismus (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 3, Geschichte und Hilfswissenschaften, 551), Frankfurt a.M. ¹1993. Bödeker, Hans Erich (ed.), Aufklärung und Geschichte: Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 81), Göttingen 1986. Boucher, David, »Conversation and Political Thought«, in: Cohen, Ralph (ed.), Studies in Historical Change, Charlottesville 1992, S. 109–127. Cook, Charles Olney, The Problem of Certitude in the Historiography of Pierre Bayle and Voltaire, Ann Arbor 1976. Edgar, Irving, »Historiography and the Great English Historiographical Triumvirate of the Eighteenth Century«, in: ders. (ed.), Essays in English Literature and History, New York ¹1972. Hale, J. R. (ed.), The evolution of British historiography: From Bacon to Namier, London 1967. Hammer, Karl / Voss, Jürgen (eds.), Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation — Zielsetzung — Ergebnisse, Bonn 1976. Jäger, Friedrich, Geschichte des Historismus: eine Einführung, München 1992. Labriola, Albert C., »Enlightenment Historiography and Gibbon’s ›The Decline and Fall of the Roman Empire‹ «, in: Enlightenment Essays 5:2, 1974, S. 44–49. Meinecke, Friedrich, Die Entstehung des Historismus, 2 Bde., München / Berlin 1936.
107. Noch immer lesenswert: Gooch, George P., History and Historians in the Nineteenth Century, London 1913. Croce, Benedetto, Storia della storiografia italiana nel secolo decimonono, Bari 1921. Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983 (»Die Revolution des Historismus und die Entwicklung der Geisteswissenschaften«: S. 498–533). Schulin, Ernst, »»Historiker, seid der Epoche würdig!«. Zur Geschichtsschreibung im Zeitalter der Französischen Revolution — zwischen Aufklärung und Historismus«, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XVIII, 1989, S. 1–28. Schulin, Ernst, »Der Einfluss der Romantik auf die deutsche Geschichtsforschung«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht XIII, 1962, S. 404–423 (auch in: Schulin, Ernst, Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken, Göttingen 1979, S. 24–43). Jäger, Friedrich /Rüsen, Jörn, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992.
Historiographie und historisches Denken
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Ästhetik und Poetik
Von der Ästhetik des Geschmacks zur Ästhetik des Schönen Carsten Zelle
»Von nichts wimmelt unsere Zeit so sehr als von Ästhetikern«, schreibt Jean Paul 1804 in der Vorrede seiner Vorschule der Ästhetik,1 mit der sich der Spötter in die unübersichtliche Reihe der Verspotteten willig einreihte. Das ist heute nicht anders. Trotz zahlloser Schriften ist das Feld der Ästhetikgeschichte gleichwohl schlecht bestellt: Eine neuere Bibliographie der Quellen fehlt,2 eine umfassende Darstellung ist daher bisher nicht denkbar gewesen, und das grosse Werk von Tatarkiewicz3 ist kaum bis Vico gekommen. So wird sich auch der folgende Abriss auf die stets konsultierten, kanonischen Autoren der Ästhetikgeschichte beziehen müssen. Doch auch wenn hier die Masse der Ästhetiken der Eschenburgs und Eberhards, der Barretts und McDermots, der Marmontels und Massias’ im Dunkeln bleiben muss, der Blick auf den Höhenkamm in der Hochzeit der Ästhetik um 1800 wird sich nicht auf einen klimatischen Generalnenner verkürzen lassen — die Ästhetik zu dieser Zeit bleibt brüchig und gegenläufig. Am Ende des darzustellenden Zeitabschnitts, der die kurrenten Epochengliederungen von Aufklärung, Vorromantik und Romantik samt den deutschsprachigen Sonderentwicklungen des Sturm und Drang, der Weimarer Klassik und des Deutschen Idealismus überspannt, steht nicht nur eine Ästhetik des Schönen (Hegel) sondern auch eine Ästhetik des Hässlichen (Hugo).
Ästhetik in der Spannung zwischen scientia cognitionis sensitivae und Philosophie der schönen Kunst Im Ästhetikkapitel dieses Bandes, der den ›Climat général‹ einer Epochenwende von der Aufklärung zur Romantik skizzieren soll, scheint die Überschrift in teleologischer Hinsicht eine Entwicklungsrichtung von der sensualistischen Geschmacksästhetik zu einer idealistischen Metaphysik des Schönen zu vindizieren. Tatsächlich werden an den Rändern dieses Zeitabschnittes zwei ästhetikgeschichtliche Ereignisse: Baumgartens (1714–1762) Æsthetica
1. Jean Paul (d.i. Jean Paul Friedrich Richter), Vorschule der Ästhetik (1804, ²1813), in: ders., Sämtliche Werke, Miller, Norbert (ed.), Bd. I / 5, München 41980, S. 22. 2. Koller, Benedikt Joseph von, Entwurf zur Geschichte und Literatur der Ästhetik von Baumgarten bis auf die neueste Zeit, Regensburg 1799; Dictionary of Philosophy and Psychology, Baldwin, James Mark (ed.), Vol. III, part ii, New York / London 1905, s. v. »Ästhetics«, S. 704–744. Die vorzügliche Synopse der deutschen, englischen, französischen u. a. Quellen sowie die ausführliche Bibliographie bei Armand Nivelle (ders., Literaturästhetik der europäischen Aufklärung, Wiesbaden 1977, S. 81 ff. und S. 151 ff.) umfasst leider nur den Zeitraum 1660 bis 1790. Die von Joachim Dyck und Jutta Sandstede angekündigte Quellenbibliographie zur Rhetorik (dies., 2 Bde., Stuttgart- Bad Cannstatt 1994) wird das Desiderat einer Bibliographie zur Ästhetik nur zum Teil für den deutschsprachigen Raum füllen können. 3. Tatarkiewicz, Wladyslaw, Geschichte der Ästhetik, 3 Bde., 1. Die Ästhetik der Antike; 2. Die Antike des Mittelalters; 3. Die Ästhetik der Neuzeit von Petrarca bis Vico, Basel / Stuttgart 1979–1987 (poln. 1962–1967; engl. 1970–1974).
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Carsten Zelle
(1750–1758) und Hegels (1770–1831) Vorlesungen über die Ästhetik (1835–1838) sichtbar, die in gewisser Weise geradezu Anfang und Ende der Disziplin einer Ästhetik im engeren begriffsgeschichtlichen Sinne markieren. In den Schlussparagraphen seiner Dissertationsschrift »von einigen zum Gedicht gehörigen Stücken«4 schlug Alexander Gottlieb Baumgarten in sachlicher Anknüpfung an die französische Tradition der ›finesse‹ und des ›je ne sais quoi‹ vor, eine Lücke im System der LeibnizWolffschen Gnoseologie zu schliessen und die Philosophie um eine Logik der niederen Erkenntniskräfte (»inferiores cognoscendi facultates«) zu ergänzen. Analog zu den Gegenständen der Logik, die es als Wissenschaft von den höheren Vermögen mit den ›noetá‹ zu tun habe, nannte er die neue Wissenschaft von der sensitiven Erkenntnis, die es füglich mit den ›aisthetá‹ zu tun hat, Ästhetik. »Æsthetica […] est scientia cognitionis sensitivae.«5 Baumgarten hielt darüber seit 1742 Vorlesungen, die 1750 / 58 publiziert wurden. Doch blieben die Æsthetica Fragment. Angekündigte Kapitel über Methodologie und Semiotik sowie der gesamte zweite, praktische Teil der Ästhetik erschienen nicht. Auch die auf der Grundlage von Baumgartens Unterlagen gedruckten Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (3 Bde, 1748–50, 21754–59) seines Schülers Georg Friedrich Meier bieten dafür keinen Ersatz, da dieser in entscheidenden Bestimmungen auf Positionen einer frühaufklärerischen Perfektions- und Utilitarismuslehre in Kunstdingen zurückfiel. Baumgartens (1717–1762) neue Disziplin mag man nun als den Versuch würdigen, die Sinnlichkeit aus den Fängen des Rationalismus zu emanzipieren, oder als einen unerhörten Übergriff werten, durch den das gesamte Gebiet der Empfindungen für die Kolonialisierung durch die Vernunft geöffnet wurde. Gegenüber dem Kartesianismus, der den Sinnen kognitive Leistungen abgesprochen hatte, folgte Baumgartens Projekt einer Ästhetik mit ihrem Monumentalsatz »Quid enim est abstractio, si iactura non est?«6 einem Impuls, der dem ›zurück zu den Sachen selbst‹ durchaus vergleichbar ist, mit dem die phänomenologische Methode Husserls auf den Idealismus antworten sollte. Im Kontext der Literatur- und Kunsttheorie der Aufklärung bezeichnete ›Geschmack‹ ein spontanes Unterscheidungsvermögen, dessen Grund in einer Empfindung gesucht wurde. Voltaire (1694–1778) fasste die vielfältige Diskussion um den Begriff ›goût‹ in der Encyclopédie (1751–1780) in den Satz zusammen: »le sentiment des beautés & des défauts dans tous les arts: c’est un discernement prompt […].«7 Weil dem Geschmack als einem Vermögen der ›gnoseologia inferior‹ von vornherein kognitive Qualität eignete, ging die Geschmackslehre im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts daher auch nicht unter. Im Gegenteil — sie kam als Kritik der
4. Baumgarten, Alexander Gottlieb, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (Halle 1735), Lateinisch-Deutsch, Pätzold, Heinz (ed.) Hamburg 1983, bes. § § 115 ff. 5. Baumgarten, Alexander Gottlieb, Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der »Æsthetica« (1750 / 58), Lateinisch-Deutsch, Schweizer, Hans Rudolf (ed.), Hamburg 1983, § 1, 3. 6. Baumgarten, Alexander Gottlieb, Theoretische Ästhetik, op. cit., § 560, 144. 7. Voltaire, »Goût«, in: Encyclopédie, Bd. VII, Paris 1757, S. 758–761, hier: S. 761. Die Divergenz der »philosophes« in der Beurteilung des Geschmacks kommt in der Encyclopédie darin zum Ausdruck, dass der einschlägige Artikel Beiträge von Voltaire (S. 758–761), Montesquieu (S. 762–767) und d’Alembert (S. 767–771) aneinanderreiht, die überdies durch Zusätze von Blondel und Rousseau supplementiert werden.
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Urteilskraft bei Kant zu höchster philosophischer Dignität. Einer solchen, an der Leibniz’schen Erkenntnislehre mit ihren Kognitionsstufen orientierte Entwicklung, die von (1717–1762) Baumgartens Begründung der Ästhetik als der ›jüngeren Schwester‹ der Logik zu Kant führt, stand der französische Rationalismus eher skeptisch gegenüber. D’Alembert (1717–1783) etwa blieb im Bann des Kartesianismus, als er die Geschmackslehre nur als eine halbe Philosophie (»une demi-philosophie« ebd., 769) gelten lassen wollte, die von der Wahrheit abführe. Das »neumodische[s] Kunstwort«8 einer Ästhetik setzte sich auch in den Nachbarländern mehr oder weniger rasch durch. Die Pariser Enzyclopédie informierte über diesen »terme nouveau«,9 indem sie ihren Lesern im wesentlichen Sulzers (1720–1779) einschlägigen Artikel aus der Allgemeinen Theorie der schönen Künste (1771–1774) übersetzte. In der Tat war die Ausbildung der Ästhetik in erster Linie eine Leistung deutschsprachiger Autoren. Gegenüber den deutschen Autonomisierungstendenzen blieb anderswo die Frage nach dem Nutzen der Kunst im Horazischen Sinne des ›prodesse et delectare‹ (Hor. ars 333) auf der Tagesordnung. In der Romania stand die literatur- und kunstkritische Entwicklung überdies mit Ausnahme Diderots im Schatten der klassizistischen Höhe des von Voltaire dekretierten ›Siècle Louis XIV‹ und im angelsächsischen Raum wurden die idealistischen Höhenflüge durch das Erbe des Empirismus temperiert. In England, wo de Quincey (1785–1859) den Mord unter Absehung seiner moralischen Seiten ›ästhetisch‹ würdigte, »wie die Deutschen [sic] es nennen würden, d.h. in Rücksicht auf den künstlerischen Geschmack«10 ging mit der Rezeption des Baumgartenschen Begriffs eine Rekonventionalisierung seines Inhalts einher. Ästhetik wurde zu einer Sammelbezeichnung für »works of taste and criticism« und Synonym einer »philosophical theory of the beautiful«(1832).11 Als eine »Wissenschaft der Empfindungen« intendiert, verengte sich Ästhetik auf die Bedeutung einer»12,13 Nur Herders (1744–1803) ästhetische Entwürfe aus dem Umfeld der Plastik (1770 / 1778), in denen die erkenntnisleitende Funktion der Haptik für die unmittelbare Weltvergegenwärtigung herausgestellt wird,14 blieben Baumgartens ursprünglicher Intention im Sinne einer »Ästhesiologie des Geistes« (Helmut Plessner) treu. Gleichwohl ist dieses leibnahe Projekt der Ästhetik nicht traditionsstiftend geworden, sondern unter der Grabplatte des Hegelschen Systems in Vergessenheit geraten, so dass noch stets jeder neue Innovationsschub, die die Moderne gebiert, von einer Wiedererfindung der Ästhetik als einer Epistemologie des Leibes (als Phänomenologie bei Husserl und Merleau-Ponty, Ästheseologie bei Plessner,
8. Gottsched, Johann Christoph, Handlexicon oder kurzgefasstes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste, Leipzig 1760, S. 49–50, s. v. »Ästhetisch«. 9. Supplément à l’Encyclopédie, Bd. II., Amsterdam 1776, S. 872–873, s. v. »Esthetique«. 10. De Quincey, Thomas, Der Mord als eine schöne Kunst betrachtet (engl. 1827), Kohl, Norbert (ed.), Frankfurt a.M. 1977, S. 47. 11. Coleridge 1821, in: Blackwood’s Edinburgh Magazine X, S. 254, 1832, in: Penny Cyclopaedia I, S. 156; zitiert nach: The Oxford English Dictionary, Oxford ²1989, Bd. I, S. 206, s. v. »aesthetic«. 12. Sulzer, Johann Georg, Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771 / 1774), Neue vermehrte 2. Auflage, 5 Bde., Leipzig 1792–1799, Nachdruck Hildesheim 1970, s. v. Ästhetik, I (1792), S. 47–59. 13. 14. Cf. Adler, Hans: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie – Ästhetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1990, S. 88 ff.
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Aisthesis bei Welsch oder Postmoderner Disponierung bei Lyotard) begleitet worden ist. Zwar hatte schon Kant (1724–1804), der Baumgarten als »vortreffliche[n] Analyst[en]«15 zu schätzen wusste, dessen Ansatz einerseits radikal zu einer transzendentalen Ästhetik als einer Wissenschaft von den Prinzipien der Sinnlichkeit apriori ausgeweitet, andererseits aber bezweifelt, die kritische Beurteilung des Ästhetischen unter Vernunftprinzipien bringen zu können. Statt einer Wissenschaft sah Kant auf diesem Gebiet nur die Möglichkeit zu einer Kritik des Geschmacks am Schönen und des Geistesgefühls anlässlich des Erhabenen, was in der Zweiteilung der Kritik der ästhetischen Urteilskraft zum Austrag kommen sollte. Einer solchen zweigliedrigen Ästhetik kam im Gedankengebäude des Kantischen Kritizismus jedoch die eminente Funktion zu, die »unübersehbare Kluft«16 zwischen Natur- und Freiheitsbegriff, die die vorangehenden beiden Kritiken der reinen bzw. der praktischen Vernunft aufgerissen hatten, zu überbrücken und einen »Übergang« (KU B1 viii) von den Erscheinungen zum Übersinnlichen zu ermöglichen. Tatsächlich bietet Kant zwei Brückenschläge an. Doch bleiben beide Passagen fragil, da die im berühmten § 59 behauptete Leistung des Schönen, als ein »Symbol des Sittlichguten« zu fungieren, auf eine blosse Analogie zurückgenommen wird, und die oxymorale »Fühlbarmachung der Vernuft« (KU § 23, B 78 und § 28, B 105) mittels der negativen Lust des Erhabenen das Subjekt auf sich selbst zurückfallen lässt. Die folgende Generation versuchte nun, sich über die »Kantische Gränzlinie« (Hölderlin an Neuffer, 10. Okt. 1794) zu wagen und den Schritt von einer nur subjektiven Fassung des Ästhetischen zu einer objektiven Definition zu tun. Es waren im wesentlichen zwei philosophische Grundpositionen, deren Widerspiel die Jahrzehnte nach Kant prägen sollte. Die Frühromantiker folgten der Begründungsweise Johann Gottlieb Fichtes (1762–1814), der insbesondere in den Auflagen seiner Wissenschaftslehre (11794; 21797; 31801) die Dynamik eines sich selbst setzenden Ich ausarbeitete. Dagegen suchten die jungen Idealisten aus dem Tübinger Stift (Hölderlin, Schelling und Hegel) nach einer anderen Begründungsart, da sie nicht anerkennen wollten, dass eine solche Subjektivität dem Philosophieren einen letzten Grund zu legen imstande wäre. Im Unterschied zu den Frühromantikern, die das Schöne mit einem Absoluten identifizierten, das jedoch nur im negativen Modus eines zwischen Allegorie und Ironie oszillierenden künstlerischen Spiels darstellbar sei, zielten die Überlegungen im philosophischen Idealismus daher darauf, die Subjekt / Objekt-Spaltung im Begriff des eine intellektuelle Anschauung gewährenden Symbols zu versöhnen. Während Schillers (1759–1805) Versuch einer Objektivierung der Theorie des Schönen in den Kallias-Briefen (an Körner, 25. Jan. bis 28. Febr. 1793), dass »Schönheit […] Freiheit in der Erscheinung« (an Körner, 25. Jan. bis 28. Febr.1793) sei, letztlich scheiterte und der philosophische Dialog Kallias, oder über die Schönheit nicht zustandekam, glaubte Schelling (1775–1854) den Schlussstein des ganzen Gewölbes der Philosophie in der Ästhetik erblicken zu können, insofern die Kunst dem Philosophen das Höchste sei, »weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher
15. Kant, Immanuel, Critik der reinen Vernunft (A: 1781, B: ²1787), in: ders., Werkausgabe, Weischedel, Wilhelm (ed.), Bde. 3–4, Frankfurt a.M. 1977, B 36. 16. Kant, Immanuel, Critik der Urtheilskraft (A: 1790, B: ²1793, C: ³1799), in: Werkausgabe, op. cit., Bd. 10, B xx. Zit: KU mit der Pag. der 2. Aufl. (B).
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Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist […]«17 Schon im erst 1917 von Franz Rosenzweig veröffentlichten Fragment Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (entst. 1795 /1797), das von Hölderlin beeinflusst und von Schelling verfasst scheint, aber von Hegels (1770–1831) Hand überliefert ist, war die platonische Spur wiederaufgenommen worden, »dass Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert« seien, wodurch die Dichtung eine »höhere Würde« als die Philosophie erhält und zur »Lehrerin der Menschheit« promoviert wird.18 Wenn einmal verallgemeinert worden ist, dass die Ästhetik seit Ende des 18. Jahrhunderts »zur diensthabenden Fundamentalphilosophie«19 geworden sei, so trifft das bei aller Brillanz der Formulierung in Wirklichkeit nur für das schmale Segment der idealistischen Ästhetik und deren Erben bis heute zu. Das Telos einer Ästhetikgeschichte im Zeitraum zwischen 1760 und 1820, die von der Geschmacksästhetik auf eine Philosophie der schönen Kunst zielt, erfüllt sich mit Hegels Vorlesungen über die Ästhetik, die dieser insgesamt fünfmal zwischen 1818 und 1829 in Heidelberg und Berlin gehalten hat. Sie wurden jedoch erst von Heinrich Gustav Hotho aufgrund von Hegels Kollegheften und eigener wie fremder Nachschriften in drei Bänden 1835 bis 1838 herausgegeben. Hegels Definition des Schönen als der sinnlichen Darstellung des Höchsten beinhaltet freilich gegenüber der Gründungslage der Ästhetik bei Baumgarten eine doppelte Reduktion, und zwar einerseits von Ästhetik auf Kallistik, d.h. von einer ›Wissenschaft des Sinnes‹ auf eine Wissenschaft des Schönen, sowie andererseits vom weiten Reich des Schönen in Natur und Kunst auf die schöne Kunst allein. Die Durchsetzung der Ästhetik als Disziplin geht mit ihrer inhaltlichen Ausdünnung zur ›Philosophie der schönen Kunst‹20 einher. Was ›prima vista‹ als ›rise of aesthetics‹ bezeichnet werden könnte,21 ist vielmehr der Verlust ihres ursprünglichen Impulses, der seither nur noch unterströmig in den unterschiedlichen Ausprägungen einer ›Vernunftkritik‹ die moderne Entwicklung begleitet hat. Die Hochwertung des Schönen bei Hegel als dem sinnlichem Scheinen der Idee rechnet freilich die Randstellung des Erhabenen als frühe, nur symbolische, d.h. allegorische Kunstform, der berühmte Satz vom Ende der Kunst sowie die Verachtung der romantischen Literatur vor, die dem Zufälligen und Gewöhnlichen, kurz: dem »Unschönen einen ungeschmälerten Spielraum« (Ästhetik II, 139) gönne. Für die Kunst nach dem Ende der Kunst visiert Hegel vielmehr ein ›postmodernes‹ Spielen mit dem Vorrat früherer ästhetischer Gestaltungsweisen und Kunstformen an, weil die
17. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, System des transzendentalen Idealismus (1800), in: ders., Sämmtliche Werke, Schelling, Karl Friedrich August (ed.), Stuttgart / Augsburg 1858, Nachdruck Darmstadt 1975, Bd. 3, S. 628. 18. Hölderlin, Friedrich, Sämtliche Werke und Briefe, Wieth, Gunter (ed.), 2 Bde., Darmstadt 51989 (¹1970), Bd. I, S. 917–919, hier: S. 918. 19. Marquard, Odo, »Kant und die Wende zur Ästhetik« (1962), in: ders., Æsthetica und Anæsthetica. Philosophische Überlegungen, Paderborn et al. 1989, S. 21–34, hier: S. 22. 20. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Ästhetik I-III, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, Moldenhauer, Eva / Michel, Karl Markus (eds.), Frankfurt a.M. 1970 (=Theorie-Werkausgabe, 13–15), Bd. 1, S. 13. Zit.: Ästhetik I-III. 21. Reiss, Hans, »The rise of aesthetics from Baumgarten to Humboldt (1750–1800)«, in: Cambridge History of Literary Criticism and Ästhetics, Bd. 4: The Eighteenth Century, Nisbet, H. B. / Rawson, Claude (eds.), Cambridge 1997, S. 658–680, hier: S. 658.
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Kunst nun nicht mehr als ein absolutes Bedürfnis, sondern als ein »freies Instrument« fungiere (Ästhetik II, 235).
Die Metaphysik des Schönen und ihre Subversion durch die Ästhetik des Erhabenen Eine solche Darstellung wie die eben angedeutete, die den Gang der Ästhetik zwischen 1760 und 1820 als einen auf Hegels Kunstkallistik hin zielenden Aufstieg begriffe, repetierte freilich lediglich das narrative Modell einer historischen Herleitung des ›wahren Begriffs‹ der Ästhetik, in dessen Zielpunkt Hegel sich selbst gestellt hatte. Im folgenden soll dagegen eine gegenläufige Entwicklung stark gemacht werden, die eine solcherart kanonisierte Richtung von vornherein wie ein schlechtes Gewissen begleitet hat. Zwar zielte Kants Analytik des Schönen auf den Nachweis, »dass der Mensch in die Welt passe«,22 doch führt die Analytik des Erhabenen zur Einsicht, dass wir über sie hinaus sind. Indem Hegels Ästhetik das Schöne als Medium von Wahrheit fungieren lässt, wird es zwar mit Religion und Philosophie auf eine Stufe gestellt, aber aufgrund dieser Auszeichnung wird ihr für die moderne Gegenwart zugleich auch die Grundlage entzogen, insofern die Kunst »nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes« (Ästhetik I, 24) bleibt. Mit einem derart prononcierten Zugriff, der mit den »Positionen des Scheiterns«23 die gegenläufigen Tendenzen der ästhetischen Theoriebildung hervortreibt, wird zugleich dem wie ein Alp über der Ästhetik liegenden Vorurteil entgegengetreten, dass es sich bei ihr im wesentlichen um eine ›Lehre vom Schönen‹ handeln würde, wie man in einschlägigen philosophischen Handwörterbüchern immer wieder lesen muss. Dieser Zentrierung der Ästhetik ums Schöne liegt jedoch eine einseitige Sicht auf die Frühphase ihrer Geschichte in der ersten Hälfte sowie ein einäugiger Rückbezug auf ihre Hochzeit am Ende des 18. Jahrhunderts zugrunde. In Hinsicht auf die Ästhetik des Erhabenen einerseits und die Modifikation des Konzepts der Postmoderne als eines »Redigieren[s]«24 einiger charakteristischer Züge der Moderne andererseits hat Jean-François Lyotard stets daran erinnert, »dass es innerhalb der Ästhetik einen wesentlichen Bruch der Ästhetik mit sich selbst gibt«.25 Lyotard hätte sich sein Diktum freilich historisch von Kant beglaubigen lassen können, der nicht nur seine eigenen ästhetischen Schriften, namentlich die Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) und die Kritik der Urteilskraft (1790), nach dem Vorgang Burkes als eine doppelte Ästhetik disponiert hatte, sondern der die Ineinssetzung von Schönheit (›pulchritudo‹) und Ästhetik
22. Kant, Immanuel, Kants handschriftlicher Nachlass, Bd. III: Logik, Berlin / Leipzig 1924 (Kants Schriften, Akademieausgabe, 16), S. 127, Refl. 1820a (etwa 1771–1772). 23. Marquard, Odo, Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, Köln 1987, S. 185 et passim. 24. Lyotard, Jean-François, Die Moderne redigieren, Bern 1988, S. 25 (auch in: Welsch, Wolfgang, Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, S. 204–214). 25. »Das Undarstellbare — wider das Vergessen. Ein Gespräch zwischen Jean-François Lyotard und Christine Pries (Siegen, 6. Mai 1988)«, in: Pries, Christine (ed.), Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Grössenwahn, Weinheim 1989, S. 319–347, hier: S. 320.
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(›aesthetica‹) bei Georg Friedrich Meier, dem Schüler und Popularisator Baumgartens, ausdrücklich mit den Worten getadelt hatte: »es ist aber falsch, dass er [=Meier] schön und Ästhetisch vor einerley hält, denn zur Ästhetic gehöret nicht nur das Schöne, sondern auch das Erhabene.«26 Seit ihrer Vorgeschichte in der Querelle des Anciens et des Modernes steht die moderne Ästhetik im Zeichen einer gegenläufigen Verdoppelung ihrer zentralen Kategorien, insofern schon Boileau (1636–1711) im epochalen Jahr 1674 mit der gleichzeitigen Veröffentlichung seiner Art poétique und seines Traité du Sublime der paradoxe Coup gelang, mit der Charta der doctrine classique zugleich auch den Hebel zu ihrer Beseitigung vorzulegen. Mit der Übertragung der Schrift Vom Erhabenen machte Boileau den damals noch unklassierten Gewährsmann ›Longin‹ zum antiken Begründer der ästhetischen Moderne mit ihren hydraartigen Vorstellungskomplexen in produktions-, werk- und wirkungsästhetischer Hinsicht (Konzeption des Genies, Sakralisierung der Kunst, Autonomie des Ästhetischen, Kunst als Ausdruck eines Subjekts, Ideologie der Innovation als Gestaltungs- und Qualitätsprinzip). Der Affektsturm des Sublimen begründet eine Kunst jenseits der klassizistischen Regeln, insofern Boileau unter dem Erhabenen kein rhetorisches Dekorum (»stile sublime«), sondern ein ausserhalb der Ordnung des Diskurses stehendes Moment begreift: »[…] cet extraordinaire et ce merveilleux qui frap[p]e dans le discours, et qui fait qu’un ouvrage enleve, ravit, transporte.«27 Die beiden zugleich publizierten poetologischen Hauptschriften Boileaus verhalten sich zueinander »wie Ausgrenzendes und Ausgegrenztes«,28 da nämlich die Ausbildung einer Ästhetik des Erhabenen die Wiederkehr dessen ist, was aus der klassizistischen Poetik des Schönen verdrängt worden ist. Seither überschneidet sich die Geschichte des Erhabenen mit derjenigen der Ästhetik der Moderne, weswegen wir diese als eine ›doppelte Ästhetik‹29 zu schreiben haben. Erinnert sei nur an die begrifflichen Verdoppelungen aus dem uns hier interessierenden Zeitraum: Schönheit und Erhabenheit (Burke bis Kant); Anmut und Würde, schmelzende und energische Schönheit, Naives und Sentimentalisches (Schiller), Objektivität und Interesse (Friedrich Schlegel), Klassisches und Romantisches (Goethe, August Wilhelm Schlegel und dessen französische Aufnahme bei Madame de Staël oder Chateaubriand) oder endlich la beauté und le grotesque (Victor Hugo). Inwieweit die an Charles Perrault (1628–1703) erinnernde Unterscheidung einer relativen von einer absoluten Schönheit bei Baudelaire in diese Reihe gehört, mag unentschieden bleiben. Denn während Perrault in seiner grossen ›Parallèle‹ (1688–1697) gerade darauf abzielte, die Gemeinsamkeiten methodischen Vernunftgebrauchs in Kunstdingen als ›beau absolu‹ herauszupräparieren, die die Kontingenz der je historischen Erscheinungsformen des Geschmacks überstiegen, sollte es Baudelaire mit dem Begriff des absolut Schönen genau um jenes rätselhafte Moment gehen, das in jeder neuen Erscheinung des Schönen gleich bliebe, weil es
26. Kant, Immanuel, »Collegium des Herrn Professors Kant über Meyers=Auszug aus der Vernunft=Lehre. Nachgeschrieben von Hermann Ulrich Freiherr von Blomberg (ca. 1771)«, in: ders., Gesammelte Schriften, Berlin 1966 (= Akademieausgabe), Bd. 24, 1, S. 47. 27. Boileau-Despréaux, Nicolas, Œuvres complètes. Adam, Antoine / Escal, Françoise (eds.), Paris 1966, Traité du Sublime, »Préface«, S. 333–340, hier: S. 338. 28. Wehle, Winfried, »Vom Erhabenen oder Über die Kreativität des Kreatürlichen«, in: Neumeister, Sebastian (ed.), Frühaufklärung (=Romanistisches Kolloquium, 6), München 1994, S. 193–240, hier: S. 201. 29. Verf., Doppelte Ästhetik der Moderne. Ästhetische Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart 1995.
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sich der rationalen Verrechnung stets entzöge: »En un mot, pour que toute modernité soit digne de devenir antiquité, il faut que la beauté mystérieuse que la vie humaine y met involontairement en ait été extraite.«30 Freilich führt zu einer solchen ›Schönheit‹, deren ultimatives Ideal Baudelaire im Satan Miltons verkörpert sah,31 nicht das Studium der idealistischen Kunstphilosophie, sondern nur der Weg über die élevation des Erhabenen.32 Dass das Jahr 1760, das als Periodisierungsgrenze in aestheticis durch das Erscheinen von Macphersons Ossian-Dichtungen (z.B. Fragments of Ancient Poetry, 1760; Fingal, 1762), der rhapsodischen Sturm-und-Drang-Poetik, die Hamann mit den Æsthetica in nuce (1762) vorlegte, oder den vorwärtsweisenden kunsttheoretischen Ansichten Diderots (1713–1784) im Salon de 1767 suggeriert worden sein mag,33 aus der angedeuteten ästhetikgeschichtlichen Langzeitperspektive allenfalls eine neue Etappe, jedoch keine Epochenschwelle ›sui generis‹ markiert, liegt nahe. Dass ein solcher Einschnitt in Hinsicht auf die ästhetische Kategorie des Erhabenen und ihren Anteil an der Ausbildung eines sogenannten ›romantic mood‹ selbst im Rahmen einer im Zeichen des Präromantiktheorems stehenden geistesgeschichtlichen Ästhetikhistoriographie auch nie akzeptiert worden ist, mag durch ein Zitat von Mario Praz deutlich werden, der in seiner Rezension des wegweisenden Buchs von Samuel H. Monk: The Sublime (1935) feststellt: »The sublime acted as a catalytic agent to disrupt the neo-classical theory and attract round itself the stronger emotions and the more irrational elements of art. Romanticism grew almost out of a process of elimination from neo-classical standards through the new category of the sublime.«34 Das Erhabene kann als verlässlicher Wegweiser der Ästhetikgeschichte zwischen 1760 und 1820 dienen. Denis Diderot etwa ergänzt die Schönheitslehre seines Encyclopédie-Artikels beau (1751) und die Dramaturgie des empfindsamen ›genre sérieux‹ (1757 / 58) in seinen kritischen Besprechungen der Pariser Salons der sechziger Jahre um eine Ästhetik des ›grand goût‹. Diderot steht dabei entscheidend unter dem Eindruck Edmund Burkes (1729–1797), der die mit Dennis und Addison beginnende Entwicklungslinie des Sublimen in England in der konsequent dichotomisch angelegten Architektur seines A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757, 21759) zusammengefasst und den Schrecken ins Zentrum seiner Definition des Erhabenen gestellt hatte. Die Begriffsentwicklung in England hatte vor allem das Paradox des Erhabenen, dass das Schreckliche schön erscheint und das Abstossende
30. Baudelaire, Charles, Le peintre de la vie moderne. IV. La modernité (1863), in: ders., Œuvres complètes, Pichois, Claude (ed.), Paris 1961, S. 1163–1166, hier: S. 1164. 31. »[…] le plus parfait type de Beauté virile est Satan, — à la manière de Milton.«, Baudelaire, Charles, Journaux intimes, in: ders., Œuvres complètes, op. cit., S. 1245–1314, hier: Fusée X, S. 1255. 32. Auerbach, Erich, »Baudelaires Fleurs du Mal und das Erhabene«, in: ders., Vier Untersuchungen zur Geschichte der französischen Bildung, Bern 1951, S. 107–127; Maurer, Karl, »Ästhetische Entgrenzung und Auflösung des Gattungsgefüges in der europäischen Romantik und Vorromantik«, in: Jauss, Hans Robert (ed.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, München 1968, S. 319–341; Lokke, Kari Elise, »The Role of Sublimity in the Development of Modernist Ästhetics«, in: Journal of Ästhetics and Art Criticism 40, 1982, S. 421–429. 33. Cf. Vajda, György M., »La dimension esthétique de la poésie«, in: ders. (ed.), Le tournant du siècle des lumières 1760–1820. Les genres en vers des lumières au romantisme, Budapest 1982, S. 155–212. 34. Praz, Mario, [Rez.], »Samuel H. Monk, The Sublime (1935)«, in: English Studies 18, 1936, S. 226–230, hier: S. 226.
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anziehend wirkt, akzentuiert und dadurch den negativen Grund dieser anderen Kategorie der Ästhetik fixiert. Unter dem Mantel des Erhabenen fand das Nicht-mehr-Schöne: Entsetzliche, Schreckliche und Hässliche Einlass in die Ästhetik.35 Mehrmals ist nicht ohne Süffisanz gegenüber einer reduktionistischen Sichtweise der Aufklärung seitens ihrer heutigen Verfechter darauf verwiesen worden, dass es bei Diderot nicht eine einzige, sondern »mindestens drei Ästhetiken«36 gäbe. Die Doppeldeutigkeit der Ästhetik Diderots, sein Schwanken zwischen einer ›neoklassizistischen‹ Lehre der »rapports« und einer ›präromantischen‹ Theorie des Sublimen, gibt ihm geradezu etwas Postmodernistisches. In seiner Ästhetik des Erhabenen wird einerseits mit der Forderung, dass die Dichtung »quelque chose d’énorme, de barbare et de sauvage«37 verlange, das Programm einer Rebarbarisierung der Literatur vorgetragen, andererseits mit dem durch Burke-Lektüre geschärften Verständnis für alle Szenen des Schreckens, die zum Sublimen führen, den Dichtern der schwer mit Aufklärung zu vereinbarende Ratschlag erteilt: »Soyez ténébreux. […] il y a, dans toutes ces choses je ne sais quoi de terrible, de grand et d’obscur.«38 Indem Diderot mit der Kategorie des Erhabenen Schrecken, Leid und Tod in der Kunst präsent hält, lässt er die idyllische Harmonie neoklassizistischer Synthese, die er im Rückgang auf Yves Marie Andrés Essai sur le Beau (entst. 1731, gedr. 1741) an den Parametern von Ordnung, Einheit, Symmetrie und Proportion fixiert hatte, zersplittern. Gegen die freilich antiquierten Versuche, Diderots Ästhetik geradlinig auf einen ›bürgerlichen Klassizismus‹ festlegen zu wollen, muss die subversive Dimension seiner ›vorromantischen‹ Poetik herausgestellt werden, die ihn dem Immoralismus Stendhals und Nietzsches annähert.39 Mit der bei Diderot stets gegenwärtigen Faszination durch erhabene Landschaften und schreckliche Schiffbrüche würde eine solche eindimensionale Lesart zugleich auch die enthierarchisierende und dezentrierende Textur seiner Schreibweise ausblenden, mit der er im Salon de 1767 auf der Promenade durch die sieben Gegenden des ›schrecklichen‹ Joseph Vernets (»ce terrible Vernet«) das schöne Ideal zur Ästhetik des Erhabenen hin öffnet. Die Revision seiner Kunstanschauungen durch das Sublime, die Diderot betrieben hatte, blieb jedoch für die Ästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts folgenlos. Gegenüber dem rationalistisch begrenzten Artikel über das Schöne und der soziofunktional eingezwängten Dramaturgie der Moral hätten die Salons mit einer originelleren und fruchtbareren Seite der Ästhetik Diderots bekanntmachen können. Die Salons blieben aber aufgrund ihrer Verbreitung im diskreten Medium der von Grimm / Meister herausgebrachten Correspondance littéraire, philosophique et critique (1753–1813)40 bis über das Jahrhundertende hinaus so gut wie ohne Echo. Nichts
35. Verf., «Angenehmes Grauen». Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jahrhundert, Hamburg 1987, pass. 36. »Das Undarstellbare — wider das Vergessen. Ein Gespräch«, op. cit., S. 320. 37. Diderot, Denis, De la poésie dramatique (1758), in: ders., Œuvres complètes, Dieckmann, Herbert / Varloot, Jean (eds.), Paris 1975 ff. [noch nicht abgeschlossen], Bd. 10 (1990), S. 323–427, hier: S. xviii, »Des mœurs«, S. 400 und 402. 38. Diderot, Denis, Salon de 1767, in: ders., Œuvres complètes, op. cit., Bd. 16 (1990), S. 53–508, hier: S. 235. 39. Lefebvre, Henri, Diderot, Paris 1949, S. 228; zitiert nach Delon, Michel, »La Beauté du Crime«, in: Europe. Revue littéraire mensuelle 62, Mai 1984, No. 661, S. 73–83, hier: S. 73. 40. Eine der zahlreichen, handschriftlich verbreiteten Korrespondenznachrichten, die ohne Autornennung eine Handvoll europäischer Fürstenhöfe mit der Gedankenwelt der «philosophes» vertraut machten.
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bezeugt oder erlaubt auch nur die Annahme, dass Diderots Gedanken aus dem Salon de 1767 vor ihrer postumen Publikation 1798 wirksam geworden wären. Als Zusammenfassung einer ersten, aufklärerischen Etappe innerhalb der skizzierten ästhetikgeschichtlichen ›longue durée‹ mag man die theoretischen Ausführungen Klopstocks (1724–1803) bewerten. In ihnen wird die Dichotomie der ästhetischen Kategorienpaare programmatisch mit einer an der rhetorischen ›ethos / pathos‹-Formel (Klaus Dockhorn) orientierten Abgrenzung einer nur schönen Prosa, die gefällt und belehrt, von einer ›heilige‹ Poesie, die rührt und das Herz erhebt, verknüpft.41 Klopstocks Abwertung einer nur schönen Prosa am Massstab erhabener, heiliger Poesie lässt übrigens an George Steiner denken, wenn dieser heutzutage unter dem Schlagwort «real presences» einer resakralisierenden Kunstaufffassung erneut das Wort redet, um das parasitäre Gerede, d.h. den ›Diskurs‹ zu treffen. Die wirkungsästhetische Essenz seiner doppelten Poetik drängte Klopstock am Ende seines langen Lebens in die epigrammatischen Verse:42 Darum nennen wir Schön, was gerngefühlt uns bewegt, Und Erhaben das, was uns am mächtigsten trifft.
Als Entstehungszeit dieses Epigramms wird die Zeit nach 1795 vermutet. Mit solcher Datierung rückt die duale Wirkungspoetik, die in Klopstocks Zweizeiler zusammengezogen ist, in die unmittelbare Nähe zu einer geschichtsphilosophischen Disposition von Schönheit und Erhabenheit in Schillers reifer, gleichwohl fragmentarischer Ästhetik der neunziger Jahre, deren Programm einer ästhetischen Erziehung durch Autonomisierung der Kunst stets als eine unmittelbare Reaktion auf die Französische Revolution, genauer: ihre terroristische jakobinistische Phase interpretiert worden ist. Schillers ästhetische Kategorien sind freilich weniger politisch als anthropologisch unterfüttert. Statt auf eine bloss historische Entfremdung, geht die Tendenz auf eine grundlegende anthropologische Entzweiung, die Schillers ästhetischen Schriften nicht erst seit seiner Kant-Lektüre zugrundelag. Von einer tiefer als nur in der Zeit liegenden Dissonanz sprechen die Distichen Schön und erhaben vom Oktober 1795, die unter dem späteren Titel Die Führer des Lebens bekannt geworden sind:43 Zweierlei Genien sinds, die dich durchs Leben geleiten, Wohl dir, wenn sie vereint helfend zur Seite dir stehn! Mit erheiterndem Spiel verkürzt dir der eine die Reise, Leichter an seinem Arm werden Dir Schicksal und Pflicht. Unter Scherz und Gespräch begleitet er bis an die Kluft dich, Wo an der Ewigkeit Meer schaudernd der Sterbliche steht. Hier empfängt dich entschlossen und ernst und schweigend der andre Trägt mit gigantischem Arm über die Tiefe dich hin.
41. Klopstock, Friedrich Gottlieb, Von der heiligen Poesie (1755), in: ders., Ausgewählte Werke (1954), Schleiden, Karl August (ed.), 2 Bde., München ²1962, Bd. 2, S. 997–1009. 42. Klopstock, Friedrich Gottlieb, Werke und Briefe, Hist.-krit. Ausgabe., Abt. Werke, Bd. 2: Epigramme, Hurlebusch, Klaus (ed.), Berlin 1982, Nr. 160, S. 54. 43. Schiller, Friedrich, Werke. Nationalausgabe, Petersen, Julius (ed.), Weimar 1943 ff. (nicht abgeschlossen), Bd. 1, S. 272.
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Nimmer widme dich einem allein. Vertraue dem erstern Deine Würde nicht an, nimmer dem andern dein Glück.
Nach einem Einwand Herders, dass der erhabene Genius nicht erst im Tode von Bedeutung sei, sondern dieser uns schon während des Lebens »hilfreich zur Seite« stehen müsse (Herder an Schiller, 10. Okt. 1795), hat Schiller in seiner späten Schrift Über das Erhabene (1801) in prosaischer Weise das von ihm Gemeinte klargestellt: Herder hatte die »Kluft […], / Wo an der Ewigkeit Meer schaudernd der Sterbliche steht« als »Grab« (NA 35, 375) gedeutet, Schiller jedoch die »gefährlichen Stellen« und die »schwindlichte Tiefe« (NA 21, 41) im Auge gehabt, wo die Grenze zwischen Leib und Seele verläuft, die uns schon im Leben zerreisst. Diesen Riss spüren wir im Erhabenheitserlebnis als eine vermischte Empfindung einer »augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden desto stärkern Ergiessung derselben« (KU § 23, B 75), d. h. von »Wehseyn« und »Frohseyn«, wodurch uns erfahrbar wird, »dass die Gesetze der Natur nicht nothwendig auch die unsrigen sind« (NA 21, 42). Es ist die menschliche Exuberanz, weswegen Schiller gegenüber einem versöhnenden Schönheitsmodell skeptisch bleibt und die utopische Dimension einer solchen Kallistik um eine tragische Ästhetik des Erhabenen supplementiert. Wider die Ansicht, dass Schiller sein Konzept des Klassischen und der Klassik in Form einer Theorie des Schönen entwickelt habe, muss der gegenläufige Sachverhalt festgehalten werden, dass Schiller zugleich auch ein Konzept des ›Unklassischen‹ und der ›Nichtklassik‹ in Form einer Theorie des Erhabenen entworfen hat. Mit Schiller mögen wir das Land der Klassik betreten — und haben es auch schon wieder verlassen. Von solcher anthropologischen Entzweiung kann sich auch die Architektur von Schillers ästhetischer Pädagogik nicht freimachen, die er im gleichen Jahr wie das zitierte Epigramm in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795)44 vorgelegt hat. In ihren eigentlich philosophischen Partien seien Schillers Briefe, so hat zuletzt Dieter Henrich resigniert, ein sehr schwieriger Text: »Bis heute ist er von keinem Kommentar durchdrungen worden.«45 Die Lektüre der Briefe ist freilich durch die verbreitete, an Hegel orientierte Lesart einer ästhetischen Versöhnung verstellt. Dieser hatte Schillers Versuch, über Kant hinauszugehen, als Schritt auf seine eigene dialektische Auffassung gewertet und aus der »Zwiespältigkeit« des Menschen, in »zwei Welten zu leben«, abgeleitet, dass es Funktion der ›schönen‹ Kunst sei, »jenen versöhnten Gegensatz« darzustellen (Ästhetik I, 81 f.). Daher müsse Schiller, wie Hegel mit Blick auf die Abhandlung Über Anmut und Würde (1793) und die ästhetischen Briefe (21801) in einem historischen Abriss seines eigenen Kunstbegriffs hervorhebt, »das grosse Verdienst zugestanden werden« über Kant hinaus »Einheit und Versöhnung« (Ästhetik I, 89) als Prinzip des Schönen gedacht zu haben: »Das Schöne ist also [bei Schiller] als die Ineinsbildung des Vernünftigen und Sinnlichen und diese Ineinsbildung als das wahrhaft Wirkliche ausgespro-
44. Schiller, Friedrich, Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Briefe an den Augustenburger, Ankündigung der ›Horen‹ und letzte, verbesserte Fassung, Henckmann, Wolfhart (ed.), München 1967. 45. Henrich, Dieter, Der Grund im Bewusstsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795), Stuttgart 1992, S. 314.
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chen.«46 (Ibid., 91) Dieses einseitige Verständnis der ästhetischen Briefe, das stets komplementär zur Unterstreichung der Kritik an der entfremdeten Moderne im sechsten Brief die ästhetische Utopie hervorgekehrt hat, mag »für Hegel und Marx wie überhaupt für die hegelmarxistische Tradition bis zu Lukács und Marcuse ein Punkt der Orientierung geblieben«47 sein. Jedoch unterschlägt Jürgen Habermas, um dessen Name diese Reihe ergänzt werden muss, im Rekurs auf das philosophische Ondit von Schillers Utopie der ästhetisch versöhnten Gesellschaft zugleich mit der Kategorie des Erhabenen jene Notstandsgesetzgebung im ästhetischen Staat,48 weswegen nicht nur Schillers Menschenbild unvollendet, sondern auch seine Briefe der Form nach Fragment geblieben sind. Erst durch die Ausblendung des Sublimen aus der Ästhetik der Klassik gewinnt für Habermas die Moderne das Profil eines Projekts.49 Sowenig das Ideal-Schöne in der Erfahrung existiert, sowenig gibt es den »Ideal-Menschen2 (ÄE 16, 135), dessen Formung sich Schiller nach den enttäuschenden Erfahrungen der Französischen Revolution zunächst, wie die vorausgehenden Briefe an den Augustenburger (1793) zeigen, von dem Plan einer ästhetischen Erziehung versprochen hatte. Für Schiller scheiterte die Französische Revolution jedoch nicht erst 1792 /93 in der Schreckensherrschaft der Jakobiner, sondern von Anfang an in der dionysischen Entgrenzung der Volksmassen im Oktober 1789–also nicht politisch, sondern in erster Linie menschlich, weil, wie Schiller schreibt, »der wilde Despotismus der Triebe […] alle jene Untaten aus[heckt], die uns in gleichem Grad anekeln und schaudern machen.« (an den Augustenburger, 13. Juli 1793) Schiller standen bei seiner Absage an die menschliche Triebnatur nicht die jakobinischen »Schindersknechte« (an Körner, 8. Febr. 1793) vor Augen, sondern er stand unter dem Schock, in den ihn eine Momentaufnahme vom Beginn der Pariser Staatsumwälzungen beim Marsch der Frauen nach Versailles versetzt hatte. Und zwar waren Schiller »schöne Geschichten […] von den Pariser Frauens« erzählt worden: »[…] es hätten sich einige bei einem erschlagenen Garde du Corps versammelt, sein Herz heraus gerissen, und sich das Blut in Pokalen zu getrunken.« (an Schiller, 13. Okt. 1789) Ob die Erzählung auf einem Ereignis beruht, oder ob nicht vielmehr die Ausschreitungen, zu denen es in der Tat am frühen Morgen des 6. Oktober 1789 gekommen war, mit Angstlust imaginiert werden, ist in unserem Zusammenhang völlig belanglos — der Bacchantinnentopos der Pariser Poissarden hatte sich so tief ins Gedächtnis eingeschrieben, dass
46. »Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuss wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloss zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.« (ÄE 6, 92) 47. Habermas, Jürgen, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985, S. 59–64 (»Exkurs zu Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen«), hier: S. 62. 48. Verf., »Die Notstandsgesetzgebung im ästhetischen Staat. Anthropologische Aporien in Schillers philosophischen Schriften«, in: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert (DFG-Symposion 1992), Schings, Hans-Jürgen (ed.), Stuttgart 1994, S. 440–468. 49. Habermas, Jürgen, »Die Moderne — ein unvollendetes Projekt« (Adorno-Preis-Rede von 1980), in: ders., Kleine politische Schriften (I-IV), Frankfurt a.M. 1981, S. 444–464, bes. S. 455 ff. Cf. dagegen Lyotard, Jean-François, »Réponse à la question: Qu’est-ce que le postmoderne«, in: Critique 37, 1982, H. 419, S. 357–367 (zuerst ital. Jan. 1982).
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Schiller die Szene anarchischer Triebentfesselung immer wieder dichterisch aufgegriffen und wiederholt hat,50 u.a. in den berühmten Versen der Glocke, in der die revolutionäre Parole nach »Freiheit und Gleichheit!« das traumatisierende Bild erneut wachruft: Da werden Weiber zu Hyänen Und treiben mit Entsetzen Scherz, Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen, Zerreissen sie des Feindes Herz. (NA 2 I, 227 ff., Z. 365–368)
Gegenüber dem Erschrecken vor der Menschennatur, die Schillers anthropologische Kehre in der Ästhetik verursachte, wird auch die Kritik an der Arbeitsteiligkeit der Moderne, die der sechste ästhetische Brief geuebt hatte, eher blass. Es ist nicht die gesellschaftliche Entfremdung, sondern vielmehr die menschliche Exuberanz, mit der die ›schöne‹ Geschichte von den Pariser Frauen konfrontierte, der gegenüber Schiller sich nicht hat beruhigen und es daher bei einer Bildung zum Schönen auch nicht hat belassen können. Vor dem Hintergrund, dass der bürgerliche Traum ins Trauma verkehrt wurde, wird man die Konzeption einer ästhetischen Erziehung zu situieren haben. Bevor man dem Bürger eine Verfassung geben könne, schliesst Schiller aus seiner Erfahrung, müsse man vielmehr für die Verfassung Bürger erschaffen. Hier setzt das Programm ästhetischer Erziehung an, in dem die Aporie der 1782 / 84 formulierten Nationaltheateridee noch einmal zu übertrumpfen und auszuweiten versucht wird.51 Dass der Mensch unvollendet bleibt und es dies zu ertragen gilt — diese Einsicht muss Schiller erst im Verlauf der Abfassung der ästhetischen Briefe gekommen sein. Das Dispositionsschema des sechzehnten ästhetischen Briefs, in dem das Programm für den »Fortgange« der Untersuchung dergestalt formuliert worden war, dass zunächst »die Wirkungen der schmelzenden Schönheit an dem angespannten Menschen« und danach »die Wirkungen der energischen [Schönheit, also dem Erhabenen] an dem abgespannten [Menschen]« geprüft werden solle, »um zuletzt beide entgegen gesetzte Arten der Schönheit in der Einheit des Ideal-Schönen auszulöschen» (ÄE 16, 135), bleibt unausgefüllt. Mit den Briefen über die «schmelzende Schönheit» (vor ÄE 17, 136) bricht das Projekt ab. Als einen »Ersatz«» (NA 21, 330) für den nicht zustande gebrachten Abschluss der ästhetischen Briefe wird man die bereits zitierte Schrift Über das Erhabene (NA 21, 38–54) ansehen, die erstmals 1801 erschien. Die Entstehung dieser kurzen Schrift ist positiv nicht zu bestimmen. Ihre inhaltliche Datierung ist freilich mit dem Problem belastet, ob man dem Schiller der ›versöhnten‹ oder dem Schiller der ›ertragenen‹ Widersprüche das letzte Wort überlassen will. Mit dem Durchbruchserlebnis des Erhabenen, bei dem der selbständige Geist »plötzlich und durch eine Erschütterung« (NA 21, 45) aus den Netzen einer verfeinerten Sinnlichkeit gerissen wird, hat Schiller nun ein desillusioniertes, negatives Natur- und Geschichtsbild verbunden. Das
50. Dedner, Burghard, »Die Ankunft des Dionysos«, in: Die andere Welt. Studien zum Exotismus, Köbner, Thomas / Pickerodt, Gerhard (eds.), Frankfurt a.M. 1987, S. 200–239, bes. S. 221 ff. 51. Schiller, Über das gegenwärtige teutsche Theater (1782): »Bevor das Publikum für seine Bühne gebildet ist, dörfte wohl schwerlich die Bühne ihr Publikum bilden.« (NA 20, 82) Schon Lessing formulierte das Paradox theatralischer Erziehung in seiner Klage »Über den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind!« (Hamburgische Dramaturgie [1767 / 68], St. 101–104).
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Erhabene ist quasi die Rückzugsposition des Menschen, wenn ihm nichts mehr bleibt. Aus dieser Perspektive erscheint die Geschichte als Trümmerhaufen und als Schreckensspur, die »aller Regeln […] spottet« (NA 21, 50), und die Natur als »gesetzlose[s] Chaos« und »wilde Bizarrerie«, in der kein »weiser Plan«, sondern der »tolle Zufall« regiert — demgegenüber bleibt nur noch die Chance, »sich in die heilige Freiheit des Geistes zu flüchten« (NA 21, 51). So changiert Schillers Natur- und Menschenbild je nachdem, ob es aus der Perspektive des Schönen oder des Erhabenen beleuchtet wird. Nicht dass Schiller die Widersprüche menschlicher Zeitlichkeit eskamotiert hat, sondern dass sie auf widerstreitende Weise die Gedankenarbeit seiner philosophischen Schriften der neunziger Jahre in Spannung halten und vorantreiben, macht die Grösse seiner Ästhetik aus. Die geschichtsphilosophische Situierung des Schönen und Erhabenen wird aus einer bemerkenswerten Überlegung greifbar, mit der Schiller auf die Kritik an seinem Wallenstein reagierte, die Johann Heinrich Süvern (1775–1829) — der zweite Mann bei der preussischen Schul- und Universitätsreform neben Humboldt — in seiner Schrift Über Schillers Wallenstein in Hinsicht auf die griechische Tragödie vorgebracht hatte. Darin suchte Süvern vor dem Hintergrund von Schillers und Schlegels Replik auf die französische Querelle des Anciens et des Modernes52 einen neuen Zugang zur griechischen Tragödie zu erlangen. Gegenüber dem alten Muster falle Schillers Wallenstein ab. Denn während die Tragödie der Alten seitens ihrer Wirkung durch die Erregung von Mitleid und Furcht durch diese Affekte kathartisch hindurchgehe und in eine Stimmung versetze, »welche ein gedeihliches fröhliches Menschenleben macht« lasse Schillers Drama den Zuschauer in »Kleinmuth«, »Erbitterung« und »Ängstlichkeit« zurück.53 In einem kurzen Aufsatz Über Wallenstein (1800 / 1801) sollte Hegel ähnlich empfinden. Schiller hat seinem Kritiker mit einer Überlegung geantwortet, die hinsichtlich der »ganz heterogene[n] Zeit« um 1800 nicht das Programm einer ästhetischen Erziehung zum Schönen, sondern zum Erhabenen suggeriert: Unsere Tragödie […] hat mit der Ohnmacht, der Schlaffheit, der Charakterlosigkeit des Zeitgeistes und mit einer gemeinen Denkart zu ringen, sie muss also Kraft und Charakter zeigen, sie muss das Gemüth zu erschüttern, zu erheben, aber nicht aufzulösen suchen. Die Schönheit ist für ein glückliches Geschlecht, aber ein unglückliches muss man erhaben zu rühren suchen. Doch darüber zu einer andern Zeit. (an Süvern, 26. Juli 1800)
Aus solchem »Kummer« (Lyotard) wächst das Interesse am Erhabenen bis heute.
Die Utopie in der Geschichtsphilosophie des Schönen und ihr ästhetischer Preis Eines der wirkungsmächtigsten Identifikations- und Rezeptionsangebote zur Vereinheitlichung einer klassisch-romantischen Periode in Westeuropa um 1800 durch die Nachwelt war gewiss die
52. Jauss, Hans Robert, »Schlegels und Schillers Replik auf die »Querelle des Anciens et des Modernes«, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M. 1970, S. 67–106. 53. Süvern, Johann Heinrich, Über Schillers Wallenstein in Hinsicht auf die Griechische Tragödie, Berlin 1800, S. 161 und 157.
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utopische Dimensionierung der Bildungskonzeption. Als ein Heilmittel gegen die als krisenhaft erlebte Modernisierung mit ihrer semantischen Erosion erfunden, ist sie seither als Ideologie stets abrufbar gewesen. Das neuhumanistische Konzept reagierte auf die äusseren Umstände eines »allgemeinen Umsturz[es]«,54 d.h. auf die Kontingenz der Geschichte, mit der der Beschleunigungsschub der Französischen Revolution und die Wirren der Koalitionskriege unmittelbar konfrontierte, mit einer Strategie innerer Bildung. Ein solcher Bildungsbegriff strukturiert auch die klassische »Ausgleichs-Ästhetik«.55 Zu Recht ist ihr funktionaler Charakter mit der Beobachtung herausgestellt worden, dass in einer Situation, in der die Signatur der eigenen Epoche im ›Chaos‹ erblickt wurde, »Ordnungsstiftung zum zentralen Moment von Kultur«56 hat werden müssen. Ein solcher funktionsgeschichtlicher Methodenansatz kommt freilich nicht weiter als zur Schauseite klassisch-romantischer Ästhetik voran. Er spürt die Hoffnungen der Autoren, jedoch nicht das Wissen ihrer Texte auf: Denn die Wende nach Innen führt nur in die Konfrontation mit einem neuen Kriegsschauplatz — den der eigenen Seele mit ihren unendlichen Wüsten dunkler Vorstellungen (Kant), der Exuberanz der Triebnatur (Schiller), dem Schmutz des Herzens (Kleist), dem Dschungel des eigenen Afrikas (Jean Paul) und der Dynamik triebhafter Destruktivität (Büchner). In dem Masse, wie die Schriftsteller an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bemüht waren, sich des ganzen Menschen anthropologisch zu versichern und seine harmonische Ausbildung geschichtsphilosophisch zu befördern, brachten sie statt seiner ›Mitte‹ nur seine Risse und Widersprüche zum Vorschein. Auf das engste ist die klassisch-romantische Bildungsidee mit der Konzeption einer Geschmacksvervollkommnung durch Griechen-›imitatio‹ verbunden, wie sie wirkungsmächtig von Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), der die Position der Anciens aus der säkularen französischen Querelle aufnahm, in den frühen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) vertreten worden war. Der griechische Kosmos wurde zum Urbild aufgewertet, an dem individual- und gattungsgeschichtliches Telos sich ausrichten konnten. Bevor die Programme geschichtsphilosophischer Ästhetik, Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung (1795 / 96) oder Friedrich Schlegels genialer Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie (1795 / 97) erschienen, war deren Gehalt wie in einem Medaillon bereits in einer Höflichkeitsübung gegenüber Goethe (1749– 1837) verdichtet, mit der sich Schiller im sogenannten Geburtstagsbrief dem Weimarer anzunähern versuchte: Wären Sie als ein Grieche, ja nur als ein Italiener geboren worden, und hätte schon von der Wiege an eine auserlesene Natur und eine idealisierende Kunst Sie umgeben, so wäre Ihr Weg unendlich verkürzt, vielleicht ganz überflüssig gemacht worden. Schon in die erste Anschauung
54. Humboldt, Wilhelm von, Ästhetische Versuche. Erster Theil [mehr nicht erschienen]: Über Goethe’s Herrmann und Dorothea (entst. 1797 /98; gedr. 1799), in: ders., Gesammelte Schriften. Akademieausgabe, Bd. 2: 1796–1799, Leitzmann, Albert (ed.), Berlin 1904, S. 113–323, hier: S. 319. 55. Markwardt, Bruno, Geschichte der deutschen Poetik (= Grundriss der germanischen Philologie, 13 /III), Berlin 1958, Bd. 3: Klassik und Romantik, S. 1 ff. 56. Vosskamp, Wilhelm, »Klassik als Epoche. Zur Typologie und Funktion der Weimarer Klassik«, in: Herzog, Reinhart / Koselleck, Reinhart (eds.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München 1987 (= Poetik und Hermeneutik, 12), S. 493–514, hier: S. 499.
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Carsten Zelle der Dinge hätten Sie dann die Form des Notwendigen aufgenommen, und mit Ihren ersten Erfahrungen hätte sich der grosse Stil in Ihnen entwickelt. Nun, da Sie ein Deutscher geboren sind, da Ihr griechischer Geist in diese nordische Schöpfung geworfen wurde, so blieb Ihnen keine andere Wahl, als entweder selbst zum nordischen Künstler zu werden oder Ihrer Imagination das, was ihr die Wirklichkeit vorenthielt, durch Nachhülfe der Denkkraft zu ersetzten und so gleichsam von innen heraus und auf einem rationalen Wege ein Griechenland zu gebären. (an Goethe, 23. Aug. 1794)
Auf rationalem Wege ein Griechenland zu gebären, zieht quasi ›avant la lettre‹ die Quintessenz aus dem Denkmal, das Goethe Winckelmann (1805) errichten sollte, als er dem Verfasser der Geschichte der Kunst des Altertums (1764) selbst eine »solche antike Natur« ›gelebt‹ zu haben bescheinigte, die als eine unzerstückelte und ungetrennte die Geschichtsphilosophie sich bei den Griechen zu imaginieren anheischig machte. Auf die dunklen Gründe, aus denen das Ideal griechischer Schönheit sublimiert ist, das jene verstellt, verstand sich Goethe, wenn er dezent bemerkte, dass Winckelmann niemals belebter und liebenswürdiger erschienen sei, als im »Verhältnis zu schönen Jünglingen.«57 Der Mensch der griechischen Antike, der als Urbild gelungenen Lebens die Utopie des Schönen beglaubigen soll, stellt freilich die heikelste Gestalt in der Architektur der geschichtsphilosophischen Ästhetik dar. Die Risse im klassischen Schönheitsideal durchziehen auch dessen Physiognomie. Innerhalb der konstituierenden Differenz, mit der etwa Schiller die Begriffe des Naiven und Sentimentalischen konnotiert, dass gegenüber dem mit sich selbst uneinigen Mann der Moderne der Grieche »[e]inig mit sich selbst« (NA 20, 431) gewesen sei, ist dieser es, der gegenüber einer problematisch gewordenen Gegenwart die Einheit in die geschichtsphilosophische Konstruktion einbringt. Das nötigt dazu, ihn ›vor‹ dem ›Sündenfall‹ der Selbstreflexion zu situieren. Aufgrund seines aufklärerisch geformten und durch Fichte geleiteten Bildungsbegriffs liegt jedoch das Telos sowohl Schillers als auch Schlegels in der Kultur und nicht in den Wäldern Rousseaus. Der Grieche muss daher zugleich ›in‹ der Geschichte verortet, d.h. im Unterschied zur rückwärtsgewandten Utopie des guten Wilden vergesellschaftet sein. Als Grundpfeiler der Geschichtsphilosophie ist dieses Konstruktionsteil daher stets umstritten und gefährdet gewesen, sei es durch die Ekstasen des destruktiven griechischen Charakters bei Kleist (etwa in der Penthesilea, 1808), die archäologischen Befunde von Jacob Ignatz Hittorf und Gottfried Semper, dass der lichte Marmor griechischer Tempel und Plastiken bunt bemalt war, oder die nachhaltige Schattierung und Schwärzung des Griechenbildes durch Burckhardt und Nietzsche. So verkörpert der Grieche der klassisch-romantischen Kunstperiode den zweideutigen Versuch, Kontinuität ohne ihre dionysischen Kosten herstellen zu wollen. Spätestens mit der Hervorkehrung der angedeuteten, gegenläufigen Züge im Bild der Griechen, musste die geschichtsphilosophische Normkonstruktion zerbrechen. Die besondere Fragilität der Gestalt eines rationalen Griechentums, die Schiller ihm im ›Geburtstagsbrief‹ hatte anmessen wollen, scheint Goethe sofort erkannt zu haben, insofern er sich in seinem Antwortbrief zwar artig für die »Teilnehmung« bedankte, aber doch zugleich auch
57. Goethe, Johann Wolfgang, Winckelmann, in: ders., Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Trunz, Erich (ed.), Hamburg 1948 ff., München 1971–1976, Bd. 12 (7. Auflage 1973), S. 96–129, hier: S. 99 (»Antikes«) und 104 (»Schönheit«).
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zu bedenken gab, dass, wie es an Schiller gerichtet heisst, »Sie, bei näherer Bekanntschaft, eine Art Dunkelheit und Zaudern bei mir entdecken werden, über die ich nicht Herr werden kann […].« (an Schiller, 27. Aug. 1794) Goethes wie der klassisch-romantischen Ästhetik insgesamt liegt ein Willen zur Schönung zugrunde, durch den noch das Äusserste symbolisch deutend vereinnahmt und depotenziert wird. Das Befremdliche wird für den Künstler zum Dämon der Vervollkommnung, wodurch Hässliches, Grausames oder Bedrohliches in ein Symbol verwandelt wird, wie etwa Goethes Umdeutung natürlicher kindlicher Grausamkeit in erstes naturkundliches Interesse oder sein »privater Sinngebungsfeldzur«58 in der Campagne in Frankreich (1792; gedr. 1822) belegen. Gleichzeitig misstraut Goethe jedoch dem Paradigma ästhetischer Erziehung und geschichtsphilosophischer Versöhnung. Von deren Schönfärberei hatte sich Goethes »doppelbödige[r] Ästhetik«59 vielmehr mit der anthropologischen Einsicht abgelöst, dass auch in dem ›gebildeten‹ Menschen ein unwiderstehlicher Trieb zum Absurden wirke, der »gegen alle Cultur die angestammte Rohheit fratzenliebender Wilden mitten in der anständigsten Welt wieder zum Vorschein bringt.«60 Wieviel musste aus der Ästhetik ausgegrenzt werden, um im Idealismus zur Schönheitslehre zu werden. Es findet sich kaum eine ästhetische Konzeption um 1800, die nicht als Kehrseite ihr Dementi mitformulierte: Wenn Karl Philipp Moritz (1756–1793), der mit seiner 1788 in Rom entstandenen Abhandlung Über die bildende Nachahmung des Schönen die geläufige Ansicht blamiert, dass die Autonomisierung des Ästhetischen als eine Reaktion auf die Französische Revolution zu lesen sei, das Schöne als ein »in sich selbst Vollendetes«61 auffasst, dann markieren seine Überlegungen doch zugleich den Preis der Zerstörung, der für das Schöne bezahlt werden musste. Moritz’ in der Forschung nur selten herangezogene und schon von den zeitgenössischen Rezipienten Schiller und Goethe im wesentlichen abgelehnte Ausführungen zur Konstellation von Tod, Zerstörung und ›erhabenem Mitleid‹ gegen Ende seiner ästhetischen Hauptschrift, die sich an einigen Versen Homers (Hom. Il. III, 156 ff.) entzünden, lassen das schöne Kunstwerk als Rechtfertigung des geschichtlichen Schreckens durchschaubar werden. Ausdrücklich situiert Moritz seine Argumentation vor dem Hintergrund des Theodizeeproblems der Aufklärung. So wie das trojanische »Geklirr der Waffen, und das Geschrei der Sterbenden« um der Schönheit Helenas ewig gerechtfertigt erscheinen, fungiert das ›erhabne Schöne‹ in Moritz Augen als Legitimitation geschichtlicher Schrecklichkeiten. Durch eine solche ästhetische
58. Pfotenhauer, Helmut, Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte — am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987, bes. S. 157 ff., hier: S. 172. 59. Mattenklott, Gert, »Das Monströse und das Schöne. Zur Mummenschanz im II. Faust mit einem Rückblick auf die Aufklärung«, in: Text und Kontext 9.2, München, 1981, S. 315–330, hier: S. 328. 60. Goethe, Johann Wolfgang, Tag- und Jahres-Hefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse, 1805 (entst. 1817–1825; gedr. 1830), in: ders., Werke. Sophienausgabe, 4 Abt., 133 in 143 Bänden., Weimar 1887–1919, Bd. 1, S. 35, S. 243 f. 61. Moritz, Karl Philipp, Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten (März 1784), in: ders., Schriften zur Ästhetik und Poetik, Schrimpf, Hans Joachim (ed.), Tübingen 1962, S. 3–9.
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Theodizee sublimiert sich uns der »Jammer der Vorwelt« in ein »köstliches Kleinot«.62 Das Skandalon einer ästhetischen Rechtfertigung des Elends wird als Rückseite idealistischer Autonomieästhetik sichtbar. »Legitimiert wird die Schrecklichkeit der Geschichte durch die ›angenehme Wirkung‹, die sie auf die Einbildungskraft eines Betrachters macht, der in das Geschehen nicht verwickelt ist.«63 Die Doppeldeutigkeit der Autonomisierung der Ästhetik, die sich bei Moritz in einigen Passagen der Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers (1787) bis zu einem aggressiven Ästhetizismus steigern kann, bewahrt sie freilich zugleich vor dem romantischen Kitsch falscher Unendlichkeit und der Gipserhabenheit eines epigonalen Klassizismus im 19. Jahrhundert.
Depotenzierung des Erhabenen und die romantische Ästhetik des Unendlichen Im Unterschied zu Moritz zielt die späte Ästhetik Johann Gottfried Herders (1744–1803) auf Entdramatisierung des Erhabenen. Während in seinen frühen Überlegungen im Anschluss an Burke und in Übereinstimmung mit den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen seines akademischen Lehrers Kant das Erhabene aufgrund seiner Dynamik dem Schönen entgegengesetzt wird, führt das Spätwerk zur Depotenzierung des Sublimen und zur Annäherung an das Schöne. Auf einer ersten Schiffspassage, die dem aus Riga kommenden 1769 den Horizont in geographischer wie geistiger Hinsicht öffnete, hatte Herder selbst den mit »Betäubung« verbundenen Wahrnehmungsschrecken des Erhabenen als einen »Schauder« erfahren, der vom »ruhige[n] Gefühl des Vergnügens« den das Schöne gewährt, deutlich abstach.64 In seinem Spätwerk dagegen, das den bezeichnenden Titel Kalligone (1800) trägt, favorisierte Herder gegenüber einer solchen ›doppelten Ästhetik‹ eine ausgleichende Theorie. In anthropologisch begründeter Abgrenzung zu Kants »Katheder-Erhabenheiten« und skeptisch geworden gegenüber dem »erhabnen Schauder«, kommt er ähnlich wie Goethe zu einer harmonisierenden Sichtweise, in der das Erhabene als das »höchste Schöne« aufgefasst wird. Im Gegensatz zu Kant und Schiller, bei denen das Erhabene das Subjekt zerreisst, imaginiert sich Herder bei der Erhebung der Seele einen Zustand, bei der das Individuum aus dem Bereich des Nur-Subjektiven heraustritt und an einem festen Punkt ankommt, an dem es ausruhen kann. Die den negativen Grund des Erhabenen akzentuierende Disposition, die Herder mit dem Oxymoron »furchtbarschön« umschreibt, lehnt er ab, da »im Chaos lustwandelnd, nichts als eine Verödung der Seele« sei. Dadurch wird die für das Erhabenheitserlebnis typische ›vermischte‹ Empfindung einer negativen Lust zu einem ›reinen‹ Gefühl beruhigt, das keine gegenläufige Spannung mehr kennt:
62. Moritz, Karl Philipp, Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788), in: ders., Werke, Günther, Horst (ed.), 3 Bde., Frankfurt a.M. 1981, Bd. 2, S. 548–578, bes. S. 569 ff. 63. Bürger, Peter, Zur Kritik der idealistischen Ästhetik, Frankfurt a.M., S. 147. 64. Herder, Johann Gottfried, Journal meiner Reise im Jahr 1769 (gedr. posthum 1846, 21878), Hist.-krit. Ausgabe, Mommsen, Katharina (ed.), Stuttgart 1976, S. 122 f.
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»Erhabne Gefühle […] stehen nicht drunten und krümmen sich hinauf: sie fühlen sich droben«65 Die Depotenzierung des Erhabenen führt Herder in eine monistische Ästhetik zurück. Bedenkt man freilich, dass er aufgrund des ›betäubenden Schauders‹, der ihn auf seiner Reise 1769 ergriffen hatte, ursprünglich in einem Akt plötzlicher Selbsterkenntnis gewahr wurde, dass das »Gefühl für Erhabenheit« die Wendung seiner Seele sei,66 dann wird man die veränderte Haltung zum Schrecklich-Erhabenen im Alter auch als den Versuch deuten dürfen, die eigene neurotische Labilität der Sturm-und-Drang-Jugend auf Distanz zu zwingen. Vor dem Beben der eigenen Identität schreckt Herder zurück und zieht sich auf den vermeintlichen Ruhepunkt einer ›geschönten‹ Erhabenheitskonzeption zurück. Mit ihr steht Herder der Ästhetik des Unendlichen nahe, in der sich die sehnsuchtsvollen Entgrenzungsphantasien einer romantischen Generation objektivieren. Eine solche Pastoralisierung des Erhabenen lässt sich für die Ästhetikgeschichte nach 1800 verallgemeinern. In der Kunstphilosophie kam es zur Schönung und Harmonisierung des Erhabenen, d.h. zur Marginalisierung des negativen Grundes des Sublimen. Die beiden ästhetischen Kategorien wurden einander angenähert und verschmolzen. Erst diese romantische Depotenzierung, die es in die dialektische Bewegung des Schönen einfügte, liess etwas »Affirmative[s]«67 an der Ästhetik des Erhabenen greifen. Ihre paradigmatische Gestaltung fand eine solche Philosophie der unendlichen Landschaft, in denen die Sehgewohnheiten des neuen Massenmediums Panorama (u. a. Barkers Londoner Rotunde, 1794; Prévosts Pariser Rotunde 1799, Breysigs Berliner Rotunde 1800)68 Niederschlag und künstlerische Bestätigung fanden, in der Malerei Caspar David Friedrichs (1774– 1840). Sein 1810 ausgestelltes Gemälde Der Mönch am Meer, vielleicht das bekannteste seiner Rückenansichten, versetzte die damaligen Betrachter in einen Schwindel, der einerseits »Unendlich tief und erhaben«, andererseits »recht graulich« gewesen sein und einer Stimmung zwischen »Ozean« und »Ossian« entsprochen haben muss.69 Weder als ›ozeanische‹ Empfindung der Ewigkeit (Freud) noch als ›philobatischer thrill‹ (Balint) — Theorievorgaben, auf die eine psychoanalytisch interessierte Deutung romantischer Unendlichkeitssehnsucht rekurrieren könnte — hat das Gemälde dagegen auf Heinrich von Kleist (1777–1811) gewirkt. Die unendliche Einsamkeit des Meeresufers und die unbegrenzte Wasserwüste, auf die die perspektivleitende Figur des winzigen Kapuziners im Vordergrund den Blick des Gemäldebetrachters freigibt, scheint Kleist vielmehr wie einen Gewaltstreich erfahren zu haben, der ihn in den ›horror vacui‹ des 17. Jahrhunderts zurückstürzen liess. Vor der »Einförmigkeit und Uferlosigkeit« von Friedrichs Seelandschaft stehend, empfinde man, wenn man sie betrachtet, schreibt
65. Herder, Johann Gottfried, Kalligone (1800), Begenau, Heinz (ed.), Weimar 1955, »Vom Erhabenen«, S. 189–238, hier: S. 220. 66. Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769, op. cit., S. 124. 67. Hartmann, Nicolai, Ästhetik (entst. 1945), Berlin 1953, S. 374. 68. Öttermann, Stephan, Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt a.M. 1980, pass. 69. Brentano, Clemens / von Arnim, Achim, Verschiedene Empfindungen vor einer Seelandschaft von Friedrich, worauf ein Kapuziner (1810), in: Brentano, Clemens, Werke, Kemp, Friedhelm (ed.), Bd. 2, München ²1973(¹1963), S. 1034–1038.
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Kleist, »als ob Einem die Augenlider weggeschnitten wären.«70 Wollte man die beiden Rezeptionszeugnisse als Dokumente eines Umbruchs in der Geschichte der Wahrnehmung in Hinsicht auf ihren mentalitätshistorischen Quellenwert akzentuieren, so liesse sich der Text des preussischen Offiziers Kleist vielleicht tatsächlich einer älteren Stufe im Prozess der Subjektkonstitution zurechnen. In ihm spräche sich der Phänotyp eines bürgerlich-erhabenen Panzersubjekts aus, das noch nicht, wie das Ich in der romantischen Sehnsuchtskonzeption, mit der Auflösung seiner Individualität liebäugelt.71 Diesem romantischen Ich, das über seiner Sehnsucht nach Entgrenzung den Preis des damit verbundenen dionysischen Grausens zu vergessen scheint, begegnet man vorzüglich in der Lyrik der englischen Romantiker, auf die die deutsche Literatur und Philosophie stark beeindruckend gewirkt hat. Wie im deutschsprachigen Raum etwa bei Wackenroder, Tieck oder Novalis leben auch in England die Illusionen empfindsamer Entgrenzungsphantasien fort, in denen der sympathetische Tränenfluss die Grenzen der Individuation unterspülen sollte. Die Dichtungen von Coleridge (1772–1834) und Wordsworth sind vom Bestreben gekennzeichnet, die moderne Entfremdung in Bildern naturfrommer Ganzheit zu überwinden. Samuel Taylor Coleridge zählt dabei auf eine ›élevation sans rupture‹, d.h. eine Erhabenheit gänzlich ohne das negative Moment von ›Hemmung‹ (Kant) oder ›Hinaufkrümmung‹ (Herder). Mochte sich Coleridge in seinen Randnotizen zu Herders Kalligone — »I never read a more disgusting Wor72« — von dessen depotenzierender Auffassung auch zugunsten der analytischen Schärfe Kants distanzieren, tatsächlich konvergieren seine Ansichten jedoch mit denjenigen des Kant-Kritikers, wenn er die Erfahrung des Erhabenen als eine neuplatonisch konnotierte Erfahrung der Erhebung und Sublimierung beschreibt: There is no ›collapse‹ for Coleridge when the sublime is perceived, but rather elevation and possible purification. In a sense what happened after the turn of the century was a reconciliation of neoclassic and romantic tensions, for what the eighteenth century saw as the outer limit of order, the nineteenth took as the beginning of new experience. […] an experience beyond the senses that does not generate terror and fear, as Burke has suggested, but instead produces insight and knowledge.73
Coleridge inszeniert in seinen Texten den Begriff einer metaphysischen Erhabenheit, in dem das Moment der Hemmung zugunsten einer um so prononcierteren Ergiessung gänzlich bedeutungslos geworden ist. Eine Anschauung dieser sublimen Erfahrung gibt eine Erinnerung an das Meer bei Malta, in der eine naturreligiöse ›unio mystica‹ evoziert wird, die Coleridge in einen deutschen Begriff fasste: »The Sky, or rather say, the Äther, at Malta, with the Sun apparently
70. Kleist, Heinrich von, Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft (1810), in: ders., Sämtliche Werke, Grützmacher, Kurt (ed.), München 1967, S. 935–936. Bei Kleists Text handelt es sich um eine unautorisierte Bearbeitung der von Brentano und Achim verfassten Szene. 71. Begemann, Christian, »Brentano und Kleist vor Friedrichs Mönch am Meer. Aspekte eines Umbruchs in der Geschichte der Wahrnehmung«, in: Deutsche Vierteljahresschrift 64:1, 1990, S. 54–96, hier: S. 95. 72. Coleridge, Samuel Taylor, Collected Works 12: Marginalia II, »Camden to Hutton«, Whalley, George (ed.), London / Princeton 1984, S. 1064–1071, hier: S. 1064. 73. witchell, James B., Romantic Horizons. Aspects of the Sublime in English Poetry and Painting (1770–1850), Columbia 1983, S. 87.
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suspended in it, the Eye seeming to pierce beyond, & as it were, behind it — and below the aetherial Sea, so blue, so zerflossenes Eins, the substantial Image, and fixed real Reflection of the Sky — […].«74 Obwohl das in Coleridges Tagebuch literarisch fixierte Bild die Farbkompositionen William Turners vorwegzunehmen scheint, wird man nicht fehlgehen, die Beschreibung als Allegorie des ›grossen Meers der Schönheit‹ (Plat. symp. 210e), zu dem die Platonische Ideenlehre aufsteigt, zu deuten. Erhabenheitsmomente ohne Schrecken gestaltete auch William Wordsworth (1770–1850), in denen er Ichverlust und Einswerdung mit der äusseren Natur imaginiert. Die in der idealistischen Ästhetik angestrebte dialektische Versöhnung von Subjekt und Objekt gestaltet die romantische Dichtung als wechselseitige Durchdringung von Ich und Natur. Neuplatonische und spinozistische Traditionslinien überschneiden sich, wenn Wordsworth als Abschluss von The Prelude (entst. 1799 /1805; gedr. postum 1850) den Aufstieg zum Mount Snowdon in Wales als intertextuelle ›imitatio‹ von Petrarcas Mont Ventoux-Epistel anlegt. Die Beschreibung des physischen Aufstiegs in die sublime Bergnatur fungiert als Symbol einer Erhebung zu »pathetic truth« deren Aufschwung sich mit »deep enthusiastic jo75« vollzieht. Im gleichen Jahr, in dem auf dem Kontinent Friedrich Schlegel im 116. Athenaeum-Fragment die romantische Dichtung als eine »progressive Universalpoesie« bestimmte, erschienen in England die epochemachenden Lyrical Ballads von Wordsworth und Coleridge. Berühmt darin ist der ›locus sublimitatis‹ in den Zeilen written a few miles above Tintern Abbey, in denen das lyrische Ich sich zu transzendenter Erfahrung erhebt: […] And I have felt A presence that disturbs me with the joy Of elevated thoughts; a sense sublime Of something far more deeply interfused, Whose dwelling is the light of setting suns, And the round ocean, and the living air, And the blue sky, and in the mind of man, A motion and a sprit, that impels All thinking things, all objects of all thought, And rolls throught all things. […]76
Wordsworth verdichtet in seinen Zeilen, in denen das ›Verströmen des Ich‹ durch Enumeration und Enjambement zum Atemfluss geformt wird, zwar eine »Erweiterung der Einbildungskraft an sich selbst« die Kant unter der Begrifflichkeit des mathematisch Erhabenen gefasst hatte
74. Coleridge, Samuel Taylor, The Notebooks, Bd. 2: 1804–1808 (Text), Coburn, Kathleen (ed.), New York 1961, No. 3159, 12.74 (Sept. 1807). 75. Wordsworth, William, The Prelude, 1799, 1805, 1850, Wordsworth, Jonathan / Abrams, M. H / Gill, Stephen (eds.), New York /London 1975, Book 13, 1805, Vers 265 und 261. Zum Zusammenhang von Aufstiegsmotiv, Erhabenheit und lyrischem Ich siehe die Studie von Karl Pestalozzi, Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik, Berlin 1970, die jedoch auf italienische, deutsche und französische Beispiele beschränkt bleibt. 76. Wordsworth, William, Lines written a few miles above Tintern Abbey, on Revisiting the Banks of the Wye during a Tour, July 13, 1798, in: Wordsworth / Coleridge, Lyrical Ballads (1798), Brett, Raymond L. / Jones, A. R (eds.), London 1971, S. 113–118, Z. S. 93–102.
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(KU § 25, B83), aber die Gewalt, die das Gemüt zerreissen müsste, wird doch pantheistisch soweit abgefedert, dass nur noch die im präsentischen Modus gefasste Verwirrung eines unbegrifflichen ›je ne sais quoi‹ geblieben ist. Gleichwohl hält Wordsworth in einem nachgelassenen Fragment, das im Kontext eines Führers durch den nordenglischen Lake-District entstanden ist, an der begrifflichen Scheidung des Erhabenen und Schönen als verschiedenen Rezeptionsformen fest. Zwar könne ein Sujet gleichermassen mit der Kraft begabt sein, das Gefühl des Schönen oder des Erhabenen zu erwecken, »tho’ […] the mind cannot be affected by both these sensations at the same time, for they are not only different from, but opposite to, each other.«77 Während das Gefühl des Schönen mit der deutlichen Wahrnehmung der Teile einhergeht, zeichnet sich das Gefühl des Erhabenen durch eine gleichsam schwebende Kontemplation unter Ausschaltung bewusster Einzelwahrnehmungen aus. Freilich — diese ›hochromantisch‹ scheinende Unterscheidung deckt sich mit den Beobachtungen, mit denen ein junges Genie Jahrzehnte zuvor noch ganz ohne terminologische Fixierung das ›Gothische‹ als ästhetischen Begriff zu rehabilitieren trachtete, weil es angesichts des Strassburger Münsters die Erfahrung gemacht hatte, wie die einzelnen Gebäudeteile, die dem Auge im »Morgendufftglanz […] bis aufs geringste Zäserchen« greifbar waren, in der Abenddämmerung »zu ganzen Massen schmolzen, und nun diese, einfach und gross, vor meiner Seele standen […].«78
Das Interessante, Hässliche und Groteske als Momente einer Ästhetik der Moderne In seiner frühen Abhandlung Über das Studium der griechischen Poesie (1795 / 97)79 entwirft Friedrich Schlegel (1772–1829) eine geschichtsphilosophische Ästhetik, in der die moderne Kunst, die unter dem Begriff des ›Interessanten‹ gefasst wird, mit dem Korrektiv einer neu zu gewinnenden Objektivität der Dichtung konfrontiert wird. Schlegels Versuch greift einerseits auf Kants Analytik des Schönen zurück, deren Momente der Konstruktion des ›Objektiven‹ zugrundeliegen, andererseits teilt er den von Schiller verfolgten historischen Ansatz. Nur als Kallistik wahrt die Geschichtsphilosophie ihr utopisches Potential. Schlegel ist zwar in einer späteren Vorrede (1797) darum bemüht, das Interessante, das der Aufsatz als ästhetische Kategorie der Moderne profiliert, gegenüber dem objektiven Ziel der Dichtung aufzuwerten, doch bleibt dessen Status ambivalent: Im Zuge der historischen Realisierung des ›ästhetischen Imperativs‹, dass das Schöne sein solle, eignet dem Interessanten als Signum moderner Kunst nur ein »provisorische[r] ästhetische[r] Wert« (KSFA 1, 214). Schlegel erwartet sich nämlich von einer »Revolution der ästhetischen Bildung« (KFSA 1, 356), dass die ›Despotie‹ des Interessanten gestürzt und eine echte schöne Kunst wiederhergestellt werde. Für ihn bleibt das
77. Wordsworth, William, The Sublime and the Beautiful (1811 / 12), in: ders., The Prose Works, Owen, W. J. B. / Worthington Smyser, Jane (eds.), 3 Bde., Oxford 1974, Bd. 2, S. 349–360, hier: S. 349. 78. Goethe, Johann Wolfgang, Von deutscher Baukunst [1772 (sic!)], Fechner, Jörg-Ulrich (ed.), Darmstadt 1989, S. 16 f. 79. Schlegel, Friedrich, Über das Studium der Griechischen Poesie (1795 /97), in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe in 35 Bänden, Behler, Ernst /Anstett, Jean-Jacques /Eichner, Hans (eds.), Paderborn /München /Wien 1958 ff. [noch nicht abgeschlossen], Bd. 1, S. 203–367.
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Interessante eine Konzession an eine dürftige Zeit. Weil sein frühes Programm, das sich zwischen der Einsicht in die Spezifik moderner Kunst und klassizistischer Gräkomanie nicht zu entscheiden weiss, zweideutig bleibt, sollte Schlegel es in den Folgejahren zugunsten der Auffassung von der romantischen Dichtung als einer »progressive[n] Universalposie« im 116. Athenaeum-Fragment (1798; KFSA 2, 182 f.) modifizieren. Doch bleibt der Studium-Aufsatz neben der gleichzeitig entstandenen Schriftenreihe Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung das wichtigste Zeugnis einer geschichtsphilosophischen Ästhetik vor Hegel, ja überragt dessen Leistung möglicherweise durch die divinatorische Erkenntnis des Eigencharakters moderner Kunst, die Hegel aufgrund des Satzes vom Ende der Kunst und durch seine Abneigung gegen die romantische Kunstform nur partiell begrifflich zu fassen vermochte. Im Zuge einer Phänomenologie des Interessanten erfasst Schlegel das verschleissende Resultat moderner Innovationsästhetik als einen ins Leere laufenden Überbietungsprozess. Das Bewusstsein, dass das von ihm beschriebene künstlerische »Chaos« (KFSA 1, 224 et passim) der Moderne sozialgeschichtlich als Folge des literarischen Markts zu erklären wäre, fehlt Schlegel freilich noch. Doch erkennt er, dass dadurch, dass das Kunstwerk dem Publikumsgeschmack unterworfen und der Künstler zum Produzenten »interessanter Individualität« (KFSA 1, 222) gemacht wird, eine verhängnisvolle Dynamik entsteht. Auf seiten der Produktions- und Werkästhetik erklärt sich aus der Subjektivierung künstlerischen Schaffens, d. h. aus dem Verlust der Objektivität, das »totale Übergewicht des Charakteristischen, Individuellen und Interessanten«, auf seiten der Wirkungs- und Rezeptionsästhetik das »rastlose unersättliche Streben nach dem Neuen, Piquanten und Frappanten« (KFSA 1, 228). Am Ende der Innovation steht eine Literatur der Erschöpfung: »ekelhafte Kruditäten« seitens der Werke einerseits, »entschiedene[n] Nullität« seitens des Publikums andererseits (KFSA 1, 223). Die ästhetische Moderne erscheint für Schlegel als Krise, die auf »zwei Katastrophen« (KFSA 1, 254) zuläuft: auf eine günstige Katastrophe des Objektiven, die sich durch die »Morgenröte« des Goetheschen Werks anzukündigen scheint, oder auf eine ungünstige Katastrophe des Choquanten, Abenteuerlichen, Ekelhaften und Grässlichen. Schlegels Pathographie der Moderne gipfelt in der Feststellung, dass ihr künstlerisches Prinzip »nicht das Schöne« ist, sondern dass ihre »trefflichsten Werke ganz offenbar Darstellungen des Hässlichen« (KFSA 1, 219) seien. Der Studium-Aufsatz ist daher stets als zentrales Dokument einer Ästhetik des Hässlichen bewertet worden.80 Zwar hatte schon Lessing damit im Laokoon (1766, Kap. 23–25) einen Anfang gemacht, als er die Darstellungsfähigkeit des Hässlichen, Schrecklichen und Ekelhaften in den einzelnen Künsten prüfte, doch hat erst Schlegel diese Begriffe in den nov-antiken Hiat so eingebaut, dass die systematische Unterscheidung schön / hässlich tauglich wurde, den historischen Gegensatz antiker und moderner Kunst zu begreifen. Im Studium-Aufsatz hat Schlegel das Hässliche jedoch in zwei unterschiedlichen Kontexten thematisiert. Schlegel begreift das Hässliche einerseits in ›historischer‹ Hinsicht als eine radikale
80. Die seit den siebziger Jahren reichlich fliessende Literatur zur Ästhetik des Hässlichen wird nach wie vor überragt durch die Studie von Günter Österle: »Entwurf einer Monographie des ästhetisch Hässlichen. Die Geschichte einer ästhetischen Kategorie von Friedrich Schlegels Studium-Aufsatz bis zu Karl Rosenkranz’ Ästhetik des Hässlichen als Suche nach dem Ursprung der Moderne«, in: Zur Modernität der Romantik, Bänsch, Dieter (ed.), Stuttgart 1977, S. 217–297.
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Gestaltungsform des Interessanten und andererseits in ›normativer‹ Absicht als Prolegomena zu einer objektiven Prinzipienlehre »des ästhetischen Tadels« (KFSA 1, 310). Anders als die Ästhetiker des Hässlichen auf der Linie von Lessing bis Rosenkranz, die bestrebt waren, die Grenzen der Integrationsmöglichkeit des Hässlichem in die Kunst zu bestimmen, zielt Schlegel gerade in den Passagen seiner berühmt gewordenen Theorie des Hässlichen, die zusammen mit einer Theorie der Inkorrektheit einen »ästhetischen Kriminalkodex« ausmacht, auf Ausgrenzung und Diskriminierung (KFSA 1, 311 und 315). Aufgrund dieser normativen Zielrichtung muss betont werden, dass Schlegels Theorie des Hässlichen alle gewaltsamen ästhetischen Effekte der modernen Kunst, seien es Phänomene radikaler Subjektivität, die dem Phantastischen, Makabren und allen Reizentfaltungen mesmerischer und okkulter Art weiten Raum geben, seien es die avantgardistischen Mittel von Provokation, Choc und Cruauté, aus den Grenzen des Schönen ausweist. Entkleidet man den ›ästhetischen Kriminalkodex‹ jedoch von dieser noramativen Funktion und projiziert die darin entfalteten Bestimmungen auf die Diagnose der modernen Kunstwelt, dann verwandelt sich das Hässliche in die ästhetische Kategorie, die die Werke der Moderne einholt. Einerseits wird die künstlerische Eigenheit dieser Werke dadurch erkannt, andererseits offenbaren sich die ›Mängel der modernen Poesie‹, die freilich in der geschichtsphilosophischen Perspektive der Schlegelschen Ästhetik zugleich als »unsere Hoffnungen« (KFSA 1, 35) erscheinen, am sichtbarsten. Für Schlegel galten gerade die gelungensten Werke der Moderne als Beispiele erhabener Hässlichkeit. Dadurch erhalten insbesondere die Werke Shakespeares, der im 18. Jahrhundert zu einem ›deutschen Autor‹ wird, ihre spezifisch moderne Kontur. Schon Goethe hatte 1771 das Werk des Engländers als einen schönen Raritätenkasten bezeichnet und sich an der kolossalischen Grösse der Charaktere berauscht. Herder hatte 1773 die Disparatheit, Individualität und Ereignishaftigkeit des Stils, Lenz 1774 bzw. Bräker 1780 das Interessante, Realistische und Tragikomische der Darstellung und Eschenburg 1787 das Opern- und Märchenhafte der Schauspiele herausgestellt. Für Schlegel war Shakespeare und besonders dessen Hamlet die Symbol gewordene Form jener »kolossalen Dissonanz« die den Menschen unter den Bedingungen künstlicher, d.h. moderner Bildung kennzeichnet (KFSA 1, 248). Daher dürfen Shakespeares Dramen, die den Gipfel moderner Poesie ausmachen, nicht »als schöne Kunst« nach dem antiken Massstab beurteilt werden. Vielmehr sei sein Œuvre in wesentlichen Teilen widerlich, eckig, ungeschliffen, bitter, empörend, ekelhaft, platt und grässlich, d. h., sein Werk sei »nie objektiv, sondern durchgängig maniriert« und nur selten »von hässlichen Zusätzen« frei (KFSA 1, 250 f.). Alle Bestimmungen, die Schlegel zur Beschreibung des Hamlet (Folter, Pein, Verzweiflung, Disharmonie, Missverhältnis, Exzentrik) sowie der hässlichen Zusätze in Shakespeares Gesamtwerk wählt, entsprechen den Definitionen des Schmerzes, den die Intensität erhabener Hässlichkeit erregt. In seiner Theorie des Hässlichen wird der »ästhetische Geschichtsforscher« Schlegel der »eigentümlichsten ästhetischen Vorzüge der Modernen« (KFSA 1, 248 f.) gewahr. Schon Friedrich Schlegel hatte gegenüber den reinen Formen der Antike in der Gattungsund Kunstartenmischung den eigentümlichsten Ausdruck der modernen »Anarchie« (KFSA 1, 219 et passim) in Kunstdingen erblickt und den schmerzlichen Genuss herausgestellt, den Shakespeares Mischdrama Romeo und Julia erwecken würde. Die frühromantischen Anschauungen Friedrichs popularisierte sein Bruder August Wilhelm Schlegel (1767–1845) wirkungsvoll in seinen Jenär (1798 / 99), Berliner (1801–04) und Wiener (1808) Vorlesungen über Ästhetik.
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Den reinen Genres des ›klassischen‹ Altertums sowie deren modernen Nachahmungen steht bei ihm die Bastardisierung (Wellek) der Gattungen gegenüber, für die paradigmatisch die Form des Roman stehen kann. In der ›romantischen‹ Kunst finde eine »unauflösliche Mischung aller poetischen Elemente«81 statt, insofern in ihr alle Entgegensetzungen (Natur / Kunst, Poesie / Prosa, Ernst /Scherz, Erinnerung /Ahnung, Geistigkeit /Sinnlichkeit, Irdisches /Göttliches, Leben / Tod) miteinander verschmolzen seien. Das ›genre mixte‹, dessen Theorie freilich tief in das 18. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann, bildet gewissermassen das formale Analogon zur einsiedlerischen »Schwermut«,82 die mit dem Christentum, d.h. mit der christlich begründeten Entzweiung von Leib und Seele in die Welt gekommen sei. Besonders in Frankreich, wo die Romantiker von Hause aus katholisch sind, und nicht erst, wie etwa die beiden Schlegels, konvertieren müssen, trifft die Konzeption christlicher Innerlichkeit auf Resonanz. In seinem Werk Génie du christianisme ou beautés de la religion chrétienne (1802) schrieb Chateaubriand (1768–1848): »Plus les peuples avancent en civilisation, plus cet état du vague des passions augmente […] alors on a vu naître cette coupable mélancholie qui s’engendre au milieu des passions, lorsque ces passion, sans objet, se consument d’elles-mêmes dans un cœur solitaire.«83 Mit der Auszeichnung der Melancholie als der eigentümlichen Mentalität der Moderne, die Byron als Weltschmerz, Baudelaire als Spleen oder H. Heine als wollüstigen Schmerz aufgreifen sollten, beerbten die Romantiker freilich lediglich die Theorie vermischter Empfindungen, die ebenfalls weit in die Aufklärung zurückreicht, und den Ennui Dubos’ und Pascals. Auf die romantische Theorie der Gattungsmischung griff Victor Hugo (1802–1885) zurück, wenn er in der Preface de Cromwell (1827), die sich streckenweise wie ein Pamphlet des Sturm und Drang liest, das Prinzip der Kontrastharmonie des Groteske-Erhabenen als eigentümliche Schlüsselkategorie literarischer Modernität fixiert. Die Préface bezeichnet einen Wendepunkt der Ästhetikgeschichte, weil darin die klassische Kallistik zugunsten einer Synästhesie der Gegensätze, die das Schöne und Hässliche, das Erhabene und Groteske, das Gute und Böse zusammenbringt, aufgekündigt wurde. Mochte auch Karl Rosenkranz (1805–1879) in der Ästhetik des Hässlichen (1853) damit kokettieren, in das dunkle Reich des nicht mehr Schönen hinabgestiegen zu sein, so blieb doch der Althegelianer durch die Bestimmung des Hässlichen als eines »Negativschöne[n]« an die Schönheitslehre gebunden. Als metaphysisches Prinzip bleibt bei Rosenkranz das Schöne die positive Voraussetzung des Hässlichen, das als dessen einfache Negation ein bloss »sekundäres Dasein« erhält.84 An solchen idealistischen Systemzwang ist Hugo nicht gebunden. Im Unterschied zur deutschen Romantik, die er namentlich durch das Klassik / Romantik-Kapitel im Deutschland Buch der de Staël kennenlernte, fehlte ihm freilich die Reflexionsform der Ironie. Seine Tendenz geht vielmehr auf Realismus. Dadurch, dass er das
81. Schlegel, A. W., Vorlesungen über Ästhetik I (1798–1803), Behler, Ernst (ed.), Paderborn / München / Wien / Zürich 1989, S. 462. 82. Schlegel, A. W., Kritische Schriften und Briefe, 7 Bde., Lohner, Edgar (ed.), Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1962–1974, hier: Bd. 5 (1966), S. 25. 83. Chateaubriand, Essai sur les révolutions — Génie du christianisme, Regard, Maurice (ed.), Paris 1978, S. 714 ff. 84. Rosenkranz, Karl, Ästhetik des Hässlichen, Königsberg 1853, Henckmann, Wolfhart (ed.), Nachdruck Darmstadt 1979, pass.
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Hässliche zu einem Modus künstlerischer Mimesis und das Groteske zu einem Element moderner Kunst promovierte, drängte er das Schöne an den Rand der Ästhetik. In einem bis Shakespeare reichenden Reigen an pittoreskem, burlesken, bizarren, gotischen und barocken Formenreichtum illustrierte Hugo die immense Rolle, die das Groteske, und zwar in der Duplizität des Grausiggrotesken und des Groteskkomischen in der Moderne gespielt habe: »Il y est partout; d’une part, il crée le difforme et l’horrible; de l’autre, le comique et le buffon.« Hugos Begriff des Grotesken umfasst sowohl den Aspekt karnevalistischer Lachkultur, in der die Nase stets den Phallus vertritt, als auch die Perspektive auf eine entfremdete Welt. Bei Hugo behält Wolfgang Kayser gegenüber Michail Bachtin recht, insofern die eigentümliche Zweideutigkeit der Grenzüberschreitung, die die romantische Gattungsvermischung beinhaltet, von Hugo anthropologisch auf die innere Entzweiung des christlichen Menschen zurückgeführt wird. In der ›romantischen‹ Epoche der Literatur sei das Schöne und Erhabene mit dem Grotesken eine intime Allianz eingegangen. Die Stilmischung wird zum Mass für den Realitäts- und Wahrheitsgehalt des Kunstwerks. Fluchtpunkt aller Mischungen in der Moderne ist das Hässliche, das gegenüber der eintönigen Schönheit der Antike ästhetische Polymorphie garantiert: »Le beau n’a qu’un type; le laid en a mille85« Bei Hugo erhielt das Hässliche selbständigen ästhetischen Wert, ohne dass es noch, wie das Hässlich-Erhabene bzw. das Erhaben-Hässliche bei Friedrich Schlegel, bei dem klassische Verwerfung und romantische Legitimation des Hässlichen noch unentschieden waren, unter dem Vorbehalt eines blossen ästhetischen Provisoriums stand.
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Wandel des Schönen Marc-Mathieu Münch
Vergleicht man die wichtigen Texte der europäischen Länder zur Literaturtheorie, so stellt man fest, dass das Jahr 1800 einen bedeutenden Wendepunkt markiert. Es wandelte sich die Vorstellung von Schönheit in der Literatur; die ästhetischen Auswirkungen, die dieser Wandel mit sich brachte, veränderten Literaturtheorie und -praxis grundlegend. Es fand eine tiefgreifende Umwälzung statt, ähnlich der eines Eisbergs, der sich dreht und was unten war, nach oben kehrt, so dass die verschiedenartigen Facetten der Kunst zum Vorschein kommen und das Absolute der Schönheit in der Dunkelheit des Ozeans verschwindet. Die Geschichte der Theorie des Schönen gliedert sich somit in zwei Abschnitte. Zunächst wurde Schönheit als ewiger, unveränderlicher Wert angesehen und, wie das Wahre und das Gute, als eine unantastbare Gewissheit betrachtet, die immun gegen Wechselfälle, Veränderungen, unsichtbaren Verfall war. Später hingegen sah man in der Schönheit etwas unbeständiges, wandelbares, wechselhaftes und von verschiedenen Parametern Abhängiges. Kurzum, es vollzog sich der Schritt vom Absoluten zum Relativen. Da die Menschen einen unterschiedlichen Geschmack besitzen, erfinden sie ständig neue Stile mit jeweils eigenen Theorien und Kriterien, die keinen allgemeinen Grundsätzen unterliegen. Beschäftigt man sich mit den Poetiken, auf die sich die verschiedenen Stile gründen, erkennt man schnell, dass sie sich in ihren Grundsätzen voneinander abheben und sich gegenseitig Hässlichkeit vorwerfen. Ginge es bei dem Gegensatz zwischen dem Theater Racines und Shakespeares lediglich um eine Verschiedenartigkeit innerhalb gleicher Grundsätze, hätten die Franzosen — um nur sie zu erwähnen — nicht so viel Mühe darauf verwandt, Shakespeare zu verachten und aus ihm lediglich den begabten Vertreter einer Epoche zu machen, deren Geschmack sie anzweifelten. Die Vorstellung absoluter Schönheit steht folglich in ständigem Widerspruch zur Praxis. De gustibus et de coloribus non disputandum est. Andererseits ist die Vorstellung relativer Schönheit ebenso schwierig nachzuvollziehen. Sie kann zwar die Vielfalt des Geschmacks der Künstler, ihrer Techniken, ihrer Wahl von Formen und Material, kurz, ihrer Grundsätze erklären, nicht jedoch das Hässliche. Wenn alles relativ ist, kann alles schön sein. Ist jedoch alles schön, ist nichts hässlich. Nun kann man jedoch nicht ohne den Begriff der Hässlichkeit auskommen. Wenn ich von einer Sache nicht sagen kann, sie sei hässlich, kann ich von einer anderen nicht sagen, sie sei schön; der Begriff von Schönheit verschwindet, und wir geraten ins Absurde. Zudem ist es schwierig, sich eine Vielfalt in bezug auf absolute Werte vorzustellen. Wenn das Schöne, das dem Wahren und Guten verwandt ist, vielfältig ist, kann man es sich entweder nicht mehr zusammen mit diesen Begriffen vorstellen, oder es läuft Gefahr, das Wahre und das Gute mit in das Debakel des Relativen, das heisst in das Undefinierbare hineinzuziehen. Um die Jahrhundertwende begann man sich diese Fragen in aller Deutlichkeit zu stellen, Fragen, um die man sich zuvor nicht bekümmert hatte.
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Dies erklärt sich damit, dass die Vorstellung absoluter Schönheit, die bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts galt, bis dahin weder angefochten noch klar durchdacht worden war. Sie gehörte zu den unbewussten Voraussetzungen, die so offensichtlich, so selbstverständlich für die Entwicklung einer Schlussfolgerung waren, dass man sie zu erwähnen vergass. A ist gleich A! Warum sollte ich diesen Grundsatz jedesmal wiederholen, wenn ich eine logische Beweisführung beginne? Die grossen Poetiken der Antike, des Mittelalters und der Renaissance beantworten die Frage nach guter Literatur, ohne darauf einzugehen, ob das Schöne relativ oder absolut sei. Ausnahmen gibt es so gut wie keine. Die Begriffe, auf die sich die Poetiken der Antike gründen, die der Inspiration, der vollkommenen Schönheit, der ›mimesis‹, des sittlichen Wertes von Literatur, sowie der Begriff der Dichtung selbst schliessen eine absolute Vorstellung von Schönheit ein. Das christliche Mittelalter hatte wie die Antike eine absolute Vorstellung, da ihm die Schönheit göttlichen Ursprungs war. Auch nach der Renaissance, die sich bekanntlich auf Texte der Antike (Aristoteles, Cicero, Horaz, Quintilian u.a.) stützte, stellten sich die grossen Theoretiker der Moderne nicht die Frage, ob es eine oder mehrere Schönheiten gibt. Für sie war offensichtlich, dass es nur eine geben kann. Dies gilt beispielsweise für Boileau, La Bruyère, Pope, Klopstock und Gottsched. Und auch die grössten Autoren, wie Cervantes, La Fontaine, Ariost und Tasso, waren keine Relativisten. La Bruyère gibt die Vorstellung der absolutistischen Epoche am besten wider: Il y a dans l’art un point de perfection, comme de bonté ou de maturité dans la nature. Celui qui le sent et qui l’aime a le goût parfait; celui qui ne le sent pas, et qui aime en deçà ou au delà, a le goût défectueux. Il y a donc un bon et un mauvais goût, et l’on dispute des goûts avec fondements.1
Heutzutage lassen die meisten Theoretiker und Schriftsteller nur die Relativität ästhetischer Werte gelten, obwohl noch Reste absoluter Vorstellungen weiterbestehen.
Die Erkenntnis der Relativität des Schönen Drei Texte aus dem Jahr 1757, das ungefähr dem Beginn der hier behandelten Epoche entspricht, zeigen, wie einige Theoretiker sich die Frage nach der Relativität der Schönheit stellten. Zunächst konstatiert der englische Empirist David Hume (1711–1776) im Standard of Taste, dass die Verschiedenartigkeit des Geschmacks nicht nur für weit voneinander entfernte Kulturen ein Problem darstellt, sondern schon im Freundeskreis eines einzigen Menschen: The great variety of Taste, as well as of opinion, which prevails in the world, is too obvious not to have fallen under every one’s observation. Men of the most confined knowledge are able to remark a difference of taste in their narrow circle of their acquaintance, even where the persons have been educated under the same government, and have been early imbibed the same prejudices. But those who can enlarge their view to contemplate distant nations and remote ages, are still more surprised at the great inconsistence and contrariety.2
1. La Bruyère, Jean de, Les Caractères ou les mœurs de ces siècles, Garapon, Robert (ed.), Paris 1962, S. 69. 2. Hume, David, Of the Standard of Taste and other Essays, Lenz, John W. (ed.), New York 1965, S. 3.
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Ein postum veröffentlichter Text Montesquieus (1689–1755) aus demselben Jahr, der Essai sur le goût, zeigt, dass er sich mit dem gleichen Thema beschäftigte. Er ging jedoch einen Schritt weiter, wenn er zugestand, dass die Vorstellung einer Relativität im Grunde die klassische Philosophie zerstöre! Les termes de beau, de bon, de noble, de grand, de parfait, sont des attributs des objets, lesquels sont relatifs aux êtres qui les considèrent. Il faut bien se mettre ce principe dans la tête: il est l’éponge de la plupart des préjugés. C’est le fléau de toute la philosophie ancienne, de la physique d’Aristote, de la métaphysique de Platon; et, si on lit les dialogues de ce philosophe, on trouvera qu’ils ne sont qu’un tissu de sophismes faits par l’ignorance de ce principe.3
Und schliesslich erkannte Humes jüngerer Landsmann Edmund Burke (1729–1797) in A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757), dass die Relativität der Schönheit von einer katastrophalen Konsequenz begleitet wäre: sie würde sich jeglicher Definition widersetzen: (…) if taste has no fixed principles, if the imagination is not affected according to some invariable and certain laws, our labor is likely to be employed to very little purpose; as it must be judged an useless, if not an absurd undertaking, to lay down rules for caprice, and to set up for a legislator of whims and fancies.4
Die drei Texte sagen also im Grunde das gleiche aus. Wird die Frage nach der Verschiedenartigkeit des Geschmacks gestellt, droht sie die Philosophie des Schönen zu vernichten. Diderot (1713–1784) hatte die gleiche Frage bereits deutlich in den ersten Sätzen seines berühmten Artikels Beau, Beauté formuliert, der im zweiten Band der Encyclopédie (1751–1780) erschien. Wie er sagt, kannte niemand »son exacte définition«; er ist erstaunt darüber, dass es soviele Menschen gibt, die das Schöne Lebhaft empfinden (»sentent vivement«) und so wenige, die »sachent ce que c’est«. Es hiesse die Langsamkeit grosser Umwälzungen zu verkennen, ginge man von der Vorstellung aus, die Theoretiker des 18. Jahrhunderts, die sich erstmals ernsthaft die Frage der Verschiedenartigkeit des Geschmacks stellten, seien schnell zur Relativität der Schönheit vorgedrungen. Vielmehr stellt man fest, dass sie vor dem Relativismus wie vor einem undenkbaren oder absurden Ungeheuer zurückwichen. Die Widersprüche und logischen Verdrehungen, die sie zur Rettung einer ewigen, absoluten, unwandelbaren und sicheren Definition hinnahmen, muten heute seltsam an. In diesem Zusammenhang sei an den geistvollen Text Voltaires (1694–1778) über den to kalon erinnert, der sich in seinem Dictionnaire philosophique (1764) findet.5 Er kam zu dem Schluss, das Schöne sei relativ und verspottete auf heitere Weise das trügerische Verfahren der Philosophen, die es definieren wollten. Allerdings bleibt Voltaire uns den Nachweis des
3. Montesquieu, Charles-Louis de, Essai sur le goût, Beyer, Charles-Jacques (ed.), Genf 1967, S. 142. 4. Burke, Edmund, The Works. Twelve Volumes in Six, London 1887, Nachdruck Hildesheim / New York 1975, Bd. I / II, S. 80. 5. Voltaire, Dictionnaire philosophique, Naves, Raymond (ed.), Paris 1961, S. 50.
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ästhetischen Relativismus schuldig, selbst wenn es um Shakespeare geht! Auch die drei oben zitierten Theoretiker zogen sich nicht besser aus der Affäre. Burke urteilte unbekümmert, dass die Unterschiede im Urteil »rather apparent than real« seien und der Geschmackskanon wahrscheinlich »the same in all human creatures«6 sei. Er begnügt sich also mit einem ›wishful thinking‹! Hume verfuhr zwar logischer mit der Verschiedenartigkeit der Urteile, verstrickte sich jedoch ebenfalls in widersprüchliche Schlussfolgerungen, die teils zum Relativismus, teils zum Absolutismus tendieren. Montesquieu hingegen, der sich immer schon für die Verschiedenartigkeit der Sitten interessiert hatte, besass Sinn für die Relativität. In seinem unvollendeten Essai sur le goût erkennt man den Versuch, nicht nur die Verschiedenartigkeit der Urteile mit Hilfe einiger weniger Gesetze zu erklären, sondern auch die unterschiedliche Anwendung der Kunstregeln auf die Existenz einiger weniger »règles générales« zu reduzieren. Die Verschiedenartigkeit des Geistes wird mit der Tatsache erklärt, dass dieser »sous lui plusieurs espèces, le génie, le bon sens, le discernement, la justesse, le talent, le goût«7 habe. Schwer ist zu sagen, ob dieser Essai zum Relativismus oder zum Absolutismus tendiere oder ob er, wie so viele andere im 18. Jahrhundert, eine unechte Lösung geliefert habe. Sicher ist jedoch, dass jede Überlegung zur Kunst im 18. Jahrhundert durch die Angst vor einem möglichen Relativismus verfälscht wurde. Abgesehen von Herder (1744–1803), der die Lösung für die Zukunft fand, reagierte Diderot am besten. Er konnte aus philosophischen Gründen (das Leben ist absurd, wenn der Mensch nicht fähig ist, die Wahrheit zu erkennen) kein Relativist sein. Da er sich jedoch der Verschiedenartigkeit der Meinungen und künstlerischen Fertigkeiten bewusst war, erfand er die geniale Lösung von der Wahrnehmung der Beziehungen. Sie besagt, dass das Schöne eins ist, wenn es als die Wahrnehmung von Beziehungen funktioniert und dass es vielfältig ist, insofern diese Beziehungen notwendigerweise zahllos sind. So lässt sich zwar nicht Diderots Ästhetik zusammenfassen, jedoch die These, die er im Artikel Beau, Beauté der Encyclopédie aufstellt, einem der besten Texte unter seinen ästhetischen Abhandlungen.
Die grossen Themen des 18. Jahrhunderts Die Debatten des 18. Jahrhunderts betonten nun die Subjektivität des Schaffensprozesses und der Lektüre. Schon diese Tatsache sollte allmählich zum Relativismus führen, doch das erwies sich als schwierig. Gefühl, Phantasie und Originalität bilden eine Begriffsgruppe, die das 18. Jahrhundert wiederaufnahm oder weiterentwickelte. Die Debatte über die Bedeutung des Gefühls im literarischen Schaffensprozess war bereits vor 1760 von Du Bos, durch den englischen Sentimentalismus und in Deutschland durch die ›Empfindsamkeit‹ bereichert worden. Die Überlegungen zur Phantasie sind weitaus bedeutsamer. Sie setzen ebenfalls zum Jahrhundertbeginn ein und dauerten bis zur Romantik fort. Die Phantasie, die ursprünglich als
6. Burke, The Works, op. cit., S. 79. 7. Montesquieu, Essai, op. cit., S. 67.
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ein Hilfsmittel des Gedächtnisses angesehen wurde und als eine Fähigkeit, die nur von der Realität vorgegebene Elemente kombinieren kann, wurde mit der Zeit zur schöpferischen Fähigkeit par excellence. Neben den grossen Autoren wie Rousseau, Diderot, Klopstock, Blake und anderen müssen einige weniger bekannte erwähnt werden, so Richard Hurd, der Bischof von Worcester, der in seinen Letters on Chivalry and Romance (1762) das Phantastische des Mittelalters rehabilitiert, und Gerard, dessen Essay on Taste klar in Richtung einer schöpferischen Auffassung von Phantasie geht. Für ihn ist Phantasie nicht nur eine Fähigkeit, die Beziehungen aufbaut, sondern auch darüber hinaus geht. Wenn mehrere unterschiedliche Ideen eng und fest miteinander verbunden seien, verknüpfe die Phantasie diese zu einem Ganzen, indem sie alle gleichzeitig erfasse und als ein Einziges betrachte. Hier öffnet sich der Weg hin zur schöpferischen Phantasie, wie sie der grosse Visionär Blake und später die Romantiker sahen. Die Autoren, die sich mit den Themen Gefühl und Phantasie beschäftigten, waren jedoch nicht immer Relativisten, sondern oftmals sogar der Meinung, beide Fähigkeiten funktionierten bei allen Individuen auf gleiche Weise. Schliesslich setzte sich jedoch die individuelle Verschiedenheit dieser Fähigkeiten durch und begründete, neben weiteren Einflüssen, die neue Sehweise. Die Debatte um die Originalität stellt sich etwas anders dar, fügt sich jedoch wie selbstverständlich den beiden ersten Themen an. Besonders gut veranschaulicht dies Youngs (1683–1765) berühmtes Werk Conjectures on Original Composition aus dem Jahr 1759. Dieses Buch muss vor dem Hintergrund der ›Querelle des Anciens et des Modernes‹ sowie der Debatte um die Regelpoetik gesehen werden. Young, der auf der Seite der Modernen stand, versicherte, diese seien den Alten keineswegs unterlegen, wenn sie auf deren Nachahmung verzichteten und stattdessen ihre Originalität unter Beweis stellten. »Born originals, how comes it to pass that we die copies?«8 Er bewundert die Originalgenies, die die Republik der Literatur vergrössern und ihren Besitztümern eine neue Provinz hinzufügen könnten, denn »Genius can set us right in composition without the rules of the learned«, wie er meint.9 Selbstverständlich stellt dieses Buch nur eine Phase in der allgemeinen Reflexion über die Originalität, das Genie und die Regeln dar. Doch seine These, dass Originalität ein subjektiver Wert ist, trug allmählich zur Entstehung des Relativismus bei. Die Debatte über das Erhabene kann insofern mit der oben erwähnten verglichen werden, als sie ebenfalls einen Schritt in Richtung Relativismus bedeutete. Dieses bei den Humanisten bekannte Thema war Ende des 17. Jahrhunderts von Boileau wieder aufgegriffen worden. Für ihn war, wie einst für den anonymen antiken Autor (d.i. Pseudo-Longinus) des Peri hypsos, das Erhabene nur eine Facette des Schönen. Die Originalität des 18. Jahrhunderts besteht in der Unterscheidung dieser beiden Sphären. Für Burke wie später für Kant sind das Erhabene und das Schöne zwei unterschiedliche und sogar gegensätzliche ästhetische Sphären. Damit ist ein realer Relativismus gegeben, denn dort, wo wir bisher ein einziges Schönes mit mehreren Facetten hatten, haben wir nun zwei gleichrangige Grössen.
8. Young, Edward, The complete works, poetry and prose, Nichols, James (ed.), London 1854, Nachdruck Hildesheim / New York 1968 (Anglistica et Americana, 32), S. 561. 9. Ibid., S. 557.
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Das Vorwort zu Burkes Abhandlung A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich. Alle Autoren, so Burke, hätten sich in bezug auf das Erhabene geirrt, weil sie es mit dem Schönen verwechselten. Seine Abhandlung ist als Diptychon aufgebaut, in dem sich die Merkmale des Schönen und des Erhabenen Begriff für Begriff gegenüberstehen. Für ihn liegt das Schöne in der Kleinheit, dem Formvollendeten, der Anmut, der Farbe, der geschwungenen Linie; das Erhabene dagegen im Schrecken, in der Dunkelheit, dem Weiten, der Kraft, dem Unendlichen. Diesen Ideen sollte Kant (1724–1804) 1790 in seiner Kritik der Urteilskraft auf geniale Weise weiterentwickeln. Zweifellos wird man weder Burke noch Kant als Relativisten bezeichnen können. Sie sahen noch nicht, dass die Zweiteilung des Schönen allmählich in den Relativismus übergehen musste. Es ist aus dem Abstand der Geschichte heute verständlich. Im übrigen neigte nicht nur das Erhabene dazu, aus dem Bereich des Schönen zu fallen. Eine genaue Lektüre der theoretischen Texte des 18. Jahrhunderts zeigt auch bei anderen ästhetischen Begriffen eine klare Tendenz zur Verselbständigung. Jedoch: Die für die Entstehung des Relativismus wichtigste theoretische Debatte des 18. Jahrhunderts war um den Geschmack zentriert. Im Jahrhundert Voltaires erfreuten sich die Menschen in den grossen Städten am Scharfsinn ihres Geschmacks, dieser sicheren inneren Falle, die auf den ersten Blick feine Unterschiede, Erfolge, Fehler erkennt. Und mit der Frage des Geschmacks beschäftigten sich alle ästhetischen Diskussionen der Zeit. Die Definition des Geschmacks ist im 18. Jahrhundert einheitlich. In Marmontels (1723– 1799) Elément de littérature (1787) heisst es: Le goût, dans l’acception la plus étroite de ce mot pris figurement, est le sentiment vif et prompt des finesses de l’art, de ses délicatesses, de ses beautés les plus exquises, et de même de ses défauts les plus imperceptibles et les plus séduisans.10
Danach kam es zu jener Umwälzung, die die Debatte von der Metaphysik des Schönen zur Kunstpsychologie führte. Für die Entstehung unseres Relativismus bedeutete dies, dass das Kunstwerk nun keine Antwort mehr auf die Regeln einer philosophisch definierten Schönheit darstellte, sondern ein Objekt, das dem Publikum zu gefallen suchte. Vor dieser Umwälzung musste das Kunstwerk in einem absoluten Sinne schön sein, unabhängig von den Empfindungen eines Publikums. Nun ist das Publikum unerlässlich, da der Geschmack der Liebhaber über die Schönheit eines Werkes entscheidet. Zahlreiche Autoren betonten die Bedeutung des ›plaire‹, so Du Bos, Addison, Gerard, Marmontel, Burke und Baumgarten, der Schöpfer der modernen Ästhetik, sowie die Wegbereiter Kants. Der Geschmack erlangte eine solche Bedeutung, dass eine neue ihm entsprechende Fähigkeit ersonnen werden musste. Zu Beginn des Jahrhunderts hatte Du Bos bereits von einem sechsten Sinn gesprochen, Kant führte am Ende desselben Jahrhunderts den Gedanken in seiner Kritik der Urteilskraft fort. Viele Zeitgenossen sahen das Geschmacksurteil zwar als subjektiv, doch als allgemeingültig an.
10. Marmontel, Jean François, Elémens de littérature, in: ders., Œuvres complètes, Paris 1818 f., Bd. 12–15, hier: Bd. 1, S. 1.
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Der Schritt zum Relativismus wurde also nicht sofort getan, selbst von Kant nicht, jedoch führte die Reflexion der Psyche zu der Erkenntnis, dass der Geschmack individuell ist und unterschiedlich auf der Erde ausgeprägt ist.
Die Entwicklung bei Herder Vergessen wir jedoch Herder nicht. Er sah noch vor den Romantikern die Zukunft voraus und erfasste bereits diesen gewaltigen Wendepunkt, der sich erst im folgenden Jahrhundert entwikkeln sollte. Die Überlegenheit Herders hinsichtlich des europäischen Relativismus gründet sich darauf, dass er seine Überlegungen nicht auf die von uns bisher genannten Debatten beschränkte, sondern sie auf die Geschichte erweiterte. Mit seinem 1774 veröffentlichten Essay Auch eine Philosophie der Geschichte liefert Herder seinen Beitrag zum Relativismus. Seine Geschichtsphilosophie beruht auf der Idee der Entwicklung, ohne die der moderne Relativismus sich nicht hätte entfalten können. Mit Ausnahme der Theorien Vicos war die Geschichtsphilosophie vor Herder statisch konzipiert. Sie sah den Menschen als immer gleich an und glaubte, gleiche Ursachen hätten gleiche Wirkungen auf die menschlichen Leidenschaften. Die Vorstellungen von Fortschritt, Dekadenz und Zyklizität reichten ihr hin zur Erklärung der Verschiedenartigkeit von Geschmack und Sitten. Sie galten nur als oberflächliche Nuancen der menschlichen Natur. Erst Herder verlieh den Nuancen ihre wahre Tiefe. Er sah, dass die Menschen im Laufe der Jahrhunderte ihre moralischen, religiösen, ästhetischen und philosophischen Vorstellungen nur an der Oberfläche — wie ihre Lektüreleidenschaften — änderten. Herder ersann eine Geschichtsphilosophie, die sich auf das Zusammenspiel dreier Bewegungen unterschiedlichen Ausmasses gründete. Die stärkste dieser Bewegungen, die der göttlichen Vorsehung, führt den Menschen zur Erlösung. Bei der zweiten handelt es sich um die grosse Entwicklung, die die nationalen Kulturen von ihrer Kindheit über Jugend und reifes Alter bis in ihr hohes Alter führt. Herder untersucht diese Bewegung in den nationalen Epochen, die in seinen Augen die Patriarchen, Ägypter, Griechen, Römer und schliesslich die römische Dekadenz bildeten. Ein neuer Zyklus begann mit dem Mittelalter und mündet in Herders eigene Zeit. Die dritte Bewegung schliesslich stellt die Entwicklung selbst dar, die von einer Nationalepoche zur nächsten führt: nicht Fortschritt oder Dekadenz bewirken diese Entwicklung, sondern Veränderung. So sind die Kulturen zwar gleich in Wert, Würde und Verdienst, doch sind Wert, Würde und Verdienst nicht dieselben. Herder erfand den Begriff des ›Fortgangs‹, der Bewegung nach vorne, den er dem des Fortschritts entgegensetzte. Der Kern seines Denkens findet sich in folgendem Bild: »Das menschliche Gefäss ist einmal keiner Vollkommenheit fähig: muss immer verlassen, indem es weiterrückt.«11 Der Begriff des ›Fortgangs‹ ist als philosophische Grundlage unerlässlich für den Relativismus. Er führt zur Idee einer vielgestaltigen Schönheit, die niemals dieselbe ist, jedoch in ihrem
11. Herder, Johann Gottfried, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774), Stuttgart 1990, S. 25.
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Verdienst immer gleich. Sie ermöglichte es schliesslich, gleichzeitig die ägyptische, griechische und gotische Architektur zu bewundern, obwohl sie nicht denselben Grundsätzen gehorchen. Die Qualität eines Werkes hängt nun nicht mehr von seinem Stil ab, sondern vom Grad der Vollkommenheit dieses Stils. Selbstverständlich war sich Herder der Bedeutung seines ›Fortgang‹ für die Literaturtheorie bewusst. Seine Beispiele beziehen sich auf alle Künste, sein gesamtes Denken untersteht der These des Relativismus. Konsequent verteidigte er auch die Literaturen des Mittelalters, des Nordens, Shakespeare sowie die Volksliteraturen.
Die ersten Romantiker Herders Relativismus setzte sich nicht sofort durch. Es muss Zeit vergehen zwischen dem Moment, in dem eine Zukunftsidee auftaucht und dem, in dem sie vorherrschend wird! Die Idee von der Entwicklung setzte sich in der Ästhetik nicht schneller durch als in der Biologie. Freilich sehen wir hier schon die Anfänge der neuen Epoche, die sich erst allmählich im Verlauf des 19. und sogar des 20. Jahrhunderts entwickeln sollte. Ihre Anfänge wurden von den frühen Romantikern beherrscht, die die beiden ersten Versionen des ästhetischen Relativismus lieferten. Erstere könnte man als Relativitätsprinzip des absoluten Schönen bezeichnen. Man darf hierbei nicht ausser acht lassen, dass die Romantik die Vorstellung der einen und absoluten Wahrheit noch nicht in Frage stellte. Angeregt von der Erneuerung der Metaphysik durch Kant wird das gesamte 19. Jahrhundert gezwungen, sich das Schöne als vielgestaltig vorzustellen, das Wahre aber als Eines. Hierbei scheint der Begriff der Schönheit in zwei unterschiedliche Begriffe zu zerfallen. Auf der einen Seite steht, wie zuvor, der Begriff der absoluten, göttlichen und ewigen Schönheit, die jetzt jedoch als für den Menschen unerreichbar betrachtet wird. Ihr stehen die besonderen, lokalen, individuellen Schönheiten gegenüber, die dem Künstler und dem Publikum zugänglich sind. Dieses Auseinanderfallen in zwei Begriffe ermöglicht die Behauptung, Schönheit sei auf der einen Seite wesentlich und auf der anderen existentiell. D.h. sie nimmt in verschiedenartigen Werken Gestalt an, die jedoch allesamt vom künstlerischen Streben nach der wesentlichen Schönheit zeugen. Eine geniale Lösung! Sie zwang weder zum Verzicht auf das Hässliche, ohne das Schönheit keinen Sinn ergab, doch nötigte sie zu einer genauen Definition des Schönen in bezug auf Form und Geschmack. Sie ermöglichte es nicht nur, gleichzeitig Shakespeare und Racine zu bewundern, Milton und Spencer neben Homer und Vergil zu stellen; sie erlaubte es nun sogar, den ganzen Planeten vorurteilslos zu erforschen und seine Entwicklung vorauszusehen. Diese Theorie findet sich zum ersten Mal bei den Brüdern Schlegel, vor allem im berühmten Fragment 116 des Athenaeum (1798–1800). Friedrich Schlegel (1772–1829) definiert darin die romantische Poesie als »eine progressive Universalpoesie«. Mit ihr ist der ästhetische Relativismus gemeint. Die Poesie, so Schlegel, ist universal. Das bedeutet, dass sie immer und überall dieselbe ist. In diesem Sinn ist ihre Bestimmung notwendigerweise, »alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen«, »die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen«, »den Witz [zu] poetisieren« und alles zu umfassen, was poetisch ist. Die
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romantische Poesie gehört auf diese Weise einem Absoluten, in dem alle Unterscheidungen abgeschafft sind. Es unterscheidet sich jedoch vom Absoluten der Essentialisten, insofern es unerreichbar ist. Friedrich Schlegel stellt auch dies im Fragment 116 klar, wenn er schreibt, die romantische Dichtart könne »durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen«.12 An der selben Stelle heisst es ausserdem, die Poesie sei progressiv. Als oberstes Gesetz gelte, »dass die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide«, ihr eigentliches Wesen liege darin, »dass sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.« Man kann also in der Tat ein Auseinanderfallen des Schönheitsbegriffs konstatieren. Keimhaft war es bereits in Friedrich Schlegels Kritischen Fragmenten vorhanden, die 1797 veröffentlicht wurden; im Gespräch über die Poesie von 1799 wurde es wieder aufgenommen. Demselben Sachverhalt begegnet man bei seinem Bruder August Wilhelm. Wenn er zu Beginn seiner Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst (ersch. 1884) die philosophische Theorie von der technischen unterscheidet, sah er darin offensichtlich ein Mittel, die absolute Schönheit von der wirklichen und relativen zu trennen. Er fordert, die philosophische Theorie müsse sich auf allgemeine Regeln beschränken, da die Aufstellung besonderer Regeln in den Bereich der technischen Theorie falle. Letztere beschäftige sich nicht mit dem Ziel der Kunst, sondern nur mit ihrem Wie. Weiterhin stützte er sich auf Schelling (1775–1854), der den Begriff der Schönheit ebenfalls aufspaltete. Schelling definierte die absolute und die relative Schönheit als endliche Darstellung des Unendlichen.13 Diese meisterhafte Formulierung vervollkommnete Schlegel noch mit den Worten, dass die Schönheit eine symbolische Vorstellung des Unendlichen sei und ermöglichte somit die Verbindung des Relativen mit dem Absoluten. Die Poetik der Brüder Schlegel stellt also eine Theorie der Relativität der absoluten Schönheit dar. Sie verlieh der Schönheit einen Januskopf, der auf der einen Seite zum Absoluten, auf der anderen zum Vielfältigen blickt. Auch die zweite — bereits erwähnte — Art des Relativismus, findet sich im Werk der Brüder Schlegel: der historische Relativismus. Da das absolute Schöne am Himmel befestigt war und wenn nicht als inexistent, so doch als unerreichbar betrachtet wurde, blieb nur übrig, die historische Entwicklung der Literaturen zu erforschen. Dieser Weg war bereits von Herder skizziert worden und man konnte auf gelehrte Forschungen zurückgreifen, die im 18. Jahrhundert bereits weit fortgeschritten waren. Besonders das 19. Jahrhundert ging auf diesem historischen Weg weiter. Wir wollen keinen Überblick über die literarhistorischen Arbeiten der ersten Jahre des Jahrhunderts liefern, sondern lediglich ein Beispiel anführen: die berühmte Abhandlung De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales (1800) der Madame de Staël (1766–1817). Mit dem Erscheinungsjahr 1800 stammt sie wirklich von der Jahrhundertwende. De Staël fasste nicht nur die kritischen Überlegungen des 18. Jahrhunderts zusammen,
12. Schlegel, Friedrich, Kritische Schriften, Rasch, Wolfdietrich (ed.), München 1971, S. 39. 13. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, System des transzendentalen Idealismus (1800), 6. Hauptabschnitt: »Deduktion eines allgemeinen Organs der Philosophie, oder Hauptsätze der Philsosophie der Kunst nach Grundsätzen des transzendentalen Idealismus«, § § 2.3, in: Schellings Werke, Schröter, M. (ed.), Hauptbd. 2: Schriften zur Naturphilosophie (1799–1801), München 1927, S. 612 ff (§ 2: »Der Charakter des Kunstprodukts«, S. 619ff; § 3: »Folgesätze«, S. 624 ff.
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sondern sie stand auch am Ursprung aller literarhistorischen Arbeiten des neuen Jahrhunderts, besonders der ersten Jahre. Wie Herder setzte auch Madame de Staël sich zum Ziel, »de rendre compte de la marche lente, mais continuelle, de l’esprit humain (…)«.14 Da diese »marche« nicht unterbrochen worden sei, erscheint das Vorhaben möglich. Ihre Absicht, »d’examiner quelle est l’influence de la religion, des mœurs et des lois sur la littérature, et quelle est l’influence de la littérature sur la religion, les mœurs et les lois«15 verfolgt sie rigoros das ganze Buch hindurch und fördert so die Elemente zutage, aus denen das Schönheitsempfinden der Literatur hervorging. Man muss dies die Methode des Relativismus nennen. Doch sobald sich Madame de Staël der Definition des Schönen und der Idee der Entwicklung näherte, fiel sie zurück in den traditionellen Absolutismus. Dies wäre nur dann verwunderlich, wenn nicht das gesamte 18. Jahrhundert vor der Idee eines vielgestaltigen Schönen gezögert hätte. Doch ist der Widerspruch nicht auffällig, offensichtlich, empörend? Keineswegs. Madame de Staël wollte nur nicht auf die Vorstellung verzichten, ihr Geschmack, der erweiterte Klassizismus des 18. Jahrhunderts, sei letztendlich der beste, noch wollte sie die von den Philosophen der Aufklärung verfochtene Idee des Fortschritts aufgeben.
Die Auswirkungen Wenn wir die Wende vom Absolutismus zum Relativismus auf die Zeit um 1800 datieren, so aus dem Grund, weil sich seit diesem Zeitpunkt in Werken und Theorien ein relativistischer Geist beobachten lässt. Das gilt insbesondere für die Idee der Moderne. Die neuen Autoren wiederholten im Chor, dass jede Dichtung, die die Alten nachahme, veraltet sei. Sie verkündeten den Beginn einer Ära dichterischer Freiheit, stellten die Vergangenheit in Frage und betonten die Bedeutung des Ich. Ebenso gilt dies für die Poetiken, die sich auf das Gefühl gründen. Sie behaupten, dass Schaffensprozess, Lektüre und Kritik oft nur eine Frage des Gefühls seien. Diese Tendenz wird von Wordsworth, Wackenroder und Hazlitt vertreten. Die Früh-Romantik betrachtete, lange vor Baudelaire, die Phantasie als die wichtigste Fähigkeit des Künstlers. Sie zerlegte die Phantasie gerne in zwei Teile, um zu verdeutlichen, dass sie nicht nur eine reproduzierende und kombinierende Fähigkeit ist, sondern auch eine, die wirklich Neues erschafft. Durch sie wird der Dichter zum Propheten, zum Seher und zum Meister des Phantastischen. Im Bereich der Form zeigte sich der Einfluss des Relativismus auf die ästhetische Theorie vielleicht am deutlichsten. Das 18. Jahrhundert hatte die Regeln kritisiert, die Originalität aufgewertet und die überlieferten Formen hinterfragt. Goethe hatte die innere, vom Gegenstand erforderte Form der äusseren, von der Tradition vorgegebenen Form gegenübergestellt. Die Romantiker waren es, die dergleichen Vorstellungen im Rahmen ihres Begriffs der organischen
14. Staël, Germaine de, Œuvres complètes, 2 Bde., Genf 1967 (Neudruck), Bd. 1, S. 200. 15. Ibid., S. 199.
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Form präzisierten. Um organische Form handelt es sich, wenn die für ein Werk gewählte Wahl der Form von vornherein im behandelten Gegenstand enthalten ist, etwa wie die künftige Form eines Baumes im Samenkorn. August Wilhelm Schlegel (1767–1845) schreibt, dass alle wahren Formen organisch seien, d.h. durch den Gegenstand des Werkes selbst festgelegt. Coleridge (1772–1834) sagt in seinen Lectures and Notes on Shakespeare and on the English Poets nichts anderes: The form is mechanic when on any given material we impress a pre-determined form (…). The organic form, on the other hand, is innate; it shapes as it develops itself from within, and the fullness of its development is one and the same with the perfection of its outward form.16
Weitere Beispiele könnten die Wichtigkeit dieses Themas seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts bezeugen. Hier jedoch ist vor allem bedeutsam, dass die organische Form eine Fortsetzung und Folge des Relativismus ist. Welches waren die Gründe für den Umsturz der Begriffe? Wieso verlor sich der Glaube an die Einheit des Schönen ausgerechnet zu Zeiten Herders, des Athenaeums und der ersten Romantiker? Die Gründe liegen, wie wir meinen, in der literarischen Produktion, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts und zur Jahrhundertwende so vielgestaltig wurde, dass die absoluten Regelpoetiken buchstäblich barsten. Man kann Racine nicht mit Shakespeare vergleichen, ohne Boileau auf seine geliebten Studien zurückzuverweisen. Sicherlich kann man Shakespeare im Namen Racines verachten. Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass der alte, klassische Geschmack, der aus Humanismus und Renaissance hervorgegangen war, langweilig zu werden begann. Infolgedessen suchten das 18. Jahrhundert und die Romantik in entfernten Ländern und bisher vernachlässigten Epochen neue Quellen. Schliesslich darf auch das Publikum nicht ausser acht gelassen werden. Zwischen 1699, dem Todesjahr Racines, und 1824, dem Todesjahr Byrons, veränderte sich die soziale Zusammensetzung der Leserschaft. Der bürgerliche Individualismus nahm seinen Anfang. Unser Eisberg hat sich also nicht gedreht, weil sich seine Masse auflöste, sondern weil er von den neuen Wogen der Bourgeoisie und des Kosmopolitismus umgestossen wurde.
Auswahlbibliographie Barrère, Jean-Bertrand, L’Idée du goût de Pascal à Valéry, Paris 1972. Chouillet, Jacques, L’Esthétique des Lumières, Paris 1974. ———, La Formation des idées esthétiques de Diderot, Paris 1971. Engell, James, The Creative Imagination, Cambridge, Mass. 1981. Finken, Karl-Heinz, Die Wahrheit der Literatur: Studien zur Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts, (= Studies in modern German literature 58), New York 1993. Gusdorf, Georges, Les Sciences humaines et la pensée occidentale, Paris 1966–1985. Hönninghausen, Lothar, Grundprobleme der englischen Literaturtheorie des 19. Jahrhunderts, (= Erträge der Forschung 71), Darmstadt 1977.
16. Coleridge, Samuel Taylor, Shakespearean Criticism, Rayser, Thomas Middleton (ed.), 2 Bde., London 21960, Bd. 1, S. 198.
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Marc-Mathieu Münch
Markwardt, Bruno, Geschichte der deutschen Poetik, Berlin 1958–1967. Mortier, Roland, L’Originalité: une nouvelle catégorie esthétique au siècle des Lumières, Genève 1982. Münch, Marc-Mathieu, Le Pluriel du Beau, Metz 1991. Nivelle, Armand, Kunst und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik, Berlin 1971. Wellek, René, A History of Modern Criticism, London 1955–1966.
Ästhetik des Hässlichen Sabine Kleine
»Wie hässlich ist doch ein verjahrter Leib? / Beschau nur einst mit Ernst ein altes armes Weib, / Die grindig=gelbe Haut voll Runzelichter Tiefen, / Der schielen Augen Rot, die unaufhörlich triefen, /Ihr kal= und zitternd Haupt, den Zähne=leeren Mund, /Voll zähen Rotz und Schleim, die blau=geschwollne Lippen, / Die schlaffe platte Brust, die magren dünnen Rippen, / Den zitternd=krummen Hals, des Rückens höckricht Rund, / Des Kinns entfleischte Höh, die Hölen welker Wangen«.1 Um diese Abschilderung eines hässlichen alten Weibes, die Barthold Hinrich Brockes (1680–1747) in seinem Neujahrsgedicht Das, durch die Betrachtung der Grösse GOttes verherrlichte Nichts des Menschen (1722) gab (und die man ähnlich in der ›poesia burlesca‹ des Antipetrarkismus bereits hätte finden können), entbrannte unter den deutschen Kunsttheoretikern zwei Dekaden später ein heftiger Streit, dessen Einfluss bis zu Lessings Laokoon-Aufsatz (1760)2 reichte. — Jene Auseinandersetzung ums hässliche Weib betrifft in ihrem Kern die Frage nach dem ästhetisch Hässlichen (dem Unschönen, Schrecklichen, Grausigen, Abscheulichen, das Sujet der Kunst wird) und den Grenzen seiner Zulässigkeit. Und hatte Johann Jacob Breitinger (1701–1776) in seiner Critischen Dichtkunst (1740) Brockes’ »Gemählde von einem alten Weibe« ausdrücklich gelobt, da es demonstriere, dass »die künstliche Vorstellung einer Sache, die vor sich gantz unangenehme und widrige Eindrücke verursachen würde, in der Nachahmung belustigt«,3 so kann dann Johann Elias Schlegel (1719–1749) überhaupt kein Gefallen mehr an ihm finden, ja ganz im Gegenteil ist ihm Brockes’ Alte Beweis dafür, wie »der Abscheu vor der Sache, die uns vorgestellt wird, […] öfters die Lust [tödtet], die wir aus der Ähnlichkeit derselben empfinden wollen, und […] in uns Widerwillen und Ekel, an Stelle derselben [gebiert]«.4 Die Kenntnis von jenem Widerwillen Schlegels gegen ein an Brockes ausgemachtes ästhetisch Scheussliches und Ekelhaftes fand damals rasche und allgemeine Verbreitung: Johann Adolf Schlegel (1721–1793) nämlich übernahm die Brockes-Schelte des Bruders in eine ausführliche Anmerkung seiner Übersetzung von Charles Batteux’ Beaux-Arts
1. Brockes, Barthold Hinrich, Irdisches Vergnügen in GOTT, bestehend in Physicalisch= und Moralischen Gedichten, […], Neun Teile, Hamburg 1721–1748, Bd. 1, S. 397–431, hier: S. 413 f. 2. Lessing, Gotthold Ephraim, Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Erster Teil, Kap. 24, in: ders., Werke, 1766–1769 (= Gotthold Ephraim Lessing, Werke in zwölf Bänden, Bd. 5,2) Barner, Wilfried (ed.), Frankfurt a.M. 1990, S. 9–321. 3. Breitinger, Johann Jacob, Critische Dichtkunst worinnen die Poetische Mahlerey in Absicht auf die Erfindung im Grunde untersuchet und mit Beyspielen aus den berühmtesten Alten und Neuen erläutert wird, Zürich 1740, Neudruck mit einem Nachwort von Wolfgang Bender (ed.), Stuttgart 1966, S. 68. 4. Schlegel, Johann Elias, Ästhetische und dramaturgische Schriften (= Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, 26), Antoniewicz, Johann von (ed.), Heilbronn 1887, S. 96–105, hier: S. 102 f.
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réduits à un même principe (1746),5 des damals vielgelesenen Standardwerks einer musterhaften französischen Ästhetik, ja er verschärfte sie gar zu dem apodiktischen Fazit, »alles das Sinnliche, welches eine Empfindung hervorbringt, die ihrer Natur nach sich in keine angenehme Empfindung verwandeln lässt, […] ich meyne darunter den Ekel, und den höchsten Grad des Entsetzens«, müsse »ausdrücklich von der Poesie aus[geschlossen]« werden.6 — Das Nicht-mehrSchöne als Sujet der Kunst war, das zeigt die Debatte ums hässliche Weib aufs deutlichste, zumindest unter deutschen Kunsttheoretikern, Gegenstand von Misstrauen, Befürchtungen und gar harscher Ablehnung. Zwar wollte man eine grundsätzliche ästhetische Legitimität des Hässlichen und Schrecklichen nicht bestreiten, doch war man in der Praxis um dessen Beschränkung bemüht. Am eigentlichen ›locus classicus‹ des ästhetisch Schrecklichen — in Aristoteles’ Peri Poietikes – gibt es solche Vorbehalte noch nicht. Wenn Aristoteles anmerkt, dass »von denselben Gegenständen, die wir in der Wirklichkeit mit Widerwillen betrachten, […] wir doch ihre recht genau getroffenen Abbildungen mit Wohlgefallen an[sehen], wie z.B. die von den widerwärtigen Thieren und von Leichen«,7 dann ist ihm vielmehr die Kunstdifferenz genug der Absetzung des vorgestellten vom realen Grausigen: Jenes erweckt Vergnügen aufgrund der Fertigkeit des Künstlers, noch das schlechthin Entsetzliche der Wirklichkeit ähnlich nachzuahmen und artistisch zu reproduzieren. Überhaupt ist Aristoteles ganz allgemein der Ansicht (und hierauf spielen ja auch die zitierten Ausführungen von Breitinger sowohl als J. E. Schlegel an), dass alle Nachahmung — die das Verhältnis der Kunst zur Welt beschreibt — bereits angenehm sei;8 — dies hat Addison einmal im 418. Stück des Spectator (1712) zu der scherzhaften Anmerkung veranlasst, dass dann auch der Misthaufen — ästhetisch — noch vergnüge: the action of the mind, which compares the ideas that arise from words with the ideas that arise from objects themselves […] is attended with so much pleasure […] For this reason, therefore, the description of a dunghill is pleasing to the imagination.9
Eine nachcartesianische französische Ästhetik, die seit der Logique de Port-Royal (11662, 21664) das Schöne mit dem Wahren identifizierte (»il n’y a rien de beau, que ce qui est vray«),10 hatte mit Aristoteles’ Diktum bereits weitaus grössere Schwierigkeiten, und so glaubte Nicolas Boileau, als er den aristotelischen Topos in seiner Art poétique (1674) zitierte (»Il n’est point de Serpent, ni de Monstre odieux, / Qui par l’Art imité ne puisse aux yeux / D’un pinceau delicat
5. Batteux, Charles, Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt, und mit einem Anhange einiger eignen Abhandlungen versehen von Johann Adolf Schlegel, Zweyte, verbesserte und vermehrte Auflage, Leipzig 1759 (11751), S. 71–74. 6. Ibid., S. 367. 7. ARISTOTELOUS, ΠΕΡΙ ΠΟΙΗΤΙΚΗΣ / Aristoteles, Über die Dichtkunst (= Aristoteles’ Werke, Bd. 4), Susemihl, Franz (ed.), Leipzig 1865, S. 52 f. 8. Ibid. 9. The Spectator. Complete in one volume with notes, and a general index, London 1813, S. 604f, hier: S. 604. 10. Arnauld, Antoine /Nicole, Pierre, L’Art de penser. La Logique de Port-Royal, Freytag Löringhoff, Bruno Baron von / Brekle, Herbert E. (ed.), 3 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1965–67, hier: Bd. 2, S. 196.
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l’artifice agreable / Du plus affreux objet fait un objet aimable«),11 darauf bestehen zu müssen, dass das ästhetisch Schreckliche doch derart zu mässigen sei, dass es — und dies ist im Sinne der Regeln von Dezenz und »bienséance« zu verstehen — zu gefallen und zu rühren verstehe: »Voulez-vous sur la scène étaler des ouvrages / Où tout Paris en foule apporte ses suffrages […] Le secret est d’abord de plaire et de toucher«.12 Enger noch steckte dann Charles Batteux in der Mitte des 18. Jh.s die Grenzen eines Hässlichen und Abschreckenden in der Kunst. Er hatte Mühe, den obligatorischen Gemeinplatz der »gemalten Schlange« nach Aristoteles überhaupt noch mit dem Zugang seiner ästhetischen Theorie zu vereinbaren (Batteux deutete nun das Vergnügen am ästhetisch Schrecklichen als eine Folge der Erleichterung ob der Einsicht, dass dieses, das wohl auf einen Augenblick die beunruhigende Täuschung, real zu sein, hervorgerufen habe, doch nicht echt sei),13 will er doch gerade alle Kunst auf das gemeinsame Prinzip der mimetischen Aneiferung an eine idealische »schöne Natur« verpflichten: »les Arts [sont …] l’imitation de la Belle Nature […] la belle Nature [est …] le beau vrai, qui est représenté comme s’il existoit réellement, & avec toutes les perfections qu’il peut recevoir«.14 (Bereits Diderot wird dann in seinen berühmten Salons (1759–1781)15 von solcher allzu strikten Ästhetik des Schönen wieder abrücken und auch der konkreten, alltäglichen Wirklichkeit einen Platz in der Kunst einräumen.) — Reichte Aristoteles noch die Kunstdifferenz hin, das Hässliche und Schreckliche — ohne Einschränkung des Sujets — zum möglichen Gegenstand eines ästhetischen Wohlgefallens zu erklären, so waren also die französischen klassischen Ästhetiken eines Boileau, eines Batteux in diesem Punkt weitaus zurückhaltender: Das Nichtmehr-Schöne gilt ihnen für (ästhetisch) problematisch. (Wobei dann paradoxerweise gerade von Boileau jene europäische Ästhetik des Erhabenen ausgeht, die zuerst die theoretische Legitimation eines Schrecklichen in der Kunst formulieren wird: Von Boileau nämlich stammt die Übersetzung des Pseudo-Longin’schen Traktats Peri hypsos (Traité du Sublime, 1674), durch das die ästhetische Kategorie des Sublimen in der europäischen Kunsttheorie bekannt wurde.) Vor dem Hintergrund jener französischen Vorgeschichte scheint das Argument konsequent, mit dem — am Ende der deutschen Debatte ums hässliche Weib — Moses Mendelssohn das Ekelhafte (das Unschöne, das eine zu starke Betroffenheit des Rezipienten bewirkt) aus dem Bereich des Ästhetischen ausschliessen wollte. Dieses nämlich, so erläutert Mendelssohn (1729–1786) in den Briefen, die neueste Litteratur betreffend (1759 / 60), sei »allezeit Natur, niemals Nachahmung«;16 — wirkungsästhetisch ist hiermit die Bedingung des Mimetischen, das seit Aristoteles als die notwendige Voraussetzung eines Vergnügens am Schrecklichen und Hässlichen galt, ausser Kraft gesetzt: Das über-die-Massen-Hässliche (das Ekelhafte, das
11. Boileau-Despreaux, Nicolas, L’Art poétique, in: ders., Œuvres complètes, Escal, Françoise (ed.), Einleitung von Antoine Adam, Paris 1966, S. 155–185, hier: S. 169. 12. Ibid. 13. Batteux, Einschränkung der schönen Künste, op. cit., S. 73. 14. Batteux, Charles, Les Beaux-Arts réduits à un même principe, Nouvelle Édition, Leiden 1753, S. 28 u. 18 f. 15. Diderot, Denis, Les Salons, Seznez, J. / Adhémar, J. (eds.), 4 Bde., Oxford / Paris 1957–1967. 16. Moses Mendelssohn, Briefe, die neueste Litteratur betreffend, 5. Teil, Berlin 1759 / 60, Neudruck Hildesheim 1974, S. 102.
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Entsetzliche, das Grausige) wird folglich für nicht kunstfähig erklärt. — Hatte Mendelssohn damit die befremdliche Wirkung des überbordend Entsetzlichen ausgemacht, die darin besteht, die Kunstdifferenz (bzw. deren rezeptive Kenntnisnahme) zu überspringen und statt dessen in einer rein kreatürlichen Wirkung sich einzulösen, so wird Gotthold Ephraim Lessing (1729– 1781), als er sich noch im selben Jahr im Laokoon-Aufsatz mit den »Grenzen der Malerei und der Poesie« beschäftigt, Mendelssohns diesbezügliche Ausführungen zustimmend zitieren und sie auf das bürgerliche Trauerspiel beziehen. Denn auf dem Theater, meint Lessing, tauge das (extreme) physische Leiden nicht aus eben jenem Grunde seiner unangemessenen Wirkung: »der körperliche Schmerz [ist …] des Mitleidens nicht fähig«.17 — Noch in Kants Kritik der Urteilskraft (1790) wird dann die Bedingung des ästhetischen Zustandes (das equilibrierte Wohlgefallen jenseits aller Bestimmungen durch das Gefühl oder die Notwendigkeit) die Denkbarkeit eines Ekelhaften und Entsetzlichen in der Kunst verhindern, mag doch dessen Effekt den Körper allemal schneller zu überzeugen, als die reflexiven Instanzen des ästhetischen Urteils einzugreifen vermögen: Schockhaft droht das Nicht-mehr-Schöne zugleich zur Formulierung und zum Erweis des Einspruchs gegen die Meinung von der grundsätzlichen Interesselosigkeit und Vernunftbestimmung des ästhetischen Urteils zu werden. — Es war Sade (1740–1814), der bereits zu eben derselben Zeit darauf bestand, dass Lust (wie sie Kant dem Wohlgefallen am Schönen zugestand) und Unlust (die Kant für die Wirkung des Widrigen hielt) qualitativ identisch seien: Jedenfalls bestimmte Sade den Schmerz als die Intensivierung der Lust. Dann ersticht ein Vater seinen Sohn an der Bahre des Bruders, den dieser ermordet hat und dessen Braut hierüber wahnsinnig wurde (Klinger, Die Zwillinge), ein anderer, mit seinen drei Söhnen und der Leiche seiner vergifteten Frau eingesperrt, tötet einen der Söhne, der die tote Mutter auffressen will, da sie alle dem Hungertod preisgegeben sind (Gerstenberg, Ugolino), es geschehen nacheinander eine Vergewaltigung im Bordell, ein Kindsmord auf der Bühne (Wagner, Die Kindsmörderin), auch Giftmord und Selbstmord (Lenz, Die Soldaten), schliesslich wird Lenz’ Hofmeister (1774 / 78) uraufgeführt, »worinne ein Vater in Raserei verfällt, eine Tochter ihre Ehre verliert, Gefängnisse und Bettlerhütten erscheinen, Verwundungen, Ersäufungen und Kastrierungen vorgehn«:18 Das Sturm und Drang-Drama war voll von Gewaltdarstellungen, die das Publikum wie die Kritiker empörten. Da das individuelle Leiden, der geschundene, zerstückelte Körper (der doch gleichwohl in der Nachfolge der Passion Christi steht) nicht mehr — wie im bürgerlichen Theater des Mitleidens — symbolische Aufführung eines allgemein Menschlichen ist, da sich an ihm nicht mehr eine Opfer-Idee im Sinne einer antizipierten Ordnung und eines letztendlichen höheren Sinns vollzieht, geht die klassische (theoretische) Dezenzbedingung in der ästhetischen Praxis zuschanden: Das Individuum, das der sozialen Gewalt einer bürgerlichen Gesellschaft zu unterliegen droht, stammelt, presst, schreit sein Leiden heraus, das bis zur pathologischen Deformation, zur physischen und psychischen Verkrüppelung und Selbstzerstörung reicht. Bekanntlich konnte man sich in Deutschland aus dem Sturm und Drang zur Versöhnung der Gegensätze — von Natur und Vernunft, Stoff und Form, Freiheit und Regel — in der Klassik
17. Lessing, Laokoon, S. 36. 18. Zitiert nach Huyssen, Andreas, Drama des Sturm und Drang. Kommentar zu einer Epoche, München 1980, S. 159.
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emporläutern. Damals gelang es noch einmal, Kunst auf die idealistische Trias des Schönen, Wahren, Guten zu verpflichten, dem auch bereits eine klassische französische Dezenz nachgeeifert hatte. Doch die klassische Ästhetik fand schon bald eine neue Wunde am Romantischen, wie man dies beispielsweise dem Diktum Goethes — »Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke«19 — ablesen mag: In der Tat galt die — phantastische, wirre, subjektivistische — romantische Schreibweise den klassischen Kritikern geradezu als Ausgeburt alles ästhetisch Widrigen, Kruden, Abscheulichen. — Goethes Einwände bezogen sich namentlich auf die »alles zersprengende, ins Unendliche sich verlierende Sehnsucht und Unruhe«20 der Romantiker, denen »alles […] durchaus ins Form- und Charakterlose verfliesse«:21 Es ist die mutwillige Korrumpierung des klassischen Formideals (und damit der Idee des Schönen), die er am Romantischen für schlicht pathologisch hielt. — Jenen (stilistischen und formalen) Anti-Idealismus der Romantiker brandmarkte später besonders Hegel (1770–1831) wieder als hässlich und grässlich: In den Vorlesungen über die Ästhetik (1818–1826) beklagt er, es sei »in neuester Zeit die innere haltlose Zerrissenheit, welche alle widrigsten Dissonanzen durchgeht, Mode geworden und [habe] einen Humor der Abscheulichkeit und eine Fratzenhaftigkeit der Ironie zuwege gebracht«.22 Jener »Humor der Abscheulichkeit« aber — gedacht hat hier Hegel an das Schlegel’sche Konzept der romantischen Ironie23 und konkret an die Schreibart eines E. T. A. Hoffmann — gefällt sich darin, das Widrige zu fixieren: In der romantischen Kunst […] geht die Zerrissenheit und Dissonanz des Inneren weiter, wie in ihr überhaupt die dargestellten Gegensätze sich vertiefen, und deren Entzweiung kann festgehalten werden. […] mit diesem Festhalten an der Entzweiung, besonders in der Schilderung des Lasterhaften, Sündlichen und Bösen, geht dann die Heiterkeit des Ideals verloren.24
Ein am Romantischen ausgemachter anti-idealistischer Impetus reichte damals den Kritikern (neben Goethe und Hegel auch Schlegel,25 Weisse,26 Rosenkranz)27 hin, diese Kunst — formal — für nicht-schön und vielmehr krank, hässlich, scheusslich zu erklären. Gleichwohl sieht man die fundamentale Hässlichkeit am Romantischen auch bis in ihre
19. Eckermann, Johann Peter, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Beutler, Ernst (ed.), München 1976, S. 332. 20. Gespräch mit Boisserée, 4. Mai 1811, vgl. Goethes Gespräche, 1. Teil, in: Johann Wolfgang Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Beutler, Ernst (ed.), Bd. 22, Zürich 21964, S. 628. 21. Brief an Zelter, 30. Okt. 1808: Goethes Briefe. Textkritisch durchges. und mit Anm. vers. von Bodo Morawe. In: Goethes Briefe und Briefe an Goethe, Hamburger Ausgabe in 6 Bänden, Mandelkow, Karl Robert (ed.), Bd. 3: 1805–1821, München 31988, S. 92 f. 22. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Ästhetik I – III, in: ders., Werke. Auf der Grundlage der »Werke« von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 13–15, Frankfurt a.M. 1986, hier: Bd. 13, S. 289. 23. Ibid., S. 92 f. 24. Hegel, Solgers nachgelassene Schriften, in: ders., Werke, op. cit., Bd. 11, S. 215. 25. Schlegel, Friedrich, Über das Studium der griechischen Poesie, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 1, Abt. 1: Studien des klassischen Altertums. Eingeleitet und hg. von Ernst Behler, Paderborn /München /Wien 1979, S. 217–367. 26. Weisse, Christian Hermann, System der Ästhetik als wissenschaft von der Idee der Schönheit, 2 Bde. Leipzig 1830. 27. Rosenkranz, Karl, Ästhetik des Hässlichen, Königsberg 1853, Neudruck Darmstadt 1973.
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Sujets hinein sich erstrecken; Karl Rosenkranz, Hegel-Schüler und Verfasser einer singulären deutschen Ästhetik des Hässlichen (1853) — die man als einen Katalog aller Motive und ›Stellen‹ des Hässlichen, Abscheulichen, Entsetzlichen in den Künsten lesen kann — demonstrierte dies in der Gründlichkeit einer inhaltsästhetischen Bestandsaufnahme und setzte es mit dem romantischen Genre des Phantastischen in Beziehung: Es gilt ihm als scheusslich, da es — im Gegensatz zum Märchenhaften und Wunderbaren — die Gesetze einer (vernünftigen) Kausalität durchweg missachte: Das Scheussliche im Allgemeinen widerstreitet der Vernunft und Freiheit. Als Abgeschmacktes stellt es diesen Widerstreit in einer Form dar, die vorzüglich den Verstand durch die grundlose Negation des Gesetzes der Causalität und die Phantasie durch die daraus sich ergebende Zusammenhanglosigkeit beleidigt. Das Abgeschmackte, Absurde, Ungereimte, Widersinnige, Alberne, Insipide, Verrückte, Tolle, oder wie wir es sonst noch benamsen mögen, ist die ideelle Seite des Scheusslichen, die theoretische, abstracte Grundlage der in ihm vorhandenen ästhetischen Entzweiung.28
Hieraus sieht dann Rosenkranz jene »zuchtlose Phantasterei«,29 jenes »faselnde Absurde«30 entstehen, das ein groteskes Romantisches — Rosenkranz betitelt es nicht zufällig als dessen »Callot=Hoffmannsche Richtung«31 — in den »haarsträubendsten Unsinn«32 und ins »Abgeschmackte«33 einer »Lapidarpoesie«34 verfallen lässt, das sich gar noch in der Ausmalung des Grausigen, Teuflischen, Dämonischen gefällt: Die Romantiker vermischen Thierformen nicht nur, sondern selbst todte Dinge, wie Fässer, Bierkrüge, Töpfe, mit Menschenköpfen und Menschengestalten auf das Seltsamste miteinander. In solchen musivischen Compositionen wollten sie die unendliche Absurdität und Entzweiung des Bösen versinnbilden. Welche Fülle traumhaft wunderlicher, bizarr grotesker Frazzen haben nicht Ieronymus Bosch, die Breughel, Teniers und Callot auf diesem Gebiet erschaffen! Solche phantastische Unförmlichkeit wandte man auch auf die Darstellung der Versuchungen von Heiligen durch Dämone an, die von ihnen Besitz nehmen wollen, nicht weniger auf die Darstellung der Hölle, der Qualen der Verdammten zu veranschaulichen.35
Ob in der formalen Verwirrung oder in den scheusslichen Sujets des grotesk-Phantastischen, — allemal geriet die deutsche idealistische Kritik (noch in der Mitte des 19. Jh.s) angesichts der (romantischen) Hässlichkeit in Wut und Bestürzung. — Bereits 1771–1774 hatte J. G. Sulzer (1720–1779) diese Angriffspunkte, die später eine idealistische Kritik am Romantischen finden sollte, vorausgeahnt: Als er in der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste den Begriff des
28. Ibid., S. 300 f. 29. Ibid., S. 304. 30. Ibid., S. 303. 31. Ibid., S. 304. 32. Ibid. 33. Ibid., S. 300. 34. Ibid., S. 304. 35. Ibid., S. 376.
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»(ästhetisch) Hässlichen« bestimmt, da beschreibt er dieses schon — formal — als die Verwirrung, Missstimmung und Disproportionalität der Schreibweise, und — inhalts-, wirkungsästhetisch — als jenen Stoff, der die »zurüktreibende Kraft« von Missfallen und Ekel erregt:36 Die Termini von Romantik und Hässlichkeit können also — vom Standpunkt einer klassischidealistischen Theorie aus — mit Recht für synonym gelten. — Karl Rosenkranz griff dann den wirkungsästhetischen Zugang jener Definition des ästhetisch Hässlichen 1853 noch einmal auf und stellte ihr die systematisch entsprechende idealistische Bestimmung des Schönen zur Seite: Während das Scheussliche zurückstosse, schaudern mache, aufwühle, wisse im Gegenteil das reizende Schöne vermöge seiner Gefälligkeit zu locken.37 Bei Rosenkranz wird das ästhetisch Hässliche allgemein am wirkungsästhetischen Paradigma eines Ekelhaften bestimmt, wie es die kunsttheoretische Diskussion zwischen 1740 und 1770 entwickelt hatte: Es spricht sich in einem Effekt des (physischen) Abscheus aus und ist darin allein kreatürlich, nicht ästhetisch. ( — Es hätte hieraus Rosenkranz auch einen weiteren Einwand gegen die ihm ästhetisch scheussliche Schreibweise Hoffmanns, dessen Werke er einmal verächtlich »Struwelpetriaden«38 nannte, gewinnen können. Denn wenn Hoffmann in einem Gespräch der Serapionsbrüder in der gleichnamigen Sammlung (1819–1821) Cyprian fragen lässt: »Warum sollte es dem Dichter nicht vergönnt sein, die Hebel der Furcht, des Grauens, des Entsetzens zu bewegen? Etwa weil hie und da ein schwaches Gemüt dergleichen nicht verträgt? Soll starke Kost gar nicht aufgetragen werden, weil einige am Tische sitzen, die schwächlicher Natur sind oder sich den Magen verdorben haben?«,39 dann ist hiermit — ganz im Gegensatz zu Rosenkranz’ Invektiven — auf den Schluss gezielt, dass sehr wohl »aus dieser Idee [des Grauenhaften, Entsetzlichen und Widerwärtigen] ein Stoff hervorgehen [kann], der von einem phantasiereichen Dichter, dem poetischer Takt nicht fehlt, behandelt, die tiefen Schauer jenes geheimnisvollen Grauens erregt, das in unserer eigenen Brust wohnt«.40 Hoffmanns Begriff des Kunstschönen, so scheint es, ist einem Ekelhaften grundsätzlich verträglich.) Nun hatte — lange vor Rosenkranz — Friedrich Schlegel (1772–1829) bereits 1795 / 1797 in seinem Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie den kritischen wirkungsästhetischen Ansatz einer Wirkungsästhetik durchgeführt: Damals formulierte er eine Kritik der ästhetischen Moderne systematisch aus deren Ästhetisierung des Reizenden und Interessanten. — Schlegels Überlegungen im Studium-Aufsatz fügen sich einer geschichtsphilosophischen Perspektive; der Essay entwirft die Geschichte der Poesie, von der griechischen zur modernen, mit dem Ziel, ihrer Entwicklung eine Teleologie abzulesen und aus ihr ein utopisches Projekt Kunst zu prophezeien. Ausgeht Schlegels Kritik moderner, romantischer Poesie vom Postulat der Autonomie der Kunst. Da »eine Philosophie der Poesie überhaupt […] mit der Selbständigkeit des Schönen beginnen [müsste], mit dem Satz, dass es vom Wahren und Sittlichen getrennt sei
36. Sulzer, Johann Georg, »Hässlich«, in: ders., Allgemeine Theorie der schönen Künste. Neue vermehrte, zweyte Auflage, 4 Bde., Leipzig 1792–1799, Bd. 2, S. 457–459. 37. Rosenkranz, Ästhetik des Hässlichen, S. 299 f. 38. Ibid., S. 304. 39. Hoffmann, E.T.A., Gesammelte Werke in Einzelausgaben, 8 Bde., Berlin / Weimar 1994, Bd. 5, S. 514. 40. Ibid.
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und getrennt sein solle, und dass es mit diesem gleiche Rechte habe«,41 kritisiert Schegel, die Modernen verwirrten offensichtlich »die Gränzen der Wissenschaft und der Kunst, des Wahren und des Schönen«, indem »die Philosophie poetisiert und die Poesie philosophiert; die Geschichte […] als Dichtung, diese aber als Geschichte behandelt [wird]«.42 Nicht »Wahrheit« oder »Sittlichkeit« seien aber der »Zweck der Dichter«, sondern allein die »Schönheit«, — jedoch die Modernen gefielen sich in der »Anarchie«. Der Gipfel aber sei es, dass man nun gar die transzendentale Bestimmung der Kunst aufs Schöne ignoriere: Systematisch hebele die Kunst der Gegenwart das Schöne und Ewige aus und ersetze es durch die »Reize« einer »niedere[n] Üppigkeit und widerliche[n] Heftigkeit«. Ziel der Modernen sei wohl »nicht das Schöne«, sondern »ganz offenbar [die] Darstellung […] des Hässlichen« — als zur-Schau-Stellung »der Verwirrung in höchster Fülle«.43 »Wie in einem ästhetischen Kramladen«,44 meint Schlegel, poltere seither im Kunstwerk das unverbundene Einzelne durcheinander; nicht länger verweise — wie im klassischen organizistischen Werkbegriff gesichert — das Ganze auf seine Teile, deuteten umgekehrt die Teile auf die Einheit eines harmonischen Ganzen. Die Gründe für die überwältigende Aktualität der ästhetischen Anarchie liest Schlegel eben einem modischen Aufmerken aufs Reizende ab: Indem das Individuelle und das Interessante zum beherrschenden Anspruch an eine modische moderne Literatur avancierten, emanzipiere sich der »reizende« Stoff vermessen gegenüber der Form, ja er entwerte sie vollends: Wie dann Werkästhetik dann zur reinen Wirkungsästhetik wird, das hatte bereits Sade demonstriert. — Geht nach Schlegels Kritik der Moderne »die Richtung mehr auf ästhetische Energie, so wird der Geschmack, der alten Reize je mehr und mehr gewohnt, nur immer heftigere und schärfere begehren. Er wird schnell genug zum Piquanten und Frappanten übergehn. Das Piquante ist, was eine stumpfgewordne Empfindung krampfhaft reizt; das Frappante ist ein ähnlicher Stachel für die Einbildungskraft. Dies sind die Vorboten des nahen Todes. Das Fade ist die dünne Nahrung des ohnmächtigen, und das Choquante, sei es abenteuerlich, ekelhaft oder grässlich, die letzte Konvulsion des sterbenden Geschmacks. (Das Choquante hat drei Unterarten: was die Einbildungskraft revoltiert — das Abenteuerliche; was die Sinne empört — das Ekelhafte; und was das Gefühl peinigt und martert — das ›Grässliche‹. Diese natürliche Entwicklung des Interessanten erklärt sehr befriedigend den verschiedenen Gang der bessern und gemeinen Kunst.)«.45 — Die Entdeckung des Reizenden in der Kunst kreiert die ästhetischen Kategorien des Neuen und des Interessanten. Deren Poetik aber lebt allein von der Steigerung: Stets muss dann das Pikante, Reizende, Frappante, das man am Neuen fand, überboten werden im NochPikanteren, Noch-Reizenderen, Noch-Frappanteren von morgen; denn nichts ist so fad wie das abgelebte Interessante von gestern. Dem ästhetischen Drang des stets-Neuen verdankt Kunst daher einen reichen Fundus — effektvoller — hässlicher, grässlicher, ekelhafter, entsetzlicher Motive.
41. Schlegel, Friedrich, Athenaeum-Fragmente, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken (1796–1801), Hg. und eingel. von Hans Eichner, Paderborn / München / Wien 1967, hier: S. 207. 42. Schlegel, Über das Studium der griechischen Poesie, op. cit., S. 219. 43. Ibid., S. 218 f. 44. Ibid., S. 222. 45. Ibid., S. 254.
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Doch geht, meint auch Schlegel, in deren zusammengewürfeltem Durcheinander die Möglichkeit des Schönen zuschanden im Schmerz, in der qualvollen Zerrissenheit: Die moderne Literatur lässt nämlich »einen verwundenden Stachel in der Seele zurück«.46 Einmal mehr wird bei Schlegel die Fixierung auf das Reizende und Interessante zum Einwand gegen das ästhetisch Hässliche. Walter Scott (1771–1832) hat dann jene Kritik des ästhetisch Sensationellen in seine einflussreiche Rezension der deutschen phantastischen Literatur On the Supernatural in Fictitious Composition (1827), die eigentlich ein Hoffmann-Verriss ist, übernommen.47 Ja, Scott tat noch mehr: Er unterstellte jenem ästhetisch Reizenden — dem im Phantastischen und Unheimlichen gerade die Überreizung charakteristisch sei — eine generelle Inklination zum Wahnsinn. — Scotts Vorbehalt gegen einen »fantastic style«,48 den er von einem durchaus positiv beurteilten heiteren »supernatural«49 abhebt, betrifft dessen groteske Exaltation und febrile Überdrehtheit: Sie, meint Scott, könne allein einer Einbildungskraft entspringen, die bereits an Wahnsinn grenze. Hoffmanns (1776–1822) Nachtstück Der Sandmann (1816) hält er geradezu für die Ausgeburt eines nervösen Fiebers (»nervous fever«),50 für das Produkt der überhitzten Imagination eines gefährdeten Subjekts an der Grenze zum mentalen Kollaps: »the state of his [i.e. Hoffmann’s] imagination […] indicated the exaltation of his feelings up to a state not far distant, probably, from that of actual mental derangement«.51 — Um sein harsches Urteil zu begründen, verweist Scott darauf, wie chimärische und phantastische Gestalten (»the most strange and complicated monsters, resembling centaurs, griffins, sphinxes, chimeras, rocs«)52 Hoffmanns Texte bevölkerten: Sie aber gelten ihm als Gestalten des Phantastischen wie auch eines phantasmatischen textuellen Irrsinns, der an der Vernünftigkeit ihres Urhebers zweifeln lässt: »the fantastic or supernatural grotesque in his compositions [is …] nearly on the verge of actual insanity, […] little under the dominion of sober reason«.53 — Scott erblickt hinter Hoffmanns Phantastik einen korrumpierten Geist, der vom manifesten Wahnsinn nicht mehr weit entfernt ist. Ursächlich führt er die diagnostizierte psychische Korruption zurück auf: des Autors unstetes Leben sowie seinen übermässigen Genuss von Alkohol und Tabak ( — also auf just die Ursachen des Irrsinns nach Massgabe der zeitgenössischen Psychiatrie). Es braucht daher nicht zu verwundern, wenn am Ende Scott, der Literaturkritiker, angesichts der Hoffmann’schen Texte nach dem (Irren-)Arzt ruft: »It is impossible to subject tales of this nature to criticism. In fact, […] we cannot help considering his case requiring the assistance of medicine rather than of criticism«.54
46. Ibid., S. 217. 47. Scott, Sir Walter, On the Supernatural in Fictitious Composition, and Particularly on the Works of Ernest Theodore William Hoffmann, in: ders., On Novelists and Fiction, Williams, Joan (ed.), London 1968, S. 312–353. 48. Ibid., S. 327. 49. Ibid., S. 312. 50. Ibid., S. 332. 51. Ibid. 52. Ibid., S. 335. 53. Ibid. 54. Ibid., S. 352.
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Das überbordende Schreckliche der Kunst steht, meint Scott, in direktem Zusammenhang mit der Überreizung des kreativen Geistes, der es gebiert: Dass dann am Entsetzlichen und Unheimlichen, das sie erleben, die Figuren des gotischen Schauerromans wahnsinnig werden (und dies ist auch eine metafiktionale Aussage über die Wirkung des Schrecklichen auf alle Vernünftigkeit), das lässt sich — von Hoffmann bis Brockden Brown, von Radcliffe bis Poe mit grosser Regelmässigkeit beobachten: Wenn im Brautgemach der Rowena (in Poes Erzählung Ligeia aus der Sammlung Tales of the Grotesque and Arabesque, 1840) das Phantasmagorische, Exotische, Dunkle, Groteske irritierend Gestalt gewinnt, dann bricht sich — als Effekt — tatsächlich der Wahnwitz Bahn. — Nun hatte sich Scott angesichts des Unheimlichen, Grotesken, Hässlichen noch mit dem — zuerst von Schlegel formulierten — Argument beruhigen können, dessen Reizwert überlebe sich von selbst: The interest […] is indeed a powerful spring; but it is one which is peculiarly subject to be exhausted by coarse handling and repeated pressure. It is also of a character which it is extremely difficult to sustain […] the thrill of terror […] becomes lost in […] sated indifference.55
Der bereits andauernde Sensationserfolg des gotischen Schauerromans (vor allem auch im anglophonen Raum) hätte ihn allerdings darob bereits eines besseren belehren können. — Die ›gothic novel‹ nämlich lebt vom Schauerlichen, Schreckenerregenden, Grausigen, Hässlichen, Verrückten — und von einer angenehmen Angst, die dieses — ganz im Gegensatz zu den angeführten Einschätzungen der (klassischen) Kunsttheoretiker — bei den Lesern erzeugt. Jene Lust am literarisch Entsetzlichen, die anhand des Gotischen unwiderleglich sich beweist, begründet und systematisiert zu haben, das ist die Leistung der (englischen und französischen) Ästhetiken des Erhabenen. Sie analysierten die verstörende Kraft des Hässlichen und Grausigen, des Tragischen und Sublimen und bemerkten, dass die angenehme Angst, der wohlige Schrecken und das (Mit-)Leiden an ihm jedes Wohlgefallen am Schönen — nach Massgabe der emotionalen Intensität — weit übertrafen. Damals wurde Poetik zur Theorie einer Kunst des Schreckens, die das Wesen, die Möglichkeiten und Steigerungsformen der ästhetischen Leidenschaften betraf. Unter diesen Vorzeichen der Theorie des Sublimen zugleich eine umfassende Sensationsästhetik des Schreckens geliefert zu haben, dies ist das Verdienst Edmund Burkes (1729–1797). — Burke baute in seiner Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757 / 59)56 ein vollständiges ästhetisches System auf die Seelenzustände von Schmerz (»pain«) und Vergnügen (»pleasure«). Der Schmerz und das Vergnügen bezeichnen nach Burke die einzigen positiven Leidenschaften, die das Gemüt zu affizieren vermögen. Wohl kennt er weitere, vermischte Empfindungen: das Frohsein (»delight«), den Kummer (»grief«) und die Enttäuschung (»disappointment«); doch leitet er sie stets ab aus dem vorgängigen Dualismus von Freude und Leid — als Aufhören des Schmerzes, das mit dem sekundären Vergnügen des Frohseins einhergeht, als Aufhören der Freude in den negativen Empfindungen von Enttäuschung und Betrübnis. — Auf der Basis jenes Dualismus von Vergnügen und Schmerz — an dem dann
55. Ibid., S. 314 f. 56. Burke, Edmund, A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1759), Neudruck Menston 1970.
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später auch Sades materialistische Philosophie ansetzte — errichtet Burke eine strenge Dichotomie zwischen dem ästhetisch Schönen und dem Erhabenen. Die reine Freude, die die Begegnung mit dem Schönen verursacht, führt er auf das gesellschaftliche Band der Liebe zwischen den Menschen zurück; den Schrecken des Sublimen hingegen verankert er in den Vorstellungen des Schmerzes, der Gefahr, der Krankheit und des Todes; da sie unmittelbar die Selbsterhaltung (»selfpreservation«) des Menschen beträfen, erfüllten sie das Gemüt mit Entsetzen: »the ideas of pain, sickness, and death fill the mind with strong emotions of horror«.57 Im Schrecken antworten demnach Empfindung und Körper der Gefahr und dem Schmerz, die Quell reiner Unlust sind. Doch wird der Schrecken, meint Burke (und geht hier im wesentlichen mit Aristoteles’ Besprechung des ästhetisch Entsetzlichen konform), unter der einen Bedingung der Distanz bereits zur vermischten Empfindung des »Frohseins«: zum Vergnügen, das entsteht, wenn das erste, überwältigende Grauen angesichts der Vorstellung kreatürlicher Bedrohung aufgehe in der Erkenntnis der eigenen Sicherheit; im Abstand zur Gefahr läutert sich demnach das bloss Entsetzliche zum lustvoll erfahrenen schrecklich Erhabenen: Whatever is fitted in any sort to excite the ideas of pain, and danger, that is to say, whatever is in any sort terrible, or is conversant about terrible objects, or operates in a manner analogous to terror, is a source of the sublime […] When danger or pain press too nearly, they are incapable of giving any delight, and are simply terrible; but at certain distances, and with certain modifications, they may be, and they are delightful, as we every day experience.58
Man mag die Forderung der Distanz als räumliche deuten im Sinne des Lukrez’schen Paradigmas vom Schiffbruch mit Zuschauer.59 Doch ist sie in der Kunstdifferenz ohnehin bereits erfüllt. »Indeed terror is in all cases whatsoever […] the ruling principle of the sublime«.60 — Da mit dem Sublimen der Schrecken, das Grauen und das Entsetzen ins Gebiet des Ästhetischen eindringen, wird der ästhetische Zustand einem physischen gleichbedeutend. Das Wesen des Erhabenen in der Kunst, meint Burke folgerichtig, lasse sich restlos über seine Wirkung begreifen, und die bestehe in der absorbierenden Kraft, mit der sie Körper und Seele ins Erstaunen setze: astonishment is that state of the soul, in which all its motions are suspended, with some degree of horror. In this case the mind is so entirely filled with its object, that it cannot entertain any other, nor by consequence reason on that object which employs it. Hence arises the great power of the sublime, that far from being produced by them, it anticipates our reasonings, and hurries us on by an irresistible force.61
Die ästhetische Wirkung — nach Massgabe des sublimen Schreckens ist sie plötzliche Überwältigung, die Reflexion und Vernunft per Überraschung überspringt und den Rezipienten mit unwiderstehlicher Macht hineinbannt in die Lähmung eines — vermöge der Kunstdifferenz
57. Ibid., S. 58. 58. Ibid., S. 58 f. 59. Titus Lucretius Carus, Von der Natur der Dinge, Frankfurt a.M. / Hamburg 1960, S. 47. 60. Burke, Philosophical Enquiry, op. cit., S. 97. 61. Ibid., S. 95 f.
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geläuterten — Entsetzens. Schon 1649 hatte René Descartes (1596–1650) in seiner Schrift Les Passions de l’âme auf eine Psychophysiologie der Langeweile gezielt, als er die Indifferenz des Gemüts allgemein für die Ursache von Unlust erklärte, deren leidenschaftlicher Bewegung hingegen eine stets lustvolle Wirkung attestierte: »[l’âme] generalement […] se plaist a sentir emouvoir en soi des passions, de quelle nature qu’elles soient, pourvû qu’elle en demeure maistresse«.62 Wobei hier wohlgemerkt der Effekt jenes angenehmen Ergötzens unabhängig vom Inhalt, vom Objekt der Leidenschaft eintritt, die das Gemüt bewegt. — Als dann um 1800 das Phänomen von Melancholie, Ennui und Spleen grassierte, da sah Charles Dubos (1670–1742) in den Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture (1719) in den heftigsten Reizmitteln — dem Schrecklichen, Entsetzlichen, Grausigen — mögliche Therapeutika: Un mouvement que la raison réprime mal, fait courir bien des personnes après les objets les plus propres à déchirer le cœur. On va voir en foule un spectacle des plus affreux que les hommes puissent regarder; je veux dire le supplice d’un autre homme qui subit la rigueur des loix sur un échaffaud, & qu’on conduit à la mort par des tourmens effroyables […] Le monde dans tous les pays va voir en foule les spectacles horribles dont je viens de parler. C’est le même attrait qui fait aimer les inquiétudes & les allarmes que causent les périls où l’on voit d’autres hommes exposés, sans avoir part à leurs dangers.63
Dass die intensivste Anreizung der menschlichen Seele sich dem Entsetzlichen verdankt, das anderen zustösst, steht für Dubos fest. Seither gilt ihm alles Mitleiden hieran (dessen Möglichkeit später Lessing scharf zurückwies) als zutiefst lustvoll. Das real geschaute Grauenhafte und Entsetzliche jedoch macht noch das Gewissen schuldhaft betroffen. Anders das ästhetische Grausen in Malerei und Poesie: Wie die wirklichen reizen den Betrachter, glaubt man Dubos, die ästhetischen Sujets des Schrecklichen: Les Peintres & les Poëtes excitent en nous ces passions artificielles, en présentant les imitations des objets capables d’exciter en nous des passions veritables. Comme l’impression que ces imitations font sur nous est du même genre que l’impression que l’objet imité par le Peintre ou par le Poëte feroit sur nous; […] La copie de l’objet doit, pour ainsi dire, exciter en nous une copie de la passion que l’objet y auroit excitée.64
Nicht einmal sollen die Leidenschaften, die die Kunst — insbesondere die Tragödie — zu erregen vermag, in ihrer Intensität geringer sein als die realen. Zwar sind, argumentiert Dubos, die künstlichen nur Schatten der natürlichen Leidenschaften (»phantômes de passions«),65 da sie nicht von den Dingen an sich, sondern von »Kopien« erzeugt werden; doch wirkt sich die mimetische Differenz der Kunst nicht in der Stärke des Affekts aus, sondern allein: im SichEntheben des reuigen Stachels, den der zynische Genuss am wirklichen Schmerz des anderen
62. Descartes an Elisabeth, 6. Okt. 1645. In: Œuvres de Descartes, Adam, Charles / Tannery, Paul (eds.), Bd. 4: Correspondance IV (juillet 1643–avril 1647), Paris 1976, S. 309. 63. Du Bos, Réflexions critiques sur la poësie et sur la peinture, Genf 1967, S. 12 f. 64. Ibid., S. 27 f. 65. Ibid., S. 27.
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hinterliess. Das Vergnügen am Schrecklichen — die Kunst läutert es zur reinen Freude empor, ohne an seinem bestürzenden Effekt einen Verlust zu machen: nous regardons avec contentement des peintures dont le mérite consiste à mettre sous nos yeux des avantures si funestes, qu’elles nous auroient fait horreur si nous les avions vûes véritablement; […] Le plaisir qu’on sent à voir les imitations que les Peintres & les Poëtes sçavent faire des objets qui auroient excité en nous des passions dont la réalité nous auroit été à charge, est un plaisir pur. Il n’est pas suivi des inconvéniens dont les émotions sérieuses qui auroient été causées par l’objet même, seroient accompagnées.66
(De Quincey war da freilich anderer Ansicht. In seinem Essay On Murder Considered as One of the Fine Arts (1827) bemerkte er nebenhin einmal, dass der Ruf »Fire! Fire!«, der von der Strasse kommt, wohl den Zuschauerraum auch des entsetzenerregendsten Bühnenschauspiels entvölkern würde: Alles liefe zum Fenster hin, um den Brand zu sehen, und bewiese zugleich: dass der reale Schrecken allemal stärker sei als der vorgestellte der Kunst.)67 — Als eine Kunsttheorie des Erhabenen darauf gekommen war, dass es mit dem ästhetischen Grausen nicht wirklich ernst sei, da hatte man sich die Legitimation gegeben, mit der ästhetischen Lust am Widrigen die Langeweile und Qual der lähmenden emotionalen Indifferenz zu vertreiben. Seither konnte Kunst auf Wirkung setzen, und zwar auf die stärkste, verstörendste, intensivste, die erreichbar schien. Mit dem Aufmerken auf die Sensation entdeckte damals die Ästhetik das Potential eines Schrecklichen, das in der ›gothic novel‹ genrebildend wurde; vor allem aber — und dies bezeichnet den eigentlichen Skandal, der hinter einer Sensationsästhetik des Schrecklichen sich seit je verbirgt — fiel seither die schwächliche Freude, die sich aus dem Schönen speiste, haltlos ab gegenüber der überwältigenden Kraft des Grauenhaften, Widerwärtigen und Hässlichen. Und so mag man Dubos’ Ästhetik zurecht auch eine Theorie des ästhetischen Neronismus nennen. — Auch für eine Ästhetik des Hässlichen bezeichnet das Jahr 1789 einen Wendepunkt. Es brachte die jahrelange, extreme, alltägliche Erfahrung von Grausamkeit, Blutvergiessen, Massenhinrichtungen, Krieg, die eigentlich bis zum Ende der Napoleonischen Zeit andauerte. Damals auch verbanden sich mit dem Frankreich der Revolution ein Name und ein Werk, die den Skandal des Hässlichen, Bösen, Obszönen schlechthin verkörpern: Es sind der Marquis de Sade (1740–1814) und seine — grösstenteils anonym veröffentlichten — philosophischen Romane, deren erste während seiner Gefangenschaft in der Bastille konzipiert und niedergeschrieben worden waren. — Als Sade seinen Kosmos des Perversen am Vorabend der Revolution (dem Augenblick, da das philosophische Projekt der Aufklärung zum ersten Mal Geschichte machte) ersann, da ging er von der Grundvoraussetzung der rationalistisch-materialistischen Philosophie seiner Zeit aus. Sades Bestreben war es, den — von der Aufklärung geforderten — eigentlichen, vorurteilslosen Blick auf die menschliche Natur zu gewinnen. Doch schlug ihm der Rousseau’sche Optimismus von der Güte des Menschen im Naturzustand ins genaue Gegenteil um: Hinter seinen moralischen, psychologischen und gesellschaftlichen
66. Ibid., S. 29. 67. Quincey, Thomas de, The English Mail Coach and other Essays, mit einer Einleitung von John E. Jordan, London 1970.
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(Ver-)Bildungen sah Sade den ursprünglichen Menschen als Bestie lauern. (Man sollte meinen, dass die zeitgenössische Geschichte ihm hierin recht gegeben hat: Rousseaus ›edle Wilde‹ hatten sich schon 1771 in den Expeditionsberichten Louis-Antoine de Bougainvilles (Voyage autour du monde) als Kannibalen und Meuchelmörder entpuppt, und die revolutionäre Aufbruchsbewegung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit lief kurze Zeit nach ihrem Entstehen bereits in die Terreur hinein.) — Sades Utopie wollte Utopie der Freiheit sein: Emanzipieren sollte sich der Mensch von den Fesseln der gesellschaftlichen und moralischen Reglementierungen, frei sollte er werden, um allein mehr den Bedürfnissen der eigenen Kreatürlichkeit zu folgen. Mit den Mitteln des aufgeklärten Denkens überführte Sade die Einwände der Moralität der eigenen hintergründigen Negativität: Sie waren ihm allein Instrument zur Knechtung des Menschen, für den in Wahrheit ganz anderes gut — und lustvoll — sei. Im Namen des Naturrechts formuliert etwa die Philosophie dans le Boudoir (1795) das Plädoyer: Dass der aufgeklärte Geist sich nicht länger von falschen Einsichten unterdrücken lassen solle und derart — körperlich und moralisch — frei werde. — Wie sich aber das solcherart freie Individuum — das heisst: der Libertin — geriert, das hat Sade systematisch in seinem ersten Text überhaupt (er ging beim Sturm auf die Bastille verloren und wurde erst 150 Jahre später wiederentdeckt) demonstriert: Die 120 Journées de Sodome (1785) (die eigentlich eine Staatsutopie entwerfen) gelten der vollständigen Katalogisierung und Exerzierung des Universums des Perversen — jeder Lust, jeder Leidenschaft, jedes Lasters, jedes Verbrechens; der Roman ist damit — im philosophischen Projekt Sades — zugleich eine erschöpfende Taxonomie der wahren menschlichen Natur: Sades 120 Tage-Utopie, die aus dem revolutionären Impuls auf die totale Befreiung des Individuums entsteht, zeigt zuletzt, dass Glück (als Lust) nur in der Grausamkeit, dem Vernichtungsrausch, dem Leiden, das anderen zugefügt wird, liegt (— und dies Ergebnis verträgt sich mit der Theorie des Erhabenen). Da Sade erweisen will, dass der freie Mensch eine Bestie sei, ist das ästhetische Modell, das seinen Schriften zugrunde liegt, Organisation und Durchführung alles denkbaren, ja überhaupt alles nur möglichen Entsetzlichen, Grausamen, Bösen, Hässlichen, vom Mord zum Inzest, von der Sodomie zur Massenexekution. — Bezeichnenderweise begründeten die deutschen Theoretiker — man denke nur an Schillers (1749–1805) (mit der Sade’schen Philosophie dans le Boudoir zeitgleiche) Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) — angesichts der Revolution in Frankreich die genau gegenteilige — idealistische — Utopie und Ästhetik: Ihr zufolge sollte die Menschheit gerade durch das Schöne der Kunst und die Ideen, die dieses zuallererst anschaulich macht und einprägt, gebildet und zur Freiheit und Sittlichkeit befähigt werden können. Angesichts der realen Negativität der Revolution, in der die Aufklärung noch vor der allgemeinen Einsicht ins vernünftig Wahre, Gute, Schöne praktisch wurde, bezeichnet dieses Modell den systematischen Plan zu einer Ästhetik des Sittlichen — und daher auch zur Abwehr alles Hässlichen, Schrecklichen, Bösen in der Kunst. Nach der Revolution und eingedenk ihrer Folgen — der realen Gewalt, die im Namen einer idealen, aufgeklärten Vernünftigkeit angezettelt worden war — kam am Ende der Napoleonischen Ära in Frankreich eine neue Ästhetik herauf: Damals desavouierte eine romantische, realistische, leidenschaftliche Kunst einen überkommenen frigid-schönen Klassizismus. — Es war Stendhal (1783–1842), der zuerst die Überlebtheit der klassizistischen Ästhetik systematisch begründete und die ›révolution romantique‹ — die künstlerische nach (aufgrund) der historischen
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Revolution — forderte. Das Schöne fasste Stendhal als eine geschichtlich wie geographisch relative Kategorie, und so müsse jede Zeit und jedes Volk demjenigen Schönen nachstreben, das der eigenen Erfahrung gemäss sei. Die Schönheit der Griechen — die ja der Klassizismus als zeitlos gültiges Ideal sehen will — und die Schönheit des modernen Franzosen haben aber nach Stendhal rein gar nichts mehr miteinander gemein: Lächerlich und beinahe schon abstossend wirke gegenwärtig die schöne Nacktheit der griechischen Helden: si le tableau des Sabines paraissait aujourd’hui, on trouverait que ses personnages sont sans passion, et que par tous pays il est absurde de marcher au combat sans vêtements. […] Les Grecs aimaient le nu; nous, nous ne le voyons jamais, et je dirai bien plus, il nous répugne. […] quelle sympathie peut sentir un Français, qui a donné quelques coups de sabre en sa vie pour des gens qui se battent tout nus? Le plus simple bon sens indique que les jambes de tels soldats seraient bientôt tout en sang, et, dans tous les temps, il fut absurde d’aller nu au combat.68
Zudem veränderten die Ereignisse seit der Revolution den Geschmack der Franzosen tiefgreifend: quel changement de 1785 à 1824! [… les] enfants de la révolution […] cherchent la pensée plus que la beauté des mots; aux gens qui au lieu de lire Quinte-Curce et d’étudier Tacite, ont fait la campagne de Moscou et vu de près les étranges transactions de 1814.69
Nach der Erfahrung des Schlachtfeldes vor Moskau verging endgültig der Geschmack am bloss Schönen und wurde folglich die gedrechselte Künstlichkeit der grossen Leidenschaften, wie sie die klassizistische Kunst zeigt, haltlos. Dies etwa in der Malerei und der Plastik: Feierte die Schönheit der klassizistischen Körper die Ruhe, die Harmonie und die Proportion, war ihr Ideal ein statisches, so bedeutete das, dass gewaltsame Emotionen schamhaft verbannt werden mussten aus dem Bereich des Ästhetischen, denn: »toute passion nuit à la beauté«.70 Die wirkliche Leidenschaft aber, weiss Stendhal, zerreisst den Körper, löst die Konstruktion des Schönen auf im Krampf der Glieder und im Tumult des Schmerzes: »les passions ne sont pas une science exacte, à laquelle le plus ignorant puisse atteindre. Pour être en état de peindre les passions, il faut les avoir vues, avoir senti leurs flammes dévorantes«.71 Es ist diese Forderung nach einer realistischen Wahrheit des künstlerischen Ausdrucks bei der Darstellung der — heftigen, grausamen — menschlichen Leidenschaften, die den ersten anti-klassizistischen Hebel der (modernen) französischen Romantik bezeichnet. Im Salon der Pariser Ausstellungssaison 1827 / 28 erhob damals für die Malerei Eugène Delacroix (1798–1863) dieselbe Forderung: Sein Sardanapale war eine ätzende Polemik auf Ingres’ (1780–1867) — triumphal aufgenommene — Apothéose d’Homer. Delacroix’ Bild nahm das Ingres-Thema auf (Delacroix konzipierte den Sardanapale erst im November und Dezember 1827 für die zweite Ausstellungsphase, da der Salon mit Ingres’ Homer bereits eröffnet war) und widersprach seiner Durchführung in allen Belangen — von der gewaltsamen Auflösung einer statisch-pyramidalen Bildstruktur bis zur
68. Stendhal, Salon de 1824, in: ders., Œuvres complètes, Litto, Victor del /Abravanel, Ernest (eds.), 50 Bde., Genf 1970, Bd. 47, S. 14 u. 81. 69. Stendhal, Racine et Shakespeare, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 37, S. 91 u. 79. 70. Stendhal, Salon de 1824, op. cit., S. 17. 71. Ibid., S. 26.
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wüsten Grausamkeit, mit der sich die Leiber der Beteiligten im Blutbad um Sardanapal im Todeskampf verzerren, winden, übereinanderwerfen. — Delacroix’ Sardanapale gilt allgemein als das Manifest der Romantik in der Malerei. Ganz richtig formuliert er ein vehementes Plädoyer für einen ästhetischen Realismus (auch) des Hässlichen und Entsetzlichen, wie er einer klassizistischen Dezenz schlicht unvorstellbar grässlich war. Doch nicht nur in der Imagination der künstlerischen Sujets kam es, als das Romantische sich gegen das Klassische erhob, damals zu Tumulten, sondern auch in den Parisern Theatern selbst: Die Uraufführung von Victor Hugos (1802–1885) Hernani (1830) ging bekanntlich in der ›bataille d’Hernani‹ unter, und tatsächlich war der Realismus des Hugo’schen Theaters ausdrücklich gegen den herrschenden Klassizismus, dessen Anhäger sich gegen Hugo wütend erregten, gemünzt. Das diesbezügliche literarische Manifest lag zum Zeitpunkt der HernaniSchlacht bereits gedruckt vor: im Préface de Cromwell (1827). Enfin! vont dire ici les gens qui, depuis quelque temps, nous voient venir, nous vous tenons! vous voilà pris sur le fait! Donc, vous faites du laid un type d’imitation, du grotesque un élément de l’art! Mais les grâces … mais le bon goût … Ne savez-vous pas que l’art doit rectifier la nature? qu’il faut l’anoblir? qu’il faut choisir?72
Höhnisch führt Hugo die weinerliche Empörung einer klassizistisch-schönen Kunst gegens ästhetisch Hässliche an, um sie hernach mit dem einen Satz vom Realismus vom Tisch zu wischen: »Que ce fait plaise ou déplaise, peu importe! il est!«73 Wohl mag das Hässliche den Geschmack am reinen Schönen verderben, — da es lebensweltlich existiert, taugt es gleichwohl zum Sujet einer modernen romantischen Kunst: »tout ce qui est dans la nature est dans l’art«.74 Systematisch entwickelt Hugo von hier aus das Charakteristische der Romantik aus der ästhetischen Kategorie des Hässlichen; denn dieses ist die Differenzbedingung, die die neue vor der alten Kunst auszeichnet: »La muse moderne […] sentira que tout dans la création n’est pas humainement beau, que le laid y existe à côté du beau, le difforme près du gracieux, […] le mal avec le bien, l’ombre avec la lumière«.75 Die lebensweltliche Realität macht das Argument, mit dem Hugo der Kunst — als moderner — das Miteinander von Schönem und Hässlichem, von Anmutigem und Deformiertem, von Gutem und Bösem anempfiehlt. Da in der Wirklichkeit niemals das Schöne allein begegnet, es sich vielmehr stets in der unmittelbaren Nähe zum Hässlichen zeigt, muss eine Kunst, die nicht zur Sinnlüge werden will, den Realismus der Gegensätze übernehmen: In der Vereinigung des Schönen und des Monströsen (»la Belle et la Bête«)76 bzw. — hiermit gleichbedeutend — des Sublimen und des Grotesken glaubte Hugo das Programm künstlerischer Modernität zu erblicken:
72. Hugo, Victor, Théâtre complèt, Préface par Roland Purnal, Notices et notes par J.-J. Thierry et Josette Mélèze, Bd. 1, Paris 1963, S. 417. 73. Ibid. 74. Ibid., S. 425. 75. Ibid., S. 416. 76. Ibid., S. 422.
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le sublime et le grotesque […] se croisent dans le drame, comme ils se croisent dans la vie et dans la création. Car la poésie vraie, la poésie complète, est dans l’harmonie des contraires. […] Les deux types, ainsi isolés et livrés à eux-mêmes, s’en iront chacun de leur côté, laissant entre eux le réel, l’un à sa droite, l’autre à sa gauche.77
Da in der realistischen Totalität des Schönen und des Hässlichen das ästhetische Credo romantischer Moderne sich einlöst, tritt die ›andere Seite‹ der Wirklichkeit aus der ästhetischen Bedrückung des nur Schönen heraus. Als drei Jahrzehnte nach Stendhals und Hugos Vorstössen die Bilder des Nicht-mehr-Schönen (die Armen, die Prostituierten, die Entstellten und Hässlichen, die Verwesung, das Blut, der Eiter, die lesbische und die sadistische Liebe) Baudelaires (1821–1867) Lyrik überfluten, da leitet man bekanntlich gleichwohl gegen den Autor und seine Verleger ein Verfahren — wegen Beleidigung der öffentlichen Moral — ein. Keinesfalls ist es noch der Kunst erlaubt, ›alles‹ zu sagen: De bonne foi, croyez-vous qu’on puisse tout dire, tout peindre, tout mettre à nu, pourvu qu’on parle ensuite du dégoût né de la débauche et qu’on décrive les maladies qui la punissent? Messieurs, je crois avoir cité assez de passages pour affirmer qu’il y a eu offense à la morale publique. Ou le sens de la pudeur n’existe pas, ou la limite qu’elle impose a été audacieusement franchie.78
Vielmehr wurden dem Künstler — wie hier Baudelaire vom Staatsanwalt Pinard — auch (und gerade) im Jahre 1857 die gebotenen Grenzen von Scham und Anstand vorgehalten: Die klassizistische Dezenzbedingung des Schönen trat zur Zeit des Second Empire als Massregelung im Namen des Sittlichen, Moralischen, Wohlanständigen auf. — Der Prozess, den der Staat 1857 gegen Baudelaires Gedichtband anstrengte (im selben Jahr gab es übrigens eine gleichlautende Anklage gegen Flauberts Madame Bovary, wie sich ohnedies bereits seit 1852 die Verfahren gegen die Kunst im Namen der bürgerlichen Moralität häuften: Verantworten mussten sich nacheinander die Brüder Goncourt (1853), Xavier Montépin für Les Filles de plâtre (1856), 1857 neben Baudelaire und Flaubert zudem Eugène Sue (Les Mystères du peuple), 1861 Catulle Mendès für seinen Roman d’une Nuit, 1865 Henry Monnier (Deux Gougnottes), 1868 schliesslich Paul Verlaine (Les Amies)), weist am Ende deutlich auf ein die Historie vom ästhetisch Hässlichen, Schrecklichen, Bösen umgreifendes Problem: dasjenige von Kunst und Moral. Die Kunsttheorien des (klassisch-idealistischen) Schönen und des (nachrevolutionären romantischen) Nicht-mehr-Schönen beantworteten sie in charakteristisch differenter Weise. Eine klassische Ästhetik nämlich wahrt — gemäss der platonischen Formel vom Schönen, Wahren, Guten — die Verträglichkeit mit der Ethik. So wird — nach der Dezenz einer nachcartesianischen französischen — namentlich die deutsche Ästhetik ein Hässliches im Ästhetischen nur zulassen unter der Bedingung, dass es auf einen letztendlichen Sinn, auf eine finale Ordnung noch verweise: Seit Lessings bürgerlichem Trauerspiel bedürfen die Gewalt und das Leiden der metaphysischen Legitimation, muss sich aller individuelle Schmerz schicksalhaft in die erlösende Apotheose eines in der höheren Ordnung gesicherten Opfervollzuges fügen. — Als dann Schiller — und dies nur kurz nach den Räubern (1781 /82) — in seinem Mannheimer
77. Ibid., S. 425 f. 78. Baudelaire, Charles, Œuvres complètes, Pichois, Claude (ed.), Paris 1976, Bd. 1, S. 1207.
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Vortrag über die Frage Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (1784) ein Konzept des Dramas als Instrument zur Beförderung der Aufklärung vermöge der Belehrung des Publikums entwickelt, da kalkuliert er gleichwohl auf die besondere Überzeugungskraft, die aus der ästhetischen Erschütterung entspringt: Das Drama sollte die höheren Vernunftbegriffe, die die theatralische Handlung veranschaulichte, in unmittelbarer Evidenz den Gemütern einprägen. Dass damit die Überwältigung des Publikums nach dem wirkungsästhetischen Prinzip zur Bedingung der Möglichkeit der ›ästhetischen Erziehung der Menschheit‹ wurde, machte diese jedoch bereits problematisch. War nämlich dem jungen Schiller die Tragödie der Schauplatz, an dem das Obwalten einer sittlich-vernünftigen Weltordnung offenbar werden sollte, so musste doch der Dramatiker, um deren Existenz zu zeigen, stets den zugrunde gelegten historischen Stoff verändern. Dann aber wurde in Schillers Praxis — Vorsehung und Sinn in den Verlauf der Historie erst nachträglich einzusetzen — auch die Möglichkeit der ideologischen Verkehrung sichtbar, die seine optimistische Idee der Aufklärung durch die Kunst bereits in sich birgt. Vernunft entlarvt sich hier — wie zuerst Horkheimer / Adorno an der Doppelsinnigkeit der Kant’schen Begriffe demonstrierten79 — als neutral ihren Zielen gegenüber, und das wirkungsästhetische Erziehungsprojekt des Schaubühnen-Aufsatzes wird folglich aufgrund einer berechnenden, instrumentellen Vernünftigkeit funktionieren müssen, wie sie konsequent und vorurteilslos nicht allein Sade praktizierte, sondern auch bereits Schillers Franz Moor: Er entwickelte aus der Logik der reinen Vernunft eine — streng rationalistische, materialistische, anti-moralische — praktische Philosophie des individuellen Egoismus, wie sie mit der etwas späteren bei Sade sich durchaus verträgt. Doch liess noch Schiller Moor im Drama scheitern. — Für die deutsche Ästhetik vermochte zuletzt Hegel das Bündnis zwischen Ethik und Ästhetik festzuzurren: Hegels Kunsttheorie ruht auf der Auffassung des Kunstschönen als des sinnlichen Scheinens der Idee, und sie argumentiert in streng idealistischer Perspektive. Da die anschauliche Manier der Erkenntnis durch die Kunst, die in der Tragödie ihre Vollendung findet, einen Abschnitt im geschichtlichen Werden des Geistes bildet — um dann, am vielzitierten Ende der Kunst, durch die Philosophie abgelöst zu werden — sind Hegels ästhetische Begriffe so bestimmt, dass sie systematisch mit den historischen und moralischen sich vertragen. So wandert die Theodizee einer sittlich-vernünftigen Weltordnung — als Theodizee des Sinns, als Epiphanie des Absoluten — in Hegels Bestimmung der Kunst ein. Damit aber wird — im Dienst des philosophisch Vernünftigen und Wahren — ein ästhetisch Hässliches weggearbeitet und der Ästhetik das Schöne allein gemäss. Das Hässliche verfällt der Ächtung der Negativität: Nicht alleine darf es bestehen, hinzukommen muss stets ein anderes Moment, das über das »Quälen des Leibes und der Seele herausragt und sich gegen die affirmative Versöhnung hin wendet. Dies ist die Versöhnung des Geistes in sich, die als Zweck und Resultat der durchduldeten Greuel gewonnen wird«.80 — Einem (autonomen) Hässlichen ist so der Boden restlos und endgültig entzogen. Anders eine Ästhetik des Obszönen, wie sie auf Sade zurückgeht und die französische Literatur (über Gautier, Baudelaire, Flaubert, Rimbaud, Lautréamont, Huysmans bis zu den
79. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, S. 90. 80. Hegel, Ästhetik, in: ders., Werke, op. cit., Bd. 14, S. 162.
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Surrealisten) nachhaltig bestimmt hat: Denn ganz im Gegensatz zu einem Vernünftigen, Schönen, Moralischen gewinnt das ästhetisch Obszöne — das Hässliche, Böse, Schreckliche — Autonomie aus dem Akt der Überschreitung, den bereits Sade im berühmten Motto ›Point de voluptés sans crime‹ mit dem schlechthin lustvollen Effekt verbunden hatte. — Wie jene Geste der Überschreitung funktioniert, die stets dem Obszönen zugrunde liegt, das hat Pierre Klossowski systematisch am Beispiel Sades demonstriert: In seinem Essay Le Philosophe scélérat (1947)81 zeigte er die »transgression de la loi« als das Gesetz, das den Sade’schen Libertins die ausdrückliche, wissentliche Missachtung des (moralischen) Verbots zum Grund des Vergnügens macht. Die Transgression ist Rezept zur Erzeugung alles Bösen, Perversen, Abseitigen und daher Modell der (Sade’schen) obszönen Ästhetik. — Auch Georges Bataille (1897–1962) sah dann wieder die irritierende Kraft des Obszönen und die Lust, die aus ihrem blasphemischen Vollzug entsteht, und verankerte sie im Kern seiner ästhetischen Theorie — die zugleich eine Theorie literarischer Moderne und des ästhetisch Hässlichen ist. Denn wenn Bataille in der Geste der Transgression die Möglichkeit der obszönen Tat begründete, systematisch alles Idealische, Schöne zu missachten, zu besudeln, zu demütigen: »la beauté, dont l’achèvement rejette l’animalité, est passionnément désirée, c’est qu’en elle la possession introduit la souillure animale. Elle est désirée pour la salir. Non pour elle-même, mais pour la joie goûtée dans la certitude de la profaner«,82 dann wollte er — angesichts des allesbeherrschenden Rationalismus der Moderne — jene obszöne, blasphemische Praxis zum Projekt aller autonomen Kunst erklären. Seither ist das dezidiert obszöne Anti-Ästhetische — das darin besteht, das Wahre, Gute, Schöne zum Hässlichen, Bestialischen, Schmutzigen umzustülpen — mit einer ästhetischen Moderne auch theoretisch identisch, die dies praktisch ohnehin vorgeführt hatte: Von Sades libertinen Exzessen zu Baudelaires Ikonen der lasziven Sexualität und des verwesenden Ekelhaften, von Flauberts Versuchungen des heiligen Antonius zu Rimbauds Programm des ästhetischen Wahnsinns (»dérèglement de tous les sens«),83 von Lautréamonts Imaginationen vom Kindlichen, Reinen, Schuldlosen, das nacheinander zerschmettert, zerwalkt, zerstückelt und ausgeweidet wird, bis zum surrealistischen Versuch, den Rationalismus durch den Traum, durch das Unbewusste und das konvulsivisch Schöne auszuhebeln. Höhnisch hat auch der Ästhetizismus einen ethischen Vorvertrag des Ästhetischen aufgekündigt: »neither art nor science knows anything of moral approval or disapproval«,84 notiert Oscar Wilde (1854–1900) in seinem Essay Pen, Pencil, and Poison (1889 /91), und bereits 1827 erklärt Thomas de Quincey unter dem Stichwort On Murder, Considered as One of the Fine Arts: »Everything in this world has two handles. Murder, for instance, may be laid hold of by its moral handle […]; and that, I confess, is its weak side; or it may also be treated aesthetically,
81. Klossowski, Pierre, Le Philosophe scélérat, in: ders., Sade, mon Prochain — précédé de »Le Philosophe scélérat«, Paris 1967, S. 15–54. 82. Bataille, Georges, L’Érotisme, in: ders., Œuvres complètes, Bd. X, Paris 1987, S. 143. 83. Rimbaud, Arthur, »Lettre à Paul Demeny (15 mai 1871)«, in: ders., Œuvres complètes, Paris 1979, S. 249–254, hier: S. 251. 84. Wilde, Oscar, Pen, Pencil, and Poison, in: ders., Complete Works, With an introduction by Vyvyan Holland, London / Glasgow 1966, S. 993–1008, hier: S. 1008.
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as the Germans call it — that is, in relation to good taste«;85 für die deutschen Ästhetiker wagte sich nur K. Ph. Moritz (1756–1793) einmal zu erklären, dass wir »im Grunde unsers Herzens kleine Neronen [seien], denen der Anblick eines brennenden Roms, das Geschrei der Fliehenden, das Gewimmer der Säuglinge gar nicht übel behagen würde«.86 — Dass Goethe (1749–1832) die Lektüre der Romane Hugos abbrach, weil er die »grenzenlosen Schrecknisse« und »Abominationen«, das »Hässliche, das Abscheuliche, das Grausame, das Nichtswürdige« der Hugo’schen Sujets für unerträglich hielt,87 dass dann in der Mitte des 19. Jh.s noch Karl Rosenkranz (1805–1879), als er sich mit dem ästhetisch Hässlichen beschäftigte, zu dem apodiktischen Fazit kam, das Hässliche müsse »durch die Kunst von allem heterogenen Überfluss und störsamen Zufall gereinigt und selbst wieder den allgemeinen Gesetzen des Schönen unterworfen werden«,88 während zur gleichen Zeit Baudelaire die Schönheit des Hässlichen und des Bösen (»la beauté du mal«)89 zum ästhetischen Programm seiner Lyrik erhob und erklärte, es sei eben die Kunst einer Sand, die unmoralisch sei, und nicht die Sades,90 — das mag der Geschichte einer Ästhetik des Hässlichen in den europäischen Literaturen zuletzt zum Fazit dienen.
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85. De Quincey, The English Mail Coach, op. cit., S. 49 f. 86. Zitiert nach Zelle, Carsten, »Ästhetischer Neronismus. Zur Debatte über ethische oder ästhetische Legitimation der Literatur im Jahrhundert der Aufklärung«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift 3, 1989, S. 397–419, hier: S. 419. 87. Brief an Zelter, 18. Juni 1831. In: Goethes Briefe, Bd. 4, S. 430–432. 88. Rosenkranz, Ästhetik des Hässlichen, op. cit., S. 44. 89. Baudelaire, Œuvres complètes, op. cit., Bd. 1, S. 181. 90. Ibid., Bd. 2, S. 68.
Ästhetik des Hässlichen
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Das Groteske Claude Gandelman †
Diese Untersuchung hat zum Ziel, der Genese und Entwicklung der Idee des Grotesken spurgetreu von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu folgen. Es wird sich erweisen, dass man zwei ›revivals‹ von Konzepten findet, die eher zum Manierismus des 16. Jahrhunderts als zur Aufklärung gehören — ›terribilità‹ und ›Physiognomik‹; ferner soll es einen Überblick über einige Verfahren und Figuren des Grotesken (als Kontrapunkt zum Theoretischen) während dieses ›goldenen Zeitalters‹ der volkstümlichen pornographischen und obszönen Zeichnungen geben. In diesem Zusammenhang soll versucht werden, die Auswirkungen der Revolution auf die Theorien des Grotesken zu zeigen. Darüberhinaus will diese Untersuchung die Entwicklung des ›Grotesken‹ — zunächst versteckt in einer Theorie des Erhabenen — über den vernichtenden Humor bis zur Vergötterung in der Hugoschen Theorie verfolgen, bis auch diese Vergötterung als dominante und umfassende Kategorie verlasssen wird, um in die Formenvielfalt einer radikal neuen ›Ästhetik des Hässlichen‹ zu zerfallen.
Schreckliches und Erhabenes Es ist zweifellos auf den ersten Blick paradox, diese Untersuchung über das Groteske mit der Theorie Edmund Burkes (1729–1797) zu beginnen, da sein Buch doch den Titel A Philosophical Enquiry into the Origins of our Ideas of the Sublime and the Beautiful1 (1757) trägt. Doch Burke formuliert in diesem kleinen Buch eine Theorie des Erhabenen, die ausdrücklich eine Theorie des Grotesken impliziert. Eine der zentralen Thesen ist, dass es Schreckliches im Erhabenen gebe: Whatever is fitted in any sort to excite the idea of pain, and danger, that is to say, whatever is in any sort terrible, or is conversant about terrible objects, or operates in a manner analogous to terror, is a source of the sublime; that is, it is productive of the strongest emotion which the mind is capable of feeling.2
Burke definiert das Erhabene durch »a certain mode of pain«, die, sofern nicht bis ins Extreme und zur Zerstörung der Persönlichkeit führend, »[…] capable of producing delight; not pleasure, but a sort of delightful horror, a sort of tranquility tinged with terror;[…]«3 ist. Obwohl er nicht ausdrücklich die umgekehrte These aufstellt, dass es Erhabenes in einem
1. Burke, Edmund, A philosophical enquiry into the origin of our ideas of the sublime and beautiful (1759), Menston 1970. 2. Ibid., vii, S. 58 (part I), sect. VII. 3. Ibid., vii, S. 257 (part IV), sect. VII.
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›ästhetisch Schrecklichen‹ geben könne, besteht für Burke kein Zweifel daran, dass Letzteres sich aus Ersterem ergibt. In diesem Sinne ist Burke eher ein Erbe des Manierismus des 16. Jahrhunderts als ein Zeitgenosse der ›Aufklärung‹. Was wir vor uns haben, ist die alte Idee der ›terribilità‹, die von den Theoretikern des italienischen ›Cinquecento‹ in den Vordergrund gestellt wurde — etwa von Vasari (1511–1574) in seiner Analyse der späten Werke Michelangelos. Dieser spricht in seinen Sonetten vom Entsetzen (»spavento«), das ihn inspiriere. Es ist nichts anderes als diese ›terribilità‹, die bei Burke wieder in Erscheinung tritt als integraler Bestandteil des Erhabenen. Vgl. seine Definition der »Darkness«: Darkness (is) terrible in its own nature. Perhaps it may appear on enquiry that blackness and darkness are in some degree painful by their natural operation, independent of any associations whatsoever. I must observe, that the ideas of darkness and blackness are much the same; […] Mr Cheselden has given us a very curious story of a boy, who had been born blind, and continued so until he was thirteen or fourteen years old; he was then couched for a cataract, by which operation he received his sight. […] Cheselden tells us, that the first time the boy saw a black object, it gave him great uneasiness; and that some time after, upon accidentally seeing a negro woman, he was struck with great horror at the sight.4
Ein anderer Aspekt der ›terribilità‹ ist der Gigantismus (Riesenhaftigkeit), der mit dem Erhabenen zusammengehe, jedoch nicht mit dem Schönen. The large and gigantic, though very compatible with the sublime, is contrary to the beautiful. It is impossible to suppose a giant the object of love. When we let our imaginations loose in romance, the ideas we naturally annex to that size are those of tyranny, cruelty, injustice, and every thing horrid and abominable …5
Zwischen 1789 und 1794 wandelt sich bei Burke der hypothetische Riese vom Synonym für die ›Angst-im-Erhabenen‹ zum realen und entfesselten Riesen — der Französischen Revolution.
Terror und Obszönität der Pariser Strasse Man weiss, dass Burke nicht nur ein ›Ästhetiker‹ war, sondern dass er sich auch für die Französische Revolution interessierte — um sie zu bekämpfen. Angesichts der ersten Phase der Revolution, in der sie der Welt ihre gewalttätige, blutige und königsmordende Seite enthüllte, wendet Burke das ästhetische ›Prinzip des Schrecklichen‹ auf den Bereich der Staatsgeschäfte an, wobei es zu einem politischen Prinzip wird. Aber es ist nicht nur, so Burke, das revolutionäre Frankreich, das sich dank des zivilen Schreckens ausbreitet. Der »terror« wird nach der blutigen Ära der Revolution zum wahren ›Motor‹ für die europäische Politik und Wirtschaft:
4. Ibid., sect. XV der Philosophical enquiry…, part IV, S. 275 f. 5. Ibid., S. 305 f.
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… terror as a principle, not only for the support of power in given hands or forms, but in those things in which the soundest political speculators were of opinion that the least appearance of force would be totally destructive; such is the market, wether of money, provision, or commodities of any kind. Yet for four years we have seen loans made, treasuries supplied, and armies levied and maintained, more numerous than France ever showed in the field, by the effect of fear alone.6
Die Revolution lebt weiter und breitet sich in der Welt durch ›Schrecken‹ und ›Angst‹ aus.7 Sie erhält sich aufgrund ihrer ›erhabenen Tyrannei‹, die sie mit einer verrückten Energie durchzusetzen weiss. ›Energie‹ — noch ein Schlüsselwort bei Burke, um das Phänomen des ›Schrecklichen‹ zu charakterisieren. Das Schreckliche ist somit nicht nur ein ästhetisches Prinzip, sondern ein ›Motor‹ der Geschichte, eine Quelle der Energie. Im Übermass führt diese Energie zur ›Vergewaltigung‹ der Königin Marie-Antoinette: A band of cruel ruffians and assassins, reeking with his blood, rushed into the chamber of the queen, and pierced with a hundred strokes of bayonets and poniards the bed […]8
Die ›symbolische Vergewaltigung‹ ist quasi-sexuell gemeint, denn Burke lässt dem Bericht von der Festnahme eine Volksorgie von »fervent prayer and enthusiastic ejaculation«9 folgen. Hier erhält die ›terribilità‹ des ›Erhabenen‹ eine sexuelle Färbung. Zweifellos sieht Burke in der Revolution eine Emanation der ›terribilità‹ im Reinzustand. Sie ist ihm ein ›misslungenes Erhabenes‹, d.h. eine Mutation des Erhabenen, die Victor Hugo später als »le Grotesque« definieren wird. Aber kannte Burke die grausame Realität des Schrecklichen und die obszöne Karikatur der Sansculotten genau? Es ist sicher, dass Burke über Berichte von Emigranten und englischen Reisenden verfügte. In bezug auf die Massaker an widerspenstigen Priestern zitiert Burke den an einen englischen Freund gerichteten und in der Tat grauenhaften Brief von Lally Tollendal, einem Mitglied der Nationalversammlung, den dieser vor seiner eigenen Enthauptung schrieb.10 Schliesslich steht auch fest, dass er schreckliche Illustrationen von Gillray sah, die z.B. eine Familie von Sansculotten zeigen, wie sie sich für ihre Abendmahlzeit um menschliche Überreste versammeln.11 Wie dem auch sei: Burke war sich dessen gewiss bewusst, dass es die ›terribilità‹ nicht nur in der Theorie gab, wie Burke in der Schrift über das Erhabenen feststellt, sondern auch in Realität. Dort besudelte sie die Herzen und Mauern von Paris mit Blut. Das wahre Gesicht dieses Schrecklichen war oft obszön, aber es enthielt das Bild der Pariser Strasse, die die
6. Burke, Edmund, Works. The writings and speeches of Edmund Burke, Langford, Paul (ed.), Oxford / New York 1981–1991, Band IV, S. 382 f. 7. Ibid., Band IV, S. 469–470. 8. S. Reflections on the Revolution in France, mit einer Einleitung von A. J. Grieve, London 1910, Reprint 1971, S. 68. 9. Ibid., S. 69. 10. Ibid., S. 71. 11. Der Titel lautet »Un petit souper à la Parisienne — or — A Family of Sans-Culotts refreshing after the fatigues of the day« und ist z.B. reproduziert in The Shadow of the Guillotine: Britain and the French Revolution, A British Museum Publication, Bindman, David (ed.), London 1989, fig. 81, S. 124.
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Aristokraten als Kot beschimpfte, wie sie dort auch in ihren Exkrementen schwammen.12 In einer Karikatur werden sogar alle Könige Europas defäzierend dargestellt. Bei dieser Karikatur handelt es sich nicht mehr um ›terribilità‹, sondern um Obszönität. Dieses ›Unbeschreibliche‹ theoretisch zu begreifen, wird erst von Rosenkranz in seiner Ästhetik des Hässlichen sechzig Jahre und zwei Revolutionen später versucht.
Humor und ›Verkehrte Welt‹ bei Jean Paul (1763–1825) Die Revolution, das Schreckliche und auch das ›ästhetisch Schreckliche‹ Burkes sind in der Vorschule der Ästhetik (erschienen 1804) von Jean Paul (Friedrich Richter) präsent. So, wenn er in bezug auf die Ideen des Humors im 33. Kapitel schreibt: […] sogar in dem französischen (Humor) erscheint die grande diablerie, nämlich eine Hanswursten-Quadrupelalliance von vier Teufeln. Eine bedeutende Idee! den Teufel, als die wahre verkehrte Welt der göttlichen Welt, als den grossen Welt-Schatten, der eben dadurch die Figur des Licht-Körpers abzeichnet, kann ich mir leicht als den grössten Humoristen und whimsical man gedenken, der aber, als die Moreske viel zu unästhetisch wäre; denn sein Lachen hätte zu viel Pein; es gliche dem bunten blühenden Gewande der — Guillotinierten.13
Die Revolution ist in dieser Passage durch die Anspielung auf die »Quadrupelalliance« präsent, insbesondere aber durch die Figur der Guillotinierten. Aber auch Burke ist gegenwärtig, weil der Humor als eine Art von Schrecken beschrieben ist, der lachen macht. Er ist zwar nicht das Erhabene als »pleasing terror« und ›Erschauern‹, aber er kommt dem nahe. Vielleicht hat Jean Paul, weil ihm das Schreckliche und das teuflisch Obszöne der revolutionären Strasse näher als Burke stand, später den Humor als Vision der Welt ›sub specie stultitionis‹ definiert? Diese Sicht ist in der Vorschule der Ästhetik vorherrschend. Nicht in das Erhabene, sondern in den Humor wird hier die Idee des Grotesken versteckt. Der Humor ist eine »humoristische Totalität« heisst es im 32. Kapitel, in dem er seine Idee der Umkehrung verfolgt, indem er den »Humor als das umgekehrte Erhabene« bezeichnet. Diese ist der zweite Bestandteil des Humors, als eines umgekehrten Erhabnen. Wie Luther im schlimmen Sinn unsern Willen eine lex inversa nennt […].14
Man sieht leicht, dass es sich um den Topos der ›verkehrten Welt‹, des ›mundus inversus‹ handelt. Er kommt bei Burke nicht vor — auch nicht im späteren Werk über das Erhabene — obwohl er dort erscheinen müsste, weil Burke die ›Revolution‹ im ethymologischen Sinn des Wortes als eine ›universelle Tollheit‹ ohne Grund und Boden behandelt. Auf Seiten der literarischen ›Praxis‹ und nicht mehr der Theorie des Humors ist es vor anderen Schriftstellern der Engländer Swift (1667–1745), der für Jean Paul zum Prototyp des
12. Reproduziert in meinem Buch Reading Pictures / Viewing Texts, Bloomington 1991, Fig. VIII.5, S. 98. 13. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, Werke, Miller, Norbert (ed.), München 1973, S. 130. 14. Ibid., S. 129.
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›umgekehrten‹ Humors wird. Von ihm heisst es: »Es gibt für ihn keine einzelne Torheit, keine Toren, sondern nur Torheit und eine tolle Welt […]«.15 Dennoch wird Swift beschrieben als »der halbwahnsinnige Swift«. Es ist diese Feier der universellen Verrücktheit, die für Jean Paul das Wesentliche des Humors ist, dass »[…] vor der Unendlichkeit ist alles gleich und Nichts« (so im 32. Kapitel).16 Und es ist dieser Humor, der den Begriff des Unendlichen wieder aufnimmt, der von Burke — und vor ihm von Pseudo-Longinus — dem Erhabenen zugeschrieben wurde. Die vernichtende oder unendliche Idee des Humors wird bei Jean Paul der Untertitel dieses wichtigen Kapitels heissen, will sagen, dass es sich beim Humor um eine wirkliche ›Verkehrung‹ des Erhabenen handelt. Obwohl Jean Paul so wenig wie Burke den Begriff des Grotesken benutzt, ist er es dennoch, von dem in der Vorschule der Ästhetik gehandelt wird. In diesem Punkt sind die Assoziationen von Jean Paul enthüllend. Der Humor, so sagt er, ist ein »diabolischer Hund«.
Revolutionäre ›Physiognomik‹ und Humor So findet man im 35. Kapitel den Untertitel Teufel und Hund, den Jean Paul von Madame de Sévigné übernommen hat, die in einem ihrer Briefe die Erklärung dafür gibt: »Le chien d’esprit que j’ai!« Im 6. Kapitel der Vorschule, das als Programm bezeichnet wird, und im 26. Unterkapitel über die Definitionen des Komischen hatte Jean Paul vom Bild des Tieres als »Menschenzerrbild« gesprochen, das zum Lachen bringen kann. Hier kommt eine seit der Antike bekannte Tradition, jene der ›grotesken Physiognomik‹ zum Durchbruch oder, genauer gesagt, jene Tradition der ›physiognomonia‹, wie z.B. Giovanni Battista della Porta im 16. Jahrhundert diesen Begriff benutzt. Wie die psychologische Theorie des Manierismus sieht Jean Paul enge Beziehungen zwischen der menschlichen und der tierischen Physiognomie: (Im Drama) muss der Dichter […], um sein Ideal durch den rechten Bund mit Affen-Gestalt und Papageien-Sprache auszudrücken und, gleich der grossen Natur, den Typus des göttlichen Ebenbildes durch das Tierreich der Toren fort[zu]führen!17
Das Drama — und das wird später von Victor Hugo ein wenig anders ausgedrückt — ist also das Genre, das den göttlichen Charakter des menschlichen Geistes in tierischer Form erscheinen lässt, und insofern die Vision einer Polarität aufrechterhält. Das ›Groteske‹ von Jean Paul reiht sich also weniger in die Burkesche Tradition des Schreckens als vielmehr in die ›pseudoaristotelische‹ Tradition der ›Physiognomik‹ ein, die von Giovanni Battista della Porta bis zu dem von Jean Paul oft zitierten Lavater reicht. Aber noch einmal spielt die ›revolutionäre Strasse‹ eine Rolle in der Ausarbeitung einer neuen ›Physiognomik‹. So kommen die Umkehrungen Mensch / Tier häufig in der Karikatur der Revolutionszeit vor. Seit 1791 zeigen eine Fülle
15. Ibid., S. 125. 16. Ibid., S. 125. 17. Ibid., S. 158.
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von volkstümlichen Stichen die königliche Familie und die Aristokraten mit Zügen von Schweinen, Schafen und Pfauen. Am Anfang steht der Stich mit dem Titel Die Schweinefamilie wird in den Stall zurückgebracht,18 der die königliche Familie nach ihrer misslungenen Flucht darstellt und auf dem Ludwig XVI. und seine Angehörigen mit Schweinekörpern ausgestattet sind. Diese Vorstellung wird wieder aufgenommen in dem Stich mit dem Titel Die zwei ergeben nur einen, der den König mit dem Körper eines Schweins zeigt.19 Ein Pendant zu diesem Stich präsentiert die Königin als Hyäne.20 Ein anderer, berühmter Stich zeigt Marie Antoinette als Strauss (ein Wortspiel zu ›Österreich‹: ›autruche‹ = ›Austriche‹) und lässt sie sagen: »Ich verdaue Gold und Geld mit Leichtigkeit, aber die Verfassung kann ich nicht schlucken«. Ein späterer Stich von 1794 zeigt den König von England als Eichhörnchen oder Hamster, der ein Rad dreht, auf dem Minister Pitt seine Messer schleift. Sein Titel: Die grosse königliche Schleiferei für englische Dolche.21 Schliesslich wird Bonaparte oft auf englischen Stichen — besonders von Gillray — mit den Zügen eines Krokodils dargestellt.22 Man sieht: Während Burke sich damit begnügt, von der ›Bestialität‹ der Revolutionäre zu sprechen, erhalten die von Jean Paul beschriebenen grotesken Figuren tierische Züge und hören auf, menschliche Gestalten zu sein. Wir sind versucht, hierin die Vision einer ›Geschichte als Groteske‹ zu sehen — einer Vision, die bis heute weiterbesteht. In diesem Sinn23 mag man Jean Paul den ersten modernen Schriftsteller, ja sogar einen Surrealisten nennen.
Hugo Victor Hugo (1802–1885) entwickelt den Begriff des ›Romantisch-Grotesken‹ im Vorwort seines Cromwell (1827). Cromwell ist für Hugo der erste revolutionäre Königsmörder. Hugo, der die Geschichte der Revolution genau kannte, wusste sehr wohl, dass der Name Cromwells seit Beginn des Jahres 1791 sehr häufig in den Reden jener Konventsmitglieder auftauchte, die den Tod des Königs forderten. Hugos Theorie des Grotesken verdankt somit auch der englischen Revolution nicht wenig. Infolgedessen sind die in der Préface des Cromwell aufgezählten Beispiele der ›schönen Themen‹, die von den Autoren des romantischen Dramas behandelt werden sollen, erschreckend: Locuste, die römische Giftmischerin im Dienste Neros, und Nero selbst hätten, so sagt Hugo, »cette admirable scène du banquet« liefern können, »où l’élève de Sénèque (Nero) empoisonne
18. Politique et Polémique: La Caricature française et la Révolution, 1789–1799, Burlingham, Cynthia / Cuno, James (eds.), Grunwald Center of the Graphic Arts, Wight Art Gallery, Los Angeles 1988, Abb. 3, S. 37. 19. Ibid., Abb. 82, S. 195. 20. Ibid., Abb. 82, S. 195, anonym, BN Qb1 25. Juni 1991. 21. Ibid., Abb. 113, von Dubois, BN Qb1 1994. 22. Siehe The Shadow of the Guillotine: Britain and the French Revolution, A British Museum Publication, Bindman, David (ed.), London 1989, Abb. 178, S. 48. 23. Siehe Jean Paul als Vorläufer des »Surrealismus« im Buch von …..
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Britannicus dans la coupe de la réconciliation« (S. 432). Hugo zeigt auch, dass die am besten gelungenen Stücke des Theaters der Antike oft »terribles« sind: Philoctète tombe dans ses accès de souffrance; un sang noir coule de sa plaie. Œdipe, couvert du sang qui dégoutte encore du reste de ses yeux qu’il vient d’arracher, se plaint des dieux et des hommes. On entend les cris de Clytemnestre que son propre fils égorge […]24
Die Revolution wird, wie zuvor bei Burke, von Hugo beschrieben, als besässe sie groteske Aspekte in ihrer ›terribilità‹. Im Roman Quatre-vingt-treize (1874) werden die Ratssäle des revolutionären Konvents als Groteske beschrieben. Der Erzähler, ein unparteiischer Beobachter und objektiver Historiker, sieht in den von zuschauendem Volk überbordenden Tribünen ›Kotzbrocken‹, die ihren Inhalt in alle Gänge ergiessen..25 Er berichtet vom Aufschrei der Deputierten angesichts der Architektur des Konvents: »C’est laid!«26 Der Erzähler selbst — d.h. hier ist es Hugo — ruft ein bisschen später aus: Le correct dans le farouche […] Ce genre de progrès aboutit à la laideur […] c’était quelque chose comme Boucher guillotiné par David.27
Das Ekelhafte, das Abstossende und das Satanische: Karl Rosenkranz (1805–1879) Im Gegensatz zur Préface des Cromwell erscheint das Groteske nicht als eigenständiger Begriff in Rosenkranz’ Ästhetik des Hässlichen (1853). Es wird nur im Zusammenhang mit dem Bizarren und dem Barocken als Unterkategorie des ›Burlesken‹ erwähnt. Zweifellos wollte Rosenkranz sich von den Theorien Hugos absetzen. Die Behandlung, die er Hugos Drama Le Roi s’amuse (1832) angedeihen lässt, zeigt, was er von dem französischen Dramatiker hielt: Er plaziert das Drama nicht nur in die Unterkategorie des ›Brutalen‹, sondern er beschreibt es als Geschmacksverirrung in der französischen Doktrin der Romantik: »das Schöne ist das Hässliche« (Rosenkranz). Dennoch muss man Rosenkranz als jenen Theoretiker ansehen, der den zuvor nicht anerkannten Typen des Grotesken ihren Platz einräumte, und damit »das Scheussliche«, »das Ekelhafte« wie auch Obszönität und Pornographie als Begriff einer allgemeinen Ästhetik darstellte. Den extremen Typus des Grotesken — wie auch immer ihn Rosenkranz benutzen mag — findet man hier zum ersten Mal in einem philosophischen System lokalisiert:
24. Hugo, Victor, »Préface Cromwell«, in: Théâtre complet I, Paris 1963, S. 433. 25. Hugo, Victor, Quatrevingt-treize, in: Romans, Guillemin, Henri (ed.), Paris 1963, S. 466. 26. Ibid., S. 466. 27. Ibid., S. 467.
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Claude Gandelman † Dreck und Koth sind ästhetisch ekelhaft … Die Derbheit der Sprache des Volkes liebt den Koth freilich als ultima ratio im Schimpfen, die absolute Nullität von etwas auszudrücken und das Maximum seines Abscheues zu bezeichnen…28
Die moderne Idee besteht darin, das Skatologische vor allem psycho-linguistisch zu begreifen. Wenn die Analyse der abwegigen Formen des Hässlichen sich so spät vollzog, dann lag es zweifellos daran, dass man nach einem halben Jahrhundert und zwei Revolutionen (die Revolution von 1848 mit eingeschlossen) in Europa offener und leidenschaftsloser darüber diskutierte, ›wovon man nicht spricht‹, d.h. über die ›dunklen Seiten‹ der Menschheit. Wenn auch zu jung für die revolutionären Karikaturen auf den Mauern von Paris, so hat Rosenkranz doch die Sammlungen von Stichen gesehen, die post factum erschienen waren — Augustin Challamels Histoire-musée de la République française depuis l’Assemblée des Notables jusqu’à l’Empire, 1842 in Paris veröffentlicht.29 Er hat auch in Paris ein ›Musée de la Caricature en France‹ besucht, … worin die Zerrbilder aus der Zeit der Fronde, der Huguenottenkriege, des Lawschen Geldschwindels, u.s.w. bis zur ersten Revolution nach den Originalen abgebildet sind.30
Rosenkranz erklärt im Vorwort seines Buches: »Der Begriff des Hässlichen, als des Negativschönen, macht also einen Theil der Ästhetik aus«. Trotz aller seiner Anstrengungen kann man nicht sagen, dass Rosenkranz wirklich eine dialektische d.h. dynamische Sicht der Beziehungen zwischen dem Schönen und dem Hässlichen erreicht hätte. Seine Kategorien bleiben statisch und scheinen ein für allemal fixiert zu sein. Im Gegensatz dazu hätte eine wirklich ›dialektische‹ Ästhetik eine Sicht der dynamischen und ständig sich ändernden Durchdringung der Kategorien des Schönen und Hässlichen geben können und der ständig sich ändernden Umkehrung ihrer Polaritäten.
Auswahlbibliographie Bindman, David, The shadow of the guillotine: Britain and the French Revolution, London 1989. Burwick, Frederick, The Haunted Eye: Perception and the grotesque in English and German Romanticism, (= Reihe Siegen, 70), Heidelberg 1987. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, in: ders., Werke, Miller, Norbert (ed.), München 1973. McNeil, David, The grotesque depiction of war and the military in eighteenth-century English fiction, London 1990. Meindl, Dieter, American fiction and the metaphysics of the grotesque, Columbia 1996. Novak, Maximillian E., »Gothic fiction and the grotesque«, in: Novel: A Forum on Fiction 13, 1979, S. 50–67. Platt, Kevin M. F., History in a grotesque key: Russian literature and the idea of revolution, Stanford 1997. Politique et Polémique: La Caricature française et la Révolution, 1789–1799, Burlingham, Cynthia / Cuno, James (eds.), Los Angeles 1988. Rosen, Elisheva, Sur le grotesque: l’ancien et le nouveau dans la réflexion esthétique, Saint-Denis 1991.
28. Rosenkranz, Karl, Ästhetik des Hässlichen, Gose, Walther / Sachs, Walter (eds.), Faksimile-Neudruck der Ausgabe Königsberg 1853, Stuttgart- Bad Cannstatt 1968, S. 315. 29. Ibid., S. 422. 30. Ibid., S. 422.
Das Groteske
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Spies, Bernhard, »Feuer im Palast zu Lilliput: Überlegungen zu Satire und Groteske im Jahrhundert der Aufklärung«, in: Arcadia 30:3, 1995, S. 303–315. Thomsen, Christian W., Das Groteske im englischen Roman des 18. Jahrhunderts: Erscheinungsformen und Funktionen, (= Impulse der Forschung, 17), Darmstadt 1974. Uruburu, Paula M., The gruesome doorway: an analysis of the American grotesque, New York 1987.
Mimesis und Imagination* Sabine Kleine
René Descartes (1596–1650) formulierte in der Mitte des 17. Jahrhunderts einen tiefgehenden Verdacht gegen die Sinneswahrnehmung und die Phantasie: denjenigen, sie täuschten systematisch das Subjekt. Jenem Verdacht Descartes’ liegt der Erkenntnisschock des nachkopernikanischen Menschen zugrunde: Kopernikus hatte — mathematisch — den Beweis erbracht, dass sich entgegen aller sinnlichen Evidenz nicht die Sonne um die Erde, sondern umgekehrt die Erde um die Sonne dreht; damals geriet die neuzeitliche Philosophie in eine schwere Krise. Sie gehoben zu haben, das ist recht eigentlich das Verdienst Descartes’: Er entwickelte die kritische Methode des reinen Denkens, dessen Ergebnisse — im Gegensatz zu den trügerischen, unüberprüften Urteilen aufgrund der Eindrücke der Sinne und der Einbildungskraft — stets als wahr, verlässlich, gültig angenommen werden konnten. Zunächst muss dazu das cartesianische Subjekt (in den Meditationes de prima philosophia; 1628 / 29, ersch. 1641) alle Eindrücke der Sinne, alle Begriffe des Gedächtnisses für nichtig erklären: »Suppono igitur omnia quae video falsa esse, credo nihil unquam extitisse eorum quae mendax memoria repraesentat«1 Die Ursituation der rationalistischen Philosophie ist folglich ein Vakuum des Wissens, denn das Ich muss erkennen, dass geradezu »ut maximè verum admisi, vel a sensibus, vel per sensus accepi«2 — doch darf es gerade den Sinnen sich nicht mehr ausliefern, will es nicht länger in Täuschung leben. — Descartes hat demonstriert, wie sich dann im einzelnen das Subjekt von diesem Punkt Null des Denkens aus als seiner selbst und der Dinge gewisses Ich (re-)konstruiert; es gelingt dies mit der Methode der rein rationalen Erfassung und Durchdringung aller Dinge ( — die das cartesianische Axiom des Zweifels an allen unüberprüften, scheinbaren Wahrheiten durchführt und zur rationalistischen Gewissheit hebt). Verdankt sich demnach die Konstitution des neuzeitlichen denkenden Subjekts der
* Zum Thema vgl. Apel, Friedmar, »Von der Nachahmung zur Imagination — Wandlungen der Poetik und der Literaturkritik«, in: Propyläen Geschichte der Literatur. Literatur und Gesellschaft der westlichen Welt, 4. Bd.: Aufklärung und Romantik (1700–1830), Nachdr. Frankfurt a.M. 1988, S. 75–100. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Ritter, Joachim (ed.), Darmstadt 1971–1995. Hier die Artikel »Einbildung, Einbildungskraft« (Bd. 2: D-F, 1972, Sp. 346–358), »Imagination« (Bd. 4: I-K, 1976, Sp. 217–220), »Mimesis« (Bd. 5: L-Mn, 1980, Sp. 1396–1399), »Phantasia« (Bd. 7: P-Q, 1989, Sp. 516–535). Literaturlexikon, Killy, Walther (ed.), München 1988–1993. Hier die Artikel »Mimesis« (Bd. 14: Begriffe, Realien, Methoden, Meid, Volker (ed.), 1993, S. 91–94), »Phantasie, Einbildungskraft« (ibid., S. 201–203). Petersen, Jürgen H., » ›Mimesis‹ versus ›Nachahmung‹. Die Poetik des Aristoteles — nochmals neu gelesen«, in: Arcadia XXVII, 1992, S. 3–46. Rosenmeyer, Thomas G., »FANTASIA und Einbildungskraft. Zur Vorgeschichte eines Leitbegriffs der europäischen Ästhetik«, in: Poetica XVIII, 1986, S. 197–248. Schweitzer, Bernhard, »Mimesis und Phantasia«, in: philologus LXXXIX (N.F. 43), 1946, S. 286–300. 1. Renati Des-Cartes Opera philosophica, Editio tertia. Nunc demum hac Editione diligenter recognita, & mendis expurgata, Bd. 1, Amsterdam 1654, S. 9. 2. Des-Cartes Opera philosophica, op. cit., S. 6.
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rationalistischen Methode des reinen Denkens, so gelingt andererseits die Inthronisierung der absoluten cartesianischen Vernunft erst durch die gleichzeitige Diffamierung von Phantasie, Sinneswahrnehmung, Einbildungskraft: Da nichts von dem, was das Ich »mit Hilfe der Einbildungskraft erfassen kann, Bezug […] auf die Kenntnis«3 hat, formuliert die cartesianische Philosophie den folgenreichen Imperativ, das denkende Subjekt solle seinen »Geist aufs sorgfältigste hiervon abwenden«4 (»Itaque cognosco nihil corum quae possum imaginationis ope comprehendere ad hanc quam de me habeo notitiam pertinere, mentemque ab illis diligentissimè esse avocandam, ut suam ipsa naturam quàm distinctissimè percipiat.«)5 und vielmehr seine »Gedanken von den Gegenständen der Einbildung zu den von aller Materie abgesonderten Gegenständen des reinen Denkens hin[]lenken«6 (»cogitationem à rebus imaginabilibus ad intelligibiles tantum, atque ab omni materia secretas convertere«).7 — Damit ist bei Descartes zum ersten Mal jene Spaltung von Ratio und Imagination, Phantasie, Einbildungskraft vollzogen, die dann eines der wirkungsmächtigsten Paradigmen der abendländischen Geistesgeschichte überhaupt darstellen sollte. Mit den Argumenten der cartesianischen Philosophie vermochte seither das rationalistische (philosophische) Projekt, das Vernünftigkeit und Wahrheit der Erkenntnis synonym fasste, alle Phantasie, alle Imagination ideologisch-kritisch abzudrängen. Doch blieb umgekehrt das — zwar verunglimpfte, keineswegs aber weggearbeitete — Potential der Einbildungskraft (die Täuschung des denkenden Subjekts durch seine Ablenkung vom absoluten Wahren der Vernunft) die grösste Irritation des abendländischen Rationalismus: Die Romantik sollte schliesslich hieraus dessen Dementi formulieren. Wenn Descartes selbst nicht ausdrücklich eine ahistorische Vorbildlichkeit der antiken Autoritäten — und mithin den Imperativ der ›imitation des anciens‹ — entmachtet hat, so erscheint deren Revision und Neubewertung nunmehr doch als unmittelbares, dringliches Desiderat. Deutlich wird dies bereits in der französischen Hochklassik — in der jansenistischcartesianischen Logique de Port-Royal (11662, 21664): Wenn dort Arnauld und Nicole Schönheit und Wahrheit aneinander koppeln: »il n’y a rien de beau, que ce qui est vray«,8 so ginge man fehl, rechnete man diesen Satz noch einem überkommenen platonischen Idealismus (und seiner Trias vom Wahren / Guten / Schönen) zu. Vielmehr gewinnt jenes klassische Schöne seine absolute metaphysische Dignität über die unveränderliche, zeitlose, ewige Gültigkeit des cartesianischen Vernunftprinzips: Die Formel vom Schönen = Wahren meint die Wahrheit der — neuen — rationalistischen Methode, und daher auch bezeichnet sie einen direkten Einspruch gegen die überzeitliche Gültigkeit der Muster der Alten (und auf ihr ruhte ja alle ›imitation des anciens‹): Die neue Ästhetik — etwa eines Jean Chapelain, der der eigentliche Gesetzgeber einer ›doctrine classique‹ (der Einsetzung von ›raison‹, ›règle‹, ›bon sens‹ und ›vraisemblance‹ als den
3. Descartes, Meditationen, op. cit., S. 21. 4. Ibid. 5. Des-Cartes Opera philosophica, op. cit., S. 11. 6. Descartes, Meditationen, op. cit., S. 44. 7. Des-Cartes Opera philosophica, op. cit., S. 25. 8. Arnauld, Antoine / Nicole, Pierre, L’Art de penser. La Logique de Port-Royal, Freytag Löringhoff, Bruno Baron von / Brekle, Herbert E. (eds.), 3 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1965–67, hier: Bd. 2, S. 196 (nach der Aufl. 1664).
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leitenden Prinzipien im Raum des Ästhetischen) war, fasste geradezu die Regeln der Kunst streng analog zu den mathematischen Gesetzen der heraufkommenden Naturwissenschaften.9 Die moderne cartesianische Philosophie erkennt kein antikes Vorbild mehr an, die rationalistischen Wissenschaften, die auf Descartes’ Methode sich gründen, haben mit den antiken nichts mehr gemein: Nach 1640 befand die neuzeitliche Menschheit das Antikenvorbild endgültig für überflüssig, ja sie fühlte sich im Gegenteil sogar den Alten überlegen und wurde erwachsen: die ›Moderne‹ gründet sich auf den Fortschritt der Gegenwart gegenüber der Antike. — Die Durchführung dieser optimistischen Selbstdiagnose der ›Moderne‹ war eines der Ergebnisse der ›Querelle des Anciens et des Modernes‹, die am 27. Jan. 1687 in einer Sitzung der ›Académie française‹ ausbrach: Bei der Verlesung von Charles Perraults (1628–1703) Huldigungsadresse Le Siècle de Louis le Grand (1687), die die unbedingte — kulturelle, wissenschaftliche, gesellschaftliche — Überlegenheit des absolutistischen Staates unter Louis XIV. gegenüber allen vergangenen Zeiten feierte, verliess Nicolas Boileau aufgebracht die Akademie. — Die Auseinandersetzung der ›Querelle‹ betraf dann die Frage nach dem Stellenwert der antiken Kunst in der Gegenwart des absolutistischen Frankreich. Bestand Boileau noch auf deren (ästhetischer) Vorbildfunktion auch für den modernen Menschen, so war es im Gegenteil Perraults Absicht (in der grossangelegten Parallèle des Anciens et des Modernes, 1688–1697), das Axiom der ›Nachahmung der Alten‹ endgültig zu entmachten: In allen Bereichen der menschlichen Kultur — den bildenden Künsten (Architektur, Plastik, Malerei), der Rhetorik, der Poesie und den exakten Wissenschaften — nahm sich Perrault vielmehr den Progress der Modernen gegenüber den Alten aufzuweisen vor. Doch liess sich dieser Vorsatz nur teilweise durchführen: Zu begründen vermochte Perrault das Gesetz des Fortschritts wohl für die Wissenschaften und die mechanischen nicht aber für die ›schönen‹ Künste: Im Ergebnis von Perraults Parallèle laufen erstmals eine rationalistische (technische) und eine ästhetische Moderne systematisch auseinander. Zwischen Antikennachahmung und modernistischem Fortschrittsoptimismus gerät damals die Ästhetik (als Theorie der gerade erst für eigenständig ausgemachten ›schönen Künste‹) unter erheblichen Begründungs- und Legitimationsdruck. Nach der ›Querelle‹ ist die Ästhetik — genauer die Bedingung ihrer Möglichkeit — erst zu begründen, und zwar zum einen abseits des desavouierten humanistischen Grundsatzes der Nachahmung der Alten, zum anderen mit und gegen jene gesellschaftliche, wissenschaftliche, moralische Fortschrittsgewissheit, die allein die ›schönen Künste‹ nicht einbegreift. — Noch aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammen zwei grundsätzlich verschiedene Lösungsversuche; beide geben eine umfassende Theorie der schönen Künste und beide greifen wieder auf den Grundsatz einer — freilich umgedeuteten — künstlerischen ›Mimesis‹ (grch. µιµεισJαι) zurück: Die klassizistische französische Kunsttheorie Charles Batteux’ (1713–1780) führte den ästhetischen Imperativ einer ›imitation de la nature‹ ein; eine sensualistische Kunsttheorie — nach Dubos (1670–1742) — fasste hingegen die ästhetische Nachahmung neu — als Ähnlichkeitsbeziehung zwischen (natürlichem) Vorbild und (künstlerischem) Abbild, die vermöge ihrer Wirkung auszumachen ist: Erregen Natur und Kunst dieselben Leidenschaften im Menschen, so
9. Chapelain, Jean, »Lettre à M. le Conte Girolano Graziani (29. Jan. 1669)«, in: ders., Lettere inedite a corrispondenti italiani, Ciureanu, Petre (ed.), Genova 1964, S. 179–182.
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ist diese als Kopie von jener anzusehen. Charles Batteux’ Schrift Les Beaux-Arts réduits à un même principe (1746) formuliert bereits im Titel das Projekt, die schönen Künste auf ein gemeinsames Grundprinzip zurückführen zu wollen. (Es ist dies vom Autor gemeint als Mittel gegen die unübersehbare Vielfalt der Regeln und Vorschriften im Ästhetischen: Alle Regeln zeigt Batteux als Ableitungen eines einenden ästhetischen Prinzips.) Was bereits 1716 LaMotte — allerdings allein für die Dichtung — als Gemeinplatz zitiert hatte: »On dit communément que la Poësie n’est qu’une imitation de la nature«,10 nimmt sich nun Batteux systematisch auf sämtliche schönen Künste zu applizieren vor: »Les Arts sont l’imitation de la Belle Nature«, — so lautet das Axiom, das seine gesamte Ästhetik begründet. Batteux ersetzt derart das hinfällig gewordene Konzept einer Nachahmung der Alten durch den mimetischen Imperativ der imitierenden Aneiferung an eine »Belle Nature«. (Dabei legitimiert Batteux jedoch gleichwohl noch die »imitation des anciens«: Sie ist ihm »Naturnachahmung zweiten Grades«, denn da die Kunst der Antike bereits dem Grundsatz einer Naturnachahmung folgte, ist auch die Imitation der Vorbilder der Alten wieder — mittelbar — eben dies.) Batteux fasst die ›schöne Kunst‹ allgemein als Nachahmung einer »schönen Natur«. Zwischen beiden — dem Vorbild (in der Natur) und dem Abbild (dem Kunstwerk) soll eine Ähnlichkeitsbeziehung bestehen. Diese Ähnlichkeit zwischen der Kunst (dem Nachahmenden) und der Natur (dem Nachzuahmenden) konzipiert nun Batteux — und hieran dann mag man seine Vaterrolle für eine klassi(zisti)sche Ästhetik nach 1750 erkennen — idealistisch-imperativisch: Kunst nämlich soll sich keineswegs einer empirischen, sondern vielmehr einer idealischen Natur aneifern: Das Leitbild des Mimetischen stellt eben nicht die einfache »nature« dar, sondern die »belle Nature«. Jene »schöne Natur« aber bezeichnet ein platonisches Ideal, — und es opponiert damit zugleich offen dem Impetus eines Erkenntniswillens, der sich auf das rationalistisch-naturwissenschaftlich Wahre bezieht: »la belle Nature […] n’est pas le vrai qui est; mais le vrai qui peut être, le beau vrai, qui est représenté comme s’il existoit réellement, & avec toutes les perfections qu’il peut recevoir«.11 So projektiert Batteux’ Begriff der ästhetischen Mimesis die Nachahmung nicht einer wirklichen, sondern einer schönen, vollkommenen Natur (einer Natur, wie sie sein soll) und somit ein idealisierendes Verfahren: Künstlerische Imitation besteht darin, die »plus belles parties de la Nature« auszuwählen »pour en former un tout exquis, qui fût plus parfait que la Nature elle-même«.12 Bereits am Beginn des 18. Jahrhunderts hatte der Abbé Dubos eine ganz andere Grundlegung einer Theorie der schönen Künste versucht: Dubos’ Réflexions critiques sur la poësie et sur la peinture (1719)13 begründeten damals zuallererst das Paradigma einer Wirkungsästhetik, wie es — in den romantischen Projekten des Schauerlichen und des Sublimen — weit bis ins nächste Jahrhundert fortleben sollte. Als Dubos das Instrumentarium einer ästhetischen Theorie
10. Zitiert nach Knabe, Peter-Eckhard, Schlüsselbegriffe des kunsttheoretischen Denkens in Frankreich von der Spätklassik bis zum Ende der Aufklärung, Düsseldorf 1972, S. 321. 11. Batteux, Charles, Les Beaux-Arts réduits à un même principe. Nouvelle Édition, Leiden 1753, S. 18 f. 12. Batteux, Les Beaux-Arts, op. cit., S. 6. 13. DuBos, Réflexions critiques sur la poësie et sur la peinture, Genf 1967.
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entwickelte, da hoffte er, die Kunst könne ein Therapeutikum gegen die grassierenden Übel des Ennui und der Melancholie darstellen.14 Dazu musste sie allein ›wirksam‹ sein, d.h. die Kunst musste die Leidenschaften (»passions«)15 des Rezipienten wecken. Dubos konzipierte dann seine Ästhetik als eine Ästhetik der Sensation (des sinnlichen, des emotiven Effekts), und er sah sich daher auch genötigt anzugeben, warum eigentlich die vermöge der Kunst artifiziell induzierten Leidenschaften den natürlichen für gleichwertig gelten sollten? Dabei stützt sich dann aber das Argument, das Dubos zur Legitimation dieser Annahme heranzieht, auf nichts anderes als eine — freilich neu interpretierte — ästhetische Mimesis: Les Peintres & les Poëtes excitent en nous ces passions artificielles, en présentant les imitations des objets capables d’exciter en nous des passions veritables. Comme l’impression que ces imitations font sur nous est du même genre que l’impression que l’objet imité par le Peintre ou par le Poëte feroit sur nous; […] La copie de l’objet doit, pour ainsi dire, exciter en nous une copie de la passion que l’objet y auroit excitée.16
Wie die klassizistisch-idealistische gewinnt auch die sensualistische Ästhetik Struktur am Paradigma einer künstlerischen ›imitation‹: Da Kunst — Dubos folgt hier dem kanonischen Begriff einer ›imitatio naturä‹ — Kopie der Wirklichkeit ist, sind natürliches Vorbild und ästhetisches Abbild sich dadurch ›ähnlich‹, dass das Kunstwerk dieselben Leidenschaften wie sein Vorbild erweckt: Das Kunstwerk erzeugt eine Natur zweiten Grades und daher auch Leidenschaften als Schatten der natürlichen (»phantômes de passions«).17 Künstlerische Mimesis beglaubigt sich bei Dubos sekundär: Im Effekt des Kunstwerks, der auf seinen ›natürlichen‹ Anlass verweist. Jenen beiden Ästhetiken — der idealistischen Batteux’ sowohl wie der sensualistischen des Abbé Dubos — war in ihrer französischen Heimat nur wenig Aufmerksamkeit beschieden. Und dennoch rückten sie im Laufe des Jahrhunderts zu den zwei grossen — gegensätzlichen — ästhetischen Schulen überhaupt auf. Dies zum ersten Mal im Heraufkommen einer deutschen Kunsttheorie: Orientierte sich die rationalistische (Regel-)Poetik eines Johann Christoph Gottsched (1700–1766) am Vorbild des klassischen französischen Theaters und nachdrücklich auch an Batteux’ Kunst- und Mimesisbegriff, so argumentierte sein Kritiker Lessing, geschult an Diderots Klassizismuskritik im Namen eines bürgerlichen Realismus, mit den — durchaus wirkungsästhetischen — Leitprinzipien der ›Rührung‹ und des ›Mitleidens‹. Als Johann Christoph Gottsched mit seinem Versuch einer critischen Dichtkunst (11730, 4 1751) die deutsche Ästhetik des 18. Jahrhunderts erst begründete, da wollte er bekanntlich ein deutsches Theater ganz nach dem Muster des klassischen französischen aufrichten. Theoretisch hat sich Gottsched an Batteux geschult, — den er durch die Brille der Wolff’schen Philosophie rezipierte. Wenn dann auch Gottsched wieder die Nachahmung der Natur zum Grundprinzip aller
14. Zelle, Carsten, »Angenehmes Grauen«. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert (=Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 10.), Hamburg 1987. 15. DuBos, Réflexions, op. cit., S. 11. 16. Ibid., S. 27 f. 17. Ibid., S. 27.
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Dichtung erklärt: »ein Poet [ist] ein geschickter Nachahmer aller natürlichen Dinge«,18 dann expliziert er die — im Mimetischen stets problematische — Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Natur und Kunst folgendermassen: Die Schönheit eines künstlichen Werkes […] hat ihren festen und nothwendigen Grund in der Natur der Dinge. Gott hat alles nach Zahl, Maass und Gewicht geschaffen. Die natürlichen Dinge sind an sich selber schön: und wenn also die Kunst auch was schönes hervorbringen will, so muss sie dem Muster der Natur nachahmen. Das genau Verhältnis, die Ordnung und das richtige Ebenmaass aller Theile, daraus ein Ding besteht, ist die Quelle aller Schönheit. Die Nachahmung der vollkommenen Natur, kann also einem künstlichen Werk die Vollkommenheit geben, dadurch es dem Verstande gefällig und angenehm wird: und die Abweichung von diesem Muster, wird allemal etwas ungestaltes und abgeschmacktes zuwege bringen.19
Es ist der Ähnlichkeitsbegriff der Wolff’schen (1679–1754) Metaphysik, den Gottsched damit in seiner Critischen Dichtkunst zum leitenden auch der Ästhetik erhebt: Wolffs Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele der Menschen, auch allen Dingen überhaupt (1719 / 20) hatten alle Ähnlichkeit zwischen Vor- und Abbild als Wiederholung der vernünftigen Beziehungen der Dinge der Natur bestimmt, die diesem wie jenem sich einprägen. In Gottscheds Anverwandlung wird daher Batteux’ idealistischer Imperativ — die Mimesis einer ›belle Nature‹ — vom ästhetischen zum metaphysischen (und dann zum moraldidaktischen) Leitprinzip: Eine (schöne) Natur wird zunächst dem Kunstwerk, das sie mimetisch (ähnlich) reproduziert, die in ihr waltende Dignität des Göttlichen mitteilen: Natur wie Kunst werden so zu Zeichensystemen von metaphysischer Bedeutsamkeit. Daher auch wird die Fabel (des Dramas, der Erzählung, des Romans) — exemplarisch — die sittlich-moralische Ordnung der Welt aufweisen. (Gottscheds Nachahmungsbegriff bleibt damit dem Projekt der Aufklärung und Besserung der Menschen verpflichtet.) Die klassische französische Ästhetik hatte die künstlerische Mimesis, ja das Wesen des Kunstschönen überhaupt auf die Vorgängigkeit eines cartesianisch-rationalistischen Wahren verpflichtet. Gottscheds Poetik hatte jenes französische Muster übernommen, wobei dann für das deutsche Theater der Belehrungsfunktion von Kunst (als Anleitung zum bürgerlich-Moralischen und -Wahren) stärkeres Gewicht beigemessen wurde ( — doch war ja auch das klassische französische Theater zuallererst gesellschaftliches Repräsentationssystem — der Macht im absolutistischen Staat gewesen). Nun begann sich etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts — bei Denis Diderot (1713–1784) und dann bei Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) — Widerspruch gegen jenen klassisch-klassizistischen Mimesisbegriff und die rein vernünftig-repräsentativ verstandene Ähnlichkeit zwischen Vorbild und künstlerischem Abbild zu erheben. Ausgehend von der Einsicht, dass allein die ›Rührung‹ des Zuschauers bzw. des Lesers das Gelingen des Kunstwerks ausmache, drangen Diderot und Lessing zu einem neuen kritischen Paradigma — demjenigen des (bürgerlichen) Realismus — vor; er bedeutete das Ende der klassizistischen
18. Gottsched, Johann Christoph, Versuch einer critischen Dichtkunst durchgehends mit den Exempeln der besten Dichter erläutert. Anstatt einer Einleitung ist Horazens Dichtkunst übersetzt, und mit Anmerkungen erläutert. Diese neue Ausgabe ist, sonderlich im II. Theile, mit vielen neuen Hauptstücken vermehret, Leipzig 41751, Nachdruck Darmstadt 51962, S. 98. 19. Ibid., S. 132.
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Bühnenpraxis (und die Ablösung der französischen durch die englische Musterkultur). Eine berühmte Passage der Bijoux indiscrets (1748) von Denis Diderot verspottet das klassische französische Theater à la Corneille und Racine: Der hohe Stil der Tragödie, die gestelzten Gebärden der Schauspieler, die (der Ständeklausel gehorchenden) Typen — all dies wird für unwahrscheinlich, wirklichkeitsfern, ja geradezu lächerlich erklärt. Unwahrscheinlich, wirklichkeitsfern, lächerlich deshalb, weil doch jene theatralische Manier ihr eigentliches Ziel nicht mehr erreiche: Der Zuschauer (des 18. Jahrhunderts) bleibe ihr gegenüber völlig gleichgültig. Dabei wisse — dies bemerkt Diderot in der Éloge de Richardson (1762) — die englische Dichtung ihre Rezipienten sehr wohl noch zu rühren: Die bürgerlichen Romane Samuel Richardsons nehmen den Leser (emotional) vollständig gefangen. Als Diderot dann Richardsons Werke in Hinsicht auf deren Mittel der ästhetischen Rührung untersuchte, da drang er (wohl) als erster zu einem Entwurf des Begriffes der vollkommenen ästhetischen Illusion vor. Sie sollte entstehen, wenn das Kunstwerk der Wirklichkeit nah und getreu erschien — in der Zeichnung der Personen und der Handlung, vor allem aber in der Darstellung der alltäglichen Details: Tritt der Leser, meint Diderot, in einen ästhetischen Raum ein, der sich vom realen in seiner (realistischen) Glaubwürdigkeit nicht unterscheidet, dann lässt die ästhetische Illusionierung ihn — man erinnere sich an Dubos’ Herleitung — am Fiktiven denselben Anteil nehmen wie am tatsächlich Wirklichen. Bei Diderot wird damals künstlerische Nachahmung zum synonymen Prinzip eines (bürgerlichen) Realismus. Lessing zog mit ganz ähnlichen Argumenten gegen das Gottschedianische und sein Vorbild — das klassische französische — Theater zu Felde. Er demontierte die gestelzten französisierenden Typen und setzte ihnen in der Hamburgischen Dramaturgie (1768 /69) den allein glaubwürdigen ›gemischten‹ (bürgerlichen) Charakter entgegen, — wobei auch Lessing die ästhetische Wahrscheinlichkeit — eines Charakters, einer Bühnenhandlung — als Gelingen der Illusionierung des Rezipienten dachte: Die Einfühlung eines bürgerlichen Publikums in die Personen auf der Bühne (die daher nach dem Mass des Alltäglichen möglich sein mussten) war die Bedingung alles kathartischen Mitleidens, auf dem Lessing seine Poetik des Trauerspiels gründete. Nun hat bezeichnenderweise Lessing seine Kritik an einem französischen Klassizismus nicht mehr am ästhetischen Paradigma Richardsons, sondern vielmehr an Shakespeare (1564–1616) entwickelt: nach den Mustern der Alten die Sache zu entscheiden, ist Shakespear ein weit grösserer tragischer Dichter als Corneille; obgleich dieser die Alten sehr wohl, und jener fast gar nicht gekannt hat. […] Nach dem Ödipus des Sophokles muss in der Welt kein Stück mehr Gewalt über unsere Leidenschaften haben, als Othello, als König Leer, als Hamlet etc.20
Es ist das Shakespeare’sche Exempel, an dem bei Lessing eine klassizistische Bühnenpraxis fragwürdig wird, und zugleich deutet sich in seinem Argument auch an, wie es in dieser Auseinandersetzung erneut um das Prinzip der künstlerischen Nachahmung — der Natur, der antiken Vorbilder — und seine Neubewertung gehen wird: Shakespeares Werk kann dem Vorbild der Alten entsprechen, obwohl er deren Werke gar nicht kennt, — denn: Shakespeare
20. Lessing, Gotthold Ephraim, Briefe, die neueste Literatur betreffend, in: ders., Werke und Briefe, Bd. 4: Werke 1758–1759. Literaturbriefe, Fabeln, Grimm, Gunter E. (ed.), Frankfurt a.M. 1997, S. 500 f.
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ist ein »Genie […] das alles bloss der Natur zu danken zu haben scheinet«.21 Alle klassische, vernünftig-moralische Naturnachahmung wird dann bald an der triumphalen Überlegenheit des Originalgenies zuschanden gehen. Shakespeare hatte — noch bevor er zur Waffe der anti-klassizistischen Kritik wurde — bereits die klassi(zisti)sche Ästhetik selbst in nachhaltige Schwierigkeiten gebracht: Die Bemühungen der Kritiker der Restaurationsepoche (Dryden, Rymer), Shakespeare als vulgär und ungebildet darzustellen, hatten nur kurzfristig Erfolg: Bereits der Klassizist Samuel Johnson schwankt in dem berühmten Vorwort seiner Shakespeare-Ausgabe von 1765 zwischen der Missbilligung von Shakespeares zügelloser Einbildungskraft und der Bewunderung seiner Dramen als Spiegel des Lebens, als unnachahmliches Theater des menschlich-Wahren und -Wirklichen. Ereiferte sich Gottsched 1742 noch just über die »Unordnung und Unwahrscheinlichkeit, welche aus dieser Hintansetzung der Regeln entspringen, die […] bey Schakespear so handgreiflich und ekelhaft [sind], dass wohl niemand, der nur je etwas vernünftigeres gelesen, daran sein Belieben tragen wird«, so täuschte er sich darin, denn es sollte sich gerade umgekehrt herausstellen, dass das Publikum »would […] rather read one of [Shakespeare’s] plays, where there is not a single rule of the stage observed, than any production of a modern critic, where there is not one of them violated!«22 — Addison hatte dies bereits 1714 vorausgesehen; Lessing »erkannte« dann in jenen geschmähten Hervorbringungen eines modernen Kunstrichters eben diejenigen Gottscheds. Vor Shakespeare versagt die klassizistische Kritik, denn seinem Werk gelten die Regeln des Theaters (die drei Einheiten, das Gebot der klaren Rede und des hohen Stils der Tragödie) nichts, und doch ist seine Grösse unleugbar. — Bereits 1725 schrieb Alexander Pope in der Einleitung seiner Shakespeare-Ausgabe: »The Poetry of Shakespeare was Inspiration indeed: he is not as much an imitator as an Instrument of Nature; and ’tis not so just to say, that he speaks from her, as that she speaks thro’ him«,23 und er formulierte hiermit bereits das grosse Stichwort der Shakespeare-Rezeption der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Da Shakespeare unmittelbares Instrument, Sprachrohr der Natur ist, geht sein Werk aller Nachahmung der Natur, aller Befolgung der poetischen Regeln, die doch selbst nur Ableitungen aus den Mustern des künstlerisch-Vorbildlichen sind, voraus: An Shakespeare entsprang damals der Gedanke vom (ästhetischen) Genie, den noch Kant in der Kritik der Urteilskraft (1790) dahingehend expliziert, das Genie sei jene »angeborne Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt«.24 Aus dem Gedanken eines schöpferischen Vermögens, das im Einklang mit den Kräften der Natur schafft, entwickelte dann Edward Young (1683–1765) in den Conjectures on Original Composition (1759) den Begriff des Originalgenies (und exemplifizierte ihn wiederum an
21. Ibid., S. 500. 22. The Spectator, Complete in one volume with notes, and a general index, London 1813, S. 845–847, hier: S. 847. 23. Zitiert nach Neumann, Eckhard, Künstlermythen. Eine psychohistorische Studie über Kreativität, Frankfurt a.M. /New York 1986, S. 37. 24. Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, in: ders., Werke in sechs Bänden, Weischedel, Wilhelm (ed.), Bd. 5, Darmstadt 1983, S. 405 f.
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Shakespeare). Allein die originale Komposition gilt Young mehr für gross; alles Nachgeahmte hingegen entwertet er — als Kopie — als ästhetisch minderwertig: an imitator shares his crown, if he has one, with the chosen object of his imitation; an original enjoys an undivided applause […] unprescibed beauties, and unexampled excellence, which are characteristics of genius, lie without the pale of learning’s authorities and laws.25
Das Originalgenie schafft nicht nach, sondern wie die Natur. Kunst wie Natur sind vielmehr ursprüngliche Produktion, und künstlerische Mimesis beglaubigt sich als Entäusserung der natürlichen schöpferischen Kraft des Genies. — Es war die deutsche ›Sturm und Drang‹Bewegung, die jenen Geniebegriff Youngs — über die Vermittlung der Naturphilosophie Shaftesburys — auf eine pantheistische Grundlage stellte und ihm derart eine subjektivistischexaltierte, irrationale Wendung gab. Shaftesbury hatte (so im »Advice to an Author« der Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times; 1711) noch stets die künstlerische Inspiration als die Freisetzung des Schöpferischen unter dem Einfluss einer formgebenden, harmonischen göttlichen Kraft sehen wollen: Sein Enthusiasmuskonzept vereinigte Ratio und Imagination, Verstand und Phantasie, und den schaffenden Künstler dachte er ausdrücklich nur als »secundus deus«, »Prometheus under Jove«. — Anders die deutsche Geniezeit: Als bei Herder das Ich mit dem innersten Wesen der Natur verschmilzt (da das Göttliche das waltende Prinzip eines beseelten Kosmos ist und zugleich in der Seele jedes einzelnen wohnt), ertönt im beispielgebenden Ausruf »Ich wie Gott!«26 die dem ›Sturm und Drang‹ typische Selbstvergöttlichung des Genies, deren stolzes Hochgefühl eigentlich nie mehr übertroffen wurde. Das Genie überschreitet alle Gesetze und stürzt alle Regeln um, es ist ganz Natur und rohe Kraft: In der Bewegung des ›Sturm und Drang‹ — auf ihrem Höhepunkt in den 1770er Jahren — ist die Geniebegeisterung der geistig-sittlichen Revolution gleichwertig, die die Enge der bürgerlichen Welt sprengen will und mit ihr alle Regeln und alle Tradition. Wie dem Genie alle Beschränkungen schädlich sind (»Schädlicher als Beispiele sind dem Genius Prinzipien. Vor ihm mögen einzelne Menschen einzelne Teile bearbeitet haben. Er ist der erste, aus dessen Seele die Teile, in Ein ewiges Ganze zusammen gewachsen, hervortreten.«),27 ist dem künstlerischen Ich die bürgerliche Lebensordnung unannehmbar; strebt dann das genialische Individuum dem aufs höchsten gesteigerten Gefühl, der rauschhaften Subjektivität, der imaginativen Exaltation zu, so formuliert sich derart zugleich das erste — ästhetische — Gegenprojekt zur bürgerlichen Regel, Ratio, Ökonomie im Namen von Individualität und Imagination. Wenn es dann der deutschen klassischen Ästhetik noch einmal gelingen sollte, jene aus den Fugen geratene genialische Einbildungs- und Schöpfungskraft zu stabilisieren, so hat sie dies wohl zuallererst der Kant’schen (1724–1804) Philosophie — ihrer rationalistischen Durchdringung und Rückführung des Geniebegriffs in der Kritik der Urteilskraft (1790) — zu danken:
25. Young, Edward, Conjectures on Original Composition in a Letter to the Author of Sir Charles Grandison, in: ders., The Complete Works. Poetry and Prose, Nichols, James (ed.), With a Life of the Author by John Doran (1854) (=Anglistica & Americana, 23.), Bd. 2, Hildesheim 1968, S. 547–586, hier: S. 552 / 557. 26. Herder, Johann Gottfried, Sämmtliche Werke, Suphan, Bernhard (ed.), 32 Bde., Berlin 1877–1913, hier: Bd. 6, S. 190. 27. Goethe, Johann Wolfgang, Von deutscher Baukunst, in: Goethes Werke, Stapf, Paul (ed.), Bd. 7, Wiesbaden 1976, S. 583–590, hier: S. 584.
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Kant verwies damals die produktive Einbildungskraft erneut auf Notwendigkeit des Vernünftigen und zeigte — gegen das Programm des exaltierten Genies des »Sturm und Drang« — gerade das harmonische Miteinander von Imaginatio und Ratio als Bedingung seiner Möglichkeit auf: »Die Gemütskräfte also, deren Vereinigung […] das Genie ausmachen, sind Einbildungskraft und Verstand«.28 — Die (Produktions-)Ästhetik der ›Weimarer Klassik‹ bezog gerade eine solche vermittelnde Position: Die wechselseitige Einheit und Bestimmung von Vernunft und Phantasie, Naturanlage und Fleiss, Inspiration und Arbeit, Stoff und Form equilibrierte einen klassischen, harmonisch gerundeten Kunstbegriff. Nun hatten zudem Kants Kritiken — allen voran die Kritik der reinen Vernunft (1781) — auch demonstriert (und dieses Ergebnis darf mit Recht für revolutionär gelten), dass das Wissen des Subjekts von der Welt keinen Anspruch auf eine ›objektive Wahrheit‹ machen könne: Nach Kant wird die Welt des Ich stets individuelle Setzung (Weltbild) sein, da alle Erkenntnis des Menschen von seinem Erkenntnisapparat — den Sinnen, den intellektuellen Vermögen — abhängt. Nie mehr kann die Idee des Subjekts von den Dingen dann noch wahr und gewiss i.S. eines cartesianischen Rationalismus sein. — Die klassischen und romantischen Poetiken haben aus dieser kantianischen Einsicht durchaus unterschiedliche Schlüsse gezogen: Suchte der klassische Idealismus der Welt der Erscheinungen noch einmal die vorgängigen Ideen des Schönen, des Sittlichen, des Wahren, die in der Natur nur unvollkommen und andeutungsweise erscheinen, zu entbergen, so wurde den Romantikern — nach Fichtes Kant-Umdeutung — die ›reale‹ Welt zur subjektiven Setzung ohne Vorrang vor anderen möglichen (beliebigen). Die Natur selbst ist nur eine Idee unseres Geistes, die nie in die Sinne fällt. Unter der Decke der Erscheinungen liegt sie, aber sie selbst kommt niemals zur Erscheinung. Bloss der Kunst des Ideals ist es verliehen, oder vielmehr: es ist ihr aufgegeben, diesen Geist des Alls zu ergreifen und in einer körperlichen Gestalt zu binden.29
So hat Friedrich Schiller (1749–1805) einmal den Imperativ formuliert, der eine klassische Kunst an den Erscheinungen der »Natur« die ästhetische Utopie des ›Ideals‹ entwickeln lässt. Damit wird erneut (wie schon bei Batteux) jene Natur — eigentlich die Idee der Natur — als wesentlich schön und vollkommen gedacht. Das Kunstschöne bringt erst die Idee des Naturschönen — vermöge einer idealisierenden ›imitatio naturä‹ — zur Anschauung. — Wenn also die deutsche idealistische Ästhetik ihren Begriff des Natur- und Kunstschönen in den Attributen der Einheit des Mannigfaltigen, des Masses, der Proportion und der Harmonie zwischen den Teilen und dem Ganzen (die sich alle schon bei Batteux finden) expliziert, so muss man dies nunmehr als Ableitungen eines organizistischen Modells des Schönen verstehen, das Natur und Kunst mimetisch aneinander bindet: Die Idee des lebendigen Organismus ist der Motor und das Mass dieser Ähnlichkeit, und die genannten Merkmale des Kunstschönen bestimmen das Kunstwerk als lebendige Einheit (als Organismus) — gemäss der Natur. Seither ist alle künstlerische Mimesis — als Nach-Bildung der Natur — Produktion, Schöpfung, Nach-
28. Kant, Kritik der Urteilskraft, op. cit., S. 417. 29. Zitiert nach Preisendanz, Wolfgang, »Mimesis und Poiesis in der deutschen Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts«, in: Rasch, Wolfdietrich / Geulen, Hans / Haberkamm, Klaus (eds.), Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Festschrift für Günther Weydt zum 65. Geburtstag, Bern / München 1972, S. 537–552, hier: S. 551.
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Schaffung des Lebenden. Karl Philipp Moritz (1756–1793) hat diese Wendung der klassischen Ästhetik in seinem Aufsatz Über die bildende Nachahmung des Schönen (1780) bereits einmal prägnant formuliert: Der Sinn […] für das höchste Schöne in dem harmonischen Bau des Ganzen, das die vorstellende Kraft des Menschen nicht umfasst, liegt unmittelbar in der Thatkraft selbst […] Sie greigt […] in der Dinge Zusammenhang, und was sie fasst, will sie der Natur selbst ähnlich, zu einem eigenmächtig für sich bestehenden Ganzen bilden. […] Jedes schöne Ganze aus der Hand des bildenden Künstlers, ist daher im Kleinen ein Abdruck des höchsten Schönen im grossen Ganzen der Natur.30
Noch in einem anderen Sinne sollte jenes Verständnis von Kunst als Schöpfung und lebendiger Produktion die deutsche klasssische Ästhetik prägen: Hatte noch Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) in den Gedancken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (1755) für die deutsche Klassik das Ideal eines absolut gültigen griechischen Schönen rehabilitieren und den ästhetischen Grundsatz der Nachahmung der Alten wieder aufrichten wollen, so wurde dieser Versuch mit Herders (1744–1803) Aufweis der historischen, geographischen, kulturellen Variabilität des Schönen hinfällig (Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, 1774). — Wie einst die französische, so steht damals die deutsche Klassik vor der Aufgabe, zwischen einem ›absoluten‹ (zeitlos gültigen) und einem ›relativen‹ (veränderlichen) Schönen zu vermitteln ( — und man hat in diesem Zusammenhang gelegentlich von einer deutschen ›Querelle des Anciens et des Modernes‹ gesprochen). Anders als die ein Jahrhundert zuvor ausgetragene französische führte aber die deutsche ›Querelle‹ nicht zu einem vereinseitigenden Bekenntnis zum beständigen gesellschaftlichen, kulturellen Fortschritt (vor dem die antiken Werke nicht bestehen konnten). Vielmehr entwickelten die deutschen Kunsttheoretiker — allen voran Friedrich Schiller und Friedrich Schlegel — auf der Grundlage eines historischen Entwicklungs- und Fortschrittsbegriffes eine ästhetische Geschichtsphilosophie; da sie diese teleologisch konzipierten, bündelte sie ein utopisches und ein idealistisches Potential: Sowohl Schiller (Über die ästhetische Erziehung des Menschen; 1795) als auch Schlegel (Über das Studium der griechischen Poesie; 1795 / 97) sehen mit der Kultur der Moderne die harmonische Einheit und Vollkommenheit des griechischen Menschen zerstört, doch beide deuten diesen Zustand für gattungsgeschichtlich notwendig: Nur die Zersplitterung des harmonischen griechischen Subjekts, nur die separate Ausbildung der verschiedenen menschlichen Vermögen könne die Menschheit über ihren ersten Höhepunkt zur Zeit der griechischen Antike hinausführen. Nicht mehr kann dann die Aneiferung an ein vergangenes griechisches Schönes das Ziel der Künste sein, sondern sie müssen auf eine höhere (historisch spätere) anthropologische Entwicklungsstufe vorausweisen — auf den ganzen Menschen, der seine Kräfte und Anlagen entwickelt hat und ein neues — der Moderne gemässes — Ideal verkörpert. — Wie in der klassischen deutschen Ästhetik derart ein geschichtsphilosophischer und ein ästhetisch-moralischer Idealismus (die Bildung des Menschen, die Epiphanie des Wahren / Guten / Schönen) miteinander vermittelt sind, so kann auch beispielsweise Schillers
30. Moritz, Karl Philipp, Über die bildende Nachahmung des Schönen, in: ders., Schriften zur Ästhetik und Poetik. Kritische Ausgabe, Schrimpf, Hans Joachim (ed.), Tübingen 1962, S. 63–93, hier: S. 73 f.
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Begriff der ›Freiheit‹ sowohl einen ästhetischen Zustand — das freie Spiel der menschlichen Vermögen, die im Raum des ästhetischen Scheins keiner Bestimmung und keiner Notwendigkeit unterliegen — als auch das Verhältnis des Subjekts zum Walten der Geschichte (des Schicksals) zugleich bedeuten, und noch Hegels — ebenfalls geschichtsphilosophisch angelegte — Ästhetik setzt ja die Kunstepoche als ein Stadium im historischen Prozess des Werdens der Idee: Sie meint die Zeit ihres sinnlichen Scheinens, d.h. ihrer noch der Wahrnehmung verhafteten und nicht bereits rein philosophisch-intellektuellen Epiphanie. Wenn nach Kants Kritiken von einer ›wahren‹ Welt nicht mehr gesprochen werden kann, sondern allein mehr von einer subjektiven, erdachten, dann wird ihre Vermittlung mit einem Idealischen, wie es noch das optimistische Projekt der deutschen Klassik bestimmt, den Romantikern problematisch: Bereits die Frühromantiker erkannten eine nach-kantianische Wirklichkeit als totale Illusion (als autonome Setzung der subjektiven Einbildungskraft); die — deutsche, anglo-amerikanische, französische — romantische Dichtung stiess, als sie systematisch neue, mögliche Welten zu imaginieren begann, je und je auf die Grenze, da eine absolute Imagination kollabiert. Das frühromantische Projekt der totalen Einbildungskraft beginnt mit der Rezeption und Anverwandlung der Fichte’schen Ich-Philosophie. Fichtes (1762–1814) Wissenschaftslehre (1794 / 95), die als Kant-Kommentar gedacht war, hatte demonstriert, wie die gesamte Welt aus der Tätigkeit und gegenseitigen Bestimmung der Kategorien des »Ich« und des »Nicht-Ich« hervorgehen konnte. Jenen Gedanken einer radikal subjektivistischen Erkenntnistheorie — die Wirklichkeit als Produktion (»poesis«) des Ich — übertrug dann die Frühromantik in den Bereich der Poesie. — Es war vor allem Novalis (1772–1801), der in seinen Reflexionen aus den Jahren 1797 / 98 das romantische Projekt der radikalen Autonomie der Einbildungskraft theoretisch entwarf. Ausging Novalis von einem »absoluten Ich« und seiner konstruktivimaginativen Tätigkeit, die Fichte als das einzig produktive Vermögen überhaupt gedacht hatte. Novalis verschärfte noch den Subjektivismus der fichteanischen Herleitung: In dem berühmten Satz des Allgemeinen Brouillon (1798 / 99): »Ächter Fichtism, ohne Anstoss — ohne Nicht-Ich — in seinem Sinn«31 tilgte er mit dem Nicht-Ich eben jene einzige Kategorie, die bei Fichte noch dem Ich systematisch gleichwertig gegenübergestanden hatte. Dann aber wird erst das (früh-) romantische Ich zum wahrhaft absoluten, wird auch die Einbildungskraft zur »Mater aller Realität«.32 Novalis nennt folglich die »produktive Imagination«33 »absolute Erfindungskunst« und »Erfindungskunst ohne Data«,34 und die Welt als ihr Produkt ist rein subjektive Setzung, der »enzyklopädische[] systematische[] Index oder Plan unsers Geistes«35 ( — und hieraus ergibt sich bereits der romantische Begriff der Analogie von Innen und Aussen, Subjekt und Objekt, Kunst und Natur). Das ästhetische Programm der Frühromantik gilt einer weitreichenden Utopie: der totalen
31. Novalis, Schriften, Kluckhohn, Paul / Samuel, Richard (eds.), Stuttgart 21960–1988, hier: Bd. 3, S. 385. 32. Ibid., Bd. 2, S. 178. 33. Ibid. 34. Ibid., Bd. 3, S. 388. 35. Ibid., Bd. 2, S. 583.
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schöpferischen Imagination. Der Impetus der Poetisierung der Welt beinhaltet eine vorgängige Analogie von Kunst und Natur (und dies ist die romantische Anverwandlung der traditionellen künstlerischen ›Mimesis‹) in diesem Sinne: Dass beide ästhetisches Produkt, kreative Setzung des Ich, »poesis« sind. — Nun kann man aber, dies haben die Theoretiker der Romantik ausdrücklich formuliert, über eine romantische Ästhetik nicht anders sprechen als im Medium der Kunst selbst: Es »lässt sich […] nicht reden von der Poesie als nur in Poesie«.36 Wendet man sich — denn das romantische Kunstwerk enthält (dies will Schlegels Satz ebenfalls besagen) seine Ästhetik, seine Theorie stets bereits in sich selbst — den Begriffen der subjektiven Imagination und der schöpferischen Einbildungskraft zu, wie er in den Texten der Romantiker sich ausgeprägt hat, so trifft man bereits gleichzeitig mit jenem optimistischen Programm der totalen Imagination (als der neuen Mythologie), das Novalis in seinem Roman Heinrich von Ofterdingen (1802) durchgeführt hatte, auf eine ganz andere — kritische, negative — Phantasie: Von Beginn an ist den frühen Romantikern bereits das Credo der radikalen subjektivistischen Einbildungskraft problematisch. Die Kritik an der Imagination war damals nicht neu; sie stammt, wie wir gesehen haben, aus den cartesianischen Schriften, und sie lebte in deren Anverwandlungen im 17. Jahrhundert (in Nicolas Malebranches Pathologie der Einbildungskraft)37 und vor allem in der Populärphilosophie des 18. Jahrhunderts weiter fort: Eine Phantasietätigkeit, die der Kontrolle der Vernunft nicht mehr unterliege, meinte man allenthalben, sei Grund und Anlass zu Überspannung, Fanatismus und gar zum Wahnsinn. — Tatsächlich trifft man just auf diesen Zusammenhang, wenn man die Literatur um 1800 auf das Paradigma der Imagination hin befragt. Bereits in der Spätaufklärung — bezeichnenderweise bei Karl Philipp Moritz (Anton Reiser, 1785–90), dem Herausgeber eines Magazins für Erfahrungsseelenkunde–und dann in Goethes Werther (1774) war die Wesensbeziehung von totaler künstlerischer Subjektivität und Narzissmus, produktiver Imagination, egoistischer Überformung der Wirklichkeit und Grausamkeit bereits aufgetaucht: Stellte Moritz’ Roman die Vita des Anton Reiser unter das Motto der »Leiden der Einbildungskraft«,38 die ihr Subjekt zu zerstören drohen, so endet Werthers schwärmerische Hingabe an die unerreichbare Lotte tatsächlich mit dem Selbstmord. Als dann die Romantiker die absolute Imagination zu ihrem ästhetischen Programm erhoben, da wussten sie von Anfang an ums Kritische, Abgründige jener (subjektivistischen) Phantasie. Schon den frühen romantischen Texten kann man dies deutlich abmerken. Wenn etwa in Wackenroder / Tiecks Herzensergiessungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796) der Maler Piero di Cosimo im »Innere[n] mit einer immer gärenden Phantasie erfüllt [ist …], so dass sein Gemüt immer in unruhiger Arbeit war«,39 wenn seine Phantasie »unaufhörlich, wie siedendes Wasser
36. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Behler, Ernst (ed.), 35 Bde., Paderborn / München / Wien 1958–1995, hier: Bd. 2, S. 285. 37. Vgl. Malebranche, Nicolas, Recherche de la vérité: ou l’on traité de la nature de l’esprit de l’homme et de l’usage qu’il en doit faire pour éviter l’erreur dans les sciences, in: Œuvres de Malebranche (= Bibliothèque des textes philosophiques), Rodis-Lewis, Geneviève (ed.), Bd. 1–3, Paris 1962–1964. 38. Moritz, Karl Philipp, Anton Reiser, in: ders., Werke, Günther, Horst (ed.), Bd. 1: Autobiographische und poetische Schriften, Frankfurt a.M. 1981, S. 33–399, hier: S. 95. 39. Wackenroder, Wilhelm Heinrich, Werke und Briefe, Heinrich, Gerda, München /Wien 1984, S. 383–385, hier: S. 195.
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im Kessel kochte, […] Schaum und Blasen auftrieb«,40 dann trägt die künstlerische Einbildungskraft bereits in ihrer frühromantischen Initiation das Stigma des Monströsen an sich. — Es macht nun gerade die Haltung der Romantik aus, dennoch am ästhetischen Absolutum der subjektiven schöpferischen Imagination festgehalten zu haben: Da sie Voraussetzung aller Kunst überhaupt ist, ist sie geradezu die Bedingung der Möglichkeit der Poesie, und sie bleibt es auch noch als selbst negative. Es war E. T. A. Hoffmann (1776–1822), der dies nicht nur in aller Radikalität eingesehen hat, sondern der gerade hierauf — auf jene exaltierte künstlerische Imagination, die zur Destruktivität und zum narzisstischen Kollaps neigt — seine Poetik gründete: die Poetik des ›Serapiontischen‹. Ausdrücklich formuliert Hoffmanns ›serapiontisches Prinzip‹ noch einmal das Programm der absoluten romantischen Imagination als unmittelbare Entgegnung auf die Frage: Wie im künstlerischen Akt das Verhältnis der kreativen Imagination zur äusseren Realität zu bestimmen sei? Das ›Serapiontische‹ bestimmt somit Kunst am traditionellen ästhetischen Paradigma des Mimetischen. Nun erhebt Hoffmann das »wahre Schauen« (und dies ist bereits der Kern des »Serapiontischen«) zur Bedingung aller Kunst: Habe der Künstler das »geschaut, was er zu verkünden unternommen«, so vermöge er »die Darstellung ins äussere Leben zu tragen«.41 — Es ist eine Poetik der subjektiven Entäusserung, der produktiven Imagination, die sich hinter Hoffmanns »serapiontischem Prinzip« verbirgt. Eine Rücksichtnahme auf die Gesetze und Erscheinungen der äusseren Welt aber spielt in dessen Definition keine Rolle mehr. Ganz im Gegenteil wird dem »Schauen« des künstlerischen Subjekts — als dem Absolutum der Ästhetik des »Serapiontischen« — alles andere belanglos: Hoffmanns Poetik ist eine Poetik der absoluten kreativen Phantasie, und sie führt das Programm einer romantischen Ästhetik radikal durch: Die künstlerische Imagination meint zuletzt nichts anderes als ein reines Erschaffen unter gewaltsamer Absehung vom Gegebenen, die individuelle phantasmatische Projektion unter Leugnung eines allgemeinen Wahren (auf das doch die klassische und auch noch die idealistische Nachahmung der Natur alle Kunst hatte verpflichten wollen): Die absolut gesetzte, autonome Phantasie bindet demnach ein gewaltiges destruktives Potential. Nun war es gerade jene ›schwarze Romantik‹ E. T. A. Hoffmanns, die — mit ihrer Schreibweise (der literarischen Phantastik), mit ihren Sujets des Schauerlichen (den Doppelgängern, Automaten, Gespenstern, Magiern und Wahnsinnigen) — die anglo-amerikanische und die französische Romantik nachhaltig beeinflusste, ja eigentlich erst begründete. Indem sie das Potential einer absoluten schöperischen Imagination systematisch zum Motor des Phantastischen — des Wunderbaren, Märchenhaften einerseits, des gotisch-Unheimlichen andererseits — machte, betrieb eine romantische Kunst das Projekt, ›neue‹, ›andere‹, ›mögliche‹ Welten zu ersinnen und artistisch zu setzen; sie standen der realen gleichwertig gegenüber und waren zugleich reines Produkt einer absoluten, freien dichterischen Imagination (und hier arbeitet das romantische Projekt der Phantasie an einer ästhetischen Utopie der ›möglichen Welten‹, wie sie bereits auf Aristoteles (und dann wieder auf die Schweizer Bodmer und Breitinger) sich berufen kann: Dichtung wird demnach — im Unterschied zur Geschichtsschreibung — nicht ans
40. Ibid., S. 197. 41. Hoffmann, E.T.A., Gesammelte Werke in Einzelausgaben, 8 Bde., Berlin / Weimar 1994, hier: Bd. 4, S. 64–66.
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tatsächlich-Geschehene, sondern allein an das Mögliche zurückverwiesen). Da die romantische Poesie »nicht an Gegenstände gebunden [ist], sondern […] sich die ihrigen selbst [schafft]«,42 wie A. W. Schlegel einmal in seinen Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst von 1801–04 bemerkte, imaginiert sie — traumhaft, rauschhaft, phantastisch, visionär — »künstliche Paradiese« und setzt sie — von Poe bis Baudelaire und noch bis zum französischen Surrealismus — gegen die reale, wahre, vernünftige, bürgerliche. Von hier aus ist erst das Skandalon der berühmten Voyant-Briefe Arthur Rimbauds (1871) zu verstehen: Deren ästhetisches Programm des »dérèglement de tous les sens«43 nämlich spricht nicht nur einer bürgerlichen gesunden Ratio jegliche Autorität im Bereich der Kunst ab, sondern macht im Gegenteil den kalkulierten Wahnsinn zu ihrem eigentlichen Projekt.44 — Bereits die klassischen Kritiker hatten die romantische Ästhetik — in ihrer einseitigen (febrilen) Übersteigerung der Einbildungskraft, die die Harmonie der geistigen Vermögen systematisch zerstöre — als pathologisch deklassiert; die heraufkommende (bürgerliche) Psychiatrie des 19. Jahrhunderts postulierte dann eine generelle psycho-pathologische Inklination des Künstlers (bzw. des Genies): Zwischen Moreau de Tours (La Psychologie morbide, 1859), Lombroso (Genio e follia, 1864; Genio e degenerazione, 1894) und Nordau (Entartung, 1892) entstand damals der fatale Mythos von Genie, (moralischer, psychischer, nervöser) Degeneration und Irrsinn, der sich bis weit ins 20. Jahrhundert hielt.45 Die ästhetischen Paradigmen von ›Mimesis‹ und ›Imagination‹ bezeichnen, so mag man am Ende zusammenfassen, den Anfangspunkt einer Theorie der ›schönen Künste‹ im Rationalismus der Aufklärung und sein schliessliches Dementi durch die romantischen Ästhetiken, die an der Wende zum 19. Jahrhundert alle — mimetische — Verpflichtung von Kunst auf Wirklichkeit, Wahrheit, Vernünftigkeit aufgaben zugunsten einer ästhetizistisch-phantastischen Totalität der Einbildungskraft. Beide Konzepte, beide Fassungen des Verhältnisses von Kunst und Welt — die Mimesis des Realen wie die Phantasie des Anderen — sollten im gesamten 19. Jahrhundert fortleben: in Realismus und Naturalismus einerseits, in Ästhetizismus, Décadence und Surrealismus andererseits. Wie grundsätzlich verschieden aber jeder philosophische und ästhetische Begriff der Wahrheit — und daher auch der (mimetischen) Abbildfunktion der Kunst — sich gegenüberstehen, das kann man gegen Ende des Jahrhunderts erneut in den Aphorismen Nietzsches nachlesen: »Der Künstler«, heisst es einmal in der Sammlung Menschliches, Allzumenschliches (1878) unter dem Stichwort Der Wahrheitssinn des Künstlers, hat in Hinsicht auf das Erkennen der Wahrheiten eine schwächere Moralität als der Denker; er will sich die glänzenden, tiefsinnigen Deutungen des Lebens durchaus nicht nehmen lassen und wehrt sich gegen nüchterne, schlichte Methoden und Resultate. [Er will] das Phantastische, Mythische, Unsichere, Extreme, den Sinn für das Symbolische, die Überschätzung der Person, den
42. Zitiert nach Preisendanz, »Mimesis und Poiesis«, op. cit., S. 551 f. 43. Rimbaud, Arthur, »Lettre à Paul Demeny (15 mai 1871)«, in: ders., Œuvres complètes, Paris 1979, S. 249–254, hier: S. 251. 44. Lange, Wolfgang, Der kalkulierte Wahnsinn. Innenansichten ästhetischer Moderne, Frankfurt a.M. 1992. 45. Lange-Eichbaum, Wilhelm, Genie, Irrsinn und Ruhm. Genie-Mythus und Pathographie des Genies, München 1927.
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Sabine Kleine Glauben an etwas Wunderartiges im Genius [nicht aufgeben]: er hält […] die Fortdauer seiner Art des Schaffens für wichtiger als die wissenschaftliche Hingabe an das Wahre in jeder Gestalt.46
Die Ästhetik des Rationalismus forderte die Beseitigung aller künstlerischen Illusion und setzte die alleinige Geltung des vernünftig-Wahren auch für den Bereich der Kunst ein; dem modernen Ästheten gilt jene Wahrheit nichts mehr, da er das Schöne als reine Imagination (und Täuschung) begreift.
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In den Jahrzehnten des Übergangs zwischen dem 18. und dem frühen 19. Jahrhundert fand in Europa nicht nur ein tiefer Umbruch in den literarischen Grundlagen, sondern auch in der Vorstellung von Literatur selbst statt. Man kann von einem allgemeinen Neuaufbau des gesamten literarischen Systems sprechen. Es kam zu Erneuerung vorhandener Stile und Gattungen, zu Modifikation ihrer Rangordnung und zur Geburt neuer Stile und Gattungen, die der Erkundung neuer Erfahrungsgebiete oder der Realisierung neuer Erkenntnis-, Überzeugungs- und Erzählstrategien dienten. Um eine Vorstellung von den Veränderungen zu bekommen, genügt es, das alte und das neue Gattungssystem zu vergleichen. Ralph Cohen hat es für das 18. Jahrhundert (vorwiegend auf die englische Literatur bezogen, aber leicht ausdehnbar auf den gesamten europäischen Kontinent)1 getan und José Lambert für das frühe 19. Jahrhundert (vorwiegend auf die französische Literatur bezogen, aber mit komparatistischer Öffnung).2 Insbesondere erkennt man eine grosse Entwicklung der autobiographischen Gattung zwischen dem 18. Jahrhundert und dem frühen 19. Jahrhundert, die mit einer Reihe von Änderungen auf verschiedenen Ebenen des materiellen und kulturellen Lebens verbunden war. Will man ins Detail gehen, so kann man nennen: 1. das Gebiet der sozialen Tatsachen: Im 18. Jahrhundert sieht sich die Geschichtsschreibung dem Phänomen der bürgerlichen Individualität gegenüber. Sie integrierte oder ersetzte gar das vorhergehende Modell der christlichen Individualität; 2. das Gebiet der kommunikativen Phänomene: Es wurde üblich und war willkommen, von sich zu sprechen, die eigene Geschichte und Individualität als Beispiel anzubieten; 3. das Gebiet der Intertextualitätsphänomene: Die Multiplikation der Texte und Beispiele wurde nach und nach Motiv für die Produktion neuer Texte. Man wohnt einem Echophänomen bei und sieht, wie sich eine neue literarische Mode bildet; 4. das Gebiet der anthropologischen und kulturellen Phänomene: Die philosophischen Diskussionen über die Erinnerung, die Zeit, die Phasen des menschlichen Lebens, das Bewusstsein, das Individuum, den Körper, die Sinne und die Wahrnehmungen konstruieren langsam ein neues anthropologisches Modell der Darstellung und Selbstdarstellung des Menschen.3 Es wurden Zonen des biologischen und psychologischen Lebens des Menschen (Kindheit, Jugend) erobert, die bis dahin so gut wie ignoriert worden waren. Eine entscheidende Funktion in diesem Prozess kam Jean-Jacques Rousseau zu.
1. Cohen, Ralph, »On the Interrelation of Eighteenth-Century Literary Forms«, in: Harth, Phillip (ed.), New Approaches to Eighteenth-Century Literature. Selected Papers from the English Institute, New York 1974, S. 33–78. 2. Lambert, José, Vers et Prose à l’Époque romantique, ou la Hierarchie des genres dans les lettres française, in: Mareueil, Arnaud de (ed.), Du Romantisme au Surnaturalisme. Hommage à Claude Pichois, Neuchâtel 1985, S. 39–55; Lambert, José, »Les Genres et l’Évolution littéraires à l’Époque romantique«, in: Jacques, Georges /Lambert, José (eds.), Itinéraires et plaisirs textuels. Mélanges offerts au professeur Raymond Pouilliart. Recueil de travaux d’histoire et de philologie VI, 32, Bruxelles 1986, S. 87–101. 3. Swinburne, Richard / Shoemaker, Sydney, Personal Identity, Oxford 1984.
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Der im 18. Jahrhundert erblühende englische Roman stösst auf ein ausserordentliches Interesse und kritische Begeisterung. Der Bogen lässt sich spannen von der ›Demontage‹ des russischen Formalisten Viktor Sklovskij4 bis zur soziologischen Rekonstruktion der Ursprünge des bürgerlichen Romans, die vom englischen Kritiker Ian P. Watt5 unternommen wurde. In der Mitte steht eine grosse Zahl kritischer und methodologischer Vorschläge. Es gibt eine starke traditionelle Position, die eben zu diesem Thema einige ihrer besten Studien geliefert hat: die neuaristotelische Schule von Chicago. Die Studie von Ronald S. Crane über die Handlung von Fieldings (1707–1754) Tom Jones6 (1749) stellt eine Beziehung zwischen den Handlungen der Roman-Personen und dem Wertesystem der Gesellschaft und der Lesergemeinde her. Auch Studien wie jene von Sheldon Sacks über die Romane Fieldings7 entstanden innerhalb des Kreises der Neuaristoteliker von Chicago. Sie ist das Werk eines Autors, der nicht nur an der narrativen sondern auch an der Transformationsgrammatik interessiert ist, aber zugleich in den Kategorien der empirischen Philosophie des 18. Jahrhunderts denkt. Er gibt eine Analyse der Handlungen und formalen Strukturen und zeigt, wie die Ideen eines Jahrhunderts und eines Autors Form in den Handlungen seiner Personen annehmen. Zu beachten ist ferner der Wechsel in den Publikumsstrukturen der verschiedenen Länder, die Präsentationsformen der Literatur, die Verbreitung der Romane von Richardson und Defoe, der Encyclopédie oder der Nouvelle Heloïse, des Werther oder der Gedichte von Byron und ähnlicher Werke, die zu jener Zeit einen internationalen Erfolg erzielten. Robert Darnton hat in expliziter Polemik gegen Gelehrte der Literatursoziologie die Figur des ›neuen‹ Lesers den Werken von Rousseau eingezeichnet und mit historischen Personen (typisiert in Jean Ranson, einem Kaufmann von La Rochelle) identifiziert, die leidenschaftliche Leser eben der Werke Rousseaus waren: Rousseau taught his readers to »digest« books so thoroughly that literature became absorbed in life. The Rousseauistic readers fell in love, married, and raised children by steeping themselves in print […]
Ranson and his contemporaries belonged to a peculiar species of reader, one that arose in the eighteenth century and that began to die out in the age of Madame Bovary. The Rousseauistic readers of prerevolutionary France threw themselves into texts with a passion that we can barely imagine, that is as alien to us as the lust for plunder among the Norsemen … or the fear of demons among the Balinese. If I had to place this kind of reading in a general pattern, I would locate it between the reading intended to please (plaire) in the late seventeenth century and to amuse (distraire) in the
4. Sklovskij, Viktor, O teorii prozy (1929); trad. Ital. Integrale von C.G. De Michelis und R. Oliva, Teoria della prosa, Torino 1976. 5. Watt, Ian P., The Rise of the Novel. Studies in Defoe, Richardson and Fielding, Berkeley 1957. 6. Crane, Ronald S. , »The Concept of Plot and the Plot of Tom Jones«, in: ders., Critics and Criticism: Ancient and Modern, Chicago 1952, S. 616–647. 7. Sacks, Sheldon, Fiction and the Shape of Belief. A Study of Henry Fielding with Glances at Swift, Johnson, and Richardson, Berkeley 1966, Neuauflage Chicago 1981.
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late nineteenth century.«8 Leser gab es nicht nur in den Lesekabinetten, in den Salons, in den Studierzimmern der Intellektuellen oder in den Privaträumen der Aristokraten, Händler, Funktionäre; man fand sie auch unter Leuten niedriger Herkunft, in ihren Ehefrauen, Freundinnen, Söhnen und Töchtern. Mit gleich grosser Aufmerksamkeit wurde an den Höfen und bei Versammlungen in den Ställen gelesen. Dabei handelte es sich um einen Lesertypus, der sich auf neue Weise mit einem Buch oder einer Zeitung auseinandersetzte. Die Lektüre sollte dem Verlangen nach Informationen, dem Bedürfnis nach Symbolisierung und Ritualität und dem Willen zur Klärung von Problemen entgegenkommen. Zugleich sollten Leidenschaften und die Gefühle des Lachens und Weinens genährt werden. Dergleichen Lesererwartungen liefern möglicherweise eine Erklärung für die Neuheiten, die in der kulturellen und literarischen Kommunikation, in den Techniken der Überzeugung, der Erzählung sowie der Fiktion zu beobachten sind. Cohen, der die Hierarchie die Stile und Gattungen9 des 18. Jahrhunderts untersucht, behauptet, dass es auch in den Augen der Literaten keine klare Unterscheidung der Gattungen gab. Weder galten spezifische Regeln für jede Gattung, noch waren die einzelnen Gattungen an klar definierte Effekte gebunden: Rather, the poetic kinds were identified in terms of a hierarchy that may not have been allinclusive (since not all possible forms were specified) but were all interrelated. And this hierarchy can be seen in terms of the inclusion of lower forms into higher — the epigram into satire, georgic, epic; the ode into epic; the sonnet into drama; the proverb into all preceptive forms […]. A shift in the importance of georgic forms was part of the didactic shift, altering the status of satire, epistle, and the fable, as well as that of smaller forms such as the epigram, aphorism, and the maxim, whether in prose or verse. I do not wish to imply that forms have a life of their own, some kind of metaphysical essence. Literary forms are written or spoken by people and they are addressed to people. When poets turn to one form rather than another, when critics defend one kind of hierarchy rather than another, they do so for reasons that are related to personal, public, and professional commitments.10
Es gab im 18. Jahrhundert einen Wettbewerb der literarischen Experimente, starke Veränderungen im literarischen Geschmack sowie eine Erweiterung und Differenzierung der Öffentlichkeit. Mit Cohen kann man sagen, dass die literarische Innovation, die ihren Höhepunkt fast überall im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts erreichte, nicht die einzelnen Gattungen veränderte, als vielmehr die Beziehungen der Gattungen untereinander. So mass man seit langem vernachlässigten Gattungen, die nichtsdestotrotz fester Bestandteil des Systems waren, neue Bedeutung zu: dem Epigramm und der Ode, metrischen Formen wie dem reimlosen Vers oder dem ›barba-
8. Darnton, Robert, The Great Cat Massacre and Other Episodes in French Cultural History, New York 1984, S. 251–52. 9. Cohen liefert auch einen Beitrag zu den Unterscheidungen zwischen Stil und Gattung: » ›Forms‹ refers to a combination of means to lead to a specific effect; ›mode‹ refers to kinds of means. Thus there is a pastoral form — Pope’s or Philips’ ›Pastorals‹ — but pastoral as a mode can apply to different poetic kinds — to ›Lycidas‹, a pastoral elegy, to drama, As You Like It, to prose fiction, Arcadia, to selected features of the pastoral form such as decriptions of shepherds or nature. And the pastoral form itself could include pangyric and elegiac elements and satiric subject matter; it did not exclude even the epigram.« (On the Interrelation of Eighteenth-Century Literary Forms, op. cit., S. 49) 10. Cohen, »On the Interrelation of Eighteenth-Century Literary Forms«, op. cit., S. 35–36 und 40–41.
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rischen Vers‹, Prosa-Gattungen wie dem Essay, der Reiseerzählung oder dem Bekenntnis. Auch fügte man eine Gattung in die andere, mischte niedrigere Gattungen mit höheren und umgekehrt (z.B. im heroisch-komischen Gedicht), oder reduzierte die Bedeutung und die Reichweite von Gattungen und Formen. Das Epos verkümmerte zum Kurzepos, das Lied zum Liedchen usw.. Existierende Gattungen wurden mittels einer Methode parodiert, für die der ironisch-parodistische Stil typisch ist. Es kam zur Aufwertung von Gattungen wie dem lehrhaften Epos und der Satire sowie zur Abwertung von Gattungen wie der Elegie, der Liebeslyrik und dem Hirtengedicht. Die traditionelle Dreiteilung der Stile hatte im 16. und 17. Jahrhundert eine hierarchische Ordnung von Epik, Bukolik (gebunden an den allegorisch-pastoralen Stil) und Georgik (Didaktik) erreicht. Oben auf der Skala stand der gehobene Stil, darunter angesiedelt waren der mittlere und der niedere Stil. Andere traditionell niedere Gattungen wie die Satire, das Märchen, die Epistel sowie Kurzformen erwarben sich neue Anerkennung: Die in der Antike und im Hellenismus beliebten Formen (z.B. die anakreontische Lyrik) erlebten eine neue Blüte. Eine Literatur, die auf das Publikum blickte, um es zu belehren, zu interessieren oder zu amuesieren, privilegierte solche Gattungen, in denen die referentielle oder überredende Funktion stärker und offensichtlicher ausgeprägt war als die expressive. Dies erklärt den grossen Erfolg der Gelegenheitspoesie (wie auch der Lied-Texte), der essayistischen und journalistischen Epistelprosa, der enzyklopädischen Unternehmungen oder des conte philosophique. Die Präsenz dieser freien und zufälligen Prosa, gebunden an die Erfahrung und an die Alltäglichkeit, veränderte das gesamte System der Prosagattungen. Die besonderen Bedingungen der privaten Lektüre erklären, weshalb die autobiographische Erzählung, der Roman in all seinen Formen, das Melodrama und das bürgerliche Drama zu bevorzugten Gattungen wurden. Es dominierten bald zwei neue Weisen der literarischen Phantasie: die pathetisch-sentimentale und die ironisch-parodistische. Das war entscheidend für die neue Ordnung des Gattungssystems. Die neuen Stile charakterisieren gleichzeitig neue Romanformen (den sentimentalen Roman wie Richardsons Pamela, den humoristischen Roman wie Sternes Tristram Shandy oder den conte philosophique wie Voltaires Candide). Ihnen verdanken sich darüberhinaus Modifikationen im System der theatralischen Gattungen: im ironisch-parodistischen Stil wurden Zwischenspiele, Kostümdramen und philosophische Märchen geschrieben; der pathetischsentimentale Stil trug einerseits dazu bei, die Tragödie ins musikalische Melodrama zu verändern (mit Vereinfachung der Ereignisse, Akzentuierung der pathetischen Elemente und Verwendung der Musik), andererseits vereinfachte er die Tragödie zum bürgerlichen Drama oder dem Melodrama, wenn man die Terminologie Peter Brooks’ verwenden will. Letzterer Linie folgten Diderot, Lessing und in einem gewissen Mass auch Goldoni. Jean-François Ducis’ (1733–1816) sehr erfolgreiche, 1769 in Frankreich vollendete Umarbeitung von Shakespeares Hamlet exemplifiziert diese Linie hervorragend. Er legte den Akzent auf die familiären und häuslichen Tugenden sowie auf den pathetischen Ausdruck der Gefühle und gab dem Stück ein Happy-End. Diese Entwicklungen und Transformationen erklären auch die Schwierigkeiten, Verdienste und internen Widersprüche in den tragischen Versuchen von Schiller und Goethe in Deutschland, von Voltaire in Frankreich und von Alfieri in Italien.
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Nach Leo Spitzer und Francesco Orlando11 kann man die Ideale und Schreibweisen des 18. Jahrhunderts folgendermassen zusammenfassen: Wichtig war die lexikalische Präzision, der Gebrauch des richtigen Wortes in der Rede und der Wille, direkte Entsprechungen zwischen den Worten und den Dingen herzustellen. Um es mit einem Ausdruck des italienischen Dichters Giuseppe Parini zu sagen: Man entdeckte die »parole atte alle cose«. Die Rede versuchte ihr Möglichstes, sich dem Gegenstand anzupassen, sich analysierbar zu machen, Objekte und Begriffe aufzulisten: also — um einen Begriff Jean Starobinskis zu benutzen — transparent zu sein. Dies war das Ideal der Prosa und auch der Poesie. Die Polysemantik der Sprache — die, wie wir wissen, eines ihrer strukturellen Charakteristika ist — wurde fast wie ein Hindernis bei der Formulierung eines klaren und einfachen Diskurses empfunden; die Metaphern und die Metabedeutungen wurden mit Argwohn betrachtet. In der Poesie wie in der Prosa verbreitete sich der Gefallen am terminus technicus, kam es zur Benutzung stets genauerer Begriffe (wissenschaftlichen, ausländischen, sektoralen und speziellen Sprachen entlehnt) in der Alltagssprache. Diesem Sachverhalt scheint ein gleichfalls im 18. Jahrhundert verbreitetes Verfahren zu widersprechen: die Umschreibung. In Wirklichkeit ist die Opposition nicht eindeutig. Die Periphrase dient einer anderen Funktion: Sie befriedigt oft nur ein Bedürfnis nach Ausschmükkung und Veredelung. Die gewöhnlichen Gegenstände, die alltäglichen Ereignisse, die Ideen oder auch die banalen Gefühle werden auf eine vornehmere und elegantere Ebene gehoben. Die Periphrase ist jene Figur, in der sich der klassische und neoklassische Stil ausdrückt, und sie korrespondiert auf der Ebene der Rede mit den Methoden der Heroisierung und Erhöhung des Alltäglichen. Doch es müssen zwei Einschränkungen gemacht werden. Der Argwohn der Metapher gegenüber bedeutete nicht das völlige Verschwinden der Metapher aus dem literarischen Gebrauch. Francesco Orlando spricht von einer Metapher, die »rinsavita e spenta, timida e convenzionale« überlebte, und von »frequenti comparazioni« auch in der aufgeklärten Literatur, deren Weisheit »avrà poco da invidiare alla regola cartesiana, così bene fanno astrazione dall’integrità delle cose comparate e ne risparmiano l’identità«.12 Die Ablehnung der Metapher bedeutete nicht die Ablehnung von Redefiguren überhaupt, sondern eher die Bevorzugung anderer Typen von Redefiguren. Die für das Jahrhundert typischen Figuren sind nicht mehr die Metapher oder die Metonymie, sondern die Antithese, die Hyperbel, die Litotes, der Euphemismus. Die rhetorische Praxis des Jahrhunderts zieht auf der Ebene des Wortschatzes Redefiguren vor, die auf den Sinn und auf seine Beziehungen zum Adressaten wirken und vermeidet solche Figuren, die auf das Symbol und seine Beziehungen mit anderen Symbolen wirken. Auf der Ebene der Syntax vermeidet sie Redefiguren, die aus rhythmischen oder formalen Gründen der Dispositionen der Sätze auf die Ordnung der Worte wirken, sondern hebt den Parallelismus und die Antithese des Gedankens hervor. So benutzten Schriftsteller Konstruktionen, die nicht der natürlichen Ordnung
11. Spitzer, Leo, »Die Kunst des Übergangs bei La Fontaine« (1938), in: ders., Romanische Literaturstudien 1936–1956, Tübingen 1959, S. 160–205; Orlando, Francesco, Illuminismo e retorica freudiana, Torino 1982. 12. Orlando, Francesco, Illuminismo e retorica freudiana, op. cit., S. 113 und 117.
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der Rede entsprechen: Wenn sie ihre Texte mit griechischen und lateinischen Konstruktionen, mit Hyperbata und Chiasmen überluden, so verwandten sie diese Figuren, um besondere Sinnelemente der Rede hervorzuheben. Wenn sie hingegen die natürliche Ordnung der Rede und des einfachen Satzes verwandten, dominierten improvisierte Annäherungen, Parallelismen und Antithesen. Die Antithese ist vielleicht die bevorzugte Figur des neuen Stils, und ihre Ausdrucksmöglichkeiten werden weit ausgeschöpft. Mittels antithetischer Reime verknüpfte zum Beispiel Pope (1688–1744) die beiden Verse seiner couplets, d.h. er benutzte systematisch Worte von unterschiedlicher Referentialität, von ungleicher Länge und von kontrastierender Farbe in Paarreimen.13 Montesquieu (1689–1755) gehörte zu den ersten französischen Autoren, die einen Stil praktizierten, der auf der Liebe zur Symmetrie und zum Kontrast gründete. Hierbei vergass er nicht die Gefahr, dass die Rede, folgt sie systematisch diesem Verfahren, uniform und langweilig wird: le tour de phrase toujours le même et toujours uniforme déplaît extrèmement; ce contraste perpétuel devient symmétrie, et cette opposition toûjours recherchée devient uniformité. L’esprit y trouve si peu de variété, que lorsque vous avez vû une partie de la phrase, vous devinez toûjours l’autre: vous voyez des mots opposés, mais opposés de la même maniere; vous voyez un tour dans la phrase, mais c’est toûjours le même14
Er schlug deshalb eine weitere Unterscheidung vor zwischen der différence des antithèses d’idées, d’avec les antithèses d’expression. L’antithèse d’expression n’est pas cachée, celle d’idées l’est: l’une a toûjours le même habit, l’autre en change comme on veut: l’une est variée, l’autre non.15
Der Parallelismus und die Antithese — wie auch die Antithese der Ideen — sind ein charakteristisches Zeichen für Voltaires (1694–1778) Prosa.16 Wir können also sagen, dass die Redefiguren des 18. Jahrhunderts nicht die Beziehungen zwischen Worten und Dingen verletzen, sondern vielmehr den Zusammenhang der Rede mit der referentiellen Realität respektieren. Sie gestalten die Beziehungen, die das Subjekt (redend, schreibend, lesend) mit den Dingen hat, den besonderen Blickwinkel und seine Fähigkeit, diesen oder jenen Aspekt der Realität aufzunehmen. Und wir können hinzufügen, dass es sich um Figuren handelt, die nicht sofort offensichtliche Beziehungen begründen, sondern verstecktere und geheimere. Sie sind wahrnehmbar nur von dem, der nicht bei der Oberflächenstruktur der Rede verweilt, sondern tiefe Verbindungen sucht. Deshalb sehen wir uns einer rhetorischen Strategie konfrontiert, die sich nicht damit zufriedengibt, auf die semantischen und formalen Strukturen der Texte zu wirken, sondern die eine
13. Wimsatt, William K., The Verbal Icon. Studies in the Meaning of Poetry, New York 1954, S. 153–68. 14. Montesquieu, Charles L. de, Essai sur le goût, Einleitung und Anmerkungen von Charles-Jacques Beyer, Genf 1967, S. 78. 15. Ibid., S. 94. Zu diesem Punkt vergleiche Proust, Jacques, »Poétique de l’ Esprit des lois «, in: Spicilegio moderno IX, Imola, 1978, S. 3–17. 16. Starobinski, Jean, »La doppietta di Voltaire. La filosofia di uno stile e lo stile di una filosofia«, in: Strumenti critici I, 1966, S. 13–32.
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besondere Haltung seitens des Lesers fordert. Dieser wird miteinbezogen und ist im Text präsent in dem Sinne, dass: a) der Text sich ausdrücklich an einen Leser wendet; b) der so konstituierte Text dazu neigt, den Leser zu erziehen und Reaktionen zu verursachen; c) der Leser fähig sein muss, Allusionen und Übergänge zu verstehen. Er muss, um die Terminologie von Spitzer zu verwenden, die Kunst des Übergangs kennen, muss den ›esprit de finesse‹ besitzen. Es geht um den Geschmack der besonderen Nuance, das Kleinkunstwerk, die besondere Wahl eines Diminuitivs oder einer Vergrösserung. Das Gefallen an der grossen, erhabenen und monumentalen Szene, an der Zuspitzung (man denke an die ausweglose Tragik von Schiller und Alfieri) und an der Hyperbel kommen hinzu. Die Differenz zwischen Gattung und Gegenstand kann einen parodistischen Zweck haben (vgl. das heroisch-komische Gedicht The Rape of the Locke (1712) von Pope, in dem der grosse epische Stil benutzt wird, um eine scheinbar unbedeutende Tatsache zu erzählen) oder ein zugleich satirisches und abenteuerlich-utopisches Ziel, wie in Swifts (1667–1745) Roman Gulliver’s Travels (1726). Zur Komplexität der Beziehungen zwischen Autor (oder narrativer Stimme), dem Leser und der Rede des Textes gehören des weiteren die wichtigen Phänomene der Ironie, des Abstandhaltens zwischen der Welt der Ideen, der Welt der Gegenstände und derjenigen des Textes. Oft besteht die stilistische Aufgabe des Autors in unangekündigten und leichten Modifikationen der chronologischen, kausalen oder narrativen Beziehungen, oder im Einfügen von Elementen der Inkongruenz. Ein Konzentrat der rhetorischen Verfahren, die ich aufgezählt habe (Antithese, Ironie, Inkongruenz), wird repräsentiert vom Witz, einem Stilmittel, das im 18. Jahrhundert weit verbreitet war (in der mondänen Konversation, in Briefwechseln, in poetischen und narrativen Texten). Welche Bedeutung hatten diese rhetorischen und stilistischen Praktiken des Jahrhunderts? Wie kann man sie mit literarischen Themen, erkenntnistheoretischen Positionen, kulturellen Modellen und sozialen Strukturen in Beziehung setzen? Die literarischen Themen des 18. Jahrhunderts werden auf der einen Seite von den Beziehungen zwischen Mensch und Naturmaschine bestimmt; auf der anderen Seite stehen das Individuum und die Entdeckungen, die es von sich und seinen Leidenschaften macht. In der Mitte stehen die verschiedenen Arten des Austausches und des Handelns: das Geld, die Ideen, die Gefühle, die Symbole und die Zeichen. Ein weiterer thematischer Kern organisiert um sich herum Texte, die das Thema Natur und Kunst, der unterschiedlichen Darstellungen der Landschaft und der Naturschönheit aufgreifen. Ein anderer Kern versammelt die zahlreichen Texte, die das Individuum bei der Entdeckung seiner selbst, aber auch in Einsamkeit oder Geselligkeit zeigen. Hierin gehören die Interessen, Leidenschaften und Beziehungen in Romanen, Dramen und Melodramen. Sie enthalten eine Fülle autobiographischer und narrativer Zeugnisse, wie denn zu ihnen auch so fundamentale Werke wie Rousseaus (1712–1778) Confessions (1782–89) gehören. Aus Untersuchungen geht hervor, dass ein tiefreichender Prozess der Erneuerung im 18. Jahrhundert weithin Mentalität und Verhalten veränderte. Hierbei handelte es sich um eine Umwandlung epochalen Charakters. Sie berührte fast alle Sphären des materiellen und mentalen Lebens. Nach Michel Vovelle deuten nicht nur alle verfügbaren Daten auf eine Veränderung hin, sondern fordern sogar einen Wendepunkt zwischen 1750 und 1770:
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Remo Ceserani […]: c’est sur l’image d’un monde modifié dans ses attitudes collectives que nous laissent les trois dernière décennies qui précédent la Révolution: ébranlé — comme on dit — dans ses valeurs collectives, la religion, les structures de la famille, les rapports entre les hommes; qu’il s’agisse de la sociabilité, de la fête ou de leur revers et complément, l’agressivité; dans ses valeurs individuelles ou affectives: l’amour, les rapports à l’intérieur du couple ou le rapport à l’enfant, le sentiment de la mort enfin, évacué puis réintroduit sous une forme différente.17
Der Prozess der Dechristianisierung und die neue, bewusste Konfrontation mit dem Tod (der anderen oder dem eigenen) erklären die Aufweichung der Sepulkralthematik in der Poesie und anderen literarischen Gattungen. Die konventionelle Todesdarstellung verband sich mit einer romantischen Ausmalung des Todes. Wenn die säkularisierte Sensibilität und die gezähmte Religiosität auf angsteinflössende Naturkatastrophen (das Erdbeben von Lissabon) treffen, entstehen Texte, die entweder tiefes Pathos zeigen oder eine erhabene Darstellung von der unbeeinflussbaren Grandiosität der Natur geben. Eine dritte Möglichkeit der Reaktion sind ironische Befreiungen von Angst, indem man Parodien schreibt und Scherze macht. Vornehmlich in Romanen oder autobiographischen Werken kam es hinsichtlich der Subjektivität zu einer beachtlichen Ausweitung bislang unerforschter Gebiete: entdeckt wurden nicht nur neue Leidenschaften und Gefühle, auch die provozierende und zügellose Sexualität wurde zum Thema. Andere Texte widmeten sich wiederum der früher nicht beachteten Kindheit sowie den Störungen der Pubertät, des inneren Bildungsprozesses und der Erziehung. Das Alter und der Blick in die eigene Vergangenheit traten als Themen hinzu. Nach und nach zerbröckelte die Grenze zwischen ehedem resistentesten Kulturen — das meint die Grenze zwischen dominanten und subalternen Kulturen. Das Interesse für exotische Kulturen lebte auf. (Hier ist besonders die Mode der orientalischen Kulturen zu erwähnen.) Wissenschaftler erforschten primitive Kulturen, Ursprünge und sog. Naturzustände. Dahinter verbarg sich wohl auch der Wunsch, in den primitiven Kulturen die Ursprünge heimischer Kulturen zu finden. Letztere wurden bereits von zwei Seiten bekämpft, einerseits von den uniformierenden Kräften der Kirche und den Instanzen der traditionellen Kultur, andererseits von den neuen sozialen und intellektuellen Schichten, die Toleranz und Aufklärung predigten und auf eine generelle Säkularisierung der Kultur hinauswollten. Der Zusammenstoss zwischen traditioneller und weltlicher Kultur war in England weniger spürbar. (Dort blieb es bei der religiösen Sensibilität puritanischen Typs, ohne dass sie ernsthaft mit dem Empirismus, dem Rationalismus oder dem Szientismus kollidierte.) In Frankreich hingegen trafen die Kulturen spürbar aufeinander. Hier manifestierten sich offen antiklerikale Haltungen. Es gab Fälle von militantem Atheismus in einigen wissenschaftlichen und intellektuellen Kreisen. In Deutschland, Italien und Spanien waren die moderaten und versöhnlichen Positionen vorherrschend. Die wichtigste Tatsache ist jedoch eine andere: Die Uniformierung und Verbreitung neuer weltlich-kultureller Modelle generierten Widersprüche und Spaltungen in sich selbst. Beispielhaft
17. Vovelle, Michel, Idéologie et mentalités, Paris 1982, S. 290 f.; vgl. auch ders., Piété baroque et déchristianisation en Provence au XVIIIº siècle. Les attitudes devant la mort d’après les clauses des testaments, Paris 1973; ders., Mourir autrefois. Attitudes collectives devant la mort au XVIIº et XVIIIº siècle, Paris 1974; ders., Religion et Révolution. La déchristianisation de l’an II, Paris 1976; ders., Les métamorphoses de la fête en Provence de 1750 à 1820, Paris 1976; ders., De la cave au grenier: un itinéraire en Provence de l’histoire sociale à l’histoire des mentalités, Paris 1981.
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sind diesbezüglich Prousts Analysen von Diderots (1713–1784) Jacques le fataliste18 (1796). Diderot kämpfte in der Encyclopédie (1751–1780) und seinen philosophischen Schriften gegen populäre Meinungen, Aberglauben und Reste des Brauchtums. Insoweit befand sich Diderot in Übereinstimmung mit der aufklärerischen Kampagne gegen Obskurantismen. Proust zeigt jedoch auch, dass Diderot in seinen Dichtungen die Erinnerung an Sprichwörter, Geschichten, Redensarten und volkstümliche Erinnerungen aufblühen lässt. Damit sollte der Sprache Bedeutungsdichte gegeben werden. Francesco Orlando interpretiert die Einbildungskraft als Kompromissformation zwischen ideologischem und rationalistischem Kampf gegen die Märchen und den Irrtum. Wenn sie auch als abgeschiedene Formen beklagt werden, so wird das Märchen doch letzten Endes verachtet und die literarischen Erfindung geschätzt.19 Hieraus folgt, dass die Texte des 18. Jahrhunderts — besonders jene vom Ende des Jahrhunderts — sich oft voll innerer Spannungen, impliziter und expliziter Widersprüche sowie in offenen und ironischen Strukturen präsentieren. Typisch für die intellektuellen Bewegungen und Standpunkte ist ihre dualistische Natur, ohne dass jemals eine Synthese versucht würde. Im Gegenteil: der Widerspruch versucht, sich zugleich als lebendiger und entwickelnder zu gestalten. Folgende Eigentümlichkeiten lassen sich beobachten: –
–
Die erkenntnistheoretischen Positionen oszillieren zwischen rationalen Modellen und der Neigung, sie von der Erfahrung widerlegen zu lassen (die Texte, die man hier anführen kann, reichen von Vico bis Diderot); Der Gegensatz Natur — Kunst fasst die fundamentale Zweiteilung des Gedankens und der Sensibilität im 18. Jahrhundert zusammen. Sie reicht von Vicos grossem primitiven Wald, über die wilde Natur der unwegsamen Regionen, die noch nicht von Rousseaus menschlicher Zivilisation verdorben ist, bis zur kultivierten Natur der Felder und Gärten. Anders gesprochen: Sie reicht von Landschaften, aufgeladen mit literarischen Bedeutungen (Arkadien), über historische Anspielungen hin zu desakralisierten Landschaften (nicht mehr Eden oder Paradies), utopischen Orten und symbolischen Landschaften.
Die sozialen und politischen Theorien reichen von Strukturen, die der Verstand fordert (Montesquieu), über reale Verwandlungen der Gesellschaft (England) hin zu Versuchen den aufgeklärten Despotismus langsam in andere Strukturen umzuformen (Voltaire). Am folgenreichsten wurde die leidenschaftliche Verteidigung einer zugleich archaischen und idealen Gesellschaft, die zum Umsturz der existierenden Gesellschaft führte (Rousseau). Diese wurde dann durch utopische Projektionen idealer und imaginärer Gesellschaften (wie jene von den Jakobinern erträumten) ersetzt. Sie sind von Baczko20 und anderen studiert worden. Die ästhetischen Theorien favorisieren ein Gleichgewicht zwischen Natur und Kunst, Genie und Geschmack, Genie und Methode, Rationalität und Sentimentalität, Klassizismus und Romantizismus.
18. Proust, Jacques, »La bonne aventure«, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte IV, Heidelberg, 1980, S. 19–35. 19. Orlando, Francesco, Illuminismo e retorica freudiana, op. cit. 20. Baczko, Bronislaw, Lumières de l’utopie, Paris 1978.
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Romane, Autobiographien und dramatische Texte erforschen das innere Leben des Menschen. In ihnen herrscht ein kontinuierliches Gleichgewicht zwischen den entgegengesetzten Elementen von Verstand und Herz. Es werden neue literarische Formen geboren, traditionelle Formen ausgehöhlt oder auf ironisch-parodistische Weise demontiert. (Dies ist zu beobachten im Tristram Shandy (1760– 1767) von Sterne (1713–1768) oder im Jacques le fataliste von Diderot.) Die Antithese als bevorzugte Redefigur, die Vorliebe sowohl für die Symmetrie als auch den Kontrast oder der zweigleisige Stil (den Voltaire sehr schätzte) — sie antworten fast zu gut auf die oben erwähnten Dichotomien. Es dominiert das Vergnügen, für jede Situation entgegengesetzte Elemente zu entwickeln — ohne jemals eine Synthese zu versuchen. Mit ihnen soll erreicht werden, dass der Leser aktiv an den Erfahrungen und Reflexionen des Autors teilnimmt. Diderot benutzte Bilder, um die Besonderheiten und Absichten der Encyclopédie darzustellen. Ihm gefiel es, die verschiedenen Ebenen des Wissens perspektivisch zu umreissen. Aufmerksamkeit sollte erregt werden, indem Diderot den subjetiven Standpunkt des Lesers einnimmt. All diese Techniken dienten dem Ideal, die Welt als grosses Buch, als ein Bild darzustellen, das das Jahrhundert von sich selbst hatte. Sie wurden ergänzt durch besondere Typographien, Illustrationen und dramatische Einlagen. Es lohnt sich, das bekannte Bild zu zitieren, mit dem Diderot die Encyclopédie vergleicht: Il faut considérer un dictionnaire universel des sciences et des arts, comme une campagne immense converte de montagnes, de plaines, de rochers, d’eaux, de forêts, d’animaux, et de tous les objets qui font la varieté d’un grand paysage. La lumière du ciel les éclaire tous; mais ils en sont tous frappés diversement. Les uns s’avencent par leur nature et leur exposition, jusque sur le devant de la scène; d’autres sont distribués sur une infinité de plans intermédiaires; il y en a qui se perdent dans le lointain; tous se font valoir réciproquement.21
Starobinski bemerkt hierzu: Il paragone che fa dell’Enciclopedia un paesaggio vario, esposto a una luce meridiana, ci rivela lo stretto legame che, nello spirito di Diderot, associa l’esteriorizzazione del sapere e l’estetica della presenza generosa e svariata. […] L’enciclopedia-paesaggio è dunque un vasto spettacolo, un libro-teatro. La parola »scena«, che compare qui, stabilisce un rapentino rapporto con la composizione pittorica e l’estetica del teatro: siamo al punto in cui tutte le imprese di Diderot rivelano la loro unità profonda. L’esigenza della mainfestazione totale si spinge fino a rendere necessaria l’immagine. Per mostrare, non è sufficiente discorrere, bisogna rappresentare per l’occhio, offrire lo spettacolo visibile degli oggetti. Mentre il testo è ideoneo a recuperare un passato, una genesi, una storia, e perciò a conferire un’»origine« a ciò di cui si parla, l’immagine è pura »esposizione«: occupa un presente senza sbavature.22
21. Diderot, Denis, Œuvres complètes, Bd. 7: Encyclopédie III (Lettres D-L), Lough, John /Proust, Jacques (eds.), Paris 1976. 22. Starobinski, Jean, »L’arbre du savoir et ses métaphores«, in: Encyclopédie de Diderot et D’Alembert, Ricci, F. M. (ed.), Parma 1979, S. 304.
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Reisetagebücher, philosophische Dialoge, Geschichtsbücher, wissenschaftliche Traktate, familiäre Briefe, autobiographische Erinnerungen, Gelegenheitsdichtungen, intellektuelle Episteln, sentimentale und pikareske, utopische und libertine Romane, heroische und heroisch-komische Epen, Übersetzungen aus den klassischen, modernen und exotischen Sprachen, tragische, komische und pièces larmoyantes, Märchen, Epigramme und Aphorismen — all diese Formen verraten die Suche nach Klarheit und Transparenz sowie den Wunsch, »für das Auge darzustellen, das sichtbare Spektakel der Objekte anzubieten«. Es ging darum, dem Leser eine einfache, geordnete und genaue Vorstellung von Ideen, Tatsachen und Dingen zu geben. Eine starke Vorliebe für die bildliche Dimension und die diskursiven Strategien der Sprache zeigt sich an den vielen dialogischen Szenen, den dramatischen Inszenierungen, dem Geschmack für das »faire tableau«, aber auch an den Spiegeln, Dioramen und optischen Instrumenten. Diese Absicht ist gut in einem anderen Bild von Diderot ausgedrückt worden: Il faut par conséquent qu’il [le plan] soit clair & facile; que ce ne soit point un labyrinthe tortueux où l’on s’égare, & où l’on n’apperçoive rien au-delà du point où l’on est; mais une grande & vaste avenue qui s’étende au loin, & sur la longueur de laquelle on en rencontre d’autres également bien distribuées, qui conduisent aux objets solitaires & écartés par le chemin le plus facile & le plus court.23
Angesichts eines so komplexen und widersprüchlichen Allgemeinbildes ist es offensichtlich, dass sich die Verbindungen zwischen sozialen, ideologischen und literarischen Strukturen, wie sie Goldmanns Methode entsprechen, als nicht praktikabel erweisen. Auch hat Goldmann,24 der für andere historische Perioden versucht hat, solche Übereinstimmungen festzustellen, zum 18. Jahrhundert nur eine kurze Abhandlung geschrieben. Darin will er die enge Korrespondenz zwischen der bürgerlichen Klasse, seiner Meinung nach der Protagonist der wechselhaften Geschichte des 18. Jahrhunderts, und einigen Ideologien der Intellektuellen aufzeigen. Es geht ihm um den progressiven Charakter einer bürgerlichen Gesellschaft in ihrer heroischen Epoche (wenn sie das ancien régime in eine Krise bringt), einen Charakter, den er mit besonderen Zügen des aufgeklärten Denkens vergleicht. Wenn die Gesellschaft die Wirtschaft als Vorgang des Austauschs entdeckte, so gehörten dazu eben die Werte des Individualismus, der Toleranz, der Freiheit, der Gleichheit. Einen Vertrag können nur Individuen schliessen, die sich für gleich halten, von Unterschieden der Religion oder Nationalität absehen, rechtlich frei sind und über ihr Eigentum verfügen können. Die Rede von Goldmann ist nicht leicht zu akzeptieren — besonders wegen der mechanischen Beziehungen, die er zwischen sozio-ökonomischen, ideologischen und rhetorischstilistischen Phänomenen herstellt. Die Rolle des Protagonisten, die er der bürgerlichen Klasse in der sozialen und kulturellen Geschichte des Jahrhunderts zuschreibt, findet keine Stütze in den Einzeluntersuchungen. In einigen wird sogar die Existenz einer bügerlichen Klasse im Frankreich des vorrevolutionären Zeitalters in Frage gestellt: Andere Untersuchungen haben gezeigt, dass nur sehr wenige der europäischen Intellektuellen, die zur Aufklärung gehörten, mit bestimmmten
23. Diderot, Denis, Encyclopédie, op. cit., S. 498. 24. Goldmann, Lucien, Die Aufklärung und die moderne Gesellschaft, 1967.
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sozialen Schichten verbunden werden können. Es ist stattdessen eine verbreitete Meinung unter Historikern, dass es richtiger sei, von einer stärker werdenden Präsenz der Marktwirtschaft zu sprechen, die sich im Verlauf des Jahrhunderts in den verschiedenen europäischen Ländern entwickelt habe. Begonnen habe dieser Prozess in privilegierten Zonen wie England und den Niederlanden (Länder von starker wirtschaftlicher Entwicklung, von fortgeschrittener Alphabetisierung, von protestantischer Religiösität, von traditioneller Toleranz). Dort kam es zuerst zu grösseren Kapitalakkumulationen, zur Zirkulation von Waren und zum Eindringen in weit, auch sehr weit entfernte Märkte. Für viele europäische Länder, wenn man England ausnimmt, ist es kaum möglich, von Bürgertum und vor allem von unternehmerischem Bürgertum zu sprechen. Bei ihnen dominierten weiterhin die alten Produktionsweisen, die alten Direktionsschichten und die alten Eliten. Hierbei sehe ich von einzelnen und schüchternen Versuchen des aufgeklärten Despotismus in vorsichtiger Toleranzpolitik ab. Dennoch muss anerkannt werden, dass die literarischen Themen und Moden, die von der Einbildungskraft des 18. Jahrhunderts konstituiert wurden, in ihrem Zentrum die Formen des Tausches und des Handels aufwiesen. Diese Tatsache scheint zu bestätigen, dass man — mit gewissen Einschränkungen — von einer Homologie zwischen sozialen Strukturen, Strukturen der Mentalität und Strukturen der kulturellen Modelle sprechen kann. Die Homologien erstrecken sich sogar auf regelmässig wiederkehrende und obsessive Themen der kollektiven Einbildungskraft des 18. Jahrhunderts. Ziemlich gewagt hingegen ist der Versuch, das Schema der Homologien auch auf rhetorische Strukturen und Ausdrucksstrukturen auszudehnen: Auch wenn die Sache auf den ersten Blick zu leicht zu sein scheint. Es ist sicherlich nicht uninteressant zu sehen, dass der humanistische Dialog platonischer Herkunft sich in eine Konfrontation von Positionen und Ideen verwandelte — charakteristisch für Dialoge des 18. Jahrhunderts (etwa jene von Hume).25 Analoge Beobachtungen kann man bei der Briefkultur und anderen narrativen Formen der Epoche machen (so bei den Wahlverwandtschaften, den Verwicklungen der Leidenschaften, den Liaisons Dangereuses und dergleichen Briefromanen).
Auswahlbibliographie Baczko, Bronislaw, Lumières de l’utopie, Paris 1978. Carabelli, G., »L’alibi strutturale di Hume nei Dialogues Concerning Natural Religion«, in: Strumenti critici 5, 1968, S. 87–110. Cohen, Ralph, »On the Interrelation of Eighteenth-Century Literary Forms«, in: Harth, Phillip (ed.), New Approaches to Eighteenth-Century Literature. Selected Papers from the English Institute, New York 1974, S. 33–78. Crane, Ronald S. , »The Concept of Plot and the Plot of Tom Jones«, in: ders., Critics and Criticism: Ancient and Modern, Chicago 1952, S. 616–647. Darnton, Robert, The Great Cat Massacre and Other Episodes in French Cultural History, New York 1984. Goldmann, Lucien, Die Aufklärung und die moderne Gesellschaft, 1967
25. Carabelli, G., »L’alibi strutturale di Hume nei Dialogues Concerning Natural Religion«, in: Strumenti critici 5, 1968, S. 87–110.
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Lambert, José, Vers et Prose à l’Époque romantique, ou la Hierarchie des genres dans les lettres française, in: Mareueil, Arnaud de (ed.), Du Romantisme au Surnaturalisme. Hommage à Claude Pichois, Neuchâtel 1985, S. 39–55. ———, »Les Genres et l’Évolution littéraires à l’Époque romantique«, in: Jacques, Georges /Lambert, José (eds.), Itinéraires et plaisirs textuels. Mélanges offerts au professeur Raymond Pouilliart. Recueil de travaux d’histoire et de philologie VI, 32, Bruxelles 1986, S. 87–101. Orlando, Francesco, Illuminismo e retorica freudiana, Torino 1982. Pizer, John David, The historical perspective in German genre theory: its development from Gottsched to Hegel (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, 160), Stuttgart 1985. Sacks, Sheldon, Fiction and the Shape of Belief. A Study of Henry Fielding with Glances at Swift, Johnson, and Richardson, Berkeley 1966, Neuauflage Chicago 1981. Sklovskij, Viktor, O teorii prozy (1929); trad. Ital. Integrale von C. G. De Michelis und R. Oliva, Teoria della prosa, Torino 1976. Starobinski, Jean, »La doppietta di Voltaire. La filosofia di uno stile e lo stile di una filosofia«, in: Strumenti critici I, 1966, S. 13–32. Swinburne, Richard / Shoemaker, Sydney, Personal Identity, Oxford 1984. Vajda, Gyorgy M. (ed.), Le Tournant du Siècle des Lumières 1760–1820: Les Genres en vers des Lumières au Romantisme (= Histoire Comparée des Littératures et des Langues Europeennes, 3), Budapest 1982. Vovelle, Michel, Idéologie et mentalités, Paris 1982.
Ut pictura poesis — ut musica poesis György M. Vajda
Ut pictura poesis — der Begriff blickt auf eine lange Tradition zurück, die bis zur Ars poetica von Horaz reicht. Ut musica poesis bildet eine konsequente Ergänzung dazu, galt aber in ihrer Abänderung des Konzepts von der Wechselwirkung der Künste grundsätzlich darüberhinaus, denn sie assoziiert nicht nur eine Kunstart (Musik) mit einer anderen (Literatur), sondern schafft ein insgesamt neues Kunstverständnis, ja eine neue Konzeption von Literatur als Kunst überhaupt. Man muss nicht betonen, dass dieser Wechsel sich dem Gegensatz zwischen der klassischen und der romantischen Strömung in Kunst und Literatur verdankt, wie er von der Renaissance bis zum Ende des 18. Jahrhunderte herrschte, ehe der theoretische Entwurf der Romantik ihn zu diesem Zeitpunkt ablöste. René Wellek zufolge zerfiel in dieser Epoche das Erbe der Antike und der Renaissance und machte der gleichzeitig raumgreifenden Entwicklung neuer Tendenzen in der romantischen Bewegung Platz.1 M. H. Abrams hat diesen Vorgang grundsätzlicher Art unter dem Aspekt des Gegensatzes »du miroir et de la lampe« behandelt: Wie schon bei Platon wurde bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts der menschliche Geist im allgemeinen mit einem Spiegel verglichen, in dem alle Naturgegenstände reflektiert erscheinen, während die Romantik den schöpferischen Geist als eine Art Lampe annahm, in deren Schein wir der Objekte der äusseren Welt gewahr werden, als wären sie darin gleichsam erschaffen.2 Marc-Mathieu Münch ist also zuzustimmen, wenn er den grössten Einschnitt in der Literaturgeschichte um 1800 ansetzt.3 Überdies sind wir nicht als Einzige der Meinung, dass dies im grossen und ganzen für die gesamte europäische Literatur gilt, wo man zwischen der Literatur des Ancien Régime und des modernen Bürgertums gleichermassen einen Trennungsstrich um 1800 zieht. Die Jahrzehnte um die Wende von der Aufklärung zum 19. Jahrhundert haben auch die »littératures mineures« im Norden und in OstMitteleuropa zum Schauplatz des Verfalls des Klassizismus und des Aufstiegs bürgerlicher Literatur mit ihrer Favorisierung von Gefühl und Phantasie werden lassen. 1. Obwohl grosse Literaturkritiker wie Dr. Johnson, Diderot oder Lessing scharfsinnig, schöpferisch und tatkräftig beteiligt waren und Gedankensysteme zur Theorie des Schönen durch Baumgarten oder Kant dazu entwickelt wurden, so blieb doch die Ästhetik des Ancien Régime einem älteren (überlebten) Bild- und Literaturverständnis bis hin zur Nachahmungstheorie verhaftet. In der Poetik Julius Caesar Scaligers (1484–1558) heisst es »Omnis enim oratio eidos,
1. Wellek, René, A History of Modern Criticism, Vol. I.: The Later Eighteenth Century, London 1955, 4. Auflage 1961, S. 1. 2. Abrams, Meyer Howard, The Mirror and the Lamp. Romantic Theory and Critical Tradition, New York 1958 (1953), S. VI. 3. Münch, Marc-Mathieu, Le pluriel du beau. Genèse du relativisme esthétique en littérature. Du singulier au pluriel, Metz 1991.
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ennoia, mimesis, quemadmodum ut pictura: it quod et ab Aristotele et a Platone declaratum est.«4 Das heisst, dass jeglicher Wortgebrauch Bild- und Ideen-Vorlagen und damit Nachahmungscharakter hat, ganz wie in der Malerei und durch Aristoteles und Platon bezeugt. Fast alle Theoretiker der Renaissance, angefangen bei Leon Battista Albertis (»De pictura«, 1436),5 haben sich zum Anwalt dieser Richtung gemacht. 1529 beginnt Giovanni Trissino seine »Poetica« mit der Feststellung: Dico adunque, che la Poesia (come prima disse Aristotele) è una imitazione de le azioni de l’homo; e facendosi questa cotale imitazione con parole, rime, et harmonia, si come la imitazione del dipintore si fa con disegno e con colori.6
Gleichwie der Maler mit Stift und Farbe, so ahmt der Dichter mit Reimen und Harmonien nach, was ihnen in der Natur als Erfahrung vorgegeben ist. Unter den italienischen Theoretikern der Renaissance hat Lessing Lodovico Dolce am häufigsten zitiert und geschätzt. Im Dialogo della pittura, intitulato Aretino (1557) erklärte Dolce (1508–1568), dass die Malerei nichts als eine möglichst naturgetreue Nachahmung in Strich und Farbe sei, während die Dichtung nicht nur alle sichtbaren Dinge sondern auch alles dem Geist unmittelbar Geoffenbarte nachahme. Freilich sei beiden die Methode gemeinsam. Der Maler sei ein sprachloser Dichter und der Dichter ein beredter Maler.7 Auch unter einem internationalen Gesichtspunkt ist Dolces Werk wichtig. Er beeinflusste Charles Alphonse Du Fresnay, den französischen Maler und Ästhetiker, dessen lateinisches Lehrgedicht De arte graphica (z. 1633–1653) nicht nur durch Roger de Piles 1668 in französische, sondern auch 1695 durch John Dryden in englische Prosa übersetzt wurde. Boileaus L’Art poétique von 1674 verkündete gleichfalls das Nachahmungsprinzip und verbreitete sich über die Verwandtschaft von Malerei und Dichtung. Mit anderen Worten: In ganz Europa kam das Gespräch über Probleme der vergleichenden Schaffenspoetik von Kunst und Literatur in Gang. 2. Im 18. Jahrhundert setzte sich die Polemik um die Beziehungen zwischen Malerei und Dichtkunst fort: Der Abbé Dubos (1670–1742) behandelt das Thema in den Réflexions critiques sur la poésie et la peinture 1719, vervollständigt aber den Titel in der Ausgabe von 1748 durch die Hinzufügung des Begriffs ›musique‹, denn von Musik war im Abschnitt über die Einteilung der Kunstarten die Rede.8 Charles Batteux’ (1713–1780) Les beaux arts réduits à un même principe, 1746 erschienen, spricht der Malerei die Oberhoheit zu, weil Nachahmung sich
4. Scaliger, Julius Caesar, Poetices Libri Septem (1561), Faksimile-Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, zitierte Ausgabe von 1617, S. 407. Vgl. das »klassische« Werk von Weinberg, Bernard, A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance, Chicago 1961, S. 743–750. Sowie: Costanzo, Mario, »Introduzione alla Poetica di Giulio Cesare Scaligero«, in: ders., Dallo Scaligero al Quadrio (Collana Critica), Mailand 1961, S. 11–66. 5. Vgl. Michel, Paul-Henri, La pensée de Leon Battista Alberti. Un idéal humain au 15e siècle, Paris 1930. — Gadol, E., Leon Battista Alberti: Universal Man of the Early Renaissance, Chicago / London 1969. 6. Vgl. Weinberg, op. cit., S. 370. 7. Ibid., S. 420. Die These von dem sprachlosen Dichter und dem beredten Maler stammt von Plutarch. 8. Vgl. Wimsatt, William K. / Brooks, Cleanth, Literary Criticism, New York 1957, S. 263.
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offensichtlich an den Ausdrucksmitteln der schönen Künste orientierte. Batteux, der erklärtermassen umfassend urteilen will, handelt Musik, Poesie, Malerei, Bildhauerei und den Tanz ab. Als dann die Enzyklopädisten Batteux’ Prinzip von der Einteilung der Künste aufnahmen und verbreiteten, kritisierten sie es gleichzeitig: Die Architektur ordneten sie dem Tanz unter, und an die Stelle reiner Nachahmung trat Phantasie. Kaum fünf Jahre nach Batteux leitete d’Alembert (1717–1783) den 1. Band der Encylopédie (1751) im Discours préliminaire folgendermassen ein: La Peinture, la Sculpture, l’Architecture, la Poësie, la Musique & leur divisions différentes composent la troisieme distribution générale, qui naît de l’imagination & dont les parties sont comprises sous le nom de beaux-arts.9
So etwa lässt sich der Diskussionsstand im Hinblick auf die Rolle der Malerei und des Nachahmungsprinzips in der Mitte des 18. Jahrhunderts beschreiben. Mit Lessings (1729–1781) Laokoon (1766) bahnte sich dann der Wechsel an.10 Es ist überflüssig, an dieser Stelle auf Lessings entscheidende Differenzierung hinzuweisen: die These vom Raumprinzip für die schönen Künste und die Ausdehnung in der Zeit für die Dichtung. Lessing dachte nicht an das dritte grosse Gebiet künstlerischer Aktivität, die Musik, obwohl er zwei Hefte der Hamburgischen Dramaturgie, Nr. 26 und Nr. 27, ausdrücklich der Theatermusik gewidmet hatte, die damals als Ouverture oder Zwischenspiel bei Dramen diente. Man wird bei Lessing und seinen Zeitgenossen vergeblich nach einer ebenso gründlichen Untersuchung der Beziehung zwischen Dichtung und Musik wie der zwischen Dichtung und den schönen Künsten suchen. Kants (1724–1804) Hierarchie der Künste in der Kritik der Urteilskraft (1790) kann als sprechendes Beispiel für die Situation der Musik in der ästhetischen Theorie des Jahrhunderts der Aufklärung stehen, das auch das Jahrhundert von Vivaldi, Gluck, Händel, Haydn und Mozart war. Auf der ästhetischen Werteskala setzt Kant die Dichtung als Sprachkunst in den höchsten Rang. Der zweite Platz ist für die schönen Künste vorgesehen (Bildhauerei und Architektur), denn sie geben Sinneswahrheiten wieder, wie die Malerei den Sinnenschein. Der Musik kommt erst der dritte Platz zu, der niedrigste. Ihn muss sie sich mit der Farbenkunst, als einer Art dekorativer Kunst, teilen, denn die Musik vermittelt eben mehr Vergnügen als Kultur. Durch ihr Vermögen, die Seele zu rühren, könnte die Musik sich eigentlich bis zum zweiten Rang erheben, aber ihr Mangel an wahrer Kultur lässt sie, gemeinsam mit der »Farbenkunst«, auf das Niveau der »leichten Muse« absinken. Kants Kulturbegriff schliesst Musik aus. Ihr einziger ästhetischer Wert liegt für ihn in ihrem Vermögen, die Urteilskraft aufzuwühlen. Unnötig zu betonen, wie sehr dieser Gesichtspunkt mit dem Rationalismus der Aufklärung zusammenhängt.11 Lessings Laokoon erschien 1766, doch bald schon warf ihm der junge Herder (1744–1803)
9. Encyclopédie I, 1751, S. XVii (zit. von Wimsatt / Brooks, ibid., n. 3). 10. Das 13. Kapitel des von Wimsatt / Brooks zitierten Werks mit dem Titel »Addison and Lessing: Poetry as Picture« zeigt daher den Prozess auf, in dessen Verlauf die Philosophie »sensationiste« von Hobbes und Locke und die Spectator-Essays von Addison, die den Akzent auf die Rolle der Phantasie in den Künsten setzen, zur Negation des Nachahmungsprinzips und zu einer neuen »Hierarchie« der Künste geführt haben, S. 252–282. 11. Vgl. Nivelle, Armand, Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik, Berlin / New York ²1971, S. 225 f.
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in der Einleitung zu den Kritischen Wäldern (1769) eine Vernachlässigung der Musik vor: »die einzige ganz der Zeit verschriebene Kunst«. Herder zufolge erreichen die schönen Künste nur eine Wirkung im Raum, während die Musik ähnlich der Dichtkunst dem Zeitablauf folgt: als sinnlich vollkommene Rede. Indessen besteht das eigentliche Wesen der Poesie weder in der Zeit noch im Raum, sondern in einer den Worten inhärenten, reinen Energie, die erst Gehör finden muss, um in die Seele zu dringen. Also geht es weder um Ko-Existenz noch um eine (Zeiten) Folge, sondern das Wesen der Poesie verdankt sich einer bestimmten Kraft. »Durch Kraft, die einmal den Worten beiwohnt, durch Kraft, die zwar durch das Ohr geht, aber unmittelbar auf die Seele wirkt. Diese Kraft ist das Wesen der Poesie, nicht aber das Coexistente oder die Succession.«12 Mit diesem Konzept eines den Worten entströmenden Energiepotentials gelang es Herder, den Zirkel junger Dichter in Strassburg zu inspirieren, der dann als ›Sturm und Drang‹ in die europäische Literaturgeschichte eingegangen ist. Der zündende Funke kam von Herder, aber zum Heros und führenden Kopf der Bewegung wurde der junge Goethe. Lessing hatte die Musik, um der Grenzziehung in Kunst und Dichtung willen, vernachlässigt, vor allem aber wegen seiner Zurückweisung des ›ut pictura poesis‹-Prinzips. Hingegen waren die Verbindungen zwischen Dichtkunst und Musik in der Renaissance oft von Kritikern und Kunsttheoretikern behandelt worden. Auf ihren gemeinsamen Ursprung konzentrierte sich dabei das Interesse. Sie wussten, dass Dichtkunst und Musik zur gleichen Zeit entstanden waren; die Verssprache zusammen mit der Melodie. Aber erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat insbesondere die englische Literaturkritik erneut auf diesem Zusammenhang bestanden. In der englischen Kritik war man der Meinung, dass die Dichtkunst die Malerei nicht oder nicht nur ›nachahmen‹ sollte, sondern dass sie sich in erster Linie durch die Musik zu inspirieren hätte. Dichtkunst wie Musik würden durch dieselben Schwingungen der Seele erzeugt: die Gefühle. Insbesondere die erzählende Prosa kann sich der mimetischen Methode überzeugend bedienen. Doch gibt es eine literarische Gattung, die von Nachahmung völlig absieht, und so »expressiv« ist wie Musik. Dieses Genre wird in der 39. Vorlesung von Hugh Blair (1718–1800) an der Universität von Edinburgh (zuerst 1783 veröffentlicht) genauer beschrieben. Es ist die Ode, und Blair lenkt die Aufmerksamkeit auf die gemeinsame Abstammung von lyrischer Poesie und Musik. In the Ode Poetry retains its first and most ancient form; that form, under which the original Bards poured forth their enthusiastic strains […] It is from this circumstance, therefore, of the Ode’s being supposed to retain its original union with Music, that we are to deduce the proper idea, and the peculiar qualities of this kind of Poetry.
Blair sieht aber noch eine weitergehende Verwandtschaft zwischen dem lyrischen Gedicht (der Ode) und der Musik. Er grenzt die Ode von den anderen literarischen Gattungen ab. I know no distinction of subject that belongs to it, except that other Poems are often employed in the recital of actions, whereas sentiments of one kind or other, form, almost always, the subject of the Ode …
12. Herders Sämmtliche Werke, Suphan, Bernhard (ed.), Berlin 1878, Reprint Hildesheim u.a. 1967–78, Bd. 3, S. 137.
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Das lyrische Gedicht ist Ausdruck von Empfindungen, und dies begründet ihre Gemeinsamkeit mit der Musik, die Gefühle und Empfindungen in der Seele des Menschen erzeugt. The effects of Music upon the mind are chiefly two; to raise it above its ordinary state, and fill it with high enthusiastic emotions; or to soothe, and melt it into the gentle pleasurable feelings.
Gleiches gilt für die Wirkung des lyrischen Gedichts: »Hence, the Ode may either aspire to the former character of the sublime and noble, or it may decend to the latter of the pleasant and gay; and between these, there, is, also, a middle region, of the mild and temperate emotions, which the Ode may often occupy to advantage.«13
Schon 1763 hatte John Brown die Dissertation on the Rise, Union and Power, the Progressions, Separations, and Corruptions of Poetry and Music veröffentlicht, in der er, wie später Blair, die Musik als Vermittlungsinstanz für den Ausdruck menschlicher Empfindungen beschreibt. Auch Daniel Webb hatte in den Observations on the Correspondence between Poetry and Music zu beweisen versucht, dass die Bildersprache der Dichtung genau die Sprache der Empfindungen wiedergebe und der Musik gleichkomme. Und schliesslich hat Sir William Jones in dem Essay on the Arts Commonly Called Imitative (1722) eine Rangordnung von ›imitativen‹ und ›expressiven‹ Künsten aufgestellt, letzteren selbstverständlich den Vorzug gebend. The finest parts of poetry, music and painting, are expressive of the passions, and operate on our minds by sympathy. The inferior parts of them are descriptive of natural objects, and affect us chiefly by substitution.14
All diese Theorien wollten die Oden von William Collins und Thomas Gray unter ästhetischen Gesichtspunkten rechtfertigen. Von Gray (1716–1771) sagte sein Zeitgenosse James Warton, dass sein The Bard mehr wert sei als das poetische Werk von Alexander Pope.15 3. Johann Georg Sulzers (1720–1779) Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771–1774) schränkte die Reichweite der Nachahmungsmethode auf die schönen Künste ein und wies Dichtung, Musik und Tanz dem Reich der Empfindungen zu. In der Literatur bedeutete ihm Nachahmung nicht viel mehr als die Nachahmung der Alten: »Die allgemeine Nachahmung grosser Meister besteht darin, dass man sich ihre Maximen, ihre Grundsätze, ihre Art zu verfahren zueigne, in sofern man einerley Absichten mit ihnen hat …« Und er fährt fort: »Wer ein Heldengedicht schreiben will, kann den Homer und Ossian zum Muster nehmen, aber nur in dem, was zur allgemeinen Absicht eines solchen Werks dienet…« um dann den Schluss zu ziehen: »Der freye, edle Nachahmer erwärmet sein eigenes Genie an einem fremden so lange, bis es selbst angeflammet, durch eigene Wärme fortbrennet …«16
13. Zitate entnommen von Blair, Hugh, Lectures on Rhetoric and Belles Lettres. A new edition by Thomas Bale, London 1874, S. 475 f. 14. Jones, William, Essay on the Arts Commonly Called Imitative, Harding, Herold (ed.), 2 Bde., Carbondale / Edwardsville 1965, hier: Bd. 2, S. 353. 15. Ibid. 16. Die drei Zitate sind aus dem Artikel »Nachahmung« entnommen aus dem Werk von Sulzer, Johann Georg, Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden
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Sulzer interessiert sich einerseits für die psychologische Seite der Kunstschöpfung, andererseits für ihre Wirkung auf den Leser, den Zuhörer, kurz das Publikum. Unter schöpferischen Gesichtspunkten betont er Rolle und Präsenz des Dichters in seinem Werk, das niemals nur aus Nachahmung bestehen könne, da der Dichter doch der Schöpfer eines Werks sei: Denn eigentlich zeiget der Dichter seinen Gegenstand nicht, wie er in der Welt vorhanden ist, sondern wie sein fruchtbares Genie ihn bildet, wie seine Phantasie ihn schmücket, und was sein empfindungsvolles Herz noch dabey empfindet, lässt er uns mit geniessen.
Der Schöpfergeist ist in seiner Wirkung auf ›Empfängnis‹ aus und muss ein (wahrhaftiger) Herrscher und (uneigennütziger) Verwalter des Menschenherzens sein: […] so ist der Dichter ein Meister über die Herzen der Menschen. Nicht nur die Gedanken und Bilder selbst, die er vorlegt, tragen das Gepräge eines empfindsamen Herzens: auch der Ausdruk und der Ton der ganzen Rede bestätigen es, und lassen es uns unmittelbar empfinden.17
Die aus Empfindungen entspringende Poesie verdankt sich keiner Nachahmung, wie die Malerei, erklärt sich nicht aus Betrachtungen und Philosophien oder aus kunstvoller Wortwahl. Sie muss der Gefühlswelt des Dichters spontan entspringen und mit der grössten Einfachheit sich zum Herrscher über das Herz seiner Nächsten aufschwingen. Als diese Theorien entstanden, befand sich Klopstock (1724–1803) auf der Höhe seiner Odendichtung. Er schätzte seine Dichtung gegenüber den allseits bewunderten, grossen englischen Odendichtern — Gray und Young — als aufrichtiger ein, da er sie in seiner Liebesdichtung an Offenheit und Gefühlsechtheit übertroffen habe. Klopstocks Gefühlsausdruck nahm die Sturm und Drang-Generation auf, wo Herder als »Jungmeister« im Gefühlsüberschwang die Quelle aller Dichtkunst sah. In der Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1771) behauptete er den gemeinsamen Ursprung von Dichtung und Musik, da sie Ausdruck derselben Eigenschaften der menschlichen Seele seien. Die Kunst- und Literaturkritik des 18. Jahrhunderts setzte Dichtung und Musik auf dreifache Weise in Beziehung zueinander. Erstens entstanden beide aus einer ursprünglich gesungenen Sprache; zweitens besassen sie Gemeinsamkeiten in Ton und Rhythmus als wichtigsten Elementen und drittens drückten sie Empfindungen und Gefühle aus, wenngleich beide in verschiedenen Formen. Der entscheidende Unterschied lag darin, dass die Poesie reale Gegenstände darstellen konnte, was der Musik verschlossen war. Bis zu diesem Punkt konnte die Ästhetik des Aufklärungszeitalters äusserstenfalls gehen. Sie blieb damit aber an der Peripherie der Probleme. Erst bei Friedrich Schiller (1749–1805), dessen Werk im Grenzbereich zwischen Aufklärung und Romantik liegt, kündigt sich eine Wende an, wenn er von der inneren Form ausgeht und strukturellen Gesichtspunkten folgt. 4. In der Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung spricht er 1795 über die nachahmende idealistische Dichtung, die er als eine Form der beschreibenden Dichtung
Artikel abgehandelt […], Leipzig 1771–1774, Hildesheim 1967 (reprograf. Nachdruck der Ausgabe von 1799), 5 Bde., hier: Bd. 3, S. 489. 17. Die beiden letzten Zitate stammen aus dem Artikel »Dichtkunst. Poesie«, ibid., Bd. 1, S. 620.
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klassifizierte. Nur in einer Anmerkung, als wäre er sich nicht ganz sicher, stellt er der Nachahmungspoesie eine andere Gattung, die bis an die Musik heranreicht, entgegen. Die Argumentation verläuft folgendermassen: Wenn die Poesie ein genau umschriebenes Objekt beschribt, die Natur oder ein Ideal, nähert sie sich den schönen Künsten an (ut pictura); Schiller nennt sie »plastisch«, wie erzählende Dichtung oder die dramatische Dichtung des Theaters. Wenn sie aber, im Gegensatz dazu, einen affektiven Zustand ohne äussere Objekte beschreibt, gilt sie als »musikalisch« (ut musica). Der Ausdruck »musikalisch« bezieht sich also nicht nur auf genuin Musikalisches in der Poesie, sondern auf die Vorstellungskraft, soweit sie nicht durch ein Objekt bestimmt und begrenzt ist. Der letztere Ausdruck [d.h. »musikalisch«] bezieht sich also nicht bloss auf dasjenige, was in der Poesie, wirklich und der Materie nach, Musik ist, sondern überhaupt auf alle diejenigen Effekte derselben, die sie hervorzubringen vermag, ohne die Einbildungskraft durch ein bestimmtes Objekt zu beherrschen […]
Anders gesagt: Es handelt sich nicht um Sprachmusik oder Versmusik, sondern um einen Lyrismus ohne äusseren Gegenstand, der, statt zu beschreiben einen Seelenzustand ausdrückt, der »dem Musikalischen« gleicht.18 Musik und lyrische Dichtung sind zum ›Abmalen‹ der Objekte nach der Natur ungeeignet; ihre ›Objekte‹ sind seelische Schwingungen. In der Dichtung entstehen sie durch Worte und Bilder, in der Musik ohne Bilder, ohne Worte und ohne Vorstellungen, nur durch Töne und Harmonien. Die Mittel sind verschieden, aber der Effekt ist gleich: er gründet in der strukturellen Gemeinsamkeit von lyrischer Dichtkunst und Musik. Diese geniale Unterscheidung ist Schillers Vermächtnis an die Romantik. Nur drei Jahre später, 1798, entwickelte Friedrich Schlegel (1772–1829) Schillers Idee weiter und schloss jede Art von Nachahmung aus der Dichtung aus. Poesie sei Musik für das »innere« Ohr und stelle sich wie Malerei dem »inneren« Auge dar. »Die Poesie ist Musik für das innere Ohr, und Malerei für das innere Auge; aber gedämpfte Musik, aber verschwebende Malerei.« So schreibt er in einem seiner Aphorismen.19 Novalis (1772–1801) nimmt Friedrich Schlegels Gedanken auf und spricht in einem seiner Fragmente von der inneren Malerei und der inneren Musik. »Sollte Poesie nichts als innere Malerei und Musik etc. sein? Freilich modifiziert durch die Natur des Gemüts.« Anschliessend: »Man sucht mit der Poesie, die gleichsam nur das mechanische Instrument dazu ist, innre Stimmungen und Gemälde oder Anschauungen hervorzubringen, vielleicht auch geistige Tänze etc.« Abschliessend stellt er fest: »Poesie — Gemütserregungskunst«.20 An anderer Stelle weist er den Leser darauf hin, dass die Musik und die poetische Malerei die wahre Poesie ausmachen. Letztere entströme der Seele des Dichters,
18. Diese Bemerkung findet sich im Kapitel »Elegische Dichtung«, wo sie verbunden ist mit der Charakterisierung von Klopstock. Schillers Werke, Nationalausgabe, Weimar 1963, Bd. 20, S. 455 f. Siehe auch einen Brief von Schiller an Körner vom 25. Mai 1792: »Das Musikalische eines Gedichts schwebt mir weit öfter vor der Seele, wenn ich mich hinsetze es zu machen, als der klare »Begriff« von Inhalt, über den ich oft kaum mit mir einig bin.« Ibid., Bd. 21, S. 303. 19. Athenaeum-Fragmente, S. 165–255, hier: S. 183. Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, 35 Bde., Behler, Ernst (ed.), München u.a. 1958ff, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). 20. Novalis, Gesammelte Werke, Seelig, Carl (ed.), Zürich 1945, Bd. IV, S. 267, Fragment: 2907.
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seinen Empfindungen und Gefühlen.21 Wordsworth (1770–1850) stellte zur gleichen Zeit in der Preface to Lyrical Ballads (1800) fest: »[…] all good poetry is the spontaneous overflow of powerful feelings«.22 Als er 1807 sein noch unvollendetes Werk Prelude Coleridge zu lesen gibt, preist dieser es als einen wahrhaft orphischen Gesang, der die Musik der höchsten Ideen singe.23 Coleridges (1772–1834) Rime of the Ancien Mariner (1798) vereint nicht nur Folklore mit romantischer Poesie und Phantasie,24 sondern ist selbst von einer höchst musikalischen Struktur geprägt. Man könnte den Text als eine unvollendete Symphonie ansehen. Auch die Malerei wollte sich in romantischer Empfindung auflösen. Parallel zu Wordsworth stellte John Constable fest: »Painting is with me but another word for feeling.« Novalis zufolge bestand die Kunst des Malers nicht in der getreuen Wiedergabe eines Vorgegebenen, sondern im »aktiven Blick«, wie die Kunst des Musikers im »aktiven Sehen« oder »aktiven Hören«; der Dichter soll nicht Spiegel der Wirklichkeit sein, sondern durch schöpferische Kraft zum Erfinder einer eigenen poetischen Welt jenseits werden.25 Eines der fundamentalen Prinzipien romantischer Ästhetiken war die schöpferische Freiheit. In den Kommentaren von Armand Nivelle wird Friedrich Schlegels Diktum herausgestellt, demzufolge »die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide.«26 Wenn seit der Antike die Gesetze der Plastizität herrschten, so ist die romantische Poesie überwiegend bildhaft und musikalisch. In ihr verschwimmen die Konturen. Selbst die Romanstruktur muss, nach Novalis, frei und chaotisch sein wie die Phantasie und das Märchen.27 In Deutschland und England vertritt die Frühromantik theoretisch und praktisch die innere Einheit von Poesie und Musik.28 Für Wordsworth, Coleridge, Shelley und Keats ist das Musikalische, seiner inneren Form nach, ein ebenso wichtiges und charakteristisches Element wie für Novalis, Tieck und die Brüder Schlegel, die bedeutendsten Theoretiker der Romantik. Die poetische Musik kann am besten ausdrücken »was am Gefühlsleben ungreifbar ist« — so Tieck.29 Die Musik wird mit ihrem lyrischen Ton alle Gattungen zu Beginn der europäischen
21. Ibid., S. 272, Fragment: 3008. 22. Wordsworth, William, Poetical Works, Selincourt, Ernest de (ed.), Oxford 1944, ²1952, Bd. II, S. 387. 23. «An orphic song indeed, / A song divine of high and passionate thoughts / To their own music chanted!« aus: To William Wordsworth, in: Samuel Taylor Coleridge, Jackson, H. J. (ed.), Oxford / New York 1985, S. 124–127, hier: 126. 24. Siehe Szenczi, Miklós, »Coleridge irodalomesztétikája (Esthétique littéraire de Coleridge)«, in: ders. Valósághúség és képzelet (Fidélité à la réalité et imagination), Budapest 1975, S. 138 und 200. 25. Novalis, Fragment: 1000, zitiert nach Armand Nivelle, Frühromantische Dichtungstheorie, Berlin 1970, S. 85. 26. Athenaeums-Fragmente, Nr. 116. Siehe Nivelle, op. cit., S. 183. 27. Fragment Nr. 2718, ibid., S. 162. 28. Was die englische Tradition und die generelle Frage anbetrifft, so möchte ich auf Paula Johnson, Form and Transformation in Music and Poetry of the English Renaisssance, New Haven / London 1972, S. 21, verweisen, wo man lesen kann: »It might of course be that musical and literary forms have only their temporal extension in common, that their formal principles are wholly dissimilar; but the shared condition of their presentation makes it probable that at some level of abstraction there will be a similarity in principles, too.« — Siehe auch zu dieser Frage: Brown, Calvin S. , Music and Literature: A Comparison of the Arts, Athens, Georgia, 1948. — Egri, Péter, Literature, Painting and Music. An Interdisciplinary Approach to Comparative Literature (= Studies in Modern Philology, 4), Budapest 1988. 29. Siehe Kajtár, Mária, »Poésie de la langue allemande«, in: Tournant du siècle des Lumières, 1760–1820. Genres en vers, Vajda, G. M. (ed.), Budapest 1982, S. 369.
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Romantik erfüllen. Selbst Chateaubriand macht mit René und Atala keine Ausnahme. Der »Panlyrismus«, und die Pan-Musikalität sind später durch Tieck theoretisch begründet worden. Er sah die des Wortes bedürftige poetische Musik nur als einen Ersatz für wahre Musik. 5. Als vollendete Form der inneren Einheit von Poesie und Musik gestaltete das Lied sich an der Wende von der Aufklärung zur Romantik aus — und hat sich bis heute erhalten. Weder der Naturalismus des 19. Jahrhunderts noch die Dekonstruktionen der Avantgardebewegungen und auch nicht die Revolution der Reproduktionstechnik konnten es zum Verschwinden bringen. Im Lied verkörpert sich der elementare Wunsch und Wille des Menschen nach Harmonie. Wenngleich in der Romantik weitverbreitet, ist das Lied doch nicht dort entstanden. Auf Goethe (1749–1832) geht sein Ursprung zurück, und so lebt es bis heute im poetischen Bewusstsein fort. Als Zwanzigjähriger lässt sich Goethe in der »Sesenheimer Idylle« zu den ersten modernen Liedern in der europäischen Dichtung inspirieren: darunter das Mailied (1771), eines der Meisterwerke in seiner Art. Es zeigt Lyrik ›pur‹, ohne irgendeine Handlung, es klingt wie ein Triumph beschwingter Jugend und trunkener Liebessehnsucht. Es könnte auch als Hymne und Lobpreis auf den mythischen Frühlingsbeginn, auf die Liebe, in ihrer Entstehung oder Entfaltung, gelten. Aber mehr noch: Jedes Naturelement hat seine eigene subjektive Stimmung und Schwingung: Wie herrlich leuchtet mir die Natur! Wie glänzt die Sonne! / Wie lacht die Flur! Zuerst die Flora: Es dringen Blüten / Aus jedem Zweig dann die Fauna: Und tausend Stimmen / Aus dem Gesträuch Schliesslich die Seele im Liebeszauber: Und Freud und Wonne / Aus jeder Brust Oh Erd’ o Sonne, / O Glück, o Lust, O Lieb’, o Liebe, / So golden schön Wie Morgenwolken / Auf jenen Höhn […]
Der Jubel wendet sich dem Liebesobjekt zu, die Liebe des jungen Mädchens ähnelt der Lerche, immer gleich, immer gegenwärtig, und die Schlusspointe bringt eine feine bescheidene Anempfehlung: Dein eigenes Glück sei dem meinen gleich in gegenseitiger Liebe: Sei ewig glücklich / Wie du mich liebst.30
Nur Shelley, der junge Heine und der Ungar Petöfi (1823–1849) wussten unter den Romantikern eine ähnlich stimmungsvolle und handlungsarme (dabei nicht weltabgewandte) lyrische Poesie zu schaffen. Zwei Strophen des Liebesliedes von Petöfi, 1846 komponiert, das in viele Sprachen übersetzt wurde, seien hier in der Übersetzung von Jean Rousselot angeführt:
30. Zum Mailied Goethes siehe die Kommentare der Hamburger Ausgabe von Erich Trunz, München 1974, Bd. 1, S. 449–455. — Siehe auch: Colleville, Maurice, La renaissance du lyrisme dans la poésie allemande au 18e siècle, Paris 1936.
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György M. Vajda Comme un buisson frissonne Où s’est posé l’oiseau, Mon cœur soudain buissonne Et tremble de nouveau. C’est qu’en lui s’est posée Belle enfant, perle pure De l’immense nature, L’aile de ta pensée.
Die insgesamt drei Strophen erinnern gegen Schluss an Goethes Mailied, aber einen Zusammenhang zwischen beiden Gedichten gibt es nicht. Die Ähnlichkeit des Endes liegt an der ähnlichen Situation. Das Lied von Petöfi bezeugt die nämliche Einheit von Natur, Mensch und Liebe, das nämliche musikalisch verschwimmende Gefühl wie bei Goethe. Quand nous étions ensemble, Je sais que tu m’aimais. L’été qui te ressemble, En ce temps-là flambait. C’est l’hiver … Sois bénie Si tu ne m’aimes plus, Mais encor m’aimes-tu? Sois-le à l’infini.31
Nur durch Musik lässt die Lebensfreude sich vermitteln, die vom Gedicht Mailied ausgeht. Den Gesamteindruck kann man mit einer Melodie vergleichen, die sich durch alle Metaphern der universellen Einheit und der Liebesempfindung zieht. Ut musica poesis! Damit wäre der grosse Wechsel bezeichnet: fort von der malenden Poesie, deren Gebundenheit an äussere Objekte und die Vernunft sich weder durch Youngs Melancholie, noch in den majestätischen Bildern Grays oder dem Reimreichtum bei Smart verleugnen lässt. Von Goethes musikalischen Lyrismen profitierten bald die Dichter der deutschen Romantik, deren einer, Eichendorff, zu ihren subtilsten Vertretern gehört, und später der junge Heine. Vergleichbares kann man unter musikalischen Gesichtspunkten in den Dichtungen von Shelley und Keats, aber auch beim Schweden Carl Michael Bellman oder beim Ungarn Mihály Csokonai Vitéz finden. Bellman war neun Jahre älter, Csokonai zwanzig Jahre jünger als Goethe — und beide waren, wie Goethe, vom Rokoko geprägt und vom italienischen Arkadien. Bellman führte im Strassburg der Sturm und Drang-Epoche ein ausschweifend geniales Leben, schuf die Lyrik eines Freigeistes, der schweifenden Gefühle und Liebeslyrismen, übertrieben, ironisch die Natur übersteigernd. Er sang seine Lieder selbst zu bekannten, modisch gängigen oder selbst komponierten Weisen, aber ohne sich, im Vergleich zu Goethe, weit von der Tradition zu lösen.32
31. Siehe: Anthologie de la poésie hongroise du XII siècle à nos jours, Gara, Ladislas (ed.), Paris 1962, S. 163. 32. Siehe das Nachwort von Hans Marquardt im Band: Bellman, Carl Michael, Fredmans Episteln, Leipzig 1966, S. 169–192.
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Der Bellman in seiner dichterischen Begabung nahestehende Csokonai zeichnet sich durch einen bis dahin seiner Muttersprache unbekannten persönlichen Ton aus, singt auch seine Liebeslieder selbst — Elegien voller Musikalität in der äusseren und inneren Form. Kenner der Geschichte des deutschen Volkslieds haben eine Beziehung zwischen der Lyrik des jungen Goethe und dem Volkslied in Frage gestellt,33 obwohl Goethe in Dichtung und Wahrheit Herder erwähnt, der den Strassburger Zirkel damals zum Sammeln elsässischer Volkslieder aufforderte. Von Herder stammte ja der theoretische Nährboden zu jener epochal neuen Idee, die Goethe in seiner Dichtung verwirklichte. Herder schrieb, dass das Wesen des Liedes Gesang sei und nicht Malerei. Sein Wesen liege in der Gefühlsstruktur, dem Empfindungsbereich, der Sangesweise und wenn diese Elemente fehlten, fehle auch Tonalität und Modulation. »Das Wesen des Liedes ist Gesang, nicht Gemälde: seine Vollkommenheit liegt im melodischen Gange der Leidenschaft oder Empfindung, den man mit dem alten treffenden Ausdruck: Weise nennen könnte […]«34 1773 war Herders Sammlung von folkloristischem Liedgut, ›Volkslieder‹ genannt, bereits vollständig, aber sie erschien erst 1778 und 1779 in zwei Bänden. Bekanntlich enthielt seine Sammlung ausser Volksliedern in unserem heutigen Sinn noch Stücke aus Ossian, Shakespeare und anderen älteren und zeitgenössischen Autoren wie auch von Goethe selbst. Herders Volkslied-Vorstellungen unterschieden sich von dem später im Lauf des 19. Jahrhunderts gängigen Verständnis. Aus Untersuchungen geht hervor, dass Herder als »Volkslied«35 eine volksnahe, populäre und allgemein zugängliche Dichtung bezeichnete. Als Schüler Rousseaus und Hamanns betrachtete er Volksdichtung als »natürlich«, der Natur entsprungen, und da er von einer Muttersprache der Menschheit ausging, versammelte er Dichtungen aus zweiundzwanzig Nationen — von den ›Grossen‹ angefangen über die nordischen Länder und das Baltikum bis hin schliesslich zu Südamerika und Peru. In seiner Sammlung, müssen wir anmerken, sind allerdings die slawischen Völker, denen er gleichwohl später eine glänzende Zukunft voraussagte, nur durch ein serbisches Gedicht in Übersetzung, eine »böhmische Geschichte« und vier morlake Gedichte (eine Mischung aus Rumänisch und Slawisch) vertreten. Herders Witwe und Johannes Müller gaben der zweiten Auflage der Volkslieder (die teilweise von Herder selbst noch vor seinem Tod redigiert worden war) den Titel Stimmen der
33. So Günther Müller in seiner Geschichte des deutschen Liedes vom Zeitalter des Barocks bis zur Gegenwart, München 1925, Nachdruck Darmstadt 1959, S. 242, wo er schreibt: »[…] es ist verfehlt, eine enge Beziehung zwischen ihm [dem Volkslied] und dem Goetheschen Lied zu behaupten […] Und noch verfehlter ist es Goethes Lieddichtung für volkstümlich zu erklären. Das war sie nie und konnte es nie sein als ausgesprochene Standesdichtung, als Dichtung, die aus dem Boden hochgezüchteter Bildung hervorging.« Günther Müller hat Recht, wenn er die bürgerlich-patrizische Kultur Goethes hervorhebt, aber das schliesst nicht die Anerkennung des Wertes der volkstümlichen Dichtung aus und die Übernahme seiner Leichtigkeit, seiner Gewandtheit besonders vom jungen Goethe. Es gibt ausserdem noch einen Widerspruch in der Argumentation von Müller, wenn er feststellt: »Wohl aber scheint das sogenannte Volkslied auf die äussere Form der strophischen Lieder Goethes einen gewissen Einfluss ausgeuebt zu haben […] mit den lange Zeit für typisch gehaltenen Vierzeilern, die Goethe in seinen Liedern stark bevorzugt […]«. 34. In der Einleitung der Volkslieder, zweiter Teil, Leipzig 1779, in: Herders Sämtliche Werke, Bd. XXV, S. 332. 35. Erich Trunz, Goethes Hamburger Ausgabe, op. cit., S. 494: »Herders Volksliedbegriff war nicht der heutige. Er meint mit diesem volkstümliche Lieder, und ein solches ist das Heidenröslein.« (In der Sammlung von Herder heisst es »Röschen auf der Heide«).
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Völker in Liedern (1807) bei. Ein solcher »Internationalismus« in der Volksliedersammlung ging mit Goethes Konzeption durchaus konform. So gab er in seiner 1806 erschienenen Besprechung der Liedersammlung von Arnim und Brentano, Des Knaben Wunderhorn, der Hoffnung Ausdruck, dass dieser rein deutschen Sammlung ein Band mit Liedern anderer Nationen folgen möge. Brächten sie uns noch einen zweiten Teil dieser Art deutscher Lieder zusammen, so wären sie wohl anzurufen, auch was fremde Nationen, Engländer am meisten, Franzosen weniger, Spanier in einem andern Sinne, Italiener fast gar nicht, dieser Liederweise besitzen, auszusuchen, und sie im Original und nach vorhandenen oder von ihnen selbst zu leistenden Übersetzungen darzulegen.36
So stellte das Volkslied für Goethe das »Lied der Völker« dar und zwar als verbindendes Element. Bei Herder werden die Worte Volkslied und Nationallied wechselweise gebraucht, aber erst die Romantik wird aus beiden jene Volksliedvorstellung formen, die als tiefster Ausdruck der jeweiligen Nationalität gelten kann. Für Herder dienten Volkslieder und Volksdichtungen der Verbindung der Völker — wie Texte einer gemeinsamen Muttersprache. Aus dem Osten gebürtig und gen Westen gewandert, hatte er als junger Gelehrter über den kulturellen Beitrag von Ländern wie der Ukraine, Ungarn, Polen, und Russland nachgedacht.37 Von politischen und ideologischen Motiven war seine Volksliedersammlung offensichtlich bestimmt. Rousseaus Vorstellung vom »peuple« hatte sich tief in alle Schichten der europäischen Gesellschaft eingegraben und das Volk in den Rang des Gesetzgebers erhoben. Dies alles trug dazu bei, dass das Volk und die Volksdichtung eine immer grössere Rolle im kollektiven Bewusstsein des literarischen Europa spielten, vor allem in der deutschen Romantik und bei ihren Vorgängern in England. Insbesondere die deutschen Romantiker machten aus dem Volk einen Mythos und erklärten die Entstehung des Volkslieds zu einer Art mystischen Geburt aus der Gemeinschaft. Jakob Grimm ging davon aus, dass Volkslieder nach und nach aus der »Energie« der (Volks-) Gemeinschaft entstehen. Ihren Ursachen nachzugehen hiesse, ein Sakrileg zu begehen, denn sie sind (aus gutem Grunde) vom Schleier des Geheimnisses bedeckt.38 Wilhelm Grimm seinerseits war davon überzeugt, dass die Suche nach einem Autor der Volkslieder ganz überflüssig sei, »da ein Volkslied sich selbst dichtet.«39 Am Wendepunkt des Zeitalters der Aufklärung stand die deutsche Literatur an der Spitze Europas und dank des Weimarer Klassizismus sowie der Romantik konnte sie diese Stellung für eine gewisse Zeit halten. Mme de Staël, Thomas Carlyle, Übersetzer wie Gérard de Nerval und Samuel Taylor Coleridge verhalfen ihr zu diesen Ansehen, indem sie das europäische Publikum auf die deutschen Autoren (insbesondere auf Goethe und Schiller) aufmerksam machten. Herders Werke — seine Volkslieder, die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) und die Briefe zur Beförderung der Humanität (ab 1792) — sind vor
36. Zitiert nach Fambach, Oscar (ed.), Der romantische Rückfall in der Kritik der Zeit (= Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik (1750–1850), 5), Berlin 1963, S. 9. 37. Journal meiner Reise im Jahr 1769, in: Herders sämmtliche Werke, op. cit., Bd. 4, S. 402. 38. Jacob Grimm, Über den altdeutschen Meistergesang, Göttingen 1811, im Vorwort. 39. Zitiert nach Danckert, Werner, Das europäische Volkslied, Bonn ²1970, S. 7.
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allem in der slawischen Literatur rezipiert worden, ebenso in der ungarischen Kultur.40 Die Rezeption verdankt sich der Entdeckung des Volkes in politischer, poetischer und musikalischer Hinsicht. So erklärt es sich, dass die Volkslieder und Volksweisen für Liszt, Smetana, Brahms und Dvorak für ursprünglich zu Säulen der romantischen Musik geworden sind. Von den ›Dekadenzpoeten‹ zuerst — wie beispielsweise Baudelaire — dann von den Symbolisten, sind die engen Verbindungen und Beziehungen zwischen der deutschen und englischen Romantik wie auch zu den Vertretern der französischen Dichtung längst erkannt worden.41 Diese Verbindungen beschränken sich keineswegs auf die musikalische Struktur. Im modernen Symbolismus wird die imaginäre Welt der deutschen und der englischen Romantik wieder erstehen,42 doch beruht der wesentliche Teil dieser Verbindung auf der inneren Beziehung von Dichtung und Musik. Verlaines Ausruf: »De la musique avant toute chose« in seiner Art poétique (1874) ist bekannt. Im selben Jahr erscheint auch sein Werk Romances sans paroles, dessen Titel an Mendelssohn-Bartholdys Lieder ohne Worte erinnert. Das Lied als lyrischste aller Gattungen ist auch gleichzeitig die musikalischste: Es ist Musik durch Worte und ohne Worte. Poesie in Prosa ist ebenfalls eine ›Trouvaille‹ aus der Wende der Aufklärung, jedenfalls war sie damals sehr verbreitet. In Rousseaus La Nouvelle Héloïse oder Goethes Wilhelm Meister sind die lyrischen Stücke fest in den künstlerischen Zusammenhang integriert. Davon hätten wir ebenfalls handeln können, denn poetisch wird diese Prosa gerade auf Grund ihrer musikalischen Struktur.
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40. Wir möchten hier zwei herausstellen: Sundhausen, I. H., Der Einfluss der Herderschen Ideen auf die Nationbildung bei den Völkern der Habsburger Monarchie, München 1973. — Johann Gottfried Herder. Zur Herder-Rezeption in Ostund Südosteuropa, Ziegengeist, Gerhard / Grasshoff, Helmut / Lehmann, Ulf (eds.), Berlin 1978. 41. Siehe Thorel, Jean, »Les Romantiques allemands et les Symbolistes français«, in: ders., Promenades sentimentales, Paris 1891. — Visan, Trancrède de, Le Romantisme allemand et le Symbolisme français, Paris 1910. — Weinberg, Kurt, Henri Heine: ›romantique défroqué‹ héraut du Symbolisme français, New Haven 1954. — Friedrich, Hugo, Struktur der modernen Lyrik von Baudelaire bis zur Gegenwart, Hamburg, 6. Aufl. 1962. 42. Béguin, Albert, L’âme romantique et le rêve. Essai sur le romantisme allemand et la poésie française (1937), Paris 1956.
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Oper Jean-Pierre Barricelli †
Vor 1760 hatten Lulli, Purcell, Pergolesi, Scarlatti und Händel — zusammen mit dem Dramatiker Pietro Metastasio — die ernste (›seria‹) wie die komische (›buffa‹) barocke Oper zu scheinbar unüberbietbarer Ausdruckskraft gebracht. Doch machte sich um 1760 (ein Jahr nach dem Tode Metastasios) mit den Gluck’schen Reformen ein veränderter Geist bemerkbar. (Gluck (1714–1787) verdankte dabei viel dem Essay Saggio sopra l’opera in musica (1755) des Grafen Algarotti.) Wie die überladene, verwickelte Manier des Barock — die wuchtigen Schnörkel und Bögen, die schwierigen melodischen Verzierungen und Chromatizismen — von dem freieren Rokoko abgelöst worden war, so sollte nun das Rokoko zu einer weniger artifiziellen Ausdrucksart gebracht werden: Die Gegenbewegung zum Rokoko im vorrevolutionären Klassizismus steht in der Oper für das Bemühen um zweckmässige Vereinfachung, menschliche Unmittelbarkeit und Universalität der Anziehungskraft. Für die Literatur genügt es, an die Verzweiflungsschreie des Sturm und Drang in Deutschland, an die scharfen Polemiken Jonathan Swifts, die dunklen poetischen Visionen der englischen Dichter, die anti-klassischen Sentimentalitäten der französischen Autoren oder die Gesellschaftssatiren eines Giuseppe Parini im klassischen Italien zu denken, um zu wissen, dass sich damals weniger ein evolutionärer denn ein revolutionärer Umschwung ankündigte. Auch in der Malerei (bei den gelegentlich schockierend düsteren Nachfolgern Caravaggios, in den Schreckensarchitekturen Piranesis, den Rokoko-Sentimentalismen Watteaus und Fragonards, im — Hogarth ähnlichen — kompromisslosen Realismus eines Chardin und etwas später eines Goya) verbreiteten sich ebenfalls die Ideen des Umsturzes. Sie zielten auf grosse Veränderungen, nicht auf einen allmählichen Wandel. Die Historie Europas um 1760 war ruhelos: Immer noch wirkten die Folgen des Siebenjährigen Krieges nach, immer noch herrschte Unsicherheit ob der Ambitionen Friedrichs des Grossen, Preussen zu grösserer Macht zu verhelfen; man verfolgte gespannt, ob die aufstrebende Mittelklasse tatsächlich das Niemandsland zwischen Adel und unterem Stand würde füllen können. — In der Musik hatte sich nach Bach, Händel und Vivaldi verständlicherweise ein Gefühl der Ernüchterung verbreitet, doch wie so oft verbarg jene vorübergehende Stagnation nur eine innere Gärung, und das Jahr 1760 brachte dann eine Reform hervor, die — in politische Begriffe übersetzt — einer Revolution glich. Die Gluck’schen Reformen entsprangen der Einsicht, dass weite Teile der Gesellschaft des barocken (des venetianischen, römischen, neapolitanischen) Pomps, des kunstvollen Gedankens und Gefühls, der komplizierten Konstruktionen in der Musik überdrüssig geworden waren. Da die barocke Manier ihren Gipfel erreicht hatte, verfiel sie in die Wiederholung. Die wiederkehrenden Konstellationen doppelter Liebespaare, die hochherzigen Tyrannen, die zierlichen Zeremonien und heroischen Taten, die dialogischen Rezitative und dramatischen (und oft überstrapazierten) Arien, Ensembles, die nie über das Duett hinauskamen, eine Vernachlässigung
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des Chors, der restriktive Einsatz des Orchesters — all das hatte zuletzt Ermüdung erzeugt. Wichtige Personen für die Reformbewegung in der Oper waren Jommelli (1714–1774) in Stuttgart und Traetta (1727–1779) in Parma; sie brachten die Oper mit dem Drama in Einklang, das neuerdings — in der lyrischen Tragödie — die kosmopolitischen Ideen der Mittelklasse stärker reflektierte als die Interessen der Aristokratie. Doch es war Gluck, der die internationale Manier der Oper veränderte. Sein Bemühen um eine Einheitlichkeit der Wirkung brachte die Reduzierung von Figuren und Nebenhandlungen; zudem wurde die Rolle des Chors in grossen Ensembles verstärkt. Alles sollte nun den Prinzipien von Ökonomie, Einfachheit, Natürlichkeit, Wahrscheinlichkeit und Schlichtheit des Ausdrucks folgen. Etwas von Rousseaus gesellschaftlichem Kontrast von Natur und Kultur lag in dieser ästhetischen Haltung und viel von Winckelmanns Glauben an Einfachheit, Wahrheit und Natürlichkeit als den Grundsätzen des Schönen. Doch ist die Art, wie Gluck die Musik als Musik behandelte, hier genauso wichtig. Er orchestrierte die musikalischen Begleitungen und gab hierdurch dem Orchester eine lyrische Rolle; er schrieb einfache Melodien ohne Verzierungen durch Koloratur-Kadenzen, gab das ›recitativo secco‹ auf, hielt die Chromatizismen unter Kontrolle, vermied jede dissonante Dynamik und kultivierte die leicht fliessenden Modulationen. Weder den Sängern noch dem Publikum war es mehr erlaubt, in prunkvollen Extravaganzen zu schwelgen. Glucks erste Oper im ›reformierten‹ Stil, Orfeo ed Euridice (1762), besticht in der Tat durch das, was Dr. Burney einmal die Einfachheit der englischen Balladen nannte; die erhabene Ungeziertheit dieser Musik (etwa in Orfeos berühmter Arie »Che farò senza Euridice«, 3. Akt) übersetzt durch ihre leichte Rhythmik, durch die Struktur ihrer Tonika-dominierten Harmonien und in der schlichtesten aller Tonarten, C-Dur, die verzweifelte Erkenntnis Orfeos in eine Erfahrung: Orfeo bewegt sich auf das Publikum zu wie auf Amor, um Euridice wieder zum Leben zu erwecken. Dass Musik sehr referentiell sein kann, dagegen opponiert das antimimetische Postulat des Ästhetikers Eduard Hanslick (1825–1904), der für diejenigen Partei nahm, die meinen, Orfeos Klagelied hätte sich ebenso überzeugend zu glücklichen Worten (etwa »Ho trovato Euridice«) gefügt; doch übersieht er, dass die Melodieführung — obwohl irritierenderweise nicht in Moll gesetzt — im Inneren melancholisch ist, dass sie also, kombiniert zu einem fröhlichen Text, einen Widerspruch im Ausdruck, eine Spannung zwischen der »inneren« und der »äusseren« Realität erzeugt hätte. An dieser wie an anderen Stellen ist die Dramaturgie der Musik hinreichend für die Interpretation: Selbst das wütende »No«, das Orfeo am Tor des Hades entgegengeschleudert wird (2. Akt), beeindruckt, ohne doch zum Spektakel auszuarten, und dasselbe gilt für die dramatische Intensität des Eingangschores zum 2. Akt, »Chi mai dell’Erebo?«, in dem die Musik die Botschaft des Textes sozusagen plastisch formt. Und obwohl hier Text und Musik in einzigartiger Weise verschmelzen, bringt doch die Gluck’sche Musik — mit ihren meisterlich arrangierten Höhen und Tiefen — eher als Calzabigis Text die Überwältigung und Bezwingung der Dämonen zuwege. Soviel zu Glucks Orfeo, der ersten Illustration seiner Reform. Auch die Opern, die folgten, etwa Iphigénie en Aulide (1774) und Iphigénie en Tauride (1779), setzten (obgleich monumentaler und gelegentlich mit schroffen Klängen) das griechische Ideal der erhabenen Einfachheit um. Doch wuchs sich die Gluck’sche Reform zu einer Revolution aus, die der politischen (die im letzten Viertel des Jahrhunderts kommen sollte) nicht unähnlich war. Opposition erhob sich allerorten: Im vorrevolutionären Frankreich hatte der Erfolg der italienischen ›opere buffe‹ (etwa
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von Pergolesis La serva padrona, 1733) zwischen den konservativen Förderern der französischen Oper in der Tradition Lullis und Rameaus und den liberalen Bewunderern der italienischen Oper eine politische Konfrontation — die sogenannte ›Guerre des Bouffons‹ — hervorgerufen, und man nutzte jede Gelegenheit, Gluck anzugreifen, — und das, obwohl Gluck die streitenden Parteien mit seinen beiden französischen Iphigenien und seinen französischen Übersetzungen des Orfeo und des Alceste doch nahelegte, die ›französische‹ Oper könne durchaus jeder Nation gemäss sein. Gluck hielt dennoch an den Idealen seiner Reform fest, und in seinen Werken aus den siebziger Jahren bemühte er sich um eine Ästhetik der tragischen Grösse (dies ist vor allem daran zu bemerken, dass nun ein breiteres Spektrum an harmonischen Mitteln zum Einsatz kommt), um auch bei einer Aristokratie, die die Komplexität der ›opera seria‹ liebte, Anklang zu finden. Die bourgeoise Gegenpartei holte damals den neapolitanischen Komponisten Piccinni (1728–1800), dessen ›opere buffe‹ weitbekannt waren, und stellte derart mit Bedacht eine Rivalität her, die man dann beinahe schon als die Vorwegnahme derjenigen zwischen Wagner und Verdi im nächsten Jahrhundert auffassen kann. Errang auch Piccinni nicht unmittelbar den Sieg, so gewann die komische Oper doch an künstlerischer Glaubwürdigkeit, indem sie — und dies war revolutionär — den Unterhaltungswert über alle Dramatik, die Aufführungsleistung über die Bedeutung des Komponisten stellte, indem sie auch familiäre Szenen mit ganz unheroischen Proletariern (oder zumindest mit ›parvenu‹– und ›mezzo carattere‹ — Figuren ohne mythologischen Hintergrund), die im nationalen Idiom sprachen, beförderte. (Überhaupt sollten folkloristische Motive und musikalische Nationalismen zu Kennzeichen des Romantischen werden.) Man schätzte diesen kompromisslosen Naturalismus, diese Einfachheit und vor allem auch den Spott auf die — mitunter absurde — Prätention. Der neue Usus des Ensemble-Finales steigerte zudem den Gemeinschaftseffekt. — Mit Piccinnis La buona figliuola (1760, Text nach Carlo Goldoni und Samuel Richardson) war es zu Mozart (1756–1791), mit Paisiellos (1740–1816) Il barbiere di Siviglia (1782, nach P. A. C. de Beaumarchais) zu Rossini (1792–1868) nicht weit. Obwohl es eine komische Oper über den Adel nicht geben konnte, wirkte sich die Freiheit, die mit der ›opera buffa‹ gewonnen worden war, doch auf die Dramaturgie und den musikalischen Stil auch der ›opera seria‹ aus. Des öfteren bestand überhaupt der Unterhaltungswert der komischen Oper darin, die ernste zu parodieren: Gewalt und Streit, das nun phantastisch wirkende Alte und Heroische, die sonderbaren Kleider und Konventionen, die bizarren Situationen und die grotesken Verhaltensweisen — dies alles wusste die ›commedia dell’arte‹ zu brillianter und vergnügter Perfektion zu bringen. Indem man in der komischen Oper ernste Themen karikierte, erlangte sie grössere Freiheit. Man huldigte nicht länger einem polyphonen Stil und enthielt sich der Wiederholung kanonischer Gestaltungensweisen; als die ›opera buffa‹ allgemeiner bekannt wurde, zog man es vielmehr vor, den alten Stil geradezu zu verspotten. Vieles, was wir heute bei Mozart (1756–1791) und Rossini als Scherz hören, war damals Parodie — proletarische Parodie, die der Fortdauer des Aristokratischen opponierte. Die Vogelruf-Imitationen in Mozarts Zauberflöte (1791), die fliessenden Bögen der Holzbläser, denen in der Entführung aus dem Serail (1782) ein Sänger antwortet, (und übrigens auch das Ensemble mit dem gerollten »r« in Rossinis La Cenerentola) sind — obwohl Mozart nie dezidiert politische Ziele verfolgte — vor dem Hintergrund dieser Vorgeschichte zu verstehen. Mozart war kein politischer Erneuerer und kein sozialer Aktivist, aber er war ein genialer
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Vollender, der die ernste wie die komische Oper im 18. Jahrhundert zu ihrem Höhepunkt führte. Ein Teil seiner Grösse stammt aus der jugendlichen Laune, sich in vielfältigen, bewusst widersprüchlichen Erscheinungen zu porträtieren. So sehen wir ihn in völlig verschiedenen Gestalten und nehmen doch diese proteische Totalität als kohärent an. In seiner Musik, in den Handlungen seiner Opern finden wir sowohl aristokratische als auch demokratische Züge, doch steht Mozart selbst ausserhalb jeder gesellschaftlichen und ideologischen Partei. So war es möglich, dass Adlige und gewöhnliche Leute in den öffentlichen Opernhäusern zusammenkamen und sich gemeinsam von seiner Musik unterhalten liessen. Mozart verhalf der Musik zum einem idealen Internationalismus. Sein Stil, der die Essenz aus den Errungenschaften der J. Chr. Bach, Pergolesi, Jomelli, Traetta, Scarlatti, Piccinni, Paesiello, Galuppi, Gluck und Haydn war, wurde der wahrhaft galante Stil; er brachte nach Prag und vor allem nach Wien nur das beste, was er in Mannheim, Paris, London und — natürlich — in Italien gefunden hatte. Doch gleich ob in der neapolitanischen ›opera seria‹, der venezianischen ›opera buffa‹, der Rousseau’schen Hirtenoper oder dem deutschen ›Singspiel‹ — jede seiner grossen Opern verschrieb Mozart dem einen Gefühl der Liebe, und er zeigte sie in allen ihren Aspekten, von der reinen, ätherischen bis zur leidenschaftlichen, sinnlichen. Seine musikalische Manier, die das Spiel bewusst inszenierte, wurde zum vollkommenen ästhetischen Gegenstück seiner spielerischen Libretti. Bei Mozart neigt das Erotische dazu, den musikalischen Ausdruck zu durchdringen; doch die Musik bleibt stets so galant wie gelehrt — eben ›mozartisch‹ — und ohne je die gute Laune zu verlieren, erzeugt sie eine charakteristische ambivalente Wirkung, die zwischen Lächeln und Seufzen, zwischen Ironie und Erkenntnis schwankt. Mozart gab der Musik in der Oper eine Selbstreflexivität, die ganz neu war. Manches Mal auch schien er das Genre über die menschliche Schwäche zu erheben und eine dekadente Gesellschaft zu mehr Natürlichkeit und Verständigkeit aufzurufen. Belmonte spricht es in der Entführung aus dem Serail (1782) mit seiner Arie »Ich baue ganz auf deine Stärke« aus: Durch die Liebe kann das, was die Welt für unmöglich hält, erreicht werden. — Jedes einzelne von Mozarts Werken führt dann auch — musikalisch — eine untergründige Argumentation, und dies unterscheidet sie deutlich von Gluck oder Haydn. Unerwartet und konstruktiv berühren sich das innere Leben der Musik und die äussere Realität. Da lenken überraschende Chromatizismen unsere Aufmerksamkeit von der eleganten Melodieführung ab, da heben schwere Kontrapunkte, die von plötzlichen Modulationen und komplizierten rhythmischen Bewegungen begleitet werden, eine bestimmte dramatische Situation besonders hervor: Alles dies scheint — auch — ein Kommentar zu sein. — Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass Mozart Beaumarchais’ (1732–1799) vorrevolutionäres Stück Le Mariage de Figaro (1784) zum Thema einer berühmten komischen Oper machte. Doch war Mozart kein Revolutionär. Man hat oft gefragt, ob seine Musik Zustimmung oder Ablehnung der gesellschaftlichen Zustände ausdrückt. Es scheint jedoch, als hätten die Wechselfälle der Historie (wie auch die des Lebens) Mozarts erfinderischen Geist letztlich unberührt gelassen. Er nahm sie nur als schattenhafte Begleitumstände seines Schaffens war, und die französische Revolution, die 1789, zwei Jahre vor Mozarts frühem Tod, ausbrach, mag darin schicksalhaft gewesen sein, dass sie Mozarts Plädoyer für die Liebe endgültig haltlos machte brachte; das könnte ihn jedenfalls soweit getroffen haben, dass er ein gewisses Interesse an den gesellschaftspolitischen Tagesereignissen entwickelte. Doch bis zum Schluss blieb die
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Musik — als reinste Ausdrucksform — Mozarts Ideal. Er war tatsächlich ein absoluter Musiker, der einer verfeinerten, entrückten privaten Vision nachhing. Mozarts frühe Opern folgten den Regeln der ernsten italienischen oder der komischen Oper, gelegentlich — etwa in La finta giardiniera (1774–75) — kombinierte er auch beide Stile. Nach Ideomeno (1781) lieferte Mozart dann — mit Ausnahme von La clemenza di Tito, die für die Krönungsfeier Leopold II. von Böhmen in Prag bestimmt war und 1791 hastig geschrieben wurde — keine ernsten Opern mehr; dies zeigt seine Vorliebe für die Komödie. Damals ermöglichte es Mozart ein Stück von Beaumarchais, das unter dem Titel La folle journée (er lenkte geschickt von den subversiven Zwischentönen des Stückes ab) in ganz Europa bekannt war, ein blosses Wiederaufwärmen der ›commedia dell’arte‹-Charaktere und -Situationen zu vermeiden, denn hier handelte es sich nicht um eine weitere ›run-of-the-mill‹-Komödie. Gleichzeitig war sich Mozart bewusst, dass das wenig schmeichelhafte Portrait, das Beaumarchais dort von der Aristokratie zeichnete, Ludwig XVI. bereits veranlasst hatten, das Stück »abscheulich« zu nennen, und selbst der liberalere Joseph II. hatte die Bearbeitung durch Zensoren angeraten. Nenne man dies aufrührerisch oder nicht, der Komponist bestand jedenfalls gegenüber seinem Librettisten Lorenzo da Ponte (1749–1838) darauf, dass diese Geschichte seinem musikalischen Geschmack entspräche und dass sie, wenn auch das Stück verboten war, sicherlich gesungen werden könne. (Gleichwohl beschlossen beide, das Projekt geheimzuhalten.) Die Ouvertüre wird dann die musikalischen Themen und Motive der Oper nicht ankündigen, doch stehen beide nichtsdestotrotz in einem Bezug: Von Anfang bis Ende bewegt sich die Ouvertüre in einem Presto in D-Dur, und die Dur-Tonart wird im folgenden für das aristokratische Selbstbewusstsein beibehalten. Und auch das Charakteristische der eröffnenden Takte — ein sozusagen auf Zehenspitzen sich bewegendes, aufwärtslaufendes Motiv, piano und in tiefer Tonlage (des Fagotts), dem absteigend und im gebieterischen Forte des vollen Orchesters geantwortet wird — lässt sich in der gesamten Oper wieder ausgemachen. Da Pontes Libretto ist brilliant, doch macht erst die Partitur den Charakter der Oper aus. Wenn Mozart einerseits die politischen Anspielungen des Beaumarchais’schen Stückes herunterspielte und das Thema der Liebe betonte, liess er doch das Schäkern des Grafen Almaviva und die ihm folgenden Verwicklungen — kraft einer scharfsinnigen musikalischen Charakterisierung — nie auf die Ebene des bloss Unterhaltsamen abgleiten. Die Musik ist hier einmal mehr Kommentar. Und während es eigentlich der Graf ist, der getäuscht wird, da seine Gattin Rosina sich an dem Ränkespiel beteiligt, das Figaro steuert, ist es in Wahrheit dessen Verlobte Susanna, die die Fäden zieht. Mit anderen Worten: Es sind die Frauen, die am Ende — nicht nur »politisch« — als Sieger aus diesem Spiel hervorgehen. — Mozart deutet vorsichtig Unterschiede an, auch solche bei Figuren derselben gesellschaftlichen Klasse: Man denke etwa an Figaros Eröffnungsthema, das nüchtern mit Streichern unterlegt ist, während Susanna von listigen Holzbläsern und eilenden Streichern begleitet wird, die bereits ihr lebhaftes und energisches Temperament andeuten. Doch Figaro, der Prototyp der unteren Klasse, dessen Rezitative häufig durch eine ausdrucksstarke Basslinie unterstrichen werden, ist trotzdem noch ein mehr als ebenbürtiges Gegenüber seines Herrn, des Grafen Almaviva, der nicht einmal das Recht der ersten Nacht (›droit de seigneur‹) wird ausüben können. Dies heisst jedoch nicht, dass der Diener Figaro die Sprache seines Herrn zu sprechen vermag. Wohl soll sein »Se vuol ballare« wie ein höfisches Menuett klingen, doch wartet es mit dem Tanzrhythmus des populären
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»galliard« (und eben keineswegs mit dem Dreiertakt des Menuetts) auf. Mozarts Musik charakterisiert beständig: Die Orchesterbegleitung des pompösen Dr. Bartolo ist ausdruckslos; die Rivalinnen Marcellina und Susanna bilden ein sarkastisches Duettino in A-Dur für Flöten, Oboen, Fagotte, Hörner und Streicher, in dem die erste Violine spöttisch zu glucksen scheint. Und ebenso ist auf die anmutige Melancholie in den Arien der Gräfin hinweisen, die gelegentlich von ausdrucksstarken Septimen bereichert werden; sie unterstreichen die Grundstimmung der Oper — das Thema der verlorenen, der vergehenden Liebe — da sie vornehmlich am Ende auftreten. — Mozart ersann tatsächlich unzählige Möglichkeiten, musikalisch Ideen auszudrücken: Neben den genannten denke man auch an die launenhaften Harmonien (etwa in der Arie des Grafen »Non so più cosa son«), die mit Cherubinos Eskapaden scherzen und vor morgenfrischen Gefühlen sprühen — und damit im Gegensatz zu dem stehen, was die Gräfin in der Mitte ihres Lebens äussert (siehe Almavivas Arie »Voi che sapete« im Vergleich zu Rosinas »Porgi amor«) sowie an die komischen Charaktere, die recht ernste Melodien erhalten, die Adligen, die in plebeische Kadenzen verfallen (was einmal mehr eine verhüllte gesellschaftliche Aussage ist), an Susanna, die eigentliche Hauptfigur des Stückes, die hier — schon Jahre vor der Revolution — die Show bestimmt. Die Oper hätte zurecht auch Le nozze di Susanna heissen können; sie ist voll musikalischer Reichtümer, die in dieser Brillanz dann vielleicht auch etwas über das unaufgeklärte ›ancien régime‹ aussagen. Doch Mozarts Parodie bleibt menschlich. Die Gesangsensembles, die die Ästhetik der ›opera buffa‹ ja ohnehin bereits erfolgreich befördert hatte, überzeugten in ihrer Versöhnlichkeit grundsätzlich weit mehr als die vorher üblichen künstlichen Arrangements. Die Humanisierung der Oper war daher zu Mozarts Zeit bereits vorbereitet, und so beruhigen das gemeinsame Sextett, das den 3. Akt beschliesst (»Riconosci in questo amplesso«), das schlussendliche Frohlocken, in das die Hauptfiguren (im übrigen ohne Chor) einstimmen, die Frage, ob es sich hier um eine politische Satire handelt: In genialer Weise vermochte Mozarts Musik die Zuhörer um 1780 aufzureizen, um sie zugleich wieder zu besänftigten. Wie um die Meinung, Mozarts Opern enthielten politische Anspielungen, zu widerlegen, folgte ausgerechnet 1789 Così fan tutte nach einem Libretto Da Pontes; es hat die unbedeutende kleine Verstrickung zweier Offiziere, die die Beständigkeit ihrer Geliebten auf die Probe stellen, zum Thema. Mozarts Musik nimmt hier die Schein- und Possenhaftigkeit, die Preziosität des überfeinerten Rokoko aufs Korn (und dies ist eine Art Selbst-Verspottung), doch tut er dies ohne jeden Sarkasmus. Mozarts Natürlichkeit des Ausdrucks erscheint auf der Höhe ihrer Möglichkeiten, und der Schabernack der Offiziere findet bereitwillig Vergebung. — Don Giovanni (1787) andererseits, ebenfalls nach einem Libretto Da Pontes, wurde schnell zum anerkannten Prototyp der romantischen Oper. (Mozart hätte Faust vertonen sollen, spöttelte dann Goethe, als ob Don Juan keine faustischen Züge hätte!) Ausgehend von Tirso de Molinas Stoff und seiner satirischen Adaptation durch Molière, versuchte Mozart einen Drahtseilakt zwischen Komödie und Tragödie. Alles musste deshalb davon abhängen, wie die Musik das Libretto umsetzte. Insgesamt hat wohl Mozart das Werk zurecht als ›opera buffa‹ aufgefasst oder es zumindest im Doppelsinn des dramma giocoso untertitelt. Doch geschah dies nur mit einem gewissen Recht. Man kann die Ansicht vertreten, dass die Scherzhaftigkeit der Eskapaden des Don Juan allein den grausamen Ernst seiner letztendlichen Bestrafung übertüncht. Doch einmal mehr sagte Mozart hierzu weit mehr, als er zu sagen vorgab. Denn lässt uns nicht nach dem eröffnenden
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Andante der Ouvertüre in D-Moll (Mozarts Tonart der Angst, die chromatisch gesetzt ist), wenn dessen zwei geheimnisvolle Akkorde am Ende in der Friedhofsszene mit Posaunen wiederkehren, dies zweimal über die Moralität der Taten des Don Juan nachdenken? Man muss auch bedenken, wie unüblich es für eine Opern-Ouvertüre des 18. Jahrhunderts — auch für die ernste Oper — war, in Moll zu beginnen, und welche Neuerung es bedeutete, Trompeten und Pauken zu etwas anderem als zu einer Festmusik zu setzen; Mozart lässt sie in der Friedhofsszene eine Drohung instrumentieren (er verwendet dazu nicht eine, sondern gleich drei Posaunen — Instrumente, die für das Geheimnisvolle und Wunderbare standen, da sie in der Kirchenmusik zu Hause waren), und er nimmt sie gar ins Finale hinein. Dann steigert sich die Atmosphäre der Angst noch, indem das eröffnende D-Moll in dissonante verminderte Septimen — hier forte, nicht piano wie im Figaro – übergeht. Und auch wenn den Eröffnungstakten der Oper unmittelbar ein Allegro folgt, das mit der Heftigkeit und Eile von Don Giovannis Suche nach Genuss in Beziehung steht, wenn dann noch dieses Allegro herausfordern durch Leporello, einen ›buffo‹-Bass, wiederaufgenommen wird, dann spricht dies Don Giovanni keineswegs frei. Tatsächlich wechselt dann Leporellos Registerarie, die die amourösen Abenteuer seines Herrn aufzählt, von D-Dur zu Moll, als er zu Don Giovannis wenig bewundernswerter Praxis kommt, junge, unerfahrene Frauen zu verführen. Es überrascht daher nicht, wenn die demokratischen Romantiker in Don Giovanni einen ausschweifenden, unmoralischen Edelmann sahen, auch wenn die Philosophen unter ihnen den Verführer — weniger vom gesellschaftlichen als vom metaphorischen Standpunkt aus — als den tragischen Helden auf der Suche nach der vollkommenen Schönheit, als Verkörperung des Begehrens (Kierkegaard) oder als dionysischen Übermenschen (Nietzsche) betrachteten. Don Giovanni wurde zur Mozart-Oper schlechthin. Das Spektrum des dramatischen Ausdrucks ist hier weit grösser als im Figaro, die instrumentelle Charakterisierung von Stimmungen beeindruckt unmittelbar: Die Klarinette steht für Rührung, die Oboe für Vergeltung, das Fagott für Ironie, die Flöte für Eleganz oder Spott. Die Streicher sichern den Zusammenhalt, Klarinetten begleiten die moralischen Verurteilungen der Elvira und auch die erschütterte, doch tugendhafte Anna, die bourgeoiser ist als jene: ihre von Streichern getragenen Sprünge, die Aufgeregtheit in den Intervallen ihrer Melodien legen einen Mangel an Kultiviertheit nahe. Man mag Klassenunterschiede auch daran ablesen, dass einmal Don Giovanni von einer Flöte (eine Oktave tiefer) begleitet wird, während dem Bauernmädchen Zerlina — dessen säuselnde Phrasen (»Batti, batti, o bel Masetto«) ihrem Angebeteten mit demselben Erfolg zu schmeicheln wissen wie Susanna ihren Figaro umgarnt — im populären »Là ci darem la mano« ein Fagott unterlegt wird. Man hat Masetto häufig als den im Vergleich mit Figaro einfältigeren Charakter, jedoch als einen potentiellen Revolutionär, gesehen. Ob dem Publikum des 18. Jahrhunderts wohl solche Anspielungen entgingen? Sicherlich nicht. Von geradezu herausragender Brillianz ist in diesem Zusammenhang die Ballsaal-Szene (Finale, 1. Akt), mit der da Ponte eine angedeutete Ballszene in Salieris erfolgreichem La fiera di Venezia (1772) aufnahm. In Mozarts Vertonung greifen drei Orchester — auf drei gesellschaftlichen Ebenen — ineinander: Ottavio und Anna, Angehörige der Oberklasse, tanzen zum Menuett des ersten Orchesters im Dreiertakt, das gemischte Paar, Don Giovanni und Zerlina, der Adlige und die nicht-adelige Bäuerin, tanzen zum weniger aristokratischen Kontretanz des zweiten Orchesters im Zweiertakt, und Leporello foppt Masetto in einem von einer Kapelle intonierten deutschen Tanz im Dreiertakt, wie er für die Unterklasse
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typisch ist. Die sich verflechtenden musikalischen Texturen erzeugen Verwirrung, — fast könnte man meinen: eine Verwirrung der Werte, und dies weniger als zwei Jahre vor der Revolution! Das Ballsaal-Szenario ist beeindruckend: die Komplexität seiner polyphonen Verwirrung, die es dann Don Giovanni ermöglicht, Zerlina, die er verführen will, beiseite zu ziehen, was sie mit den unpassenden Worten »Oh Numi, son tradita« begleitet, um dann »Gente, aiuto, aiuto gente!« aufzuschreien. Im Kontext des Librettos scheinen Zerlinas Worte ganz fehl am Platze, doch legt ja der Tumult der Musik hier einen tieferen Sinn nahe. Es kam nicht unerwartet, dass der Don Giovanni–trotz einer triumphalen Premiere in Prag — in Wien durchfiel. Am Figaro hatte der Habsburger Herrscher nichts Tadelnswertes gefunden, denn die Oper lässt am Ende alle Personen sich versöhnen und zur Ruhe kommen. Doch Don Giovanni missfiel. Seine demokratische Mischung aus hohen und niederen Figuren, die nicht einmal auf eine Dominanz der herrschenden Klasse abzielte (was ein verachtenswerter Don Giovanni veranschaulicht), am Ende gar die Verdammung Don Giovannis, kommentiert durch ein Sextett, das das Verdikt des ›deus ex machina‹ froh hinnimmt, — dies hätte das Volk, das Joseph II. erziehen wollte, aufreizen können. Dem König gefiel Die Zauberflöte (1791) besser, und sei es nur, weil er sich selbst in Tamino (einem ägyptischen Prinzen) wiederzuerkennen meinte, der vor Pamina, der Tochter der Königin der Nacht, spielte. Die Oper ruft die Vernunft als ausgleichende Gegenkraft zu Aberglauben und Angst auf. Das zu Mozarts Zeit viel diskutierte Freimaurertum hatte damals den Zorn Maria Theresias (vielleicht die rachsüchtige Königin der Nacht?) auf sich gezogen; der Librettist Emanuel Johann Schikaneder (1751–1812) sah möglicherweise in der Zauberflöte eine Gelegenheit, die verbotenen freimaurerischen Riten für die Bühne zu nutzen. Doch versandet die Allegorie der Zauberflöte im Symbolismus. Allerdings hat die verdrehte Geschichte auch eine herausragende Tugend: In einem Bemühen um Wahrheit und Erkenntnis, das nach der Revolution in seiner drängenden Energie verständlich ist, inspirierte die künstlerisch überwältigendste und historisch bedeutungsvollste Musik, die je geschrieben wurde. Sie bezeichnet in ihrer Würde und ihrer romantischen Intensität nach Glucks Orfeo einen zweiten Wendepunkt in der Entwicklung der Oper. Ein anderer, vor Energie sprühender Beitrag zur ›opera buffa‹ war Cimarosas (1749–1801) Il matrimonio segreto (1792), das für Jahrzehnte die vielleicht populärste komische Oper überhaupt blieb. Ein ausgelassener Wirrwarr von Komplikationen und Missverständnissen rankt sich hier um fünf Figuren im heiratsfähigen Alter, der Charakter des schwerhörigen ›nouveau riche‹ Geronimo (der offensichtlich ein ›buffo‹ ist) wird — von der in ihrer Lebhaftigkeit unvergleichlichen Ouvertüre bis zur allgemeinen Versöhnung im Finale — meisterlich durchgeführt. Cimarosas Oper geht — wie Mozarts Così fan tutte–in der ausgelassenen Fröhlichkeit seiner schnatternden Phrasen und lachenden Melodien auf. Die Oper ist eine Sittenkomödie jenseits aller gesellschaftlichen Kritik, obwohl der ›nouveau riche‹ wie auch der Graf Robinson, ein geschwätziger englischer Milord, Studien eines konkreten soziale Typus sind. Die opera seria thematisierte den sozio-politischen Tenor ihrer Zeit stärker als die ›opera buffa‹. Mit Ausnahme Mozarts hatten zudem auch die früheren komischen Opern, etwa die französische ›opéra comique‹, mitunter die brennenden gesellschaftlichen Probleme behandelt, man denke nur an die Werke Philodors, Monsignys und dann vor allem an Grétry (1741–1813) und Méhul (1763–1817): Die ›opéra comique‹ steht für die komische Oper mit einer ernsten
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Wendung. Méhul verwendete das Genre dann tatsächlich einmal für die Behandlung eines biblischen Themas: in Joseph en Egypte (1807). — Grétry sah in der Musik ein Messinstrument, das die Empfindungen der Menschen und ihre Auffassung von der Welt registriert. Sein sangbarer Stil, den ein steter Wechsel zwischen musikalischen Nummern und gesprochenen Dialogen kennzeichnet, kommt am besten in seiner »Befreiungs«-Oper Richard Cœur de Lion (1784) zur Geltung. — In der Befreiungs-Oper wird der Held nach langem Leiden durch die Anstrengungen eines ergebenen Freundes gerettet, und es ist verständlich, dass das Genre in den Jahren der Revolution wie in der napoleonischen Zeit aufblühte; sein Erfolg hielt sich bis in die Romantik hinein: Noch Beethovens (1770–1827) Fidelio (1805) ist eine typische BefreiungsOper. Vor Beethoven — der ihn sehr bewunderte — war zwischen 1790 und 1800 Cherubini (1760–1842) der in seiner Bedeutung herausragende Komponist. Die Revolution hat seine Kunst nachhaltig beeinfluss: Seine Médée (1797) — die Brahms dann als das Höchste der dramatischen Musik bezeichnete — setzt einen heroischen Stil der Oper fort, wie er vor Gluck beherrschend gewesen war, doch nahm Cherubini durchaus die Gluck’schen Klangfarben auf, die ja auch Mozart verarbeitet hatte. Die gesprochenen Dialoge, die immer wieder den Fluss der Musik unterbrechen, verleihen ihrem Gegenstand — der blutigen Rache, mit der Ungerechtigkeit vergolten wird — Heftigkeit, und das Ganze ist musikalisch ernst gesetzt. Cherubinis Les deux Journées (1800) ist jedoch ein Produkt der Revolution, und es bricht folglich entschieden mit dem tänzerischen Rokoko, etwa im Stile von Johann Adam Hillers Singspielen oder Grétrys Werken. Nach der Revolution zielten Cherubinis Befreiungs-Opern auf eine Art von gesellschaftlichem Realismus, der gesellschaftliche Herablassung und Preziosität vermeidet. Das Thema der Befreiung gewinnt angesichts der Erfahrungen der Revolution eine neue Bedeutung: Sie steht auch für die Erlösung von der damals alltäglich gewordenen Furcht vor Blutvergiessen und Tod. — Cherubini wählt für jenen Geist der Erlösung dann nicht eine dramatische Ornamentierung oder einen überschwenglichen Symbolismus, sondern er gibt ihn in einer ursprünglichen Direktheit wider, die um so wirkungsvoller ist, als sie unzweifelhaft die Ekstase angesichts der Befreiung ausspricht: Napoleon, der auch auf dem Schlachtfeld sein Interesse für die Oper nicht verlor, liebte diese Oper. Ebenso liebte er Spontinis (1774–1851) La vestale (1807), das gleichfalls den Geschmack seiner Zeit meisterlich traf: Spontinis Musik verbreitet hier mit wuchtigen Chören und triumphal schmetternden Blechbläsern den Pomp und Prunk, den das enthusiastische Publikum des Kaisers verlangte. Und was hätte wohl Berlioz ohne Napoleon getan? Auch Fidelio gilt dem Ausbruch der Freude. Er folgte auf Opern mit revolutionären Zwischentönen, wie Méhuls Euphrosine et Coradin (1790), Cherubinis Ladoïske (1791) und Médée, Grétrys Guillaume Tell (1791), Boïeldieus Le Calife de Bagdad (1800). Damals weitete das Directoire, um das Interesse der Massen an der bürgerlichen Musik zu befördern, den Usus, Orchester zu unterhalten, von den fürstlichen Familien auf die Mittelklasse aus; Beethoven stimmte mit dieser Geste der Bürgerlichkeit vollkommen überein. Das Interesse an den gewöhnlichen Leuten erwachte: Das deutsche ›Lied‹ verlieh einem nationalen historischen Geist Auftrieb, die Volksmusik (und sogar Märsche, an denen Beethoven immerhin genügend Gefallen fand, sie in den Fidelio und die 9. Symphonie aufzunehmen) verbanden sich mit neuen kulturellen Ideen. Für Beethoven gewannen diese einen eher metaphysischen als patriotischen Wert; sie bezeichneten das individuelle Empfinden, den Heroismus, die Übereinstimmung des
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Menschen mit der Grösse der Natur und die titanische Vision im Dienst der Menschheit. So brachte Beethoven die bürgerliche Musik und ihren engstirnigen Nationalismus dahin, dass sie eine umfassende humane Philosophie spiegelte, deren universaler Anspruch durch die Kenntnis Goethes und Schillers, auch mit der Formel ›liberté, égalité, fraternité‹, die die humanitäre Idee mit der revolutionären Überzeugung verschmolz, noch an Bedeutung gewann. Damit soll nicht gesagt werden, dass der Komponist des Fidelio, einer Oper über Tyrannei und Versklavung, Selbstverleugnung und Mut — wie Cherubini — in direktem Zusammenhang mit den Angelegenheiten der Revolution oder der Napoleonischen Regierung gestanden hätte. Beethoven war ein Rebell, kein politischer Radikaler. Seine Musik um Protest und Befreiung, deren Intensität fast biblisch genannt werden kann, verdankt sich einer demokratischen und republikanischen Gesinnung, wie sie mit den Idealen der Revolution sich verträgt: Wir erinnern uns, dass Beethoven die Widmung der Eroica (geschrieben 1803) an Napoleon zerriss, als dieser Kaiser wurde. Dies ist die moralische Substanz, die dem Fidelio unterliegt. Damals wollte Beethoven das Spektrum seiner musikalischen Möglichkeiten erweitern; dieser Wunsch verlangte von einem Komponisten, der kein Opern-Komponist war, eine aussergewöhnliche Leidenschaft und eine aussergewöhnliche Technik. Denn ungeachtet der grossen Chöre, mit denen Beethoven in der 9. Symphonie und der Missa solemnis bereits gearbeitet hatte, war er in der Behandlung der menschlichen Stimme unsicher, und im Fidelio kämpfte er mit dem Text (von Jean Bouilly, durch Joseph & Georg Sonnleithner ins Deutsche übersetzt), mit seinen — für die Handlung — unumgänglichen kleinen Konversationen, die den Ausdruck der grossen Ideen behinderten. — Der Geist des Fidelio wird wohl am besten durch die dritte der vier Lenore-Ouvertüren erreicht. Die erste Arie Florestans im 2. Akt überarbeitete Beethoven sechzehn Mal, und noch bis zum Jahr 1814 nahm er immer wieder Änderungen an seiner Oper vor. Dennoch ist sie unvollkommen geblieben, etwa durch Beethovens falsche Auffassung der Bühne. Doch einmal mehr wirkte die Musik entscheidend auf die Formung des Stoffes ein. Es ist eindrucksvoll, wie Beethoven in der Wahl der Harmonien, in der Durchführung des Kontrapunktes und der Behandlung von Themen, Tempi und Dynamik das Quartett »Mir ist so wunderbar« oder Lenores hochdramatische Invektive »Abscheulicher! wo eilst du her?« im 1. Akt und ebenso das bewegende Trio Lenores, Florestans und Roccos im 2. Akt gestaltet. Seinen Höhepunkt findet der Fidelio in dem hinreissenden Duett von Florestan und Leonore: »O namenlose Freude«. Beethoven scheint hier die Treue Leonores zugleich mit den Idealen der Revolution zu feiern: Der berühmte TrompetenStoss der Ouvertüre kann wohl zurecht als Weck-Ruf gelten, der die Musikgeschichte nachhaltig beeinflussen sollte. Man kann Rossini sicher nicht als Sohn der Revolution betrachten, doch lenkte er die Oper noch einmal in eine neue Richtung; bei Rossini wird auch die grosse Umbruchphase der Oper zwischen 1760 und 1820 enden. — Von Rossinis umfangreichem Werk stammen nur drei wichtige Opern aus den Jahren nach 1820 (etwa Guillaume Tell, 1829). Griffen damals andere Komponisten in ihrem philosophischen Anspruch (wie Spohr, der 1818 den Faust zu vertonen suchte), in ihrer sozialen und politischen Intention (beispielsweise Bellini, der die grossen Themen von Tyrannei — 1831 in Norma – und Freiheit — 1835 in I Puritani – behandelte) ebenfalls bedeutsame Stoffe auf, so gebührt doch Rossini die Ehre, die Epoche der ›opere buffe‹ und ›opere serie‹ abzuschliessen: Die ersten beiden Akte seines Othello (1816), die
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weniger auf Mozart, Cherubini oder Spontini zurück- als vielmehr schon auf Bellini, Donizetti und Verdi vorausweisen, verkörpern den Punkt, an dem die Traditionen der komischen und der ernsten Oper kulminieren. Im Barbiere di Siviglia (1816) tilgte Rossini jeden gesellschaftlichen Kommentar, wie er Mozarts früherer Version des Beaumarchais’schen Stückes, den Nozze di Figaro, noch angehaftet haben mochte. Das Werk beginnt mit einer vergnügten Ouvertüre (die doch in keinem Bezug zur Oper steht) und bewegt sich vom Humor des Liebreizes (im »Zitti, zitti, piano piano«-Trio) zu dem der Posse (im Sextett »Fredda e immobile«), vom traditionellen basso buffo des Dr. Bartolo (»Un dottor della mia sorte«) zum innovativeren Bass des Basilio (»Buona sera, mio Signore«, »La calunnia«), von Rosinas polierten Koloraturen (»Una voce poco fà«) zu Graf Almavivas proto-romantischer Serenade »Ecco ridente in cielo«, gar nicht zu reden von den phraseologischen und rhythmischen Hochgeschwindigkeiten, zu denen sich Figaros »Largo al factotum« aufschwingt. Von ähnlicher Brillianz ist Rossinis La Cenerentola (1817), die von Angelina in den Bravour-Koloraturen einen noch unglaublicheren Stimmumfang verlangt als Rosinas Rolle. Und das »Bestürzungs«-Sextett in Es, in dem sich das Ensemble buchstäblich in rollenden »r«s aufreibt, könnte wohl nicht ausgelassener sein. Möglicherweise ist jedoch La Cenerentola nicht gänzlich frei von gesellschaftlichen Kommentaren (dies vielleicht gegen die eigentliche Absicht Rossinis): Das geträllerte »r« kann durchaus als Parodie auf die Manier der alten ›opera seria‹ aufgefasst werden. Rossinis Aussage zielt jedoch — anders als Mozart — nicht auf die Liebe, sondern auf die menschliche Schwäche und auf die Enthüllung der Lügen und Ränke, die das Verhalten der Menschen in der Gesellschaft (und folglich die Ensembles der Oper) prägen. Unter Rossinis ernsten Opern ist Mosè in Egitto (1817) herausheben, in dem eine Frau, Elcia (Anais), die zentrale Rolle zwischen Moses und dem Pharao erhält. Wie Rossini in dieser Oper überhaupt auf Arien zugunsten von Duetten und Ensembles weitgehend verzichtet hat, so singt dann folgerichtig Moses selbst sein berühmtes Gebet »Dal tuo stellato soglio« gemeinsam mit Elcia, Elisero (Aaron) und Amenofi (Miriam). — Honoré de Balzac sollte dann in Rossinis Mosè den italienischen Geist der Befreiung wiederfinden. Doch Rossinis wichtigstes Werk ist und bleibt der Othello, der ein Jahr vor dem Mosè entstand. Rossini vertonte ein scheussliches Libretto ( — was dann Byron und Stendhal sogleich bemerkten): Francesco Maria Berio hatte Shakespeares Jago zu einem zweitklassigen Rohling und Othello zu einem grimmigen, von Eitelkeit zerfressenen Bösewicht heruntergewürdigt. Mit Sicherheit hat seine banale Dramaturgie ein Bekanntwerden des Othello beeinträchtigt, doch glaubte Rossini fest daran, dass die Musik — unabhängig vom Libretto — für sich selbst sprechen müsse. Die Oper bietet dann auch erstaunliche musikalische Momente: das Duett von Rodrigo und Jago »No, non temer«, das kontrapunktisch und nicht harmonisch gesetzt ist, denn dies hätte eine Verbundenheit der beiden Männer bezeichnet, das zarte Duett von Desdemona und Elvira »Quanto son fieri i palpiti«, das — wie viele Passagen des Othello – bereits die italienische Manier vorausahnen lässt, die mit Bellini, Donizetti, Verdi, Puccini und Mascagni heraufkommen sollte, dann Elmiros Verfluchung seiner Tochter und die bemerkenswerte Melodie im Duett Othello — Jago »L’ira d’avverso fato io più non temerò«; dabei liess Rossini die ersten beiden (un-Shakespearischen) Akte noch einmal — gleichsam rückblickend — in die Manier einer ›opéra comique‹ verfallen. Doch im dritten Akt führte Rossini das tragische Drama
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— sehr zu Berios Verdruss — zu einem unüblichen Ende: Die Oper schliesst auf einer verminderten, dissonanten None. Unmittelbar davor plazierte Rossini ein Gondoliere-Lied, das die besorgte Desdemona anhört; es handelt sich um ein populäres Lied, doch sind ihm Verse von Dante (Francescas »Nessun maggior dolore«) unterlegt, der Rossini als der freiheitsliebende Dichter des Volkes schlechthin galt. Im folgenden »Canzone del salice«, einem Lied, das Desdemonas Trauer um den Geliebten ausdrückt (es handelt sich erneut um ein Lied im Gewande einer Art pathetischer Ballade, doch mit reicher Melodie und tiefer Ausdrucksstärke), erläutert Rossini den Charakter der Desdemona und unterstreicht das Tragische des Geschehens, indem er ihr zugleich schlichte und einfühlsame gesanglichen Linien schreibt; sie sind auch psychologische Charakteristiken, denn die letzten beiden Aussagen Desdemonas werden (einmal harmonisch, das andere Mal instrumentell durch die Holzbläser) erstickt. Desdemona wird von der Angst überwältigt, und es ist folgerichtig, dass hierauf ein Gebet — mit 27 Takten in As — folgt. — Am Othello sollten sich dann immerhin solch unterschiedliche Persönlichkeiten wie Boïeldieu, Hegel und Wagner (jedoch nicht Beethoven) berauschen.
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Historien- und Genremalerei Anne Larue
Die Malerei ist einer Reihe von Zwängen unterworfen, von denen die Verdrängung des ›Geschmacks‹ der bemerkenswerteste ist. Mit David (1748–1825) verschwand der Geschmack als Schlüsselbegriff für ästhetisches Urteil vollständig; es ist nicht länger eine Frage des Geschmacks, das Schöne zu beurteilen! Selbst Hume (1711–1776) und Kant (1724–1804) gestanden — ungeachtet ihrer Option für Einschränkungen einer völlig freien, unsteten und unvorhersehbaren individuellen Freiheit — dem Geschmacksurteil gleichwohl die Möglichkeit zu, sich überhaupt geltend zu machen. Die Existenz einer Regel des Geschmacks bei dem einen, die Fähigkeit zur Urteilskraft (d.i. ›faculté de juger‹) beim anderen mässigen und beschränken die Bedeutung des persönlichen Geschmacksempfindens; doch es steht nirgends zur Diskussion, den Geschmack an sich auszurotten, um das Monopol des Schönen zu befestigen. Umgekehrt verdrängt die bedingungslose Bevorzugung der ›grossen Malerei‹ (›grande peinture‹) am Beginn des 19. Jahrhunderts die Frage des Geschmacks. Auch die sprachliche Wendung vom »grand goût« — die in Diderots (1713–1784) Salons (1759–1781) noch gebraucht wird — taucht in Delacroix’ Journal (1893–1895) nicht mehr auf. Der romantische Maler spricht von »schönen Sujets« (»beaux sujets«), von der »schönen Malerei« (»belle peinture«), von »grossen Ideen« (»grandes idées«).1 »Mon cœur bat plus vite quand je me trouve en présence de grandes murailles à peindre«,2 — bekennt er. Er verachtet die »petits tableaux« und fragt sich, wie sie mit »tout le feu que l’on ne met ordinairement que sur des murailles«3 malen können. Der Geschmacksbegriff steht nicht länger zur Diskussion. Bei Diderot kündigt sich die Bewegung, die den ›petit goût‹ verdrängt, bereits im Vokabular an, das auf das Grosse (»grand«) und Grösse an sich (»grandeur«) zurückgreift.4 Diese Terminologie, die der Erhabenheit der Malerei die sehr konkrete Idee des grossen Formats assoziiert, drängt das Vokabular des Geschmacks in den Hintergrund. Der Geschmack wird auf das Stillschweigen des ursprünglichen ›de gustibus non est disputandum‹ zurückverwiesen. Der Geschmack ist persönlich, das heisst: bedeutungslos. Die früher implizierte Urteilsfreiheit wird in ihrer Bedeutung herabgemindert; oder vielmehr, die Ausübung des Geschmacksurteils wird zu einer subjektiven Nebenerscheinung abgewertet, die die Ästhetik nicht länger zu berücksichtigen geruht. Mit anderen Worten: Das Geschmacksempfinden drängt das Geschmacksurteil erneut in den Hintergrund. Auf diese Weise wird der Geschmack in der Folge der David’schen Reform der Malerei aus den ästhetischen Begriffen getilgt.
1. Wenn er Musik hört, die ihn »inspire de grandes pensées«, empfindet Delacroix »un grand désir de faire«, d.h. ein Verlangen zu malen (Eugène Delacroix, Journal, 12. Oktober 1822). 2. Delacroix, Journal, 30. Juni 1854. 3. Ibid., 5. Oktober 1847. 4. Er schreibt beispielsweise im Salon de 1759: »la machine est grande […].«
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»Ceci tuera cela«: Es ist verlockend, im vorliegenden Fall einmal mehr den berühmten Ausspruch Victor Hugos (1802–1885) — als Inschrift seiner Notre-Dame de Paris vorangesetzt — anzuführen und umzudeuten. Das Problem des Geschmacks bezeichnet den Zusammenprall zwischen Individuum — Sitz eines persönlichen ästhetischen Urteils — und dem Staat — Beförderer des Schönen als eines machtvollen ideologischen Getriebes. Die ideologischen Bemühungen zur Massregelung des Geschmacks sind für den Triumph des Schönen bezeichnend (verstanden als das Recht, die Mal-Produktion gemäss der Propagandalogik zu normieren). Davids Ablehnung des Geschmacks liefert ihm den Vorwand für die Verurteilung von unbeschwerter, allzu leichtfertiger Malerei, in der sich dann seiner Meinung nach der Niedergang der Malerei ausspricht, und spiegelt dabei doch widerwillig die Bewegung eines mächtigeren Denkens. Wie auch immer die besonderen Umstände des aktuellen Kampfes zu beurteilen sind, das heraufkommende objektive, bürgerliche, griechische, ›ideale‹ Schöne tendiert dazu, das Intime, das Besondere, das Individuelle, die Variation, die Subjektivität auszuschliessen. Der Geschmack, dem Gefühl und der Empfindung verbunden und gar zum Urteilsvermögen erhoben, konnte David nur missfallen. Dass der Geschmack — nunmehr der unbedeutende Geschmack (›petit goût‹) — in der Malerei für David und Diderot zum Sündenbock wurde, lässt auf eine allgemeine Entwicklung des ästhetischen Denkens schliessen, das die Subjektivität verachtete. Heutzutage, da die Frage des Schönen nicht mehr diskutiert wird, bleibt eine grundlegende Ambiguität zurück: Man gibt die Relativität der Geschmäcker zu — eine einhellige Meinung aller — und man hütet sich vor jedwedem System des Schönen. Doch andererseits fürchtet man die Subjektivität, die die Urteile des Geschmacks befleckt, und die ehrbare Axiologie kommt erneut durch die Hintertür herein. Man muss feststellen, dass an der Wende des Jahrhunderts — in dem Augenblick, da David das Schöne predigt und die Philosophen sich vom Geschmack abwenden — die natürliche Verbindung zwischen diesen beiden Begriffen im Begriff ist zu zerbrechen. Man kann nicht sinnvoll darüber diskutieren, ob der eine oder der andere einen entscheidenden Einfluss in dieser Entwicklung besass oder nicht; doch muss man anerkennen, dass David — durch seine historische Bedeutung und den radikalen Charakter seiner Reform — in der konkreten Anwendung dieser Prinzipien von starkem Gewicht war. Die David’sche Reform auf der Basis von einem festen normativen Willen, bürgerlicher Leidenschaft und griechischem Ideal war von grosser Durchschlagskraft. Es wäre gewagt, David zu beschuldigen, mit der Quelle des Geschmacks auch die des Schönen trockengelegt zu haben, selbst wenn — ihm zufolge — das Schöne sich angesichts eines masslosen Dogmatismus zum Tode verurteilt sah, während der Geschmack — von einer mehr und mehr zweifelhaften Subjektivität befleckt, und auch sonst zum »petit goût« heruntergekommen — ebenfalls kein Bürgerrecht mehr besitzt. Die Kunstkritik benutzt die Ausdrücke ›sans goût‹, ›petit goût‹ oder ›mauvais goût‹. »J’ose dire qu’il est sans goût«, schreibt Diderot in seinem Salon von 1765 über Boucher. Das ist klar und deutlich; doch häufig verwirrt der Diskurs über den Geschmack die Register und bringt eine gewisse Ambiguität hervor. So bedauert beispielsweise La Font de Saint Yenne in geschraubtem Stil »un goût excessif pour un embellissement dont le succès a été extrêmement nuisible à la
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Peinture«,5 und Diderot beginnt, den »grand goût« in dem Masse zu loben, wie er verschwindet: »Moi, qui vois tous le jours nos maîtres et nos élèves perdre ici, dans la capitale, le grand goût qu’ils ont apporté de l’école romaine«.6 Man denke an die Entwicklung eines Wortes wie ›res‹, das durch sein Vorkommen in vielen negativen Wendungen das Wort ›rien‹ hat ergeben können. Die Fortdauer eines doppeldeutigen Kontextes, negativ oder abwertend, bewirkte, dass der Geschmack unmerklich zum Synonym des ›mauvais goût‹ wurde — wie durch eine sprachliche Anziehungskraft vom Zeichen der Negativität geprägt. Hat Diderot nicht auch gesagt: »il semble que la question du beau ne soit plus qu’une affaire de grammaire«?7 Der Topos von der Relativität des Geschmacksempfindens, wie die Philosophen gesagt hätten, trägt ebenfalls zu diesem Verlust der Zuneigung bei. La Bruyère (1645–1696) weist den Laxismus ab und verkündet den Krieg der Geschmäcker: Il y a dans l’art un point de perfection comme de bonté ou de maturité dans la nature. Celui qui le sent et qui l’aime a le goût parfait; celui qui ne le sent pas, et qui aime en deçà ou au delà, a le goût défectueux. Il y a donc un bon et un mauvais goût, et l’on dispute des goûts avec fondement.8
Doch Voltaire (1694–1778) ist skeptisch. Der Geschmack — wenn er persönlich, wenn er der instinktiven Unmittelbarkeit nahe, Frucht der intimen Erfahrung ist — bleibt vor allem persönlich (und wenig verlässlich). Im Artikel Goût des Dictionnaire philosophique (1764) schreibt Voltaire: … c’est un discernement prompt, comme celui de la langue et du palais, et qui prévient comme lui la réflexion … il est souvent, comme lui, incertain et égaré, ignorant même si ce qu’on lui présente doit lui plaire, et ayant quelquefois besoin, comme lui, d’habitude pour se former.
Voltaire geht über das Geschmacksurteil und sogar über das Geschmacksempfinden hinaus: er geht bis zur sinnlichen Empfindsamkeit (»Sensation«) des Geschmacks zurück, d.h. bis zu seinen (sensuellen) Ursachen. Im Diskurs über die Künste wird das Jahrhundert des Sonnenkönigs als die Zeit des verlorenen Höhepunktes empfunden. Voltaire trauert in seinem Artikel Goût des Dictionnaire philosophique den »siècles de perfection«, dem »siècle du bon goût qui ne peut plus revenir« nach. La Font de Saint Yenne seufzt über den Tod der Historienmalerei, des »grand goût«, des grossen Genres, der grossen Apparate, der grossen Ausstattungen — dies ein Stil, der bereits einen Rückgang nach dem Tode Ludwigs XIV. erfahren hatte:
5. La Font de Saint Yenne, Explication des peintures, sculptures et autres ouvrages […] dont l’exposition a été ordonnée, suivant l’intention de Sa Majesté, par M. Le Normand de Tournehem […], Paris 1746, S. 15. Über die Salons im 18. Jahrhundert vgl. auch Lojkine, Stéphane, »Les Salons de Diderot ou la rhétorique détournée«, in: Détournements de modèles, Orléans 1995. 6. Diderot, Salon de 1765. 7. Diderot, Recherches philosophiques sur l’origine et la nature du beau, in: Vernière, Paul (ed.), Œuvres esthétiques de Diderot, Paris 1988, S. 428. 8. La Bruyère, Jean de, Caractères, I, 10, in: ders., Œuvres complètes, 6 Bde., Paris 1865–1882, Bd. 1, S. 116.
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Anne Larue Après avoir donné aux peintres historiens [d’histoire] le rang et les éloges qu’ils méritent, que ne puis-je les prodiguer à ceux d’aujourd’hui, et les élever, ou du moins les comparer à ceux du siècle passé! siècle heureux! où le progrès et la perfection dans tous les arts avaient rendu la France rivale de l’Italie! Je suis cependant bien éloigné de penser que le génie français s’est éteint, et sa vigueur entièrement énervée. Les peintres célèbres de notre école que je viens de nommer, et qui ont égalé le siècle de Louis XIV à celui de Léon X dans les Beaux-Arts, et même surpassé par leur nombre, trouveraient encore aujourd’hui des émules, si le goût de la nation n’avait beaucoup changé…9
Auch für Diderot verfiel die Historienmalerei nach Ludwig XIV. — ein ›Topos‹ seiner Epoche. Der Grund dieser Sehnsucht nach einer vollendeten Vergangenheit ist — nach Georges Brunel — weentlich moralisch. »Et que peut avoir dans l’imagination un homme qui passe sa vie avec des prostituées du plus bas étage?«, schreibt Diderot gegen Boucher. G. Brunel stellt fest, dass diese Anschuldigungen — seien sie wahr oder nicht — im Diderot’schen System, das moralische Herabsetzung und niedrige Malerei verbindet, notwendig sind. »Le ›petit goût‹ et les ›mauvaises mœurs‹ sont les deux faces d’un même médaille«, schliesst er.10 Dennoch wird diese Allianz zwischen Moral und Malerei von einem gewichtigen ästhetischen Schwerpunkt dominiert. Wenn er einem Maler seinen Mangel an Geschmack vorwirft, beabsichtigt Diderot, ihn eines Verstosses gegen das Schickliche (»convenances«) zu verdächtigen, das sowohl »platonisch«11 als auch moralisch ist! Die Bedeutung des »ersten Einfalls« (»idée première«) in der Malerei — Zeichen der Phantasie /schöpferischen Erfindung, deren Definition in allen Lexika der Malerei seit Watelet12 figuriert — ist das Relais zwischen den Sitten und der Malerei. Hat ein Maler eine »niedere« Einbildungskraft, dann werden seine »ersten Ideen« verdorben, wird seine Malerei ohne Geschmack sein. Delacroix wird für sich selbst die Herabsetzung dieses »Ideals«13 fürchten, das Diderot gegen den »petit goût« zu verteidigen suchte. »Toujours petits tableaux, petites idées, compositions frivoles, propres au boudoir d’une petite maîtresse, à la petite maison d’un petit maître; faites pour de petits abbés, de petits robins, de gros financiers ou autres personnages sans mœurs et d’un petit goût.«14 Schwankend und mannigfaltig, subjektiv, unsicher und relativ, ist der Geschmack so fragil und so selten, dass es keine Epoche gibt, die seinen Verlust nicht beklagt. In einem legendenhaften
9. La Font de Saint Yenne, op. cit., S. 12. 10. Brunel, Georges, »Boucher, neveu de Rameau«, in: Diderot et l’art de Boucher à David. Les Salons: 1759–1781, Catalogue d’exposition à l’Hôtel de la Monnaie 1984–85, Paris 1984, S. 102–109. 11. Delacroix schreibt in seinem Tagebuch einmal: »Le Beau est assurément la rencontre de toutes les convenances« (14. Februar 1847). Gemeint sind »convenances« hier nicht im sozialen oder moralischen Sinne, sondern vielmehr im platonischen (»ton tropos«), — nach dem Hippias maior, dem ersten Dialog Platons über das Schöne. 12. »Première pensée« oder »idée première« wirken auf die Konzeption des Bildes ein. Die ersten Striche, der Entwurf, die Skizze, der erste Einfall (»la première pensée«) belegen für die Malerei hinreichend den Vorrang der Konzeption vor der Ausführung. In der Wandmalerei durchlief eine Schülerwerkstatt — in strenger Hierarchie — alle Phasen der Ausführung nach Massgabe des Meisters. 13. Er schreibt in seinem Jugend-Tagebuch: »Continuellement secoue-toi pour revenir aux grandes idées. Quel fruit tirerai-je de ma presque solitude, si je n’ai que des idées vulgaires?« (3. März 1824). 14. Diderot, Salon de 1767, über den Maler Baudouin.
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Arkadien verborgen, auf dem Hintergrund einer tiefen Sehnsucht nach den Ursprüngen, ist der verlorene Geschmack zusammen mit dem altmodischen Duft des Moralischen und der Höflichkeit nun für immer verschollen. Als Anleihe an Skeptizismus und Relativität schwankt das Denken über dem Geschmack wie funkelnd hin und her und verfeinert sich in spitzfindigen Unterscheidungen, die mit der Vehemenz der Aussagen über das Schöne kontrastieren. Aus den Diskursen über den Geschmack stellt sich keine endgültige Sicherheit her. Ausser Diderot — und später Delacroix in seinen Variations sur le beau–gibt es niemanden, der auf diesem Gebiet die Mannigfaltigkeit der Urteile und ihre Relativität ermessen könnte … Es ist Zeit, von hier aus zur David’schen Reform und zum Triumph des Schönen in den Künsten an der Wende des Jahrhunderts zu gelangen. Sie kam nicht ›ex nihilo‹; die Szene war schon bereitet.
Die ›grande peinture‹, ein ideologisches Medium Was tötet die ›grande peinture‹? Ist es die Sittenlosigkeit des intimen Boudoirs im Gegensatz zur bürgerlichen Tugend? David hätte das geglaubt und Delacroix würde weiter daran glauben wollen. Haro über Boucher, Fragonard, Van Loo! Auch wenn sie in den Einzelheiten dessen, was edel und schön sei, nicht übereinstimmen, verständigen sich David und Delacroix zumindest über das höchste Ziel der Kunst: das Streben nach dem »Ideal« und nach allen möglichen Formen der Grösse / Erhabenheit (»grandeur«). Ihre Ideen sind weder neu noch originell. Der Zusammenhang zwischen der Beförderung des Schönen und der ›grande peinture‹ — der Historienmalerei — gehen auf den Sonnenkönig zurück. Offenbar hielt der Aufbau eines grossen Systems zentralisierter Macht gleichen Schritt mit der ideologischen Funktion, die der Malerei zufiel. Wie Udolpho van de Sandt schreibt, der die Geschichte der Salons in der Malerei nachzeichnet, ist die Historienmalerei eine »véritable institution«. La politique artistique qui s’exprime au Salon a un objectif: démontrer la suprématie de l’art français ad maiorem Regis gloriam, et une doctrine: la hiérarchie des genres.
Dass Félibien diese Hierarchie der Genres 1667 – im Vorwort der Conférences der Akademie — festschreibt, ist nicht unwichtig: Es ist dies der Augenblick »où l’Académie nouvellement créée cherche à imposer sa légitimité et son indépendance face à l’ancienne corporation médiévale«. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wollten die aufeinander folgenden Direktoren die Historienmalerei befördern (»s’attachent à promouvoir la peinture d’histoire«): Leur but commun est aussi de la réformer en favorisant la »grande manière« et le »genre noble« par opposition à la »petite manière« et au »petit goût« du genre galant incarné par Watteau puis par Boucher.15
Die dem Historienmaler eigene Qualität, die ihn vom Handwerker unterscheidet, der der
15. Sandt, Udolpho van de, »Le Salon de l’Académie de 1759 à 1781«, in: Diderot et l’art de Boucher à David, op. cit., S. 80.
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Imitation sich widmet, ist — unparteiisch betrachtet — die Erfindung (»invention«). Das Streben nach dem Grossen (»grande«) oder Edlen (»noble«) ist eine sekundäre Folge dieses Systems: David wird hieraus eine primäre Bedingung machen. Die Rolle des Staats-Apparates ist der Schlüssel zu diesem Wandel. Begriffe Althussers wiederaufnehmend, erklärt Régis Michel, dass die Malerei ein ideologischer Apparat des Staates sei: das staatliche Monopol zur Dirigierung der grossen Systeme hält künstlich die »genres nobles« am Leben. Die Kunst des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist »[un] lieu privilégié d’affrontements idéologiques«. Diderot selbst hat das gespürt: die Entwicklung seiner Kritik am Salon selbst befindet sich mit dieser Grundbewegung im Einklang.16 Es ist demnach schwierig, die Charakteristika der Historienmalerei vergleichsweise voraussetzungslos zu beschreiben. Ihre Sujets — biblische, mythologische, historische — die nackte Darstellung der Strenge, die das zeitlose Attribut der Göttlichkeit ist, ihr Format, das das mittlere übertrifft, ihr Geist der Grösse und Würde, ihr absoluter Vorrang in der Hierarchie der Genres …: Alles das bringt eine fundamentale Trennung zwischen einer staatlichen Malerei — die sich den grossen Sujets (»grands sujets«) widmet, vom König befohlen und in Ateliers ausgeführt, die für die Arbeit an der grossen Leinwand ausgestattet sind — und den Gemälden hervor, die kleine Genres, Portraits, Stilleben etc. darstellen, in kleinen Formaten ausgeführt, schnell entworfen, schnell verkauft werden und dem Schmuck von Privaträumen dienen. Die grosse Malerei ist schlecht bezahlt, aber hoch angesehen: Das gesamte System, das die Anerkennung des Malers betreibt — von der ›Schule‹ zum ›Salon‹, dem ›prix de Rome‹ und den Jurys — dreht sich um sie. Die Frage des Leinwandformats veranschaulicht in bezeichnender Weise diese ideologische Überlegenheit, die sich vor allem als museumswissenschaftliches Problem versteht. Sie erlaubt konkret, die Frage nach bestimmten Äusserungsformen der Malerei und ihrem Zusammenhang mit dem jeweils richtungsweisenden ideologischen System zu stellen. Wie ordnet man die Malerei ein? Diese Frage besitzt nichts Anekdotisches. Für welchen Träger ist sie bestimmt? Wird sie durch Häuser oder durch Museen gehen? Wird sie auf Wänden oder Gegenständen zu sehen sein? Jeder Konzeption von Malerei korrespondiert ein Bezugsraum, in dem — wörtlich — die ästhetische Konzeption des Malers wurzelt. Geht man von den musealen Sammlungen aus, so werden alle vorgängigen Unterscheidungen zwischen Künstlern und Handwerkern, Erfindung und Nachahmung, der Kunst in staatlichem oder privatem Auftrag etc. bestätigt. Als 1746 La Font de Saint Yenne (der sich für öffentliche Ausstellungen einsetzte) beklagte, dass die »grosse Malerei« auf »l’embellissement des Carrosses«17 beschränkt sei, unterschieden sich seine Äusserungen grundsätzlich nicht vom Urteil Gavarnis,
16. Michel, Régis, »Diderot et la modernité«, in: Diderot et l’art de Boucher à David, op. cit., S. 118 ff. 17. oder zu kümmerlichen Raumausstattungen, die von einer in Spiegel verliebte Dekoration übriggelassen worden waren: »La science du Pinceau a donc été forcée de céder à l’éclat du verre«, »[qui a] exilé des appartements le plus beau des Arts, à qui on n’a laissé pour asile que quelques misérables places à remplir, des dessus de porte, des couronnements de cheminéees […].« La Font de Saint Yenne, op. cit., S. 12–15.
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der Delacroix verleumden wollte, indem er dessen Malerei als »barbouillage de paravent«18 abwertete. »Nos petits tableaux misérables sont faits pour nos misérables habitations«, meinte auch Delacroix.19 Das gesamte Problem des ›Kitsches‹ entsteht zweifellos aus der Verlagerung eines Kunstwerkes in einen Bezugsraum, der ihm nicht gemäss ist.20 Wenn das Schöne für David und Delacroix von der Grösse (»grandeur«) nicht zu trennen ist, dann ist diese Grösse konkret auch diejenige der Leinwand, die sich von da an dem kleinen Raum der Appartements verweigert. Die Wechselbeziehung zwischen der Leinwandgrösse und der Erhabenheit ihres »beau sujet« erklärt die Entrüstung, die Géricaults (1791–1824) Radeau de la Méduse hervorrief, auf dem ein vulgäres »fait-divers« im Format der Schlachten behandelt wird. Bedeutet ›grosse Malerei‹ vor allem grosser Rahmen? Das ist vielleicht die letzte Festung der Theorie des David’schen Schönen.
Die Reform Davids Das Heraufkommen einer Ästhetik des Schönen in der französischen Malerei an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert ist ein Problem des Zeitgeschehens, das von einem konkreten sozio-historischen Kontext abhängt: die Akademie der Schönen Künste fiel — quasi unter der Guillotine — und wurde ersetzt durch eine ›Jury national‹ derselben Schönen Künste (die doch unverändert blieben). Diese institutionelle Veränderung diente als Auslöser, um die gerade herrschende Ästhetik — diejenige, die dem Geschmack das Vermögen zubilligte, die Künste zu beurteilen — abzuschaffen und sie durch eine Theorie zu ersetzen, die nicht weniger nach Universalität strebt. Den Kampf des Schönen gegen die Erzeugnisse des »petit goût« machte David zum wahren Kreuzzug gegen die schönen erschlafften Figuren, die, halbnackt, ihre cremefarbenen Tücher zu schalkhaften Spielen aufschürzen. Zurückgeschobene Riegel, Kupplerinnen, der zerbrochene
18. So eine Äusserung von Gavarni aus dem Journal der Brüder Goncourt. Vgl. M. Tourneux, Eugène Delacroix devant ses contemporains, Paris 1886, S. 90. Baudelaire gebraucht in seinem Salon de 1845 die Wendung »coloriage de café« (zu Glaize) bzw. »d’ex-voto de village« (zu Lépaulle). Ein starker Misskredit liegt auf dem Dekorativen und folglich auf der »flachen« Malerei ohne Tiefe. 19. Delacroix, Journal, 1. Januar 1857. »Les petits tableaux m’énervent, m’ennuient« notiert der Maler schon am 5. Oktober 1847. Sein Cousin, der Maler Riesener, will »s’enrichir avec de petits tableaux«, d.h. er will Genregemälde verkaufen? »Il est perdu« (14. Dezember 1853). »Je ne suis pas né décidément pour faire des tableaux à la mode«, dachte schon der junge Delacroix (30. Dezember 1823). »Envie de faire de petits tableaux«? Jedoch allein aus einem ehrbaren Grund, wie »acheter quelque chose à la vente de Géricault« (3. April 1824). »Commencé chez moi le petit Don Quichotte«: der Genremaler hat selbst kein Bedürfnis, in seinem Atelier zu arbeiten (6. April 1824). Dieses Tableau ist dem »pauvre M. Coutan«, dem unglücklichen Käufer eines doch so schlechten Bildes, gewidmet. 8. April: »L’argent me pressera bientôt. Il faut travailler ferme. Travaillé au Don Quichotte«. Doch mit grossem Elan wischt der Maler die Kleinlichkeit materieller Sorgen weg: »Plus de Don Quichotte et de choses indignes de toi !« (7. Mai 1824). Georges Brunel bemerkt zu den grossen Pastoralen Bouchers im Salon von 1765: »On dirait que Diderot trouve insupportable dans des peintures de deux mètres de haut la même fantaisie qui lui plaît dans de petites toiles.« (op. cit., S. 103). Das ist tatsächlich der Fall … 20. Ebenso wie Millets Angelus auf dem Boden eines Tellers oder Delacroix’ Liberté auf einer Briefmarke oder einem Geldschein.
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Krug — alles war in den strengen Augen Davids Vorwand zu einer mehr oder weniger eingestandenen Schlüpfrigkeit. Fragonard, Vien, Greuze — man müsste noch Boucher, Van Loo hinzufügen, wie überhaupt alle Vertreter einer ›Genremalerei‹ — liebten rosiges Fleisch, das mit Spitzen bedeckt ist, vor dem Hintergrund durchsichtiger Tücher oder grüner Büsche. Die Kunst war zu einer Kunst des Boudoirs geworden! Der Maler machte sich — weitab von seinem edlen Auftrag — zum Komplizen und Voyeur! Für David, ganz geprägt vom Puritanismus der Terreur und der Tugend, war es Zeit zu reagieren. Die David’sche Reaktion vollbringt in der französischen Malerei die Auslöschung der Werte des Geschmacks — der zum Synonym des »petit goût« wurde — zugunsten eines Idealschönen (»beau idéal«), das eine unbedingte Objektivität beanspruchte. Es ist das gesamte literarische und pikturale Erbe des 18. Jahrhunderts, das das heraufkommende strenge 19. Jahrhundert unter dem Stichwort des »petit goût« zurückweist. Man kann — mit Jean Locquin — sagen, dass die David’sche »Revolution« das Ergebnis einer langen Vorbereitung sei: »dès 1747, un vigoureux mouvement de protestation et de réaction se dessine contre la ’petite manière’ et tend à en paralyser l’essor«.21 Als dogmatischer Geist glaubte David für die gute Sache — diejenige der Kunst — zu handeln. Als er die Historienmalerei rehabilitierte, hing David — Historienmaler und Mitglied des ›Comité de Sûreté Générale‹ unter der Terreur — die letzten Aristokraten auf seine Weise auf.22 Erotik wurde nicht zugelassen! Viel später rief Baudelaire (1821–1867) diese radikale ideologische Entscheidung mit seiner üblichen Ironie (noch einmal) wach: Quand David, cet astre froid, et Guérin et Girodet, ses satellites historiques, espèces d’abstracteurs de quintessence dans leur genre, se levèrent sur l’horizon de l’art, il se fit une grande révolution. Sans analyser ici le but qu’ils poursuivirent, sans en vérifier la légitimité, sans examiner s’ils ne l’ont pas outrepassé, constatons simplement qu’ils avaient un but, un grand but de réaction contre de trop vives et de trop aimables frivolités que je ne veux pas non plus apprécier ni caractériser; — que ce but ils le visèrent avec persévérance, et qu’ils marchèrent à la lumière de leur soleil artificiel avec une franchise, une décision et un ensemble dignes de véritables hommes de parti.23
Die Ablehnung dieser »aimables frivolités« ist auch für Delacroix das grosse Verdienst Davids. Es heisst in seinem Journal am 25. Januar 1857: »Il y a quatre-vingt ans, c’était les Vanloo qui donnaient le prix de Rome et dont le style régnait en souverain. Dans ce moment s’éleva un talent qui avait sucé leurs principes et qui devait s’illustrer par des principes tout différents. David renouvelle l’art, on peut le dire: mais le mérite n’en est pas seulement à son originalité propre. […] Le style énervé et factice des Vanloo avait fait son temps.« Delacroix präzisiert damit, dass der Kontext der David’schen Reform vor allem ein politischer ist: die Van Loos vergaben den ›prix de Rome‹. Die persönliche Geschichte von David ist in dieser Hinsicht voller Groll.
21. Locquin, Jean, La Peinture d’histoire en France de 1747 à 1785, Paris 1978, S. XXIX. 22. Vgl. hierzu das Buch von Michel, Régis, David, l’art et la politique, Paris 1988. 23. Baudelaire, »Exposition universelle de 1855«, II. Ingres, in: Curiosités esthétiques, Paris 1923, S. 231 / 232.
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Doch David selbst legt keinerlei Ironie an den Tag, und er gesteht keinerlei private Abrechnung zu, wenn er erklärt, dass die Historienmalerei die Charaktere der Völker stähle und ihre edlen patriotischen Gefühle wecke. So heisst es 1793 – in einem Genre, das der kritischen Distanz wahrlich wenig günstig ist — in seinem Rapport à la Convention nationale sur le Jury national des Arts: »Trop longtemps les tyrans, qui redoutent jusqu’aux images des vertus, avaient, en enchaînant jusqu’à la pensée, encouragé la licence des mœurs ; les arts ne servaient plus qu’à satisfaire l’orgueil et le caprice de quelques sybarites gorgés d’or ; et des corporations despotiques, circonscrivant le génie dans le cercle étroit de leurs pensées, proscrivaient quiconque se présentait avec les idées pures de la morale et de la philosophie. Combien de génies naissants ont été étouffés dès leur berceau!«
Man kann hier zwischen den Zeilen eine Anspielung auf die ›corporations despotiques‹ herauslesen, die die neue ›Jury national‹, von David geführt, umstürzte. Die ehrbare Akademie wird — von ihrem Piedestal gestossen — zum Symbol der Unterdrückung der Kunst durch das staatliche Monopol: das ist die Bastille Davids, der als Ersatz nichts weniger als ein weiteres Staatsmonopol vorschlägt. »Ce n’est pas seulement en charmant les yeux que les monuments des arts ont atteint leur but, c’est en pénétrant l’âme, c’est en faisant sur l’esprit une impression profonde, semblable à la réalité: c’est alors que les traits d’héroïsme, de vertus civiques, offerts aux regards du peuple, électriseront son âme, et feront germer en lui toutes les passions de la gloire, de dévouement pour le salut de la patrie.«
Das Schöne ist für David Napoleon (als politischer und ästhetischer Held)24 und sein Vorbild Winckelmann (sein Philosoph); es geht um die Geschichte, die Nation, die Begeisterung für den Heroismus, die Ausbildung des Staatsbürgers, die grossen Ziele der Kunst und die grossen Taten. David als Neo-Klassiker? Doch was wäre diese ästhetische Position ohne den gesellschaftlichen Kontext, der sie hervorbrachte? Die Ablehnung der Ästhetik des Geschmacks (des »petit goût«) zugunsten einer Ästhetik des Schönen erscheint auf den ersten Blick nicht als ein ästhetisches Problem, sondern als ein Niederschlag der Revolution. Hiervon zeugt auch — bei David — die Figur Napoleons, dessen offizieller Maler er wurde, nachdem er bis zu Robespierre derjenige der Revolutionsregierungen gewesen war. Für David — wie für viele andere — ist Napoleon der Sohn der Revolution. Der junge Delacroix und der alte David erklären sich gleichermassen von ihm inspiriert; die Feindschaften schweigen, Einvernehmen stellt sich rund um die Gestalt des grossen Mannes her. Wenn das Schöne über die verfeinerte Libertinage triumphiert, wenn das Heldengedicht über die Bagatelle und die grossen Räume der Eroberungen über die Darstellung des Bettes und des Zimmers siegen, dann ist das auch Napoleon zu verdanken. Das Schöne ist daher vor allem eine Waffe, die dazu dient, den »petit goût« aus der Malerei zu vertreiben. Mit allen Sünden des ›genre‹ und des Immoralismus beladen, gilt er insbesondere als Sündenbock für das Ancien Régime.
24. Vgl. meinen Artikel über David und Delacroix in: Démoris, René (ed.), Les Fins de la peinture, Paris 1990.
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Die Griechen und die moderne Kleidung In Frankreich ist der Name Davids untrennbar mit dem des deutschen »Antiquars« Winckelmann verbunden, dessen Ideen über das Idealschöne (»beau idéal«) nach Davids eigenem Bekunden seine Malerei inspirierten. Nach dem Schock seiner Inhaftierung nach dem Thermidor — als der Künstler nach Robespierres Fall die zeitgenössische Malerei aufgegeben hatte und »une chose toute nouvelle« unternommen zu haben erklärte — ersehnte er »ramener l’art aux principes que l’on suivait chez les Grecs«. Er malte den Enlèvement des Sabines, dessen fühlbar allgemeinen — und dem ›Directoire‹ sehr gemässen — Charakter Régis Michel hervorhebt und dessen Hellenismus, insbesondere in der Nacktheit der Helden, Winckelmann buchstäblich genommen hat.25 David, idealer Zeuge des ideologischen Klimas der »grande peinture«, steht als solcher auch für die Vorliebe des anbrechenden Jahrhunderts: die alten Griechen. Wie Delacroix hervorhebt, ist es Davids Hauptverdienst, seine Zeit zu verkörpern und zu spiegeln, im Zentrum eines Netzes von Einflüssen zu stehen, denen er unterliegt, ohne sie immer ganz zu beherrschen: »Dénué, je crois, d’une originalité bien vive, mais doué d’un grand sens, né surtout au déclin de cette école et au moment où l’admiration quelque peu irréfléchie de l’antique se faisait jour, grâce encore à des génies médiocres comme les Mengs et les Winckelmann, il fut frappé, dans un heureux moment, de la langueur, de la faiblesse de ces honteuses productions de son temps : les idées philosophiques qui grandissaient en même temps, les idées de grandeur et de liberté du peuple, idées qui venaient de naître également, se mêlèrent sans doute à ce dégoût qu’il ressentit pour l’école dont il était issu. Cette répulsion qui honore son génie et qui est son principal titre de gloire, le conduisit à l’étude de l’antique.«26 So löst David — wider Willen? — das Winckelmann’sche Ideal des Schönen ein, das sich sehr bald in Frankreich verbreitet.27 Ist die griechische Kunst eine kollektive Halluzination? So lautet die Frage von Régis Debray in seinem Buch Histoire du regard en Occident.28 Die Faszination, die die Griechen hervorriefen, war jedenfalls so stark, dass sie den ›Neo-Klassizismus‹ entstehen liess. Die pikturalen Charakteristika dieser ›Bewegung‹ sind hier von geringem Interesse; es ist kein Zufall, wenn die griechische Kunst — einmal mehr einer Faszination für die ›Ursprünge‹ verbunden — gleichzeitig mit der industriellen Revolution entstand. Griechenland ist die Wiege der Kunst. Diese Behauptung ist historisch falsch, doch antwortet sie auf das Bedürfnis nach einem verlorenen ursprünglichen Modell. Bei der Lektüre der Winckelmann’schen (1717–1768) Abhandlung Gedanken über die Nachahmung der
25. Michel, Régis, David, l’art et le politique, op. cit., S. 96. 26. Delacroix, Journal, 22. Februar 1860. 27. Über den Einfluss Winckelmanns und Raphael Mengs in Frankreich, vgl. Locquin, Jean, op. cit., S. 147 ff. Nach Locquin gibt Diderot vor, den deutschen Antiquar nicht zu zitieren, schliesst sich aber seiner Theorie an, wie es das Vorwort des Salon de 1767 zeigt. Pierre Rosenberg meint hingegen, dass »le triomphe de David marque en quelque sorte le triomphe des idées de Winckelmann contre lesquelles Diderot n’avait cessé de s’ériger« (»Diderot et la peinture«, in: Diderot et l’art de Boucher à David, op. cit., S. 99). Jedenfalls zeigt sich nach Régis Michel, selbst wenn die Verbreitung Winckelmanns in Frankreich »obscure« bleibt, »à chaque Salon […] le progrès de ses principaux concepts« (»Diderot et la modernité«, op. cit., S. 119). 28. Debray, Régis, Vie et mort de l’image : une histoire du regard en Occident, Paris 1992.
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griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) ist man von der Leidenschaft des Antiquars und seiner Sehnsucht nach blauem Himmel und mildem Klima beeindruckt. Erschüttert, eingeschüchtert durch diese reine und unverhüllte Schönheit, in direkter Umsetzung des Seelischen, beschreibt er eine Welt, die von Krankheiten und Unvollkommenheiten frei ist, in der das ›savoir-vivre‹ und die bürgerlichen Gewohnheiten keinerlei Macht haben; hier gibt es keine professionellen Modelle, die zu künstlichen Haltungen erstarrt sind, sondern Knaben, die sich nackt und natürlich bewegen. Winckelmann übermittelt die Trauer des »eisernen Jahrhunderts«, das sich (mit seinen schwarzen Anzügen) so hässlich im Vergleich mit den antiken Griechen fühlte. Das Ideal, das Winckelmann verfolgt, richtet sich auf die verlorene Nacktheit29 — oder vielmehr auf den Geist der verlorenen Nacktheit. Die Jugend, die Olympischen Spiele, die von einschnürenden Wickeltüchern befreiten Kinder, die leichten Kleidungsstücke der jungen Erwachsenen: das sind die betörenden und mythischen Visionen gegen die Panzerkleidung des Jahrhunderts, die den Hals, die Hüften, die Schenkel zusammenpresst und einschnürt. Im Verborgenen deutet sich hier die Frage des »costume moderne« an, die die Malerei dieser Epoche beherrschen sollte. Soll man die Helden dieser Zeiten völlig nackt malen? Was für David revolutionär war, das hat die Geschichte zuzeiten selbst beantwortet: Marat stirbt in seiner Badewanne — natürlich nackt. Doch einen Marat, der so schön ist, als stamme er aus der Antike, der »tout le parfum de l’idéal« besitzt, wie Baudelaire schreibt,30 wie einen Abgeordneten zu kleiden? Le Serment du Jeu de Paume, ein unvollendetes Gemälde, stellt fremdartige Monstren, bizarre Chimären, halb nackt, halb bekleidet dar …31
29. Die von Winckelmann veranlasste Debatte findet ihre Fortsetzung im Laokoon-Aufsatz Lessings, der — an die Frage des Ausdrucks anknüpfend — einige Jahre später (1766) auch über die griechische Heiterkeit nachdenkt. Darf Laokoon schreien, leiden? Oder vielmehr: Ist ein solches Leiden darstellbar? Oder auch: Schadet die rohe Darstellung dieses Leidens nicht paradoxerweise seiner Wirkung? Das damit formulierte Problem ist dasjenige der Masslosigkeit (des Leidens) und seines körperlichen Ausdrucks. Der für die Darstellung beste Augenblick ist nicht der des höchsten Entsetzens oder Schmerzes, sondern der, der ihm unmittelbar vorausgeht: So wird Medea noch schrecklicher sein, wenn sie unmittelbar vor dem Mord an ihren Kindern dargestellt ist. Die Intensität der Darstellung ist nicht diejenige der Wirklichkeit: beider Geltungsbereich ist verschieden. Lessings Ideen liessen sich beispielsweise auch auf die griechische Tragödie anwenden. Hier werden die Morde hinter der »skènè« verborgen — nicht aus Gründen der »bienséance« wie in der französischen Tragödie des 17. Jahrhunderts, sondern um eine grössere Wirkung zu erzielen. Im Agamemnon des Aischylos ist Kassandra, die die Pforten des Todes begrüsst und auf das Reich des Schattens zugeht, wo Klytaemnestra sie erwartet, eindrucksvoller als dieselbe Kassandra im Augenblick, da sie (vom Tod) getroffen wird: daher zeigt der Dramaturg den Moment, der dem Tod vorausgeht. Indem er das Problem der Darstellung des Paroxysmus in den Künsten stellt, gelangt Lessing dazu, über die Natur der bildenden Künste selbst — im Vergleich zur Literatur — nachzudenken. Der Gedanke einer Rivalität zwischen den Künsten findet sich schon bei Leonardo da Vinci, und Delacroix wird später dieselben Ideen in seinem Journal wiederaufnehmen. Lessings Text setzt sich dafür ein, den Glauben an das »ut pictura poesis« — und an seine traditionell falsche Übersetzung — abzuschaffen. Wir sind dann vom Winckelmann’schen Schönen ziemlich weit entfernt: Die Reflexion bricht über die Kunst im allgemeinen, über den eigentümlichen Charakter ihrer »spécialités« herein. 30. Baudelaire, Curiosités esthétiques, op. cit., »Compte-rendu de l’exposition du bazar Bonne-Nouvelle«. 31. Vgl. Michel, Régis, David, l’art et le politique, op. cit., S. 65–67.
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Das Jahrhundert fragt nach der schwierigen Legierung des ›idealen‹ Schönen mit den historischen Erfordernissen der Zeit. An der Wende des Jahrhunderts stehen sich zwei Konzeptionen des Schönen gegenüber, das meint die antike gegen die nationale Geschichte.32 Die schwarzen Habits der Modernität suchen die weissen Hüllen der Antike im Sinne einer ›negativen Photographie‹. Es handelt sich um das Jahrhundert des Eisens, das Jahrhundert in schwarz und weiss, das Jahrhundert der Photographie und der Maschine. Den Zeitgenossen war das bewusst. Um ein Beispiel aus tausend anderen herauszugreifen: In L’Education de l’artiste bekräftigt der Kritiker Ernest Chesneau, dass man nicht »un chef-d’œuvre avec nos habits noirs, nos paletots, et nos robes, et nos châles, avec le costume de l’homme et de la femme au XIX e siècle« machen könne. Unsere Epoche empfinde es nämlich als eine »honte de se manifester dans sa vérité«.33 Delacroix hätte gesagt, dass die modernen Sujets wegen des Fehlens des Nackten und wegen der Armseligkeit der Kleidung schwer zu behandeln seien.34 In seinem Journal bemerkte er, »combien nos costumes sont affreux« im Verhältnis zu den bunt bemalten Verkleidungen der Kinder, die »comme une corbeille de fleurs«35 sind. Baudelaire zufolge soll der Künstler, der die Modernität sucht, »dégager de la mode ce qu’elle peut contenir de poétique dans l’historique« und »tirer l’éternel du transitoire«. Baudelaire war entsetzt über »la tendance générale des artistes à habiller tous les sujets de costumes anciens«. Dem Dichter zufolge ist das pure Faulheit! Und Irrweg, da jede Epoche ihre Mode, ihre Art, sie zu tragen, ihren Aussehen, ihr Kostüm hat, das »un tout d’une complète vitalité« bildet: »La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art«: »vous n’avez pas le droit de le mépriser ou de vous en passer«.36 Das Problem des modernen oder antiken Kostüms ist — wie dasjenige des Leinwandformats — ein Detail, das die Aufmerksamkeit auf sich lenkt und das über die ›sekundären Bestimmungen‹ des Schönen deutlichen Aufschluss gibt. Der Mensch des Jahres 1755 besitzt eine tiefgreifende Sehnsucht nach den Ursprüngen. Der antike Grieche ist ihm nicht nur »auctoritas«. Die Wiedereinsetzung eines griechischen Ideals — dessen ursprüngliches Modell wahrscheinlich niemals existiert hat — ist vielmehr die Antwort auf den zunehmenden Verlust der Selbstachtung, den die Menschen des eisernen Jahrhunderts, ganz in schwarz gekleidet, empfanden. Der Unabhängigkeitskrieg Griechenlands, der die Griechen Davids aktualisiert (es sind dieselben, über die Delacroix nach eigenem Bekunden »sehr gelacht« hat37 wird dann die
32. Vgl. Michel, Régis, »Diderot et la modernité«, op. cit., S. 119. 33. E. Chesneau, L’Education de l’artiste, Paris 1880, S. 176. 34. Äusserung, zitiert in: Bruyas, A. et al. (eds.), La Galerie Bruyas, Paris 1876, S. 311. 35. Delacroix, Journal, 24. Februar 1852. 36. Baudelaire, Le peintre de la vie moderne, IV, »La Modernité«. 37. »J’ai bien ri des Grecs de David«, schreibt Delacroix in einem Brief von seiner Reise nach Marokko an F. Villot vom 29. Februar 1832. Man sagt, dass Delacroix in Marokko wunderbare Entdeckungen machte, dass er mit Erstaunen eine der eigenen fremde Zivilisation entdeckte. Nichts davon ist wahr. Tatsächlich findet Delacroix in Übereinstimmung mit den Vorurteilen seiner Zeit im Orient Grund, die Vorstellungen, die er vor seiner Abreise schon hatte, zu festigen. Die taktische Instrumentalisierung des Orients, der ihm das unvermeidliche Argument der Verschiedenheit und Fremdartigkeit an die Hand gibt, erlaubt ihm die Kritik an David. In seinem Brief an Villot zitiert er frei Sertorius (»Rome n’est plus dans Rome«); er entwickelt seine Gedanken in einem Brief an den Kritiker Jal vom 4. Juni 1832:
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Auffassung der Legende ändern; Byron, der am Strand des Missolonghi stirbt, verkörpert seither die romantische Wende des griechischen Mythos.
Der Tod der Historienmalerei?38 David — und auch Delacroix, der offizielle Ehren suchte und sie erhielt — waren dem alten System der Künste verbunden, das H. und C. White als akademisches System beurteilen. Doch die folgende Epoche zeitigt den Triumph der gewerbsmässigen Kritik.39 Unter dem Deckmantel neuer stilistischer Künheiten gewinnt die Genreszene erneut die Oberhand — während das Kolorit zerfällt und die klassischen Erdfarben von der Leinwand verbannt werden. Moulin de la Galette, Balcon, Tänzerinnen, Cafés, Musettewalzer, Portraits und Landschaften: Ist das die machtvolle Rückkehr des »petit goût«, der über die Historienmalerei triumphiert? Das Idealschöne ist vernichtet, seit der Staat es nicht mehr verlangt. Nachdem die Widersprüche, die die vorangehende Epoche unterhöhlten, gelöst waren, und befreit von der mehr oder weniger erzwungenen Bewunderung des sperrigen Idealschönen knüpft der Impressionismus, allein auf weiter Flur in der Malerei geblieben, wieder ans Prinzip des Gefallens an, das den gesamten Erfolg des »petit goût« ausgemacht hatte. Nicht von ungefähr wurde diese Malerei damals in der Öffentlichkeit verehrt, denn kein institutionelles Hemmnis zwang sie, ihre Vorlieben zu unterdrücken. Aber lassen wir das letzte Wort André Masson, der 1950 in Le Plaisir de peindre schrieb: »Diderot, incliné par ses théories et son amitié, n’était pas sans complaisance pour Greuze, bon peintre de second ordre (ce n’est pas à lui qu’il reprocherait de manquer de goût). A Boucher, peintre de grande tradition, furent réservés tous les sarcasmes.«40 Eine Seite später fügte er dem hinzu: »le laid ideal. — Aussi fastidieux, à la longue, que le beau de même nom.«
»Les héros de David et compagnie feraient une triste figure […] auprès de ces fils du soleil.« Den »pauvres modernes«, die auf nichts anderes als Marmor schwören, entgeht das Wesen dessen, was sie suchen: »Si l’école de peinture persiste à proposer toujours pour sujets aux jeunes nourrissons des Muses la famille de Priam et d’Atrée, je suis convaincu, et vous serez de mon avis, qu’il vaudrait pour eux infiniment davantage être envoyés comme mousses en Barbarie, sur le premier vaisseau, que de fatiguer plus longtemps la terre classique de Rome.« Zu den orientalischen Phantasmen der Nationen und der Völker vgl. die Einführung von C. Berchet zur Anthologie Le Voyage en Orient, anthologie des voyageurs français dans le Levant au XIXe siècle, Paris 1985. 38. Vgl. den Titel von Picon, Gaètan, Naissance de la peinture moderne (1863), Genève 1974. 39. White, Harrison C. und Cynthia A., Canvases and Careers : Institutional Change in the French Painting World, New York 1965. 40. Masson, André, Le plaisir de peindre, Paris 1950, S. 111.
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Auswahlbibliographie Brunel, Georges, »Boucher, neveu de Rameau«, in: Diderot et l’art de Boucher à David. Les Salons : 1759–1781, Catalogue d’exposition à l’Hôtel de la Monnaie 1984–85, Paris 1984. Debray, Régis, Vie et mort de l’image: une histoire du regard en Occident, Paris 1992. Gähtgens, Thomas W. (ed.), Historienmalerei (= Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, 1), Berlin 1996. Hager, Werner, Geschichte in Bildern: Studien zur Historienmalerei des 19. Jahrhunderts, Hildesheim 1989. Jura, Martina, Rahmenmotive in der englischen Genremalerei des 19. Jahrhunderts, Aachen 1985. Locquin, Jean, La Peinture d’histoire en France de 1747 à 1785, Paris 1978. Lojkine, Stéphane, »Les Salons de Diderot ou la rhétorique détournée«, in: Détournements de modèles, Orléans 1995. Mai, Ekkehard (ed.), Historienmalerei in Europa: Paradigmen in Form, Funktion und Ideologie, Mainz 1990. Masson, André, Le plaisir de peindre, Paris 1950. Michel, Régis, David, l’art et la politique, Paris 1988. Schneemann, Peter Johannes, Geschichte als Vorbild: die Modelle der französischen Historienmalerei 1747–1789, Berlin 1994. White, Harrison C. u. Cynthia A., Canvases and Careers: Institutional Change in the French Painting World, New York 1965.
Landschaftsmalerei Oskar Bätschmann
Die Wanderungen in der Landschaft, die Denis Diderot (1713–1784) während der Arbeit an der Besprechung der Bilder im Salon de 1767 (1767) unternahm, führten in ihm ein unbekanntes Glücksgefühl angesichts der Natur herauf und bewirkten eine verachtungsvolle Abkehr von der Gesellschaft und ihren hohlen Vergnügungen. Im hellsichtigen Moment des Aufwachens am Morgen entdeckte Diderot, warum die Menschen Gärten und Parks anlegen und die Wände ihrer prächtigen oder tristen Wohnungen mit Landschafts-und Tierbildern behängen. Sie benützten ihren Reichtum, um die Wälder in die Nähe ihrer Häuser zu verpflanzen und darin für Augenblicke die Pantomime von natürlichen Menschen aufzuführen. Die Landschafts-und Tierbilder seien Dokumente des verlorenen Glücks der Vorfahren. Statt die Rückkehr zum ländlichen Leben zu vollziehen — wie es Diderot von sich behauptet — kompensierten die Menschen den Naturverlust mit gemalten Ersatzstücken und künstlich angelegten Parks mit verfremdeter Natur: Là, nous allons contrefaire un moment le rôle du sauvage; esclaves des usages, des passions, jouer la pantomime de l’homme de Nature. Dans l’impossibilité de nous livrer aux fonctions et aux amusements de la vie champêtre, d’errer dans une campagne, de suivre un troupeau, d’habiter une chaumière, nous invitons, à prix d’or et d’argent, le pinceau des Wouwermans, de Berghem ou de Vernet à nous retracer les mœurs et l’histoire de nos anciens aïeux. Et les murs de nos somptueuses et maussades demeures se couvrent des images d’un bonheur que nous regrettons […].1
Diderot behauptete 1767 offensichtlich als erster, durch Gärten und Landschaftsgemälde werde der Verlust der Natur kompensiert. Zwar sind Auffassungen von Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) Gesellschaftskritik von 1750 in das Erlebnis und die These Diderots aufgenommen. Rousseaus Verurteilung der Wissenschaften und Künste als Produkte des Luxus hatte erstaunlicherweise nicht nur den ersten Preis der Akademie von Dijon geholt, sondern auch ein nachhaltiges europäisches Echo gefunden.2 Doch zog Diderot aus der Entfremdung der
1. Diderot, Denis, Salons, 4 Bde., Seznec, Jean (ed.), Oxford 1957–1967, Bd. 3, 1963, S. 129–167, hier S. 138–139; Diderot et l’Art de Boucher à David. Les Salons 1759–1781, Katalog der Ausstellung in Paris 1984, Paris 1984, S. 405–409; Bukdahl, Else Marie, Diderot, Critique d’Art, 2 Bde., Kopenhagen 1980–1982; Fried, Michael, Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, Berkeley / Los Angeles / London 1980, S. 125–131; Lockhead, Ian J., The Spectator and the Landscape in the Art Criticism of Diderot and his Contemporaries (= Studies in the Fine Arts: Criticism, 14), Ann Arbor, Mich., 1981. 2. Rousseau, Jean-Jacques, Discours sur cette question: Le rétablissement des sciences et des arts a-t-il contribué à epurer les mœurs?, Genf 1750, vgl. die Ausgabe Schriften zur Kulturkritik, Weigand, Kurt (ed.), Hamburg ²1971; Bätschmann, Oskar, Entfernung der Natur. Landschaftsmalerei 1750–1920, Köln 1989, bes. S. 11–44; Pross, Wolfgang, »«Zurück zur Natur« — ein Problem in der Literaturgeschichte der Neuzeit«, in: Kultur und Natur (= Collegium Generale. Kulturhistorische Vorlesungen, 1990 / 91), Svilar, Maja (ed.), Bern u.a. 1992, S. 147–186.
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Oskar Bätschmann
Menschen von der Natur eine andere Konsequenz als Rousseau, und vor allem hielt er eine unerwartete Pointe bereit. Erst bei der Beschreibung des sechsten Naturerlebnisses bekennt er mit gespielter Verlegenheit, dass seine Wanderungen fiktiv waren und seine Natur- und Glückserfahrung sich an den Landschaftsbildern von Joseph Vernet im Salon vollzog.3 Seine fiktiven Spaziergänge folgen dem Argument, das Gérard de Lairesse (1641–1711) in seinem Schilderboek von 1707 vorgebracht hatte, um das Ergötzliche und Nützliche der Landschaftsmalerei zu erweisen: Was kan einem Menschen mehr angenehm seyn, als wenn er, ohne einen Fuss aus seinem Zimmer zu setzen, die gantze Welt durchwandert, und in einem Augenblick von Asien in Africa, von dar wieder in America, ja biss in die Elyseischen Felder hin, alle diese Wunder besichtigen kan, sonder in die geringste Gefahr zu gerathen, auch von der Sonnen Hitze, oder Kälte und allen andern Ungemächlichkeiten des Winters, und den verdrüsslichen Begegnüssen befreyet bleibt, welche unsern Leib betreffen?4
Lairesse schränkte auf die angenehme Nützlichkeit ein, was Leon Battista Alberti (1404–1472) als Erheiterung des Gemüts und als therapeutische Wirkung beschrieben hatte, als er in seinem erstmals 1485 gedruckten Architekturtraktat vom Schmuck der Privathäuser handelte: Die Darstellung von lieblichen Gegenden und Szenen des Landlebens erheiterten das Gemüt, die Darstellung von Quellen, Bächen und Seen seien besonders den Fiebernden zuträglich.5 Bei Diderot haben die fiktiven Spaziergänge völlig andere Dimensionen als bei Lairesse. Indem Diderot mit Bildern die Illusion von Wanderungen in der Natur erzeugt und deren Fiktion erst am Ende preisgibt, zeigt er nicht nur, dass die Naturerfahrung von der Kunst vorgegeben wird, sondern dass die Rückkehr von der Zivilisation in die Natur selbst eine Illusion ist, die sich der Betrachter durch Geld und Kunst verschafft. Diese Illusion ist kompensatorisch. Wie weit reichte Diderots Kompensationsbehauptung? Seine Salonkritiken bildeten einen Teil der Correspondance Littéraire, die von Friedrich Melchior von Grimm alle zwei Wochen in Abschriften an eine Anzahl von Höfen gesandt wurden. Zumindest die kulturkritische Voraussetzung dürften die adligen Leser, ein von Rousseau beeinflusstes Publikum, mit Diderot geteilt haben. Nur sechs Jahre nach Rousseaus erster Kulturkritik veröffentlichte Salomon Gessner (1730–1788) erstmals anonym seine Idyllen (1756), Prosagemälde von einem goldenen Welt-Alter, die zu einem europäischen Erfolg wurden. Die Vorrede preist die Schönheit der ›unverdorbenen Natur‹ und das Glück, sich in diese aus der Stadt flüchten und mittels der Einbildungskraft zu den goldenen Zeiten einfacher und freier Menschen zurückkehren zu können.
3. Vernets Bilder, auf die Diderot sich in den fiktiven Spaziergängen bezog, sind verloren; zwei wurden 1771 von J.-Ph. Lebas reproduziert. Vgl. Diderot et l’Art de Boucher à David, op. cit., S. 405–409. 4. Lairesse, Gérard de, Het groot Schilderboek, 2 Bde., Amsterdam 1707; dt.: Des Herrn Gerhard de Lairesse, Welt=belobten Kunst=Mahlers, Grosses Mahler=Buch. Worinnen die Mahler=Kunst in allen ihren Theilen Gründlich gelehret, durch Beweissthumer und Kuppferstiche erkläret, auch mit Exempeln aus den besten Kunst=Stücken der berühmtesten alten und neuen Mahler bestätiget, anbey derselben Wohl=und Ubelstand angewiesen wird. Erster Theil. Aus dem Holländischen in das Hoch=Teutsche übersetzt. Nürnberg, Im Verlage Johann Christoph Weigel, Kunst=Händlers, seel. Wittib. Gedruckt bey Lorenz Bieling. 1728. […] Zweiter Theil […] 1730, Bd. 1, Buch 6, S. 103. 5. Alberti, Leon Battista, Zehn Bücher über die Baukunst, übers. von Max Theuer, Wien / Leipzig 1912, Reprint Darmstadt 1975, Buch 9, Kap. 4, S. 486.
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Von diesen heisst es: Sie sind frey von allen den sclavischen Verhältnissen, und von allen den Bedürfnissen, die nur die unglückliche Entfernung von der Natur nothwendig machet […].6
In Radierungen und Gouachen zeigte Gessner das unbeschwerte Glück der Harmonie der Menschen mit der Natur (Abb. 1). Als geographischer Ort einer noch bestehenden glücklichen Übereinstimmung zwischen Natur und Menschen wurden aus der Grossstadt die Alpen ausgemacht. Rousseau publizierte 1761 den Briefroman La Nouvelle Héloïse unter dem Titel Lettres de deux amans habitans d’une petite ville au pied des Alpes. Im 23. Brief des ersten Teils schildert der bürgerliche Hauslehrer Saint- Preux seiner adligen Geliebten Julie d’Etanges, der er entsagen muss, den Aufstieg in die Walliser Alpen und die Erfahrung der kathartischen Wirkung des Hochgebirges und des Äthers, der ›quinta essentia‹. Die Alpen und ihre Bewohner bilden — nicht unabhängig von Albrecht von Hallers berühmtem Gedicht von 1731–ein Modell für eine natürliche Gesellschaftsordnung, die Julie in ihrer kleinen Stadt zu verwirklichen sucht durch die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit. Im gleichen Jahr veröffentlichte Jean-François Marmontel (1723–1799) in seinen Contes moraux die Schäfernovelle La Bergère des Alpes, die er zuerst 1759 im Schloss des Baron d’Holbach im Beisein von Mme Geoffrin und Diderot vorgelesen hatte. Von Mme Geoffrin erhielt Joseph Vernet (1714–1789) den Auftrag, ein Gemälde zu dieser Novelle zu malen (Abb. 2). Der Maler wählte den Augenblick, da die junge Schäferin Adelaïde, der ihre adlige Herkunft verborgen ist, dem als Schäfer verkleideten Grafen de Fonrose das Grab ihres Gatten, des Grafen d’Orestan zeigt, dessen Tod sie verschuldet zu haben meint. Vernet setzt das Motiv des Et in Arcadia ego in eine Voralpenlandschaft, begrenzt das Bild links mit einer mächtigen Eiche und schliesst rechts das Bild mit einem sich im Dunst verlierenden Berg ab. Diderot urteilte 1763 ungewöhnlich hart über das Gemälde von Vernet, den er sonst als einen ausserordentlichen Maler schätzte. Getadelt wurde aber auch die Auftraggeberin wegen des Fehlers, ein präzises Sujet vorzugeben und damit die Freiheit und die Kraft des Künstlers einzuschränken.7
Sittliche Wirkungen Johann Georg Sulzer (1720–1779) postulierte in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste (1771–1774), die Betrachtung der sogenannten leblosen Natur sei der erste Schritt des Menschen zur Vernunft und zu einer geordneten Gemütsart. Das Frontispiz von Daniel Chodowiecki (1726–1801) für Sulzers Allgemeine Theorie (Abb. 3) zeigt unter dem strahlenden Licht der aufklärenden Sonne die allegorischen Figuren der Künste hinter der sitzenden Pallas Athene und konfrontiert diese Gruppe mit dem Zustand der primitiven Menschen, die nackt auf dem Boden vor ihrer Urhütte hocken. Die moralischen, technischen und wissenschaftlichen Fortschritte tragen für Sulzer zur Verbesserung dieses Zustandes bei, die Künste können die Entwicklung und das Glück befördern, sofern sie von der Vernunft geleitet werden. Die Landschaftsmalerei
6. Gessner, Salomon, Idyllen (1756), in: ders., Schriften, 5 Bde., Zürich 1770, Bd. 3, S. 5–12. 7. Diderot, Salons, op. cit., Bd. 1, S. 229–230; Diderot et l’Art de Boucher à David, op. cit., Nr. 119, S. 403–405.
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könne die Wirkung der Natur auf das menschliche Gefühl und den Verstand benützen. Durch die Beifügung einer historischen oder moralischen Handlung in der Landschaftsmalerei werde die moralische Wirkung der Natur verstärkt: Die Mahlerey findet demnach in der leblosen Natur einen nie zu erschöpfenden Stoff, vortheilhaft auf die Gemüther der Menschen zu würken; und der Landschaftmahler kann uns sehr vielfältig auf eine nützliche Weise vergnügen; fürnehmlich, wenn er mit den höhern Kräften seiner Kunst bekannt, sittliche und leidenschaftliche Gegenstände mit den Scenen der leblosen Natur verbindet.8
Nach Sulzer könnte die Landschaftsmalerei sich dadurch auf den gleichen Rang heben wie das Historienbild und sich in der Hierarchie der Gattungen vom untersten oder zweituntersten Rang auf den höchsten Rang verbessern. Als Muster für die Verbindung von Landschaft und moralischem Gegenstand nannte Sulzer Nicolas Poussins (1594–1665) berühmtes Gemälde Et in Arcadia ego (Abb. 4), das auf 1640 zu datieren ist.9 Als Voraussetzung für eine derartige Steigerung der Landschaft nannte Sulzer allerdings, dass der Maler die ›Sprache der Natur‹ verstehe und sich nicht mit der Mannigfaltigkeit der Farben und Formen begnüge: Hat er aber Verstand und Empfindung genug, den Geist und die Seele der vor ihm liegenen Materie zu empfinden, so wird er ohne Mühe, um sie auch uns desto lebhafter fühlen zu lassen, sittliche Gegenstände seiner eigenen Erfindung einmischen können.10
Sulzer nahm in seinem Artikel die Versuche zur Revolution des französischen Systems der Bildgattungen auf, das die Landschaftsmalerei auf die unteren Stufen verwiesen hatte. André Félibien hatte 1669 im Vorwort zur Ausgabe der Conférences de l’Académie Royale de Peinture et de Sculpture die doktrinäre Hierarchie der Bildgattungen gemäss der Rangordnung der unbelebten, der belebten Natur und des Geistes formuliert: auf die unterste Stufe sind die Maler von Stilleben gesetzt, über ihnen stehen die Landschaftsmaler, darüber die Tiermaler und die Porträtmaler. Auf dem zweitobersten Rang finden sich die Historienmaler, aber über ihnen stehen noch die Erfinder von allegorischen Kompositionen.11 Die Hierarchie wird bestimmt sowohl von der vorgegebenen Ordnung der Gegenstände wie vom Abstand zwischen Nachahmung und Erfindung, d.h. der künstlerischen Praxis. Die Argumentation und das Beispiel von Sulzers Artikel entstammen der Abhandlung über
8. Sulzer, Johann Georg, »Landschaft«, in: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artikeln abgehandelt, Neue vermehrte zweyte Auflage, 5 Bde., Leipzig 1792, Bd. 3, S. 145–154, hier: S. 147. Der Artikel erschien zuerst in: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, 2 Bde., Leipzig 1771–1774, Bd. 2, S. 114–121. 9. Verdi, Richard, »On the Critical Fortunes — and Misfortunes — of Poussin’s »Arcadia««, in: The Burlington Magazine 121, 1979, S. 95–107; Bätschmann, Oskar, Nicolas Poussin. Dialectics of Painting, London 1990, S. 45–61; Nicolas Poussin 1594–1665, Katalog der Ausstellung im Grand Palais Paris 1994–95, Rosenberg, Pierre / Prat, LouisAntoine (eds.), Paris 1994, S. 283–285. 10. Sulzer, »Landschaft«, op. cit., S. 148. 11. Félibien, André, Conférences de l’Académie Royale de Peinture et de Sculpture. Pendant l’année 1667, Paris 1669, Reprint Portland, Oregon, 1972.
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die Landschaftsmalerei von Christian Ludwig von Hagedorn (1708–1754). Dessen Auffassung leitet sich her von Gérard de Lairesses Grossem Mahler=Buch, das in deutscher Übersetzung 1728–30 in Nürnberg publiziert wurde.12 Lairesse widmete das sechste Buch des ersten Teils seines Mahler-Buches der Landschaftsmalerei13 und lieferte damit nach Carel van Mander (1604) und Joachim von Sandrart (1675) die umfangreichste Abhandlung über diese Gattung.14 Die Aufwertung der Landschaft wurde um 1700 von französischer Seite unterstützt durch Roger de Piles, der in seinem Cours de Peinture par Principes von 1708 nur dem Porträt und der Landschaft ein Kapitel widmete und darin die Unterscheidung zwischen dem heroischen und dem pastoralen Stil traf.15 In Frankreich wurde die Aufwertung der Landschaft um 1750 innerhalb der Akademie rückgängig gemacht durch Erneuerung der Gattungshierarchie und durch die von der französischen Administration besonders geförderte Historienmalerei.16 Allerdings wurde die Hierarchie der Gattungen in Frankreich wie in England in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unterlaufen durch die Vermischung von Historie und Genre.17 Im Artikel Erhaben schrieb Sulzer: Das blos Schöne und Gute, in der Natur und in der Kunst, gefällt, ist angenehm oder ergötzend; es macht einen sanften Eindruk, den wir ruhig geniessen; aber das Erhabene würkt mit starken Schlägen, ist hinreissend und ergreift das Gemüth unwiderstehlich.18
12. Hagedorn, Christian Ludwig von, Betrachtungen über die Mahlerey, 2 Bde., Leipzig 1762; Lairesse, Gérard de, Het groot Schilderboek, 2 Bde., Amsterdam 1707; dt.: Des Herrn Gerhard de Lairesse, Welt=belobten Kunst=Mahlers, Grosses Mahler=Buch. Worinnen die Mahler=Kunst in allen ihren Theilen Gründlich gelehret, durch Beweissthumer und Kuppferstiche erkläret, auch mit Exempeln aus den besten Kunst=Stücken der berühmtesten alten und neuen Mahler bestätiget, anbey derselben Wohl=und Ubelstand angewiesen wird. Erster Theil. Aus dem Holländischen in das Hoch=Teutsche übersetzt. Nürnberg, Im Verlage Johann Christoph Weigel, Kunst=Händlers, seel. Wittib. Gedruckt bey Lorenz Bieling. 1728. […] Zweiter Theil […] 1730. Zweite deutsche Ausgabe: Grosses Mahler=Buch worinnen die Mahleren nach allen ihren Theilen gründlich gelehret, durch vernünftige Raisonnements über Gemählde erklärt, und aus den besten Kunststücken der alten und neuen berühmtesten Mahler in Kupferstichen deutlich dargestellt wird. Von Gerhard de Lairesse Kunstmahler, 3 Bde., Nürnberg 1784. 13. S. 109–199. 14. Sandrart, Joachim von, L’Accademia Tedesca della Architettura, Scultura et Pittura, oder Teutsche Akademie der Edlen Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste, 2 Bde., Nürnberg 1675–1679, Bd. 1: Vom Landschaft-Mahlen, S. 70–71; Mander, Carel van, Den grondt der edel vry schilder-const, Haarlem 1604, und: Het Schilderboeck, Amsterdam 1618, fol. 1–22; Reprint der Ausgabe Haarlem 1604: Mander, Karl van, Den grondt der edel vry schilder-const, Miedema, Hessel (ed.), 2 Bde., Utrecht 1973. 15. Piles, Roger de, Cours de Peinture par Principes, Paris 1708; Neuausgabe mit einem Vorwort von Jacques Thuillier, Paris 1989, S. 98–127; vgl. die erste deutsche Übersetzung: Einleitung in die Malerei aus Grundsätzen, Leipzig 1760. — Puttfarken, Thomas, Roger de Piles’ Theory of Art, New Haven / London 1985. 16. Locquin, Jean, La peinture d’histoire en France de 1747 à 1785. Etude sur l’évolution des idées artistiques dans la seconde moitié du XVIIIe siècle, Paris 1912, Reprint 1978. 17. Fried, Michael, Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, op. cit.; Bätschmann, Oskar, »Das Historienbild als »Tableau« des Konfliktes: Jacques-Louis Davids »Brutus« von 1789«, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 39, 1986, S. 145–162; Busch, Werner, Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München 1993; Schneemann, Peter Johannes, Geschichte als Vorbild. Die Modelle der französischen Historienmalerei 1747–1789, Berlin 1994. 18. Sulzer, J.G., in: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, op. cit., Bd. 2, S. 97.
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Vom Erhabenen in der Kunst behauptete Sulzer: »Es ist demnach in der Kunst das Höchste.« Sulzers langer Artikel konnte sich auf eine seit Boileau erneuerte Diskussion stützen, die vom Traktat Peri hypsus ausging, als dessen Verfasser man den Rhetor Cassius Longinos (213–273) betrachtete. Das Erhabene gehört nach Pseudo-Longin der obersten Stilhöhe der Dichtkunst an und bezeichnet die Wirkung der ekstatischen Begeisterung. Edmund Burke (1729–1797) gab 1757 der Diskussion eine Wendung, indem er die Empfindungen des Erhabenen und des Schönen mit den zwei Grundtrieben, dem Selbsterhaltungstrieb und dem Gesellschaftstrieb, verknüpfte. Die Empfindung des Erhabenen stelle sich ein, wenn durch etwas Riesiges, Unendliches oder Mächtiges ein Schrecken bewirkt wird, der die Selbsterhaltung gefährdet und die Körperfasern anspannt, aber die Gefahr als scheinbar erkannt wird. Die Empfindung des Erhabenen wecke die Gefühle Erstaunen, Bewunderung und Ehrfurcht. Die Empfindung des Schönen, ausgelöst durch etwas Glattes, Kleines und Ebenmässiges, führe zu Genuss und Verlangen nach Teilhabe.19 Folge von Burkes Publikation waren nicht nur die Europäisierung der Diskussion um das Problem des Erhabenen und des Schönen, sondern auch die verstärkte Nachfrage nach Bildern mit Motiven des Erhabenen, d.h. nach gewaltigen Meeresstürmen mit Schiffbrüchigen, tosenden Wasserfällen, schaurigen Abgründen, furchterregenden Gebirgen, unergründlichen Höhlen und feuerspeienden Vulkanen. Der Markt wurde von Spezialisten beliefert. Joseph Vernet und Philippe-Jacques de Louterbourg fertigten Gewitterstürme am Meeresufer mit passenden Schiffbruchszenen (Abb. 5), Caspar Wolf malte auf Bestellung vor allem für Touristen Alpendarstellungen nach ausgestellten Mustern in jeder gewünschten Grösse (Abb. 6), Joseph Mallord William Turner nahm auf seiner Schweizerreise 1802 die notwendigen Motive auf, um in England die entsprechenden Bilder anzufertigen.20 Es scheint, als habe Joseph Anton Koch die erhabenen Motive der Schweiz, die er 1791 und im Sommer 1993 oder 1794 gezeichnet und gemalt hat, mit der politischen Freiheit verknüpfen wollen. Koch war 1791 der Hohen Carlsschule in Stuttgart entflohen, schloss sich während kurzer Zeit in Strassburg den Jakobinern an und hielt sich danach in der Schweiz auf. Am Rheinfall bei Schaffhausen schrieb Koch 1791 einen konfusen Text, in dem die Naturgewalten zum Aufstand gegen den Despotismus aufrufen.21 Es ist nicht ausgeschlossen, dass Koch seine Motive des Erhabenen im Berner Oberland — vor allem die grossen Wasserfälle — mit
19. Burke, Edmund, A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful, London 1757; dt.: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, übers. von F. Bassenge, Strube, W. (ed.), Hamburg 1980. — Hipple, Walter John, The Beautiful, the Sublime and the Picturesque in EighteethCentury British Ästhetic Theory, Carbondale, Ill., 1957, Reprint: Hants 1988; Dieckmann, Herbert, »Das Abscheuliche und Schreckliche in der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts«, in: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen (= Poetik und Hermeneutik, Bd. 3), Jauss, Hans Robert (ed.), München 1968, S. 271–317. 20. Diderot, Salons, op. cit., Bd. 3, S. 162–167; Honour, Hugh, Romanticism, New York u.a. 1979, bes. Kap. 2: The Morality of Landscape, S. 57–118. — Räber, Willi, Caspar Wolf 1735–1783. Sein Leben und sein Werk; ein Beitrag zur Geschichte der Schweizer Malerei des 18. Jahrhunderts (= Œuvrekataloge Schweizer Künstler, 7), Aarau u.a. 1979; Börlin-Brodbeck, Yvonne, Caspar Wolf (1735–1783). Landschaft im Vorfeld der Romantik, Katalog der Ausstellung im Kunstmuseum Basel, Basel 1980. — Wilton, Andrew, Turner in der Schweiz, Dübendorf 1976. 21. Musper, Theodor, »Das Reiseskizzenbuch von Josef Anton Koch aus dem Jahre 1791«, in: Jahrbuch der Preussischen Kunstsammlungen 56, 1935, S. 167–193.
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Freiheitsempfindungen verknüpfen wollte, wie sie von Haller und Rousseau vorgegeben waren. Im Aquarell Reichenbachfall bei Meirigen (Abb. 7) fügte Koch eine nackte männliche Gestalt mit einem langen Stock hinzu, die in das Bassin des Falles hinunterschaut. Diese heroische Figur, die ursprünglich völlig nackt war, zeigt keineswegs Gefahr an, wie man meinte, sondern sie markiert ursprüngliches, freies Dasein.22 In die Weiterungen des Erhabenen muss man nicht nur diese mögliche Politisierung der wilden Natur durch Koch einschliessen, sondern auch die erneute Verbindung des Erhabenen der Natur mit dem Religiösen durch Caspar David Friedrich (1774–1840). Dieser zeigte im Dezember 1808 in seiner Wohnung in Dresden dem Publikum sein soeben vollendetes Gemälde Kreuz im Gebirge. Ein Entwurf (Abb. 8) dokumentiert die Atelierausstellung: das Gemälde wurde auf einem Tisch, der mit einem schwarzen Tuch behängt war, bereits in seiner Rahmung präsentiert. Einer der Besucher schilderte die Massnahmen zur Dämpfung des Lichts, das dem Kapelle des Schlosses Tetschen entsprechen sollte, für deren Altar das Gemälde bestimmt war, wie der Maler glaubte. Die Funktion des Bildes, die Inszenierung im dämmrigen Zimmer auf dem schwarz verhängten Tisch, der vergoldete Rahmen mit den Emblemen des Glaubens und der dargestellte Kruzifix auf dem Felsen vor dem leuchtenden Abendhimmel taten offenbar ihre Wirkung auf die Besucher der Ausstellung.23 Allein der Kammerherr Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr (1752–1822) wandte sich in einer vernichtenden Kritik gegen die Mängel der Landschaftsdarstellung, gegen den Mystizismus, gegen die Absicht auf die »pathologische« Rührung des Betrachters und gegen den ›narkotischen Dunst‹, den die Frömmelei in den Künsten und Wissenschaften verbreite.24 Friedrich beklagte sich über die Kritik des »herzlosen Kunstrichters« und stellte ihr die Behauptung gegenüber: Wenn ein Bild auf den Betrachter seelenvoll wirkt, wenn es sein Gemüth in eine seelenvolle Stimmung versetzt; so hat es die erste Forderung eines Kunstwerkes erfüllt. Wäre es übrigens auch noch so schlecht in Zeichnung, Farbe, Art und Weise der Mahlerei u.s.w.25
Zu Unrecht wurde Ramdohr als bornierter Banause betrachtet und zu Unrecht wurde Friedrichs Malerei mit dem Berliner Theologen Schleiermacher (1768–1834) in Verbindung gebracht, dessen Schrift Über die Religion zuerst anonym 1799 erschienen war. Zwar verfocht Schleierma-
22. Schwäbischer Klassizismus: zwischen Ideal und Wirklichkeit 1770–1830, Katalog der Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart 1993, Holst, Christian von (ed.), 2 Bde., Stuttgart 1993, Bd. 1, Nr. 128, S. 236–237. Das ausgeführte Gemälde von 1796 in der Kunsthalle Hamburg zeigt einen bekleideten Hirten. — Zum Problem vgl. Warnke, Martin, Politische Landschaft. Zur Kunstgeschichte der Natur, München / Wien 1992. 23. Hoch, Karl-Ludwig, »Der sogenannte Tetschener Altar Caspar David Friedrichs«, in: Pantheon 39, 1981, S. 322–327; Hofmann, Werner, »Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« und die Tradition der protestantischen Frömmigkeit«, in: Idea. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 1, 1982, S. 135–162. — Zu Friedrich: Körner, Joseph Leo, Caspar David Friedrich and the subject of landscape, London 1990. 24. Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von, »Über ein zum Altarblatte bestimmtes Landschaftsgemälde von Herrn Friedrich in Dresden, und über Landschaftsmalerei, Allegorie und Mystizismus überhaupt«, in: Zeitung für die elegante Welt 12–15, 17.-21. Januar 1809; vgl. Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen, Hinz, Sigrid (ed.), München 1968, S. 138–159. 25. Friedrich, Caspar David, »Brief vom 8. Februar 1809 an den Akademiedirektor Schulz«, in: Börsch-Supan, Helmut / Jähnig, Karl Wilhelm, Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphik und bildmässige Zeichnungen, München 1973, S. 182–183.
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cher die Erneuerung der Religion durch Anschauung und Gefühl, grenzte sie aber gleichzeitig ab von der Auffassung der Natur als einem Heiligtum der Religion. Er stritt gegen die religiöse Auffassung des Erhabenen und die fromme Naturverehrung, die dem Ziel der menschlichen Arbeit, der Beherrschung der Naturkräfte, widerspreche: Weder Furcht vor den materiellen Kräften die Ihr auf dieser Erde geschäftig seht, noch Freude an den Schönheiten der körperlichen Natur, soll oder kann Euch die erste Anschauung der Welt und ihres Geistes geben. Nicht im Donner des Himmels noch in den furchtbaren Wogen des Meeres sollt Ihr das allmächtige Wesen erkennen, nicht im Schmelz der Blumen noch im Glanz der Abendröte das Liebliche und Gütevolle.26
Nachahmung und Erfindung Bevor Joseph Anton Koch 1794 nach Rom aufbrach, zeichnete er in Neuchâtel für August Herder, den Sohn Johann Gottfrieds, ein Stammbuchblatt (Abb. 9). Es zeigt die schwebende Imitatio, die Allegorie der Nachahmung, die den Künstler, der zum Aufbruch aus dem Gebirge bereit ist, zur Nachfolge auffordert und gebieterisch in die Ferne weist, wo sich Rom abzeichnet. Die handschriftliche Erläuterung heisst: »Meine Freundin ruft mir ich muss eilen in die Gefilde des Frühlings. Leben Sie wohl mein Freund ich bin Ihr J. Koch ein nach Rom pilgernder Mahler.« In Rom vertraute sich Koch keineswegs der ›Imitatio‹ der Natur an wie in den Berner Alpen, sondern er versuchte sich in der Landschaftskomposition mit mythologischer Staffage nach den Mustern von Nicolas Poussin und Claude Lorrain. In der Landschaft mit Herkules am Scheideweg (Abb. 10) von 1797 setzte er Herkules zwischen Tugend und Laster vor einer mächtigen Baumgruppe, begrenzte den Horizont links mit phantastisch aufragenden Bergen, öffnete dagegen in der Mitte die Ferne, auf die ein Weg zum See leitet, und schloss den Mittelgrund rechts mit einer Baumgruppe. Die Komposition folgt den klassischen Vorlagen der harmonischen heroischen oder pastoralen Landschaft von Poussin und Lorrain. Zum Beleg genügt es, eine der bekanntesten Landschaften Poussins, die Landschaft mit einem Mann, der von einer Schlange getötet wird (Abb. 11), danebenzustellen.27 Der Konflikt zwischen Nachahmung, erhabener Wirkung und Komposition der Landschaft ist nicht zu unterschätzen. Die Landschaftsdarstellung, die mit furchterregender Natur auf die Erzeugung einer erhabenen Wirkung abzielte, negierte nicht nur die Darstellung einer harmonisierten Natur sondern auch die schlichte Nachahmung der Landschaft in der topographischen Aufnahme. Die Zeichnung, die Caspar David Friedrich am 17. Juni 1801 in der Umgebung von Vilmnitz während seiner Wanderung über die Insel Rügen anfertigte (Abb. 12), vernachlässigt alle Prinzipien der klassischen Landschaftsdarstellung. Zwei Meilensteine und eine Linie bilden den Vordergrund, zwei Linien, die Kirche und einige Häuser mit Bäumen den Mittelgrund, dann
26. Schleiermacher, Friedrich Ernst Daniel, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799, S. 72–90; vgl. die Ausgabe Hamburg 1958, S. 40–45, hier: S. 44. 27. Blunt, Anthony, The Paintings of Nicolas Poussin. A Critical Catalogue, London 1966, Nr. 209, S. 143–144; Nicolas Poussin 1594–1665, op. cit., Nr. 179, S. 406–408.
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folgt die über Baumgruppen und Häuser sich erstreckende Ferne. Der Himmel ist leer, die Seiten sind offen. Es gibt keine Begrenzungen, keine spannungsvoll-harmonische Verteilung der Massen in Relation zur Entfernung. Die Zeichnung gibt sich als topographische Aufnahme eines Ausschnitts aus einer sich weiterziehenden Landschaft zu erkennen.28 Der erste Direktor der ›Royal Academy‹ of Arts in London, Joshua Reynolds (1723–1792), diskutierte in seiner vierten akademischen Vorlesung von 1771 das Problem von Komposition und Nachahmung im Zusammenhang mit der Hierarchie verschiedener Stile. Er stellte Claude Lorrain der holländischen Schule gegenüber und fand bei dieser die Nachahmung einer individuellen und unvollkommenen Gegend, bei jenem aber die Produktion von Naturschönheit durch die Komposition verschiedener Teile, Szenen und Prospekte (Abb. 13). Reynolds verlangte zwar von der Landschaftsmalerei, dass sie den gleichen Prinzipien der Wahl und Erfindung folge wie die Historienmalerei, behielt aber doch dieser den ›great style‹ vor. Das Problem von Nachahmung und Erfindung war bei Reynolds wie bei den meisten Zeitgenossen gebunden an die Unterscheidung zwischen dem Studium der Natur in Skizzen und Zeichnungen und dem Erschaffen von Bildern. Das Zeichnen ist der Nachahmung verpflichtet, das Malen muss sich dagegen an die Vorbilder der Kunst halten, um den geschichtlichen Auftrag der Verbesserung der Natur zu erfüllen. Die klassische akademische Doktrin, die Reynolds vertrat, ging von der Dekadenz und Zufälligkeit der Natur aus und sprach der Kunst die Aufgabe zu, durch Studium und Erfindung die Natur im Gemälde auf das Ziel zu bringen, auf das sie angelegt war.29 Es ist für den erneuerten Geschmack an der komponierten, harmonisch geordneten Landschaft nicht unwichtig, dass Claude Lorrains Nachzeichnungen seiner Bilder, das Liber Veritatis, durch Aquatinten von Richard Earlom (Abb. 14) zwischen 1775 und 1777 vollständig reproduziert wurde und der englische Verleger und Kunstunternehmer John Boydell das dreibändige Werk von 1777 an erfolgreich zum Kauf anbot.30 Die enorme Rezeption der klassischen Landschaft um 1800 in England, Frankreich, Deutschland und Italien, die sich auf eine grosse Zahl von Reproduktionsstichen nach Lorrain und Poussin stützen konnte, wurde durch die Publikation Boydells entscheidend gefördert.31 Ein erstaunliches Zeugnis für die Einschätzung von Claude Lorrains Landschaften als Natur gibt der überraschende Vergleich mit Jacob Ruysdael, den Friedrich Schlegel (1772–1829) in Paris 1803 vornahm. Er äusserte die allgemeine Besorgnis, dass in der Landschaft »der
28. Zeichnungen deutscher Künstler des 19. Jahrhunderts aus dem Basler Kupferstichkabinett, Katalog der Ausstellung im Kunstmuseum Basel 1982 / 83, bearbeitet von Eva Maria Krafft, Basel 1982, Nr. 28, S. 69–71. 29. Reynolds, Joshua, Discourses on Art, Wark, Robert R. (ed.), New Haven / London 1975, S. 55–73; dt.: Zur Ästhetik und Technik der bildenden Künste. Akademische Reden, übers. von Eduard Leisching, Leipzig 1893; Dobai, Johannes, Die Kunstliteratur des Klassizismus und der Romantik in England, Bd. 2: 1750–1790, Bern 1975, S. 746–783. — Die akademische Doktrin wurde formuliert von Giovan Pietro Bellori 1664; vgl. Bätschmann, Oskar, »Giovan Pietro Belloris Bildbeschreibungen«, in: Beschreibungskunst — Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, Böhm, Gottfried / Pfotenhauer, Helmut (eds.), München 1995, S. 279–311. 30. Kitson, Michael, Claude Lorrain: Liber Veritatis, London 1978. 31. Zur Rezeption von Lorrain: Röthlisberger, Marcel, Im Licht von Claude Lorrain. Landschaftsmalerei aus drei Jahrhunderten, Katalog der Ausstellung im Haus der Kunst München 1983, München 1983; Achille-Etna Michallon (1796–1822), Katalog der Ausstellung im Louvre Paris 1994 (= Dossiers du musée du Louvre, Nr. 43), Pomarède, Vincent (ed.), Paris 1994.
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Natureindruck mehrenteils und sehr leicht das eigentliche Kunstgefühl überwiegen und verdrängen« könne, und neigte dazu, Ruysdael vorzuziehen, weil dieser durch die künstlerische Behandlung der gewöhnlichen Natur ein schönes Kunstwerk hervorbringe: Denn hier ist es wirklich eine Kunstanschauung, welche uns das Gemälde gewährt; dagegen in jener andern, umfassenden, dem Anschein nach viel grossartigeren Gattung, in welcher Claude Lorrain so unübertrefflich und der Erste geblieben ist, wo der Maler mit der Natur selbst, in der Nachbildung ihrer höchsten Prachtszenen wetteifern will, die Naturbewunderung jede andre Empfindung mit sich fortreisst, und auch das reine Kunstgefühl übertäubt; während auf der andern Seite die Herrlichkeit der Natur doch durch keine Kunst jemals erreicht werden kann.32
Carl Ludwig Fernow (1763–1808) schrieb 1806 seinen Aufsatz über die Landschaftsmalerei, der auf die Neubelebung der klassischen Landschaft durch die in Rom tätigen deutschen Maler Bezug nimmt. Als Aufgabe der Maler nannte er das Dichten idealischer Naturszenen auf der Grundlage der Wirklichkeit. Das Vorbild, das Fernow vor Augen hatte, war die Landschaftsmalerei seines römischen Freundes Johann Christian Reinhart (1761–1847). Dieser hatte 1800 die grosse Radierung einer Sturmlandschaft Friedrich Schiller gewidmet (Abb. 15). Sie reproduziert ein Gemälde gleichen Formats, das ebenfalls 1800 entstanden ist und der Komposition und Ausstattung den tragischen Landschaften Poussins nachfolgt. Reinhart fügte zwei geharnischte Reiter hinzu, die in höchster Eile gegen den Wind sprengen. Das künstlerische Vorbild, die historisierenden Reiter und die Widmung dokumentieren den Anspruch des Landschaftsmalers auf poetische Erfindung.33
Eine diabolische Versuchung Die handwerksmässige Nachahmung der Natur genüge für den Landschaftsmaler nicht, behauptete 1831 der Arzt, Naturforscher und Maler Carl Gustav Carus (1789–1869). Ihm schwebte als Ideal eine Erdlebenbildkunst vor, womit er nicht gigantische Szenerien des Schrecklichen meinte, sondern die Erfassung der ›verborgenen göttlichen Idee‹ des Erdlebens. Dazu müssten die Maler unterrichtet werden über Formen, Strukturen und der Geschichte der Gebirge (Abb. 16), über Zusammenhänge zwischen Standorten und Vegetation, über die Entwicklung der Pflanzen, die Gesetzmässigkeiten der atmosphärischen Erscheinungen und schliesslich über die Gesetze des Lichtes und der Farben. Carus fordert die Einsicht in die Gesetzmässigkeiten aller vier Elemente, um den Sinn der Natur zu erkennen und darzustellen.
32. Schlegel, Friedrich, »Nachtrag italiänischer Gemälde« (1803), in: Schlegel, Friedrich, Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst, Eichner, Hans (ed.), Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 4: Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst, München / Zürich u.a. 1959, S. 61–78, bes. S. 73–74, Zitat S. 74. 33. Fernow, Carl Ludwig, »Über die Landschaftsmalerei«, in: Römische Studien, 3 Bde., Zürich 1806–1808; Feuchtmayr, Inge, Johann Christian Reinhart 1761–1847. Monographie und Werkverzeichnis, München 1975; Heroismus und Idylle. Formen der Landschaft um 1800 bei Jacob Philipp Hackert, Joseph Anton Koch und Johann Christian Reinhart, Katalog der Ausstellung im Wallraf-Richartz-Museum Köln 1984, Köln 1984; Künstlerleben in Rom. Bertel Thorwaldsen (1770–1844), der dänische Bildhauer und seine deutschen Freunde, Katalog der Ausstellungen im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg und im Schleswig-Holsteinischen Landesmuseum 1992, Nürnberg 1992, Nr. 2.24, S. 386–388.
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Carus setzte damit die wissenschaftliche Seite der Landschaftsmalerei fort, die sich um 1800 hauptsächlich durch geologische und atmosphärische Interessen manifestiert hatte.34 Das problematische Verhältnis von Nachahmung und Erfindung zeigte E. T. A. Hoffmann (1776–1822) in seiner Erzählung Die Jesuiterkirche in G., die 1817 im ersten Teil der Nachtstücke erschien.35 Am Anfang steht die Abwertung der nachahmenden Vedute und des einfachen Landschaftsmalers Berthold durch einen aus der Menge der Ausstellungsbesucher hervortretenden bösen Geist, der sich dem einfachen Maler als dämonischer Versucher gegenüberstellt und seinen naiven Begriff von Kunst zerstört. Der Maler Berthold, die Hauptfigur der Erzählung, hatte in Italien zuerst Landschaftsveduten in der Art Philipp Hackerts gemalt und war mit einem Bild in einer Ausstellung auch auf einige Bewunderung gestossen. Der Beifall verführte den jungen Künstler zu einer trügerischen Zufriedenheit mit sich und seinem Talent. Doch ein dämonischer Besucher, ein auf Malta geborener reicher Grieche, schüttelt bedenklich den Kopf und hält dem Maler vor, dass er mit der Vedutenmalerei, der Abschrift eines ihm unverständlichen Textes der Natur, seine Bestimmung verfehle. Er behauptet, der heilige Zweck der Kunst sei »die Auffassung der Natur in der tiefsten Bedeutung des höhern Sinns.« Um die Flamme im Innern des Künstlers wecken, sagt er als echter Versucher: »Bist du eingedrungen in den tiefen Sinn der Natur, so werden selbst in deinem Innern ihre Bilder in hoher glänzender Pracht aufgehen.« Diese Versuchung zur genialischen Tätigkeit durch den satanischen Kunstliebhaber leitet die Zerstörung des jungen Malers ein. Er kann nur mehr im Traum erschauen, was er malen möchte, aber keine Werke mehr hervorbringen. In diesem Zustand der Gelähmtheit zieht er sich in eine Grotte zurück, wo er von seinen phantastischen Kunstträumen gemartert wird. Hier, unter dem völligen Ausschluss der Sozietät, erscheint ihm die Vision seines Ideals. Sie ermöglicht ihm das Arbeiten. Doch alle seine Werke sind nur Reproduktionen des Ideals, wie vorher die Veduten Nachahmungen der Landschaften waren. Die künstlerische Produktion scheitert in dem Moment, in dem das vermeintliche Ideal sich als Prinzessin entpuppt und die Frau des Malers wird. Das anfängliche Glück hält nicht lange vor, der Künstler verfällt von neuem der Lähmung. Zuletzt entledigt sich der Maler seiner Familie. In G., wo ihn der Erzähler trifft, malt Berthold die Kirche aus, und arbeitet wieder in einer Höhle. Der Erzähler wird in der Nacht zum geschwätzigen Gehilfen des Malers, der mit Fackellicht und Hilfsmitteln einen quadrierten Entwurf auf die Wand überträgt. Der Künstler fällt durch sein absonderliches Benehmen, seine edle Gestalt, die befremdliche Kleidung und den tiefen Gram im Gesicht auf, während der enthusiastische Erzähler durch seine naiven Äusserungen über Kunst als ein wackerer Biedermann erscheint. Er meint, sich über die Architekturmalerei Bertholds, für die er das Lineal zu halten hilft, abfällig äussern zu müssen und vom Künstler geniale Gedanken statt blosser handwerklicher Perfektion verlangen zu dürfen.
34. Carus, Carl Gustav, Neun Briefe über Landschaftsmalerei. Geschrieben in den Jahren 1815 bis 1824. Zuvor ein Brief von Goethe als Einleitung, Dresden 1830, Reprint mit einem Nachwort von Dorothea Kuhn, Heidelberg 1971. — Zur wissenschaftlichen Seite vgl. Bätschmann, Entfernung der Natur, op. cit., S. 57–67; Busch, Das sentimentalische Bild, op. cit., S. 364–375. 35. Hoffmann, E.T.A., Die Jesuiterkirche in G., in: Historisch-kritische Gesamtausgabe, Maassen, Carl Georg von (ed.), Bd. 3, München / Leipzig 1908–1928, S. 104–135. — Faesi, Peter, Künstler und Gesellschaft bei E.T.A. Hoffmann (Diss. Basel 1975), Basel 1975.
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Die Rede des Erzählers wiederholt naiv, was der Malteser als dämonische Forderung dem Künstler eingegeben hatte. Berthold versucht, dem frevelhaften Gerede zu begegnen, indem er das Malen als normale Arbeit bezeichnet, die dem Bau von Sägemühlen und Spinnmaschinen gleicht. Doch diese Argumentation des Künstlers erweist sich als unhaltbare Täuschung. Zwar vollendet der Maler noch das Altarblatt, doch danach verschwindet er und lässt am Flussufer seinen Hut und seinen Stock zurück. Die Erzählung E. T. A. Hoffmanns von 1817 vernichtet die Argumentation Sulzers und seiner Gewährsmänner, die eine Harmonie zwischen der unbelebten Natur und der moralischen Natur des Menschen erträumten. Hoffmann führt einen unlösbaren Konflikt des Künstlers vor: die Annahme einer höheren Berufung, die von der Nachahmung wegführt zum Inneren der Natur, legt die künstlerische Tätigkeit lahm. Nach dem Sündenfall des Künstlers kann sie nicht einmal mehr als Handwerk gerettet werden.
Abbildungslegende
1.
Salomon Gessner, Badende (Blatt 3 der Landschaften mit mythologischen Figuren), 1770, Radierung, 15,8 × 16,8 cm, Bern, Privatbesitz.
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2.
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Joseph Vernet, La Bergère des Alpes, Salon von 1763, Öl / Lw., 119,5 × 80 cm, Tours, Musée des Beaux-Arts.
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3.
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Daniel Chodowiecki, Pallas Athene, die Künste und der Urzustand der Menschheit, Frontispiz zu: Sulzer, Allgemeine Theorie, Bd. 1, Leipzig: Weidmann und Reich, 1771.
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4.
Nicolas Poussin, Et in Arcadia ego II, um 1640, Öl / Lw., 85 × 121 cm, Paris, Louvre.
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5.
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Joseph Vernet, Stürmische See mit Schiffbrüchigen, 1780, Öl / Lw., 49,5 × 65 cm, Basel, Öffentliche Kunstsammlung, Kunstmuseum, Inv. 624.
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6.
531
Caspar Wolf, Der Geltenschuss im Lauental, 1777, Öl / Lw., 82 × 54 cm, Basel, Öffentliche Kunstsammlung, Kunstmuseum, Inv. G.1978.67.
532
7.
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Joseph Anton Koch, Der Reichenbachfall bei Meiringen, um 1793 / 94, Aquarell und Gouache, 61,9 × 47,4 cm, Hamburg, Kunsthalle, Kupferstichkabinett, Inv. 1922 / 64.
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8.
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Caspar David Friedrich, Kreuz im Gebirge. Studie zur Aufstellung des Tetschener Altars, 1808, Feder und Aquarell, 27,2 × 20,8 cm, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Kupferstichkabinett.
534
9.
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Joseph Anton Koch, Selbstbildnis mit der Imitatio, Stammbuchblatt für August Herder, 1794, Bleistift, 9,7 × 15 cm, Düsseldorf, Goethe-Museum, Anton und Katharina Kippenberg-Stiftung.
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535
10. Joseph Anton Koch, Landschaft mit Herkules am Scheideweg, 1797, Feder, laviert und gehöht, 54 × 75,9 cm, Stuttgart, Staatsgalerie, Graphische Sammlung, Inv. C 5660.
536
11.
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Nicolas Poussin, Landschaft mit einem Mann, der von einer Schlange erwürgt wird, 1648, Radierung von Etienne Baudet, Paris, Bibliothèque Nationale, Cabinet des Estampes.
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537
12. Caspar David Friedrich, Flachlandschaft auf Rügen mit der Kirche von Vilmnitz, 1801, Feder über Bleistift, 23,7 × 36,8 cm, Basel, Öffentliche Kunstsammlung, Kupferstichkabinett, Inv. 1975. 144r.
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13. Claude Lorrain, Pastorale Landschaft (L. V. 105), 1646, Aquatinta von Richard Earlom, 19,3 × 25,7 cm, London: John Boydell, 1775, Bern, PB.
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14. Johann Christian Reinhart, Landschaft mit Reitern, Friedrich Schiller gewidmet, 1800, Radierung, 35,8 × 50,2 cm, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum.
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15. Carl Gustav Carus, Fingalshöhle, nach 1844, Aquarell und Feder, 24,7 × 29,2 cm, Basel, Öffentliche Kunstsammlung, Kupferstichkabinett, Inv. 1949.79.
Auswahlbibliographie Bätschmann, Oskar, Entfernung der Natur. Landschaftsmalerei 1750–1920, Köln 1989. Busch, Werner (ed.), Landschaftsmalerei (= Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren 3), Berlin 1997. Cafritz, Robert C., Places of Delight. The Pastoral Landscape, Katalog der Ausstellung in der National Gallery of Art, Washington D. C., London 1988 / 89. Cosgrone, Denis /Daniels, Stephen (eds.), The Iconography of Landscape. Essays on the Symbolic Representation, Design and Use of Past Environments, Cambridge 1988. Dethloff, Uwe (ed.), Literarische Landschaft: Naturauffassung und Naturbeschreibung zwischen 1750 und 1830, (= Annales Universitatis Saraviensis 6), St. Ingbert 1995.
Landschaftsmalerei
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Dvorák, Max, Idealismus und Realismus in der Kunst der Neuzeit. Die Entwicklung der modernen Landschaftsmalerei. Akademische Vorlesungen aus dem Archiv des Kunsthistorischen Instituts der Universität Wien, hrsg., eingeleitet und kommentiert von Norbert Schmitz, Alfter 1993. Green, Nicholas, The Spectacle of Nature. Landscape and Bourgois Culture in Nineteenth-Century France, Manchester / New York 1990. Hemingway, Andrew, Landscape Imagery & Urban Culture in Early Nineteenth Century Britain, Cambridge 1992. Klonk, Charlotte, Science and the Reception of Nature. British Landscape Art in the late Eighteenth and Early Nineteenth Century, New Haven / London 1996. Körner, Joseph Leo, Caspar David Friedrich and the Subject of Landscape, London 1990. Lagerlöf, Margareta Rossholm, Ideal Landscape: Annibale Carracci, Nicolas Poussin and Claude Lorrain, New Haven / London 1990. Mitchell, William J. T. (ed.), Landscape and Power, Chicago / London 1994. Mitchell, Timothy, Art and Science in German Landscape Painting 1770–1840, Oxford / New York 1993. Pugh, Simon (ed.), Reading Landscape: Country — City Capital, Manchester 1990. Radisich, Paula Rea, Eighteenth Century Landscape Theory and the Work of Pierre Henri de Valenciennes, phil. Diss. University of California, Los Angeles 1977. Warnke, Martin, Politische Landschaft. Zur Kunstgeschichte der Natur, München / Wien 1992. Wood, Christopher, Albrecht Altdorfer and the Origins of Landscape, London 1990.
Sprachen und Textstrukturen
Sprachphilosophie Monika Schmitz-Emans
Die zentrale Bedeutung der Sprachreflexion zwischen 1760 und 18201
Die Sprache sei »die höchste Macht unter den Menschen«, so konstatiert G. W. F. Hegel (1770–1831) in seiner Philosophischen Propädeutik (1809 / 11), und er deutete den Mythos von der Adamitischen Benennung aller Dinge als Verweis auf die Produktion und Aneignung der Welt durch den Geist: »Adam gab allen Dingen einen Namen. Dies ist das Majestätsrecht und erste Besitzergreifung der ganzen Natur oder das Schaffen derselben aus dem Geiste.«2 Dem Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) galt die Sprache als »das grosse Kennzeichen der höhern Beschaffenheit unsrer Natur« und als das »erste Erkenntnissmittel unsers Geschlechts«.3 Diese Stimmen können als repräsentativ für ihre Epoche gelten, wobei Hegel sogar neben Kant (1724–1804) zu den wenigen massgeblichen Philosophen gehört, die dem Thema Sprache noch vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit zuwenden; Sprache galt ihm nämlich als blosser »Leib des Denkens«, als ein Instrument, das sich der ›Gedanke‹ zur Selbstartikulation geschaffen hat.4 Gerade diese letztlich rein instrumentale Auffassung von Sprache, wie sie die Geschichte der Sprachreflexion seit der Antike lange geprägt hatte, wird aber im späten 18. Jahrhundert überwunden — als eine nicht völlig falsche, aber zu kurz greifende Interpretation des Verhältnisses von Sprache und benannter Wirklichkeit. Die Intensität, mit welcher sich die Zeit zwischen 1760 und 1820 mit dem Thema Sprache auseinandersetzte, ist nur vor dem Hintergrund solch grundlegender Wandlung des Sprachden-
1. Sekundärliteratur in Auswahl: Benfey, Theodor, Geschichte der Sprachwissenschaft und orientalischen Philologie in Deutschland seit dem Anfange des 19. Jahrhunderts mit einem Rückblick auf frühere Zeiten, München 1869. — Borst, Arno, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, Bd. I-IV, Stuttgart 1957–1963. — Arens, Hans, Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart, Freiburg /München, ²1969. — Apel, Karl-Otto, Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, Bonn 1963. — Robins, R. H., A short history of linguistics, London 1967. — Coseriu, Eugenio, Die Geschichte der Sprachphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart, 2 Bde., Tübingen 1969 / 1972. — Juliard, Pierre, Philosophies of language in eighteenth-century France, Den Haag 1970. — Gipper, Helmut / Schmitter, Peter, Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik, Tübingen 1979. 2. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm, Philosophische Propädeutik III, 2, S. 158 f. (= Werke, Glockner, H. (ed.), Bd. 3, S. 210f). — Jenenser Realphilosophie II, Hoffmeister, Joh. (ed.), Leipzig 1931, S. 183. Vgl. Borst, Turmbau, op. cit., S. 1581. 3. Pestalozzi, Johann Heinrich, Sämtliche Werke, Buchenau, A. / Spranger, E. / Stettbacher, H. (eds.), Berlin / Leipzig 1927 ff., Bd. 13, S. 315, S. 205. Vgl. Borst, Turmbau, op. cit., S. 1583 f. 4. Hegel, Werke, Glockner, H. (ed.), op. cit., Bd. 8, S. 328.
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kens selbst zu begreifen. Natürlich verständigte man sich keineswegs auf ein einheitliches Konzept von Sprache; auch und gerade im Grundsätzlichen wichen die Auffassungen voneinander ab. Was sie gleichwohl verbindet, ist die Überzeugung, dass Sprache als Vermittlerin zwischen Subjekt und Welt eine Schlüsselrolle spiele. So intensiviert sich auch der Wechselbezug zwischen Sprachreflexion und anderen spekulativen Disziplinen wie Erkenntnistheorie und Transzendentalphilosophie, Theologie, Anthropologie, Psychologie, Ästhetik und Literaturtheorie sowie vor allem der zunehmend bedeutsameren Geschichtsphilosophie. Verknüpft ist die Sprachthematik auch mit dem Problem des menschlichen Selbstbewusstseins, mit der Frage nach dem Individuum und seiner spannungsvollen Beziehung zum Allgemeinen, nach der Relation von Besonderem und allgemeiner ›Ordnung‹, nach den Möglichkeiten und Modalitäten der Artikulation von ›Innerem‹, von Gefühlen, Erlebnissen, persönlichen und sozialen Erfahrungen. In der Besinnung auf einzelne Nationalsprachen drückte sich dann, zumal seit dem frühen 19. Jahrhundert und vor dem Hintergrund der Napoleonischen Kriege, das wachsende nationale und historische Bewusstsein der jeweiligen Sprachgemeinschaften aus, vor allem in Deutschland. Je bedeutsamer die Sprache nun den Theoretikern für die Aneignung der Wirklichkeit durch das erkennende Subjekt sowie für dessen Selbstartikulation erschien, desto grösser der Ambitus zwischen affirmativen, ja enthusiastischen Bewertungen des Wortes (etwa durch die wichtigsten deutschen Romantiker) und Sprachskepsis. Je grösser die Erwartungen, desto tiefer die Enttäuschungen: Dies gilt für die Dichter, wie für die Wissenschaftler, denen an einer funktionalen wie an einer den Erkenntnisgegenständen angemessenen Sprache gelegen sein muss. Konjunktur hatten, zumal in der romantischen Dichtung, Reflexionen über die ›Grenzen‹ von Sprache, über das, was dem Wort transzendent ist und bleibt, sowie über andere ›Sprachen‹ als die der Wörter, denen man grössere Ausdruckskraft und Authentizität zuschreibt. Freilich vollzogen sich solche Überlegungen im kritisierten Medium der Wörter selbst und standen damit im Kontext der Autoreflexion von Sprache. Gerade in der Romantik war es das Wort selbst, das sich seine Grenzen zieht und diese zugleich immer wieder durchbrechen möchte. Schillers berühmtes Distichon vom lebendigen Geist, der in der Sprache nicht zu erscheinen vermöge (»Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr«), ist eher eine Herausforderung als Ausdruck der Resignation. In der Reflexion über das Thema Sprache kommen wesentliche Grundzüge des nachaufklärerischen und romantischen Diskurses zum Ausdruck: Erstens die fundamental »kritische« Haltung eines Denkens, das sich der eigenen Grundlagen, Möglichkeiten und Leistungen bewusst werden wollte und im Zusammenhang damit zugleich der eigenen Bedingtheiten und Grenzen inne wurde. Als wesentliches Vermögen des Menschen wurde das der Verständigung mittels Zeichen begriffen, als wesentliche Leistung die Erlernung und Optimierung von Zeichen›Sprachen‹. Zweitens stand das Interesse an Sprache in Zusammenhang mit einer epochentypischen Zentrierung der Aufmerksamkeit auf den Menschen als ›Subjekt‹ von Erkenntnis, Erfahrung und Empfindung. In dem Masse, als die Individualität und Besonderheit dieses Subjekts betont wurde, stellte sich die Frage nach deren Umsetzbarkeit in sprachlichen Ausdruck. Die Dichtung des Sturm und Drang ist charakterisiert durch ihren unkonventionellen, innovatorischen und expressiven Sprachgestus; sie wollte die Suggestion spontaner und authentischer Bekundung erzeugen. Dabei freilich entstanden schnell neue Konventionen, über die kritische Geister wie Lichtenberg früh spotteten. Drittens verlor das nachrationalistische
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Zeitalter endgültig den Glauben an eine gegebene ›Ordnung‹ der Dinge; Ordnungen erschienen als bedingte und mithin relative Institutionen historischer Gemeinschaften bzw. Subjekte. Es lag einer so sprachbewussten Zeit nahe, der Sprache dabei eine tragende Funktion zuzuschreiben: sei es als Vehihel der Etablierung und Fixierung von Strukturen, sei es gar als das eigentliche ›Subjekt‹ solcher Institution. Zwischen der selbstbewussten Überzeugung der Sprachbenutzer, mittels der Zeichen und ihrer Grammatik ›die Wirklichkeit‹ als Summe der Erkenntnisgegenstände allererst zu konstituieren, und der Angst, sich in einer sprachlich suggerierten Scheinwelt zu bewegen und dabei die wahre Wirklichkeit notwendig zu verfehlen, lag nur ein schmaler Grat. (Die tiefste Ambivalenz, welche aus der ›Kopernikanischen Wende‹ der deutschen idealistischen Philosophie resultiert, besteht ja im Wissen um die schöpferische Produktivität des transzendentalen Subjekts einerseits, dem drohenden Verlust jeglicher verbindlichen Orientierung an aussersubjektiven ›Daten‹ andererseits. Beides wurde nicht zuletzt poetisch reflektiert.) Trotz einschneidender Neuansätze in der Sprachreflexion der Vorromantik und Romantik können die Theoretiker im übrigen teilweise an Einsichten des frühen und mittleren 18. Jahrhunderts anknüpfen; schon hier galt der Sprachgebrauch als Spiegel des Verstandes. Eine vielbeachtete Preisschrift des Göttinger Theologen und Philologen Johann David Michaelis galt dem »Einfluss der Meinungen in die Sprache und der Sprache in die Meinungen« (1760); mit diesem Thema setzten sich in der zweiten Jahrhunderthäfte mehrere wichtige Autoren auseinander, so auch Johann Gottfried Herder (Fragmente Über die neuere deutsche Literatur, 1766–1766) und Christoph Meiners (Kurzer Abriss der Psychologie zum Gebrauche seiner Vorlesungen von Christoph Meiners, 1773). Schon hier geriet die Sprachpraxis als integraler Bestandteil der sozialen Praxis in den Blick. Im Umgang mit dem Wort erschliessen sich die intellektuelle und moralische Verfasstheit der Gesellschaft wie des Einzelnen. Nicht zufällig wurde der Missbrauch von Wörtern von Autoren wie Gottlieb Wilhelm Rabener und Georg Christoph Lichtenberg zum Anlass der Satire genommen. Einsichten in die Macht des Wortes ergeben sich vor allem dort, wo im Sprachgebrauch etwas nicht ›stimmt‹, wo wortbedingte Irrtümer zu konstatieren sind oder Sprache zu bösen Zwecken missbraucht wird.5 Gerade im fraglichen Zeitraum kann die SprachKritik als ein wichtiger Katalysator zwischen alten und neueren Sprachmodellen gelten.
Divergente historische Ansätze und ihre Fortführungen durch Vorromantik und Romantik Deutliche Divergenzen hatten zwischen der Sprachtheorie rationalistischer und der empiristischer Prägung bestanden, und sie wirken bis in die romantische Zeit fort.6 Die britischen Empiristen, allen voran John Locke (1632–1704) in seinem Essay concerning human Understanding (1690), betonten die enge Wechselabhängigkeit von Denken und Sprachgebrauch. Für George Berkeley (1685–1753) lag der Akzent auf sprachlich bedingten Selbsttäuschungen des Verstandes. Locke
5. Vgl. etwa die Satiren von G. W. Rabener: Versuch eines deutschen Wörterbuchs und Beitrag zum deutschen Wörterbuch (1745), sowie Lichtenbergs Beiträge zu Rabeners Wörterbuch (1771). 6. Vgl. Schmidt, Siegfried J., Sprache und Denken als sprachphilosophisches Problem von Locke bis Wittgenstein, Den Haag 1968.
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und Berkeley sahen in den (artikulierten) ›Wörtern‹ konventionsbedingte Etiketten der Bewusstseinsinhalte (ideas). Sprache wurde instrumental-funktionalistisch interpretiert; insofern aber die Benutzung von ›Instrumenten‹ als charakteristisch für das menschliche Subjekt galt, gehörte Sprachlichkeit zu dessen konstitutiven Wesenszügen — zumal da die Sprache ausserdem Bedingung und Vehikel der Kommunikation war. In der angelsächsischen Sprachwissenschaft wird die kommunikativ-pragmatische Dimension der Sprache bis heute besonders betont. Damit verbunden war schon im frühen Empirismus ein Sensorium für die irreduziblen Verschiedenheiten einzelner Sprachen, deren keine Anspruch auf absolute Gültigkeit erheben konnte, sowie für die ›Privatheit‹ jeden Sprachgebrauchs: Da die Sprecher ja nie ins Innere des Gegenübers sehen können und die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem willkürlich ist, gibt es kein Kriterium zur Überprüfung des Bezeichneten von ›aussen‹. Die individualistische Willkür im Sprachgebrauch kann zwar durch Spielregeln der Kommunikation in praktikablem Masse korrigiert werden, aber eine ›allgemeine‹ Sprache ist undenkbar — nicht zuletzt darum, weil die bezeichneten Bewusstseinsinhalte selbst Produkte individuell-besonderer Erfahrung sind. David Hume (1711–1776) widmete der Konventionalität von Sprache in seiner Abhandlung A Treatise on Human Nature (1739–1740) originelle Überlegungen und bettete seine sprachphilosophischen Reflexionen in die allgemeinere erkenntnistheoretische Thematik ein. In Italien wurde vor allem der Zusammenhang zwischen Sprachtheorie, Anthropologie und Kulturgeschichte entdeckt. Wichtige Anstösse für die spätere historische Auseinandersetzung mit Sprache lieferte hier Giambattista Vico (1668–1744), dessen Scienza nuova (1725 /1744) primär eine anthropologisch grundierte Neue Sprachphilosophie ist.7 Sprache galt ihm als originäre Form des Denkens, und er identifizierte die Ursprünge von Sprache, Dichtung und Mythos. Sprachgeschichte und Menschheitgeschichte spiegeln sich wechselseitig, wobei die früheren Entwicklungsstufen gegenüber den späteren nicht abgewertet werden dürfen. Mythisch-poetischer und metaphorischer Sprachgebrauch gehen vielmehr dem rationalen bedingend voraus und erschliessen Wahrheiten, die sich auf andere Weise nicht vermitteln lassen. Vicos Ideen von der welterschliessenden Dimension des dichterischen Wortes wurden vor allem für die romantische Poetik massgeblich, da sie zur Hochschätzung gerade solcher sprachlichen Erscheinungen führten, welche rein verstandesmässig nicht zu begründen sind und das Reich der Poesie gegenüber dem der ›Prosa‹ legitimieren. Ganz anders der vor allem in Frankreich massgebliche rationalistische Ansatz: Ausgehend vom Glauben an die Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit von Begriffen und ihrer Ordnung, glaubten die Rationalisten an die Möglichkeit, die Einzelidiome dieser Begriffsarchitektur zu assimilieren. Weitgehende spekulative Anstrengungen galten sogar dem Nachweis, dass die ›Ordnung‹ einzelner Sprachen (deren Grammatik und Syntax) jener rationalen Ordnung der Begriffe bereits homolog sei. Bevorzugtes Paradigma war neben dem Lateinischen das Französische. Die These von der Interdependenz von Sprache und Denken wurde also ganz anders akzentuiert als bei den ›relativistischeren‹ Empiristen. Wo Sprachgebräuche kritisiert und korrigiert werden, dort ist der Massstab der Ratio allein verbindlich. Konvergenzpunkt der Sprachentwicklung wäre auf dieser Basis letztlich eine Kalkülsprache, wie man sie schon in
7. Vgl. dazu: Coseriu, Eugenio, Die Geschichte der Sprachphilosophie, op. cit., Bd. 2, S. 69 ff.
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früheren Jahrhunderten als ›characteristica universalis‹ projektiert hatte. Das Programm einer Sprach-Verbesserung ist mit dem rationalistischen Ansatz besonders gut vereinbar; sie müsste im Zeichen einer Vereinheitlichung und Universalisierung der Sprachpraxis stehen — einer Tilgung des ›Überflüssigen‹, Besonderen und Eigen-Willigen um der ›Klarheit‹ und Luzidität des Ausdrucks willen. Wegweisend für das rationalistische Sprachkonzept wurde die vor allem in Frankreich lange massgebliche Grammatik von Port-Royal. Da die französische Sprachreflexion des 18. Jahrhunderts weitgehend geprägt war durch das Cartesianische Ideal klarer und distinkter Erkenntnis und Bezeichnung, wurde die Formelsprache der Mathematik bei der Beurteilung der Wortsprachen immer wieder als Vergleichsgrösse herangezogen. Die Frage, ob sich diese überhaupt ›verbessern‹, ob sie sich ›hintergehen‹ und von einem externen Standort aus reformieren lassen, stellte sich gar nicht erst. Alle ausschliesslich historisch begründbaren Besonderheiten der Einzelsprachen sowie die Spielarten individuellen und ›systemwidrigen‹ Ausdrucks trafen nur auf beschränktes Interesse und wurden tendenziell als störend empfunden. Unter dem Einfluss des Rationalismus bemühte sich auch die klassizistische Dichtung in Frankreich um möglichst luziden Sprachgebrauch. Étienne Bonnot de Condillacs (1715–80) Traktat La langue des calculs (postum 1798), setzt ein Gleichheitszeichen zwischen Sprache und ›analytischer Methode‹: So sind für ihn zwar Denken und Sprechen aufs engste miteinander verknüpft, aber er glaubt doch an die Möglichkeit, die Regeln und Gebräuche der Sprache nach Massgabe des rationalen Denkens zu optimieren; als Ideal gelten ihm Genauigkeit und Eindeutigkeit der Bezeichnung. In Abweichung von vielen anderen Sprachtheoretikern favorisiert er die willkürlichen Zeichensysteme gegenüber den »natürlichen«, da sie besser an vernunftgemässte Zwecke zu assimilieren und zu beeinflussen seien. Genetisch leitet er die Wortsprache aus einem Verständigungssystem der artikulierten Laute und natürlichen Gebärden ab; jede Fortentwicklung der Sprache erscheint als Entfernung von diesem Ursprung. Originell und innovatorisch ist Condillacs Theorie der Sprachentstehung, insofern er eine Verbindung zwischen sprachlichen Strukturen und wahrnehmungspsychologischen Gegebenheiten bei den sprechenden Subjekten statuiert; auch und gerade grammatikalische Gesetzmässigkeiten sind demnach nicht allein logisch zu erklären (während die Schule von PortRoyal doch Logik und Grammatik identifiziert hatte), sondern aus den Modalitäten der Erfahrung. An Condillacs Überzeugung, es gebe ›bessere‹ und ›schlechtere‹ sprachliche Ordnungen, ändert diese Einsicht in die Interdependenz von Sprache und historisch-psychologischen Bedingtheiten des Denkens nichts. Mit der Frage der frühen Stufen der Artikulation befasste sich auch Pierre-Louis Moreau de Maupertuis (1698–1759), der wie Rousseau die Wurzeln der Wortsprache in Gesten und Geschrei, also in ›natürlichen‹ Ausdrucksformen, lokalisierte. Rationalistisch geprägt sind seine Überlegungen zur Vielheit der Einzelsprachen, welche ihm nicht als Reichtum, sondern als unnötige und störende Komplikation erschien; eine artifizielle Universalsprache erschien Maupertuis erstrebenswert.8 Charles de Brosses (1709– 1777) publizierte 1765 eine Abhandlung über die mechanische Bildung der Sprachen und die physischen Grundlagen der Etymologie, in der er unter anderem die physiologisch-organischen
8. Vgl. dazu Arens, Hans, Sprachwissenschaft, op. cit., S. 93; Gipper, Helmut / Schmitter, Peter, Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik, op. cit., S. 66.
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Bedingungen sprachlicher Artikulation und die lautliche Dimension von Sprache erörtert. Von de Brosses’ sprachphysiologischen und etymologischen Studien sollten später wichtige Anregungen auf die empirische Linguistik ausstrahlen. Sprache leitet sich für ihn aus der Imitation akustischer Phänomene ab; in diesem Punkt rekapitulierte er eine schon in Platons Kratylos formulierte These zur Sprachentstehung, auch wenn er diese insofern ›modernisierte‹, als er die Imitationstheorie nur für die sogenannten Wurzelwörter aufstellte. Die These von der ›natürlichen‹ Korrespondenz zwischen Signifikaten und sprachlichen Lauten diente letztlich dem Versuch, Sprache erschöpfend zu begründen. Deren Entwicklung war für de Brosses ein ›mechanischer‹ Vorgang; seine etymologischen Thesen und Konstruktionen dienten dem Nachweis einer kausalen Systematik innerhalb der Sprachgeschichte. Ein von de Brosses gefordertes etymologisches Universalwörterbuch sollte diese Systematik zur Darstellung bringen. Irrationales, Übernatürliches, Systemwidriges und Individuell-Unableitbares — Phänomene also, welche für andere Sprachtheoretiker dieser und der folgenden Zeit massgebliche Rollen spielten — wurden aus Sprache und Sprachgeschichte verbannt. Der Enzyklopädist Nicolas Beauzée (1717–1789) beschäftigte sich mit dem Projekt einer Allgemeinen Grammatik und suchte nach den ›notwendigen‹ Elementen der Sprache als dem gemeinsamen Grund. Mit dem Versuch einer generellen rationalen Herleitung von Sprache, gerade auch im Hinblick auf die Vielheit der Einzelsprachen, setzt Beauzée die Bemühungen von Port-Royal um eine Erfassung allgemeiner logischer Strukturen in der Sprache fort. Durch logische Mittel waren diesem Ansatz zufolge jede Dimension (die lautliche, syntaktische und semantische) sowie jede Erscheinungsform von Sprache zu begründen. Im übrigen wandte sich Beauzée diversen sprachwissenschaftlichen Einzelfragen zu.9 So problematisch es sein mag, das Werk ganzer Gruppen von Sprachtheoretikern auf einen gemeinsamen Nenner bringen zu wollen: Während man in England dem Besonderen individueller Sprachgestaltung den sachlichen Vorrang vor dem Allgemeinen eines Systems zubilligte, dominierte in Frankreich das Interesse am Allgemeinen und Universalen, als dessen derivative Manifestationsformen die historischen Einzelsprachen sowie die einzelnen sprachlichen Artikulationen begriffen wurden. Dieses Allgemeine wurd mit dem Logischen gleichgesetzt; daraus resultierte erstens die qualitative Bewertung sprachlicher Phänomene nach rationalen Massstäben, zweitens eine Inklination zur strukturalen Analyse. Die Leitidee einer Allgemeinen Grammatik beeinflusste aber auch das Werk nichtfranzösischer Theoretiker, so etwa den Engländer James Harris (1709–1780) und, Jahrzehnte später, den Deutschen August Ferdinand Bernhardi (1796–1820). Harris’ Hauptwerk Hermes, or: a Philosophical Inquiry Concerning Language and Universal Grammar (1751) wurde allein bis 1825 achtmal aufgelegt und in andere Sprachen übersetzt (1788 ins Deutsche, 1796 ins Französische). Harris ging zwar von einer ›Einheit‹ der Sprache, einer allen Idiomen gemeinsamen Grundstruktur, aus, aber er charakterisierte auch den je besonderen Geist verschiedener konkreter Sprachen. Damit wurde er zum Anreger Herders und Hamanns. Unter dem vorwiegenden Einfluss von de Brosses und im Zeichen des Themas Allgemeine Grammatik stand ferner die Sprachphilosophie Joseph Priestleys (1733–1804) in A Course of Lectures on the Theory of Language and Universal Grammar (1762). Bernhardis Sprachlehre (1801–1803) wurde von Jacob Grimm heftig kritisiert,
9. Vgl. dazu Arens, Hans, Sprachwissenschaft, op. cit., S. 97.
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weil sie »ohne Rücksicht auf die Wurzeln der Wörter« — also ahistorisch — »die bloss allgemein gedachten Formen und Formeln einer Sprache logisch erörtert«.10 Solche ahistorischrationalistische Ausrichtung überrascht bei einem Weggefährten der deutschen Romantiker besonders. Allerdings konnte sich Bernhardi auf eine ganze Ahnenreihe ›vernünftiger‹ Sprachverbesserer auch in Deutschland stützen. Hier hatte vor allem Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) das Sprachdenken geprägt, der im Spannungsfeld zwischen Empiristen und Rationalisten stand. Seine Reflexionen über die sprachlichen Zeichen hatten sich zwar eng an Locke angelehnt; anders als dieser glaubte er jedoch an die Existenz allgemeiner Strukturen und Gesetze des Denkens. Dem Projekt einer Universalcharakteristik widmete er eingehende Vorüberlegungen, allerdings ohne gezielte sprachtheoretische Akzentuierung; Orientierungsmassstab ist eher die Formel-›Sprache‹ der Mathematik. Die Wortsprache folgt laut Leibniz den Vorgaben des ›Verstandes‹, ist massgebliches Medium des Erkennens wie der Mitteilung von Erkanntem. Allerdings verhält sich für Leibniz trotz seiner Forderung nach rationalem Sprachgebrauch das Besondere und Individuelle nicht prinzipiell antagonistisch zum Allgemeinen, sondern es bildet dessen jeweils legitime Erscheinungsform. Dies bedeutet konkret, dass auch die einzelnen historischen Erscheinungen der Sprache ihr Recht haben. Wiewohl von unzulänglichen Prämissen und methodischen Fundamenten ausgehend, leistete Leibniz als Sprachhistoriker und Etymologe Beträchtliches und wurde zum Vorläufer für die spätere empirisch-geschichtliche Beschäftigung mit Sprache ebenso wie für die eher theoretisch-abstrakt konzipierte philosophische Semiotik.11 Der Aufklärer Christian Wolff (1679–1754) handelt in seinen Vernünfftigen Gedanken von den Kräfften des menschlichen Verstandes (1712) »Von dem Gebrauche der Wörter«. Eine rationalistisch grundierte Sprachphilosophie entwickelte Johann Heinrich Lambert (1728–1777) in seiner vierteiligen Erkenntnistheorie Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein (1764). Im Hauptwerk des Rationalisten Johann Werner Meiner (1723–1789), dem Versuch einer an der menschlichen Sprache abgebildeten Vernunftslehre oder Philosophische Sprachlehre (1781) geht es vor allem um das Projekt einer Allgemeinen Grammatik. Zu diesen philosophisch-systematischen Ansätzen kam eine Fülle von Projekten zur Sprach-›Reinigung‹, in denen der Geist des Rationalismus ebenfalls dominierte. Obwohl die Sprachreflexion in Frankreich weitgehend nach allgemeinen sprachlichen Strukturen fragte, gewannen Darstellungen zu konkreten Einzelsprachen hier zunehmend an Gewicht, zumal bei Denis Diderot (1713–1784), der sich mit der Frage der Wortfolge im Sprachgebrauch befasste. Das Französische erschient ihm auf der Basis syntaktischer Kriterien als die wissenschaftlichste Sprache, deren Strukturen den sachlichen Gegebenheiten am besten entsprechen. Erst Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) wandte sich im Discours sur l’inégalité parmi les
10. Grimm, Jacob, Vorrede zur Deutschen Grammatik, Erster Theil, Göttingen 1819. Zitiert nach Gipper, Helmut / Schmitter, Peter, Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik, op. cit., S. 56. 11. Zu Leibniz vgl. Arens, Hans, Sprachwissenschaft, op. cit., S. 77 ff. Vgl. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstande, Leipzig ³1915, Drittes Buch: Von den Worten. — Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Cassirer, Ernst (ed.), Hamburg ³1966, Bd. II, S. 519 ff.: Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der teutschen Sprache.
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hommes (1755) dezidiert gegen die Prämissen rationalistischer Sprachphilosophie. Seine Überlegungen galten dem Zusammenhang zwischen Sprachentstehung und Entstehung menschlicher Gesellschaft, und statt einen einseitigen Kausalzusammenhang zu konstruieren, betonte er deren wechselseitige Abhängigkeit. Kausal (also rational) nicht auflösbar erschien Rousseau auch der Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen: Denken ohne Sprache ist unmöglich, doch setzt eine »Erfindung« der Sprache umgekehrt auch Denken voraus. Hier bewegte sich Rousseau auf die moderne These von der ›Unhintergehbarkeit‹ der Sprache zu. In seiner Betrachtung gewann die Ausdrucks- und Kommunikationsfunktion von Sprache gegenüber der ›instrumentellen‹ Bezeichnungsfunktion an Gewicht. Als ursprüngliche Formen des Ausdrucks und der Verständigung betrachtete er Schreie und nachahmende Gebärden, und deren Ersetzung durch die willkürlich artikulierten Wörter erschien ihm als das eigentlich unauflösliche Problem, dem auch und gerade durch die Ratio nicht beizukommen ist. Diese versagt also bei der ›Begründung‹ von Sprache. Rousseau war nun keineswegs der erste, der bei der Frage nach der ›ursprünglichen‹ Sprache an die Ausdruckssprachen der Mienen, Gebärden und Schreie dachte. Allerdings geriet diese expressive Sprache durch seine vielbeachtete Arbeit wieder verstärkt in den Blick — schon wegen der Aufwertung des Expressiven als ›authentisch‹. In der Auseinandersetzung mit der alten Alternative zwischen ›physei‹- und ›thesei‹-Theorien wies Rousseau die Unzulänglichkeit der letzteren nach. Er sah sich gezwungen, bei der Entstehung von Sprache ›causes naturelles‹ anzunehmen. Wegweisend wurde sein Discours in erster Linie durch die hier vollzogene Rückbindung der Sprache an nicht-verstandesmässige Instanzen: an Gefühl, an Leidenschaft, an ›Natur‹. Als ursprüngliche Sprache begriff er zumal den Gesang; die Wurzeln der Sprache wären demnach nicht zuletzt musikalisch. Die Dichotomie von Natur und Kultur sollte ab jetzt eine massgebliche Rolle in der Sprachreflexion spielen. Hatten Rationalisten und Empiristen nach der ›Wahrheit‹ von Wörtern im Hinblick auf deren Bezug zur gegenständlichen Aussenwelt gefragt, so ging es nunmehr vorrangig um die Beziehung zwischen Wort und Innenwelt. Das ›natürliche‹ Zeichen erhielt vor allem hier den Vorzug vor dem konventionellen, und betont wurde die expressiv-gestische Dimension sprachlicher Äusserungen auch in der Neuzeit.
Die Frage nach dem Ursprung von Sprache und die Entwicklung der empirisch-vergleichenden Sprachwissenschaft Gegenstand intensiver und kontroverser Diskussionen war im ganzen 18. Jahrhundert die Frage nach dem Sprachursprung: Wurde Sprache den Menschen von Gott gegeben oder ist sie Produkt menschlichen Erfindungsgeistes? Es ging um die Begründbarkeit von Sprache, wobei die Erörterung des historischen Ursprungs und der Bedingungen, unter denen Sprache entstand, nicht zu trennen war von der Frage nach dem ›Wesen‹ der Sprache, nach der Beziehung ihrer Zeichen und Strukturen zum Subjekt des Ausdrucks sowie zu den Dingen selbst. Seit der Antike war kritisch gegen die Wörter eingewandt worden, sie stünden zum jeweils Benannten in keinem inneren Bezug. Eine ursprünglich ›gottgegebene‹ Sprache kann nun grösseren Anspruch auf ›Wahrheit‹ erheben als eine letztlich beliebige Erfindung; ein ›natürlich‹ motivierter Ausdruck erscheint authentischer als ein konventionelles Zeichen. Die Differenz zwischen natürlichen und willkürlichen Zeichen stand im Mittelpunkt aufklärerischer Semiotik und zeigte ihre Aus-
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wirkungen vor allem in der medien- und rezeptionszentrierten Ästhetik Mendelssohns und Lessings. Je ›natürlicher‹ das Ausdruckszeichen, desto überzeugender und ›wahrer‹, so der weitgehende Konsens, wobei Lessing immerhin die Besonderheiten der einzelnen künstlerischen Darstellungsmedien würdigte. Als Vergleichsgrössen für das Wort wurden im 18. Jahrhundert immer wieder nonverbale und (angeblich) ursprungsnähere ›Sprachen‹ herangezogen: die der Gestik und Mimik, der Töne und Bilder, ja das Geschrei und die unreflektierte Interjektion. Im übrigen gewann die Ursprungsfrage schon darum zentrale Bedeutung, weil sie sich aufs engste mit der Erörterung der Grundlagen menschlichen Vernunftgebrauchs berührte. Die — einmal unterstellte — Entwicklung der Sprache durch verschiedene Stadien würde, so versprach man sich entscheidende Aufschlüsse über die Entwicklung der Menschheit und der einzelnen Völker und Kulturen geben, für deren Besonderheit man sich gleichfalls verstärkt interessierte. Aber die Faszination durch das Thema Sprachursprung blieb nicht auf die Welt des Verstandes und der Kultur beschränkt. In dem Masse, als die ›natürlichen‹ Bedingungen des Sprachgebrauchs, die ›natürliche‹ Sprache der Empfindungen und die ›natürlichen Zeichen‹ als die eigentlich authentischen an Gewicht gewannen, verknüpfte sich das Thema Sprachursprung mit der anthropologischen und theologischen Reflexion über die ›Natur‹ des Menschen und seine Entwicklung als Gattung und als Individuum. Weitreichende Spekulationen galten immer wieder der Rekonstruktion oder doch wenigstens der Charakterisierung einer ›Ursprache‹, wobei auch diese oftmals den neueren Sprachen als authentischer und ausdrucksvoller gegenübergestellt wurde. Die weniger ›sinnlichen‹ und ›natürlichen‹ Ausdrucksmittel der Gegenwart sollten sich an diesem Vorbild orientieren. Jene Frage nach dem Ursprung der Sprache stellte gleichsam das Scharnier zwischen philosophischer und theologischer Spekulation über Sprache einerseits, sprachwissenschaftlicher und -historischer Einzelforschung andererseits dar, ganz abgesehen von dem Interesse der Anthropologen und Semiologen an diesem Thema. Mit ihm verknüpft war ferner die wichtige und alte Frage nach den Ursachen für die grosse Verschiedenheit der Sprachen und Sprachfamilien; dieses ›babylonische‹ Problem wurde spekulativ auf verschiedenste Weise angegangen. Im Artikel Langue der französischen Encyclopédie (1751–1780) formuliert Beauzée die folgenden drei Hauptprobleme der philosophischen Sprachreflexion des 18. Jahrhunderts: »1. l’origine de la langue primitive. 2. la multiplication miraculeuse des langues, 3. L’analyse et la comparaison des langues envisagées sous les aspects les plus généraux.«12 Die Vorstellungen, die man sich bis weit ins 18. Jahrhundert hinein, oft unter Orientierung am biblischen Mythos von der Adamitischen Ursprache und an der Leitidee vom Hebräischen als dem ›ursprünglichsten‹ Idiom, von sprachhistorischen Zusammenhängen machte, waren oft verblüffend naiv und aus späterer wissenschaftlicher Sicht völlig unhaltbar. Nur langsam distanzierte man sich etwa von der barocken Natursprachen-Idee, wie sie noch für die Leibnizianer glaubwürdig gewesen war. Eine einschneidende Wende ergab sich hier aus der Erforschung des Sanskrit, dessen Verwandtschaft mit den europäischen Sprachen man erkannte. Vereinzelte frühere Hinweise auf diese Sprachverwandtschaft waren unbeachtet geblieben; erst die nicht zu ignorierenden Forschungen von William Jones (1746–1784) erzwangen hier ein
12. Zitiert nach Friedrich, Hugo, »Die Sprachtheorie der französischen Illuminaten des 18. Jahrhunderts«, in: Deutsche Vierteljahresschrift 13, 1935, S. 299.
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Umdenken. Zunächst machte Charles Wilkins (1750–1833) die europäische Welt durch Übersetzungen mit der Sanskritliteratur vertraut (Bhagavadgita, engl. und russ. 1785, 1787 französ., 1801 deutsch). Als einer der ersten Europäer, welche überhaupt die altindische Gelehrtensprache beherrschten, beschrieb Jones ferner Analogien zwischen dem Sanskrit und einzelnen europäischen Idiomen, formulierte insbesondere schon Kriterien zur Feststellung von Sprachverwandtschaften. Mit diesen indogermanischen Sprachstudien erledigte sich schrittweise, aber definitiv die spekulative Bemühung um eine Ableitung der bekannten europäischen Sprachen aus dem Hebräischen. Zweitens zwang die Einsicht in den hohen Entwicklungsstand des Sanskrit, in seine komplexen und zugleich hochintelligenten Strukturen und das Abstraktionsniveau seines Vokabulariums, zur radikalen Revision spekulativer sprachhistorischer Modelle: Die bekannten Sprachen hatten sich offenbar nicht ›höher‹ entwickelt, da die ältere Sprachstufe nunmehr als den neueren überlegen erschien — eine ebenso einseitige Sichtweise, wie die, derzufolge die ursprungsnäheren Sprachstufen als primitiver galten. Aber die Idee einer Sprachgeschichte als Degenerationsprozess fiel auf fruchtbaren Boden in eben dem Masse, als Geschichte schlechthin zunehmend als bedauernswerte Entfernung von den ›Ursprüngen‹ begriffen wurde. Eine dritte, besonders wichtige Folge der intensivierten Sanskritstudien war die Entstehung der Vergleichenden Sprachwissenschaft als eigenständige, historisch-empirisch arbeitende Disziplin. Friedrich Schlegel (1172–1829) entwirft in seiner Abhandlung Über die Sprache und Weisheit der Indier (1808) die Grundlagen, Methoden und Ziele einer vergleichenden Wissenschaft von der Sprache sowie die Bedeutung für das Selbstverständnis der Sprachgemeinschaften und das Verständnis fremder Kulturen auf epochemachende Weise.13 Ab jetzt konnte Sprache als Ausdruck des historischen Volksgeistes genauer ausgelegt werden, und Sprachphilosophie verband sich dezidiert mit einer Philosophie der Mythologie. Im 19. Jahrhundert sollte es dann zu einer Aufspaltung in eine eher theologisch-mystizistische Sprachphilosophie einerseits, empirisch-materialbezogene Sprachforschung andererseits kommen. Die Bemühungen um eine möglichst gründliche und belegbare Erfassung der Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der indogermanischen Sprachfamilie führten insgesamt sowohl zu einer Herausbildung neuer wissenschaftlicher Methoden der Erforschung von Sprache und neuer Beschreibungkategorien für die untersuchten Gegenstände als auch — erstmals — zur Einsicht in sprachhistorische Zusammenhänge jenseits aller vagen Spekulationen. Damit war die Voraussetzung geschaffen, nach Gesetzlichkeiten innerhalb der Sprachgeschichte zu suchen und Sprachwissenschaft am Paradigma der Naturwissenschaften zu orientieren (wie man es im 19. Jahrhundert versuchen sollte). Mit der Etablierung der Indogermanistik als wissenschaftliche Disziplin (August Wilhelm Schlegel, 1767–1845, bezog 1818 einen neueingerichteten Lehrstuhl an der Universität Bonn) vollzog sich eine markante Wende in der Geschichte der Linguistik — wobei ›Linguistik‹, als empirisch-historische Disziplin verstanden, in Grunde überhaupt erst mit den vergleichenden Untersuchungen der Sanskritisten ihren Anfang nahm. Zugleich wurde das Fundament zur Erforschung der Beziehungen zwischen geschichtlichen und sprachgeschichtlichen Zusammenhängen gelegt, was dann seinerseits eine Bedingung dafür darstellte, dass
13. Vgl. dazu Gipper, Helmut / Schmitter, Peter, Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik, op. cit., S. 43 ff.
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Nationalbewusstsein sich im frühen 19. Jahrhundert unter anderem als Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft artikulieren sollte. Letztlich wurde die alte Frage nach einer bestimmten einheitlichen ›Ursprache‹ durch die historischen Forschungen der Sanskritistik und der aus ihr hervorgehenden indogermanischen Linguistik schrittweise als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung obsolet. Versuche, das Sanskrit selbst als Ursprache zu interpretieren, blieben singulär und setzten sich aus gutem Grund nicht durch. Denn erstens ahnten die Sanskritisten schon früh, dass sie hier wiederum eine spätere Entwicklungsstufe von Sprache vor sich hatten (erschien doch das Sanskrit in seiner hohen Komplexität und Abstraktheit alles andere als ›ursprünglich‹), und sie waren nicht einmal sicher, die bekannten indogermanischen Sprachen direkt aus dem Sanskrit ableiten zu dürfen. Zweitens verschärfte sich mit der Einsicht in die Verwandtschaft der indogermanischen Sprachen das Sensorium für die fehlende Verwandtschaft mit anderen Sprachfamilien, etwa mit den hinreichend bekannten semitischen oder mit den von einzelnen Forschern erkundeten Indianersprachen Amerikas. Für die sich etablierende linguistische Wissenschaft also bildete die hypothetisch-imaginäre Ur- und Natursprache keinen Baustein im Theoriegebäude mehr. Dies galt allerdings nicht für andere spekulative Disziplinen, welche — im Zuge fortschreitender Spezialisierung — die sprachhistorischen Entdeckungen entweder ignorierten oder sich von ihnen unbetroffen fühlten. Die Frage nach den Wurzeln von Sprache, nach deren frühen und frühesten Erscheinungs- und Ausdrucksformen, nach den Ursachen für die Vielheit der Einzelsprachen und den Möglichkeiten, sich dem ›Ursprung‹ wieder zuzuwenden, beschäftigte bis weit ins 19. Jahrhundert hinein zahlreiche Sprach-Philosophen, Anthropologen, Theologen und Ästhetiker. Dass die Vielheit der Sprachen ein Skandalon ist und bleibt (aus rationalistisch-instrumentalistischer Sicht ebenso wie angesichts eher irrationaler Utopien unbehinderter Kommunikation), belegt die intensive Auseinandersetzung mit dem Mythos von Babel in ganz Europa.14 In der Dichtungstheorie überlebte das Konzept einer ›ursprünglichen‹ Sprache von magischer Evokationskraft, einer ›wahren‹ Sprache jenseits aller Konventionen, einer Sprache, in der das Wesen der Dinge selbst zum Ausdruck käme, kurz: eines vorbabylonischen Idioms, am längsten. Und die von Rousseau erörterte ›Natursprache‹ als Basis aller späteren sprachlichen Artikulationsformen ist aus der Poetik der Romantiker nicht wegzudenken. Die historisch orientierte Sprachforschung erhielt vor allem aus England wegweisende Anregungen.15 In einem sechsbändigen Werk über die Sprache (Of the Origin and Progress of Languages, 1773–1792) von James Burnet, Lord Monboddo (1714–1799), werden die Sprachursprungsfrage, aber auch das Projekt einer Allgemeinen Grammatik sowie Themen aus dem Bereich der Stilistik, der Rhetorik und der Sprachgeschichte abgehandelt. Monboddo leitet in seinem auf Herders Betreiben ins Deutsche übersetzten Werk die menschliche Rede aus ursprünglich-unartikulierten Naturlauten ab. Gegenüber den urtümlichen Sprachstufen seien die späteren durch ihren höheren Abstraktionsgrad charakterisiert. Als Illustration seines Konzepts ursprungsnäherer Sprache galten Monboddo die Idiome der Naturvölker. Vor allem akzentuierte er die Besonderheiten der Einzelidiome, deren unsystematische Vielfalt: Es gab für ihn keine
14. Vgl. Borst, Arno, Turmbau, op. cit., Bd. IV (1963). 15. Vgl. Arens, Hans, Sprachwissenschaft, op. cit., S. 111.
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allgemeine Grammatik, keine logische Grundstruktur von Sprache schlechthin. In diesem Punkt stimmte er mit seinem Landsmann John Horne Tooke (1736–1812) überein, der primär etymologische und morphologische Einzeluntersuchungen betrieb und auf die Formulierung einer eigenen geschlossenen Theorie der Sprache verzichtete. Insofern sich Monboddo und Horne Tooke auf der Basis ihrer prinzipiellen Überzeugung von der nicht-systematisierbaren Besonderheit einzelner Sprachen und Sprachphänomene vorrangig für diese Besonderheiten interessierten, begründeten sie die empirische Linguistik mit. Massgeblich für die Geschichte der Linguistik und für ihre spätere Etablierung als wissenschaftliche Disziplin wurde in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts eine Reihe von Einzelforschungen: die Sanskritstudien verschiedener Gelehrter wie Charles Wilkins, William Jones und Henry Thomas Colebrooke als auch die Ideen Wolfgang von Kempelens (1734–1804), der mit seiner Abhandlung über den Mechanismus der menschlichen Sprache nebst der Beschreibung seiner sprechenden Maschine (1791) einen wichtigen Grundstein für die phonetische Forschung legte.16 Sein Ziel war die künstliche Erzeugung menschlicher Sprachlaute, die zu diesem Zweck einigermassen systematisch gegeneinander ausdifferenziert und unabhängig von semantischen Aspekten betrachtet werden mussten. Für die Vergleichende Sprachforschung grundlegende methodologische Konzeptionen und verblüffend tragfähige Einsichten über Voraussetzungen und Erkenntnisziele dieser Wissenschaft formulierte der zu seiner Zeit weitgehend unbeachtete Nationalökonom und Historiker Christian Jakob Kraus (1753–1807) in seiner Rezension eines grossangelegten Etymologischen Werkes, das eben jenen methodischen Ansprüchen nicht genügt: Das Allgemeine Vergleichende Wörterbuch (1786–1789) von Simon Pallas (1741–1811), angeregt und unterstützt von der russischen Zarin Katharina II., bleibt wegen seiner Fixierung auf Einzelwörter wissenschaftlich unzulänglich.17 Es vermittelt weder einen angemessenen Begriff von Sprachverwandtschaften, noch von historischen Entwicklungen. Wie Kraus erkannte, muss etymologische Forschung sich primär mit Sprachstrukturen befassen und nicht mit Klangähnlichkeiten oder Vokabularien. Nur strukturale Analogien sind Kriterien für Verwandtschaftsbeziehungen unter den Sprachen, wie sie durch noch so aufwendige Vokabularien nie zu belegen sind. Immerhin hatte das zunächst lateinisch publizierte Pallassche Vokabularium Wörter aus 149 asiatischen und 51 europäischen Sprachen und Dialekten berücksichtigt; es entstanden gigantische, aber gänzlich ahistorisch konzipierte Wörterlisten. Etymologie wurde schon hier als internationales Projekt aufgefasst. Mit der Beförderung des ›Sprachbaus‹ zum massgeblichen Kriterium beim Vergleich der Einzelsprachen und ihrer historischen Beschreibung antizipierte der Aussenseiter Kraus die leitende Idee der späteren Linguisten Rasmus Christian Rask (1787–1832) und Franz Bopp (1791–1867).18 Insgesamt
16. Vgl. dazu das Kapitel über Kempelen in: Brekle, Herbert E., Einführung in die Geschichte der Sprachwissenschaft, Darmstadt 1985, S. 131 ff. 17. Pallas, Peter Simon, Linguarium totius orbis vocabularia comparativa; Augustissmae cura collecta. Sevtionis primae, Linguas Europae et Asiae complexae, 2 Teile, Petropoli 1786 / 1789. Zu den verschiedenen Fassungen und Teilen vgl. Gipper, Helmut / Schmitter, Peter, Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik, op. cit., S. 20 ff. 18. Zur Entstehung der Vergleichenden indoeuropäischen Sprachwissenschaft bei Bopp vgl. Gipper, Helmut /Schmitter, Peter, Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik, op. cit., S. 49 ff. — Antinucci, Francesco, »I presupposti teoretici della linguistica di Franz Bopp«, in: Teoria e storia degli studi linguistici, Roma 1975. — Zu Rask:
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nahm das Interesse an sprachhistorischen und etymologischen Forschungen im späten 18. Jahrhundert eklatant zu. Der methodisch überholten Einzelwortforschung verpflichtet blieb das zu seiner Zeit geschätzte und vielkonsultierte Grammatisch-kritische Wörterbuch der hochdeutschen Mundart von Johann Christoph Adelung (1732–1806).19 Eine grosse Polyglottensammlung veröffentlichte Adelung unter dem Titel Mithridates oder allgemeine Sprachenkunde mit dem Vater Unser als Sprachprobe in bey nahe fünfhundert Sprachen und Mundarten (1806–1817); das Projekt wurde nach seinem Tod von Johann Severin Vater (1771–1826) fortgesetzt, ohne je ganz dem Stand zeitgenössischer linguistischer Erkenntnis zu genügen: Es bleibt aus methodischen Gründen ein monumentaler Anachronismus. Aus moderner Sicht formulierte Adelung teilweise richtige Ansichten über die Grundlagen der Etymologie, teilweise sind seine Hypothesen über Sprachverwandtschaften aber auch höchst spekulativ. Er würdigte zwar ebenfalls die Bedeutung des Sanskrits für die Indogermanistik, ohne aber davon fundierte Kenntnisse zu besitzen und einsetzen zu können. Erst Friedrich Schlegel konnte die Einsichten der britischen Sanskritisten für die Vergleichende Grammatik fruchtbar machen.
Sprachphilosophie als transzendentale Reflexion Ausgehend von der Frage nach dem Sprachursprung und von einer mit dem Rousseauschen Sprachdenken zumindest kompatiblen Vorstellung ›ursprünglicher‹ Ausdruckssprachen, erschloss Johann Gottfried Herder (1744–1803) der Sprachreflexion völlig neue Perspektiven.20 Indem Maupertuis, der Präsident der Berliner Akademie der Wissenschaften, 1756 die Sprache aus Schreien und anderen spontanen Bekundungsformen abgeleitet hatte, provozierte er den Widerspruch des Theologen Johann Peter Süssmilch (1708–1767), der (in Übereinstimmung mit vielen, zumal theologischen Zeitgenossen) an der These vom göttlichen Sprachursprung, von göttlicher ›Belehrung‹ des Menschen also, festhielt. Immerhin hing von der Entscheidung über die göttliche Institution des Namensgebers Adam die Frage ab, ob der Genesisbericht noch wörtlich genommen werden durfte. Diesem theologisch-dogmatischen Anliegen machten nur langsam sachliche Interessen Platz. 1769 stellte die Berliner Akademie die suggestiv formulierte Preisfrage, ob der Mensch, allein seinen natürlichen Fähigkeiten überlassen, Sprache habe erfinden können und welcher Mittel er sich dabei wohl bedient habe. Den Preis trug Herders 1772 publizierte Ursprungsschrift davon, die mit dem provozierenden Satz begann: »Schon als Tier hat der Mensch Sprache.« Im Protest gegen Condillacs Betonung des konventionellen Moments von Sprache wurden deren Wurzeln in »natürliche(n) Zeichen der Empfindung«
Gipper, Helmut / Schmitter, Peter, Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik, op. cit., S. 28 ff. 19. Vgl. dazu Arens, Hans, Sprachwissenschaft, op. cit., S. 130 ff. 20. Zu Herders Sprachphilosophie vgl.: ders., Sprachphilosophische Schriften, ausgew., eingel. u. kommentiert von Erich Heintel, Hamburg 1960. — Gipper, Helmut /Schmitter, Peter, Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik, op. cit., S. 60 ff. — Arens, Hans, Sprachwissenschaft, op. cit., S. 103 ff. — Weber, Hanna, Herders Sprachphilosophie: Eine Interpretation im Hinblick auf die moderne Sprachphilosophie, Berlin 1939. — Krüger, Manfred, »Der menschlich-göttliche Ursprung der Sprache. Bemerkungen zu Herders Sprachtheorie«, Wirkendes Wort 17, 1967. — Heintel, Erich, »Herders Sprachphilosophie«, in: Revue Internationale de Philosophie 79 / 80, 1967.
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lokalisiert.21 Herder begriff den Menschen, schon in seiner Eigenschaft als Lebewesen, als Sprachwesen; aufs engste verknüpft sind also Sprachphilosophie und Anthropologie. Die Hypothese vom göttlichen Sprachunterricht wies Herder zurück, da sie sowohl den Menschen als auch Gott ›verkleinere‹: Letzterer habe den Menschen vielmehr dazu befähigt, sich selbst seine Sprache zu schaffen. Sprache sei Ausdruck der konstitutiven geistigen Vermögen des Menschen. Sie sei ihm so »natürlich«, dass er auf jegliche Affektion durch sinnliche Reize mit der Bildung von »Merkworten« reagiere: Durch ein solches Merkwort bezeichnet, werde das Wahrgenommene überhaupt erst fest-gestellt, so dass Benennung keinen zweiten, auf die eigentliche Erfahrung folgenden Schritt darstelle, sondern mit Erfahrung unauflöslich verbunden sei. Mit der Prägung von Merkworten identifiziere der Mensch seine Objekte, distanziere sich (als Subjekt) von ihnen und präge sie zugleich seinem Gedächtnis ein. Demnach besitzt Sprache fundamentale Bedeutung für den Erfahrungsprozess. Herder liess erstens die alte ›physei-thesei‹-Alternative hinter sich; zweitens verzichtete er auf eine Ableitung der Sprache aus natürlichen Formen des Empfindungsausdrucks, aus Gesten und Geschrei. In Sprachfähigkeit drückt sich ja ›Besonnenheit‹ aus und keinesfalls bloss die tierisch-sinnliche ›Natur‹. Herders spätere Schriften zur Sprache, insbesondere seine Metakritik (1799) zur Kantischen Kritik der reinen Vernunft (1781), in welcher er Kant vorwirft, die Sprachgebundenheit des Denkens ausser Betracht zu lassen, setzten die Grundgedanken der Ursprungsschrift fort. Wegweisend für die spätere Sprachreflexion wie für Anthropologie, Erkenntnistheorie und Ästhetik waren Herders Thesen in mehrerlei Hinsicht. Erstens schuf er die Basis dafür (und antizipiert diesen Gedanken vereinzelt selbst), dass Sprache als Erkenntnisapriori begriffen wurde. Sprache bezeichnet eben nicht ›nachträglich‹; sie konstituiert die Wirklichkeit, auf welche sich der Mensch als Subjekt der Erfahrung bezieht, massgeblich mit und hat insofern den Status einer transzendentalen Instanz im Sinne Kants. Denken und Sprechen sind letztlich identisch; es gibt keine vor- und aussersprachlichen Denkstrukturen. Zweitens statuierte Herder eine so enge Beziehung zwischen Sprachlichkeit und der sinnlich-geistigen Doppel-›Natur‹ des Menschen, dass erstere als authentischer und notwendiger Ausdruck von dessen Wesen erscheint. Damit ist Sprachfähigkeit nicht nur weit mehr als ein praktisch-nützliches Vermögen unter anderen; das sprachlich Artikulierte kann auch Anspruch darauf erheben, das ›Wesen‹ des Menschen prägnant auszudrücken — und hierin besteht seine tiefste ›Wahrheit‹. Insofern gerade Dichtung Sprach-Kunst ist und sich zuvor mit dem Problem der zweifelhaften Wahrheit und fehlenden Natürlichkeit ihrer Zeichen auseinandersetzen musste, überrascht es nicht, wenn Herders Hochschätzung des Ausdrucksmittels Sprache vor allem für die Poetik der Vorromantik und Romantik folgenreich werden sollte. Einen dritten wichtigen Anstoss gab Herder durch die Kopplung der Themen Sprache und Geschichte. Wie Vico war er an einer Ideal- oder Universalsprache nicht interessiert. Als Artikulationsmedien historischer Subjekte und Gemeinschaften sind die Sprachen selbst historisch, wandelbar und in ihren jeweiligen Erscheinungsformen bedingt. Sie entwickeln sich, sie wachsen, sie vergehen. Die später im 19. Jahrhundert so selbstverständlich erscheinende Beschreibung sprachlicher Phänomene durch organologische Metaphern nahm hier ihren Ausgang. Viertens, und dies ist wiederum auch für die Geschichte der Ästhetik bedeutsam,
21. Johann Gottfried Herder’s Sämmtliche Werke, Suphan, Bernhard (ed.), Berlin 1877ff, Bd. 5, S. 19.
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trugen Herder wie Rousseau dazu bei, dass bei der Bewertung sprachlicher Erscheinungen nicht bloss und nicht primär deren instrumentale Funktion in den Vordergrund trat, sondern deren Besonderheit, deren ›Individualität‹, deren sinnliche — also lautliche und bildhafte — Qualitäten. Eine ›lebendige‹ Sprache ist charakterisiert durch die Vielfalt ihrer Erscheinungen, durch ihre ›Sinnlichkeit‹ und Fülle. Wie Vico unterstellte Herder einen höheren Grad an Bildhaftigkeit bei den ursprünglichen Sprachen; je älter eine Sprache, desto reicher an Metaphern und konkretsinnlichen Ausdrücken. Damit gab er fünftens wichtige Anstösse für die romantische Theorie von der sprachlichen, insbesondere der poetischen Metapher. Mindestens ebenso wichtig wurde Johann Georg Hamann (1730–1788), dessen Sprachreflexion nicht zuletzt im Kontext sprachmystischer Tradition steht; Hamann steht vermittelnd zwischen Nikolaus von Küs (1401–1464) und Jakob Böhme (1575–1624) einerseits, Wilhelm von Humboldt (1767–1835) andererseits.22 Als Theologe besass er enge Affinitäten zur Logosmystik, deren Grundidee vom weltschöpferischen Wort er modernisierte.23 Hamann kritisierte Herders Ursprungsschrift zwar scharf, da er den blossen Versuch einer Ableitung, also einer ›Begründung‹ der Sprache durch den räsonnierenden Verstand als solchen für verfehlt hielt: Sprache ist durch keine reflektierende Instanz hintergehbar. In wesentlichen Punkten berührt sich sein Sprachverständnis jedoch mit dem Herderschen. Dies betrifft vor allem die transzendentale Funktion der Sprache, die in seiner eigenen Metakritik zur Kantschen Philosophie erörtert wird. Hier insistiert Hamann darauf, dass die vom Menschen erfahrene und gedachte Wirklichkeit sprachlich präformiert und strukturiert sei. Statt eines der Sprache tranzendenten universalen Systems von abstrakten Verstandesbegriffen betrachtet Hamann die bildhafte und ›sinnliche‹ Sprache als Fundament allen Denkens und aller Erfahrung. In der sinnlich-geistigen Doppelnatur der Sprache spiegelt und artikuliert sich die analoge Doppelnatur des Menschen. Sprache einseitig den Massstäben des Verstandes unterwerfen und sie nach seinen Vorgaben beurteilen zu wollen, käme einem vernichtenden Angriff auf die Menschennatur selbst gleich. Denken ist sprachgebunden, ist mit dem Sprachprozess letztlich identisch; es gibt keinen Verstandesgebrauch ohne Sprache. Hamanns Lehre vom ursprünglich-bildhaften Wort als der unhintergehbaren Grundlage allen sprachlichen Ausdrucks korrespondiert seiner Überzeugung, alle Erkenntnis wurzele in der sinnlichen Wahrnehmung. Allerdings gilt dem Theologen Hamann die sinnlich-natürliche Welt nicht als nichtssagende Totalität von Fakten, sondern als sinnvolle ›Rede‹ des Schöpfers an seine menschlichen Kreaturen. Den transzendenten Grund des Menschenwortes bildet daher das schöpferische Gotteswort, das am Anfang aller Dinge war. Die Formel vom Wort, das ›am Anfang‹ war, besitzt damit einen mehrfachen Sinn: erstens den alten theologischen, insofern für Hamann die Welt aus dem ›Wort‹ Gottes hervorging — zweitens einen semiologischen, insofern für ihn alle Menschensprache »Übersetzung« göttlicher Sprache ist (und das ist die einzige Auskunft, die er, durch »vernünftige« Begründungsversuche der
22. Zu Hamanns Sprachphilosophie vgl. ders., Schriften zur Sprache, Einleitung und Anmerkungen von Josef Simon, Frankfurt 1967. — Baudler, Georg, Im Worte sehen: Das Sprachdenken Johann Georg Hamanns, Bonn 1970. 23. Wichtige sprachphilosophische Schriften Hamanns: »Rezension der Herderschen Preisschrift über den Ursprung der Sprache« (1772), »Des Ritters vom Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache« (1772), »[Rezension zur Kantischen] Kritik der reinen Vernunft« (1781), »Metakritik über den Purismum der Vernunft« (1784).
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Sprache abgestossen, geben möchte) — drittens einen transzendentalphilosophischen, denn was immer der Mensch zum Gegenstand seiner Erfahrung und seines Denkens macht, ist ihm nur durch Vermittlung der Sprache gegeben. In der Sprache (allerdings nicht in den abstrahierenden, un-sinnlichen Derivatsprachen der zeitgenössischen Philosophen, sondern in den ursprungsnäheren Sprachen der sinnlich-lebendigen Menschen) drückt sich ›Natur‹ aus — und zugleich Geist, denn alles, was ist, hat Bedeutung. Für die Geschichte der Sprachphilosophie und Ästhetik wurde Hamann aus verschiedenen Grunden wegweisend: Wie Herder besass er einen ausgeprägten Sinn für die Geschichtlichkeit der Sprache und gestand ihren historischen Erscheinungen eine von ›Vernunft‹-Massstäben unberührte Existenzberechtigung zu. Die Geschichte des Menschengeistes spiegelte sich in der seiner Sprache. Zweitens vertrat Hamann das Recht des individuellen, und das heisst eben auch: des unkonventionellen, eigen-sinnigen Ausdrucks. Sein eigener Stil führte den Beweis: Sprache spiegelt nicht nur den Menschengeist im allgemeinen, sondern in ihren jeweiligen Aktualisierungen vor allem den individuellen Charakter des Sprechers. Dass er selbst stotterte, interpretierte Hamann als Ausdruck des Aufbegehrens gegen sprachliche Konventionen. Drittens wertete auch er die ›sinnlichen‹ Eigenschaften der Sprache als ›ursprünglich‹ und authentisch auf. Gedacht ist dabei allerdings weniger an die klanglich›musikalische‹ Dimension der Sprache, sondern mehr an deren Metaphorik. Diverse Aussenseiter in der Geschichte der Sprachphilosophie zwischen 1760 und 1820 repräsentieren weitere interessante Aspekte des Themas Wort und Wirklichkeit. Mit den Herderschen Ideen verblüffend kompatibel erscheinen die sprachphilosophischen Konzepte des französischen Illuminaten Claude de Saint-Martin (1743–1803). Auch für diesen sind der Ursprung der Sprache und der des Geistes identisch; die Menschwerdung des Menschen ist an Sprachlichkeit geknüpft. Das Illuminatentum stand in radikalem Widerspruch zum rationalistischen Denken, was im Bereich der Sprachreflexion zur Ablehnung der Grammatik von PortRoyal samt deren Identifikation von logischen und sprachlichen Strukturen führte. Nicht die Ratio führe zu wahren Einsichten, sondern eine ihr völlig inkommensurable innere Erleuchtung. Die Geschichte des Menschen, auch die seiner Sprache, wurde als Geschichte des Abfalls vom göttlichen Ursprung gedeutet. Saint-Martin griff die dem 18. Jahrhundert schon geläufige Differenzierung zwischen ›langue‹ und ›langage‹ auf. Unter »langage« verstand er eine ursprüngliche Form der Bekundung, bei der Wort und Wesen noch nicht miteinander zerfallen waren, eine (nicht nur verbale) »Ursprache«, die den Schlüssel zu den Geheimnissen der Welt enthielt. »Langues« dagegen heissen die ihrem Ursprung entfremdeten Einzelsprachen, die aber noch im Abfall auf ihren Ursprung bezogen sind und die einstige Einheit von Wort und Wesen, von Menschlichem und Göttlichem, zumindest zu symbolisieren vermögen. Als dem Ursprung verbunden begriff auch Saint-Martin vor allem die poetische Sprache. In Zusammenhang damit betonte er die magisch-evokative Kraft des Wortes. Sein besonderes Interesse galt dem Verbum, denn er betrachtete dieses als sprachliches Analogon und Symbol der schöpferischen Kräfte in der Welt, die für ihn deren Grundprinzip ausmachten. Wichtiger als die Erscheinungen war für ihn das diesen zugrundeliegende produktive Prinzip: Dies gilt für die erscheinenden Symbole in der Welt wie auch für die sprachlichen Ausdrücke. In der Sprache kommen die spirituellen Weltprinzipien selbst zum Ausdruck; sie ist Selbstbekundung des Logos. Ausgehend von solcher Akzentuierung des ›energetischen‹ Moments von Sprache entwickelte Saint-Martin, wie Hugo
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Friedrich zeigt,24 die erste idealistische Sprachtheorie in Frankreich neben der Diderots. In der Dichtung werden die dynamischen und kreativen Kräfte der Sprache in besonderem Masse manifest, und zumal die Metapher besitzt synthetisierende Macht, vermittelt zwischen dem Reich der Wörter und dem der Dinge. Irrationalistische Züge besass auch das Denken Antoine Rivarols (1753–1801), der in seinem Discours préliminaire du Nouveau Dictionnaire de l’Académie francaise das geistige Zentrum des Menschen nicht in dessen Verstand, sondern im »sentiment« lokalisiert. Dem Primat des — psychologisch nicht begründbaren — »sentiment« korrespondiert der Primat des Uneigentlichen (auch im zeichenhaften Ausdruck) vor dem Eigentlichen: Alles Sichtbare und Vernehmbare ist Bild und Gleichnis. In der poetischen Sprache erfährt die Anschaulichkeit und Bildhaftigkeit von Sprache schlechthin eine signifikante Steigerung.25 Die Überzeugung von einer ursprünglichen Identität zwischen Wort und dem Wesen der benannten Sache steht ferner im Mittelpunkt der Sprachspekulation Joseph de Maistres (1753–1821). In der einzelnen sprachlichen Erscheinung kommt für ihn die Offenbarung jenes Wesens zum symbolischen Ausdruck. Als Ausdruck spiritueller Wesenheiten wurde die Sprache auch von de Bonald begriffen; dieser betrachtete Geist und Sprache wiederum als gleichursprünglich. Die Sprachideen der genannten französischen Theoretiker konvergieren bei aller Differenz im Detail doch darin, dass sie sich entschieden vom in Frankreich lange dominierenden rationalistischen Sprachkonzept abwenden, demzufolge die Wörter ›Werkzeuge‹ und menschlich-zivilisatorische Artefakte waren, welche nach Massgabe allgemeiner und vernünftiger Prinzipien optimiert werden mochten. Sprache erschien nicht mehr als Umsetzung abstrakt-logischer Strukturen, und der Versuch, sie historisch, anthropologisch oder pragmatisch — in jedem Fall aber mit den Mitteln des Verstandes — zu begründen, erschien als grundsätzlich verfehlt. Ähnlich wie bei Hamann wurde die Selbstoffenbarung eines göttlichen Urprinzips als letzter Grund auch und gerade der Menschensprache angesetzt. Ein Aussenseiter besonderer Art war Georg Christoph Lichtenberg (1746–1799), dessen sprachkritische Aphorismen erst postum in den Sudelbüchern erschienen. Seine oft ironischen Bemerkungen galten der »stille(n) Macht der Wortfügung über die Wahrheit«. In mancher Hinsicht antizipierte er die spätere Sprachkritik Friedrich Nietzsches (1844–1900), vor allem dessen Thesen aus der Schrift Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne: Auch Lichtenberg traute den sprachlichen Darstellungsmitteln einen Eigensinn zu, der die Welt der Dinge radikal beeinflusst. Die Sprachbenutzer biegen sich ihre Wirklichkeit mittels der Sprache zurecht, und man kann ihnen nur raten »immer nur Sachen und keine Wörter« ernstzunehmen. Einerseits stand Lichtenberg also auf dem Boden vernunftorientierter Sprachkritik, wie er denn auch das alte Projekt einer Universalcharakteristik für interessant hielt. Andererseits wusste er um die Notwendigkeit, das zunächst strukturlose Chaos der Erfahrungsdaten im Erfahrungsprozess selbst zu formen; und gerade die Wörter dienen dazu, etwa Dinge interpretierend in Zusammenhang zu bringen, die sonst nur vereinzelt vorgefunden werden. Dies aber bildet die Möglichkeitsbedingung für die Erfassung grösserer Gegenstandsbereiche, auf der es zumal in der Wissenschaft ankommt. Eigentlich gibt es in der Welt nur ›Individuen‹, aber ein jedes muss sich
24. Vgl. Friedrich, Hugo, »Sprachtheorie der französischen Illuminaten«, op. cit. 25. Hierzu und zum vorigen: Friedrich, Hugo, »Sprachtheorie der französischen Illuminaten«, op. cit., S. 307 f.
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seinen Namen mit anderen teilen. So entsteht mittels der verallgemeinernden Sprache das Allgemeine. Umgekehrt können Wörter auch ›analytisch‹ wirken, können begriffliche Differenzierungen zur Auflösung von ganzen Wahrnehmungskomplexen führen. In jedem Fall macht sich eine Sprechergemeinschaft stets die Natur mittels ihrer Zeichen zurecht, da sie nur das solcherart Zurechtgemachte zu begreifen vermag. Bei Lichtenberg hielten sich die Skepsis gegenüber dem ›trügerischen‹ Wort und die Einsicht in seine weltkonstitutive Dimension das Gleichgewicht. Dass die Sprache keine hinreichend subtilen Ausdrucksmittel besitzt, um die hochdifferenzierte und komplexe Welt der Phänomene zutreffend zu beschreiben (etwa die Welt der Farben in ihren feinen Abstufungen) bedauerte er gerade als Naturwissenschaftler am meisten. Besonders klar erkannte er ferner, dass der Einzelne, wo er von sich selbst zu sprechen versucht, an die Sprache als allgemeines Ausdrucksmittel gebunden bleibt, dass mithin das Innere nie unverstellt zu verbalem Ausdruck finden kann. Er plädierte konsequenterweise für einen möglichst individuellen Stil.26 Wer sich selbst sprachlich darstellen möchte, muss auf jedes Detail achten und das Besondere auf besondere Weise formulieren. Der ›Individualisierung‹ von Sprache dient etwa die Versinnlichung des Ausdrucks sowie die Verwendung ungewöhnlicher Bilder und Metaphern. Modern ist auch die gleichfalls in den Sudelbüchern sich abzeichnende Einsicht, dass es keinen wirklich präzisen und verbindlichen Sprachgebrauch gibt; alle Wörter sind bei den unterschiedlichen Sprechern von multiplen Konnotationen besetzt, die sich selten aufschlüsseln und zugunsten eines wissenschaftlich-definitorischen Zeichengebrauchs vereinheitlichen lassen.
Humboldt (1767–1835) und die Romantiker Wilhelm von Humboldt erörterte die Sprache aus philosophischer, anthropologischer und literarisch-ästhetischer Perspektive. Zu seinen Hauptwerken gehört die postume Schrift Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (1830–1835). Der Mensch sei nur Mensch durch Sprache, so auch Humboldt, der damit wie Herder und Hamann die Vorstellung einer nachträglichen und gezielten Erfindung von Sprache ablehnte. Wie diese betont er die unauflösliche Einheit, ja Identität von Denken und Sprechen. Besonders folgenreich waren seine Lehre von der »sprachlichen Weltansicht« (oder: »Weltanschauung«) und die Prägung des Begriffs einer »inneren Sprachform«. Die Welt ist den sprachlichen Subjekten in den Kategorien der Sprache gegeben; in jeder besonderen Sprache wird Welt auf je besondere Weise in den Gedanken überführt. Grammatik, Morphologie, Syntax und Semantik der Sprache liegen der Organisation und Strukturierung aller Erfahrungsinhalte zugrunde, so dass auch von einer sprachlichen »Zwischenwelt« gesprochen werden könnte, welche sich vermittelnd zwischen Erfahrungssubjekt und Wirklichkeit schiebt. Alle Weltentwürfe ruhen auf sprachlicher Grundlage: Wissenschaft und Religion, Geschichte, Politik, Normen und Werte einer Gesellschaft sind Funktionen der Sprache. Die jeweilige sprachliche »Weltansicht« besitzt apriorischen Charakter gegenüber dem einzelnen Denk- und
26. Vgl. Gockel, Heinz, Individualisiertes Sprechen. Lichtenbergs Bemerkungen im Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Sprachkritik, Berlin / New York 1973.
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Sprechakt. Und die Verschiedenheit der einzelnen sprachlich vermittelten Weltbilder müsste sich wissenschaftlich erfassen und strukturell beschreiben lassen — was impliziert, dass das erkennende Subjekt sich durch Reflexion aus den Fesseln »seiner« Sprache immerhin so weit befreien kann, dass es deren vermittelnde Leistungen zum Gegenstand der Erkenntnis macht und mit der anderer Sprachen vergleicht. Die Differenzen zwischen den von verschiedenen Sprachen begründeten Weltbildern sind signifikant und bedingen die Vielfalt und Divergenz der Kulturen. Wenn Humboldt von der Sprache handelt, so meint er damit kein universales Abstraktum, sondern die jeweils einzelnen Nationalsprachen. Jede besitzt ihre eigene innere Sprachform, die das Denken und Erleben ihrer jeweiligen Sprechergemeinschaft begründet. Insofern die Sprache für Humboldt kein Reservoir fertiger Etiketten darstellte, sondern eine wirksame Kraft zur Aneignung und Strukturierung der Welt, sollte sie nicht als »Ergon«, sondern als »Energeia« begriffen werden: Der Akzent des sprachphilosophischen und -wissenschaftlichen Interesses verschob sich hier endgültig auf die Prozessualität von Sprache, auf den schöpferischen Vollzug. Diese Sprachkonzeption wirkte deshalb so überzeugend, weil sie das Problem Sprache auf fundamentale Weise anging (und es dabei mit dem fundamentalen erkenntnistheoretischen Problem transzendentaler Weltkonstitution gleichsetzte): Humboldt bot erstens ein Modell der Beziehung zwischen Erkenntnissubjekt, Erfahrungswelt und Muttersprache, das gleichberechtigt neben den transzendentalphilosophischen Konstrukten der deutschen Idealisten stehen kann — und noch im 20. Jahrhundert sollten sich Sprachtheoretiker wie Leo Weisgerber auf ihn berufen. Zweitens hatte seine Theorie zugleich konkrete Erfahrungen und Beobachtungen sprachlichkultureller Gegebenheiten auf ihrer Seite: Dass die Inhalte und Strukturen des Denkens einzelner Völker in engstem Wechselzusammenhang mit deren jeweiliger Sprache stehen, musste jedem einleuchten, der sich mit Sprachforschung auch nur oberflächlich beschäftigte. Und Humboldts sprachwissenschaftliche Leistungen, seine Kenntnisse im Bereich der Sprachgeschichte, Etymologie, Grammatik und Semantik verschiedenster Idiome waren keineswegs oberflächlicher Natur, sondern prägten die Standards seiner Zeit. Dass er seine grundlegenden Einsichten in Wesen und Funktionen der menschlichen Sprachen vor allem als Einleitung in fundierte linguistisch-historische Spezialuntersuchungen formulierte, ist kein Zufall; sein Interesse galt nicht nur dem Problem Sprachlichkeit im Allgemeinen, sondern konkreten historischen Phänomenen und Zusammenhängen. Humboldts Sprachkonzept berührt sich in vielen Punkten mit dem Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers (1768–1834) sowie mit den Vorstellungen romantischer Sprachwissenschaftler — wie denen Jacob Grimms (1785–1863) und der Brüder Schlegel. Nur was sprachlich ausgedrückt werden kann, kann gedacht werden. Einerseits vollzieht sich das Denken des Einzelnen also auf sprachlicher Basis, andererseits ist dieser Einzelne aber auch notwendiger ›Ort für die Sprache‹, seine jeweils besondere Rede notwendiges Medium der Selbstoffenbarung von Sprache.27 Jeder Sprecher wirkt schöpferisch auf die benutzte Sprache ein. Schleiermacher teilte die Humboldtsche Auffassung, dass die Verschiedenheit der Sprachen nicht primär eine Verschiedenheit der Klänge, sondern eine ›innere‹ sei, und er betonte, dass keine Rede, ja kein einzelnes Wort bruchlos in eine andere Sprache zu übersetzen sei. Dem Problem der
27. Vgl. Gipper, Helmut /Schmitter, Peter, Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik, op. cit., S. 95.
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Übersetzung und der produktiv-verändernden Leistung des Übersetzenden galt gerade das Interesse des Hermeneutikers Schleiermacher. Texte, zumal poetische, lassen sich infolge einer weit verbreiteten romantischen Überzeugung nie erschöpfend übersetzen. Jean Paul behauptete sogar, ein Werk, das man übersetzen könne, sei solcher Mühe nicht wert. Jacob Grimm erbrachte wesentliche Leistungen auf dem Gebiet der Erforschung der deutschen Sprache und ihrer inneren Struktur. Der erste Band seiner Deutschen Grammatik erschien 1819 mit einem instruktiven Vorwort; Grimms Anliegen war die Erforschung der germanischen Sprachfamilie durch eine Untersuchung ihrer historischen Entwicklung und die Ableitung der jeweiligen Sprachstrukturen aus früheren. Mit seinem Programm einer »historischen« Sprachforschung« — gemeint ist empirische Forschung im Gegensatz zum spekulativen logisch-philosophischen Ansatz — bezog Grimm nicht nur Position gegen die ›Grammatik‹ von Port-Royal und ihre zeitgenössischen Fortsetzer, sondern auch gegen Bernhardi, der in seiner ›Sprachlehre‹ ja von einer Kongruenz zwischen sprachlichen und allgemein-logischen Strukturen ausgegangen war. Friedrich Schlegel hatte schon in seiner Abhandlung Über die Sprache und Weisheit der Indier gefordert, die Sprachwissenschaft möge sich beim Vergleich und bei der Charakteristik der einzelnen Sprachen vorrangig mit deren »innre(r) Structur« beschäftigen, der gegenüber der Vergleich einzelner Wörter und Klänge von sekundärer Bedeutung und Effizienz sei. Kriterium für die Verwandtschaft von Sprachen ist laut Schlegel zum einen die Ähnlichkeit von Wortwurzeln, zum anderen aber eben die Korrespondenz innerer grammatischer Strukturen, die Analogie von Baugesetzen. Unter einer »vergleichenden« Grammatik versteht Schlegel die Wissenschaft, welche jene fundamentalen inneren Sprachstrukturen beschreibt und in historisch-systematische Beziehungen setzt. Gerade hier werden die methodischen Fundamente der komparativen Linguistik als wissenschaftlicher Disziplin gelegt. Friedrich Schlegel war neben Humboldt der zweite Hauptvertreter romantischer Sprachwissenschaft, bei dem linguistische, historische und sprachphilosophische Erkenntnisse eine enge Synthese eingingen. Auf der Basis seines Interesses für den grammatischen Bau der Einzelsprachen erforschte er die Verwandtschaft zwischen den einzelnen Gliedern der indogermanischen Sprachfamilie. Seine Einsichten berühren sich hier eng mit denen der Indogermanisten Rask und Bopp, die freilich im engeren und spezielleren Sinn sprachhistorisch-linguistisch arbeiteten und beide — unabhängig voneinander — Anspruch darauf erheben dürften, die indogermanistische Linguistik begründet zu haben — und das heisst: die moderne vergleichende Lingistik überhaupt, denn diese hob mit indogermanischen Forschungen an. Der programmatische Terminus ›Vergleichende Grammatik‹ wurde allerdings nicht von Friedrich Schlegel zuerst verwandt, sondern von seinem Bruder August Wilhelm, dem ersten Hochschullehrer für Sanskrit. Wie bei Friedrich konvergierten auch bei ihm sprachhistorische und sprachphilosophische mit dichtungstheoretischen und ästhetischen Interessen. Friedrich Schlegel sollte mit seinen späten Reflexionen über die Sprache übrigens eine theologisch gefärbte Extremposition beziehen; er knüpfte an logosmystische Ideen an und fragte nachdrücklich nach dem transzendenten Grund von Sprache und Wort. Die ›adamitische‹ Sprache gilt in seinen Spekulationen als die ›metaphysische Ursprache‹.28 Und das ›lebendig‹ artikulierte Wort
28. Vgl. Nüsse, Heinrich, Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels, Heidelberg 1962, S. 63.
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erschien ihm als Wiederholung des Wesens der Dinge, wie es im Ursprung offenbar gewesen war. Gegenüber dem göttlichen Urwort erscheint das Menschenwort freilich abgefallen, als blosse Erinnerung ans Überzeitliche und Transzendente. Der Abfall des Menschen von Gott spiegele sich vor allem in der babylonischen Dissoziation der Sprachen. Die theoretische Reflexion über Sprache, wie sie von den Philosophen, Theologen, Ästhetikern und Linguisten der Zeit zwischen 1760–1820 betrieben wurde, bahnte insgesamt in mehr als einer Hinsicht den Weg zu späteren Auffassungen — und zwar nicht nur über die Sprache, sondern auch über die Beziehung des erkennenden Subjekts zu »seiner« Wirklichkeit. Zunehmend vertiefte sich die Einsicht, dass sich Denken und Erkenntnis am Leitfaden der Sprache zu orientieren pflegen. Notgedrungen überlässt sich jedes sprachgebundene Ich bei der Strukturierung, Fixierung und Mitteilung seiner inneren wie äusseren Erfahrungen zunächst einmal den sprachlichen Zeichen und Strukturen, die ihm zu Gebote stehen, auch wenn es diese dann zu erweitern sucht. Erahnt und von Einzelnen wie Hamann ›entdeckt‹ wurde die Unhintergehbarkeit der Sprache. So wurde sich die erkennende Instanz vor allem immer wieder ihrer Bedingtheit und der Beschränktheit ihrer Erkenntnismöglichkeiten bewusst. Das auch für die Moderne massgebliche Sprachmodell Humboldts darf (mit Karl-Otto Apel)29 als »transzendentalhermeneutisch« charakterisiert werden. Schon bei Jean Paul (1763–1825) zeichnete sich dieses Verständnis der Sprache ab: erscheint als »der feinste Linienteiler der Unendlichkeit, das Scheidewasser des Chaos«, als eine Gesamtheit von »Namen-Punkten«, welche wie Sterne »den wüsten Äther beleuchten«, als eine Instanz, welche »die weite einfärbige Weltkarte« illuminiert.30 Charakteristischerweise ist es Jean Pauls »Erziehlehre« (die Levana von 1806), in der er, die Anschauungen des Pädagogen Pestalozzi skizzierend, zu solchen Formulierungen findet; die pädagogische Praxis illustriert ja mit besonderem Nachdruck die weltvermittelnde Funktion der Sprache. Auch die spätere sprachphilosophische Gleichsetzung des sprachlich Mitteilbaren mit dem ›Begreiflichen‹ wurde in der Romantik antizipiert. Komplementär zum Wissen um die Leistungen der Sprache verhält sich stets das vor allem den Romantikern gewärtige Wissen um die Grenzen. Grenzwert des Denkens und der poetischen Darstellung ist das der Sprache und ihren Ausdrucksmöglichkeiten Transzendente — setze man dieses nun mit einer metaphysischen Instanz, mit dem ›Unsagbaren‹ bestimmter Erfahrungen oder mit dem ›Individuellen‹ gleich.
Auswahlbibliographie Arens, Hans, Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart, Freiburg / München ²1969. Becker, Christoph, Sprachkonzeptionen der deutschen Frühaufklärung, Frankfurt a.M. 1998. Borst, Arno, Der Turmbau zu Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, Bd. I — IV, Stuttgart 1957–1963.
29. Apel, Karl-Otto, Die Idee der Sprache, op. cit., S. 19. 30. Jean Paul, Werke, Abt. I, Bd. 5, S. 282, S. 830, S. 831. Vgl. Schmitz-Emans, Monika, Schnupftuchsknoten oder Sternbild. Jean Pauls Ansätze zu einer Theorie der Sprache, Bonn 1986, S. 119 ff.
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Romantische Sprachästhetik Monika Schmitz-Emans
Romantische Poetik als Sprachreflexion Welches Gewicht die Sprache bei vorromantischen und romantischen Autoren als Gegenstand ästhetischer Reflexion gewann, ist nur vor dem Hintergrund der skizzierten generellen Aufwertung des Wortes in Philosophie und Anthropologie zu verstehen.1 Natürlich ist der reflektierte Umgang mit Sprache stets Voraussetzung poetischer Produktivität, nie zuvor aber wurde dies so explizit gemacht. Dabei war die Einstellung auch und gerade der Dichter jener Zeit zur Sprache nicht notwendig affirmativ, sondern vielfach geprägt vom Leiden am Wort mit seinen Grenzen und Bedingtheiten. Dass die Sprache den innerseelischen Regungen nicht zu angemessenem Ausdruck verhelfe, ist ein vor allem in der Vorromantik vielfach variierter Grundgedanke: Je tiefer der Affekt, desto schweigsamer das Ich — so etwa Henry Home, Lord Kames (1696– 1782), in seinen vielgelesenen Elements of criticism (1762 / 56). Hatte die Aufklärungspoetik, sofern sie Sprache überhaupt erörterte, auf eine Optimierung der verbalen Darstellungsmittel für und durch den poetischen Gebrauch abgezielt, so entdecken Vor- und Frühromantik das Thema der nonverbalen Zeichen neu. Die Überlegenheit gestischer und mimischer — also ›natürlicher‹ — Ausdrucksmittel über das ›künstliche‹ Wort betonten vor allem die britischen Wegbereiter der Romantik — so Bernard de Mandeville, Thomas Blackwell, David Hartley, Gregory Sharpe, Thomas Sheridan, Edmund Burke, Henry Home, James Beattie und Thomas Reid.2 Spontane Bewegungen und Blicke schienen ein eigenständiges Ausdruckssystem für sich auszumachen, und Henry Home nannte sie ausdrücklich eine »natürliche Sprache« (natural language). Fast selbstverständlich wurden Wortsprache und »natürliche Sprache« aus ihrem Kontrastverhältnis begriffen und unterschiedlichen Epochen der Menschheitsentwicklung zugeordnet: Die das Jahrhundert prägende ›Querelle des ancients et des modernes‹ präsentierte sich hier in ihrer semiologischen Spielart. In der vorromantischen Literatur spielten ›sprechende‹ Blicke, Gesten
1. Vgl. das Kapitel: »Die zentrale Bedeutung der Sprachreflexion zwischen 1760 und 1820«. Weitere Sekundärliteratur (Auswahl): Fiesel, Eva, Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik, Tübingen 1927. — Friedrich, Hugo, »Die Sprachtheorie der französischen Illuminaten des 18. Jahrhunderts«, in: Deutsche Vierteljahresschrift 13, 1935, S. 293–310. — Kainz, Friedrich, »Die Sprachästhetik der Jüngeren Romantik«, in: Deutsche Vierteljahresschrift 16, 1938. — Fauteck, Heinrich, Die Sprachtheorie Fr. v. Hardenbergs (Novalis), Göttingen 1939. — Baudler, Georg, Im Worte sehen: Das Sprachdenken Johann Georg Hamanns, Bonn 1970. — Zimmermann, Jörg, »Ästhetische Erfahrung und die »Sprache der Natur««, in: ders., Sprache und Welterfahrung, München 1978. — Gipper, Helmut / Schmitter, Peter, Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik, Tübingen 1979. 2. Vgl. zu diesem Thema: Rauter, Herbert, Die Sprachauffassung der englischen Vorromantik in ihrer Bedeutung für die Literaturkritik und Dichtungstheorie der Zeit, Bad Homburg / Berlin / Zürich 1970, vor allem S. 97 ff.
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und Mienen als Komplemente der Wörter daher eine wichtige Rolle, so etwa bei Laurence Sterne (1713–1768; Tristram Shandy: 1759–1767) und seinen Nachfolgern. Die ›Sprache‹ der natürlichen Ausdrucksbewegungen wurde in der Dichtung vor allem zur Darstellung von Leidenschaften eingesetzt. Trotz der Nachwirkung solcher Ideen dominierte in der Romantik die grundsätzliche Hochschätzung des Wortes, das ja, indem es über seine eigene Unzulänglichkeit reflektiert, mittelbar eben doch auf das verweist, was es (angeblich) nicht zu bezeichnen vermag. Poetische und philosophische Texte wurden zu Medien expliziter und impliziter Reflexion über Sprache, die oft emphatisch, ja enthusiastisch klingen. Friedrich Schlegel (1772–1829) deutete die Sprache als authentischste Ausdrucksform menschlicher Spiritualität. August Wilhelm Schlegel (1767–1845) betonte die integrative Funktion des Sprachvermögens für alle physischen und spirituellen Aktivitäten des Menschen. Das Wort beziehe sich auf »das ganze Gebiet des menschlichen Geistes« (II 103), und weil die Sprache »der Urstoff der Poesie« (II 232) sei, stelle die SprachKunst die »grenzenloseste« aller Künste dar (II 103). Gegen die generell enge Affinität der romantischen Generation zur Sprache könnten allenfalls zwei Aussenseiterpositionen abgehoben und mit den Namen Goethes und Hölderlins verknüpft werden, wobei diese Autoren sich freilich nur schwer auf eine bestimmte Position festlegen lassen: Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) war am Thema Sprache relativ desinteressiert und setzte sich kaum mit der Frage auseinander, ob und wie Wirklichkeit gerade durchs Wort vermittelt wird, jenes also Bedingung und Fessel geistiger Produktivität ist. Friedrich Hölderlin (1770–1843) jedoch reflektierte auf für seine Zeit beispiellos radikale Weise über den heillosen Abgrund zwischen der Sprache und dem Wahren, dem »Heiligen«. Er wurde zum Vorläufer des modernen Dichters, welcher sich unauflöslich an ein Ausdrucksmittel gebunden weiss, dem er nicht vertraut, ja an dem er verzweifelt. Das, worum es — auch und gerade dem Dichter — geht, ist jenseits der Worte. Das Ich selbst kann ›sich‹ nicht angemessen artikulieren, sich also nicht ins Wort übersetzen, und es empfindet sich selbst als ›deutungsloses‹ Zeichen (Mnemosyne). Alle Verbalisierung erscheint primär als Verfremdung und Gewalt.3 Mit alten, zumal mystisch-theologischen Gedanken von der Unsagbarkeit des Göttlichen ist solche Verzweiflung am Wort zwar kompatibel, in dieser Radikalität als Fundament dichterischen Sprechens aber neu. Das Befremden gegenüber dem Wort resultierte letztlich aus dem Abgrund zwischen Irdischem und Transzendenz, Endlichem und Unendlichem. Mit kontingenten (psychischen, intellektuellen, individuellen) Gründen sprachlicher Inkompetenz hat dies nichts zu tun. Als wichtige Mittlerin zwischen Ich und Welt, Sinnlichem und Übersinnlichem, Endlichkeit und Unendlichkeit, galt die Sprache dagegen bei Autoren wie Jean Paul (1763–1825), Novalis und den Brüdern Schlegel — wobei das Wort ›Sprache‹ Verschiedenes bezeichnen kann: Das Sprachvermögen schlechthin oder dessen je besondere Aktualisierung — die Totalität der gegebenen Sprachen oder aber eine regulative Idee vollendeter Sprache, welcher sich jene nur nähern — die Strukturen sprachlicher Gestaltung oder die klanglich-sinnliche Dimension aller Rede. Mit Friedrich Schlegel teilte Novalis (1772–1801) die Überzeugung von der Doppelbödigkeit des Wortes, von einem Rest an Dunkelheit, welche an jedem Ausdruck und
3. Dazu Fiesel, Eva, Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik, op. cit., S. 19.
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seinem Gebrauch hafte.4 Das Interesse der Romantiker galt aber auch den praktischen Funktionen der Sprache als Medium von Ausdruck, Bezeichnung und Kommunikation. In den Werken Lichtenbergs, bei Jean Paul, Tieck, Hoffmann und anderen Erzählern werden oft Sprechpraktiken und Gespächsverläufe besonders aufmerksam geschildert, die vielfältigen Wirkungen des Wortes demonstriert, scheiternde oder gelingende Dialoge vorgeführt und missbräuchlicher oder vorbildlicher Sprachgebrauch kommentiert. Theoretisch erörtert wird vor allem die Frage nach den Charakteristika poetischen Ausdrucks gegenüber der »Prosa«. Die Unterscheidung zwischen beiden Spielarten menschlicher Rede gehört zu den wichtigsten Topoi romantischer Poetik, und sie verknüpft sich sowohl mit der Idee eines historischen Sprachverfalls als auch mit der Gleichsetzung von ›poetischer‹ und emotional-affektiver Rede. Wenn die poetische Rede gegen die ›prosaisch‹-konventionelle ausgespielt wird — was nichts mit dem Textgattungsbegriff ›Prosa‹ zu tun hat — so oftmals unter Orientierung an einer imaginierten Ursprache und an dem, was man als die ›ursprünglichen‹ Erscheinungsformen und Dimensionen menschlicher Sprache begreift. Hamanns (1730–1788) Deutung der Poesie als »Muttersprache des menschlichen Geschlechts« (Æsthetica in nuce, 1762) wird zum Leitwort. Doch es geht mit der Idealisierung ›poetischer‹ Sprache nicht allein um ein ästhetisches Konzept: Als Vermittlerin zwischen sinnlicher und transzendenter Wirklichkeit soll gerade die Poesie auch in gegenwärtiger Zeit noch an die einstige, nunmehr verlorene Einheit von Dichtung, Religion und Philosophie erinnern. (Das poetisch-praktische wie das theoretische Anliegen dieser Epoche ist die Bereicherung und Intensivierung der sprachlichen Ausdrucksmittel um einer grösseren Nähe zum gedachten ›Ursprung‹ (nicht nur um der Wörter, sondern auch um des Geistes willen.) Wie viele Mythen wurde auch der Adamitische bei den Romantikern zum Ausdruck einer tieferen Erkenntnis: Die Gleichsetzung des poetischen mit dem beschwörenden, dem eigentlich ›schöpferischen‹ Wort korrespondiert mit dem Gedanken, Sprache sei als eine ›transzendentale‹ Instanz weit mehr als blosses Instrument nachträglicher Bezeichnung. Wenn die Sprachphilosophie der Romantik sich dezidiert von einem instrumentalistisch-pragmatistischen Sprachbegriff abwandte, so wurde sie also unterstützt durch die Poetik, derzufolge gerade das poetische Wort kein blosses ›Mittel‹, sondern schöpferischer Ausdruck ist. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) sah die Sprache als Bindeglied zwischen philosophischer Reflexion und Poesie an. Karl Wilhelm Ferdinand Solger (1780–1819) verstand das Wort als Veranschaulichung schöpferischer Kräfte schlechthin; daher stellte er nicht das Produkt poetischer Arbeit in den Vordergrund, sondern den Schöpfungsprozess selbst.5 Für Solger stellte die Sprache den Schlüssel zu jeglicher künstlerischen Produktivität dar, insofern sie ›poetisch‹ (im Sinne von Poiesis = Schöpfung) ist.6 Tendenziell werden ›Poesie‹ und ›Sprache‹ zu Synonymen — so bei A. W. Schlegel (Briefe über Poesie, Silbenmass und Sprache, 1795 / 96).
4. «Das Wort«, so Eva Fiesel, »bleibt für die Romantik im tiefsten Grunde immer Hieroglyphe.« Ibid., S. 110. 5. Solger, Karl Wilhelm Ferdinand, Vorlesungen über Ästhetik, Heyse, Karl Wilhelm Ludwig (ed.), Leipzig 1829, S. 259. 6. Solger, Karl Wilhelm Ferdinand, Erwin. Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst, Berlin 1815, Bd. II, S. 76.
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Sinnlichkeit und Spiritualität der Sprache Unter dem Aspekt der geforderten ›Ursprünglichkeit‹ und ›Sinnlichkeit‹ poetischen Sprechens wurde die klangliche Dimension der Sprache insgesamt aufgewertet, wurden Wohlklang und klangliche Strukturierung sowie der bewusste Umgang mit der lautlichen Ebene von Sprache vom Dichter erwartet. Dahinter stand die anachronistische, aber als Reflexionssubstrat weiterhin aktuelle Idee, das Wort müsse der ›Sache‹ nachtönen oder aber Empfindungen auf natürlichunvermittelte Weise zum ›Klingen‹ bringen, wenn es wahr und eindrucksvoll sein wolle. Vor allem die Brüder Schlegel und Novalis griffen den Gedanken vom tönenden Laut als Offenbarung des inneren Wesens der Dinge auf. Einzelne Theoretiker massen den einzelnen Sprachlauten einen immanenten symbolischen Wert bei. A. W. Schlegel stellte Überlegungen zur semantischen Valenz der Laute an, welche symbolistische Vorstellungen antizipieren, alle Vokale erhalten einen Farbwert und eine Stimmung zugeordnet. Wie Schlegel charakterisierte auch Bernhardi in seiner Sprachlehre die Vokale in Korrespondenz zur Farbentonleiter. Das Interesse am ›Grund‹ von Sprache führte allenthalben zu geschärfter Aufmerksamkeit auf alles Elementare in Rede und Schrift. Johann Wilhelm Ritter (1776–1810) interpretierte die Buchstabenfigurationen als sichtbare Umsetzungen von Klangfiguren, wobei ihm die physische Wirklichkeit selbst als ein Ensemble von Klängen und Figuren galt (Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers, 1810). Die sinnlich-klangliche Dimension der Sprache schien auf Übersinnliches zu verweisen: Vokale und Konsonanten gelten als symbolische Ausdrucksformen für Religion und Geschichte (so bei Rahel Varnhagen).7 Und Bernhardi (1769–1820) konzipierte ein »Grundalphabet« der Sprache, in dem der Hauch als das allen anderen Lauten inhärente und sie begründende Moment erscheint. Eine symbolische Ausdeutung hatte der Sprach-Hauch zuvor übrigens schon bei Hamann erfahren, der seinerseits biblische Anregungen und Topoi aufgriff (Neue Apologie des Buchstaben h, 1773.) Doch die ›Sinnlichkeit‹ der Sprache wurde aber nicht nur auf phänomenaler, sondern auch auf inhaltlicher Ebene geschätzt. In Anlehnung an Vico und seine Nachfolger, denen zufolge die frühen Sprachstufen durch ihren Bilderreichtum charakterisiert waren, betrachteten Dichtungstheoretiker wie etwa die Brüder Schlegel und Jean Paul Bildhaftigkeit als zentrales Charakteristikum der Dichtung.8 (Jean Pauls Vorschule der Ästhetik (1804)9 widmet dem »bildlichen Witz« und seinen Verwandten eingehende Überlegungen.) Zumal gegenüber dem alltäglich-prosaischen und gedankenlosen Sprachgebrauch zeichne sich die dichterische Gestaltung durch erhöhte ›Sinnlichkeit‹ des Ausdrucks aus, durch eine Fülle von Bildern und illustrierenden Vergleichen, durch eine Bevorzugung des Konkretums gegenüber dem Abstraktum. Prägend erscheint allenthalben insbesondere der Einfluss Herders und
7. Brief an Varnhagen 27. 4. 1813. Zitiert nach Fiesel, Eva, Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik, op. cit., S. 94. 8. Vgl. insgesamt: Schmitz-Emans, Monika, Schnupftuchsknoten oder Sternbild. Jean Pauls Ansätze zu einer Theorie der Sprache, Bonn 1986. 9. Jean Paul, Werke, Miller, Norbert (ed.), München 1959ff, Abt. I, Bd. 5.
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Hamanns, aber auch der französischen und englischen Vorromantiker: Sprachreflexion vollzog sich in der Romantik weitgehend im Horizont der Dichotomie zwischen ›Abstraktem‹ und ›Konkretem‹, ›Nichtsinnlichem‹ und ›Sinnlichem‹, wobei das jeweils zweite Relat eindeutig positiv akzentuiert wurde — unabhängig davon, ob es bei jener ›Sinnlichkeit‹ und ›Konkretheit‹ um die lautliche oder um die semantische Ebene der Sprache geht. Die Ausdrucksmittel der Poesie wurden auch gern denen der begrifflich-abstrakten Kunstsprache der Philosophen entgegengesetzt, welche zumal im Idealismus ein charakteristisches Begriffsinstrumentarium entwickelten. Während Theoretiker wie Novalis und Friedrich Schlegel immerhin dazu neigten, beiden Sprechweisen ihr jeweils eigenes Recht zuzubilligen und sie mit entsprechenden Vermögen des Menschengeistes zu verknüpfen (sie bedienten sich der idealistischen Terminologie auch selbst), spielten andere — wie Jean Paul — die Sinnlichkeit der poetischen Rede gegen die philosophisch-unsinnliche Terminologie aus. In Zweifel gezogen wurde dabei sogar, ob das begriffliche Abstraktum, das seine Verankerung in sinnlich-konkreten Vorstellungsinhalten verloren hat oder doch leugnet, überhaupt noch ein Signifikat, also eine Bedeutung, habe. Angeregt durch die gegen Kant gerichteten Sprachreflexionen Herders, kritisiert Jean Paul in seiner Clavis Fichtiana (1800) den Fichteschen Idealismus als ein Gebäude aus ›leeren‹ Wörtern, als bodenlose Konstruktion eines Intellekts, der durch ›Kunstwörter‹ verführt worden ist und seine tiefe Bindung an Sprache und ihre Ausdrucksformen nicht durchschaut.10 Mittelbar wurde auch in solch kritischer Akzentuierung die prägende Macht des Wortes bestätigt. Vor allem Dichtung erschien immer wieder als mögliches Korrektiv gegen Sprachverfall und fortschreitende Entsinnlichung; sie sollte der verstiegenen Abstraktion entgegenwirken, das Ausdruckspotential der Sprachen (wieder) beleben und so mittelbar zur Intensivierung menschlicher Erfahrungs- und Artikulationsmöglichkeiten beitragen. Gefordert war eine ›Repoetisierung‹ der Sprache,11 an der allerdings laut Friedrich Schlegel auch die philosophische Reflexion selbst massgeblichen Anteil nehmen muss: Philosophie und Poesie »sollen die Sprache wieder zurück zu ihrer ursprünglichen Beschaffenheit führen (…). Verdorben aber wird sie durch den gemeinen Gebrauch. Der tägliche Gebrauch zum notdürftigen Verkehr zieht die Sprache immer mehr herab von ihrer göttlichen Bestimmung.« (Kölner Vorlesung, 1807)12 Solche für Schlegel typische Akzentuierung der virtuell ›göttlichen‹ Dimension des Wortes, seiner Mittlerschaft zwischen materieller und spiritueller Welt, Irdischem und Überirdischem, ist eine späte Ausdrucksform jener Wortmetaphysik, welche das gesamte christliche Abendland auf der Basis Johanneischer Logoslehre geprägt hatte. Zumal zwischen Mystik und romantischer Reflexion besteht im sprachtheoretischen Bereich manche Analogie. Vermittelnd zwischen der mystischen Bewegung und den Romantikern wirkten etwa die französischen Illuminaten, aber auch Hamann, dessen Werk der Logosmystik klar verpflichtet ist. Nicht zufällig wurde ausserdem Jakob Böhme zur Lieblingslektüre einzelner Romantiker wie Novalis. Traditionsreiche Vorstellungen griff die Romantik auch in der Auseinandersetzung mit den Grenzen von Sprache auf. Mystisches
10. Ibid., Abt. I, Bd. 3, S. 1012 ff. 11. Vgl. Kainz, »Die Sprachästhetik der Jüngeren Romantik«, op. cit., S. 221. 12. Aus der Nachschrift der Gebrüder Boisserée zur Privatvorlesung »Über deutsche Sprache und Literatur«. Zitiert nach Polheim, Karl Konrad (ed.), Der Poesiebegriff der deutschen Romantik, Paderborn 1972, S. 110.
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Gedankengut klang im ausgehenden 18. Jahrhundert oftmals an, wenn es um die problematische Relation zwischen Sprache und Transzendenz ging. Gerade angesichts der massgeblichen Bedeutung, welche das Übernatürliche, das Göttliche, das Unendliche, aber auch das Un- und Vorbewusste als Gegenstand romantischer Dichtung gewannen, wurden die Grenzen der Sprache nachdrücklich erfahren und thematisiert. Unsagbarkeitstopoi und Klagen über die ›Endlichkeit‹ und Diesseitigkeit aller Wörter, über deren Gebundenheit an die Sinnenwelt und an die Welt des beschränkten, endlichen Verstandes, finden sich in vielen Varianten. In der romantischen Sprachreflexion wirkte insgesamt eine Fülle irrationalistischer Ideen zumal des ausgehenden 18. Jahrhunderts nach, aber diese wurden doch nicht einfach rekapituliert, sondern aktuellen poetologischen Fragestellungen assimiliert. Einerseits weit davon entfernt, die Sprache entsprechend logisch-rationalen Massstäben verbessern zu wollen wie wichtige Sprachtheoretiker in Frankreich, kreisten andererseits die Reflexionen der deutschen Romantiker doch um eine Idealkonzeption von Sprache, die allenfalls im poetischen Medium verwirklicht wäre. Dabei bildete sich zwar keine geschlossene Theorie heraus, aber man kann mit Friedrich Kainz durchaus von einer ›Sprachästhetik‹ der Romantik sprechen. Jene Forderung nach ›Sinnlichkeit‹, ›Anschaulichkeit‹ und ›Bildhaftigkeit‹ ist in diesem Kontext zu sehen; auch betonten diverse romantische Theoretiker die enge Affinität poetischer Rede zum Bereich des Affektiven, zu Gefühlen, Stimmungen, seelischen Dispositionen. Am Ausgangspunkt des nachaufklärerischen, der vorromantischen und romantischen Denkens stand insbesondere das Bewusstsein von der Endlichkeit und Beschränktheit des zuvor so anmassenden Verstandes: Dieser vermag nur zu begreifen, was ihm ähnlich ist, und bemüht sich vergeblich, das ihm Unähnliche seinen eigenen Kategorien und Ordnungsmustern zu assimilieren. Die Welt der Empfindungen und Sinnesreize, das Spontane und Individuelle in seiner subversiven Inkommensurabilität an jegliches Begriffssystem, ja vor allem jenes Übersinnliche, Numinose, Wunderbare, von dem die Religionen, Mythen und Dichtungen der Völker stets Zeugnis abgelegt haben — diese ›andere‹ und nächtliche Seite der Welt (die der vorromantischen und romantischen Zeit im übrigen als die wichtigere galt) bleibt dem Verstand verschlossen. Wo er abstrahierend und systematisierend in sie vorzudringen vermeint, wirkt er allenfalls zerstörerisch. An die Poesie und die Künste wurde daher die Aufgabe delegiert, all das ›zur Sprache‹ zu bringen, was die Sprache des Alltags und der Gelehrten nicht sagen kann. Solche Zuordnung der poetischen Rede zum für den Verstand Unfasslichen ist nicht als naiver ›Irrationalismus‹ abzutun. Sie trägt nicht allein der Einsicht in die begrenzte Tragfähigkeit rationaler Kategorien, insbesondere des Kausalitätskonzepts, Rechnung, sondern führt auch dazu, dass sprachliche und andere Äusserungsformen des Menschen nach anderen Massstäben als denen der Praktikabilität und Effizienz beurteilt werden — ja, dass im Vermögen der Sprache, auch und gerade das Unverständige, das Subversiv-Besondere und Nichtkonforme zu artikulieren, sogar deren eigentliche Leistung gesehen wird. Über die unterstellte Besonderheit poetischen Sprachgebrauchs wird Dichtung selbst begründet und legitimiert. In der Romantik fand damit das dichterische Sprechen dezidiert zu einem neuen Selbstverständnis, emanzipierte sich auf dem Weg über die Sprachreflexion endgültig von rationalen Funktionspostulaten. Noch die Poetik des 20. Jahrhunderts sollte den literarisch-poetischen Sprachgebrauch wiederholt als eine ›Abweichung‹ vom alltäglichverstandesmässigen und praktisch-instrumentalen interpretieren — so im russischen Formalismus
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und im Strukturalismus. Auch eine weitere, damit zusammenhängende Auffassung poetischer Rede sollte ihren Weg in die Moderne finden, etwa zu Mallarmé, zu Valéry, zu Musil und Hofmannsthal: Nicht allein, dass die Sprache der Poesie ihre eigenen Massstäbe besitzt — sie ist dem ausserpoetischen Sprachgebrauch sogar überlegen, da sie auf komplexere Dimensionen der Wirklichkeit verweist, während letzterer an der Oberfläche bleibt.
Der Vergleich zwischen Wortsprache und ›anderen Sprachen‹ Zur Erfassung des Wesens von Sprache, ihrer Leistungen und Unzulänglichkeiten, wird diese vorzugsweise von ihren Grenzen her in den Blick genommen, also mit anderen ›Sprachen‹ als der der Wörter verglichen. Dabei konstatierten die Romantiker teilweise unüberwindbare Differenzen, teilweise hielten sie den Wörtern die nonverbalen Ausdruckszeichen aber auch als Muster vor. Als Vergleichsrelate boten sich zunächst Gesten, Mienen und andere ›natürlichen‹ Ausdrucksformen lebendiger Wesen an; die englische, französische und deutsche Vorromantik hatte diesen Weg ja bereits gewiesen. In Anknüpfung an die Aufwertung des Gestischen bezeichnete Friedrich Schlegel in einem Athenaeumsfragment die »ganze Poesie« als »pantomimisch«. Darüberhinaus wurde die Wortkunst mit anderen Künsten verglichen, vor allem mit den bildenden Künsten. Dass die Poesie ›male‹, ist auch Jahrzehnte nach Lessing noch ein feststehender poetologischer Topos. Und Jean Paul differenziert in seiner Vorschule (§ 16) zwischen der »plastischen« Poesie der Griechen, also der Antike, und der der »Neuen«, welche er »romantisch« und »musikalisch« nennt. In Wilhelm Heinrich Wackenroders (1773–1798) Aufsatz Von zwei wunderbaren Sprachen, und deren geheimnisvoller Kraft, einem wichtigen Zeugnis frühromantischer Poetik aus den Herzensergiessungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796), wird die Wortsprache zwar als »eine grosse Gabe des Himmels«, als wohltätiges Geschenk des Schöpfers an die Menschen und als Medium der Herrschaft »über den ganzen Erdkreis« charakterisiert, aber auch als unzulänglich für die Erfassung des Wichtigsten, worum es der menschlichen Seele geht: »das Unsichtbare, das über uns schwebt, ziehen Worte nicht in unser Gemüt herab«. Zwei andere »wunderbare Sprachen« hingegen verweisen auf das Transzendente, so dass sich die Wortsprache an ihnen bemessen lassen muss: Die als Ausdruck und Offenbarung Gottes begriffenen Naturerscheinungen und die wortlose Sprache der Kunst. Neben der ›Sprache‹ der bildenden Kunst ist es, zumal in den späteren Phantasien über die Kunst von Wackenroder und Ludwig Tieck, die ›Sprache‹ der Tonkunst, welche als Medium des Spirituellen gegen die der Wörter ausgespielt wird. Die Musik scheint dem Reich der Empfindungen, der vorbegrifflichen und unkörperlichen inneren Regungen sowie dem Transzendenten, näher zu stehen als das Wort. Töne begrenzen nicht, sie entgrenzen, und sind daher dem Inneren, das sich keiner Begrenzung fügen möchte, eher adäquat als jede andere Bekundungsform. Mensch und Ton gelten Ritter als »durchaus gleich unerschöpflich und gleich unendlich in ihrem Werk und Wesen« (Fragmente). Ritter setzt das Wesen des Menschen sogar mit »Ton« und »Sprache« gleich, nennt Musik die erste und allgemeine Sprache des Menschen. Der Gehörssinn sei, so Ritter, »der einzige allgemeine, der universelle Sinn«; es gebe »keine Ansicht des Universums ganz und unbedingt, als die akustische« (Fragmente). Die daraus abgeleitete Analogisierung poetischer Sprache mit der
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Musik, welche mit der These von der ›Musikalität‹ ursprünglicher Sprechweisen eng verknüpft ist, kann als zentraler romantischer Topos gelten; um das ›Musikalische‹ als Ausdrucksmedium und als Bekundungsform des Übersinnlichen geht es bei allen wichtigen Dichtungstheoretikern der Romantik. Die Akzentuierungen des Verhältnisses von Wort und Klang fallen dabei jedoch unterschiedlich aus — ebenso wie die Beurteilung des Verhältnisses von Vokal- und Instrumentalmusik, das eine Generation zuvor bereits Rousseau zu einer Erörterung veranlasst hatte. Novalis setzt jene imaginäre ursprünglich-beschwörende Sprache, die für ihn die eigentlich poetische ist, mit dem Gesang gleich. »Ihre Aussprache«, so heisst es in den Lehrlinge zu Sais (über die heilige Sprache einer verlorenen Zeit, in welcher Irdisches und Überirdisches noch nicht geschieden waren und die Weisen noch um heilige Dinge wussten) »war ein wunderbarer Gesang, dessen unwiderstehliche Töne tief in das Innere jeder Natur eindrangen und sie zerlegten. Jeder ihrer Namen schien das Loosungswort für die Seele jedes Naturkörpers«.13 Das Leben des Universums habe sich in solchem Gesang ausgedrückt: »Mit schöpferischer Gewalt erregten diese Schwingungen alle Bilder der Welterscheinungen«.14 Für Jean Paul steht die Musik vor allem dem Reich der Empfindungen nahe — und jener Welt körperloser Geister, in welche der Mensch nach dem Tod eingeht. Darum betont er eher die Wortlosigkeit und Sprachferne der Musik sowie die Inkommensurabilität des Wortes an musikalisch-expressive Ausdrucksmittel; ein massgeblicher Grenzwert zur vergleichenden Beurteilung der Sprache bleibt das Reich der Töne aber gleichwohl. E. T. A. Hoffmann (1776–1822) thematisiert Musik in erster Linie als Artikulationsmedium des Irrationalen und Numinosen. Weitere Belege für die Hochschätzung der Ton-›Sprache‹ finden sich auch bei Friedrich Schlegel, Tieck, Bernhardi, Schopenhauer und anderen Autoren. Dass die Sprachästhetiker verstärkt ihr Augenmerk der klanglichen Dimension poetischer Texte zuwandten, nimmt sich nicht zuletzt wie der Versuch einer ›Musikalisierung‹ des Wortes aus. In Brentanos Lyrik verselbständigte sich gelegentlich die klangliche Dimension der Poesie so weit, dass hier — und nicht auf der Ebene eines nachvollziehbaren Sinnes — der Zusammenhang und die Motivation des Textes zu suchen ist. Verglichen wurde die Wortsprache ferner mit den mathematischen Chiffren; die ›Sprache‹ der Mathematik galt schon Franz Hemsterhuis (1721–1790) als vorbildhaft, weil sie gänzlich Produkt und Ausdruck des Geistes sei (Lettre sur l’homme et ses rapports, 1772). Novalis begriff die Zahlen als »Erscheinungen, Repräsentationen, katexochen«; in den mathematischen Formeln spiegle sich die Welt selbst, und zwischen Mathematik und Magie bestehe ein innerer Zusammenhang: »die Mathematik ist ein schriftliches Instrument, was noch unendlicher Perfektion fähig ist, ein Hauptbeweis der Sympathie und Identität der Natur und des Geistes.«15 Mit seiner Analogisierung von Sprache und Mathematik beschritt Novalis einen Sonderweg der romantische Sprachreflexion, auch wenn sich ansatzweise verwandte Vorstellungen bei Ritter finden und Friedrich Schlegel, ähnlich wie Novalis selbst, gern mathematische Zeichen als Kürzel in seine eigenen Aufzeichnungen einflocht. Romantische Dichtung orientierte sich ferner, zumal bei
13. Novalis, Schriften, Bd. I, S. 106. 14. Ibid. 15. Zur Bedeutung der Mathematik bei Novalis vgl. Fiesel, Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik, op. cit., S. 32 f.
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Novalis, explizit am Ideal magischer Sprachpraxis: Ersehnt wurde das Wort, in dem das Wesen der Dinge selbst beschlossen liegt und mittels dessen es beschworen werden kann. »Denken ist Sprechen. Sprechen und Tun oder Machen sind Eine, nur modifizierte Operation. Gott sprach, es werde Licht, und es ward« — so Novalis. Und eine Notiz Franz Baaders zu Saint Martins Le Nouvel Homme lautet: »Namengeben ist, seine Macht in etwas zu senken. Rufen beim Namen ist solches erwecken.«16 Mathematik und Musik schienen in mehr als einer Hinsicht verwandt: Als autonome Formensysteme und als ›Sprachen‹, in denen kein Abgrund Signifikanten und Signifikate voneinader trennt. Wie die mathematischen Gegenstände identisch sind mit der sie ausdrückenden Formel, so ist das Zauberwort mit dem jeweils Benannten innerlich verbunden. Der menschlichen Wortsprache war dagegen seit der Antike ihre Konventionalität und Ferne zu den Signifikaten als Defizit vorgehalten worden; das ›blosse‹ Wort erreicht diesem Gedanken zufolge das jeweils Bezeichnete nicht und hat keine Macht über dieses. A. W. Schlegel charakterisiert die ersehnte Sprache, in welcher der Geist selbst sich offenbaren könnte, im Gegenzug zu jenen sprachkritischen Gedanken als »wahre Magie, wo durch die Hilfe unbedeutend scheinender Zeichen die furchtbarsten Geister gebannt werden« und als »Handhabe für das Universum« (Berliner Vorlesungen, 1801–1803).17 Im sogenannten ›magischen Idealismus‹ des Novalis werden alle realen Beschränkungen der poetischen Produktivität aufgehoben, und Traum- und Märchenwelten, in denen das Wort gebietet, poetisch antizipiert. Eine Definition, so Novalis, sei »ein realer oder generierender Name«, die »reale Definition« sei »ein Zauberwort«. Programmatisch klingt auch die Notiz: »Jedes Wort ist ein Wort der Beschwörung. Welcher Geist ruft — ein solcher erscheint.«18 Poetologisch umgeformt erscheint hier die logosmystische Grundidee vom Ursprung der Welt selbst aus dem Wort. Doch das ›magische‹ Wort ist nur das ideale Gegenstück zur tatsächlichen Sprache, deren Beschränktheiten und Bedingtheiten von anderen Autoren immer wieder reflektiert wurde. Eine weiteres wichtiges Vergleichsrelat zur Charakteristik der Wortsprache war die als ›Sprache‹ interpretierte Totalität der Dinge selbst. Novalis bezeichnete die Welt selbst als einen »Universaltropus des Geistes — Ein symbolisches Bild derselben«.19 Die Naturphänomene galten romantischen Dichtern und Naturforschern, neben Novalis etwa dem Physiker Ritter, als eine Totalität von bedeutsamen Chiffren, als sprachanaloge Manifestationen des schöpferischen Logos. An diesem Universum göttlicher Zeichen musste sich die Wortsprache bemessen lassen. Zwar konstatierten die Theoretiker der Natur-›Sprache‹ eine tiefe Spaltung zwischen deren Chiffren und den Zeichen der Menschen, doch sahen sie in der Natur-›Sprache‹ gleichwohl den transzendentalen Grund jeder, auch der Wortsprache. So galt es als höchste Aufgabe des menschlichen, zumal des dichterischen Wortes, die vom Logos durchwaltete Natur in die Wortsprache zu ›übersetzen‹. »Reden ist übersetzen — aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heisst, Gedanken in Worte, — Sachen in Namen, — Bilder in Zeichen«, so
16. Vgl. dazu Fiesel, op. cit., S. 13. 17. Vgl. dazu Fiesel, op. cit., S. 9. 18. Novalis, Schriften, op. cit., Bd. II, S. 523. 19. Ibid., S. 600.
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ein Leitgedanke Hamanns (Æsthetica in nuce).20 Letztlich ist demnach jedes sinnvolle Wort »Übersetzung« aus einer göttlichen Ursprache, auch wenn diese dem sprechenden Menschen niemals ganz verständlich sein mag. Dass in der romantischen Dichtung jenes Konzept einer ›sprechenden‹, wenngleich verrätselten Natur eine so zentrale Rolle spielte (beispielsweise bei Wackenroder und Tieck, Brentano, Eichendorff, Hoffmann und Jean Paul), erklärt sich aus dem Bestreben, dem Wort selbst in der Natur-›Sprache‹ einen »Grund« zu verschaffen. Auf jenen transzendentalen Sinnursprung sich beziehend, hätte die Sprache Anteil an einer überzeitlichen Wahrheit göttlicher Provenienz.
Plädoyers für sprachliche Vielfalt und Besonderheit Schon Francis Bacon hatte einen inneren Zusammenhang zwischen dem Bau und den Ausdrucksmitteln einzelner Nationalsprachen und dem jeweiligen Geist der Sprecher unterstellt. Leibniz’ Deutung der Sprache als Spiegel des Verstandes war damit gut vereinbar gewesen. Dem Thema Sprache und Mentalität widmete das 18. Jahrhundert eine Fülle von Abhandlungen. Je ausgeprägter das Selbstbewusstsein der Einzelnationen, desto grösser die Neigung, auf der Eigenständigkeit und dem spezifischen Geist ihrer jeweiligen Sprache zu beharren. Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) unterstreicht die Abhängigkeit der »Denkungsart« von der Sprache in seiner Gelehrtenrepublik (1774). Die Aufwertung der Vielfalt gegenüber der Einheitlichkeit, der Fülle gegenüber dem verbindlichen Kanon, des Eigenartigen und Charakteristischen gegenüber dem Allgemeinen prägt auch die Beurteilung der Einzelsprachen. Die »Idiotismen« der unterschiedlichen Nationalsprachen und Dialektregionen werden als charakteristische Ausdrucksformen des nationalen bzw. regionalen Geistes begrüsst. Von Seiten der gerade entstehenden empirischen Sprachwissenschaft findet diese Auffassung durchaus ihre Bestätigung, da man hier ja vor allem an den Interferenzen zwischen jeweils besonderem »Sprachbau« und historisch-kulturellen Gegebenheiten interessiert ist. Nationalbewusstsein artikuliert sich vorzugsweise als Sprachbewusstsein. Den Besonderheiten etwa der deutschen Sprache gegenüber der französischen gelten bei Jean Paul zahlreiche Einzelbeobachtungen, und auf der Basis seiner Überzeugung, jedes einzelne Volk sei ein besonderes »klimatisches Organ der Poesie« (Vorschule, § 21), das sich nicht auf ein allgemeines System reduzieren lasse, ermutigt er zu jeder sprachlich sich manifestierenden Eigenart des Denkens, des Ausdrucks, der Gestaltung. Das Sensorium romantischer Sprachästhetiker für die Wechselbeziehungen zwischen Nationalsprache und nationalem Geist war vor allem in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts natürlich auch vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Bedingungen (Nachwirkungen der französischen Revolution, Napoleonische Kriege ab 1803, Freiheitskriege 1813–1815) zu sehen; so akzentuiert Jean Paul die charakteristischen Differenzen zwischen der sprachlichliterarischen Kultur Deutschlands und Frankreichs, spricht den Franzosen grössere rhetorische Talente, den Deutschen dagegen eine ausgeprägtere Inklination zum poetischen Medium zu. Auch in Germaine de Staëls (1766–1817) vielgelesenem Buch De l’Allemagne (1810 / 1813)
20. Hamann, Johann, Georg, Werke, Nadler, Josef (ed.), Wien 1949 ff., Bd. II, S. 199.
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sollte diese Gegenüberstellung eine Rolle spielen, und zwar, wie ansatzweise bereits bei Jean Paul, vor allem im Hinblick auf die (angeblich) jeweils charakteristische Redepraxis der beiden Nationen: Die Beziehung der Franzosen zur Sprache wäre demnach durch grössere Leichtigkeit, aber auch Leichtfertigkeit geprägt, durch den souveränen Einsatz rhetorischer Mittel zu praktischen und geselligen Zwecken, während der Sprachgebrauch des Deutschen als skrupulöser, ernsthafter, tiefsinniger gilt; der ›tiefe‹, aber auch etwas schwerfällige Deutsche ist redend eher um Wahrhaftigkeit bemüht als um Effekte. Auch Johann Gottlieb Fichte (1762–1814, Reden an die deutsche Nation, 1807 / 08) hatte jenen Grundzusammenhang zwischen Mentalität und Sprechpraxis bekräftigt. Mit der Ermutigung der Völker zu charakteristischem Sprachgebrauch geht es auch ihm um das Bekenntnis zur jeweils spezifischen Denk- und »Vorstellungsart«. Entsprechendes gilt schon für Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819), Klopstock, Herder und diverse romantische Dichter. Anders als in Frankreich, wo in der Nachfolge rationalistischer Sprachideen die Normierung von Sprache und die Vereinheitlichung ihres Gebrauchs nach wie vor als ein auch für die Dichtung massgebliches Desiderat erschien, betrachtete man in Deutschland die Vielfalt an sprachlichen Formen innerhalb eines Idioms eher als Reichtum, die Orientierung an einem allgemeinen Stilideal hingegen als Einengung der individuell-persönlichen und künstlerischen Produktivität. Sprache wurde von einzelnen Theoretikern wie Jean Paul und Novalis sogar als privilegiertes Medium individuellcharakteristischer Selbstmitteilung begriffen, und den »Idiotismen« des jeweils einzelnen Sprechers kam dabei besondere Bedeutung zu. »Jede Menschenseele hat ihr eigenes Idiotikon« (Jean Paul: Der Jubelsenior, 1797).21 Vor allem das ausgeprägte Interesse des späten 18. Jahrhunderts an der Individualität von Charakteren bedingte solche Aufmerksamkeit auf Aspekte der individuellen Diktion. Georges de Buffons (1707–1788) Diktum, der Stil sei der Mensch selbst, wurde von der romantischen Poetik vor allem auf den Dichter gemünzt. Es galt, eine ›charakteristische‹ Schreibart auszubilden. Ausserdem bildete die Überzeugung von der individuellen Überformung des allgemeinen Reservoirs sprachlicher Ausdrucksmittel das spekulative Fundament dafür, dass innerhalb literarischer Werke die einzelnen Personen durch ihre jeweilige Sprechweise charakterisiert werden konnten. Wie jemand spricht, verrät vieles über seine Eigenart und ist wichtige Grundlage für Sympathien oder Antipathien des Lesers. Programmatische Bemerkungen zur Diktion als Kennzeichen literarischer Gestalten finden sich bereits in Johann Georg Sulzers (1720–1779) vielgelesener Allgemeinen Theorie der schönen Künste (1771–1774). Im Zeichen des wachsenden Interesses an den Nationalsprachen als Ausdrucksformen des ›Volksgeistes‹ standen auch diverse — teilweise merkwürdige — Projekte zur Sprach-›Reinigung‹, ›Bereicherung‹ oder Vereinheitlichung. Über die Frage, wie legitim es überhaupt sei, in den Sprachstand gezielt einzugreifen, bestand kein allgemeiner Konsens; kurioserweise unterstützte ausgerechnet Jean Paul die ›Reinigungs‹-Ideen des zweifelhaften Sprachmeisters Christian Heinrich Wolke (1741–1825), obgleich er an anderer Stelle konstatiert, die »Reinigkeit« einer Sprache sei ihrem »Reichtum« abträglich. Jean Pauls besondere Energie galt der »Ausrottung« des sogenannten »Misston-S« in den deutschen »Doppelwörtern« (Komposita).
21. Jean Paul, Werke, op. cit., Abt. I, Bd. 4, S. 432.
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Auch einzelne Sprachwissenschaftler glaubten, ihre Sprache durch kritische Eingriffe bessern zu oder die lautlich »verarmte« Gegenwartssprache nach dem Vorbild früherer, klangvollerer Sprachstufen verbessern zu können. Wie ein allgemeines Programm liest sich die Feststellung des Novalis: »Unsre Sprache — sie war zu Anfang viel musicalischer und hat sich nur nach und nach so prosaisirt — so enttönt. (…) Sie muss wieder Gesang werden.«22 Dennoch dominierte im allgemeinen das Misstrauen gegenüber solchen Reformansätzen, weil diese eine instrumentelle Haltung implizieren und die Geschichtlichkeit sprachlicher Phänomene hintansetzen. Hamann protestiert in seiner Neuen Apologie des Buchstaben h (1773) vehement gegen den Versuch des Wolffianers Christian Tobias Damm (1699–1778), die Orthographie den Normen der Aussprache zu unterwerfen, um sie zu vereinheitlichen. Jeder Eingriff in die historisch gewachsene Verfasstheit der Sprache erscheint Hamann als Sakrileg — ganz abgesehen davon, dass er sich mit keinem sachlichen Argument rechtfertigen lasse. Jacob Grimm (1785–1863) als avanciertester Repräsentant romantischer Sprachwissenschaft sprach sich Jahrzehnte später dezidiert gegen jeglichen normativen Umgang mit Sprache aus. Bei allen sprachutopischen Ideen, wie sie in poetischen und ästhetischen Werken dieser Epoche entwickelt werden, kann es doch, zumindest aus der Sicht der deutschen Romantiker, keine universale ›Ideal‹-Sprache geben, denn Reiz und Wert eines Idioms resultieren ja aus seiner jeweiligen Besonderheit, die auf kein Allgemeines zu reduzieren ist. ›Ideal‹ wäre vielmehr die Sprache, die vielfältige und unendlich erweiterbare Ausdrucksmöglichkeiten böte, die dem Benutzer einen unerschöpflichen Fundus an Klängen, Formen, Bildern zu Gebote stellte. Je grösser die Auswahl an Synonymen, an Ausdrucksformen, Bildern, Metaphern, desto subtiler und bedeutsamer die jeweilige Aktualisierung; eine Sprache, die den Benutzer nicht determiniert, bildet das notwendige Fundament jeder Individualisierung.
Die poetische Ansicht der Welt als Produkt sprachlicher Synthesen Zwischen traditionellen und innovatorischen Konzepten bestand im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert vor allem im Bereich der Metapherntheorie eine deutliche Spannung. Georg Wilhelm Friedrich Hegel begreift die Metapher als »bloss« rhetorisches Phänomen und kritisiert sie als uneigentliche und letztlich verfremdende Ausdrucksweise: »Die Metapher (…) ist immer eine Unterbrechung des Vorstellungsganges und eine stete Zerstreuung, da sie Bilder erweckt und zueinanderstellt, welche nicht unmittelbar zur Sache und Bedeutung gehören und daher ebensosehr auch von derselben fort zu Verwandtem und Fremdartigem herüberziehen.«23 Demgegenüber stand die romantische Auffassung vom wahrheitsgemässen und offenbarenden Charakter der Metapher. Zwischen deren »Bilder«-Sprache und der Erscheinungswelt selbst wurde eine Analogie konstatiert. Die Natur rede, so heisst es etwa bei Friedrich Schlegel, der die poetische Ausdrucksweise damit auf typisch romantische Weise in einer »anderen«, auf »natürliche« Weise bedeutsamen »Sprache« zu begründen sucht, »in ihrer stummen Bilderschrift eine Sprache; allein sie bedarf eines erkennenden Geistes, der den Schlüssel hat und zu brauchen
22. Novalis, Schriften, op. cit., Bd. III, S. 283 f. 23. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Ästhetik, Bassenge, F. (ed.), Frankfurt 1955, Bd. I, S. 395.
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weiss, der das Wort des Rätsels in dem Geheimnis der Natur zu finden versteht, und statt ihrer, das in ihr verhüllte innere Wort laut auszusprechen vermag, damit die Fülle ihrer Herrlichkeit offenbar werde.« (Philosophie der Geschichte, Erste Vorlesung)24 Als Medium solch entschlüsselnder Aussprache begreift sich natürlich vor allem der poetische Text; er erhebt ja Anspruch darauf, das Wesen der Dinge selbst übersetzend zu enthüllen. Als wichtige Möglichkeitsbedingungen dafür gelten nun insbesondere die vom Status blosser Stilmittel freigesprochenen Metaphern, Symbole und Allegorien. Auch wenn den einzelnen Bedeutungsvarianten jener Begriffe hier nicht nachgegangen werden kann (die Diskussion um Symbol und Allegorie ist aufschlussreich für das Selbstverständnis vorromantischer und romantischer Dichtung),25 so ist doch festzuhalten, dass sich gerade in der Romantik, und hier vor allem bei den Dichtungstheoretikern mit ihrer Bemühung um eine Charakteristik des poetischen Sprachgebrauchs, sprachtheoretische Reflexionen aufs engste mit ästhetischer Reflexion über Metapher, Allegorie, Symbol und Bild verbanden. Die These vom fundamental-metaphorischen Charakter aller Sprache lieferte der poetologischen Metapherntheorie ein stabiles Fundament. Jedes Idiom sei, so die von Vico, Herder und Hamann inspirierte Überzeugung Jean Pauls, »ein Wörterbuch erblasseter Metaphern« (Vorschule, § 50). Metaphorischer Vermittlung bedarf einem alten theologisch-mystischen Konzept zufolge vor allem das Übersinnliche, das Transzendente und Göttliche. In der theoretischen Spekulation über die Bedingungen solcher Vermittlung besteht übrigens schon terminologisch kein Konsens; nahe aneinander grenzen wiederum die (andererseits auch oftmals programmatisch gegeneinander abgesetzten) Begriffe der Metapher, der Allegorie und des Symbols, ja der vieldeutige Begriff des »Bildes« selbst. Die alte Auffassung, dass die ursprungsnahen und darum ausdrucksvolleren Sprachen sich durch einen hohen Grad an Bildhaftigkeit gegenüber den abstrakteren Idiomen der Neuzeit positiv auszeichneten, wurde von der romantischen Dichtung zur Prämisse genommen, aber um eine Dimension erweitert: Das »endliche« Bild soll auf Unendliches verweisen. Der poetische Sprachgebrauch hätte demnach eine doppelte Intention zu verfolgen: Es gälte erstens, dem Leser im sprachlichen Medium möglichst »anschauliche« Vorstellungen zu vermitteln, vor seiner Einbildungskraft also möglichst plastische Sinneseindrücke erstehen zu lassen. Zweitens aber sollen jene evozierten Phänomene gerade durch ihre sprachliche Präsentation auch als Bedeutungsträger transparent gemacht werden und so mittelbar jenes Übersinnliche vermitteln, das sich jeder direkten Darstellung entzieht. Das Höchste könne man, so Friedrich Schlegel, »eben weil es unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen« (Gespräch über die Poesie, 1800).26 A. W. Schlegel bevorzugt den Begriff des Symbolischen: Wie kann das Unendliche auf die Oberfläche, zur Erscheinung gebracht werden? Nur symbolisch, in Bildern und Zeichen. Die unpoetische Ansicht ist die, welche mit den Wahr-
24. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Behler, Ernst (ed.) et alii, München /Paderborn /Wien /Zürich 1958 ff., Bd. IX, S. 30. 25. Vgl. Sörensen, Bengt-Algot, Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts und der deutschen Romantik, Kopenhagen. 26. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, op. cit., Bd. II, S. 324. In der Variante einer Werkausgabe von 1823 steht hier statt »allegorisch«: »symbolisch«.
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Monika Schmitz-Emans nehmungen der Sinne und den Bestimmungen des Verstandes alles an ihnen für abgetan hält; die poetische, welche sie immerfort deutet und eine figuerliche Unerschöpflichkeit in ihnen sieht. (…) Dichten (…) ist nichts anderes als ein ewiges Symbolisieren. (II 81 f.)
Die Theorie des bedeutsamen sprachlichen ›Bildes‹ verband sich nun ihrerseits aufs engste mit der Diskussion über die ›Bedeutsamkeit‹ der natürlichen Erscheinungen selbst. Zwei unvereinbare Grundauffassungen metaphorischer Rede kollidierten in der romantischen Poetik miteinander, freilich nicht immer in Reinkultur formuliert und oft sogar nacheinander von einem und demselben Autor vertreten. Der ersten zufolge ist die Erscheinungswelt an sich bedeutsam, eben eine »Sprache Gottes«, und wer sprechend Phänomene evoziert, gestaltet notwendig »bedeutsame« Bilder. Die poetischen Metaphern gelten als »Übersetzungen« einer an und für sich metaphorisch verfassten Wirklichkeit, ihr Sinn ist transzendent abgesichert. Anders gesagt: Metaphern sind »wahr«, weil die göttliche Schöpfung selbst »metaphorisch« ist. Und selbst wenn der Dichter nach neuen Formen des metaphorischen Ausdrucks von Spirituellem sucht, so besitzen seine Metaphern aber doch eine Analogie zu jenem Universum von Metaphern, welches die Schöpfung darstellt. Das metaphorische Wort erschliesst diese »Geisterinsel« einer sprechenden Welt, denn Metaphern sind »Sprachmenschwerdungen der Natur« (Jean Paul, Vorschule, § 49). A. W. Schlegel betont, dass die poetische Sprache eine »dichterische Weltansicht« vermittle, in der die Phantasie herrsche (II 226). Zwischen den »Hieroglyphen« der Welt und denen der Sprache besteht für ihn ein Spiegelungsverhältnis. Universalsemiotisch argumentieren die romantischen Ästhetiker auch dort gern, wo weniger an die bildhaft-anschauliche Vermittlung von Übersinnlichem gedacht ist als an Zeichenbezüge innerhalb der Immanenz, der Erscheinungswelt, wo ein Ding als Zeichen für andere betrachtet werden kann. In der sprachlichen Metaphorik wird etwa Jean Paul zufolge eben der Verweisungszusammenhang explizit gemacht, welchen die Erscheinungen untereinander immer schon besitzen. »So wie es kein absolutes Zeichen gibt — denn jedes ist auch eine Sache —, so gibt es im Endlichen keine absolute Sache, sondern jede bedeutet und bezeichnet« (Vorschule, § 49). Diese Metaphernlehre klingt ›säkularer‹, unterstellt aber wiederum eine Analogie zwischen Natur und Sprache. Als Beleg seiner Auffassung von der ›natürlichen‹ Fundierung metaphorischer Ausdrücke führt Jean Paul deren (angebliche) Universalität an: »Die Metaphern aller Völker (…) gleichen sich, und keines nennt den Irrtum Licht und die Wahrheit Finsternis.« (Vorschule, § 49) Mit solcher Begründung der sprachlich-poetischen Metaphern in einer an sich ›metaphorisch‹ verfassten Welt der Signifikate kollidiert ein gänzlich anderer Ansatz. Diesem zufolge wären es nämlich überhaupt erst die Sprache und ihre Benutzer, welche jene Verweisungsbezüge stiften. Wenn ein Phänomen zum Zeichen für etwas Nichtsinnliches oder für ein anderes Phänomen wird, so ist es demnach allein das darstellend-interpretierende Wort, welche ihm seine Bedeutung verleiht. Das sprachfähige menschliche Subjekt schreibt den Dingen ihren ›Zeichen‹Charakter zu; nicht Gott, sondern der Mensch tritt als ›Autor‹ des Welt-Textes auf. Auch so gesehen, hat das Wort ›magisch‹-verknüpfende Kraft: Alles kann zum Zeichen für alles werden, wenn es nur mit sprachlichen Mitteln und als Bestandteil von Kontexten auf etwas anderes als sein ›Signifikat‹ bezogen wird. Diese Auffassung ist mit der Deutung von Sprache als transzendentale, also als wirklichkeitskonstitutive Instanz besonders gut kompatibel. Einzelne romantische Sprachtheoretiker wie Jean Paul antizipierten im Ansatz die Überzeugung späterer Sprachphilosophen, dass die Wörter allein — und zwar vor allem durch ihren metaphorischen
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Gebrauch — jeglichen Zusammenhang in der Welt begründen. Aber nicht nur Metaphern und Vergleiche dienen der produktiven poetischen Verknüpfung heterogener Dinge, sondern etwa auch Wortspiele, bei denen der an sich zufällige Wortklang zur spielerischen Kombination der Signifikate provoziert. Der »wahre Reiz des Wortspiels« besteht für Jean Paul im »Erstaunen über den Zufall, der durch die Welt zieht, spielend mit Klängen und Weltteilen« (Vorschule, § 52). Solcher Zufall bewirke im Reich der Dinge eine »wilde Paarung ohne Priester«, die durch das Medium der Sprache vollzogen werde. Die Wirklichkeit organisiert sich also, indem sie beschrieben wird; sprachliche Mittel suggerieren Zusammenhang und Ordnung im an sich Zusammenhanglosen und Ungeordneten, sie etablieren Gesetzlichkeiten in einer Welt, die kein absolutes Gesetz kennt. Durch die Wörter alles mit allem zu einem neuen »Kontext« verknüpfen zu können, bedeutet insofern einerseits, den Sprachbenutzer zur Willkür zu ermächtigen; die im sprachlich-metaphorischen Medium ausgelegte Wirklichkeit selbst kann als Produkt solcher Willkür interpretiert werden. Andererseits emanzipieren sich erst hier Poesie und Sprache radikal von ihrer dienenden Funktion als blosse Darstellungsmedien einer ihnen vorgängig gedachten Realität. Was ›wirklich ist‹, legen die Beschreibungen fest — wobei die Romantiker in erster Linie an poetische Beschreibungen dachten und nicht an wissenschaftliche. Bei der Formulierung jenes Gedankens sprachlichbedingter Welt-Synthese bleiben allerdings auch die fortschrittlichsten Sprachtheoretiker noch vorsichtig. Jean Paul vergisst anlässlich seiner Bemerkungen über Wortspiele nicht zu erwähnen, dass (angeblich) einst die Namen den Dingen nachtönten, so dass auch dem Spiel mit Sprachklängen ein — wenngleich geringfügiger — Rest an sachgegründeter »Wahrheit« anhafte: Es stehe »einige Ähnlichkeit der Sachen bei der Gleichheit ihres Widerhalles zu erwarten« (Vorschule, § 52). Auch A. W. Schlegel bleibt zwiespältig; er neigt einerseits dazu, der poetischen, sprich: symbolischen »Ansicht der Dinge« eine tiefergehende Wahrheit zuzuschreiben, andererseits erkennt er doch die transzendentale Produktivität des sprachfähigen Subjekts als eigentliches synthetisierendes Vermögen an: »wir suchen (!) entweder für etwas Geistiges eine äussere Hülle oder wir beziehen ein Äusseres auf ein unsichtbares Inneres« (II 82). Die beiden skizzierten divergenten Konzepte der sprachlichen Metapher stehen übrigens in einer gewissen Korrespondenz mit der vieldiskutierten Dichotomie vom ›Symbol‹ und ›Allegorie‹, insofern die deutsche Klassik das Symbol als eine mit ihrer Bedeutung innerlich verbundene Chiffre, die Allegorie dagegen als ein willkürliches und von Setzungen abhängiges Zeichen versteht. Vertrat Goethe eine »symbolische« Ansicht der Dinge, so erscheinen aus heutiger Sicht die avancierteren Romantiker als »Allegoriker«. Sie betrachteten schreibend oft die Erscheinungswelt als gefügigen Fundus an Chiffren, spielten mit deren Bausteinen, die zu »Texten« zusammengesetzt werden wie die Lettern des Alphabets. Oft erscheinen Metaphern, Allegorien und Bilder daher bewusst kunstvoll und konstruiert. Im übrigen verband sich das Interesse des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts an der Metaphorik auch mit anthropologischen und wahrnehmungspsychologischen Reflexionen. So wiesen diverse Metapherntheoretiker seit Hamann auf die Analogien zwischen der Doppelstruktur der Metapher (die ja ›Bild‹ und ›Bedeutung‹, ›Körper‹ und ›Geist‹ synthetisiert) und der sinnlich-spirituellen Doppelnatur des Menschen hin. Indem der Metaphoriker körperliche Erscheinungen als Bedeutungsträger interpretiert, statuiert er eine Analogie zwischen diesen Erscheinungen und seinem eigenen Körper, an dem ja auch alles ›Ausdruck‹ und virtuelles Medium von Bedeutung ist. Bernhardi fasst die Metapher in diesem Sinne auf:
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Monika Schmitz-Emans Betrachten wir die Sprache als Allegorie unseres Wesens, als Spiegel und Bild von uns selbst, so liegt die Idee sehr nahe, dass es nur eine scheinbare Trennung sei, wenn wir die Welt in die sinnliche und unsinnliche zerschneiden, sondern dass eine die andere nur reflektiere, und dass ein geheimes Band zwischen beiden sei, welches die Sprache durch die Metapher ausdrückt und nach dessen Entdeckung die Philosophie von jeher strebte, ohne es jedoch, als seit kurzem, aufzufinden (Sprachlehre, 1801 / 1803).27
Sprache ermöglicht und bezeugt die Assimilation der aussermenschlichen Natur an den Menschen; so drückt sich in der Sprache die Inklination der Sprecher aus, Natur zu vermenschlichen: Die Sonne hat für den ein Gesicht, der selbst ein Gesicht hat, die Natur sagt dem etwas, der selbst sprechen kann. »(…) alles lebt den Lebendigen«, so Jean Paul (Vorschule, § 3) in Anknüpfung an ähnlichlautende Bemerkungen Herders. Zeichen, Analogien, Verweisungen werden von jemandem wahrgenommen, der sie selbst zu produzieren vermag. Auf die Neigung des Menschen, alle Naturerscheinungen zu anthropomorphisieren, hatte zuvor bereits JeanJacques Rousseau (1712–1778) hingewiesen; hier lag für ihn die Wurzel des Polytheismus (Emile, 1762). In sprachphilosophischer Akzentuierung lautet die These: Der Mensch projiziert seine eigene Verfasstheit auf die Welt der Dinge, und sein Hauptmedium ist das Wort. »Wird nicht der Fels ein eigenthümliches Du, eben wenn ich ihn anrede?« — so fragt einer der Lehrlinge bei Novalis.28 Die Reflexion über Sprache, sprachliche Gestaltungsprinzipien und Konstruktionen, dient also nicht zuletzt der Selbstvergewisserung und Selbsterkenntnis des transzendentalen Subjekts von Erkenntnis. In der Auseinandersetzung mit dem Wort begreift der menschliche Geist seine eigenen synthetisierenden Vermögen, seine Fähigkeit, noch das Heterogenste aneinanderzuknüpfen.
Die Frage nach dem Subjekt des Sprechens und nach der Bedeutung von Texten Ein originelles und zugleich sehr modern anmutendes Konzept von Sprache formuliert Novalis in seinem Monolog (1846):29 Hier wird die Sprache selbst zum eigentlichen ›Subjekt‹ der Rede erklärt und das sprechende Ich — gemeint ist vor allem der Dichter — als ein Instrument ihrer Selbstbekundung. Wer sich der Sprache als eines Instruments gemäss seinen eigenen Zwecken und Intentionen bedienen wolle, verfehle deren wahre Natur und werde von ihr ahnungslos hintergangen und genarrt; wer sich hingegen der Sprache anheimstelle, sich deren inneren Impulsen als williges Sprachorgan überlasse, habe Teil an dem in der Sprache selbst beschlossenen, jeden endlichen Verstand überschreitenden Sinn. Ihm erschlössen sich am ehesten die Geheimnisse der Welt, denn wie die Formelsprache der Mathematik, so spiegelten auch die Formeln der Sprache die Harmonie des Weltalls, »das seltsame Verhältnisspiel der Dinge«, selbst. Jedes »rechte Gespräch ist ein blosses Wortspiel«: Nicht der Mensch spielt mit den Wörtern, sondern diese mit ihm. Subjekt der Rede ist nicht der Einzelne, sondern — die Sprache
27. Zitiert nach Fiesel, Eva, Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik, op. cit., S. 16. 28. Novalis, Schriften, op. cit., Bd. I, S. 100. 29. Ibid., Bd. II, S. 672 f.
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selbst. »Die ächte Sanscrit«, so heisst es auch in den Lehrlingen zu Sais (1802), sei kein Instrument der Menschen; sie spreche »um zu sprechen, weil Sprechen ihre Lust und ihr Wesen sey«.30 Wegweisend ist der ›Monolog‹ vor allem mit seiner Deutung der Sprache als »Massstab und Grundriss der Dinge« sowie mit der Charakteristik des Schriftstellers als eines »Sprachbegeisterten«, der seinem »Sprachtrieb« folgen muss. Der Ursprung von Rede und Poesie wird hier in einen Bereich jenseits des bewussten Wollens verlagert. Ausserdem verschiebt sich im Monolog bei der Frage nach der Wahrheit der Sprache von der Betrachtung einzelner Wörter und Laute auf die der sprachlichen Strukturen. Die Analogie zwischen Sprache und Welt erscheint als eine strukturale und energetische. Insgesamt gilt Novalis die sprachimmanente Produktivität als Schlüssel zu den Gesetzmässigkeiten von Natur und Geschichte. Seine zu Lebzeiten unveröffentlichten Notizen und Entwürfe enthalten eine Fülle von Bemerkungen, die um das Thema Sprache kreisen, so auch um eine in Anlehnung an das alte Programm einer Universalcharakteristik imaginierte poetische Universal- und Idealsprache und um die Harmonie zwischen sprachlicher Ordnung und geistiger Welt. Die Ansprüche, welche gerade die romantische Dichtung an die Sprache stellte, werden aber nirgends deutlicher als im Monolog. Doch hinter dessen Reflexionen verbirgt sich noch ein anderes Problem. Galt die Sprache — gerade in ihren jeweils spezifischen Ausprägungen, den Nationalsprachen — den Vorromantikern und Romantikern als Ausdruck des Wesens der Sprachbenutzer, ihrer jeweiligen Denkungsart und spezifischen Erfahrungsweise, so stellte sich doch schon im späten 18. Jahrhundert die schwierige Frage, in welchem Masse sich der jeweils einzelne Sprecher, das Individuum in seiner unverwechselbaren Eigenart, tatsächlich angemessen im sprachlichen Medium zu artikulieren vermöge. Im Hintergrund stand das Problembewusstsein der Spät- und Nachaufklärung; diese begriff das Besondere als irreduzibel auf das Allgemeine, das Individuum als dem ›System‹ antagonistisch, wenn nicht gar feindlich. Wie also soll sich das Individuum mit den Mitteln einer Sprache artikulieren, die doch in erster Linie systematisches Medium ist, die auf einem allgemein verfügbaren Zeichenfundus beruht und deren Grammatik allgemeingültige Regeln enthält? »Der Einzelne ist in seinem Denken durch die (gemeinsame) Sprache bedingt und kann nur die Gedanken denken, welche in seiner Sprache schon ihre Bezeichnung haben«, so Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834). »Ein anderer neuer Gedanke könnte nicht mitgeteilt werden, wenn nicht auf schon in der Sprache bestehende Beziehungen bezogen« (Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, ca. 1805–1833). Erlaubt das Sprachsystem also keine Artikulation von Neuem und Individuellem? Hamann, der auf der Inkommensurabilität des Besonderen beharrt, hatte die drängende Frage nach der Beziehung zwischen Individuum und Sprache mit dem Verweis auf abweichenden und nicht-systemkonformen Sprachgebrauch beantwortet. Der Einzelne geht für ihn nicht im System auf, und das Allgemeine der Sprache kann ihm niemals ganz gerecht werden. Nur in den Fugen des Systems, im Bruch mit der allgemeinen Norm, in der bewussten Verletzung etablierter Konventionen liegt die Chance für das je besondere Ich, auch sprachlich zur Erscheinung zu kommen. Dass sie trotz ihres Systemcharakters offen ist für solche ›Individualisierung‹, erscheint auch den Nachfolgern Hamanns als der grosse Vorzug der Sprache. Erkundet werden gerade in poetischen Texten
30. Ibid., Bd. I, S. 79.
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Ausdrucksmöglichkeiten, welche noch nicht allgemein kodiert sind. Wo der Sprachgebrauch sich individualisiert, dort bildet sich der charakteristische Personalstil als literarische Bekundungsform des Einzelnen heraus. Im ›Individuellen‹ des persönlichen Stils kommt etwas zum Ausdruck, das durch Sprachregeln und allgemeine Normen nicht erfasst und aus ihnen nicht ableitbar ist; der Stil ist ›paralinguistisch‹.31 Die spannungsvolle Beziehung zwischen der allgemeinen Ordnung der Zeichen und der anarchisch-individuellen Komponente des Sprachzeichengebrauchs spielt eine zentrale Rolle auch im Denken Schleiermachers, der keineswegs bei dem Befund von der Bedingtheit des Einzelnen durch die Sprache stehenbleibt. Ihm zufolge besitzt jede sprachliche Äusserung zwei Seiten. Einerseits wird das Sprach-›System‹ als solches aktualisiert, andererseits geschieht etwas je Besonderes und systematisch nicht Begründbares. Letztlich »wird« die Sprache erst »durch das Reden«, den besonderen Gebrauch also (Hermeneutik und Kritik).32 Ein neuer Sprachbegriff zeichnet sich ab, der vom Konzept eines blossen Instrumentariums klar zu unterscheiden ist: Sprache als solche ist nichts Gegebenes, sondern realisiert sich nur in der Sprach-Verwendung. Jeder Artikulation, mündlich oder schriftlich, liegt ein individueller Impuls motivierend zugrunde; die Besonderheit der jeweiligen Aktualisierung sprachimmanenter Möglichkeiten ist unhintergehbar, der einzelne Sprecher durchs System nicht determiniert. Jeder einzelne Sprecher arbeitet an der Sprache mit, auch wenn er seinerseits durch das Regelsystem seiner Sprache geprägt ist: »denn er bringt teils Neues hervor in ihr… teils erhält er das, was er wiederholt und fortpflanzt«.33 Besonderes und Allgemeines sind dialektisch aufeinander bezogen: Das Allgemeine der Sprache individualisiert sich, indem es sich realisiert. Denkbar wird gerade auf der Basis dieser Sprachauffassung auch eine Veränderung, eine Geschichte der Sprache: Zeichenfundus, Syntax, Grammatik und Semantik sind nicht von ahistorischer Konstanz, sondern unterliegen Verschiebungen im Zuge der Assimilation an jeweils besondere und neue Ausdrucksbedürfnisse und -zwecke. Der Gebrauch »uneigentlicher« und ungewöhnlicher Ausdrücke in der Dichtung findet hier seine tiefste Rechtfertigung. Indem der einzelne Sprachbenutzer seine Eigenart und die Besonderheit seiner Erfahrungen sprachlich zu gestalten sucht, wirkt er nicht nur produktiv auf die Sprache ein, sondern verändert, verschiebt und bereichert mittelbar auch die Wahrnehmungs- und Artikulationsmodalitäten einer Gemeinschaft von Sprechern. »Lebendigkeit«, Wandelbarkeit und Geschichtlichkeit der Sprachen und der Sprachgemeinschaften resultieren demnach aus der Subversivität des Individuellen. Auch in Schleiermachers Hermeneutik gewinnt die Kategorie des Individuellen zentrale Bedeutung. Die Notwendigkeit der Hermeneutik ergibt sich aus der Nicht-Allgemeinheit, der »Relativität des Denkens«.34 Texte haben Appellcharakter, sie vermitteln keine festgeschriebene Bedeutung. Novalis lobt eine »herrliche« Bemerkung von Hemsterhuis über »Geist und Buchstaben der Philosophie«, wobei »Buchstabe« ein Ausdruck für das fixierte Textssubstrat ist: »Nach ihm ist der Buchstabe nur eine Hülfe der philosophischen Mittheilung — deren eigentliches Wesen im
31. Vgl. Frank, Manfred, »Wittgensteins Gang in die Dichtung«, in: Frank, Manfred /Soldati, G., Wittgenstein — Literat und Philosoph, Pfullingen 1989, S. 66. 32. Schleiermacher, Friedrich, Hermeneutik und Kritik, Frank, Manfred (ed.), Frankfurt 1977, S. 78 f. 33. Ibid., S. 167. 34. Ibid., S. 410.
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Nach-denken besteht. (…) Die Worte sind ein unzuverlässiges Medium des Vordenkens. Die ächte Wahrheit muss ihrer Natur nach, wegweisend seyn.«35 Vor allem poetische Werke dürfen nicht als »Codierungen« von »Inhalten« gelten, die beim Lesen gleichsam aus ihrer Verpackung ausgewickelt würden; die Interpretation eines Textes stellt keine »Entschlüsselung« nach verbindlichen Regeln dar. Sie kann vielmehr als Neuschöpfung des Textes gelten — und zwar als eine jeweils besondere, an der die Individualität des Interpreten konstitutiven Anteil hat. Dafür, dass dieser sich nicht willkürlich im Bodenlosen bewegt, sorgt seine Anbindung an die Sprache als ein Allgemeines und Gemeinsames zwischen Autor und Leser. Wiederum eignen sich die poetischen Sprachgestaltungen besonders gut als Paradigma; erscheint es doch plausibel, dass sie keinen identischen Sinn besitzen, sondern immer wieder neu und anders gedeutet werden können. Bei der Reflexion über Sprache verschiebt sich der Akzent von der Bezeichnung vorgegebener Signifikate, der Vermittlung entschlüsselbarer Botschaften auf den prinzipell unendlichen Prozess der Kommunikation und Sinnkonstitution. In letzter Konsequenz ist für Schleiermacher, aber auch für Friedrich Schlegel und Novalis, der Leser der eigentliche Autor, das produzierende Subjekt. Zugleich ist kein ›Text‹ je abgeschlossen, keine Aussage je definitiv. Das poetische ›Werk‹ als feste Bezugsinstanz des Interpreten tritt zurück hinter den poetischen ›Prozess‹. Offenkundig ist die Affinität dieses Konzepts von Texten und von sprachlichliterarischer Kommunikation zu Wilhelm vom Humboldts These, Sprache sei primär nicht »Ergon«, sondern »Energeia«. Romantische Dichtung ist insgesamt charakterisiert durch bewussten und dabei gelegentlich durchaus experimentierfreudigen Umgang mit Sprache. Moderne poetische Verfahren wurden von einzelnen Autoren bereits antizipiert, sei es im Spiel mit Klängen, das sich vor allem in der Lyrik gegenüber der Sinnebene des jeweiligen Textes bis zu einem gewissen Grade verselbständigen kann (Brentanos Lyrik weist partiell auf die Lautdichtungen des 20. Jahrhunderts voraus), sei es bei der poetisch-spielerischen Auflösung und Umgestaltung von Zusammenhängen, bei sprachbedingten Verfahren der ›Analyse‹ und ›Synthese‹ von Wirklichkeitspartikeln. Chemische Gleichnisse spielen übrigens bei Novalis eine wichtige Rolle, wenn es um die ›poietische‹ Produktivität des Geistes geht. Theoretische Spekulationen über die ›Ursprünge‹, die einstigen Erscheinungsformen von Sprache oder über die Kriterien eines besonders ›poetischen‹ Sprachgebrauchs bleiben natürlich auch in der poetischen Praxis nicht ohne Konsequenz: Eine ›Musikalisierung‹ der Sprache ist vor allem in der Lyrik zu beobachten; Archaismen und Idiotismen galten nicht als obsolet, vor allem aber kultivierte man Bildlichkeit und Metaphorik. Auch die ironische, doppelbödige Rede wurde von diversen Romantikern geschätzt, und ansatzweise verband sich damit die Einsicht in die latente Doppelbödigkeit und Uneindeutigkeit jeglicher sprachlichen Aussage. In Friedrich Schlegels Athenaeums-Aufsatz Über die Unverständlichkeit (1800) wird das Unverständliche schlechthin affirmativ gesehen und das Eindimensional-Verständliche klar abgewertet; »das Heil der Familien und Nationen« beruhe auf der Unverständlichkeit.36 Was hier über die »unendliche« und unendlich deutbare Welt gesagt wird, gilt natürlich vor allem für die Texte als Gegenstände prinzipiell unendlicher Deutungsanstren-
35. Novalis, Schriften, op. cit., Bd. II, S. 373 f. 36. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, op. cit., Bd. II, S. 370.
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gungen: Sie eröffnen absichtsvoll einen Spielraum möglicher Deutungen, indem sie sich ein Moment der »Unverständlichkeit« erhalten. Dass dabei die »Aussage« des Textes in viele und womöglich widersprüchliche Deutungen aufsplittert, war der romantischen Hermeneutik bewusst und wurde von ihr akzeptiert, denn das »Leben« der Texte besteht im Prozess unendlicher und produktiver Lektüren, so wie die Sprache nur »lebt«, indem sie sich ständig individualisiert und verändert. Der romantische Text versteht sich grundsätzlich als Ansporn zur schöpferischen Interpretation, nicht zur eindimensionalen ›Decodierung‹. Die Differenzierung zwischen poetischer und nicht-poetischer Sprache wurde in der Romantik so wichtig wie problematisch. Sie hatte zwar vordergründig-strategischen Sinn, wo es um die Ermutigung der Autoren zum Sprach-Experiment und zur Eigenart geht; letztlich jedoch begriff sich die poetische Sprachgestaltung als zwar privilegierte, aber zugleich auch repräsentative Selbstmanifestation von Sprache überhaupt in ihrer potentiellen Vielgestaltigkeit und Vieldeutigkeit.
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Umbrüche und Wandlungen der Rhetorik Rüdiger Campe
Im 18. Jahrhundert wurde in West- und Mitteleuropa die Regel der Rhetorik in Frage gestellt. Einerseits kam es zum Bruch mit Rhetorik. Oft verwendete man nun Verfahren des Beobachtens, der Datensammlung und Berechnung, wo bisher die rhetorischen Formularien für Juristen und Beamte die Schriftsätze beherrscht hatten.1 So im diplomatischen und bürokratischen Bericht (›Staatsbeschreibung‹, ›Statistik‹) und im Recht; überall dort, wo es um die Arbeit am Wahrscheinlichen, um Handlungsalternativen und Urteilsfindung ging. Seit 1750 stiess man zudem auf Pläne, die rhetorische Komponente der Schule hinter die mathematisch-naturwissenschaftliche zurückzudrängen. Andererseits befragte man im 18. Jahrhundert die rhetorische Regel auch im Hinblick auf Sprache und Text selbst: Im Hinblick auf Unterricht, Kritik und Literatur. Man zweifelte, ob Literatur und Sprache überhaupt die kasuistischen Vorschriften benötigen, die die Rhetorik lehrt. Dann bezweifelte man wieder, ob die Rhetorik die ihr anvertrauten Probleme der Semantik, der Diskursformen und der Psychologie zureichend behandele. Die Regel der Rhetorik erschien als zu weitgehend oder als unzureichend. Es galt, sie zu reformieren. Um die Veränderungen seit 1760 zu erfassen, muss man drei Bereiche der humanistischen Rhetorik unterscheiden:2 Zunächst gibt es die (quintilianische) Rhetorik der Klassikerlektüre und der imitierenden Stilübung: die Regel des Unterrichts. Sie ist der institutionelle Grund der Rhetorik. Bis ins 18. und sogar 19. Jahrhundert blieb sie an die alten Sprachen gebunden, auch wenn seit dem 16. und verstärkt seit der Mitte des 18. Jahrhunderts volkssprachliche Rhetoriken entstanden. Die ›translatio studii‹ hatte in der früheren Neuzeit ihren Erfolg aber eher am Hof und in der Stadt, dort wo die neuen Literaturen begründet wurden. So bildet den zweiten Bereich die Durchdringung der Literaturen mit Rhetorik und rhetorischer Poetik. Neben dem Sprachlichen gehörten viele Themen, die heute anthropologisch hiessen, zur rhetorischen Poetik: Affekt, Angemessenheit, Geschmack, Urteil. Im Humanismus lag der wichtigste Anteil der Rhetorik am Wissen freilich in der ›memoria‹ — in der Lehre von den Gedächtnisörtern, wo der Redner seinen Stoff findet und seine fertige Rede aufbewahrt. Als dritten humanistischen RhetorikBereich kann man darum das (im 15. Jahrhundert erneuerte, ciceronianische) Ordnungs- und
1. Der Untersuchung Philippe Carons zufolge differenzieren sich im Französischen zwischen 1680 und 1750 Lettres und Sciences, bis dahin verschieden nuancierte Bezeichnungen für die ganze Enzyklopädik des Wissens, auseinander in die sprachlich-literarischen (Belles) Lettres und die naturwissenschaftlich-mathematischen Sciences (exactes) (Des »Belles Lettres« à la »Littérature«. Une archéologie des signes du savoir profane en langue française (1680–1760), Paris 1992). 2. Die unterrichtete und theoretische Rhetorik hatte, vom Schulaktus abgesehen, im 18. Jahrhundert kaum mehr Verbindung zur Praxis öffentlicher Rede. In der Kanzelrhetorik war das zwar der Fall; aber sie war nur in einzelnen Fällen — bei Schleiermacher oder Chateaubriand beispielsweise — literarisch von Belang. Gerichtsrede und Panegyrik spielten für das theoretische und literarische Rhetorikverständnis dagegen keine Rolle. Reden Dantons oder Robespierres heissen zwar seit den klassischen Historikern der Grande Révolution rhetorisch — Büchner überführt sie im Zitat des Danton rhetorischer Theatralik -, aber das sind historische, nicht literarische Urteile. Entsprechend trägt das Interesse, das Adam Müller in seiner Rhetorikschrift für englische Parlamentsreden zeigte, die Züge der politischen Stellungnahme.
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Anordnungsinstrument der Topik bezeichnen. Sie legte den Grund jener ›res litteraria‹, die Wissenserschliessung und -speicherung in der Literatur und den (nicht-mathematischen) Wissenschaften zusammenschloss.3 Die Infragestellung der Rhetorik im späteren 18. Jahrhundert spielt im zweiten Bereich: der Rhetorik in den Literaturen und ihrer Theorie. Die ›Topica Universalis‹ als sprachlich-logischer Grund des Wissens4 — der dritte, fundierende Bereich — war im Cartesianismus ebenso zerstört worden wie im Probabilismus der ›Royal Society‹ in London. Die deutschen Schulphilosophen waren am Anfang des 18. Jahrhunderts gefolgt. Dagegen hielt sich die Pädagogik des Lesens und der Stilübung — der erste, institutionelle Bereich — bis ins 19. Jahrhundert. Die zeitlichen und sachlichen Unterschiede sind hier gross: Oxford und Cambridge schufen das Prüfungsfach Rhetorik Ende des 19. Jahrhunderts ab. An englischen und amerikanischen Schulen hielt sich die Sprecherziehung, die einer auf ›actio‹ und ›pronunciatio‹ beschränkten Rhetorik des 18. Jahrhunderts entstammte, bis zum 1. Weltkrieg. In Frankreich führte, nach einer Orientierung auf französische Autoren und auf Geschichte im späten ›ancien régime‹ und in der Revolution, tiefgreifende Reformen des Sekundarunterrichts erst die 3. Republik durch. 1902 verlor die ›classe de rhétorique‹ des Collège ihren Namen.5 In Preussen versuchte die Kulturbürokratie zwischen 1770 und 1790, die rhetorische Textverfertigung radikal abzuschaffen. Im Gymnasium des 19. Jahrhunderts ging dann eine deutsche Stilübung in den Deutschaufsatz und eine neuhumanistisch interpretierte Rhetorik in den Altsprachenunterricht über.6 Die literarische Rhetorikkritik im 18. Jahrhundert fand statt, nachdem die Topik ihre wissensbegründende Funktion verloren hatte und bevor die Pädagogik des Wiederholens und Variierens gänzlich aus den Lehrplänen wich. Nach dem Bruch mit der wissenskonstitutiven Topik und bei fortdauernder Transformation der schulischen ›institutio oratoria‹ stand die
3. Die Tradition setzende und erhaltende Kraft der Topik in Literatur und Philosophie hat Ernst Robert Curtius entdeckt: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948. Zur literarischen Geschichte der Topik vgl. in: Jehn, Peter (ed.), Toposforschung. Eine Dokumentation, Frankfurt 1972, die Beiträge von Edgar Mertner (»Topos und Commonplace«) und Joachim Dyck (»Die Rolle der Topik in der literarischen Theorie und Praxis des 17. Jahrhunderts in Deutschland«). 4. Zu den historischen Konzepten der Topik: Bornscheuer, Lothar, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt 1976; zur topisch organisierten Wissenschaft: Schmidt-Biggemann, Wilhelm, Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983. 5. Lüsebrink, Hans-Jürgen, » ›Cours de Littérature‹ und ›Education Nationale‹. Zur Genesis und Konzeption von Literaturunterricht und Literaturwissenschaft in Institutionen der Spätaufklärung, der Französischen Revolution und der napolenonischen Ära«, in: Cerquiglini, B. / Gumbrecht, H. U., Der Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Wissenschaftsgeschichte als Innovationsvorgabe, Frankfurt 1983, S. 111–134. Prost, Alain, Histoire de l’enseignement en France (1800–1967), Paris 1968. Rommel, Bettina, »Classe de rhétorique«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Üding, Gert (ed.), Tübingen 1994, Bd. 2, Sp. 248–257. 6. Jäger, Georg, »Der Deutschunterricht auf Gymnasien 1780 bis 1850«, Deutsche Vierteljahrsschrift 47, 1973, S. 120–147; Bosse, Heinrich, »’Dichter kann man nicht bilden.’ Zur Veränderung der Schulrhetorik nach 1770«, Jahrbuch für Internationale Germanistik 10, 1978, S. 80–125. — Zum europaweiten Verfall der Rhetorik als Folge der Rückgangs der alten Sprachen vgl. Fuhrmann, Manfred, Rhetorik und öffentliche Rede. Über die Ursachen des Verfalls der Rhetorik im ausgehenden 18. Jahrhundert, Konstanz 1983.
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Rhetorik der Literaturen zwischen Transformation und Bruch.7 Rhetorikkritik zwischen 1760 und 1820 ist also im besonderen eine Sache der Literaturgeschichte.8 Aber doch in einem heiklen Sinne. Sie ist nicht nur ihr Thema, sie liegt ihr auch zugrunde. Die Auseinandersetzung mit der Rhetorik ist in den neueren europäischen Literaturen der zweite Schritt der nationalen Sonderung und der erste Schritt der nationalen Selbsthistorisierung. Die Auffassung, nach der Sturm-und-Drang und Weimarer Klassik antirhetorisch ausgerichtet waren, hat das Bild einer deutschen Nationalliteratur geprägt. Im europäischen Vergleich fällt auf, dass die Gegenrhetorik des Sturm-und Drang in der Normstiftung der deutschen Klassik nicht rückgängig gemacht wurde. In den Stanzen An Goethe. Als er den ›Mahometh‹ des Voltaire auf die Bühne brachte (1800) rechtfertigt Schiller (1759–1805) die rhetorische Sprache des französischen Klassizismus geschichtsphilosophisch. Die höfische Kunstsprache grenze einstweilen den ästhetischen Raum ab, in dem die Erinnerung an den Chor der Tragödie und die (Rousseausche) Utopie eines Chors des Volkes statt habe. Im rhetorischen Duktus Voltaires (1694–1778) will die deutsche philosophische Ästhetik noch und schon das ›Lied‹, die gegenrhetorische Unmittelbarkeit, hören. Madame de Staël (1766–1817) reagierte in De l’Allemagne (1810): das Rhetorische, als ›manière‹ und Rücksicht auf Stil verstanden, diente ihr zur Unterscheidung zwischen französischer und deutscher Kultur. Deutschland erschien einmal als Rousseausche Idylle gesellschaftsferner Einzelner, die ohne stilistische Prätentionen kommunizierten; dann sah Madame de Staël, dass die Influence de la nouvelle philosophie allemande sur la littérature et les arts zum intellektuellen Absehen vom Wort führte.9 Durch die Zitate vor allem Samuel Taylor Coleridges (1772–1834) zog das Weimarer und Jenenser Vokabular des Symbolischen in die englische (und amerikanische) Literaturkritik ein, ohne dass Coleridge aber deswegen die rhetorische Prägung seiner kritischen Begriffe oder seiner lyrischen Sprache je aufgab. Infragestellung herkömmlicher Rhetorik hatte in England und auch in Frankreich zunächst mit der Ablehnung klassizistischer Diktionen zu tun. Rede jenseits von Rhetorik überhaupt — nicht nur in Spannung zum vorangegangenen Stil — zu denken, scheint als Idee oder Ideologie der deutschen Literatur bzw. in der sich zu diesem Zeitpunkt auch schon konstituierenden Geschichte der deutschen Literatur eigentümlich.10 Gegen-Rhetorik, GegenRegel wurde jedenfalls im 19. Jahrhundert in Deutschland in der Norm einer deutschen Klassik fixiert und überliefert, die sich gerade dort ausbildete, wo nach Friedrich Schlegels (1772–1829) Anmerkung ein Goldenes Zeitalter europäisch klassizistischer Art fehlt. Je weiter sich das
7. In der Sache ähnlich, in der Fokussierung anders setzen John Bender und David E. Wellbery um 1800 einen Bruch zwischen Rhetoric (der alten Disziplin) und Rhetoricality (der nicht mehr disziplinär verwalteten Kategorie des Effekts von Sprache und Darstellung) an, s. »Rhetoricality: On the Modernist Return of Rhetoric«, in: dies. (eds.), The Ends of Rhetoric. History, Theory, Practice, Stanford 1990, S. 3–39. 8. In der bisher umfassendsten Weise hat Marc Fumaroli für die französische Literatur die Unterscheidung zwischen der humanistischen res litteraria und der romantisch-nationalen Literatur analysiert. Fumaroli zeigt über literarischen Fragen hinaus eine Statusänderung von ›Werk‹ und ›Autor‹ auf: vgl. »Littérature et ›res litteraria‹ «, in: ders., L’Age de L’éloquence. Rhétorique et ›res litteraria‹ de la Renaissance au seuil de l’époque classique, Paris 1980, S. 17–34. 9. de Staël-Holstein, Anne Louise Germaine, De l’Allemagne, Pange, Jean de (ed.), Paris 1958–1960; Buch II, Kap. 1 und Buch III, Kap. 9. 10. Vgl. Fohrmann, Jürgen, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich, Stuttgart 1989.
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Literaturverständnis von der Rhetorik entfernte, desto mehr ging es in nationale Literaturgeschichtsschreibung über. Das war in Deutschland bis 1848 geschehen. In Frankreich sollte erst um 1900 ein Professor der Rhetorik, Gustave Lanson, die Umstellung des universitären Diskurses über Literatur auf nationale Literaturgeschichte durchsetzen. Weil das Wissen von der Literatur in Deutschland, später in England und Frankreich vornehmlich ein Wissen von der Geschichte der Literatur11 statt von Rhetorik geworden ist, ist der Zusammenhang zwischen Rhetorikkritik und Literaturgeschichte ein blinder Fleck in der Geschichte der Literatur.12 So wundert es nicht, dass Gegenführungen eher von theoretischen Überlegungen ausgegangen sind. Unter dem Stichwort Rhetoric of romanticism (1984) hat Paul de Man (1919–1983) vor allem an Rousseau und der englischen Romantik seine Folgerungen aus der Rhetorik der Strukturalisten entwickelt. Nun ist die moderne Rhetorik, die sich auf die literatur- und sprachspezifische Ebene der Figuration beschränkt, von der historischen, humanistischen Rhetorik grundlegend unterschieden.13 Gerade darum aber ist sie geeignet, Licht zu werfen auf den blinden Fleck im historischen Begründungszusammenhang von Literaturgeschichte und Rhetorik um 1800. Die ›Rhetorik der Romantik‹ — der nach germanistischer und anglistischer Konvention anti-rhetorischen Epoche — trägt nämlich in der rhetorischen Begrifflichkeit den Bruch gegenüber der humanistischen Rhetorik in sich. Sie war eine (andere) Rhetorik nach dem Ende der (humanistischen) Rhetorik; und zugleich forderte sie die herkömmliche Literaturgeschichtsschreibung in allen ihren Kategorien heraus.14 So kann man die bisher offenbar unvermeidbare Entscheidung für das (deutsche) Modell einer Abschaffung der Rhetorik und das (französische) Modell einer modifizierenden Verlängerung der Rhetorik vermeiden, genauer: die Entscheidung selbst überhaupt erst wahrnehmen. Durch die in der Sache und im Zeitverlauf unterschiedlichen Haltungen, die man in Frankreich, England, Deutschland und Italien in der Distanzierung gegenüber der Rhetorik fand, vertiefte sich noch einmal der Unterschied zwischen den Literaturen. ›Transformation‹ und ›Bruch‹ der Rhetorik beschreiben den Wandel in den Literaturen und die Differenzierung zwischen den Literaturen, ohne das hergebrachte Bild der Literaturgeschichten schon vorauszusetzen. Sie können beitragen, den konstitutiven Zusammenhang zwischen Rhetorikkritik und Literaturgeschichte in den nationalen Geschichten der neueren europäischen Literatur zum Thema zu machen.
11. Manfred Fuhrmann legt dar, dass es »Literaturgeschichte im heute üblichen Sinne […] vor dem 19. Jahrhundert nicht gegeben« hat (»Die Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert«, in: Cerquiglini, B. / Gumbrecht, H.-U., Der Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, op. cit., S. 49–72, hier: S. 49). 12. Dieses Argument hat theoretisch und historisch am genauesten Alain Compagnon in seinem Buch über den Lansonisme um 1900 entwickelt: La troisième république des lettres. De Flaubert à Proust, Paris 1983. In Deutschland, wo sich die Wende schon um 1800 stattfindet, vollzieht sie sich zunächst, z.B. bei A.W. Schlegel, unter Vorgabe der idealistischen Geschichtsphilosophie, bevor sie sich ab 1820 streng nationalisiert: vgl. Weimar, Klaus, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989. 13. Von einer ›eingeschränkten‹ Rhetorik der ›elocutio‹ hat Gérard Genette sowohl hinsichtlich der Reformrhetorik Fontaniers von 1821 / 1827, wie auch bezüglich der zeitgenössischen strukturalen Rhetorik gesprochen (»Figures«, in: Figures I, Paris 1966, S. 205–220; und »Rhétorique restreinte«, in: Figure III, Paris 1972, S. 21–40). 14. Aus dieser komparatistisch-literaturgeschichtlichen Pointe gegen die nationale Literaturgeschichte entwickelt de Man zum ersten Mal den ihm eigentümlichen Rhetorikbegriff: de Man, Paul, »The Rhetoric of Temporality«, in: Singleton, Ch. S. (ed.), Interpretation: Theory and Practice, Baltimore 1969, S. 173–209.
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Gegenrhetorische Motive in der Literaturkritik: Ausdruck, Autorschaft, symbolische Form, Darstellung Wer von Modifikationen der Rhetorik zwischen 1760 und 1820 spricht, denkt nicht in erster Linie an rhetorische Schriften. Gemeint sind kritische Denkfiguren innerhalb und ausserhalb von Werken, die äusserlich der rhetorischen Tradition nicht verpflichtet sind. Im Vorwort zu einer Anthologie englischer Dichtung von 1880 schrieb Matthew Arnold (1822–1888) eine ironische Laudatio auf our excellent and indispendable eigtheenth century. Die lyrischen Verse der grossen Autoren des frühen 18. Jahrhundert seien makellos, doch Prosa statt Poesie. Pope und Dryden fehle es am »adequate poetic criticism of life«, den die Werke des Kreises um Wordsworth auszeichneten.15 So wurde die gegenrhetorische Wendung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts in den nationalen Literaturgeschichten überliefert und zugespitzt: Die Rhetorik der Klassizisten hat die richtigen ›Worte‹ für den ›Zweck‹ (»admirable for the purposes«), die gegenrhetorische Romantik hat das ›angemessene Verständnis des Lebens‹. Eine doppelte Antithese: rhetorische Mittel-Zweck-Beziehung / angemessenene Hermeneutik; Sphäre der Worte / Sphäre des Lebens. Die Formulierung von Matthew Arnold zitiert einen Typus literarischer und literarkritischer Motive der Vor-Romantik und Romantik. Bestimmt sind sie nicht so sehr durch Begriffe und Sätze, sondern durch die Form der Antithese, oft in der beschriebenen Verdopplung.16 Man spricht von einer ›anderen‹ Rhetorik oder einem ›Anderen‹ gegenüber der Rhetorik. ›AntiRhetorik‹ ist eine Rhetorik der Antithese. Nun entstammt die der Rhetorik und der rhetorischen Poetik erwachsene Konkurrenz der Kritik und der ästhetischen Theorie nicht erst der Zeit zwischen 1760 und 1820. Grundlegende Entscheidungen fielen noch auf rhetorischem Territorium zu Beginn des 18. Jahrhunderts oder sogar im ausgehenden 17. Jahrhundert. Stichworte sind: die ›Querelle des anciens et des modernes‹ und Dubos’ systematischer Versuch einer sensualen Kunstsemiotik, in England vor allem der moralästhetische Phantasie- und Kritikbegriff von Pope und Addison, den Bodmer adaptierte. In der Verzeitlichung der ›Querelle‹ und der Letztbegründung der Semiotik liegt eine entschiedene Tendenz gegen die humanistische Rhetorik. Rhetorik hatte seit Vives und Melanchthon ihre technische Effektivität durch eine Kasuistik von Entscheidungssituationen gewonnen, die uneigentlichen Sprachgebrauch und paralogische Argumentation im Drängen der Zeit und in der Ungewissheit der Lage (im Sturm des Affekts, in der Übereilung des Urteils) unumgänglich machen. Zugespitzt ist das oftmals im 17. Jahrhundert, wie es Pascals apologetische Rhetorik und politische Theologie zeigt: Grundsätzlich gegeben ist ihr die Situation des Menschen in einer Welt, die ihm die Erkenntnis grundsätzlicher Entscheidung verstellt. Dieser
15. Arnold, Mattew, »The Study of Poetry«, in: ders., Essays in Criticism, London 1888, Bd. 2, S. 40 f (geschrieben als General Introduction zu T. H. Wards Anthologie The English Poets, 1880). 16. Zur These, dass die Entgegensetzung des Symbols gegen die Allegorie und besonders die Verwerfung des Allegorischen der jeweiligen begrifflichen Identität in der Diskussion vorausgeht, vgl. Nägele, Rainer, »The Allegorical Caesura: Actuality and History of Allegory«, in: ders., Theater, Theory, Speculation. Walter Benjamin and the Scenes of Modernity, Baltimore / London 1991, S. 78–93, bes. S. 84. Zur Analyse der doppelten Entgegensetzung vgl. Bosse, Heinrich, »The Marvellous and Romantic Semiotics«, in: Studies in Romanticism 14, 1975, S. 211–234.
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theologischen und politischen Essenz der Rhetorik waren Historisierung und letzte Begründung wesentlich fremd. Schriftsteller wie Gottsched und Bodmer, die einen grossen Bestand rhetorischer Schriften hervorgebracht haben, leiteten das Ende dieser humanistischen und barocken Rhetorik gerade dadurch ein, dass sie die Konzepte z.B. der Affektivität oder des Geschmacks ins Grundsätzliche von Psychologie oder Zeichentheorie hinein auflösten. Erst seit 1750, in Deutschland seit 1770 trat aber eine Gegen-Rhetorik auf, die ihre rhetorischen Anschlüsse unsichtbar machen konnte. Diese gegenrhetorischen Motive bildeten keinen eigenen Diskurs — es sei denn man stellt ihn in der Tradition der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts nachträglich auf, wie es zuletzt und in glänzender Weise René Wellek unter dem Namen einer History of criticism getan hat.17 Zwei solcher Motive sind ›Ausdruck‹ im emphatischen Sinn und ›symbolische Form‹. Keines führt den Bruch mit Rhetorik notwendig herbei. Aber sie bringen in ihrer unterschiedlichen, ja gegenläufigen Art der Gegen-Rhetorik das Neue von Literatur nach der Rhetorik zur Sprache. ›Ausdruck‹, Ausdruck des Gefühls oder Affekts in der Sprache, war Lehrstück in aller und gerade der barocken Rhetorik. Hier liegen die innersten Verstrebungen rhetorischer Technologie zwischen ›inventio‹, ›elocutio‹ und ›actio‹. Klopstocks (1724–1803) Epigramm Der Ausdruck der Leidenschaften (zwischen 1795 / 1803), für das er auch die Überschrift An die Bewundrer der französischen Tragödie erwogen hatte, lautet so: Von der leisesten an der Empfindungen bis zu der stärksten Leidenschaft steiget der Weg immer steiler empor; Ist für den Dichter der schwerste. Geleitet ihn, all’ ihr guten Geister der Schönheit! Denn gehn muss er ihn sicheres Tritts. Manches wird ihm verziehn; doch hier verzeihen ihm Kenner Niemals, wenden sich weg, folgen dem wankenden nicht. Schrecket euch dieses nicht, so ahndet mich, Dichter, der Lorber, Welchem ihr auch nur naht ihn zu berühren, verwelkt.18
Beim Ausdruck der Leidenschaften gibt es dem Epigramm zufolge nicht, was die ›elocutio‹, der Ausdruck, in Rhetorik und rhetorischer Poetik ist: Lizenz. Im Ausdruck steht die ›elocutio‹ auf des Messers Schneide. In rhetorisch-poetischer Tradition gesagt, wird nur beim Affektausdruck der Wirkungszusammenhang der Rhetorik in einer reflexiven Figur — im ›si vis me flere‹ des Horaz — geschlossen: Nur der Affizierte (oder der, der sich affiziert) kann einen andern (und sich selbst als andern) affizieren. In diesem Fall gibt es kein ›iudicium‹ über Gut oder Schlecht, sondern der Affekt-Ausdruck ist die Probe auf Gelungen oder Misslungen. Selbstbezüglichkeit charakterisiert dabei die Handlung ›Affizieren‹, ›Erregen‹, die Performanz des Ausdrückens, nicht eine intellektuale Reflexion. In Klopstocks Worten: der Dichter muss einen Weg machen. Klopstock unterstrich nun den Handlungs- und Probecharakter auf eigentümliche Weise. Der Weg des Ausdrucks verbindet nämlich die Affektstufen ›ethos‹ und ›pathos‹, die rhetorischen
17. Besonders klar ist das formuliert im 2. Band der History of Modern Criticism: 1750–1950, dem Band The Romantic Age (London 1955) mit dem allgegenwärtigen Begriffspaar des Symbolischen und des Dialektischen. 18. Klopstock, Friedrich Gottlieb, Werke und Briefe. Histor.-Krit. Ausg., Gronemeyer, H. et al. (eds.), Abt. Werke, Bd. 2, Berlin / New York 1982, S. 57.
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Vorbilder für die Moralästhetik des Schönen und Erhabenen (Klopstock setzt sie anders als Kant nicht gegeneinander). Klopstock machte die rhetorische Handlung der ›elocutio‹ zur moralischen und präfigurativ zur christlichen, indem der Weg des Ausdrucks offenbar der Tugendweg des Herkules ist (vielleicht motiviert durch die alte Rhetorik-Allegorie des Hercules Gallicus). Die unvergleichliche Genauigkeit des Ausdrucks, die den bloss rhetorischen Ausdruck, ja sein ›tremendum‹, wenn man dem letzten Vers glauben darf, verdankt sich der Gleichordnung der rhetorischen mit der moralischen Handlung. Verfehlen eines — in Mustern nicht vorzugebenden — Affektausdrucks wäre zugleich Verletzung eines — nicht niedergeschriebenen — Gesetzes. Zuspitzung des Ausdrucks im pietistischen Raum, in dem Säkularisation und Rhetoriktransformation zusammenfinden. Das Spiel des Ausdrucks, der seine Rhetorizität überbietet, sieht man in der deutschen Literatur zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und den 70er Jahren auch auf ganz anderen Feldern gespielt: auf dem Feld von Liebe, Erotik und Wahrheit bei Wieland (1733–1813) (die Danae-Pantomime im Agathon (1766) führt auf durchaus vergleichbare Figuren); auf dem Feld der Gelehrsamkeit und des Wissens bei Herder (1744–1803) (der den wahren Ausdrucks des Gefühls nicht mehr nur an die Stimme, sondern an Stimmlichkeit vor der Schrift bindet); in der eigentümlichen Verbindung von Literatur und Aufrichtigkeit bei Lenz (1751–1792) (deutlich in der Literaturkritik der Strassburger Zeit). Die wichtigste Wendung, die auch auf die deutsche Literatur zurückwirken sollte, gab ohne Zweifel Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) dem rhetorischen Ausdruckstheorem. Im dialogischen Entretien sur les romans, den Rousseau der Nouvelle Héloïse (1761) als seconde préface beigegeben hat, greift R., der Herausgeber der Briefe, das Thema des rhetorischen Affektausdrucks auf: Im einfachen und einsamen Leben, sagt er, drücken anders modifizierte Leidenschaften sich anders aus als in der Gesellschaft. Keineswegs aber ist der einfache Ausdruck, wie es in der Tradition der Künstlichkeitspolemik zu erwarten wäre, einfacher und stärker. Denn »énergie« ist, R. zufolge, der Inbegriff von Rhetorik, von Rede in der Gesellschaft: Premièrement, parce qu’il faut toujours dire autrement et mieux que les autres, et puis que, forcé d’affirmer à chaque instant ce qu’on ne croit pas, d’exprimer des sentiments qu’on n’a point, on cherche à donner à ce qu’on dit un tour persuasif qui supplèe à la persuasion intérieure. […] la passion, pleine d’elle même, s’exprime avec plus d’abondance que de force; elle ne songe même pas à persuader; elle ne soupçonne pas qu’on puisse douter d’elle.19
»Energie«, die Rhetorik der Leidenschaft, ist die eigene als andere Rede. Die Veränderung, die rhetorisch die sprachliche Bestimmung der Figuration ist, wird zum sozialen Mehrwert (sich von den ›andern‹ unterscheiden) oder zur Amoralität des Betrugs (anders reden als man denkt). Der eigene Ausdruck (die Linguistik der Veränderung in der Figur) ist in und kraft Gesellschaft Rede der anderen. Indem der ›tour persuasif‹ den Platz des Selbst und der anderen vertauscht, ist er ›supplement‹ der im Anderen, im ›monde‹, entwendeten ›persuasion intérieure‹.
19. Rousseau, Jean-Jacques, Julie ou la Novelle Héloïse. Lettres de deux amants habitants d’une petite ville au pied des Alpes receuillies et publiées par Jean-Jacques Rousseau, Pomeau, René (ed.), Paris 1960; »Preface de Julie ou Entretien sur les romans«, S. 741.
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Soweit analysiert R. die Rhetorik des Affektausdrucks. Die besondere Anforderung an gelingenden Ausdruck ist darüber aber zur kaum mehr erfüllbaren Aufgabe geworden. Die Veränderung der Sprache, die in der Rhetorik Zeichen des Affekts gewesen war, verweist hier auf die radikale sozial-psychologische Selbstenteignung der Redenden. Rousseau bearbeitet die Schwierigkeit als Fiktionsproblem — wobei er sie zum Paradox zuspitzt, aber im Paradox auch die Lösung formuliert: Einerseits sollen »fautes de langue« dem Leser beweisen, dass er die Briefe von Nichtfranzosen, von Provinzlern und Einsamen vor sich habe — andererseits sagt der Herausgeber, er wolle nicht verbergen, dass »j’ai travaillé moi-même à ce livre«. Dieser Widerspruch führte wie bei Klopstock zu einer moralisch-ästhetischen Wendung. Die Schwierigkeit des je eigenen Ausdrucks wandte sich in die grundlose Verantwortung eines HerausgeberAutors für Worte anderer: »Je me nomme donc à la tête de ce recueil, non pour me l’approprier, mais pour en répondre.«20 Der ›discours des solitaires‹, der in der ›persuasion intérieure‹ ruht, hat weder Autor noch Adressat. Es muss ein absoluter Stellvertreter eintreten, der, ohne Besitz an den Worten, sie verantwortet. Der unmögliche Ausdruck schreibt sich so als ›acte gratuit‹ des Ver / Antwortens. Mit Rousseau scheint die Besonderheit des rhetorischen Affektausdrucks den Punkt des Paradoxen erreicht und sich also erschöpft zu haben. Deutsche Dichter nannten fortan das Paradox wahren Ausdrucks beim Namen Rousseaus: Hölderlin (1770–1843) spricht in der Rheinhymne Rousseau unterm Zeichen des Dionysos die darstellungs- und gesetzlose ›Sprache der Reinesten‹ zu. Madame de Staël dagegen erwog, französischen Lesern den unrhetorischen Ton deutscher Dichtung durch ein Zitat Julies aus der Nouvelle Héloïse zu verdeutlichen.21 Nun trug aber mehr als dreissig Jahre später die rhetorische Lehre des Affektausdrucks noch einmal eine Rechtfertigung poetischer Diktion. Im Vorwort zu den Lyrical Ballads (1798) gibt Wordsworth (1770–1850) Quintilians und Horaz’ Formeln scheinbar ohne Distanzierung wieder.22 Poetry is the spontaneous overflow of powerful feelings: it takes its origin from emotion recollected in tranquillity: the emotion is contemplated till by a species of reaction the tranquillity disappears, and an emotion, similar to that which was before the subject of contemplation, is gradually produced, and does itself actually exist in the mind.23
Selbstaffektion ist ein Experiment, mit dessen Hilfe man die »primary laws of our nature«
20. So heisst es in der kurzen Préface zum Roman, die den Entretien sur les romans in mancher Hinsicht vorwegnimmt; Julie ou la Nouvelle Héloïse, op. cit., S. 3 f. 21. Madame de Staël, De l’Allemagne, Variante zum Stil-Absatz im Kapitel über den Einfluss der Philosophie auf die Literatur; Bd. 2, S. 215 f. 22. Klaus Dockhorn hat das begriffsgeschichtliche Fortwirken der Rhetorik bei Wordsworth herausgestellt — ohne nach dem Wandel ihres Verständnisses zu fragen (»Wordsworth und die rhetorische Tradition in England«, in: Nachrichten von der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philolog.-Histor. Klasse 1944, S. 255–298). — Von romantischer Rhetorik sprechen z.B. die Beiträge von Susan Wolfson, Cynthia Chase, Timothi Bahti u.a. über Wordsworth und Coleridge (in: Reed, Arden (ed.), Romanticism & Language, London 1984), ohne auf de Mans Pointe einer historischen Anknüpfung des unhistorischen Rhetorikbegriffs zurückzukommen. 23. Zitiert ist hier das — gegenüber dem ersten Vorwort erheblich veränderte — Preface der Ausgabe von 1800: Wordsworth, William /Coleridge, Samuel Taylor, Lyrical Ballads, Brett, R. L. /Jones, A. R. (eds.), London 1963, S. 266.
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erforscht: »the manner in which we associate ideas in a state of excitement«.24 Aber Paradoxie des Ausdrucks herrscht gerade hier. Sie liegt im Innenverhältnis des Ausdrucks, in seinem Darstellungsstil, selbst. In der Darstellung der Passionen, sagt Wordsworth, habe Poesie keinen Vorrang vor Prosa. Doch könne nur die Poesie mit ihren Mitteln Metrum und Reim gewissen Gefährdungen dieser Darstellung begegnen: Der Affekt, der an einem Wort hängt, »may be carried beyond its proper bounds«; er gefährdet seine Darstellung. Das Metrum repräsentiert nun im Text eine Regelhaftigkeit, die das Unmass der Passion bindet »by an intertexture [!] of ordinary feeling« und so indirekt für die Darstellung erhält. Umgekehrt reichen Worte oft nicht hin, Passionen darzustellen. Ein »particular movement of metre« kann als Ersatz eintreten »which will greatly contribute to impart passion to the word«.25 Textmerkmale, die Roman Jakobson als Äquivalenzen und Ähnlichkeiten auf der syntagmatischen Achse bezeichnen sollte, helfen den wesentlichen Mängeln ab, die im scheinbar so einfachen rhetorischen Ausdruck der Leidenschaften auftreten, sobald man sie als Darstellung auffasst. So rechtfertigt Wordsworth im Kommentar zu The Thorn die Figur der Wiederholung durch den »interest which the mind attaches to words, not only as symbols of the passion, but as things, active and efficient, which are themselves part of the passion«.26 Dass die rhetorische Lehre des Ausdrucks strukturell auf eine Paradoxie führt, gehört zur humanistischen Rhetorik. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts trat die paradoxe Struktur aber als das Wesentliche oder die Beglaubigung des Ausdrucks selbst thematisch auf. Ausdruck wurde zur Kommunikation über die Paradoxie des Ausdrucks. Dabei ging es um das Verhältnis von Innen- und Aussenreferenz. Das andere literaturkritische Thema — das Symbol und seine Entgegensetzung gegen die Allegorie — hielt sich dagegen ganz in der Sphäre von Formbestimmung und Bedeutungsintention.27 Im späteren 19. und im 20. Jahrhundert galt, besonders in der deutschen und angloamerikanischen Literaturwissenschaft, die Abwertung der Allegorie im Gegensatz zum Symbol als epochale Verwerfung der Rhetorik. Dabei haftet der Ausbreitung dieser Entgegensetzung um 1800 ein Moment des Zufälligen an. Jedenfalls erscheint sie eher als Netz gegenseitiger Zitierungen, als dass man von der Entfaltung einer Theorie sprechen könnte. Öffentlich machte die Opposition 1798 der Kunsttheoretiker J. H. Meyer. Sein Aufsatz Über die Gegenstände der bildenden Kunst hängt eng mit einer Aufzeichnung Goethes von 1797 zusammen. Die verstreuten Stellen, an denen Goethe (1749–1832) die Entgegensetzung sonst nennt, stammen aus der Zeit zwischen 1810 und 1830. Friedrich (1772–1829) und August Wilhelm (1767–1845) Schlegel nahmen Meyers Denkfigur, deren Goethesche Miturheberschaft sie sicher aus Jenenser Gesprächen kannten, gelegentlich, aber nicht durchgehend auf. Schelling (1763–1809) hatte sie in die Begriffsarchitektur der Philosophie der Kunst von 1802 eingefügt. Aus den Formulierungen der Schlegels und Schellings eher als aus Goetheschen Fassungen gelangte die Opposition in die spätere romantische Kunsttheorie in Deutschland und wurde von Madame de Staël und
24. Ibid., S. 245. 25. Ibid., S. 264 und 265. 26. Ibid., S. 289. 27. Vgl. Todorov, Tzvetan, Théories du symbole, Paris 1977.
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ihrem Kreis in Frankreich bekannt gemacht. Coleridge (1772–1834) übersetzte sie, u.a. in The Statesman’s Manual (1816), in die englische und amerikanische Kritik. In der Entgegensetzung erscheinen Allegorie und Symbol oft als extreme Realisierungen des Typus’ übertragener oder bildhafter Darstellung. Dadurch greift der Gegensatz ein in das Reich der rhetorischen Tropologie. Das Symbol erscheint als das Lebendige, im Materiellen der Bezeichnung nicht Fixierbare, die Allegorie als das Konventionelle oder bloss Verstandesmässige und Tote, das an der festgelegten Formel haftet. Die starre Allegorie kann dann als Zeichen konventionalisierter Rhetorik im Gegensatz zum gestalthaften Werk gedeutet werden. Wichtiger als die jeweilige Bestimmung von Symbol und Allegorie ist für das Verständnis des gegenrhetorischen Impulses allerdings die Behauptung, die im Aufstellen des Gegensatzes zwischen ihnen stillschweigend vorausgesetzt ist. Form und Bezeichnung gehen hier eine ganz andere Verbindung ein als in der Rhetorik des Stils oder der Figur, wo Form ein Effekt der Bezeichnung bzw. das Zeichen Bauelement der Form ist. Goethe notiert nach seinem Gespräch mit Meyer, das Allegorische bezeichne direkt, das Symbolische indirekt.28 Andererseits sagt er von allegorischen Werken, dass sie »das Interesse an der Darstellung zerstören«; während der Aspekt dessen, »was wirklich dargestellt ist«, der Aspekt der Form, das symbolische Werk auszeichne. Allegorie — so scheint es — ist Maximum an Bezeichnung und Minimum an Form; Symbol ist Form mit verminderter Bezeichnung. Die Dialektik stammt offenbar daher, dass die Entgegensetzung an einem Punkt der Überlegungen ins Spiel kommt, wo die Art der Darstellung nicht mehr durch Eigenschaften der dargestellten Objekte bestimmt ist, sondern »mehr die Behandlung und der Geist des Behandelnden in Betracht« zu ziehen sei. Gegenrhetorisch ist bereits die kategoriale Trennung und im Kunstwerk doch ontologisch gegebene Kopplung von Form und Bezeichnung. Dennoch ist das gegensätzliche Zugleich von Form und Bezeichnung, das die Pole Symbol und Allegorie erzeugt, nicht symmetrisch. Es gibt eine gute und eine schlechte Verbindung: Die Bezeichnungsdominanz der Allegorie »zerstör[t]« den Formaspekt. Im Forminteresse des Symbols, das nur indirekte Bezeichnung erlaubt, werden dagegen die »bloss für sich stehend[en]« Gegenstände »doch wieder im tiefsten bedeutend«. Während auf der Ebene der wertenden Aussage die dialektische Kopplung zuungunsten der Allegorie und des Bezeichnungsaktes verschoben ist, lässt sich auf der Ebene der Formulierung das Symbol in sich selbst gar nicht eindeutig gegenrhetorisch bestimmen. Goethe erläutert das, was beim Symbol ›indirekt‹ bezeichnend oder im ›Tiefsten‹ bedeutend heisst, mit dem Zusatz, das Ideale der symbolischen Darstellung führe »immer eine Allgemeinheit mit sich«. Die Beziehung der anschaulichen Besonderheit zum Allgemeinen ist aber das ›exemplum‹, in dem schon Lessing und andere Zeichentheoretiker innerrhetorisch die Alternative zur Allegorie gesehen hatten.29 Coleridge übersetzte den Gegensatz bemerkenswert einfach. Das Symbolische unterscheidet
28. Das mit dem 13. Oktober 1797 versehene Notat »Über die Gegenstände der bildenden Kunst« findet man in: Goethe, Johann Wolfgang, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Richter, K. (ed.), München 1985 ff., Bd. 4.2., S. 121–124 (Zitate: 122 f.), den von Goethe und Schiller überarbeiteten Propyläen-Aufsatz J. H. Meyers von 1798 in Bd. 6.2, S. 27–68. 29. Z.B. im Zusammenhang de Fabeltheorie: Lessing, Gotthold Ephraim, »Von dem Wesen der Fabel« (1759), in: Sämtliche Schriften, Lachmann, Karl (ed.), Stuttgart ³1891, S. 420–446, hier: S. 444.
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sich ihm zufolge vom Allegorischen dadurch, »that it is always itself a part of that, of the whole of which it is the representative«.30 Diese Formulierung der Beziehung zwischen Teil und Ganzem erlaubt eine doppelte Lesart: Die Beziehung ist in der Sache (»itself«) die ausgezeichnete Relation der Form in neuplatonischer Tradition; als Bedeutungsrelation genommen (»of which it is the representative«), definiert sie aber auch die Figur der Synekdoche (Coleridge führte denn auch das klassische Beispiel der Synekdoche — ›Segel‹ für ›Schiff‹ — an). In dieser doppelten Bedeutung ist nicht nur der Gegensatz zur Allegorie enthalten, sondern zugleich auch die innere Ambivalenz des Symbols.31 Dass Coleridge in dieser (wie auch anderen) Formulierungen des Gegensatzes die Nähe zur Rhetorik geradezu betont, hängt auch damit zusammen, dass der englische Dichter und Kritiker das Symbolische nicht wie seine deutschen Vorbilder paradigmatisch an der Gestalthaftigkeit plastischer Kunst ausrichtete. Für Coleridge ging es beim Symbolischen um eine hermeneutische und theologische Frage, um politische Theologie, wie die deutsche Frühromantik sie in der Neuen Mythologie nicht hat entwerfen können. Mit der Verwechslung von Allegorie und Symbol, die er der modernen Bibellektüre und dem Politischen in der Moderne gleichermassen anlastete, stand für Coleridge in The Statesman’s Manual (1816) der historische Sinn unmittelbar auf dem Spiel: The histories and political economy of the present and preceding century […] are the product of an unenlivened generalizing understanding. In the Scriptures they are the living educts of the imagination; of that reconciling and mediatory power, which incorporating the reason in images of the sense, and organizing (as it were) the flux of the senses by the permanence and selfcircling energies of the reason, gives birth to a system of symbols, harmonious in themselves, and consubstantial with the truths of which they are conductors.32
In der Sprache Coleridges ist die Opposition von Symbol und Allegorie ausdrücklich als Rückbesinnung auf eine alte politische und theologische, aber auch rhetorisch-hermeneutische Tradition formuliert. Damit wird offenbar fraglich, ob der Gegensatz wirklich den Bruch, den er meint, auch sagen kann. Und doch ist das vielleicht eindrucksvollste Beispiel für diese Ambivalenz ein deutsches, gerade weil die Inszenierung des Bruchs, die Versigelung der symbolischen Form, spezifisch der deutscher Literatur zugehört. Karl Philipp Moritz’ (1756–1793) Essay Die Signatur des Schönen (1788) gilt zusammen mit Über die Allegorie (1789) als Vorläufer von Goethes und Meyers Formulierungsarbeit. Moritz, der das Wort ›Symbol‹ nicht verwendet, entfaltet die spannungsvolle Verbindung aus Formautonomie und Bedeutung aus dem Philomele-Mythos: »Als Philomele ihrer Zunge beraubt
30. Coleridge, Samuel T., Miscellaneous Criticism, Raysor, Middleton (ed.), London 1936, S. 99. 31. Hodgson, John A., »Transcendental Tropes: Coleridge’s Rhetoric of Allegory and Symbol«, in: Bloomfield, Morton W., Allegory, Myth, and Symbol, Cambridge /London 1981, S. 273–292, zeigt, dass die Antithese Symbol /Allegorie sich — von einem nicht-historischen Rhetorikbegriff aus — in die Differenz bestimmte / willkürliche Allegorie auflöst. 32. Samuel Taylor Coleridge (The Oxford Authors), Jackson, H. J. (ed.), Oxford /New York, S. 660. Coleridge formuliert den Gegensatz in The Statesman’s Manual in der Paronomasie von translation und translucence: Die Allegorie »is but a translation of abstract notions into a picture-language which is itself nothing but an abstraction from objects of the senses«; das Symbol »is characterized by a translucence of the special in the individual or the general in the special or of the universal in the a translucence of the special in the individual or the general in the special or of the universal in the general« (ibid., S. 661).
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war«, so beginnt Moritz, schickte sie der Schwester ein Gewand, das die »Geschichte ihrer Leiden« darstellte. Die Leinwand bedeutet und ist zugleich »die grässliche Erzählung«: die Wahl der Mitteilungsform ist Indiz des Sprachverlusts, den die eingewebten Zeichen berichten. Im bedeutenden Verstummen findet das Ende des ersten Aufsatzteils aber auch die Theorie des Schönen: »da aber, wo das wesentlich Schöne selbst auf ihrer Oberfläche sich entfaltet, verstummt die Zunge, und macht der weisern Hand des bildenden Künstlers Platz.«33 Den Übergang vom Greuel des Mythos zur Theorie des Schönen bilden zwei Beispielreihen. Die erste, der Mythenlogik nähere, Reihe entstammt der Rhetorik. So wird Virginius angeführt, der »zur lebhaftesten Teilnehmung an seiner Erzählung« von der Schändung der Tochter »hinzureissen« vermochte, weil er sie »[m]it seiner eignen, unschuldigen Tochter Blut bespritzt« vortrug. Moritz zieht so die atechnischen Überredungsmittel der Gerichtsrhetorik (›tekmeria‹) in die Herleitung des autonomen Kunstwerks. In der anschliessenden zweiten Beispielreihe, die der ästhetischen Theorie nähersteht, führte er Herders Organizismus an. Die selbständig daseiende Bildung des Leibes und der Pflanze ist zugleich indirekt bedeutend, insofern wir »die Ursach in ihrer Wirkung, das innere Wesen der Dinge in ihren äussren Formen und Gestalten lesen«.34 Die organische Signatur (eine Metonymie) löst die ›tekmeria‹ der Rhetorik ab; sie schreibt sie um und verhüllt ihre Rhetorizität. Man kann diesen dem Philomele-Mythos abgewonnenen Eingang zur ›Signatur des Schönen‹ im vorliegenden Zusammenhang als Genealogie des Symbolischen lesen. Das rhetorische Zeichen, das Zeichen der Rhetorischen, erschiene dann als Vorgeschichte und mythischer Grund der ›symbolischer Form‹. Philomeles Zunge wäre Rhetorik. Literarkritische Themen wie die des Ausdrucks und der symbolischen Form stellten zwischen 1760 bis 1820 Rhetorik zur Disposition. Es gab Themen, die aus der Rhetorik stammen, durch ihre Zuspitzung aber rhetorische Voraussetzungen aufs Spiel setzen — das ist der Fall des Affektausdrucks und der Autorschaft. Sie führen mehr oder minder offen auf propositionale Paradoxie: Setzung und Streichung derselben Terme in einem Satz. Und es gab Themen wie die des Symbolischen, die aus anderen Zusammenhängen heraus polemisch auf Rhetorik treffen — wenn auch gerade hier die Lektüre der einzelnen Stellen auf verdeckte Zitate rhetorischer Tradition treffen kann. Man kann das als diskursive Paradoxie bezeichnen: Wiedereinführung eines Diskurses im Diskurs seiner Tilgung. Oft ist (besonders in deutschen Beispielen) der Bruch das manifest Gemeinte, die Kontinuität der Terme und Zitate liegt in der Formulierung oder dem argumentativen Bau. Der manifeste Bruch betrifft oft die Gesamtrhetorik (die Epistemologie der Topik und den rhetorischen Unterricht), die Kontinuität das rhetorische Vokabular der literarisch und sprachlich bedeutsamen Figuration. Besonders die deutsche Literaturgeschichte, aber auch die englische und am Ende des 19. Jahrhunderts die französische antworteten auf diese uneindeutige Lage mit Entrhetorisierung und Nationalisierung. Spätestens seit Ernst Robert Curtius werden nun rhetorische Kontinuitäten wieder hervorgehoben. Die deutsche Literaturgeschichte, die dem lange widerstanden hat, ist seit den 60er Jahren sogar besonders darum bemüht. Es besteht die Neigung, nun umgekehrt die
33. Moritz, Karl Philipp, »Die Signatur des Schönen. Inwiefern Kunstwerke beschrieben werden können?«, in: ders., Werke, Günther, H. (ed.), Frankfurt 1981, Bd. 2, S. 579–588, hier: S. 583 f. 34. Ibid., S. 581.
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Szenen des Bruchs zu übersehen und strukturelle Transformationen in den manifest gegenrhetorischen Motiven als Indizien einer grossen Kontinuität der Literaturgeschichte auszulegen.35 So gehaltvoll die Literaturkritik der Rhetorik am Ende des 18. Jahrhunderts in theoretischer Hinsicht ist, sie gibt keine einfache Antwort auf die Frage nach Bruch oder Kontinuität. Der noch immer ungewohnte Blick in die rhetorische Fachliteratur, auf Epistemologie und Institution der Rhetorik, hilft dagegen zunächst einmal zu sehen, was auf dem Spiel stand.
Neue Rhetoriktheorien: elocutio oder Anthropologie Rhetorische Handbücher zum Schul- und Universitätsunterricht, daneben besonders für die Predigt, wurden auch im späteren 18. Jahrhundert in grosser Zahl veröffentlicht.36 Sie bezeugen in West- und Mitteleuropa die pädagogische Fortdauer der Rhetorik bis weit ins 19. Jahrhundert. Aber auch in akademischen Vorlesungen und Lehrwerken findet man im 18. und frühen 19. Jahrhundert Neubestimmungen des Rhetorischen. Gegenüber der auf Diskontinuität setzenden Kritik stellen sie den Versuch innerer Reformen dar. Sie führen die überlieferte Rhetorik auf das neue Verständnis von Literatur zu, wie es die Kritik bereits voraussetzt. In diesem Sinn kann man von ›literarischen Rhetoriken‹ sprechen.37 Diese erneuerten Rhetoriken setzten sich in den pädagogischen und wissenschaftlichen Institutionen unterschiedlich durch. Aber gerade die eher elitären Reformwerke zeigen die Tendenzen der jeweiligen Bildungsdebatten. Jedenfalls treten nationale Unterschiede hier schärfer zutage als bei der literarischer Kritik. 1. Rhetorische Poetik setzte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich fort, auch wenn man nun französische Autoren und Literaturgeschichte stärker berücksichtigte. In der Ecole de Littérature (1764) von J. de Laporte (1764) beispielsweise wird im ersten Teil, De l’art d’écrire en général, über die Auswahl der Wörter, Synonymie und Figuration, Stil und Geschmack gehandelt, bevor sich der zweite Teil der Gattungslehre in Prosa und Vers zuwendet. Poetik konzentriert sich traditionell auf ›elocutio‹, auf Semantik und Stilistik. Doch die strikt stilistische Orientierung dieser Ecole de littérature verweist auch auf die neue, ›literarische‹
35. Das zeigt sich seit einiger Zeit in einer Art Kompensationsanstrenung der Germanistik. Zwei Beispiele: Gert Üding zur rhetorischen Prägung der Wirkungsästhetik bei Schiller (Schillers Rhetorik: idealistische Wirkungsästhetik und rhetorische Tradition, Tübingen 1971); Helmut Schanze zu einer esoterisch gedachten Verbindung zwischen Goethes ›Theater der Erinnerung‹ und rhetorischer memoria (Goethes Dramatik: Theater der Erinnerung, Tübingen 1989). Die begriffsgeschichtlich oder analytisch bedeutsamen Studien übergehen Funktionsänderungen der rhetorischen Terme; darum antworten sie nicht auf die Frage nach der Rhetorik der Klassik. 36. Joachim Dyck hat eine Vorstellung seiner angekündigten Bibliographie der Rhetorik des 18. Jahrhunderts in Deutschland gegeben in: »Überlegungen zur Rhetorik des 18. Jahrhunderts und ihrer Quellenlage«, in: Üding, Gert (ed.), Rhetorik zwischen den Wissenschaften: Geschichte, System, Praxis als Probleme des ›Historischen Wörterbuchs der Rhetorik‹, Tübingen 1991, S. 99–101. — Vielfältiges, allerdings sehr Unterschiedliches bietet Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution, 3 Bde., Stuttgart 1971–1980; bes. Bd. 1, S. 368–647 (»Die Literatursprache«). 37. Genaueres zu diesem Vorschlag bei Rüdiger Campe, Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990, S. 489–491.
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Rhetorik, die bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzte und noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts fortgeführt wurde. César Chesneau Dumarsais’ (1676–1756) 1730 veröffentlichter Traité des tropes galt etwa seit 1750 als das grosse Reformwerk von Rhetoriktheorie und -unterricht; Pierre Fontanier kommentierte ihn 1818 ausführlich,38 und seine beiden eigenen Bände Les figures du discours (1821 und 1827)39 entwarf er ausdrücklich als seine Neufassung in theoretischer und pädagogischer Absicht. Literarische Rhetorik zwischen Dumarsais und Fontanier entfaltete sich auf dem Hintergrund der Philosophischen oder Allgemeinen Grammatik, der von Port-Royal bis zu den Idéologues gültigen sprachlich-logischen Theorie der Repräsentation. Dumarsais gab seiner Abhandlung ausdrücklich die Stellung des rhetorischen Abschlusses der Grammatik (und ihres Unterrrichts).40 Es ist eine ›eingeschränkte‹, d.h. auf die Figurenlehre der ›elocutio‹ beschränkte, Rhetorik. Die Findung des Stoffes und der Argumente (›inventio‹), die Gliederung des Textes (›dispositio‹) fallen aus. Dumarsais widmete seine Abhandlung sogar innerhalb der elocutio allein den ›grammatischen‹ Tropen (Metapher, Metonymie, Ironie …). Diese grammatikergänzende Tropologie ist Wort- und Satzsemantik: Des diférens sens dans lesquels on peut prendre un mème mot dans une mème langue lautet ihr Untertitel. Die Allgemeine Grammatik machte die Wörter und Strukturen im Satz durchsichtig auf Vorstellungen und Denken. Dumarsais’ tropologische Semantik überschreitet und vollendet die Repräsentation. Sie überschreitet sie, weil die Tropen der zeichenhaften Bedeutung des Wortes (der Denotation) eine andere Bedeutung hinzufügen; und sie vollendet die Grammatik, weil sie die Reste, die der grammatisch-logischen Erklärung entgehen, sammelt und nach einer der Grammatik und Logik analogen Weise ordnet (durch die Konnotation oder — wie es schon im 17. Jahrhundert bei B. Lamy heisst — die ›idée accessoire‹). Tropologie versöhnt die Ordnung der vom Licht der Repräsentation durchleuchteten ›eigentlichen Bedeutung‹ der Grammatik mit der Kontingenz der semantischen Abweichungen: mit den Eigenheiten der Autoren und den Inkonsequenzen der vom Sinn nicht restlos durchdrungenen Wörter, mit den Zufällen der Sprache in der Geschichte der Staaten. Die Tropologie forscht in diesen Überschüssen nach einer Erkennbarkeit und Unterscheidbarkeit der Abweichungen von der Ordnung. Der Tropus ist semantisch Abweichung, als Figur gewinnt er aber formal eine sekundäre Erkennbarkeit und Zuordbarkeit: Les tropes sont des figures, puisque ce sont des manières de parler, qui, outre la propriété de faire conoître ce qu’on pense, sont encore distinguées par quelque diférence pariculière, qui fait qu’on les raporte chacune à une espèce à part.41
38. Les Tropes de Dumarsais, avec un commentaire raisonne […] par M. Fontanier, Paris 1818; Nachdruck als: Dumarsais-Fontanier, Les tropes, Vorwort von Gérard Genette, Genf / Paris 1984. 39. Manuel classique pour l’étude des tropes ou élémens de la science du sens des mots. Première partie d’un Traité général et complet des figures du discours (Paris 1821) und Traité général des figures du discours autres que les tropes. Ouvrage qui, avec le Manuel des Tropes, déjà adopté pour les collèges, formera un traité général et complet des Figures du Discours (Paris 1827). Gérard Genette hat die beiden Bände unter dem Titel Les figures du discours herausgegeben (Paris 1968). 40. Dumarsais, »Avertissement de la première Edition«, in: Fontanier-Dumarsais, Les tropes, op. cit., Bd. 1, S. iii–vii und S. 22–26. 41. Du Marsais, Traité des tropes, op. cit., S. 18.
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Erste und grundlegende tropologische Figur bei Dumarsais ist die Katachrese. Katachresis oder ›abusio‹ heisst Gebrauch als Missbrauch, Anwendung als Zweckentfremdung. Traditionell verstehen Rhetoriker darunter entweder den übertragenen Wortgebrauch in einer Bedeutung, für die der Sprache ein ›verbum proprium‹ fehlt, oder die besonders kühne, auffällige Übertragung. Gerade die Figur, die den Legitimitätsmangel im Namen führt, hat für Dumarsais Schlüsselfunktion. Bestimmt ist sie nämlich zunächst allein durch ihre figurale Erkennbarkeit und Unterscheidbarkeit. Zur ›Figur‹ der Katachrese wird ein ›tropologischer‹ Wortgebrauch, wenn er an der Stelle eines Wortmangels in der Sprache erscheint. Letztlich kann jeder Tropus (jede Übertragungsart) die Stelle der Figur (die Erkennbarkeit einer Gestalt) einnehmen, wenn die Sprache dafür in Form eines Mangels den Platz bereithält; und jeder Tropus schafft in der Sprache die Stelle des Mangels seiner eigentlichen Bezeichnung.42 In Dumarsais’ ›master trope‹, der Katachrese, ist die Rhetorik ganz zur (sprachgeschichtlich und hermeneutisch gewendeten) Semantik, zum Selbstkorrektiv der grammatischen Repräsentation, geworden. Diese Grundidee reformierte Rhetorik in einer Weise, die sie den Forderungen der Nationalisierung, der Historisierung und der hermeneutischen Betrachtung der Literatur anmass. Dabei verlor die Rhetorik zwar alle Domänen bis auf die ›elocutio‹, die Stilistik. Aber diese Kompetenz erhielt nun eine tiefere Begründung, als es in der herkömmlichen ganzen Rhetorik der Fall war. Die tropologischen Figuren kamen nicht mehr nur zur Ordnung der Sprache hinzu; als ›Figuren‹ bildeten die ›Tropen‹ einen Kreis wiedererkennbarer Gestalten um den zeichenhaften Kern der Sprache herum, sie bildeten eine zweite Sprache ausserhalb und doch in der ersten Sprache. Zumindest in dieser Grundidee waren wichtige Fragen rhetorisch gelöst, die die deutsche Tradition, z.B. Herder, durch kritische Distanzierung von Rhetorik und durch Umstellung auf Sprachgeschichte bewältigte. Das sah man freilich so erst im Nachhinein. Dumarsais hatte den traité des tropes als Teil der Grammatik verfasst — als ouvrage utile pour l’intelligence des auteurs, et qui peut servir d’introduction à la rhétorique et à la logique. Erst seit der Jahrhundertmitte wurde aus der Einleitung die Reform der Rhetorik, bzw. der classe de rhétorique.43 Das hatte Spannungen in deren Epistemologie zur Folge. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts griff Pierre Fontanier sie in seinem Dumarsais-Kommentar auf und löste sie dann in seinen Figures du discours. Gerade im master trope der Katachrese fand Fontanier das Problem: Er erkannte, dass Dumarsais den rhetorischen Term Katachrese gleichgesetzt hatte mit dem lexikalischen Term der Bedeutungserweiterung (›extension‹). Wenn aber — so Fontaniers Argument — ein Tropus als Bedeutungserweiterung lexikalisiert ist, kann er nicht gleichzeitig als Figur zur rhetorischen Verfügung stehen. Die Rhetorik-Reform der Tropologie drohte, mit der freien Verfügbarkeit der Tropen die ›raison d‹être’ der Rhetorik zu beseitigen. Je erfolgreicher die semantische Analyse sich der
42. Patricia Parker argumentiert, dass die rhetorikgeschichtliche Doppeldeutigkeit der Katachrese — als Metapher bei mangelndem verbum proprium und als gewaltsame Metapher — systematisch kein Zufall und in Fontaniers Kritik an Dumarsais wirksam ist. (»Metaphor and Catachresis«, in: Bender, John / Wellbery, David E., The Ends of Rhetoric, op. cit., S. 60–73). 43. 1757 nennt Fréron die Tropes von Dumarsais noch ein »livre trop inconnu«, 1818 bescheinigt Fontanier dem Buch einen nahezu beherrschenden, wenn auch eher indirekten, Einfluss in den Collèges (Dumarsais-Fontanier, Les Tropes, Bd. 1, S. V–IX und LIII).
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Übertragungen bemächtigte, desto weniger kamen die alten Ursachen und Zwecke der Übertragung noch zum Zuge: die Überredung, die Affekterregung, der Schmuck. Das Geflecht dieser Veranlassungen der Figuration hatte in der alten Rhetorik die Zufälligkeit und Jeweiligkeit der Figuren anthropologisch getragen. Die tendenzielle Lexikalisierung der Figuren macht die kontingenten Stützen unnötig und vor allem: unmöglich. Fontanier behielt nun Dumarsais’ Beschränkung auf ›elocutio‹ (unter Einschluss der nicht-tropischen Figuren) bei, andererseits unterschied er aber wieder zwischen Grammatik und Rhetorik. ›Figure‹ impliziert bei Fontanier nicht mehr nur gestalthafte Erkennbarkeit und Differenz, sondern darüberhinaus immer auch freies Spiel: Der Autor muss sich immer auch anders haben ausdrücken können.44 Katachresen sind darum zwar Tropen, aber keine Figuren — andererseits kehren bei Dumarsais vernachlässigte Figuren (z.B. der Wortstellung) wieder, die keine Tropen sind. Tropologische Figuren bilden bei Fontanier also nur eine Schnittmenge, aber doch die für den Kompromiss der literarisierten Rhetorik relevante: in diesen ›figures de signification‹, wie Fontanier sie auch nennt, verbindet sich die Konzentration auf Semantik mit der Freiheit rhetorischen Spiels. Mit der alten Rhetorik verglichen, ist es ein insistentes und einförmiges Spiel. Der ›Mehrwert‹ der Figuration45 bezieht sich nämlich nun nicht mehr auf kontingente Ursachen / Absichten der Persuasion oder Affektion, die Freiheit des Spiels bekundet vielmehr unausgesetzt die Unterscheidung der Poesie von der Prosa, d.h. sich selbst als Differenz. Ohne dass es eine Berührung zwischen dem französischen Rhetorikprofessor und dem deutschen Dichter-Philosophen zu vermuten gäbe: die strukturelle Nähe dieser rhetoriktechnischen Konzeption des freien Spiels der Figuren zur ästhetischen Begriffsarbeit Schillers an der Freiheit des Spiels frappiert. Zwischen ihnen aber steht Kants Polemik gegen die Rhetorik. Zwischen Dumarsais und Fontanier liegen verschiedene Transformationen der Rhetorik,46 die in Frankreich weit über die beiden Enden des Zeitraums 1760–1820 hinaus das Vokabular und den schulischen Unterricht der Rhetorik anpassungfähig hielten. Allerdings kann man nicht übersehen, dass die Transformation Motive der Rhetorikverwerfung streift: die Ausfaltung des Sprachgebegriffs, der zur Literatur- und Geistesgeschichte eines Volkes wird, und die Abgrenzung einer Ästhetik des freien Spiels. Motive, die bei deutschen Autoren zum Bruch mit der Rhetorik führen, liegen in den Begründungsschichten der auf ›elocutio‹ und Stilistik beschränkten Rhetorik Dumarsais-Fontaniers verwahrt und verborgen. 2. Die Herrschaft der griechischen und lateinischen Literatur an den berühmten Schulen und Universitäten Englands47 zeigt sich in der rhetorischen Tradition bis ins 19. Jahrhundert. J.
44. Fontanier, Figures du discours, op. cit., S. 64. 45. Diese Interpretation gibt Gérard Genette (in: »Figures« sowie im Vorwort zu Fontanier, Les figures du discours), ohne freilich die damit implizierte Tilgung der anthropologischen Bezüge der Rhetorik zu bemerken. 46. Bernard, Annie, Les traités de rhétorique au XVIIIième siècle, Paris 1973. — Vgl. Küntz, Pierre, »Autour de l’Article Rhetorique«, in: Duchet, M. / Jalley, M. (eds.), Langue et langages de Leibniz à l’Encyclopédie, S. 279–290. 47. Hierzu die massgebende Information: Howell, Wilbur Samuel, Eighteenth-Century British Logic and Rhetoric, Princeton 1971. Vgl. auch die Beiträge von Winifred Bryan Horner (18. Jahrhundert) und Donald C. Stewart (19. Jahrhundert) in: Horner, Winifred Bryan (ed.), The Present State of Scholarship in Historical and Contemporary Rhetoric, London 1983. — Überlegungen, die der hier vertretenen Sicht näherstehen, bei Cahn, Michael, Kunst der Überlistung. Studien zur Wissenschaftsgeschichte der Rhetorik, München 1986.
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Wards A System of Oratory (1759) ist Beispiel des klassischen Gesamtkursus der Beredsamkeit, der die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts beherrschte, Th. Gibbons’ Rhetoric (1767), die geradezu eine Äquilibristik zwischen antiken und englischen Autoren ins Werk setzt, ist Beispiel der in ramistischer Methode auf ›elocutio‹ reduzierten Rhetorik (was nichts mit der Semantikforschung Dumarsais’ gemeinsam hat). Auf aktuelle Debatten in Frankreich reagierend, trat zwischen 1750 und 1780 an den schottischen Universitäten eine andere Rhetorik auf. Es war eine auf das Lesen konzentrierte Analyse, die, wie es der Titel des Pionierwerks des Lord Kames ankündigte, Elements of Criticism (1762) erkennen lehrte. Darin ist sie, wie W. J. Ong bemerkt hat, Gegenstück zu dem bis ins 20. Jahrhundert so erfolgreichen, kulturgeschichtlich so aufschlussreichen ›elocutionary movement‹, der sozialen Sprecherziehung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Auffallend in der schottischen Rhetorik ist die Stellung zur Figuration. Adam Smith (1723–1790) gibt dafür in den Lectures on Rhetoric and Belles Lettres (erhalten in einer Mitschrift von 1762 /63) im Anschluss an den Exkurs Of the origin and progress of language eine rigorose Begründung. Grammatik ist für ihn nur nachträgliche Kodifizierung und festschreibende Regulierung des Sprachgebrauchs. Die vermeintlichen »beauties of language«, Tropen und Figuren, hängen damit von bloss historischen Regelversuchen ab: […] when they came to find that many expressions could not be reduced to these rules [sc. der Grammatiken], they were not candid enough to confess the grossness of their error and allow that these were exceptions to the general [rule] they had laid down […]. […] they gave this sort of expressions the name of tropes or figures of speech.48
Das ist Figurentheorie als Betrugstheorie. Geistreich setzte Smith sie fort in die moralischästhetische Kritik an Shaftesbury, der in den Lectures die Rolle des Figuren-Rhetorikers spielt. Der gute Autor — Addison, Swift — braucht keine Tropen zur Formung seines Stils, der sich nach dem Gebot der ›perspicuitas‹ als Ausdruck seiner Gedanken und seines Charakters einstellt. Shaftesburys Tropen sind zwar auch Charakterausdruck, aber Ausdruck eines standpunktlos Erzogenen, der von schwächlicher Konstitution und unangemessenem intellektuellem Ehrgeiz war: seine Tropen — vorab der »innumerable number« von Tropen für die Selbstreflexion — sind mangelhafter Ausdruck als Ausdruck moralischer Mangelhaftigkeit.49 Die Figuren bilden das leere Zentrum der neuen Rhetorik.50 Hier liegt im übrigen auch das Grundmotiv für den deutschen Bruch mit Rhetorik. In der Kritik der Urteilskraft (§ 53) (1790) unterscheidet Kant (1724–1804) die persuasive »Beredsamkeit«, in der Bedeutungsveränderung und Psychologie kausal verknüpft sind, von einer »Wohlredenheit«, in der die Worte auf die Aufgabe der Darstellung beschränkt sind. Der nicht auflösbare, der Überredung dienende Tropus verfällt der moralischen Kritik. Gut ist die ganz als Darstellung zu erfassende Figur, über die aber weiter nichts zu sagen ist. Was als Kants Verwerfung der Rhetorik Literaturgeschichte
48. Smith, Adam, Lectures on Rhetoric and Belles Lettres. Delivered in the University of Glasgow by Adam Smith. Reported by a Student in 1762–63, Lothian, J. M. (ed.), Vorwort D. Potter, Carbondale / Edwardsville 1971, S. 22. 49. Ibid., S. 52 f., vgl. auch S. 5 f. 50. Vgl. Thomson, Ian, »Rhetoric and the Passions, 1760–1800«, in: Vickers, Brian, Rhetoric Revalued, Binghampton / New York 1982, S. 143–148.
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machte, ist von Smiths Analyse nicht weit entfernt. Und doch leitete Smith die wohl best konzipierten Reform der Rhetorik im 18. Jahrhundert ein. Wenn die Worte, die in der ›elocutio‹ zur Wahl stehen, Ausdruck des Charakters sind, wenn der Stil in durchsichtiger Weise mit dem Autor übereinkommt, dann muss sich die Rhetorik aus den Wortverschiebungen heraus in deren anthropologische Korrespondenzen zurückziehen. George Campbells Philosophy of Rhetoric ist philosophische Ausarbeitung des Rhetorischen im Bereich von Persuasion und Argumentation gemäss den »different sources of Evidence«. Wahrheit im logischen Sinne ist »conformity of our conceptions to their archetypes in the nature of things«; Evidenz ist »[t]his conformity […] perceived by the mind«.51 »Evidence« heisst also Verhalten des Menschen zur Wahrheit — die nichttheologische und aussermoralische Fokussierung dieser Beziehung gehört zweifellos zu den grossen Entdeckungen des späteren 18. Jahrhunderts.52 Sie eröffnet eine Pragmatik der Wahrheit: Intuitive werden von abgeleiteten Evidenzen unterschieden, zufällige Beobachtung vom Experiment, eigene von fremder Zeugenschaft, Wahrscheinlichkeit aus Überlieferung vom mathematischen Kalkül. Campbells klugen Ansatz verdünnte zu Beginn des 19. Jahrhunderts der spätere Dubliner Bischof Whately zur Argumentationstheorie; in dieser Fassung erreichte er die Neue Welt.53 Literarisch wichtiger und ausserhalb angloamerikanischer Kultur wirkungsvoller als Campbells EvidenzRhetorik waren Hugh Blairs (1718–1800) Vorlesungen, die wie diejenigen Adam Smiths Lectures on Rhetoric and Belles Lettres hiessen. Blair hielt, konzilianter als Smith, an der Allgemeinen Grammatik und der Legitimität der Tropen und Figuren fest. Dennoch baute auch Blair die ›elocutio‹ auf ihrer anthropologischen Korrespondenz auf. Er wählte dafür, im Kontakt mit Dubos und mit Burkes Abhandlung über das Schöne und das Erhabene (1757), die moralische und ästhetische Sphäre des Urteils: die des Geschmacks und der Kritik. Wie in Burkes Abhandlung und wie in Kants (1724–1804) Kritik der Urteilskraft (1781) markiert das Gegenstandsfeld des Urteils die Grundunterscheidung zwischen dem Erhabenen und dem Schönen. Daran scheint beim ersten Blick Blairs Behandlung der ›elocutio‹, der Tropen und Figuren, nur wie angehängt. Und doch stellte er gerade durch die Unterscheidung erhaben /schön hindurch (und über Burkes Überlegungen dazu hinausgehend) die Frage des Stils. Das »Sublime in Writing« sei ein »species of Writing which depends less than any other on artifical embellishments of rhetoric«.54 Genauer: »The true sense of Sublime Writing […] is such a description of objects, or exhibition of sentiments, which are in themselves of a Sublime nature […].« Dagegen sei der Bezug auf Stil oder Wortwahl eine uneigentliche oder unpassende Bedeutung
51. Campbell, George, Philosophy of Rhetoric, Bitzer, L. F. (ed.), Vorwort D. Potter, Carbondale / Edwardsville 1963, S. 35. 52. Campbell setzt damit Locke fort; in der Tat wird Locke heute nicht mehr so sehr als Kritiker der Rhetorik gelesen, sondern als Verfechter einer wissenschaftsverträglichen, ›probabilistischen‹ Rhetorik; vgl. Walmsley, Peter, »Dispute and Conversation: Probability and the Rhetoric of Natural Philosophy in Locke’s Essay«, in: Journal of the History of Ideas 54, 1993, S. 381–394. 53. Whately, Richard, Elements of Rhetoric. Comprising an Analysis of the Laws of Moral Evidence and of Persuasion, with Rules for Argumentative Composition and ›elocutio‹n, Vorwort D. Potter, Carbondale / Edwardsville 1963. 54. Blair, Hugh, Lectures on Rhetoric an Belles Lettres, London 1783, Harding, H. F. (ed.), Vorwort von D. Potter, 2 Bde., Carbondale / Edwardsville 1965; hier: Bd. I, S. 57.
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von »Sublime Writing«. »Sublime Writing« ist die Hintanstellung der ›elocutio‹ und der Wortwahl oder sogar die Überwältigung der Worte durch den »Boldness and Grandeur in the Thoughts«.55 Anders ist das Verhältnis zwischen ›res‹ und ›verba‹ im Fall des Schönen: Das Schöne »is applied to all that pleases, either in style or in sentiment«. Im Gegensatz zum Erhabenen zielt das Schöne auf »a certain grace and amaenity«, und zwar: »either of style or of sentiment«.56 Das Schöne zeigt sich in den Gedanken und den Worten oder einmal hier und einmal dort. Beim Schönen schwebt das Urteil zwischen res und verba. Die Unterscheidung zwischen dem Erhabenen und dem Schönen artikuliert also auch die Beziehung zwischen ›res‹ und ›verba‹: Im Erhabenen schlägt der Gedanke geradewegs durch in sein Wort, ja er verzehrt das Wort; das Schöne führt auf ein Gleichgewicht zwischen Wortlaut und Bedeutung. Erst nach dieser Grundlegung einer markierten Hinsicht auf ›elocutio‹ spricht Blair über die Gesetze der Sprache und die Stilgebote ›perspicuity‹ und ›ornament‹. Sprache und Stil überhaupt, vor jeder Besonderung, kommen damit unter die Sicht, die das Geschmacksurteil mit seiner Basisdifferenz eröffnet. Hugh Blair legte so den Grund einer Rhetorik, die auf der Höhe der vorkritischen Ästhetik war. In der subtilen Bindung der Ausdrucksfrage an die Differenz zwischen Erhabenem und Schönem steht er der ästhetischen Begrifflichkeit und der Literatur näher als jede andere Rhetorik des 18. Jahrhunderts. In der Epistemologie der neuen, literarischen Rhetoriken erkennt man eine Alternative, die vom Null-Punkt einer der Bedeutung adäquaten oder unterworfenen ›elocutio‹ ausgeht: die semantische Erkundung ohne anthropologische Referenz (Dumarsais) und die anthropologisch relevante Erkundung des Rhetorischen ohne ›elocutio‹ (Adam Smith). Die Rhetorikreformen zwischen 1760 und 1820 berührten die Systemfrage der Rhetorik selbst, die Frage nach dem Sinn der Beziehung zwischen ›res‹ und ›verba‹. Entweder der Beziehungssinn wird in den Termen der res interpretiert: als anthropologische Beziehung; oder in den Termen der ›verba‹: als semantische Beziehung. Fontanier fügte dann später Dumarsais’ Semantik das freie Spiel der ›tropes de signification‹ zu; Blair legte, kaum später als Smith, in der Unterscheidung des Erhabenen vom Schönen der ferngerückten ›elocutio‹ einen ästhetischen Sinn ein.57 Begrifflich ist diese literarische Rhetorik des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts geradezu Vollendung der alten, humanistischen Rhetorik — auf ihrer Grenze. 3. Keine Rhetorik in Deutschland58 kommt diesen Entwürfen in ihrer theoretischen Folgerichtigkeit gleich (sieht man von Adam Müller einmal ab, dessen Rhetorik eine dialektische Theorie des Gesprächs ist). Die Tradition humanistischer Rhetorik ist auch hier nicht unterbrochen. Neben der deutschen Redelehre von Gottsched und Fabricius gibt es noch um die Jahrhundertmitte grosse lateinische Rhetorik wie die Initia rhetorica von J. A. Ernesti, bei dem Goethe in Leipzig, ohne
55. Ibid., 58 f, vgl. auch S. 76–79. 56. Ibid., S. 90. 57. So wundert es nicht, dass Fontanier Hugh Blair als rhetorische Autorität zitieren konnte (vgl. Vorwort zu Les figures du discours). 58. Vgl. Fröchling, Jürgen / Üding, Gert, »Literarische Wirkungsabsicht und rhetorische Tradition im 18. und 19. Jahrhundert«, in: Üding, Gert (ed.), Einführung in die Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode, Stuttgart 1976, S. 100–155.
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Freude, Kollegs hörte. Das Neue trug in Deutschland aber bereits einen anderen Namen: Ästhetik. Alexander Gottlieb Baumgartens Ästhetik verwendete zwar rhetorisches Vokabular. Aber der Systemansatz, die ›Zeichen schöner Vorstellungen‹, ist Wolffsche Semiotik und Psychologie. Es ist eher verwunderlich, dass es den Versuch literarischer Rhetorik in Deutschland noch gab. Sie steht unter der Überschrift ›Stil‹.59 1785 erschien Über den deutschen Styl des Grammatikers und Sprachhistorikers Adelung (der sich geschmacklich an Wieland orientierte); an dessen Theorie sich aber auch Gottfried August Bürger in seinen Göttinger StilVorlesungen von 1787 anschloss und das zumindest bis 1800 eine Reihe universitärer Nachfolger fand.60 Adelung interpretierte die Tropen und Figuren nach der Vermögenspsychologie:61 Die Alliteration ist danach die Figur der Aufmerksamkeit, die Apostrophe die der Einbildungskraft, Metapher heisst eine Figur der Phantasie, Vergleich eine Figur des Witzes, Hyperbel und Ausruf sind Figuren einzelner Gemütsbewegungen. Diese psychologische Hermeneutik verdoppelt zwar die Sprachfigur nur um das Vermögen. Der Vergleich mit den englischen und den französischen neuen Rhetoriken lehrt aber, auf welches Problem Adelung so antwortete. Er stellte eine Lösung für die Frage nach der Beziehung zwischen rhetorischer Abweichung und anthropologischen Korrespondenzen auf. Im stilistischen Kernbereich der Figuren herrscht bei ihm die Beziehung, die sonst gerade für die grammatische Normalform postuliert wurde, von der die Figuren abweichen: die Darstellung. Grundsätzlicher noch als die moralisch-ästhetische Polemik gegen die Persuasion war es die Zentrierung auf Darstellung gewesen, die Kant in der Kritik der Urteilskraft zur Verwerfung oder besser: zur Spaltung der Rhetorik geführt hatte. Die schlechte Rhetorik, die Beredsamkeit, ist nach Kant eine Maschine, die den Zuhörern gegenüber in Position gebracht wird, oder sie macht die Menschen selbst zu blossen Mitteln, zu Maschinen (§ 53). In dieser bezeichnenden Doppeldeutigkeit spielt Kant die anthropologisch wirksame Rhetorik aus dem Reich der darstellenden freien hinüber in das der nichtdarstellenden mechanischen Künste, Rhetorik wird Inbegriff des Maschinellen. Gute Rhetorik dagegen ist reine Darstellung: eine Wohlredenheit, in der die Worte dem guten Herzen von sich aus folgen. Die rhetorische Pointe dieser Rhetorikkritik: Kant verwendete als ›terminus‹ für ›Darstellung‹ gerade den Figurennamen der ›Hypotypose‹ (des Vorstellig-Machens).62 Hegel (1770–1831) sollte in der Ästhetik-Vorlesung (1835–1838) die Spaltung der Rhetorik um der Reinheit der Darstellung willen radikalisieren. Element der Dichtung ist die ›poetische Vorstellung‹, der das Wort zunächst — fast — materielos eingefügt ist. Das ›eigentliche Bild‹ liegt in der Sphäre der Vorstellung, die ›uneigentlichen Bilder‹ der bewusst sprachlichen Formung — die Hegel denn auch mit den rhetorischen Figurennamen
59. Dazu: Campe, Rüdiger, »Die zwei Perioden des Stils«, in: Comparatio 2 / 3, 1991, S. 73–101. 60. Adelung, Johann Christoph, Über den deutschen Styl, Berlin 1785, Nachdruck Hildesheim / New York 1974. — Bürger, Gottfried August, Lehrbuch des deutschen Styles, Reinhard, K. V. (ed.), Berlin 1826. 61. Andere Teile von Adelungs Instrumentarium sind aber moderner: so setzt er sich im sprachtheoretischen Exkurs über den Ursprung der Sprache mit Herder auseinander. Im Grunde ist auch im Fall der Figurenanalyse weniger das Mittel der Vermögenspsychologie, als vielmehr der Zweck der durchgängigen Hermeneutik der Figuren von Interesse. 62. Vgl. Gasché, Rodolphe, »Some Reflections on the Notion of Hypotyposis in Kant«, Argumentation 4, 1990, S. 85–100.
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nennt — stellen das eigentliche Bild, das Bild der Vorstellung, gleichsam nach.63 Diese zweite darstellungslogische Auflösung des Rhetorischen — die Beziehung eines eigentlichen zu einem uneigentlichen Bild — wird man in der deutschen Romantik bis zu G. Gerber finden, in dessen Buch Die Sprache als Kunstwerk (1871 /73) Nietzsche eine Physiologie der Figuration kennenlernte. Sie ist wohl zum ersten Mal ausgearbeitet worden in A. G. Bernhardis Sprachlehre (1800 /1803). Mit ihr begann die zweite Phase der deutschen Stiltheorie. Sie hat einen anderen institutionellen Kontext als Adelungs akademische Stilpsychologie: Bernhardi und seine Nachfolger sind für die Deutsch- (und oft auch die Griechisch- und Latein-)stunde im Gymnasium verantwortlich — in Bernhardis Unterricht sassen Tieck und Wackenroder. Ihre Theorie, die bis etwa 1840 weiterentwickelt wurde, zielte auf Grammatik. In spekulativ dialektischer Methode suchte Bernhardi den innergrammatischen Ort des ›eigentlichen Bildes‹ in der attributiven Beziehung des Epitheton zum Substantiv. Das Epitheton füllt in seiner sprachlichen Funktion die (leere) Substanz-Vorstellung auf, die mit dem Substantiv bezeichnet ist. Insofern liegt in der grammatischen Beziehung der Attribution des Epithetons die unmerkliche und unrhetorische Grundstellung aller Bildlichkeit, die die Figuren der Stilistik nur nachahmen. Rhetorische Figuration wiederholt danach das eigene und eigentliche poetische Spiel der Sprache. Dieses romantische und gymnasiale Stilkonzept brach mit der Rhetorik. Es ist kein Zufall, dass auch bei Hegel das Epitheton Beispiel für das ’eigentliche Bild’ der (Homerischen) Poesie war.64 In den Rhetorikreformen des späten 18. Jahrhunderts liegt jeweils auch ein Moment des Bruchs. Das gilt nicht nur für die schwächeren deutschen Stiltheorien. Hier ist die Entsprechung zu den Gesten des Bruchs in der Ästhetik von Baumgarten bis Hegel leicht zu sehen. Aber auch bei Dumarsais-Fontanier und Hugh Blair ist die humanistische Tradition der Rhetorik unterbrochen, insofern sie Anthropologie und Linguistik stets in einem unauflöslichen Geflecht der Lektüre, Übung und Nachahmung verknüpft hatte. Die rhetorische Fachliteratur stellt den Paradoxien in den gegenrhetorischen Motiven der Kritik nicht einfach gelingende Reformmodelle gegenüber. Aber sie klärt deren theoretischen Einsatz. In allen Versuchen, die ›elocutio‹ der Tropen und Figuren in die grammatische Repräsentation einzubeziehen, d.h. gerade durch die Systematisierung des Verhältnisses Anthropologie / Sprachform, treten Bruchstellen in diesem Verhältnis hervor. Sowohl in der Tropologie, die zur Semantik wird, als auch in der Moralästhetik, die das Verhältnis zur ›elocutio‹ mit der Geschmacksdifferenz des Erhabenen vom Schönen bestimmt, erfuhr die Grenze zwischen Figuration und Anthropologie eine deutlichere Zeichnung als jemals in der humanistischen Rhetorik. Die Grenze wurde tendenziell zur ›Kritik‹ — zur gleichsam transzendentalen Kritik — des Verhältnisses zwischen Figurenrhetorik und rhetorischer Anthropologie. Diese ›Kritik‹ fand keinen direkten unmittelbaren theoretischen Ausdruck zwischen 1760 und 1820: Den Inszenierungen des Bruchs mit Rhetorik bleiben die Insistenz der Sprache in den Figuren der ›elocutio‹ verborgen. Die Transformationen neigen dazu, das Moment des Bruchs
63. Vgl. Menninghaus, Winfred, »’Darstellung’. Friedrich Gottlieb Klopstocks Eröffnung eines neuen Paradigmas«, in: Nibbrig, Ch. L. (ed.), Was heisst »Darstellen«?, Frankfurt 1994, S. 205–226. 64. Hegel, Friedrich Wilhelm, Vorlesungen über die Ästhetik, Teil III, »Der poetische Ausdruck«, in: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, Glockner, H. (ed.), S. 274–318, hier bes. S. 278.
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mit der alten Rhetorik, den inneren Bruch zwischen Sprachform und psychologischer Zurechnung, zu übersehen.
Auffällig ist, dass Rhetorikern und Poetologen des 18. Jahrhunderts zum modernen Roman, zum Roman ihrer Zeit, nicht viel einfiel. Dabei lagen die Anschlussmöglichkeiten auf der Hand. Es genügt, an den Briefroman zu erinnern. In der Entstehungsgeschichte von Richardsons Pamela (1740) ist der Übergang vom rhetorischen Briefsteller zum Roman bis ins Ankedotische hinein zu verfolgen. Aber wenn es stimmt, dass Richardson die Reform des Briefstils — das ›writing to the moment‹ — gerade erst im und als Roman vollzog, dann lässt sich daraus sowohl auf die Abhängigkeit des Briefromans von der rhetorischen Überlieferung wie auf die Notwendigkeit der Distanzierung von ihr schliessen. Zu einer Theorie des Romans im 18. und 19. Jahrhundert hat die rhetorische narratio, die Topik der wahrscheinlichen Erzählung und der ›circumstantiae‹ (des Wer? Wo? Wann? etc.), offenbar nicht beigetragen. Das ist leicht einzusehen. Denn Rhetorik sprach von der Rede, ihren Mitteln und Wirkungen. Die ›narratio‹ der rhetorischen Poetik sah demgemäss das Erzählen als Element von (überzeugender oder argumentierender) Rede. Im Roman Richardsons, Rousseaus und Goethes wird man aber nicht eine Rede sehen, die erzählt, sondern Geschichte, die sprachlich verfasst ist. Jede Romantheorie muss die Kategorien autonomer Geschichte: WeltDarstellung, Anschaulichkeit, extensive Fülle kommentieren können. Auf solche Fragen trifft die Rhetorik aber nicht in der ›narratio‹, sondern bei der Figur der evidentia oder hypotyposis (Vorstellig-Machen) — den Figuren der ›Deskription‹.65 Bei Adam Smith jedenfalls zeichnet sich unter diesen Stichworten eine Art figuraler Romantheorie ab; auch wenn er noch einmal ausdrücklich den Roman als autonome Geschichte vom Standpunkt rhetorischer Rede aus verwirft. »Every discourse«, sagt Smith, »proposes either barely to relate some fact or to prove some proposition. The first is the kind of discourse called a narrative one; the latter is the foundation of two sorts of discourses, the didactic and the rhetorical.«66 Die erzählende bzw. berichtende Rede wird nun keineswegs durch Topik oder Disposition der ›narratio‹ charakterisiert, sondern ausschliesslich durch die Figur der Beschreibung (›descriptio‹).67 Adam Smith’ Konzept eines deskriptiven Erzählens, das man mit dem Roman zwischen Richardson und Fielding in Verbindung bringen kann, lässt sich nun als Rhetorik zweiter Ordnung verstehen. Rhetorik hatte gelehrt, wie die Rede in einer bestimmten Situation einen bestimmten Effekt erzielt. Die Figur deskriptiver Erzählung zeigt, wie man beschreibt, wie
65. Vgl. Meuthen, Erich, Selbstüberredung. Rhetorik und Roman im 18. Jahrhundert, Freiburg 1994; dort bes. »Rhetorische Evidenz«, S. 79–114. 66. Smith, Adam, Lectures on Rhetoric, op. cit., S. 58. 67. Vgl. vor allem die Vorlesungen 12–17 über die Kategorie der description, dann 18–21 über Geschichtsschreibung als composition der Gattung ›Beschreiben / Erzählen‹.
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Lovelace einen Effekt erzielt und Mr. Allworthy einen Affekt dämpft. Die persuasive Rhetorik hatte die Umstände von Zeit und Ort und Gelegenheit aufgelistet, die einen Augenblick verführerisch oder gefährlich erscheinen lassen. Die deskriptive Erzählfigur beschreibt, wie die Umstände zusammentreten, so dass für Pamela oder Tom Jones ein Moment gefährlich oder verführerisch wird. Adam Smith’ deskriptives Erzählen erzählt nicht einfach Handlungen und Geschehnisse mit rhetorischer Absicht, sondern stellt in figurativer Beschreibung dar, was sie im rhetorischen Sinn erzählbar macht. Situations- und Charaktertypologien waren der Rhetorik als Wissen eingelagert, dessen man sich zur Persuasion bediente. Smith legte nun dieses anthropologische Vor-Wissen der Rhetorik vor das Objektiv der ›descriptio‹. Im Beschreiben stellt also die Rhetorik immer auch ihr eigenes anthropologisches Wissen mit dar. Smith setzte diesen ›narrative discourse‹ einer zweiten Gattung gegenüber, die mit ›Belehren‹ und ›Überreden‹ die klassischen Ziele rhetorischer Rede überhaupt verfolgt. Das zeigt: der ›narrative discourse‹ ist jene alte Rhetorik der Rede noch einmal — als ihre eigene ›Beschreibung / Erzählung‹. Daraus könnte man einen rhetorischen Kommentar zur Theorie des modernen Romans ableiten: Dass der Roman »von den ältesten Zeiten für die Lektüre« bestimmt ist (F. Schlegel)68 — könnte man sagen — schneidet ihn von der Pragmatik der mündlichen Rede (Wirkung, Überredung, Affekt) ab und macht ihn dafür mehr als jede andere Gattung zu deren Darstellungsmedium. In der ›evidentia‹ treffen und trennen sich danach ein als Weltdarstellung verstandener Roman und die vom Standpunkt der Rede aus sprechende Rhetorik. Mit Nachdruck versicherte Smith als ›Rhetoriker‹, dass er nicht die novel im Blick habe: da werde bloss um der Geschichte willen erzählt, wie es der bedauerliche Gebrauch der Spannung zeige (›suspense‹: die der Rhetorik unbekannte Wirkungskategorie von ›Geschichte‹).69 F. Schlegel wird im Brief über den Roman dagegen von der seit Fielding durchgeführten ›evidentia‹ ausgehen. Freilich um erneut den Roman, »insofern er eine besondre Gattung sein will«, zu kritisieren: Schlegel aber sollte mit seinem Begriff des Romantischen und dessen poetologischer Entsprechungen der Arabeske nicht mehr die Roman-Geschichte in die Rhetorik der Rede zurückholen, sondern umgekehrt ihr eine innere Rhetorizität, eine reine Tropologie der Darstellung, abverlangen.70 Im Roman, den Smith noch und Schlegel schon rhetorisch kritisierte, — so darf man folgern — endet jede Rhetorik, weil er die Figur der erzählten bzw. beschriebenen Rhetorik selbst ist: der Roman ist der Bruch mit der Rhetorik der Rede durch ihre Transformation ins Zitat der Geschichte.
68. Friedrich Schlegel, »Brief über den Roman«, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Behler, Ernst (ed.), München et al. 1967, S. 335 f. 69. Vgl. ibid., S. 91. 70. Schlegel, »Brief über den Roman«, Zit. S. 335; zum Zusammenhang: S. 333–337.
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Shakespeare und seine Übersetzer Norbert Greiner
Die klassizistische Poetik des 18. Jahrhunderts stellte gleichzeitig ein Hindernis und eine Anregung für die Aufnahme Shakespeares auf dem Kontinent dar. Wo — wie in Deutschland — eine klassizistische Ästhetik erst erfochten werden musste, blieb Shakespeare zunächst unbekannt und weckte weder sonderliche Neugier noch gar besonderes Aufsehen. Wo hingegen — wie in Frankreich — das klassizistische Theater seine Höhepunkte längst erreicht hatte, stellte sich das Bedürfnis nach neuen Stoffen, in der Folge dann auch nach deren dramaturgischen Modellen ein. Die Neugier wurde vor allem geweckt bei denen, die durch Reisekontakte oder erzwungene Exilierung solche neuen Paradigmen nicht nur vom Hörensagen, sondern in eigener Anschauung erfahren und die Publikumswirksamkeit der neuen Dramaturgie überprüfen konnten. Insofern gehört die Begegnung, die Voltaire (1694–1778) während seines Englandaufenthaltes 1726–1728 mit Shakespeare (1564–1616) machte, zu den für die europäische Literaturentwicklung wohl folgenreichsten Bildungserlebnissen, dessen Auswirkungen keineswegs auf Frankreich und die französische Literatur beschränkt blieb. Denn die zentrale Bedeutung Voltaires im 18. Jahrhundert — gerade auch für die Entwicklung der deutschen Literatur in der ersten Hälfte desselben — wirkte sich in besonderem Masse auch hinsichtlich seiner kritischen Würdigung Shakespeares aus, so dass die Rezeption Shakespeares im 18. Jahrhundert nur als ein gesamteuropäisches Phänomen betrachtet werden kann.1 Die Tatsache, dass schon vor Voltaires Vermittlungsdiensten das Phänomen Shakespeare auf dem Kontinent bekannt war, schmälert dessen Rolle nicht im geringsten. Vielmehr darf wohl gerade deshalb eine Neugier in künstlerischen und intellektuellen Kreisen vorausgesetzt werden, die durch Voltaires Thesen fundierte Nahrung und durch dessen Übersetzungen kleiner Passagen aus Shakespeares Werk konkretes Anschauungsmaterial erhielt. Vor allem durch den Spectator war Shakespeares Name eingeführt. Die französische Übersetzung aus den Jahren 1714–1726 erfuhr in den darauffolgenden 30 Jahren fünf offizielle und zahlreiche weitere Raubdrucke;2 die erste deutsche dreibändige Teilübersetzung 1719–1725 hatte ausschliesslich diese französische Übersetzung als Vorlage, wirkte über zwanzig Jahre hinaus nachhaltig in Deutschland und regte schliesslich die 1739–1743 von der Gottschedin besorge Neuübersetzung an, die ein englisches Original zugrunde legte. Wesentliche, dann auch von Voltaire geäusserte Kritik- und Würdigungspunkte fanden die
1. Wolffheim, Hans (ed.), Die Entdeckung Shakespeares. Deutsche Zeugnisse des 18. Jahrhunderts, Hamburg 1959; Michelsen, Peter, Rezension von: Price, Lawrence Marsden, Die Aufnahme englischer gelehrter Literatur in Deutschland 1500–1960, Bern / München 1951, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 220, 1968, S. 239–282; Larson, Kenneth E., »Introduction: Traditions and New Directions in the Study of French and German Shakespeare Reception«, in: Michigan Germanic Studies 15, 1989, S. 103–113. 2. Rau, Fritz, Zur Verbreitung und Nachahmung des Tatler und Spectator (= Anglistische Forschungen 145), Heidelberg 1980, S. 151–233.
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kontinentalen Leser in diesen Texten vorgegeben, doch wurden sie erst durch die Autorität Voltaires auf dem Kontinent verbindlich. Die Initialzündung gab ein Werk, dessen Wirkungsgeschichte den ›radikalen‹ Charakter der neuen Dramaturgie und auch die allgemeine kulturelle Brisanz des neuen dramatischen Paradigmas erhellt. Im selbstgewählten Exil lernte Voltaire eine ihm bis dahin unbekannte Liberalität kennen, die sich besonders auch auf das Geistesleben ausgewirkt hatte. Davon berichtete er in einer Schrift, die zunächst auf Englisch verfasst wurde und 1733 in London erschien, 1734 dann ohne sein Wissen in französischer Sprache herausgegeben wurde, was den Verleger wegen Verbreitung aufrührerischer Schriften in die Bastille brachte. In diesen Lettres Philosophiques (1733) handelt der 18. Brief von der Tragödie. Hier ist das Urteil über Shakespeare für das restliche Jahrhundert formelhaft vorgegeben; was darauf im 18. Jahrhundert folgt, ist — sofern es weiterhin im Geiste der klassizistischen Regelpoetik steht — eine Variation über die von Voltaire vorgegebenen Hauptmotive. Im wesentlichen gründet sich das Urteil auf drei Dichotomien: dem Genie steht dessen Regellosigkeit und Wildheit gegenüber; der bühnenwirksamen Kraft der Rhetorik der barbarische Geschmack seiner Zeit, dem die Diktion und die Stillage, besonders auch die Stilmischung Tribut zu zollen hatte; der tragischen Wirkung ein Mangel an Erhabenheit und bon goût. Man muss sich die ungeheure Verbreitung der Lettres vergegenwärtigen — zu Voltaires Lebzeiten gab es mindestens 34 verschiedene französische Ausgaben der Lettres Philosophiques,3 um die durchschlagende Wirkung des Voltaireschen Diktums über diese ›farces monstreuses‹ zu begreifen.4 Das mit zunehmenden Alter kritischer werdende Verhältnis Voltaires zu Shakespeare, das in der heftigen Warnung vor Shakespeares angeblich schädlichem Einfluss in einem Brief an die Académie Française gipfelte, blieb substantiell unverändert. Es resultierte daraus, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich unter dem Banner Shakespeares und einer allgemein sich geltend machenden Anglomanie das klassizistische französische Theater und die zentrale Rolle Voltaires in Frage gestellt zu sein schien.5 Wichtig wurden die Lettres philosophiques auch deshalb, weil sie die lange Reihe von Shakespeare-Übersetzungen im 18. Jahrhundert eröffneten. Um seinen, in aller Regel des Englischen unkundigen Lesern einen konkreten Eindruck des Werkes zu vermitteln, übersetzte Voltaire den »To be or not to be«-Monolog aus Hamlet. Auch die Übersetzungsstrategien für dieses kleine Unternehmen bestimmten das Vorgehen nachfolgender Übersetzer: der Shakespearesche Blankvers ist durch Alexandriner ersetzt, also eben jene Versform, die in der klassizistischen französischen Tragödie diejenige Bedeutung besass, die der Blankvers auf dem Elisabethanischen Theater innehatte. Ganz im Geist dieser Veränderung hob Voltaire die Diktion des Textes, indem er drastische Begriffe und Bilder ausliess oder ersetzte. Entscheidender indes sind die Ergänzungen, die aus einem an einer kritischen Stelle der Handlung angesiedelten Monolog über Handlungsmöglichkeiten und ihre Folgen einen gegen Obrigkeit und Klerus gerichteten
3. Larson, Kenneth E., »The Shakespeare Canon in France, Germany, and England, 1700–1776: Some Preliminary Considerations«, in: Michigan Germanic Studies 15, 1989, S. 114–135, bes. S. 120. 4. Ibid. 5. Hempfer 1988, S. 77–101.
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kritischen Diskurs werden lassen.6 Voltaire griff diese Übersetzung des Monologs sehr viel später in einem anderen Zusammenhang wieder auf. Nachdem Shakespeare zunehmend positiv bewertet wurde und in den siebziger Jahren bisweilen sogar den französischen Dramatikern vorgezogen wurde, richtete sich Voltaire polemisch gegen derartige Tendenzen. In seinem anonym veröffentlichten Appel à toutes les nations de l’Europe des jugements d’un écrivain anglais versuchte er, mit einer ebenso witzigen wie boshaften Inhaltsparaphrase des Hamlet, die alle als ›Fehler‹ geltenden Eigenheiten des Textes besonders hervorhebt, das Werk in seiner Geschmacklosigkeit blosszustellen. Dieser Zweck veranlasste ihn, als Anonymus unter Verweis auf die frühe Übersetzung des Monologs durch ›Voltaire‹, derselben eine wörtliche Übersetzung entgegenzustellen, die nun die zum Zwecke der Adaptation an das französische Literatursystem ›bereinigten‹ Passagen der frühen Übersetzung umso drastischer hervorhob.7 Eine dritte Übersetzung Voltaires verdient unsere Erwähnung. Im Vorwort zu seiner Tragödie Brutus, dem Discours sur la tragédie aus dem Jahre 1730, warb Voltaire für das englische Theater mit der Übersetzung der Brutus-Rede aus der dritten Szene des zweiten Aktes von Julius Caesar, dem zweiten Stück, das neben Hamlet Voltaires Aufmerksamkeit erregte. Diese Übersetzung wiederum wurde ein Vorläufer für die längste Übersetzung, die Voltaire aus Shakespeares Werk angefertigt hat. Da er zu jener Zeit, in der er sich längst zur Polemik gegen Shakespeare veranlasst sah, eine Corneille-Ausgabe besorgte, gab er dem Kommentar zu dieser Ausgabe eine Übersetzung der ersten drei Akte des Julius Caesar bei, die zwar unvermittelt vor der 1730 übersetzten Brutus-Rede des dritten Aktes abbricht, ansonsten aber vorgibt, einschliesslich des Blankverses eine genaue Wiedergabe des Originaltextes zu liefern. Die Genauigkeit geht dabei soweit, dass eben jene Stellen, die als Verstoss gegen die klassizistische Ästhetik bewertet wurden, in aller Deutlichkeit hervortreten und somit an die Übersetzungsstrategie des »wörtlichen« Hamlet-Monologs anschliessen.8 Voltaires Übersetzungen sind nicht nur Belege für die sich wandelnden Akzente seines Shakespeare-Bildes. Beides, seine Argumente für und gegen Shakespeare sowie die Art seiner Übersetzungen, spiegeln den Umbruch, der sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts auf dem kontinentalen Theater vollzog, spiegeln auch die Zerrissenheit jener Vertreter einer Epoche, die diesen Wandel verursacht und wesentlich geprägt haben. In diesem von Voltaire gesetzten Rahmen spielte sich ein grosser Teil der weiteren übersetzerischen Auseinandersetzungen mit Shakespeare im 18. Jahrhundert ab. Es entstanden die ersten gesamten Dramenübersetzungen — in Deutschland und in Frankreich — als Einzelübersetzungen und in Form von Sammelbänden sowie darauf fussenden Übersetzungen aus zweiter Hand in weiteren europäischen Ländern. Manch eine dieser Übersetzungen war es ja, die die erwähnte Veränderung in Voltaires Haltung gegenüber Shakespeare erst hervorrief.
6. Miller, Arnold, »Voltaire’s Treason: The Translation of Hamlet’s Soliloquy«, in: Michigan Germanic Studies 15, 1989, S. 136–159, hier: S. 149. 7. Landy-Houillon, Isabelle / Menard, Maurice (eds.), Burlesquei et formes parodiques dans la littérature et les arts, Tübingen 1987, S. 497. 8. Besterman, Theodore, »Voltaire on Shakespeare«, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 54, Genf 1967, S. 119 ff.
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Die erste Übersetzung eines gesamten Stückes von Shakespeare auf dem Kontinent überhaupt bietet der in mancherlei Hinsicht bemerkenswerte Jesuitenkollegiat Pierre-Antoine de La Place, der die englische Sprache für damalige Verhältnisse überdurchschnittlich gut beherrschte. Diesen Vorteil nutzte er für eine umfangreiche Übersetzerkarriere, die neben der achtbändigen Anthologie Le Théâtre Anglois zahlreiche weitere Übersetzungen aus dem Englischen hervorbrachte. Ursprünglich waren zwei Bände mit Shakespeare-Übersetzungen vorgesehen, die auch gedruckt wurden; sie enthielten Hamlet, Othello, Macbeth, Richard III und den dritten Teil von Henry VI. Der überwältigende Erfolg dieser beiden Bände veranlasste die zwei weiteren, die Julius Caesar, Antony and Cleopatra, Cymbeline, Timon of Athens und The Merry Wives of Windsor enthielten.9 Die Auswahl der Stücke verrät die nahezu ausschliessliche Beschränkung des zeitgenössischen Interesses auf die Tragödien bzw. die Historien und die Vernachlässigung der Komödien. Dem ersten Band ist ein 118 Seiten langer Discours sur le Théâtre Anglois vorangestellt, gefolgt von einer Biographie Shakespeares, die sich auf diejenige in der Ausgabe von Nicholas Rowe (1709) stützt. Textgrundlage für seine Übersetzung war allerdings die 1728 erschienene zweite Auflage der Shakespeare-Ausgabe von Alexander Pope. Was immer man über die Übersetzung sagen konnte, der Discours stellt die über lange Zeit hinaus fortschrittlichste Position in der Galerie der aufgeklärten Shakespeare-Adepten dar. Denn La Place stimmte nicht einfach in den allgemeinen Chor der klassizistisch gestimmten Urteile über Shakespeare ein, sondern setzte sich kritisch mit ihnen auseinander. Dabei kam er zu Ergebnissen, die die unangefochtenen neoklassizistischen Normen mit wirkungsästhetischen Argumenten relativierten. Aus dem Wirkungszweck heraus verteidigte er den Blankvers, die Stilmischung und die Vermischung von komischen und tragischen Elementen. Zentral aber war die Einsicht, dass Shakespeare den Zweck der Tragödie, Rührung und Mitleid zu erzeugen, mit seiner Dramaturgie besser verfolgte, als es die Regelhaftigkeit des klassizistischen Theaters vermochte. Insofern nahm La Place alle entscheidenden Argumente voraus, die Lessing in seinem 17. Literaturbrief — dann mit klarer polemischer Absicht — dem französischen Theater im Zeichen Shakespeares vorhielt. La Place stellte seiner Übersetzung das ciceronische Motto »Non verbum reddere verbo« voran, ein Leitsatz, der nicht nur auf die Übersetzungstradition der ›belles infideles‹ verweisen will, sondern auf weitergehende Eigenheiten dieses Werkes. Deren auffälligste ist, dass neben den zehn erwähnten Übersetzungen 26 weitere Dramen Shakespeares mit kurzen Inhaltsangaben vorgestellt werden. Diese Entscheidung verrät das ›stoffliche‹ Interesse jener Zeit an Shakespeare, da sein Werk ja die Frage aufwarf, welche ›Gegenstände‹ der Behandlung in der Tragödie würdig seien, also jene entscheidende Frage, die später zum bürgerlichen Trauerspiel führte. Die Entscheidungen über Auslassungen oder Änderungen standen wieder ganz im Zeichen jener kritischen Urteile der Zeit, denen La Place sich anschloss. La Place zögerte auch nicht, bei seinen eigentlichen Übersetzungen erhebliche Kürzungen
9. Lounsbury, Thomas R., Shakespeare and Voltaire, Reprint New York 1973, S. 167; Van Tieghem, Paul, La découverte de Shakespeare sur le continent, Bd. 3 von Le Préromantisme. Etudes d’histoire littéraire européene, Paris 1947, S. 37.
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vorzunehmen und die nicht übersetzten Stellen und Szenen zu paraphrasieren; Hamlet ist zu etwa einem Drittel übersetzt, zu zwei Dritteln inhaltlich paraphrasiert.10 Vor allem veranlassten ihn Gründe der ›bienséance‹ zu Kürzungen. Es entfielen Szenen von besonderer Grausamkeit oder Niedrigkeit, eine dem Stilempfinden der Zeit unangemessene kühne Bildersprache, anstössige und vulgäre Ausdrücke. Ansonsten übersetzte er — mit Blick auf ein Lesepublikum — grossenteils in Prosa, einzelne Passagen in Alexandrinern. Besonders starke Eingriffe gibt es bei den Nebenhandlungen um Polonius, Ophelia und Laertes, sprachlich vor allem in den Bereichen, in denen der Prinz vom Gebot des decorum abweicht: Vulgäres, Drastisches ist ebenso unschicklich wie Komisches; Sprachspielersches gilt als »discours extravagans«. Im Mittelpunkt steht die Rachehandlung: philosophische Reflexionen, Hamlets Zögern und das Abwägen der inneren Konflikte treten in den Hintergrund. Bardensperger charakterisierte das gesamte ›Théâtre Anglois‹ als eine »timide restitution de quelques œuvres«11 — ein Urteil, das sich bis heute gehalten hat. Doch solche Urteile werden in aller Regel getroffen nach Massstäben der ›Originalitätstreue‹, die im 18. Jahrhundert weder galten noch gar bekannt waren. Gemessen an dem, was im 18. Jahrhundert möglich und üblich war, bietet diese Übersetzung ein besonders geeignetes Beispiel für die interkulturelle Dynamik von Übersetzungsvorgängen, treffen doch hier die der ästhetischen Normen des Originals und die ästhetischen und übersetzerischen Normen der Zielkultur in einer vergleichsweise günstigen Konstellation zusammen. Betrachten wir La Places Übersetzung unter diesem Gesichtspunkt, wird erst so recht deutlich, wie kompliziert und spannungsreich interkulturelle Begegnungen tatsächlich sind und welch überraschende Belegkraft Übersetzungen für diesen Vorgang besitzen. Die zeitgenössischen Reaktionen auf La Place fielen grösstenteils positiv aus.12 Immerhin wurde Shakespeare mit dieser Übersetzung zum ersten Mal auf dem Kontinent vorgestellt; das Bild, das man sich hier von Shakespeare machte, war weitgehend das, das sich in der Gestalt der La Place-Übersetzungen bot. Vor allem aber stellten sie die Grundlage für alle Bearbeitungen und Übersetzungen der folgenden zwei Jahrzehnte dar. Auf La Place basierten die ersten, immens erfolgreichen französischen Bühnenfassungen von J. F. Ducis (1733–1816); in Italien lernte man Shakespeare über diese Übersetzungen und über Ducis’ Bearbeitungen kennen;13 der erste russische Hamlet von Sumorokov (erschienen 1748; aufgeführt 1750)14 basierte auf La Place; und auch Wielands (1733–1813) Entscheidung für eine Prosauebersetzung dürfte auf
10. Haak, Paul, Die ersten französischen Shakespeare-Übersetzungen von La Place und Le Tourneur, Berlin 1922; Cobb, Lillian, Pierre-Antoine de La Place: Sa Vie et son Œuvre: 1707–1793, Paris 1928. 11. Baldensperger, Fernand, »Esqisse d’une histoire de Shakespeare en France«, in: Études d’histoire littéraire, 2nd Series, Paris 1910, S. 155–216, hier: S. 166. 12. Vgl. Cobb, Pierre-Antoine de La Place, op. cit., S. 48–50; Haak, Die ersten französischen Shakespeare-Übersetzungen von La Place und Le Tourneur, op. cit., S. 35–37. 13. Fresco, Gaby Petrone, »An Unpublished Pre-Romantic Hamlet in Eighteenth-Century Italy«, in: Delabastita, Dirk / D’hulst, Lieven (eds.), European Shakespeares. Translating Shakespeare in the Romantic Age, Amsterdam / Philadelphia 1993, S. 111–128, hier: S. 111. 14. Vgl. Van Tieghem, Paul, La découverte de Shakespeare sur le continent, op. cit., S. 230–231.
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den Einfluss der La Place-Übersetzung zurückgehen.15 Das alles macht dieses Werk, nicht nur wegen seiner weit vorausweisenden Vorrede, zu einem zentralen Ereignis der europäischen Shakespeare-Rezeption. Während die Übersetzungen La Places zum Gespräch der literarischen Salons wurden,16 begründetete die auf dieser Übersetzung fussende Bühnenadaptation von Ducis, besonders die des Hamlet, den durchschlagenden Erfolg Shakespeares auf dem europäischen Theater.17 Da es sich hierbei nicht um eine eigentliche Übersetzung handelt, soll Ducis nur kurz erwähnt werden, indem wir seine Hamlet-Bearbeitung beispielhaft herausgreifen. Ducis konnte kein Englisch; seine Bearbeitung basiert ausschliesslich auf der Übersetzung von La Place. Er richtete La Place so ein, dass aus Hamlet äusserlich eine klassizistische Tragödie wurde. Verfasst in Alexandrinern, vertiefte er die Eingriffe La Places in den Szenenablauf dahingehend, dass eine »regelmässige« klassizistische Tragödie daraus wurde. Nahezu alle Nebenfiguren, Laertes, Fortinbras, die Schauspieler und die Totengräber eingeschlossen, wurden gestrichen, die Einheit des Ortes (»Palais de roi de Danemarck«) blieb ebenso gewahrt wie diejenige der Zeit.18 Wesentlicher aber war Ducis’ Eingriff in die Verhältnisse der Figuren zueinander. Hamlet ist der — noch ungekrönte — König Dänemarks, Claudius der zweite Thronfolger, jedoch nicht mehr Bruder des verstorbenen Dänenkönigs. Ophelia — die entscheidende Änderung — ist die Tochter Claudius’, Polonius dessen Ratgeber.19 Der Konflikt gewinnt durch diesen Eingriff ganz den Charakter eines tragischen Konflikts à la Corneille: er wird zum Konflikt zwischen Liebe und Sohnespflicht. Hamlet steht nun vor der Aufgabe, den Vater der Frau zu töten, die er liebt: aus Hamlet wird unter diesem Gesichtspunkt Le Cid.20 Allein, dabei liess es Ducis nicht bewenden. Noch nachhaltiger sind die Veränderungen in der Figurenkonzeption des Protagonisten. Hamlet zeigt sich als zärtlicher und liebevoller Sohn, der vor dem Racheakt an der Mutter aus eben diesem Grunde zurückschreckt; Ophelia als hingebungsvolle Tochter; Gertrude ihrerseits bereut und schützt ihren Sohn vor Claudius. Kurz: Ducis’ Hamlet trägt alle Züge eines ›drame de famille‹, die Figur des Helden diejenigen der empfindsamen Helden des bürgerlichen Trauerspiels.21 Ducis machte aus Hamlet genau das, was dem fortschrittlichen Theaterpublikum der Zeit als ›neues Theater‹ vorschwebte. Die Bearbeitungen von Ducis — der später auf die Übersetzungen le Tourneurs zurückgriff — leiteten den Siegeszug Shakespeares auf den europäischen Theatern ein. In Frankreich
15. Bauer, Roger (ed.), Das Shakespeare-Bild in Europa zwischen Aufklärung und Romantik, Bern /Frankfurt a.M. /New York / Paris 1988, S. 10. 16. Heylen, Romy, Translation, Poetics and the Stage. Six French Hamlets, London / New York 1993, S. 27. 17. Ibid., S. 28. 18. Golder, J. D., »Hamlet in France 2oo Years ago«, Shakespeare Survey 24, S. 79–86, hier: S. 79–80. 19. Heylen, Romy, Translation, Poetics and the Stage. Six French Hamlets, op. cit., S. 31. 20. Golder, J. D., »Hamlet in France 2oo Years ago«, op. cit., S. 82. 21. Bailey, Helen Phelps, Hamlet in France: From Voltaire to Laforgue, Genf 1964, S. 15; besonders aber Stackelberg, Jürgen von, »Hamlet als bürgerliches Trauerspiel. Ideologiekritische Anmerkungen zur ersten französischen ShakespeareBearbeitung von Jean-François Ducis«, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 3, 1979, S. 122–133.
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erlebten Ducis’ Bearbeitungen 489 Aufführungen;22 sein Hamlet blieb bis 1851 im Repertoire der ›Comédie Française‹;23 er wurde ins Italienische (1772), Spanische (1772) und Holländische (1777) übertragen; andere Bearbeitungen ins Schwedische und Russische basierten ebenfalls auf ihm.24 Zu Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehrten sich die Stimmen längst nicht nur in Frankreich, die einen »unverfälschten« Shakespeare forderten, zumal die Gastspiele des grossen englischen Schauspielers David Garrick originale Kostproben aus Shakespeares Tragödien boten, die den Stoff und die Dramaturgie des Shakespeareschen Volkstheaters in neuem Licht vorstellten. Hier beginnt die »seconde étape de la consécration de Shakespeare«.25 Dazu kam eine allgemein verbreitete Anglomanie, die zu zahllosen Übersetzungen aus dem Englischen und einer intensiven Beschäftigung mit englischer Sprache und Literatur führte, wie Besterman26 mit beeindruckenden Zahlen belegt: […] only a few hundred English works appeared in a French dress during the three centuries from the invention of printing to 1750, and perhaps fifteen times as many during the second half of the eighteenth century.
Der Höhepunkt war erreicht, als ein neuer französischer Übersetzer die Erlaubnis erhielt, sein Übersetzungswerk dem französischen Königshaus zu widmen. Die Billigung dieser Widmung kam einer offiziellen Anerkennung gleich, wurde doch zudem noch der Widmung eine Liste mit 800 Subskribenten beigefügt, die von König und Königin angeführt wurde, über die weiteren Mitglieder der königlichen Familie reichte und Seite für Seite die grossen Namen des französischen Hochadels, berühmter kirchlicher und staatlicher Würdenträger und einflussreicher Bürger aufführte.27 Der Erfolg dieses übersetzerischen Unternehmens war damit von vornherein garantiert. Pierre Prime Félicien Le Tourneur legte zwischen 1776 und 1783 mit 20 Bänden die erste französische Gesamtübersetzung vor, Shakespeare traduit de l’Anglois. Seine Ziele waren hochgesteckt und ungewöhnlich. Aber sie kamen nicht unvorbereitet. Als erfolgreicher Übersetzer der Night Thoughts von Edward Young hatte er ein auch für die englischen Verhältnisse unvoreingenommenes Shakespearebild kennengelernt, das ihn auf jene Apologie verzichten liess, die andere Übersetzer vor ihm noch für nötig gehalten hatten. Für die ersten beiden Bände standen ihm zwei Mitarbeiter zur Seite, der Comte de Catuelan und Jean FontaineMalherbe. Gury28 geht davon aus, dass der dritte Übersetzer eigentlich L. S. Mercier (1740– 1814) war, der aufgrund seiner radikalen Ideen nicht im Zusammenhang eines Werkes genannt werden konnte, das dem Königshaus gewidmet war. Le Tourneurs Ziel war radikal genug,
22. Ibid., S. 122. 23. Heylen, Romy, Translation, Poetics and the Stage. Six French Hamlets, op. cit., S. 29. 24. Van Tieghem, Paul, La découverte de Shakespeare sur le continent, op. cit., S. 246–248; Chevalley, S. , Ducis, »Shakespeare et les comediens francais«, in: Revue d’Histoire du Théâtre 4, 1964, S. 327–350; 1, 1965, S. 5–37. 25. Horn-Monval, Madeleine, Les traductions françaises de Shakespeare, Paris 1963, S. 8. 26. Besterman, Theodore, Voltaire, London ²1970, S. 129. 27. Lounsbury, Thomas R., Shakespeare and Voltaire, op. cit., S. 331–332. 28. Le Tourneur, Pierre, Préface du Shakespeare traduit de l’Anglois, Gury, Jacques (ed.), Genf 1990, S. 24.
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wenngleich es mittlerweile in Deutschland entsprechende Vorbilder gab. Davon später. Sein Anspruch war »une traduction complette, la plus fidèle qu’il me secroit possible du Théâtre entier de Shakespeare«. Das terenzische Motto »Homo sum: Humani nihil a me alienum puto«, mag auf Shakespeare und seinen Stoff bezogen sein, darf aber auch als ein Aufruf zur Toleranz gegenüber dem Fremden gelesen werden.29 Die durchgängig in Prosa verfasste Übersetzung bietet einen im Prinzip vollständigen, weitgehend ungekürzten Text. Seine Veränderungen lassen sich im wesentlichen in drei Bereichen zusammenfassen: vollständige Auslassungen, die allerdings selten sind und sich nur auf einen Ausdruck oder wenige Zeilen beziehen; Auslassungen, die in Fussnoten oder Anmerkungen als solche bezeichnet und übersetzt werden; Vereinfachungen der Syntax und des Stils und ›Veredelung‹ von Sprachdimensionen, die auch Le Tourneur für Verstösse gegen den guten Geschmack hält. Die unerwähnt bleibenden vollständigen Auslassungen besitzen kein sonderliches Gewicht. Erheblicher war die Fussnoten-Strategie: derartige Eingriffe betrafen die Narrenszenen in den Tragödien, anstössige, ›unwürdige‹ Passagen im Hinblick auf den gesellschaftlichen Stand der Personen oder aber vom Übersetzer erkannte ›Verluste‹, Doppeldeutigkeiten und Wortspielen. Vereinfachungen betrafen hauptsächlich die Satzkonstruktionen, dienten aber auch zur Klarstellung von Aussagen und Konfigurationen. Als anstössig empfunden wurden einzelne Wörter und Wendungen, Wortspiele mit sexuellen Nebenbedeutungen, offene obszöne Passagen, aber auch die Bildlichkeit, die in ihrer Drastik dem eleganten Stil des 18. Jahrhunderts zu sehr entgegengesetzt war. Die Tageskritik erkannte die Leistung an. Manche zollten ihr uneingeschränktes Lob, andere, die noch wegen der sehr prononcierten Positionen des Vorworts zurückhaltend waren, lobten zumindest die Übersetzung.30 Sie eroberte Bibliotheken und Salons und entwickelte sich zu einem Standardwerk, das mit seinen zahlreichen Neuauflagen das ganze 19. Jahrhundert hindurch seinen Platz auch neben den späteren Übersetzungen behauptete. Ducis griff für seine späteren Bearbeitungen auf Le Tourneur zurück; 1821 veröffentlichte F. Guizot mit A. Pichot eine von der französischen Romantik beachtete Überarbeitung der Übersetzung le Tourneurs. So wurde sie nicht nur »die wichtigste Textgrundlage für die romanische Shakespeare-Rezeption bis weit in die Romantik hinein«,31 sie gewann weit über die Grenzen Frankreichs hinaus grosse Bedeutung. Für viele Europäer, die zwar Französisch, aber nur selten Englisch oder gar Deutsch kannten, bot sie die einzige Möglichkeit des Zugangs zu Shakespeare. So wurde sie zur Vorlage für Übersetzungen zweiter Hand oder doch Arbeitshilfe für Übersetzungen und Bearbeitungen in anderen Ländern: in Russland entstand 1783 eine auf Le Tourneur basierende anonyme Übersetzung von Richard III; 1787 übertrug N. Karamzin den Julius Caesar über Le Tourneurs Übersetzung ins Russische; der italienische Übersetzer M. Leoni berief sich im Vorwort seiner
29. Ibid., S. 30 ff. 30. Cushing, Mary G., Pierre Le Tourneur, 1908, Reprint New York 1966, S. 274; Le Tourneur, Pierre, Shakespeare traduit de l’Anglois, Gury, Jacques (ed.), op. cit., S. 212. 31. Hempfer, Klaus W., »Shakespearekritik und Rezeption Shakespeares in der Literatur. Die Romania (Frankreich, Italien, Spanien)«, in: Ina Schabert (ed.), Shakespeare-Handbuch, Stuttgart 1978, S. 745–760, hier: S. 749.
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Othello-Übersetzung auf Le Tourneur.32
Als Voltaire sein französisches Publikum auf Shakespeare aufmerksam machte, war Shakespeare in Deuschland nahezu unbekannt und blieb es eigentlich bis zur Jahrhundertmitte. Diese deutsche Verspätung hat ihre Gründe; denn zu eben jener Zeit, als Voltaire dem französischen klassizistischen Theater eine interessante Alternative vorstellen wollte, bemühte sich Gottsched (1700–1766) und sein Kreis, das französische Theater zum Modell für ein erst noch zu schaffendes deutsches Theater zu machen. Die dichtungstheoretischen Ziele dieses Kreises und die Leistung, die er für die Entwicklung der deutschen Literatur mit Blick auf diese Ziele erbrachten, verstellten zwangsläufig den Blick auf eine sich bereits als Alternative zu diesem poetischen Prinzip abzeichnende Dramaturgie. Insofern fielen auch die zahlreichen Hinweise auf Shakespeare in den von der Gottschedin besorgten Übersetzungen der moralischen Wochenschriften nicht auf fruchtbaren Boden. Im Gegenteil: Als Caspar Wilhelm von Borck, der preussische Gesandte in London, 1741 seine Übersetzung des Julius Caesar in deutschen Alexandrinern publizierte — die erste vollständige Übersetzung eines Shakespeare-Dramas — stiess sie bei Gottsched auf heftige Ablehnung, die sich wiederholt in Gottscheds Critischen Beyträgen artikulierte,33 obwohl ein Mitglied seines Kreises, Johann Elias Schlegel34 (1719–1749), in einer ausgewogenen Würdigung deutliche Sympathie für Shakespeares Dramaturgie verriet, oder besser: für das, was man dafür hielt.35 In Schlegels Position könnte man mit Fug und Recht eine erste Zurücknahme der Gottschedschen Regelpoetik erkennen,36 während Gottsched in seinen Argumenten lediglich die ablehnenden Aspekte der französischen Shakespeare-Kritik wiederholte. In den fünfziger Jahren vollzog sich in Deutschland allerdings ein Wandel der kritischen Meinung, die nicht nur die ›deutsche Verspätung‹ in Sachen Shakespeare gegenüber Frankreich (und England) einholte, sondern mit zunehmender Schärfe Thesen vertrat, die über die Würdigungen Shakespeares in Frankreich und England deutlich hinausgehen. So finden sich bereits in Friedrich Nicolais (1733–1811) Briefe über den jetzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland (1755) einerseits die geläufige Dichotomie von Regellosigkeit und dramatischer Wirkung, andererseits aber die klare Erkenntnis, dass sich Shakespeare als ein
32. Genuist, André, Le Théâtre de Shakespeare dans l’œuvre de Pierre Le Tourneur, 1776–1783, Paris 1971, S. 222; insgesamt dazu Lambert, José, »Shakespeare en France au tournant du XVIIIe siècle. Un dossier européen«, in: Delabastita /D’hulst (eds.), European Shakespeares. Translating Shakespeare in the Romantic Age, op. cit, hier: S. 30–31. 33. Gottsched, 7. Band, 27. Stück, 1741 (S. 516 f.); 8. Band, 29. Stück, 1742. 34. Ibid., 7. Band, 28. Stück, 1741. 35. Müller, Joachim, Shakespeare und ein deutscher Anfang: Die von Borcksche Übersetzung des Julius Caesar von 1731 im Streitfeld von Gottsched und Johann Elias Schlegel (= Sitzungsberichte der Sächs. Akad. d. Wiss. Leipzig, 119:5), Berlin 1977, S. 7. 36. Ibid., S. 23–51.
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neues Modell anbietet, von dessen Menschen- und Weltkenntnis die deutschen Schriftsteller lernen sollten.37 Das war ein entschieden neuer Gedanke, der einerseits in der Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels eine Parallele fand, andererseits seine eigentliche Wirkung erst in der Generation des Sturm und Drangs entwickeln sollte. Den entscheidenden Schritt ging dann Lessing (1729–1781). Seine durch Gespräche mit Nicolai angeregte Auseinandersetzung mit Aristoteles und die in ihrer Folge (1758) entstandene Übersetzung von John Drydens Essay of Dramatick Poesie führten schliesslich zu einer heftigen Polemik gegen Gottsched, die sich auch und gerade als Polemik gegen dessen Verkennung Shakespeares äusserte. In Lessings berühmtem 17. Brief der gemeinsam mit den Freunden Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn herausgegebenen Briefe, die Neueste Literatur betreffend aus dem Jahre 1759 wurde das Theater Shakespeares modellhaft dem von Gottsched propagierten französischen Theater entgegengehalten. Lessing siegte im Zeichen Shakespeares: Auch nach dem Muster der Alten die Sache zu entscheiden, ist Shakespeare ein weit grösserer tragischer Dichter als Corneille; obgleich dieser die Alten sehr wohl, und jener fast gar nicht gekannt hat. Corneille kömmt ihnen in der mechanischen Einrichtung, und Shakespeare in dem Wesentlichen näher. Der Engländer erreicht den Zweck der Tragödie fast immer, so sonderbare und ihm eigene Wege er auch wählet; und der Franzose erreicht ihn fast niemals, ob er gleich die gebahnten Wege der Alten betritt.38
Diese Feststellung wurde gewissermassen die Grundlage der deutschen Nationalliteratur im Zeitalter der Aufklärung. Lessing orientierte sich nicht mehr an der dramatischen ›Einrichtung‹ der Tragödie, sondern an ihrem ›Wirkungs‹zweck, dem die äussere Einrichtung untergeordnet bzw. genauer: aus dem diese abgeleitet wird. Und auch die Schlüsselkategorie einer Poetik, die sich später gegen Lessing wenden sollte, nämlich Natur und Genie, spielten in der Argumentation dieses Textes bereits eine erhebliche Rolle. Wie das Verhältnis Nicolais zu Shakespeare zeigte, stand Lessing mit seiner Meinung keineswegs allein. Sein anderer Mitstreiter Moses Mendelssohn (1729–1786) liess sich ganz ähnlich vernehmen; und mehr noch: in seiner Abhandlung über das Erhabene und Naive in den Schönen Wissenschaften (1758) wagte er sich sogar an die Übersetzung des grossen HamletMonologs. Ein Vergleich dieses kleinen Übersetzungsereignisses mit allen bis dahin vorliegenden französischen Übersetzungen derselben Stelle würde erhellen, in welchem Ausmass die deutsche Literatur ihre Verspätung in Sachen Shakespeare aufgeholt und den grossen kulturellen Nachbarn überholt hat. Denn bei Mendelssohn finden wir einen Shakespeareschen Blankvers, der die Wiege sein könnte nicht nur für Lessings Nathan, sondern auch für den Jamben-Rhythmus der künftigen klassischen Dramatik. Allein als Anschauungsstück reichten solche Versuche kaum aus. So beklagte denn Lessing am Ende des 17. Literaturbriefs den Mangel einer deutschen Übersetzung Shakespeares.
37. Blinn, Hansjürgen (ed.), Shakespeare-Rezeption. Die Diskussion um Shakespeare in Deutschland, Band I und II, Berlin 1982, Bd. I, S. 16. 38. Lessing, Gotthold Ephraim, Briefe, die neueste Literatur betreffend (1759), 17. Brief, in: Lessings Werke, Wölfel, Kurt (ed.), Frankfurt a.M. 1967, Bd. 2: Schriften I, S. 614–617, hier: S. 616.
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Der 29-jährige Christoph Martin Wieland griff die Herausforderung auf. Auf Einladung jenes Johann Jakob Bodmer (1698–1783), der mit Gottsched eine heftige Literaturdebatte über die Rolle des Wunderbaren in der Literatur geführt hatte, hatte er sich mehrere Jahre in Zürich im Hause Bodmers aufgehalten, sich dort die englische Sprache angeeignet und war unter den nachhaltigen Eindruck der englischen Literatur geraten. Insbesondere das »Wunderbare«, das Märchen- und Feenhafte hatte es ihm angetan: In Shakespeares Werk fand er gerade die Offenbarung seiner eigenen dichterischen Ambitionen.39 Nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt Biberach als Kanzleiverwalter machte er sich an sein ungewöhnliches Übersetzungswerk. Zwischen 1762 und 1766 übersetzte er 22 Dramen Shakespeares, die in acht Bänden 1762–1767 erschienen. Die Sonnets ignorierte er. Wieland erschloss der Debatte um Shakespeare eine vollkommen neue Dimension der Shakespeareschen Dramaturgie, die sich auch in der Auswahl und Reihenfolge der übersetzten Stücke niederschlug. Er begann mit dem Midsummer Night’s Dream, den er »Ein JohannisnachtsTraum« betitelte; es folgten Lear, Wie es euch gefällt, Mass für Mass und Der Sturm. In einem Jahrhundert, in dem Shakespeare nahezu ausschliesslich durch seine Tragödien, durch Julius Caesar und in geringerem Ausmass durch die Historien bekannt geworden war, war dies ein höchst erstaunlicher Einstieg. Ansonsten aber blieb Wieland im Bann der gängigen Urteile seiner Zeit. Diese waren, neben allen kontinentalen Vorbehalten, noch einmal zusammengefasst im Vorwort der Ausgabe von Pope und Warburton, die Wieland seinem Übersetzungswerk zugrundelegte. Bei ihm artikulierte sich der kritisch-klassizistische Geist nicht in einem Vorwort, aber in zahlreichen — und von Band zu Band zahlreicher werdenden — Anmerkungen zur Übersetzung, in denen er Auslassungen begründete, verallgemeinernde Übersetzungen ausführlich erörterte oder übersetzte Passagen bemäkelte. Nicht nur der Umfang der Anmerkungen nahm zu, auch die Schärfe des Tons verrät, dass Wieland sich immer mehr der negativen Position Voltaires annäherte.40 Der Tenor dieser Anmerkungen gibt zugleich Aufschluss über die allgemeinen Übersetzungsstrategien, die Wielands Werk leiteten. Fünf Bereiche sind es, die Wieland an Shakespeare bemängelte: die Verstösse gegen die Wohlanständigkeit; das UnlogischIrrationale; die gegen den aufklärerischen Sprachstil als schwülstig empfundene Metaphorik und Bildersprache; die Wort- und Witzspiele, die den guten Geschmack in moralischer und stilistischer Hinsicht verletzten; und schliesslich das Ineinander von Hoch und Niedrig, von Ernst und Spass.41 Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass Wieland auch in diesen Zusammenhängen unabhängiger war, als der allgemeine Tenor der Anmerkungen und Auslassungen es vermuten lässt. Seine Eingriffe und Mäkeleien waren nämlich kontextbedingt, betrafen hauptsächlich Unreinheiten von Stil- und Gattungsphänomenen, also Indezentes in romantischen
39. Parker, L. John, Christoph Martin Wielands dramatische Tätigkeit, Bern 1961, S. 135–136; Gundolf, Friedrich, Shakespeare und der deutsche Geist, Berlin 1914, S. 145–146. 40. Helmensdorfer, Urs, »Wielands deutscher Shakespeare«, in: Grimm, Reinhold (ed.) et. al., Der deutsche Shakespeare, Basel 1965, S. 59–74, hier: S. 62. 41. Ibid., S. 63–66; Promies, Wolfgang, Die Bürger und der Narr oder das Risiko der Phantasie. Sechs Kapitel über das Irrationale in der Literatur des Rationalismus (1966), Lizenzausgabe Frankfurt a.M. 1987, S. 45–46; Greiner, Norbert, »The Comic Matrix of Early German Shakespeare Translation«, in: Delabastita / D’hulst (eds.), European Shakespeares. Translating Shakespeare in the Romantic Age, op. cit., S. 203–217.
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Passagen, Niedriges in tragischen Zusammenhängen und ähnliches. Eine grundsätzliche Ablehnung jener »Fehler«, die ihm das vorangegangene Jahrzehnt noch vorrechnete, ist bei Wieland nicht mehr zu spüren, jedenfalls nicht als durchgängiges Prinzip der selbstauferlegten Übersetzungszensur. Die Gleichgültigkeit gegenüber den formalen Qualitäten der Dramen erleichterte Wieland den Entschluss, nach dem im Blankvers übersetzten Johannisnachts-Traum alle weiteren Stücke in Prosa zu übersetzen. Seine durch die autodidaktische Aneignung zwangsläufig ungenügende Beherrschung des Englischen tat ein weiteres, die Sprache unidiomatisch, bisweilen ungelenk erscheinen zu lassen. Vor allem aber die in den Anmerkungen implizierte Selbstzensur führten zu Auslassungen, Glättungen, Vereinfachungen und stilistischen Anhebungen. Dennoch: Am Ende bleibt ein überragendes Übersetzungswerk, das an Vollständigkeit und versuchter Genauigkeit weit über alles hinausgeht, was bis dahin an übersetzerischen Versuchen vorlag. Mit ihm schuf Wieland die Voraussetzung für eine ShakespeareBegeisterung in Deutschland, ja, für eine Identifikation Shakespeares mit dem sogenannten deutschen Geist, die die Geschichte der deutschen Literatur bis zum heutigen Tage prägt. Der Shakespeare der Stürmer und Dränger ist Wielands Shakespeare; Goethes Shakespeare im Wilhelm Meister ist Wielands Shakespeare (einschliesslich der Wielandschen Übersetzungsfehler); Schlegels Shakespeare ist in weiten Passagen Wielands Shakespeare verpflichtet. Zunächst wollte die Kritik diese Leistung nicht wahrhaben. Die konservativen Kritiker hatten ohnehin nichts mit Shakespeare im Sinn, oder aber sie sahen, wie Christian Felix Weisse (1726–1804), ihre Felle davonschwimmen und ihren Nachahmungen und Stoffentlehnungen nun die Originale als Massstab gegenübergestellt. Die fortschrittlichen Stürmer und Dränger hingegen hatten Wieland und dessen aufklärerische Moderation bereits weit hinter sich gelassen. Ihnen, allen voran Heinrich Wilhelm Gerstenberg (1737–1823), ging Wieland nicht weit genug; war er doch in seinen Geschmacksurteilen ein Repräsentant jener rationalistischen Aufklärung, der die Stürmer ihr Geniepostulat vorhielten, das sich nur vor der ›Natur‹ zu verantworten hatte. In ihren Augen zeigte sich Wieland seiner Aufgabe nicht gewachsen, weil ihm die innere Beziehung zu Shakespeare fehlte. Ganz unrecht hatten sie nicht, ziehen wir die Möglichkeiten der enthusiastischen Shakespeare-Deutung in Betracht, die diese Generation hervorbrachte. Im historischen Zusammenhang bleibt ihre Ablehnung indes weit überzogen. Nur der weitsichtige Lessing fand im 15. Stück der Hamburgische Dramaturgie (1767–1769) zu einem ausgewogenen Urteil, das voll des Lobes war.42 Lessing behielt insofern recht, als dieser durch Wieland vermittelte Shakespeare der konkrete Bezugspunkt wurde für mancherlei Formen der stofflichen und dramaturgischen Rezeption: für die Dramatik des Sturm und Drang und die grossen Dramen des frühen Goethe und Schiller, für die Lesekomödien Brentanos und Tiecks, für die späteren Geschichtsdramen Schillers und die mannigfachen Formen des Hamlet-Fiebers und der Hamlet-Identifikation, die in der sowohl hymnisch als auch verächtlich vorgetragenen Formel ›Deutschland ist Hamlet‹ gipfelte. Und es sollte bei aller Verwunderung über Wielands zunehmende Zurückhaltung gegenüber dem von ihm übersetzten Werk nicht vergessen werden, dass es in vielen Passagen
42. Lessing, Gotthold Ephraim, Hamburgische Dramaturgie, 15. Stück, in: Lessings Werke, Wölfel, Kurt (ed.), Frankfurt a.M. 1967, Bd. 2: Schriften I, S. 180–184, hier: S. 182.
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Vorlage und Vorbild für Schlegel wurde, ganz zu schweigen von den Bühnenbearbeitungen des 18. Jahrhunderts, die zur Verbreitung und Popularisierung Shakespeares vielleicht mehr beigetragen haben als die Shakespeare-Debatten in den literarischen Zeitschriften. Dennoch begann Johann Joachim Eschenburg (1743–1820) bereits 1774 mit einer neuen Übersetzung. Die 12 Bände seiner Übersetzung, die auch die von Wieland nicht übersetzten 14 Shakespeare-Dramen beinhalten, erschienen zwischen 1775 und 1777 in Zürich. Gegenüber Wieland hatte Eschenburg erhebliche Vorteile. Ihm stand eine wesentlich bessere ShakespeareAusgabe zur Verfügung, für die ersten zwei Bände die Ausgabe Johnsons, für die restlichen diejenigen von Johnson und Steevens. Hinzu kommen die umfangreichen weiteren Hilfsmittel, über die Eschenburg verfügte. Wieland übersetzte als Dichter, er war offen für bestimmte Seiten des Shakespeareschen Werks und verstand es, diese in kunstvoller Nachschöpfung zu übertragen; anderen Seiten des Werkes stand er kritischer gegenüber. Eschenburg hingegen war ein Gelehrter, seit 1773 ausserordentlicher, ab 1777 ordentlicher Professor für schöne Literatur und Philosophie in Braunschweig. Die gänzlich anderen Veranlagungen und Voraussetzungen mussten sich ebenso wie die veränderten Grundlagen auf die Übersetzung auswirken. Pope (1688–1744) hatte in seinem Vorwort und den Fussnoten Shakespeares Fehler gekennzeichnet und deutlich abgelehnt. Wieland folgte ihm, wenn nicht wortgetreu, so doch geistesverwandt. Steevens bot eine ›wissenschaftlichere‹ Ausgabe, in jeder Hinsicht zuverlässiger, vor allem aber mit Fussnoten, die sich auf Erläuterungen schwieriger Passagen beschränkten. Darin folgte ihm Eschenburg. Was dieser Übersetzung an dichterischer Qualität mangelte, glich sie aus durch Vollständigkeit, kritische Differenziertheit, Unvoreingenommenheit und wissenschaftliche Kommentierung im besten philologischen Sinn. Eschenburg konnte auf die Wolfenbüttler Bibliothek zurückgreifen und verfügte über die besseren Wörterbücher, besonders aber über eine sehr viel bessere Kenntnis der englischen Sprache. In seiner privaten Bibliothek hatte er mehr als 400 Bände zusammengetragen, die von Shakespeare handelten. Sürbaum43 legt dar, dass ihm die Sinnentschlüsselung schwieriger Stellen oft genauer gelungen sei als den englischen Kommentatoren seiner Zeit. Die umfassende Gelehrsamkeit prägte nicht nur sein Shakespeare-Bild und die Argumente, die er gegen Shakespeares Gegner vortrug, sondern auch die philologische Kenntnis und Akribie seine Übersetzungsleistung. Vor, während und nach dem Übersetzungswerk legte Eschenburg in kritischen Beiträgen sein Shakespeare-Bild dar. Die allgemeine Richtung seiner Gedanken verrät schon der Titel seiner 1777 veröffentlichten Schrift Shakespeare wider Voltairische Schmähungen vertheidigt von Johann Joachim Eschenburg, erschienen im ersten Band des Deutschen Museums.44 Insgesamt wies Eschenburg, der die Urteilskategorien des Jahrhunderts ebenfalls übernahm, die gegen Shakespeare seitens der Aufklärer ins Feld geführten Argumente zurück, indem er dessen Werk — gewissermassen historisierend — aus seiner Zeit heraus erklärt und an jenen Massstäben gemessen sehen möchte, ohne diese allerdings als Ausdruck eines
43. Sürbaum, Ulrich, »Der deutsche Shakespeare. Übersetzungsgeschichte und Übersetzungstheorie«, in: Hasler, Jörg / Kolb, Eduard (eds.), Festschrift Rudolf Stamm zu seinem 60. Geburtstag am 12. April 1969, Bern / München 1969, S. 61–80, hier: S. 75. 44. Vgl. Pirscher, Manfred, Johann Joachim Eschenburg — ein Beitrag zur Literatur- und Wissenschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Münster 1960.
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unvollkommenen Geschmacks zu deuten. Entscheidend war für ihn — und hier verwies er wiederholt auf Lessing — die erzielte Wirkung der Dramen. Bei seiner Übersetzung bezog er sich ausdrücklich auf Wieland und dessen Leistung; er verstand seine Arbeit nicht als einen Gegenentwurf, sondern als eine Ergänzung und Fortschreibung, allerdings dann doch unter erheblich veränderten Gesichtspunkten: Da die Anlage einmal gemacht war, den ganzen Shakespeare zu übersetzen, und nicht bloss eine Auswahl seiner besten und übersetzlichsten Stellen zu liefern, so musste, wie gesagt, auch die Ausfüllung der gelassenen Lücken mein Augenmerk werden. Was sich also nur immer in unsre Sprache übertragen liess, ist nun da; was noch weggeblieben ist, sind nur wenige einzelne Stellen, nur solche, die durchaus nichts anders, als Englisch, konnten ausgedrückt werden, mit denen dem Leser niemals ein ihm noch fremder charakteristischer Zug des Dichters vorenthalten wird, und die ich noch dazu meistentheils in den Anmerkungen angeführt habe.45
Im Zusammenhang der Shakespeare-Rezeption und der Shakespeare-Übersetzung sind dies wahrlich neue Dimensionen. Der unbedingte Bezug auf das Original, frei von jeder normativen Auslese, verrät ein Übersetzungsprogramm, das so recht im folgenden Jahrhundert die philologische Tradition der deutschen Übersetzungskultur kennzeichnen sollte. Gewiss, es wurden Unvollkommenheiten eingestanden, diese allerdings belegt und in den Fussnoten kommentiert. Und noch eine Formulierung lässt aufhorchen: […] um [die Vollkommenheit] […] zu erreichen, habe ich nicht bloss auf die Richtigkeit der Übersetzung, sondern auch darauf gesehen, dass eigenthümliche Gepräge des grossen Originals aufs möglichste beyzubehalten.46
Zum ersten Mal in der Übersetzungsgeschichte Shakespeares wurde hier dem Original die gebührende Beachtung zuteil, auch im theoretischen Diskurs als einer unantastbaren poetologischen Kategorie. Unternommen wurde der Versuch, Shakespeare nicht mehr mit den Augen des 18. Jahrhunderts zu sehen, sondern den staunenden Blicken dieses Jahrhunderts einen neuen Gegenstand vorzuführen, der zukünftig auch den Blickwinkel auf das, was ästhetisch möglich ist, erweiterte. Unberührt von derartigen Zielen blieb indes der wesentliche Formaspekt, die Versform. Eschenburg räumte ein, dass er dem Ziel der Wörtlichkeit und Genauigkeit alles andere unterordnete, so dass er zugunsten des einen das andere vernachlässigte. Immerhin übersetzte er die vielen eingestreuten Lieder, Prologe und Epiloge und ähnliches metrisch, bearbeitete er Wielands Blankvers im Sommernachtstraum und übersetzte er selbst Richard III ganz in Jamben. Solche Ansätze blieben aber fragmentarisch; sie kennzeichnen nicht das ganze Übersetzungswerk. Wer aber diesem Unternehmen die spätere Übersetzung Schlegels als Vergleichsmassstab entgegenhält, hat das Eigentümliche der übersetzungshistorischen Dynamik nicht verstanden. Bei einem solch schweren Unternehmen war ein anderer Weg vermutlich gar nicht möglich: Erst musste mit Wieland und vor allem Eschenburg eine im Wortlaut möglichst genaue Übersetzung vorliegen, bevor man sich darauf aufbauend an die anderen Dimensionen wagen konnte. Nicht nur eine andere literaturtheoretische Grundlage war nötig, wie es die
45. Eschenburg, Johann Joachim, William Shakespeare’s Schauspiel, Zürich 1773–1775, S. 8. 46. Ibid., S. 9.
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Rezeptionsforschung immer wieder betont, sondern mindestens ebenso sehr die gründliche philologische Vorarbeit. Darin liegt Eschenburgs Leistung: seine Übersetzung übertraf nicht diejenige Wielands, sie ermöglichte diejenige Schlegels. Das wird oft zu wenig anerkannt; denn im dichterischen Vergleich kann Eschenburg Wieland nicht standhalten. Aber seine konsequente Wörtlichkeit ermöglichte eine Originalnähe, die bis dahin unbekannt war. So wurden alle Wielandschen Auslassungen ergänzt, scheute er weder vor dem thematisch Anstössigen zurück noch vor den bis dahin bemäkelten und abgelehnten stilistischen Eigenarten wie Wortspiel, Sprachwitz, Derb-Komisches. Die nahezu vollständige Übersetzung etwa der Totengräberszene ist das Ergebnis derartiger Einsichten. Das Vorgehen Eschenburgs darf als erster Versuch gewertet werden, das Original auch formal als verbindlich zu betrachten.47 Es ist offensichtlich, dass eine solche — oft auf der sprachlichen Oberfläche bleibende — Wörtlichkeit dem Kunstsinn der Literaten nicht standhält. Deshalb fiel auch besonders Schillers (1759–1805) Kritik heftig aus. In einem Brief an Schlegel vom 11. März 1796 spricht er von einem »Erzphilister«, dem »traurige[n] Eschenburg«, dessen Werk sich auszeichne durch »prosaische Dürre« und »leblose Steifheit«.48 Das Verdikt ist zwar in der Sache nachvollziehbar, verkennt aber die Zielsetzung und die historische Bedeutung dieser Übersetzung, ein Aspekt, der dem klarsichtigen — und aus guten Gründen dankbaren — Schlegel nicht verborgen blieb und in einer Rezension gebührend hervorgehoben wurde.49 Bevor wir uns aber Schlegels Übersetzung zuwenden, sei noch einmal der Blick auf Frankreich gerichtet. Dort war das Shakespearebild von der Entwicklung in Deutschland überholt worden. Spätestens seit Lessing, übersetzungspraktisch mit der Arbeit Wielands, hatte man in Deutschland unabhängige und bald für Frankreich vorbildliche Wege beschritten. Wie vorbildlich diese wurden, zeigte bereits Eschenburgs Übersetzung. Die beiden ersten Bände Le Tourneurs erschienen 1776, Eschenburgs Bände 1775–1776. Im fünften Band der französischen Übersetzung wird Eschenburgs Name erstmals in den Anmerkungen erwähnt, ab Band sieben (1780) verzichtete Le Tourneur weitgehend auf eigene Anmerkungen und übernahm die viel gründlicheren Anmerkungen der deutschen Übersetzung. In diesem siebten Band finden sich auf 150 Seiten auch Eschenburgs Erläuterungen zu den bereits auf französisch erschienenen Dramen. Bei dieser Politik waren offenbar auch verlagstaktische Überlegungen massgeblich. Sicher ist, dass ab diesem Zeitpunkt die französische Übersetzung in Abhängigkeit von der deutschen geriet.50 Den nächsten Schritt vollzog die deutsche Romantik. Das aber geschah nicht voraussetzungslos. Zwischen Wielands und Eschenburgs Übersetzungswerken und lange vor dem gänzlich neuen Übersetzungsprogramm der Romantiker hatte sich in Deutschland ein Wandel vollzogen. Bei dem Bemühen, die Einflüsse des französischen Klassizismus zurückzudrängen, ging es
47. Wertheimer, Jürgen, »«So macht Gewissen Feige aus uns allen«: Stufen und Vorstufen der Shakespeare-Übersetzung A.W. Schlegels«, in: Bauer, Roger (ed.), Das Shakespeare-Bild in Europa zwischen Aufklärung und Romantik, Bern / Frankfurt a.M. / New York / Paris 1988, S. 201–225, hier: S. 204. 48. Blinn, Hansjürgen (ed.), Shakespeare-Rezeption. Die Diskussion um Shakespeare in Deutschland, op. cit., Bd. II, S. 38. 49. Meyen 1957, S. 40. 50. Haak, Paul, Die ersten französischen Shakespeare-Übersetzungen von La Place und Le Tourneur, S. 88; Van Tieghem, Paul, La découverte de Shakespeare sur le continent, op. cit., S. 216; Meyen 1957, S. 80 ff.
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beileibe nicht nur um die Literatur. Die französische klassizistische Dramatik war an den deutschen Fürstenhöfen geliebt und gefördert; der Kampf im Zeichen Shakespeares gegen die französischen Einflüsse war wesentlich auch ein Kampf der bürgerlichen Aufklärer gegen höfische Kunst und Moral. Doch die Position der Aufklärer wird zur Zielscheibe einer noch radikaleren Rebellion, insofern sie an den Prinzipien dieser bürgerlich-aufklärerischen Literatur selbst rüttelte. Auch das geschah im Zeichen Shakespeares. Die Vermittlung vollzog Herder (1744–1803). Ohne Herders Shakespeare-Erlebnis hätte es weder die shakespearehafte Dichtung des jungen Goethe (1749–1832) noch die shakespearisierende Dichtung der Stürmer und Dränger oder das Werk der Romantik in Schrift und Tonsatz gegeben. Herders Shakespeare-Aufsatz aus dem Jahre 1773 schlug den Ton an, der sich von der aufklärerisch-apologetischen Haltung gegenüber Shakespeare rigoros befreit. In Herders hymnischer Huldigung wurden die Dichotomien des 18. Jahrhunderts zurückgedrängt. Die uneingeschränkte Grösse Shakespeares wurde vorbehaltlos anerkannt und avancierte zum neuen dichterischen Massstab. Die poetischen Kategorien erhielten neue Bezeichnungen, die alten Bezeichnungen neue Inhalte. Mit »Natur« wurde nicht mehr eine durch den Verstand gezähmte Natur gemeint, sondern eine, deren Wildheit und Masslosigkeit, Schönheit und Erhabenheit sich in den Leidenschaften und der Lebensvielfalt des dramatischen Universums Shakespeares spiegelten. Wenn Shakespeare als Naturkraft bezeichnet wurde, die sich nicht nur über die höfischen, sondern auch über die zunehmend als beengend empfundenen bürgerlichen Konventionen hinwegsetzte, dramaturgisch und thematisch als Volkstheater angesehen wurde, dann war er nicht mehr nur als Vorbild, dann war er als Zeitgenosse erkannt. Von hier aus war der Weg zur volkstümlichen Adaptation leicht beschritten. Aber diese Adaptation verträgt keinen Vergleich mit den üblichen Adaptationen des 18. Jahrhunderts. Jene waren entstanden, weil man Shakespeare dem aufgeklärten Publikum nicht glaubte zumuten zu können und ihn wenigstens teilweise über die gängigen dramatischen Normen vermitteln musste; diese nun entstanden, weil man sich Shakespeare ganz nah glaubte und ihn dem eigenen Volk als Volksdichter in heimischem Gewande vorstellen mochte. Also lag es nahe, sein Werk in die örtliche, sprachliche und künstlerische Gegenwart zu überführen. Gottfried August Bürger (1747–1794) zögerte nicht, den Macbeth aus dem rauhen keltischen Hochland Schottlands in eine dörfliche deutsche Welt zu verlagern, aus den Nebelhexen deutsche Märchenhexen zu machen.51 Er bediente sich der Übersetzungen Wielands und Eschenburgs, strich und änderte, verdeutschte ungeniert und rechtfertigte sein Verfahren nicht aus der ästhetischen Differenz, sondern aus der Kongenialität, die aus der Sicht des Volksdichters jede Form der Popularisierung, auch die der örtlichen und zeitlichen, rechtfertigte. Interpretierte Bürger die volkstümliche Dimension Shakespeares in einem ästhetischen Zusammenhang, so griff der wohl wildeste und radikalste Stürmer und Dränger die politische Dimension des Shakespeareschen Volkstheaters auf und machte diese zum Vorbild seiner eigenen sozialkritischen Dramatik. Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792) wurde, wie
51. Ranke, Wolfgang, »Shakespeare Translations for Eighteenth-Century Stage Productions in Germany: Different Versions of Macbeth«, in: Delabastita / D’hulst (eds.), European Shakespeares. Translating Shakespeare in the Romantic Age, op. cit.
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Herder und Bürger, zum Bearbeiter und Übersetzer Shakespeares. Noch vor der Gesamtübersetzung Eschenburgs hatte er ein von Wieland unübersetztes Drama aufgegriffen — eine Komödie, das versteht sich fast von selbst. Und keine romantisierende Nähe veranlasste ihn dazu, sondern der Gegensatz zwischen der künstlichen Welt des Hofes und der durch sie unterdrückten Natur, wie sie in Love’s Labour’s Lost dargestellt war. Unter dem Titel Amor Vincit Omnia legte er seine Übersetzung vor und fügte seine sonderbaren, aber für den Sturm und Drang charakteristischen Anmerkungen zum Theater (1774) an. Mit dieser Schrift und dem Beispiel, das er in Form der Übersetzung gleich mitlieferte, wollte er der Komödie jene Bereiche erschliessen, die bis dahin als Domäne der Tragödie gegolten hatten. Dem Rührstück und der Typenkomödie wollte er die sozialkritisch reflektierte gesellschaftliche »Begebenheit« entgegenhalten; er erhob also — aristotelisch gesprochen — die »Nachahmung der Handlung« zur Aufgabe der Komödie.52 Lenz erweist sich in einem ganz neuen Sinn als kongenialer Übersetzer. Was er nicht für seine Demonstrationszwecke verwenden konnte, liess er aus; was er hervorheben wollte, spitzte er zu, weitete er aus und ergänzte es durch zusätzliche Pointen, Witze, Improvisationen oder komische Effekte. Also eben das, wovor bisherige Übersetzer verschämt zurückgesteckt hatten, drängte Lenz in den Vordergrund — die verpönte derbe Komik, den als barock oder pöbelhaft kritisierten Stil des witzigen Dialogs.53 In seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit (1811–1822) bescheinigte Goethe diesem Mann mit seiner Fähigkeit zur sprachlichen Nachbildung die grösste Nähe zu Shakespeare.54 Goethe und Shakespeare: das ist allerdings das grösste, wichtigste, folgenreichste und komplizierteste Kapitel der deutschen Shakespeare-Forschung. Es ist aber das einzige, das ohne unmittelbare Übersetzertätigkeit auskam und daher im vorgegebenen Zusammenhang nicht behandelt werden muss. Als Lenz seine Anmerkungen vorlegte, hatte Goethe seinen ShakespeareHymnus in der berühmten Geburtstagsrede auf Shakespeare schon gesungen (1771). Tonfall und Bekenntnis zu Shakespeare stehen Lenzens Anmerkungen in nichts nach. Goethes ShakespeareBild wandelte sich indes ebenso wie seine Kunstauffassung, die er von Shakespeare zwar nie ganz trennte, dessen Einfluss aber umdeutete. Hinzu kam die Vereinnahmung Shakespeares durch die Romantiker, die Goethe 1815 zu unmutigen Ausführungen über »Shakespeare und kein Ende« veranlassten. Was war in der Zwischenzeit geschehen? In dem historischen Augenblick, in dem die Übermacht der Rührstücke und Intrigen à la Kotzebue und Iffland selbst Goethe und Schiller auf der deutschen Bühne zum Verstummen gebracht hatte und in dem Schiller vor der Grösse der Shakespeareschen Dramatik — in einem Brief an Goethe aus dem Jahr 1797 — resignierend kapitulierte, in diesem Augenblick begann August Wilhelm Schlegel mit einer neuen Shakespeare-Übersetzung. Zwischen 1797 und 1801 übersetzte er 16 Stücke Shakespeares. Er begann
52. Greiner, Norbert, »The Comic Matrix of Early German Shakespeare Translation«, in: Delabastita, Dirk / D’hulst, Lieven (eds.), European Shakespeares. Translating Shakespeare in the Romantic Age, op. cit., S. 213. 53. Inbar, Eva Maria, Shakespeare in Deutschland: Der Fall Lenz, Tübingen 1982, S. 141 ff. 54. Goethe, Johann Wolfgang, Werke, Bd. 5: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Frankfurt 1811–1833, Reprint 1966, hier: S. 446ff; Greiner Norbert, »The Comic Matrix of Early German Shakespeare Translation«, in: Delabastita, Dirk / D’hulst, Lieven (eds.), European Shakespeares. Translating Shakespeare in the Romantic Age, op. cit., S. 215.
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mit Romeo und Julia. Und ähnlich wie vor ihm Wieland, wurde auch sein Übersetzungswerk eine Anverwandlung, eine Interpretation Shakespeares diesmal im Geist der deutschen Romantik. Aus mehreren Gründen allerdings wurde diesem Übersetzungswerk die Anverwandlung nicht zur Last gelegt. Zum einen hatte die romantische Ästhetik und Übersetzungstheorie mit einem völlig verändertem Textverständnis sowohl eine neue Bewertung des ›Originals‹, als auch eine organische Theorie des Kunstwerks als Einheit von Inhalt und Form entwickelt. Das führte dazu, dass nicht mehr diese oder jene Dimension eines Shakespeareschen Werkes im Vordergrund stand, sondern der gesamte Text in allen seinen inhaltlichen, dramaturgischen, sprachlichen und formalen Einzelheiten. Zum anderen aber stand den deutschen Übersetzern eine durch die Weimarer Klassik und die eigene dichterische Tätigkeit vollendet ausgebildete Literatursprache zur Verfügung, die vor den Schwierigkeiten des fremden Originals nicht mehr so häufig kapitulierte. Kurz: sowohl die ästhetische Grundlage des Unternehmens wie auch die künstlerischen Möglichkeiten und Fähigkeiten der daran beteiligten Übersetzer ermöglichten ein Werk, das kaum noch als Übersetzungswerk, sondern als eigenständiges literarisches Kunstwerk begriffen wurde, das die spezifischen Formen der Umdeutung in den Hintergrund treten liess. Aber auch Schlegel veränderte. Die Zoten und sprachlichen Derbheiten, auch manches Wortspiel liess er fort, stilistische Variation setzte er an die Stelle vermeintlich kunstloser Wiederholung, rhythmische Harmonisierung an Stelle vermeintlich ungeschickter Versformgebung. Das romantische Stilideal dominiert über die dramatische Funktion der Stilelemente im Werk Shakespeares. Wichtiger als alle diese Details war ein Hang zu romantischer Lyrisierung, die bis in die nachhaltige Uminterpretierung der Figuren und der Werkanlage ging. Das zeigt sich besonders nachdrücklich an der Figur des Romeo. Die Witz- und Spottduelle etwa, die sich Romeo und Mercutio im Verlauf des zweiten Akts liefern, hat Schlegel weitgehend ausgelassen, jedenfalls soweit sie aus Romeos Mund stammen. Der zynische, scharfzüngige, lebensfrohe, bisweilen bösartige Romeo wird durchgängig zum introvertierten, schwärmerischen Jüngling. Schlegel teilte die Lebenselemente zwischen Romeo und Mercutio sorgfältig auf, unterdrückte, dass sich anfangs so manche Eigenschaft Mercutios in Romeo selbst findet. Ähnlich, das kann nur thesenartig angedeutet werden, deutete dann auch Tieck (1773–1853) den Sturm und den Sommernachtstraum zu »heiteren Träumen« um, ganz im Zusammenklang mit Mendelssohns musikalischer Interpretation dieser Vorlage. Shakespeare im Spannungsfeld zwischen romantischem Nachtstück und heiterem Elfenspiel — das war der romantische Stimmungsrahmen, in dem sich die Aneignung, Umdeutung und kongeniale Nachdichtung Shakespeares vollzog. Da es aber eine Nachdichtung allerhöchsten Ranges ist, eine Dichtung recht eigentlich, von der eine ungeahnte Ausstrahlung auf die deutsche Dichtung — und nicht nur die deutsche — ausging, ist sie zu Recht als eine einzigartige Übersetzungsleistung in die Literaturgeschichte eingegangen. Sie lässt sich weder literatur-historisch noch übersetzungsgeschichtlich mit anderen vergleichen oder gar als Massstab verwenden, weil die historischen Voraussetzungen, die ästhetischen Prinzipien, die übersetzungstheoretischen und -praktischen Überlegungen und die individuellen Talente in diesem Zusammenspiel nicht mehr zusammentraten.
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Inwieweit dieser »romantische« Shakespeare wirklich »romantisch« ist,55 wann die Grenzen dieser Übersetzung erkannt und wie sie formuliert wurden, welche anderen Übersetzungen in Konkurrenz zu ihr traten — das sind Fragen, die ein neues Kapitel der Shakespeare-Übersetzung und Shakespeare-Rezeption eröffnen.
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55. Habicht, Werner, »The Romanticism of the Schlegel-Tieck Shakespeare and the History of Nineteenth-Century German Shakespeare Translation«, in: Delabastita / D’Hulst (eds.), European Shakespeares. Translating Shakespeare in the Romantic Age, op. cit.
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Übersetzungstheorien Wilhelm Gräber
In Übersetzungen spiegeln sich gewöhnlich die ersten Anzeichen literarhistorischer Veränderungen, denn jede Epoche rezipiert die fremde Literatur auf ihre Weise und definiert die Funktion des Übersetzens in ihrem eigenen Sinne neu. So kündigte auch der Funktionswandel des Übersetzens nach 1760 bereits den Übergang von klassizistischen Vorstellungen zu romantischem Denken an. Eine Voraussetzung dieser übersetzungsgeschichtlichen Wende war der Abbau der französischen Vormachtstellung in Europa, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch unumstritten schien.1 An die Stelle des ›freien‹ französischen Übersetzens trat ein neuartiges Verhältnis zum Originalen und Fremdartigen, aus dem die epochentypischen Übersetzungen und Übersetzungstheorien hervorgehen werden. Doch schien französischer Einfluss zunächst allgegenwärtig zu sein: Die Gelehrten sprachen und lasen französisch, die Fürstenhöfe abonnierten literarische Zeitschriften aus Paris, man las die antiken Autoren in französischer Übersetzung, druckte in England, Holland und später auch in Deutschland französische Bücher, ja das Ansehen der französischen Literatur war so hoch, dass zahlreiche italienische, spanische, deutsche und sogar englische Übersetzungen nicht dem Original folgten, sondern einer französischen Version.2 Diese ›traductions indirectes‹ versperrten den Zugang zu den fremden Originalen, die sie durch die Brechung des französischen Filters sehen liessen. Die anderen Nationen gewannen erst ein literarisches Selbstbewusstsein, als auch in Frankreich die klassizistische Dichtungslehre an Gültigkeit verlor und die herrschende Übersetzungskonzeption in Frage gestellt wurde.
Vom Einbürgern zum Bereichern Aber auch im 18. Jahrhundert hiess Übersetzen zunächst, den fremden Autor im eigenen Land heimisch zu machen, ihn ›einzubürgern‹ (›naturaliser‹): Das Übersetzen diente in Frankreich vor allem der Festigung der eigenen Sprache und Literatur; es sollte zum einen die Universalität des Französischen beweisen, das alle Werke zu assimilieren imstande ist, zum anderen führte es den lesenden Landsleuten vor, wie die fremden Autoren eigentlich hätten schreiben müssen, wenn sie im Besitz des ›bon goût français‹ gewesen wären.
1. Cf. Stackelberg, Jürgen von, »La traduction dans l’Europe française (1680–1760)«, in: Mortier /Knabe (eds.), L’Aube des Lumières, à paraître. 2. Cf. Blassneck, Marce, Frankreich als Vermittler englisch-deutscher Einflüsse im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1934; Stackelberg, Jürgen von, Übersetzungen aus zweiter Hand. Rezeptionsvorgänge in der europäischen Literatur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Berlin /New York 1984; Gräber, Wilhelm /Roche, Geneviève, Englische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts in französischer Übersetzung und deutscher Weiterübersetzung. Eine kommentierte Bibliographie, Tübingen 1988.
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Der Kritiker und Journalist Fréron (1718–1776), einer der einflussreichen Hüter klassizistischer Werte, war davon überzeugt, einem fremden Autor könne keine grössere Ehre widerfahren, als vom Makel seiner niederen (hier englischen) Herkunft befreit und zum Franzosen naturalisiert zu werden. In der Année littéraire erklärt er 1756 die ausgangstextorientierte Wiedergabe für eine bloss handwerkliche Tätigkeit, die freie Umgestaltung nach den in Frankreich gültigen ästhetischen Vorstellungen hingegen für eine künstlerisch anspruchsvolle Aufgabe: Comme s’il n’était pas plus difficile et plus glorieux d’accomoder un ouvrage anglais à la française, ce qui consiste à lui donner de l’ordre et du goût, que de le laisser avec tous les vices de sa naissance.
Und kategorisch schliesst er: »Rien n’est plus aisé qu’une fidélité scrupuleuse; rien ne l’est moins que le bel art d’embellir et de perfectionner.«3 Die Vorstellung, der Aufnahme fremder Werke durch ›kosmetische Korrekturen‹ zu dienen, erinnert an die ›belles infidèles‹. Obwohl diese eine Schöpfung des 17. Jahrhunderts sind, sollte der Topos vom Verschönern und Vervollkommnen bis zum Jahrhundertende in zahlreichen Vorreden und Rezensionen von Übersetzungen (nicht nur in Frankreich!) wiederkehren. Während jedoch das ›freie‹ Übersetzen im 18. Jahrhundert nur noch stabilisierend wirkte, waren die frühen ›belles infidèles‹ noch innovierend gewesen.4 Bei Perrot d’Ablancourt hatte das Übersetzen vor allem der Herausbildung der nationalen Dichtungslehre gedient, somit eine poetologische Funktion erfüllt, wie Roger Zuber zeigt: »la pratique des ›belles infidèles‹ a contribué, chez les écrivains et dans le public, à former le goût classique.«5 Zuber vermeidet hier den Begriff ›traduction libre‹, denn die Verfasser solch zielseitig am französischen Geschmack orientierter Werke besassen, wie auch Frérons Zitat belegt, keineswegs freie Hand: Während man den originalnahen Übersetzer der Verantwortung enthebt, weil er vom fremden Werk lediglich eine kunstlose Kopie liefere, übernimmt ein Übersetzer der klassizistischen Epoche ein hohes Mass an Verantwortung. Da er im Besitz der hochentwickelten ästhetischen Lehre ist, muss seine Aufgabe von diesem Wissen geleitet sein. Das Verhältnis zum Ausgangstext bleibt sekundär gegenüber den in Frankreich herrschenden Normen, denen sich der Übersetzer unterwerfen muss: So entpuppt sich die vermeintliche ›liberté‹ gegenüber dem fremden Werk als eine Verpflichtung gegenüber der eigenen Sprache und Literatur. Für Pierre Le Tourneur, der zwischen 1776 und 1783 den ambitionierten Versuch einer vollständigen Shakespeare-Übersetzung wagte, war zum Zeitpunkt seiner Version von Youngs Night Thoughts (1742–1744) noch der Gedanke an eine mundgerechte Darbietung des englischen Autors massgeblich: »Mon intention a été de tirer de l’Young anglais un Young français qui pût
3. Année littéraire 1756, VI, S. 243. 4. Stackelberg, Jürgen von, »Blüte und Niedergang der ›Belles infidèles‹ «, in: Kittel, Harald (ed.), Die literarische Übersetzung: Stand und Perspektiven ihrer Erforschung (Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung, 2), Berlin 1988, S. 16–29, hier: S. 23. 5. Zuber, R., Les ›Belles Infidèles‹ et la formation du goût classique. Perrot d’Ablancourt et Guez de Balzac, Paris 1968, S. 9.
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plaire à ma nation, et qu’on pût lire avec intérêt, sans songer s’il est original ou copie.«6 In diesem vielzitierten Diktum von 1769 motiviert er sein Vorgehen mit dem Geschmack seiner lesenden Landsleute: Er weiss, dass der englische Autor in Frankreich nur gefallen kann, wenn er von allem Befremdlichen befreit ist. Der Leser dürfe nicht mehr erkennen, ob es sich um einen französischen Originaltext oder um eine Übersetzung handelt — der Gedanke an eine Bereicherung liegt Le Tourneur fern. Noch in der französischen Aufklärung, die sich doch einer Wissensvermehrung verschrieb, herrschte eine Übersetzungskonzeption vor, die fremden Einfluss zugunsten der eigenen Konventionen unterdrückte. Im Übersetzen sollte weiterhin die ästhetische Überlegenheit Frankreichs bestätigt werden. Was aber vermag das Übersetzen zu leisten, wenn die fremden Werke nivellierend in den Rahmen der etablierten Normen eingefügt werden? Nach 1750 wurden in Frankreich erstmals Befürchtungen laut, die französische Dichtung könnte verarmen, sie könnte durch die ausschliessliche Nachahmung antiker Vorbilder unfruchtbar werden. Zwar versprach man sich eine Bereicherung durch das Übersetzen aus den bislang geringgeachteten modernen Literaturen, insbesondere der englischen und später auch der deutschen — doch musste zunächst das Übersetzen selbst neu definiert werden. Da das Interesse am Fremden zunahm, eine einbürgernde Übersetzung jedoch kaum Anregungen zu vermitteln vermochte, wurde im Jahrhundertverlauf die bisher stets gerühmte ›Eleganz‹ des übersetzten Textes zusehends zum Synonym für übersetzerische Untreue gegenüber dem fremden Werk.7 Die neue Generation der ›gens de lettres‹, darunter Diderot, Marmontel und Grimm, erklärte sich gegen die französischen Übersetzer wie Abbé Prévost und räumte unumwunden die Überlegenheit einiger englischer Schriftsteller wie Richardson ein, weil diese der Literatur neue Wirklichkeitsbereiche zu erschliessen vermögen. In Frankreich zählte der Encyclopédie-Mitarbeiter d’Alembert (1717–1783) zu den frühen Gegnern des nivellierenden Übersetzens, das die Besonderheiten fremder Werke eliminiere. Die meisten Übersetzungen erschienen ihm als »beautés régulières sans âme et sans physionomie« — eine deutliche Kritik der ›belles infidèles‹. Da er weiss, dass die wenigsten Übersetzer imstande sind, das Charakteristische (»le caractère étranger«) ihres Autors zu bewahren, verlangt er, es sollten sich geistesverwandte Schriftsteller der Texte annehmen: »Les hommes de génie ne devraient donc être traduits que par ceux qui leur ressemblent, et qui se rendent leurs imitateurs, pouvant être leurs rivaux.«8 Diese Übersetzer ermuntert er dazu, sich über ihre Rolle als »copistes« zu erheben und mit ihren Autoren zu konkurrieren, indem sie durchaus ›Verschönerungen‹ der fremden Texte vornehmen. Wenn auch d’Alembert grössere Freiheiten für die Übersetzer verlangte, so bezog er diese nicht auf das Verhältnis zum fremden Text, sondern auf das Verhältnis zur französischen Literaturnorm; denn mit der bisher eingeschränkten Freiheit der Übersetzer geht ihre eigene Ängstlichkeit einher, gleichrangig neben ihre Originale
6. Les Nuits d’Young, traduites de l’anglais. Par M. Le Tourneur, Rouen / Paris 1769, S. lxiii / lxiv (»Discours préliminaire«). 7. «Vous qui n’avez lu les ouvrages de Richardson que dans votre élégante traduction française, et qui croyez les connaître, vous vous trompez.« Diderot, Œuvres esthétiques, Vernière, P. (ed.), Paris 1959, S. 36. 8. Observations sur l’art de traduire en général, et sur cet essai de traduction en particulier, Amsterdam 1759. Zitiert nach D’hulst, Lieven, Cent ans de théorie française de la traduction. De Batteux à Littré (1748–1847), Lille 1990.
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zu treten. »Ce courage consiste à savoir risquer des expressions nouvelles pour rendre certaines expressions vives et énergiques de l’original.«9 Er wertet es als ein Merkmal »edler Freiheit«, wenn Eigenarten der fremden Sprache zur Verschönerung der eigenen entlehnt werden. Die Übersetzung soll — und das ist eine neue, anti-klassizistische Auffassung — als solche erkennbar bleiben, indem sie »l’empreinte de l’original« bewahre und auch ihre nationale Herkunft verrate (»ce goût de terroir«). Im wachsenden Interesse am Originalen und an dem, was wenig später »couleur locale« heissen wird, kündigt sich bereits die neue Epoche an. In seiner ehrgeizigen Versübertragung von Vergils Georgica (37 / 36 v.Chr.) bekennt sich auch der Dichter Jacques Delille (1738–1813) 1770 zum Übersetzen als einem Mittel sprachlicher Bereicherung. Die eigene Sprache nehme unmerklich die Färbung der fremden Sprache an, erklärt er und stellt das Übersetzen sogar über das Neuschöpfen: »traduire, c’est importer en quelque façon dans sa langue, par un rapport heureux, les trésors des langues étrangères.«10 Obwohl sich Delille dem Fremden gegenüber aufgeschlossen gibt, schimmern durch sein Bekenntnis zur sprachlichen Kühnheit immer wieder die in Frankreich verwurzelten klassizistischen Werte,11 die er im übrigen auch in seinen Shakespeare-Versionen bewahrt. Hatte Nicolas Beauzée in seinem Encyclopédie-Artikel »Traduction, version« (1765) unverbindlich für ein »juste milieu entre la licence du commentaire et la servitude de la lettre« plädiert, bezieht Marmontel (1723–1799) 1777 im Supplément à l’Encyclopédie eine klare Position. Dem weitverbreiteten einbürgernden Übersetzen stellt er eine Konzeption gegenüber, die nicht nur das Wesen des Originalautors, sondern sogar den Geist seiner Sprache und, damit verbunden, »l’air du climat et le goût du terroir« bewahre — auch Marmontel antizipiert das künftige ›Lokalkolorit‹. Er unterscheidet zwischen zwei Typen von Übersetzungslesern, denen sich die beiden Übersetzweisen zuordnen lassen: Während die ›gens du monde‹ die reine Unterhaltung suchen und dem Übersetzer alle Freiheiten einräumen, damit er diesem Bedürfnis entgegenkomme, wollen die ›savants‹ das Fremde umfassend kennenlernen und nehmen dafür auch die Unregelmässigkeiten, »ces fautes précieuses«, in Kauf. Marmontel lässt keinen Zweifel daran, welche Position er selbst unterstützt: Der ideale Übersetzer kenne nicht nur die feinsten Nuancen beider Sprachen, sondern sei bereit, die eigene Sprache den Erfordernissen des Textes zu beugen und sie in der Begegnung mit dem fremden Original um neue Wendungen zu bereichern: »il faut avoir le don de s’enrichir lui-même, en créant, au besoin, des tours et des expressions nouvelles«.12 Dem Bestreben, eins zu werden mit dem fremden Autor, sollen alle Bedenken sprachpuristischer Art untergeordnet werden. Nun überbot man sich in den Vorreden gegenseitig im Loblied des Übersetzens, das von einer gering geachteten unoriginellen Tätigkeit aufgestiegen ist zu einem wesentlichen Bestandteil der einheimischen Literaturproduktion. Beim Horaz-Übersetzer de Wailly kann das Übersetzen sogar dem Neuschöpfen überlegen werden, wenn aus dem Ringen des Übersetzers
9. Ibid., S. 40. 10. Les Géorgiques de Virgile, »Discours préliminaire«›zitiert nach D‹hulst, op. cit., S. 121. 11. Cf. D’hulst, op. cit., S. 120. 12. Supplément à L’Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Art. »Traduction«, zitiert nach D’hulst, op. cit., S. 54.
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mit dem Original ein neues Meisterwerk hervorgeht, das sich durch ganz neuartige Wendungen auszeichnet. Hatte der fremde Autor seine ›pensée‹ der ›expression‹ untergeordnet, also nur gedacht, was er auch ausdrücken konnte, so berechtigt es den Übersetzer zu sprachlichen Freiheiten, die ein Autor nicht besitzt: il étend le domaine de sa langue, en y naturalisant les richesses d’un idiome étranger et l’on applaudit dans l’imitateur des hardiesse qu’on aurait peut-être blâmées, s’il les eût hasardées de son propre mouvement.«13
Grundsätzlich ist jedoch zu unterscheiden zwischen einer zunehmend originellen oder sogar radikalen ›Theorie‹ des Übersetzens und ihren Auswirkungen auf die ›Praxis‹: Es entwickelte sich eine regelrechte Rhetorik der Vorreden, in denen die Übersetzer ihre Positionen erläuterten oder zu Rivalen Stellung nahmen. Die Vorrede trat an die Stelle der Widmung. Die Übersetzer sprachen ihren Leser als einen sachverständigen Kenner an, dem sie ihr Vorgehen detailliert erklärten — obwohl sie wussten, dass der Leser wohl kaum einen Übersetzungsvergleich vornehmen würde. Diese Publikumsansprache an den verständigen Leser ist eine moderne Form der ›captatio benevolentiae‹; die meist ausführliche Vorrede zeigt aber andererseits, dass sich der Übersetzer zu seinem Werk bekannte und von ihm Besitz ergriff: Das Übersetzen galt nicht mehr als blosse Stilübung oder gar ehrenrührige Betätigung. Im übrigen wurde der Leser vor allem in seiner Eigenschaft als Landsmann angesprochen, und so besitzen die Vorreden, unabhängig von der eingeschlagenen Übersetzweise, häufig eine nationalistische Färbung. Erklärt der Übersetzer die eigene Literatur für überlegen, folgt daraus, dass das fremde Werk ›eingebürgert‹ werden muss — das Fremde zum Eigenen machen, ihm eigene Wertvorstellungen aufdrücken, das befriedigt den Nationalstolz der Landsleute. Begründet er eine originalnahe Übersetzung jedoch mit der Notwendigkeit, die eigene Literatur mit fremden Gedanken zu bereichern, so dient auch dies der nationalen Ideologie — schliesslich will keine Nation hinter den kulturellen Errungenschaften der Nachbarn zurückbleiben. Obwohl sich also keineswegs jede kühne Theorie auf die Praxis des Übersetzens auswirkt, lohnt der Blick auf einige extreme Positionen, insofern sie in pointierter Weise zeitgenössisches Denken widerspiegeln und sich in ihnen bereits der Auflösungsprozess der ›doctrine classique‹ ankündigt. Der Marquis de Saint-Simon (1675–1755), Theoretiker einer »traduction littérale et énergique«, war ein solcher Aussenseiter, dessen Gedanken ein hohes Mass an Modernität besassen, der aber in seiner Anwendung einer sensualistischen Wahrnehmungstheorie auf das Übersetzen eher als ein Utopist zu bewerten ist. Ihm erschien ein wortgetreues Übersetzen durchaus möglich. Eine Wirklichkeit, eine Menschheit und deshalb auch nur eine Wahrnehmungsfähigkeit: »la nature est une, et l’humanité n’est qu’une. La première offre partout les mêmes images, la seconde les reçoit partout également.«14 Die sprachliche Vielfalt ist für ihn keineswegs Ausdruck einer unterschiedlichen Wahrnehmung, im Gegenteil: Sie bietet den Vorteil des regen sprachlichen Austauschs, der gegenseitigen sprachlichen Bereicherung, als deren
13. E.-A. de Wailly in seiner Besprechung einer Pope-Übersetzung im Mercure de France, 1803, zitiert nach D’hulst, op. cit., S. 189. 14. Essai de Traduction littérale et énergique. Par le Marquis de Saint-Simon, Harlem 1771, »Préface«, S. VII.
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Resultat sich Saint-Simon eine europäische ›langue universelle‹ vorstellen kann, die von allen verstanden wird: »Par cette méthode de mots adoptifs, on peut entrevoir dans l’avenir, les idées de nombres de peuples, fixées par des noms communs représentatifs d’une sensation uniforme.«15 Eine Sprache ist für Saint-Simon ein Organismus, der durch den Kontakt mit anderen Sprachen immer wieder neues Leben gewinnt: »perfection ou pureté de langue« wird es deshalb ebensowenig geben wie eine Hierarchie der Sprachen. Da alle Sprachen über dieselbe ›énergie‹ verfügen, kann prinzipiell alles übersetzt werden, auch wenn eine »parfaite égalité« illusorisch bleibt. Alexander Fraser Tytler fasst in seinem Essay on the Principles of Translation 1791 übersetzungstheoretische Positionen zusammen, indem er u.a. die Eigenständigkeit der Übersetzung postuliert: »the translation should have the ease of original composition«.16 Er bleibt jedoch hinter dem in Frankreich erreichten Stand zurück, wenn er den Übersetzer zu Klärungen ermuntert und die grundsätzlichen sprachenpaarbedingten Unterschiede akzeptiert. Während aus England in dieser Periode wenig Neues zum Übersetzen kam, wurden jetzt deutsche Schriftsteller, die die neuen französischen Gedanken weiterführten, zu Vordenkern der Übersetzungstheorie. Für Wilhelm von Humboldt (1767–1835) besass das Übersetzen zwei Hauptfunktionen: dem nicht Sprachkundigen neue Einsichten zu übermitteln, die ihm sonst verschlossen blieben, aber auch die »Erweiterung der Bedeutsamkeit und der Ausdrucksfähigkeit der eigenen Sprache«. Von Humboldt insistierte, in jeder Sprache lassen sich alle Schattierungen ausdrücken, »das Höchste und Tiefste, Stärkste und Zarteste«. Der Gegenstand der Bereicherung ist zunächst der Sinn der Sprache, die aus Symbolen besteht; die Erweiterung des Sinns einer Sprache erweitert mittelbar auch den »Sinn der Nation«. Von dieser Warte muss von Humboldt die in Frankreich herrschende Auffassung kritisieren, der Übersetzer solle so schreiben, wie der Originalautor in dieser Sprache geschrieben hätte: Eine solche Auffassung zerstöre alles Übersetzen und den Sinn für Sprache und Nation.17
Die Entdeckung der Fremde In Italien blieb französischer Einfluss länger wirksam als in anderen Ländern, und auch das Übersetzen aus zweiter Hand hielt hier länger an.18 In Melchiorre Cesarotti (1730–1808) besassen die Italiener jedoch einen herausragenden Übersetzer, der sich nicht nur mit den möglichen Funktionen des Übersetzens auseinandersetzte, sondern am Anfang der europäischen Ossian-Begeisterung stand und durch seine Übersetzung einen Platz unter den Wegbereitern der Romantik einnahm. Der 1785 erschienene Saggio sulla filosofia della lingua ist sein Beitrag zur ›Questione della lingua‹. Cesarotti erklärt sich entschieden gegen eine Hierarchie der Sprachen; allenfalls könne man von frühen rohen Entwicklungsstadien und von späteren Epochen der
15. Ibid, S. X. 16. Zitiert nach Ballard, Michel, De Cicéron à Benjamin. Traducteurs, traductions, réflexions, Lille 1992, S. 216. 17. Äschylos Agamemnon metrisch übersetzt, 1816; zitiert nach Störig, Hans Joachim (ed.), Das Problem des Übersetzens, Darmstadt 1973, S. 81 f. 18. Cf. Zambon, M. R., Bibliographie du roman français en Italie au 18e siècle. Traductions, Firenze / Paris 1962.
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Verfeinerung sprechen. Die italienische Sprache sieht er durch zwei grundsätzliche Gefahren bedroht: Zum einen fürchtet er, sie könne zu unbeweglich und damit rückständig bleiben, wenn sie mit der geistigen Entwicklung nach 1750 nicht Schritt halte; doch obwohl sie dringend der Einflüsse und Anregungen aus anderen Sprachen bedürfe, warnt er zugleich vor einer zweiten Gefahr, das Italienische könne, vor allem unter französischem Einfluss, seine Wesensart verlieren. Als Übersetzer von Homer, Aischylos, »Ossian« und Voltaire sucht Cesarotti neue Impulse in antiken wie in modernen Literaturen. Von übersetzungsgeschichtlichem Rang ist weniger seine freie Bearbeitung der Ilias (La morte di Ettore, 1795) als seine frühe Übersetzung des Ossian, die unter dem Titel Poesie di Ossian antico poeta celtico in erster Fassung schon 1763 erschien. Schwärmerisch erkennt er die neuen sprachlichen Möglichkeiten dieser Naturdichtung, die er u.a. durch einen neuartigen Elfsilber (›endecasillabi‹) zu erfassen versucht und mit der er nachhaltigen Einfluss auf seine Landsleute Alfieri, Foscolo und Leopardi ausüben sollte. In der Vorrede zur zweiten erweiterten Auflage von 1772 stellt er Ossian sogar über Homer und entwickelt aus den stilistischen Eigentümlichkeiten dieser Dichtung ein kleines vorromantisches Manifest. Seine eigene Position als Vermittler sieht er »di mezzo fra il traduttore e l’autore«;19 und so räumt er ein, im Sinne der Klarheit, Korrektheit und Schönheit des Textes einige Eingriffe vorzunehmen und sogar mit dem Originalautor zu wetteifern (»di rischiarar il mio originale, di rammorbidirlo e di rettificarlo, e talora anche di abbellirlo e di gareggiar con esso«). Doch so wenig wie d’Alembert, den er zitiert, spricht Cesarotti von Veränderungen im Sinne einer ›Einbürgerung‹: Der Übersetzer muss künftig stärker hervortreten und zum Rivalen des Originalautors werden, um dessen Eigentümlichkeit in der eigenen Sprache zum Ausdruck zu bringen. Cesarottis Kompromiss, die eigene Literatur zum Fremden hinzuführen, ohne sie indessen der Gefahr einer ›Überfremdung‹ und damit des Identitätsverlusts auszusetzen, fand den Beifall vieler Zeitgenossen. Schon in seinem Essai von 1771 äussert sich Saint-Simon bewundernd über Cesarottis Versübertragung, 1774 schliesst er sich selbst der Ossian-Verbreitung an, übersetzt mit Témora einen Teil des pseudo-gälischen Epos und verteidigt in der Vorrede seine wortgetreue Wiedergabe mit dem Hinweis darauf, es handle sich um die Sprache von Bergbewohnern, deren natürliche Schlichtheit befremden könne: »Ce sont des vérités de nature, trop grossières pour la délicatesse de notre siècle et de notre langue actuelle.«20 Vor dem Hintergrund von SaintSimons Theorie einer ›énergie‹ der Sprachen (Essai de Traduction littérale et énergique) erscheint die zeitgenössische ›délicatesse‹ als Ausdruck einer sprachlichen Verarmung: Sie lässt Natürlichkeit und Fremdheit unverständlich bleiben. Saint-Simon griff dem Dichter de Saint-Ange voraus, der im folgenden Jahr anlässlich seiner Übersetzung des Man of Feeling die Verfälschungen fremder Autoren kritisierte, wie sie unter dem Vorwand des Einbürgerns üblich seien (»sous prétexte de [les] franciser«). Er hingegen habe auf eine Einkleidung in »le costume de Paris« verzichtet und stattdessen versucht,
19. Poesie di Ossian antico poeta celtico (Discorso premesso alla seconda edizione di Padova del 1772), zitiert nach Bigi, Emilio (ed.), Dal Muratori al Cesarotti (La Letteratura italiana. Storia e testi, Bd. 44:4), Milano /Napoli 1960, S. 90. 20. Temora. Poème épique en VIII Chants […] Traduit d’après l’édition anglaise de Macpherson. Par M. le Marquis de St. Simon, Amsterdam 1774, aus dem unpaginierten »Avertissement«.
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»de rendre avec fidélité les moindres nuances de couleurs locales«.21 Dieser frühe literarische Beleg für das künftige Schlüsselwort der Romantiker veranschaulicht die enge Verknüpfung des Übersetzens mit der neuen Literaturepoche: Man zeigte sich der Regelmässigkeit, Harmonie und Gleichförmigkeit überdrüssig und wollte die Farbe der Fremdheit auch in den Übersetzungen durchschimmern sehen. Dass es die Franzosen selbst waren, die ihr ›freies‹ Übersetzen zunehmend in Frage stellten, trug zweifellos zur Diskreditierung Frankreichs als Vorbild für das gebildete Europa bei. Nach 1750 wurde die französische Übersetzungstheorie in Deutschland kaum noch rezipiert. Einer der späteren Belege ist Hottingers Schrift Einiges über die neuesten Übersetzerfabriken (1782), in deren Anhang d’Alemberts Tacitus-Vorrede abgedruckt ist. Hottinger ging jedoch darüber hinaus, wenn er in Vorwegnahme Schleiermachers fragte, ob denn das Übersetzen überhaupt möglich sei. Die verschiedenen Sprachen sind für ihn nur der Ausdruck grundsätzlicher Verschiedenheit der Völker und der Zeiten; denn Geist und Wort sind nicht voneinander trennbar. Hottinger erhebt deshalb bereits die Forderung nach einer eigenen Übersetzersprache, die aber nicht zu verwechseln ist mit einer Bereicherung der Nationalsprache, sondern den jeweiligen Charakter erfassen soll, der den Übersetzungen aus einer bestimmten Literatur gemeinsam ist.22 Indem der Übersetzer die deutsche Sprache dem jeweiligen nationalen Geist des Werkes anpasst, vermittelt er dem Leser das Gefühl, einen fremden Text vor sich zu haben.23 Deutschlands Emanzipation von französischer Hörigkeit, der Aufstieg zur Übersetzernation und der Funktionswandel des Übersetzens verdienen eine etwas genauere Darstellung. Im 18. Jahrhundert lasen die Gebildeten — wie überall in Europa — französisch, was u.a. durch die Bestände privater und öffentlicher Bibliotheken dokumentiert wird. Friedrich II. schrieb französisch, seine Berliner Akademie schmückte sich mit französischen Mitgliedern. Die antiken Werke wurden vorwiegend in französischer Übersetzung gelesen; so lernte auch Goethe Homer durch eine freie deutsche Bearbeitung der Iliade von Mme Dacier kennen. Ein kaum vorstellbarer Nachholbedarf bestand noch im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts: Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht einmal der Kanon antiker Klassiker ins Deutsche übersetzt worden. Nach 1760 gewann die deutsche Literatur ein neues Selbstbewusstsein, was sich insbesondere im Verhältnis zu Frankreich ausdrückt. Als erstes galt es, die antiken Autoren in ›eigener‹ Übersetzung zu besitzen, und darin hoffte man, es den Franzosen nicht nur gleichzutun, sondern sie durch die Treue und Genauigkeit der Übersetzungen sogar hinter sich zu lassen.24 In der Tat äusserten deutsche Schriftsteller schon wenige Jahrzehnte später die Überzeugung, »unter allen Nationen
21. L’Homme sensible. Traduit de l’anglois par M. de Saint-Ange, Amsterdam / Paris 1775, »Préface du Traducteur«, S. VII. 22. Cf. Fränzel, Walter, Geschichte des Übersetzens im 18. Jahrhundert, Leipzig 1914, S. 162 f. 23. Das Bemühen, die Eigentümlichkeit eines fremden Textes auch in der Übersetzung zu wahren, bringt bisweilen auch unfreiwillig parodistische Früchte hervor. Hölderlins ernsthaftes Bestreben, sich »innig« in Sophokles Tragödien zu versenken, veranlasst Voss d.J. zu der Frage: »Ist der Mensch rasend oder stellt er sich nur so, und ist sein Sophokles eine versteckte Satire auf schlechte Übersetzungen?« (Brief an B. R. Abeken vom 29.10.1804, zitiert nach Tgahrt, Reinhard, Weltliteratur. Die Lust am Übersetzen im Jahrhundert Goethes (Ausstellungskatalog), Marbach 1982, S. 330). 24. Cf. Fränzel, Geschichte, op. cit., S. 108.
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die besten Übersetzungen zu haben«.25 Verschiedene Faktoren trugen im ausgehenden 18. Jahrhundert dazu bei, dass deutsche Übersetzer intensiv über ihre Tätigkeit reflektierten und von einem unbefangenen Nachfolgen der Franzosen zu einem umfassenden Verständnis des Übersetzens vordrangen, das sie auf eine sprachphilosophische Ebene hoben.26 Das Natürliche und Originale eines Werkes wurde nun höher bewertet, und so bemühten sich auch die Übersetzer, der jeweiligen Eigentümlichkeit ihres Dichters stärker gerecht zu werden. Eine Aktualisierung und Einbürgerung zeitlich oder räumlich ferner Autoren war in dieser Phase, in der der historische Sinn erwachte, nicht mehr möglich. Das Aufkommen der philologischen Kritik und die Bewegung des Neuhumanismus brachten nicht nur ein neues Bildungsideal hervor, sondern führten zunächst zu neuen Übersetzungen vor allem griechischer Autoren, in denen sich ein ernsthaftes Ringen um eine angemessene, d.h. den fremden Genius bewahrende Wiedergabe widerspiegelt. Die ›Eroberung‹ des griechischen Kanons durch ambitionierte Übersetzungen wurde ergänzt durch Schleiermachers und von Humboldts Theorien, die aus diesem neuhumanistischen Umfeld hervorgingen. Friedrich Schleiermachers (1768–1834) Berliner Akademie-Rede vom 24. Juni 1813, Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens zählt zu den grossen Synthesen der Übersetzungsgeschichte.27 Zunächst grenzt er die Paraphrase, die besonders bei der Wiedergabe wissenschaftlicher Werke Verwendung finde, und die Nachbildung, die im Bewusstsein grundsätzlicher Verschiedenheit mit eigenen Mitteln einen ähnlichen Eindruck wie das Original anstrebe, vom »eigentlichen Übersetzer« ab, dessen Ziel es sei, den fremden Schriftsteller und seinen Leser zusammenzuführen. Schleiermacher zufolge kann es hier nur zwei grundsätzliche Übersetzerentscheidungen geben, nämlich den Leser zum Schriftsteller zu bewegen oder den Schriftsteller zum Leser. Jeder Kompromiss zwischen diesen polaren Positionen muss, so Schleiermacher, ein »höchst unzuverlässiges Resultat« zeitigen, denn wenn sich die Parteien an einem mittleren Punkt treffen, sei dies immer derjenige des Übersetzers. Da es für Schleiermacher verschiedene Entwicklungsstadien der Sprache und der Leser eines Volkes gibt, räumt er ein, dass anfangs auch freie Nachbildungen ihre Berechtigung besitzen, insofern sie die Lust am Fremden wecken und künftigen Übersetzungen den Weg ebnen. Diese aber sollen an den Leser das Gefühl des Fremden übermitteln; eine nicht alltägliche Sprache könne ahnen lassen, dass die Sprache zu einer fremden Ähnlichkeit »hinübergebogen« sei. Schleiermacher spricht in diesem Zusammenhang von den »Entsagungen« des Übersetzers, dessen muttersprachliche Eleganz zurückzutreten habe hinter dem Bemühen, das Fremde darzustellen. Wenn jedoch der Leser griechische oder römische Werke als solche wahrnehmen soll, müssen viele Übersetzungen nach diesem Muster angefertigt werden, so dass der Leser Vergleiche anstellen kann. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als »ein Verpflanzen ganzer Literaturen in eine Sprache«! Herrschte bisher das Herüberholen des fremden Werks, das Einbürgern, vor, so warb Schleiermacher nun für ein spracherweiterndes, verfremdendes Übersetzen. Aus der Prämisse,
25. K.W.F. Solger in seinem Tagebuch, 1800 (zitiert nach Tgahrt, Weltliteratur, op. cit., S. 325). 26. Cf. hierzu Rüdiger, Horst, »Über das Übersetzen von Dichtung«, in: Akzente, V, 1958, S. 174–188, S. 187. 27. Abgedruckt in Störig, Das Problem, op. cit., S. 38–70.
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Gedanke und Ausdruck seien dasselbe, folgt, dass der Übersetzer den fremden Autor nicht von seiner Sprache trennen kann, ohne ihn zu verfälschen — die nachahmend-wiederschaffende Methode, ihn so schreiben zu lassen, wie er wohl in der Zielsprache geschrieben hätte, verbietet sich deshalb als eine reine ›Fiction‹. Die Kenntnis des Fremden ist jedoch nicht Selbstzweck, sondern sie steht im Dienste einer Bereicherung der eigenen Sprache und Gedanken. Denn unsere Sprache, erklärt Schleiermacher, sei durch »nordische Trägheit« gekennzeichnet und ohne vielfältige Begegnungen mit dem Fremden unbeweglich. Aus diesen Anregungen aber gewinne sie neues Leben, das ihr die Entwicklung der ihr innewohnenden Kraft ermögliche. Übersetzungen sind nach dieser Auffassung ein Übergangsphänomen, noch aber, so beschliesst er seine Akademie-Rede, habe sich in Deutschland ein »öffentliches Leben« nicht in dem Masse entfaltet, dass die Sprache ohne die Bereicherung durch Übersetzungen auskomme. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts versteht man unter Originaltreue das Ringen um ›Stiltreue‹: Der Übersetzer übernimmt dabei die Autorschaft für ein neu entstehendes Werk.28 Aus diesem Treueverständnis erklärt sich Wilhelm von Humboldts scheinbar paradoxe Feststellung, eine Übersetzung werde um so abweichender, »je mühsamer sie nach Treue strebt.« Denn im Bemühen, die »feinen Eigentümlichkeiten nachzuahmen«, vermeidet sie das Allgemeine und stellt jeder Eigentümlichkeit des fremden Textes eine eigene, verschiedene gegenüber.29 Eine Übersetzung wird auf diese Weise zwangsläufig immer etwas vom Original grundsätzlich Verschiedenes, zumal von Humboldt eine Lektüreerleichterung für den Übersetzungsleser ablehnt: Was im Original ungewöhnlich ist, soll es auch in der Übersetzung sein. Seine Vorstellung impliziert, dass »die Übersetzung eine gewisse Farbe der Fremdheit an sich trägt«. Gelingt es dem Übersetzer, seinen Leser nicht die Fremdheit, sondern das Fremde spüren zu lassen, hat er sein höchstes Ziel erreicht — verdunkelt jedoch der Eindruck von Fremdheit den Text, ist er seinem Original nicht gewachsen. Am Ende unseres Zeitraums fasst Goethe (1749–1832) die Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des Westöstlichen Diwans30 ab, in denen er drei Übersetzungsarten unterscheidet. Der erste, »schlicht-prosaische« Typ hebt zwar die Eigentümlichkeiten des Originals auf, indem er das Fremde zum Häuslich-Vertrauten hinführt, er erfüllt jedoch die wichtige Funktion, den Kontakt zur fremden Literatur zu knüpfen. Die zweite Art zu übersetzen nennt Goethe »parodistisch«, weil sie fremden Sinn durch eigenen wiedergibt: Noch im 19. Jahrhundert erscheint sie ihm insofern charakteristisch für Frankreich, als der Franzose sich alles Fremde »mundrecht« mache und »für jede fremde Frucht ein Surrogat [fordere], das auf seinem eigenen Grund und Boden gewachsen sei«. Der dritte Typ ist für Goethe zugleich der letzte und höchste, nämlich die Übersetzung, die mit dem Original »identisch« gemacht werden soll. Aus
28. Cf. Poltermann, Andreas, »Die Erfindung des Originals. Zur Geschichte der Übersetzungskonzeptionen in Deutschland im 18. Jahrhundert«, in: Schultze, Brigitte (ed.), Die literarische Übersetzung. Fallstudien zu ihrer Kulturgeschichte, Berlin 1987, S. 14–52, hier: S. 16. 29. Agamemnon, »Einleitung«, zitiert nach Störig, Das Problem, op. cit., S. 81. 30. 1818 / 19. Zitiert nach Goethes Werke IV, Heinemann, Karl (ed.), Leizig / Wien (o.J.), S. 471–474. Bei Störig, Das Problem, op. cit., S. 35–37.
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dieser Aufgabe des eigenen nationalen Wesens und der Annäherung an das Fremde entstehe etwas Drittes, das den Leser zunächst befremde, ihn dann aber die Sprachweisen und die ganze Eigentümlichkeit des Originals spüren lasse. Obwohl diese dritte identifizierende ›Epoche‹ den Kreis der Annäherung an das Fremde und Unvertraute schliesst, versteht Goethe diese Dreiteilung (ähnlich wie Novalis in den Blütenstaub-Fragmenten) nicht als übersetzungsgeschichtliche Abfolge einer Nation, sondern als ein typologisches Nebeneinander. Bei diesen grossen Synthesen handelt es sich allerdings um Gipfelleistungen der Übersetzungstheorie: Es ist bezeichnend, dass Schleiermacher und von Humboldt sie anhand von Antikenübersetzungen entwickelten, die für den kleinen erlesenen Kreis derer bestimmt waren, die sich auf die fremde Welt der Antike einzulassen vermochten. Abschliessend muss jedoch noch nach den praktischen literaturgeschichtlichen Auswirkungen des Übersetzens gefragt und ein Blick in die Niederungen des Buchmarktes geworfen werden.
Der Platz in der Empfängerliteratur Die starke Zunahme der Übersetzungstätigkeit zeigt, dass Übersetzungen ›notwendiger‹ wurden, als sie es bisher waren. Das Lesepublikum weitete sich im 18. Jahrhundert aus, nun griffen auch Bevölkerungsschichten zum Buch, die soeben im Zuge der Alphabetisierung dazu in die Lage versetzt worden waren, die aber noch keine fremdsprachliche Literatur zu lesen vermochten. Diese neuen Leser erwarteten eine ihren Kenntnissen und ihrer Lebenswelt angemessene Lektüre, und nicht jede Nationalliteratur vermochte sich auf diese Erwartungen einzustellen. Insbesondere in Frankreich entstand aus der Diskrepanz zwischen einer normierenden klassizistischen Kritik und der publikumssoziologischen Veränderung eine ›Krisensituation‹.31 Hier wurde dem Roman, der, poetisch nicht normiert, sich am ehesten an die neuen Lesebedürfnisse anpassen könnte, die Anerkennung verweigert. Die von der Kritik und der staatlichen Zensur geförderte Literatur war weiterhin jene, mit der im ›Grand siècle‹ die Elite des Landes erzogen werden sollte. Da die poetologischen Beschränkungen nicht im selben Ausmass für Übersetzungen galten, nahm deren Bedeutung zu. Vor allem die Übersetzungen englischer Romane konnten den französischen Originalwerken das Publikum entziehen und in Frankreichs Literatur einen Platz besetzen, den die einheimischen Schriften nicht besetzen durften.32 In dem Masse, in dem der Buchmarkt kommerzialisiert wurde, erlitt das Übersetzen mit Ausnahme einiger ambitionierter Unternehmungen einen Qualitäts- und Prestigeverlust. Des öfteren wurde nun das Überhandnehmen fremder Einflüsse durch schlechte Übersetzer beklagt; Grimm qualifizierte einen zeitgenössischen Romanübersetzer als »un de nos traducteurs à tant par feuille« — nicht mehr die Neigung verleitete zum Übersetzen, sondern materielle Gründe: Übersetzungen wurden zusehends buchhändlerische Unternehmungen. Noch anschaulicher ist das
31. Cf. Yahalom, Shelly, »Le système littéraire en état de crise. Contacts intersystémiques et comportement traductionnel«, in: Poetics Today, 2:4, 1981, S. 143–160. 32. Cf. Gräber, Wilhelm, Der englische Roman in Frankreich: 1741–1763. Übersetzungsgeschichte als Beitrag zur französischen Literaturgeschichte (Studia Romanica, 85), Heidelberg 1995.
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Bild, das Friedrich Nicolai (1733–1811) in Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker (1773–1776) von den Übersetzungsfabriken entwirft. Die Titelfigur erfährt, dass das Übersetzen zum Geschäft geworden ist, von dem es sich gut leben lässt. Der alte Magister klärt ihn über verschiedene Übersetzertypen auf und stellt sogar Übersetzer vor, die ihre Übersetzungen ihrerseits in Auftrag geben. Beinahe die Hälfte der neuen deutschen Bücher seien Übersetzungen, klagt der Magister (davon seien wiederum zwei Drittel Fabrikarbeit) — eine Zahl, die durch Kataloge der Buchmessen bestätigt wird.33 Der kulturelle, insbesondere literarische Nachholbedarf der Deutschen lässt bald die Befürchtung laut werden, die zunehmende Übersetzungsproduktion könne die einheimischen Werke ersticken. Der Leipziger Verleger J. G. Dyck klagt 1781: »Übersetzungen sind uns also zur Zeit noch unentbehrlich. Indes ist ihr schädlicher Einfluss auf unsere Literatur nicht zu leugnen. Sie machen das Publikum kalt gegen Originalschriften, unempfindlich für gute Schreibart.«34 Während also Übersetzungen für Anregungen der Nationalliteratur notwendig erschienen, drohte im Überhandnehmen der Übersetzungen die Gefahr der Überfremdung; diese Gefahr, die nationale Identität zu verlieren, konnte gebannt werden, wenn sich einheimische Schriftsteller schnell der neuen Situation anpassten und Übersetzungen überflüssig machten. Frankreich brachte ausser der Übersetzungsflut (Grimm spricht von »le démon traducteur«) ein kurios anmutendes Phänomen hervor, die Pseudo-Übersetzungen: Ein für fremd erklärtes Werk galt plötzlich mehr als ein französisches Original.35 Der Verleger Jean Nourse klärt in einem fingierten Dialog den Autor von Guliane auf: »tel ouvrage, très français assurément, s’est soutenu longtemps avec un succès prodigieux, qui aurait à peine obtenu les honneurs de la huitaine si on ne l’avait pas naturalisé anglais«.36 Der übersetzungsgeschichtliche Wandel könnte kaum deutlicher dokumentiert werden als durch diese Umkehrung des Einbürgerungsprozesses: Musste einst das fremde Werk zu einem französischen gemacht werden, so bürgerte man jetzt französische Originale aus und erklärte sie zu Fremden, weil dies den neuen Publikumsneigungen entsprach. Die Fülle der Übersetzungen, deren kurios-satirische Pointe die Pseudo-Übersetzungen waren, deckte Defizite der Nationalliteratur auf. Dionyz Durisin beobachtet eine spürbare Zunahme der Übersetzungsproduktion in Phasen des literarischen Übergangs, in denen »z.B. zwei Poetiken aufeinanderfolgen und die häufig als ›Krisenperioden‹ bezeichnet werden«.37 Die Reaktionen auf Mme de Staëls (1766–1817) zunächst in italienischer Sprache erschienenen Artikel Sulla maniera e l’utilità delle traduzioni (Biblioteca italiana vom Januar
33. Knufmann, Helmut, »Das deutsche Übersetzungswesen des 18. Jahrhunderts im Spiegel von Übersetzer- und Herausgebervorreden«, in: AGB IX, 1969, S. 491–572, hier: S. 473. 34. Zitiert nach Kramer, R., Marivaux’ Romane in Deutschland, Heidelberg 1976 (Studia Romanica, 29), S. 244. 35. Cf. Josephine Grieder, Anglomania in France (1740–1789): fact, fiction and political discourse (Histoire des idées et critique littéraire, 230), Genf 1985, die 46 solcher Pseudo-Übersetzungen aus dem Englischen allein für den Zeitraum von 1740 bis 1789 registriert. 36. Guliane, conte physique et moral, traduit de l’anglais, Londres / Paris 1770, »Avant-propos«, S. 5 (der anonyme Verfasser ist Graf François de Barbé-Marbois). 37. Durišin, Dionýz, Vergleichende Literaturforschung. Versuch eines methodisch-theoretischen Grundrisses (Sammlung Akademie-Verlag, 18), Berlin-Ost 1972, S. 67.
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1816) veranschaulichen, wie das Übersetzen in einer solchen ›Krisenperiode‹ ins Zentrum literaturtheoretischer Debatten rückte. Sie hebt in ihrem Beitrag den Nutzen von Übersetzungen für das Empfängerland hervor, namentlich die Bereicherung der Nationalliteratur, die Anregung durch neue Ideen und die Ermöglichung eines gedanklichen Austauschs zwischen den europäischen Völkern. Vor allem regt sie Übersetzungen aus den modernen Literaturen an (der englischen und deutschen); diese vermögen eine Literatur vor der ›Banalität‹ zu retten, die ein sicheres Zeichen ihres Niedergangs sei. Ihre Kritik italienischer Rückständigkeit und ausschliesslicher Orientierung an den antiken Mustern spaltete die Leserschaft in zwei Gruppen: Während sie die Anhänger der Alten erzürnte, fand sie die breite Zustimmung der neuen romantischen Generation. Hatte das Übersetzen im 17. und frühen 18. Jahrhundert vorrangig die Funktion erfüllt, die Nationalsprache und die eigene Literatur zu stärken, trug es im ausgehenden 18. Jahrhundert zur Auflösung der Grenzen bei — und damit zur Auflösung der klassischen Dichtungslehre. Es war von verschiedenen Funktionen die Rede, die das Übersetzen nach Auffassung der zeitgenössischen Literaten haben kann, von förderlichen und schädlichen Auswirkungen auf die Sprache und Literatur des Empfängerlandes. Für die Periode von 1760 bis 1820 lässt sich sogar zusammenfassend von einer ›epocheschaffenden‹ Funktion sprechen: Mit der Betonung des Originalen, des Natürlichen und der Farbe des Fremden (couleur locale) antizipierten die Übersetzer bereits die Wesensmerkmale der neuen Epoche, und es waren die Übersetzungen, die den neuen Geschmack herauszubilden halfen.
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Rekonstruktionen des Vergangenen
Vom ›edlen Wilden‹ zum ›homme naturel‹ Manfred Gsteiger
Dem Ich steht das Andere gegenüber. Der Identität die Alterität. Jedoch schreibt bereits Mucchielli: »on ne peut pas situer l’autre par rapport à soi […] chaque époque historique d’une société, par exemple, secrète ses ›personnages sociaux‹, stéréotypes constitutifs de l’imaginaire social servant à l’appréhension des autres.«1 Es handelt sich hier um »konzeptuelle Aggregate« (»agrégats conceptuels«), »enraciné[s] dans un groupe bien identifié, susceptible[s] d’enrichissements, d’applications, de déplacements spectaculaires, mais laissant toujours subsister un noyau reconnaissable«,2 die wir uns — zu Recht oder zu Unrecht — ›Mythen‹ zu nennen angewöhnt haben. Person, Bild, Repräsentation, Stereotyp, konzeptuelles Aggregat, Legende oder Mythos — die Erscheinung des »edlen Wilden« in der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts ist weder ethnologischen Annäherungen noch auch der Rhetorik je ganz zugänglich gewesen. Der Topos, dessen Bedeutungsverschiebungen mitunter spektakulär sein können, transportiert der Reihe nach — manchmal auch gleichzeitig — die Utopie des irdischen Paradieses, die soziale Kritik, die Idee der ›Rückkehr zur Natur‹, den Antiklerikalismus, den Antiautoritarismus und die Ablehnung des Ethnozentrismus. Der letztere (bereits von Montaigne in Frage gestellt)3 bestimmt gleichwohl bis auf einige Ausnahmen das Bild vom antiken Barbaren und — nach den grossen Entdeckungen — auch dasjenige vom amerikanischen Indianer. Um 1700 wurden, folgt man Paul Hazard, der exotische Mann wie die exotische Frau zum Objekt des Staunens, der Bewunderung und sogar des Neids:4 »Les civilisés sont les vrais barbares: que l’exemple des sauvages leur apprenne à retrouver la liberté et la dignité humaines.«5 Man sagt, die Bewertungen hätten sich verändert: Nicht länger ist der Andere der Feind, gegen den ich meine Identität konstruiere, sondern er ist ein zur Nachahmung sich anbietendes Modell. Diese — nunmehr positiv — gedachte Andersheit änderte indessen nichts daran, dass ein Gegensatz grundsätzlich fortbesteht. Wie eh und je ist der Andere definiert und bezogen auf mich selbst und meine Bedürfnisse, und der ›edle Wilde‹ ist nicht so sehr eine ethnische und
1. Mucchielli, Alex, L’Identité, Paris 1986, S. 32 f. 2. Cadot, Michel, in: Grassin, Jean-Marie (ed.), Mythes, images, représentations, Actes du XIVe congrès de la SFLGC (Limoges 1977), Paris 1981, S. 445. 3. Montaigne, Michel de, Essais, I, 31 (»Des Cannibales«). Siehe auch Todorov, Tzvetan, Nous et les autres, la réflexion française sur la diversité humaine, Paris 1989, und Kristeva, Julia, Etrangers à nous-mêmes, Paris 1988. 4. Unter den zahlreichen Arbeiten über den »edlen Wilden« sind zu nennen: Balmas, Enea, Il Buon Selvaggio nella cultura francese del Settecento, Fasano di Pugila 1984; Chinard, Gilbert, L’Amérique et le rêve exotique dans la littérature française au XVIIe et XVIIIe siècle, Paris 1913; Kohl, Karl-Heinz, Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation, Berlin 1981. Vgl. die Bibliographie des in Fussnote 25 angegebenen Werks von Urs Bitterli, sowie Fussnote 4 in Jean-Jacques Rousseau, Œuvres complètes, Gagnebin, Bernard /Raymond, Marcel (eds.), Paris 1964, Bd. 3, S. 1346. 5. Hazard, Paul, La Crise de la conscience européenne 1680–1715 (1935), Paris 1978, S. 13.
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menschliche Realität als ein konstruiertes Kontrastbild. Aber damit kommt die Literatur, d.h. die Fiktion, ins Spiel: Statt jenen Anderen zu untersuchen und zu analysieren, wird er von der Literatur imaginiert, erfunden und erträumt. Wenn auch die Unterscheidung zwischen Fiktionalem und Nicht-Fiktionalem schematisch bleiben muss und insofern bedingt, dass die zahlreichen Texte, die zwischen wissenschaftlicher Forschung und dichterischer Vision liegen, nicht berücksichtigt werden können — so beschreibt sie doch die Auswahl der Werke, die wir im folgenden behandeln werden (und in der etwa die Reisebeschreibungen fast vollständig fehlen).6 Bekanntlich ist die Legende vom edlen Wilden eine im wesentlichen französische Erfindung.7 Und wirklich hebt der erste im gegenwärtigen Zusammenhang interessante englische Text, Aphra Behns (1640–1689) Roman Oroonoko, or, The History of the Royal Slave (1688), keinesfalls die »bonté«, sondern vor allem den Adel und den Mut des Protagonisten hervor, der, obgleich Afrikaner, nichtsdestoweniger von königlichem Blut ist. Erdacht nach dem Muster des antiken Heldenmodells (das den Afrikaner den neuen Namen Caesar annehmen lässt), besitzt Behns Prototyp des ›edlen Wilden‹ eine Seelengrösse, die seinem fürstlichen Ursprung entspricht: »ador’d as the wonder of all that world« und »adorn’d with a native beauty« gilt er als intelligent und kultiviert. Ausserdem besitzt er »so much humanity«, »those refined notions of true honor, that absolute generosity, and that softness that was capable of the highest passions of love and gallantry.«8 Mit seiner Geliebten Imoinda bildet er das ideale Paar; beide sind Mars und Venus vergleichbar und erinnern an die grossen Liebenden des Ritterromans und des barocken Romans, deren Schicksal sie teilen: wechselseitige Liebe, dann Unglück, Trennung, Suche, schliesslich das Wiederfinden und die Vereinigung im Tod. Den tragischen Ausgang der Geschichte hat Pierre de LaPlace (1707–1793) in der französischen Fassung (1745) variiert, was den Erfolg der Geschichte auf dem Kontinent beflügelte.9 Das Happy-End nähert die Geschichte nicht nur der französischen Tradition des galanten Romans an, der Text bezieht von ihm auch jenen militanten ›anti-sklavischen‹ Charakter, für den viele Leser, vor allem die modernen, sensibel waren. Auch wenn Oroonoko ein fiktionaler Text ist, so ist er ebenso ein Dokument für Unterdrückung der Schwarzen durch die Kolonialherren, gegen die der Held revoltiert.10 Aphra Behn, eine Gelehrte von grosser Unabhängigkeit, die in Surinam lebte, griff in ihrem Roman eine Realität auf, die sie zweifellos selbst kannte. Dennoch erscheint — entgegen ihren eigenen Beteuerungen — die idealisierte Figur des schwarzen Sklaven als eine Kopfgeburt, und ihr schwarzer ›Superman‹ kontrastiert
6. Eine mehr oder weniger vollständige Bestandsaufnahme literarischer Werke findet sich in den Artikeln »Der edle Wilde« in: Frenzel, Elisabeth, Motive der Weltliteratur, Stuttgart 1976, und »Edler Wilder« in: Dämmrich, Horst S. und Ingrid, Themen und Motive in der Literatur, Tübingen 1987. Vgl. auch die ausführliche Liste bei Bitterli (Bibliographie, A: Quellen), der nicht zwischen dokumentarischen und fiktionalen Texten unterscheidet. 7. Kohl, op. cit., S. 33. Für die angelsächsische Kritik vgl. zur Tradition des »edlen Wilden« z.B. Benét, W. R., The Reader’s Encyclopedia, New York ²1969, S. 718 et passim. 8. Behn, Aphra, Oroonoko and other stories, Duffy, Maureen (ed.), London 1986, S. 31 et passim. 9. Cf. Stackelberg, Jürgen von, »Oroonoko et l’abolition de l’esclavage: le rôle du traducteur«, in: RLC 63, 1989, S. 237–248. 10. Ich gehe hier nicht auf die politische — insbesondere angelsächsische — Doppelbedeutung ein (cf. die Einführung von M. Duffy, op. cit., S. 10f), die den Lesern stets entging.
Vom ›edlen Wilden‹ zum ›homme naturel‹
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umso mehr mit den Weissen, als er deren Niederträchtigkeit und Boshaftigkeit verurteilt: »But Caesar told him, there was no faith in the white men, or the gods they ador’d; who instruct’d them in principles so false, that honest men could not live among them …«11 Im Gegensatz zum heroischen, stolzen, mutigen und starken ›edlen Wilden‹, der jedoch auch roh und gewalttätig sein kann,12 verkörpern die Ureinwohner, die amerikanischen Indianer, die zu Beginn des Romans beschrieben werden, einen deutlich verschiedenen Naturzustand (ich zitiere die LaPlace’sche Version, die das Original hinlänglich verlässlich widergibt): Cette nation, en un mot, me rappelloit le premier état d’innocence avant que l’homme apprît à connoître le mal, et à en rougir. D’où j’ai conclu que la simple nature est le moins dangereux de tous les guides, et que si nous nous en tenions seulement à ce qu’elle permet, ses seules inspirations nous instruiroient peut-être beaucoup mieux que tous les préceptes qu’on y ajoute. La Religion même, dans ce pays, ne serviroit peut-être qu’à bannir cette heureuse tranquillité qu’on doit à l’ignorance, et l’établissement des loix leur apprendroit plutôt à connoître le mal, qu’à l’éviter s’ils l’avoient une fois connu.13
Stärker als im Fall Oroonokos, der zu deutlich von seiner Enttäuschung angesichts einer Gesellschaft gezeichnet ist, die sich christlich nennt, finden wir uns bei LaPlace dem »edlen Wilden« im strengen Sinne des Wortes gegenüber, wird hier der Leser vor die Alternative von Zwang und Freiheit, Vernunft und Intuition, Dynamik und Ruhe, Gewaltbereitschaft und Pazifismus, Zivilisation und Natur gestellt. Humanität der Wilden, Bosheit und Materialismus der Weissen: dieser Gegensatz wird dann in dem Paar Inkle und Yariko exemplarisch individualisiert. Die junge Indianerin Yariko nimmt einen schiffbrüchigen Engländer auf und wird seine Geliebte; er verspricht ihr das Blaue vom Himmel, um sie anschliessend als Sklavin zu verkaufen, wobei er ihren Verkaufspreis noch erhöht, als er hört, dass sie schwanger ist. Wie Richard Steele (1672–1729) die Geschichte 1711 im Spectator erzählt (wobei er sich möglicherweise auf eine wahre Begebenheit bezieht) und wie sie nach 1714 auf dem Kontinent dank einer französischen Übersetzung in Le Spectateur ou le Socrate moderne verbreitet ist, enthält sie genügend Elemente, um ihr Glück in einer bürgerlichen Öffentlichkeit zu machen, die für den Appell des Gefühls besonders empfänglich und mit der Suche nach einer ›Tugend‹ beschäftigt war, die nicht vom sozialen Rang oder vom Blut abhing. Doch Yariko ist nicht nur ein natürliches Wesen und eine tugendhafte Wilde, sie ist auch eine Frau und als solche der lebende Beweis für die weibliche Aufrichtigkeit, die Arietta, Steeles Erzählerin, in ihrem Bericht zu illustrieren hofft, um der traditionellen Verleumdung des weiblichen Geschlechts zu opponieren. Die Aufwertung des Exotismus verdoppelt sich also in einer Aufwertung der Frau (»la Bonne Sauvage«), wie man sie bereits aus dem tendenziell feministischen Roman Aphra Behns herauslesen konnte. Die Umwertung der Werte bezieht sich nicht allein auf Rassen und Klassen, sondern auch auf die Geschlechter — und so wird in den beiden Geschichten der ›edle Wilde‹ (»noble sauvage«) von einer Frau, das Bild der ›edlen Wilden‹ (»la Bonne Sauvage«) jedoch von einem Mann ersonnen (und einer Frau in den Mund
11. Behn, Aphra, op. cit., S. 88. 12. Ibid., S. 70. 13. Zitiert nach Oronoko, ou Le Prince nègre, LaPlace, M. de (ed.), London / Paris 1769, S. 6.
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gelegt). Das Ende ist ist tragisch und kathartisch zugleich. Die ›Reinigung der Seele‹ vollzieht sich bei Steele am Schluss Erzählung, und es ist der männliche Zuhörer, der spricht: Je fus si touché du récit de cette aventure, que je sortis de la chambre les larmes aux yeux; ce qu’Arietta, du goût dont elle est, ne manqua pas de regarder sans doute comme une approbation plus forte et plus ingénue, que tous les compliments que j’aurois pu lui faire à cette occasion.14
Man mag diesen Schluss mit den Worten vergleichen, die Johann Jakob Bodmer (1698–1783) 1756 einer Hexametererzählung anfügte. Sie bilden eine Art Supplement, in dem der Erzähler zweiten Grades zum ersten Mal auftritt (und so die verwobene Struktur der Erzählung enthüllt): also erzählt die Geschichte mein Autor, und schweigt und bedenkt nicht, Dass er uns traurig da stehn lässt, die Brust mit Abscheu erfüllet, Dürft’ ich dazu was dichten, so dichtet’ ich dieses: der Käufer Fürchtete Gott, er erbarmte sich über die arme Verstossne, Hielt sie wie seine Tochter und gab sie nach etlichen Tagen Ihrem Vater und Volk und ihren Gespielinnen wieder; Diese fluchen, von ihrer Geschichte gekränket, dem Weissen, Der das schändlichste Herz in seinem Eingeweid führet. Aber sie fluchet ihm nicht, sie liebt ihn auch untreu und wünschet Ihm nur ein menschliches Herz, und wünscht sich selbst ihm zur Sklavin.15
Der didaktische Idealismus Bodmers mag sich nicht mit der Rührung des Zuhörers bescheiden, er bedarf — in der Art von LaPlace — einer schlussendlichen Harmonie, einer festen Moral, der er die vagen Andeutungen von Revolte oder weiblicher Emanzipation opfert: Die verratene Geliebte, das gerettete Opfer will — im Zeichen ehelicher Treue — erneut Sklavin werden. Es ist ganz und gar nicht erstaunlich, dass Salomon Gessner (1730–1788), der berühmte Autor der Idyllen (1756), die von Bodmer entworfene Herausforderung entdeckte. Er erfindet (»dürft’ ich dazu was dichten«) eine zweite Geschichte von Inkle und Yariko, die nicht den amoralischen Materialismus des jungen englischen Kaufmans inszeniert sondern die unwiderstehliche Macht der moralischen Werte, die in der menschlichen Natur verankert sind und vom Gefühl getragen werden. Denn — wie Paul van Tieghem sagt — »Gessner attribue cette innocence primitive à laquelle aspiraient ses lecteurs, et qu’ils retrouvaient chez les ›bon sauvages‹ d’Amérique.«16 In Inkel und Yariko, zweyter Theil (1756), einer Fortsetzung in Prosa, schildert Gessner dann die Züchtigung des schuldig gewordenen Engländers, der selbst Sklave wird, seine Reue, seinen Rückkauf durch Yariko, die Mutter seines Kindes, und die Apotheose der Familienidylle. Demonstriert wird damit, dass »so sehr […] die Güte kein Herze verlassen [kann], dass nicht ein Rückfall der Tugend […] mächtig ihn fasse.«17
14. Le Spectateur, ou Le Socrate moderne, Où l’on voit un Portrait naïf des Mœurs de ce Siècle, aus dem Englischen übersetzt, Mortier, D. (ed.), Amsterdam ²1716, Bd. 1, S. 65. 15. In: Gessner, Salomon, Sämtliche Schriften in 3 Bänden (1762–1772), Bircher, Martin (ed.), Nachdruck Zürich 1972–1974, Bd. 3: Vermischte Schriften, S. 32. 16. Tieghem, Paul van, Le Romantisme dans la littérature européenne, Paris 1948, S. 92. 17. Gessner, op. cit., S. 35.
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Die zahlreichen — englischen, französischen, deutschen — Versionen der Geschichte von Inkle und Yariko aus dem 18. Jh. beziehen sich allesamt direkt oder indirekt auf den Spectator,18 so auch die Verserzählung Christian Fürchtegott Gellerts (1715–1769) (in Fabeln und Erzählungen, 1746), der nicht nur die wilde Schönheit (»dies Kind bey wilder Anmut«), die Treue (»ein treues Herz«) und den Adel Yarikos (»Wird in Europa wohl ein Herz so edel seyn?«) hervorhebt, sondern auch die Gier des Engländers (»Liebe zum Gewinst«, »Kaufmannsgeist«, »Geiz«) herausstellt. Gellert schliesst in der Manier des Kanzelredners, wenn er sich direkt an den Bösewicht wendet: O Inkle! du Barbar, dem keiner gleich gewesen; O möchte deinen Schimpf ein jeder Welttheil lesen! Die grösste Redlichkeit, die allergrösste Treu Belohnst du, Bösewicht! noch gar mit Sklaverey? […] Sey stolz! kein Bösewicht bringt dich um deinen Namen. Nie wird es möglich sein, dein Laster nachzuahmen.19
In allen diesen Texten wird die allegorische Bedeutung der beiden Protagonisten (Inkle und Yariko als Personifikationen der Paradigmen des ›bösen Weissen‹ und der ›edlen Wilden‹) nicht deutlich: Es handelt sich in erster Linie um eine individualisierende Erzählung, ein rührendes ›fait divers‹, das eher geeignet ist, den Leser zu rühren, als sein moralisches Bewusstsein zu verbessern. Gellert besteht sogar darauf, dass Inkles Fall, an dem die unheilvollen Effekte der Gier veranschaulicht werden, doch einmalig ist. Dass die junge Indianerin sogar eine andere Gesellschaft zu verkörpern, eine bessere Welt zu repräsentieren vermag, das wird in M. de Rivery’s Gedicht Inkle et Iarico, imité de l’allemand de M. Gellert (1774 in einer Sammlung erschienen) deutlicher.20 Er baut auf der Opposition Europa — Amerika auf und führt einen »neuen Daedalus« vor, der die neue Welt erobern will: Humains, voilà vos droits, régnez sur la nature. Mais est-ce la vertu qui produit vos efforts? Non, vous êtes guidés par la soif des trésors: J’admire vos talents, je hais leurs sources impures.
Doch jenseits Europas gibt es eine »andere« Welt, eine andere Menschheit: Ignorés de l’Europe, heureux Américains, L’innocence et la paix filoient vos jours sereins, Et, pour les conserver, séparant les deux mondes, Le Ciel mit entre nous des barrières profondes.21
Die Entdeckungen, die die Kolonialisierung und die Zerstörung der natürlichen Ordnung der primitiven Gesellschaften zur Folge hatten, sind ein Verstoss gegen den göttlichen Willen, und
18. Vgl. den Artikel »Inkle und Yariko« in: Frenzel, Elisabeth, Stoffe der Weltliteratur, Stuttgart 1963. 19. Gellert, Christian Fürchtegott, Sämtliche Schriften, Achter Theil. Fabeln und Erzählungen, Bern 1769, S. 91. 20. Gessner, Salomon, Œuvres choisies, Zürich / Paris 1774. 21. Rivery in: Œuvres choisies (s. Fussnote 20), S. 274.
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das amoralische Verhalten Inkles ist infolgedessen nichts anderes als die andere Seite eines Handelns ›gegen die Natur‹. Rivery hat kein ›rousseauistisches‹ Konzept entwickelt, ergeht sich nur in verbalen Sentimentalismen. Im Gegensatz zu Gellert besteht er auf einem Zusammenhang zwischen der ›schönen Seele‹ der jungen Indianerin und der Schönheit der exotischen Landschaft (übrigens ohne ihr einen einzigen der authentischen Züge zu geben, wie sie ihr Chateaubriand später verleihen sollte): […] ces coteaux, cette prairie, Ces ombrages, cet air si pur, Que parfument les fleurs, que couronne l’azur.22
Dieser idealische Zusammenhang korrespondiert einem idealen Gefühl, und beide werden von der idealen Figur der »edlen Wilden« zusammengefasst. Die Verfehlung Inkles ist eine doppelte: »Tu trahis à la fois l’amour et la nature.«23 Zur gleichen Zeit wie Rivery veröffentlichte ein ernster zu nehmender Autor, Michel-Jean Sedaine (1719–1797), eine andere Verserzählung mit dem Titel Inkle et Iariko.24 Der Engländer heisst jetzt Ings und die Begegnung findet nicht mehr im ›occidentalen Indien‹, sondern an der Küste Afrikas statt. Das junge Mädchen ist ein »junger afrikanischer Trieb« (»un tendron africain«), der nicht nach Barbados, wie die Vorgängerin, sondern nach Mexiko verkauft wird. Die Welt, aus der diese zarte, hilfsbereite Negerin kommt, ist freilich kein Paradies mehr, denn die Schwarzen sind »un peuple barbare […] à notre exemple en cruautés fertiles«. Doch »à quinze ans on doit être gentille /En tout pays«! Yariko wird somit erneut zum Sonderfall, dessen Funktion sich darauf beschränkt, die Grausamkeit der Sklavenbehandlung hervorzuheben, die Ings von Anfang an praktiziert. Wenn die Erzählung abrupt mit einer Replik des Kaufmannes endet, der eine Erhöhung des Sklavenpreises verlangt, so erklärt Sedaine, ein mahnender dramatischer Autor, den kathartischen Effekt dahingehend, dass »certains tableaux […], certains faits qu’il suffit de narrer« »de terreur, de mépris« erzeugen müssten, so dass »notre âme […] se porte vers le bien«. Das Poem Sedaines besitzt unleugbare, vor allem stilistische, Qualitäten, doch die Gestalt der ›edlen Wilden‹ wie auch ihre feministischen Konnotationen, werden verwischt. Man muss sich anderen Werken zuwenden, um dem Mythos in all seinen Möglichkeiten zu begegnen. Der Historiker Urs Bitterli hat gezeigt, dass die negativen Bewertungen, die die Barbaren anfangs durch antike wie moderne Ethnographen erfuhren, sich häufig zu einer positiven Bedeutung wandeln (was mal mehr, mal weniger eingestanden wurde). Bitterli bezieht sich insbesondere auf Reisebeschreibungen des 16. bis 18. Jahrhunderts, um zu zeigen, dass diese Bedeutungswandlung auch Wilde in Indien, Afrika und Asien betrifft.25 Die Textflut, die den guten wie den bösen Wilden — und oft beide zugleich — zeigt, besteht nicht immer aus
22. Rivery, op. cit., S. 277. 23. Ibid., S. 279. 24. Sedaine, Michel-Jean, in: Œuvres choisies (s. Fussnote 20), S. 285–290. 25. Bitterli, Urs, Die »Wilden« und die »Zivilisierten«. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäischüberseeischen Begegnung, München 1976, S 371 et passim, s. besonders IV / 1: Der »edle Wilde«.
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›Literatur‹. Erwähnenswert sind die Nouveaux voyages dans l’Amérique septentrionale (1703) des Barons Louis Armand de LaHontan, und die Conversations de l’auteur de ces voyages avec Adario, sauvage distingué, die zu den Nouveaux voyages einen Annex bilden.26 Der erste Teil des Werkes gehört dem dokumentarischen Genre an, die Conversations setzen diesen Teil als literarische Fiktion fort. Es ist nicht wichtig zu wissen, ob und wie der »auteur de ces voyages«, der sich lange in Kanada aufhielt, sich tatsächlich mit einem Indianer, der Adario hiess, unterhalten hat. Doch der Dialog, die Formulierung der Antworten — auch der insistierende und manchmal aggressive Ton des Indianers und die Ausflüchte seines Befragers — sind Erfindungen LaHontans. Wie bereits Paul Hazard sagt: il réunissait, dans un éclatant portrait, les traits les plus vifs dont on eût jamais peint ses amis les Sauvages. Ils étaient beaux, souples, forts, endurants; heureux, parce qu’ils étaient restés fidèles aux mœurs et à la religion naturelles, ne connaissant ni le tien ni le mien, ignorant l’argent, source de tous les maux, dédaigneux des sciences et des arts.27
Es hat gute Gründe, wenn die Mehrzahl der Kritiker in dieser »personnage symbolique« (Paul Hazard) eine Präfiguration des Rousseau’schen ›homme naturel‹ sah. Die Conversations bestehen aus drei Teilen: »Sur la Religion«, »Sur les Loix«, »De l’Intérêt propre«. Jedesmal sucht der Baron die Errungenschaften der europäischen Zivilisation zu verteidigen, doch immer wieder demonstriert ihm der Hurone, der stets das letzte Wort behält, deren unnützen oder schädlichen Charakter. Der europäischen Gesellschaft ist die ideale Gemeinschaft der Wilden entgegengestellt, die einzig auf der »aimable observation du droit naturel«, einer Emanation der »lumière naturelle« beruht.28 Es bedarf keiner christlichen Religion: L’éloignement du vice, l’humanité envers tes semblables, le repos d’esprit causé par un sincère et généreux désintéressement, sont trois points que le Grand Esprit exige de tous les hommes. Nous observons exactement et sans la moinde répugnance ces grands devoirs dans nos hameaux.29
Man braucht keine kodifizierte Rechtsordnung, denn unter den Huronen herrschen Gleichheit und individuelle Freiheit: »Le bon sens est leur code, et l’équité leur digeste; ne faire tort ni à soimême, ni aux autres; faire tout le bien raisonnablement possible à sa propre personne et à ses semblables, voilà notre jurisprudence, ce sont toutes nos loix.«30 Aber ist das wirklich ein Indianer, der so spricht? Ist diese Rhetorik »ex contrario« nicht diejenige eines Franzosen, der sich gegen die Normen Europas auflehnt und der — im Namen der Rückkehr zur Natur — auf der Suche nach anderen moralischen Werten ist? Adario heisst in Wahrheit LaHontan und LaHontan ist ein aufbegehrender Franzose. Diese Dialoge zwischen dem Europäer und dem Wilden sind ein europäischer Monolog, verteilt in Rede und Gegenrede.
26. Vgl. »Conservations de l’auteur […] avec Adario«. In: LaHontan, Louis Armand de, Amsterdam 1705, Roy, J.Edmond (ed.), Nachdruck Montréal 1974. 27. Hazard, Paul, La Pensée européenne au XVIIIe siècle, Paris 1978, S. 358. 28. LaHontan, op. cit., S. 310. 29. Ibid., S. 238. 30. Ibid., S. 269.
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Manfred Gsteiger Je demande laquelle, de la vie Civile ou naturelle, est la plus sujette à devenir insupportable à ceux qui en jouïssent? […] Je demande si jamais on a ouï dire qu’un Sauvage en liberté ait seulement songé à se plaindre de la vie et à se donner la mort? Qu’on juge donc avec moins d’orgueil de quel côté est la véritable misére.31
Wenn 1753 Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) — sich und uns — nach den Ursprüngen der Ungleichheit fragt, versäumt er es nicht, den Mythos des edlen Wilden zu erwähnen, um seine Gesellschaftskritik zu präzisieren. Wie bei LaHontan — den Rousseau vielleicht gelesen hat — ist der natürliche Mensch ein Korrekturbild all dessen, was der zivilisierte Mensch nicht ist. Er erzwingt eine Wahl zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir sein könnten — nämlich der Mensch, der wir mythischer Vergangenheit und in einer unbeschädigten Welt einmal gewesen sein sollen. »Rien n’est si doux que lui dans son état primitif, lorsque placé par la nature à des distances égales de la stupidité des brutes et des lumières funestes de l’homme civil […], il est retenu par la pitié Naturelle de faire lui-même du mal à personne.«32 Während LaHontan formal die Alternative edler Wilder — Zivilisationsmensch bewahrt, situiert Rousseau — in einem um vieles komplexeren und scharfsinnigeren Verfahren — den »homme naturel« im Herzen jedes einzelnen von uns: Er ist weniger eine Figur als ein Potential. Man sieht hieran, dass der Genfer Philosoph nicht einem allzu einfachen und stereotypen Exotismus anhing — wie die Mehrzahl seiner Imitatoren und Vulgarisatoren. Da der ›homme naturel‹ in jedem Menschen existiert, kann er sich auch auf dem alten Kontinent — unter den Einwohnern des Jura (Lettre à d’Alembert), an den Ufern des Genfer Sees oder im Wallis (La Nouvelle Héloïse) — zeigen. Ohne die Ozeane zu überqueren, können die Sucher nach dem ›homme naturel‹ diesen auch in den Alpen Albrecht von Hallers oder in den Idyllen Gessners finden, denen Rousseau ausdrücklich Lob zollte. Man kann sagen, dass der Typus des ›homme naturel‹ im 18. Jahrhundert zumindest zwei Seiten hat: den ›homo exoticus‹ und den ›homo alpinus‹ (ich zögere, vom ›homo helveticus‹ zu sprechen). Es bleiben jedoch die Charakteristika dieses ›Fremden in uns selbst‹, soweit er sich in einer literarischen Figur konkretisiert, zumeist mit der Neuen Welt der grossen Entdeckungen verbunden. Einmal ist dieses exotische Wesen ein amerikanischen Indianer (aus dem Norden oder dem Süden), ein andermal ein Afrikaner, und nach den Reisen Cooks und Bougainvilles mochte es auch ein Eingeborener der Pazifischen Inseln sein wie bei Diderot (Supplément ou Voyage de Bougainville, 1796). Dieses seltsame Wesen gehört nicht mehr primitiven Gesellschaften an: Bald handelt es sich um eine alte, hochentwickelte Zivilisation, die mit der der edlen Wilden nichts zu tun hat (etwa die der Perser bei Montesquieu oder der Chinesen bei Voltaire), bald um die Gesellschaft der Inkas, die keineswegs als primitiv bezeichnet werden kann. In seinem Roman Les Incas, ou la destruction de l’Empire du Pérou (1777) bedient sich Jean-François Marmontel (1723–1799) eines historischen Rahmens, um europäischen Fanatismus und Intoleranz anzuklagen. Er beschreibt, wie »un peuple laborieux, occupé, satisfait de son égalité, sûr d’un bien-être simple et doux, sans ambition, sans envie, exempt de nos besoins fantasques et de nos vices raffinés, ami de l’ordre qui n’était que le bonheur public distribué sur
31. Rousseau, Jean-Jacques, Œuvres complètes, op. cit., Bd. 3: Du contrat Social. Écrits politiques, S. 152. 32. Ibid., S. 170.
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tous«33 unter der Brutalität und Gier der spanischen Conquistadores zugrunde geht. Die Lettres d’une Péruvienne (1747) der Madame de Grafigny, die an das Vorbild der Lettres persanes erinnern, stellen dann die junge, im französischen Exil lebende Zilia als »élément ›naturel‹, et aussi la victime privilégiée d’une société d’hommes fondée sur le paraître, l’intérêt et les préjugés«34 dar. Wir begegnen noch einmal dem Mythos der jungen Indianerin, doch Zilia ist nicht Yariko, die nur Tränen hatte, um ihr Unglück zu beweinen. In der Manier der ›femme des lettres‹, lernt die Peruanerin, ihre Kritik der europäischen Zivilisation, an der sie leidet, auszusprechen, und auf diese Weise zugleich ihr Ich zu artikulieren. Während Zilia schreibt, muss Betti, die Jeune Indienne (1764) der Komödie Chamforts (1740–1794), zugeben: »Qui? moi, je ne sais point écrire.« Ihr Liebhaber und späterer Ehemann Belton antwortet: »Donnez-moi votre main, l’amour va la conduire.«35 Hier, so scheint es, zeigt sich deutlich der Unterschied zwischen einer ›Fremden‹, wie Zilia, die die Stimme der Revolte erhebt, und einer edlen Wilden, die dem zivilisierten Menschen nur durch ihre Gegenwart zeigt, wie weit er sich vom Naturzustand entfernt hat. Betti ist freilich nicht stumm, sie spricht — und das in ganz vernünftigen Weise: Je ne vous entends point. Si chez vous la parole Ne présente aucun sens, c’est donc un bruit frivole. Des cris dans nos forêts parlaient plus clairement, Que ce langage vain que votre cœur dément. Quoi! tu veux que les dons puissent être une tache? Que sur qui les reçoit quelque opprobre s’attache? Que la main d’un ami … Non, tu t’es abusé, […]36
Der Hurone in Voltaires (1694–1778) L’Ingénu (1767) ist ein aus Kanada kommender Hurone, aber in Wirklichkeit ein Bretone, der sich Hercule Kerkabon nennt! Überdies ist der Titel der Voltaire’schen Geschichte unzweideutig: Es handelt sich hier nicht um einen — guten oder bösen — Wilden, sondern einfach um ein unerfahrenes Wesen, das alles »avec sa naïveté ordinaire«37 ansieht. Man könnte sagen, es handelt sich um einen ›falschen‹ Wilden, um einen in einen Huronen verwandelten Candide, um die Parodie des ›edlen Wilden‹. Die philosophische Botschaft, die der Text transportiert, enthält freilich einige Gemeinsamkeiten mit den Gesprächen Bettis oder Adarios — (die möglicherweise zu den Quellen Voltaires gehören): »Mes compatriotes d’Amérique ne m’auraient jamais traité avec la barbarie que j’éprouve: ils n’en ont pas d’idée. On les appelle sauvages; ce sont des gens de bien grossiers, et les hommes de ce pays-ci sont des coquins raffinés.«38 Ohne dass er ein authentischer Wilder wäre, ist auch Hercule eine »displaced person« wie Oroonoko, Yariko oder Betti. Richtig verstanden, antwortet
33. Marmontel, François, Les Incas, ou La Destruction de l’Empire du Pérou (1777), Avignon 1814, Bd. 1, S. 11 et passim. 34. Beaumarchais, Jean-Pierre de, in: Dictionnaire des littératures de la langue française, Paris 1984, Bd. 2, S. 972. 35. Chamfort, Sebastien R., Œuvres complètes, Paris 1968, S. 349. 36. Ibid., S. 337. 37. Voltaire, Romans et contes, Bénac, Henri (ed.), Paris 1949, S. 240. 38. Ibid., S. 249.
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er auf Rousseaus ›homme naturel‹ allein negativ; der Gang der Zivilisation ist für Voltaire Fortschritt und nicht Rückentwicklung. Der Naturmensch mag sich fragen, ob der Mangel an historischem Bewusstsein bei den kanadischen Indianern etwa den »état naturel de l’homme« darstellt; doch zum Vergleich mit Europa gezwungen, sagt er: »L’espèce de ce continent-ci me paraît supérieure à celle de l’autre.«39 Seine Unschuld besteht darin, dass er keine Vorurteile besitzt; ansonsten muss er den »progrès rapides dans les sciences« dank des »développement rapide de son esprit« folgen, denn »instruit par la nature«, »son entendement, n’ayant point été courbé par l’erreur, était demeuré dans toute sa rectitude«.40 Am Ende stimmt die parodistische Figur Hercules, des pseudo-»edlen Wilden«, sehr genau zur Wende des Mythos vom »homme naturel« bei Voltaire, der ihn nur benutzt, um ihn zu karikieren. Der exotische Mensch — sei er ein amerikanischer oder afrikanischer, ozeanischer oder asiatischer Indianer — unterscheidet sich vom europäischen Menschen: das ist eine von allen Reisenden bestätigte Tatsache. Doch wer darf behaupten, dass er besser sei? Ist die Natur nicht überall dieselbe? Lassen wir einige Autoren zu Wort kommen, die gegen den Mythos des ›edlen Wilden‹ protestierten. In einem wenig bekannten Roman, den man als »une des œuvres les plus méchantes de la littérature allemande«41 angesehen hat, fasst der weisse Protagonist, den man als einen deutschen Candide bezeichnen kann, seine Erfahrungen mit den amerikanischen Wilden folgendermassen zusammen: Ist es erhört, o Natur, dass du eine Gattung von deinen Geschöpfen so ganz stiefmütterlich vernachlässigen konntest? Waren die Indianer nicht auch dein Werk? Und doch liessest du sie vielleicht viele tausend Jahre in Dummheit und dem grausamsten Aberglauben herumkriechen, Sklaven ihrer Tyrannen und Götter seyn, dann sie zu tausenden erwürgen, in das Joch der Europäer stecken und nun langsam von allen Seiten bis zur Vernichtung quälen: du schufest sie, um sie langsam aufzureiben.42
Der masslose Pessimist, den Johann Carl Wezel (1747–1819) im Belphegor (1776) vorführt, begnügt sich nicht damit, den von den Kolonisatoren in Amerika begangenen Genozid anzuprangern. Das hatten andere schon vor ihm getan, beispielsweise Bartholomeus de Las Casas, den Marmontel häufig zitierte. Wezel zielte auf den Mythos des von Natur aus guten Menschen, um — der Marquis de Sade zeichnet sich am Horizont ab — die Natur selbst anzugreifen. »Die Indianer, diese armen Lastträger, diese Souffre-douleurs von Amerika und, man möchte sagen, der ganzen Menschheit«43 sind nichts als ein Beispiel für die Dummheit und Bosheit der Natur selbst. Ohne in eine Debatte über die Bedeutung der literarischen Fiktion im Kampf gegen die Sklaverei im 18. Jahrhundert eintreten zu wollen, muss man doch bedenken, dass das Konzept des edlen Wilden ebensogut den Gegnern wie den Befürwortern der Sklaverei dienen konnte. Und es waren nicht die von Rousseau beeinflussten Idealisten, die mit den stärksten Worten den
39. Ibid., S. 253. 40. Ibid., S. 261. 41. Wezel, Johann Carl, Belphegor oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne, Gersch, Hubert (ed.), Frankfurt a.M. 1965, S. 315. 42. Ibid., S. 277. 43. Ibid., S. 276.
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Skandal anprangerten. In einer berühmten Passage des Esprit sur les mœurs (Kap. CLII) empört sich Voltaire über die Art und Weise, in der man »dans la Saint-Domingue française […] cette marchandise humaine« behandelt: »on les fait travailler comme des bêtes de somme: on les nourrit plus mal; s’il veulent d’enfuir, on leur coupe une jambe, et on leur a donné une jambe de bois. Après cela nous osons parles du droit des gens!« Und Georg Forster (1754–1794) ruft anlässlich der These Kants über die grundsätzliche Verschiedenheit der menschlichen Rassen aus: Weisser! du schämst dich nicht am Schwachen deine Kraft zu misbrauchen, ihn tief hinab zu deinen Thieren zu verstossen, bis auf die Spur der Denkkraft in ihm vertilgen zu wollen? Unglücklicher! von allen Pfändern, welche die Natur deiner Pflege anbefohlen, ist er das edelste!44
Forster, der als junger Mann mit seinem Vater an der zweiten Cook-Expedition teilgenommen hatte, wusste, wovon er sprach. Für ihn war die natürliche Tugend der Einwohner Tahitis eine gelebte Realität, doch machte er sich über die Zukunft dieser behüteten Welt keine Illusionen. Es war wahrscheinlich 1772, im selben Jahr, da Forster mit Cook aufbrach, dass Diderot (1713–1784) das Supplément au Voyage de Bougainville schrieb. Der Reisebericht Bougainvilles, der 1771 erschienen war, hatte bereits einen neuen Typus des »edlen Wilden« entworfen; und nach 1770 breitete die Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes eine breitangelegte Kompilation des Abbé Raynal, an der später Diderot mitarbeitete, dem europäischen Publikum eine wahre Flut von Informationen aus. In Paris war der Wilde aus Polynesien ein Modephänomen, und Diderot benutzte ihn als Vehikel für die europäische Philosophie. Wie LaHontan bedient er sich der Dialogform und wie der Gesprächspartner Adarios billigt ein Geistlicher am Ende die Lebensweise der Eingeborenen. Doch die Demonstration der Überlegenheit des exotischen Menschen verdoppelt sich in einer Klage über seine Verwundbarkeit, die von der lyrischen Prosa der »Adieux du vieillard« begleitet wird. Im Unterschied zur konventionellen Beschwörung des edlen Wilden ist das Supplément ein polyphoner, ein frivoler und doch ernsthafter Text, der die Freiheit und die Notwendigkeit der ›condition humaine‹ berücksichtigt. Ihr friedlichen Insulaner der Südsee! zu euch will ich: ihr seid noch unverdorben. Eure einzige Schwachheit ist Stehlen. — Immerhin! ich bringe keine Schätze mit. Das köstlichste Kleinod, das ich hatte, meine Ruhe, hat man mir in Europa gestohlen. — Oder zu euch, ihr wackern Bewohner von Bisnapore; zu euch, deren verführerisches Gemälde Raynal mit unnachahmlichem Pinsel uns darstellt — oder — nun ja, wohin Gott will! Fort! fort aus diesem kultivierten, moralischen Lazarett!45
In diesen Worten aus August von Kotzebues (1761–1819) Drama Menschenhass und Reue (1789 / 90) funktioniert das Klischee des edlen Wilden als dekoratives Element, das mit dem Inhalt des Stückes unverbunden bleibt. Kotzebue ist ein geschickter Autor; er weiss die Aufmerksamkeit eines nach Emotionen dürstenden Publikums zu gewinnen, und die Anspielung
44. Forster, Georg, Noch etwas über die Menschenrassen (1786), in: Werke in vier Bänden, Steiner, Gerhard (ed.), Berlin / Weimar 1969, Bd. 2, S. 100. 45. Kotzebue, August von, Schauspiele, Mathes, Jürg (ed.), Einführung von Benno von Wiese, Frankfurt a.M. 1972, S. 103.
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auf Raynal beweist sein Wissen darum, wo der Exotismus beheimatet ist. In der Komödie Die Indianer in England aus demselben Jahr benutzt Kotzebue das geläufige Motiv des der Heimat fernen Indianers, um eine sentimentale Intrige zu entwickeln. Die einzige originelle Zutat besteht darin, dass Kotzebues ›Indianer‹ nicht aus Amerika, sondern aus Indien kommen. Sie sind Hindus und repräsentieren insofern eine alte Kultur, die den Vergleich mit der europäischen nicht fürchten muss. Gurli entspricht dem traditionellen Schema der jungen Indianerin: sie ist schön, naiv und tugendhaft, »ein gutes Mädchen, ein Kind der Natur«, wie ihr Vater sie nennt, der ihre Attraktivität mit einer Hochzeitsgabe von »zehntausend Pfund Sterling«46 noch erhöht. Ihr Verlobter, ein europäischer Schiffskapitän, kann infolgedessen leicht den exotischen Charme seiner Zukunft rühmen: »Sieh nur, das Mädel ist gar zu brav! ihre Seele trägt sie im Auge und in ihrem Auge ist kein Falsch; ihr Herz schwebt auf der Zunge und ihre Worte sind reiner Firnewein, süss wie der Saft der Kokosnuss.«47 Einige Ähnlichkeiten zwischen den Komödien Chamforts und Kotzebues sind verblüffend. Die junge Indianerin erscheint weniger als dramatischer Charakter denn als allegorische Figur, die nicht nur eine fremde Zivilisation verkörpert, sondern auch die friedliche Unterwerfung des weiblichen Prinzips unter den männlichen Einfluss darstellt. Im übrigen war die von Kotzebue vorgeführte Vereinigung von Natur und Zivilisation am Ende des 18. Jahrhunderts nicht keineswegs üblich, wie es die Beispiele Paul et Virginie (1787) und Atala (1801) zeigen. Virginie in Bernardin de Saint-Pierres (1737–1814) Drama ist wohl ein Kind der Natur, doch von europäischer Herkunft, eine Besonderheit, die uns auf Rousseaus »homme naturel en nous-mêmes« zurückverweist.48 Der exotische Rahmen der Insel Mauritius evoziert nichtsdestotrotz die Utopie eines irdischen Paradieses, das von Naturmenschen — wenn auch nicht Indianern — bewohnt wird und den Rückzug von der europäischen Zivilisation erlaubt: Oh! il n’est pas possible à un homme élevé dans la nature de comprendre les dépraviations de la société. On se fait une idée précise de l’ordre, mais non pas du désordre. La beauté, la vertu, le bonheur, ont des proportions; la laideur, le vice, et le malheur, n’en ont pas.49
Der Fall von Chateaubriands (1768–1848) Atala ist komplexer. Tochter eines spanischen Vaters ist sie nur zur Hälfte Indianerin und Christin. Auch erklärt ihr Autor: »je ne suis point comme M. Rousseau, un enthousiaste des sauvages« und glaubt keineswegs, dass »la pure nature soit la plus belle chose du monde«. Es ist ihm, »la pensée qui fait l’homme«.50 Was Chactas, einen echten Wilden, betrifft, reproduziert der Aufenthalt in Frankreich einmal mehr den Gemeinplatz des Kulturschocks; er ist nicht von Natur aus tugendhaft geboren, sondern »comme tous les hommes, il avoit acheté la vertu par l’infortune«.51 Tatsächlich sind beinahe alle Protagonisten in Atala – angefangen bei René selbst und mit der einzigen Ausnahme des Père Aubry — selbst
46. Ibid., S. 191. 47. Ibid., S. 197. 48. Saint-Pierre, Bernardin de, Paul et Virginie, Perrin, Michel (ed.), Lausanne 1968, S. 95. 49. Ibid., S. 171. 50. Chateaubriand, Francois R. de, Œuvres complètes de Chateaubriand, 12 Bde., Sainte-Beuve, M. (ed.), Paris o.J., Bd. 3: Atala, René, Les Aventures du dernier Abencérage, S. 4. 51. Chateubriand, op. cit., S. 19 (Atala, Prolog).
Vom ›edlen Wilden‹ zum ›homme naturel‹
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hybride Wesen in der Mitte zwischen leidenschaftlicher Liebe und christlicher Frömmigkeit, zwischen natürlicher Güte und kulturellem Opfer. Dieser Konflikt kann nur mit einem tragischen Scheitern enden, das nicht nur — zumindest in seiner religiösen Botschaft — an das fatale Ende Virginies erinnert. Der Tod und die Angst sind hier präsent, und beide stehen im Gegensatz zu der Idee der Glückseligkeit, die etwas zu häufig mit der Figur des edlen Wilden verknüpft wird; der Tod ereilt aber die amerikanischen Wilden auch kollektiv, das will Chateaubriand nicht ignorieren: »Indiens infortunés que j’ai vus errer dans les déserts du Nouveau-Monde, avec les cendres de vos aïeux«.52 Mit Atala treten der Mythos des ›homme naturel‹ und seine Figuren des ›edlen Wilden‹ und der ›jungen Indianerin‹ in eine autodestruktive Phase ein. Der Mythos kann — in der Trivialliteratur, im Journalismus oder in sozio-politischen Schriften wie Uncle Tom’s Cabin (1852) oder Winnetou (1876–1893) — überleben, aber die Autoren, die nach Symbolen des Ich und des Anderen suchen, gehen neue Wege.
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52. Chateaubriand, op. cit., S. 70 (Atala, Epilog).
Griechenland und das klassische Ideal Eva Kocziszky
Die Debatte über das Wesen der griechischen Kunst geht zurück auf eine römische Kopie (bzw. ihre Gips-Nachbildungen) und wurde von Winckelmanns (1717–1768) 1755 erschienenen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, angestossen. Winckelmann hatte diese Abhandlung in Dresden geschrieben, als er seiner Abreise nach Rom entgegensah. Sie entstand, noch bevor der Autor die Statuen, von denen er sprach, gesehen hatte. Ja, man sagt sogar, dass er während seines Aufenthalts in Dresden nicht einmal die berühmte Antiken-Sammlung der Stadt besuchte, sondern es vorzog, mit Malern und Künstlern zu diskutieren.1 Dennoch skizzierte die Abhandlung die Grundlinien der klassizistischen Kunsttheorie, die für die zweite Jahrhunderthälfte Gültigkeit besass und deren erstes Paradigma der Laokoon war. Erinnern wir uns an den berühmten Satz Winckelmanns: Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich edle Einfalt, und eine stille Grösse, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine grosse und gesetzte Seele.2
Lessings (1729–1781) Laokoon (1766) beweist, dass Winckelmanns »fausse lecture« der Klassik gerade zur rechten Zeit kam. Er begeisterte sich für das Ethos, das die Leidenschaften und das Leiden besiege, und behandelte insoweit einen ästhetischen Sachverhalt als eine Frage der Ethik.3 Doch war das Ethos — wenn man es so bezeichnen darf — keine versöhnte Einheit, sondern präsentierte vielmehr einen unversöhnten Widerspruch: die Spannung zwischen Körper und Geist, zwischen der marmornen Oberfläche (der Form) und dem, was hinter ihr verborgen ist (die Idee).4 Der Ausdruck einer so grossen Seele gehet weit über die Bildung der schönen Natur: Der Künstler musste die Stärke des Geistes in sich selbst fühlen, welche er seinem Marmor einprägete.5
Wie die geistige Kraft des Künstlers den Stoff (den Marmor) bändigt — so überwindet die tugendhafte Seele Laokoons das körperliche Leiden. Eben dies bewunderte Winckelmann an der antiken Kunst: dass die Griechen nichts als sie selbst waren, was uns Heutigen nicht mehr gelingen will. Nur wenn wir — wie Raphael und andere Künstler — das einzigartige Beispiel
1. Vgl. Rumpf, Andreas, Archäologie, Bd. I, Berlin 1953, S. 58. 2. Winckelmann, Johann J., Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, Stuttgart 1969, S. 20. 3. Lessing, Gotthold Ephraim, Laokoon, Berlin 1766. 4. Szondi, Peter, Poetik und Geschichtsphilosophie I, Frankfurt a. M. 1974, Bd. 2, S. 44 ff. Szondi spricht von diesem Paradox. 5. Ibid.
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der Griechen nachahmen, kommen wir in die Nähe ihrer Lebenskraft. Winckelmanns Deutung der Laokoon-Gruppe machte sie zum Paradigma der klassischen Kunst. Schiller (1749–1805) entwickelte zuerst die Gedanken Winckelmanns weiter: Für ihn ging der Laokoon über die natürliche Darstellung der Schönheit hinaus. Er nannte die neue überlegene Qualität »pathetisch« und meinte hiermit den einfachen Charakter der antiken Kunst. Das Konzept geht auf Schillers Besuch der Mannheimer Antiken-Sammlung zurück, in der ihn vor anderen die Laokoon-Plastik beeindruckte: »Die Gruppe des Laokoon und seiner Kinder ist ungefähr ein Mass für das, was die bildende Kunst der Alten im Pathetischen zu leisten vermochte « — schreibt er und fügt — Winckelmann zitierend — hinzu: Wie wahr und fein ist in dieser Beschreibung der Kampf der Intelligenz mit dem Leiden der sinnlichen Natur entwickelt, und wie treffend die Erscheinungen angegeben, in denen sich Tierheit und Menschheit, Naturzwang und Vernunftfreiheit offenbaren.6
Man erkennt deutlich, wie Schiller die Winckelmann’schen Oppositionen umdeutete: Der Körper erscheint als »Tierheit«, und der Repräsentant des Menschheit ist allein der Geist, die »Manifestation der Vernunftfreiheit«. Winckelmanns Balance von »stiller Grösse« und »edler Einfalt« wird aufgehoben und zu einem Pathetischen umgedeutet: zum Sieg des freien Willens über die Sinnlichkeit, die dem Leiden unterworfen ist. Das Pathos Laokoons entdeckt Schiller in Vergils Schilderung des Mythos: Jetzt war der Augenblick da, den Helden als moralische Person bey uns in Achtung zu setzen, und der Dichter ergriff diesen Augenblick. Wir kennen aus seiner Beschreibung die ganze Macht und Wuth der feindlichen Ungeheuer, und wissen, wie vergeblich aller Widerstand ist. Wäre nun Laokoon bloss ein gemeiner Mensch, so würde er seines Vortheils wahrnehmen, und wie die übrigen Trojaner in einer schnellen Flucht seine Rettung suchen. Aber er hat ein Herz in seinem Busen, und die Gefahr seiner Kinder hält ihn zu seinem eigenen Verderben zurück. Schon dieser einzige Zug macht ihn unsers ganzen Mitleidens würdig. In was für einem Moment auch die Schlangen ihn ergriffen haben möchten, es würde uns immer bewegt und erschüttert haben. Dass es aber gerade in dem Momente geschieht, wo er als Vater uns achtungswürdig wird, dass sein Untergang gleichsam als unmittelbare Folge der erfüllten Vaterpflicht, der zärtlichen Bekümmerniss für seine Kinder vorgestellt wird — diess entflammt unsre Theilnahme aufs höchste.7
Diese idealisierte Interpretation ist strittig nicht allein in bezug auf das Vergil’sche Epos, sondern auch auf den Laokoon. Zu dem haben angelsächsische gelehrte argumentiert, dass es dem Laokoon gerade an moralischem Empfinden mangele: Statt die Augen zum Himmel zu verdrehen, hätte Laokoon besser daran getan, sich um die Flucht seiner Kinder zu kümmern. Dies war eine offene Polemik gegen Winckelmanns These, die insbesondere von John Moore und Peter Beckford gestützt wurde. Was die Moralität der Statue anbebetrifft, so argumentierte Sir Joshua Reynolds bereits, dass sie die Wahrheit der ästhetischen Konzeption gerade schwächen würde.
6. Schiller, Friedrich, Sämtliche Werke, Witkovski, O. G. (ed.), Leipzig o.J., Bd. 17, S. 408. 7. Ibid., S. 409.
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Heinses (1746–1803) sehr andere Beziehung zur Antike hat man oft behandelt, und sie bedarf daher kaum der Hervorhebung. Er hob den titanischen Revolteur hervor, der mit den produktiven Kräften der Natur in Harmonie lebt. Mit diesem Konzept drang er — die gesamte Theorie des Sturm und Drang hinter sich lassend — bereits zur Erfahrung des Dionysischen vor, für die sonst die späte Poesie Hölderlins sowie die Namen Bachofen und Nietzsche stehen. Heinses einziger Roman, der Ardinghello (1787), bezeugt seine Fähigkeit, die klassische Kunst der Antike auf eine neue Weise — unabhängig von Winckelmanns Sicht — zu betrachten. Diese Unabhängigkeit drückt sich in einer ironischen Opposition zum klassischen Muster aus. Heinse sah im Laokoon nicht die Manifestation einer edlen Seele, die sich über das körperliche Leiden erhebt, oder den in seiner Vaterpflicht gescheiterten Helden, sondern den schuldigen Revolteur, den gestraften Sünder. Er negierte einen Zusammenhang der Laokoon-Plastik mit Vergils Laokoon-Darstellung in der Äneis und enthob die Statue dem Kontext des trojanischen Krieges. Vielmehr ging er auf eine von Servius überlieferte Variante des Mythos zurück, derzufolge Laokoon das Opfer seiner eigenen Leidenschaften wird. Da er seine Begierden nicht beherrschen kann, schläft er im Tempel Apolls mit seiner Frau. Das Ganze vom Laocoon zeigt einen Menschen, der gestraft wird und den endlich der Arm göttlicher Gerechtigkeit erreicht hat; er sinkt in die Nacht des Todes unter dem schrecklichen Gerichte, und um seine Lippen herum liegt noch die Erkenntnis seiner Sünden. Über dem rechten Auge und dem weggezuckten Blick aus beiden ist der höchste Ausdruck des Schmerzens. Sein ganzer Körper zittert und bebt und brennt schwellend unter dem folternden, tötenden Gifte, das wie ein Quell sich verbreitet. […] Es leidet ein mächtiger Feind und Rebell der Gesellschaft und der Götter, und man schaudert mit einem frohen Weh bei dem fürchterlichen Untergange des herrlichen Verbrechers. Die Schlangen vollziehen den Befehl des Obern feierlich und naturgross in ihrer Art, wie Erdbeben die Länder verwüsten. Das Fleisch ist wunderbar lebendig und schön, alle Muskeln gehn aus dem Innern hervor wie Wogen im Meere bei einem Sturm. Er hat ausgeschrien und ist im Begriffe, wieder Atem zu holen.8
Deutlich ist hier der Zielpunkt von Heinses Beschreibung der Statue auszumachen: Sie will in jedem Punkt der klassizistischen Lektüre — ja sogar dem klassischen Ideal — widersprechen. Sein Laokoon schreit, während er in der plastischen Darstellung — im Gegensatz zu Vergils Beschreibung — stumm bleibt. Er verbirgt und verhüllt den Schmerz nicht, sondern äussert ihn im Gegenteil überdeutlich. Folglich enthält die Laokoon-Gruppe — für Heinse — gar nicht den Gegensatz von Form und Idee, sondern demonstriert gerade die ausdrucksvolle Einheit von beiden. Der Grund von Laokoons Seele sei wie die sturmgepeitschte Wasseroberfläche, paraphrasiert Heinse Winckelmanns Metapher. Dieser Laokoon verkörpert nicht erhabenes Ethos im tragischen Untergang, sondern das Erhabene der Revolte, die grandiose Grösse der titanischen Gewalt, die sich gegen die göttliche Weltordnung erhebt. Selbst wenn Heinse übertreibt, so ist sein Ziel doch klar und verständlich: Im Laokoon gibt die revoltierende Natur dem ›EwigMenschlichen‹ einen Körper, der nach Autonomie strebt, jedoch in seinem Aufbegehren gegen das Schicksal scheitert, weil sein Handeln Sünde ist. Diese Laokoon-Interpretation, die sich so gründlich gegen die Kunst des Klassizismus und
8. Heinse, Wilhelm, Ardinghello oder die Glückseligen Inseln, Potsdam 1963, S. 268 ff.
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gegen Winckelmann wendet, kommt der kunstgeschichtlichen Deutung von heute am nächsten. Heinse spürte genau, dass die Figur des riesigen Vaters — der sehr viel grösser als seine Söhne ist — den revoltierenden Menschen darstellt, der gegen die Götter und das Schicksal sich auflehnt. Was Heinse intuitiv erkannte und unter Rückgriff auf eine Variante des Mythos zu beweisen sucht, wurde durch spätere archäologische Erkenntnisse bestätigt. Das griechische Original der römischen Kopie hatte zum Vorbild ein Detail des Altars von Pergamon. Es zeigt Alkyoneus, der von der Schlange der Pallas Athene getötet wird.9 Man könnte noch weitere Argumente dafür beibringen, dass menschliche Hybris und göttliche Strafe das Thema der Laokoon-Gruppe sind: die Bildung des Gesichts oder das buschige Haar, das für Barbaren, Riesen und Titanen charakteristisch ist.10 Die Koinzidenz zwischen Heinses Interpretation und den späteren archäologischen Befunden ist keineswegs zufällig. Sie beweist Heinses Sensibilität, die Originalität seiner Sicht wie auch die Tatsache, dass die bestimmenden Züge seines Griechenbildes authentischer waren als bei seinen Zeitgenossen. Auch die Schlangensymbolik hatte Heinse an Sünden denken lassen, die aus sinnlicher Leidenschaft begangen werden. Blake (1757–1827) nannte seinen nach dem Vorbild der Statue angefertigten Stich: Jehova und seine beiden Söhne, Der Satan und Adam. Das Nebeneinander von titanischer Revolte und göttlicher Strafe, das in der Statue enthalten ist, wird für Blake zum Drama des Sündenfalls (›peccatum originale‹). Laokoon oder der Untergang Trojas stellen nur blasse mythische Beispiele für diesen Sündenfall dar. Nach Blake ist die griechische Darstellung berechtigt in dem Masse, als sie sich auf die einfache göttliche Wahrheit, d.h. auf das BibelWort, bezieht. Byron (1788–1824) hingegen folgte ohne jede Einschränkung dem Weg Winckelmanns;11 er sah im Laokoon die Darstellung des körperlichen Leidens und eines Göttlichen, das hierüber erhaben ist. Anders wiederum Shelleys (1792–1822) Interpretation: Er lehnt sich an Heinse an, wenn er am Laokoon einerseits das körperliche Leiden und andererseits die ungerechte Strafe hervorhebt: Intense physical suffering, against which he pleads with an upraised courtenance of despair, and appeals with a sense of its injustice, seems the predominant and overwhelming emotion, and yet there is a nobleness in the expression, and a majesty that dignifies torture.12
Fast könnte es scheinen, als habe die titanische Figur des revoltierenden Laokoon Shelley die Idee jener Figur eingegeben, die er — in Analogie zu Luzifer — erschuf: den revoltierenden Prometheus. Freilich befinden wir uns mit Shelley bereits in einer historischen Phase, in der das — durch Laokoon repräsentierte — griechische Ideal an Bedeutung zu verlieren beginnt. Hegel (1770–1831) geht auf eine Äusserung Plinius’ zurück, derzufolge der Laokoon aus der Dekadenz der griechischen Kunst, aus einer Kunstepoche im Verfall stamme und tadelt die künstliche
9. Vgl. Andreae, Bernard, Laokoon und die Kunst von Pergamon, Frankfurt a. M. 1991. 10. Ibid. 11. Byron, Lord George, Les Voyages de Child Harold. Ich komme auf Shelleys Bemerkungen im zitierten Werk zurück. 12. Shelley, Percy B., »Notes on Sculptures«, in: The Complete Works, London / New York 1965, VI, S. 310.
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Manier der Statue, die die einfache Schönheit ersetze.13 Auf diese Weise behandelt er in der Ästhetik (1835–1838) nicht allein den Laokoon, sondern auch andere für das klassische Ideal repräsentative Werke: den Apollo vom Belvedere oder die Venus von Medici. Im Lichte der griechischen Originale erscheinen Hegel diese Schöpfungen theatralisch und flach: Zu Lessing und Winckelmanns Zeit wurde diesen Statuen als den höchsten Idealen der Kunst eine unbeschränkte Bewunderung gezollt; jezt sind sie, seitdem man im Ausdruck tiefere und in den Formen lebendigere Werke hat kennenlernen, in ihrem Werte etwas heruntergedrückt, und man setzt sie in eine schon spätere Zeit, in welcher die Glätte der Ausarbeitung schon das Gefällige und Angenehme im Auge hat und nicht mehr im strengen echten Stil beharrt. Ein englischer Reisender nennt sogar (…) den Apollo geradezu einen theatralischen Stutzer (a theatralical Coxcomb), und der Venus gibt er zwar grosse Sanftheit, Süsse, Symmetrie und schüchterne Grazie zu, aber nur eine fehlerlose Geistlosigkeit, eine negative Vollkommenheit und — ›a good deal of insipidity‹.14
Die Begriffe ›negative Vollkommenheit‹ und ›fehlerlose Geistlosigkeit‹ bezeichnen das Ende der klassizistischen Kunst, ja sogar des deutschen Klassizismus, obwohl Hegel ein Bewunderer der antikisierenden Werke Goethes (1749–1832) — etwa der Iphigenie auf Tauris (1779) — blieb. Wenn wir unsere Analyse mit dem Laokoon begonnen haben, so scheint es zweckmässig, sie mit den Ruinen von Athen zu beschliessen, von denen einige erhaltene Fragmente — die Elgin Marbles — am Beginn des 19. Jahrhunderts in ganz Europa bekannt wurden. Mit ihrer Entdeckung verlor das Bild, das Winckelmann vom Griechentum entworfen hatte, an Gültigkeit.15 In Hölderlins (1770–1843) Hyperion (1797–1799) nimmt die Besichtigung der Ruinen von Athen eine zentrale Stelle ein. Hyperion, Hölderlins Zeitgenosse und Held des neuen Hellenismus, weiss sehr wohl, was ihm bei diesem Besuch bevorsteht, und so bekräftigt er später: »Ich weiss, der Himmel ist ausgestorben, entvölkert, und die Erde, die einst überfloss von schönem menschlichen Leben, ist fast, wie ein Ameisenhaufe, geworden.«16 Doch Hyperions Imagination vermag es, aus den Ruinen das Genie Athens wieder aufleben zu lassen — wie ein Seher, der das Phantombild eines Toten lebendig macht: Wir sprachen untereinander von der Trefflichkeit des alten Athenervolks, woher sie komme, worin sie bestehe. Einer sagte, das Klima hat es gemacht; der andere: die Kunst und Philosophie; der dritte: Religion und Staatsform. Athenische Kunst und Religion, und Philosophie und Staatsform, sagt’ ich, sind Blüten und Früchte des Baums, nicht Boden und Wurzel.17
Die Schönheit, die alles umfasst und in sich vereinigt, bringt die Kunst, die Religion (d.i. die Liebe zur Schönheit) und das Freiheitsgefühl, ja sogar — als ihr viertes Kind — die Philosophie
13. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Ästhetik, Berlin / Weimar 1976, Bd. II, S. 148 ff. 14. Ibid. 15. Dieser Übergang wird dargestellt bei Bianchi Bandinelli, Ranuccio, Klassische Archäologie, Dresden 1978, S. 92 ff. 16. Hölderlin, Friedrich, Sämtliche Werke (Grosse Stuttgarter Ausgabe), Stuttgart 1943, Bd. 3, S. 77. 17. Ibid., S. 83.
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hervor, die sich — folgt man Hölderlin — aus der unendlichen göttlichen Poesie des Lebens erzeugt, und daher der Poesie in ihrem Wesen ähnlich ist. Es ist Pantheismus, wenn von Hölderlin die Idee der Schönheit mit der Natur identisch gedacht wird. Die Natur aber gilt ihm als die einzigartige Manifestation der göttlichen Präsenz — selbst wenn sie für Hyperion tot ist, da die Grabrede »le Grand Pan est mort« gesprochen wird. Doch Hyperion wird von Diotima getröstet mit den Worten: »Wer jenen Geist hat, sagte Diotima tröstend, dem stehet Athen noch wie ein blühender Fruchtbaum. Der Künstler ergänzt den Torso sich leicht.«18 Doch da Hölderlin begreift, dass das griechische Genie ein anderes ist als das des zeitgenössischen Abendlandes, will er das mediterrane Leben kennenlernen; indem er das antike Leben in seinen gegenwärtigen Ruinen erblickt, will er auch die antiken Werke sehen. Der zuvor die Ruinen Athens nach den Reiseberichten Chandlers und der platonischen Philosophie imaginierte und die Poesie Homers und Pindars wieder belebte, fasst nun den »athletischen« Charakter des mediterranen Lebens ins Auge. Diese Spur führt ihn — nach dem Zeugnis des zweiten Briefes an Böhlendorff — zum Wesen des Griechentums. Der ›athletische‹ Charakter des Griechentums ist verschieden von dem, was Winckelmann an ihm bewundert hatte: Er bezeichnet weder die Harmonie des nackten Körpers, noch das Ideal des schönen und geistig gebildeten Menschen, sondern die Übereinstimmung des Menschen mit der Natur. Diese Übereinstimmung aber besteht im Kampf, im Widerstreit gegen die elementarische Macht. Was Hölderlin die elementarische Macht und das Feuer des Himmels nennt, meint nichts anderes als die zerstörerische Nähe der Götter, die sich in der Natur zeigt. Aus dieser Erfahrung der destruktiven göttlichen Präsenz resultierte ein ästhetisches Griechentum, in dem die Natur durch Weisheit gebändigt ist: Das Athletische des südlichen Menschen, in den Ruinen des antiquen Geistes, machte mich mit dem eigentlichen Wesen der Griechen bekannter; ich lernte ihre Natur und ihre Weisheit kennen, ihren Körper, die Art, wie sie in ihrem Klima wuchsen, und die Regel, womit sie den übermüthigen Genius vor des Elements Gewalt behüten.19
Da Hölderlin nur hellenistische Werke gesehen hat, wissen wir nicht, wie die Werke des Parthenon auf Hölderlin gewirkt hätten, wenn er sie einige Jahre später gesehen hätte. Doch wir wissen, wie sie Keats (1795–1821) beeinflussten, dessen Motiv für die Hinwendung zum Griechentum der — mit der Schönheit verwobene — Kult der Natur war. Doch scheint es, als sei Keats — im Gegensatz zu Hölderlin — bei diesem ästhetischen Hedonismus stehen geblieben. Das mag erklären, weshalb er das Wesen des Griechischen, wie er es in den bewunderten Elgin Marbles sah, ein Vergnügen, eingeschlossen in Steinen, nannte. Aus der Bewunderung dieser Statuen machte er eine rituelle Gewohnheit: Tag für Tag unternahm er mit seinem Freund Robert Haydon eine Wanderung zum British Museum. Ein Artikel Haydons im Examiner, der für die Echtheit der Elgin Marbles plädierte, veranlasste den lange aufgeschobenen Kauf der Marmorfiguren.20 Die Elgin Marbles wirkten in Keats Endymion (1818) und dann in
18. Ibid., S. 85. 19. Brief Hölderlins an Casimir Böhlendorff, ohne Datum, ibid., S. 432. 20. Gittings, Robert, John Keats, London 1968, S. 116 ff.
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seinem Hyperion (1818 / 20) fort, der den Zeitgenossen — nach Woodhouse — als die dichterische Verwirklichung desselben Erhabenen und derselben ruhigen Schönheit galt, die man in den Marmorplastiken sah.21 Doch im Sonett On Seeing the Elgin Marbles wird das Erlebnis des Kunstwerks vom Gefühl der Verwundbarkeit und des Todes begleitet. Diese kühle, lebendige und heitere Kunst warnt den Dichter: And each imagin’d pinnacle and steep Of godlike hardship, tells me I must die.22
Wenn wir diese Kunst kennengelernt haben — ihre Klarheit, ihre reine Geistigkeit, ihr ewigErhabenes — will uns unser Leben nichts als eine ephemere Existenz, als etwas Dunkles und als ein langer Traum erscheinen. Die Ode on an Grecian Urn (1819), die als eines seiner unvergänglichen Werke gilt, ist von einer Graburne, der Urne des Sosibios, inspiriert, die im Louvre ausgestellt ist. Hier präsentiert das antike Kunstwerk selbst den Gegensatz von ewiger Kunst und der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens: Das auf der Aussenseite der Urne dargestellte Leben — Liebe, Opferritual, Tanz und der Taumel der Feste — ist nur ein »schöner Schein«, der als Oberfläche das dunkle Innere der Urne mit seinen sterblichen Resten verbirgt. Keats’ Widersprüche — das Leben und die Kunst, die Wahrheit und die Schönheit, die Idee und die Gestalt, die Verwundbarkeit und die Unsterblichkeit — bringen uns nach Deutschland — zu Hölderlin und dem jungen Schelling (1763–1809) — zurück. Es ist hier nicht möglich, dem langen Gedankengang Schellings zu folgen, in dem er entwickelt, dass die Skulptur die paradoxe Einheit des ewigen Lebens mit der — notwendigerweise ›toten‹, weil beschränkten — Form hervorbringt. Ich zitiere nur: Die plastische Kunst stellt die höchste Berührung des Lebens mit dem Tode dar. — Denn das Unendliche ist das Prinzip alles Lebens, und von sich selbst lebendig: das Endliche aber oder die Form ist tot. Da nun beide in den plastischen Werken zur grössten Einheit übergehen, so begegnen sich hier, Leben und Tod gleichsam auf dem Gipfel ihrer Vereinung.23
Dieses Grundprinzip der plastischen Kunst demonstriert beispielsweise die Laokoon- oder die Niobe-Gruppe: Da es nun überhaupt Werk der plastischen Kunst ist, jene höchste Einheit darzustellen, so erscheint das absolute Leben, von dem sie die Abbilder zeigt, an und für sich schon, und verglichen mit der Erscheinung, als Tod. Aber in der Niobe hat die Kunst dieses Geheimnis selbst angesprochen, dadurch, dass sie die höchste Schönheit in dem Tode darstellt, und die nur der göttlichen Natur eigene, den Sterblichen aber unerreichbare Ruhe — diese im Tod gewinnen lässt, gleichsam um anzudenten, dass der Übergang zum höchsten Leben der Schönheit in der Beziehung auf das Sterbliche als Tod erscheinen müsse.24
21. Ibid. 22. Keats, John, The Complete Poems, Barnard, John (ed.), 1973, S. 99. 23. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Frühschriften, Berlin 1971, S. 1116. 24. Ibid., S. 1123 / 1124.
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Was Schelling an der griechischen Skulptur hervorhebt, ist der Archetypus der Skulptur. In ihm ist die wahre Schönheit allein im Tod zugänglich, da nur im Tod die Schönheit das Gesetz der »edlen Einfalt« und der »stillen Grösse« erfüllen kann. Vereinfacht drücken diesen Gedanken auch die Skulpturen des Klassizisten Antonio Canova (1757–1822) aus. Canovas Kunst steht ganz im Zeichen der vergänglichen Schönheit, und man kann sagen, dass er sie tatsächlich in jedem seiner Werke thematisierte — sei es auf einem Gedenkstein oder einem Grab, sei es in Orfeo e Euridice oder Amore e Psiche che si abbracciano oder auch auf den unvollendeten Friesen des Mausoleums von Possagno. Der Tod der Schönheit könnte den fast perversen Enthusiasmus Flauberts und anderer Künstler erklären, die sich für die kalte Kunst Canovas begeisterten. Die Reaktionen werden in ihrer Bedeutung unterschätzt, wenn wir sie in der unschuldigen Sinnlichkeit suchen, wie das Mario Praz getan hat.25 Zwar waren es gerade Canovas ernsthafteste Kritiker, die sein Geheimnis aussprachen, aber es waren wiederum ihre Vorurteile, die sie daran hinderten, die Originalität dieser Kunst zu sehen. So hat etwa Cesare Brandi die Werke Canovas mit der zur Salzsäule erstarrten Frau Loths verglichen und im Lächeln Hebes die Begierde und Kälte eines Leichnams enthüllt.26 Keinen seiner Zeitgenossen konnte Canovas Apotheose des erstarrten Lebens und der vergänglichen Schönheit unbeeindruckt lassen: Entweder wurde man sein entschlossener Kritiker, oder eine Bewunderer. Doch der Unterschied in beiden Haltungen meinte keinen Unterschied in der Sache: Beidesmal war das Nichts das Thema. Das antike Ideal als Kult des Todes? Vielleicht. Doch war Canova der Sklave eines Klassizismus, der durch die griechische Kunst hinfällig wurde, als diese am Beginn des Jahrhunderts — mit den Elgin Marbles, den Friesen des Apollon-Tempels und des Tempels von Aígina — wiederentdeckt wurde. Canova gehörte zwar zu den ersten Bewunderern der Friese des Parthenon, doch er spürte, dass sie einen Bruch in seiner Karriere bedeuteten. Sein unvollendetes Mausoleum von Possagno wurde so auch das Grab seiner Kunst.
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25. Flaubert erzählt, wie die Betrachtung der Statue Psyches sein Verlangen weckte, sie zu küssen, und wie er dies auch tat; s. Praz, Mario, On Neoclassicisme, London 1969, S. 151. 26. Zitiert nach Praz, op. cit., S. 142 ff.
Griechenland und das klassische Ideal
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Annex: Friedrich Hölderlin Horst Albert Glaser
En souvenir de Pierre Bertaux Hölderlins (1770–1843) unvollendete Tragödie vom Tod des Empedokles (1798 f.) gibt mancherlei Rätsel auf. Nicht nur ist der Text von ähnlicher Komplexheit wie die Gedichte Friedensfeier oder Brod und Wein, der Text liegt auch in drei Varianten vor, die sich merklich voneinander unterscheiden. Gewiss ist eigentlich nur, dass Hölderlins Held den Freitod im Ätna sucht. Dieses zentrale Thema charakterisiert alle Varianten, wenngleich die Handlung, die zum Sturz in den Vulkan führt, jeweils unterschiedlich gestaltet ist. In der dritten Fassung, die nur fragmentarisch überliefert ist, finden wir gar keine Handlung mehr. Empedokles steht am Rande des Ätna und freut sich seines baldigen Todes im Feuerkrater. Was ihn zu dem Entschluss gebracht und auf das Gebirge getrieben hat — wir erfahren kaum etwas Genaueres. Er hat die kümmerliche Menschenwelt in der Niederung zurückgelassen und fühlt, dass ihm »Schwingen« wachsen, die es ihm »wohl und leicht« werden lassen (V. 7).1 Dunkel deuten seine Worte an, dass er eine mystische Vereinigung mit der Natur sucht, von der ihn das Leben unter den Menschen entfremdet habe. Die von den Menschen geschändete Natur (V. 39)2 habe ihn wieder, nachdem er »mit Schmach« aus der Heimstadt Agrigent »verwiesen« ward (V. 20).3 Allduldende Natur! […] Du hast mich, und es dämmert zwischen dir Und mir die alte Liebe wieder auf, Du rufst, du ziehst mich nah und näher an. Vergessenheit — o wie ein glüklich Seegel Bin ich vom Ufer los, des Lebens Welle mich von selbst Und wenn die Wooge wächst, und ihren Arm Die Mutter um mich breitet, o was möcht’ Ich auch, was möcht’ ich fürchten. (V. 41–50)4
Es ist also die Mutter Natur, in deren Feuerkrater er sich stürzt — nicht um darin den Tod, sondern ein neues Leben zu finden. Die sexuelle Konnotation ist unübersehbar, die Hölderlin in
1. Hölderlin, Friedrich, Sämtliche Werke (= Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe), Beissner, Friedrich (ed.), Bd. 4,1: Der Tod des Empedokles. Aufsätze, S. 121. 2. Ibid., S. 122. 3. Ibid., S. 122. 4. Ibid., S. 122.
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der Vereinigung mit der Natur sieht: So komm mit mir, wenn izt, zu einsam sich, Das Herz der Erde klagt, und eingedenk Der alten Einigkeit die dunkle Mutter Zum Äther aus die Feuerarme breitet Und izt der Herrscher kömt in seinem Stral, Dann folgen wir, zum Zeichen, dass wir ihm Verwandte sind, hinab in heil’ge Flammen. (V. 474–480)5
Der Herrscher, der da »kömt«, ist der Sonnengott, der Vater, dessen Strahl der Sohn fassen soll, um ihm in die Tiefe der Erde zu folgen. An andrer Stelle ist vom »Schnee« die Rede, den die Sonne am Rande des Ätna auftaut, damit er in die Erde »zerrinnt« (V. 301–303).6 Nimmt man beide Bilder zusammen, so erblickt man das Ensemble der vier Elemente, die der historische Empedokles (484–424 v. Chr.) in seiner Naturlehre benennt: das Feuer, die Erde, den Äther und das Wasser. Durch die »Liebe« werden die Elemente ineinander umgewandelt, so wie die Seele des Menschen durch die Natur wandert und die verschiedenen Gestalten von Tieren und Pflanzen annehmen kann. Auf den sizilianischen Vorsokratiker Empedokles greift Hölderlin zurück, um seinem Begriff romantischer Alleinheit einen bedeutenden Ahnherren zu geben. Was dieses Alleine letztlich bedeutet, Hölderlin macht es seinen Exegeten nicht leicht. Er befrachtet den Empedokles, der sich im Feuerkrater der Mutter Erde auflösen möchte, mit mehreren Konnotationen. Zu nennen wäre eine geschichtsphilosophische, insofern eine abgelebte Epoche zugrunde gehen muss, auf dass eine neue Epoche aufsteigen kann. Diese geschichtsphilosophische Konnotation ist in der ersten Fassung deutlich mit einer politischen verknüpft: der Französischen Revolution, als deren Anhänger Hölderlin erhoffte, dass in ihr der deutsche Ständestaat sich auflöse und eine schwäbische Republik als Neues erstehe. Verbunden sind diese Vorstellungen aber auch mit dem Gedanken von der Passion Christi, der die sündige Menschenwelt durch seinen Tod erlöse, oder der idealistischen Metaphysik, derzufolge es dem Individuellen bestimmt sei — da es endlich ist — wieder ins Allgemeine zurückzukehren. Last but not least schimmert im Freitod des Empedokles noch romantische Künstlerideologie durch: der von den Menschen verkannte Künstler sieht sich als den Propheten einer reineren und höheren Welt, in die er sich — enttäuscht von der banalen Wirklichkeit — durch den Tod Eingang verschafft. Wie auch die Modifikationen und Konnotationen im einzelnen beschaffen sein mögen: Der Sturz in den Krater ist das unverrückbare Motiv aller drei Fassungen der Empedokles-Tragödie. Sieht man jedoch in des Diogenes Laertius’ (3. Jh.) De vitis, dogmatis et apophtegmatis clarorum philosophorum nach — der Quelle, aus der sich Hölderlin über den antiken Philosophen, Propheten, Mediziner und Politiker unterrichtete — so stellt man rasch fest, dass der Sprung in den Ätna die unsicherste Nachricht ist, die Diogenes Laertius übermittelt. Hölderlins Gewährsmann aus dem dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung referiert zwar mehrere Autoren, die von
5. Ibid., S. 138 f. 6. Ibid., S. 132.
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einem Feuertod des Sizilianers erzählen, bezeichnet sie aber fast alle als unglaubwürdig. Anderen Autoren zufolge sei Empedokles im Meer ertrunken oder auf dem Peloponnes gestorben und dort bestattet worden. Auch herrscht unentschiedener Streit über das Alter, in dem Empedokles die Welt der Sterblichen verliess. Nach Aristoteles soll er sechzig Jahre alt gewesen, anderen gaben ihm siebenundsiebzig Jahre und wieder andere deren hundertundneun. So unklar es ist, wie alt Empedokles wurde und wie er endete, so übereinstimmend berichten die Quellen von seinen pathetischen Auftritten. Mit ernster Miene und angetan mit einem purpurfarbenen Gewand, das ein goldner Guertel umschloss, pflegte er vor den Mitbürgern in Agrigent zu erscheinen. Auf dem Kopf trug er einen delphischen Lorbeerkranz, an den Füssen Bronzesandalen, während ihn ein Schwarm jugendlicher Proselyten (Knaben eben) umgab. An einer Stelle wird von deren achtzig Stück berichtet. Das prophetische Gehabe, mit dem Empedokles seine Mitbürger über Fragen der Politik, der Medizin und der Botanik belehrte, gipfelte in der Anmassung, seine Verkündigungen seien nicht diejenigen eines Sterblichen sondern die eines Gottes. In seinen überlieferten Schriften kann man den Satz lesen: »εγω δ’υµιν θεοV αµβροτοV, oυκετι θνητοV πωλευµαι«7 Die Bewohner von Selinunt sollen ihn sogar als Gott verehrt und angebetet haben, da er die Stadt von einer Seuche befreite. Diogenes Laertius referiert dies mit dem ironischen Nachsatz, dass Empedokles vermutlich die Selinunter habe in ihrem Glauben an ihn bestärken wollen und aus diesem Grund in das Feuer gesprungen sei.8 Übereinstimmend berichten mehrere Quellen, dass Empedokles, obwohl dem Patriziat von Agrigent entstammend, eine demokratische Politik verfocht. Aristoteles habe ihn einen Helden der Freiheit genannt, der jeder Art von Herrschaft widersprach. Von Xantheus wird berichtet, dass Empedokles die Königswürde abgelehnt habe, als die Agrigenter sie ihm antrugen. Hölderlin lässt ihn den berühmt gewordenen Satz sagen: »Diss ist die Zeit der Könige nicht mehr.« (1. Fassung, V. 1449)9 Als Anwalt der Gleichheit habe er die Oligarchie der Tausend aufgesprengt, drei Jahre nachdem sie sich in Agrigent etabliert hatte. Doch wird bereits in den antiken Quellen kritisch vermerkt, dass ein Widerspruch zwischen seinen politischen Aktivitäten und seiner Poesie bestanden habe. Der öffentlich Wasser predigte, habe insgeheim Wein getrunken und sich auf ruhmredige Weise als Gott bezeichnet. Sich als Gott ausgegeben zu haben, rechnet sich Empedokles in der ersten Fassung der Tragödie als Hybris an. Er ist bereit, zu Tantalus in den Tartarus hinabzusteigen, um den Frevel zu büssen, »sich zum Gott gemacht« zu haben (1. Fassung, V. 251 f.).10 […] du hast Es selbst verschuldet, armer Tantalus Das Heiligtum hast du geschändet, hast Mit frechem Stolz den schönen Bund entzweit Elender! als die Genien der Welt
7. »Ich aber wandle euch daher als ein unsterblicher Gott, nicht mehr als Sterblicher.« Vgl. Diels, Hermann, Die Fragmente der Vorsokratiker. ed. Kranz, Walther, Hildesheim 1985, Bd. 1, S. 354. 8. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Hamburg 1990, S. 140. 9. Hölderlin, Sämtliche Werke, op. cit., Bd. 4,1, S. 62. 10. Ibid., S. 12.
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Horst Albert Glaser Voll Liebe sich in dir vergassen, dachtest du An dich und wähntest karger Thor, an dich Die Gütigen verkauft, dass sie dir Die Himmlischen, wie blöde Knechte dienten! (V. 334–342)11
Aber auch den Demokraten Empedokles übernahm Hölderlin in seine Tragödie. Dort will er das Goldene Zeitalter wieder aufführen und die erneute Herrschaft des alten Gottes Saturn ankündigen. Im Unterschied zum Reiche Jupiters, in dem wir heute lebten, habe es im Reiche des Saturn keine Gesetze gegeben, seine Herrschaft sei Abwesenheit von Gesetzen, sei Freiheit gewesen. Um aber das Reich des Saturn auszurufen, hat er »vor allem Volk sich einen Gott« (V. 188)12 nennen müssen. Nur auf diese Weise habe er es aufregen können, seine Ketten zu sprengen. Seine politischen Gegner werfen ihm vor: Das Volk ist trunken, wie er selber ist. Sie hören kein Gesez, und keine Noth Und keinen Richter; die Gebräuche sind Von unverständlichem Gebrause gleich Den friedlichen Gestaden überschwemmt. Ein wildes Fest sind alle Tage worden, Ein Fest für alle Feste und der Götter Bescheidne Feiertage haben sich In eins verloren […] (V. 189–197)13
Schwach verhüllt spielt Hölderlin auf die anarchische Phase der Französischen Revolution an, ja erwähnt sogar den neuen Kalender, der die alten Feiertage der Kirche tilgte. Doch deutlich spricht er auch vom Umschlag der Revolution in den Terreur, da der Befreier des Volkes zu dessen neuem Tyrannen wurde: Dann hättest du geherrscht in Agrigent, Ein einziger allmächtiger Tyrann Und dein gewesen wäre, dein allein Das gute Volk und dieses schöne Land. (V. 617–620)14
Als Repräsentanten der etablierten Herrschaft treten der Archon Kritias und der Priester Hermokrates auf: Sie verkündigen dem »heimlichen Verführer« (V. 607 f.)15 des Volkes, dass er verflucht sei und Agrigent verlassen müsse. Von dem Fluch zeigt sich Empedokles nicht sonderlich beeindruckt, obwohl er doch die vier Elemente gegen ihn kehren soll, die der
11. Ibid., S. 15. 12. Ibid., S. 10. 13. Ibid., S. 10. 14. Ibid., S. 26 f. 15. Ibid., S. 26.
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sizilianische Philosoph für den Inbegriff der Natur hält. Aufgerufen wird von Hermokrates »die Quelle, die uns tränkt«, die »Feuerflamme, die uns frommt«, der »Erde Grün und ihre Frucht« sowie »die Luft«, die »ihren Seegen giebt« (V. 633–639).16 Auch scheint es Empedokles nicht sonderlich zu bekümmern, dass er die Stadt verlassen muss. Für einen, dem die Heimat genommen wird, äussert er sich eher verächtlich über die Bewohner Agrigents. Er beantwortet Fluch mit Fluch: […] ha geht Nur immerhin zu Grund, ihr Nahmenlosen! Sterbt langsamen Tods, und euch geleite Des Priesters Rabengesang! und weil sich Wölfe Versammeln da, wo Leichname sind, so finde sich Dann einer auch für euch; der sättige Von eurem Blute sich, der reinige Sicilien von euch; es stehe dürr Das Land, wo sonst die Purpurtraube gern […] (V. 748–756)17
Dennoch wendet sich Empedokles nicht nur frohen Muts dem Ätna zu, da er die wankelmütige Stadt verlassen soll, die ihn im »Taumel« zu ihrem Führer berief, um ihn alsbald wieder zu vertreiben (V. 264).18 Er lässt eine Person zurück, deren Los ihn tief bekümmert. Es ist Panthea, die Tochter des Archon Kritias. Von ihr erzählt bereits Diogenes Laertius, dass der historische Empedokles sie ins Leben zurückgeholt habe, obgleich ihr Körper dreissig Tage lang weder Puls noch Atmung zeigte.19 An diese Panthea erinnert sich Hölderlins Empedokles als einzige, da er gehen soll. Mit einem »Heiltrank« hatte er sie gerettet, als sie »todeskrank daniederlag« (V. 43).20 Die Tochter werde sterben, bedeutet er dem Vater, wenn sie länger noch in der Stadt bleibe, nachdem er, Empedokles, sie verlassen habe. Ich sag’ es dir: bei diesem Volke findet Das fromme Leben seine Ruhe nicht Und einsam bleibt es dir so schön es ist Und stirbt dir freudenlos, denn nie begiebt Die zärtlichernste Göttertochter sich Barbaren an das Herz zu nehmen […] (V. 802–807)21
Es verwundert, dass erst in diesem Augenblick Empedokles solches Schicksal der Panthea prophezeit, als er Agrigent verlässt. Da die Heilung der Panthea schon einige Zeit zurückliegt,
16. Ibid., S. 27. 17. Ibid., S. 31. 18. Ibid., S. 13. 19. Diogenes Laertius, op. cit., S. 143. 20. Hölderlin, Sämtliche Werke, op. cit., Bd. 4,1, S. 4. 21. Ibid., S. 34.
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wäre genug Gelegenheit gewesen, den Vater aufzufordern, mit seiner Tochter nach »Hellas« (V. 820)22 zu reisen. Ganz rätselhaft nimmt sich gar die Drohung aus, die Empedokles gegenüber dem Vater ausspricht, da dieser zögert, dem Rat zu folgen: Versprich es mir und thue, was ich rieth, Und geh aus diesem Land. Verweigerst dus So mag die Einsame den Adler bitten, Dass er hinweg von diesen Knechten sie Zum Äther rette! Bessers weiss ich nicht. (V. 840–844)23
Es scheint den Drohenden eine besondere Beziehung mit der Tochter zu verbinden, da er sie sonst nicht »Einsame« nennen könnte, sobald er weg ist. Weshalb sollte sie einsam sein in einer Stadt, die nach Diogenes Laertius über 800.000 Einwohner verfügte,24 also über mehr als das heutige Agrigent? Hölderlin gibt nicht bekannt, welcher Art die Beziehung gewesen sein könnte, die Empedokles mit der Patientin von ehedem verbindet. Doch dass ein ungenanntes Band zwischen ihm und Panthea besteht, verraten auch deren Worte: […] fort Ist er — wie soll die Einsame denn wissen, Warum ihr noch die Augen helle sind. Es ist nicht möglich, nein! zu frech Ist diese That, zu ungeheuer, und ihr habt Es doch gethan. Und leben muss ich noch Und stille seyn bei diesen? weh! Und weinen Nur weinen kann ich über alles das! (V. 971–978)25
So kann nur jemand bedauert werden, dem die Bedauernde mehr als ihr Leben verdankt. Es muss wohl Liebe sein, die da in verschleierten Worten klagt: […] Und meine Seele richtet An ihm sich auf. Ich lebte gern mit ihm In meinem Sinn, und wusste seine Stunden. (V. 987–989)26
Nicht anders kann sich das »Leid« der Panthea erklären, wenn sie ausruft: […] ach! grausam haben sie’s Zerschlagen, auf die Strasse mirs geworfen Mein Heldenbild, ich hätt es nie gedacht.
22. Ibid., S. 35. 23. Ibid., S. 36. 24. Diogenes Laertius, op. cit., S. 140. 25. Hölderlin, Sämtliche Werke, op. cit., Bd. 4,1, S. 42. 26. Ibid., S. 43.
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(V. 992–994)27
Wie seelenverwandt die Beziehung zwischen Panthea und Empedokles sein muss, erhellt am Bild des Adlers. Hatte Empedokles von diesem noch behauptet, dass er die »einsame« Tochter aus dem Hause des Vaters erretten werde, so sieht Panthea den Adler als verletzten Retter, der keine Kraft mehr haben wird, sein eignes Leben zu bewahren: O du! — wie wirst du enden? müde ringst Du schon am Boden fort, du stolzer Adler! Und zeichnest deinen Pfad mit Blut, und es Erhascht der feigen Jäger einer dich, Zerschlägt am Felsen dir dein sterbend Haupt Und Jovis Liebling nanntet ihr ihn doch? (V. 1070–1075)28
Sprach Empedokles noch vom Adler als einem andren Wesen, so tritt aus den Worten Pantheas Empedokles als dieser Adler selbst hervor — freilich ein zu Tode verletzter. Hermokrates nennt Empedokles einen Göttersohn, den die Götter »sehr geliebt« hatten, nun aber »hinab in sinnenlose Nacht verstossen« haben (V. 209–211).29 Dort »tastet« der »Blindgeschlagne« nun umher und fragt: Wo seid ihr, meine Götter? weh ihr lasst Wie einen Bettler mich und diese Brust Die liebend euch geahndet, stiesst ihr mir Hinab und schlosst in schmählichenge Bande Die Freigeborne, die aus sich allein Und keines andern ist? Und dulden sollt ichs Wie die Schwächlinge, die im scheuen Tartarus Geschmiedet sind ans alte Tagewerk? (V. 309–316)30
Diese Klage kontrastiert schlecht zu den hymnischen Ausrufen, in denen Empedokles die Hoffnung äussert, alsbald im Ätna sich der alleinen Natur zu vermählen. Man kann sie eigentlich nur recht verstehen, wenn man sie als eine Klage um Panthea liest — gleich derjenigen, die Panthea wirklich um ihren Empedokles äussert. Um die Klage des Empedokles ist viel gerätselt worden. Mal war sie Trauer um den Sündenfall, mal um die Trennung vom Alleinen. Die Rätselhaftigkeit der Trauer, von der die zweite und dritte Fassung der Tragödie nichts mehr wissen, erklärt sich wohl, wenn man sie als doppelt verschlüsselte begreift: als Trauer um die Trennung von Panthea, die als Trennung von den Göttern und der Heimat formuliert wird. Diese Deutung mag gewagt erscheinen, doch haben wir noch eine andre Dichtung
27. Ibid., S. 43. 28. Ibid., S. 46. 29. Ibid., S. 11. 30. Ibid., S. 15.
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Hölderlins, die die Klage zweier Liebenden um einander enthält. Es sind Diotima und Hyperion (1797–1799), die — getrennt voneinander — sich wie Empedokles und Panthea ihr Leid klagen. Im zweiten Band von Hyperion oder Der Eremit in Griechenland, der zur selben Zeit wie das erste Empedokles-Fragment entstand, schreiben sich die Liebenden Briefe, die im gleichen elegischen Ton gehalten sind wie die Rede im Fragment. Der letzte Brief Diotimas — ihr »Schwanengesang« — beginnt mit der Wehklage über Hyperions Weggang: Aber es ist zu spät, Hyperion, es ist zu spät. Dein Mädchen ist verwelkt, seitdem du fort bist, ein Feuer in mir hat mälig mich verzehrt, und nur ein kleiner Rest ist übrig. Entsetze dich nicht! Es läutert sich alles Natürliche, und überall windet die Blüthe des Lebens freier und freier vom gröbern Stoffe sich los.31
Hier ist es Diotima, die sich entschliesst zu sterben — freilich nicht durch einen Gewaltakt wie den Sturz in den Ätna. Rauschhaft sehnt sie den Tod als Erlösung aus dem Leben herbei — »führt nicht zur Verherrlichung das Leben den Tod mit sich, in goldenen Ketten, wie der Feldherr einst die gefangenen Könige mit sich geführt?«32 Diotima stirbt still. »O Hyperion! was soll ich weiter sagen? Es war und unsre Klagen wekten sie nicht mehr.«33 Ihr Brief schliesst mit den Worten: Nun lass mich schweigen. Mehr zu sagen, wäre zu viel. Wir werden wohl uns wieder begegnen. […] O könnt ich dich sehn in deiner künftigen Schöne! Lebe wohl.«34
Dieser Tod stürzt Hyperion in Verzweiflung. Er sei dessen Ursache gewesen; die heroischen »Gedanken meiner Jugend« hätten »meine Diotima mir vergiftet!«35 Er sucht nach einer »Zuflucht« und findet sie — auf dem Ätna. Gestern war ich auf dem Ätna droben. Da fiel der grosse Sicilianer mir ein, der einst des Stundenzählens satt, vertraut mit der Seele der Welt, in seiner kühnen Lebenslust sich da hinabwarf in die herrlichen Flammen, denn der kalte Dichter hätte müssen am Feuer sich wärmen, sagt’ ein Spötter ihm nach.36
Doch Hyperion ist kein Heros wie Empedokles. Er vermag nicht »so ungerufen der Natur ans Herz zu fliegen, oder wie du es sonst noch heissen magst.«37 Dass der Name des Empedokles aufgerufen wird, da die Liebe zwischen Diotima und Hyperion zerbrach, verbindet beider Geschichte mit der Geschichte von Empedokles und Panthea, die vom Autor verschwiegen oder in rätselhaften Andeutungen versteckt wird. Die Stelle markiert das Scharnier, das es erlaubt, den ersten Akt von Empedokles I über den zweiten Band des Hyperion zu legen. Der Empedokles-Text erscheint sodann als Palimpsest, unter dem
31. Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 3: Hyperion, S. 144. 32. Ibid., S. 148. 33. Ibid., S. 149. 34. Ibid., S. 148 f. 35. Ibid., S. 151. 36. Ibid., S. 151. 37. Ibid., S. 152.
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ein Subtext deutlich wird. Man sieht auf die Geschichte der Trennung von Diotima und Hyperion, aber durch diese noch tiefer: auf die Geschichte von Hölderlin und Susette Gontard. Denn sie ist es, die hinter dem Pseudonym Diotima sich verbirgt. Getrennt von der Geliebten sass Hölderlin 1798 / 99 in Homburg und schrieb am zweiten Band des Hyperion. Derweil wechselte er mit Susette Briefe, deren Haus in Frankfurt er nur noch einmal zu betreten wagte, nachdem er es im September 1798 verlassen hatte — nach einem peinlichen Zusammenstoss mit dem Ehegatten. In den Sätzen, die sich Diotima und Hyperion schreiben, klingt das Echo der Briefe nach, die Susette und Hölderlin sich schickten. Die Briefe Susettes nennt Bertaux die »schönsten Liebesbriefe, die es gibt«.38 Er mag recht darin haben. Leider sind Hölderlins Liebesbriefe nicht erhalten; Susette muss sie vor ihrem Tode vernichtet haben, um einem familiären Skandal vorzubeugen. Doch nichts hindert uns, in den Briefen, die Hyperion an Diotima schreibt, Gedanken zu erspüren, die in den Briefen Hölderlins gestanden haben könnten: Und so lebe denn wohl, du süsses Mädchen! lebe wohl! Ich möchte dir sagen, gehe dahin, gehe dorthin. […] Ich wähnte mich so gefasst, so besonnen. Jetzt schwindelt mir und mein Herz wirft sich umher, wie ein ungeduldiger Kranker. Weh über mich! ich richte meine lezte Freude zu Grunde. Aber es muss seyn und das Ach! der Natur ist hier umsonst. Ich bin’s dir schuldig, und ich bin ja ohnediss dazu geboren, heimathlos und ohne Ruhestätte zu seyn. […] Ich kann, ich darf nicht mehr — wie mag der Priester leben, wo seyn Gott nicht mehr ist? O Genius meines Volks! o Seele Griechenlands! ich muss hinab, ich muss im Todtenreiche dich suchen.39
Es taucht auch der Adler auf, der im Empedokles-Fragment I als Metapher für den todessüchtigen Philosophen benutzt wird. Es denkt sich der Liebende als Adler, dem die Freiheit gegeben ist, sich über irdische »Knechtschaft« hinauszuschwingen.40 Aber das Sonnenlicht, das eben widerräth die Knechtschaft mir, das lässt mich auf der entwürdigten Erde nicht bleiben und die heiligen Strahlen ziehn, wie Pfade, die zur Heimath führen, mich an. […] wie sollt’ ich dann mich scheun, den sogenannten Tod zu suchen? hab’ ich nicht tausendmal mich in Gedanken befreit, wie sollt’ ich denn anstehn, es Einmal wirklich zu thun? Sind wir denn, wie leibeigene Knechte, an den Boden gefesselt, den wir pflügen? sind wir, wie zahmes Geflügel, das aus dem Hofe nicht laufen darf, weils da gefüttert wird? — Wir sind, wie die jungen Adler, die der Vater aus dem Neste jagt, dass sie im hohen Äther nach Beute suchen.41
Wenn Hölderlin nicht ähnliche Briefe an Susette geschrieben hätte, wäre nicht zu verstehen, dass Susette ihn im 7. Brief anfleht: Nein, das darfst Du nicht! Dich selbst darfst Du auf’s Spiel nicht setzen, Deine edle Natur, der Spiegel alles Schönen darf nicht zerbrechen, in Dir, Du bist der Welt auch schuldig zu geben
38. Bertaux, Pierre, Friedrich Hölderlin, Frankfurt a.M. 1981, S. 527. 39. Hölderlin, Sämtliche Werke, op. cit., Bd. 3, S. 120 f. 40. Ibid., S. 122. 41. Ibid., S. 122.
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Horst Albert Glaser was Dir verklärt in höherer Gestalt erscheint, und an Deine Erhaltung besonders zu denken. Wenige sind wie Du! — Und was jetzt auch nicht würkt bleibt sicher für künftige Zeiten.42
Die Worte werden sich unmittelbar auf Hölderlins Plan bezogen haben, sich den schwäbischen Jakobinern anzuschliessen. Der Freund Sinclair, der sich in Homburg um Hölderlin kümmerte, war in die Verschwörung zum Sturz der württembergischen Monarchie verwickelt — das ergab der Hochverratsprozess, der später gegen ihn angestrengt wurde. In dessen Akten taucht an mehreren Stellen auch der Name Hölderlins auf. Man geht wohl nicht fehl, wenn man Hölderlins Verwicklung in die schwäbische Verschwörung bezieht auf Hyperions Kampf für die Freiheit seines idealischen Griechenlands. Andererseits steht »der Spiegel alles Schönen«, der nicht »zerbrechen« darf, in deutlicher Beziehung zum »Heldenbild«, von dem Panthea im Tod des Empedokles klagt, dass man’s ihr »zerschlagen, auf die Strasse […] geworfen« habe (V. 993).43 All die herangezogenen Stellen werden sich auf das zerschlagene Glück der Frankfurter Liebenden beziehen, die ihr Leid an (freilich nicht weit) voneinander entfernten Orten — eben in Frankfurt und Homburg — beklagten. Hyperion stirbt nicht, und das Gedicht Empedokles–parallel zur Tragödie entstanden — gibt den Grund an — einen Grund, der sich unzweifelhaft auch auf seinen Autor beziehen muss. Im Entwurf dazu heisst es: In den Flammen suchst du das Leben, dein Herz gebietet und pocht und Du folgst und wirfst dich in den Bodenlosen Ätna hinab. Perlen zerschmelzt’ im Weine die Königin, Die Verschwenderin! […] Kühn war, wie das Element das ihn hinwegnahm, Der Getödtete, kühn und gut, Und ich möchte ihm folgen, dem heiligen Manne, Hielte die zarte Liebe mich nicht.44
Die »zarte Liebe« meint Susette Gontard, in deren Haus der Hofmeister Hölderlin lebte, als die Zeilen niedergeschrieben wurden. Sie hielt Hölderlin am Leben, aber eben nicht die Geliebte selbst. Susette erkrankte wenige Jahre später und starb am 22. Juni 1802. Bertaux hat mit kriminalistischem Spürsinn rekonstruiert, dass Hölderlin von ihrer tödlichen Erkrankung in Bordeaux, wo er wieder als Hofmeister tätig war, erfahren haben musste. Unmittelbar nach Erhalt der Nachricht (vermutlich ein Brief Susettes) brach Hölderlin aus Bordeaux auf und traf — so Bertaux’ Rekonstruktion — um den 12. Juni in Frankfurt ein. Aus den erhaltenen Quellen wissen wir nur, dass Hölderlin kurz darauf (Anfang Juli) in Stuttgart und Nürtingen auftauchte, wo er auf Verwandte und Freunde den Eindruck eines Wahnsinnigen machte. Bertaux vermutet,
42. Brief von Susette Gontard, Frankfurt 1.-6. Juli 1799, in: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Knaupp. Michael (ed.), Frankfurt a. M. / Wien 1992, Bd. 2., S. 787. 43. Hölderlin, Sämtliche Werke, op. cit., Bd. 4,1, S. 43. 44. Hölderlin, Sämtliche Werke, op. cit., Bd. 1,2: Gedichte bis 1800, S. 554.
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dass die Wahnsinnsauftritte auf den Schock zurückzuführen seien, den Hölderlin erlitten haben dürfte, als er in Frankfurt den Tod der einzigen Geliebten erlebte: Hölderlin hat nach dem Tode Susettens an einer schweren Depression, an einem Nervenzusammenbruch gelitten, und die Depression ist von den Freunden und der Mutter nicht als solche erkannt worden, weil Hölderlin die Ursache — den Tod Susettens — allen gegenüber verschwiegen hat.45
Der weitere Verlauf von Hölderlins Krankengeschichte kann hier nicht referiert werden. Gewiss ist, dass es sich um ein stufenweises Absinken in die Umnachtung gehandelt hat. Vielleicht kann man sagen: Wie Empedokles sich in den Krater stürzte, so versenkte sich Hölderlin in die Nacht des Wahnsinns. Getrieben haben ihn gewiss Schuldgefühle: Er hatte Diotima im Hyperion sterben, ihren Geliebten aber leben lassen. Nun aber starb Susette — das Modell der Diotima — wie der Autor es prophezeit hatte. Was lag näher für den von Grund auf verstörten Hölderlin, als der toten Geliebten dorthin nachzueilen, wo er sie zu finden hoffte — in ein Jenseits der wirklichen Welt. Bereits Hyperion hört die Stimme der toten Diotima, da er in Trauer um sie versunken ist: […] ein unbegreiflich Sehnen war in mir. Diotima, rief ich, wo bist du, o wo bist du? Und mir war, als hört’ ich Diotimas Stimme, die Stimme, die mich einst erheitert in den Tagen der Freude — Bei den Meinen, rief sie, bin ich, bei den Deinen, die der irre Menschengeist miskennt! — Ein sanfter Schreken ergriff mich und mein Denken entschlummerte mir.46
Schon als sie lebt, imaginiert Hyperion Diotima als Tote — als wisse er, dass die Trennung ihren Tod bedeute. Die letzten Worte, die sie zum scheidenden Hyperion spricht, nimmt dieser nur wahr als einen »langsamen niegehörten Ton«. Hierauf »entschwand« ihr Bild im Dämmerlicht. »ich weiss nicht, ob sie es wirklich war, da ich zum leztenmale mich umwandt’ und die erlöschende Gestalt noch einen Augenblick vor meinem Auge zückte und dann in die Nacht verschied.«47 Empedokles wähnt, dass in dieser Nacht eine andre Sonne aufgehen werde. Bevor er in den Ätna springt, ruft er: »Ich komme.« Wem ruft er diese Worte zu? Wir wissen es nicht, doch wir dürfen vermuten: […] Sterben? nur ins Dunkel ists Ein Schritt, und sehen möchtst du doch, mein Auge! Du hast mir ausgedient, dienstfertiges! Es muss die Nacht izt eine Weile mir Das Haupt umschatten. Aber freudig quillt Aus muthger Brust die Flamme. Schauderndes Verlangen! Was? am Tod entzündet mir Das Leben sich zuletzt? (V. 1927–1934)48
45. Bertaux, op. cit., S. 584 f. 46. Hölderlin, Sämtliche Werke, op. cit., Bd. 3, S. 158 f. 47. Ibid., S. 102. 48. Hölderlin, Sämtliche Werke, op. cit., Bd. 4,1, S. 80 f.
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Mit »Begeisterung« wirft sich Empedokles in den Vulkan, als erreiche er dort die Vereinigung mit einer Geliebten, die doch ungenannt bleibt. Das Bild, unter dem der Sturz sich vollzieht, zielt auf erotische Ekstase: O Iris Bogen über stürzenden Gewässern, wenn die Woog in Silberwolken Auffliegt, wie du bist, so ist meine Freude. (V. 1940–1943)49
Empedokles muss im Krater die Geliebte gefunden haben, und Hölderlin lebte — im Turm am Neckar — an die vierzig Jahre mit einer Toten zusammen. Bertaux zitiert ein Wort Bettina Brentanos (1785–1859) über den wahnsinnigen Hölderlin: »Dort wohnt auch Er … Ja, wer mit Gräbern sich vermählt, der kann leicht wahnsinnig werden den Menschen.«50 Im Turm am Neckar lag der Hyperion stets aufgeschlagen. Hölderlin soll fast täglich darin gelesen und laut daraus rezitiert haben. 1824 — also mitten in der sogenannten Umnachtung — lässt er (eine ungenannt bleibende) Diotima aus dem Jenseits sprechen. Ich zitiere aus dem langen Gedicht die letzte Strophe: Du seiest so allein in der schönen Welt Behauptest du mir immer, Geliebter! das Weist aber du nicht,51
Hier bricht das Gedicht ab.
Auswahlbibliographie Andersen, Jorn Erslev, Poetik und Fragment: Hölderlin-Studien, Würzburg 1997. Arnold, Heinz Ludwig (ed.), Friedrich Hölderlin, München 1996. Benn, M. B., Hölderlin and Pindar, ’s-Gravenhage 1962. Bertaux, Pierre, Friedrich Hölderlin, Frankfurt a.M. 1981. Buchheit, Vinzenz, »Frühling bei Vergil und Hölderlin«, in: Euphorion 91:2, 1997, S. 157–181. George, Emery E., Hölderlin and the golden chain of Homer, Lewiston 1992. Gilgen, Peter, »Hölderlin’s Alternative: Towards Primordial Nature«, in: Wright, Will / Kaplan, Stephen (eds.), The Image of Nature in Literature, Pueblo, Col. 1993. Harrison, Robin Burnett, Hölderlin and Greek literature, Oxford 1975. Hölscher, Uvo, Empedokles und Hölderlin, Eggingen 1998. Jones, Michael T., » ›The higher Enlightenment that Mostly Escapes Us‹: Hölderlin and the dialectic of Enlightenment«, in: Wilson, Daniel W. /Holub, Robert C. (eds.), Impure Reason: Dialectic of Enlightenment in Germany, Detroit 1993, S. 185–199. Joppien, Ingeborg, Friedrich Hölderlin: eine Psychobiographie, Stuttgart 1998. Kurz, Gerhard (ed.), Hölderlin und die Moderne: eine Bestandsaufnahme, Tübingen 1995.
49. Ibid., S. 81. 50. Bertaux, op. cit., S. 667. 51. Hölderlin, Sämtliche Werke, op. cit., Bd. 2,1: Gedichte nach 1800, S. 263.
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Sprach man im 18. Jahrhundert von Rom, so träumte man zuerst von Politik und dachte an das Schicksal eines Volkes, dessen Geschichte und Untergang es zu verstehen galt. Ich werde mich zuerst mit dem Thema der Moral beschäftigen.
Auf der Suche nach einer moralischen Politik Wie Macchiavelli (1469–1527) vertrat auch Montesquieu (1689–1755) die Forderung nach einer Politik der Moral — etwa in den Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence (1734), die die Überlegungen in L’Esprit des Lois (1748) vorbereiten. Wenn man verstehen will, was der Autor die »prospérité« Roms1 nennt, wird alles einfach: Eine ununterbrochene Reihenfolge von »grands hommes« habe den Ruhm der Stadt garantiert. Es waren die Qualitäten des Individuums (»la vertu, la constance, la force et la pauvreté ne s’épuisent pas«),2 die ein politisches und moralisches Kapital darstellten, aus dem Rom schöpfen konnte. Es geht hier nicht darum, die Handlungen dieser »grands hommes« im Detail zu analysieren und mit Ausgewogenheit zu beurteilen. Rom bietet lediglich Modelle an. Dennoch ist die Bedeutung der Institutionen nicht zu vernachlässigen. Letzten Endes steht das Gleichgewicht der Mächte im Mittelpunkt von Montesquieus Bemerkungen über die römische Republik. Aus diesem Gleichgewicht bezögen die Institutionen des römischen Staates ihre Kraft. Der Zensor korrigiere Missbräuche, an die der Gesetzgeber nicht gedacht habe und sichere auf diese Weise die »constance«, die die erste Tugend einer Republik sei, in der die »discipline, l’autorité des mœurs et l’observation constante de certaines coutumes« regierten. Der römische Staat sei ein politisches System, das »admirable«3 sei. Das ist das Wesentliche für einen Denker, der das Ziel verfolgt, ein politisches Herrschaftssystem zu ersinnen, in dem die institutionellen Gegengewichte Stabilität gewährleisten. Montesquieu konnte dennoch nicht die Frage nach der »perte« Roms umgehen, die letzten Endes nichts als das Ergebnis einer Pervertierung der republikanischen Prinzipien gewesen sei: Sobald jedermann sich still verhalte in einem Staat, den man eine Republik nenne, könne man sicher sein, meint Montesquieu, »que la liberté n’y est pas«. Rom habe sich von einer Regierung der Könige zu einer der »aristocratie« und danach zum »état populaire«4 gewandelt. Dass die
1. Montesquieu, Charles de, Œuvres Complètes, Paris 1951, Bd. 2, S. 70. 2. Ibid., S. 85. 3. Ibid., S. 115. 4. Ibid., S. 120.
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Herrschaft der Eliten, deren Handeln durch institutionelle Barrieren gehemmt wurde, ein idealer Staat war, könne nicht bezweifelt werden. Auch für das Kaiserreich könne man daran nicht zweifeln. Es sei durch die Blüte der »vertus«5 charakterisiert. Rom werde einerseits als ein Staat gesehen, dessen moralische Werte seine Kontinuität und sein Gleichgewicht sicherten, andererseits beruhe jedoch diese Kontinuität auf der Rechtschaffenheit der Politiker. Montesquieu ist von dieser antiken Stadt fasziniert: On ne peut jamais quitter les Romains: c’est ainsi qu’encore aujourd’hui, dans leur capitale, on laisse les nouveaux palais pour aller chercher des ruines.6
Aber das Wesentliche drückt folgende Gewissheit aus: Je me trouve fort dans mes maximes, lorsque j’ai pour moi les Romains.7
Dem »génie de la république«, das Titus Livius preist,8 geht Montesquieu ausführlich in seinen Überlegungen nach. Der Tod Caesars erscheint ihm als der Beginn des Untergangs Roms. Denn das blutige Gewand Caesars »remit Rome dans la servitude«.9 Auch wenn andere Gründe wie die Erschöpfung infolge der Kriege des Reiches10 die Entwicklung beschleunigten, das Ende Caesars bedeutete in der Debatte der Historiker um die Begriffe Freiheit und Tyrannei eine fundamentale Wende. Auf ähnliche Weise entwickelte Montesquieu im 18. Jahrhundert eine Theorie der Stadt Rom, deren Fortsetzung sich bei zahlreichen Zeitgenossen findet. Zum Beispiel griff Friedrich Schiller (1759–1805) in Die Räuber (1781) die Argumentation des französischen Historikers auf, dessen Considérations11 er gelesen hatte. Er setzte die Grösse Caesars der Freiheitsliebe des Brutus entgegen, so im Römergesang IV,5. Es genügt, zwei Tragödien Voltaires (1694–1778) zu erwähnen, um die Bedeutung zu ermessen, die diese Aspekte der römischen Geschichte im europäischen Denken einnahmen. Mit seinen beiden Tragödien Brutus (1730) und La Mort de César (1743) machte Voltaire römische Heroen zu Verteidigern einer »auguste liberté«,12 die vernichtet worden war.13 Das Volk ist »auguste«14 und die römische Moral schlicht: Accoutumons des rois la fierté despotique A traiter en égale avec la république.15
5. Ibid., S. 174. 6. Ibid., S. 414. 7. Ibid., S. 412. 8. Ibid. 9. Ibid., S. 418. 10. Ibid. 11. Rehm, Walther, Europäische Rom-Dichtung, München 1939, S. 164. 12. Voltaire, Œuvres Complètes, Paris 1877, Bd. 2, S. 328 (I,1). 13. Ibid., S. 328 (VI,1). 14. Ibid., S. 374 (II,1). 15. Ibid., S. 328 (I,1).
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Es handelt sich tatsächlich um zwei Männer namens Brutus, von denen der erste die Tarquinier verjagte und die Vergewaltigung der Lukrezia rächte. Denn Voltaire verstand La Mort de César als Pendant zum Brutus.16 Der Literaturhistoriker Villemain (1790–1870) sollte später in seinem Tableau de la littérature du dix-huitième siècle (1828 /1829) von einem »drame politique et républicain«17 sprechen. Diese Definition rechtfertigte die Wiederaufnahme dieses Stückes am 29. November 1791 während der französischen Revolution.18 Dieses Bild des römischen Helden entfernte sich etwas von dem anderen Bild, das 1647 von La Calprenède (1610–1663) in La Mort des enfants de Brutus vorgestellt wurde. Die Vaterlandsliebe war noch identisch mit der Liebe zur Republik. Trotzdem machte La Mort de César aus dem Römer den Verteidiger der politischen Moral, einer Moral, die durch den Begriff der »austérité« charakterisiert ist. Brutus fasst selbst die Bedeutung seiner Person für das 18. Jahrhundert zusammen: (…) n’imitons personne, et servons tous d’exemple.19
Brutus ist durch und durch römisch. Damit gilt er Voltaire als Modell aller Zerstörer der »tyrannie«. Republikaner zu sein, das heisst, gegen den »pouvoir arbitraire«20 für die Freiheit einzustehen. So ist die römische Republik auf dem Höhepunkt ihrer Macht zugleich eine Gesellschaft, in der das politische Empfinden in aller Reinheit herrscht. Denn sie ist ein Regime der Freiheit, das die Regel der Moral vorbildlich im öffentlichen Leben respektiert: »l’austérité«. Alles muss zugunsten dieser Idee der Freiheit geopfert werden. Laut Roland Mortier21 reicht es, Diderots (1713–1784) Salon de 1767 zu bemühen, um eines der Prinzipien, die dieser Vision Roms und der Römer zugrundeliegen, erneut bestätigt zu sehen. Es sei nicht mehr die Frage, so Diderot, aus den »lois de l’antique« eine »leçon de mesure« zu ziehen, die vor allem ein Kunstprinzip sei, sondern eher »une leçon de grandeur«. Diese setze nicht nur für die Evolution, die nach der Analyse Montesquieus zur Dekadenz des römischen Reiches geführt habe, eine aufmerksame Untersuchung voraus, sondern gleichsam für die Lebensregeln der Politiker. Brutus bleibt ein privilegiertes Beispiel. 1767 verdammt Diderot vehement Sulla, »un lâche proscripteur, un monstre couronné«.22 Er hält an Voltaires Richtung fest. In den der »Philosophie des Etrusques« gewidmeten Texten, die er für die Encyclopédie (1751–1780) verfasste, beurteilt Diderot die Römer höchst reserviert. Er schreibt den Sabinern und Etruskern »peu d’idées raisonnables« zu.23 Er greift hier auf die von Abbé de Mably in seinen Observations sur les Romains (1751) verteidigten Ansichten zurück. Mably lobt den ersten Brutus, der dem römischen Volk Hoffnung gibt, selbst wenn die Idee der Gleichheit nicht ohne zahlreiche Konzessionen,
16. Voltaire, op. cit., Bd. 3, S. 297. 17. Ibid. 18. Ibid., S. 304. 19. Ibid., S. 336 (II,4). 20. Ibid., S. 324 (I,1). 21. Mortier, Roland, La poétique des ruines en France, Genf 1974, S. 93. 22. Ibid., S. 96 (Diderot, Sezner-Adhémar, Bd. 3, S. 242). 23. Diderot, Denis, Œuvres Complètes, Paris 1972, Bd. 14, S. 719.
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die den adeligen Familien zugestanden wurden, triumphieren konnte: Brutus prit sagement le parti contradictoire de satisfaire à la fois les prétentions du sénat et de persuader aux plébéiens qu’ils n’obéiront plus qu’aux lois qu’ils auront faites.24
Durch diese Politik führt Brutus die Römer zum Sieg über Tarquinius25 und vermeidet so, dass ihr Vaterland den Interessen der einzelnen Bündnisse und Parteien, die es zerrüttet hätten, aufgeopfert wird.26 Abbé de Mably definiert die Regeln einer öffentlichen Ordnung wie folgt: C’est l’amour héroïque du bien public, le respect pour les lois, le mépris des richesses et la fierté de l’âme qui sont les fondements du gouvernement libre.27
Je weiter das Jahrhundert voranschritt, desto offensichtlicher bestätigte sich der Bruch zwischen dem politischen Realismus der Römer und dem von Voltaire formulierten Ideal. Es gibt zwei römische Modelle, von denen eines zu vernachlässigen ist. Denn Diderot legt den Akzent auf die militärischen Unternehmungen Roms. Er unterstreicht, dass die Römer durch Waffengewalt diejenigen, nämlich die Etrusker, unterworfen hätten, deren Schüler sie gewesen seien.28 Denn das bisschen Kultur, das die Römer besessen hätten, hätten sie von den Etruskern geerbt. Von den Römern solle man deshalb besser als »brigands« sprechen. Dennoch gab es nicht nur römische Diebe, Räuber, Mörder von Pompeius’ Format. Diderot erinnert an die grossen Namen der römischen Kultur von Cicero über Catull, Horaz, Sallust, Titus-Livius und Vergil bis zu Tacitus.29 Schlussendlich zieht er mit der Definition von »cette énorme grandeur de Rome« ein unbestreitbares Fazit: La mémoire de quelques actions vertueuses, et quelques lignes d’une écriture immortelle pour distraire d’une longue suite d’atrocité.30
Das ist zunächst die Welt der Künste und Wissenschaften — und die römische Politik ist nichts als der Reflex blutiger Konfliktlösungen: Daher gibt es einen Bruch zwischen dem Denken und der Macht. Es ist kein Zufall, dass Diderot einen Essai sur la vie de Sénèque le philosophe, sur ces écrits, et sur les règnes de Claude et Néron (1779) schrieb. Darin verdammt er die neue politische Barbarei. Seine Reflexionen münden in »une rêverie philosophique et politique« hinsichtlich des Despotismus.31 Es handelt sich nicht mehr um eine harmonische Welt inmitten einer Republik, die sich der Freiheit verschrieben hat, sondern um den Kampf der Tugend gegen die Korruption. In seinem »plan d’une université pour le gouvernement de la Russie« (1755–
24. Mably, Gabriel Bonnot de, Œuvres, Paris, Bosang-Masson (ed.), Bd. IV, S. 188. 25. Ibid. 26. Ibid., S. 192. 27. Ibid., S. 364. 28. Diderot, op. cit., S. 721. 29. Ibid., S. 719. 30. Ibid., S. 721. 31. Mortier, Roland, op. cit., S. 97.
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1757) greift Diderot Werke an, die angeblich die Sitten gefährden (»les naïves saletés de Cattule«, Horaz »le plus adroit corrupteur des grands«). Dagegen ist er voll des Lobes für den hartherzigen, schroffen und eingebildeten Seneca.32 Die lateinische Literatur wird übrigens nicht weiter berücksichtigt, es sei denn in Apologie de l’étude von D’Alembert (1717–1783). Das Werk formte den Geschmack der Modernen. Hier kann die lateinische Sprache von einer »utile usage«33 sein. In den Entretiens sur les romans, ouvrage moral et critique de l’abbé J. (1755) wird lang und breit auf die Gefahren hingewiesen, die die Ausschweifungen der »anciens Romains« darstellen, die »avec hardiesse« alle Regeln des Anstands und Feingefühls verletzt haben.34 Der Abbé fügt hinzu, es gebe keinen Begriff für die masslosen Ausschweifungen, der sie sich als Machthaber hingegeben hätten. Tatsächlich nimmt die Tugend die wichtigste Stelle in den zahlreichen Diskursen ein, auch in Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) Discours sur les sciences et les arts (1755). Was bisher nicht mehr war als ein moralisches und politisches Bild, wurde nun zu einer rein moralischen Vision der römischen Wirklichkeit. Der Discours sur les sciences et les arts ist eine Abhandlung über die Tugend. Sicherlich konnte Rom sich nicht mit Sparta vergleichen, das eine »république de demi-dieux«35 war, in der die Menschen tugendhaft zur Welt kamen und wo selbst die Luft des Landes Tugend einzuflössen schien.36 Aber Rousseau ist weit davon entfernt, Diderots argwöhnische Haltung zu teilen. Es gibt in seinen Augen Beispiele der Tugend: Sokrates in Athen, Cato in Rom. Die Prosopopee von Fabricius hebt die Opposition hervor zwischen »le seul talent digne de Rome«, das auf dem Wege ist, zu erobern und Tugend herrschen zu lassen,37 und den Völkern, bei denen allein der Reichtum dominiert. Rom war zur Zeit der Republik »le temple de vertu«.38 Diese Definition von Tugend ist nicht, wie es Albert Schinz in seiner interprétation nouvelle über La Pensée de Jean-Jacques Rousseau gezeigt hat, einfach die »vertu-sagesse«, auch nicht die »vertu comme moyen de bonheur«, oder die »vertuinnocence«. Sie ist eine eigenartige Mischung der drei Tugenden, die in Rousseaus Rom ganz deutlich den Staat sichtbar werden lassen, in dem die der »passion« und den »désirs de jouissance«39 entgegengesetzten Werte herrschen. Das republikanische Rom ist endlich jenes, in welchem die Gesetze verhindert haben, den »penchants personnels« und jenen »au nom d’un état impersonnel«40 nachzugeben. Es ging also für Rom um Eroberungen, darum, Tugend herrschen zu lassen.41 In diesem Stadium wurde das römische Ideal immer mehr zur
32. Diderot, Denis, Œuvres Complètes, Paris 1877, Bd. 3, S. 482–485. 33. D’Alembert, Œuvres complètes, Genf 1967, Bd. 4, S. 26. 34. L’Abbé J., Entretiens sur les romans, ouvrage moral et critique, Paris 1755, Nachdruck, S. 310. 35. Schinz, Albert, La Pensée de Jean-Jacques Rousseau, Paris 1929, S. 139. 36. Ibid. 37. Ibid. 38. Ibid. 39. Ibid., S. 182. 40. Ibid., S. 152. 41. Ibid., S. 139.
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Glorifikation eines Zwangs zur Tugend, zur Notwendigkeit der Unterwerfung unter die Regeln, die das Laster verhindern. Rom schreibt das Bild eines Staates vor, der in der Lage ist, die Begierde des Individuums zu bremsen. Mit Auch eine Philosophie der Geschichte (1773) und Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1785) entfernt sich der deutsche Philosoph Herder (1744–1803) kaum von dieser moralischen und tugendhaften Sichtweise der römischen Geschichte, die er als »Mannesalter menschlicher Kräfte und Bestrebungen«42 definiert. Die römische »Tapferkeit« ist der fundamentalste Zug dieser römischen Tugend (»Römertapferkeit« idealisiert: »Römertugend! Römersinn! Römerstolz!«). »Tapferkeit« und »Männlichkeit« haben Anteil an der Bestätigung dessen, was »Kolossus für alle Welt«43 ist. Die »Reife der Schicksale der alten Welt« ist erreicht. Eben diese hängt nach Herder wesentlich nicht von einem »System«, sondern eher von einer Transposition älterer griechischer Systeme in das praktische Leben, in die Konstitution des römischen Staats selbst ab. Die römische »Grösse« zeigte sich auch in bürgerlichen und kriegerischen Belangen. Die römische Tugend ist nicht ohne eine solide Verfassung zu verstehen. So verstanden, stellt der römische Staat eine wesentliche Etappe in der Entwicklung der Humanität dar, eine Etappe, die auf einem perfekt strukturierten und mit kriegerischer Tapferkeit verteidigten Staat beruhte. Diese Eigenschaften stellten auch den Erfolg der römischen Gesellschaft sicher. Es vollzog sich eine Entwicklung: Auf Montesquieus Überlegung hinsichtlich der römischen Tugend folgte die Beschreibung eines stolzen Staates, in dem die männliche Tugend eine (Aus)wahlrolle zu spielen hatte. Es ist nicht erstaunlich, im Gedankengut bestimmter Revolutionäre Ausläufer dieser philosophischen und historischen Entwicklungen wiederzufinden. In seiner Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (1793) besteht Condorcet (1743–1794) auf der Bedeutung dessen, was er »un tableau de la constitution de cette ville dominatrice« nennt. Genau das war nämlich Rom nach dem Fall der griechischen Staaten.44 Laut Condorcet existiert kein römisches Modell. Griechenland stellt mit seinen Institutionen und seiner Wissenschaftenentwicklung eine Kraft dessen dar, was Condorcet »le progrès de l’esprit humain«45 nennt. Was Rom der Welt anzubieten hat, ist ein Ensemble von Regeln, die in der Lage sind, die gesetzliche Ordnung zu vereinheitlichen, die eine grosse Anziehungskraft auf alle Länder ausübt, in welche die Griechen ihre Sprache, ihr Wissen und ihre Philosophie gebracht hatten. Rom gab den Ländern Gesetze. Rom hat auch eine Situation herbeigeführt, die als Etappe der Erschaffung der modernen Welt gelten kann. Condorcet negiert durchaus nicht die Schwächen dieses Regimes. Er trägt Sorge, die Evolution Roms zu unterstreichen, die — durch die Zwietracht unter den Bürgern aufgewühlt, — in eine militärische Gewaltherrschaft fallen wird, die aller »liberté« ein Ende setzen wird. Zudem werden Despoten hervorgebracht, die »la verité«
42. Herder, Johann Gottfried, Auch eine Philosophie der Geschichte, in: Ders., Werke, 2 Bde., Prass, Wolfgang (ed.), Darmstadt 1984, Bd. 1, S. 589–683, hier: S. 609. 43. Ibid., S. 609 f. 44. Condorcet, Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain, Paris 1966, S. 140. 45. Ibid.
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fürchten und »les talents et la vertu«46 hassen. Er sieht wie die Mehrzahl seiner Zeitgenossen47 die römische »législation«, die er für »bizarre« und »incertaine« hält,48 mit einer gewissen Verachtung. Aber das, was in dieser Etappe der Menschheitsgeschichte wesentlich bleibt, ist das schwierige Gleichgewicht der Mächte: »les adroites combinaisons«, die das »patriciat héréditaire« weniger hassenswert machen. Zudem garantieren sie dem Volk eine wirkliche Macht, die im Einverständnis mit einem hochmütigen Senat und dem Staat eine gewisse Beständigkeit sichern kann.49 Die Geschichte Roms wird dann das, was Condorcet ein »peuple-roi« nennt. Das hat den Verlust der »inutile liberté« zur Folge. Das geschieht in dem Moment, in dem sich die Konstitution einer einzigen Stadt ausbreiten muss zu einem grossen Reich.50 Condorcets Originalität besteht darin hervorzuheben, dass sich hinter Dekadenz und Schwächen (die sich in der Unfähigkeit offenbaren, das politische System auch nur den geographischen Bedingungen anzupassen) eine Tatsache verbirgt, die man nicht vernachlässigen darf: die Milde der Strafgesetze heiligte das Blut des römischen Bürgers und verhinderte so, dass politische Streitigkeiten in grausame Gemetzel ausarteten.51 Condorcet, ein Freund der Girondisten, entdeckte in der römischen Welt ein geeignetes System, um die demokratischen Regeln zu schützen, die das Volk vor den Irrtümern retten sollen, die die ›terreur‹ Frankreich aufbürdet. Er fügte sich in eine Strömung des politischen Gedankens im 18. Jahrhundert ein, nach der der römische Staat ein Modell der juristischen Ordnung anbietet, das in der Lage ist, »le bonheur des sujets« und. »l’intérêt particulier« angesichts eines »l’intérêt public« und »la tranquilité de l’Etat« zu schützen. Dies ist eine Idee, die schon 1758 in De L’Esprit entwickelt wurde. Darin versucht Helvétius (1715–1771) »les vices et les vertus d’un peuple« zu berücksichtigen, die sich immer zwangsläufig aus seiner Gesetzgebung ergeben.52 Denn »si l’histoire grecque et romaine est pleine de ces traits héroïques«, so deshalb, weil in diesen Regierungsformen das Interesse des Einzelnen niemals an das staatliche geknüpft ist. Mit der Revolution bekommt diese Überlegung eine noch grössere Bedeutung, und die politischen Wortführer mit Robespierre an der Spitze bewahrten in der Tat »la nostalgie d’une grandeur républicaine antique« nur, um sie besser mit der revolutionären Energie gleichzusetzen und so, wie Chaussard bestätigt,53 »les vertus du spectacle des arts« hervorzubringen. Der politische Diskurs respektiert diese Absicht. In seiner Studie über »les rapports des idées religieuses et morales avec les principes révoltionnaires et sur les fêtes nationales« (7. Mai 1794) nimmt Robespierre die während des 18. Jahrhunderts entwickelten Ideen über die römische
46. Ibid., S. 141 f. 47. Ibid., S. 142. 48. Ibid., S. 143. 49. Ibid., S. 140. 50. Ibid., S. 141. 51. Ibid., S. 143. 52. Helvétius, Claude Adrien, De L’Esprit, Paris 1968, S. 152–154. 53. Becq, Annie, »Esthétique et politique sous le Consulat et l’Empire: la notion de beau idéal«, in: Romantisme 1986 / 1, S. 30 (Chaussard, Essai philosophique sur la dignité des arts, An VI, S. 7).
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Tugend wieder auf und beschreibt die moralische Welt von Spartakus als glänzend wie ein Lichtstrahl in einer unendlichen Finsternis. Die römische Freiheit, eine im gesamten Jahrhundert entwickelte Utopie, findet hier ihren Platz: Le genre humain respecte Caton, et se courbe sous le joug de César. La postérité honore la vertu de Brutus.54
Diese Ethik der Freiheit ist gleichfalls eine Ästhetik. Durch das, was Robespierre »l’ordre physique« der Kunst nennt, wurde der Freiheitskult wiedergeboren. »Les Tableaux de David« verwirklichten dies Ideal. Die Welt hat sich verändert. Was bei Diderot nur die Wiederaufnahme der von Seneca angesichts der blutigen Diktaturen gepriesenen moralischen Werte war, bestätigte sich als Prinzip einer neuen Gesellschaft, in der die Kunst durch die Nachahmung der Antike wieder mit der einzigen Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft vereint wurde: »la morale«. So erscheint der Maler David (1748–1825) als ein Repräsentant der physischen Ordnung. Er gehört zur Avantgarde der moralischen und politischen Ordnung im Sinne Robespierres. Es ist also kein Zufall, dass David sich weitgehend von der römischen Geschichte anregen liess. Von 1775 bis 1780 lebte er fünf Jahre in Rom und verfasste dann Le Serment des Horaces. Von 1793 an stand er Robespierre nahe, und er ging sogar soweit, Brutus zu parodieren, als er schrieb: »Si tu dois boire la cigue, je la boirai avec toi«55 Doch auch er etablierte eine präzise Unterscheidung zwischen dem, was in seinen Augen griechisch ist, und der Nachahmung dessen, was für ihn die römische Kunst, Ausdruck einer plastischen Realität ist. Hinsichtlich der Horaces bedauert er, dass er eine »art anatomique« angenommen habe, obgleich der Einfluss der Griechen ihm »adresse« und »goût« angeboten hätten.56 Der griechische Anteil siegt endgültig über den der römischen, als höchst ungeschliffen geltenden Kunst. David stand zudem einer Strömung nah, nach der »l’idée romaine« ein Kampf gegen »l’idée athénienne«, der Kult der Kraft und des Staats gegen den Kult der »culture«57 ist. Wie Walther Rehm belegt, existierte sehr wohl ein Konflikt zwischen der Verteidigung der griechischen Kultur, die sich bei Goethe wiederfindet, und der Verteidigung der römischen Kultur mit einem Caesarismus, der einer bestimmten Sicht des Terrorstaates nah ist. Mit seiner Vorstellung von Rom bestätigte Frankreich, je mehr sich das Jahrhundert seinem Ende zuneigte, seine »volonté d’hégémonie«, seinen Wunsch, einen neuen »orbem romanum« zu schaffen. Hiergegen sollte sich dann Winckelmann erklären.58 Während das 18. Jahrhundert mit der Suche nach der Freiheit in der römischen Geschichte begonnen hatte, endete es in einem Ordnungskult, in einem Staatskult, dem das Individuum geopfert wurde. Die Moral hatte sich auf gewisse Weise in diesem Ideal des antiken Roms pervertiert. Das beste Beispiel dieser Pervertierung findet sich in dem Theater der revolutionären Periode, das den Akzent auf die Freiheit als Ideal der neuen Republik legt, die durch äusserliche
54. Robespierre, Textes choisis, Paris 1957, S. 156. 55. Andrieux, Maurice, Les Français à Rome, Paris 1988, S. 191. 56. Delecluze, Etienne Jean, Louis David, son école et son temps (1855), Paris 1983, S. 71–72. 57. Rehm, Walther, Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens, Leipzig 1936, S. 21. 58. Ibid. S. 21 und 25.
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Gefahren bedroht wird. Hieraus entsteht die martialische Freiheit. In der Virginie (1792) von La Harpe (1739–1803) ist es schon »la liberté de Rome«, die mit dem »sang«59 bezahlt wird. Und in der Tragödie von Epicharis et Néron (1794) von Legouvé (1764–1812) drückt sich die Freiheit zuerst durch »l’amour de la patrie« aus, die »la première des gloires«60 ist. Das Bewusstsein, ein Römer zu sein, verbindet sich mit einem militärischen Pflichtgefühl. Der Siegesgesang in der Oper Fabius (1793) von Joseph Martin ist im folgenden Vers zusammengefasst: Honneur et gloire à notre général!61
Die Figur von Brutus nimmt ihren Platz unter den Helden der Republik ein. In Brutus (1796) von Sextius Buffardin erhebt sich der Protagonist über seine Verzweiflung und wird das Symbol der Ruhe angesichts der Dramen, die sich in seinem Leben abspielen. Das, was die Tugend des ersten Brutus ist, gilt auch für den zweiten. In seinen Epître à Vien wird der Dichter J.- F. Ducis (1733–1816) den Mut des Römers, den David vorgestellt hat, zu unterstreichen wissen: Dieser Mann, mit dem Tod im Herzen und unerschütterlich, »ne pleurant pas«.62 Rom ist eine Schule des Muts für die Republikaner, die begierig sind, mit Stolz ihr Vaterland zu verteidigen. Sie sind bereit, ihr Blut zu vergiessen. Dabei haben sie als Beispiel die Krieger vor Augen, die Schicksalsschlägen zu widerstehen wissen.
Die Ruinen und die Imitation des römischen Modells Dennoch waren die Gedankenströmungen des 18. Jahrhunderts komplexer als diese politische und nationale Vision der römischen Utopie. 1725 entwickelte sich in Anlehnung an Giambattista Vico die Meinung, die im antiken Rom die Heimat der wahren Helden dieser Welt sah,63 einer Welt, die Piranesi (1720–1778) in den Antichità Romane (1756) zelebriert. Hierauf folgten Le vedute di Roma (1748) und schliesslich ein Werk, das die Unabhängigkeit der römischen Grösse angesichts Griechenlands glorifiziert: Della Magnificenza ed Architettura de’ Romani (1761). Diese Bewegung erreichte ihren Höhepunkt in Europa vor 1764. Dies ist zugleich das Datum, an dem Winckelmann die Vision der römischen Kunst sowie deren Nachahmung verdammte. Winkelmanns Überlegungen stellen sich in eine lange Geschichte der Betrachtung der römischen Ruinen und des Nachdenkens über die römische Zivilisation, die nun nicht mehr einfach als der Widerschein einer moralischen Ordnung gilt. Schon Montesquieu spricht davon, bei den Römern Ruinen zu suchen.64 Aber 1740 erschienen in England The Ruins of Rome von John Dryer, der sich mit dem Essay on the Constitution of roman (1726) von William Doyle und Roman History from the building of Rome
59. Welschinger, Henri, Le Théâtre de la Révolution 1789–1799 (1880), Genf 1968, S. 379. 60. Ibid., S. 375. 61. Ibid., S. 374. 62. Starobinski, Jean, 1789. Les emblèmes de la Raison, Paris 1979, S. 188. 63. Rehm, Walther, op. cit., S. 26. 64. Montesquieu, op. cit., S. 414.
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to the ruin of the common wealth (1758) von Nathanael Hocke bemüht, den ästhetischen Aspekt der Ruinen hervorzuheben, indem er eine moralische Überlegung rettet, nach der der Verlust der fundamentalen Werte und der Freiheit der Hauptgrund für den Sturz Roms ist: »the great queer of earth, imperial Rom« ist das Opfer von »luxury«, die der »human strength«, der »human skill« ein Ende gesetzt hat.65 Je weiter das Jahrhundert fortschritt, umso mehr sollte diese Meinung über Roms Untergang vorherrschen. Dies umso mehr, als der Ruinenkult Gegenstand der Unterhaltungen der Zeitgenossen sein wird. In seinem Plaisir de la Ruine. Du sentiment de la mélancholie beschreibt auch Bernardin de Saint-Pierre (1737–1814)66 die »pouvoir du temps sur les Romains«. Er reiht sich ein in eine Fülle von Bemerkungen über die Gründe des Untergangs des römischen Reichs. Sie finden sich wieder in The History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1776–1780) von Edward Gibbon (1737–1794). In dem Vorwort der französischen Ausgabe von 1812 bestätigt sich die Bedeutung der Arbeit hinsichtlich des Textes von Montesquieu. Guizot, der mit der Annotation der Arbeit beauftragte Historiker, versäumt nicht, den Scharfsinn des Autors zu betonen.67 Gibbon trägt Sorge, an den Platz zu erinnern, den die römische Republik dem Verdienst und der Tugend68 zugestand, die aus ihr einen Staat formten, der fähig war, eine edle Politik69 zu machen. In seinen Augen korrumpierten Ehrgeiz und Schwäche der Herrscher den Staat, während die Tugend, besonders »la discipline militaire«, die Solidität der römischen Institutionen sicherten.70 Das, was Montesquieu nicht mit in seine Überlegungen einbezogen hat, ist die Schwäche, die nicht allein aus einem langen Frieden resultiert, sondern auch aus einer unvollkommenen Regierungsform. Die lässt nämlich das, was Gibbon »le feu du génie«71 nennt, verschwinden. Der Liberalismus in England ist am Ende dieses Jahrhunderts eine erstaunliche Vision! Eine eigentümliche, das ganze Jahrhundert durchziehende Mischung aus Bejahung der römischen Tugend und der Definitionen des Staates, in dem »le courage public« durch »l’honneur national, l’amour de la liberté (…), l’habitude du commandement«72 inspiriert ist. Gibbon fügte das Wesentliche hinzu, indem er behauptet, dass die Freiheit Geschmack und Wissenschaft hervorgebracht habe73 und dass der »dégradation« des römischen Reichs eine moderne Renaissance der Freiheit korrespondiert, die von den »mâles sentiments«74 nicht zu trennen ist. Das Ideal, das sich im Laufe des 18. Jahrhunderts herausbildete, findet sich bei Gibbon wieder. Und seltsamerweise ist der Diskurs Robespierres
65. Rehm, Walther, op. cit., S. 26. 66. Mortier, Roland, op. cit., S. 130. In dieser Tradition muss man Hugo Foscolo (1778–1827) und seine Cimeteri, Sepolcri (1806–1807) wieder einreihen. Er stützt sich überdies auf die Publikationen wie die Arbeit von Francesco Nocki, Saggio intorno al lungo del Seppellire (1772). 67. Gibbon, Edward, Histoire de la décadence et de la chute de l’Empire romain, Bd. 1, Paris 1812, S. LXV. 68. Ibid., S. 68. 69. Ibid., S. 71. 70. Ibid., S. 168. 71. Ibid., S. 408. 72. Ibid., S. 406. 73. Ibid., S. 123. 74. Ibid.
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über die Tugend nicht weit von dem des Historikers entfernt, selbst wenn die Verurteilung der menschlichen Nivellierung Gibbon seinem liberalen Kommentator annähert: Guizot. Indessen entfernt sich dies Bild der römischen Realität weit von den politischen und moralischen Behauptungen, die bisher zur Geltung gebracht wurden. Denn Gibbon gibt in seiner Beschreibung der römischen Welt nicht nur eine Definition der moralischen Werte, sondern gleichsam eine Beschreibung eines Menschentyps, den Wissen und Mut auszeichnen: einen Überblick über die kulturellen Ideale, die aus Geschmack und kämpferischen Werten bestehen. Zudem deckt der Dichter Kraft und Mass als Handlungsregeln der römischen Welt auf. Das Experiment der Reise, der »plaisir de la ruine«, den Bernardin de Saint-Pierre wachruft, mündet nicht mehr einfach in eine moralische Evokation des antiken Rom. Eine Schilderung nuanciert die intellektuellen und künstlerischen Realitäten der antiken Welt. In Voyage en Italie lässt Charles Duclos (1704–1772) seiner Freude freien Lauf. Bei jedem Schritt traten Titus-Livius, Sallust, Tacitus und Horaz in seine Erinnerung.75 Ebenso spricht Chevalier Bertin von den Schatten von Titus-Livius, Sallust, Horaz und Vergil. Sie sind für ihn die Repräsentanten eines »paradis perdu«.76 Der Präsident Charles de Brosses (1709–1777) sieht in dem XLV. Brief seiner Lettres familières écrites d’Italie à quelques amis en 1739 et 1740 in dieser Erinnerung an die Vergangenheit einen Abstieg bis zu den »limites du bien et du mal«.77 Rom ist die Wiederspiegelung der menschlichen Natur mit ihren erhabensten Helden und abscheulichsten Ungeheuern. Rom ist nicht mehr moralische Heimat, sondern Bild der Wagnisse der menschlichen Natur. So erklären sich die Anspielungen auf die Historiker dieses Kampfes: Sallust und Titus-Livius. In Voyage en Italie et en Sicile (1809) ist sich Creuzé de Lesser (1771–1839) bewusst, dass er 1806 einem »sujet très usé«78 gegenübersteht. In Rom angekommen, unterstreicht der Reisende die drei fundamentalen Punkte seiner Analyse. Zunächst lässt er keinen Zweifel daran, dass die Geschichte Roms »celle de l’univers« war, dass »crimes« und »vertus« ständig vorhanden waren. Es ist die Geschichte einer Welt, über der der Schatten der »grands hommes« schwebt. Aber, fügt Creuzé de Lesser hinzu, in Rom seien alle grossen Männer zu Asche geworden, und an die Stelle der Riesen seien Zwerge getreten.79 Die Vergangenheit ist also exemplarisch. Sie ist aus menschlichen Kämpfen zwischen dem Guten und dem Bösen gemacht. Über diese beiden Charakteristiken hinaus besteht Creuzé de Lesser auf den unwiderlegbaren Vorzügen dieser Epoche, ihren Werten. Das, was als Modell erscheinen konnte, erscheint hier weit entfernt von der modernen Realität. Die römische Geschichte ist eine Periode, die die Gegenwart nicht mehr erreichen kann. Die politische Utopie hat hier keinen Platz mehr:
75. Duclos, Charles, Voyage en Italie, Paris 1791, S. 59. In seinem Buch über Charles Duclos (1704–1772) ou l’obsession de la vertu (Saint-Brieuc 1971, S. 170) hebt Jacques Brengues einen Satz von Duclos über »ces débris de monumens […] qui jettent l’âme dans une sorte de mélancolie qui n’est pas la tristesse« und die »font naître des réflexions sur le sort des empires, ramènent l’homme à lui-même et l’avertissent de jouir« hervor. 76. Bertin, Chevalier, Œuvres Complètes, Paris 1785, S. 59. 77. Brosses, Charles de, Les lettres familières écrites d’Italie à quelques amis en 1739 et 1740, Paris 1835, S. 206. 78. Creuzé de Lesser, Augustin-François Baron de, Voyage en Italie et en Sicile, Paris 1808, s.v. 79. Ibid., S. 68 f.
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Claude Foucart Tous les rêves de mon imagination se sont dissipés; je suis tombé de deux pieds de haut, et je me suis trouvé à Rome telle qu’elle est.80
Die Konfrontation des Verschwundenen und der Gegenwart verhindert jede Annäherung dieser beiden Momente der historischen Evolution. Alles beginnt in einem Traum und endet in der banalen Alltags des modernen Italien. Aber es existiert ein Reiz, der stärker ist als diese simplen historischen Überlegungen. Jacques Delille (1738–1813) resümiert dies treffend in seinem Gedicht Jardins (1782). Dort spricht er von »la douce illusion«, von der »riante féerie« in der Vergil, Ovid und Horaz in seiner Kindheit ihren Platz gehabt haben.81 So bildet sich eine neue Ästhetik heraus, in der Rom seine Rolle spielen sollte. Gewiss ist der antike Staat zuerst Gegenstand historischer Überlegungen, Quelle für Beispiele und Modell für die Bürger des Staates. Aber es zeigte sich dank der Entdeckung historischer Orte wie Pompei und Herculanum in der Unterhaltungsliteratur und in den Reiseberichten eine andere Vision der römischen Welt, die teilweise dem beherrschenden Einfluss des antiken Griechenland entkam. Die Schriftsteller, die die auf diesem Gebiet gemachten reichen Beobachtungen nutzbringend angewandten, dachten über den Stellenwert des Einflusses nach, der Rom Einfluss zukommt. Sie erkannten, dass seine Literatur durchaus nicht nur der Widerschein der von Winckelmann beschriebenen griechischen Welt war. Ein Schriftsteller wie André Chénier (1762–1794) berücksichtigte aufmerksam die römische Literatur und versuchte zugleich der Welt, der sie entsprungen war, ihren Wert zurückzugeben. Gezeichnet von der französischen Revolution, begnügte er sich nicht damit, die Beispiele des römischen Bürgersinns hervorzuheben. Er entdeckte die Meister der römischen Literatur. In Cicero sah Chénier den Mann der Tat und den Schriftsteller eine Verbindung eingegangen. Er fand sie auch bei einem, der im 18. Jahrhundert sehr unterschätzt wurde: bei Julius Caesar: Au trône des talents sans crime il sera roi82
Denn tatsächlich beobachtete man mit Interesse vor allem »la précision mâle et pittoresque« der lateinischen Schriftsteller, eine »précision«, wie sie Sallusts Catalina und Jugurtha noch besitzen.83 Zu diesen literarischen Vorzügen treten menschliche Werte: jene eines Tibull, den Chénier für den bedeutendsten der lateinischen Autoren hält84 und den er über Horaz und Vergil stellt. Ihnen hält er ihre Sympathie für Augustus85 vor. So betrieb die Literatur die Untersuchung einer Realität, die zugleich Geschichtsschreibung und Suche nach einem literarischen Modell war. Auf diese Weise erlaubte es die Betrachtung der Monumente der Antike, zu einer allgemeinen Ansicht der Kunst zu gelangen. Aus den Überlegungen über die römischen Ruinen entwickelte sich eine ganze Ästhetik. Seit CharlesVictor de Bonstetten (1745–1832) aus Bern im Jahre 1805 die Voyage sur la Scène des dix
80. Ibid., S. 69. 81. Delille, Jacques, Œuvres, Paris 1827, Bd. VII, S. 35. 82. Dimoff, Paul, La vie et l’œuvre d’André Chenier, Genf 1970, Bd. 2, S. 227. 83. Ibid., S. 227. 84. Ibid., S. 229. 85. Ibid.
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derniers livres de l’Enéide veröffentlicht hatte, wurde klar, dass die Literatur wie die Ästhetik in der Betrachtung der Ruinen und einer verschwundenen Vergangenheit, die doch im Vergleich mit einer mittelmässigen Wirklichkeit immer bewundert worden war, einen Ausgangspunkt für eine Rekonstituierung der Werte gefunden hatte, die sowohl dem Literaten als auch dem Historiker neue Horizonte eröffnen konnten. Bonstetten ist beispielhaft für dieses Nachdenken über die Ordnung der Künste und der literarischen Gattungen. Er bedient sich nicht mehr der Vergleichsschemata, die die Griechen den Römern entgegensetzen. Er spricht allgemein von der Poesie der »anciens«,86 ohne an der strikten Unterscheidung der beiden Kulturen festzuhalten. Und diese Ansicht führt zu einem Vergleich der beiden antiken Kulturen, der keine Wertung mehr enthält. Bei den Griechen ebenso wie bei Plinius und Vitruv findet Bonstetten die Erkenntnis des Wahren, die aus der Vereinigung der Dichtung und der Geschichte resultiert.87 Im Zentrum seiner Ausführungen steht der Versuch, »la ligne de séparation« verschwinden zu lassen. Diese nämlich, so sagt er, »nous autres modernes avons tracée entre la fiction et la vérité«.88 Neben Homer und Ossian führt Vergil das in die Poesie ein, was Bonstetten »la magie« nennt, die Fähigkeit, »[d’]agrandir son sujet«.89 Der »poète historien« bewahrt einen historischen Kern, der durch die Magie der Dichtung Vergils wahrscheinlich wird. Bonstettens Reise wird so zur Demonstration der Zusammenhänge zwischen Poesie und Geschichte; auf jeder Etappe seiner Reise durch Italien sieht er ihn bestätigt. Es geht nicht mehr um den Bruch der römischen mit der griechischen Tradition, sondern vielmehr darum, die Qualitäten der lateinischen Poesie herauszuarbeiten, die nach Bonstettens Ansicht die wesentlichen Werte der griechischen Poesie zu bewahren wusste. Dennoch macht Bonstetten eine historische Unterscheidung zwischen der griechischen und der römischen Welt. Die Griechen gaben den Römern das Genie, das sie zur ersten Nation der Welt machte.90 Rom ist eine Welt, die im Begriff ist, zum Massstab der Kultur91 zu werden. Bonstetten bietet seinen Lesern eine Chronologie der Literatur und der Zivilisation Roms, die von der »simplicité des mœurs« zum »excès de population«,92 von einem »peuple pasteur et agricole«, das Vergil beschreibt, zu einer »Rome ambitieuse et guerrière«93 voranschreitet. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bildete sich so eine neue Ästhetik heraus, in der Rom eine entscheidende Rolle spielte. Gewiss war der antike Staat zuerst Gegenstand
86. Bonstetten, Charles Victor de, Voyage sur la scène des six derniers livres de l’Enéide, Lausanne 1971, S. 13. 87. Ibid., S. 12. 88. Ibid., S. 17. 89. Ibid., S. 22–24. 90. Ibid., S. 167. 91. Ibid., S. 168. 92. Ibid., S. 162. Seit 1761 macht Lacombe in Le Spectacle des Beaux Arts (Paris, S. 56) eine Unterscheidung zwischen »le succès des armes« und der Bestimmung der »lois du beau«, die den »pouvoir des Grecs et de l’empire de Rome« versichern, die so »plus universels, plus absolus, plus grands« waren. Neben den politischen Kämpfen, dem Fall Roms gibt es die Ewigkeit einer Ästhetik, die schwerlich das römische Schaffen von dem griechischen Einfluss trennen lässt. Die Versuche einiger verlängern sich bei anderen. Rom und Griechenland haben so eine ästhetische Ewigkeit erreicht. 93. Rehm, Walther, Griechentum und Goethezeit, op. cit., S. 27.
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historischer Überlegungen. Aber es zeigte sich auch eine andere Sicht der römischen Welt. Die Kritiker und Autoren sahen den Stellenwert der römischen Kultur und Denkweise so an, dass sie nicht einfach Widerschein der griechischen Welt (wie bei Winckelmann) war. Der Autor der Gedanken über die Nachahmung der griechischen Antike in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) entwickelt den Nachahmungsbegriff am griechischen Modell, und 1764 (in der Geschichte der Kunst des Altertums) wird er sogar so weit gehen zu behaupten, dass die Existenz eines römischen Stils nichts anderes als Einbildung sei.94 Aber Winckelmanns Haltung ist eine unter zahlreichen komplexen Reaktionen, die am Ende des Jahrhunderts die aufmerksame Prüfung der Kultur der römischen Welt bewirkten. Für die Übersetzung der Odyssee (1781) und der Illiade (1793) durch Johann Friedrich Voss (1751–1826) ist etwa die Bewunderung Homers offensichtlich, unter der die Reflexion, die sich in der grossen Debatte über die Sensibilität Vergils entwickelt hatte, leidet. Lessing (1729–1781) übernimmt in Laokoon oder die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) die Verteidigung Vergils. Er kritisiert die Ansicht, die Winckelmann (1717–1768) in den Gedanken (1755) ausgesprochen hatte. Er erinnert an die Regeln »edele Einfalt und stille Grösse«,95 im Namen derer Winckelmann Vergil seine Beschreibung der Schmerzen vorgeworfen hat: Clamores simul horrendes ad sidera tollit. (Äneis II, Vers 222)
Für Winckelmann ist die Darstellung des Laokoon in der Skulptur ganz anders als die der Dichtung: Er erhebt kein schreckliches Geschrei, wie Virgil von seinem Laokoon singet.96
Für Lessing gibt es keinen Zweifel: er wendet sich gegen die Ineinssetzung der bildenden Künste und der Poesie. Seine Analyse sollte zahlreiche Reaktionen bei den Zeitgenossen hervorrufen. In Kritische Wälder (1768) spricht Herder (1744–1803) — sicherlich hinsichtlich Vergil — vom »Homer der Römer«.97 Aber als Reaktion auf den Essay on Criticism (1711) von Pope unterstreicht er den unnachahmlichen Charakter dessen, was ihm der »Naturgesang« des griechischen Dichters zu sein scheint.98 Die griechische Kunst sei der Natur nah. Herders Diskussion leitet auf sein organisches Konzept der Geschichte und der Entwicklung der Poesie hin. Der Idee der »Schönheit«, die Lessing als fundamentales Prinzip der bildenden Künste der Antike galt, setzt Herder die — griechische — Natürlichkeit der Kunst entgegen.99 Diese Diskussion sollte weitreichende Folgen haben. In Ardinghello und die glücklichen Inseln (1787) greift Johann Jakob Heinse (1746–1803) Lessings Stellungnahmen an. Er glaubte, Lessing habe sich zu sehr auf das Feld der Dichtung beschränkt und nennt als Beispiel die
94. Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: Lessing, Werke, Herbert G. Göpfert (ed.), Bd. 6: Kunsttheoretische Schriften, München 1974, S. 7–187, S. 12. 95. Ibid., S. 12 96. Ibid., S. 42. 97. Herder, Johann Gottfried Kritische Wälder, in: Ders., Sämtliche Werke, Suphan, Bernhard 8 (ed.), Nachdruck der Ausgabe von 1877, Bd. 3, S. 1–188, Berlin 1990, S. 68. 98. Herder, J. F., Fragmente über die Bildung einer Sprache, in: ders., Werke, op. cit., Bd. 1: Über die Neuere deutsche Literatur III, S. 169. 99. Herder, Sämtliche Werke, op. cit., Bd. 1: Von den Lebensaltern einer Sprache, S. 151–240, S. 173–174
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Géorgiques.100 Doch man darf nicht vergessen, dass Vergil vielen deutschen Autoren durchaus nicht als Dichter galt, der mit Homer hätte konkurrieren können. In seinem Essay über das Pathetische, der 1793 und 1794 in Neue Thalia erschien, sieht Schiller (1759–1805) in der Passage der Äneis »bloss Nebenwerk«. Was Goethe (1749–1832) betrifft, so trägt er sein Urteil über die lateinische Poesie überzeugt vor. In dem Artikel Über Laokoon,101 der 1798 in den Propyläen erschien, kommt Goethe zurück auf die Beziehungen zwischen den bildenden Künsten und der Dichtung, so wie Lessing sie analysiert hatte. Er gibt eine eigene Erklärung von Vergils Ton: Der Dichter wolle die Gründe, die zum Einzug des hölzernen Pferdes in Troia führten, anführen. Die Laokoon-Passage sei, so Goethe, »ein rhetorisches Argument«. Das Ereignis sei nicht mehr »poetischer Gegenstand«, wie Lessing meinte.102 Daher wird Lessings Analyse der Enéide zweitrangig. Es zählt allein die »Wahrheit als oberstes Kunstprinzip der Griechen«.103 Am Ende des 18. Jahrhunderts verfeinern sich die Überlegungen zur römischen Kunst. Die Diskussionen — insbesondere diejenigen über den Stellenwert Vergils — blieben nicht mehr im gewohnten engen Rahmen der historischen Schemata. Man muss die Debatte im Zusammenhang mit dem Versuch verstehen, eine neue Ansicht der künstlerischen und literarischen Regeln zu gewinnen. In der Italienischen Reise wird Goethe die Spuren dieser Diskussion über den Platz Roms und der lateinischen Literatur im Erbe der Antike bewahren. Die Reise, begonnen im September 1786, endete im April 1788. Die endgültige Version des Journal liegt jedoch erst 1814–1816 vor. Zudem wurden dem ursprünglichen Text des Journal 1829 ergänzende Episoden hinzugefügt. Stets beginnt Goethe mit der Untersuchung einer Kultur und stets verliert die moralische und politische Utopie in seinen Äusserungen an Bedeutung, wenn man sich damit begnügt, Goethes Aussagen denen Montesquieus oder Voltaires anzunähern. Es ist ein Vers Vergils, der die Beschreibung des Sees nach dem Besuch in Tivoli erhöht.104 Das Schauspiel der Ruinen ist genau das, so Goethe, was die Reisenden anzieht.105 Goethe urteilt: »Wie doch eine solche heroische Darstellung den reinen Menschen Göttern ähnlich macht.«106 Aber diese Kunst ist nicht römisch. Diese Werke sind »aus der besten griechischen Zeit«. Das scheint Goethe nicht zu stören. Er ruft aus, er sei endlich in der »Hauptstadt der Welt«.107 Das, was das zauberhafte Rom vergangener Zeiten von einer gewöhnlichen modernen Stadt unterschied, findet keinen Platz in seinen Anmerkungen. Die Jahrhunderte vermischen sich, ohne dass Goethe die grossen Unterschiede zwischen den beiden Gesichtern dieser Stadt nennen würde. Aber die
100. Jessen, Karl Detlev, Heinses Stellung zur bildenden Kunst und ihrer Ästhetik, Berlin 1901, S. 86. 101. Goethe, Werke, München, Bd. 12, S. 601. 102. Ibid., S. 66. / Ibid., S. 597. 103. Ibid., Italienische Reise, Bd. 11, S. 597 104. Ibid., S. 11. 105. Ibid., S. 167. Goethe war nur von Januar bis April 1788 in Rom. 106. Ibid., S. 125. 107. Ibid., S. 147
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Anspielung auf Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums (1764) am 3. Dezember 1786 ist verbunden mit einem Geständnis: Auch die römischen Altertümer fangen mich an zu freuen. Geschichte, Inschriften, Münzen, von denen ich sonst nichts wissen möchte, alles drängt sich heran.108
Es gibt also keinen Zweifel daran, dass Goethe der römischen Kunst im allgemeinen nicht den Stellenwert der griechischen Kunst gewährt. Rom ist vor allem die Gegenwart, die mit einer gewissen Geringschätzung bedacht wird, und dann das, was man sehr wohl ein zweites Griechenland nennen müsste. Es reicht übrigens, sich an eine Bemerkung in Geschichte der Farbenlehre (1805–1806) zu erinnern, um Goethes Urteil über das antike Rom zusammenzufassen. In seinen Augen waren die Römer »aus einem engen, sittlichen, bequemen, behaglichen, bürgerlichen Zustand zur grossen Breite der Weltherrschaft gelangt«, ohne, fügt Goethe hinzu, ihre geistige »Beschränktheit«109 abzulegen. Und er gibt eine kuriose Interpretation des Todes von Caesar eines Todes, der das 18. Jahrhundert sehr beschäftigte. Seiner Ansicht nach ist es die »abgeschmackteste Tat, die jemals begangen worden ist«. Sie resultiert aus der Tatsache, dass die besten unter den Römern niemals verstanden haben, was regieren bedeutet: Sie waren Könige geworden und wollten nach wie vor Hausväter, Gatten, Freunde bleiben.110
Die Geschichte Roms gleicht einer bürgerlichen Komödie, deren Handlung eine Situation, die an sich »albern« ist, besser verstehen läßt.111 Hier variiert Goethes Meinung, und aufschlussreich sind seine Bemerkungen von 1822 anlässlich Knebels Lukrez-Übersetzung zwischen 1816 und 1821: Goethe spricht von der »alten, tüchtigen, barschen Roheit«112 der Römer. Wie Diderot räumt er »Seneca, der ein so bedeutendes Leben geführt« hat,113 eine Ausnahmestellung ein. Aber die Distanz zwischen der Realität und der Kunst, zwischen dem Nachdenken über die Antike und das Leben im modernen Rom ist in diesen milden Urteilen oft latent. Roland Mercier hat in Zusammenhang mit Madame de Staël bemerkt, es scheine, die Römer hätten ihr das Vergnügen der heiteren Betrachtung verdorben.114 Es ist leicht, dieselbe Haltung beim Präsidenten De Brosses wiederzufinden. Er meint, Rom sei auf hässlichem Terrain erbaut115 und zögert doch nicht, die Grösse der Unternehmungen des römischen Volkes hervorzuheben. Mit Goethe wird das Interesse am modernen Rom zweitrangig. Rom wird zur Verlängerung der griechischen Tradition. Man interessiert sich für das Schöne und nicht für die Banalität des Alltags. In seinem Essay über Winckelmann und sein Jahrhundert (1805) spricht Goethe vom Schicksal der Alten. Er fügt sofort hinzu, dass es sich besonders um »die Griechen in ihrer
108. Ibid., Werke, Bd. 14, S. 45. 109. Ibid. 110. Ibid., S. 45. 111. Ibid., Werke, Bd. 12, S. 306. 112. Ibid. 113. Ibid., Bd. 14, S. 45 114. Mercier, op. cit., S. 199. 115. De Brosses, op. cit., S. 199.
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besten Zeit«116 handelt. Er sieht Rom als »Ort, in dem sich (…) das ganze Altertum in Eins zusammenzieht«.117 Athen und Rom zu verwechseln ist möglich, wenn man Rom nur als den Widerschein der griechischen Kultur begreift. Die Antike erscheint Goethe nur »aus der Ferne, […] nur als vergangen«.118 Und eines ist sicher: Möge das Studium der griechischen und römischen Literatur immerfort die Basis der höheren Bildung bleiben!119
Goethes Urteil über Horaz ist klar. Er schätzt Wielands Horaz-Übersetzung (1733–1813) (1782 der Epîtres und 1786 der Satires). Hierin stimmt er mit Friedrich von Hagedorns (1708–1754) ein Jahr zuvor ausgesprochenen Meinung überein. Hagedorn hatte in seinen Sammlungen von Oden und Liedern (1742, 1744, 1747) ein Lob auf Horaz’ zarte, persönliche Poesie120 und »natürliche Einfalt«121 gesungen. In der Sammlung seiner Werke von 1754 gibt auch Herder eine Abhandlung heraus, die das Werk des Horaz rehabilitieren soll (Rettungen des Horaz). Er weist auf dessen Verbindung des »Witzes« mit dem Verstand hin.122 Dabei vergisst er nicht, dass Horaz vor allem der »poète de l’amour«123 ist. Goethe seinerseits vergleicht Horaz mit Hafis. Goethes Position bezeichnet eine wichtige Etappe in der veränderten Ansicht von der römischen Welt am Ende des 18. Jahrhunderts. Vornehmlich politischen Zugängen folgten solche, die sich nur im Zusammenhang mit einem Bemühen um die Neubestimmung der Regeln der Kunst verstehen lassen. Der Ruinenkult hatte eine Welle enthusiastischer Bewunderung für eine untergegangene Zivilisation bewirkt. Es ging nicht einfach darum, deren Ideen wiederaufleben zu lassen. Während Brutus ein politisches Modell geworden ist, dient die römische Antike, so wie sie Goethe sieht, dem tieferen Verständnis der Kunst und der Literatur. Die Bemerkungen Goethes über die Imitation und den Stil in seinem Versuch über Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil (1789) sind ebensosehr Anmerkungen zum Übergang von der einfachen Beobachtung der historischen Wirklichkeit zur Bestimmung literarischer Regeln. Es ist wesentlich, im Bewusstsein der eigenen Distanz zu jener unvergleichlichen Vergangenheit den »stilus sublimus«124 zu entdecken, bis zum »Wesen der Dinge«125 vorzudringen und so Werte zu entwickeln, die die künstlerische und literarische Produktion leiten. Aus der Distanz gegenüber der rein historischen Evokation eines antiken Roms entsteht so artistische Tiefe. Natürlich ist die Nachahmung nicht vom Stil zu trennen — wie Einfache Nachahmung der Natur,
116. Goethe, op. cit., Bd. 12, S. 98. 117. Ibid., S. 108. 118. Ibid., S. 109. 119. Ibid., S. 505. 120. Klein, Alfons, Die Lust, den Alten nachzustreben, St. Ingbert 1990, S. 179. 121. Ibid., S. 100. 122. Herder, Sämtliche Werke, op. cit., Bd. 5, S. 273. 123. Ibid., S. 283. 124. Goethe, Werke, Bd. 12, S. 586. 125. Ibid., Bd. 12: Schriften zur Kunst; »Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil« (1789), S. 30–34, S. 32.
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Manier, Stil bestätigt. Dennoch ist sie ein wichtiges Element der Integration des antiken Schönen in das künstlerische Schaffen der Moderne.
Eine Ästhetik der Innerlichkeit Was zur Betrachtung der Ästhetik im allgemeinen wurde, lässt sich nicht von einer immer stärker verinnerlichten Vision der römischen Welt trennen. Zu der Distanz, die die Definition des Schönen bewirkt, tritt eine aufmerksame Prüfung der grossen Themen, die die Debatten des 18. Jahrhunderts über die Latinität beherrscht hatten. Die Ruinen faszinieren auch die, die erst am Beginn des 19. Jahrhunderts Italien bereisen. Madame de Staël (1766–1817) stellt dem französischen Publikum mit Corinne (1807) eine Beschreibung Roms vor, die nicht mehr einfach ein Bericht über eine Reise durch antike Ruinen ist. Sie hatte seit 1798 verstanden, ihre Position gegenüber ideologischen Konstruktionen zu präzisieren, die eine Lehre aus der römischen Geschichte hatten gewinnen wollen. In Des circonstances actuelles qui peuvent terminer la révolution et des principes qui doivent fonder la République en France stützt sich Madame de Staël auf die von Macchiavelli in den Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (1531) entwickelten Konzepte. Sie hebt hervor, was Macchiavelli eine der wichtigsten Bedingungen einer jeden Demokratie, sei sie alt oder modern, zu sein schien: In seinen Augen hatten die Streitigkeiten zwischen dem römischen Senat und dem Volk »la liberté de Rome«126 geschaffen. Denn »c’est un balance des pouvoirs que l’opposition des partis«,127 die dafür sorgt, dass das allgemeine Wahlrecht des Volkes die Grundlage aller alten Republiken (und auch der römischen) ist. Doch Madame de Staël macht hier keine Unterscheidung zwischen den unterschiedlichen Etappen der politischen Entwicklung des römischen Staates. In ihrer Analyse der Histoire de la République romaine ou plan de l’ancien gouvernement de Rome (1766) von Louis de Beaufort unterstreicht sie, dass die Senatoren vom Volk gewählt wurden und dass ein Volk, das erobern will,128 d.h. das eine imperialistische Sicht auf die Welt hat, eine sehr starke Exekutive braucht. Für Madame de Staël übt der römische Senat diese Rolle aus. Sie resümiert die Situation: Ainsi, Rome république avait pour empire l’Univers.129
Als Frankreich sich bemühte, nach Kämpfen und Unruhen eine gewisse politische Stabilität wiederzufinden, da beschrieb Madame de Staël das Gleichgewicht der Mächte, das dem Volk die Kontrolle der Exekutive und dem Senat die Macht gab, die Roms Einfluss auf grosse Teile der Welt sicherte. Welch schönes Beispiel imperialer Politik! Gewiss ist die »vie de la
126. Madame de Staël, Des circonstances actuelles qui peuvent terminer la révolution et des principes qui doivent fonder la République en France, Paris / Genf 1979, S. 382. 127. Ibid. 128. Ibid., S. 388. 129. Ibid., S. 159.
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démocratie«130 gemacht, um auf die Wünsche und die Vorstellungen des Volkes Rücksicht zu nehmen. Doch zweifelsohne richtet man Frankreich mit gewissen Merkmalen der Geschichte Roms zugrunde. Denn die Franzosen sind eine »association de trente millions d’hommes«.131 Eine Vermischung der Form zweier Staaten von so unterschiedlicher Dimension verbietet sich. Die politische Konzeption von Madame de Staël macht aus Rom ein Regime, in dem der Republik die Rolle des Idealstaats im Gleichgewicht der Mächte zukommt. Doch ist die Idee der Republik nicht klar von der des »Empire« unterschieden. Rom ist ein Traum, der gegenwärtige Realität geworden ist. In Corinne, geschrieben während des Winters 1794–1795, beschreibt Madame de Staël das echte Rom jenseits der politischen Utopie. Sie macht melancholische Anmerkungen über die antiken Ruinen. Sie unterstreicht, dass Rom zunächst »fut reine par la liberté«132 und dass die Invasion der Barbaren die Welt verfinsterte, als diese Italien vernichteten.133 In diesem Zusammenhang erinnert Madame de Staël daran, dass Rom die Welt unterworfen habe.134 Dann kommt, was nicht fehlen durfte: das Lob des Senats, der »l’objet des respects de l’univers«135 ist. Denn die römische Republik repräsentiert de Staëls Meinung nach »l’esprit sévère de l’Antiquité«.136 Aus dieser Perspektive heraus lässt sich die Geschichte Roms in vier Zeitabschnitte einteilen: »les temps héroïques représentés par les Dioscures, la république par les lions, les guerres civiles par Marius, et les beaux temps de empereurs par Marc-Aurèle«.137 Alles lässt sich in einem Satz zusammenfassen, der die mutigen und freien Völker beschreibt, die die Aufmerksamkeit der Nachwelt auf sich ziehen.138 Nach dieser Klassifizierung der Epochen der römischen Zivilisation sucht de Staël einen Begriff des römischen Ideals zu entwickeln, das den gewöhnlichen politischen Rahmen überschreitet. Sie setzt die Architektur, die wie die Kunst die Grösse Roms verkörpert, an die erste Stelle: »magnificence colossale de l’architecture«.139 In der Architektur bemerkt sie den Wesensunterschied der griechischen und der römischen Welt: letztere ist diejenige Form der Kunst, die Ausdruck des Mutes ist, die für De Staël eine Nuance der Grösse war: »ce n’était plus la liberté, mais c’était tojours la puissance«.140 Dort sei die Originalität des römischen Ideals zu suchen. Griechenland ist reine Freiheit, Reich der Imagination. Rom ist Macht, Kraft und Ver-
130. Ibid., S. 167. 131. Ibid. 132. ———, Corinne, Paris 1985, S. 58. 133. Ibid., S. 60. 134. Ibid. 135. Ibid., S. 108. 136. Ibid., S. 109. 137. Ibid., S. 109. 138. Ibid., S. 112. 139. Ibid., S. 121. 140. Ibid.
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körperung der »vertus austères« der Republik.141 Aus der historischen Entwicklung bestätigt sich so die römische Grösse, die vor allem in der Fähigkeit besteht, beinahe der gesamten Nation einen Staat aufzuzwingen, der sich in masslosen Festen und den Spielen in der Arena wiederfindet, die die Menschen im blossen Vergnügen142 vereint. Madame de Staël begnügt sich nicht damit, die römische Vergangenheit jenseits der gesellschaftlichen Realität zu betrachten; vielmehr erkennt sie in ihr den Widerschein der Gefühle und Sorgen der Menschen am Ende der französischen Revolution. Rom ist ihr ein Bild dessen, was die Gesellschaft am Ende des Jahrhunderts sein könne. Was Theorie war, wurde so zur künstlerischen, literarischen und politischen Realität der modernen Welt: Das alte Universum empfand man als Teil der Lebenswirklichkeit. Es ist kein Zufall, dass Bonstetten von Vergils Wahrhaftigkeit sprach.143 In seinem Brief an Fontanes vom 10. Januar 1804 fühlt Chateaubriand (1768–1848) genauso: »La campagne de Rome« ist »un terrain inculte«,144 dem dennoch Spuren eines Bildes von Claude Lorrain145 anhaften. Keines der Bilder, die sich die Schriftsteller und Denker am Anfang des 19. Jahrhunderts von Rom machen, kommt ohne diesen Schritt zum Ideal aus, das allein der Nachahmung wert ist. Gewiss kannte man auch die verbreiteten Ansichten über das klassische Schöne, aber vor allem zählte die unmittelbare Empfindung. Rom war ein erlebter Moment, lebendige Realität. Hierin folgt Chateaubriand den Ansichten vom Ende des 18. Jahrhunderts (die sich für das alte Rom und seine Überreste als vernichtend erwiesen hatten).146 Aber Chateaubriands Anmerkungen zu Tivoli und die Villa Adriana führen zu originären Schlüssen. Für ihn bestand das römische Leben, wie es Cicero kannte, aus »recueillement«, »gravité«, »silence« — und den »monuments d’orgueil«, die allein der menschlichen Eitelkeit dienten. Aus dem Gegensatz zwischen dem »recueillement« und Eitelkeit der Macht entsteht eine Ästhetik des Schönen (in der Skulptur), die so mit den Gewohnheiten und Sitten der »anciens«, mit den »poses tranquilles«, mit der »physionomie sérieuse du Grec et du Romain«147 korrespondiert. In seinem Brief an M. de Fontanes fasst Chateaubriand seine Haltung zusammen: Tantôt j’admirais, tantôt je détestais la grandeur romaine, tantôt je pensais aux vertus, tantôt aux vices de ce propriétaire du monde.148
Hiergegen steht eine Welt der Stille, die die des Greisenalters ist. Augustus überlebte eine Literatur des Reichtums (Horaz, Tibull, Titus-Livius, Vergil),149 »pour s’assurer qu’il ne
141. Ibid., S. 139. 142. Ibid., S. 121. 143. Bonstetten, Victor de, op. cit., S. 18. 144. Chateaubriand, Œuvres romanesque et voyages, Paris 1969, Bd. 2, S. 1477. 145. Ibid., S. 1479. 146. Motier, Roland, op. cit., S. 174. 147. Chateaubriand, op. cit., S. 1447–1448 (Voyage en Italie). 148. Ibid., S. 1485 (An M. de Fontanes, 10. Januar 1804). 149. Ibid., S. 1487.
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restait rien après lui«: Das Leben ist dann »le songe d’une ombre«.150 Das Bild einer verfallenen Macht, die in der Würde der Einsamkeit untergeht, das ist das antike Rom.151 Die Ästhetik des Lebens wird zu derjenigen der Ruinen, die in den Augen Chateaubriands allein die Malerei retten kann, indem sie zeigt, wie die Bewohner des Olymp unter dem »ciel mythologique«152 erscheinen. Denn die »terre virgilienne« ist »un spectacle magnifique«. Daher der Hinweis auf Cicero (»cole in ista luce vive«) und zugleich auf Poussin und »cette terre des beaux paysages«.153 Die römische Schönheit lebt in der Malerei, sie existiert nur im Überfluss der Linien und Farben, die das, was nicht mehr als Greisentum und »ombre«, »solitude« und »songe« war, überleben lässt. Wie Cabanis 1807 in einem Brief154 an Thurot über die Gedichte Homers zeigte, folgt auf die »généralisation« eine »méthode de particularisation«, in der es die Phantasie ist, die sich an Zugängen erfreut, die aus den unzusammenhängenden Merkmalen der Natur eine geordnete Einheit bilden. Diese Aktualisierung des antiken Roms schliesst nicht eine theoretische Überlegung über den Platz aus, den Rom in einem Jahrhundert hatte, das sich dem Christentum zuneigt. Was erlebte Erfahrung ist, tritt dann in den Hintergrund. Denn das gesuchte Ziel ist ein anderes. Seit seinem Essai sur les Revolutions (1797) bemüht sich Chateaubriand darum, eine persönliche Interpretation der römischen Dekadenz zu liefern. Die historische Zusammenfassung ist einfach, geradezu banal: »Les Caton, les Brutus en (de la religion) pratiquèrent les vertus; les Lucrèce, les Cicéron en développèrent les principes; et les Tibère et les Néron les vices«.155 Auch die Literatur ist dieser Entwicklung unterworfen. Das unheilvolle Rom steht im Unrecht,156 wie es in Le Génie du christianisme (1808) beschrieben ist. Zwischen dem antiken Griechenland und Rom, dem Staat, in dem die Religion den »vices« unterliegt, besteht ein Unterschied an Reichtum, ein Ekel an den Künsten. Dieses Urteil betrifft selbst Vergil. Chateaubriand schätzte Vergils Landschaftsbeschreibungen. Er respektiert das Urteil des Abbé Du Bos, der in seinen Réflexions sur la poésie et la peinture(1770)157 bestätigt, dass »Virgile s’est pour ainsi dire acquis à bon titre la propriété de toutes les idées qu’il a prises dans Homère.« Für Chateaubriand gibt es dennoch einen grossen Unterschied zwischen der Zeit Vergils und Homers: »au siècle du premier, tous les arts, même celui d’aimer, avaient acquis plus de perfection«.158 Aber mit der Dekadenz der Religion geht eine Schwächung des »naïf«, der wichtigsten Tugenden der griechischen Zivilisation, einher.
150. Ibid., S. 1484. 151. Ibid., S. 1477. 152. Ibid., S. 1479. 153. Ibid., S. 1480. 154. Becq, Annie, »Esthétique et politique sous le consulat et l’Empire: la notion de beau idéal«, in: Romantisme 1986 / 1, S. 35. 155. Chateaubriand, Essai sur les révolutions. Génie du Christianisme, Paris 1978, S. 383. 156. Ibid., S. 927. 157. Ibid., S. 1749 (die Texte des Abbé Du Bos sind auf 1770 datiert). 158. Ibid., S. 638.
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Chateaubriand neigt dazu, in der antiken Welt eine Entwicklung zu sehen, die zur einfachen Demonstration der absoluten Überlegenheit des Christentums über das Heidentum führen musste. Im Heidentum besitzt die Tugend keinen Platz. Daher geht Chateaubriand auf Abstand vom Leben Roms — wie übrigens auch Stendhal (1783–1842), der auf ein historisches Exposé verzichtete und Rom als eine der »civilisations« beschrieb, die die Schönheit schufen und dann verschwanden.159 Einerseits bedenkt Stendhal mit Missfallen »le pathos de Corinne«160 mit seinen »idées communes« und seinen »sentiments visiblement exagérés par celui qui sent«.161 Nicht bereit, diese »exagération« hinzunehmen, wünscht sich Stendhal vor allem mittels der Beschreibung des Kolosseums, den »dernier reste encore vivant du peus grand peuple du monde« lebendig zu machen. Die Einwände hinsichtlich des wenig tugendhaften Charakters des imperialistischen Roms beseitigt er kurzerhand: On peut faire aux Romains la même objection qu’à Napoléon. Ils furent criminels quelquefois, mais jamais l’homme n’a été plus Grand.162
Denn zwei Empfindungen liegen in Stendhals Bewunderung für das antike Rom. Das erste gilt der Entdeckung ihrer Unvergleichlichkeit, die doch ausser Reichweite der Gegenwart liegt: Les civilisations qui ont créé cette beauté sont disparues163
Es geht hier nicht um Ruinen als Dekor, sondern sie vermögen Erinnerungen zu wecken, die die »âmes généreuses« ergreifen können. Natürlich ist die römische Vergangenheit vergangen. Die Kunst, das Kolosseum sind dazu da, »émotions« hervorzurufen, um das zweite Gefühl zu wecken: den Sinn für das »sublime«, für die Gegenwart des Untergegangenen, für den Reichtum der Antike, der die menschliche Seele erhebt: Le Colisée est sublime pour nous, parce que c’est un vestige vivant de ces Romains dont l’histoire a occupé toute nature enfance.164
Was bei Madame de Staël als Widerschein einer undefinierbaren Melancholie erscheint, wird bei Stendhal zur Motivation einer Grösse, deren Quellen der persönliche Antrieb, die Erinnerung an Kindheitsträume sind, die ein Universum eröffnen, in dem der »plaisir« seinen Platz und seine Rechtfertigung hat: Florus et Tite-Live nous ont raconté des batailles célèbres, et, à huit ans, quelle idée ne se faiton pas d’une bataille! C’est alors que l’imagination est fantastique, et les images qu’elle trace immenses.165
159. Stendhal, Voyage en Italie, Paris 1973, S. 611. 160. Ibid. 161. Ibid., S. 1620 (Journal vom 9. März 1811). 162. Ibid., S. 611. 163. Ibid., S. 617. 164. Ibid., S. 617. 165. Ibid., S. 618–619.
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Die »rêverie de Rome«166 ist Freude. Sie erlaubt es, der »froide expérience«, den »intérêts de la vie active«167 zu entkommen. Sie ist die »art de penser et de découvrir la vérité dans les matières difficiles«.168 So können Werte entdeckt werden, die vor allem Quellen des persönlichen Enthusiasmus sind. Das klassische Ideal ist also Fragment einer menschlichen Realität und nicht mehr der blosse Versuch, die antike Vergangenheit wiederzufinden, selbst wenn dieser zuerst französische Versuch sicherlich nicht bestimmte Vorbehalte in den Hintergrund rücken lässt. Diese Vorbehalte bleiben politisch und stammen von den aktuellen politischen Feinden, die die gesamte französische politische Erfahrung am Anfang des Jahrhunderts verdammen. Der englische Autor Samuel Taylor Coleridge (1772–1834) bemüht sich in Comparison of the Present State of France with that of Rome under Julius and Augustus (1802)169 zurecht darum, zu konkreten Tatsachen zurückzukehren und das Reich Napoleons mit dem Caesars und Augustus’ zu vergleichen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass das gewaltige Projekt, den französischen Staat als Fortsetzung des römischen Imperiums zu begreifen, ein Irrtum sei, dass die Dauer des napoleonischen Regimes kurz sein werde. Von jenseits des Ärmelkanals vernahm am Anfang des 19. Jahrhunderts Coleridge nur eine Nachricht: die Ablehnung jeder Illusion über den Gang der Moral und der Politik. Aber es gab in Europa andere bedeutende Strömungen. Man unternahm alles, um eine literarische Überlegung im Geiste Chateaubriands in eine politische Perspektive zu integrieren. Mit »amour« entdeckte auch Humboldt (1767–1835) Rom. Zu seinem wissenschaftlichen Standpunkt tritt eine subjektive Sicht des Realen, die ihren Widerschein in den Gedichten und besonders in Elegie findet. Er schrieb sie nicht nur Anfang 1802 und im Februar und März 1806 in Rom, sondern sie trägt zudem den Titel der Stadt: Rom.170 Mit ihr mischte er sich in die Diskussion ein, die A. W. Schlegel (1767–1845) ausgelöst hatte. Schlegel hatte selbst eine römische Elegie anlässlich einer Reise nach Rom 1794 in Begleitung von Madame de Staël171 geschrieben. In einem an Goethe gerichteten Brief vom 2. April 1806 führt Humboldt genauer aus, dass seine Elegie nicht vor allem eine literarische Schrift sei, sondern sehr wohl das Resultat einer Überlegung, die »Summen alles Lebens und aller Geschichte« so zusammenzufassen, dass sie »auf den ganzen und tiefsten Menschen«172 wirken. In einem Brief an Caroline von Wolzogen vom 23. Juli 1806173 fügt er hinzu, dass diese Elegie ihn als literarisches Werk kaum befriedige. Aber sie sei Ausdruck einer idealen Sicht Roms, einer Sicht, in der der Eindruck eines Augenblicks vorherrsche:
166. Ibid., S. 619. 167. Ibid. 168. Ibid. 169. Coleridge, Samuel Taylor, The collected Work of Samuel Taylor Colderidge. Essays on His times in »The Morning Post« und »The Courier«, London 1978, S. 311–339. 170. Humboldt, Wilhelm von, Kleine Schriften, Autobiographisches, Dichtungen, Briefe, Stuttgart 1984, S. 654. 171. Ibid. 172. Ibid., S. 655 (»[…] als einen Punkt, der wie durch ein Wunder, die Summen alles Lebens und aller Geschichte an der Stirne trägt, und […] auf den ganzen und tiefsten Menschen wirkt.«). 173. Ibid.
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Die Elegie unterscheidet sich also von einer Ruinenbeschreibung. Sie entdeckt ein Universum, inmitten dessen sich »l’unité du destin d’Athènes et de Rom«175 bestätigt. Winckelmanns Ideen hatten zum Teil ihren Wert verloren, da die Originalität der römischen Welt sich aus der Bereicherung am Fremden, aus der persönlichen Beziehung zur Vergangenheit und deren künstlerischem Ruhm erklärt. Was Wilhelm Humboldt hervorhebt, findet sich bei Friedrich Schlegel (1772–1829) wieder, der in den Kritische Fragmente176 schon 1797 unterstreicht, dass die »Römer uns näher und begreiflicher als die Griechen« sind. Er präzisiert, dass das Interesse für die Römer weniger gross ist als das für die Griechen. Denn es gebe weniger »synthetische« als »analytische Naturen«.177 Und es sei üblich, aus der römischen Satire die literarische Form zu machen, die zur »klassischen Universalpoesie«178 gehört. An der Spitze der römischen Literatur finden sich also Horaz’ Satires mit ihrer Urbanität. Die geht auf die Satiren und Cicero zurück. Aus ihm macht Schlegel »einen grossen Virtuosen der Urbanität«, der die Tugenden der ersten Römer und den Reichtum der »festivités romaines«179 vereinigte. Schlegel kritisiert Gibbon, der in den Römern nur »die materielle Pracht« gesehen habe, ohne sich um die Urbanität zu kümmern, die Ausdruck des römischen Genies ist.180 Die Satire definiert sich also in der Tradition der sentimentalen Poesie so, wie sie Friedrich Schiller definiert hat, d.h. als Ausdruck des Kontrastes zwischen Wunsch und Wirklichkeit.181 Daher stammen die Beschreibungen einer intellektuellen Entwicklung in der römischen Welt, von der »Festivität«, dem schönen Glanze der Dinge und den moralischen Spielen hin zur »treuen Nachahmung roher Natur«.182 Es handelt sich um »unbefangene Natürlichkeit, liberale Menschlichkeit und republikanische Offenheit«.183 Angesichts des goldenen griechischen Zeitalters kann allein Horaz einigermassen über das Verschwinden der grossen griechischen Dichter hinwegtrösten. Denn er rühmt das Empfinden für das Schöne.184 So seien seine Odes von einer »schönen lyrischen Moralität«.185 Vergil habe, so Schlegel, lediglich ein Gedicht komponiert, in dem die Arbeit mehr als »lebendige Organisation und schöne Harmonie«186 zähle, die Arbeit der Recherche
174. Ibid. 175. Rehm, op. cit., S. 184. 176. Schlegel, Friedrich, Schriften zur Literatur, München 1985, S. 13. 177. Ibid. 178. Ibid., S. 41. 179. Ibid., S. 42. 180. Ibid., S. 46. 181. Ibid., S. 88–89, »Über das Studium der griechischen Poesie« (1795). 182. Ibid., S. 89. 183. Ibid., S. 165. 184. Ibid., S. 179 185. Ibid., S. 180. 186. Ibid., S. 180.
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mehr als die Finesse des Alexandriners. So entwickelt sich eine Ortsbestimmung der Römer in der Entwicklung der Kunst und der Literatur. Im Gespräch über die Poesie (1800) versucht Friedrich Schlegel die lateinische Poesie als einen Versuch zur Erschaffung einer Methode darzustellen, »sich die Kunst ihrer Vorbilder anzueignen. (…), daher herrscht das Erotische und Gelehrte in ihren Werken«.187 Schlegel spricht von einem »kurzem Anfall von Poesie«.188 Die Römer drängen sich auf dem Gebiet der Satire auf. Aber sie fügten lediglich »den grossen alten Styl der römischen Geselligkeit und des römischen Witzes«189 hinzu. Allein die Urbanität erlaubt es ihnen, ein Fehlen der Leichtigkeit, der Improvisation, die weit von der »saubersten Eleganz« der Griechen entfernt ist, auszugleichen. In der lateinischen Literatur entwickelte sich eine Poesie, die sich in der modernen Welt wiederfindet und die die »Urbanität der ewigen Römer«190 nachahmt, jene von Catull und Martial: Die Satire gibt uns einen römischen Standpunkt für Produkte des römischen Geistes.191
In Wesen der Kritik (1804) fasst Friedrich Schlegel in einem Satz zusammen, was den römischen Geist und damit die Literatur sowie das römische Ideal charakterisiert: Übrigens aber war der Geist dieser Nation zu praktisch, als dass sie mehr als einige grosse Gelehrte hätte haben können, die auch bald ohne Nachfolger blieben.192
In der Romantik deutete sich so in Deutschland eine Hierarchisierung der antiken Kulturen an, die die Winckelmannsche Ordnung, d.h. die Überlegenheit des antiken Griechenlands, umstürzt. Hingegen formte die Romantik eine nuancierte Interpretation der römischen Welt. 1805 veröffentlichte Friedrich Schlegel seine römischen Distichen, in denen er in Bezug auf Madame de Staël seine Faszination für die antike Geschichte hervorhebt. Er nannte den Historiker einen »rückwärts gekehrten Propheten«. Dieser Versuch ist laut Walther Rehm193 ein Zeugnis der »admiratio Romae«, umso mehr, wenn ein literarisches Genre wie die Elegie sich in einen neuen Zusammenhang gestellt sieht.194 Mit Hegel (1770–1831) bestätigte sich eine von Friedrich Schlegel verteidigte Idee: Auch er verteidigt die Originalität des römischen Genies gegen das antike Griechenland. In der Ästhetik (1835–1838) sieht Hegel Rom als die Zeit, in der das Individuum sich seiner selbst bewusst wird, zu sich zurückkehrt und die Innerlichkeit ebenso wie die Abgrenzung von den anderen entdeckt. Die römische Kunst wird also nicht mehr in Bezug auf die Bildhauerei, auf die Poesie der »inspiration spirituelle« verstanden, sondern durch ein Genre »plus proche du
187. Ibid., »Gespräch über die Poesie« (1800), in: Schlegel, Friedrich, Kritische und theoretische Schriften, Stuttgart 1984, S. 288. 188. Ibid., S. 289. 189. Ibid., S. 176. 190. Ibid., S. 289. 191. Ibid. 192. Ibid., S. 252. 193. Rehm, op. cit., S. 173. 194. Ibid.
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portrait«.195 In diesem entscheidenden Punkt ist Hegel mit Schlegel und dessen Sicht der Satire in der Definition der römischen Kunst einer Meinung. Tatsächlich wird die geistige Welt in sich selbst zurückgezogen, der wahrnehmbaren196 Wirklichkeit entzogen (wobei diese gleichfalls eine vergangene Allgemeinheit ist, aus der sich der wahre Geist bereits zurückgezogen hat), die zu einer Welt ohne Gott, einem korrumpierten Sein wird. Die Kunst ist dann »das Unaufgelöste dieses Gegensatzes, in welchem Inneres und Äusseres in fester Disharmonie bleiben«.197 Und Hegel erhellt in diesem Moment der Analyse: Indem es nun die ihrem inneren Gehalt nach prosaischer Auflösung des Ideals ist, welche sich im Satirischen kundgibt.198
So haben sich die beiden Ansichten auf Rom und sein künstlerisches Ideal, so wie sie am Anfang des 19. Jahrhunderts bestanden, vereinigt. Hegel stimmt auf dem Umweg der Satire Friedrich Schlegels Analyse zu. Die römische Welt wird eine vom griechischen Modell unabhängige Realität. Italien kann dann das werden, was Byron (1788–1824) in dem vierten Gesang seines Childe Harold’s Pilgrimage »Mother of arts«199 nennt. Rom wird also »my country«200 und zur selben Zeit »city of the soul« sein. Es ist der Bruch mit »my repugnant youth«, den Byron bei seiner Ankunft in Rom signalisiert. Er sieht zuerst nur ein »chaos of ruins«. Die Brutus-Episode kommt wieder an die Oberfläche. Byron interpretierte sie etwas anders als die Autoren des 18. Jahrhunderts. Tatsächlich definiert er bei dieser Gelegenheit Rom als »the lofty city«, hochmütig durch seine Siege und vor allem durch seinen verlorenen Freiheitssinn: Alas, for Earth, for never shall we see / That brightnesse in her eye she bore when Rome was free.201
Aber dieser Verlust der Freiheit ist nur einer der Aspekte dieses Rom, in dem sich Sulla und endlich all die Mängel der römischen Zivilisation nach dem ersten Brutus202 wiederfinden. In dieser kurzen Geschichte Roms zählt dann weniger die Literatur als vielmehr die moralische Botschaft. Letztere wird ein Modell der zukünftigen Entwicklungen. Sulla trifft auf Cromwell,203 ohne dass der Vergleich komplett wäre. Denn für Byron ist Rom vor allem das Land des Ruhms und der Macht.204 Rom ist ein einzigartiges Beispiel in der Weltgeschichte.
195. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Ästhetik, Frankfurt a.M. 1991, Bd. 1, S. 122. 196. Ibid. 197. Ibid. 198. Ibid., S. 123. 199. Lord Byron, Childe Harold, Paris 1974, S. 260. 200. Ibid., S. 276. 201. Ibid., S. 278. 202. Ibid., S. 278 (»With all thy vices, for thou didst lay down […].«). 203. Ibid., S. 278 (V. 757–759). 204. Ibid., S. 280 (»And show’d not Fortune thus how fame and sway.«).
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»But as yet none have, Not could, the same supremacy have near’d (…)«.205 Die Erinnerung an Rom war ein Spiegel, der allen Diktatoren, auch Napoleon, vorgehalten wurde. Sicher kann man die moderne Geschichte nicht mit der des römischen Geistes vergleichen, der untergegangen ist und dem ein Moment der Unsterblichkeit anhaftet.206 Coleridge hatte schon diese Frage angeschnitten. Aber ganz offensichtlich kann die Überlegung Byrons nicht von den Diskussionen isoliert werden, die das Ende der Herrschaft Napoleons umkreisten. Rom verkörperte für alle, die in der Tugend und Ehre dieser Stadt ewige Werte sahen, ein dem französischen Staat würdiges Modell, das aus Strenge und kriegerischen Idealen besteht. So drängt sich eine Sicht Roms auf, die moralisch und rigoristisch ist. Aber die von Byron entwickelte Idee ist eine doppelte: Es gibt die Erinnerungen an die Ruinenideologie, an das Ende einer grossen Periode der Kraft und Tugend, während sich zu dieser Bewunderung die Erinnerung an das mischt, was man sehr wohl religiöse Werte, einen Ewigkeitstraum nennen muss. Während Hegel bestätigt, dass Rom im Vergleich zu Griechenland einen existentiellen Reichtum verloren hat, nämlich den der Religion und der Ewigkeit, führt Byron an, dass der lateinische Geist gleich wohl mit dem Abdruck der Ewigkeit versehen ist. Hier kommt darüberhinaus eine gewisse Melancholie zum Vorschein und auch eine Ansicht Roms und der klassischen Ästhetik, die das nicht zu erreichende Ideal der Gegenwart in der Vergangenheit sieht. Byron widmet Horaz, dem Autor, dem schon Hegel ebenso wie Friedrich Schlegel einen ausgewählten Platz zugewiesen hatten, eine Strophe in Childe Harold’s Pilgrimage. Er macht einen Unterschied zwischen seiner eigenen Jugend, seinen Fehlern207 und der Tiefe des Horaz, »the lyric Flow«208 dieses Satirikers voller Leben. Aber zwischen der Gegenwart und der verschwundenen Vergangenheit gibt es für Byron keine Harmonie, keinen möglichen Übergang. Die Antike stellt den Vergleichsgegenstand mit der zeitgenössischen Realität dar. Ein Dialog entsteht zwischen dem modernen Helden und den grossen Meistern der alten Zeit. Ziel ist nicht, zu ihrer Imitation zurückzukehren. Ganz im Gegenteil muss man die vergangenen Ereignisse mit aktuellen Handlungen konfrontieren, die die Welt verwandeln, in der die Autoren sich bewegen und entwickeln. Mit Hass verfolgt Byron Horaz. Zugleich unterstreicht er die Anziehungskraft, die der Autor der Satires auf ihn ausübt. Der antike Held ist in die Dramen der Zeit verwickelt. Victor Hugo (1802–1885) schrieb 1820 eine Reihe von Gedichten, die den römischen Mythos angreifen. In seinem Epître à Brutus sieht er im antiken Menschen das Beispiel eines Revolutionärs, der ein Bettler ist und am guten Bürgerkaiser Anstoss nimmt. Er präsentiert den Reichen der nachrevolutionären Epoche das Bild eines Revolutionärs, der sich anschickt, im Auftrag des Gesetzes zu plündern:209 ein moderner Brutus angesichts der Herren der Restauration. Im selben Jahr begann Hugo, eine Passage der L’Enéide über Cacus (Buch VIII) und l’Achéménide (Buch III) zu übersetzen. Auf einer Seite findet sich der ewige
205. Ibid., S. 280. 206. Ibid., S. 282 (»[…] for the Roman’s mind Was modell’d in a less terrestrial mould […].«). 207. Ibid., S. 274 (»Not for thy faults, but mine […]«). 208. Ibid., S. 274. 209. Hugo, Victor, Œuvres Complètes, Paris 1985, S. 20.
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Mitspieler von Brutus in César passe le Rubicon wieder: Der Soldat, »heureux vainquer de la terre et de l’onde« wird ein Diktator, ein »vainqueur menaçant«.210 Im Rom Victor Hugos spiegeln sich die Konflikte seiner Gegenwart wider, wie im Werk Byrons imperiale Erfahrungen aufscheinen. Mit Lamartine (1790–1869) setzten sich »les grâces d’Athènes« dem »char triomphant des Romaines« entgegen. Dennoch finden sich in der Allianz von »grâce« und römischer Tugend die Quellen der »siècles du génie«.211 Denn Rom ist das Land der »gloire«.212 In seinem Bonaparte gewidmeten Gedicht (1822) wird Lamartine den Herrscher mitten in seinem steten Konflikt zwischen Ruhm und »forfait« durch zwei Personen darstellen: Marius und Caesar.213 Dieser Vergleich findet sich in Le Golfe de Baya (1815). In diesem Gedicht werden Napoleon und Murat »indignes César«.214 Aber Rom besteht ewig inmitten seiner Ruinen,215 mit denen der Dichter Horaz »plaisir« und »génie« seines Volkes verbindet.216 Und in La liberté ou une nuit à Rome (1820) weist Lamartine mit Nachdruck auf die Spur der Zeit hin, auf seine Verbundenheit mit der Zeit, die fähig ist, »die Spuren deines Ruhms Schritt für Schritt auszulöschen«.217 Brutus ist auf der Suche nach einem Caesar, die Tugend auf der Suche nach dem Ruhm. Das verhängnisvolle Paar ist nach Montesquieu »détrait«. Nachdem es Anfang des Jahrhunderts gelungen war, ein historisch fernliegendes Bild einer Nation zu liefern, in dem die Ruinen die Melancholie inspiriert hatten, war das römische Ideal das Bild einer individuellen Erfahrung geworden, in der man Antworten auf bestimmte Fragen fand. Diese Antworten bezogen sich vor allem auf die Realität der politischen Kämpfe in der lateinischen Welt, auf den repräsentativen Charakter von Autoren wie Vergil und Horaz, um hier nur die beiden Meister einer bestimmten Sichtweise des klassischen Ideals zu zitieren. Vom politischen Modell über die Imitation grenzte dies Ideal an eine antike Illustration der Phänomene, die in der Gegenwart wahr wurden. Ziel der Romantiker war es dann nicht mehr, die Alten nachzuahmen, sondern die gegenwärtige Realität zu illustrieren.
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210. Ibid., S. 34. 211. Lamartine, Alphonse-Marie-Louis Prat de, Œuvres Complètes, Paris 1963, S. 32 (»Ode«, 1817). 212. Ibid., S. 41 (»La Gloire«, 1815). 213. Ibid., S. 123. 214. Ibid., S. 61. 215. Ibid., S. 50 (»La Foi«, 1818). 216. Ibid., S. 61. 217. Ibid., S. 168 (1821).
Rom und das klassische Ideal
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Christliches Rittertum Mythifizierung und Demythifizierung Michael Bernsen
In seiner ›gothic novel‹ The Castle of Otranto (1765) erzählt Horace Walpole (1717–1797) folgende Geschichte aus den heroischen Zeiten der Christenheit: Manfred, der unrechtmässige Herrscher auf der Burg von Otranto, will aus Gründen der Dynastiesicherung seinen Sohn mit Lady Isabella verheiraten. Sein Grossvater, ein Kämmerer Alfonsos, des legitimen Herrschers von Otranto, hatte durch einen Giftmord an seinem Herrn im Heiligen Land die Burg in seinen Besitz gebracht. Als die Hochzeitsgäste sich gerade in der Burgkapelle versammelt haben, wird der Bräutigam von einem überdimensionalen Helm erschlagen, der plötzlich vom Himmel herabfällt. Manfred richtet seinen Zorn auf den jungen Bauern Theodore, den er als Verursacher des Unglücks ansieht. Er erklärt, Isabella selbst heiraten zu wollen, worauf diese flieht. Die Hinrichtung Theodores wird durch die Ankunft des Ritters Frederic gestört, der von einem Eremiten im Heiligen Land den Auftrag erhalten hat, seine Tochter Isabella zu retten und das Verbrechen an Alfonso zu sühnen. Auf der Suche nach Isabella in der Umgebung der Burg von Otranto trifft Frederic auf Theodore, den er für einen Untergebenen Manfreds hält. Im Zweikampf mit Theodore wird er schwer verwundet. Manfred nutzt diese Schwäche seines Widersachers aus und bietet Frederic die Heirat mit seiner Tochter Matilda unter der Voraussetzung an, dass dieser in seine Verbindung mit Isabella einwilligt. Frederic geht auf diesen Vorschlag ein und verliebt sich in Matilda. Ihm erscheint das Skelett des Eremiten aus Joppa. Es warnt ihn vor einer Heirat mit Matilda und erinnert ihn an seine göttliche Mission. Derweil überrascht Manfred Theodore mit einer Frau am Grab Alfonsos im nahegelegenen Kloster. In der Meinung, Isabella vor sich zu haben, erdolcht er seine eigene Tochter Matilda. Mit einem lauten Donnerschlag stürzt ein grosser Teil der Burg in sich zusammen. Der Ritter Alfonso erscheint in riesenhafter Gestalt, erklärt seinen Enkel Theodore zum legitimen Herrn von Otranto und steigt zum Himmel auf. Der Usurpator zieht sich in Demut ins Kloster zurück. Theodore heiratet Isabella und wird der neue Herrscher auf Otranto. Wirft man einen flüchtigen Blick auf diese hier stark verkürzt wiedergegebene Handlung, so erscheint Walpoles Castle of Otranto geradezu als Musterbeispiel eines christlichen Ritterromans. Der junge Bauer Theodore — »one of the bravest youths on christian ground«, wie es heisst1 — macht grossmütig den Schutz der wehrlosen, vermeintlich verwaisten Isabella zu seinem Anliegen. Er beruft sich auf einen göttlichen Auftrag (»[…] heaven has selected me for thy deliverer […]«, S. 73) und hofft, durch seine Taten in den Ritterstand aufgenommen zu werden (»[…] he vowed on the earliest opportunity to get himself knighted […]«, S. 71). Auch
1. Walpole, Horace, The Castle of Otranto. A Gothic Story, Lewis, W. S. (ed.), London et al. 1964, S. 82. Die Stellenangaben im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
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der christliche Ritter Frederic erscheint im Auftrag Gottes, um den unrechtmässigen Herrscher von Otranto zu entmachten. In ihrem Bemühen, Isabella vor Manfred zu schützen, werden beide durch übernatürliche Zeichen und Erscheinungen unterstützt, die von den Beteiligten als göttliches Eingreifen in den Lauf des Geschehens ausgelegt werden. Ihr Werben um Matilda zeigt, dass sie auch die Spielregeln des ritterlichen Frauendienstes beherrschen. Die Wertvorstellungen, denen sie verpflichtet sind, sind die Ehrbarkeit (»honour«, S. 82), die Grosszügigkeit (2generous«, S. 27), die Aufrichtigkeit (»sincerity«, S. 52) und die Höflichkeit (»courteous«, S. 27). Durch ein Leben im Einklang mit den Geboten des Himmels (vgl. S. 53 f.) suchen sie ihren Seelenfrieden (»peace of mind«, S. 82). In der apokalyptischen Schlussszene des Romans tritt der Usurpator christlich geläutert von der Bühne des Geschehens ab. Die Mordtat seines Grossvaters am Ahnherrn der Burg ist gesühnt. Walpoles gothic novel setzte somit die grundlegenden Charakteristika des Rittertums, die tapfere kriegerische Auseinandersetzung, den Schutz der Wehrlosen, den Frauendienst und die religiöse Hingabe ins Bild, die in bekannten mittelalterlichen Traktaten wie Bonizo de Sutris De vita christiana, Bernard von Clairvaux’ De laude novae militiae (um 1130), Johannes von Salisburys Policraticus (1159), Etienne von Fougères Le Livre des manières oder Ramon Lulls Libre del ordre de Cauayleria beschrieben und im Ritterepos, Ritterroman sowie in der höfischen Lyrik poetisch überhöht wurden.2 Der ethische Verhaltenskodex seiner beiden Ritterhelden spiegelt das christlich idealisierte ›ritterliche Tugendsystem‹.3 Im Castle of Otranto wird dieses Rittertum auf eine besondere Weise mythifiziert: Die Ritter handeln im Auftrag des alttestamentlichen Gottes, der die Untaten der Menschheit bis in die nachfolgenden Generationen rächt. Der Leser der gothic novel wird ähnlich dem Menschen in einer von der Mythologie beherrschten Welt in den Zustand »dämonischer Gebanntheit«4 versetzt. Dieser Wiederbelebungsversuch des Mythos vom mittelalterlichen Ritter als Streiter Gottes im Zeitalter der Aufklärung wäre allerdings nicht originell, enthielte er nicht zugleich die moderne Tendenz der Demythifizierung. Als Antiquar und Kenner des Mittelalters war sich Walpole der Heterogenität der unterschiedlichen ritterlichen Ideale wie auch des Widerspruchs zwischen Ideal und Wirklichkeit bewusst. Im ersten Vorwort seines Romans, in dem er sich als klassizistisch gesinnter Herausgeber eines vorgefundenen Manuskripts ausgibt, bezweifelt er die Nützlichkeit der alttestamentlichen Moral einer göttlichen Rache bis ins vierte Glied, die dem Roman zugrunde liegt: »I doubt whether in his [the author’s] time, any more than at present,
2. Vgl. dazu vor allem Arno Borst, »Das Rittertum im Hochmittelalter. Idee und Wirklichkeit«, in: ders. (ed.), Das Rittertum im Mittelalter (Wege der Forschung. 349), Darmstadt 1976, S. 231–246; Painter, Sidney, French Chivalry. Chivalric Ideas and Practices in Medieval France (Cornell Paperbacks), Ithaca /London ²1969 (¹1952); sowie Flori, Jean, L’Essor de la chevalerie. XI e-XII e siècles (Travaux d’histoire éthico-politique. 46), Genf 1986, bes. S. 209–214, S. 249–253, S. 280–289 und S. 315–319. 3. Zu der seit Gustav Ehrismanns Aufsatz »Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems« (1919) vor allem in der Germanistik geführten Debatte, ob es einen festgefügten ritterlichen Verhaltenskodex überhaupt gibt, vgl. den Band von Günter Eifler (ed.), Ritterliches Tugendsystem (Wege der Forschung. 41), Darmstadt 1970. Vgl. auch neuerdings Flori, L’Essor de la chevalerie, op. cit., S. 17 f. 4. Zu den Funktion des Mythos vgl. Hans Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos«, in: Fuhrmann, Manfred (ed.), Terror und Spiel (Poetik und Hermeneutik. 4), München 1971, S. 11–66, hier: S. 13. Vgl. ders., Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979.
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ambition curbed its appetite of dominion from the dread of so remote a punishment.« (S. 5) Im Roman selbst führt er mit immer neuen komischen Wendungen seine christlichen Ritter regelrecht vor: Den einzigen Zweikampf liefern sie sich versehentlich untereinander, anstatt den Raubritter Manfred zu bekämpfen. Bei ihrem Liebeswerben um Matilda gerät beiden Rittern ihr ursprüngliches Anliegen, den Schutz der wehrlosen Isabella zu gewährleisten und den Usurpator zu stürzen, völlig aus dem Blick, wodurch Walpole auf den Widerspruch der Ideale von Frauendienst und Dienst an Gott aufmerksam macht.5 Am Beispiel des Burgahnherrn Alfonso, der auf der Reise ins Heilige Land eine Frau kennenlernt, jedoch aufgrund seiner göttlichen Mission auf eine Hochzeit verzichtet, wird dieser Widerspruch eigens konstatiert (»deeming this amour incongruous with the holy vow of arms by which he was bound«, S. 110). Der Usurpator der Burg von Otranto wird letzlich nur durch die übernatürlichen Erscheinungen, wie die Blutstropfen, die aus der Nase der Statue Alfonsos fallen, oder die Gestalt von Manfreds Grossvater, welche aus dem Bilderrahmen heraustritt, zur Abdankung gezwungen. Allein die grotesken Erscheinungsweisen des Übernatürlichen parodieren jedoch die Funktion eines ›merveilleux chrétien‹. Sie zeigen, dass das Rittertum bereits zu einem Beschäftigungsgegenstand für die Ikonographen geworden ist, den der Autor wiederbelebt. Die riesige, geisterhafte Gestalt Alfonsos, die am Schluss über der Burg schwebt, verweist sinnfällig auf das dem Roman eignende Verfahren der Mythifizierung. Ihr Aufstieg zum Himmel — »[to] quiet a long-restless prince’s shade«, wie es heisst (S. 79) — verdeutlicht zugleich, dass der Geist des Rittertums seine letzte Ruhe gefunden hat. Walpoles Spiel einer gleichzeitigen Mythifizierung und Demythifizierung der Zeiten des heroischen Christentums lässt ein paradoxes Interesse erkennen. Auf der einen Seite macht dieses Spiel auf analytische Weise deutlich, dass sich in den Vorstellungen vom Rittertum schon immer Fiktion und Wirklichkeit gemischt haben.6 Der aufklärerisch-kritische Ansatz, der das Ritterideal in seine heterogenen Bestandteile auflöst, sucht in letzter Instanz nach historischen Wirklichkeiten der ritterlichen Lebensweise. Er arbeitet den grundlegenden Widerspruch heraus, den das mittelalterliche Rittertum in sich birgt: die Orientierung am Jenseits im Sinne der christlichen Heilsgeschichte, gegenüber der gleichzeitigen Ausrichtung am diesseitigen Ehrgewinn im Umfeld des höfischen Lebens. Der analytische Zugriff steht im Zeichen eines Weltbilds, das für alle Erscheinungen zureichende Gründe kennt und aus der Verkettung der Kausalitäten den geschichtlichen Fortschritt hin zur Gegenwart abliest.7 Die analytische Beschäftigung mit dem Rittertum will einzelne Vorstellungen und Charakteristika der Institution isolieren, die als Gegenpole oder Vorboten der Erscheinungsweisen der modernen Zivilisation angesehen werden können. Walpoles demythifizierende Parodien der ritterlichen Welt zeigen, dass sein Roman von diesem modernen Erkenntnisinteresse durchdrungen ist. Auf der anderen Seite folgte die gleichzeitige Mythifizierung des Rittertums im Castle of
5. Zu den unterschiedlichen, sich teilweise widersprechenden Leitbildern des Rittertums vgl. Painter, Sidney, French Chivalry, op. cit., bes. S. 149–172. Vgl. auch Borst, Arno, »Das Rittertum im Hochmittelalter«, op. cit., S. 232–236. 6. Vgl. dazu Borst, »Das Rittertum im Hochmittelalter«, S. 214 f. 7. Zu diesem neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriff der »offenen Konsistenz« vgl. Blumenberg, Hans, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos«, op. cit., S. 36.
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Otranto, die der Autor durch die Dämonisierung des Geschehens und die starke affektive Einbindung des Lesers psychologisch zu verbürgen sucht, einer ganz und gar gegenläufigen Tendenz. Sie spiegelte eine unverkennbare Sehnsucht nach heroisch-individuellem Handeln in einem nach archaischen Regeln geordneten Weltganzen, die ein vielgestaltiges Ungenügen an der Gegenwart zum Ausdruck bringt. Walpoles Mythos vom christlichen Ritter als Streiter Gottes führte den Zeitgenossen, die soeben mit analytischem Verstand die Entfremdung des einzelnen von der Gesellschaft aufgedeckt hatten, in fiktiver Anschaulichkeit eine konkrete, ganzheitliche Lebensform vor Augen. Die Wiederentdeckung des Ideals der ritterlichen Aufrichtigkeit stellte die Frage nach der sincérité bzw. sincerity, jenem Leitwert, mit dem das Bürgertum gegen die Aristokratie angetreten ist und der nunmehr in den Maskeraden des modernen, zivilisierten Menschen unterzugehen drohte. Das Ideal ritterlicher Grosszügigkeit verwies spiegelbildlich auf den zeitgenössischen Besitzindividualismus.8 Der Mythos vom Ritter als Streiter Gottes stand auch gegen den Absolutheitsanspruch der aufklärerischen Vernunft, die in der Theodizee den Schöpfer zum Erfinder des Uhrwerks ›Welt‹ degradiert hatte, um auf diese Weise das Verhältnis des Menschen zu Gott rational fassbar zu machen. Walpole selbst weist explizit auf diese Funktion seiner romanesken Phantasiegebilde hin: »I thought […] that a god, at least a ghost, was absolutely necessary to frighten us out of too much senses […].«9 Die Beschäftigung mit den »synthetischen Positivitäten der Feudalzeit« zeugt von einer Preisgabe jenes Denkens, das die analytische Suche nach Kausalzusammenhängen zur alles beherrschenden Ideologie machte.10 Sie brachte den Wunsch nach einer Welt zum Ausdruck, in der der einzelne in der unmittelbaren Anschauung der Erscheinungen seine Selbstgewissheit erlangt.11 Walpoles Zusammenspiel von Mythifizierung und Demythifizierung des mittelalterlichen Rittertums nahm — typologisch — die Pole vorweg, zwischen denen sich die aufklärerische und die vorromantische bzw. romantische Beschäftigung mit dem Gegenstand bewegte. Beide Richtungen führten in der Folgezeit einen regelrechten Dialog über das Thema, bei dem sich unterschiedliche Phasen und unterschiedliche ideologische Interessen beobachten lassen. Nach einer anfänglichen Ablehnung des Rittertums durch bekannte Aufklärer, führte die Wiederentdeckung der Institution und ihres Wertekodex zu einer Art gegenaufklärerischer »Reauratisierung«12 der modernen Lebenswelt: Versprechungen und Hoffnungen der Aufklärung, die nicht realisiert worden waren, wurden in das idealisierte Bild vom Ritter hineinprojiziert und gewannen dort die Funktion, Fragen an die Gegenwart zu stellen. Diese gegenaufklärerische
8. Vgl. dazu MacPherson, C. B., The Political Theory of Possessive Individualism, Oxford 1962. 9. Brief an Elie de Beaumont vom 18. März 1765, in: The Yale Edition of Horace Walpole’s Correspondence, 48 Bde., Lewis, W. S. / Riely, J. (eds.), New Haven / Oxford 1937–1983, Bd. 40, S. 380. 10. Frank, Manfred, »Aufklärung als analytische und synthetische Vernunft. Vom französischen Materialismus über Kant zur Frühromantik«, in: Schmidt, J. (ed.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, S. 376–403, hier: S. 385. Vgl. auch S. 389. 11. Zum Wirklichkeitsbegriff der »momentanen Evidenz« vgl. Blumenberg, Hans, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos«, op. cit., S. 37. 12. Zu dieser Funktion der Wiederbelebung des Mythischen in der Moderne vgl. Bolz, Norbert, »Entzauberung der Welt und Dialektik der Aufklärung«, in: Kemper, P. (ed.), Macht des Mythos — Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt a. M. 1989, S. 223–241, hier: S. 236.
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Begeisterung für den Gegenstand war somit eine Aufklärung über die Aufklärung, die nach dem »von der Vernunft […] Vergessenen«13 suchte und dabei zugleich die »Enttäuschungen und Verluste rationaler Sachbewältigung«14 bilanzierte. Die nostalgische Mythifizierung des Rittertums in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts findet sich in den meisten aufgeklärten Ländern Europas, mit allerdings erheblichen Akzentverschiebungen. In Frankreich und England, wo die Aufklärung die grösste Verbreitung gefunden hatte, war sie besonders ausgeprägt. In Deutschland setzte die gegenaufklärerische Mythifizierung der ritterlichen Lebensweise erst später mit dem Beginn der Romantik ein. Auf die Entwicklung in diesen drei Ländern konzentrieren sich die folgenden Überlegungen. Die italienischen und die spanischen Verhältnisse werden dagegen nicht näher in die Betrachtung einbezogen, da hier aus gegensätzlichen Gründen eine nostalgische Wiederbelebung des christlichen Rittertums und seines Wertekodex unterbleibt. In Italien — so stellt bereits Friedrich Schlegel (1772–1829) in seinen Wiener Vorlesungen über die Geschichte der alten und neuen Literatur (1812) fest – hat der »Rittergeist […] am wenigsten geherrscht und Einfluss gehabt.«15 Die frühe Verlagerung des sozialen Lebens in die Städte und die antimagnatischen Gesetzgebungen standen der Entwicklung des Feudalsystems und dem mit diesem verbundenen Rittertum entgegen.16 Die das ganze Mittelalter beherrschenden Auseinandersetzungen zwischen städtisch orientierten Welfen und landaristokratischen Ghibellinen verhinderten überdies die Glorifizierung eines von allen Faktionen als verbindlich akzeptierten ritterlichen Tugendkanons. Die nationale Geschichte wurde bedingt durch diese Auseinandersetzungen um die politische und kulturelle Einheit in Italien über Jahrhunderte bis hin zum Risorgimento immer wieder als Leidensgeschichte empfunden,17 was zur Folge hatte, dass selbst der historische Roman der Romantik mit mittelalterlicher Thematik nicht den Ritter als Träger eines positiven Mythos in den Mittelpunkt rückte,18 sondern die negativen Mythen des Tyrannen oder des Verräters.19
13. Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos«, op. cit., S. 14. 14. Ibid., S. 15. 15. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 1 ff., Behler, Ernst / Anstett, J.-J. / Eichner, H. (eds.), München / Paderborn / Wien 1958 ff., Bd. 6, S. 198. Vgl. auch S. 209 und S. 218. 16. Vgl. dazu Crane, Th. F., Italian Social Customs of the Sixteenth Century and their Influence on the Literatures of Europe, New York 1971, bes. S. 99. 17. Vgl. dazu allein die wiederkehrenden rhetorischen Klagefloskeln in Girolamo Tiraboschis berühmter Storia della letteratura italiana (1772–1781). 18. Vgl. allerdings Leopardis Kanzone Ad Angelo Mai (1820), die eine Sehnsucht nach den Zeiten des Rittertums bekundet: »O donne, o cavalieri, /[…] a voi pensando, /In mille vane amenità si perde /La mente mia. […]« (V. 112–115). Leopardi will jedoch nicht die christliche Weltanschauung und ihre Lebensformen wiederbeleben, sondern führt sich im Rahmen seiner Illusionslehre die Epochen eines glücklichen Lebens vor Augen. 19. Vgl. dazu Schwaderer, R., »Ritter, Tyrannen und die verfolgte Unschuld. Zur patriotischen Mythenbildung im italienischen historischen Roman des frühen 19. Jahrhunderts«, in: Wolfzettel, F. / Ihring, P. (eds.), Erzählte Nationalgeschichte. Der historische Roman im italienischen Risorgimento, Tübingen 1993, S. 165–197, bes. S. 170 und S. 173. Der Tenor der wenig zahlreichen Auseinandersetzungen mit dem Rittertum in Italien, die dem historischen Roman vorausgehen, ist in der Regel negativ. Vgl. vor allem Ludovico Antonio Muratoris abwertende Beschreibung des Rittertums als barbarisch-groteske Institution in De institutione militium, quos Cavalieri appellamus, & de insigniis, quae
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Spanien ist demgegenüber das Land, so wiederum Schlegel, in dem »der Rittergeist und die damit verbundene Poesie […] länger als irgendwo sonst in Europa«20 überlebt haben. Eine ›Wiederauferstehung‹ der Ideale des mittelalterlichen Rittertums wie in den andern europäischen Ländern fand nicht statt, da diese selbst in der kurzen Periode der Vorherrschaft klassizistischen Gedankenguts zwischen 1680 und 1750, in der man sich verstärkt an antiken Vorbildern orientierte, stets präsent blieben.21 So bekundete Ignacio de Luzán (1702–1754), Verfasser der massgeblichen neoaristotelischen Poetik dieser Epoche, ein ungebrochenes Interesse an den Heldentaten der christlichen reconquista (»Algunos hechos y algunos nombres son tan célebres y famosos que hasta la gente vulgar ha entreoído algo de ellos. De esta epecie son […] los nombres y hechos del rey Don Rodrigo, del Cid, del gran Capitán, de Hernán Cortés y de otros semejantes […].«).22 Und Gaspar Melchor de Jovellanos (1744–1811), einer der entschiedenen Reformer des spanischen Staates in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, forderte seine salmantinischen Dichterfreunde auf, die heroischen Taten des mittelalterlichen Rittertums als Orientierung anzusehen: Sean tu objeto los héroes españoles, Las goerras, las victorias, y el sangriento Furor de Marte […].23
Die hauptsächlich aufgrund der fehlenden Säkularisierung Spaniens24 anhaltende Beschäftigung mit der mittelalterlichen Geschichte und Literatur führte in der Folge dazu, dass das Rittertum gleichermassen von der christlichen und — nach 1833–von der antirestaurativen, liberalen Romantik als Sujet der Lyrik, des Dramas und insbesondere des neu entstehenden historischen Romans bemüht wurde. Die Besinnung auf die ritterliche Lebensweise erfüllte damit in Spanien in weit geringerem Mass als in den übrigen Ländern Europas die Funktion, den vernunftrechtlichen Grundsätzen der Aufklärung den positiven Mythos einer ganzheitlichen, auratischen Lebensform entgegenzuhalten.
nunc Arme vocantur (in: Antiquitates italicae medii aevi, 6 Bde., Mailand 1738–1742, Bd. 4, Sp. 675–694), sowie Carlo Gozzis komisches Epos La Marfisa bizarra (1772) im Stil des die ritterlichen Ideale zersetzenden romanzo. 20. Geschichte der alten und neuen Literatur, S. 260. Eduard Fey stellt in seinem Artikel über die Wandlungen des Rittertums im spanischen Mittelalter sogar die These auf: »La Caballería española existe en un cierto sentido hasta el día de hoy […].« (»El fin de la Caballería medieval en Castilla y la poesía de Jorge Manrique«, in: Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, Reihe 1, Bd. 32, 1988, S. 264–371, hier: S. 266). 21. Vgl. die zahlreichen Beispiele für die Beschäftigung mit dem Mittelalter im spanischen 18. Jahrhundert bei Peers, E. Allison, Historia del movimiento romantico español (Biblioteca románica hispánica. Tratados y monografías. 4), 2 Bde., Madrid 1973, Bd. 1, S. 67–77. 22. La Poética, o reglas de la poesía en general, y de svs principales especies, Zaragoza 1737, S. 304. 23. Jovino á sus amigos de Salamanca, in: Jovellanos, Gaspar Melchor de, Obras publicadas e inéditas (Biblioteca de autores españoles. 46.50.85.86.87), 5 Bde., Nocedal, C. (ed.) Madrid 1951, Bd. 1, S. 37–39, hier: S. 39. 24. Vgl. dazu Krömer, W., Zur Weltanschauung, Ästhetik und Poetik des Neoklassizismus und der Romantik in Spanien (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft. II. 13), Münster 1968, S. 8 und Tietz, M., »Die Aufklärung in Spanien — Eine Epoche ohne Roman«, in Poetica 18, 1986, S. 51–74, bes. S. 61 und S. 63.
Christliches Rittertum
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Die aufklärerische Demythizierung des Rittertums Von der aufklärerischen Kritik wurden die überlieferten Vorstellungen vom mittelalterlichen Rittertum zunächst einer strengen Prüfung durch die Vernunft unterzogen. Aus historiographischem Interesse heraus stellten die Aufklärer Hypothesen zur Entstehung der Institution auf. Die Ritterideale wurden als Indikatoren der defizitären Lebenswelt des feudalen Mittelalters abgelehnt, die gleichsam den Nullpunkt der modernen Zivilisation darstellte. In David Humes (1711–1776) zwischen 1725 und 1734 entstandenen Historical Essay on Chivalry and Modern Romance25 wird diese Einstellung besonders deutlich. Das Rittertum und die Ideale des Ritters sind für Hume eine Folge des Einfalls der Barbaren in das römische Reich. Diese hätten sich die christliche Religion der Römer sowie deren höherstehende Kultur, insbesondere die Vorstellungen der Tugend (»virtue«) und Höflichkeit (»politeness«),26 angeeignet und aufgrund des Mangels an Urteilsvermögen (»judgement«), Vernunft (»reason«) und Erfahrung (»experience«)27 ins Unermessliche gesteigert. Auf diese Weise sei ein neuer Kodex sittlich-heroischen Verhaltens (»a new Scheme of Manners or Heroism«)28 in Gestalt des monströsen Rittertums (»that Monster of Romantick Chivalry«)29 entstanden. Das idealisierte Bild vom mittelalterlichen Ritter ist für Hume ein blosses Hirngespinst (»chimera«),30 das in der feudalen Welt kein reales Äquivalent hat. Es hat die Funktion der kompensatorischen Selbsttäuschung (»a Self-conceit«)31 des mittelalterlichen Menschen über die Grausamkeit seiner Lebenswelt: A Knight-Errant fights not like another Man full of Passion & Resentment, but with the outmost Civility mixt with his undaunted Courage. He salutes you before he cuts your Throat, & a plain Man who understood nothing of the Mystery wou’d take him for a treacherous Ruffian, & think that like Judas he was betraying with a Kiss, while he is showing his generous Calmness & amicable Courage.32
Wie jede Flucht in imaginative Welten führt das Ideal vom Ritter zu einem Wirklichkeitsverlust (»our Chimera’s hurry us from Nature«).33 Zu einer Entdeckung des fiktiven Charakters des ritterlichen Tugendsystems gelangt auch Montesquieu (1689–1755) im Esprit des lois (1748). Bei seiner noch stark von moralistischen
25. Dieser fragmentarische Essay wurde erst 1947 von Ernest C. Mossner veröffentlicht (»David Hume’s An Historical Essay on Chivalry and Romance«, Modern Philology 45, 1947, S. 54–60). Zu den unterschiedlichen Datierungshypothesen vgl. S. 54. Vgl. auch Pritzkuleit, S. , Die Wiederentdeckung des Ritters durch den Bürger. Chivalry in englischen Geschichtswerken und Romanen: 1770–1830 (Horizonte. 7), Trier 1991, S. 82–92. 26. »David Hume’s An Historical Essay on Chivalry and Modern Honour«, S. 57. 27. Ibid. 28. Ibid., S. 58. 29. Ibid., S. 57. 30. Ibid., S. 60. 31. Ibid., S. 57. 32. Ibid., S. 60. 33. Ibid., S. 57.
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Fragestellungen geprägten Analyse der verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen und Bräuche als Spiegel gleichbleibender menschlicher Leidenschaften34 werden vor allem die idealisierten Ansprüche des Ritters enttarnt, der seine körperliche Kraft in den Dienst der Liebe stellt (»l’idée de l’amour jointe à celle de force«) und sich aus diesem Antrieb heraus für die Sühne des Unrechts (»punir l’injustice«) und den Schutz der Schwachen (»défendre la faiblesse«)35 einsetzt. Der Zauber der Vorstellungen vom fahrenden Ritter, der diese Ideale zu verwirklichen sucht, ist für Montesquieu ein Produkt des Romans.36 Das »système merveilleux de la chevalerie«37 basiert in Wirklichkeit allein auf der Gefallsucht (»le désir de plaire«).38 Es ist der Entstehungsgrund der Galanterie, in der nicht die wahre Liebe, sondern nur der Schein der Liebe (»le perpétuel mensonge de l’amour«)39 zum Ausdruck kommt. Auch Voltaire (1694–1778) geht es in seinem Essai sur les mœurs et l’esprit des nations (1756)40 um eine Demythifizierung der chevaleresken Ideale. Das Rittertum ist für ihn eine kriegerische Einrichtung der grossen Lehnsherrn aus der Untergangszeit des karolingischen Reichs, um sich vor den Übergriffen der zahlreichen lokalen Machthaber zu schützen. Das Hauptaugenmerk Voltaires richtet sich auf den Nachweis, dass es sich bei der chevalerie um einen blossen Brauch (»usage«) handelt, der keinerlei Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Institutionen der Zeit hatte und damit auch ohne Folgen für die Gegenwart ist. Diesbezügliche Annahmen werden als romaneske Phantasien zurückgewiesen: […] les inféodations, les droits de ressort et de mouvance, les héritages, les lois, rien d’essentiel n’avait rapport à cette chevalerie. C’est en quoi se sont trompés tous ceux qui ont écrit de la chevalerie: ils ont écrit, sur la foi des romans, que cette honneur était une charge, un emploi; qu’il y avait des lois concernant la chevalerie. Jamais la jurisprudence d’aucun peuple n’a connu ces prétendues lois: ce n’étaient que des usages. […] On portait un grand respect dans la société à ceux qui étaient chevaliers: c’est à quoi tout se réduisait.41
Die ritterlichen Bräuche sind für Voltaire im Lauf der Zeit bis zu ihrem Untergang in der Renaissance ständigen Veränderungen (»une vicissitude perpétuelle«)42 unterworfen und somit keineswegs einheitlich. Vom Rittertum existiert in der Gegenwart nur noch eine schwache
34. Vgl. dazu Stadler, Peter, Geschichtsschreibung und historisches Denken in Frankreich 1789–1871, Zürich 1958, S. 32–35. 35. De l’Esprit des lois ou du rapport que les lois doivent avoir avec la constitution de chaque gouvernement, les mœurs, le climat, la religion, le commerce, etc., in: Montesquieu, Charles de, Œuvres complètes, 2 Bde., Caillois, Roger (ed.), Paris 1956–1958, Bd. 2, S. 225–995, hier: S. 823 (Buch 28, Kap. 22). 36. Vgl. S. 822. 37. Ibid. 38. Ibid., S. 823. 39. Ibid., S. 822. 40. Einzelne Kapitel dieses Essai veröffentlicht Voltaire seit 1745. 41. Voltaire, Essai sur les mœurs et l’esprit des nations et sur les principaux faits de l’histoire depuis Charlemagne jusqu’à Louis XIII, 2 Bde., Pomeau, René (ed.), Paris 1963, Bd. 2, S. 24 (Kap. 97: »De la chevalerie«). 42. Ibid., S. 25.
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Vorstellung (»une faible image«).43 Die Kritik aller drei Autoren am mittelalterlichen Rittertum richtete sich somit vor allem gegen die aus fiktionalen Quellen überlieferten mythifizierten Ideale der Institution. Die Aufklärer bewegten sich mit ihren Argumenten auf dem Boden der neoaristotelischen Poetik, die seit der Renaissance zur Ausbildung klassizistischer Normen für die Beurteilung und Abfassung der Dichtung geführt hatte. Die Ideale des Rittertums wurden als blosse Produkte der Einbildungskraft abgelehnt, die den Normen einer vernunftgemässen Wahrscheinlichkeit nicht standhalten.44 Literarisch schlug sich diese Haltung vor allem in den Nachahmungen des Don Quijote nieder, die in England besonders zahlreich sind.45 In Tobias Smolletts (1721–1771) Roman Sir Launcelot Greaves (1760–1761),46 dessen Held in Ritterrüstung über die englischen Landstrassen zieht, ist die ritterliche Lebensweise Zeichen einer grundlegenden mentalen Störung. Der Wahn Launcelot Greaves’ äussert sich darin, dass er nicht wie Don Quijote gegen Windmühlen kämpft, sondern mit Ernsthaftigkeit gemäss den Idealen der chivalry47 den vorhandenen Gesetzen in einer Gesellschaft Geltung verschaffen will,48 die durch und durch korrupt ist. Die ritterlichen Leitwerte werden im Verlauf des Romans mit satirischen Mitteln als wirklichkeitsfremd entlarvt. Zugleich benutzt der Autor sie jedoch, um der zeitgenössischen Wirklichkeit mit ihren Missständen einen Spiegel vorzuhalten. Der Aufklärer Smollett beendet seinen Streifzug durch die Welt der chivalry mit einer ironischen Pointe: Nachdem Greaves der ritterlichen Lebensweise abgeschworen und zur Vernunft zurückgefunden hat, wird er in eine Irrenanstalt eingesperrt.49
Die gegenaufklärerische Mythifizierung des Rittertums Gegenüber dieser aufklärerisch abwertenden Kritik am mittelalterlichen Rittertum trug die in ganz Europa mit Enthusiamus aufgenommene Wiederentdeckung der kulturellen und sittengeschichtlichen Bedeutung der Institution durch Jean Baptiste La Curne de Sainte-Palaye, die der
43. Ibid., S. 22. 44. Zu diesem Argument aus der Diskussion um den italienischen romanzo vgl. Grimm, Reinhold R., »Rezeptionsweisen des Ritterromans in der Neuzeit«, in: Gumbrecht, H. U. (ed.), Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters (Grundriss der Romanischen Literaturen des Mittelalters. 1), Heidelberg 1980, S. 315–334, bes. S. 321 f. 45. Vgl. z.B. Henry Fieldings Komödie Don Quixote in England (1734) oder die Romane The Female Quixote (1752) von Charlotte Lennox und The Spiritual Quixote (1772) von Richard Graves. 46. Sir Launcelot Greaves erscheint zunächst als Fortsetzungsroman im British Magazine und dann 1762 in Buchform. 47. «[…] I have begun my career […] determined, […] to honour and assert the effords of virtü; to combat vice in all her forms, redress injuries, chastise oppresseion, protect the helpless and forlorn, relive the indigent, exert my best endeavours in the cause of innocence and beauty, and dedicate my talents […] to the service of my country.« (Tobias Smollett, The Life and Adventures of Sir Launcelot Greaves, Evans, D. (ed.) London / New York / Toronto 1973, S. 12). 48. «I am neither an affectated imitator of Don Quixote, nor, […] visited by that spirit of lunacy so admirably displayed in the fictious character exhibited by the inimitable Cervantes. […] I quarrel with none but the foes of virtue and decorum, against whom I have declared a perpetual war […]« (S. 13). 49. Zur weiteren Aspekten der Interpretation des Romans vgl. Boucé, Paul-Gabriel, The Novels of Tobias Smollett, London 1976, S. 179–189.
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Autor selbst mehrfach als »Wiederauferstehung des Rittertums« (»la Chevalerie ressuscitée«)50 bezeichnet, Züge einer umfassenden Mythifizierung. In seinen zwischen 1746 und 1750 vor der Académie des Inscriptions vorgetragenen Mémoires sur l’ancienne chevalerie stützt sich der zum Kreise der traditionalistischen Gelehrten (›érudits‹) zählende La Curne51 vor allem auf fiktionale Quellen. Das von den Aufklärern verwandte klassizistische Argument der Unwahrscheinlichkeit der mittelalterlichen Literatur kehrte er um: Da es den frühen Autoren aufgrund ihres mangelnden zivilisatorischen Raffinements an Einbildungskraft gefehlt hatte (»Les Auteurs de ces ouvrages ne pouvant rien inventer de leur propre fonds.«),52 spiegelt der mittelalterliche Roman naiv die Zustände der Zeit (»le tableau naïf & fidèle des mœurs antiques«)53 und ist somit besonders wahrscheinlich.54 Das Rittertum ist für La Curne eine militärische Einrichtung der Aristokratie mit ausgeprägten ethisch moralischen Idealen. Am Beispiel ritterlicher Leitwerte wie der Freigebigkeit (»largesse«) oder der Höflichkeit (»courtoisie«),55 der Ideale vom Frauendienst und Dienst an Gott56 beschreibt er die Institution als Werk einer aufgeklärten Politik (»l’ouvrage d’une politique éclairée«)57 von hohem gesellschaftlichen Nutzen inmitten einer barbarischen Zeit. Im Gegensatz zu Voltaire ging es La Curne darum zu zeigen, inwieweit sich die Bräuche und Ideale des Rittertums zivilisierend auf die Lebensverhältnisse der Feudalzeit ausgewirkt haben und inwieweit sie weiterhin für die Gegenwart von Bedeutung sind. In der Investitur des Ritters sieht er z.B. den Versuch der Barone, die feudalen Bande zu festigen (»Ils voulurent, sans doute, resserrer les liens de la féodalité […].«).58 Die ethischen Vorstellungen des Rittertums hätten sich mildernd auf die Rechtsprechung und die Kriegführung ausgewirkt (»[…] la sévérité de la justice & la rigueur de la guerre devoient être […] tempérées […] par une douceur, une modestie, une politesse […], dont on ne trouve dans aucunes autres loix des préceptes aussi formels que dans celles de la Chevalerie.«)59 Einzelne Ideale wie die Wahrheitsliebe (»amour pour la vérité«)60 oder die Vorschriften des Liebeswerbens (»les préceptes de l’amour«) seien
50. Zitierte Ausgabe: Mémoires sur l’ancienne chevalerie, considérée comme un établissement politique & militaire, 3 Bde., Paris 1781, Bd. 1, S. 207. Vgl. auch Bd. 2, S. 34 und S. 116. Zur europaweiten Bedeutung der Schrift vgl. Gossman, Lionel, Medievalism and the Ideologies of the Enlightenment. The World and Work of La Curne de Sainte-Palaye, Baltimore 1968, S. 273 und S. 327–348. 51. Zur Opposition zwischen den érudits und den aufklärerischen philosophes vgl. das Kap. »Scholars of the robe and philosophes« bei Gossman, Medievalism, op. cit., S. 87–125. 52. Mémoires sur l’ancienne chevalerie, op. cit., Bd. 2, S. 120. 53. La Curne, Bd. 2, S. 131. 54. Vgl. Bd. 2, S. 119 und S. 121. La Curne verweist darauf, dass es sich hierbei um ein Argument aus Jean Chapelains Dialog De la lecture des vieux romans (1647) handelt (vgl. Bd. 2, S. 131). Vgl. dazu Grimm, Reinhold R., »Rezeptionsweisen des Ritterromans«, op. cit., S. 325. 55. La Curne, op. cit., Bd. 1, S. 78 f. 56. Ibid., Bd. 1, S. 7. 57. Ibid., Bd. 1, S. 1. 58. Ibid., Bd. 1, S. 66 f. 59. Ibid., Bd. 1, S. 76. 60. Ibid., Bd. 1, S. 77.
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bis heute im Geist der Franzosen (»l’esprit des François«)61 erhalten. Als besondere Errrungenschaft der chevalerie gilt ihm jedoch der ritterliche Gedanke des Dienstes um des Dienstes willen (»rendre service pour service«),62 dem er eine hohe gesellschaftspolitische Funktion beimisst: Durch die ritterliche Lebensweise erwerben sich die Betroffenen Ehre und Ruhm. Ihr Verdienst erhebt sie über den ihnen von Geburt aus zustehenden gesellschaftlichen Rang (»plus touchés d’un rang acquis dans l’ordre de la gloire & de la vertu, que de celui qu’ils avoient dans l’ordre politique par le droit de leur naissance«).63 La Curne entwirft das Bild einer nach den ritterlichen Idealen lebenden Gesellschaft, in der unterschiedliche aristokratische Gruppen zu höchstem Ansehen gelangen können und die Gesetze der Unterordnung (»les loix de la subordination«) allein vom jeweiligen Verdienst bestimmt werden: […] la distinction […] presque toujours attachée au mérite, s’observoit alors dans les assemblées des nobles […] chacun se tenoit à la place qui lui étoit assignée; l’impossibilité d’en occuper d’autres, étouffoit les sentimens d’une ambition désordonnée […] On ne songeoit qu’à gagner les rangs [..] à force de services […].64
Der Ritter, der die Regeln des alten Rittertums (»les sages loix de l’ancienne Chevalerie«)65 beherzigt, vereinigt die körperlich kriegerische Ertüchtigung (»endurcir son corps aux travaux de la guerre«) mit einer geistigen Bildung (»la culture de l’esprit & de la raison«).66 Spätestens diese Bemerkungen zeigen, dass es La Curne vor allem um eine traditionsorientierte Besinnung auf die Gegenwart ging. Die Bemerkung, durch bessere Lehrmeister als die unkultivierten Troubadoure (»[les] Trouvères & Jongleurs, gens grossiers & libertins«)67 hätten die Ritter den höchsten Grad an zivilisatorischer Vollendung erreicht (»Instruits par de meilleurs maîtres, & formés sur des modèles moins imparfaits, nos Chevaliers eussent appris […] la justesse des idées & l’heureux accord du tout avec ses parties, qui rendent un ouvrage digne de l’estime des connoisseurs.«)68 verdeutlicht, dass er über das verklärte Bild vom Ritter vor allem das Persönlichkeitsideal des zeitgenössischen aristokratischen Gentleman formuliert, welches in einer klassizistischen ›concordia discors‹ die unterschiedlichsten Eigenschaften und Verhaltensweisen in sich vereinigt. Die Vorstellung vom Verdienst als Massgabe der politischen Bedeutung bietet ein Identifikationsmodell für die Elite des ausgehenden ancien régime, in dem sich der Schwertadel, der Amtsadel, die in den Adelsstand erhobenen Finanzbürger sowie das königstreue Bürgertum in einem französischen ›genteel compromise‹ wiederfinden können.69 Die Bemer-
61. Ibid., Bd. 1, S. 88. 62. Ibid., Bd. 1, S. 3. 63. Ibid., Bd. 1, S. 229. 64. Ibid., Bd. 1, S. 307 f. 65. Ibid., Bd. 2, S. 39. 66. Ibid., Bd. 2, S. 42. 67. Ibid. 68. Ibid., Bd. 2, S. 42 f. 69. Vgl. Gossman, Medievalism, op. cit., S. 291. Zur politischen Ideenverwandtschaft La Curnes mit Montesquieu, der ebenfalls Sympathien für die englische konstitutionelle Monarchie hegt, vgl. S. 92 f.
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kung: »les […] loix de la Chevalerie […] auroient pu être adoptées par les plus sages législateurs & par les plus vertueux Philosophes […]«70 drückt implizit den Wunsch nach der Reform des Staates unter aristokratischer Führung aus. La Curne legt den Zeitgenossen durch die Wiederbelebung der Traditionen des mittelalterlichen Rittertums eine sittlich moralische Erneuerung nahe, um die grundlegende politische zu vermeiden (»Combien [de] […] vertus n’auroit-elle [la chevalerie] pas fait fleurir dans des temps plus polis & plus éclairés!«).71 Die »récits historiques«72 der Mémoires sur l’ancienne chevalerie zielen denn auch nicht in erster Linie auf eine kritisch analytische Durchleutung der nationalen Vergangenheit. Sie sind ein nach wirkungspsychologischen Gesichtspunkten konzipierter Text, in dem die Widersprüche zwischen der historischen Wirklichkeit und den Idealen sowie zwischen den Idealen selbst in einem pittoresken Tableau aufgehoben werden.73 La Curne ging es darum, die Empfindsamkeit seiner Leser anzusprechen.74 Seine Methode ist — wie Bougainville in seinem Vorwort bemerkt — darauf ausgerichtet, zu lange Beweisführungen zu vermeiden, um den emotionalen Eindruck der dargebotenen Tableaus nicht zu zerstören: En lisant ces Mémoires on verra qu’il est peu de phrâses qui ne renferment des assertions dont la plupart ont besoin d’être prouvées. Elles l’auroient été facilement […], mais cette méthode eut entraîné des discussions longues & fatiguantes: elle eût trop souvent distrait le Lecteur du tableau qu’on lui présentoit, & trop désuni des traits qui ne frappent que par leur ensemble. Il valoit donc mieux renvoyer ces notes à la fin des Mémoires, pour en composer comme un corps de pièces justificatives […]75
Insbesondere in England wurden die Mémoires sur l’ancienne chevalerie breit rezipiert und bildeten bis ins 19. Jahrhundert hinein die Grundlage für antiquarisch-gelehrte Schriften zum Rittertum wie z.B. für Thomas Wartons Observations on the Faery Queene of Spenser (1754) und History of English Poetry (1774–1781), Richard Hurds Letters on Chivalry and Romance (1762), Thomas Percys Reliques of Ancient English Poetry (1765), Joseph Ritsons Select Collection of English Songs (1783) und George Ellis Specimen of English Metrical Romances (1805).76 An Hurds Letters on Chivalry and Romance, die seit 1778 auch in die Encyclopedia Britannica aufgenommen werden, wird allerdings exemplarisch deutlich, dass die Wiederentdeckung der chivalry in England einen anderen Stellenwert als in Frankreich erhielt: Da der Impetus, die
70. La Curne, Bd. 1, S. 75. 71. Ibid., Bd. 2, S. 3. 72. Ibid., Bd. 2, S. 41. 73. Dies konstatiert bereits Bougainville in seinem Vorwort zur Ausgabe der Mémoires von 1759: »On remarquera […] un contraste singulier de religion & de galanterie, de magnificence & de simplicité, de bravoure & de soumission; un mélange d’adresse & de force, de patience & de courage, de belles actions produites par un motif chimérique, & de fonctions presque serviles, ennoblies par un motif élevé.« (»Avertissement«, in: La Curne de Sainte-Palaye, Mémoires sur l’ancienne chevalerie, Bd. 1, S. VII-XII, hier: S. IX). 74. «Il est des siècles où les hommes ont besoin d’objets sensibles pour être remués & excités à bien faire […]« (Bd. 1, S. 192). 75. »Avertissement«, S. XI. 76. Vgl. dazu im einzelnen Johnston, Arthur, Enchanted Ground. The Study of Medieval Romance in the Eighteenth Century, London 1964, sowie Pritzkuleit, S. , Die Wiederentdeckung des Ritters, op. cit., S. 45–72.
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unterschiedlichen Gruppen der Aristokratie zur Reflexion über ihren kulturellen und politischen Stellenwert zu bewegen, aufgrund der Andersartigkeit der gesellschaftlichen Situation in England fehlte, diente die Rückbesinnung auf das Rittertum hier nicht der Beglaubigung einer Standesideologie. Die Wiederentdeckung der Bräuche und Ideale der Institution stand im Zeichen eines grundlegenden emotionalen Ungenügens an den Verhältnissen der Gegenwart. Hurd stellt zunächst fest, dass das Rittertum an feudale Strukturen gebunden ist, die in ganz Europa ihre historische Gültigkeit verloren haben: «[…] the feudal state was, in a good degree, a state of war […] and this condition of the times […] gave rise to that military institution, which we know by the name of Chivalry.77 […] when that political constitution vanished out of Europe, the manners, that belonged to it, were no longer seen or understood. […] they never did subsist but once, and are never likely to subsist again […].«78 Für ihn sind die von der Literatur bis ins elisabethanische Zeitalter überlieferten Vorstellungen vom Rittertum Ausdruck archaischer Bräuche (»gothic manners«),79 die seitdem von der immer stärkeren Dominanz der Vernunft in der Periode des Klassizismus (»classical manners«)80 verdrängt worden sind (»[…] the […] Spirit of Chivalry […] support[ed] itself for a time, when reason was […] about to gain the ascendent over the portentous spectres of the imagination.«).81 Hurds Wiederendeckung der chivalry richtet sich somit vor allem gegen klassizistische Anschauungen und den philosophischen Geist (»philosophy«) seiner Zeit: What we have gotten by this revolution […], is a great deal of good sense. What we have lost, is a world of fine fabling […].82
Die Beschäftigung mit der Poesie des mittelalterlichen Rittertums soll archaische Leidenschaften freisetzen, die in der modernen zivilisierten Lebenswelt der Vernunft zum Opfer gefallen sind: Civil Society first of all ›tames us to humanity‹, as Cicero expresses it; and in the course of its discipline, brings us down to one dead level. Its effect is to make us all the same pliant, mimic, obsequious things; not unlike, in a word like trained apes […] But when the violent passions arise […] this artificial discipline is all shaken off […] pure Poetry […] is the proper language of Passion, whether we chose to consider it as enobling or debasing the human character.83
Anders als in England fanden die Mémoires sur l’ancienne chevalerie im deutschen Sprachraum erst wesentlich später mit der Übersetzung durch den Rechtshistoriker Johann Ludwig Klüber
77. Hurd, Richard, »Letters on Chivalry and Romance«, in: ders., Moral and Political Dialogues; with Letters on Chivalry and Romance, 3 Bde., London 1765, Nachdruck Farnborough /Meisenheim a. Glan 1972, Bd. 3, 189–338, hier: S. 199 f. 78. Ibid., S. 327 f. 79. Vgl. dazu S. 213–260. 80. Ibid., S. 328. 81. Ibid., S. 334. 82. Ibid., S. 337. 83. So in Hurds frühen Notes on the Art of Poetry, in: The Works of Richard Hurd, London 1811, 8 Bde., New York 1967, Bd. 1, S. 63–277, hier: S. 104.
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(Das Rittertum des Mittelalters nach seiner politischen und militärischen Verfassung [1785– 1791])84 ihren Nachhall. Die vorausgegangenen antiquarischen Bemühungen um die Epoche der ritterlichen Lebensweise, insbesondere Johann Jakob Bodmers und Johann Jakob Breitingers Proben der alten schwäbischen Poesie des dreyzehnten Jahrhunderts. Aus der Manessischen Sammlung (1748) und ihre Sammlung von Minnesängern (1758–1759), sowie Christoph Heinrich Myllers Sammlung deutscher Gedichte aus dem XII., XIII. und XIV. Jahrhundert (1782–1785), blieben aufgrund der spezifischen Entwicklung in Deutschland ohne Erfolg, wo man vor allem darum rang, den Absolutismus mit aufklärerischen Grundsätzen zu einem fürstlichen Rechtsstaat zu reformieren. Angesichts der Verdikte gegen diese Bemühungen wie das des Preussenkönigs Friedrich II. (»In meiner Bücher-Sammlung wenigstens, würde Ich, dergleichen elendes Zeug, nicht dulten; sondern herausschmeissen.«)85 bleibt Bodmer nur die Feststellung, seiner Zeit offenbar zu sehr voraus zu sein: »Alle meine Bemühungen haben […] den Beyfall unsrer Dichter nicht erhalten können. Ein ganzer Theil der reichen und schönen manessischen Sammlung liegt in der Verleger Gewölbe […] ich bin zu frühe in diese Welt gekommen.«86
Die spätaufklärerische Vereinnahmung des Rittertums Die Mythifizierungen des mittelalterlichen Rittertums in Frankreich und England, die stark gegenwartskritische Züge tragen, riefen auf Seiten der Aufklärung unterschiedliche Reaktionen hervor. Einerseits wurden die Ideale der chevalerie bzw. chivalry zunehmend vom Standpunkt des geschichtlichen Fortschritts aus vereinnahmt. Dabei griffen die Autoren selektiv jene Anschauungen auf, die das diesseitsorientierte Handeln des Ritters begründeten. Andererseits wurde das Rittertum als Gegenstand eines rein ästhetischen Genusses interessant. Während d’Alembert (1717–1783) im Artikel Chevalerie der Encyclopédie (1751–1765) noch die Argumente Montesquieus wiedergibt, spricht der Chevalier de Jaucourt den Idealen des Rittertums im Artikel Roman de chevalerie die zivilisatorische Wirkung zu, dem hohen Affektpotential des mittelalterlichen Aristokraten Grenzen gesetzt zu haben: On ne négligea rien dans ces premiers tems, de ce qui pouvait inspirer à ces hommes féroces, l’honneur, la justice, la défense de la veuve & de l’orphelin, enfin l’amour des dames. La réunion de tous ces points a produit successivement des usages & des lois qui servirent de frein
84. Vgl. dazu Schmid, Ch., Die Mittelalterrezeption des 18. Jahrhunderts zwischen Aufklärung und Romantik (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. 19), Frankfurt a. M. / Bern / Las Vegas 1979, S. 319 f. 85. Zitiert bei Raumer, Rudolf von, Geschichte der Germanischen Philologie vorzugsweise in Deutschland, München 1870, S. 261. 86. Zitiert bei Kozielek, G., »Einleitung«, in: ders. (ed.), Mittelalterrezeption. Texte zur Aufnahme altdeutscher Literatur in der Romantik (Deutsche Texte. 47), Tübingen 1977, S. 1–43, hier: S. 4. Zur Rezeption mittelalterlicher Texte im deutschen 18. und 19. Jahrhunderts vgl. auch Krohn, Rüdiger, »Die Wirklichkeit der Legende. Widersprüchliches zur sogenannten Mittelalter-«Begeisterung« der Romantik«, in: Kühnel, J., et al. (eds.), Mittelalter-Rezeption II. Gesammelte Vorträge des 2. Salzburger Symposiums ›Die Rezeption des Mittelalters in Literatur, Bildender Kunst und Musik des 19. und 20. Jahrhunderts‹ (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 358), Göppingen 1982, S. 1–29.
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à ces hommes qui n’en avoient aucun, & que leur indépendance jointe à la plus grande ignorance, rendoit fort à craindre.87
Die britischen Gesellschaftshistoriographen William Robertson (The History of the Reign of the Emperor Charles the Fifth, Edinburgh 1769), John Millar (The Origin of the Distinctions of Ranks, Edinburgh 1771) und Adam Ferguson (An Essay on the History of Civil Society, London 1773) sehen im Rittertum ein Gegengewicht zur Anarchie feudaler Lebensverhältnisse. Die chivalry ist für sie der Nucleus moderner zivilisierter Verhaltensweisen und gesellschaftlicher Institutionen: The point of honour, the prevalence of gallantry in our conversations […] are undoubtedly remains of this antiquated system: and chivalry, uniting with the genius of our policy, has probably suggested those pecularities in the law of nations, by which modern states are distinguished from the ancient.88
Die Ideale des Rittertums sind somit in das zeitgenössische Gentleman-Ideal eingegangen (»[…] the English gentleman retained those elements of chivalric idealism, that served to lend dignity and meaning to his life […].«).89 Auf den rein ästhetischen Reiz der ritterlichen Vorstellungswelt, ohne dabei zeitgenössische Wertmassstäbe und Verhaltensweisen in Frage zu stellen, setzte als einer der ersten Aufklärer Voltaire in seiner späten christlich heroischen Tragödie Tancrède (1760). In der letzten seiner drei Rezensionen des Stücks vom 15. Oktober 1760 drückt Frédéric-Melchior Grimm (1723– 1807) seine Verwunderung darüber aus, dass die französischen Dramatiker das Rittertum nicht früher als stoffliche Quelle ihrer Stücke entdeckt haben (»[…] vous serez étonné que nos poëtes dramatiques aient été si longtemps sans puiser dans une source aussi belle et aussi abondante.«)90 Der Charme des Stücks liegt für ihn vor allem in der vom zeitgenössischen Leser gewünschten pittoresken Vermischung aus Erhabenem und Schönem. Grimms geradezu hymnische Äusserungen über das ästhetische Vergnügen am mittelalterlichen Rittertum sind zugleich getragen von einem — für ihn typischen — zynischen Unterton, mit dem der Aufklärer seinen Abstand zu der zunehmend kritiklosen Begeisterung für den Gegenstand markiert: Cette pièce a je ne sais quoi d’attrayant et de touchant […] les mœurs de la chevalerie, mises en action, ont un charme inexprimable. […] Le courage et la galanterie, la dévotion et l’amour, la candeur, le désintéressement, la loyauté, la vie errante, les travaux pénibles entrepris pour deux beaux yeux, dont la cause, si importante pour leur chevalier, faisait si peu de chose au
87. In: Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société des gens de lettres, 35 Bde., Neufchâtel 1751–1780; Nachdruck Stuttgart — Bad Cannstadt 1967, Bd. 14, S. 342 f, hier: S. 343. 88. Ferguson, Adam, An Essay of the History of Civil Society, Forbes, Duncan (ed.), Edinburgh 1866, S. 203. Vgl. dazu Pritzkuleit, S. , Die Wiederentdeckung des Ritters, op. cit., S. 110 f. 89. Ferguson, op. cit., S. 225. Zu ähnlichen Ansichten über die Auswirkungen des Rittertums auf die Moderne vgl. Gilbert Stuarts A View of Society in Europe in its Progress from Rudeness to Refinenment, Edinburgh 1778, Robert Henrys The History of Great Britain: from the first Invasion of it by the Romans under Julius Caesar, London 1771–1793, und Edward Gibbons The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, London 1776–1788. Vgl. auch Pritzkuleit, S. , Die Wiederentdeckung des Ritters, op. cit., S. 112–125. 90. In: Correspondance littéraire, philosophique et critique, par Grimm, Diderot, etc., Tourneux, M. (ed.), 16 Bde., Paris 1877–1882, Bd. 4, S. 300–303, hier: S. 301.
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Michael Bernsen genre humain; tout ce contraste de grand, de noble, de simple, de cérémonieux et de ridicule, offre à un poëte la plus belle carrière pour tous les genres de son art.91
Nach Voltaire setzte dann insbesondere die Oper und die komische Oper, die sich des Rittertums annehmen,92 auf die hohe Theatralität des Gegenstandes (»Les mœurs de la chevalerie sont singulièrement théâtrales […].«).93 Die Bibliothèque universelle des romans (1775–1789), ein Parallelunternehmen zur Encyclopédie, machte in der Abteilung ›Romans de chevalerie‹ im Stil eines Readers Digest zahlreiche mittelalterliche Romane für den Leser des 18. Jahrhunderts verfügbar. Die ritterliche Welt wird in kurzen Auszügen und Präsentationen der Texte — sogenannten analyses raisonnées, wie es im Untertitel heisst — auf die Bedürfnisse der Zeitgenossen stilisiert, d.h. von langen Schlachtendarstellungen sowie argumentativen Passagen gesäubert und stattdessen mit zum Teil erotischen Details angereichert.94 Auf der Welle des ästhetischen Gefallens an den theatralischen Effekten des Rittertums lagen auch die deutschen Ritterdramen und Ritterromane der Sturm- und Drangzeit, die ihren Anstoss durch Goethes (1749–1832) Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (1773) erhalten haben. Goethe selbst hatte im Bemühen um die Errichtung einer nationalen Schaubühne mit dem Ritter Götz den Typus eines volkstümlichen, raubeinigen Selbsthelfers vorgestellt, der selbstlos im Namen von Freiheit und Gerechtigkeit gegen die fürstliche Willkür agiert und allein dem Kaiser verpflichtet ist.95 In den nachfolgenden Stücken eines Joseph Marius Babo (Otto von Wittelsbach [1782]), Jakob Maier (Fürst von Stromberg [1782]), Joseph August von Törring (Agnes Bernauerin [1780], Kaspar der Torringer [1785]), Christian Heinrich Spiess (Klara von Hoheneichen [1790]), August von Kotzebue (Johanna von Montfaucon [1800]), sowie den Romanen Benedikte Nauberts (Walther von Monbarry [1786]), Veit Webers (Sagen der Vorzeit [1787–1798]), Friedrich Schlenkerts (Friedrich mit der gebissenen Wange [1787–1788]) und Karl Gottlob Cramers (Haspar a Spada [1792–1793]) wurde das Selbsthelfermotiv des Götz hemmungslos trivialisiert: Die raubeinigen Ritter tragen Züge des zeitgenössischen deutschen Biedermanns. Die Handlung der Stücke und Romane werden durch zahlreiche Motive aus den modischen Räuber- und Gespenstergeschichten angereichert.96 In seiner kulturhistorischen
91. Ibid., S. 300. 92. Vgl. dazu Cucuel, G., »Le Moyen âge dans les opéras-comiques du XVIII e siècle«, Revue du dix-huitième siècle 2, 1913, S. 56–71. Vgl auch Lanson, R., Le Goût du Moyen âge en France au XVIII e siècle (Architectures et arts décoratifs. 3), Paris / Bruxelles 1926, bes. S. 21–27. 93. Vgl. Grimms zweite Rezension von Tancrède vom 1. Oktober 1760, in: Correspondance littéraire, op. cit., Bd. 4, S. 292–299, hier: S. 299. 94. Zum aufschlussreichen Fall des Perceval le Gallois vgl. die Untersuchung von Poirier, Roger, La Bibliothèque universelle des romans. Rédacteurs, textes, public (Histoire des idées et critique littéraire. 158), Genf 1976, bes. S. 79–83. 95. Zu Goethes Drama vgl. Schröder, Jürgen, »Individualität und Geschichte im Drama des jungen Goethe«, in: Hinck, W., (ed.), Sturm und Drang (Athenaeums Studienbücher: Literaturwissenschaft), Frankfurt a. M. 1989, S. 192–212, bes. S. 203–205. 96. Zum Ritterdrama vgl. Krause, Markus, Das Trivialdrama der Goethezeit. 1780–1805. Produktion und Rezeption (Mitteilungen zur Theatergeschichte der Goethezeit. 5), Bonn 1982, bes. S. 194–223, und zum Ritterroman Beaujean, Marion, Der Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Ursprünge des modernen Unterhaltungsromans
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Abhandlung Über den Geist und die Geschichte des Ritterwesens älterer Zeit. Vorzüglich in Rücksicht auf Deutschland (1786) beschreibt Karl Philipp Conz (1762–1827) das Interesse am Rittertum, das dieser Literatur zugrunde liegt, als eine Art Geisterbahnfahrt des aufgeklärten Lesers: Wir […] leben und weben jetzt in einer Welt, die freylich uns oft nur um so reizender scheint, weil — sie von der Einbildung verschönt ist, die das Rauhe und Beschwerliche daran […] nicht berechnet […] Aber danken dürfen wir doch immer der Vorsehung, die uns in sittlich aufgeklärtere, ruhigere Zeiten versetzt hat […].97
Von der deutschen Romantik wurde eine solche Beschäftigung mit dem Gegenstand als unhistorisch abgelehnt98 und zugleich der Wunsch nach einer echten Wiederauferstehung des ritterlichen Geistes geäussert: […] möge in unsern Zeiten […] die herrliche Blume des Ritterthums uns zurückgegeben werden, die in der letzten Hälfte des 18ten Jahrhunderts, wo die Spiess- und Cramer- und Schlenkertschen Ritterstücke florierten, entstellt, und darum verachtet wurde, und seitdem noch immer unter dem Banne dieser gewiss unverdienten Schmach beschlossen liegt.99
Die restaurative Verklärung des Rittertums als Sinnbild des Mittelalters Einen qualitativ neuen Schritt der Mythifizierung des Rittertums bedeuteten Edmund Burkes (1729–1797) Reflections on the Revolution in France (1790). Für Burke wurde die chivalry zum leuchtenden Sinnbild der feudalen Verhältnisse schlechthin, die seit dem Mittelalter die englische und die französische Gesellschaft bis zur Revolution bestimmt hatten. Das Rittertum verbindet die Vorstellung vom mannhaften, heroischen Unternehmungsgeist (»manly sentiment and heroic enterprise«)100 mit einer grossherzigen Loyalität gegenüber der ständischen Ordnung und dem weiblichen Geschlecht (»that generous loyalty to rank and sex«).101 Durch dieses ritterliche Ideal (»This mixed system of opinion and sntiment had its origin in the ancient chivalry; and the principle, though varied in the appearance […] subsisted […].«)102 wird die feudale Gesellschaft für Burke zu einer Stätte idealer Gleichberechtigung unter Wahrung der ständischen Unterschiede:
(Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft. 22), Bonn 1969, bes. S. 118–122. 97. Gotha 1786, S. 105 f. 98. Vgl. die zitierten Bemerkungen von August Wilhelm Schlegel und Joseph von Eichendorff bei Krause, Markus, Das Trivialdrama, op. cit., S. 382, mit Anm. 39. 99. So im Artikel »Ritterwesen« der Allgemeinen deutschen Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände, 10 Bde., Leipzig 51820 (¹1796), Bd. 8, S. 329–342, hier: S. 341 f. 100. Burke, Edmund, Reflections on the Revolution in France, Grieve, A. J. (ed.) London /New York 1964 (¹1910), S. 73. 101. Ibid. 102. Ibid.
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Michael Bernsen It was this, which, without confounding ranks, had produced a noble equality […] It was this opinion which mitigated kings into companions, and raised private men to be fellows with kings.103
Burkes Verklärung des Rittertums führt zu einer Art »dream of order« (Alice Chandler),104 der die Aura der feudalen Lebensverhältnisse (»the pleasing illusions, which made power gentle and obedience liberal«)105 spürbar machen will, gemäss jenem vielzitierten Diktum Talleyrands: »Qui n’a pas vécu avant la Révolution, ne connaît pas toute la douceur de vivre.« Diese Idealisierung der chivalry stellte zugleich eine Abrechnung mit grundlegenden Anschauungen der Aufklärung dar. Der Untergang des Rittertums, den Burke mit der Französischen Revolution gekommen sieht, geht in letzter Instanz auf die alles zersetzende aufklärerischanalytische Vernunft (»this new conquering empire of light and reason«)106 zurück, durch die das Individuum aus seinen in Jahrhunderten gefestigten, affektiven gesellschaftlichen und familiären Bindungen (»the constitution of our country [bound up] with our dearest domestic ties«)107 herausgelöst wird. An die Stelle der Ehrerbietung gegenüber den gewachsenen Institutionen der feudalen Zivilisation (»reverence to our civil institutions«)108 ist der Egoismus des modernen Individuums (»selfish temper«)109 getreten, der auf eine stetige Veränderung der Gesellschaft (»a spirit of innovation«)110 drängt. Auf einer ganz ähnlichen Kritik der zeitgenössischen Verhältnisse beruht Chateaubriands (1768–1848) Verklärung des Rittertums als — bereits vergangener — kultureller Höhepunkt der neuzeitlichen Epoche des Christentums. Auch für ihn hat der vorherrschende analytische Geist zu einer Vereinzelung und damit zur Auflösung des gesellschaftlichen Gefüges geführt: […] l’esprit raisonneur et philosophique […] avilit les âmes, concentre toutes les passions dans la bassesse de l’intérêt particulier, dans l’abjection du moi humain, et sape ainsi à petit bruit les vrais fondements de la société […].111
Mit der fortschreitenden Zivilisation im Zeichen rationaler Entwicklungsschübe entsteht im Subjekt eine emotionale Unruhe (»Plus les peuples avancent en civilisation, plus [l’]état du vague des passions augmente […].«),112 die allein die christliche Religion befriedigen kann, da sie Emotionen und Verstand gleichermassen ansprechende Lebensformen bereitstellt: »[…] la religion […] ne sépare point, comme la sagesse humaine, la poésie de la morale, et la
103. Ibid., S. 74. 104. Vgl. A Dream of Order. The Medieval Ideal in Nineteenth Century English Literature, Lincoln, Nebr., 1970, bes. S. 46 f. und S. 168 f. 105. Ibid. 106. Reflections, op. cit., S. 74. 107. Ibid., S. 32. 108. Ibid. 109. Ibid., S. 31. 110. Ibid. 111. Génie du christianisme ou beautés de la religion chrétienne (1802), in: Chateaubriand, Essai sur les révolutions. Génie du christianisme, Regard, M. (ed.), Paris 1978, S. 707 (II, 3, 8). 112. Ibid., S. 714 (II, 3, 9).
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tendresse de la vertu.«113 Das Rittertum ist für Chateaubriand die herausragendste dieser ganzheitlichen Lebensformen. Seine Beschäftigung mit der »Schönheit der ritterlichen Zeiten« (»les beautés des temps chevaleresques«)114 ist eine sentimentalische Rückwendung zum Höhepunkt der christlichen Epoche. Die bei La Curne beschriebenen pittoresken Details der chevalerie werden im Génie du christianisme (1802) aufgegriffen und durch eine lyrische Prosa poetisiert.115 Durch diese Verklärung der ohnehin schon halbpoetischen chevalerie (»le beau mélange de la vérité et de la fiction«)116 will er die Einbildungskraft des Lesers ansprechen, um so die moderne Grundbefindlichkeit melancholischer Unbestimmtheit zu kompensieren.117 Mme de Staëls (1766–1817) späterer Besinnung auf die in Deutschland angeblich noch vorfindlichen Werte der chevalerie in De l’Allemagne (1814), die Verteidigung der Schwachen, die Loyalität im Kampf, die Aufrichtigkeit und die christliche Nächstenliebe, liegt ebenfalls ein tiefes Bedauern über den Verlust des Enthusiasmus in der modernen Zeit zugrunde. Für Mme de Staël ist die Epoche des heroischen Rittertums die Glanzzeit eines enthusiastischen, geradezu kultischen europäischen Patriotismus (»une sorte de patriotisme européen, qui remplissoit du même sentiment toutes les âmes«),118 der mit dem absolutistischen Machtstaat und der Fortsetzung zentralstaatlicher Machtpolitik unter Napoléon sein Ende gefunden hat. Dem seitdem vorherrschenden Geist der Überheblichkeit, der Immoralität und des Skeptizismus (»la fatuité, l’immoralité et l’incrédulité«)119 begegnet sie allerdings nicht mit einer nostalgischen Rückwendung zum mittelalterlichen christlichen Heroimus, sondern mit der zukunftsorientierten Forderung nach einer Durchsetzung aufklärerischer Freiheitsrechte. Der positive Entwurf einer Resakralisierung der als prosaisch empfundenen Wirklichkeit wurde hauptsächlich zum Programm der deutschen Romantik, deren Autoren sich zu diesem Zweck immer wieder die Institution des mittelalterlichen Rittertums vor Augen führten. Den Weg für die mythifizierende Hinwendung zum christlichen Rittertum hatte in Deutschland vor allem Herder (1744–180) bereitet, der in seiner Schrift Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) dem aufklärerischen Verdikt vom finsteren Mittelalter ein produktives Verhältnis zur Geschichte entgegengesetzt und vorurteilsfrei die individuellen Charakteristika der einzelnen historischen Epochen herausarbeitet, für das Mittelalter namentlich den Handelsgeist
113. Ibid., S. 700 (II, 3, 6). 114. Ibid., S. 681 (II, 2, 11). 115. Vgl. z.B. den letzten Abschnitt von II, 2, 12, S. 681. Zu Chateaubriand und La Curne vgl. Walter, Marie-Jeanne, »Une source du Génie du christianisme«, Revue d’Histoire de la France 29, 1922, S. 225–235. 116. Chateaubriand, op. cit., S. 682 (II, 2, 11). 117. Zu Chateaubriands Bild vom Rittertum vgl. auch Grimm, Reinhold R., »Romantisches Christentum. Chateaubriands nachrevolutionäre Apologie der Revolution«, in: Maurer, K. / Wehle, W. (eds.), Aufbruch zur Moderne (Romanistisches Kolloquium. 5), München 1991, S. 13–72, bes. S. 64–68. 118. De l’Allemagne, 5 Bde., Pange, J. de (ed.), Paris 1958–1960, Bd. 1, S. 75 (Teil I, Kap. 4). 119. S. 77. Zu den Vorstellungen vom Rittertum im Umfeld der Gruppe von Coppet, insbesondere zu J. C. L. Simonde de Sismondi und Mme de Staël, vgl. neuerdings Roulin, Jean Marie, »Epopées et romans chevaleresques dans le Groupe de Coppet: racines nationales et identité européenne«, in: Kloocke, K. (ed.), Le Groupe de Coppet et l’Europe. Actes du V e colloque de Coppet, Tübingen 1993, S. 183–197, bes. S. 189 f.
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und den Rittergeist.120 Der modernen Vereinzelung im Zeichen des allmächtigen Subjekts setzte die deutsche Romantik dann die Vision vom Mittelalter als einer christlich-idealisierten, harmonischen Ständegemeinschaft entgegen, wie es beispielhaft Novalis (1772–1801) zu Beginn seines programmatischen Aufsatzes Die Christenheit oder Europa (1799) tut: Es waren schöne glänzenden Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; ein grosses gemeinschaftliches Interesse verband die entlegendsten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs.121
»Nur die Religion«, so heisst es am Ende der Schrift, »kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes, friedenstiftendes Amt installieren.«122 Agens dieser Erweckungsbewegung ist für Novalis der ritterliche Held, sein Medium ist die Poesie. Als vorbildliche Lebensform erscheint ihm der Ritterdichter, dessen Werdegang er in seinem Roman Heinrich von Ofterdingen (1802) vorführt: »[…] die wahren Helden [sind] das edelste Gegenbild der Dichter, nichts anders als unwillkürlich von Poesie durchdrungene Weltkräfte […] Ein Dichter, der zugleich Held wäre, ist schon ein göttlicher Gesandter […].«123 Auch den Gebrüdern Schlegel gilt das Rittertum als eine gesamteuropäische, auratische Institution, an die man sich in Zeiten des »jetzt durch [politische Interessen und bornierten nationalen] Egoismus zerspaltete […] Europa«124 und der »rechtlich gleichmachenden Einheit« im nachrevolutionären »Vernunftstaat«125 erinnern muss. Für August Wilhelm Schlegel (1767–1845) ist die Einrichtung eine universale Bildungsinstanz126 des »damaligen Menschengeschlechts«, das »nicht nur an Riesenkraft der Leiber, sondern an Grösse und Reinheit der Gesinnungen den nachfolgenden weit überlegen war«.127 Die Universalität der Bildung erscheint ihm »als einziger Rückweg zur Natur«.128 Im Vordergrund steht für ihn daher die Beschäftigung mit der Ritterdichtung, da sich in ihr eine »mythologische Kraft« offenbart, die vom »gemeinsamen Streben« des gesamten Mittelalters zeugt.129 Aus dieser Erkenntnis leitet sich für die Gegenwart die Forderung nach einer »ritterlichen Poesie«130 ab.
120. Vgl. die entsprechenden Kapitel von Teil 4, Buch 20 der Schrift. 121. In: Novalis, Werke / Briefe / Dokumente, 4 Bde., Wasmuth, E. (ed.), Heidelberg 1953–1954, Bd. 1: Die Dichtungen, S. 279–303, hier: S. 279. 122. Ibid., S. 301. 123. Heinrich von Ofterdingen, in: Werke, op. cit., Bd. 1, S. 7–229, hier: S. 134. 124. Schlegel, August Wilhelm, Geschichte der romantischen Literatur (1803–1804), in: ders., Kritische Schriften und Briefe, 7 Bde., Lohner, E. (ed.), Stuttgart 1962–1974, Bd. 4, S. 22. 125. Schlegel, Friedrich, Philosophie der Geschichte. In achtzehn Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre 1828, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 9, S. 315. 126. «das eigentliche Rittertum, von welchem hauptsächlich alle Bildung des Mittelalters ausging« (Geschichte der romantischen Literatur, S. 21). 127. Schlegel, August Wilhelm, op. cit., S. 108. 128. Ibid., S. 80. 129. Ibid., S. 122. 130. Ibid., S. 80.
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Neben zahlreichen Editionen mittelalterlicher Ritterdichtung131 suchte vor allem Friedrich de la Motte-Fouqué (1777–1843) mit seinen Romanen dieses Bedürfnis nach Stoffen aus den Zeiten des heroischen Christentums zu erfüllen. In seinem Märchenroman Der Zauberring (1813) entwirft er das Tableau einer gleichsam heiligen Allianz des christlich-europäischen Rittertums, das man als einen — unbeabsichtigt politischen — Gegenentwurf deutscher Provenienz gegen die Bestrebungen des Eindringlings Napoleon lesen kann.132 Angesichts eines solchen Abgleitens der Ritterbegeisterung ins Märchenhafte bleibt selbst vorbehaltlosen Anhängern des mittelalterlichen Katholizismus und seiner Lebensformen — wie Joseph Eichendorff — am Ende der romantischen Bewegung nur die Feststellung, dass die zentrale Aufgabe der Romantik, die Resakralisierung der modernen Lebenswelt, durch die Beschränkung auf die rein poetische Wiederauferstehung des christlichen Heroismus gescheitert ist: »[die Aufgabe der Romantik] war halb eine ethische, die romantischen Poeten aber nahmen sie blos ästhetisch.«133 Die sentimentalisch-nostalgische Rückwendung zum Rittertum machte in der Folgezeit einer nüchternen Betrachtung der mittelalterlichen Geschichte mit ihren individuellen Gegebenheiten Platz, wodurch einer Mythifizierung weitgehend der Boden entzogen wurde.
Die Auflösung des Mythos vom Rittertum durch die Beschäftigung mit den historischen Details mittelalterlicher Geschichte Wie bereits La Curnes mythifizierende Auferstehung des Rittertums lösten die romantischen Verklärungen der Institution als Sinnbild des feudalen bzw. christlichen Mittelalters vielfältige Reaktionen aus. Hatte die Aufklärung seinerzeit jedoch noch versucht, das durch La Curne geweckte Interesse am Rittertum auf die eine oder andere Art zu vereinnahmen, so erfuhren die Entwürfe eines Burke oder Chateaubriand auf Seiten der Anhänger aufklärerischer Ideen und ihrer Umsetzung in der Französischen Revolution vehemente Ablehnung. Thomas Paine (1737–1809), der Vertreter der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung, begrüsst ausdrücklich in den gegen Burke gerichteten Rights of Man (1791) den Untergang des Rittertums (»[…] the Quixotic age of chivalry nonsense is gone […]«),134 während William Godwin (1756–1836) mit seinem Roman Things as They are; or, the Adventures of Caleb Willliams (1794) detailliert vorführt, wie der Squire Ferdinando Falkland im England der neunziger Jahre durch seine Beharren auf den unzeitgemässen Ehrvorstellungen der chivalry zum Mörder wird und daran zugrunde geht. Chateaubriand muss sich eigens in einer Défense du Génie du Christianisme (1826) gegen die Kritik an seinem Werk verteidigen, die Lebensformen des christlichen Mittelalters wie das Rittertum ästhetisiert, d.h. auf Kosten ihres religiösen Gehalts poetisch
131. Vgl. dazu Kozielek, G., »Einleitung«, op. cit. 132. Vgl. dazu Schulz, Gerhard, Die deutsche Literatur zwischen französischer Revolution und Restauration (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 7), München 1989, Bd. 2, S. 416. 133. Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, in: Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff, Bd. 1 ff., Kosch, W. / Sauer, A. / Kunisch, H. (eds.), Regensburg 1950 ff., Bd. 9, S. 469. 134. In: The Writings of Thomas Paine, 4 Bde., Conway, M. D. (ed.), New York 1967, Bd. 2, S. 287.
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überhöht zu haben. Allein die Heftigkeit dieser Reaktionen zeigt, dass die Zeit der Mythisierung des Rittertums als eine vom christlichen Geist getragene gesamteuropaeische Einrichtung, die man spiegelbildlich den Zeiten nach der Revolution vorhalten konnte, vorbei war. In der Nachfolge der kritischen Bewertung der Revolution durch Burke, Chateaubriand und die deutschen Romantiker kam es zu einer vermehrten Beschäftigung mit den bis ins Mittelalter zurückreichenden nationalen historischen Besonderheiten, die ein Ereignis wie das der Revolution ausserhalb Frankreichs verhindert hatten. Die Geschichtsschreibung wie die Literatur konzentrierten sich auf die lebendigen Details und das lokale Kolorit mittelalterlicher Geschichte. Das Mittelalter erschien nicht länger als ein statisches Gebilde ständischer und religiöser Vorgaben, sondern rückte in seiner entwicklungsgeschichtlichen Dynamik in den Blick. Dadurch wurde die Mythisierung des Rittertums weiter eingeschränkt: Das erwachte Interesse an einprägsam zu vermittelnden Beispielen gelebten Rittertums, die einzelne Phasen einer Entwicklung spiegeln, engte den Raum für den grossen theoretischen Entwurf ein. Zudem wurde die Beschäftigung mit andern mittelalterlichen Lebensweisen als der ritterlichen aufgewertet, da die Geschichte des Mittelalters an sich für die Zeitgenossen interessant wurde. An den historischen Romanen Walter Scotts (1771–1832), die in der Literatur europaweit ihre Wirkung hinterliessen und darüberhinaus zum Vorbild der europäischen Historiographie wurden, lassen sich diese Relativierungen des Mythos vom christlichen Ritter mustergültig ablesen. Auch Scott mythisierte das Rittertum als zivilisatorische Instanz, deren Tugendsystem aus »religious sentiment, love and valour«135 die ungebremsten Energien und rohen Sitten des mittelalterlichen Menschen gezügelt habe (»Founded on principles so pure, the order of chivalry could not […] but occasion a pleasing […] development of the energies of human nature.«).136 Im Geist des Rittertums sieht er den Nukleus ethischen Verhaltens in der modernen Zivilisation (»The spirit of chivalry [was] founded on generosity and self-denial, of which if the earth were deprived, it would be difficult to conceive the existence of virtue among the human race.«).137 Bei aller Apologie des ritterlichen Ethos ist Scott jedoch bereits in seinem Artikel Chivalry für die Encyclopedia Britannica (1818) um historische Differenzierung bemüht, indem er immer wieder Fehlentwicklungen der ritterlichen Lebensweise herausstellt (»[…] the devotion of the knights often degenerated into superstition, — their love into licentiousness, — their spirit of loyalty or of freedom into tyranny and turmoil […]«).138 In seinen Mittelalterromanen, die hauptsächlich in Übergangsperioden spielen, führt er dann von Ivanhoe (1819) über The Monastery (1820), The Abbot (1820), Kenilworth (1821) bis hin zu Quentin Durward (1823) den allmählichen Untergang des Rittertums vor,139 der für ihn exemplarisch durch die selbstsüchtige Figur Ludwigs XI. verkörpert wird (»[…] the spririt of chivalry […] began to be
135. »Chivalry« (1818), abgedruckt in: The Miscellaneous Prose Works of Sir Walter Scott, 6 Bde., Edinburgh 1834–1871, Bd. 6, S. 2–126, hier: S. 24. 136. Ibid., S. 11. 137. »Author’s Introduction«, in: Walter Scott, Quentin Durward, London / New York 1960, S. 3–11, hier: S. 3. 138. S. 11. Vgl. Pritzkuleit, S. , Die Wiederentdeckung des Ritters, op. cit., S. 144–159. 139. Vgl. die Zusammenfassung bei Pritzkuleit, S. , Die Wiederentdeckung des Ritters, op. cit., S. 236–238.
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innovated upon and abandoned by those grosser characters, who centred their sum of happiness in procuring the personal objects on which they had fixed their own exclusive attachment.«).140 Das Ziel, dem Leser seiner historischen Romane die Ereignisse mittelalterlicher Geschichte plausibel zu vermitteln und ihn zu illusionieren, zwingt Scott, dem idealschönen Rittertum die erhabenen, von Affekten bestimmten machiavellistischen Machtinteressen einiger Romanfiguren und ihre grausamen Auswirkungen auf die Realität gegenüberzustellen.141 Dem vor allem am ritterlichen Prunk interessierten Karl dem Kühnen steht dementsprechend in Quentin Durward der Realpolitiker Ludwig XI. gegenüber. Der Titelheld des Romans rückt weitgehend in die Rolle des Beobachters. Scott verzichtet damit auf eine die Handlung überragende ritterliche Identifikationsfigur. Das Rittertum Quentins reduziert sich auf seine persönliche Ehrenhaftigkeit. In den Romanen The Monastery und The Abbot wird darüberhinaus — insbesondere am Beispiel der Figur des Earl of Murray — der ritterliche Wertkodex mit den Idealen der protestantischen Reformation, an erster Stelle der absoluten Hintanstellung ständischer und persönlicher Interessen, identifiziert.142 Der Mythos vom Rittertum als einer gesamteuropäischen Institution wird auf diese Weise aufgelöst, was bis heute immer wieder zur Bewertung Scotts als einem Gegner des Rittertums geführt hat.143 Die Idealisierung der ritterlichen Lebensweise als Gegenpol der modernen Individualisierung wurde in der Folgezeit dann in dem Masse obsolet, in dem die Historiographie wie auch die Literaturgeschichtsschreibung zunehmend die historisch-kritische Methode einer Überprüfung der benutzten Quellen favorisierten und sich die Auffassung von der Geschichte als einem funktionalen Gebilde der den jeweiligen Epochen zugrunde liegenden Ideen bzw. sozialen Strömungen durchsetzte.
Auswahlbibliographie Beaujean, Marion, Der Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Ursprünge des modernen Unterhaltungsromans (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 22), Bonn 1969. Beutin, Heidi, Der Löwenritter in den Zeiten der Aufklärung, Göppingen 1994. Blumenberg, Hans, Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 1979. Bolz, Norbert, »Entzauberung der Welt und Dialektik der Aufklärung«, in: Kemper, P. (ed.), Macht des Mythos — Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt a.M. 1989. Borst, Arno, »Das Rittertum im Hochmittelalter. Idee und Wirklichkeit«, in: ——— (ed.), Das Rittertum im Mittelalter (= Wege der Forschung 349), Darmstadt 1976, S. 231–246.
140. »Author’s Introduction«, op. cit., S. 3. Zu der mit dieser Bemerkung intendierten Polemik gegen die zeitgenössische utilitaristische Gesellschaftstheorie der »happiness of the greatest number« durch Jeremy Bentham vgl. Uppendahl, Herbert, »Edmund Burke and Sir Walter Scott. Ein Beitrag zur Diffusionsgeschichte politischer Ideen«, in: Germanischromanische Monatsschrift 28, 1978, S. 311–323, hier: S. 314. 141. Zu dem dieser Darstellungsweise zugrunde liegenden ästhetischen Prinzip des »picturesque in action« vgl. Tippkötter, Horst, Walter Scott. Geschichte als Unterhaltung. Eine Rezeptionsanalye der Waverley Novels (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. 13), Frankfurt a. M. 1971, bes. S. 222–224. 142. Vgl. Pritzkuleit, S. , Die Wiederentdeckung des Ritters, op. cit., S. 190. 143. Vgl. z. B. Hart, Francis R., Scott’s Novels: The Plotting of Historic Survival, Charlottesville 1966, S. 152, und Branny, Andrzej, Medieval Novels by Sir Walter Scott, Lord Bulwer-Lytton and Charles Kingsley and the Outlook on National History, Diss. Krakau 1986, S. 91.
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Epilog Wandel des literarischen Kanons Thomas Bleicher
1. Im Jahr 1750 lautete die Frage der Akademie in Dijon: »Si le rétablissement des Sciences et des Arts a contribué à épurer les mœurs«. Der preisgekrönte Diskurs entschied, dass »le progrès des sciences et des arts n’a rien ajouté à notre véritable félicité«, ja dass er sogar »corrompu nos mœurs« und somit auch »porté atteinte à la pureté du gout«.1 Diese Absage an den Fortschrittsglauben und an den Nutzen von Wissenschaften und Künsten wurde begründet mit der Bemerkung: »Il n’a point fallu de maitres à ceux que la nature destinait à faire des disciples. Les Verulam (i.e. Bacon), les Descartes et les Newton, ces précepteurs du genre humain n’en ont point eu eux-mêmes, et quels guides les eussent conduits jusqu’où leur vaste génie les a portés?«.2 Der Autor dieses Diskurses war ein Citoyen de Genève, der 1762 ein weiteres Beispiel seiner erzieherischen Ideen vorlegte. In dem Roman Emile (1762) sucht der Citoyen Rousseau (1712–1778) de Genève diejenigen Situationen, »où tous les besoins naturels de l’homme se montrent d’une manière sensible à l’esprit d’un enfant«, und obwohl er vorgibt, die Bücher zu hassen, da »ils n’apprennent qu’à parler de ce qu’on ne sait pas«, findet er diese Situation dennoch in einem Buch beschrieben, qui fournit à mon gré le plus heureux traité d’éducation naturelle. Ce livre sera le premier que lira mon Emile; seul il composera durant longtemps toute sa bibliothèque, et il y tiendra toujours une place distinguée. Il sera le texte auquel tous ses entretiens sur les sciences naturelles ne serviront que de commentaire. Il servira d’épreuve durant nos progrès à l’état de notre jugement, et tant que notre gout ne sera pas gaté sa lecture nous plaira toujours. Quel est donc ce merveilleux livre? Est-ce Aristote, est-ce Pline, est-ce Buffon? Non; c’est Robinson Crusoë.3
Dieser Ein-Buch-Kanon war Absage an den traditionellen Kanon, der — pädagogisch unhaltbar
1. Discours sur les sciences et les arts, Varloot, Jean (ed.), Paris 1987, S. 73. 2. Ibid., S. 74. 3. Œuvres complètes, Gagnebin, Bernard / Raymond, Marcel (eds.), 4 Bde., Paris 1969, S. 454 / 455.- Zum Paradigma ›canonique‹ in dieser Epoche, s. Encyclopédie (Neufchatel 1765), Bd. XII: Pindare, Anacréon, Horace, Malherbe, Racan, (Jean-Baptiste) Rousseau (Poète lyrique, S. 845–847); Homere, Virgile, Lucain, Statius, Silius Italicus, le Trissin, le Camoes, le Tasse, dom Alonzo d’Ercilla, Milton, Voltaire (Poème épique, S. 815–823); Aristophane, Ménandre, Plaute, Térence, Moliere (Poète comique, S. 842–844); Eschyle, Sophocle, Euripide, Séneque, Jodelle, Garnier, Hardy, Corneille, Racine, Shakespear, Johnson, Otway, Congreve, Rowe, Addison (Tragédie, Bd. XVI, S. 512–520). Siehe auch Charles Rolin, De la manière d’enseigner et d’étudier les Belles Lettres, Bd. I-IV, Paris 1765–70.
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— die klassische Literatur als ein unerreichbares Muster stilisiert hatte, und gleichzeitig Modellfall für eine zukünftige Literatur, die sich — fern von allen ästhetischen Autonomisierungstendenzen — der Lebenspraxis verschreiben müsste — einer neuen Lebenspraxis, die sich von zu viel Kunst und Künstlichkeit und zu mehr Natur und Natürlichkeit hinwendet. Erste literarische Beispiele, die die Konturen eines möglichen neuen Kanons anzeigen, waren Rousseaus Nouvelle Héloïse (1761), die englischen Nacht- und Todesdichtungen von Young, Harvey und Gray sowie Macphersons Ossian-Fälschungen, die in Frankreich begeisterte Übersetzer, Nachahmer und Leser fanden. Diese präromantische Umorientierung erfolgte inmitten einer schwierigen Phase der französischen Geschichte. Zwischen 1748, dem Ende des Österreichischen Erbfolgekrieges im Frieden von Aachen, und 1763, dem Ende des Siebenjährigen Krieges, büsste Frankreich seine politische Vormachtstellung ein und erlebte infolge der Staatskrise auch einen kulturellen Prestigeverlust nach innen wie nach aussen.
2. Als 1740 die Lettres Françoises et Germaniques, ou Réflexions Militaires, Littéraires, et Critiques sur les François et les Allemans4 erschienen, war der Glaube an die Kultur der ›Europe française‹ noch unerschüttert. Zwar bemühte sich der aus Frankreich kommende, in Deutschland lebende Autor Eléazar Mauvillon, die französischen und deutschen Vorzüge und Nachteile ohne die parteiliche französische »Prévention« und mit einer supranationalen ›Impartionalité‹ gegenseitig abzuwägen, aber gerade seine Briefe Sur quelques Auteurs François und Sur les Poetes Allemans5 fielen aus diesem allgemeinen Kontrastrahmen heraus. Der enkomiastischen Considération sur M. de Voltaire, der »sans contredit un des beaux Génies de ce siècle« ist,6 stand die Negativzeichnung der deutschen Literatur gegenüber (übrigens im Unterschied zum hochgeschätzten »progrès de la Philosophie en Allemagne«). Der fehlende Esprit, der Hauptgrund für die Unkenntnis deutscher Autoren ausserhalb Deutschlands, wurde hinterfragt und — mehr oder weniger tautologisch — beantwortet mit dem fehlenden »gout d’avoir l’esprit«.7 Dieses Defizit zeigte sich für Eléazar literaturimmanent u.a. in der Überschreitung der traditionellen Stilreinheit: »en Allemand c’est tout pêle-mêle, le serieux avec le bouffon, le sublime avec le rampant, & le grave avec le burlesque. Toutes les expressions y sont également bonnes, & on n’y fait point ces distinctions de termes Prosaiques & de Poëtiques«.8 Ein äusseres Kennzeichen war das Missverhältnis an Übersetzungen: Während kein deutschsprachiger poetischer Text in irgendeine andere Sprache übersetzt worden sei, gebe es
4. Mauvillon, Eléazar de, Lettres Françoises et Germanique, ou Réflexions Militaires, Littéraires, et Critiques sur les Francois et les Allemans, Londres 1740. 5. Ibid., I 13 / II 10, Zitation nach Band, Brief und Seite. 6. Ibid., I 13, 271. 7. Ibid., S. 440 / 442. 8. Ibid., S. 458.
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viele Übersetzungen ausländischer Autoren ins Deutsche9 — und auch dabei werde der poetische Verlust gegenüber dem Original sehr deutlich, wie es Eléazar an Neukirchs Version von Fénelons Télémaque (1699) aufzeigt.10 Namentlich erwähnt werden Opitz, Gottsched, Canitz und Brockes und kurz als französisch-englische Epigonen abgetan;11 eigene Literatur gäbe es nicht, zumal auch kein einziges deutsches Theaterstück vorliege.12 Und doch führt Eléazar eine Ausnahme an, die für sein literarisches Urteilsvermögen spricht: Johann Christian Günther (1695–1723); von ihm übersetzte er einige Gedichte, weshalb er dann sofort stolz betont: »Je suis peut-être le premier François qui se soit avisé de traduire des Vers Allemans en vers François«.13 Die erste konkrete Auswirkung dieser Lettres in Deutschland war die Gründung der literarischen Zeitschrift Die Belustigungen des Verstandes und Witzes (1741–45), in der die Gottsched-Schüler literaturtheoretisch und poetisch die »Früchte des deutschen Witzes und Verstandes« gleichsam als Beweisstücke gegen den französischen Esprit sammeln wollten.14 Die weiteren Widerlegungsversuche führten schliesslich soweit, »dass man in Deutschland auf Sprache und Literatur als wertvolle nationale Güter aufmerksam wurde und dass Deutschland, lange ehe es in irgendeiner anderen Hinsicht zu einer Nation wurde, einen literarischen Nationalstolz kannte«.15 Die Literatur, die diesen Nationalstolz auslöste, war jedoch noch eher Programm als schon Realität. Zwar kann man in den vierziger Jahren den Beginn einer eigenständigen deutschsprachigen Literatur ansetzen, aber Namen wie Gellert, Rabener, Kästner, Mylius, Zachariae u.a. sind für die Entwicklung der europäischen Literatur unbedeutend, sie bleiben im europäischen Kontext — trotz des Sonderfalls von Gessners (im Ausland bezeichnenderweise anders interpretierter) Idyllik — interne Grössen, die allerdings wichtige Impulse zur Herausbildung der deutschen Klassik und Romantik gaben. Und genau dies — eben ihre nationale Begrenztheit, ihre relationslose Überschätzung — ist der Angriffspunkt für die nachfolgende Generation: 30 Jahre später — in einer entscheidenden Phase der deutschen Literaturentwicklung, die auch hineinwirkte in die gleichzeitige Umbruchphase der europäischen Literaturentwicklung — wurde die nächste Kritik, diesmal keine generelle, sondern eine speziell literarische Kritik, geuebt. Und es war Eléazars Sohn Jakob Mauvillon (1743–1794), der durch seine genaue Kenntnis der Literatur seiner neuen Heimat und durch sein scharfes Urteil im Hinblick auf die Literatur seiner alten Heimat den Freund Ludwig August Unzer zu dem ›skandalösen‹ Briefwechsel Über den Werth einiger Deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend (1771 / 72) anregte. Erstmals wurde hier fast zwangsläufig die Notwendigkeit einer vergleichenden Literaturbetrachtung in bzw. für Deutschland proklamiert: gefordert war eine
9. Ibid., S. 461. 10. Ibid., S. 462 f. 11. Ibid., S. 465. 12. Ibid., S. 465 f. 13. Ibid., S. 460. 14. Zitiert nach Paul Boeckmann, Formgeschichte der deutschen Dichtung, Bd. 1, Hamburg ³1967, S. 519. 15. Bruford, Walter H., Die gesellschaftlichen Grundlagen der Goethezeit (1936), Frankfurt / Berlin / Wien 1979, S. 278.
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Thomas Bleicher Schrift (…), die der Nation zeigte, welche Schätze sie wirklich besitzt, und wie dieselben an Werthe von einander unterschieden sind (…), was es andern Nationen entgegen setzen darf, und was seinen Ruhm eigentlich bey der Nachwelt zu gründen im Stande ist. Der Hauptcharacter dieser Schrift müsste in der Vergleichung der berühmtesten deutschen Dichter mit den Alten und den vornehmsten Ausländern bestehen; denn nur die Wissenschaft von den Reichthümern oder Bedürfnissen andrer zeigt uns, ob wir reich oder arm genannt zu werden verdienen.16
Ausgangspunkt dieses Briefwechsels war die Verwunderung über die Hochschätzung Gellerts (1715–1769). Jakob Mauvillon, für den Gellert nur »ein sehr mittelmässiger Schriftsteller, und ein Dichter ohne einen Funken von Genie«17 war, bewirkte mit seiner »Umwertung […] auf der ganzen Front« eine »Revolution der (geltenden) Kunstanschauung«.18 Für diese »avantgardistische, von der Spaltung des Publikums in Elite und Masse ausgehende Kritik«19 hatte Gellert als »Lieblingsdichter« der »ganzen Nation«20 repräsentative Bedeutung, d.h. die Polemik traf nicht nur Gellert selbst, sie traf auch andere Autoren, sie traf Literaturkritik und Lesepublikum. Erst wenn Autor, ›Kunstrichter‹ und Leser ausbrechen aus diesem fatalen Kreislauf, in dem nur ein minderwertiger »Geschmack der Nation«21 produziert und rezipiert wird, können sie eine mit Ländern wie Italien, England und Frankreich vergleichbare ›nationale‹ Literatur heranbilden.22 So endet der erste Teil dieses Briefwechsels erst, wenn Jakob alle Genera einzeln aufgeführt und schon im innerdeutschen Vergleich, mehr noch im internationalen Vergleich durchgehend abgewertet hat. Und der zweite Teil legt schliesslich ein »historischpoetisches Glaubensbekenntniss« ab, nach dem Mauvillon »Classen unter den Dichtern aller Nationen«23 aufstellt. Der Kanon seiner Weltliteratur lässt sich annähernd umreissen; mit Sicherheit gehört Homer dazu, ausserdem Vergil und Cicero sowie Dante, Petrarca, Ariost, »welcher letztere meines Erachtens nebst dem Homer das gröste Genie ist, welches die Natur hervorgebracht hat«, »mein Abgott unter den Dichtern«.24 sodann Shakespeare, Milton, Swift, Richardson und Corneille, Racine, Molière, Voltaire. Zur »öbersten Classe der deutschen Dichter«25 zählen »unsre warhaftig grossen Dichter« Klopstock, Ramler, Gessner, Wieland,
16. Mauvillon, Jakob / Unzer, Ludwig August, Über den Werth einiger Deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend (1771 / 72), S. 62. 17. Ibid., S. 59. 18. Korff, Hermann A., Geist der Goethezeit — Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte, Leipzig 1962 (6. Auflage), Bd. 1, S. 145 (3. Kapitel: Die Revolution der Kunstanschauung). 19. Mattenklott, Gert /Scherpe, K. R., (eds.), Literatur im historischen Prozess 4 / 1–Westberliner Projekt: Grundkurs 18. Jahrhundert — Die Funktion der Literatur bei der Formierung der bürgerlichen Klasse Deutschlands im 18. Jahrhundert (Analysen), Kronberg 1974, S. 120. 20. Ibid., S. 32. 21. Ibid., S. 43 f. 22. Ibid., z. B. S. 52. 23. Mauvillon / Unzer, op. cit., II 80. 24. Ibid., II 228 / I 151. 25. Ibid., II 80.
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Gleim:26 »Hätt’ ich sie nicht, was könnt ich dem stolzen Ausländer entgegensetzen?«.27 Mit einem Hinweis auf Weisse und Lessing deutet Mauvillon noch an, »zu welchem Grade der Vollkommenheit man es mit Fleiss, Studiren und Übung bringen kan, ohne eben ein grosses Genie zu haben«.28 Genie jedoch war für Mauvillon — wie von Rousseau schon 1750 betont — »das einzige Tarif des Dichters«, der eben »nach dem Genie, und nicht nach der Wichtigkeit der Materie oder dem Nutzen […] beurtheilt werden« muss.29 Und Unzer führt aus, was er unter dem Genie eines »Dichters vom ersten Range« versteht: »der schöpferische Geist, welcher alle seine Gegenstände durch Handlung belebt«, »die Erfindung und vollkommen dichterische Bearbeitung ganzer Plane und einzelner Theile«, »eine begeisternde Imagination, und daraus fliessende lebhafte Schilderung«, »ein durchgehends poetischer, edler und angemessener Ausdruck«.30 In Deutschland fehlen nach Mauvillon jedoch noch die »wichtigen Werke, die der Nation wahre Ehre machen«:31 »Anstatt in den rühmlichen Bahnen der Epopee, der Ode, des Traurspiels, des Romans, des Lustspiels zu laufen«, machten bisher »alle unsre werdenden guten Köpfe sich durch Kleinigkeiten bekannt«, und »keiner derselben [wagte sich] an ein Stück von der grössern Dichtungsart«.32 Mauvillon nennt als Gründe: zu wenig poetische Praxis und zu geringe literarische Kenntnis; als weiterer Grund liesse sich die »bey uns gar zu sehr eingeschränkte Freyheit«33 anführen, die »politische Freyheit, und die daraus entspringende Freyheit in der Denkungsart«,34 wie sie z.B. in England »würklich im Dramatischen und im Romantischen ganz originelle Köpfe« ermöglicht habe, während die italienische Literatur als die »Schule des guten Geschmacks« von der »Beschaffenheit des Climas« herrühre.35 Ob die Literatur diese Freiheit auch bewirken kann: dies bleibt zweifelhaft. Jedenfalls haben die Dichter — neben dem direkten »Einfluss […] nach der Güte ihrer Werke, und nach dem Verhältnis der Grösse ihres Genies«, also neben der innerliterarischen Qualität — zwar »keinen unmittelbaren Einfluss auf die Sitten«,36 aber — so können wir Genie und Geschmack als die Leitbegriffe der beiden Briefwechsel-Teile in Beziehung setzen — zumindest einen mittelbaren Einfluss durch die allgemeine Geschmacksbildung, die zu den »Aufgaben einer antifeudalen bürgerlichen Nationalliteratur«37 gehört. Die allgemeine Geschmacksbildung: die der Dichter, aber auch die der
26. Ibid., II 69. 27. Ibid., II 71. 28. Ibid., II 246. 29. Ibid., II 16. 30. Ibid., II 51. 31. Ibid., II 235. 32. Ibid., II 224. 33. Ibid., II 67. 34. Ibid., 220. 35. Ibid., 292 / 220. 36. Ibid., II 17. 37. Mattenklott, Gert /Scherpe, K. R. (eds), Literatur im historischen Prozess 4 / 2 (Materialien), Kronberg 1974, S. 113.
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Literaturkritiker und des Publikums — und letztlich die der gesamten Nation. Wenn der »eigentliche Nutzen der [deutschen] Poesie […] in der Erweiterung der Grenzen unsrer Ideen, […] in der Erlangung sehr lebhafter Ideen«38 besteht, dann, erst dann ist der Zeitpunkt erreicht, in dem »das furchtbare Wort: Geschmack der Nation« kein »sinnloses Wort«39 mehr sein wird.
3. Dieser Briefwechsel rief verständlicherweise erbitterten Protest hervor, aber erfuhr auch eine verständnisvolle Rezension in den Frankfurter gelehrten Anzeigen von 1772. Merck und Goethe begriffen die radikale Position der »Ketzer« und »Bilderstürmer« Mauvillon und Unzer als ›heftige‹, aber ›nicht unrichtige‹ Kritik am augenblicklichen Zustand der deutschen Literatur, und sie sind »versichert, dass diese Produktion mit allen ihren sauren Teilen ein nützliches Ferment abgibt, um das erzeugen zu helfen, was wir dann deutschen Geschmack, deutsches Gefühl nennen würden« — ein nützliches Ferment also, um den theoretischen Anstoss für die Literatur der ›Geniezeit‹ zu geben, die dann in den folgenden Jahren mit Götz und Werther, mit dem Hofmeister und den Soldaten beginnt und zu den Dramen Sturm und Drang und Die Räuber führt. Ein nützliches Ferment fanden die Anhänger dieser neuen Literaturrichtung insbesondere in den Schriften Herders (1744–1803), der die allgemeingültige Entscheidung in der Auseinandersetzung um die alte (und für ihn veraltete) ›Querelle des Anciens et des Modernes‹ formulierte. Wie schon Saint-Evremond betonte Herder die notwendige Andersartigkeit von alter und neuer Literatur ebenso wie die geographisch-nationale Verschiedenheit der gleichzeitigen Literaturen. Herder erkannte die zeitlich-räumlichen Veränderungsprozesse, denen sowohl die Literatur als auch die Rezeption von Literatur unterworfen ist. Diese Einsicht in die Vielfalt der Literatur bedingt die Vielfalt des Verstehens von Literatur und macht folglich die Aufstellung eines jeden normativen Kanons grundsätzlich unmöglich. Der literarische Kanon öffnet sich für alle »Stimmen der Völker«; in einem Traumbild personifiziert Herder die »Neuere Litteratur der Völker« in einem Koloss, der als »ungeheures Wunderwerk der Welt (…) das Geschöpf langer Jahrhunderte und Geschlechter« ist und somit aus orientalischen, griechischen, römischen, nordischen und gallischen40 Literaturelementen besteht. Der historisch offene Kanon ist jedoch keineswegs ein willkürlicher Kanon. Für Herder wurde er zu dem wesentlichen Indikator für die einheitliche geschichtliche Entwicklungsrichtung: für die in den Briefen zu Beförderung der Humanität (1793–1797) durchgängig behandelte Vervollkommnung der Humanität, zu der die Literatur als »Welt- und Völkergabe« entscheidend beiträgt. Wichtig ist dabei vor allem die Erkenntnis, dass die inhaltliche Öffnung des literarischen Kanons für jegliche Literatur einen Kanon an sich zum Problem werden lässt, sofern er nicht durch eine (mehr oder weniger subjektive) Auswahl heuristisch fruchtbarer Gesichtspunkte eine neue Sinngebung erhält. Die Perspektive der Kanonisierung hat sich grundlegend geändert: An die Stelle der gleichsam
38. Mauvillon / Unzer, II 204. 39. Ibid., S. 43 f. 40. Herder, Über die neuere Deutsche Litteratur, in: Sämmtliche Werke, Bd. I, Suphan, B. (ed.), Berlin 1877, S. 364.
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selbstdefinitorischen Qualität der literarischen Texte, ihrer normativen Mustergültigkeit, trat nun die Funktionsbestimmung der Literatur durch ihren Betrachter (die zuvor als Selbstverständlichkeit gesetzt war und nicht als erst zu begründende Methode). Diese neue Kanon-Perspektive kann man als präromantische Position bezeichnen. Allerdings muss man dann, wie es H. R. Jauss und vor ihm schon W. Krauss getan haben, die »pseudohistorische Entgegensetzung von französischer Aufklärung und deutschem Sturm und Drang«41 sowie deutscher Frühromantik widerlegen: »Wenn der deutsche Sturm und Drang, Herders Initiative folgend, das schon vorher in Frankreich skizzierte geschichtliche Denken entwickelt, verrät sich darin die innere Zugehörigkeit und die systematische Anknüpfung dieser Bewegung an die grossen Fragestellungen der Aufklärung«.42 Dies gilt vor allem dann, wenn man von den frühen Extrempositionen eines ahistorischen Geniekultes absieht, und es gilt auch, wenn man auf den gleichzeitigen Einfluss der Schriften von Caylus, Leroy-David, Piranesi und Winckelmann43 hinweist, da diese Schriften ja weniger eine zeitgenössische Gegenposition zu den ›Modernes‹ oder gar eine Rückkehr zur früheren Position der ›Anciens‹ bedeuten als vielmehr eine komplementäre Geisteshaltung beim Versuch einer gesamtkulturellen NeuOrientierung. Allerdings verdeutlicht den inneren Zusammenhang der einzelnen Positionen erst die theoretische Konzeption des Kantianers Schiller (1759–1805) — und dies auch nur dann, wenn man sie nicht nach der klassischen Stilisierung Schillers und der innergermanistischen Periodisierung beurteilt, sondern in den Kontext der internationalen Literaturentwicklung stellt. Vor Schillers ästhetischer Auseinandersetzung wirkten die einzelnen Versuche der NeuOrientierung in ihren unterschiedlichen Tendenzen jedoch eher verwirrend auf die Zeitgenossen. Ein Symptom dafür ist die Kritische Skala der vorzüglichsten deutschen Dichter von Christian Friedrich Daniel Schubart (1739–1791) aus dem Jahr 1790. Die ›Modernität‹ dieses Kanons besteht nicht so sehr in der Beurteilung der zeitgenössischen Autoren, sondern vor allem in der Einsicht, dass die Bewertungskriterien nicht vorgegeben sind und folglich also erst begründet werden müssen. Dies scheint mittlerweile allgemeiner Konsens. Dieser Konsens bezieht sich jedoch noch keineswegs auf die einzelnen Kriterien selbst. Schubart zählt als allgemeingültige »Ingredienzien eines Dichters« auf: »1. Genie; 2. Urteilsschärfe; 3. Literatur« (worunter er versteht »dasjenige Mass von Kenntnissen, dessen der Dichter zur Ausführung seiner Gegenstände bedarf«); »4. Tonfülle oder Versifikation; 5. Sprache (»Sprachstärke«: »Alle grosse Dichter sind auch Verbesserer, oft Umbilder ihrer Sprache geworden«); 6. Popularität (»Volkssinnigkeit«: »eine der vorzüglichsten Eigenschaften eines Dichters«); 7. Laune (Lessings Vorschlag, engl. humour zu übersetzen); 8. Witz (um Ähnlichkeiten zu finden — ohne analogischen Wert kein gutes Gedicht); 9. Gedächtnis (»diese viel zu tief heruntergewürdigte
41. Jauss, Hans Robert, »Schlegels und Schillers Replik auf die Querelle des Anciens et des Modernes«, in: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt 1970, S. 69. 42. Krauss, Werner, Die französische Aufklärung im Spiegel der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Berlin 1963, S. CVI. 43. Siehe Fontius, Martin, Winckelmann und die französische Aufklärung, Berlin 1968, S. 80.
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Seeleneigenschaft« zur »Ausarbeitung und Anordnung des erfundenen Feuerstoffes«44 und zur Beschaffung der dazu »nötigen Subsidien«)«. Dass diese unterschiedlichen »Ingredienzien« in der Skala in keinerlei Beziehung zueinander gesetzt werden, zeigt sich in der nachfolgenden Kommentierung einzelner Dichter, deren Qualität doch allein vom »Primat des Genies«45 abzuhängen scheint. Somit bleibt letztlich »der Widerspruch zwischen Skala und Kommentar […] unaufgelöst«: »Schubarts Absichten reichen von rückblickender Beurteilung, die gerecht einstufen will, bis zu gleichsam programmatischem Anspruch, der […] in der Äusserung vom ›Nutzen‹, den seine Skala habe, durchblickt«,46 und beweisen durch ihre Uneinheitlichkeit die zeittypische Unentschlossenheit in der Benennung und Anwendung kanonischer Bewertungskriterien.
4. Auch Schiller blieb lange Zeit unentschlossen; da die literarische Norm nicht mehr vorgegeben war, musste er sie nun selbst suchen, und er scheint zumindest die Richtung, in der er weitersu-
44. Zitiert nach J. Knollmann, »Klopstock, Wieland oder Goethe? Umrisse eines Autorenkanons von 1790«, in: Proceedings of the IXth Congress of the International Comparative Literature Association Innsbruck 1979, Innsbruck 1981, Bd. 1, S. 182. 45. Nivelle, Armand, Literaturästhetik der europäischen Aufklärung, Wiesbaden 1977, S. 71 / 72. 46. Knollmann, op. cit., S. 183 / 84. — Das Paradigma ›canonique‹ vor Schiller und Schlegel ist z. B. Entwurf einer Theorie und Litteratur der schönen Wissenschaften von J. J. Eschenburg (Berlin / Stettin 1783). Quelques citations sélectives, concernant d’abord la poésie: »Die [alten] Liederdichter« Anakreon, Sappho, Horaz, Katull; »die vorzüglichsten neuern Liederdichter sind bey den Italienern, Tessi, Chiabrera, Zappi, Filicaja, Rolli, und Metastasio; bey den Franzosen, Chaulieu, La Fare, Lainez, u.a.m. bey den Engländern, Waller, Prior, Landsdown, Shenstone, Mrs. Barbauld, Aikin, u.s.f. bey den Deutschen v.Hagedorn, Uz, Gleim, Lessing, Zachariae, v.Cronegk, Weisse, Jacobi, Götz und Bürger« (S. 116), und »Die Elegie«: Tyrtaeus, Philetas, Kallimachus; Ovid, Tibull, Properz; Ariost, Alamanni; Deshoulieres, la Suze; Hammond, Shenstone, Gray, Jerningham; Klopstock, v.Gemmingen, Schmidt, Hoelty (S. 104 / 105); dann das Genre Epik, »Die Epopöe«: Homer, Orpheus, Apollonius Rhodius, Musaeus, Coluthus, Kointus Kalaber; Virgil, Lukan, Valerius Flakkus, Statius, Silius Italikus, Klaudian; Dante, Trissino, Tasso, Camoens, Alonzo de Ercilla; Voltaire, Fenelon, v. Boccage; Ossian, Milton, Glover, Wilkie; Klopstock, Bodmer, Gessner, Wieland, Zachariae (S. 128–135), und »Romane«: Heliodor, Achilles Tatius, Longus, Eustathius, Chariton, Xenophon, Aristaenet, Alciphron; Lucian, Apulejus; Cervantes, Quevedo, Hurtado de Mendoza; Boccaccio, Bandello, Giovanni, Cinthio, Sansovino, Straparola, Sacchetti; Prevot, Marivaux, le Sage, Crebillon, Rousseau, Mad.Riccoboni, Voltaire, Marmontel, d’Arnaud; Richardson, Fielding, Sterne, Goldsmith; Haller, Wieland, Goethe, Nicolai, Hermes, Dusch, Miller, Wezel, Schummel, Jung, ein Ungenannter (i.e. v. Hippel) (S. 268–272); und schliesslich »Dramatische Dichtungsarten«, »Das Lustspiel«: Aristophanes, Menander, Philemon; Caecilius, Afranius, Plautus, Terenz; Bibiena, Ariost, Aretino, Cecchi, della Porta, Fagiuoli, Goldoni, Gozzi, Capacelli, Willi; Lope de Vega, Calderone; Moliere, Baron, Montfleury, le Grand, Fagan, Marivaux, Saintfoix, Destouches, la Chaussee, Voltaire, Fontenelle, le Sage, Boissy, Dufresny, Dancourt, Mad.Grafigny, Diderot, Sedaine, Piron, le Bret, Collé, Saurin, Moissy, Beaumarchais, Dorat, Mercier; Shakspeare, Ben Johnson, Massinger, Beaumont, Fletcher, Dryden, Otway, Wicherley, Congreve, Vanbrugh, Steele, Cibber, Farqhar, Garrik, Foote, Coleman, Cumberland, Sheridan; Schlegel, Gellert, Krüger, Weisse, Romanus, Lessing, Engel, Goethe, Brandes, Wezel, Stephanie, Grossmann (S. 180–184), et »Das Trauerspiel«: Äschylus, Sophokles, Euripides; Seneka; Lope de Vega, Augustin de Montiano y Luyando; Trissino, Ruccelai, Dolce, Manfredi, Maffei; Corneille, Racine, Voltaire, Crebillon, Marmontel, le Miere, la Harpe, Mercier; Shakspeare, Ben Johnson, Massinger, Beaumont, Fletcher, Dryden, Lee, Otway, Rowe, Addison, Thomson, Young, Lillo, Moore, Brooke; Schlegel, v.Cronegk, Weisse, Lessing, Klopstock, v.Gerstenberg, Goethe, Leisewitz (S. 191–193). Siehe auch Eschenburg, Johann Joachim, Beispielsammlung zur Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, Bd. I-VIII, Berlin / Stettin 1788–95.
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chen wollte, gefunden zu haben, seit er am 20.8.1788 an Körner schreibt: Ich lese jetzt fast nichts als Homer […]. In den nächsten zwei Jahren, habe ich mir vorgenommen, lese ich keine moderne Schriftsteller mehr […]. Keiner tut mir wohl, jeder führt mich von mir selbst ab, und die alten geben mir jetzt wahre Genüsse. Zugleich bedarf ich ihrer im höchsten Grade, um meinen eigenen Geschmack zu reinigen, der sich durch Spitzfindigkeit, Künstlichkeit und Witzelei sehr von der wahren Simplizität zu entfernen anfing. Du wirst finden, dass mir ein vertrauter Umgang mit den Alten äusserst wohltun, vielleicht Klassizität geben wird.47
Die Begriffe sind schon genannt: wahre Simplizität und vor allem Klassizität. Doch drückt sich darin keineswegs ein reaktionärer Ästhetizismus aus; vielmehr erkannte Schiller sehr deutlich, dass selbst ein Genie nicht allein aus sich heraus ein geniales Kunstwerk erschafft, sondern dass jedes literarische Werk in einer bestimmten literarischen Reihe steht. Noch deutlicher wurde ihm dies in der kritischen Auseinandersetzung mit Bürgers Gedichten, in der er die Popularität zur Zeit Homers oder der Troubadours mit der ›Popularität‹ in seiner Gegenwart verglich: Während damals »alle Glieder der Gesellschaft im Empfinden und Meinen ungefähr dieselbe Stufe einnahmen«, ist derzeit »zwischen der Auswahl einer Nation und der Masse derselben ein sehr grosser Abstand sichtbar«, so dass der zeitgenössische Volksdichter »entweder sich ausschliessend der Fassungskraft des grossen Haufens zu bequemen und auf den Beifall der gebildeten Klasse Verzicht zu tun — oder den ungeheuern Abstand, der zwischen beiden sich befindet, durch die Grösse seiner Kunst aufzuheben« hätte.48 Sein eigener Standpunkt steht fest: »Eine der ersten Erfodernisse des Dichters ist Idealisierung«, durch die »die Wahrheit, Natürlichkeit, Menschlichkeit der Gefühle« ihren ästhetisch gerechtfertigten »Anspruch auf jedermanns Mitgefühl« und somit auf die einzig zeitgemässe ›klassische‹ Popularität erhalten.49 Dass Idealisierung für Schiller nicht Realitätsverlust heisst, beweist seine Pitaval-Vorrede, in der er den psychologischen »Gewinn für Menschenkenntnis und Menschenbehandlung« und die romanhafte Spannung der Rechtsfälle und ihrer Auflösungen gerade auch für »das grössere Publikum« hervorhebt.50 Schillers »Klassizität« ist somit der ästhetische Massstab eines Realisten, der seinen Zeitgenossen ein Ideal vorgibt. Was »wahre Simplizität« als ein wesentliches Kennzeichen dieser Klassizität ist, wurde ihm erst durch die französische Revolution und v.a. durch Condorcets (1743–1794) revolutionäre Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (1795) bewusst. Condorcet schrieb — »modern gesprochen — das Prinzip der Fortschrittlichkeit« um:51 Die Verbesserung des Menschengeschlechts muss als unendlich betrachtet werden, da
47. Schiller, Briefe, Fricke, Gerhard (ed.), München 1955, S. 172. 48. »Über Bürgers Gedichte«, in: Sämtliche Werke, Fricke, Gerhard / Göpfert, H. G. (eds.), Bd. 5, München 1967 (S. 970–991), hier S. 973. 49. Ibid., S. 979 und 986 f. 50. Ibid., S. 865 f. 51. Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (eds.), Stuttgart 1975, Bd. 2, S. 377.
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»die Grenzen der Fortschritte« nunmehr nur noch »die Fortschritte selber«52 sein können. Bei dieser allgemeingültigen Aussage stellte sich für Schiller die konkrete Frage nach den poetischen Möglichkeiten des modernen Dichters: »Inwiefern kann ich bey dieser Entfernung von dem Geiste der Griechischen Poesie, noch Dichter seyn, und zwar besserer Dichter, als der Grad jener Entfernung zu erlauben scheint?«.53 In seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung (1795 f.) versuchte er darauf eine Antwort zu finden, die den Wert der alten Dichter bestätigt und zugleich die Bedeutung der neuen Dichter nicht nur rechtfertigt, sondern auch entwicklungsgeschichtlich über ihre literarischen Vorgänger erhebt. Massstab war ihm die Natur als die alte Herausforderung der Kultur, die in ihrem historischen Ablauf zwei entgegengesetzte Positionen zur Natur eingenommen hat: früher (meist) im Einklang mit der Natur (eher) naiv, heute (meist) in der Trennung von der Natur (eher) sentimentalisch. Die relativierende Aussage verdeutlicht, dass es Schiller keineswegs nur um alte und neue Dichtung ging, sondern dass er auch ein allgemeines dichtungstypologisches Schema entwerfen wollte. Mehr noch: er übertrug den Unterschied zwischen den beiden »Dichterformen« letztlich sogar auf zwei ontologische Positionen, auf die »zwei verschiedenen Formen der Menschheit«.54 Die literarhistorische Kanonisierung beliess die alten Dichter in ihrer traditionellen Ranghöhe: Sie behielten ihre Faszination ebenso unveränderlich wie die Natur, die gleichsam unmittelbar in ihren Werken zum Ausdruck kommt. Der moderne Dichter steht jedoch über ihnen, da er, um kreativ zu sein, die verlorene Natur wiederfinden muss; auf der Suche nach der verlorenen Natur wird er sich seiner selbst und der Andersartigkeit der Natur bewusst. Dies war die Ausgangsposition des sentimentalischen Dichters, »bei dem Phantasie und Intuition ersetzen müssen, was dem naiven Dichter von vornherein gegeben war«.55 Es ist die Position, die auch Rousseau einnahm — eine Position, bei der man jedoch nicht stehenbleiben darf, wenn man ein moderner sentimentalischer, ein besserer Dichter sein will. Schiller meinte Rousseau, wenn er den affektierten »sentimentalischen Geschmack zu unseren Zeiten«56 angreift, er meinte Rousseau, wenn er den »empfindsamen Freund der Natur« mit folgenden Worten anspricht: »Jene Natur, die du dem Vernunftlosen beneidest, ist keiner Achtung, keiner Sehnsucht wert. Sie liegt hinter dir, sie muss ewig hinter dir liegen«.57 Für Schiller war Rousseaus Position nicht nur reaktionär, sondern einfach unmöglich, da in seiner Gegenwart kein Weg zurück zur Naturnähe führt. An Rousseau, der sich »selten oder nie zu der ästhetischen Freiheit«, »zum poetischen Spiel«58 durchgerungen hat, kritisierte er somit die »falsche Empfindsamkeit seines Jahrhunderts, die nach der Glückseligkeit der einfachen Natur zurückverlange, statt über den
52. Ibid. 53. Aus einem Brief, zitiert nach Helmut Koopmann, Friedrich Schiller, Bd. II: 1794–1805, Stuttgart 1966, S. 18. 54. Schiller, Friedrich, Über naive und sentimentalische Dichtung, in: Sämtliche Werke, op. cit., Bd. 5, S. 694–780, hier S. 718. 55. Koopmann, op. cit., S. 18. 56. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, op. cit., S. 696. 57. Ibid., S. 708. 58. Ibid., S. 730.
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Verlust ihrer Vollkommenheit zu trauern«:59 »Das Gefühl, von dem hier die Rede ist, ist also nicht das, was die Alten hatten; es ist vielmehr einerlei mit demjenigen, welches wir für die Alten haben. Sie empfanden natürlich; wir empfinden das Natürliche«.60
5. Seit Schiller steht somit fest: Antike Simplizität und moderne Empfindsamkeit sind unvereinbar. Der moderne sentimentalische Dichter nach Rousseau hat es deshalb »immer mit zwei streitenden Vorstellungen und Empfindungen, mit der Wirklichkeit als Grenze und mit seiner Idee als dem Unendlichen zu tun«.61 Ähnlich argumentierte Friedrich Schlegel (1772–1829), der sich insbesondere auf das Entwicklungspostulat in Condorcets historischer Skizze stützte. Während es zuvor nur um den Fortschritt einzelner Bereiche — der Technik, der Wisenschaft, der Gesellschaft, der Moral, der Kultur u.a. — gegangen war, ging es Condorcet (1743–1794) in seiner Esquisse (1885) um den grundsätzlichen »Fortschritt der Geschichte«.62 Und so war auch der Gedanke an den »état à venir de l’espèce humaine«63 weniger Utopie als ein notwendiges Planziel der Gegenwart, in der sich Condorcet auch über den Fortschritt der Künste äusserte. Er verurteilte die Meinung, dass »les arts sont condamnés […] à l’éternelle monotonie de l’imitation des premiers modèles«,64 eindeutig als Vorurteil und betonte: »par la comparaison des productions des différents siècles ou des divers pays«, muss als bewiesen gelten, que ces productions, vraiment dignes d’être conservées, se multipieront, deviendront plus parfaites […]; et ces jouissances, dues à ces beautés plus simples, plus frappantes qui ont été saisies les premières, n’en existeront pas moins pour les générations nouvelles, quand elles ne devraient les trouver que dans des productions plus modernes.65
Die Richtung war angegeben: Der literarische Kanon erfuhr eine ständige Selektion, nach der immer mehr alte Werke aus- und immer mehr neue Werke eingegliedert wurden; zugleich zeigte sich jedoch auch schon die Problematik eines solchermassen aktualisierten Kanons: Durch die Hypothese des augenblicklich jeweils höchsten Grades der Vervollkommnung wurde die Aufnahme erst kurz zuvor aufgenommener Kunstproduktionen wieder fragwürdig, und mit der Schnellebigkeit des zeitgenössischen Kanons stellte sich damit schliesslich auch die Frage nach der genaue(re)n Kennzeichnung der ästhetischen Fortschrittlichkeit. In seiner Condorcet-Rezension vermisste Friedrich Schlegel deshalb gerade die Präzisierung
59. Jauss, Hans Robert, »Schlegels und Schillers Replik auf die Querelle des Anciens et des Modernes«, op. cit., S. 99. 60. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, op. cit., S. 711. 61. Ibid., S. 720 / 721. 62. Geschichtliche Grundbegriffe, op. cit., S. 388. 63. Condorcet, Jean-Antoine de, Esquisse d’un Tableau historique des Progrès de l’Esprit humain (1795), Alain Pons (ed.), Paris 1988, S. 265. 64. Ibid., S. 289. 65. Ibid.
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der Ergebnisse. Er kritisierte die zu allgemeine und zu oberflächliche Beweisführung dieser revolutionären Schrift; er kritisierte zu Recht den falschen Parallelismus einzelner Fortschrittsbewegungen, denn »das eigentliche Problem der Geschichte ist die Ungleichheit der Fortschritte in den verschiedenen Bestandteilen der gesamten menschlichen Bildung, besonders die grosse Divergenz in dem Grade der intellektuellen und der moralischen Bildung«;66 und er kritisierte vor allem das Fehlen genauerer Angaben zum poetischen Fortschritt, zur ästhetischen Revolution. So ist nach Schlegel eine Darstellung der generellen »unendlichen Perfektibilität« — von deren Gültigkeit als Idee der Rezensent völlig überzeugt ist — »[…] eine äusserst gefährliche Sache, und wenigstens für jetzt noch viel zu früh«.67 Deshalb beschränkte er sich auf den Teilbereich der ästhetischen Perfektibilität; eine Analyse dieses Teilbereichs war jedoch erst möglich durch eine Methode, wie sie Schlegel in seinem Aufsatz Über Lessing umreisst: Solange wir noch an Bildung wachsen, besteht ja ein Teil, und gewiss nicht der unwesentlichste, unsers Fortschreitens eben darin, dass wir immer wieder zu den alten Gegenständen, die es wert sind, zurückkehren, und alles Neue, was wir mehr sind oder mehr wissen, auf sie anwenden, die vorigen Gesichtspunkte und Resultate berichtigen und uns neue Aussischten eröffnen.68
Diese Methode, die die Gegenwart lediglich als Durchgangsstadium zu einer weiteren Vervollkommnung in der Zukunft begreift, gestattet nur einen historisch begründbaren und inhaltlich veränderbaren Kanon. Dieser Kanon muss sich der zeitgenössischen Diskussion stellen; in ihr sind die alten wertvollen Texte einer ständigen Korrektur unterworfen, und die neuen Texte werden einer kritischen Überprüfung ihrer ›Modernität‹ unterzogen. Deshalb kreisen Schlegels Äusserungen vor allem um zwei Problemfelder: um Tradition und Moderne oder besser, um in seiner Begrifflichkeit zu argumentieren, um Herkunft und Zukunft der europäischen Poesie, die er — trotz aller Verschiedenheiten — letztlich als eine Einheit begreift. Seine Forschungen zielten also im Grunde auf die »doppelte Richtung« dieser ästhetischen Einheit: »rückwärts nach dem ersten Ursprunge ihrer Entstehung und Entwicklung; vorwärts nach dem letzten Ziele ihrer Fortschreitung«.69 Die europäische Poesie lässt sich demnach zuerst in der Retrospektive als ein »zusammenhängendes Ganzes« darstellen: »bei aller Eigentümlichkeit und Verschiedenheit der einzelnen Nationen verrät das europäische Völkersystem dennoch durch einen auffallend ähnlichen Geist der Sprachen, der Verfassungen, Gebräuche und Einrichtungen« sowie durch einheitliche Religion und Bildung »den gleichartigen und gemeinschaftlichen Ursprung ihrer Kultur […]. Was vom Ganzen wahr ist, gilt auch vom einzelnen Teil: wie die moderne Bildung überhaupt, so ist auch die moderne Poesie ein zusammenhängendes Ganzes«.70
66. Rezension von Condorcets Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (S. 231–238), in: Kritische Schriften, Rasch, Wolfdietrich (ed.), München 1964, S. 236. 67. Ibid., S. 237. 68. »Über Lessing«, in: Kritische Schriften, op. cit., S. 346–383, hier: S. 346. 69. »Über das Studium der griechischen Poesie«, in: Kritische Schriften, op. cit., S. 113–230, S. 131. 70. Ibid., S. 128.
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Interkulturalität funktioniert als Intertextualität; denn »der durchgängige gegenseitige Einfluss der modernen Poesie deutet auf innern Zusammenhang«, und so »fand unter den verschiedenen Nationalpoesien der grössten und kultiviertesten europäischen Völker eine stete Wechselnachahmung statt«.71 Diese theoretische Aussage wird historisch belegt und aktuell zugespitzt: »Sowohl die italienische als die französische und englische Manier hatte ihre goldne Zeit, wo sie den Geschmack des ganzen übrigen gebildeten Europa despotisch beherrschte. Nur Deutschland hat bis jetzt den vielseitigsten fremden Einfluss ohne Rückwirkung erfahren«.72 Dies war die aktuelle Situation, die Schlegel später als »Krise des Übergangs«73 in der gesamten Bildungsgeschichte der modernen Poesie bezeichnete; dieser Krise gingen voraus die erste Periode, in der »der einseitige Nationalcharakter in der ganzen Masse der ästhetischen Bildung durchgängig das entscheidenste Übergewicht« hatte, und die zweite Periode, in der »die Theorie und Nachahmung der Alten in einem grossen Teil der ganzen Masse«74 herrschte, und damit der Wechsel des ästhetischen Vermögens von der »subjektiven Anlage« zur »objektiven Tendenz«.75 In der ästhetischen Krisensituation hoben diese beiden Antithesen sich gegenseitig auf, und es dominierte »die Anarchie aller individuellen Manieren, aller subjektiven Theorien und verschiednen Nachahmungen der Alten«, bevor in der künftigen dritten Periode endlich »objektive Theorie, objektive Nachahmung, objektive Kunst und objektiver Geschmack«76 erreicht sein sollten. Diese dritte Periode begann mit der eigentlichen romantischen Poesie, die Schlegel in dem berühmten Athenaeum-Fragment »eine progressive Universalpoesie«77 nennt. Ihre Progressivität und ihre Universalität wird jeweils doppelt begründet. Progressiv ist die romantische Poesie zeitlich und inhaltlich: So ist sie »noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, dass sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann«;78 ihre unendliche Perfektibilität besteht in der »poetischen Reflexion«, die sich »zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse, […] immer wieder potenzieren«79 kann. Universell ist die romantische Poesie inhaltlich und räumlich: Sie vereinigt »alle getrennten Gattungen der Poesie«80 und setzt sich über die innerliterarische Relation auch in Beziehung zu ausserliterarischen Phänomenen wie Philosophie, Rhetorik, Bildung u.a.; und sie ist eine internationale Erscheinung, deren Wirkung eine universale »ästhetische Revolution« auslöst. Auch wenn diese progressive Universalpoesie sich ihrem letztlich unerreichbaren Ziel immer nur weiter annähern kann, so lässt sich doch ihr
71. Ibid., S. 129. 72. Ibid. 73. Ibid., S. 223. 74. Ibid., S. 222. 75. Ibid. 76. Ibid. 77. Schlegel, Friedrich, Athenaeums-Fragmente, in: Kritische Schriften, op. cit., S. 25–88, hier S. 38 / 39. 78. Ibid., S. 39. 79. Ibid. 80. Ibid., S. 38.
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»bedingtes relatives Maximum«81 in der Zukunft beschreiben. »Kraft, Gesetzmässigkeit, Freiheit und Gemeinschaft« als die vier »notwendigen Bedingungen aller menschlichen Bildung« müssen nicht nur vorhanden sein, sondern auch in einem bestimmten Verhältnis zusammenwirken: »wenn die Gesetzmässigkeit der ästhetischen Kraft durch eine objektive Grundlage und Richtung gesichert sein wird, kann die ästhetische Bildung durch Freiheit der Kunst und Gemeinschaft des Geschmacks durchgängig durchgreifend und öffentlich werden«.82 Dies mag Utopie bleiben; dennoch lässt sich diese neue Literatur schon jetzt definieren als »eine romantische, d.h. eigentümlich moderne, nicht nach den Mustern des Altertums gebildete, und dennoch nach den höchsten Grundsätzen für gültig zu achtende, nicht bloss als wilde Naturergiessung zum Vorschein gekommene, sondern zu echter Kunst vollendete, nicht bloss national und temporär interessante, sondern universelle und unvergängliche Poesie«.83
6. Mit dieser Konzeption legte Friedrich Schlegel die Theorie für einen romantischen Kanon vor. Eine Konkretisierung wagt August Wilhelm Schlegel (1767–1845), der in seinen Berliner Vorlesungen den nach ästhetischer Wahrnehmung, historischer Kenntnis und kritischer Reflexion gültigen Kanon vorstellte. Der klassische antike Kanon umfasst den Typus des homerischen Epos mit den antiken und neuzeitlichen Nachfolgern Vergil, Milton, Voltaire und Klopstock, die unterschiedlichen lyrischen Gattungen der Antike und ihre modernen Nachbildungen sowie die griechische Tragödie und Komödie und die Nachahmungen der europäischen Dramatiker; der romantische europäische Kanon, der nach historisch-soziologischen Kriterien in die vier Epochen der mönchischen, ritterlichen, bürgerlichen und gelehrten Literatur eingeteilt wird, berücksichtigt die Werke mit mittelalterlicher Mythologie, Romanzen und Volkslieder, die Provenzalen sowie die Italiener Dante, Petrarca, Boccaccio, Ariosto und Tasso und wäre noch mit der spanischen, englischen und deutschen Literatur ergänzt worden, sofern er nicht Berlin verlassen hätte; in seinen Wiener Vorlesungen lieferte er zumindest die dramatische Literatur der Franzosen, Engländer, Spanier und Deutschen nach und beschloss damit — wenn auch etwas fragmentarisch — den Kanon, der nach damaliger Retrospektive auf die Entstehung und Entwicklung der Literatur bis zur Poesie der Gegenwart die Weltliteratur kennzeichnete. Die Zukunftstendenz der romantischen Poesie ist damit jedoch noch nicht abgesteckt; sie lässt sich aus einigen Anmerkungen Friedrich Schlegels und Novalis’ (1772–1801) skizzieren. Schlegels Prinzip des Interessanten, das sich eindeutig vom klassischen Ideal des Schönen unterscheidet, wird anfangs zwar nur negativ umrissen und in seinem »totalen Übergewicht«84 kritisiert, wird aber später in der »Theorie des Hässlichen«85 durch Begriffe wie das »Pikante«,
81. »Über das Studium der griechischen Poesie«, op. cit., S. 179. 82. Ibid., S. 226. 83. August Wilhelm Schlegel, Kritische Schriften und Briefe, Lohner, Edgar (ed.), Stuttgart 1965, Bd. IV, S. 14. 84. Friedrich Schlegel, »Über das Studium der griechischen Poesie«, in: Kritische Schriften, op. cit., S. 130. 85. Ibid., S. 193.
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»Frappante« und »Schockante«86 näher erklärt; das Interessante erhält als »individuelle Empfänglichkeit«87 zumindest seine zeitbedingte Berechtigung, indem es die Grenzen des Schönen erweitert und damit eine »notwendige Vorbereitung zur unendlichen Perfektibilität der ästhetischen Anlage«88 ist. Der romantische Kanon öffnete sich folglich einer zukünftigen Literatur, deren Ideal nicht mehr das Schöne,89 sondern das Interessante als »subjektive ästhetische Kraft« ist.90 Wie der romantische Dichter nun diese »subjektive ästhetische Kraft« potenzieren kann, deutete Novalis in seiner (Fragment gebliebenen) Weltliteratur-Konzeption91 an. »Reisen — Bekanntschaft mit vielartigen Menschen — mannichfache Anschauungen«92 bieten die allgemeinen Möglichkeiten für den Autor der Zukunft; auch »Gespräche, Briefe, Reden, Erzählungen, Beschreibungen, leidenschaftliche Äusserungen«93 zählen hierzu. Die Reisen und die Briefe liefern ein breites Angebot für literarische Vorstellungen; denn nur der Dichter, der fähig ist, sich möglichst viel vorzustellen, kann »in Stande seyn über alles auf eine unterhaltende und bedeutende Weise zu sprechen«.94 Doch es ging um mehr als nur um literaturtheoretische Imagination; Novalis selbst suchte den persönlichen Kontakt und in ihm doch auch wieder die bewusste literarische Kommunikation, die sogar die allgemein-menschliche Kommunikation bestimmt, sie immer mehr ›literarisiert‹. Denn Entwicklung der Literatur hiess für Novalis Entwicklung zur Literatur. Dazu trugen die Zeitschriften bei, die eine wichtige Funktion im literarischen Prozess erlangten: »Journale sind eigentlich schon gemeinschaftliche Bücher. Das Schreiben in Gesellschaft ist ein interessantes Phänomen — das noch eine grosse Ausbildung der Schriftstellerey ahnden lässt. Man wird vielleicht einmal in Masse schreiben, denken, und handeln«.95 Diese ›demokratische‹ Struktur zukünftiger Zeitschriften führt zur »universellen Schriftstellerfertigkeit«:96 Die universelle Poesie schafft folglich ein poetisches Universum, in dem der »wahre Leser […] der erweiterte Autor«97 sein wird, weil echtes Lesen und »ächte Kritik […] die Fähigkeit das zu kritisirende Produkt selbst hervorzubringen«98 erfordern. In diesem literarischen Universalisierungsprozess spielen auch die Übersetzungen eine wichtige Rolle. Die drei Arten des grammatischen, verändernden und mythischen Übersetzens weisen
86. Ibid., S. 149. 87. Ibid., S. 148. 88. Ibid., S. 119. 89. Ibid., S. 118. 90. Ibid., S. 115. 91. Novalis, Schriften, Bd. II / III: Das philosophische Werk I / II, R. Samuel (ed.) zusammen mit H.-J. Mähl und G. Schulz, Stuttgart 1965 / 1968. 92. Ibid., Bd. III, S. 641. 93. Ibid., S. 689. 94. Ibid. 95. Ibid., Bd. II, S. 645. 96. Ibid., S. 649. 97. Ibid., S. 470. 98. Ibid., S. 534.
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dabei nicht nur auf verschiedene Stufen der literarischen Entwicklung und des literarischen Verstehens, sondern auch auf die Phasen des allgemeinen Verstehens und Handelns der Menschen; denn »nicht bloss Bücher, alles kann auf diese drey Arten übersetzt werden«.99 Mit dem persönlichen Kontakt der Schriftsteller und ihrem Briefverkehr sowie mit den neuen Zeitschriften und den quantitativ und qualitativ bemerkenswerten Übersetzungen hatte Novalis die weltliterarische Praxis so umschrieben, wie sie Goethe Ende der 20er Jahre unter der Bezeichnung »Weltliteratur«100 wiederholen sollte. Der Weltliteratur-Konzeption des Novalis fehlte also eigentlich nur das Wort, mit dem Wort jedoch auch die durchgängig realistische Perspektive, von der aus selbst eine utopische Idee erst konkretisierbar wird. Denn letztendlich verabsolutierte Novalis die Literatur, indem er das Leben poetisierte und damit die Poesie zum eigentlichen Leben erklärte. Dagegen wirken zwei weitere Aspekte seiner WeltliteraturKonzeption, die über die spätere Position Goethes hinausgehen, keineswegs unrealistisch. Mit der »Errichtung eines litterairischen, republicanischen Ordens« plante er die Gründung einer weltweiten Schriftstellervereinigung, die einen festen »Sitz des Bureaus« und eine eigene »Buchdruckery« zur Eröffnung eines selbst organisierten »Buchhandels« haben sollte.101 Und er stellte sich die »Möglichkeit der Panthomathie — ihrer Nothwendigkeit — ihrer Wircklichkeit«102 vor: In dieser »Enc(yclopädistik)« ist die universale Poetik nicht nur ein Beispiel, die universale Poetik ist selbst enzyklopädisch und muss deshalb ständig ihre gegenwärtige Position überprüfen, d.h. sie muss sich stets sowohl ihrer Entwicklung von der Vergangenheit her103 als auch ihrer Entwicklung zur Zukunft hin104 bewusst zu werden versuchen. So bot Novalis nicht nur die poetische Werkstatt für den romantischen Kanon der Zukunft, sondern auch den poetologischen Massstab für die Beurteilung eines künftigen Kanons durch die Literaturwissenschaft. Mit dem romantischen Kanon der antiken und europäischen Literatur der Vergangenheit, den A. W. Schlegel entworfen hatte, liegt nunmehr die Gesamtkonzeption eines Kanons der deutschen Romantik vor. Durch die Bekanntschaft mit Person und Werk A. W. Schlegels übertrug Madame de Staël diese Kanon-Konzeption der deutschen Romantik in den französischen Kulturbereich; der romantische Geschmack wird zu dem zeitgemässen internationalen »gout moderne«, der sich — auch durch seine erhöhte ästhetische Perfektion — von dem ›klassischen‹ Geschmack der Vergangenheit abhebt: Je m’en sers ici dans une autre acception, en considérant la poésie classique comme celle des anciens, et la poésie romantique comme celle qui tient de quelque manière aux traditions chevaleresques. Cette division se rapporte également aux deux ères du monde; celle qui a précédé l’établissement du christia-nisme, et celle qui l’a suivi.105
99. Ibid., S. 441. 100. Siehe Bleicher, Thomas, »Novalis und die Idee der Weltliteratur«, in: arcadia 14, Berlin, 1979, S. 254–270. 101. Novalis, Schriften, op. cit., Bd. IV, S. 268 f. 102. Ibid., Bd. III, S. 362. 103. Ibid., S. 586. 104. Ibid., S. 320. 105. Madame de Staël, De l’Allemagne (II 11), S. Balayé (ed.), Paris 1968, Bd. I, S. 211.
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Hiermit hatte die deutsche Kultur ihre erste umfassende »Rückwirkung« in der »steten Wechselnachahmung […] unter den verschiedenen Nationalpoesien der grössten und kultiviertesten europäischen Völker«106 erreicht. Doch während man um 1770 diese deutsche ›Manier‹ noch als nationalen Beitrag zur europäischen Kultur gefeiert hätte, kennzeichnete F. Schlegel die deutsche Romantik sogleich als Teil der internationalen Romantik; denn »wenn die nationellen Teile der modernen Poesie aus ihrem Zusammenhang gerissen und als einzelne für sich bestehende Ganze betrachtet werden, so sind sie unerklärlich. Sie bekommen erst durch einander Haltung und Bedeutung«107 — durch ihre interkulturelle Vergangenheit und durch ihre universale Zukunft.
7. Unsere Skizze über den literarischen Kanon zwischen 1760 und 1820 ist noch nicht die »kritische Geschichte der literarischen Kanonbildung, die zugleich den zugrundeliegenden Wandel des Geschichtsverständnisses und der politischen Willensbildung erhellen müsste«, wie es Leo Spitzer schon 1945 und später Hans Robert Jauss forderten;108 auch unsere Skizze ist — entsprechend der ästhetischen Konzeption der Epoche, über die sie handelt — nur ein Fragment, das Fragment bleiben muss wegen der Orientierung an der deutschen Literaturtheorie. Diese Einseitigkeit liesse sich jedoch rechtfertigen mit dem epochenspezifischen Stellenwert; die Funktion dieses Stellenwertes kann dreifach bestimmt werden: zum einen durch die Abhängigkeit der deutschen Literaturtheorie von der vorangehenden europäischen, v.a. der französischen Literaturtradition, sodann durch ihre Mittlerrolle als Kristallisationspunkt der Diskussionen um zeitgenössische deutsche wie fremde Literaturpositionen und schliesslich durch ihre Innovationsimpulse für die eigene Literaturproduktion und über sie hinaus bis in neue Literaturprovinzen, v.a. in Osteuropa, und tendenziell sogar auch schon über Europa hinaus. Von dieser Allgemeinbestimmung des romantischen Kanons lassen sich literaturimmanente Kriterien ableiten, die die paradigmatische Funktion eines kanonischen Einzeltextes als einer literarischen Konkretisation von (literar-)ästhetischen und (literar-)historischen Positionen beschreiben. So ist die Entstehungsbedingung eines Textes aus einigen ästhetischen und historischen Vorstufen und sein Entstehungsprozess aus einer konkreten ästhetischen und historischen Situation ableitbar. Die im Text realisierte Intention des Autors stellt sich zuerst dem Erwartungshorizont, der dem Geschmack des zeitgenössischen Publikums entspricht. Ein Text kann sodann repräsentativ sein durch die gewählte Form, die Konkretisierung einer Gattungsmode, und durch das gewählte Thema, die Konkretisierung einer Epochenströmung. Er wird schliesslich dadurch typisch, dass seine Wirkung grössere Dimensionen (Breitenwirkung, Tiefenwirkung) erreicht und seine Rezeptionsgeschichte umfangreichere Interpretationen (Mehrdeutigkeit, Bedeutungstiefe) erfährt. Und er erreicht endlich unser literaturwissenschaftli-
106. Friedrich Schlegel, »Über das Studium der griechischen Poesie«, in: Kritische Schriften, op. cit., S. 129. 107. Ibid., S. 130. 108. Jauss, Hans Robert, »Schlegels und Schillers Replik auf die Querelle des Anciens et des Modernes«, op. cit., S. 67.
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ches Interesse, wenn die Korrelation zu anderen Texten seine spezifische literarästhetische Funktion erhellt und wenn die Relevanz zum gesamten Lebensbezug seine spezifische literarhistorische Aktualität aufzeigt. Durch diese Bestimmungen gewinnt der literarische Einzeltext seit der romantischen Konzeption seinen wissenschaftlichen Stellenwert in einem weltliterarischen Kanon. Dabei müssen sicherlich nicht alle Aspekte zutreffen; wichtiger sind sicherlich die Intensitätsgrade einiger oder mehrerer Aspekte: Sie entscheiden schliesslich über die Aufnahme eines Einzeltextes in den Kanon sowie über die weltliterarische Zentralisierung der einen Texte oder über die Supplementierung durch andere Texte.109 Der literarische Kanon um 1820 ist somit kaum noch vergleichbar mit dem Kanon um 1750. Dies gilt weniger für die Namen der Autoren, die teils anders bewertet wurden, teils neu hinzukamen; dies gilt v.a. für den Prozess einer Kanonisierung, die nun nicht mehr normativ erfolgte, sondern historisch und so auch literarhistorisch verfuhr. Ins romantische Blickfeld rückten immer mehr die Geschichte der Literatur, die Beziehung zwischen dieser mehr innerliterarischen Entwicklungslinie und der ausserliterarischen historischen Entwicklung, die historische Strukturierung der Literatur insgesamt sowie die Rolle des Einzelwerkes im Zusammenhang mit anderen Werken — kurz: die Intertextualität in (zumindest theoretisch antizipierter) weltliterarischer Dimension Die innerliterarische Definition dieses relativen Kanons um 1820 lässt sich schon in derselben Epoche durch ausserliterarische, v.a. soziale und pädagogische Tendenzen zu einem offenen Kanon ergänzen. Seine Offenheit ergibt sich aus der notwendigen Kontrastierung alter und neuer literaturexterner Kriterien. ›Klassischen‹ Begriffsfeldern wie Tradition, Bildungsgut, Musealität, Affirmation, Genuss, Funktionsverlust treten ›romantische‹ Vorstellungsbereiche wie Relevanz, Herausforderung, Öffentlichkeit, Emanzipation, Kritik, Lebensbezug gegenüber. Aus dieser Antithetik liesse sich ein in der romantischen Theorie schon entworfenes und in der künftigen Wissenschaft sodann auszuarbeitendes heuristisches Modell skizzieren: der dynamische Kanon, dessen Pole kein sich gegenseitig ausschliessendes Oppositionsschema bilden, sondern ein dialektisches Kräftefeld, das literarästhetische und literarhistorische Erkenntnisse ermöglicht und sie zur Lebenspraxis in Beziehung setzt. Die Strukturierung dieses literarischen Kanons wäre die post-romantische, ja sogar noch heute gültige Aufgabe für die ›post-moderne‹ Literaturwissenschaft, die international vorgehen muss nach den Grundsätzen der Auswahl und der Einteilung als auch nach den Methoden des Vergleichens und des Verallgemeinerns und ebenso nach den Ergebnissen kleinerer und grösserer Synthesen bis hin zur Welt-Literatur.
Auswahlbibliographie Behler, Ernst (ed.), Die europäische Romantik, Frankfurt 1972. Benjamin, Walter, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, Frankfurt 1973. Bergk, Johann Adam, Die Kunst, Bücher zu lesen nebst Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller, Jena 1799. Bleicher, Thomas, »Novalis und die Idee der Weltliteratur«, in: arcadia 14, Berlin, 1979, S. 254–270.
109. Siehe auch Bleicher, Thomas, »Kriterien für einen komparatistischen Kanon«, in: Proceedings of the IXth Congress of the International Comparative Literature Association Innsbruck 1979, Innsbruck 1981, S. 169–174.
Epilog
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Thomas Bleicher
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Die Autoren
Dr. Oskar Bätschmann, Professor am Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern (Schweiz)
Dr. Claude Foucart, Professor an der Faculté des Lettres et Civilisations der Universität Lyon III (Frankreich)
Dr. Jean Pierre Barricelli(†), Professor im Department of Literatures and Languages der University of California in Riverside (U. S. A.)
Dr. Roland Galle, Professor am Fachbereich Literatur- und Sprachwissenschaften der Universität / Gesamthochschule Essen (Deutschland)
Dr. Michael Bernsen, Wissenschaftlicher Angestellter im Romanischen Seminar der Universität Bochum (Deutschland) Dr. Thomas Bleicher, c / o Deutscher Akademischer Austauschdienst in Bonn (Deutschland) Dr. Hans Erich Bödeker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max Planck-Institut für Geschichte in Göttingen (Deutschland)
Dr. Claude Gandelman(†), Professor im Département de Français der Universität Haifa (Israel) Dr. Horst Albert Glaser, Professor an der Facoltà di Lingue e Letterature Straniere der Universität Pisa (Italien) Dr. Wilhelm Gräber, Privatdozent für Romanische Philologie an der Universität Göttingen (Deutschland)
Dr. Rüdiger Campe, Hochschulassistent am Fachbereich Literatur- und Sprachwissenschaften der Universität / Gesamthochschule Essen (Deutschland)
Dr. Norbert Greiner, Professor am Institut für Dolmetschen und Übersetzen der Universität Heidelberg (Deutschland)
Dott. Remo Ceserani, Professor an der Facoltà di Lettere der Universität Bologna (Italien)
Dr. Manfred Gsteiger, Professor an der Faculté des Lettres der Universität Lausanne (Schweiz)
Dr. François Crouzet, Professor am Institut de Recherches sur les Civilisations de l’Occident Moderne der Universität Paris-Sorbonne (Frankreich)
Dr. Sabine Kleine, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Literatur- und Sprachwissenschaften der Universität / Gesamthochschule Essen (Deutschland)
Dr. Michel Delon, Professor im Département de Lettres Modernes der Universität Paris X-Nanterre (Frankreich)
Dr. Eva Kocziszky, Professorin im Seminar für deutsche Sprache und Literatur der Universität Szeged (Ungarn)
Dr. Jacques Domenech, Faculté de Lettres, Arts et Sciences Humaines der Universität Nizza (Frankreich)
Dr. Anne Larue, Professorin im Département de Français der Universität Reims (Frankreich) Dr. Christiane Leiteritz, Ruhr-Universität Bochum (Deutschland)
760 Dr. Jacques Lemaire, Professor an der Universität Brüssel (Belgien)
Dr. Gisela Schlüter, Professorin am Institut für Romanistik der Universität Erlangen-Nürnberg (Deutschland)
Dr. Michael Maurer, Professor an der Philosophischen Fakultät der Universität Jena (Deutschland)
Dr. Erich Schön, Professor im Deutschen Seminar der Universität Köln (Deutschland)
Dr. Anne-Marie Mercier Faivre, Institut Universitaire de Formation des Maîtres, Lyon (Frankreich)
Dr. Gislinde Seybert, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Romanischen Seminar der Universität Hannover (Deutschland)
Dr. Marc-Mathieu Münch, Professor an der Universität Metz (Frankreich)
Prof. Dr. György M. Vajda, em. Professor der Universität Szeged (Ungarn)
Dr. Fritz Nies, Professor am Romanischen Seminar der Universität Düsseldorf (Deutschland)
Dr. David Williams, Professor im Department of French der Universität Sheffield (England)
Dr. József Pál, Professor am Istituto di Lingua e Letteratura Italiana der Universität Szeged (Ungarn) Dr. Monika Schmitz-Emans, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum (Deutschland)
Dr. Ursula Winter, Lehrbeauftragte an der Technischen Universität Berlin und der Humboldt-Universität Berlin (Deutschland) Dr. Ralph-Rainer Wuthenow, Professor im Deutschen Seminar der Universität Frankfurt / Main (Deutschland) Dr. Carsten Zelle, Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der RuhrUniversität Bochum (Deutschland)