Antike und Abendland Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens herausgegeben von
Werner von ...
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Antike und Abendland Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens herausgegeben von
Werner von Koppenfels · Helmut Krasser Wilhelm Kühlmann · Peter von Möllendorff Christoph Riedweg · Wolfgang Schuller Rainer Stillers
Band LV
2009 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Manuskripteinsendungen werden an die folgenden Herausgeber erbeten: Prof. Dr. Werner von Koppenfels, Boberweg 18, 81929 München – Prof. Dr. Helmut Krasser, Institut für Altertumswissenschaften, Universität, Otto-Behaghel-Str. 10, Haus G, 35394 Gießen – Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann, Universität Heidelberg, Germanistisches Seminar, Hauptstr. 207–209, 69117 Heidelberg – Prof. Dr. Peter von Möllendorff, Institut für Altertumswissenschaften, Universität, Otto-Behaghel-Str. 10, Haus G, 35394 Gießen – Prof. Dr. Christoph Riedweg, Kluseggstr. 18, CH-8032 Zürich – Prof. Dr. Wolfgang Schuller, Philosophische Fakultät, Universität, Postfach 5560, 78434 Konstanz – Prof. Dr. Rainer Stillers, Institut für Romanische Philologie der PhilippsUniversität Marburg, Wilhelm-Köpke-Str. 6 D, 35032 Marburg. Korrekturen und Korrespondenz, die das Manuskript und den Druck betrifft, sind an den Schriftleiter Prof. Dr. Helmut Krasser zu richten. Buchbesprechungen werden nicht aufgenommen; zugesandte Rezensionsexemplare können nicht zurückgeschickt werden. Abstracts sind publiziert in / indexiert in: Arts and Humanities Citation Index · Current Contents Arts and Humanities · Dietrich’s Index philosophicus · IBR – Internationale Bibliographie der Rezensionen geistes- und sozialwissenschaftlicher Zeitschriftenliteratur / IBZ – Internationale Bibliographie geistes- und sozialwissenschaftlicher Zeitschriftenliteratur
ISBN (Print): 978-3-11-020791-0 ISBN (Online): 978-3-11-020792-7 ISBN (Print + Online): 978-3-11-020793-4 ISSN (Print) 0003-5696 ISSN (Online) 1613-0421 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Dörlemann Satz, Lemförde
Inhaltsverzeichnis Gyburg Radke-Uhlmann Über eine vergessene Form der Anschaulichkeit in der griechischen Dichtung . .
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Ursula Gärtner « $ . Schiffe als Unheilsbringer in der antiken Literatur . . . . . .
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Irmgard Männlein-Robert Klage im Kontext oder Allegorie hellenistischer Spolienpoetik: Überlegungen zu Kallimachos’ Sepulchrum Simonidis (frg. 64 Pf.) . . . . . . . . . . . . . . . .
45
Bardo Maria Gauly Verba imperfecta: Reden, Erzählen und Verstummen in Ovids «Metamorphosen»
62
Christian Kiening Narcissus und Echo. Medialität von Liebe und Tod . . . . . . . . . . . . . . .
80
Helga Scholten Göttliche Vorsehung und die Bedeutung des Griechentums in Plutarchs De sera numinis vindicta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
David Engels Der Hahn des Honorius und das Hündchen der Aemilia. Zum Fortleben heidnischer Vorzeichenmotivik bei Prokop . . . . . . . . . . . . . . . . . .
118
Achim Aurnhammer Sünder – Narr – Held. Korrekturen des Odysseus-Mythos bei Heinrich von Veldeke, Sebastian Brant und Martin Opitz . . . . . . . . . . .
130
Hertha Franz Euripides-Reminiszenzen in Goethes ‹Faust›. Vom Sonnenflug Fausts zu AY – Phorkyas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
152
Nils Steffensen «Am größten ist’s, sich selbst zu besiegen». Der Dictator L. Cornelius Sulla in der dramatischen Verarbeitung Friedrichs des Großen . . . . . . . . . . . . .
160
Mitarbeiter des Bandes Prof. Dr. Achim Aurnhammer, Albert-Ludwig Universität, Deutsches Seminar II, Institut für Neuere Deutsche Literatur, Platz der Universität 3, 79085 Freiburg Prof. Dr. David Engels, Université Libre de Bruxelles, Avenue F.D. Roosevelt 50, CP 175, Bureau NA 5–203, 1050 Bruxelles, Belgium Dr. Hertha Franz, Arno-Holz-Str. 20, 12165 Berlin Prof. Dr. Ursula Gärtner, Universität Potsdam, Klassische Philologie, Am Neuen Palais 10, Haus 11, 14469 Potsdam Prof. Dr. Bardo Gauly, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Universitätsallee 1, Gebäude Universitätsallee, 85072 Eichstätt Prof. Dr. Christian Kiening, Universität Zürich, Deutsches Seminar, Schönberggasse 9, 8001 Zürich, Schweiz Prof. Dr. Gyburg Radke-Uhlmann, Freie Universität Berlin, Institut für Griechische und Lateinische Philologie, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin Prof. Dr. Irmgard Männlein-Robert, Universität Tübingen, Philologisches Seminar, Wilhelmstr. 36, 72074 Tübingen PD Dr. Helga Scholten, Universität Duisburg-Essen, Fakultät für Geisteswissenschaften, Historisches Institut, 45117 Essen Nils Steffensen, Universität Tübingen, Historisches Seminar, Wilhelmstr. 36, 72074 Tübingen
Gyburg Radke- Uhlmann
Über eine vergessene Form der Anschaulichkeit in der griechischen Dichtung 1 Einleitung Ausstellungen über antike Kulturen haben Konjunktur. Das ist ein erstaunliches Phänomen. Außer über dieses Faktum an sich gibt es aber auch Grund, darüber zu staunen, in welcher Weise in der gegenwärtigen musealen Didaktik Bild und Text aufeinander bezogen und miteinander verflochten werden. Nie gab es eine Ausstellungsdidaktik, die mehr darum bemüht war, ihre Gegenstände dem Besucher mit Hilfe aller Sinne anschaulich und sinnlich erfahrbar zu machen: Es wird mit statischen und bewegten Bildern, mit Musik, mit atmosphärischen Klängen, mit in Musik und Klangwelten integrierten gesprochenen Texten, sogar mit Möglichkeiten haptischer Erfahrungen gearbeitet.1 Bilder und Worte fließen in einem Gesamtbild unmittelbarer Erfahrung zusammen, in dem das Sinnliche immer stärker gegenüber dem ‹nackten› Wort die Oberhand gewinnt. Das Phänomen steht nicht isoliert dar, sondern fügt sich ein in Diskurse, die von Iconic turns, von einer Rehabilitation mythischer Bilder und der Entdeckung ursprünglicher poetischer Bildlichkeit handeln. In Frage steht dabei in zunehmender historischer Beschleunigung die Potenz des Wortes und besonders des dichterischen Wortes zur Anschaulichkeit überhaupt, die in die Suche nach der Sinnlichkeit des Bildes immer mehr absorbiert zu werden scheint. Wie ist es, so muß man also fragen, möglich, sowohl die Eigenmacht des Bildes als auch des Wortes zu bestimmen, ohne das eine gegen das andere aufzuheben und mit dem Maßstab des anderen zu messen? Wenn man diese Tendenz kritisch betrachten will, ist es immer noch Lessing, der mit seiner Abhandlung «Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie» die Grundlinien dieser Diskussion bis heute vorgegeben hat.2 Auch mein Beitrag also wird mit ihm beginnen. Ziel dieser Überlegungen ist die Entwicklung von Anschaulichkeitskategorien und die Entdeckung von Formen der Anschaulichkeit, die über Lessing hinausgehen und zeigen, daß Lessings Entwurf zu den Tugenden von Bild und Text seinen Vollständigkeitsanspruch in Bezug auf die künstlerischen Möglichkeiten der beiden Medien nicht erfüllen kann.3 1
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In München etwa wurde Anfang 2006 eine Ausstellung zur ägyptischen Kunst eröffnet, die antike Kultur für Blinde und Sehende ‹begreifbar›, d. h. mit dem Tastsinn erfahrbar machen will: «Das Alte Ägypten (be)greifen – 40 Berührungspunkte für Sehende und Blinde» im Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst: München 9. 2.–17. 09. 2006. Buch (1972), 26–63 (mit dem Versuch einer historischen Einordnung der Klassifizierungen Lessings); ebenso und zusammenfassend: Schweizer (1972), 55–71; Harth (1993); Lenz (1995); Wellbery (1984); Mülder-Bach (1992); dies., (1998). Eine Metadiskussion über die Grenzen der Theorie führt Wellbery (1993). Mein Beitrag hingegen betrachtet nicht den theoriereflexiven Überbau von Lessings Laokoon, sondern seine (von ihm nicht explizit auf-
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Gyburg Radke-Uhlmann
2 Lessing in Raum und Zeit Lessing4 baut bekanntlich seinen Versuch einer Bestimmung der Grenzen und Tugenden von Bildwerken und Dichtung auf der Dichotomie zwischen zwei möglichen Gegenständen, denen sich die Nachahmungskunst zuwenden kann, auf: Diese Dichotomie ist die Unterscheidung zwischen Körpern, die nebeneinander im Raum existieren, und Handlungen, die sich nacheinander in der Zeit vollziehen. (Laokoon, 103 (Kap. XVI)). 5 Bei diesen handele es sich um zwei abgeschlossene Systeme, denen unterschiedliche Darstellungsformen und -medien ebenso wie unterschiedliche Rezeptionsformen zugehörten. Lessing interessiert für seine Kunsttheorie an dieser Unterscheidung vor allem die Frage, wie bei der Nachahmung dieser Gegenstandsarten Vorstellungsbilder entstehen können, die ein unmittelbar erfahrbares Ganzes sind.6 Denn es ist, nach Lessing, das Wesen der
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gedeckten) Prämissen. Es ist eine Lektüre gegen die Oberfläche der Argumentationsstrategie, die gleichwohl an deren fundierenden Prämissen festhält und die vordergründige Intention und Strategie mit diesen enttarnten Prämissen konfrontiert. Zitiert nach Lessing: Laokoon, Barner (hg.) (1990). Buch (1972). Buch deutet die Unterscheidung Lessings als Instanz der Dichotomie zwischen geistigem und körperlichem Menschen. Die Malerei stelle nach Lessing die körperliche Existenz des Menschen dar, die Poesie die geistige. Diese Interpretation aber geht nicht tief genug. Denn sie reflektiert nicht hinreichend die für Lessings Ästhetik zentrale Idee, daß das Telos der Kunst das sinnliche Erfahrbarmachen von unmittelbarer Einheit und Ganzheit ist, die im Sinn der Aufklärungsphilosophie eine spezifische Leistung der Anschauung (sei sie nun sinnlich oder geistig) ist und diese von der Zergliederungsleistung des Verstandes grundsätzlich und unvermittelbar unterscheidet. Erst aus dieser erkenntnistheoretischen Perspektive, die der anthropologischen vorausgeht, erweist sich die Schlußfolgerung, daß Lessing seinem eigenen Unternehmen, die Geistigkeit und Überlegenheit der Dichtung aufzuzeigen, selbst den Boden entziehen muß, als zwingend. Die Zentralität dieser Fragestellung wird auch durch den zeichentheoretischen Kontext, in dem Lessing seine Unterscheidung zwischen den Qualitäten von Bild und Sprache entwickelt und die in dem von Lessing selbst nicht veröffentlichten zweiten Teil des Laokoon weiter in den Vordergrund rücken, nicht eingeschränkt. Dazu grundlegend für die semiotische Deutung des Laokoon: Todorov (1995), 133–142; Wellbery (1984), der eine regelrechte Semiotisierung, oder anders formuliert: die Aufdeckung des semiotischen Kerns des Laokoon in Angriff nimmt; s. außerdem die Beiträge in: Gebauer (1984); aus altphilologischer Perspektive unterzieht Primavesi (2002) die Semiotik des Laokoon nicht wie die bisher genannten Arbeiten in einem allgemeinen semiotischen Kontext, sondern konkret mit Blick auf die Lehre von den natürlichen und konventionellen Zeichen und die Adäquatheit der Beschreibung der Erzählweise Homers einer kritischen Revision. Die Malerei arbeite nach Lessing mit natürlichen Zeichen, die Dichtung mit konventionellen. Natürliche Zeichen sind solche, die unmittelbar und anschaulich rezipiert und verstanden werden können, konventionelle hingegen sind so definiert, daß sie eines rationalen Schlusses bedürfen, um dekodiert zu werden. Das heißt: die Rezeption von Sprache besteht so wie das begriffliche Denken aus Akten des analysierenden Zergliederns von Anschauungsdaten. Die poetische Sprache aber suche nach sprachlichen Bildern (Metaphern), die diese wesentliche Rationalität und diesen Mangel an Unmittelbarkeit und sinnlichem Reichtum auszugleichen imstande sind. Denn die poetische Sprache suche qua Kunst die Unmittelbarkeit reicher sinnlicher Erfahrungen, nicht die Vermitteltheit bewußter Zergliederungen. Ebenso ist die These, der Dichter (z. B. und in vorbildlicher Weise Homer) stelle keine Gegenstände im Raum, sondern nur Handlungen in der Zeit dar, Resultat dieser Unmittelbarkeitsvorgabe; denn mit der zeitlichen und kausalen Verknüpfung von Handlungen und Handlungsteilen ahme der Dichter die Ganzheit und Einheit nach, die der Maler in der Momentaufnahme eines Gegenstandes im Raum erzielt. Die zeitliche Einheit einer Handlungsfolge sei als Nachahmung der räumlichen Einheit einer instantanen Anschauung begreifbar. Diese räumliche Einheit der Anschauungsganzheit eines Gegenstandes aber ist ein natürliches Zeichen oder besteht aus solchen. Die zeitliche Einheit ist also in abgeleiteter Weise ebenfalls ein natürliches Zeichen, etwas, das die wesentliche Konventionalität und Mittelbarkeit der Sprache umgeht, einschränkt oder gar ganz aufhebt. Aus diesem Grund behandelt Lessing diese quasi-natürlichen Zeichen der poetischen
Über eine vergessene Form der Anschaulichkeit in der griechischen Dichtung
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Poesie und der Malerei schlechthin, eine solche täuschende Illusion zu erzeugen, daß der Rezipient die «wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden» glaubt (Laokoon, 110). Die Kunst erschaffe Nachahmungen dieser sinnlichen Empfindungen, die so deutliche Vorstellungen seien, daß sie den Rezipienten so täuschen können, daß er meint, sie seien wahre Empfindungen. Alles hängt damit an der Frage, welche Eigenschaften sinnliche Empfindungen an sich haben, die in der Kunst nachgeahmt werden müssen, damit eine solche Täuschung wirklich werden kann. Lessing diskutiert diese Frage nicht, sondern setzt ihre Antwort als gegeben voraus: Sinnliche Empfindungen seien durch eine besondere Form der Ganzheit gekennzeichnet. Sie verwirklichten (ebenso wie unmittelbare Anschauungen) einen höheren Grad an konkreter Einheit und Ganzheit als Verstandesbegriffe, und in der Kunst gehe es um diese höheren Formen. Lessing aber läßt keinen Zweifel daran, daß eben daraus seine Probleme mit der Beschreibung von Gegenständen in der Dichtung entstehen: Die Sprache habe es an sich, die Ganzheit unmittelbarer Erfahrungen in ein Nacheinander einzelner Teile zu zergliedern, deren endliche Wiederzusammensetzung in einem Vorstellungsbild nur schwer, wenn überhaupt, zu verwirklichen ist (Laokoon, 113). Das Bild ähnele in seiner Koexistenz aller Teile und seiner Konzentration auf nur einen Augenblick 7 der Ganzheit der Anschauung, die Dichtung aufgrund ihrer Sprachlichkeit mehr der zergliedernden Deutlichkeit des Verstandes. Die Dichtung müsse sich damit mit aller Kraft auf ein Feld begeben, wo dieser Mangel an Illusionsfähigkeit nicht oder weniger zum Tragen komme. Dieses Feld aber sei die Darstel-
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Sprache, d. h. das Nacheinander einer Handlungsfolge, auch analog zu Metaphern, also poetischen Bildern, die nicht mehr über ein Schlußverfahren rezipiert werden, sondern unmittelbar wirken sollen (s. dazu Anm. 24). Es wird sich unten zeigen, daß diese Vorstellung von der unmittelbaren und quasi-sinnlichen Rezeption von dichterischen Metaphern in der aristotelischen Metapherntheorie einen Antipoden findet, der dafür argumentiert, daß auch Metaphern über Syllogismen geschaffen und rezipiert werden, daß aber in diesen besonderen Arten von Syllogismen gerade die eigentümliche Potenz der Sprache liege, Anschaulichkeit zu erzeugen. Für die Interpretation des Laokoon jedenfalls bedeutet es eine Verkürzung der erkenntnistheoretischen Prämissen, wenn man die zeitgenössische zeichentheoretische Diskussion, in der Lessing steht, von den erkenntnistheoretischen Zusammenhängen abtrennt, die von der Suche nach künstlerischer Unmittelbarkeit und sinnlichem Reichtum handeln. Seine Diskursbedingtheit ändert in diesem Fall nichts an der Zurückführbarkeit seiner dichotomischen Kategorien, mit denen er zwischen Bild und dichterischem Wort und deren spezifischen Potenzen, Schwächen und den eigentümlichen Aufgaben des Malers und Dichters unterscheidet, auf die bewußtseinsphilosophische Dichotomie zwischen reicher Anschauung und abstrakt zergliederndem Verstand. Die zeichentheoretische Perspektive ist nur eine weitere Instanz der oben skizzierten erkenntnistheoretischen Vorstellungen, die von Lessing auf ihre kunsttheoretischen Konsequenzen hin betrachtet werden. Wie Lessing immer wieder betont: z. B. Laokoon, 103. Heute wendet sich die medienwissenschaftliche Forschung diesem Momenthaften verstärkt im Zuge ihrer Überwindung klassischer Werkbegriffe und ihrer Performative turns zu: S. z. B. Mersch (2003); ders., o. J. Auch die Wiederentdeckung der ästhetischen Erfahrung ist in ihrer Absolutsetzung des singulären subjektiven Erlebens essentiell auf den Augenblick bezogen und findet in diesem ihre Vollendung. S. den inspirierten Sammelband von Küpper und Menke (2003). Wahrnehmungsphysiologische Fakten – etwa die Erkenntnis, daß auch die Sehwahrnehmung eines Bildes ein Prozeß ist, der aus verschiedenen Unterscheidungs- und Verknüpfungsakten besteht – haben in diesem Kontext keinen determinierenden Einfluß. Sie tragen zwar dazu bei, die Vorstellung der instantanen ‹Aufnahme› von Sinnesdaten und von der Passivität dieses Vorgangs in Frage zu stellen, bewegen sich aber außerhalb der absoluten Innerlichkeit, in der die ästhetische Erfahrung als Inbegriff subjektiven Erlebens lokalisiert wird.
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Gyburg Radke-Uhlmann
lung von Handlungen. Denn die Einheit von Handlungen entstehe anders als die räumliche Ganzheit von Körpern nicht unmittelbar in sinnlichen Empfindungen, sondern in der kausalen, zeitlichen Verknüpfung von Handlungsphasen. Es lohnt sich, genau zu beachten, welche Weichen hier gestellt werden. Denn es sind Weichen, die die Antwort auf die Frage, wie Dichtung anschaulich sein kann, ein für alle mal in eine bestimmte Richtung lenken. Lessing bekennt an einer Stelle seine Prämissen und Quellen deutlich: Ein poetisches Gemälde ist nicht notwendig das, was in ein materielles Gemälde zu verwandeln ist; sondern jeder Zug, jede Verbindung mehrerer Züge, durch die uns der Dichter seinen Gegenstand so sinnlich machet, daß wir uns dieses Gegenstandes deutlicher bewußt werden, als seiner Worte, heißt malerisch, heißt ein Gemälde, weil es uns dem Grade der Illusion näher bringt, dessen das materielle Gemälde besonders fähig ist, … (Laokoon, 100)
Lessing merkt dazu an: «Was wir poetisches Gemälde nennen, nannten die Alten Phantasien, wie man sich aus dem Longin erinnert. Und was wir die Illusion, das Täuschende der Gemälde heißen, hieß bei ihnen die Enargie.» (Laokoon, 100 f.)8
Lessing ist sich also der hellenistischen Herkunft seiner Begriffe bewußt, und er definiert die Aufgabe des Dichters auf deren Prämissen aufbauend, nämlich als das Sinnlichmachen der Gegenstände der Dichtung, das so sehr von der Materie der Dichtung, den Worten und ihrer kausal-logischen Verknüpfung ablenke, daß man meinen könne, man habe den Gegenstand als solchen selbst sinnlich präsent vor Augen. Auch der Dichter also entwirft ein Gemälde, ein Vorstellungsbild, das die Illusion erzeugen soll, selbst real, selbst unmittelbar gegenwärtiges Anschauungsobjekt zu sein. Der Verweis auf ‹den Longin› 9 ist wichtig. Denn die Enargie ist ein Begriff, der hauptsächlich in der hellenistisch-römischen Rhetoriktheorie und mit dieser verknüpften Poetik-
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Lessing bekennt sogar seine Vorliebe für den Begriff der poetischen Phantasie gegenüber dem Begriff ‹poetisches Gemälde,› weil letzteres materielle Assoziationen habe, die nicht zu dem Begriff gehörten. S. zu der Unterscheidung zwischen materiellen und semantisch bedeutsamen Aspekten des Bildes in Abgrenzung zu den Tugenden des sprachlichen Erzählens Giuliani (2003), 23–37. De subl. 15.2: ³« ’ π κ φ λ π « » , ’ Ρ « ξ " # $ « "λ % &«, « ’ " ' « "', $φ ’ Ρ)« * µ# ", - λ µ .' $ . «Es ist dir gewiß bekannt, daß die rhetorische Phantasia verschieden ist von derjenigen bei den Dichtern, und ebenso, daß das Ziel derer in der Dichtung die emotionale Erschütterung ist, derjenigen in den Reden aber die anschauliche Deutlichkeit, daß beide gemeinsam aber das Pathosgeladene und Aufgeregte anstreben.» Für Longin ist das Streben nach Enargeia ein Element, das spezifisch für die Vorstellungstätigkeit des Redners im Unterschied zur Dichtung ist. Der Grund für diese Unterscheidung bei Longin ist das Bestreben, hervorzuheben, daß es die wichtigste Aufgabe der Dichtung ist, nicht rational zu argumentieren, sondern unmittelbar, emotional zu bewegen und das Affektische und das Pathos so stark zu inszenieren, daß der Zuhörer sich unmittelbar betroffen fühlt und sich dem starken äußeren visuellen oder quasi-visuellen, d. h. vorgestellt-bildlichen, Eindruck nicht entziehen kann. Gerade dieser Unmittelbarkeitsaspekt und die ‹Freigabe› an die Phantasia, alles zu benutzen, das diese unmittelbare Beeindruckung fördert, ist aber das zentrale Moment des hellenistischen ebenso wie des neuzeitlichen Interesses für die Enargeia in Rede und Dichtung. Mit Blick auf diese zentrale Strategie unterscheidet sich Longins Konzeption der dichterischen Phantasia und der Rolle der Anschaulichkeit nicht von den anderen Theoretikern der Enargeia.
Über eine vergessene Form der Anschaulichkeit in der griechischen Dichtung
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diskussion eine prominente Rolle spielt:10 bei Dionysios von Halikarnass,11 bei Ps.-Demetrios, bei Quintilian 12 und bei den Rhetoren der Zweiten Sophistik. Wie Zanker 198113 nachweisen konnte, ist die Enargeia ein Konzept, das genuin zur Entwicklung der hellenistischen Erkenntnistheorie,14 in der die Phantasia die Zentralstellung einnimmt,15 gehört. Enargeia ist in diesem hellenistischen Kontext die vollendete Herstellung der Illusion singulärer,16 sinnlicher Präsenz in der Vorstellung durch eine möglichst facettenreiche und vollständige 17 Schilderung der begleitenden Umstände18 und mit dem Ziel, die Zuhörer emotional direkt anzusprechen und durch das Hören ein quasi-visuelles Bild19 vor dem
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S. Zanker (1981). Auf Dionysios von Halikarnass verweist Lessing noch im Zusammenhang mit der Schildbeschreibung Homers: Lessing, Laokoon, 119, Anm. 4. Dionys bezeichne Homer wegen des Schildes als Lehrer der Malerei – was Lessing freilich bestreiten muß. Inst. Or. 6.2.29–32., bes. 31 f.: Quintilian zitiert im Anschluß zur Exemplifizierung ausführlich aus der Aeneis: Aen. 9.476; 11.40; 11.89; 10.782: 4.426; s. das Zitat in Anm. 62; s. auch Inst. Or. 9.2.40 (s. Anm. 18). Und Zanker (1987), bes. 39–54. S. die Materialsammlung bei Manieri (1998); Watson (1988); und ders., (1994); außerdem Rosenmeyer (1986). Wellbery (1984), 168 f. betont die Bedeutung einer ‹freigelassenen›, neue Horizonte erschließenden Phantasie in Lessings Konzeption der Künste. Zanker spricht daher von einem «empiricist particularism in pictorial representation», der sich von einem «archaic intellectualism» unterscheide: Zanker (1987), 42. Ps.-Dem. Eloc. 209: '' ’ π "' / ξ "& $ '« λ - ξ ’ " $. «Enargeia entsteht zuerst durch genau beschreibende Sprache und dadurch, daß man nichts übergeht oder ausläßt.» Dion. Hal. Lys. 7; I.14.17 (Us.-Rad.): %0 ξ λ κ "' κ π 1. . $&«. 2 ’ "λ « « 3µ « 4#« Ν' . ', '' ’ " « / . ) #6)«. ² κ $0) κ « 1. . ' « 0 2)« % µ« ν . « ν 8« µ -, χ« 0 3 #6 ' ²» λ — - :« » ² #) 4'9 < « ². «Die Sprache des Lysias hat eine große sinnliche Anschaulichkeit (enargeia). Dies aber ist eine bestimmte Potenz, die das Gesagte sinnlich erfahrbar macht; sie entsteht aber aus der Erfassung der begleitenden Umstände. Derjenige aber, der sich den Reden des Lysias zuwendet, wird nicht so töricht, so schwer zufrieden zu stellen und so geistig unbeweglich sein, daß er nicht meint, das Dargestellte geschehen zu sehen und mit den Charakteren, die der Redner einführt, gleichsam zusammen zu sein.»; Quint. Inst. Or. 9.2.40: «Illa vero, ut ait Cicero, sub oculos subiectio tum fieri solet cum res non gesta indicatur sed ut sit gesta ostenditur, nec universa sed per partis: quem locum proximo libro subiecimus evidentiae. Et Celsus hoc nomen isti figurae dedit: ab aliis hypotyposis dicitur, proposita quaedam forma rerum ita expressa verbis ut cerni potius videantur quam audiri.» «Jenes Vor-Augen-Stellen aber, so sagt Cicero, pflegt dann zu geschehen, wenn nicht (nur) angezeigt wird, daß etwas geschieht, sondern wenn dargestellt wird, wie es geschieht, und zwar nicht im einfachen Umriß, sondern mit allen Details: Im letzten Buch habe ich diese Figur unter die Gattung ‹lebhafte Illustration› gestellt. Und Celsus hat dieser Figur diesen Namen gegeben. Von anderen wird sie Hypotyposis genannt, und zwar als Bezeichnung für jede Repräsentation von Dingen, die so mit Worten ausgedrückt wird, daß sie eher gesehen als gehört zu werden scheinen.». Vgl. auch Nicolaus, Pro. 7 (3.476.12 Sp.): «% ξ π 3 )« φ 3’ >6 Ν' ''$ λ ’ " φ)« « / $) "', π»«.» «Die Hypotyposis aber ist insgesamt das, was uns das Geschehen vor Augen stellt und uns durch Beschreibung zu Zuschauern der Einzeldinge macht.» Hermogenes, Prog. 10. (2.16.32 Sp.): #Aλ ξ " φ)« ξ φ# λ "'· ' κ ? « $ « 0µ κ >6 0». «Die wichtigsten Qualitäten der Ekphrasis sind Deutlichkeit und anschauliche Klarheit ("'). Die kunstvolle Rede muß nämlich durch das Gehör beinahe die Illusion eines sichtbaren Bildes erzeugen.»
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Gyburg Radke-Uhlmann
geistigen Auge des Rezipienten entstehen zu lassen.20 Für Lessing ist sie wie für die hellenistische Poetikdiskussion die zentrale Aufgabe der Kunst überhaupt. Die Weichen, die in Lessings hellenistischem Konzept gestellt sind, sind demnach die folgenden: Die Dichtung muß Bilder in der Vorstellung nachahmen, wenn sie anschaulich sein will. Diese Vorstellungen müssen selbst quasisinnliche Qualitäten an sich haben. Die Dichtung muß vorstellbare Merkmale sammeln und so verknüpfen, daß deren Ganzheit und Einheit unmittelbar evident ist. Das hat weitreichende Konsequenzen für die Beantwortung der Frage, was der spezifische Unterschied ist zwischen der Anschaulichkeit von Bildkunst und von Dichtung. Lessing legt zwar Wert auf die Feststellung, daß die Dichtung weit mehr Möglichkeiten habe als die Bildkunst, sinnliche Vorstellungen und damit die Illusion der Präsenz von Gegenständen zu erzeugen: so stehe ihr das Klangliche offen, auch sei die Malerei an einen einzigen Augenblick gebunden, könne das Nacheinander nur in der Prägnanz des (transitorischen) Momentes andeuten und habe die Potenz, Geistiges und Übersinnliches darzustellen. Das alles kann aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß nach Lessings selbst mehrfach formulierten Prämissen, nichts eher der Forderung nach der Illusion sinnlicher Empfindungen gerecht werde als das sichtbare Bild. Die Dichtung ahme diesen Charakter der unmittelbaren Anschauung immer nur annäherungsweise nach. Sie muß ausweichen und andere Wege suchen zu dem, was im Bild direkt im Raum vor Augen geführt werden kann. So ist es auch kein Zufall, wenn Lessing die Art und Weise, wie Homer Gegenstände anstatt durch Beschreibung durch Erzählung vor Augen führt, als einen Zwang formuliert, dem der Dichter unterlegen sei: «Will uns Homer zeigen, wie Agamemnon bekleidet gewesen, so muß sich der König vor unsern Augen seine völlige Kleidung Stück für Stück umtun; das weiche Unterkleid, den großen Mantel, die schönen Halbstiefeln, den Degen; und so ist er fertig, und ergreift das Zepter. Wir sehen die Kleider, indem der Dichter die Handlung des Bekleidens malet.» (Laokoon, 105 [Kursive von mir])
Zweifellos: Lessing bewundert Homer für diesen Trick, aber er bewundert ihn eben für einen von dem Wesen der Dichtkunst erzwungenen Kunstgriff,21 «uns bei einem einzeln Ding verweilen zu machen, ohne sich in die frostige Beschreibung seiner Teile einzulassen.» (Laokoon, 107) Es ist ein Kunstgriff, der notwendig ist, «weil das Koexistierende des Körpers mit dem Konsekutiven der Rede [dabei] in Kollision kömmt, und indem jenes in dieses aufgelöst wird, uns die Zergliederung des Ganzen in seine Teile zwar erleichtert, aber die endliche Zusammensetzung dieser Teile in das Ganze ungemein schwer, und nicht selten unmöglich gemacht wird.» (Laokoon, 113). Es ist ein Kunstgriff, der notwendig ist, weil es das Wesen der Poesie ebenso wie der Malerei ist, die täuschende Illusion zu erzeugen, daß der Rezipient die «wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden» glaubt (Lao20
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Dazu Plut. Mor. 17f-18a: Dichtung sei eine mimetische Kunst, die analoge Potenzen wie die Malerei habe. Beide zielten auf die lebendige, exakte Malerei des Gegenstandes, so wie er in Wirklichkeit ist, um bestimmte emotionale Effekte beim Zuhörer zu erreichen. Vgl. auch Plut. Mor. 347a–c. Eine ähnliche Strategie kann man auch im Lob Ciceros, das dieser Homer zollt, erkennen: Cic. Tusc. 5.39.114; außerdem dazu Zanker (1981), 300–304; Quintilian zur sub oculos subiectio: Quint. Inst. Or. 9.2.40 ff.
Über eine vergessene Form der Anschaulichkeit in der griechischen Dichtung
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koon, 110). 22 Lessing sieht den Mangel der Sprache in ihrer strukturellen Rationalität,23 d. h. in ihrer zergliedernden Vorgehensweise. Die Dichtung soll, weil sie eine Kunst (und nicht nur Rede)24 ist, die die Illusion unmittelbarer reicher Anschauungsganzheit erzeugen müsse, diesen Mangel soweit wie möglich überwinden und einen Modus finden, in dem sie, so wie das Bildliche, die unmittelbare sinnliche Empfindung als Ganzes25 und in ihrem Reichtum nachahmen kann.26 Es gibt also tatsächlich in der Konsequenz der Lessingschen Kunsttheorie gar nicht zwei streng getrennte Tugenden von Kunst, eine Tugend des Bildlichen und eine der Dichtung, sondern Lessing ordnet die Potenzen der Dichtung denen der Bildkunst klar unter, und er tut dies mit Blick auf dieses eigentliche Wesen der Illusionskunst, zu der beide gehören, mit Blick also auf die Potenz, Anschaulichkeit zu erzeugen.27 Wendet man sich, mit diesen Maßstäben ausgestattet, erzählender griechischer Dichtung zu, trifft man bei einer bestimmten Gruppe von Texten auf erstaunliche Affinitäten.
3 Hellenistische poetische Gemälde Das trifft etwa auf die Argonautika des hellenistischen Epikers Apollonios von Rhodos zu. Dessen Streben nach einer bestimmten Art der sinnlichen Empfindung und sinnlichen Anschaulichkeit28 kann man exemplarisch anhand einer Szene im ersten Buch, der Szene, in der die Argo aus dem Hafen ausläuft, verdeutlichen: Im ersten Morgengrauen bricht die Argo auf. Der Blick schwenkt von der Außenansicht des göttlichen Schiffes sogleich weiter in dessen Inneres, zu den Ruderern: Ankaios und Herakles sitzen in der Mitte. Herakles hat
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Die Begründung dafür ist, daß die Anschaulichkeit der zeitlichen Folge in Anschauungskategorien selbst etwas räumlich Vorgestelltes ist: nämlich etwas, was als kontinuierliche Linie gedacht wird, die das Räumlich-Dreidimensionale ins Zweidimensionale abbildet und in jenes zurückübersetzt werden kann. Die Begründung also ist, daß das Sichtbare anschaulicher ist. S. dazu im Kontext neuer Diskurse: Weiss (1968). Lessing, Laokoon, 109 f. Lessing definiert das sprachliche Wirken der Kunst im Unterschied zur (gewöhnlichen) Rede: Diese sei damit zufrieden, klar und deutlich zu sein. ‹Klar und deutlich› aber sind die Qualitäten der zergliederten und bewußt gemachten Vorstellung, die durch die rationale Zergliederung auch ihres sinnlichen Reichtums verlustig gegangen ist. S. auch Laokoon, 112 f. Lessing, Laokoon, 110. Vgl. ebenda, 111 f. Lessing, Laokoon, 108: [zum Zepter des Agamemnon und des Achill]: «Dem Homer war nicht sowohl daran gelegen, zwei Stäbe von verschiedener Materie und Figur zu schildern, als uns von der Verschiedenheit der Macht, deren Zeichen diese Stäbe waren, ein sinnliches Bild zu machen.» [Kursive von mir]. Entgegen seiner eigenen Argumentationsstrategie, die die Überlegenheit der Dichtung beweisen will, und der modernen Forschung, die Lessing in Bezug auf diese Hierarchisierung als Interpretation des Laokoon gefolgt ist und Lessing deshalb ob seiner rationalistischen Kunsttheorie kritisiert, hat also schon Lessings Laokoon de facto in gewisser Weise einen postmodernen Iconic turn avant la lettre vollzogen. Wenn man Lessing folgt, übernimmt man daher auch diese Diskurse und ihre Prämissen. Die Dichtung muß sich unterordnen, weil sie als Kunst eine Anschaulichkeit zu suchen habe, die sich an dem Reichtum der unmittelbaren sinnlichen Empfindung orientiert und diesen durch eine größtmögliche Fülle an Vorstellungsmerkmalen zu simulieren versucht. Die Ästhetik der klassischen Moderne und Aufklärung beweist damit auch hier wieder ein antirationalistisches, d. h. antimodernes Potential. Nicht erst die Postmoderne führt diesen Kampf gegen die Abstraktheit des Verstandes und des Bewußtseins. Zanker diskutiert derartige Phänomen unter dem Stichwort «Pictorial Realism» in seiner Monographie: Zanker (1987), 58–112.
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seine Keule29 neben sich gelegt, unter seinem Gewicht wird der Kiel des Schiffes tief ins Wasser getaucht (531–533).30 Es ist, als führte der große Held gleichsam sein ikonographisches31 Attribut mit sich,32 um sich dem Blick des vorgestellten Zuschauers zu erkennen zu geben. Sein großes Gewicht im wörtlichen und übertragenen Sinn wird ebenso malerisch umgesetzt. Man hört nicht nur, daß Herakles der stärkste aller Argonauten ist, man sieht es mit eigenen Augen. Er ist – auch – der Kraftheld Herakles der hellenistischen Bildkunst.33 Ebenso ist es, wenn danach die Kamera auf Jason, den Anführer der Argonauten, schwenkt (534 f.): Der Gegensatz der beiden Bilder – Herakles auf der einen, Jason auf der anderen Seite – könnte größer nicht sein. Jason aber ( #I#) 534) wendet weinend seine Augen ab von dem Land, das er verläßt ('« $µ « >’ % ).34 Wir sehen Herakles’ Kraft. Wir sehen ihn wie ein Bild,35 das sich vor uns zu erkennen gibt, das sich dechiffrieren lassen will. Jason hingegen ist selbst ein Beobachter. Sein Blick führt zum Gestade und davon wieder weg: Tief bewegt ist er von diesem Eindruck. Er weint
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Auch das Ruder des Herakles wird später ein solches Attribut sein, das in der Handlung als ikonographisches Attribut und mit seiner starken visuellen Präsenz bedeutsam sein wird. Denn nachdem das Ruder in einem Ruderwettkampf unter den Argonauten zerbrochen ist, benötigt der Held ein neues Ruder. Er geht in den Wald, um ein neues Ruder zu schlagen. Dies kann natürlich nicht einfach ein fester Ast sein, sondern Herakles benötigt als Ruder einen ganzen Baum, den Stamm einer Fichte (A. R. 1.1187–1206). Zur Entwicklung eines ikonographischen Formelbestandes, mit dem die Charaktere, besonders Herakles, wie Bilder in der Erzählung inszeniert werden, s. Radke-Uhlmann (2007), Kapitel 5. Herakles’ Ausscheiden ist die Verabschiedung eines Bildes, das seine eigene Bildlichkeit nicht reflektieren kann. Bei genauer Analyse erweisen sich die dichtungstheoretischen Implikationen dieses Heldenbildes, das in der Forschung zumeist unter sittlichen und moralischen Aspekten und mit Blick auf die These von der Entwicklung eines neuen homerkritischen Heldenbildes bei Homer diskutiert wird (s. eine konzise Kritik an der Forschung zum Charakter Jasons: Pietsch (1999), 99–104), als die eigentliche Begründungsebene. A. R. 1.531–533. Tatsächlich wird Herakles auch auf Münzen am über den Kopf gezogenen Löwenfell und der Keule identifizierbar, so identifizierbar, daß sie als politisches Bildprogramm Alexanders des Großen verwendet werden konnten. Alexander nahm Herakles zum Vorbild wegen der mühevollen Arbeiten, die dieser auf sich genommen hatte und wegen der Aufnahme in den Olymp, die ebenfalls im Hellenismus auch in der Dichtung ein Thema ist. Dazu Hölscher (1971). An anderen Stellen der Argonautika ist es das Löwenfell, das Herakles ikonographisch identifizierbar macht: so in der Hylas-Episode (A. R. 1.1194 f. und 1205 f.). Vgl. auch den Herakles im Herakliskos des Theokrit: Id. 24.136. Vgl. auch Id. 17.28 ff.; Id. 13.57 f. Herakles wird von Apollonios als durchaus problematischer Charakter jenseits von Recht und Gerechtigkeit, als bloßer, aufbrausender Kraftmensch (als Bild seiner selbst) geschildert: so in der Vorgeschichte der Hylas-Episode, die zum Ausscheiden des Herakles aus dem Argonautenzug führt. Apollonios erzählt hier die Geschichte von Theiodamas (anders als Kallimachos: Aet. Fr. 24 (Pf.)) in der Weise, daß Herakles als der Untäter und Ungerechte erscheint, der dem armen Bauern Theiodamas aus mutwilliger Kriegswut seinen Pflugstier stiehlt, um aus dessen Gegenwehr einen Kriegsgrund zu fingieren. (A. R. 1.1211–1220). Apollonios knüpft damit an eine Möglichkeit der Herakles-Figur an (zur Tradition der Herakles-Darstellung in der Literatur s. Anm. 42), die er allerdings ins Ikonische radikalisiert und als unveränderbares Monument festschreibt. Wurde auch bei Sophokles die Problematik der Ichbezogenheit des starken Helden und sein übermäßiges Vertrauen in seine übermenschliche Stärke in den Trachinierinnen behandelt, so reduziert Apollonios den Charakter des Herakles auf die bildlich inszenierte körperliche Präsenz überhaupt. Wir hören nichts von seiner glanzvollen Rüstung, seine Abfahrt ist nicht von der Aussicht auf die glanzvollen Taten geprägt, sondern von Niedergeschlagenheit. Auch die zweite Szene, in der er bedeutsam auftritt, ist vor allem bildlich eindrucksvoll: Herakles steht, nachdem er von den Argonauten zum Führer gewählt ist, noch nicht einmal auf, sondern hebt nur die Hand zum Zeichen, daß er sich zu der Wahl äußern – und sie ablehnen will: Arg. 1.343 ff.
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( .« 535).36 Indem der Erzähler diesen Blicken folgt, erzeugt er beim Rezipienten, der ja selbst ein Betrachter der Szene ist, sympathetische Gefühle. Ganz kurz nur verweilt der Zuschauer bei Jasons Tränen und wendet sich gleichsam verschämt von dieser emotionalen Szene ab. Die Gefühle des Betrachters gehen sogleich unter in dem das Meer aufschäumenden Ruderschlag der Argonauten, die nur, wie so oft bei Apollonios mit einem Demonstrativpronomen eingeführt werden: ¹ ’ 536 und @« ¹ 540: rhythmisch wie junge Reigentänzer schlagen sie nach dem harmonisierenden Kitharaspiel des Orpheus ihre Ruder auf die Wasserfläche. Der Erzähler sucht die Nahaufnahme des von dieser Gewalt aufgewühlten Wassers. Die dunkle Flut (542 κ # Ϊ) schäumt, gewaltiges unheilvolles Rauschen begleitet den Ruderschlag; das Schiff zieht eine weiße Spur in den Fluten hinter sich her (545 λ ’ 4ξ ". $. ), ein Licht, das im unheilvollen dunklen Rauschen der Flut (543 µ .) wie ein hoffnungsvolles Zeichen erscheint; es findet in der Erzählung in dem funkelnden Glänzen der Waffen, auf die die Sonne scheint, einen Kontrapunkt (540–546).37 Apollonios malt ein cineastisch anmutendes Bild von der Abfahrt der Argo.38 Er lenkt den Blick des Rezipienten auf den sinnlichen Reichtum des beeindruckendes Ereignisses: So wie Jason im Innern aufgewühlt ist, so wird auch die Meeresflut von der gewaltigen Stärke der Heroen aufgewühlt. Selbst das Meer erfährt eine eigene Beschreibung mit reichen sinnlichen Details. Auch Herakles ist ein beeindruckendes Bild,39 ist eine Figur, die machtvoll in Erscheinung tritt. Die Illusion unmittelbarer Autopsie wird erzeugt: die unmittelbare Illusion einer großen beeindruckenden und emotional bewegenden Erscheinung. 40 Das ist es, was Bilder können. Wird also schon hier Herakles als ein Held einge36 37 38
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Die melancholische Gemütsstimmung wird von Jason mehrfach berichtet: s. auch A. R. 1.458–461. A. R. 1.534–546. Er malt ein Bild, in dem phantastisch-märchenhafte Züge wie der sprechende Balken verbunden sind mit realistischen Zügen, d. h. mit mimetisch-detailreicher Abbildung eines unmittelbar erfahrenen sinnlichen Eindrucks. Diese Verbindung von Realismus und Märchenhaft-Wunderbarem, die Apollonios’ Epos durchzieht, ist keineswegs ein innerer Widerspruch, sondern ist Ausdruck dafür, was das Prinzip dieses Realismus ist. Die poetische Vorstellungstätigkeit des Dichters setzt die Grenzen und tut einen eigenen poetischen Raum auf, indem über die sinnliche Eindrücklichkeit und die Expressivität des Eindrucks Märchenhaft-Erstaunliches und Schaudererregendes mit Alltäglichem, mit Eindrücken, die real geschehen können, zusammen existieren können, ohne einen unharmonischen Anblick zu hinterlassen. Theokrit sucht in seinem Entwurf der Amykos-Episode, des Abenteuers, das Apollonios am Anfang des zweiten Buches seines Argonautenepos schildert, die Nähe zu Bildwerken noch expliziter, wenn er von dem Bebrykerkönig sagt, er sei «φ.# « : «» (Theokr. Id. 22.47): wie eine Statue, die mit einem Hammer getrieben wurde. Die Bildlichkeit dieser Beschreibung hat ihre Wirkung nicht verfehlt: Viele Forscher haben versucht, den ‹Thermen-Boxer› mit diesem Amykos Theokrits zu identifizieren. S. Hunter (1996), 62; und s. Pollitt (1986), 145–147. Paul Zanker hat kürzlich in einem Aufsatz die Bezüge zwischen der Boxerstatue und der Herakles-Ikonographie betont. Im selben Kontext stellt er außerdem die stark expressive Räumlichkeit der Statue, die den Zuschauer dazu auffordere, um die Statue herumzugehen, heraus: Zanker (2005). Schaubildhafte Personifikationen und Heldenfiguren ahmen die Bildlichkeit und das Beeindruckende des gegenwärtigen Erscheinens nach. Es sind Übersetzungen aus der Bildkunst und ihrer Tradition in die Dichtung, es sind Versprachlichungen dieser Bildwerke – freilich nicht (notwendig) bestimmter einzelner Bildwerke, sondern der Bildtradition als ganzer in ihren charakteristischen Aspekten. Von der Pseudo-Hesiodeischen Aspis angefangen über Vergils Fama bis hin zu den Furien der kaiserzeitlichen Epik: bis zu Lukans Erichtho und den Furien bei Statius. In diesem Kontext der Versprachlichung gegenwärtiger Erscheinungen von Bildwerken wird auch die räumliche Gestalt der Sprachkunstwerke relevant; hier entsteht das Phänomen ‹Wortmalerei› und hier beginnt die Bedeutung der räumlichen Anschaulichkeit des Versbaus. S. dazu Radke-Uhlmann (2007), bes. Kapitel 5.
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führt, der nicht in die Dichtung paßt,41 dessen Dimensionen nur in die Bildkunst, nicht aber (mehr) in die Dichtkunst passen? Ist Jason der literarische Held, Herakles hingegen der isolierte Held, der ikonisiert wird,42 der seine Narrativität und seine (in der Gegenwart aktuelle oder aktualisierbare) Exemplarität einbüßt43 und als großes Bildwerk (fast) das Fassungsvermögen der Dichtung zu sprengen scheint? Apollonios spielt mit diesen Grenzen. Die Figuren werden wie Schaubilder und mit ikonographisch anmutender Erscheinung präsentiert und in die Atmosphäre der Situation, in den Raum eingefügt. Der Begriff ‹Schaubild› zur Beschreibung epischen Erzählens wurde von dem Mediävisten Joachim Bumke44 zur Benennung sinnlich eindrucksvoller Szenen terminologisch eingeführt, die als Bilder die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf sich ziehen.45 Mit eben solchen Schaubildern, in denen Handelnde durch Bilder von Handelnden ersetzt werden, haben wir es bei dieser Abfahrtsszene der Argonauten zu tun. Es sind prägnante symbolische Bilder, die Apollonios reich mit sinnlichen Details ausstattet. Apollonios also malt diese Szene ganz im Sinn der Enargeia-Poetik, auf die auch Lessing verweist. Seine poetischen Gemälde werden mit sprachlichen, poetischen Mitteln erschaffen, sie ahmen aber bildliche Merkmale nach.46 Er will poetische Illusionen unmittelbarer sinnlicher Empfindungen erschaffen und verwirklicht die Tugenden der Anschaulichkeit mit autarker expressiver Bildlichkeit,47 also einer Bildlichkeit, die nur mit den ihr eigenen sinnlichen Mitteln arbeitet.48 Es ist die quasi-visuelle Verortung einer Handlung in einer 41
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Damit rezipiert er die Herakles-Figur sehr selektiv, er konzentriert sich auf die beeindruckende Kraft in ihrer bildlichen Präsenz. Die Figur wird dadurch entindividualisiert und ikonisiert. Vgl. Hölscher (1973), 72. Zum Wandel des Herakles-Bildes in der hellenistischen Dichtung: Effe (2003); ders., (1980); ders., (1994). Effe beschreibt sehr erhellend viele Aspekte des Wandels der Herakles-Figur im Hellenismus; er benennt aber nicht die ‹Ikonisierung› der Figur, die für die neue Ausprägung des Mythos zentral ist. S. außerdem den Überblick zu Herakles-Darstellungen in der Literatur bei Galinsky, (1972). Er verliert damit auch seine Funktion als Exempel vorbildlichen Verhaltens, d. h. seine Funktion eines «Leitbildes persönlicher Aktionskraft», das für den Adel in archaischer Zeit maßgebend war. Dazu Hölscher (1993), bes. 71. Bumke (1960). Dabei rückt die Handlungsführung und die Motivationen der Charaktere als poetische Strategie in den Hintergrund und wird durch ikonographische Symbole, anschauliche Bilder ersetzt. Es findet im Hellenismus eine radikale Verlagerung statt, worin der Dichter zu reüssieren versucht. Das Bildlich-Unmittelbare tritt ins Zentrum des Interesses, die charakterliche Motivation der Handlung und die Durchführung der Handlung als Instanz bestimmter charakterlicher Möglichkeiten hingegen zieht weniger Aufmerksamkeit und ‹dichterische Energie› auf sich. Es wäre einmal als allgemeine kunsttheoretische Analyse erforderlich, eine Bilanz über Gewinne und Verluste zu entwickeln, in der der Blick nicht nur auf das Neue, die Entdeckungen der hellenistischen und römischen Dichtung gerichtet wird (diese aber auch nicht als Produkte einer epigonischen Gelehrsamkeitskunst in eine Kontinuität mit der vorangehenden Tradition gezwängt werden, die sie nicht mehr besitzen), sondern in der auch danach gefragt wird, welche Qualitäten diese Dichtung nicht mehr als spezifisch poetisch und spezifische Aufgabe des Dichters erachtet und folglich ausblendet. Der sinnliche Eindruck des großen Schaubildes wird in einer Götterszene gespiegelt. Wieder folgt der Erzähler dem Blick eines Handelnden für seine perspektivische Kunst: Denn die Götter schauen herab auf das Geschehen; ebenso die Nymphen vom Pelion: sie werden staunend ergriffen von dem beeindruckenden Schauspiel (A. R. 1.547–552). Asper hat für Kallimachos’ Metaphernverwendung ebenfalls gezeigt, daß es dem Dichter mehr auf die «starke Wirkung eines expressiven Bildes auf den Rezipienten» als auf begriffliche Klarheit angekommen sei: Asper (1997), 70; 100. Auch die Beobachtung von Asper (Asper (1997), bes. 70 f.), die Ergebnis gründlicher philologischer Analysen ist, daß die Metaphern des Kallimachos sich dadurch von denen seiner Vorgänger unterscheiden, daß sie
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imaginierten Szenerie. Solche Kontextualisierungen des Kunstwerks in einer artifiziellen quasi-natürlichen Situation sind etwas, das sich auch in der hellenistischen Bildkunst, etwa in der Perspektivenpluralität von Statuen49 oder der Aufstellung von Großplastiken oder Gruppen von Plastiken nachweisen läßt:50 auch hier sollen emotionale Reaktionen provoziert werden, indem der Betrachter in den Bildkontext als einer (etwa mythischen) Parallelwelt einbezogen wird (freilich mit dem Bewußtsein von diesem Imaginären und mit der Distanz des Betrachters).51 Betrachtet man hingegen Homers Szenenorganisation, dann staunt man:52 Der große, von Lessing hochgelobte Meister des Erzählens, Homer, vermeidet in seiner Erzählung geradezu alles, was im Sinn sinnlich eindrucksvoller Schaubilder Anschaulichkeit erzeugen kann.53 Theodore M. Andersson54 und Scott Richardson haben dieses Phänomen benannt und erzählanalytisch diskutiert. Bei Homer fehle etwas, an das der Leser moderner Romane essentiell gewöhnt sei: es fehle die Ausmalung des Hintergrunds der erzählten Handlung. Homer lasse seine Charaktere zumeist vor einer schemenhaft blassen, nicht mit bunten Farben gemalten Szenerie agieren. Versucht man, sich ein anschauliches Bild etwa der Umgebung vor Troja zu entwerfen, so scheitert man an der Spärlichkeit der Informationen, die man mühsam aus verschiedenen Szenen und Handlungsabschnitten zusammensuchen muß. Man kann sich als Zuhörer kein vollständiges Bild des Raumes und der äußeren Umstände machen, in denen sich die Handlung bewegt. Auch von der genauen Tageszeit und Wetterlage erfährt man wenig. Raum und Zeit sind für Homer offenbar keine zentralen Kategorien seiner Anschaulichkeit.
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den Akzent eindeutig auf die Bildlichkeit der gewählten Metapher, d. h. des gewählten vehicles setzen und demgegenüber die Kontur des Tenors bewußt undeutlich und wie unter einem Schleier belassen. Es ist nicht die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Tradition, mit Gattungskonventionen und vorgeprägten bildlichen und semantischen Topoi, sondern die Suche nach einer neuen Sprache expressiver Anschaulichkeit, in deren Dienst die Metaphern sich aus dem Kontext ihrer literarischen Geschichte lösen und eine neue Autarkie beanspruchen. S. dazu Radke-Uhlmann (2007) das Kapitel zur ‹Dynamisierung der Tradition›. S. Anm. 40. Andreae (1991), Schneider (2000), Bol (1999). Ich gehe diesen Zusammenhängen einer neuen Wirklichkeit als Anschaulichkeitsfülle simulierenden Kunstwelten mit dem vergleichenden Blick auf Text und Bildkunst in einer monographischen Studie nach: Radke-Uhlmann (2007). Die Gegenüberstellung zwischen Homer und Apollonios sucht auch Zanker (1987), 73 f. mit Bezug auf die Hylas-Episode. Er stellt klar heraus, wie Apollonios den Detailreichtum sucht und eine besonders starke Form bildlich-anschaulicher («pictorial realism») Beschreibung, die man mit den griechischen Rhetoren auch als «ecphrastic narration» bezeichnen kann: «The passage takes time to draw a series of graphic pictures; sequence and causation are explained with particular reference to the visual, one effect of which is to define the myth’s relation with reality as it is perceived, right from the moment, when Heracles breaks his oar, which renders natural his separation from Hylas, as he goes in search of a tree for a new one, till the appearance of the morning star which motivates the Argonauts’ departure. The emphasis on the visual for motivating narrative is not evidenced to such a degree in earlier Greek epic as we know it: the narration of Odysseus’ adventure with the Cyclops at Odyssey 9.166–566, for example, is both extended and brilliantly detailed, and offers an admirably clear exposition of the circumstantial details necessary to the development of the tale, but perusal of it will reveal the actual pictorial content is small in comparison with Apollonius’ narrative of the Hylas episode» (ebenda, 74). Der Begriff der narrativen Ekphrasis begegnet bei Theon, Hermogenes, Aphthonios. S. dazu Richardson (1990), 50–69. Andersson (1976).
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Der Befund ist also: Homer erzielt nicht die Illusion der Gegenwart sinnlicher Empfindungen, indem er den anschaulichen Reichtum der konkreten Sinneserfahrung der Handlungen, die er schildert, in einem poetischen Gemälde malt, das Raum und Zeit illusioniert. Nach Lessings Prämissen habe Homer recht gehandelt, daß er sich nicht mit der Beschreibung von Körpern für sich aufgehalten habe – denn hier hätte er die gewünschte anschauliche Illusion a priori nicht erreichen können –, sondern daß er das, was ein Maler als Momentaufnahme vorgestellt hätte, in eine Folge von Handlungen zerlegt habe: Wenn er zeigen wolle «wie Agamemnon bekleidet gewesen, so muß sich der König vor unseren Augen seine völlige Kleidung Stück für Stück anlegen.» (Laokoon, 105); so also werde das Räumliche als Nachahmung der angestrebten unmittelbaren, sinnlichen Anschauung ins Zeitliche übersetzt. Denn nur darin könne der Dichter reüssieren. Das macht seine Dichtung aber nicht anschaulich, sondern nur zu einer Folge von Ursache und Wirkung. Wie wird also – so muß man das Paradox formulieren – Homer anschaulich, ohne anschaulich zu sein? Oder weniger paradox formuliert: Wie gelingt es ihm, seine Gegenstände konkret vorstellbar zu machen, ohne eine Fülle von Anschauungsmerkmalen anzuhäufen und also ein Schaubild aus diesen Daten zu konstruieren? «Und was wir die Illusion, das Täuschende der Gemälde heißen, hieß bei ihnen die Enargie.» (111) – sagt Lessing. Ich hatte darauf hingewiesen, wie Lessing diese Vorstellung aus hellenistischen Theorien entnimmt, die diese Frage, die Frage nach der Enargeia, ins Zentrum ihrer kunsttheoretischen Betrachtungen gerückt haben und unter Enargeia wesentlich die Illusion sinnlicher Anschauungsfülle verstanden hatten. Man findet den Begriff aber auch noch in einem ganz anderen theoretischen Kontext, nämlich in der aristotelischen Rhetorik im 3. Buch an einer Stelle, an der Aristoteles erläutert, wie es in einer Rede gelingen kann, das, wovon man spricht, deutlich sichtbar vor Augen zu führen (µ C) $).55 Er stellt zunächst fest, daß das Vor-Augen-Führen und die anschauliche Deutlichkeit Tugenden vor allem der poetischen Sprache sind. Die Kunst der Rede übernimmt diese Möglichkeiten und Tugenden, soweit es für sie angemessen ist, aus der Dichtung. Die Rhetorik-Theorie geht daher in dieser Hinsicht in die Poetik über.
4 Aristoteles und die Enargeia der Energeia «Unter Vor-Augen-Stellen», so beginnt Aristoteles die Ausführungen, die Paul Ricoeur als die aenigmatischste Stelle der ganzen Rhetorik bezeichnet hat, 56 «Unter Vor-AugenStellen verstehe ich, solche Ausdrücke zu verwenden, die etwas in Aktion zeigen.» («$') κ µ C) - Ρ "' - ) (Rh. III.11, 1411b25). Die Energeia der dargestellten Sache also ist das Prinzip der Enargeia, der Anschaulichkeit, mit der diese Darstellung gelingt. Aristoteles sucht die Anschaulichkeit der poetischen Rede damit nicht in dem Erzeugen einer quasi-gegenwärtigen visuellen Illusion, die mit einer Fülle sinnlicher Details ausgestattet ist. Was Aristoteles stattdessen als Inbegriff der genuin poetischen Anschaulichkeit betrachtet, und wie sich in dem Leben-
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S. dazu den Kommentar zum Kapitel 21 der aristotelischen Poetik von Schmitt (2008). Ricoeur (1975), 54.
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digmachen der Dinge 57 durch die Bezeichnung ihres Aktes die wahre poetische Potenz verwirklicht, 58 versteht man anhand der Beispiele, bei denen er Homer für ein Höchstmaß an poetischer Energeia lobt: Homer veranschauliche, so sagt Aristoteles, die Energeia von Dingen oft durch eine metaphorische Redeweise, die das Unbelebte mit Worten charakterisiert, die Belebtes beschreiben. So mache er etwa deutlich, was die Leistung eines Pfeils, nämlich die Leistung, schnell ein Ziel zu treffen, sei, indem er sage: «Er flog dahin, ‹begierig heranzufliegen›» "$ ) (Il. 4.126) (Rh. 1411b35).59 Sie seien in höchstem Maß poetisch anschaulich.60 Die vitalistische Metapher von dem ‹gierig heranfliegenden Pfeil› mache die spezifische Potenz des Pfeils, sein 4 , anschaulich, indem es diese Potenz als Akt des Strebens nicht nur behaupte, sondern durch die Verwendung einer Tätigkeit belebter Dinge, das gierige Streben, als Wirken vorführe. Homer also habe Enargeia auch bei der Darstellung von Dingen nicht durch Abbildung des sinnlichen Phänotyps erreicht, nicht durch etwas, von dem man wegen seiner exakten sinnlichen Beschreibung glauben könnte, es sei tatsächlich etwas Echtes, eine echte Taube, eine echte Kuh, ein echter Pfeil – denn es ist nicht das Aufzählen beliebig vieler wahrnehmbarer Merkmale, die begreifbar macht, was diesen Pfeil wirklich ausmacht: wie er wirkt; was ihn von einem gewöhnlichen Stück Holz unterscheidet. Daß die Funktion eines Pfeils das Erreichen und Durchbohren eines Ziels ist, kann man nicht an den Details seiner äußeren Erscheinung sehen. Homer konzentriere sich auf die sprachliche Vermittlung eben dieser spezifischen Leistung des Gegenstands. Es werden in dieser Technik keine Dinge mit Leben versehen, denen eigentlich keine Lebendigkeit zukommt. Homer versetze nicht die unbelebte Welt in Bewegung, um die Beschreibung ansprechender, plastischer und dynamischer zu machen, um dem an sich Abstrakten Farbigkeit zu verleihen. Er füge den Dingen gerade keine Eigenschaften hinzu, die ihnen fremd sind: Er läßt nicht die Rüstungsteile des Hektor einen 57
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Von «lebendigen Bildern» spricht auch die hellenistische Tradition, wenn es um das Veranschaulichen und die Hervorbringung perfekter Illusionskunst geht. Dazu gehören die Künstleranekdoten, die die Künstler für ihre vollkommene Illusion der lebendigen Gegenwart sinnlich wahrnehmbarer Dinge preisen, aber auch und im Zusammenhang damit die Erläuterungen in der Rhetorik, wie ein Redner seine Bilder lebendig werden lassen müsse und könne: Quintilian s. Anm. 12, 62 und 63; Herodas, Mimiamb. 4.33–38; ebenda 72–78. Theocr.15.82 f. (mit Bezug auf Herodas’ Mimiambus); Plin. N.H. 35.84 f.; 35.88; 35.89; 35.95; 35.6 f. (Zeuxis’ Trauben); 36.21 f. Zur Illusionskunst des Zephisodotus: Plin. N.H. 36.24. S. dazu auch Gombrich (1972), 99–125; Sörbom (1975), 44–53. Beispiele solcher sinnlicher Illusionskunst in der Dichtung: s. die Ekphrasis des Mantels des Jason in Apollonios’ von Rhodos Argonautika. Das dritte Bild – Aphrodite betrachtet sich im Schild des Ares (A. R. 1.742–746) – und das letzte Bild – Phrixos im ‹Gespräch› mit dem Widder – reflektieren besonders auf die anschaulich-sinnliche Illusion der Bilder. Dazu auch Palm, 1965–6, 142. Kann man begrifflich herleiten, wenn man sich mit Aristoteles’ von Platon übernommenen Begriff des Ergon einer Sache und dem Unterschied zwischen Akt und Potenz, bzw. erster und zweiter Dynamis bzw. erster und zweiter Potenz, zuwendet. Bei solchen Formulierungen bewirke nämlich die Beschreibung unbelebter Dinge mit Eigenschaften von belebten Wesen, daß das Tun der Dinge zum Vorschein komme: " » ' 8 « µ %6.0 ρ "' - φ (Rh. III.11, 1412a2 f.) µ Ν6.0 %6.0 « φ »« (Rh. III.11, 1411b32). Der anonyme Kommentator zur Rhetorik sieht in der Potenz der Dichtung, die Dinge als "' - darzustellen, die spezifische Fähigkeit des Dichters, nämlich die Fähigkeit zu guter Mimesis: «Die Energeia ist eine Art Mimesis. Wenn man nämlich die ' einführt und als "' - darstellt («), dann genau erscheint man als einer, der sie nachahmt» (Anonym. in Rhet. III,11, 210, 20–22).
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lustigen Tanz aufführen oder die Webutensilien Penelopes zum Leben erwachen und sprechen. Dies wäre märchenhaft und folgte lediglich einer Obsession der Dynamisierung und visuellen Verlebendigung, die Handlung als ein atmosphärisches Bild betrachtet und nicht als ein aus Gründen verstehbares Geschehen. Man muß bei diesen alternativen Möglichkeiten, die Aristoteles nicht meint, wenn er Homer für sein Vor-Augen-Stellen durch die sprachlich-konkrete Vermittlung des spezifischen Ergon einer Sache lobt, noch einen Moment verweilen. Denn sie sind in der Nachfolge der hellenistischen Rhetoren und Dichtungstheoretiker, vor allem in der Nachfolge Quintilians so wirkmächtig geworden, daß sie die aristotelische Alternative fast vollständig verdrängt haben und es uns heute sogar schwer machen, den spezifischen Unterschied des aristotelischen Gedankens zu erfassen. Quintilian weist den Redner an, seine Gegenstände zu beleben, ihnen Leben einzuhauchen, weil auf diese Weise die unmittelbare Illusion der lebendigen Gegenwart des Ereignisses und der Dinge erzeugt werde. Die emotionale und unmittelbar beeindruckende Wirkung auf den Rezipienten steht in dieser Belebungstheorie also im Zentrum des Interesses. 61 So lobt Quintilian Vergil für die Formulierung «pontem indignatus Araxes» «der Fluß Araxes, der die Brücke verachtete» (d. h. den die Brücke nicht in Schranken halten konnte); denn er habe in einer gewagten Formulierung einem Gegenstand, der keine Wahrnehmungen hat, ein Tun und Seele zugesprochen.62 Solche Formulierungen geben, so Quintilian, der poetischen Rede Farbe und eindrückliche Erhabenheit. Die Atmosphäre der Erzählung werde damit insgesamt in eine poetische Farbe getaucht. Nicht das einzelne Objekt, sondern die farbige Dynamik der ganzen Erzählung steht in diesem Lob Vergils im Zentrum. Die Handlungsträger verschwimmen mit der Szenerie und Landschaft in einem atmosphärischen Gesamtbild, das als Ganzes auf den Rezipienten einwirkt. Quintilians Vorstellung von lebendig anschaulicher Rede und seine mit dieser verquickte Metapherntheorie waren in der neuzeitlichen Rezeption wirkmächtig.63 In ihr hatte der Rhetoriktheoretiker der diskursiven Sprache ein Mittel an die Hand gegeben, das ihre strukturelle Abstraktheit überwinden zu helfen versprach. Er machte das Wort lebendig, ließ es sichtbar und nicht mehr nur hörbar wirken. Die lebendige Metapher Quintilians verleiht der Sprache eben die Potenzen, die auch Lessing als Qualitäten der Kunst sucht. Sie verleiht der Sprache die Möglichkeit, unmittelbar zu bewegen, unmittelbar einen stimmungshaften Eindruck zu verschaffen und da, wo sie belehren will, diese Belehrung durch schöne Bilder einzukleiden und angenehm zu machen. Das Lebendigmachen unbelebter Dinge ist als eine Form metaphorischer Redeweise aber nicht nur ein Erbe Quintilians, sondern ist auch Teil von Aristoteles’ Konzeption der Metapher innerhalb der Disziplin der Rhetorik. Sie steht bei Aristoteles in einem grundsätzlich verschiedenen Theoriekontext und zielt auf etwas anderes ab, auf etwas, das in der neuzeitlichen Rezeption eine vergessene Form der Theorie der Anschaulichkeit ist und daher in einer Archäologie neu erschlossen werden muß. Zu dieser archäologischen Arbeit, die eine Differenzierungsarbeit ist, will dieser Aufsatz einen Beitrag leisten. 61
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Quint. Inst. Or. 6.2.29–32., bes. 31 f. Quintilian zitiert im Anschluß zur Exemplifizierung ausführlich aus der Aeneis: Aen. 9.476; 11.40; 11.89; 10.782: 4.426. Quint. Inst. Or. 8.6.11. Dazu und zur aristotelischen Metapherntheorie s. Schmitt (2008).
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Dazu, daß die Existenz und Möglichkeit einer zweiten Form der Anschaulichkeit neben der sinnlich-unmittelbaren vergessen wurde, haben viele Faktoren beigetragen. Zu diesen gehört auch, daß die untergeordnete Behandlung der Metapher in der aristotelischen Poetik und Rhetorik im Kontext der Frage, wie man die Rede anschaulich machen könne, vielen modernen Theoretikern als Sündenfall in der Rhetorik- und Dichtungstheorie gilt. Denn sie verkenne die Bedeutung von schaffenden und Welt erschließenden Potenzen der Sprache, die in der Metapher angelegt seien.64 Dahinter stehe eine naive rationalistische Haltung. Diese gehe davon aus, daß sich die Welt uns, und das heißt: dem Logos offenbare, wie sie ist. Der Logos könne sie als solche ganz und vollständig umfassen und begreifen. Es gebe nichts, was über den Logos hinausweist. Das aber sei naiv, weil wir die Welt tatsächlich nicht als begrenzten Raum, sondern als Ungeheures, das immer über unsere Wahrheitsfähigkeit hinausgeht, erleben. 65 Wegen dieses wesentlichen Ungenügens des Logos angesichts des Ungeheuren der Welt, angesichts ihrer unendlich reichen sinnlichen Bestimmtheit, aber brauche der Mensch Bilder, die ihn über die Grenzen des abstrakten Logos hinausführen. Die poetische Sprache biete solche Bilder. Sie schaffe Metaphern und mit ihnen einen unendlichen Möglichkeitsraum der Übertragung und Erweiterung von Bedeutung. Die Metapher überwinde die Abhängigkeit des einzelnen Wortes von seinem kommunikativen Kontext und erkläre die Potenz der Sprache überhaupt, neue Bedeutungen zu erschaffen: sie beweise so die Kreativität der Phantasie als Instrument der Bewältigung der Nicht-Bewältigbarkeit der Wirklichkeit 66 im Unterschied zur Leblosigkeit des abstrakten Begriffs.67 Dies sind Wege, die von den Theorien neuer Metaphorologien beschritten werden.68 Aristoteles selbst aber negiert in diesem Kontext der Rhetorik nicht die Möglichkeiten, die in diesen modernen Metapherntheorien über die heuristische Funktion von Metaphern diskutiert werden, er hat vielmehr etwas anderes, nämlich deren spezifisch poetische Potenzen im Blick, die er nicht gegen die Potenzen des abstrakten Logos, sondern gegen rein sinnlich-anschauliche Potenzen von autarken Bildern abgrenzt. Er betrachtet nicht – wie Lessing – die Wirklichkeit mit ihrer unendlichen sinnlichen Präsenz und schreibt so den Eindruck der Inferiorität der poetischen Sprache gegenüber dem Bild indirekt fest; sondern er definiert eine genuin eigenständige poetische Anschaulichkeit, die die Potenzen der Sprache zur Suche nach verstehbaren Gründen und denkbaren Möglichkeiten, die über das nur Sinnlich-Anschauliche hinausgehen, auslotet und nutzt. Er definiert diese Anschaulichkeit auf dem Weg der poetischen Konzentration auf die Energeia der für den poetischen Gegenstand selbst jeweils spezifischen Potenzen unter Ausblendung der szenischen Atmosphäre, in die ein Gegenstand oder eine Handlung eingefügt sein kann. 64
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S. dazu den grundlegenden Aufsatz des Sprachwissenschaftlers Roman Jakobson zur konstitutiven Funktion von Metapher und Metonymie in sprachlichen Prozessen: Jakobson (1979). Blumenberg (1960), 62: «… gegen die morphische Statik des Aristotelismus mit seiner Unterstellung der Möglichkeit eines definitiven Kompendiums der Weltdinge …» Auch die «Arbeit am Mythos» Hans Blumenbergs (1979) ist nichts anderes als eine Geschichte der Bewältigung dieser nicht zu bewältigenden Wirklichkeit mithilfe der Transformation des Ungeheuren in das Bildliche und Anschauliche. S. Haverkamp (1996), 501: «Das ist nicht so zu verstehen, daß die Metapher als Teil einer vorbegrifflichen Sphäre begrifflich doch einzuholen wäre, sondern daß sie die Überschreitbarkeit des vorläufig Begriffenen, dessen fortwährendes Differential darstellte.» Diese Wege führen zum Beispiel zur absoluten Metapher Blumenbergs (1960); oder auch zur lebendigen Metapher Ricoeurs (1975).
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Dieser Weg bindet die Dichtung nicht an die Möglichkeiten des Wahrnehmbaren, sondern emanzipiert sie von diesen. Denn die Funktion eines Pfeils kann man nicht sehen, man kann sie nur mit dem Denken aus dessen Tun als dessen allgemeine Potenz erschließen. Die ‹lebendige Metapher› der aristotelischen Rhetorik leistet diese Erschließung, indem sie die Aufgabe der Metapher nicht in der Ersetzung eines Vorstellungsbildes durch ein anderes,69 sondern in der Ersetzung von etwas Begreifbarem durch etwas bildlich Vorstellbares erkennt. Dafür wird gerade eine besonders strenge Auswahl dessen, was Prägnanz, prägnante Erkennbarkeit in die Beschreibung legt, notwendig und keine möglichst große Detailfülle mit Bezug auf die umgebende Szenerie. Der Dichter muß eine Differenzierungsund Erkenntnisarbeit leisten, die seiner Metaphernbildung und seinen Strategien der Veranschaulichung vorausgeht, die die Sinnlichkeit übersteigt. Er darf sich an diese nicht binden und strebt nicht nach ihrer illusionierenden Imitation. Das äußere Erscheinungsbild der Dinge möglichst getreu abzubilden, ist nicht sein Ziel. Er will die Dinge prägnanter beschreiben, als sie in der unmittelbaren Anschauung erkennbar werden können. Die Dichtung bewegt sich aber nicht im Begrifflichen, sondern beschreibt Dinge und Ereignisse, die man sehen und sich vorstellen kann. Sie benutzt sinnliche Merkmale, um etwas, das selbst nicht sinnlich ist, erschließbar zu machen, um dem Rezipienten die Erkenntnis zu ermöglichen, was dieser Mensch, was dieser Gegenstand wirklich ist, was ihn von allem anderen unterscheidet und als dieses Individuum, als diese besondere Sache erkennbar macht. Dazu benötigt man kein farbiges Panoramabild der erzählten Handlung, sondern eine poetische Ordnung von prägnanten Charakteristika. Aristoteles sucht, wie Paul Ricoeur erkannt hat, die Erschaffung einer neuen, poetisch-prägnanten ‹Welt›, die lebendige Ähnlichkeiten schafft und den Zuhörer an diesem Prozeß der Bedeutungserschließung teilnehmen läßt und nicht nach der abspiegelnden Wiederholung der ‹realen› Welt strebt. Die Anschaulichkeitsstrategie des Mimeten, der aristotelisch vorgeht, ist kein Prozeß der detailgetreuen Rekonstruktion des Sinnesbildes, sondern einer Durchdringung dessen, was einen bestimmten Menschen und sein Handeln wirklich ausmachen. Der aristotelische Mimet ist nicht imitativ, sondern kreativ. Er erschafft etwas neu, und er nutzt die Potenzen der Sprache zu diesem Schaffensprozeß und der Erzeugung von poetischer Prägnanz. Daß dieser ganz andere Ansatz, der nach spezifisch sprachlich-poetischen Möglichkeiten der Erzeugung von Bedeutung und nicht nach einer Imitation anschaulicher Bildlichkeit fragt und der nicht von der selbst unhinterfragten Prämisse der essentiellen Abstraktheit des Denkens und der begrifflichen Erschließung einer Sache ausgeht, nicht nur für die Archäologie eines Begriffes, also für die Theorie, sondern für die Interpretation der homerischen Erzählkunst heuristisch wertvoll sein kann, kann ich nur noch anhand eines eben bereits erwähnten Beispiels andeuten:
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D. h. in einer dimensionalen Gleichheit von tenor und vehicle. Diese Begriffe wurden bekanntlich von Richards eingeführt, um das Wesen der Metapher, zu erhellen: Richards (1936), 96. Sie legen die Verwendung von Metaphern allerdings auf die Ebene bildlicher Vorstellungen fest, die in Aristoteles’ Konzeption auch benutzt werden, aber geleitet von einer begrifflichen Einsicht, die vermittelt werden soll und die die Vorstellungsebene dimensional überschreitet.
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5 Homer und die poetische Prägnanz Es handelt sich um die Szene im zweiten Gesang der Ilias, in der sich Agamemnon ankleidet. Lessing nimmt die Szene als Beleg dafür, daß Dinge nur in der Form von Handlungen beschrieben werden können: Nicht die Kleidung Agamemnons wird Gegenstand der Erzählung, sondern die Handlung des Ankleidens. Er sieht in ihr also lediglich die ausweichende Technik des Dichters, seine Unvollkommenheit in der anschaulichen Präsentation räumlich wirkender Bilder zu verdecken. Dabei ist ihm die Potenz der Szene für das VorAugen-Stellen dessen, was den Charakter Agamemnon in der Ilias bestimmt, entgangen. Aristoteles’ Konzept kann die Verengung dieser Perspektive korrigieren: Die von Lessing kommentierte Szene ist Teil einer längeren Sequenz von Szenen. Diese beginnt mit einer Vorgeschichte, nämlich mit dem Versprechen, das Thetis Zeus abringt, Agamemnon und die Griechen für ihren Frevel an Achill zu bestrafen. Dieses Versprechen beginnt Zeus, zu Beginn des zweiten Gesangs einzulösen. Er schickt Agamemnon den ‹ σ « > «›, den verderblichen Traum, der Agamemnon in falscher Sicherheit wiegen wird.70 Fµ« $ Ν''« 4, χ« - Ν. "Ω $' # ’ ". «Von Zeus herkommend bin ich dir ein Bote, !von Zeus", der auch aus der Ferne sich sehr um dich sorgt und Mitleid mit dir hat.» (Il.2.26 f.)
Pathetisch inszeniert der Traum zu diesem Zweck die intime Verbindung zwischen Zeus und dem Herrscher Agamemnon. Die Zeit sei jetzt günstig, so weiß es Zeus, und wer sollte es besser wissen? Zeus weiß, daß der Kairos für den Angriff da ist, und er teilt dieses Wissen mit seinem Liebling Agamemnon. Diese Worte verfehlen ihre Wirkung nicht: Agamemnon fühlt sich über die Maßen gestärkt durch diese Beziehung zum Herrscher der Götter und weiß diese Zuneigung des Zeus in seinem eigenen Herrschertum begründet. In diesem Kontext steht die von Lessing abstrakt erzähltechnisch gedeutete Ankleidungsszene. Sie ist ein anschauliches Bild, das etwas verstehbar macht, was man nicht sehen kann: die Selbstverliebtheit Agamemnons in sein Herrschertum.71 Als er aus dem Traum erwacht, klingt ihm noch die göttliche Stimme im Ohr, schon wirft er sich das weiche Gewand um: Schön ist dieses und neugewebt, darum herum legt er einen Mantel, unter die strahlenden Füße bindet er schöne Sandalen. Dazu ergreift er den Schild mit silbernen Buckeln und den Herrscherstab. Er eignet sich diese – untechnisch gesprochen – Insignien im Ankleiden an. Herrscherlich will der Erzähler diesen Agamemnon in seiner falschen Selbstsicherheit durch diesen Akt der Aneignung charakterisieren. Daher betont er dessen Handeln mit den Symbolen der Macht. So läßt er sich Agamemnon, nachdem die Versammlung aller Griechen vor Troja einberufen ist, auf das Zepter stützen – auf das Zepter, dessen lange Ahnenreihe der Erzähler sich nicht nehmen läßt, breit (in 8 Versen) zu erzählen. Homer muß die Gewandung des Agamemnon nicht als Ankleidungshandlung berichten. Er tut es aber aus einem bestimmten Grund. Er benutzt das Ankleiden Agamemnons, 70 71
S. dazu Schmitt (1990), 85–89. Il. 2.41–47.
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um das – überzogene – Selbstvertrauen, das dieser aus seinen Herrscherinsignien ableitet, in dessen Handeln, in dessen Vorbereitung für seinen Auftritt vor der Versammlung des Heeres, anschaulich zu machen, er tut es nicht, um die Kleidung bildlich-malerisch anschaulich zu machen, sondern um diesen Charakter Agamemnons poetisch-energetisch vor Augen zu stellen. Die Szenenfolge ist der zweite große Auftritt Agamemnons in der Ilias. Damit weist sie zugleich zurück auf den ersten Gesang und die Streitszene und voraus auf die Zorneshandlung der mittleren Ilias-Gesänge. Agamemnons Selbstsicherheit und sein herrscherliches Gehabe sind das spezifische Ergon dieses Gegenspielers des Achill. Diese anschaulich vor Augen zu führen, gelingt dem Erzähler in dieser Szenenfolge des zweiten Gesanges und in der Ankleideszene meisterlich. Nicht das anschauliche Detail, auch nicht das der Kleidung des Herrschers steht im Zentrum und ist das Mittel, mit dem Anschaulichkeit erreicht wird. Der Erzähler macht nicht den Versuch, die Illusion visueller Gegenwart zu erschaffen. Er kürzt diese vielmehr bewußt ab, um die Aufmerksamkeit ganz auf die prägnante Charakterdarstellung in ihrer spezifischen Energeia zu lenken.
6 Schluß Aristoteles entwirft in der Rhetorik eine Theorie der poetischen Anschaulichkeit, die dem Wort selbst eine besondere Potenz einer (nicht rationalistisch verkürzten) Anschaulichkeit zutraut und diese nicht aus einem anderen Medium hinzuholt: Anschaulichkeit kommt aus dem Begreifen der spezifischen Energeia einer Sache: Bilder benötigen, wie Aristoteles auch etwa in der Politik sagt, 72 eine rationale Deutung, da sie nur Zeichen und keine Homoiomata der Dinge sind, nicht etwas, das von gleicher Qualität wie die Dinge ist. Sie sind nicht aus sich selbst heraus verständlich. Homers Dichtung leistet genau diese hermeneutische ‹Arbeit›: Sie ahmt nicht die sinnlich-anschaulichen Qualitäten des Bildes nach, so wie es der hellenistische Epiker Apollonios meisterhaft tut. Apollonios schafft eine Illusion, die sich vor allem auf Potenzen stützt, über die das Bildmedium von sich her und autark verfügt. Sein sinnlich-visuelles Erzählen genügt den Prämissen und Anforderungen hellenistischer Enargeia-Theorien, zu denen auch Lessing sich ausdrücklich bekennt. Lessings Grenzziehung zwischen Bild und Dichtung erweist sich vor diesem Hintergrund als verkürztes Konzept. Er kennt nur eine Form der Anschaulichkeit, und diese ist die des autarken, sinnlich rezipierten Bildes. Deren Diktat unterwirft er auch die Dichtung. Lessings Analyse will formal sein.73 Er will eine Bestandsaufnahme der Techniken geben, in denen Homer die Mängel der Sprache zu kompensieren versucht, die ihr wesentlich sind und auf die der (moderne) Dichter reflektieren muß. Dennoch kann man Lessings andere Antwort auf die Frage, was die Ankleidungsszene Agamemnons bedeutet, nicht gänzlich von der eben skizzierten isolieren und einer anderen Beurteilungsebene zuordnen. Denn 72
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Arist. Pol. 8.5, 1340a28–35. Die Anschauung (in der Malerei) verschafft keine Homoiomata (Ähnlichkeiten), sondern nur Semeia (Zeichen) von Charakteren oder Pathe. Stierle (1984) hat diese Potenz der Lessingschen Konzeption, zu einer ‹Medienästhetik› zu avancieren, aufgegriffen und daraus eine Theorie entwickelt, in der nicht die Sprache als ihre Inhalte Handlungen transportiert, sondern selbst Handlung, Sprachhandlung ist.
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sie stehen in einem Konkurrenzverhältnis. Beiden Interpretationen gemeinsam ist das Bestreben, zu erklären, warum Homer in aller Ausführlichkeit erzählt, wie Agamemnon sich für seinen Auftritt vor der Versammlung ankleidet, während er solche Ekphrasen sonst eher meidet. Beide Interpretationen wollen eine Erklärung für diese Ausnahme geben. Lessing meint, diese Erklärung nur im Formalen suchen zu können; die hier entworfene Deutung hingegen findet eine Erklärung in der Kontextualisierung der Szene in einer Handlungssequenz und als Ausdruck des allgemeinen Charakters des Agamemnon, wie er in der Ilias charakterisiert wird, d. h. als Interpretation von Handlung und nicht von anschaulicher, aus Bildern zusammengesetzter Szenerie. Lessings Prämissen für diese formale Erklärung stehen ebenfalls in einem Spannungsverhältnis zu der von Aristoteles’ Anschaulichkeitskonzept inspirierten Deutung. Er nimmt an, daß die Dichtung als Kunst unmittelbar anschaulich, intuitiv wirken will, und tritt mit dieser Prämisse an den Homerischen Text heran. Nach Aristoteles und im Sinn der hier vorgestellten Deutung ist eben diese Prämisse problematisch. Erst sie und nicht die Dichtung Homers und auch nicht die Intention, diese Ankleideszene poetisch auszuwerten, zwingen zu einer (semiotischen) Formalisierung der Interpretation. Dazu zwingt erst die Absolutsetzung anschaulicher Illusion, die die Sprache mit Ansprüchen konfrontiert, die nur sinnlich gegenwärtige Bilder – in bestimmten Grenzen – und deren Vergeistigungen als Phantasiebilder erfüllen können. Lessings Prämissen bedeuten eine fokussierende Einschränkung dessen, was diskutiert werden kann. Viele Diskurse wurden von dieser Festlegung bestimmt. Die Archäologie der homerischen und aristotelischen Alternative kann demgegenüber neue Horizonte eröffnen und Verkrustungen der Diskussion aufbrechen. Denn auf der Basis der Wiederentdeckung der aristotelischen Konzeption können neue, vielversprechende Wege beschritten werden, um den alten Streit zwischen Bild und Dichtung zu einer Kunsttheorie weiterzuentwickeln, die die spezifischen Potenzen beider Künste erhellt und nicht als kompetitiv, sondern komplementär zu verstehen vermag. Der Blick auf Aristoteles eröffnet die Möglichkeit, zwischen den autarken Potenzen des Anschaulich-Bildlichen und den prägnant-poetischen Potenzen, die primär das Wort hat, zu unterscheiden und von da aus nach Synergieeffekten zwischen diesen beiden Qualitäten in antiken Erzähltexten ebenso wie in antiken Bildkunstwerken zu forschen.74 Er eröffnet die Möglichkeit jenseits der klassisch neuzeitlichen kunsttheoretischen Diskurse auch dem Denken und Schlußfolgern eine kreative Potenz zuzutrauen und der Rationalität (wieder) in die Dichtung, insofern sie Dichtung ist, Einlaß zu gewähren. Die Wiederentdeckung einer vergessenen und wirkungsgeschichtlich verschütteten Form der Anschaulichkeit kann eine neue Antwort auf die Frage, was genau Bilder, und was genau poetische Sprache leisten, zur Diskussion stellen.
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Es kann autarke Bildlichkeiten und deren Strategien geben, es kann spezifisch poetische Anschaulichkeitsformen geben, und es kann das Zusammenwirken zwischen den Tugenden beider Kunstformen geben, die zur Anschaulichkeit des Kunstwerkes beitragen, etwa in der bildlichen Darstellung von (literarischen) Mythen (S. Giuliani (2003), passim). Alle diese Möglichkeitsräume sind ein Terrain, das – auf der Basis vielversprechender Ansätze – in der interdisziplinären Forschung noch weiter ausgelotet werden kann.
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Ursula Gärtner
« $0$ Schiffe als Unheilsbringer in der antiken Literatur1 In der Dreigroschenoper von Kurt Weill und Berthold Brecht2 singt Polly das Lied von der Seeräuberjenny, die in Lumpen in einem lumpigen Hotel Gläser abwäscht und für einen Penny das Bett macht, dabei aber denkt, wie es sein wird, wenn ein Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen am Kai liegen wird, die Stadt beschießt, allein das Hotel verschont und schließlich Hundert vom Schiff kommen und fragen, wen sie töten sollen, und sie dann sagt: «Alle!» und wie sie, wenn dann der Kopf fällt, sagt: «Hoppla!», und das Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen mit ihr entschwindet. Johann Hermann Schein lässt in einem fast genau 300 Jahre früher, nämlich 1624 entstandenen Gedicht ebenfalls ein Schiff das Meer befahren: «Mein Schifflein lief im wilden Meer, | Geschlagen von Sturmwinden; | Das Segel war zurissen sehr, | Kein Ruder konnt ich finden; | Kein Schiffmann da vorhanden war; | Auf allen Seiten war Gefahr, | Kein Sternlein ließ sich blicken. | Wie bet’t, wie gab ich gute Wort, | bis endlich durch gewünschten Port | Mich Amor tät erquicken. | Drum ich dem Göttlein blind zum Dank | Mein Herz vovier mein Lebelang.»3 Mancher wird an das alte Kirchenlied denken, in dem ein Schiff kommt, geladen bis an sein’ höchsten Bord, 4 oder an das Bild des Staatsschiffs. Dichtungen aus unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichem Inhalt, sei es Rachelust, Leben und Liebe, Glaube und Hoffnung oder Staat und Politik, sie alle benutzen das gleiche Bild: das Schiff. Es scheint, als habe wenig die Phantasie der Menschen zum Gebrauch als Metapher, Allegorie, Gleichnis oder Symbol so angeregt wie das Gefährt, mit dem man sich auf die See hinauswagt. Die Stellen, an denen das Bild des Schiffs in der Literatur verwendet wird, sind unübersehbar, und es ist beinahe ebenso unmöglich, allein die verschiedenen Bereiche anzuführen, für die das Bild steht. Doch hat dies auch einen besonderen Reiz; es sei daher zu einem Spaziergang durch die antike Literatur eingeladen oder vielleicht besser zu einer Spazierfahrt, bei welcher wir betrachten können, wie ein Bild, das uns in den verschiedensten Literaturen begegnet, schon in der Antike seine Ausprägung erhält. Es lässt sich feststellen, dass im Großen und Ganzen in der Antike bereits fast alle Grundmuster dieses Bilds zu finden sind.5 Die wohl bekanntesten sind die des Staatsschiffs – man denke an die berühmten Gedichte des Alkaios und des Horaz –,6 dann das 1 2 3 4 5
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Im Folgenden handelt es sich um die schriftliche Fassung meiner Antrittsvorlesung an der Universität Potsdam. Uraufführung: Berlin, 31. August 1928. Zitiert nach Conrady (1997), 14. Daniel Sudermann (um 1626) nach Johannes Tauler (14. Jh.) oder einem Marienlied aus Straßburg (15. Jh.). Zum Überblick vgl. Kahlmeyer (1934); Saint-Denis (1935); Rahner (1964), 313 ff.; Heydenreich (1970), 55 ff. Vgl. z. B. Alk. 326 LP; Theogn. 671–82; Aischyl. sept. 1 ff. 208 ff. 652. 758 ff. 795 ff.; Soph. Ant. 162 f.; Plat. polit. 302a; rep. 488a-e; Aristot. pol. 1276b; Cic. Pis. 20 f.; Hor. carm. 1, 4; Quint. inst. 8, 6, 44; vgl. van Nes (1963), 71 ff.; Schäfer (1972).
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Bild des Schiffs für das Leben – wie etwa bei Platon –,7 für die Seele, 8 für die Welt überhaupt,9 ferner für die Liebe,10 den Wankelmut und Tod – wie der Nachen des Charon –,11 später für den Glauben bzw. die Kirche 12 und schließlich für die Dichtung selbst.13 Indes ist die Zahl der Aspekte zu groß, um sie allein schon für die Antike a prora ad puppim14 aufzählen zu können. Es soll daher genügen, nur einem einzigen Aspekt nachzugehen, nämlich weniger dem Schiff als Metapher oder Symbol für etwas ganz anderes als vielmehr dem Motiv des Schiffs als Unheilsbringer. Es soll versucht werden zu zeigen, wann und aus welcher Situation ein solches Motiv entstehen konnte, wie es sich entwickelte und schließlich zum Topos erstarrte und wie dieser dann selbst verwendet wurde. Da auch dies den Rahmen noch sprengen würde, soll ein, wie ich meine, besonders interessanter Aspekt im Vordergrund stehen, und zwar soll der Frage nachgegangen werden, wie und wann Schiffe für persönliches Unglück verantwortlich gemacht wurden. Hierzu sollen nach einer kurzen Einführung zur antiken Seefahrt einige Stellen aus der frühen griechischen bis zur späteren lateinischen Literatur vorgestellt werden, wobei die bekannteren nicht fehlen sollen, aber ebenso einige weniger bekannte Passagen die Facetten dieses Motivs beleuchten mögen.
1. Einführung 15 Für Griechenland wie für Italien als Anrainerstaaten des Mittelmeers war die Seefahrt von großer Bedeutung. Heute mag diese Feststellung banal wirken, doch stellte die Schifffahrt für die Menschen in der Antike eine ungeheure Herausforderung dar. Es gab sie im Mittelmeer freilich schon früh; für Siedlungen auf Inseln wie Skyros, Kephallenia oder Zakynthos ist dies schon für das 10. Jt. anzunehmen; sichere Belege haben wir seit dem 4./3. Jt. v. Chr. aus dem östlichen Mittelmeer.16 Die Griechen der mykenischen Zeit entwickelten Schiffbau und Navigation nicht selbst, sondern übernahmen sie von Nachbarvölkern; die Römer lernten wiederum von den Griechen, Etruskern und vor allem von den Karthagern, entwickelten aber insbesondere die Kriegsschiffe weiter. Schiffbau blieb demnach eine 7
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Vgl. Plat. leg. 803af.; ferner: Pind. Ol. 12, 3 ff. 10 ff.; 13, 28; Isthm. 1, 36 ff.; 4, 5 f.; 6, 10 ff.; AP 10, 65; Cic. Cato 71; Hor. carm. 2, 10, 1 ff.; Ov. Pont. 4, 3, 5 ff.; Sen. dial. 6, 26, 1; Greg. Naz. carm. 1, 2, 9, 141 ff.; vgl. Lesky (1947), 209 f. Aristot. de an. 413a; Thomas von Aquin schrieb diesen Vergleich Platon zu: de anima a. 1c; vgl. Rahner (1964), 324 ff., insbesondere zu der christlichen Ausprägung des von Christus gelenkten Seelenschiffchens. Vgl. Cic. nat. deor. 1, 52; Sen. dial. 6, 6; Lukian. Iupp. trag. 46 ff.; Greg. Nyss. anim. et res. 2, 3 (PG 46, 24a); Euseb. Syr. Teophanie 1, 1; 2, 26; Ps.-Aristot. de mundo 400b; Plut. de defectu oraculorum 29 (429b). Vgl. AP 5, 156; 190; 9, 415; 416; 12, 157; 167; Hor. carm. 1, 5, 6 ff.; Prop. 3, 24, 15 ff.; Ov. am. 3, 11, 29 f. 51 f.; Apul. met. 2, 11, 3; Hieron. epist. 128, 3. Vgl. Plat. Phaid. 114; Greg. Nyss. anim. et res. 7, 3 (PG 46, 45b). Vgl. Bas. or. 22 (PG 85, 265a. 267a. 269a). Vgl. Ambr. sacr. 5, 34. Rahner (1964), 239 ff., 335 ff. Vgl. Hor. carm. 4, 15, 1 ff.; Prop. 3, 3, 15 ff.; Stat. silv. 4, 4, 87 ff.; Claud. rapt. Pros. prooem. Vgl. SaintDenis (1935), 319, 365; Heydenreich (1970), 59 ff. Vgl. Cic. ad fam. 16, 24, 1. Vgl. Köster (1923); Casson (1971); Wachsmuth (1975); Höckmann (1985); Meijer (1986); Horden/Purcell (2000); Schulz (2005 I) mit einem ausführlichen Forschungsüberblick; Schulz (2005 II). Hier ist z. B. auf Zeugnisse aus Ägypten zu verweisen; vgl. Casson (1971), 11 ff.; Höckmann (1985), 9 ff.; Meijer (1986), 1 ff.; Nissen (2001), 160.
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übernationale Sache, was bewirkte, dass die einzelnen Schiffstypen wenige Abweichungen aufwiesen; dies konnte mitunter in Seeschlachten absichtliche oder unabsichtliche Verwechslungen hervorrufen. In klassischer Zeit setzte man Kriegsschiffe nur an der Küste ein, die größeren Handelsschiffe waren dagegen schon hochseetauglich, und die Strecke von Ostia nach Gibraltar, die immerhin 935 sm beträgt, konnte bei günstigen Bedingungen in etwa 7 Tagen zurückgelegt werden.17 Spielte die Seefahrt sowohl in strategischer Hinsicht eine enorme Rolle als auch für den Handel, d. h. vor allem für die Getreideversorgung, so war die Beziehung zu ihr doch immer von Ambivalenzen bestimmt.18 Die Gefahren waren immens, im Winter (Nov.-März) wagte man sich in der Regel nicht hinaus, die Wiederaufnahme des Verkehrs im Frühjahr war seit dem 3. Jh. v. Chr. mit Sakralakten verbunden,19 wie überhaupt Glaube und Aberglaube die Seefahrt wie wenige andere Bereiche bestimmten. Gefürchtet blieb der Schiffbruch, und weit verbreitet ist das Motiv der Angst, als Ertrunkener keine rituelle Bestattung erhalten zu können.20 Die Ambivalenz im Verhältnis zur Seefahrt war demnach stark, und es verwundert nicht, dass sie sich in der Literatur niedergeschlagen hat; vielleicht am deutlichsten in dem berühmten Chorlied der sophokleischen Antigone aus dem 5. Jh. v. Chr. (332 ff.; ed. Pearson): ξ $< . $α - λ - $ . 0 )) )) 0), .0 / 3# L, …
335
Hier wird die Seefahrt freilich nicht beurteilt, sondern es werden lediglich ihre Gefahren und Schrecken hervorgehoben. Ambivalent bleibt die Beurteilung der Menschen, die es wagen, diesen Herausforderungen zu trotzen; die Kühnheit bzw. der Wagemut ist es, der hinterfragt wird – ein Motiv, das uns immer wieder in unterschiedlicher Bewertung begegnen wird. Zahlreich sind die Texte, die die Errungenschaften der Seefahrt bejubeln, interessanter dagegen die, in denen die Befahrung des Meers unter verschiedenen Aspekten negativ beurteilt wird.21 Eine Auswahl soll im Folgenden näher betrachtet werden.
2. « $ bei Homer Wie so häufig soll Homer den Anfang bilden. Denn bei ihm finden wir zum ersten Mal den Gedanken, der in unserem Zusammenhang wichtig ist. Der Titel dieses Aufsatzes stammt aus der Ilias. Zu Beginn des fünften Buchs, in dem die erste große Schlacht beschrieben wird, erschlägt der Grieche Meriones den Troer Phereklos (5, 59 ff.; ed. Monro/Allen): 17 18
19 20 21
Vgl. Plin. nat. 19, 3 f.; vgl. Casson (1951), 138 f.; Wachsmuth (1975), 69; Meijer (1986), 227. Vgl. Wachsmuth (1967), 201 ff.; Heydenreich (1970), bes. 13 ff., zum Thema der ursprünglichen Seefeindlichkeit der Griechen; Schulz (2005 II), 207 ff. Zu Sakralhandlungen bei antiken Seereisen vgl. Wachsmuth (1967), 63 ff., 113 ff. Vgl. z. B. AP 7, 271; 274. Zum Überblick grundlegend: Heydenreich (1970).
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60
In Abhandlungen zu Lob und Tadel der Seefahrt sind diese Verse erstaunlicherweise nicht herangezogen worden, obwohl sich ein Zug, den wir später oft finden werden, hier schon im Ansatz entdecken lässt. Freilich geht es in diesen Versen nicht um einen allgemeinen Tadel der Seefahrt, sondern – und das ist für unseren Überblick zentral – ganz konkret um die Folgen, die Schiffe für einzelne Menschen hatten. Den Troern, insbesondere Paris, aber auch ihrem eigenen Erbauer 23 werden die Schiffe zum Verderben bzw. waren sie der Anfang vom Übel, weil sie Alexandros/ Paris nach Griechenland brachten, wo dieser die schöne Helena entführte und somit den troianischen Krieg auslöste; in diesem sollte der Erbauer der Schiffe schließlich ebenfalls im Kampf fallen; 24 darüber hinaus waren sie der Anfang vom Ende für alle Troer, da ohne sie Troia nicht gefallen wäre. D. h. die Schiffe sind in der ersten Stelle, wo sie in der antiken Literatur – soweit uns diese erhalten ist – für das Unheil einer Person verantwortlich gemacht werden, nicht, wie man erwarten würde, Grund für den Tod auf See, sondern als eine Art tiefere Ursache der Anfang des Unheils, gewissermaßen nicht unmittelbare, sondern nur mittelbare Todesbringer in einer ganzen Kette von Geschehnissen. 25 Es ist dabei erstaunlich, wie weit diese Kette zurückreicht, denn es sind ja nicht die Schiffe der Griechen, sondern die der Troer selbst. 26 Von hier liegt der Gedanke nicht fern, ein Glied aus dieser Kausalkette, zumal ein frühes, als Ursache des Unheils zu verwünschen; denn wenn es dieses nicht gegeben hätte, dann 22 23
24 25
26
Monro/Allen: $ «. Schon in der Antike war umstritten, ob es sich bei Tekton um einen Eigennamen handelt und auf wen sich die Relativsätze beziehen, auf Phereklos oder seinen Vater; vgl. Schol. 60 ff., wo der Relativsatz auf den Harmoniden, nicht auf Phereklos bezogen wird; Lykophron ließ Phereklos den Erbauer sein (Alex. 97); vgl. Kolluth. 196 ff.; Schol. in Lyk. 97; in Nik. 268–70a, 12; in Opp. hal. 1, 345, 9; auch Eustathios hielt das für besser (521, 39 ff.); dies findet man ebenso in der römischen Literatur: Ov. Her. 16, 22. Die modernen Ausleger sind sich gleichfalls nicht einig; vgl. Leaf/Bayfield (1895), 356; Kirk (1990), 60. – Verwiesen sei vor allem auf Triphiodor, bei dem Phereklos eindeutig der Erbauer der Schiffe ist, die zudem als Ursprung des Leids bezeichnet werden: ² λ N$ « | « #A& )) # , # « $0# (60 f.; ed. Dubielzig), sowie auf Kolluthos 195 ff., wo schließlich Phereklos selbst das Epitheton $0$ « erhält: % .$ =, « 5I« | S $0 O 9 N$ ., | χ« ' 0, « | « #A &)) .)) # 0 /. ) | $ . λ «, | « # " λ S #A#. (ed. Weinberger). Zur Frage, auf wen sich die Aussage in V. 64 bezieht, vgl. Anm. 27. Dies scheint hier deutlich angelegt; dabei wird es letzten Endes unwichtig, ob Vater oder Sohn Erbauer der Schiffe ist; falls es der Vater ist, wird die Mittelbarkeit noch stärker betont. Kritik an dem Bau der Schiffe und somit an der Erfindung selbst lässt sich noch nicht festmachen. – Eustathios verweist auf Herodot, der den Grund für die Auseinandersetzung zwischen Ost und West in den Frauenraubgeschichten (aus Sicht der Perser) verwurzelt sein lässt; das Motiv der $« $0κ / taucht bei Herodot auch auf, allerdings erst im Zusammenhang mit dem athenischen Beschluss, Schiffe zur Unterstützung von Milet zu senden: W ξ ¹ $« $0κ / "'$ 6E λ (5, 97, 3; ed. Hude); vgl. Plut. de mal. Hdt. 24; zur Formulierung vgl. Hom. Il. 11, 604; Thuk. 2, 12, 3.
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hätte alles Folgende, also auch das Unheil, nicht eintreten können: So lesen wir es dann bei Euripides in den berühmten Prologversen von Medeas Amme: «Oh wenn die Argo die Symplegaden nicht durchfahren hätte», doch dazu unten mehr. Bei Homer wird ein ähnlicher Gedanke der Verwünschung noch nicht geäußert.27 Festzuhalten ist, dass die Schiffe in der Ilias nicht per se negativ beurteilt werden; sie werden eigentlich gar nicht beurteilt; ihnen kann lediglich eine bestimmte, allerdings sehr frühe und daher ursächliche Rolle im ganzen Geschehen zugewiesen werden. Schließlich ist die Rolle der Götter zu bedenken.28 Athene, die Göttin der Kunsthandwerke, liebt den Erbauer der Schiffe besonders und scheint ihn bei seinem Unterfangen zu unterstützen; zugleich wird aus V. 64 («da er nicht die Sprüche der Götter kannte»)29 deutlich, dass es göttlicher Wille ist, dass Phereklos vor Troia fällt und auch Troia selbst untergeht. D. h. die Schiffe und ihre Rolle werden nicht von den Göttern in Frage gestellt oder ihre Erfindung missbilligt oder gar bestraft, die Götter geben vielmehr Anleitung zu ihrem Bau 30 und setzen sie sogar zu ihren Zwecken ein. Vergleichbares finden wir in der Odyssee, denn in 13, 149 ff. nimmt Poseidon den Phaiaken die Seefahrtkunst als Strafe dafür, dass sie Odysseus nach Ithaka brachten, und beendet damit ihre Fährmanntätigkeit, obwohl er selbst ihnen diese gegeben hatte, wie man in 7, 34 ff. erfuhr. So ist die Seefahrt bei Homer ein Geschenk der Götter, und diese setzen sie nach ihrem Willen zum Nutzen oder Verderben der Menschen (bei Phereklos sogar auf indirekte Weise) ein. 31 Doch lässt sich in der Odyssee ein weiterer Aspekt festhalten. In der Nekyia, dem Besuch des Odysseus bei den Toten (11, 119 ff.), erhält Odysseus von dem Seher Teiresias den Auftrag, er solle nach seiner Heimkehr und nach dem Freiermord auf Ithaka ein Ruder nehmen, es schultern und so lange weitergehen, bis er zu Menschen komme, die weder ein Ruder noch das Meer kennten; dann solle er Poseidon opfern, und ein ruhiger Tod an Land sei ihm sicher. Auf die rituellen Hintergründe, die hinter diesem Motiv stehen, kann nicht eingegangen werden; es ist jedoch zu erkennen, dass die Sühne in Verbindung mit der Seefahrt eine wichtige Rolle spielt und dass man sich dort entsühnen kann, wo die Seefahrt unbekannt ist. Die Seefahrt wird demnach nicht explizit verurteilt, aber die Vorstellung, dass man sich dort entsühnen kann, wo man Schiffe nicht kennt, legt den Gedanken nahe, dass die Schifffahrt ambivalent gesehen wird.
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28 29 30 31
Vielleicht schwingt er in dem Hinweis darauf mit, dass man die Göttersprüche nicht kannte (V. 64). Auf wen diese Aussage verweist, ist nicht ganz klar. Die antiken Erklärer bezogen sie zumeist auf Paris (vgl. Kirk [1990], 61; Leaf/Bayfield [1895], 356, dachten an Phereklos). Die Erklärungen, die sie für die Sprüche geben, sind allerdings wenig überzeugend: Die Scholien berichten von einem gemeinsamen Orakelbesuch des Menelaos und des Paris bzw. von allgemeinen Warnungen, dass nur Abwendung von der Seefahrt die Troer vor dem Untergang bewahren könne (Schol. AB, Hellanikos). Bei Eustathios ist (in einer Erweiterung) zu lesen, die Aussage beziehe sich auf Phereklos. Dieser würde somit beinahe zu einer tragischen Figur, da er unwissentlich schuld wird am kommenden Unheil. Vgl. Kleingünther (1933), 33 ff. u. ö. Vgl. Anm. 27. Vgl. ferner das Schiffbaugleichnis Il. 15, 410 ff. Vgl. Heydenreich (1970), 14. – Durchaus mit Stolz wird von der Seefahrt in Od. 9, 125 ff. im Vergleich mit den unzivilisierten Kyklopen gesprochen; vgl. Schulz (2005 II), 217.
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Soweit zur Odyssee; es ist nebenbei erstaunlich, dass gerade von Odysseus, der allen Grund hätte, den Erfinder oder Erbauer der Schiffe zu verfluchen, nichts dergleichen geäußert wird. 32 Bevor wir das speziellere Motiv, dass man persönlich Schaden aus der Schifffahrt nimmt, weiterverfolgen, sei ein Überblick gegeben, welche Motive sich überhaupt bei der negativen Beurteilung der Schifffahrt herausbildeten.33 Die exemplarisch vorgestellten Passagen sollen als Folie dienen, um die persönlich ausgerichteten Texte besser einordnen zu können.
3. Motive bei der negativen Beurteilung der Schifffahrt 3.1 Allgemeiner Tadel der Schifffahrt (6' « .« ) 34 Die Schifffahrt wird in der antiken Literatur an zahlreichen Stellen in unterschiedlichen Motiven getadelt, wobei diese häufig miteinander kombiniert werden. Doch lässt sich auch allgemeine Kritik finden. Auf die Ambivalenz in der Beurteilung des Menschen, der die Kühnheit besitzt, zur See zu fahren, wie wir sie im sophokleischen Chorlied finden, wurde oben schon verwiesen. Als Beispiel für eine allgemeine Verwünschung der Seefahrt ließe sich aus hellenistischer Zeit ein Fragment aus den Aitien des Kallimachos anführen (3. Jh. v. Chr.). Ein Fremder namens Theogenes beginnt bei einem Gelage seine Antwort auf die Frage nach seiner thessalischen Heimat folgendermaßen (frg. 135, 32 ff.; ed. Asper [= 178 Pf.]): , Z ) >« " $, .« 4 %0« α $# "µ« 4<
4.« » " ) )
Der Sprecher scheint ganz allgemein sein Leben, das er auf dem Meer verbringt – wohl als Händler –, zu beklagen bzw. den zu preisen, der die Schifffahrt nicht kennt.35 Häufiger werden einzelne Aspekte hervorgehoben, wie z. B.
3.2 Der Erfinder: / « 3#« Die Frage nach dem / « 3#«, dem ersten Erfinder, wird, wie Kleingünther in seiner ausführlichen Untersuchung gezeigt hat,36 vor allem seit der durch die Sophistik geprägten Zeit, also seit dem 5. Jh., gestellt. Wir finden in dieser Zeit zwar noch die Zurückführung von Erfindungen auf Mythen und die entsprechenden Kulturbringer, daneben entwickelt sich jedoch die Auffassung, 32
33 34 35
36
Es ist ja in der Odyssee 8, 138 f. gerade nicht Odysseus, der klagt, dass es nichts Schlimmeres als das Meer gebe (so Heydenreich [1970], 31), sondern Laodamas, der über Odysseus spricht. Vgl. Reynen (1964), 78 f.; Heydenreich (1970), 13 ff. Der rhetorische Begriff findet sich erst spät, nämlich bei Nikolaos aus Myra (5. Jh. n. Chr.); s. u. Anm. 89. Zum Bild vgl. Arat. 296 ff.; Kallim. epigr. 50, 4 (Asper [= 58, 4 Pf.]); AP 7, 285, 3 f.; 295, 2; 374, 3 f.; Suda zu Kallim. frg. 224, 9 (Asper [= 327 Pf.]). Kleingünther (1933), 95 ff.; zum Überblick vgl. ferner Lovejoy/Boas (1935); Edelstein (1967); Thraede (1962).
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dass die Erfindungen auf eigenem Erkunden und Forschen beruhen. Sie sind, wie Thraede es formulierte,37 «nicht mehr kontingente Gabe urgeschichtlicher mythischer Personen, sondern durch notwendiges Nachdenken, Experiment u. Investigation der Natur gefundene Ergebnisse» – eine fundamentale Verschiebung gegenüber Homers Phereklos. Diese Ergebnisse lagen nicht in grauer Vorzeit, und die einzelnen Heuretai, die Erfinder, sind noch zu greifen. 38 Auch bei der Beurteilung dieser ersten Erfinder stoßen wir auf eine Ambivalenz. Zum einen galten sie als Wohltäter der Menschheit, zum anderen wurden sie für die Demoralisierung der Menschen verantwortlich gemacht, wie etwa bei Antisthenes und den Kynikern, aber ebenso bei Epikur und den Stoikern.39 Beide Seiten lassen sich gleichfalls bei der Beurteilung des Erfinders der Schifffahrt feststellen. Zum einen sei auf die Tragödie «Der gefesselte Prometheus» des Aischylos (5. Jh. v. Chr.) verwiesen, 40 in der Prometheus – als Strafe für den Raub des Feuers gefesselt – die Wohltaten aufzählt, die er zu Gunsten der Menschen ersann, wie Häuser, Zahl und Zeichen usw.41 Am Ende des ersten Teils dieser Rede und somit an betonter Stelle führt Prometheus die Erfindung des Schiffs an, dessen Neuheit durch die Umschreibung noch hervorgehoben wird (467 f.; ed. Page):42 ' # Κ« Ν « $# " # W .) C0#.
Zum anderen finden wir zahlreiche Beispiele für die Verfluchung des / « 3#«.43 (Wir werden dies noch in Verbindung mit weiteren Motiven antreffen.)44 Als Beispiel dafür, wie sich das Motiv verbreitet hat, sei eine Passage aus einem naturwissenschaftlichen Werk angeführt. Plinius der Ältere kommt in seiner Naturgeschichte (1. Jh. n. Chr.) auf Lein bzw. Leinen zu sprechen, was ihn zu einer weit ausholenden Verwünschung desselben anregt (19, 2 ff.): ein Saatkorn, das, wie er sagt, Ägypten an Italien heranrückt, verführt letztendlich dazu, in größter Kühnheit (summa audacia) über den ganzen Erdkreis zu fahren (19, 6; ed. Mayhoff):45 nulla exsecratio sufficit contra inventorem …, cui satis non fuit hominem in terra mori, nisi periret et insepultus.
Interessant ist, dass Plinius wenig später Folgendes über den Lein anfügt (noch 19, 6): 37 38
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43 44 45
Thraede (1962), 1218. Vgl. Plat. leg. 3, 677bff. Vgl. Thraede (1962), 1218: «Besonders die Begründung der Erfindungen aus der Mimesis der Natur zeigt, daß die alte theologische von der physiologischen Motivierung der Heuremata ersetzt worden ist.» Vgl. Dion Chr. 6, 22 f.; Epikur. frg. 227 ff.; Ov. am. 3, 8, 45 f.; Sen. epist. 90, 14; vgl. Kleingünther (1933), 95 ff.; Huxley (1944/51), 577; Edelstein (1967), 133 ff.; Thraede (1962), 1217; zum ansonsten verbreiteten Fortschrittsgedanken vgl. Edelstein (1967) passim. Die Frage, ob Aischylos wirklich der Verfasser war, ist in unserem Zusammenhang nicht von Belang. Vgl. Heydenreich (1970), 20 ff. Zur Erfindung des Schiffs als Klimax in der Liste der Wohltaten vgl. Griffith (1983), 171. Hierbei ist nicht an ein bestimmtes Schiff gedacht. Zum qui primus, quis fuit primus?-Topos vgl. Heydenreich (1970), 44 ff. Vgl. z. B. Hor. carm. 1, 3; Tib. 1, 10, 1; 3, 2, 1 f. (Lygd.). Zu den Erfindern der verschiedenen Schiffstypen vgl. Plin. nat. 7, 206 ff. Als Erfinder des Segels nennt er Ikaros (209).
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propterea, ut sciamus favisse Poenas, nihil gignitur facilius; ut sentiamus nolente seri natura, urit agrum deterioremque etiam terram facit.
Die Götter und die Natur sind bei Plinius also gegen die Schifffahrt bzw. setzen sie zur Strafe ein. Dies konnte man im 1. Jh. n. Chr. in einer Prosaschrift im Zusammenhang mit der Landwirtschaft lesen – ein Hinweis darauf, wie verbreitet diese Vorstellung inzwischen war, wie sich das Motiv zum Topos verfestigt hatte, mit dem man freilich durch unerwarteten Einsatz noch immer überraschende Wirkung erzielen konnte.46 Die Verwünschung des Erfinders der Seefahrt ist eng verwandt mit der Verwünschung des ersten Schiffs bzw. der Erstlingstat eines Schiffs, d. h. vor allem der Argo.
3.3 Argo 3.3.1 Die Argo in der griechischen Literatur: Euripides Oben wurde bereits auf die berühmten Prologverse der euripideischen Medea hingewiesen, die sich gewissermaßen als eine Fortsetzung des Gedankens der « $0$ aus der Ilias verstehen lassen (1 ff.; ed. Diggle): L# [O# #A' -« κ O « K0) "« ρ .$« ].'«, # " P . , # "/ 0$« $/ $$) θ µ '0. $ « P . ' ω $ # "κ M# ' .« '« %.# #I) « %) .µ " '# #I «α …
5
Es ist die Amme der Medea, die die euripideische Tragödie mit diesen Worten eröffnet. Die Situation ist bekannt: Medea hat Iason geholfen, das Goldene Vlies zu stehlen, und ist mit ihm geflohen. Jetzt leben sie in Korinth, doch will Iason sie, die inzwischen Mutter zweier Kinder ist, zugunsten der Königstochter Kreusa verlassen. Unheil steht bevor. Die Amme sucht nun nach der Schuld dafür: Das Schiff war Anfang allen Unheils. Allerdings ist der Kausalzusammenhang ausdrücklich ausgeführt und in einen irrealen Wunschsatz gewendet. Das Schiff ist der Anfang des Übels, weil es nach Kolchis gefahren ist usw.; wenn es nicht gefahren wäre, wäre alles nicht geschehen.47 Die Vergeblichkeit des Wunschs wird durch L# [O# – am Beginn der Tragödie – besonders betont. Die Verwünschung des Schiffs als Ursache allen Übels ist spürbar, doch hier wird es ebenfalls nicht per se, sondern lediglich als Mittel verwünscht; jedoch zeichnen sich neue Aspekte ab, denn die vorangestellte Durchquerung der Symplegaden markiert die Fahrt als ungeheures Wagnis,48 wie auch die Erwähnung der Fichte, die auf dem Pelion geschlagen wird, mitschwingen lässt, dass sie nicht nur besser nicht geschlagen worden wäre, sondern dass sie eigentlich überhaupt nicht auf das Meer gehört und auf dem Berge hätte bleiben sollen. 46
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Vgl. ferner: AP 9, 29; Prop. 1, 17, 13 f.; 2, 33, 27 f.; Sen. Med. 301 ff.; Stat. silv. 3, 2, 61 ff.; Opp. hal. 1, 354 ff.; Claud. rapt. Pros. prooem.; Boeth. cons. 2, carm. 5, 13 ff. 25 ff. Vgl. Curtius (1950), 398 f. Zur Funktion des Hysteronproterons vgl. Gärtner (2000) zu Phaedrus 4, 7. – Schon die Scholien verteidigen Euripides gegen die Kritik des Timachidas; vgl. Page (1938), 61.
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3.3.2 Die Argo in der lateinischen Literatur Ennius, der universelle lateinische Dichter aus dem 3./2. Jh. v. Chr., hat sich im Prolog seiner Medeatragödie eng an Euripides angeschlossen, allerdings den Kausalzusammenhang noch verdeutlicht, indem er das Hysteronproteron des Euripides wieder in die ‹richtige› Reihenfolge brachte: Wenn die Fichte nicht gefallen und die Argo nicht entstanden wäre …, dann – ist zu ergänzen – wäre Medea nun nicht in dieser Situation (frg. 103; ed. Jocelyn):49 utinam ne in nemore Pelio securibus caesa accidisset abiegna ad terram trabes, neve inde navis inchoandi exordium cepisset, quae nunc nominatur nomine Argo, quia Argivi in ea delecti viri vecti petebant pellem inauratam arietis Colchis, imperio regis Peliae, per dolum. nam numquam era errans mea domo efferret pedem Medea animo aegro amore saevo saucia.
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Es ist beinahe Ironie des Schicksals, dass uns die Verse des Ennius nur erhalten sind, weil der weite Rückgriff späteren Rhetorikern wie etwa dem Autor der Rhetorik ad Herennium aus dem 1. Jh. v. Chr. als Exposition nicht zusagte und dieser die Verse als Negativbeispiel anführte. 50 Cicero hat sogar ausdrücklich die lange Kausalkette gerügt und sie durch Nachahmung ad absurdum geführt (fat. 35; ed. Yon): Licuit vel altius: ‹Utinam ne in Pelio nata ulla umquam esset arbor!›, etiam supra: ‹Utinam ne esset mons ullus Pelius!› similiterque superiora repetentem regredi infinite licet.
Nur das, was durch sein Eintreten unmittelbar etwas bewirke, könne man – so Cicero – als Ursache bezeichnen. 51 Ein letztes Detail sei angefügt; wir verbinden heute mit dem Namen Argo relativ selbstverständlich das erste Schiff, doch sollte man beachten, dass sich das in dieser Eindeutigkeit bei Euripides nicht findet und erst in der lateinischen Literatur zum Topos wird.52
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Zur Behandlung des Euripidestexts durch Ennius vgl. Leo (1912), 97 ff.; Grilli (1965), 186 ff.; Jocelyn (1969), 113 ff., 342 ff.; Arkins (1982), 116 ff.; Classen (1992), 121 ff.; Gärtner (2000), 667 ff. Rhet. Her. 2, 34 (ed. Marx/Trillitzsch): Ergo hac quoque ab ultimo repetitione in expositionibus magnopere supersedendum est. Non enim †reprehensione, sed sicut aliae conplures, *** sua sponte vitiosa est. Dort werden die Verse als Beispiel dafür zitiert, dass die Dichter nicht nimium longe zurückgreifen dürften. Ähnlich urteilten auch Spätere (vgl. z. B. Cic. inv. 1, 91; Quint. inst. 5, 10, 83 f.; Iul. Vict. rhet. p. 60, 2 ff.; ähnlich zu Euripides: Clem. Alex. strom. 8, 9, 20); vgl. Heydenreich (1970), 42 ff.; Gärtner (2000), 673 Anm. 36; s. u. fat. 34 ff.: Itaque non sic causa intellegi debet, ut quod cuique antecedat, id ei causa sit, sed quod cuique efficienter antecedat; … Interesse autem aiunt, utrum eius modi quid sit, sine quo effici aliquid non possit, an eius modi, cum quo effici aliquid necesse sit. Nulla igitur earum est causa, quoniam nulla eam rem sua vi efficit, cuius causa dicitur. Nec id sine quo quippiam non fit, causa est, sed id, quod cum accessit, id, cuius est causa, efficit necessario. Vgl. Heydenreich (1970), 23 ff.; Jackson (1997); Dräger (1999); Gärtner (2000), 676 f.
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Wenn Schiffe generell als Unheilsstifter gelten konnten und wenn die Argo das erste Schiff war, ist es nicht verwunderlich, dass sich gegen sie als erstes Glied der Kette besonderer Groll richten konnte. Solche Vorwürfe finden sich gehäuft in lateinischen Darstellungen des Argonautenmythos. Eine der berühmtesten und von großer Wirkung war das so genannte Epyllion Catulls aus der 1. Hälfte des 1. Jh.s v. Chr., das die Hochzeit von Peleus und Thetis zum Gegenstand hat (Catull 64, 1 ff.; ed. Mynors). Peliaco quondam prognatae vertice pinus dicuntur liquidas Neptuni nasse per undas Phasidos ad fluctus et fines Aeeteos, cum lecti iuvenes, Argivae robora pubis, auratam optantes Colchis avertere pellem ausi sunt vada salsa cita decurrere puppi, caerula verrentes abiegnis aequora palmis. diva quibus retinens in summis urbibus arces ipsa levi fecit volitantem flamine currum, pinea coniungens inflexae texta carinae. illa rudem cursu prima imbuit Amphitriten;
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Mit diesen Versen eröffnet Catull sein Kleinepos. Die Argo wird als erstes Schiff genannt, das die Nymphen bewundern, wobei sich Peleus, als Argonaut an Bord des Schiffs, in die Meeresgöttin Thetis verliebt. In der glücklichen Heroenzeit stimmte selbst Iuppiter einer Ehe zwischen Göttin und Mensch zu, und bei ihrer Hochzeit erscheinen Götter wie Menschen, wenn auch getrennt; danach jedoch wurde die Erde mit Frevel bedeckt, und die Götter kehrten nicht wieder bei Menschen ein, wie es gegen Ende heißt. Am Schluss des Gedichts malt Catull ein bedrückend dunkles Bild der Gegenwart, und das kurz zuvor eingefügte Lied der Parzen, in dem das Leben des zukünftigen Sohns des Paars, nämlich Achill, besungen wird, eigentlich felicia carmina (382 f.), hinterlässt mit all seinem Mordblut m. E. einen zumindest zwiespältigen Eindruck. Ariadne, die auf der Decke des Hochzeitsbetts dargestellt ist und – hier durchbricht Catull raffiniert den Rahmen einer Ekphrasis – darüber klagt, dass Theseus sie allein auf der Insel Dia (= Naxos) zurückgelassen hat, lässt ahnungsvoll vorausdeutend die Heirat von Thetis und Peleus in einem merkwürdigen Licht erscheinen.53 Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, man könne im Vorbeigehen carm. 64 insgesamt interpretieren, zumal ich dazu neige, E. A. Schmidt zuzustimmen, der meinte: «wir verstehen c. 64 nicht.»54 Doch kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Grundtenor des Gedichts pessimistisch ist, und deshalb sei zumindest gefragt, ob nicht auch für Catull das Schiff, das so betont am Gedichtanfang das Erste genannt wird, an der Depravation der Sitten, aber ebenso an dem Leid der Beteiligten (Peleus, Thetis, Theseus, Aigeus, Ariadne, Achill) sowie an Catulls Leiden an seiner Zeit zumindest mitschuldig war.55 53
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Darauf, dass Catull sich in einen chronologischen Widerspruch verwickelt, da ja Theseus, wenn die Argo das erste Schiff ist, unmöglich schon auf Kreta gewesen und Ariadne auf der Rückfahrt nach Athen aussetzen konnte, sei nicht näher eingegangen. Vgl. Heydenreich (1970), 23 ff.; Weber (1983); Gärtner (2000), 676 f. Schmidt (1985), 77. Auch wenn auf das weitere Geschick der Personen nicht immer verwiesen wird, konnte der antike Rezipient dies mithören: Peleus und Thetis werden sich wieder trennen; ihr Sohn wird fallen; Theseus wird Ari-
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Die Nachwirkung Catulls in Motiv, Formulierung und Gehalt war groß; die Stellen können nicht alle besprochen werden.56 Etwas näher eingehen möchte ich auf Valerius Flaccus, weil in seinem Argonautenepos die Rolle der Argo als erstes Schiff stark betont ist und daher die Ambivalenz, die aus dieser Vorgabe entsteht, dem Werk einen Aspekt hinzufügt, der bei seinem hellenistischen Vorbild Apollonios Rhodios so nicht zu finden ist.57 Valerius hat sein vermutlich unvollendet gebliebenes Epos – im achten Buch bricht es vor der Heimkehr der Argonauten ab – um 75 n. Chr. verfasst. Bereits das Proömium verdeutlicht die Sonderrolle der Argo (1 ff.; ed. Ehlers): Prima deum magnis canimus freta pervia natis fatidicamque ratem, Scythici quae Phasidis oras ausa sequi mediosque inter iuga concita cursus rumpere flammifero tandem consedit Olympo.
In den nur vier Hexametern des Proömiums erfahren wir, dass das Schiff zum ersten Mal die Fluten durchfuhr (man beachte die Stellung von prima) und es wagte (ausa), zum Phasis zu gelangen, die Symplegaden durchbrach (dies ist als kühnste Tat als einziges Abenteuer genannt) und schließlich verstirnt wurde. Die Gesamtaussage des Epos des Valerius ist m. E. nicht so eindeutig, wie dies in einem Teil der Forschung vertreten wird. Die Öffnung der Meere selbst wird wohl nicht an sich negativ beurteilt – zumal unter Vespasian Schottland umfahren wurde, die Verstirnung der Argo unterstreicht dies, – doch findet sich ein häufig zumindest kritischer Ton, der vielleicht in ausa schon anklingt, im Folgenden jedoch expliziert wird. Die Aussage: deus haec, deus omine dextro imperat; ipse suo voluit commercia mundo Iuppiter et tantos hominum miscere labores.
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die ja einen überaus positiven Aspekt der Seefahrt ins Spiel bringt, wird dadurch gebrochen, dass es sich um die Auslegung eines Zeichens durch Iason selbst handelt, der von Ruhmsucht getrieben wird und seine Gefährten anfeuern möchte, also keineswegs eindeutig auch den Willen Iuppiters zum Ausdruck bringt.58 Iuppiter selbst dagegen legt in einer Götterversammlung dar, dass die Folge der Schifffahrt Kriege sein werden (545 f.): via facta per undas | perque hiemes, Bellona, tibi.59
Boreas, der Nordwind, eilt, als er das Schiff erblickt, zu dem König der Winde, Aeolus, er habe einen Frevel, nefas, erblickt (598), und er bittet um Erlaubnis, das ‹wahnsinnige› Schiff zu versenken, bevor andere Länder es erblickten:
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adne verlassen und aus Vergesslichkeit den Tod seines Vaters Aigeus verursachen. Zur pessimistischen Deutung vgl. Schmidt (1985), 83 ff.; Zierl (2003), 211 ff.; zur positiven Deutung und zur Diskussion der neueren Literatur vgl. Syndikus (1990), 100 ff.; Lefèvre (2000 I), 74 ff., und (2000 II). Vgl. z. B. Hor. epod. 16, 57 ff.; Verg. ecl. 4, 31 ff.; Lucan. 3, 193 ff.; 6, 400 ff.; Sil. 11, 469 ff.; Stat. Ach. 1, 61 ff. Apollonios Rhodios hat das ‹Erstlingsmotiv› trotzdem ausgenützt; vgl. Curtius (1950), 407. Vgl. Lefèvre (1991); Groß (2003), 7 ff., 55 ff.; anders Dräger (2003), 333; Kleywegt (2005), 149, 312 ff. Vgl. 1, 501 f.: auch die Parzen freuen sich – doch wohl über die neuen Möglichkeiten, den Tod zu verhängen; vgl. Lucan. 3, 193 ff.; vgl. Schenk (1999), 32 ff.
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da mergere Graios insanamque ratem! nil me mea pignora tangunt. tantum hominum compesce minas dum litora iuxta Thessala necdum aliae viderunt carbasa terrae.
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Im darauf ausbrechenden Sturm ist es Iason selbst, der erkennt, dass er Grenzen überschritten hat:60 hoc erat inlicitas temerare rudentibus undas quod nostri timuere patres.
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Valerius Flaccus verknüpft mehrere Motive, die, wie wir noch sehen werden, häufig mit der Seefahrt verbunden werden – den Wagemut bzw. Wahnsinn der Schifffahrt, den Frevel gegenüber dem Meer und das Bewusstsein des Menschen, seine von Göttern gesetzten Grenzen zu überschreiten –, doch erhalten sie in Verbindung mit der Argo als erstem Schiff in einem Argonautenepos ein großes Gewicht, das eine positive Deutung des gesamten Werks im Sinne einer Fortschrittshoffnung nicht überzeugend erscheinen lässt.61 Dass man mit der Seefahrt Gesetze gebrochen hat und in gewissem Sinne schuldig wurde, kommt in den zum folgenden Motiv vorgestellten Passagen zum Ausdruck; denn solange die Goldene Zeit herrschte, gab es keine Schiffe.
3.4 Der Verlust der Goldenen Zeit Als Beispiel dafür sei die heute vielleicht bekannteste Darstellung der Zeitalter angeführt, nämlich die aus dem ersten Buch der Metamorphosen Ovids, die mit den berühmten Versen beginnt (1, 89 f.; ed. Anderson): aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo, sponte sua, sine lege fidem rectumque colebat.
Als erste menschliche Errungenschaft, die es damals noch nicht gab, wird das Schiff genannt, in deutlichem Anklang an Catull (94 ff.): nondum caesa suis, peregrinum ut viseret orbem, montibus in liquidas pinus descenderat undas, nullaque mortales praeter sua litora norant.
Folge davon ist letzten Endes, dass in der Eisenzeit Scham, Wahrheit und Treue schwinden und dafür Betrug, List und vor allem die Habgier einziehen, wobei die Rolle der Schifffahrt ausführlich bedacht wird (129 ff.): fugere pudor verumque fidesque; in quorum subiere locum fraudesque dolique insidiaeque et vis et amor sceleratus habendi. 60
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Zum frevelhaft-grenzüberschreitenden Charakter der Seefahrt vgl. ferner Val. Fl. 1, 196 f.: da veniam! scio me cunctis e gentibus unum | inlicitas temptare vias hiememque mereri; 1, 631 f.; Hor. carm. 1, 3, 21 ff.; Lucan. 3, 193 ff.; Sen. Med. 301 ff.; 616 f.; Colum. praef. 1, 8; vgl. Wachsmuth (1967); Heydenreich (1970), 28 ff. Zur kritischen Sicht vgl. z. B. grundlegend Mehmel (1934); Lüthje (1971); Lefèvre (1991); dens. (2004); zur positiven z. B. Adamietz (1976); Dräger (1993), 336 ff.; dens. (2003), 565 ff.; Groß (2003); Kleywegt (2005), XIIff. – Viele der für Valerius Flaccus angeführten Motive finden wir auch bei Sen. Med. 579 ff.
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vela dabat ventis nec adhuc bene noverat illos navita, quaeque diu steterant in montibus altis, fluctibus ignotis insultavere carinae, …
Der Frevel des ersten Schiffs wird also zu einer Ursache für den Verlust der Goldenen Zeit und führt zum weiteren Verlust von Werten.62 Dieses Motiv ist von der ersten Zeitalterdarstellung bei Hesiod an in der gesamten antiken Literatur zu finden.63
3.5 Die Habgier Ein weiteres Motiv taucht auf, das sehr häufig allein begegnet: Das Motiv, dass Schiffe Folge von oder Ursache für Habgier sind. Der Mensch, indocilis pauperiem pati, wird von seiner Habgier auf das Meer getrieben und nimmt dafür Gefahren, ja Lebensgefahren auf sich. Kritik daran oder Unverständnis dafür lesen wir nicht nur bei Horaz,64 von dem das berühmte Zitat stammt, sondern beispielsweise schon bei Solon im 6. Jh. v. Chr. (13, 43 ff.; ed. West): # Ν Ν «α ² ξ $» " .λ 0#,) L $ « Ν' 40.# $$ O « $'$ , O)κ 6.0« $ «α …
Das gilt überhaupt für die gesamte Spanne der antiken Literatur.65 Beide Motive, Verlust der Goldenen Zeit und Habgier auf Grund oder als Grund der Schifffahrt, sind seit Hesiod66 in immer neuen Variationen verbunden.67 Soweit ein Überblick, wie sich aus dem ursprünglichen Motiv des Schiffs als Unheilsbringer eine Reihe von Topoi herausbildeten, die von der frühen griechischen Dichtung bis in die lateinische Literatur der Spätantike lebendig bleiben sollten, nämlich: Allgemeiner Tadel der Schifffahrt, Tadel des Erfinders, Tadel der Argo, Verlust der Goldenen Zeit sowie Habgier. Es soll nun gefragt werden, wie diese Topoi zur Begründung individuellen Unglücks verwendet wurden.
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Vgl. Gatz (1967), 70 ff. Vgl. z. B. Hes. erg. 156 ff. 235 ff.; Emp. frg. 128; Pind. Ol. 2, 63 ff.; Arat. 108 ff.; Lucr. 2, 552 ff.; 5, 1000 ff.; Cic. Tusc. 1, 69; Verg. ecl. 4, 31 ff.; georg. 1, 136 ff.; Hor. epod. 16, 41 ff. 57 ff.; Manil. 1, 76 ff.; Calp. ecl. 1, 42 ff.; vgl. Gatz (1967); Lämmli (1968); Heydenreich (1970), 15 ff.; Schulz (2005 II), 210 f. Hor. carm. 1, 1, 11 ff. Hes. erg. 685; Eur. Iph. Taur. 407 ff.; Verg. Aen. 8, 327; Hor. epod. 2, 1 ff.; carm. 2, 16, 13 ff.; 3, 1, 25 ff.; 3, 24, 35 ff.; Prop. 3, 7, 1 ff.; Ov. met. 1, 127 ff.; Sen. dial. 10, 2, 1; nat. 5, 18, 4 ff.; Colum. 1 praef. 8; Iuv. 12, 57 ff.; Avien. Arat. 340 ff.; vgl. Heydenreich (1970), 32 ff. Hes. erg. 156 ff. Vgl. z. B. AP 9, 29; Ov. am. 3, 8, 35 ff.; Sen. Phaedr. 525 ff.; Germ. Arat. 112 ff.; Boeth. cons. 2, carm. 5, 13 ff.
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4. Schiffe als Ursache individuellen Unglücks 4.1 Schiffe als unmittelbare Ursache individuellen Unglücks 4.1.1 Grabepigramme In einer ganzen Reihe von Epigrammen aus der Anthologia Graeca, in der griechische Gedichte vom 5. Jh. v. Chr. bis in die Zeit des Mittelalters gesammelt sind, wird die Schifffahrt als Ursache persönlichen Unglücks genannt. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als es sich dabei teils um echte, zumeist aber wohl fiktive Grabepigramme handelt, die Ertrunkenen gewidmet sind. Häufig werden dabei Topoi verwendet, die wir bereits kennen gelernt haben. Leonidas von Tarent hat beispielsweise im 3. Jh. v. Chr. folgendes Epigramm verfasst (7, 264; ed. Beckby): L )) « Κ «α ν # Ν# $#«, ³« "$, « #A) 9 $, O$) κ & , $# , Ρ« $O# π$ . # %. O ..
Der Verstorbene, dem seine eigene Kühnheit, das Meer zu befahren, zum Verhängnis wurde, warnt einen Standesgenossen vor ähnlichem Schicksal. Es liegt also das Motiv vor, dass der Mensch durch die Schifffahrt Opfer seiner eigenen Hybris wird.68 Wie dabei mit den Vorbildern gespielt wird, mag ein weiteres Epigramm zeigen, in dem Kallimachos (3. Jh. v. Chr.) über den Tod des Sopolis klagt (7, 271; ed. Beckby [= 45 Asper = 17 Pf.]): [O # "'$ λ $«α ' ω π« F . ]< "$ α - # ξ 4 4 . O$ $ .«, $λ # " . Κ λ µ 0.
Hier wird deutlich auf die oben zitierten Euripidesverse verwiesen, indem der Sprecher mit einem «Oh wenn es doch nicht gegeben hätte» nicht den eigentlichen Anlass, sondern eine weiter zurückliegende Ursache für das gegenwärtige Unglück mit dem irrealen Wunschsatz verflucht.69 Gleichzeitig spielt der Dichter mit den Motiven, denn nach Euripides hätte er ja eher schreiben müssen, «Oh wenn des Sopolis Schiff nicht nach soundso gefahren wäre» o. ä.; doch zieht er statt dessen das Motiv der Entstehung der Schiffe heran, verweist den wissenden Leser auf das erste Schiff, ohne dies zu nennen, und verwünscht die Erfindung der Schiffe als eigentliche Ursache für den Tod des Sopolis und somit als Ursache für sein eigenes momentanes Leiden. Auch andere Motive werden in diesen Epigrammen zusammen mit der Schifffahrt als Ursache des Tods genannt wie etwa die Habsucht70, oder dass die Fichte eigentlich auf einen Berg und nicht auf das Meer gehört.71 68
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Vgl. AP 7, 266 (Leonidas v. Tarent); 7, 272 (Kallimachos [= 38 Asper = 18 Pf.]); 7, 277 (Kallimachos [= 50 Asper = 58 Pf.]). Vgl. Heydenreich (1970), 42 f. Vgl. AP 7, 532 (Isidor v. Aigeiai); 7, 586 (Iulianos v. Ägypten): Hier wird ausdrücklich hervorgehoben, dass nicht See oder Winde den Tod verursachten, sondern der unersättliche Wunsch nach Handel. Vgl. AP 9, 30; 31; 105; 131.
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Ein letztes Epigramm sei vorgestellt, in dem sich beinahe alle Motive wieder finden. Es stammt von Antiphilos von Byzanz – wohl aus dem frühen 1. Jh. n. Chr. (AP 9, 29; ed. Beckby): , / $0'$ (8 ' 2 .
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Antiphilos stellt den Wagemut des Menschen als Ursache vorweg (man fühlt sich wieder an Sophokles erinnert), nennt dann die Erfindung der Schiffe, ferner die Gewinnsucht und schließlich die Goldene Zeit. Das Epigramm steckt also voller literarischer Bezüge, die der gelehrte Leser erkennen muss, um das Gedicht richtig schätzen zu können. Um die Zeitenwende sind diese Motive demnach literarisches Allgemeingut geworden, mit dem man gelehrt spielen konnte.72
4.1.2 Propemptikon Unmittelbarer Anlass für persönliches Leid werden Schiffe ebenfalls in den Gedichten, in denen sich der Betroffene von einem ihm lieben Menschen verabschieden muss, der auf Seereise geht, den so genannten Propemptika. Berühmt ist das Gedicht das Horaz (carm. 1, 3), das die Abfahrt seines Freunds Vergil zum Gegenstand hat. Er bittet das Schiff, ihm seinen Freund unversehrt zurückzubringen, und geht im Folgenden auf die Kühnheit des ersten Schiffers ein sowie den Frevel des Menschen, der die Fluten, durch die ein weiser Gott die Länder getrennt hat, überwinden will, da den Menschen nichts zu hoch erscheint (nil mortalibus ardui 37).73 Auch wenn es nicht ausdrücklich gesagt wird, so wird der Schluss nahe gelegt, dass der erste Erfinder des Schiffs und die frevelhafte Kühnheit des Menschen Ursache für die persönliche Sorge des Horaz um seinen Freund sind.74
4.2 Schiffe als mittelbare Ursache individuellen Unglücks Ausgangspunkt unserer Überlegungen waren die Iliasverse, in denen die Schiffe mittelbar am Tod des Phereklos Schuld tragen. Behandelt wurde ebenfalls der Prolog der Euripideischen Medea, in dem die Amme der Argo die Schuld an Medeas momentanem Unglück zuweist. Diese beiden frühen Belege für Schiffe als mittelbare Ursache individuellen Unglücks haben ihre Nachahmer gefunden.
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Zur Vorliebe des Antiphilos für Themen des Meers und der Schiffahrt vgl. Müller (1935), 11 ff. u. 69 f. Zur Interpretation vgl. Syndikus (2001), 59 ff., bes. 62 ff.; zu Vorbildern vgl. Nisbet/Hubbard (1970), 40 ff.; Heydenreich (1970), 36 ff., 45 f. Vgl. z. B. Kallim. epigr. 475 Asper (= 400 Pf.). Vgl. Stat. silv. 3, 2, 69 ff. Macht man sich dies klar, verliert das oft kritisierte Ende der Ode (vgl. z. B. Nisbet/Hubbard [1970], 44 f.) jegliches irritierende Element; vgl. Schindel (1984); Lefèvre (1993), 187 f. – Zu den Propemptika der Liebeselegiker s. u.
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Es verwundert nicht, dass wir dies in der Medeatragödie Senecas aus dem 1. Jh. n. Chr. wieder finden. Es ist jedoch nicht die Amme, sondern der Chor, der an späterer Stelle Medeas Lage beurteilt und auf die unheilvolle Erfindung der Schifffahrt verweist (301 ff.). Wieder sieht man einen gelehrten Dichter am Werk, der sämtliche Motive heranzieht (allzu große Kühnheit des Menschen, Erfindung des Schiffs, Goldene Zeit, Habgier).75 Zum Abschluss soll auf eine Reihe von Stellen eingegangen werden, in denen Schiffe oder deren Erfinder für die betroffenen Personen Anlass für ganz privates Leid geben. Es waren die Dichter der römischen Liebeselegie aus der 2. Hälfte des 1. Jh. v. Chr., die sich von der traditionellen patriotischen Dichtung abwandten und in Durchbrechung der bestehenden gesellschaftlichen Normen die – zumeist unglückliche – Liebe zu einer gesellschaftlich größtenteils nicht anerkannten Frau in den Mittelpunkt ihrer Dichtung stellten.76 Für den Schmerz in der Liebe lassen sich viele Gründe finden; dass die Schifffahrt dazugehört, verwundert vielleicht auf den ersten Blick;77 doch ergab sich damit für die Elegiker die Gelegenheit, sowohl ‹persönliches› Leid durch eindrückliche Bilder besonders deutlich zu veranschaulichen als auch durch den Bezug auf die zahlreichen Vorbilder ihre Gelehrsamkeit zu dokumentieren. Mitunter nehmen diese Stellen von tatsächlichen (oder zumindest vorgeblich tatsächlichen) Seereisen ihren Ausgangspunkt und könnten z. T. unter dem Stichwort Propemptikon behandelt werden. In der Elegie 1, 17 des Properz z. B. befindet sich der amator in Seenot und empfindet dies als Strafe dafür, dass er seine Cynthia verlassen hat. Er bereut das, doch die Ursache für sein Leid sieht er nicht in seinem Verhalten, sondern greift vielmehr auf das Motiv der Verwünschung des Erfinders der Schifffahrt zurück (13 f.; ed. Barber): a pereat, quicumque ratis et vela paravit primus et invito gurgite fecit iter!
Der Erfinder ist eigentlich schuld an der Trennung der Liebenden und dem daraus resultierenden Schmerz.78 Vergleichbar ist Tibulls dritte Elegie aus Buch 1, in der der amator, der Messalla auf einer Reise in den Osten begleitete, krank allein auf der Insel Kerkyra zurückgeblieben ist und nun seinen Tod nahe vor sich sieht. Nachdem er in den einleitenden Versen bedauert hat, dass er Messalla nicht weiter begleiten kann, kümmert bzw. erschüttert ihn angesichts des Tods die Trennung von der Geliebten zutiefst (4–34). Der Dichter schließt dann in einer für ihn so be-
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Auffällig ist dabei die Umkehrung des Motivs im Vergleich zu Euripides, denn Medea wird nun zum ‹Lohn› der Erfindung: Quod fuit huius pretium cursus? | aurea pellis | maiusque mari Medea malum, | merces prima digna carina (361 ff.; ed. Zwierlein). Zur Interpretation vgl. Heydenreich (1970), 26 f.; Liebermann (1974), 159; Biondi (1984), 87 ff.; Davis (1993), 78 ff. Vergleichbar ist ferner Sen. Phaedr. 525 ff. Zum Gedanken der Interaktion von Natur und Mensch durch Technologie bei Seneca vgl. Heinonen (2000). Zum Konstrukt von poeta/amator und puella sowie dem ‹elegischen› System vgl. z. B. Holzberg (2001), 15 ff. Allerdings dient das Schiff häufig als Bild für die Liebe selbst; vgl. z. B. AP 5, 156; 190; 12, 157; 167 (Meleagros); Hor. carm. 1, 5; Prop. 2, 14, 29 f.; 3, 24, 15 ff.; Ov. am. 3, 11, 29 ff. Vgl. Prop. 1, 8; 3, 7, 71 f.; vgl. Heydenreich (1970), 34 ff., 39 ff.; Fedeli (1980), 408 ff.
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zeichnenden assoziativen Gedankenfolge einen Rückblick auf die Zeit unter Saturn, die Goldene Zeit, an, wodurch sich ihm die Möglichkeit bietet, eine Vielzahl der Motive, die wir bei der negativen Bewertung der Schifffahrt kennen gelernt haben, anzuführen: In der Goldenen Zeit gab es die Schifffahrt noch nicht, das Schiff war noch nicht erfunden, die Fichte stand noch auf dem Berg, Habgier war unbekannt.79 In diese Zeit wünscht sich der amator zurück.80 In seiner ‹jetzigen› Situation81 aber bleibt ihm nichts anderes übrig als zu hoffen, dass er, falls er einen – durch die Schifffahrt mit verursachten – einsamen Tod fände, in die elysischen Gefilde geführt wird82 oder unerwartet – gleichsam vom Himmel geschickt – nachts zu seiner keusch gebliebenen Geliebten zurückkehren kann (89 ff.). In diesem Zusammenhang sei ein letztes Beispiel der Verwünschung der Argo angeführt, um zu zeigen, dass dieses Motiv nicht auf den Argonautenstoff selbst beschränkt ist. Es stammt von Ovid, der damit spielerisch umgeht. In Amores 2, 11 klagt der amator, dass seine Geliebte Corinna eine Seereise plane, und beginnt mit einer Verwünschung der Argo (ed. Kenney): Prima malas docuit mirantibus aequoris undis Peliaco pinus vertice caesa vias, quae concurrentes inter temeraria cautes conspicuam fulvo vellere vexit ovem. o utinam, ne quis remo freta longa moveret, Argo funestas pressa bibisset aquas!
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Die Bezüge zu Catull, Ennius und Euripides (o utinam) sind deutlich. 83 Doch mit einem Augenzwinkern variiert Ovid den Wunsch. Nicht dass die Argo gar nicht erst hätte gebaut werden sollen, nein, er wünscht, sie wäre ertrunken, was durch die Formulierung, die eher auf Lebewesen passt (bibere), für die Argo zu einer ganz besonderen Bestrafung wird, da sie den Tod der späteren Opfer der Seefahrt erleiden und somit gewissermaßen Opfer ihrer eigenen Erfindung werden soll.84 Ovid spielt demnach mit dem bekannten Motiv, doch treibt er zugleich mit der Verwendung des Motivs der Schifffahrt bei seinen beiden Vorgängern Tibull und Properz einen Scherz; denn die tiefe Verzweiflung, die bei diesen die durch die Schifffahrt hervorgerufene Trennung verursacht, ist bei ihm nicht zu finden. Nach einigen weiteren Klagen, Ausmalungen der schrecklichsten Gefahren der Seefahrt und Ermahnungen an Corinna, richtet sich der amator auf die Trennung ein und freut sich auf die
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Vgl. 35–40 (Goldene Zeit), 49 f.: nunc Iove sub domino caedes et vulnera semper, | nunc mare, nunc leti mille repente viae. Vgl. Heydenreich (1970), 16 f., 35 f. Zu Recht hat Mutschler (1985), 69 f., darauf verwiesen, dass hierin «eine gewisse Selbstentlastung beschlossen liegt», da seine Reise nicht so sehr Folge einer eigenen Fehlentscheidung war als vielmehr in der «von ihm nicht zu verantwortenden zeitlichen Ferne vom Säkulum Saturns» begründet ist. Vgl. die dreifache Betonung des nunc in 49 f.; vgl. Wimmel (1968), 197 f. Die Vision eines «die Trennung von Delia aufhebenden Liebesparadieses», so Heydenreich (1970), 39, vgl. 16 f., kann ich allerdings nicht erkennen. Zur Vorstellung eines Elysiums der Liebenden vgl. Wimmel (1968), 202 ff.; Mutschler (1985), 72 ff. Auffällig ist dabei vor allem die Umkehrung des Fluchs von L# [O# … κ bzw. utinam ne zu utinam. Die Funktion der Euripidesanspielung ist es daher weniger, den Ernst der Rede zu betonen oder das Leid der Medea mit dem des amator gleichzusetzen; zur Diskussion hierzu vgl. Weinlich (1999), 134 f., mit weiteren Literaturhinweisen.
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Rückkehr der Geliebten, die mit einem Bericht über die Reise, vor allem aber mit Küssen ohne Zahl gefeiert werden soll.85 Neben diesen Stellen, die mit der Schifffahrt mehr oder minder eng verknüpft sind, steht eine Reihe von Gedichten, in denen die Schifffahrt in ganz anderem Zusammenhang – wirklich nur mittelbar – zum Unheil wird. In Tibulls recht schwer verständlicher Elegie 2, 3 klagt der amator, dass seine Geliebte Nemesis mit einem anderen, wohl reichen Liebhaber auf dem Lande ist.86 Ihm, der sich in den vorausgehenden Gedichten das einfache Landleben als einzig richtige Lebensform vorstellte und sich darin das gemeinsame Leben mit der Geliebten erträumte, scheint nun die städtische Lebensweise richtig. Diese Umbrüche in seinem Wertekatalog treten auch sonst in der Elegie auf. Zunächst bringt er seine bisherige Meinung zum Ausdruck und klagt über die eigene «eiserne» Zeit (hier verwendet er also das Motiv des Verlusts der Goldenen Zeit), in der das Beutemachen alles beherrsche (35 ff.). Die Aussicht auf Beute hat nicht nur Krieg und Mord hervorgerufen, sondern zugleich die Gefahren auf dem Meer verdoppelt, indem sie Schiffe zu Kriegsschiffen wandelte. Das Motiv von der Gefahr der Schifffahrt wird demnach verstärkt – das ist in diesem Zusammenhang neu – durch den Aspekt des Seekriegs. Der amator muss dies verurteilen. Doch zwingt ihn die ‹Realität›, nämlich die Tatsache, dass die Mädchen sich am Reichtum erfreuen und Beute geradezu fordern, dazu, seine Einstellung aufzugeben und selbst Geschenke zu machen und sich reich zu kleiden. So sind die Schiffe – als Folge der Habsucht – in einer etwas verqueren Weise mitverantwortlich für die Liebesqualen und den unfreiwilligen Haltungswechsel ‹Tibulls›. Ovid hat in seiner Liebeselegie 3, 8 das Thema – wohl von Tibull angeregt – in einem ähnlichen Zusammenhang verwendet. Auch hier hat die Geliebte einen Anderen, nun eindeutig einen Neureichen (9 f.), der sein Vermögen im Krieg gemacht hat. Der amator/poeta kann dagegen mit seinen Gedichten nicht ankommen und singt vor fest verschlossener Tür ein nutzloses Lied, d. h. Ovid spielt mit dem Motiv des Paraklausithyron. Fast die gesamte zweite Hälfte des Gedichts (35 ff.) nimmt die Klage über den Verlust der Goldenen Zeit ein, zu der unter anderem die Frage gehört, was die Menschennatur mit dem Meer zu tun habe (49 f.; ed. Kenney) 87: quid tibi cum pelago? terra contenta fuisses. cur non et caelum tertia regna facis?
Folge der Schifffahrt ist, dass die Liebe käuflich wurde. Wieder sind Schiffe also mitschuldig am Liebesleid eines amator, der wegen der Käuflichkeit seiner Zeit als poeta mit einem Reichen nicht konkurrieren kann.88 85
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Möglich, allerdings dem Text selbst nicht zu entnehmen ist, dass wie bei Properz 1, 8a ein Rivale der Anlass für die Reise der puella ist; so z. B. Weinlich (1999), 134 ff.; dagegen Bretzigheimer (2001), 130. Ob dieser arm oder reich ist, ist umstritten. Mir selbst scheint die Klage über die Bestechlichkeit der Mädchen direkt nach der Anrede an den Nachfolger diesen als reich zu kennzeichnen. Vgl. zur Diskussion Mutschler (1985), 233 f.; Maltby (2002), 394 ff. Hier gibt es keinen einzelnen Erfinder, sondern die Menschennatur selbst wird angeklagt: contra te sollers, hominum natura, fuisti | et nimium damnis ingeniosa tuis (45 f.). Freilich gerät am Schluss mit der Verfluchung des Reichtums der Verlust der puella fast aus dem Blick. Vgl. Weinlich (1999), 224 ff.; Bretzigheimer (2001), 148.
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5. Schluss Wir wollen in unserer Seereise durch die antike Literatur einhalten und zusammenfassen. Die Schifffahrt galt in der Antike als ungemein kühne Tat und wurde ambivalent beurteilt. Hier sollte nur der negativen Beurteilung nachgegangen werden. Gründe für eine solche finden sich viele. Sie durchziehen mehr oder minder unverändert die gesamte antike Literatur und fast alle Gattungen vom Epos über die Tragödie, die Elegie bis hin zu naturwissenschaftlichen Prosaschriften. Zu ihnen gehören vor allem, neben einer allgemeinen Verurteilung, der Wagemut, die Erfindung der Schifffahrt, die Rolle der Argo, der Verlust der Goldenen Zeit und die Habsucht. Diese Motive werden mit der Zeit zu Topoi, und es ist bezeichnend, dass es sogar rhetorische Anweisungen bzw. Musteraufsätze gab für solch einen ‹Tadel der Schifffahrt› (6' « .«), wie wir ihn unter dem Namen des Nikolaos Sophistes aus dem 5. Jh. n. Chr. überliefert haben.89 Interessant ist dabei zu sehen, wie diese Topoi immer wieder neu zusammengestellt wurden. Ein Kombinationsmuster ist, wie zu erkennen war, das Erstellen einer Kausalkette, in der Schiffe ein näher oder weiter zurückliegendes Glied einnehmen. Dabei wird nicht jedes Mal auf diesen Kausalzusammenhang direkt hingewiesen; er ist jedoch immer mitzuhören. Es war das Ziel vorzuführen, wie insbesondere der Topos der Schiffe als Unheilsbringer die Dichter zum Aufbau solcher Kausalketten angeregt zu haben scheint. In der Iliasstelle geschah dies ausdrücklich: « $0$ . Bei Euripides wurde diese Kette durch den irrealen Wunschsatz nahe gelegt. Alle späteren Stellen setzen einen ähnlichen Ansatz voraus und veranlassen den Leser, diese – auch unausgesprochenen – Kausalketten nachzuvollziehen. Erstaunlich ist, in welcher thematischen Breite der Literatur sich der Topos finden lässt: von Grabepigrammen Ertrunkener, wo er nicht so sehr verwundert, über naturwissenschaftliche Abhandlungen bis hin zur Liebeselegie, wo die Schiffe zur unmittelbaren oder eben mittelbaren Ursache von Liebesleid werden. Die von Homer angeregte Kausalkette der « $0$ in durchaus unerwarteten Zusammenhängen bleibt in der Literatur der gesamten Antike bestehen, und dies obwohl in Nachfolge des schon erwähnten Autors ad Herennium oder Ciceros Quintilian im 1. Jh. n. Chr. noch einmal gerade von weit hergeholten Kausalketten eindringlich abgeraten hatte (5, 83 f.; ed. Winterbottom): recte autem monemur causas non utique ab ultimo esse repetendas, ut Medea: ‹utinam ne in nemore Pelio›, quasi vero id eam fecerit miseram aut nocentem quod illic ceciderint abiegnae ad terram trabes: … quo modo pervenire quolibet retro causas legentibus licet.
Die antiken Schriftsteller haben sich, wie es scheint, von einer solchen Kritik nicht abschrecken lassen. Es ist vielmehr offensichtlich, dass sie sich immer wieder herausgefordert fühlten, ‹beliebig weit› zurück die Gründe für persönliches Leid zu suchen, und dabei besonders gerne auf die Schiffe zurückgriffen.
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Rhet. Graec. ed. Walz, I, 347 ff. u. 365 f.; die Autorschaft des Nikolaos ist umstritten, vgl. Käßer (2002), 1076; vgl. die Übungen bei Libanios (VII, 349 ff. Förster).
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Ursula Gärtner
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Irmgard Männlein- Robert
Klage im Kontext oder Allegorie hellenistischer Spolienpoetik: Überlegungen zu Kallimachos’ Sepulchrum Simonidis (frg. 64 Pf.)1 In Literaturgeschichten, aber auch in Spezialmonographien ist es üblich, immer dann, wenn es um die Dichtungstheorie des hellenistischen Dichters Kallimachos geht, vor allem auf den sog. ‹Telchinenprolog› oder das Traum-Prooimion zu rekurrieren. Beide gehen dem ersten Buch der Aitien, einer Sammlung von Ursprungssagen unterschiedlichster Art und Provenienz im elegischen Versmaß, voran. Die poetologische Relevanz dieser Texte ist unbestritten, doch sind auch in den späteren Aitienbüchern (III und IV), die nicht mehr wie Buch I und II als Unterhaltung des Dichters mit den Musen gestaltet sind, durchaus wichtige Hinweise auf die poetische Tektonik der Aitien enthalten. Ein bekanntes Textstück ist Fragment 64 aus Buch III, dem Rudolf Pfeiffer in seiner monumentalen Kallimachos-Ausgabe von 1949 den lateinischen Titel Sepulchrum Simonidis gegeben hat. Es ist nicht nur der fragmentarische Erhaltungszustand dieses Textes, der die Interpretation erschwert. Auch die Gestalt des Simonides, die Komposition dieses Textes sowie seine Rezeption bei römischen Autoren werfen Fragen auf. Im Folgenden sei die These vorgestellt, daß es sich bei diesem Text um ein komplexes und anspielungsreiches Konstrukt, genauer: um eine poetologische Allegorie des Erinnerns und Vergessens handelt und daß dieses Fragment als exemplarische Schnittstelle mehrerer hellenistischer Diskurse gesehen werden kann.
1. Simonides’ Klage (frg. 64 Pf.) O# Ν] K µ ²
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Dieser Beitrag wurde in unterschiedlichen Versionen in Konstanz, Durham und Gießen als Vortrag gehalten. Für hilfreiche Hinweise sei allen Diskussionsteilnehmern herzlich gedankt. Denselben Begriff verwendet Simon. frg. 15, 4 PMG. Konjektur von Barber [1951] 81.
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Aufgrund lexikalischer Einträge bei Zenobios aus Athen, Stephanus aus Byzanz und der Suda ist überliefert, daß die Einwohner der südsizilischen Stadt Kamarina den nahegelegenen gleichnamigen See verlegen wollten: Trotz einer Warnung durch das Orakel, die später sprichwörtlich wurde (κ K) schritten die Kamariner zur Tat und kamen zu Schaden 5. Ihre Stadt, bislang durch den vorgelagerten See geschützt, konnte jetzt leicht erobert werden. Kamarina dient auch dem Sprecher hier als Exempel für einen Akt menschlicher Hybris. Es geht sogar um etwas noch Schlimmeres: die räumliche Verlegung, ja sogar Zerstörung eines Grabes, noch dazu eines ‹heiligen Mannes› (V. 1 f.: $µ« ² .), wie der Sprecher beklagt. Im Verlauf des Gedichtes wird ab Vers 3 (" . . ) der Sprecher allmählich als der verstorbene Simonides aus Keos kenntlich: Dieser war 468 v. Chr. 6 im hohen Alter von etwa 89 Jahren in Akragas auf Sizilien verstorben und von den Einwohnern vor der Stadt bestattet worden7. Entrüstet berichtet er in der vorliegenden Elegie von der späteren Zerstörung seines dortigen Grabes. Ein Feldherr namens ‹Phoinix› habe sein Grabmal eingerissen und seinen Grabstein mitsamt Grabepigramm in einen Turm eingebaut. Sowohl der Name ‹Phoinix› zu Beginn von V. 6 als auch das Nomen ' )) (zu Beginn von Vers 7) können aus dem Eintrag in der Suda s. v. ])« recht zuverlässig ergänzt werden8, da die Suda hier ausdrücklich ihre Übereinstimmung mit Kal4
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Einen neuen, von Pfeiffer jedoch kaum abweichenden Text mit kurzem Kommentar bietet Massimilla [2006] 33–52. Zenob. Ath. II 25 = IV p. 199–206 Bühler; Steph. Byz. s.v. K p. 351 8 f. Meinecke; Suda s.v. Mκ
K p. 384 1–6 Adler III. Marmor Parium A 57 Jacoby. Siehe Magnani [2007] 20–22, der das Grab des Simonides mit dem heutigen ‹Torre che parla›, einer antiken Bastion in der Nähe von Agrigent, in Verbindung sehen will. Suda s. v. ])« p. 362 Adler IV, vgl. Aelian. frg. 63 Hercher II.
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limachos benennt. Eine Parallele bei Thukydides (1, 93) stützt den Befund: Dort wird die Verwendung des Baumaterials von Grabmälern zum Bau neuer Mauern in Athen mit demselben Ausdruck "' $' beschrieben ( $µ ) λ 4'$ "' $' – auch viele Stelen von den Gräbern und bearbeitete Steine fügten sie in eine Reihe ein)9. In der Suda ist im genannten Lemma auch der Hinweis überliefert, daß sich dieser Vorfall im Zuge einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den sizilischen Städten Akragas und Syrakus ereignet habe. Reizvoll ist die Vermutung, es könne sich dabei um die Kämpfe handeln, die die sizilischen Städte unter der Ägide der Stadt Akragas gegen Syrakus und den syrakusanischen Tyrannen Agathokles seit 311 v. Chr. führten.10 Bis auf Akragas, das durch karthagische Verbündete unterstützt wurde, kamen 306 v. Chr. alle sizilischen Städte unter den Einfluß des Agathokles (vgl. Diod. Sic. 20, 62).11 Im Zuge dieser oder einer ähnlichen Kriegssituation habe, so der empörte Simonides in der Elegie weiter, nun ein akragantinischer Feldherr namens Phoinix sein Grab zerstört. Phoinix, über den allein die Suda – offenbar basierend auf Kallimachos12 – berichtet, muß jedoch als Ethnikon verstanden werden, das auf einen mit Akragas verbündeten und dort aktiven Heerführer aus Karthago anspielt, dessen Wurzeln als Pflanzstadt von Tyros bekanntlich in Phönizien liegen. Später wird sich zeigen, daß über den konkreten historisch-militärischen Kontext hinaus das Ethnikon Phoinix auf jeden Fall einen Akteur beschreibt, der aus pragmatischen Erwägungen heraus, hier: für den Bau einer der Verteidigung dienenden Befestigungsanlage, eines Turmes, zum Raubbau am Grabmal des Simonides schreitet, dessen Bauteile umfunktioniert und einem neuen Bauwerk einverleibt. Der tote Simonides bezeichnet es freilich als wesentlichen Verlust, daß vor allem seine Grabinschrift (', V. 7), nunmehr Spolion in einem Turm, ihre ursprüngliche Position und Funktion verloren hat. Er zitiert nun in etwa sein Grabepigramm oder den Eingang desselben (hier: V. 8–10), das einer alten epitaphischen Tradition gemäß ‹spricht› (ebd. V. 8: µ $' ) 13. Das Grabepigramm, das traditionell als dauerhafter Garant der Er-
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Daß tatsächlich immer wieder die materiellen Bestandteile von Grabdenkmälern in Befestigungsmauern eingebaut wurden, belegt z. B. auch eine Nachricht über die Belagerung von Byzanz durch Philipp II (340 v. Chr.) bei Hesych. Mil. 27, p. 11.15 ff. Preger: … ¹ … $« 8« φ$« ' .« « " / φ) $ « « λ $.φ« « "&« - 0 .«α W κ 0 T. µ 0 « " . . . . Agathokles steht seit 310/09 auch mit Ohellas, Machthaber in Kyrene, in Verbindung, der 309 ermordet wird. Sein Heer tritt in die Dienste des Agathokles, d. h. der Hauptgegner der Akragantiner erhält Unterstützung nicht nur durch karthagische, sondern auch durch kyrenische Truppen. Zur Diskussion um das mögliche historische Ereignis siehe den Überblick bei Massimilla [2006] 40–43. Neuere Versuche, das hier bewußt nicht spezifizierte kriegerische Ereignis historisch zu fixieren bei Bruss [2004] 63 f.; Livrea [2006] 53–57 will mit der Zerstörung Akragas’ 255/4 v. Chr. sogar den Karthager Karthalon mit dem o. g. ‹Phoinix› identifizieren (nach Diod. 23, 18). Wieso sollte aber der Zerstörer dieser Stadt eine Befestigungsmauer um diese errichten? So mit Bing [1988] 68 mit Anm. Zur Rekonstruktion des ‹tatsächlichen› Wortlautes auf dem Grabstein siehe Pfeiffer [1949] 67 (im App. zur Stelle); vgl. Suda s. v. ])« p. 362 Adler IV, 9 f. Generell wäre eine Modellierung nach einem dem Simonides zugeschriebenen Epigramm denkbar, in dem der Name von Simonides’ Vater Leoprepes metrisch an der gleichen Stelle wie bei Kallimachos gesetzt ist: Simon. frg. 89 W.2 = 78 D.; siehe auch Bing [1988] 67–70; Fuhrer [1992] 45; Harder [1998] 98. Im selben Epigramm wird Simonides’ hervorragendes Gedächtnis gerühmt: Simon. frg. 89, 1 f. W.2 = 78 D.: # # Κ φ ])9 4 φ,. C') $ λ 1)$ «, dazu Magnani [2007] 18; Hauvette [1896] 140 mit Zweifeln und Blum [1969] 43 (skeptischer).
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innerung an einen Verstorbenen und dessen Verdienste fungiert14, benennt die Identität des Verstorbenen durch den Namen des Vaters (Leoprepes), die geographische Herkunft (die Insel Keos), seine enge Verbindung zu den Göttern (er ist ¹«) sowie seine Verdienste: Er habe ‹Außerordentliches› (ebd. V. 9: ) gewußt. Die Bedeutung von ist umstritten: entweder spielt er auf die Einführung bestimmter Buchstaben wie H, b, e, h oder auf seine außergewöhnlichen Verdienste, seine Sophia allgemein, an.15 Außerdem verweist Simonides darauf, daß er als erster ‹das Gedächtnis erklärt› habe16 (s. u.). Eine bittere Pointe besteht darin, daß gerade Simonides, der sich als erster um Gedächtnis und Erinnerung in systematischer Hinsicht bemüht hatte, nun selbst aufgrund der Zerstörung seines Grabdenkmals dem Vergessen preisgegeben scheint. Der mit den Versen 10–11 vollzogene Wechsel von der ersten zur dritten Person macht hier einen Übergang vom inhaltlich anzitierten Grabepigramm zur weiteren elegischen Erzählung durch Simonides plausibel.17 Dieser Phoinix hatte, so der empörter Sprecher weiter, keine Skrupel vor den Schutzgottheiten des Dichters, den Dioskuren Kastor und Polydeukes,18 gehabt. Die hatten ihn während eines Gastmahles im thessalischen Krannon (V. 13)19 dazu bewegt, das Haus vorzeitig zu verlassen, das wenig später die mächtigen Skopaden unter sich begrub. Simonides entkommt durch ein göttliches Zeichen der Dioskuren, er ist also der einzige Überlebende – soweit hier der lesbare Text im Papyrus,20 der Inhalt der letzten 5 Verse entzieht sich leider unserer Kenntnis. 21 Soweit die bislang bekannte Überlieferung deutlich werden läßt, ist für uns Kallimachos der erste Autor, bei dem wir die Episode vom Hauseinsturz in Krannon unmittelbar mit der Geburtsstunde der Gedächtniskunst durch Simonides verbunden sehen. Beide Nachrichten sind von Kallimachos dem toten Simonides selbst in den Mund gelegt, was sie natürlich als autorisiert und gleichsam historisch verbürgt erscheinen läßt. Sie sind nun wiederum eingelegt in die von Simonides eingangs erzählte Geschichte von der Zerstörung seines Grabes und des Neuarrangements der alten Bauteile, vor allem des Grabepigramms, das als Spolion zweckentfremdet und in einen neuen Kontext transponiert wird. Peter Bing macht dazu die treffende Bemerkung: «It is significant that this poem is full of first attestations: the story about Kamarina, Phoinix himself, the memory system, Simonides’ deliver14 15
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Ausführlich dazu Häusle [1980]; Raubitschek [1968] 3–26. Siehe App. zur Stelle bei Pfeiffer [1949] 67. Für die Einführung neuer, zusätzlicher Buchstaben durch Simonides plädieren (mit Blick auf Suda ])« p. 362 Adler IV) Blum [1969] 44 und v. a. Bing [1988] 68 Anm. 30, für Sophia allgemein Slater [1972] 235. Zur Diskussion darüber jetzt umfassend Magnani [2007] 13–22 mit Präferenz der alten These (so bereits Lobel bei Pfeiffer), es handle sich um Simonides’ Erfindung zusätzlicher Buchstaben; vgl. dagegen Gronewald [2006] 46. Siehe Marmor Parium A 54 Jacoby: ² µ µ 3<; P. Oxy. 1800, frg. 1 col. II Z. 40 ff.: « # /) κ / / 2 $. λ µ« $ . - φ / "') …, dazu Pfeiffer [1949] 67 app. zur Stelle; Slater [1972] 236 zu Kallimachos’ Mimesis in der Gattung des Epigramms; vgl. Ael. NA VI 10. Zum Wechsel der Sprechhaltungen ausführlich Meyer [2005] 226–228. Siehe Simon. frg. 5 PMG. Molyneux [1971] 197–205; ders. auch [1992] 121 f. Daß zahlreiche Bezüge zu den Dioskuren in den Fragmenten des Simonides erkennbar sind, betont Robbins [2001] 574; genauer Slater [1972] 234. Eine Erwähnung des Polydeukes in einem Werk des Simonides siehe z. B. frg. 4 PMG. Dazu umfassend Molyneux [1992] 121–126; zur Frage, ob Simonides dort einen Threnos oder ein Epinikion vorgetragen habe, Slater [1972] 237–239. Dazu Swoboda [1927] 569, der allerdings vor allem auf diesen Passus des Kallimachos rekurriert; bei Molyneux [1992] 124 f. Zweifel an der Historizität der Nachricht, daß Simonides als einziger überlebt habe. Siehe den Rekonstruktionsversuch von Barigazzi [1978] 54–60.
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ance from the destruction of the Skopadai – all these first appear here.»22 Freilich ist es m. E. möglich, daß Kallimachos in diesem Aiton zumindest die Rahmenepisode um die Zerstörung und Neuplatzierung des Simonidesgrabes selbst konstruiert: Sowohl in der Episode vom Hauseinsturz in Krannon wie auch bei dem Einsturz und Abriß des Grabdenkmals drohen zuerst Vergessen und Gedächtnisverlust, dann kommt es zu Rekonstruktion und Neuarrangement, zu einer Transponierung des Alten auf eine neue Ebene.
2. Bewahren und Erinnern: Neue Referenzen Nach dem derzeitigen Stand der Überlieferung ist Kallimachos der erste antike Autor, der Simonides das Verdienst zuschreibt, die Gedächtniskunst (Mnemonik) erfunden zu haben. Er kombiniert diesen Sachverhalt – ebenfalls als erster – mit der Errettung des Simonides durch die Dioskuren beim Hauseinsturz in Krannon. Mit diesem Aitienfragment des Kallimachos ist also ein erster Belegtext für die berühmte Ursprungsanekdote23 der Mnemotechnik gegeben, was in neuerer Sekundärliteratur bislang nicht berücksichtigt wurde.24 Denn erst in der literarischen Tradition nach Kallimachos werden beide Sachverhalte: Simonides als Erfinder der Mnemonik und die Geschichte vom Hauseinsturz stets miteinander verbunden überliefert. Einer verbreiteten, noch in neuerer Literatur zu findenden opinio 25 nach greife Kallimachos dafür auf den peripatetischen Biographen Chamaileon als Quelle zurück. Sieht man sich jedoch die Testimonien zu Chamaileons Schrift Pλ ]) . 26 an, bietet sich keinerlei inhaltliches Fundament für eine solche Vermutung. Ein Blick auf die weiteren, allesamt nachhellenistischen Texte, in denen Simonides als Erfinder der Mnemonik beschrieben wird, beweist, daß diese Nachricht dort längst fest mit der Episode vom Hauseinsturz in Krannon zu einer einzigen Geschichte verschmolzen ist (etwa bei Cicero und Quintilian; kurze Anspielungen darauf finden sich bei Valerius Maximus, Plinius d. Ä. und Aelius Aristeides).27 Die Verschmelzung der Episoden und ihre Überlieferung bei den genannten Autoren scheint in enger Anlehnung an Kallimachos erfolgt, der dortige Kontext jedoch eliminiert worden zu sein. Besonders aufschlußreich sind die beiden ausführlicheren Simonides-Episoden bei Cicero und Quintilian. Im zweiten Buch von De oratore (§§ 351–354) läßt Cicero Marcus Antonius, den gleichnamigen Großvater des späteren Caesarianers und Triumvirn, einen Redner der 1. Hälfte des 1. Jh. v. Chr. als Sprecher auftreten. Antonius, der vor allem für die Auswahl und Anordnung seiner Gedanken berühmt war, handelt hier ausführlich über das für den Redner so wichtige Gedächtnis und erzählt, wie Simonides durch die Tyndariden vor dem Hauseinsturz im thessalischen Krannon gerettet und durch seine Erinnerung an die Sitzordnung beim Mahl die Toten identifizieren konnte, kurz: wie Simonides zum Erfinder der Mnemotechnik wurde. 22 23
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Bing [1988] 69. V. a. seit dem 4. Jh. v. Chr., aber bereits früher waren zahlreiche Anekdoten, Legenden und apokryphe Literatur über Simonides im Umlauf, dazu Geffcken [1927] 189; Slater [1972] v. a. 233. Z. B. nicht bei Blum [1969]; Müller [1996]. So z. B. Slater [1972] 237. Chamaileon frg. 33–35 Wehrli IX, 21969 = frg. 30–32 Steffen. Siehe Geffcken [1027] 188–192, der als erste Zeugnisse anführt: Cic. orat. II 352 ff.; Cic. fin. II 104; Quint. inst. XI 2, 11; Valerius Maximus I 8, ext. 7; Plin. nat. VII 24; Ael. Aristid. 50, 36; 28, 60 Keil. Ausführlich dazu Blum [1969] 41–46; Bing [1988] 68.
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Antonius bezieht sich für die Simonides-Episode auf nicht näher benannte, nur allgemein angedeutete Quellen (z. B. 351: ferunt, 352: dicunt; 353: dicitur, fertur). Im Vergleich zu Kallimachos ist hier der situative Kontext der Zusammenkunft, das Gastmahl bei Skopas, detaillierter geschildert. Anders als dort ist Simonides hier als Dichter gerade aktiv, er habe, so heißt es, den Tyndariden in seinem Lied auf Skopas besonderes Gewicht verliehen. Auch die Situation nach dem Einsturz des Hauses ist, anders als bei Kallimachos, beschrieben. Die Identifizierung der verschütteten Toten durch Simonides’ Erinnerung an deren Plätze beim Mahl wird plastisch als Geburtsstunde des mnemotechnischen loci-Modells herausgestellt, wie es in der Rhetorik zu Ciceros Zeit längst gebräuchlich war. Dabei prägt man sich die Reihenfolge der Argumente, den ordo rerum, in einer Rede mittels eines bildlichen ordo locorum, einer Abfolge von imaginären Orten, ein. Über die Erinnerung an die Bild-loci wird die Erinnerung an die Argumente abgerufen. Das hier anekdotisch ausgeschmückte, auf Simonides zurückgeführte Memoria-Modell funktioniert also über Transponierung und Einbettung bekannter Elemente in neue Kontexte. Bei Cicero wird also zum ersten Mal greifbar, daß die Mnemotechnik des Simonides aus einem konkreten situativen Bedürfnis heraus entstanden sein soll, nämlich dem, nach dem Einsturz des Hauses in Krannon unkenntlich gewordene Tote zu identifizieren und individuell bestatten zu können, kurz: die Erinnerung an Tote wachzuhalten. Die Kultur und die Methode des Erinnerns haben ihren Ursprung, so der Tenor bei Cicero, im Andenken an Verstorbene. Während sich bei anderen kaiserzeitlichen Autoren, wie z. B. Valerius Maximus, Plinius und Aelius Aristides lediglich reproduzierende Wiederholungen der mittlerweile etablierten Episode, und das auch nur in stark verkürzter Form finden, formuliert Quintilian bei seiner Besprechung der Mnemotechnik in der Institutio oratoria (XI 2, 11–16) Kritik an deren Glaubwürdigkeit und Historizität. Anders als Cicero berichtet Quintilian die Simonides-Episode zunächst sehr allgemein: Der Ort des Geschehens bleibt erst ungenannt. Ungeachtet einiger weiterer Details im Vergleich zur Version bei Cicero (die beiden jungen Männer kommen z. B. zu Pferd) ist die Geschichte praktisch identisch. Im Anschluß daran geht Quintilian (§ 14–16) zu einer kritischen Wertung der einander zum Teil widersprüchlichen ‹Gewährsmänner› (auctores) über. Für die Lokalisierung der Episode – und damit natürlich auch für deren postulierte Historizität und Faktizität – konstatiert er eine kontroverse Diskussion unter den hellenistischen Gelehrten im 3. und 2. Jh. v. Chr.: So hätten Apollodoros von Athen, Eratosthenes, Euphorion und Eurypylos aus Larissa unter Rekurs auf einen nicht näher bezeichneten Passus bei Simonides selbst das Geschehen in Pharsalos verortet, der Kallimacheer Apollas aus Pontos hingegen in Krannon. Diesem nun sei Cicero gefolgt und habe der Erzählung weitere Verbreitung gesichert, so Quintilian am Ende von § 14 (quem secutus Cicero hanc famam latius fudit). Dann schließt er diesen quellen- und literaturkritischen Passus mit folgender Bemerkung ab (ebd. § 16): quamquam mihi totum de Tyndaridis fabulosum videtur, neque omnino huius rei meminit usquam poeta ipse profecto non taciturus de tanta sua gloria – «Gleichwohl scheint mir diese ganze Geschichte von dem Paar der Tyndariden erfunden: auch gedenkt nirgends der Dichter [sc. Simonides] je dieses Vorgangs, der doch gewiß selbst über eine solche Ruhmestat sich nicht in Schweigen gehüllt hätte». Quintilian weist darauf hin, daß sich die Gewährsmänner (auctores) in der Frage, für wen Simonides das Lied verfaßt habe, nicht einig sind. Durch die mögliche Variabilität des Adressaten vermeidet er eine historisch fixe Verortung. Seine Kritik gründet in offenbar eingehender Recherche der philologischen hellenistischen Quellen. Vor allem aber hält er die wundersame Errettung des Simonides durch die Tyndariden
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für fiktiv. Quintilian eliminiert also dezidiert das göttliche Element, das Wunderbare aus der Erzählung, hält die ganze Geschichte vom Hauseinsturz in Thessalien und damit auch die Ursprungsepisode der Mnemotechnik für eine Legende. Überdies bestätigt er explizit den Rekurs Ciceros auf die (m. E. durch Kallimachos begründete) Simonidestradition. Die in der hellenistischen Rhetorik beliebte quasi-historische Anekdote um Simonides’ Erfindung der Erinnerungstechnik wird somit von Quintilian als Illustration eines an sich abstrakten Vorgangs entlarvt. Die Rezeption der Simonidesepisode bei Cicero und Quintilian läßt sich m. E. auf Kallimachos zurückführen. Dabei zeigt sich deutlich, daß deren ursprüngliche Funktion in den Aitien, ihr Bezug auf Einsturz, Dislozierung und Neuarrangement in der Rezeption vernachlässigt, die Episode vielmehr als Kabinettstückchen hellenistischer Gelehrsamkeit diskutiert wird. Die Funktion der Episode bei Kallimachos erhellt sich aus dem tektonischen Kontext, der das ganze Aition als eine allegorische Selbstreferenz des poeta doctus ausweist. Denn die Zerstörung des Grabes des Simonides und die Umfunktionierung seiner Bestandteile steht in auffälliger Analogie zum Hauseinsturz in Krannon. Simonides, der sich wenige Verse zuvor (Call. frg. 64, 10 Pf.) noch als Erfinder der Mnemotechnik gerühmt hat, nimmt beim Einsturz des Hauses eine Schlüsselrolle ein: Er überlebt als einziger – und kann somit als einziger Erinnerung (an die anwesenden Personen, die Situation, die Tischordnung) stiften. Er erscheint als personifizierte ‹Erinnerung› oder ‹Gedächtnis›. Der von Kallimachos berichtete Hauseinsturz darf als Symbol für Zerfall, als Verlust von Erinnerung und Gedächtnis verstanden werden, dem Simonides als einziger entkommt.28 Dies stellt den engen Bezug zum eingelegten Grabepigramm her, in dem sich der verstorbene Simonides als / « 3#« der Mnemotechnik bezeichnet. Doch wie entkommt der tote Simonides einem erneuten ‹Einsturz› und Zerfall, jetzt der Zerstörung seines Grabdenkmals, wie entkommt er als Verstorbener dem drohenden Vergessen? Auf den ersten Blick scheint die Zerstörung seines Grabes ihn endgültig zu begraben und dem Vergessen preiszugeben, so der Tenor der Klage des sprechenden Toten (vgl. ebd. V. 8)29 – denn das Grab in seiner ursprünglichen Sema-Mnema-Funktion für ihn und seine Verdienste besteht nicht mehr. Dennoch ergibt sich eine schlagende Parallele zwischen den beiden Episoden der Zerstörung: Denn der Figur des überlebenden und Gedenken bewahrenden Simonides beim Hauseinsturz in Krannon entspricht (bei der Zerstörung des Grabmonumentes) das als Spolion fortdauernde Grabepigramm, in dem die Stimme des Simonides weiterhin hörbar bleibt, in dem der Verstorbene über das letztlich unzerstörbare Wort weiterhin die Nachwelt apostrophiert. 30 Es ist eben dieses Grabepigramm, das die Identität des Verstorbenen und seine Verdienste bewahrt, und zwar auch dann noch, wenn es seinem ursprünglichen 28
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Es ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß bei Kallimachos (frg. 64 Pf.) nicht ‹das Dach›, sondern das ganze Haus einstürzt. Vgl. Blum [1969] 42 mit Anm. 22; Molyneux [1992] 125. Skeptisch zu diesem ‹Hauseinsturz› äußert sich Slater [1972] 237 f., der allerdings nur auf die ethische Intention solcher Geschichten eingeht und – leider ohne Belege – die Geschichte als mindestens so alt wie die Schule des Aristoteles ansieht. Möglicherweise ist ein Bezug gegeben zu Simon. frg. 76, 5–7 PMG: $ / λ α ) - / φ)µ« Ϊ . Simonides’ Skepsis hinsichtlich der Überlieferung auf Stein hätte dann einen ironischen Zug, da er nicht zuletzt aufgrund seiner Grabepigramme berühmt war (z. B. auf die bei Thermopylai Gefallenen, Simon. frg. 261 PMG; Herodot VII 228; Page [1981] 119–123 nimmt allein dieses Epigramm als echt an); zur Echtheit und zum Wortlaut siehe Boas [1905] 80–83, auch Erbse [1998] 214–218; weitere Belege bei Bing [1988] 68 f. Siehe dagegen Harder [1998] 97.
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Kontext entrissen, also: dekontextualisiert und in einen andersartigen, neuen Kontext integriert ist – z. B. als Spolion in die Mauer eines Wachturms. Diese Dislozierung hebt den ursprünglich deiktischen Bezug, das alte referentielle Verhältnis von Sema und Totem auf. Der ursprüngliche Erinnerungskontext existiert nicht mehr. Als Konsequenz ergeben sich über die räumliche Verschiebung hinaus neue – arbiträre – Verweismodelle und vor allem neue semantische Zusammenhänge.
3. Mündlichkeit und Schriftlichkeit – Wer ist ‹Phoinix›? An dieser Stelle ist zu fragen, von wo, aus welcher Position der tote Simonides denn jetzt eigentlich spricht. 31 Das Epigramm (µ ' µ $' ) nimmt dabei eine Schlüsselrolle ein: Während das materielle Grabmal in seiner Denkmal-Funktion ausgesprochen vergänglich ist, liegt die Unzerstörbarkeit des Gedichtes in seiner immanenten Mündlichkeit begründet, die es ohne Bindung an einen bestimmten Ort bewahrt. Das ursprünglich im Kontext des Simonidesgrabes lokalisierte ‹sprechende› Gramma ist jetzt nämlich in das Gefüge eines anderen Gramma, in das Aitiengedicht des Kallimachos, gleichfalls wie ein Spolion ‹eingebaut›. Es existiert in diesem neuen Kontext weiter.32 Die ‹Stimme› des verstorbenen Simonides, so die Fiktion, bleibt im Textgefüge des Kallimachos sogar über das ‹sprechende Grabepigramm hinaus› erhalten und weiterhin vernehmbar.33 Das wird nicht zuletzt deutlich anhand der konsequent eingehaltenen Präsentation mit Possessiv- und Personalpronomina in der 1. Person Singular (frg. 64, 3.7.8.11 Pf.).34 Das aber heißt, daß der tote Simonides nur im Medium der Schrift weiter sprechen und zeitliche Räume der Distanz (auch aus dem Jenseits) überwinden kann. Dies zeigt sich zuerst im Grabepigramm, dann aber auch darin, daß Kallimachos den toten Simonides nur in seinem Text sprechen lassen und so die Erinnerung an ihn wachhalten kann. Tradierung und Erinnerung kann, so der Tenor, nur über eine grundlegende Verwandlung des Kontextes gelingen, die auf Neuordnung des Materials sowie neuer Funktionsgebung basiert. Kallimachos inszeniert ‹Erinnerung› also ganz im Sinne des Simonides als mediale ‹Transponierung›. Die erinnernde Funktion des zweckentweihten, neu kontextualisierten Grabepigramms übernimmt nun das Aition als ganzes, wenn nicht die gesamten Aitien des Kallimachos. Sein Werk wird somit zu einem Erinnerungsträger, zum Träger einer eigenen, nämlich literarisch-intertextuellen Mnemonik. An dieser Stelle sei noch einmal das bereits erwähnte Ethnikon Phoinix als Namen des Grabschänders aufgenommen. Im Kontext des dargestellten Spannungsfeldes von Oralität und Literalität muß das Ethnikon Phoinix als gelehrte Anspielung auf Herodot verstanden werden. Dieser kommt in Buch V, 58 im Zusammenhang mit der Ermordung des athenischen Tyrannen Hipparchos durch Harmodios und Aristogeiton auf deren Herkunft aus dem Stamme der Gephyraier zu sprechen, die er in Eretria auf Euböa verortet. Sie waren 31 32
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Zur Diskussion siehe z. B. Bing [1988] 67–70 und Harder [1998] 97. Vgl. Bing [1988] 67–69, der allerdings Simonides als direkten Sprecher ansieht bzw. die Ansicht vertritt, daß Kallimachos (selbst) als Sprachrohr des verstorbenen Simonides auftritt. Vgl. das leider nur höchst lückenhaft erhaltene Fragment 97 Pf. (Buch IV der Aitien), in dem Kallimachos die pelasgische Mauer (rund um die Akropolis in Athen), also ein altes, vielfach überbautes und ‹angereichertes› Relikt aus der Frühzeit Athens sprechen läßt. Zu diesem Ergebnis kommt auch Harder [1998] 98; vgl. Bing [1988] 69.
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zusammen mit Kadmos aus Phönizien gekommen, sind also phönizischen Ursprungs. Die benachbarten Ioner hätten dann von diesen in Griechenland ansässigen Phöniziern die Schriftzeichen, die sie ‹Phoinikeia› (N #) nannten, übernommen und sie den Eigenheiten und Bedürfnissen ihrer eigenen Sprache angepaßt.35 Soweit der Text bei Herodot. Was aber will Kallimachos damit andeuten, wenn er in frg. 64 denjenigen, der etwas Altes in seiner ursprünglichen Ordnung zerstört und daraus etwas Neues eigener Ordnung schafft, nicht mit einem Eigennamen, sondern nach seiner ethnischen Zugehörigkeit als ‹phönizisch› bezeichnet? Zwei Deutungsmöglichkeiten zeichnen sich ab: Möglichkeit 1: Der ‹Phoinix›, der jetzt das Grabmal des Simonides zerstört und seine Bauteile zu Spolien umfunktioniert, erweist sich, anders als seine Vorfahren, nicht als Kulturbringer aus Phönizien, sondern als pragmatischer Barbar, der sich über die Wahrung lokaler Tradition hinwegsetzt und dabei etwas Neues schafft, das der aktuellen Situation dienlich ist. Möglichkeit 2: Der ‹Phoinix› als ursprünglicher Schriftbringer muß entweder als Chiffre für Schrift und Schriftlichkeit oder aber als Urheber der Schrift, des Geschriebenen, des Textes: kurz: als Autor verstanden werden. Es ist erst die Schriftlichkeit oder, wenn man will, Textualität selbst, die neue Kontexte schaffen und diese bewahren kann. Und es ist eben das Medium der Schrift, das die Stimme des toten Dichters Simonides archiviert, und durch jeden Rezipienten abrufbar und somit weiterhin hörbar sein läßt. Und schließlich ist es das schriftlich fixierte Aitiengedicht des Kallimachos, in das nun die epigrammatische Stimme des toten Simonides wie ein Spolion eingelegt weiterhin hörbar, der Dichter mitsamt seinen Verdiensten identifizierbar und der Erinnerung erhalten bleibt. Es ist also der Autor Kallimachos, der Simonides überhaupt sprechen läßt. Eine weitere Analogie ist erkennbar: Der Zerstörer des Grabes kommt nicht aus Akragas, er ist phönizischen Ursprungs, ist aber in Akragas aktiv. Ebenso ist Kallimachos, der aus Kyrene stammt, in Alexandria aktiv. Der Phoinix bedient sich des vor Ort vorhandenen, aus der Vergangenheit stammenden Materials zur Verteidigung und konstruiert ein (Mauer-)Gefüge. Ebenso bedient sich Kallimachos des in Alexandria, im Museion, vorhandenen – literarischen – historischen Materials und konstruiert kunstvoll ein katalogartiges Textgefüge aus aitiologischen Elegien. Mit Blick auf die Tatsache, daß sowohl der apologetische Telchinenprolog als auch die Aitienbücher III und IV in einer zweiten Redaktion dem ursprünglichen Aitienensemble von Buch I und II beigegeben wurden, darf man wohl auch die ‹Respektlosigkeit› des Autors Kallimachos mit den ‹Stimmen der Vergangenheit› durchaus mit einem Gestus der Selbstverteidigung des innovativen Aitienexperimentes in Verbindung bringen. Bei fast allen hellenistischen Dichtern, und so natürlich auch bei Kallimachos, finden sich viele explizite Hinweise auf die Schriftlichkeit ihrer Dichtung,36 die gleichwohl in einer Art gegenläufiger Bewegung zugleich als mündlich vorgeführt wird. Der mittlerweile schreibende Dichter figuriert wieder in der Pose des ‹Sängers› (Aoidos). Gerade die einer reflektierten Schriftlichkeit und Textualität verpflichtete Dichtung des Hellenismus bietet ein reiches Arsenal von Stimme und Akustika auf – man denke nur an die vielen akustischen
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Umfassend Mavrojannis [2007] 291–319; siehe auch Bruss [2004] 63 f. Siehe dazu Zenodot. AP VII 117 = 1 GP (über den Stoiker Zeno), ebd. V. 5 f.: 4 ξ N , « ² φ «; Z λ ² K « /
«, $φ# W ' *E« %0 ; ausführlicher West [1985] 290–294. Z. B. in Begrifflichkeiten wie z. B. Deltos, Gramma, dazu Männlein-Robert [2007] 123–127.
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Metaphern im berühmten Telchinenprolog der Aitien. 37 Zunächst erscheint der ‹Phoinix› als ein Akteur, der Raubbau am alten Grabmal des Simonides betreibt, dessen Bauteile kühn umfunktioniert und einem neuen, andersartigen Bauwerk einverleibt. Vor dem skizzierten Hintergrund kann der ‹Phoinix› nun jedoch als Chiffre für den schriftlich konzipierenden und komponierenden Autor gelesen werden, der planvoll ein strukturelles Textgefüge aus gattungs-, zeit- und raumübergreifenden intertextuellen Elementen, aus Spolien vergangener Zeiten, aus Texten und Stimmen verstorbener Dichter, aus alten Gattungen herstellt und somit Erinnerung bewahrt.38 Damit konvergiert in gewisser Hinsicht das berühmte, freilich ohne Kontext überlieferte Versfragment des Kallimachos $. ξ $) («Ich singe nicht Unbezeugtes», frg. 612 Pf.), das ebenfalls den Aitien zugerechnet wird.39 Mit der Simonides-Episode aus dem dritten Buch der Aitien wird paradigmatisch deutlich, daß der Umgang mit der literarischen Tradition, wenn er produktiv sein will, letztlich immer ein Akt der Zerstörung, ein Akt der Dislozierung, der Fragmentarisierung älterer (Text-)Monumente ist, deren Segmente in eine neue Umgebung eingebettet werden.
4. Die Figur des Simonides: Kallimachos gegen Platon Kallimachos kreiert hier eine raffinierte Textur aus den Oppositionen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die überdies als polemischer Einspruch gegen Platons Schriftkritik verstanden werden kann. Bekanntlich erzählt Sokrates im Dialog Phaidros vom Gespräch zwischen dem ägyptischen König Thamous und dem Erfinder der Buchstaben, Theuth, und erläutert dann die schriftkritischen Einwände des Thamous. Die Buchstaben, also Schrift, dienten demnach nicht der Unterstützung des Gedächtnisses, höchstens als Hilfsmittel für die Erinnerung dessen, der sie verfaßt hat (Phdr. 275 a5: Κ . #«, $ 3 #)« φ ). Den Glauben daran, daß aus schriftlich fixierter Kunst ($0) etwas Eindeutiges und Sicheres ( φξ« λ $ ) resultiere, sei einfältig (ebd. 275c6). Schriftliche Logoi sagten immer nur dasselbe und könnten sich bei Beleidigung und Schmähung nicht selbst verteidigen. Sokrates insistiert hier geradezu auf der Opposition von nur scheinbar lebendigem, schriftlichem und wirklich beseelten, mündlichem Logos. Indem nun Kallimachos Simonides dem drohenden Vergessen dadurch entreißt, daß er ihn in seinem Aitientext sprechen läßt, unterläuft er subtil die von Platon so streng gezogene Trennlinie zwischen mündlichem und schriftlichem Logos.40 Gegen Platon gerichtet ist auch das Simonides-Bild des Kallimachos: Im Platonischen Dialog Protagoras diskutieren der Starsophist Protagoras und der Philosoph Sokrates darüber, ob die Arete (Tugend) lehrbar sei. Als sie in eine erste Gesprächskrise geraten sind, 37 38
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Dazu Acosta-Hughes/Stephens [2002]; Männlein-Robert [2007] 220–226. In einer spätarchaischen kretischen Inschrift findet sich sogar mehrfach die ausdrückliche Junktur von , (im Sinne von schreiben) und , siehe Jefferey/Morpurgo-Davies [1970] v. a. 124 (Z. 4–7), 132 f., 150–152 (der offizielle Schreiber der Polis ist überdies als POINIKA]TA] bezeichnet). Siehe Swiderek [1952/3] 49 f. und 58, v. a. aber Bulloch [1985] 570 und Meyer [1993] 318 Anm. 6 mahnt hier zu recht zu Vorsicht und Skepsis, denn wir wissen nicht, welches ‹ich› hier spricht. Möglicherweise besteht eine implizite Gegendarstellung zu Platon auch in Folgendem: Die Erwähnung des Namens ‹Skopas› bei Call. frg. 64, 14 Pf. könnte ein Hinweis auf eine Auseinandersetzung oder Benutzung des Platontextes sein, er kommt sonst bei Kallimachos nicht vor, siehe Bell [1978] 78.
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beschließt man, das Problem nun anhand eines neuen Gegenstandes zu verhandeln. Es folgt die berühmte Interpretation eines Simonides-Gedichtes durch Protagoras und Sokrates, die in der Forschung stets zwischen den Polen eines philosophisch belanglosen Intermezzos oder einer philosophisch durchaus relevanten Hermeneutik changiert (Plat. Prt. 338e6–347a5). Protagoras nun, der sich zuvor als unübertroffener Kenner in der Dichtung gerühmt hatte, zieht aus einem Lied (Skolion) des Simonides auf den thessalischen Fürsten Skopas zunächst die Verse 1–3 heran (ebd. 339b1–3). Diesen stellt er dann die Verse 11–13 entgegen und konstatiert dabei einen Widerspruch in den Aussagen des Simonides (ebd. c1-d9). Das hermeneutische Verfahren des Protagoras haben Glenn Most und zuletzt Martin Hose treffend mit dem Begriff der ‹Dekontextualisierung› beschrieben. 41 Willkürlich aus einem Gedicht entnommene Verse werden isoliert und kritisiert, ihr ursprünglicher Zusammenhang ausgeblendet. Das ist ein Verfahren, eine Interpretierweise, die uns heute fragwürdig erscheinen mag, die jedoch in der gesamten griechischen Literatur bis in die Spätantike zu finden ist. Sokrates erwidert Protagoras mit einigen als unernst markierten Versuchen, den vermeintlichen Widerspruch zwischen den Simonides-Versen anhand einer strengen semantischen Analyse aufzuheben. Dann entwirft er jedoch ausführlich einen quasi-historischen Rahmen, in den er die genannten Verse sowie fast alle übrigen des zitierten Simonides-Gedichtes stellt. Während die Dekontextualisierung, wie Protagoras sie zeigt, auf willkürlichem Umgang mit dem Gedicht als Interpretationsgegenstand, auf einer letztlich polemischen Grundhaltung des Interpreten beruht (er weist Simonides einen logischen Fehler nach), basiert die Rekontextualisierung, wie Sokrates sie vorführt, darauf, daß er sich als Interpret in zeitlicher und räumlicher Distanz zum Gegenstand seiner Interpretation, dem Simonides-Gedicht, begreift und durch diese Erkenntnis die Distanz überwinden, ein historisches Bewußtsein haben kann. Daß Sokrates’ Willkür bei der äußeren Rekontextualisierung letztlich zu einer Fehlinterpretation des Simonides führt, mag einmal mehr Platons Kritik an der Tauglichkeit von Poesie für philosophische Fragestellungen erhellen. Obwohl Kallimachos nun diesselben beiden Verfahren in seinem Aitientext um das Grabmal des Simonides demonstriert – Dekontextualisierung und Rekontextualisierung –, dürfen wir hier von einer impliziten Kritik an Platons Kompositionsweise ausgehen: Denn bei Platon wird das Gedicht des Simonides, das von Protagoras und von Sokrates rein mündlich, aus dem Gedächtnis zitiert und interpretiert, in den gattungsfremden Kontext eines philosophischen Dialoges um die Lehrbarkeit der Arete integriert. Die Verse des Simonides werden durch diese Interpretation fragmentarisiert, sie erscheinen als Fremdkörper und das Gedicht insgesamt nimmt sich als artfremdes poetisches Element im philosophischen Dialog aus. Die bekannte Kritik Platons an Dichtern und ihren Werken scheint Kallimachos freilich mit diesem Text um Simonides zu widerlegen. Er integriert die epigrammatische Stimme des Elegikers Simonides in seine aitiologische Elegie im elegischen Versmaß. Anders als Platon geht es ihm nicht um die Frage nach der ethisch-moralischen Nutzbarkeit der Dichterworte, sondern um ein Schaustück seiner eigenen dezidiert schriftlichen Poetik, welche nicht etwa Gedächtnisverlust bedingt, sondern vielmehr als Erinnerungsspeicher an alte Dichter und Texte fungiert. Die Pointe liegt hier darin, daß Kallimachos den ‹Erfinder› der Gedächtniskunst Simonides ins Zentrum seiner Episode um Vergessen und Erinnern stellt. Ihm geht es also ganz besonders um die Würdigung die41
Most [1994] 127–152; Hose [1998] 89–112.
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ser singulären Figur. Sein Rückgriff auf Simonides ist dabei keineswegs zufällig: Gilt dieser doch der antiken biographischen Tradition als erster professioneller und überaus vielseitiger, ausgesprochen intellektueller, innovativer Dichter.42 Simonides hat für Kallimachos jedoch Modellcharakter in poeticis. Denn die ‹Polyeideia›, die Kallimachos als Dichter von Epigrammen, Elegien, Iamben sowie hexametrischer Dichtung programmatisch für sich in Anspruch nimmt (Iambos 13),43 erinnert an die überlieferte Formenvielfalt des Simonideischen Œuvres. Außerdem ist es Simonides, der durch seine Mnemotechnik die in der griechischen Dichtungstradition seit Homer so bedeutende Rolle der Mnemosyne, nach Hesiod Mutter aller Musen, entmythifiziert und geradezu technisiert,44 Die Stimulation und Aktivierung des Gedächtnisses wird demnach nicht mehr durch den traditionellen Musenanruf, durch die Muse gewährleistet – auch wenn es das als konventionelles Versatzstück natürlich weiterhin gibt.45 Die nötige Gedächtnisleistung kann nunmehr vom Dichter selbständig und über Anwendung bestimmter Regeln der Erinnerungskunst geleistet werden.46 Zwar ist Simonides bei Kallimachos als ‹heiliger› Mann gezeichnet. Sein Kontakt zum Göttlichen besteht aber nicht im Kontakt zu einer inspirativen Gottheit oder Muse, sondern zu den Schutzgottheiten Kastor und Polydeukes, den Dioskuren, die er vielfach in seinen Gedichten thematisiert haben soll. Sie beschützen und retten ihn, ganz physisch, ermöglichen ihm so den Einsatz der eigenen intellektuellen Möglichkeiten und seiner Gedächtniskraft. Simonides ist also, soviel wird deutlich, für Kallimachos ein intellektueller, ‹technischer› Dichter, den er in seinem allegorischen Aition als personifiziertes Gedächtnis in Szene setzt. Sollte im überlieferten Grabepigramm, das Semonides auf die bei den Thermopylen gefallenen Spartaner verfaßte (PMG 531 = 261 Poltera), die seit dem 18. Jh. etablierte Konjektur µ ') ξ »«, ‹statt Totenklagen Gedächtnis› (überliefert ist ') ξ »«) korrekt sein, dann könnte Kallimachos mit seiner Verarbeitung des ‹Simonides› durchaus auf diese Wendung des Dichters anspielen.47 Das könnte gleichsam als Motto von frg. 64 des Kallimachos dienen. Dessen eigener elegischer Text der Aitien wird demnach zum Gedächtnis, wie Renate Lachmann48 sagen würde, zum Moment der gedächtnisstiftenden Transformation für den toten Simonides.
5. Simonides’ Klage im Kontext: Spolienpoetik Die beiden ersten Bücher der Aitien sind als Dialog des Dichters Kallimachos mit den neun Musen gestaltet. Diese geben die Ursprungsgeschichten auf die entsprechenden Fragen des Dichters zur Antwort. Die bisherige communis opinio ist die, daß Kallimachos dagegen in 42
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Zahlreiche Anekdoten thematisieren, daß er sich für seine Dienste bezahlen ließ, somit ein Vorläufer der unter Sophisten üblichen Praxis angesehen wurde; auch sein Geiz wird oft erwähnt. Ausführlich mit gründlicher Recherche der peripatetischen Ausformungen seiner Biographie sowie der Anekdotenbildung über Simonides ist Bell [1978] 29–86. Siehe Callim. frg. 203 Pf. mit den Angaben der Diegesis ebd., zum Konzept Acosta-Hughes [2002b]. Bell [1978] 82, der allerdings nicht auf Kallimachos’ Gedicht zu sprechen kommt. Freilich bleibt auch in der hier berichteten Episode ein Kontakt zum göttlichen Bereich erhalten: Die Dioskuren warnen den Dichter, er reagiert gehorsam auf diese Warnung – und überlebt den Hauseinsturz in Krannon. Es ist also durchaus noch eine göttliche Instanz im Spiel. So auch Svenbro [1976] 128; Detienne [1964] 405–419 und Goldmann [1989] 59. Vgl. auch Goldmann [1989] 43–66, der aber den Kallimachostext nur am Rande behandelt. Z. B. Lachmann [1990] 36.
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den Büchern 3 und 4 die aitiologischen Elegien ohne eine derartige strukturelle Rahmenkomposition, vielmehr übergangslos aneinanderreiht. Vor dem Hintergrund meiner bisherigen Darlegungen sei jedoch die Vermutung formuliert, daß zumindest auch in Buch 3 der Aitien mit Übergängen zu rechnen ist und daß es sich mit frg. 64 Pf. um eine solche Elegie des Übergangs handeln könnte. Selbst wenn durch einen neuen Textzeugen das verlorene eigentliche Aition des Fragments 64 rekonstruiert werden könnte,49 läßt sich bislang Folgendes feststellen: Die Ordnung der Fragmente des dritten Aitienbuches kann nach der papyrologischen Evidenz erst ab frg. 63 (bis 85 Pf.) sicher geordnet werden, obgleich durch einen neueren Dihegesisfund nun die Sequenz frg. 63–75 Pf. als der Elegie von Phalaekeos (frg. 665 und 60 Pf.) nachgestellt erkennbar wird50. Das letzte große nennenswerte Fragment des 2. Aitienbuches behandelte die Gründungsgeschichten sizilischer Städte, sizilische Helden und Sagen. Fragment 64 aus dem dritten Buch scheint nun diesen Themenstrang wieder aufzunehmen. Wie fügt sich nun das Fragment 64 in den Kontext des dritten Buches der Aitien ein? Im unmittelbar vorangehenden Aition (frg. 63 Pf.) wird der Grund eines Brauches beschrieben, der im Rahmen des attischen Thesmophorienfestes gepflegt wurde: Erzürnt über den Frevel eines attischen Mädchens habe die Göttin Demeter allen unverheirateten attischen Mädchen verboten, die an den Thesmophorien vollzogenen Riten der Göttin zu sehen. Der Gottesfrevlerin, die unerlaubt Göttliches gesehen, ohne Willen der Götter den Kontakt zu ihnen hergestellt hat, wird in den Aitien im folgenden Text (frg. 64 Pf.) Simonides ausdrücklich als ‹heiliger›, unter göttlichem Schutz stehender Mann (ebd. 2 und 9) gegenübergestellt: Er wird durch die göttlichen Dioskuren51 beim Hauseinsturz in Krannon gerettet, steht also unter dem Schutz von Göttern. Mit Blick auf das vorausgehende Aition fungiert Simonides als Konstrastfigur, mit Blick auf die sizilischen Sagen des 2. Buches findet sich hier in frg. 64 eine lokale Anknüpfung an diese. Doch wie sieht die Verbindung mit den folgenden (ebenfalls fragmentarisch) erhaltenen Aitientexten frg. 65 und 66 aus, die Pfeiffer mit dem lateinischen Titel Fontes Argivi betitelte? 52 Entweder handelt es sich dabei um eine gewollte Bruchstelle oder aber es findet sich eine subtile Vernetzung. Diese könnte in der Nennung des komplexen ‹Phoinix› liegen, bei dem das alexandrinische Publikum des Kallimachos auch den berühmten ägyptischen Vogel Phoinix mitgehört haben dürfte.53 Ungeachtet seiner späteren Karriere als ‹Phönix aus der Asche› ist dieser Phoinix nämlich ursprünglich ein ägyptischer Wasservogel (s. o.). Im Aition, das auf die Simonides-Episode folgt (frg. 65–66 Pf.) geht es tatsächlich um Wasserquellen und zugehörige Riten. Möglicherweise steckt im ‹Phoinix› auch die Anspielung darauf, daß derjenige, der die ‹Transponierung› des Simonideischen Grabmals vornimmt, in Ägypten zu lokalisieren ist. Die sich daran anschließende Episode (frg. 67–75) mit dem romanhaften Inhalt, wie sich der aus dem keischen Julis stammende Akontios in die schöne Kydippe aus Naxos verliebt, gehört, in den mit dem Sepulchrum Simonidis eröffneten Themenbereich um Tradieren und 49 50 51
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Vgl. jedoch Gutzwiller [1998] 186, die den fiktiven Sprecher Simonides als Aition ansieht. Dazu Gallazzi/Lehnus [2001] 17 f. Plut. De frat. amore 478 A: das ursprüngliche Symbol für die Dioskuren in Lakonien sind 2 durch Querhölzer verbundene Balken, i. e. die Dioskuren gelten ursprünglich als Hausgeister. In frg. 65 Pf. werden die Quellgöttinnen Physadis und Automate genannt. Kallimachos folgt hier den argivischen Lokalhistorikern Agias und Derkylos (FGrHist 305 F 4, so Asper [2004] 133). Die früheste griechische Erwähnung des Phoinix findet sich bei Hesiod, frg. 304 M.-W. mit Anspielung auf die lange Lebenszeit des Phoinix, vgl. Herodot 2, 73 zum ägyptischen Phoinix.
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Erinnern. Die Insel Keos dient als Bezugspunkt zwischen Simonides und Akontios. Auch hier macht Kallimachos seine eigene ‹Quelle› deutlich, aus der er die notwendigen Informationen über die keischen Geschichten bezieht: Es ist der ‹alte› Lokalhistoriker Xenomedes von Keos, von dem er die Geschichte des Akontios ‹gehört› hat (frg. 75, 53–55: … " / # $0 . e # «, Ρ« » / "λ #9
. ') – wir hörten diese [sc. deine Sehnsucht] vom alten Xenomedes, der dereinst die ganze Insel [sc. Keos] im geschichtserzählenden Gedächtnis niedergelegt hat). Freilich verspottet Kallimachos respektlos Xenomedes’ langweiligen Erzählmodus, indem er (ebd. 56 ff.) einen katalogartigen, chronologischen Abriß über die keische Lokalhistorie herunterleiert. Am Ende schlägt er den Bogen zurück zum Anfang seiner Erzählung über Akontios (ebd. 76 f.: … % ² []µ« / - « "« π$ % K – von dort [sc. Xenomedes’ Werk] lief die Geschichte des Jungen [sc. Akontios] in unsere Kalliope). Kallimachos hat die Akontios-Erzählung aus einer Fülle anderer Informationen aus seiner Quelle, dem Historiker Xenomedes, ausgewählt und aus der Prosa in Verse übertragen. Die Muse Kalliope wird zur Metapher für das Werk des Dichters. Kallimachos verfährt aber, und das ist mit Blick auf frg. 64 und die Simonides-Episode wichtig, auch hier nach den Prinzipien von Selektion und Transponierung. Abgesehen davon, daß in der bekannten Kydippe-Episode um die laut gelesene und somit stimmlich realisierte Aufschrift auf dem Apfel natürlich ebenfalls die enge Verbindung von Oralität und Literalität thematisiert wird, bezeichnet Kallimachos das schriftliche Werk des Xenomedes ausdrücklich als ‹geschichtenbewahrendes Gedächtnis› (vgl. ebd. 55: #9 . ' )). ) Indem Kallimachos also die Akontios-Kydippe-Episode ihrem alten Kontext bei Xenomedes entreißt und sie seinem eigenen, neuen poetischen Kontext der Aitien adaptiert, schafft er einen neuen Rahmen und Kontext, kreiert er neue Bezugsrelationen mit neuen hermeneutischen Ebenen (nicht mehr Historie, sondern Aitiologie). Das darf als Parallelfall zu unserem Sepulchrum Simonidis gelten. Kallimachos scheint das dritte Aitienbuch nach den kompositorischen Prinzipien von ‹Kontinuität› und ‹Bruch› rhythmisiert zu haben. Die jeweils unmittelbar an Fragment 64 angrenzenden Aitien und Aitiengruppen sind dominiert vom Prinzip des Kontrastes, des Bruches und der gewollten Diskontinuität. Dagegen ergeben sich im etwas weiteren Kontext sehr deutlich erkennbare thematische Bezüge, Verknüpfungen und Anklänge.54 Am Beispiel des Sepulchrum Simonidis im dritten Buch der Aitien werden also Selektion und Transponierung ebenso wie Kontinuität und Bruch als nebeneinander bestehende Prinzipien der poetischen Komposition ersichtlich, beispielhaft ist in frg. 64 zu sehen, wie fragmentarisierte Trümmer der Erinnerung in neu geschaffenem literarischen Kontext neue hermeneutische Optionen erhalten. Simonides selbst wird als Figur des Übergangs im wahrsten Sinne des Worts erkennbar, er ist der Inbegriff für Erinnerung und Gedächtnis, personhafter Inbegriff der Transposition und Tradierung überhaupt.55 Abschließend sei ein kurzer Blick auf den scheinbar respektlosen Umgang des Kallimachos mit seinen poetischen Modellen geworfen. Im ersten Iambos läßt Kallimachos den längst verstorbenen Iambendichter Hipponax aus der Unterwelt heraufsteigen und den zeitgenössischen alexandrinischen Philologen eine feurige Scheltrede halten. Am Rande sei 54
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Erkennbar ist z. B. sowohl chiastische Stellung thematischer Gruppen in Buch III, Ringkomposition als auch lineare Verknüpfung, siehe dazu Bulloch [2006] 503–506. Dazu siehe auch Männlein-Robert [2009].
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bemerkt, daß der ihnen sogar die schriftliche Fixierung seiner Rede befiehlt (frg. 191 Iamb. I 31 Pf.: … λ 'φ$ κ – und schreibt meine Rede auf!). Der tote Simonides richtet, wie wir gesehen haben, seine warnende Stimme aus dem Textgefüge der Aitien heraus an die Nachwelt und die Leser. Freilich wird bei Kallimachos die Wirksamkeit solcher Schelt- und Mahnreden von Autoritätspersonen56 im Moment ihrer Performanz im neuen Kontext als obsolet erwiesen – der moralische Tadel des Hipponax ebenso wie die Warnung des Simonides, der die Zweckentfremdung seines Grabes nicht verhindern kann. Der elegische Ton seiner Klage (frg. 64, 13 Pf.: 4), seine empörten Beschwerden werden als theatralische, letztlich wirkungslose Gesten entlarvt. Kallimachos evoziert also auf unterschiedliche Weise seine poetischen Modelle und Referenzautoren und setzt sie in neu geschaffenen literarischen Kontexten in Szene.57 Das darf zum einen als Strategie der Autorisierung der eigenen Dichtung, zum anderen als klarer Versuch der historischen Distanzierung und als Signal für Adaptation und Transformierung der literarischen Tradition überhaupt gewertet werden. Das Sepulchrum Simonidis des Kallimachos darf somit als Schnittstelle zeitgenössischer Diskurse um Mündlichkeit und Schriftlichkeit, De- und Rekontextualisierung, um Nachahmung und Innovation gelten. Dabei skizziert Kallimachos mit dieser kleinen Allegorie des Erinnerns und Vergessens offensichtlich einige Eckpunkte seines eigenen poetologischen Programmes. Das Gedicht erweist sich als besonders vielschichtiges Paradeigma eines intertextuellen Spieles, das man als ‹Spolienpoetik› bezeichnen könnte. Wie der respektlose ‹Phoinix› aus einem alten Grab kurzerhand einen Turm baut, konstruiert der hellenistische Dichter aus alten Dichtern und Texten ein neues Textgebilde mit neuem Verweissystem. «Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes»,58 so ein Satz Julia Kristevas, der sich mühelos mit Kallimachos in Einklang bringen läßt. Simonides wiederum avanciert hier zur Programmfigur einer memoria, ohne die poetische und poetologische Auseinandersetzung mit Vorläufern nicht möglich wäre.59 Das kreative Potential der neuen Poetik des Kallimachos liegt im Schaffen neuer Kontexte und Rahmen, in welche kunst- und durchaus auch humorvoll die ‹Stimmen› toter Dichter eingelegt werden und im Medium der Literatur über Zeiten und Räume hinweg vernehmbar bleiben.
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Vgl. z. B. auch Call. Iamb. 1, frg. 191, 1 ff. Pf. den toten Hipponax, dazu Meyer [1993] 329. Zur alexandrinischen Literatur als ‹Literatur auf zweiter Stufe› im Sinne Genettes siehe Ambühl [2004] 27. Kristeva [1972] 345–375. Vgl. auch Goody-Watt [1963] 304–345; siehe Rösler [2001] 243.245.
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Bardo Maria Gauly
Verba imperfecta: Reden, Erzählen und Verstummen in Ovids «Metamorphosen» In seinem zuerst 1980 publizierten «Katzen-Märchen in dreizehn Kapiteln» mit dem Titel «Auf Wiedersehen in Kenilworth» erzählt Peter Rühmkorf von den Schicksalen einer Katze und ihres Herrn, der sein Leben als Führer durch ein englisches Schloss fristet. Der dort hausende Schlossgeist namens Nickel fühlt sich durch McDamns (so heißt der guide) abfällige Bemerkungen über Existenz und Macht von Gespenstern gekränkt und lässt sich, als McDamn bei einer nächtlichen Begegnung Beweise seiner Stärke fordert, nicht zweimal bitten. Er verwandelt die Katze in ein schönes Mädchen und McDamn in einen Kater. Die Verwandlung selbst erzählt Rühmkorf mit der ihm eigenen flapsigen Anmut:1 Der Nickel, durch das abermalige Infragestellen seines Daseins unabwendlich aus dem Gleis geraten, ließ seiner wilden Verwünschungswut ihren bösen freien Lauf und schleuderte folgenden Bannfluch gegen die beiden ungleichen Kreaturen: ‹Du, Gingerkatze, sollst hinfort als Menschenmädchen umgehn, und du, McDamn, dein Leben als ein Kater in der Fremde fristen.› ‹Halt, guter Freund› und ‹Momentemal, das müssen wir aber erst noch diskutieren› wollte McDamn ihm gerade erwidern, aber es entrang sich ihm nichts als ein unendlich erstauntes ‹Mau-mä›.
Die Gestaltung dieser Verwandlungsszene legt den Verdacht nahe, dass Rühmkorf Ovids «Metamorphosen» gründlich gelesen hat, weil auch in der römischen Erzählung der Prozess der Verwandlung Figuren zum Schweigen bringt, indem er ihnen die Möglichkeit nimmt, das, was sie zu sagen haben, zu vollenden. Der Hörer oder Leser wird über diesen Sachverhalt informiert, erfährt also, dass der Sprecher noch mehr zu sagen gehabt hätte, und mitunter sogar (wie auch bei Rühmkorf), was der Sprecher noch hätte sagen wollen, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre. Figurenreden sind für das gesamte antike Epos konstitutives Merkmal; ihr Verhältnis zur Erzählung ist in den «Metamorphosen» besonders komplex, werden die Reden doch oft zu umfangreichen metadiegetischen Erzählungen, wobei mitunter mehrere narrative Ebenen ineinander geschachtelt werden. Ein besonders signifikantes Moment der Figurenrede ist dabei der Abbruch einer Rede oder Erzählung, da ein solches Verstummen zum einen, wie angedeutet, einen Bezug zum Thema des Werkes hat, zum anderen geeignet ist, den Akt des Erzählens selbst und die Rezeption von Erzählungen implizit zu reflektieren. Ein erstes Beispiel ist die Szene, in der Pelias stirbt, zunächst von den eigenen Töchtern angegriffen, dann von der Anstifterin der bösen Tat, von Medea selbst:2 1
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Peter Rühmkorf, Auf Wiedersehen in Kenilworth. Ein Katzen-Märchen in dreizehn Kapiteln, in: ders., Die Märchen, Werke 4, hg. von Heinrich Detering und Sandra Kerschbaumer, Reinbek 2007, 7–88, hier 19. Ov. met. 7,346–349: «‹Was tut ihr, Töchter? Wer wappnet euch zum Verderben des Vaters?›, sprach er. Ihnen sanken Mut und Arme. Als er noch mehr sagen wollte, schnitt ihm die Frau aus Kolchis zugleich mit den Worten die Kehle ab […].» Der Text wird, wenn nicht anders vermerkt, nach der Ausgabe von Tarrant (2004) zitiert.
Verba imperfecta: Reden, Erzählen und Verstummen in Ovids «Metamorphosen»
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‹Quid facitis, natae? quis uos in fata parentis armat?› ait. cecidere illis animique manusque; plura locuturo cum uerbis guttura Colchis abstulit […].
Pelias’ Verstummen ist auf der Ebene der Geschichte motiviert (da er stirbt), aber es ist der Erzähler, der darüber bestimmt, was und wie viel er vor seinem Tod noch sagen darf, und es ist der Erzähler, der für sich in Anspruch nimmt, zu wissen, wie viel er noch sagen will. Illustrativ ist dieses Beispiel in zweierlei Hinsicht: Zum einen verknüpfen die Verse das Ende der menschlichen Existenz (als Tod oder Verwandlung) mit dem Verstummen, zum anderen weisen sie den Rezipienten auf die Macht des Erzählers hin, der seinen Figuren das Recht zu reden verleiht bzw. entzieht. Der zweite Aspekt, das Verhältnis des Erzählers zur Figurenrede, wird in den «Metamorphosen» besonders dort thematisiert, wo der Abbruch einer Rede durch die tatsächliche bzw. die erwartete Zuhörerreaktion motiviert wird. Damit stehen zwei Typen von verba imperfecta, von unvollendeter Rede, im Mittelpunkt meiner Überlegungen: 1. Das Verstummen in Verwandlung oder Tod: Dieser Typ hat einen offensichtlichen Bezug zum Thema des Werkes – und einen indirekten zur römischen Anthropologie, insofern er, wie wir sehen werden, ein spezifisch römisches Konzept menschlicher Personalität voraussetzt. 2. Das durch die negative Reaktion der Rezipienten motivierte Verstummen: Der Erzähler, der seine Figuren ihre Rede bzw. Erzählung abbrechen lässt, weil sie kein Gefallen beim Publikum findet, reflektiert damit indirekt, was gutes Erzählen ausmacht. Damit soll nicht gesagt sein, dass es nicht auch andere Formen und Funktionen des Abbruchs von Reden in den «Metamorphosen» gibt, wohl aber, dass die genannten die bedeutsamsten sind. 3 Gerade solche, die im traditionellen Epos zentral sind, spielen eine geringere Rolle. In Vergils Aeneis etwa verstummt der Götterbote abrupt, nachdem er dem Helden seine Weisung überbracht hat, offensichtlich, weil ein längeres Gespräch unangebracht wäre, wo vom Menschen unbedingter und unverzüglicher Gehorsam erwartet wird. 4 Dido bricht in ihrer letzten Begegnung mit Aeneas das Gespräch ab, weil weitere Worte sinnlos geworden sind.5 Und schließlich ist es nicht selten der Drang zur Tat oder die Notwendigkeit zu raschem Handeln, die den epischen Helden auf eine längere Rede verzichten lässt; Donat kommentiert die knappen Worte, mit denen Turnus weitere Beratungen vor dem Kampf ablehnt, indem er darauf hinweist, dass die kurze Rede für einen Helden, der die Geschwätzigkeit anderer kritisiere, höchst angemessen sei; schließlich sei es höchste Zeit gewesen, dem Feind entgegenzutreten.6 Gerade die letztgenannte Form, die man als typisch für das Heldenepos ansehen kann, gibt es auch in den «Metamorphosen»;7 häufiger und für das Werk insgesamt signifikanter sind aber das Verstummen in Verwand3
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In den einschlägigen Arbeiten zur Rede im (ovidischen) Epos wird die Frage des Verstummens nicht behandelt: Alfonso Ortega, Die Reden in Ovids Metamorphosen, Diss. Freiburg i. Br. 1958; Helmut Walter Offermann, Monologe im antiken Epos, Diss. München 1968; Ulrike Auhagen, Der Monolog bei Ovid, Tübingen 1999 (ScriptOralia A 30). Verg. Aen. 4,276–278; vgl. dazu Silke Anzinger, Schweigen im römischen Epos. Zur Dramaturgie der Kommunikation bei Vergil, Lucan, Valerius Flaccus und Statius, Berlin – New York 2007 (BzA 237), 73. Verg. Aen. 4,388–391. Donat. Verg. Aen. 11,461. Für diesen Typ gibt es feste Formeln, bei Vergil nec plura locutus bzw. effatus (Aen. 7,599; 8,443; 11,98; 12,896). Z. B. Ov. met. 3,193 f.; 8,326–328.
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lung bzw. Tod und das Verstummen infolge ablehnender Haltung der Hörer, die jetzt nacheinander besprochen werden sollen. Beide sind klar voneinander zu scheiden und doch nicht ohne Bezug aufeinander, wie am Ende noch einmal deutlich werden soll, wenn gefragt wird, was es zu bedeuten hat, wenn in den «Tristien» die «Metamorphosen» selbst als verba imperfecta erscheinen. Dass Figuren der «Metamorphosen» am häufigsten im Prozess der Verwandlung verstummen, ist nicht überraschend, weil sich die Metamorphose in der Regel so vollzieht, dass mit dem Wandel der äußeren Gestalt kein Wandel des Bewusstseins verbunden ist, so dass der Verwandelte seine Verwandlung trauernd und bis zu einem bestimmten Punkt klagend erlebt; ein Beispiel ist das Schicksal der Nymphe Dryope, die, während sie zum Baum wird, ihren Angehörigen ihr unverdientes Leid klagt und dabei nicht nur die eigene Verwandlung, sondern auch das eigene Verstummen bewusst erfährt.8 Gerade der Verlust der Sprache ist mit dem der menschlichen Existenz eng verbunden:9 Desierant simul ora loqui, simul esse […].
Die Nymphe Io versucht, nachdem sie in eine Kuh verwandelt worden ist, die menschliche Kommunikation fortzusetzen; sie leckt ihrem Vater die Hand und weint, bevor es ihr gelingt, sich durch Schriftzeichen, die sie mit ihrem Fuß in den Sand zeichnet, zu erkennen zu geben.10 Immer wieder ist die letzte Lebensäußerung der sich Verwandelnden ein Wort oder zumindest ein menschlicher Laut.11 Dem entspricht, dass da, wo die Metamorphose als Prozess beschrieben wird, der peu à peu den ganzen Körper erfasst, der sprechende Mund als letzter Körperteil verwandelt wird. Die menschliche Existenz ist dann zu Ende, wenn sich das verwandelte Wesen nicht mehr artikulieren kann. Die Verwandlung der Töchter des Sonnengottes in Bäume beginnt mit den Füßen, die im Boden Wurzeln schlagen; die sukzessive Metamorphose wird bewusst erlebt:12 Dumque ea mirantur, complecitur inguina cortex perque gradus uterum pectusque umerosque manusque ambit et exstabant tantum ora uocantia matrem.
Deren Rettungsversuch verschlimmert die Sache noch; indem sie an Ästen und Zweigen zerrt, um ihre Kinder zu befreien, fügt sie den halb menschlichen, halb pflanzlichen Wesen Schaden zu. Noch aber können sie sprechen:13
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Ov. met. 9,388–393, hier 388: Plura loqui nequeo. («Mehr kann ich nicht sprechen.») V. 392: «Zur gleichen Zeit, da ihr Mund zu sprechen aufgehört hatte, hatte er aufgehört zu sein.» Die Formulierung ist mehr als «a witty comment» (so William S. Anderson [Hg.], Ovid’s Metamorphoses, Books 6–10, Norman 1972 [ad loc.]). Zur Frage, ob die Metamorphose Tod bedeute, s. Schmidt 1991, 67: In metaphorischer Hinsicht ist die Verwandlung Verewigung, in narrativer Hinsicht endgültiges Ende der menschlichen Existenz und damit Tod. Ov. met. 1,646–657. Zur Io-Erzählung s. Finkelpearl 1998, 191–194 und Heller-Roazen 2008, 130–136. Ov. met. 2,655–669 (Ocyroe); 3,200–203 (Actaeon); 6,386–388 (Marsyas); 11,324–327 (Chione). Vgl. auch Ov. ars 2,91 f. (Icarus). Ov. met. 2,353–355: «Und während sie darüber noch staunen, umfasst Rinde ihre Hüften und wächst dann nacheinander über den Leib, die Brust, die Schultern und Arme; sichtbar blieb nur noch der Mund, der nach der Mutter rief.» Ov. met. 2,361–363: «‹Vorsicht, bitte, Mutter›, ruft eine jede, wenn sie verwundet wird, ‹Vorsicht, bitte; mit dem Baum wird unser Körper verletzt. Jetzt leb wohl!› – Die Rinde wuchs über die letzten Worte.»
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‹Parce, precor, mater› quaecumque est saucia clamat, ‹parce, precor; nostrum laceratur in arbore corpus. iamque uale› – cortex in uerba nouissima uenit.
Gerade die letzte Formulierung zeigt, wie bedeutsam die Sprache für das zugrundeliegende Konzept menschlicher Existenz ist. Worte werden durch Rinde ersetzt, und damit der Mensch durch den Baum. Das lateinische Wort os, mit dem in diesen Fällen der zuletzt verwandelte Körperteil bezeichnet wird, ist mehrdeutig; die ursprüngliche Bedeutung ist «Mund»; als Synekdoche bezeichnet es dann auch das Gesicht.14 In beiden Fällen ist dabei insbesondere an die Fähigkeit zu sprechen gedacht, so dass das Wort speziell den sprechenden Mund bzw. das sprechende Gesicht bezeichnet. Römische Etymologien verbinden es mit orare und orator.15 Mit der Bedeutung des sprechenden Mundes für die menschliche Personalität befasst sich eine ganze Reihe von neueren Arbeiten zur Konzeption des Körpers in der römischen Kultur allgemein und insbesondere bei Ovid. Für Charles Segal wird der Körper des Menschen in den «Metamorphosen» zum Tropus der menschlichen Existenz;16 Maurizio Bettini unternimmt es, eine Anthropologie der körperlichen Erscheinung in der römischen Kultur insgesamt zu entwerfen, und zeigt dabei auf, dass der Gang und das sprechende Gesicht (os) die wichtigsten Erkenntnismerkmale eines Individuums sind;17 zwar gibt es weitere Ausdrücke für «Ge14 15
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ThlL IX 2, 1073,7–1090,8. Varro ling. 6,76: Oro ab ore […] dictum. («‹Sprechen› ist von ‹Mund› abgeleitet.») S. dazu Bettini 2000, 5. Vgl. Pierre Flobert (Hg.): Varron, La langue latine, Bd. 2, Paris 1985, ad loc.: Die spätere Gleichung oratio = oris ratio (z. B. Char. gramm. [GL 1,152,11 f.]: Oratio est ore missa et per dictiones ordinata pronuntiatio, ut oris ratio [«die Rede ist ein aus dem Mund fließender und in Formulierungen geordneter Vortrag, gewissermaßen die Argumentation des Mundes»]) findet sich bei Varro noch nicht. Charles Segal, Ovid’s metamorphic bodies: Art, gender, and violence in the Metamorphoses, Arion 5.3 (1998), 9–41, hier 39: «The body, ultimately, is only a trope for something else, that is, the instability and vulnerability of the human condition.» Segal weist S. 32–36 auf die von einem platonisierenden Stoizismus beeinflusste Anthropologie in Ov. met. 1,76–86 hin. Dass bei Ovid die Körperlichkeit des Menschen konstitutiv für sein Selbstverständnis sei, ist die These einer Arbeit von Penelope Murray (Bodies in flux. Ovid’s Metamorphoses, in: Dominic Montserrat [Hg.]: Changing bodies, changing meanings. Studies on the human body in antiquity, London 1998, 80–96). Bettini 2000, insbes. S. 1–6. Vgl. auch Gregor Vogt-Spira, Der Blick und die Stimme: Ovids Narziß- und Echomythos im Kontext römischer Anthropologie, in: Almut-Barbara Renger (Hg.): Narcissus: ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace, Stuttgart – Weimar 2002, 27–40 (insbesondere S. 37–40), der Bettinis Erkenntnisse zur Deutung der Erzählung von Narcissus und Echo nutzt. In Apuleius’ Roman ist es der Verlust von menschlichem Gestus und menschlicher Stimme, der Lucius’ Verwandlung in einen Esel abschließt (met. 3,25), in Lukians Esel-Erzählung allein die Einbuße der Stimme (asin. 13), während in der Odyssee zwar notiert wird, dass Kirkes Zauberei den Gefährten des Odysseus Köpfe, Stimme und Haare von Schweinen gibt, doch ohne dass diese versuchen, klagend die Stimme zu erheben (Od. 10,235–243). Artikulationsvermögen war, wie John Heath gezeigt hat, auch für die Griechen bis ins 4. Jh. das entscheidende Kriterium für die Unterscheidung von Mensch und Tier und zugleich für die Konstruktion von Alterität; menschliche Rationalität wird erst in der Philosophie des 4. und 3. Jhs. v. Chr. zum entscheidenden distinktiven Merkmal des Menschen (The talking Greeks: Speech, animals, and the other in Homer, Aeschylus, and Plato, Cambridge 2005, 1–29 und passim). Die Bedeutung der Stimme zeigt sich auch in Varros Einteilung landwirtschaftlicher Hilfsmittel (rust. 1,17,1) in instrumenta vocalia (Sklaven), semivocalia (Tiere) und muta (Werkzeuge), der ein stoisches Klassifikationssystem zugrunde liegt (Wolfgang Hübner, Varros instrumentum vocale im Kontext der antiken Fachwissenschaften, Wiesbaden 1984 [Akad. der Wiss. u. d. Lit. Mainz, geistes- und sozialwiss. Klasse 1984,8]). Mit den Tierstimmen und ihrer Deutung in der Antike befasst sich eine neue Studie Maurizio Bettinis: Voci. Antropologia sonora del mondo antico, Turin 2008. Zur Bedeutung von Mund und Sprache (und ihrer Verletzlichkeit) in der ovidischen Anthropologie s. auch Enterline 2000, 1–90.
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sicht» wie vultus («Gesichtsausdruck») oder facies (das von der Natur gestaltete «Gesicht»), aber für die Frage der Personalität ist neben der Körperbewegung der sprechende Mund das entscheidende Kriterium. Das lateinische Wort für «Person», persona, das zunächst «Maske» bedeutet, wird in Rom etymologisch mit personare («tönen») verbunden, obwohl man sich der Tatsache bewusst war, dass die je andere Quantität des Vokals «o» gegen diese Ableitung spricht. Als semantische Verknüpfung wird von einem spätrepublikanischen Gelehrten angeführt, dass die Maske die menschliche Stimme durch die Bündelung des Schalls in der kleinen Mundöffnung verstärke.18 Man könnte also kurz und englisch formulieren: Für einen Römer ist eine Person ein talking head. Dass dieses Konzept, von dem auch andere römische Dichter Gebrauch gemacht haben,19 den Verwandlungsszenen der «Metamorphosen» zugrunde liegt, zeigt sich eben daran, dass es immer wieder das Verstummen des os ist, das das Ende einer menschlichen Existenzweise markiert. Besonders deutlich wird es, wenn in der Beschreibung der Metamorphose mehrere der genannten Begriffe auftauchen, wie im Falle des Jägers Actaeon, der in einen Hirsch verwandelt wird:20 Ut uero uultus et cornua uidit in unda, ‹me miserum!› dicturus erat; uox nulla secuta est. ingemuit; uox illa fuit, lacrimaeque per ora non sua fluxerunt; mens tantum pristina mansit.
Das os ist nicht mehr sein os, weil er davon keinen Gebrauch mehr machen kann, nachdem er die Fähigkeit zu sprechen verloren hat. Auch die spezifisch römische Version des Mythos vom Tod des Orpheus gehört wohl in diesen Zusammenhang; nachdem der Sänger von Mänaden zerrissen worden ist, entströmen – so erzählt es Ovid, Vergil folgend – dem Mund seines Hauptes, noch während es von einem Fluss davongetragen wird, klagende Lieder.21 Ein drittes Beispiel ist die sukzessive Verwandlung von Philemon und Baucis in
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Gavius Bassus ap. Gell. 5,7,2. Etwa Lucan in den Szenen vom Tod des Domitius oder des Pompeius (7,608–616 bzw. 8,679–685). Vgl. auch die von Seneca maior zitierten Verse des Cornelius Severus über die Ermordung Ciceros (suas. 6,26, V. 1–3); zur Deutung der Enthauptung Ciceros s. Amy Richlin, Cicero’s head, in: James I. Porter (Hg.), Constructions of the classical body, Ann Arbor 1999, 190–211, hier 200–206. Die Rückverwandlung des vergilischen Proteus in menschliche Gestalt ist dann abgeschlossen, als er imstande ist, hominis […] ore zu sprechen (georg. 4,443 f.). Zur Bedeutung der Wiedergewinnung menschlicher Sprache in Apuleius’ und in Ovids «Metamorphosen» s. Finkelpearl 1998, 191–194. Ov. met. 3,200–203 (si vera lectio): «Als er aber sein Gesicht und seine Hörner im Wasser erblickte, wollte er ‹ich Armer› sagen, doch brachte er kein Wort heraus. Er stöhnte auf: Das war jetzt seine Art, sich zu äußern; und Tränen flossen über sein Gesicht, das nicht mehr das seine war; nur sein früheres Bewusstsein hatte Bestand.» Tarrant (2004) athetiert, Heinsius und einigen codices recentiores folgend, V. 200 mit Verweis auf die Parallele met. 1,640 f. Ov. met. 11,50–53; Verg. georg. 4,523–527 (vgl. auch Stat. silv. 2,7,99); s. dazu Eduard Norden, Orpheus und Eurydice. Ein nachträgliches Gedenkblatt für Vergil, Berlin 1934 (Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse 1934, 22), 626–683, hier 669–671; Konrat Ziegler, Art. «Orpheus», RE XVIII,1 (1939), 1200–1316, hier 1293–1296; Claudia Klodt, Der Orpheus-Mythos in der Antike, in: Claudia Maurer Zenck (Hg.), Der Orpheus-Mythos von der Antike bis zur Gegenwart. Die Vorträge der interdisziplinären Ringvorlesung an der Universität Hamburg, Sommersemester 2003, Frankfurt am Main [usw.] 2004 (Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 21), 37–98, hier 95 f.; zu den antiken Darstellungen des vom Rumpf getrennten Hauptes s. Klodt, ibid. 46–49 sowie Maria-Xeni Garezou, Art. «Orpheus», LIMC VII 1 (1994), 81–105, hier 101 f.
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Bäume; sie findet ihren Abschluss mit dem Verstummen, als der sprechende Mund zum Teil der Flora wird. Zuvor beobachten sie wechselseitig die Metamorphose des Partners:22 iamque super geminos crescente cacumine uultus mutua, dum licuit, reddebant dicta ‹uale›que ‹o coniunx› dixere simul, simul abdita texit ora frutex. […]
Die Erzählung von Philemon und Baucis ist aber nicht nur in diesem allgemeinen Sinne geeignet, den der römischen Anthropologie entsprechenden Zusammenhang von menschlicher Existenz und Sprache in den «Metamorphosen» zu illustrieren; sie handelt vielmehr spezieller noch vom Zusammenhang zwischen menschlichem Leben und dem Erzählen.23 Dies wird sichtbar, wenn man sich fragt, wovon die letzten Worte der beiden handeln. Die Erzählung ist Teil eines größeren Komplexes, der den zweiten Teil des achten und den Anfang des neunten Buches der «Metamorphosen» umfasst; auf der Heimkehr von der Jagd auf den Kalydonischen Eber kehrt Theseus beim Flussgott Achelous ein; beim Mahl erzählt Lelex, einer seiner Gefährten, vom Gottesverächter Pirithous provoziert, von der Frömmigkeit des armen Ehepaares Philemon und Baucis, die nun nach ihrem Tod selbst Kult genießen. 24 Sie hatten einst Iuppiter und Mercur, die in menschlicher Gestalt Quartier suchten, aufgenommen und, so gut es ihre bescheidenen Mittel erlaubten, bewirtet. Die Götter, die zuvor in der ganzen Gegend abgewiesen worden waren, geben sich zu erkennen und belohnen die beiden, während die gesamte gottlose Nachbarschaft in einer kleinen Sintflut untergeht. Das Haus der Alten verwandelt sich in einen prachtvollen Tempel; und auch der Wunsch des Paares, die letzten Jahre gemeinsam als Hüter des Tempels zu verbringen und auch im Tod vereint zu bleiben, wird erfüllt:25 […] Annis aeuoque soluti ante gradus sacros cum starent forte locique narrarent casus, frondere Philemona Baucis, Baucida conspexit senior frondere Philemon.
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Ov. met. 8,716–719: «Und als nun schon der Wipfel über beider Mienen wuchs, sagten sie einander, solange es möglich war: ‹Leb wohl, mein Gatte›, während die Zweige den Mund verbargen und bedeckten.» Ov. met. 8,611–724. Zur Rolle des Erzählers in der Episode von Philemon und Baucis s. Mary-Kay Gamel, Baucis and Philemon: Paradigm or paradox?, Helios 11,2 (1984), 117–131; G. O. Hutchinson, Hellenistic poetry, Oxford 1988, 345–348; Griffin 1991; K. Sara Myers, Ovid’s causes. Cosmogony and aetiology in the Metamorphoses, Ann Arbor 1994, 91–93; Stephen J. Green, Collapsing authority and ‹arachnean› gods in Ovid’s Baucis and Philemon (Met. 8.611–724), Ramus 32 (2003), 39–56; Chrysanthe Tsitsiou-Chelidoni, Ovid Metamorphosen Buch VIII. Narrative Technik und literarischer Kontext, Frankfurt am Main [usw.] 2003 (Studien zur klassischen Philologie 138), 298–338. Zur Deutung vgl. auch G. Karl Galinsky, Ovid’s Metamorphoses. An introduction to the basic aspects, Berkeley – Los Angeles 1975, 197–204; Hallett 2000; Emily Gowers, Talking trees: Philemon and Baucis revisited, Arethusa 38 (2005), 331–365. Zum Gastmahl in den «Metamorphosen» als einem «idealtypischen Gedächtnisort und Erzählraum» s. Ulrike Egelhaaf-Gaiser, Das versteinerte convivium. Mirabile Metamorphosen und narrative Bildkunst bei Tisch (Ovid, Metamorphosen 4,607–5,272), in: Konrad Vössing (Hg.): Das römische Bankett im Spiegel der Altertumswissenschaften. Internationales Kolloquium, 5./6. Oktober 2005, Schloß Mickeln, Düsseldorf, Stuttgart 2008, 83–99 (das Zitat S. 87). Ov. met. 8,712–715: «Als sie gerade, vom hohen Alter geschwächt, vor den Stufen des Tempels standen und vom Schicksal des Ortes erzählten, sah Baucis plötzlich, wie sich Philemon belaubte, und Philemon, noch älter, sah, wie sich Baucis belaubte.»
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Die Fortsetzung kennen wir schon. Lelex erzählt nur noch, dass die Einheimischen noch in der Gegenwart die Bäume zeigten, die einst Philemon und Baucis gewesen seien, und er bekräftigt die Glaubwürdigkeit seiner Erzählung mit dem Hinweis, dass seine Quelle verlässliche Greise seien (Ov. met. 8,719–724). Die Metamorphose beginnt, während Philemon und Baucis erzählen. Wem sie erzählen, wird nicht gesagt; denkbar ist, dass sie sich gegenseitig unterhalten; plausibler ist die Annahme, dass Dritte ihr Publikum bilden.26 Denn beide leben ja als Tempelhüter, und als solche gehört es zu ihren Aufgaben, Besucher über den örtlichen Kult und seine Ursprünge zu belehren. Wenn es also heißt, sie seien gerade vor dem Tempel gestanden, so muss man wohl ergänzen: Sie standen gerade wieder einmal vor dem Tempel, denn eben dies ist ja ihr Lebensinhalt nach der Verwandlung ihrer Hütte in ein Heiligtum. Zudem heißt es ja ausdrücklich, sie hätten loci casus erzählt (V. 713 f.), und das kann nur heißen, dass sie über die Aitiologie dieses Kultes sprechen, über die Gottlosigkeit der vielen und über die eigene Frömmigkeit.27 Das aber bedeutet: Philemon und Baucis erzählen Philemon und Baucis, eben die Geschichte, die Lelex Achelous und seinen Gästen bzw. der extradiegetische Erzähler den Lesern der «Metamorphosen» erzählt. Und sie erzählen diese Geschichte offenbar nicht nur einmal, sondern immer wieder, bis ihre Erzählung mit ihrem Leben zugleich endet. 28 Nun sind die frommen Alten schon zuvor als Erzähler vorgestellt worden; während sie das Mahl für die unbekannten Gäste bereiten, sorgen sie dafür, dass keine Langeweile aufkommt. 29 Natürlich darf man sich als Leser mit der Vorstellung schwer tun, dass die schlichten Bauern, die ihr Leben auf kärglicher Scholle fristen, als Erzähler und Unterhalter brillieren; aber es ist doch bemerkenswert, dass ausdrücklich festgehalten wird, dass trotz der langen Erzählzeit – es ist immerhin von «Stunden» die Rede – keine Langeweile aufkommt. Bemerkenswert ist freilich auch, dass Lelex nicht den Inhalt dieser Erzählungen wiedergibt: Vermutlich können Philemon und Baucis von nichts anderem erzählen als von der Mühsal ihres Alltags, so dass ihr erzählerisches Talent sich gerade an einem schlichten Stoff bewährt. 30 Nach der Begegnung mit den Göttern aber haben Philemon und Baucis auch einen Stoff, der die Erzählung lohnt. Sie erzählen von sich selbst, von ihrer Frömmigkeit, ihrer Rettung aus der Sintflut, ihrer neuen Aufgabe als Tempelhüter und vielleicht auch davon, wie sie vor dem Tempel stehen und erzählen. Und nachdem ihr Leben zusammen mit ihrer Erzählung ein Ende gefunden hat, finden sich andere, die von ihnen erzählen. Da die böse Nachbarschaft in der Sintflut zugrunde gegangen ist, müssen alle späteren Erzählungen, die von Philemon und Baucis handeln, auf deren eigene Erzählung zurück26 27
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Richtig Griffin 1991, 59: «Bystanders are needed at this point to witness the couple’s metamorphosis.» Hallett 2000, 554: «At lines 713 ff. […] they happen to be standing before that temple and to be re-living, as they narrate the story of the place, that very moment when they achieved divine equality.» Vgl. dazu Friedmann Harzer, Erzählte Verwandlung. Eine Poetik epischer Metamorphosen (Ovid – Kafka – Ransmayr), Tübingen 2000 (Studien zur deutschen Literatur 157), 66: «Die synchrone Verwandlung der beiden Figuren begleitet jener Stimmverlust, mit dem physische Verwandlungen häufig einhergehen. Hier markiert er nicht nur den Endpunkt ihrer Metamorphose, sondern naturgemäß auch das Ende ihrer Erzählung. Aus den Erzählerfiguren sind stumme Metamorphosen-Zeichen geworden.» Ov. met. 8,651 f.: Interea medias fallunt sermonibus horas / sentirique moram prohibent. […] («Unterdessen verkürzen sie die Stunden der Zwischenzeit mit Gesprächen und sorgen dafür, dass man das Warten vergisst.») Vgl. Griffin 1991, 56: «A string of peasant banalities may have entertained Jupiter and Mercury but Ovid does not consider that his sophisticated readers would find them equally engaging.»
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gehen. Die Greise, die Lelex als seine Quelle nennt, haben die Erzählung also direkt oder indirekt von den Helden der Handlung selbst. Wenn wir Lelex und dem extradiegetischen Erzähler glauben, haben also die frommen Alten mit ihrer Erzählkunst selbst für ihr Weiterleben nach dem Tod gesorgt. War ihr Leben im Alter in gewissem Sinn mit ihrer Erzählung identisch, so gründet ihr Fortleben in weiteren Erzählungen. Das Weiterleben der Figuren hängt aber davon ab, dass sie geneigte Rezipienten ihrer Erzählung finden; ohne die genannten Greise, die die Geschichte von Philemon und Baucis erzählend tradieren, und ohne Lelex, der sie den Gästen des Achelous und damit den Lesern der «Metamorphosen» erzählt, wären Philemon und Baucis für immer verstummt. Aber auch Lelex’ Erzählung findet Gefallen; der extradiegetische Erzähler hält ausdrücklich fest, dass alle Hörer vom Stoff und vom Erzähler beeindruckt waren;31 besonders gut aber habe die Erzählung Theseus gefallen; mit dieser Bemerkung erlaubt sich der Erzähler einen metaliterarischen Scherz, da sie auf den Prätext der Erzählung verweist, auf Kallimachos’ Gedicht über Hekale, die fromme Alte, die Theseus, als er in den Kampf gegen den Stier von Marathon zieht, bewirtet.32 Eine solche Kommunikation des extradiegetischen Erzählers mit dem Leser der «Metamorphosen», gewissermaßen über die Köpfe seiner Figuren hinweg, findet sich nicht selten auch dort, wo der Erzähler dafür sorgt, dass seine Figuren ihre Reden oder Erzählungen vorzeitig beenden, weil der jeweilige Adressat nicht geneigt ist, länger zuzuhören. Ich komme also zu dem zweiten wichtigen Typ von verba imperfecta, den Reden, die wegen mangelnder Resonanz beim Publikum abgebrochen werden, Fällen, in denen das Verhältnis von extradiegetischem Erzähler und intradiegetischem Sprecher in helles Licht gerückt wird. Der Meeresgott Glaucus wirbt um Scylla; das schöne Mädchen aber lässt ihn abblitzen, indem es ihn mitten in seiner Rede stehen lässt:33 Talia dicentem, dicturum plura reliquit Scylla deum […].
Der Erzähler präsentiert sich mit dieser Bemerkung als allwissend (er weiß, dass Glaucus noch mehr zu sagen gehabt hätte) und als Freund des Lesers, den er davor bewahrt, noch mehr von den törichten Worten eines erfolglosen Liebhabers vernehmen zu müssen. Ein verwandtes Phänomen scheint mir vorzuliegen, wenn der Erzähler mitteilt, dass er eine längere Figurenrede nur in Auszügen wiedergibt, ohne zu begründen, weshalb er sie nicht vollständig anführt. Gerade der Verzicht auf eine Begründung lädt den Leser zur Reflexion möglicher Gründe ein. So teilt Achaemenides, ein Gefährte des Odysseus, als er von seiner Begegnung mit dem Kyklopen Polyphem erzählt, die Worte des Ungeheuers nur unvollständig mit.34 Ein zweiter Fall einer solchen Verkürzung ist noch auffälliger; hier steht der
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Ov. met. 8,725: Desierat, cunctosque et res et mouerat auctor. Kenney in: Ovid, Metamorphoses, Translated by A. D. Melville, with an introduction and notes by E. J. Kenney, Oxford – New York 1986, XXVIII; Barchiesi 1989, 57 f. Ov. met. 13,966 f.: «Während er noch solches sagte und bevor er noch mehr sagen konnte, verließ Scylla den Gott.» Ov. met. 14,198: Haec et plura ferox. («Dies und noch mehr sagte er in seinem Grimm.») Den Erzähler befällt bei dieser Erinnerung horror, und eben dieser ist wohl dafür verantwortlich, dass nur eine Kurzversion der Ereignisse geboten wird. Im Übrigen könnte zugleich eine literarische Reminiszenz an die Einleitung von Aeneas’ Erzählung vom Untergang Trojas eine Rolle spielen (Verg. Aen. 2,12: quamquam animus meminisse horret [«obwohl es mich bei der Erinnerung graust»]).
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Hinweis auf die Kürzung voran. Die Einleitung zu Hecubas Klage um ihre getötete Tochter Polyxena lautet:35 Plura quidem, sed et haec […] dixit.
In diesem Fall liegt die Vermutung nahe, dass die Ankündigung einer Kurzfassung auf den topischen Charakter solcher Klagereden verweist. Für diese Vermutung spricht auch, dass in den «Metamorphosen» Klagereden oft überhaupt nicht wörtlich angeführt werden, sondern nur in narrativisierten Zusammenfassungen geboten werden. Signifikant ist etwa die Kürze, mit der in den «Metamorphosen» die berühmte Klage der verlassenen Ariadne am Strand von Naxos wiedergegeben wird: Hatte Catull in seinem Epyllion noch 70 Verse darauf verwandt, so bleibt davon bei Ovid nur ein multa querenti.36 Wenn gerade Klagereden gerne in denkbar knapper Form referiert werden (und dafür es gibt weitere Beispiele), dann lenkt die Ankündigung einer Kurzfassung, wie wir sie im Fall von Hecubas Rede haben, die Aufmerksamkeit des Lesers auf den Umstand, dass ihn der Erzähler vor überlangen und eintönigen Klagen bewahrt.37 Anders gewendet: Die Sorge des Erzählers um ein mögliches Nachlassen des Interesses der Rezipienten veranlasst ihn, die Rede seiner Figur kurz zu fassen. Nun gibt es in den «Metamorphosen» auch Reden, die eben genau deshalb ein vorzeitiges Ende finden, weil das Interesse des internen Publikums erlahmt.38 Und um solche Reden soll es jetzt gehen, genauer: um einen Komplex von Erzählungen, in denen solche Reden eine Rolle spielen und die das Wechselspiel von Redner und Zuhörer, von Erzähler und Leser thematisieren. Dass diese Erzählungen untereinander Parallelen aufweisen, ist schon oft beobachtet worden; wo es um das Verhältnis des Erzählers zu den Reden seiner Figuren geht, lassen sich die Bezüge aber noch genauer fassen. Es handelt sich um die Erzählungen von Apoll und Daphne, Iuppiter und Io, Pan und Syrinx (alle im ersten Buch) und von Glaucus und Scylla (im 13. Buch); in allen ist die Liebe eines Gottes zu einer jungfräulichen Nymphe Thema, und in allen spielen werbende Worte des Liebenden und die Reaktion der Geliebten darauf eine Rolle.39 35 36 37
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Ov. met. 13,493: «Sie sagte zwar noch mehr, aber auch das Folgende […].» Cat. c. 64,132–201; Ov. met. 8,176 («als sie viele Klagen vorbrachte»). Weitere Beispiele, in denen der Inhalt von Klagereden mit multa zusammengefasst wird: Ov. met. 4,84.251; 14,243. Barchiesi hat Ovid einmal in einem ganz anderen Zusammenhang einer Klasse von Erzählern zugerechnet, die er narratori soppressivi nennt, Erzählern, die erkennen lassen, dass ihre Erzählung eine Auswahl aus umfangreicherem narrativen Material bietet (1989, 80 mit Anm. 26); zu «Beinahe-Episoden» bzw. zu «untold stories» bei Ovid s. Heinz-Günther Nesselrath, Ungeschehenes Geschehen. ‹Beinahe-Episoden› im griechischen und römischen Epos von Homer bis zur Spätantike, Stuttgart 1992 (BzA 27), 85–91 bzw. Richard Tarrant, Roads not taken: Untold stories in Ovid’s Metamorphoses, MD 54 (2005), 65–89. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, dass die Erwartungen des Publikums den Erzähler zur Fortsetzung bestimmen; so heißt es von Perseus (4,790): Ante expectatum tacuit tamen. («Doch verstummte er früher als erwartet.») Erst als einer seiner Zuhörer insistiert, setzt er seine Erzählung fort; vgl. G. O. Hutchinson, The metamorphosis of metamorphosis: P. Oxy. 4711 and Ovid, ZPE 155 (2006), 71–84, hier 82. Daphne: Ov. met. 1,452–567; Io: met. 1,568–746; Syrinx: met. 1,689–712; Scylla: met. 13,898–968; zur Reihe der Nymphen-Erzählungen vgl. Jacqueline Fabre, Mythologie et littérature dans les Métamorphoses: les belles poursuivies, in: Jean Marc Frécaut – Danielle Porte (Hgg.): Journées Ovidiennes de Parménie. Actes du Colloque sur Ovide (24–26 juin 1983), Brüssel 1985 (Collection Latomus 189), 93–113; Betty Rose Nagle, Erotic pursuit and narrative seduction in Ovid’s Metamorphoses, Ramus 17 (1988), 32–51; zum Vergleich der Erzählungen von Daphne und Syrinx s. Fredericks 1976–1977; Hardie 2002, 128–132.
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Zu Apoll und Daphne:40 Ein Streit Apolls mit dem Liebesgott löst die Geschichte aus; Apoll wird von Cupidos Pfeil getroffen und begehrt die schöne Nymphe Daphne, die ihrerseits durch einen Pfeil Cupidos gegen Liebesbegehren immunisiert worden ist und ihr Leben nach dem Vorbild Dianas gestaltet. Und so flieht sie, als sich Apoll ihr nähern will, so dass der Gott ihr sein Liebeswerben nachrufen muss, während er sie verfolgt (Ov. met. 1,502–524). Apoll macht seine guten Absichten geltend, seine Sorge um ihre Schönheit und vor allem seine göttlichen Taten und Fähigkeiten. Und gerade als sein Selbstlob so richtig in Fahrt gekommen ist, bricht es ab, weil der Gott die Wirkungslosigkeit seiner Worte erkennen muss: 41 Plura locuturum timido Peneia cursu fugit cumque ipso uerba imperfecta reliquit.
Die Erfolglosigkeit der Werbung des Gottes legt dem Leser nahe, im Attribut imperfecta auch die Konnotation «unvollkommen» wahrzunehmen. Apoll wäre dann das Gegenbild zum Ideal des orator perfectus, das Cicero ein halbes Jahrhundert vor Ovid etabliert hatte.42 Dafür spricht auch die ungewöhnliche Formulierung; Daphne flieht vor den Worten; das direkte Objekt zu reliquit ist verba; Apoll selbst wird nur als präpositionale Ergänzung angeschlossen; zu erwarten wäre doch eher: «ließ ihn mit seiner Rede zurück». Das abrupte Ende der Rede ist in doppelter Weise bedeutsam: auf der Ebene der Geschichte, insofern es plausibel das erotische Desinteresse Daphnes sichtbar macht, aber auch auf der Ebene der Erzählung, weil es dafür sorgt, dass der Leser vor weiteren Prahlereien des Gottes bewahrt wird. Die Erzählung von Apoll und Daphne ist die erste in einer ganzen Reihe, die von der Liebe eines Gottes zu einer Nymphe handeln; die Nymphen sind dabei immer Anhängerinnen eines jungfräulichen Lebens in freier Natur nach dem Vorbild Dianas; die Götter greifen, da sie mit Worten nicht an ihr Ziel gelangen, zu Gewalt als Mittel, so dass am Ende der Erzählungen jeweils entweder eine Vergewaltigung oder eine Metamorphose oder beides steht. Die letzte Erzählung in dieser Reihe ist die vom Meergott Glaucus, der sich in Scylla verliebt (Ov. met. 13,898–14,74). Wenn man vom Ende absieht (Scylla wird durch eine Intrige Circes in ein Ungeheuer verwandelt), weist die Erzählung enge Parallelen zu der von Apoll und Daphne auf. Allerdings kommt Glaucus, anders als Apoll, nicht gleich zu Wort; Scylla flieht vor ihm und lässt ihn erst dann zu Wort kommen, als sie sich in Sicherheit wähnt; das Ergebnis seiner Worte ist aber wie im Fall Apolls die endgültige Flucht des Mädchens (Ov. met. 13,966 f.). Bezeichnend ist der erste Annäherungsversuch des Gottes:43
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Zur neuzeitlichen Ikonographie s. Bernhard Schnackenburg, Pan und Syrinx von 1747 bis 1814. Stationen aus der Geschichte eines Kasseler Galeriebildes, in: Pan und Syrinx. Eine erotische Jagd. Peter Paul Rubens, Jan Brueghel und ihre Zeitgenossen, Staatliche Museen Kassel, Kassel 2004 (Patrimonia 245), 17–39. Zu unterschiedlichen Deutungen des programmatischen Charakters der Erzählung s. Schmidt 1991, 96–98; Niklas Holzberg, Apollos erste Liebe und die Folgen. Ovids Daphne-Erzählung als Programm für Werk und Wirkung, Gymnasium 106 (1999), 317–334; Hardie 2002, 45–50. Zur Rede Apolls vgl. Fuhrer 1999, 356–363. Ov. met. 1,525 f.: «Da er noch mehr sagen wollte, floh Peneus’ Tochter in ängstlichem Lauf und ließ mit ihm selbst die unvollendete Rede zurück.» Anton D. Leeman – Harm Pinkster, M. Tullius Cicero, De oratore libri III, Kommentar, Bd. 1, Heidelberg 1981, 42 f. Ov. met. 13,906–908: «Glaucus taucht auf, erstarrt vor Begehren, da er das Mädchen erblickt hat, und hält eine Rede, die alles enthält, was ihm geeignet erscheint, die Flucht des Mädchens zu hemmen; dennoch flieht sie.»
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Glaucus adest uisaeque cupidine uirginis haeret et quaecumque putat fugientem posse morari uerba refert; fugit illa tamen […].
Hopkinson hat auf die Parallelität zu der Daphne-Erzählung hingewiesen und angemerkt, dass die Bemerkung den scherzhaften Verzicht des Dichters auf eine weitere Rede eines verliebten Gottes einschließe;44 das ist richtig, aber vielleicht noch nicht genug. Wenn man sich die Frage stellt, warum Glaucus nach Worten sucht, die eine Flucht verhindern können, weshalb er also die Reaktion der Scylla antizipiert, dann muss die Antwort wohl heißen, dass er das erste Buch der «Metamorphosen» gut kennt und aus Apolls Versagen zu lernen versucht – wenngleich ohne Erfolg. Es gibt noch eine weitere Parallele zu Apolls vergeblichem Werben um Daphne, und der Vergleich mit ihr ist nicht nur buchstäblich näher liegend, sondern auch noch lohnender, weil die Bezüge noch komplexer sind; es handelt sich um die Geschichte von Pan und Syrinx, die Mercur dem Wächter der Io, Argus, erzählt. Zunächst der narrative Zusammenhang: Nachdem Daphne in den Lorbeer verwandelt ist, treffen sich die Flussgötter bei ihrem Vater Peneos. Allein Inachus fehlt, weil er seine Tochter Io vermisst, die, so erfährt der Leser, Iuppiters Begehren erregt hat. Aber auch seine Rede, die weniger eine Werbung als eine Einbestellung zum Rendezvous darstellt, findet ein rasches Ende, als das Mädchen, wie Daphne und Scylla, flieht. Iuppiter vergewaltigt Io und verwandelt sie, als Iuno misstrauisch wird, in eine Kuh und schenkt diese der Gattin, die den hundertäugigen Argus mit der Bewachung beauftragt. Iuppiter entsendet Merkur und befiehlt ihm die Tötung des Wächters. Der Gott verkleidet sich als Ziegenhirt und nähert sich Argus, und als dieser an der Hirtenflöte Mercurs Gefallen findet, lädt er ihn zum Bleiben ein:45 Sedit Atlantiades et euntem multa loquendo detinuit sermone diem, iunctisque canendo uincere harundinibus seruantia lumina temptat. ille tamen pugnat molles euincere somnos et, quamuis sopor est oculorum parte receptus, parte tamen uigilat. quaerit quoque (namque reperta fistula nuper erat) qua sit ratione reperta.
Daraufhin erzählt Merkur noch von der Liebe Pans zur Nymphe Syrinx, die wie Daphne nach Dianas Vorbild jungfräulich leben will. Dies gelingt ihr auch – sie narrt Satyrn und diverse Götter, bis Pan sie erblickt:46 […] redeuntem colle Lycaeo Pan uidet hanc pinuque caput praecinctus acuta talia uerba refert’ – […]
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In seinem Kommentar zur Stelle: Neil Hopkinson, Ovid, Metamorphoses, Book XIII, Cambridge 2000. Ov. met. 1,682–688: «Der Enkel des Atlas ließ sich nieder und vertrieb ihm die langsam verstreichende Zeit mit vielerlei Reden und mit Gesprächen, und er versucht, die wachen Augen zu bezwingen, indem er auf der Flöte aus verbundenen Schilfrohren spielt. Argus jedoch kämpft, um den verlockenden Schlaf zu besiegen, und auch wenn ein Teil seiner Augen vom Schlaf übermannt ist, wacht doch der andere Teil. Und so fragt er denn auch, wie die Flöte (sie war erst vor kurzem erfunden worden) erfunden worden sei.» Ov. met. 1,698–700: «Pan erblickt sie, als sie vom Lykaion herunterkommt, und spricht – sein Haupt ist mit einem stacheligen Pinienkranz umwunden – folgende Worte.»
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An dieser Stelle setzen die Editoren in der Regel einen Gedankenstrich, weil sich unverhofft der extradiegetische Erzähler einschaltet; die wörtliche Rede endet abrupt, der Erzähler fährt aber genau dort fort, wo der Sprecher geendet hat, indem er dessen letzte Worte aufgreift. Und was der Erzähler jetzt bietet, ist der Inhalt dessen, was Merkur noch hätte sagen können oder müssen. Die Geschichte von Pan und Syrinx wird jetzt in indirekter (oder: transponierter) Rede fortgeführt (genauer: in der indirekten Wiedergabe der nicht gehaltenen Rede):47 […] – restabat uerba referre, et precibus spretis fugisse per auia nympham […]
Für den Fall, dass der Leser das Manöver noch nicht ganz durchschaut hat, wird nachträglich für Klarheit gesorgt:48 talia dicturus uidit Cyllenius omnes succubuisse oculos adopertaque lumina somno.
Die erfolgreiche Einschläferung des Wächters hätte eigentlich zur Folge, dass auch den Lesern der «Metamorphosen» das Ende der Geschichte von Pan und Syrinx verborgen bliebe. Dies verhindert der Erzähler. Die Frage ist, warum Ovid sich selbst und seinen Lesern die Sache so kompliziert macht; man könnte sich etwa vorstellen, dass Argus am Ende der Geschichte einschläft oder dass Merkur erst am Ende seiner Erzählung bemerkt, dass Argus eingeschlafen ist. Die Erzähltechnik ist so kunstvoll und so aufwändig, dass der Leser nicht umhin kann, sich Fragen zu stellen, Fragen etwa wie die folgenden: Warum will Merkur eigentlich Argus mit Erzählungen einschläfern? Warum schläft Argus ein? Und warum schläft er genau an dieser Stelle der Erzählung ein? Die erste Frage ist nur scheinbar leicht zu beantworten. Iuppiters Auftrag lautete, Merkur solle Argus töten, um Io zu befreien. Nun ist Merkur der Gott der Diebe und als Viehdieb notorisch, so dass die Entführung einer Kuh für ihn keine große Schwierigkeit darstellen sollte. Der Aufwand, den die Einschläferung des Wächters mit Hilfe von Erzählungen bedeutet, scheint übertrieben, zumal der Erzähler auf Merkurs diebischen Charakter hinweist. Zu seiner Tarnung als Hirte gehören capellae abductae (V. 676 f.) – wenn wir Tarrant folgen, der in seiner Ausgabe (2004) eine Lesart von recentiores in den Text aufgenommen hat (statt adductae). Aber falls wir bereit sind, diese Ungereimtheit zu akzeptieren, folgt gleich die nächste. Zu Merkurs Ausrüstung gehört, wie einleitend gesagt wird, eine virga somnifera (V. 671 f.); als sich Merkur als Hirte verkleidet, muss er zwar seine göttlichen Attribute (die Flügelschuhe usw.) ablegen, aber, und das wird ausdrücklich betont, diese Zauberrute behält er.49 Zum Einsatz aber kommt sie erst post festum (V. 716), als Argus bereits schläft. Dass Merkurs Fähigkeiten als Viehdieb und Zauberer, obwohl sie mehrfach im Text erwähnt werden, für den Verlauf der Handlung keine Rolle spielen, ist auf der Ebene der Geschichte nicht plausibel zu machen, wohl aber auf der der Erzählung. Auf der Ebene der 47
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Ov. met. 1,700 f.: «Es fehlte noch die wörtliche Rede, es fehlte noch, dass die Nymphe die Bitten verschmähte und durch wegloses Gebiet floh […].» Ov. met. 1, 713 f.: «Solches wollte der Gott von Kyllene sagen, doch er sah, dass alle Augen zugefallen und vom Dunkel des Schlafs übermannt waren.» Ov. met. 1,675: Tantummodo uirga retenta est. Die Merkwürdigkeit ist von Konstan (1991, 17 f.) und Fredericks (1976–1977, 245) notiert worden.
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Geschichte ist die Einschläferung mit Hilfe von Erzählungen sinnlos, sinnvoll ist es dort, wo das Erzählen selbst Thema wird. Allerdings wird die Wirkung des Erzählens negativ beschrieben, da sich ja Argus buchstäblich zu Tode langweilt. Und damit sind wir bei der Frage, warum Argus einschläft. Dass dieser Umstand der Erklärung bedarf, ergibt sich aus der einleitenden Vorstellung des Argus, wo es heißt, von seinen 100 Augen ruhten jeweils nur zwei, so dass er rund um die Uhr zu 98 % wach ist. Es müssen also besonders schwer wiegende Gründe sein, die die ungewöhnliche Wachsamkeit besiegen. Eine erste Erklärung, die vorgeschlagen wurde, scheint mir nicht überzeugend, die nämlich, dass Argus eine schöne Liebesgeschichte erwartet habe, als Merkur von Pan und Syrinx zu erzählen begonnen habe, und dass er das Interesse verloren habe, nachdem Syrinx als jungfräuliche Anhängerin Dianas vorgestellt worden sei.50 Das ist nicht überzeugend, weil Argus kein erotisches, sondern ein aitiologisches Interesse bekundete (die Erfindung der Flöte). Eine andere Erklärung macht die expositorischen und beschreibenden Verse, mit denen Merkur die Erzählung einleitet, dafür verantwortlich;51 aber diese Erklärung beachtet nicht, dass Argus einschläft, nachdem der Kern der Handlung, die Konfrontation von Gott und Nymphe, erreicht ist. Plausibler scheinen mir Erklärungen, die berücksichtigen, dass die Erzählung von Pan und Syrinx in doppelter Weise die letzte in einer Reihe von Erzählungen ist;52 ihr gehen längeres Flötenspiel und diverse Erzählungen voraus (Ov. met. 1,682–684). Der Ausdruck multa loquendo impliziert dabei nicht nur, dass Merkur viele Geschichten zu erzählen weiß, sondern auch, dass dabei eine gewisse Willkür waltet, dass also etwa die Regeln kunstvoller variatio nicht beachtet werden.53 Die einschläfernde Wirkung dürfte also auf einer langweiligen Reihung von einander ähnelnden Erzählungen beruhen. Was Merkur vor der Geschichte von Pan und Syrinx erzählt, erfährt der Leser nicht, aber es liegt nahe zu vermuten, es handle sich um vergleichbare Geschichten, zumal da er selbst vor Merkurs Erzählung zwei Geschichten gelesen hat, die der von Pan und Syrinx thematisch und strukturell verwandt sind: die von Apoll und Daphne und die von Iuppiter und Io. Dass Ovids Leser anders als Argus nicht einschläft, beruht darauf, dass der extradiegetische Erzähler diese Reihe von Erzählungen kunstvoll variiert, etwa, indem er sie ineinander schachtelt, so dass die Erzählung von Iuppiter und Io durch die Argus-Handlung mit der eingelegten Erzählung Merkurs unterbrochen wird; und natürlich trägt nicht zuletzt die denkbar raffinierte Kombination von zwei Erzählern für eine Geschichte dazu bei, den Leser bei Laune zu halten. Es gibt aber noch ein weiteres Mittel, das verhindert, dass die 50
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Gerlinde Bretzigheimer, Diana in Ovids «Metamorphosen», Gymnasium 101 (1994), 506–546, hier 515 mit Anm. 39. P. Murgatroyd, Ovid’s Syrinx, CQ 51 (2001), 620–623, hier 621. Mit dem Verhältnis von Wiederholung und Variation (in Bezug auf die Daphne-Erzählung) befassen sich insbesondere: Hermann Fränkel, Ovid. Ein Dichter zwischen zwei Welten, Darmstadt 1970, 93 mit Anm. 247; Wulff 1987, 65–76; Betty Rose Nagle, Two miniature carmina perpetua in the Metamorphoses: Calliope and Orpheus, GB 15 (1988), 99–125, hier 99 f.; Schmidt 1991, 104 f.; Stephen M. Wheeler, Narrative dynamics in Ovid’s Metamorphoses, Tübingen 2000 (Classica Monacensia 20), 8; Anastasios D. Nikolopoulos, Ovidius Polytropos. Metanarrative in Ovid’s Metamorphoses, Hildesheim 2004 (Spudasmata 98), 125 f. Eine andere, wie ich meine, nicht überzeugende Deutung hat Konstan (1991) vorgeschlagen: Dass der Leser, anders als Argus, wach bleibe, sei auf die unterschiedliche emotionale Beteiligung am Geschehen zurückzuführen; der Leser werde durch die Erotik der Erzählung gefesselt, während Argus keine Empathie mit den Figuren der Erzählung zeige. Zu multa vgl. etwa Ov. met. 8,176 und 14,198.
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Reihe von ähnlichen Erzählungen eintönig wird; Genette nennt es «Anisochronie», ein Terminus, der nichts anderes meint, als dass das Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit variiert, wobei die Erzählzeit sozusagen durch den Textumfang gemessen wird.54 Wenn wir nur die beiden Erzählungen ins Auge fassen, die besonders enge Parallelen aufweisen, die von Apoll und Daphne und die von Pan und Syrinx, so zeigt sich, dass die DaphneErzählung 120 Verse umfasst, während die Syrinx-Erzählung (in der ja genau das Gleiche passiert) in nur 24 Versen erzählt wird. Und diese Kürzung betrifft auch die Reden der Figuren. Am Ende der Daphne-Erzählung steht eine Rede, die Apoll an den neuen Lorbeerbaum richtet; auch wenn Daphne nun nicht mehr seine Gattin sein könne, so solle doch eine besondere Beziehung zwischen Gott und Baum bestehen bleiben (Ov. met. 1,557–565). Diese acht Verse umfassende Rede ist in der Syrinx-Erzählung auf einen weniger als einen Vers umfassenden Satz (der mutatis mutandis das Gleiche besagt) reduziert (Ov. met. 1,710). Noch deutlicher ist das Phänomen in den Worten, mit denen der Gott jeweils um die Nymphe wirbt. Apoll stellt sich, wie wir gesehen haben, ausführlich mit seinen Vorzügen und Leistungen vor. Die ganze Rede, die von der Prahlsucht des jugendlichen Gottes und von der Torheit des Verliebten geprägt ist,55 umfasst 21 Verse (Ov. met. 1,504–524); weniger als den halben Umfang hat die Rede, die kurz darauf Iuppiter an Io richtet, inhaltlich darin vergleichbar, dass auch sie eine hohle Demonstration göttlicher Macht bietet, was dann auch ein rasches Ende zur Folge hat (Ov. met. 1,589–597). Wie sieht die entsprechende Passage in Merkurs Erzählung aus? Eine wörtlich angeführte Rede des Gottes gibt es dort nicht, und dies, obwohl sie vom internen Erzähler vorgesehen war (Ov. met. 1,700). Es ist der extradiegetische Erzähler, der genau dies verhindert, indem er Argus genau an dem Punkt einschlafen lässt, an dem die Rede einsetzen sollte.56 Wir haben also einen doppelten Abbruch von Rede an dieser Stelle, da der Erzähler zum einen Merkurs Worte enden lässt, zum anderen die Anführung einer Rede Pans im Keim erstickt. Nun wird Merkurs Geschichte vom externen Erzähler zu Ende geführt, allerdings ohne dass zugleich auch die angekündigte Rede Pans referiert wird. Aber auch wenn dem Leser der Inhalt der Worte Pans vorenthalten wird, weiß er doch, was Pan zu Syrinx gesagt hätte: das Gleiche, was Apoll zu Daphne und was Iuppiter zu Io gesagt hat. Die strukturellen Parallelen machen das unmissverständlich; dazu kommt eine wörtliche Entsprechung. Denn das einzige Wort, das den Inhalt von Pans Rede andeutet (precibus in V. 701), weist auf den Anfang von Apolls Rede zurück (V. 504: precor); Pans preces sind die gleichen, die Apoll in seiner Rede vorbringt.57 Eine ganze Reihe von Elementen sorgt also dafür, dass in den Geschichten über die Liebschaften der Götter zugleich die Kunst des Erzählens selbst thematisiert wird. Da ist zum 54 55
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Gérard Genette, Die Erzählung, München 21998, 61–68. Z. B. Ov. met. 510 f.: Aspera qua properas loca sunt. moderatius, oro, / curre fugamque inhibe; moderatius insequar ipse. («Rau ist die Landschaft, in die du eilst. Lauf bitte gemächlicher und verlangsame die Flucht; ich werde dir auch gemächlicher folgen.») Bisherige Antworten auf die Frage, weshalb Argus gerade hier einschläft, ignorieren in der Regel die Ankündigung der Rede. Eine Ausnahme ist Konstan: Argus lasse sich von der Musik der Flöte bezaubern, nicht aber von der Erzählung ihres Ursprungs (1991, 18 f.). Wulff (1987, 71) sieht die Parallelität, ohne auf den Rhythmus-Effekt einzugehen. Fuhrer erkennt in preces (V. 701) den Appell an die Fähigkeit des Lesers, aus den zwei vorausgehenden Werbereden die dritte zu konstruieren (1999, 359).
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einen das Motiv der Einschläferung durch Erzählungen, das das Thema etabliert, insbesondere dadurch, dass alternative Handlungsoptionen (Diebstahl oder Einsatz der Zauberrute) keine Verwendung finden; dann aber die mehrfachen gekürzten Reden. Der Erzähler gibt sich als Freund des Lesers, der ihn vor Langeweile bewahrt, indem er im rechten Moment seinen Figuren das Wort entzieht; am auffälligsten in der Erzählung von Pan und Syrinx, wo er durch sein Eingreifen mit einem Mal gleich zwei Götter am Reden hindert, Merkur an der Fortsetzung der Erzählung und Pan an seinen Liebesschwüren. Mithilfe der strukturellen und der verbalen Parallelen wird der Leser aber auf das Tun des Erzählers aufmerksam gemacht. Der Leser, der das erste Buch im Zusammenhang liest und bis zur Erzählung von Pan und Syrinx gelangt ist, erkennt, dass der Erzähler durch sein Eingreifen verhindert, dass Pan ein Liebeswerben entfalten kann, wie er (der Leser) es schon von Iuppiter gehört hat. Das Werben Iuppiters ist aber selbst wiederum schon eine (durch das Eingreifen des Erzählers) verkürzte Version von Liebesschwüren, verkürzt in Relation zur frühesten Fassung, zum Werben Apolls um Daphne. Und damit nicht genug, auch diese ersten liebenden Worte hat der Erzähler verkürzt; und er hat auch in diesem ersten Fall den Leser darüber informiert, dass er das tut (Ov. met. 1,525): plura locuturum. Wir haben es also mit einer aufeinander abgestimmten Folge von drei Kürzungen zu tun: Apolls Rede wird vorzeitig beendet, die Iuppiters auch, aber noch früher, und Pan darf gar nichts mehr sagen, von seinen schönen Worten bleibt nur eine denkbar kurze Inhaltsangabe. Wir haben zwei Typen von verba imperfecta in den «Metamorphosen» betrachtet, zum einen das Verstummen von Figuren durch einen Eingriff des jeweiligen Erzählers, wodurch sich dieser das Wohlwollen des Lesers verdient, den er vor langweiliger Weitschweifigkeit bewahrt, zum anderen das Verstummen von Figuren in Verwandlung oder Tod, wobei der Verlust des Sprechvermögens das Ende der menschlichen Existenz markiert. Auch in diesem Fall kann, wie die Erzählung von Philemon und Baucis zeigt, die Reaktion des Rezipienten relevant werden; er ist es, der gegebenenfalls die Worte oder die Erzählung der Sterbenden weiter tradiert. Im ersten Buch von Ovids «Tristien», der ersten Elegiensammlung, die der Dichter nach seiner Verbannung ans Schwarze Meer publiziert hat, erscheint dieses Konzept in verwandelter Form. Nun ist es der Dichter der «Metamorphosen», der fiktionalisiert wird, der selbst zu einer literarischen Figur wird, zu einer Figur, die im Exil verstummt. Wie die Gestalten der «Metamorphosen» durch die Verwandlung daran gehindert werden, das, was sie noch zu sagen hätten, zur Sprache zu bringen, so wird ihr Dichter in den Elegien des Exils zu einer Figur, die durch die Verbannung zum Schweigen gebracht wird. Dieser Zusammenhang wird gleich im ersten Gedicht der Sammlung hergestellt, wo es heißt, nun, nach der Verbannung, könne das Schicksal des Dichters zu den verwandelten Gestalten der «Metamorphosen» gerechnet werden.58 In Elegie 1,3, der poetischen Erinnerung an den Abschied von Rom, zitiert der Dichter den Abbruch von Apolls Liebeswerben um Daphne, als er die Trennung von Gattin und Freunden vergegenwärtigt:59 […] Sermonis uerba inperfecta relinquo. 58
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Ov. trist. 1,1,117–120. Ralph Hexter untersucht die Bedeutung der mittelalterlichen Rezeption von Ovids Werken für die Entwicklung von Diskursen über ein körperliches erotisches Subjekt; dabei spielt die unterschiedliche Weise der Fiktionalisierung des poetischen Ich bei Ovid eine zentrale Rolle (Ovid’s body, in: James I. Porter [Hg.], Constructions of the classical body, Ann Arbor 1999, 327–354). Ov. trist. 1,3,69: «Ich lasse die Worte des Gesprächs unvollendet zurück.»
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Dieses erzwungene Ende der Zwiesprache wird aber in den «Tristien» Teil eines Konzeptes, das die Verbannung in die Fremde metaphorisch als Tod begreift. Elegie 1,7 erzählt, der Dichter der «Metamorphosen» habe, als er zum Leben im Exil verurteilt worden sei, das unfertige Werk dem Feuer übergeben:60 Sic ego, non meritos, mecum peritura, libellos, inposui rapidis uiscera nostra rogis.
Zwei Motive sind in diesen Versen verbunden; die Vorstellung von Werken, die Kinder ihres Schöpfers sind, und das metaphorische Verständnis vom Exil als Tod. Da die antiken Vergilbiographien berichten, der Dichter habe testamentarisch die Verbrennung der noch unfertigen Aeneis verfügt, 61 liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei der angeblichen Verbrennung der «Metamorphosen» um eine poetische Fiktion handelt, die die «Metamorphosen» neben das Werk des großen Vorgängers stellen soll.62 Zugleich aber wird erneut die Vorstellung von der Verbannung als Tod evoziert. Am Ende der Elegie 1,7 steht denn auch eine Art von testamentarischer Verfügung; die «Metamorphosen», so heißt es da, sollen nun doch leben, allerdings solle der Leser wissen, dass das Werk «gleichsam vom Scheiterhaufen seines Schöpfers» gerissen worden sei und deshalb Spuren fehlender Redaktion aufweise (Ov. trist. 1,7,35–40). Erscheinen also in der frühen Exildichtung Ovids die «Metamorphosen» selbst als verba imperfecta, als Werk einer Dichterfigur, die im metaphorischen Tod der Verbannung verstummt ist, so spricht der persönliche Epilog des Dichters am Ende des Werkes selbst vom Fortleben der – unvollendeten – Rede über den Tod des Sprechers hinaus. In Formulierungen, die an das Schlussgedicht von Horazens erster Odensammlung erinnern, verheißt der Dichter seinem Werk dauernden Bestand und knüpft daran die Hoffnung auf bleibenden Ruhm, der das Fortleben des Dichters selbst gewährleistet:63 Parte tamen meliore mei super alta perennis astra ferar, nomenque erit indelebile nostrum; quaque patet domitis Romana potentia terris ore legar populi, perque omnia saecula fama (si quid habent ueri uatum praesagia) uiuam.
Das letzte Wort der «Metamorphosen» verbindet noch einmal die Kunst des Dichters und Erzählers mit dem Fortleben. Wenn der Dichter lebt, solange seine Dichtung gelesen wird, ist es der Leser, der darüber bestimmt, wie lange ein Dichter lebt.64 60
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Ov. trist. 1,7,19 f.: «So legte ich die Bücher, die das nicht verdienten, auf den Scheiterhaufen, der sie verzehren sollte; mein eigen Fleisch und Blut sollte mit mir zugrunde gehen.» Plin. nat. 7,114; Vita Donatiana (Sueton.) 39–41. Stephen Hinds, Booking the return trip: Ovid and Tristia 1, PCPS 31 (1985), 13–32, hier 21–27; Gareth D. Williams, Banished voices. Readings in Ovid’s exile poetry, Cambridge 1994 (Cambridge Classical Studies), 80–83. Ov. met. 15,875–879: «Doch mit dem besseren Teil meiner selbst werde ich mich für immer hoch über die Sterne erheben, und mein Name wird unzerstörbar sein. Und so weit Roms Macht über bezwungene Länder reicht, werde ich vom Mund des Volkes gelesen werden und werde durch meinen Ruhm über alle Jahrhunderte hinweg (wenn die Prophezeiungen der Sänger etwas Wahres sagen) leben.» Das vom jeweiligen Autor unabhängige Fortleben von Literatur hat der amerikanische Literaturwissenschaftler Daniel Heller-Roazen in einer allegorischen Deutung von Ovids Io-Erzählung thematisiert (2008, 130–136), indem er das Motiv der Buchstaben im Sand, die die wahre (oder frühere) Identität der in eine Kuh verwandelten Nymphe enthüllen, auf die Wandlungsfähigkeit der Sprache (und das muss im Kontext
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Dessen Rezeption des Werkes wird freilich in eigentümlicher und in der Tat fast singulärer Weise formuliert:65 ore legar populi. Man könnte zwar die Erwähnung des Mundes als eine Art von redundantem Ausdruck auffassen, und in der Tat gibt es in der römischen Dichtung Verbindungen wie ore loqui («mit dem Mund reden»), die von antiken Kommentaren (zu Vergil) als Pleonasmus erklärt werden.66 Ich denke aber nicht, dass dies die richtige Erklärung für ore legere wäre.67 Zwei Konnotationen scheinen mir plausibel: zum einen eine Verbindung mit gängigen lateinischen Ausdrücken wie in ore esse oder in ore versari, die besagen, dass eine Person oder Sache Gegenstand allgemeinen Interesses ist, dass jemand Ruhm genießt. Der Vers würde dann also besagen: «solange ich vom Volk gelesen werde und so in aller Munde bin.» Eine zweite mögliche Konnotation steht mit der beschriebenen Bedeutung des os für die römische Konzeption menschlichen Lebens in Verbindung, und zwar in einer speziellen Variante. Nach einer gut bezeugten römischen Sitte fängt der Verwandte eines Sterbenden dessen letzten Atemzug mit dem eigenen Mund auf, damit der Verstorbene gleichsam im Angehörigen weiterlebt. Für diesen Akt der Pietät ist der Ausdruck ore legere («mit dem Mund aufnehmen») terminologisch.68 Wenn also der Epilog der «Metamorphosen» das Weiterleben des Dichters durch den Leser thematisiert und dabei den (im eigentlichen Sinne) merkwürdigen Ausdruck ore legere gebraucht, dann könnte bei einem römischen Leser die Assoziation an die Weitergabe des Lebensatems evoziert werden.69
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heißen: die Wandlungsfähigkeit literarischer Sprache) bezog, die ihren jeweiligen Sprecher überdauert – aber immer nur als eine andere (2008, 136): «Die Metamorphose ist das Medium jeglicher Sprache, und jedes Wort besteht am Ende aus Buchstaben, vom Fuß einer Nymphe in den Sand gezeichnet, die keine mehr ist.» Er verknüpft diese Interpretation (2008, 135 f.) mit einem Zitat aus Joseph Brodskys Nobelpreisrede von 1987 (Das unverwechselbare Gesicht, in: ders., Der sterbliche Dichter. Über Literatur, Liebschaften und Langeweile, Frankfurt am Main 22003, 59–75), das an den Epilog der «Metamorphosen» erinnert (ohne dass ein solcher Bezug explizit gemacht würde); darin bezeichnet Brodsky die Dichter als «Existenzmittel der Sprache» und fährt fort (ibid. S. 74): «Ich, der ich diese Zeilen schreibe, werde aufhören zu sein, genau wie du, der du diese Zeilen liest. Aber die Sprache, in der sie geschrieben sind und gelesen werden, wird bleiben, nicht nur, weil die Sprache dauerhafter, sondern auch weil sie wandlungsfähiger ist als der Mensch.» Brodsky und Heller-Roazen beziehen Dauer und Wandel auf die Sprache als das Medium der Literatur; Ovid verweist auf die Rolle des Lesers; dem entspricht am Ende der Sphragis der «Tristien» der Dank an den Leser (trist. 4,10,125–132). Ov. met. 15,878: «Ich werde vom Mund des Volkes gelesen werden.» Serv. Verg. Aen. 2,524: Ore effata abundat ‹ore›. est autem figura pleonasmos; vgl. ThlL IX 2, 1079,42–44. Auch ein Bezug auf die Sitte lauten Lesens wäre im Kontext irrelevant (gegen ThlL VII 2, 1128,34 f.; Franz Bömer [Hg.], P. Ovidius Naso, Metamorphosen, Kommentar, Buch XIV–XV, Heidelberg 1986, ad loc.; ähnlich Georg Luck [Hg.], P. Ovidius Naso, Tristia, Bd. 2, Heidelberg 1977, zu Ov. trist. 1,7,25 f.). ThllL VII 2, 1124,16–19; z. B. Verg. Aen. 4,683–685 und Serv. ad loc. Enterline hat das Weiterleben durch den Mund des Volkes auf dessen lautes Lesen bezogen und so die Konnotation einer Weitergabe des Lebensatems verkannt, obwohl sich diese zu ihrer These gut fügen würde (2000, 52–55). In anderer Bedeutung kommt die Junktur ore legere, soweit sie nicht mit einem qualifizierenden Adjektiv verbunden ist (z. B. Ov. ars 3,344), nur bei Ovid und bei Martial vor; letzterer rezipiert erkennbar Ovid (3,95,7 f.): Ore legor multo notumque per oppida nomen / non expectato dat mihi fama rogo. («Von vieler Menschen Mund werde ich gelesen, und mein Ruhm schenkt mir, ohne auf den Scheiterhaufen zu warten, einen Namen, den man in den Städten kennt.») Vgl. auch Enn. fr. varia 17 f. (epigr. II = Cic. Tusc. 1,34.117, Vahlen 2 p. 215): Nemo me lacrimis decoret nec funera fletu / Faxit. cur? volito vivos per ora virum. («Niemand soll mich durch Tränen ehren oder mir weinend ein Begräbnis ausrichten. Warum? Lebend bewege ich mich in den Mündern der Menschen.») Ov. trist. 3,14,23 f.: Nunc incorrectum populi peruenit in ora / in populi quicquam si tamen ore meum est. («Nun gelangte es ohne Korrekturen in die Münder des Volkes, wenn denn überhaupt etwas von mir im Mund des Volkes ist.»)
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Die Figur des Dichters, der als Verbannter vor der Zeit verstummt, der eine Metamorphose bzw. einen vorweggenommenen Tod erleidet, der nach seinem metaphorischen oder tatsächlichen Tod in seinen Lesern fortlebt, zeigt damit die gleichen konzeptuellen Elemente, wie sie in den Figuren der «Metamorphosen» selbst zu finden waren: die Sprache als konstitutives Merkmal einer menschlichen Existenz, die Verbindung von Leben und Erzählung, das Verstummen im Tod, die Abhängigkeit des Sprechers, Erzählers oder Dichters von einem geneigten Publikum und, nicht zuletzt, das Fortleben in der Rezeption. Dichtung, so könnte man kurz formulieren, braucht zum Leben Leser.70
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Überarbeitete Fassung eines Vortrages, den ich in Münster, Göttingen und im Wintersemester 2008/2009 als Antrittsvorlesung in Eichstätt gehalten habe. Den Teilnehmern der Diskussionen danke ich für fruchtbare Kritik und vielfältige Hinweise.
Christian Kiening
Narcissus und Echo. Medialität von Liebe und Tod I Liebessemantiken oszillieren zwischen Einheit und Zweiheit oder Vielheit. Zugleich zwischen den Setzungen und den Aufhebungen des Medialen. Sie umkreisen einerseits das, was zwischen den Liebenden steht: Räume und Mauern, Blicke und Worte, Schriftstücke und Objekte – allgemein: Formen des Dazwischen, Medien und Medialitäten, die ebenso trennen wie verbinden, unterscheiden wie vermitteln.1 Andererseits das, was diese Formen des Dazwischen aufzuheben vermöchte: körperliche Nähe, sexuelle Vereinigung, ekstatische Momente, bis hin zum gemeinsamen Tod. «Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, | Ist dem Tode schon anheimgegeben», heißt es am Beginn von August von Platens berühmtem Tristan-Gedicht (1825). Und kontrapunktisch am Ende: «Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, | Ach, er möchte wie ein Quell versiegen!»2 Narrativ entfaltet transzendiert allerdings der Liebestod das Mediale höchstens punktuell, zum Beispiel hinsichtlich einer Seeleneinheit, die dann nicht mehr der (irdischen) Kommunikation bedürfte. Doch schon daran, dass von einer solchen Seeleneinheit meist nicht mehr viel zu erzählen ist, wird deutlich: Die unio fasziniert, narrativ zumindest, weniger als reelle denn als potentielle. Der Liebestod erscheint in den bekannten Werken der abendländischen Literatur oft als verzögerter, ungleichzeitiger oder einseitiger. Er interessiert in seinen Aufschüben und Verschiebungen, lässt sich doch an diesen zeigen, dass mit dem Tod nicht nur die Grenzen des Daseins, sondern auch die des Medialen auf dem Spiel stehen. Der Tod erlaubt, handlungsimmanent alles Dazwischen aufzuheben, poetologisch aber die Vermitteltheiten überhaupt als solche zu setzen und zu kennzeichnen. Er ist eine ‹Figur›, die mediale Intensitäten ermöglicht, indem sie das Mediale in seinen Paradoxien fixiert3 – so wie Liebe ein Code ist, der auf paradoxe Weise «Kommunikation unter weitgehendem Verzicht auf Kommunikation intensivier[t]».4 Liebe und Tod zeigen sich so medial als komplementär. Der eine scheint zu erfüllen, worauf die andere gerichtet ist: eine Überwindung des nur Mittelbaren und Vermittelten. Tatsächlich aber machen sie dieses gerade sichtbar, indem sie es zu überschreiten vorgeben. Damit ist an ihnen besonders pointiert zu beobachten, was mediale Inszenierungen generell prägt: die Verschränkung von Selbstüberschreitung und Selbstausstellung.
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Vgl. Schneider (1994). August von Platen, Werke (ed. Wölfel/Link) 69. Vgl. Kiening (2003). Luhmann (1982) 29.
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Liebesbriefe etwa spielen mit der Spannung zwischen einer faktischen Absenz des/der Geliebten und einer metonymischen Präsenz in der Schrift.5 Diese materielle Schrift erscheint als Spur des/der Andern. Sie ist gezeichnet zum Beispiel von Blut oder Tränen und in der Lage, Affekte zu übertragen – am intensivsten dort, wo es so aussieht, als führe von der Spur kein Weg mehr zu ihrer Ursache zurück. Mit dem angedeuteten Tod des Schreibenden kann die Schrift nicht mehr dem Körper Platz machen, den sie substituierte. Doch kann sie zum Ort einer Bewahrung werden, einer Dauer, einer Latenz, einer immer neuen Möglichkeit, im Imaginären zu erneuern, was real entzogen ist. In Ovids Heroidenbriefen schreibt Dido an Aeneas: «Ich wollte, Du hättest meinen Anblick, während ich schreibe, vor Augen. Ich schreibe und ein troisches Schwert liegt in meinem Schoß. Über meine Wangen rinnen die Tränen auf das blanke Schwert, das schon bald statt mit Tränen mit meinem Blut benetzt sein wird.»6 Eine andere Selbstmörderin, Canace, schreibt an ihren geliebten Bruder Macareus: «Wenn Teile meines Briefes verwischt und unleserlich sind, dann deshalb, weil die Schreibrolle vom Blut ihrer Besitzerin beschmiert sein wird. Meine Rechte hält die Feder, meine Linke ein blankes Schwert, in meinem Schoß liegt das aufgerollte Papier. So sieht die Tochter des Aeolus aus, die ihrem Bruder schreibt.»7 Die Schrift suggeriert, sie sei authentisches Zeugnis verzweifelter Liebe, sie bewahre einen letzten Moment, über den sie zugleich hinausweist, indem sie imaginiert, was sie selbst sein wird: verwischt von Tränen, verschmiert von Blut. Die Schrift erscheint so gleichzeitig als Produkt der Feder und des Schwertes: die eine Bedingung ihrer Möglichkeit, das andere Manifestation ihres Endes und ihrer Grenze. Beide zusammen markieren den Zwiespalt zwischen einer auf Partizipation angelegten Unmittelbarkeit und einer auf Reflexion zielenden Mittelbarkeit. Diese Mittelbarkeit zeigt sich zum Beispiel daran, dass die Schrift den gegenwärtig werdenden Moment medialisiert, indem sie ihn als bildlichen fasst: «Ich wollte, Du hättest meinen Anblick, während ich schreibe, vor Augen.» – «So sieht die Tochter des Aeolus aus, die ihrem Bruder schreibt».
II Auf raffinierte Weise verschränken Texte wie diese Präsenz und Absenz, Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit, und dabei setzen sie die medialen Gegebenheiten ebenso ein, wie sie sie ausstellen. Das Erzählen von Liebe, Begehren und Tod entfaltet seine höchste Eindringlichkeit nicht trotz der medialen Reflexivität, die es begleitet, sondern mit und in dieser. Das ist kaum irgendwo besser zu beobachten als in der Erzählung von Narcissus und Echo aus Ovids Metamorphosen, die auch im Hintergrund von Platens eingangs zitiertem Tristan-Gedicht steht. Die Situation ist dort allerdings abgewandelt: Keine Selbstbegegnung findet statt, die Todessehnsucht ergibt sich unmittelbar aus dem Charakter des Schönen. Nicht betrachtet sich der Liebende im Wasser, er wird metaphorisch selbst zu diesem und möchte 5 6
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Vgl. an neueren Beispielen Stauf/Simonis/Paulus (2008). Ovid, Heroides (ed. Hoffmann/Schliebitz/Stocker) Nr. VII, Z. 183–186, 82 f.: adspicias utinam, quae sit scribentis imago! | scribimus, et gremio Troicus ensis adest, | perque genas lacrimae strictum labuntur in ensem, | qui iam pro lacrimis sanguine tinctus erit. Ebd., Nr. XI, Z. 1–5, 114 f.: Sique tamen caecis errabunt scripta lituris, | oblitus a dominae caede libellus erit. | dextra tenet calamum, strictum tenet altera ferrum, | et iacet in gremio charta soluta meo. | haec est Aeolidos fratri scribentis imago.
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mit ihm in die Natur eingehen. Eine bittersüße Todesästhetik situiert sich hier im Chiasmus zweier Gegensätze: Leben und Tod, Kunst und Natur, und gibt sich zugleich klassizistisch: Aufgerufen ist der ‹Quell› einer Tradition, in dessen ‹Versiegen› die Poesie ihre eigene Erfüllung legt. Diese Anverwandlung bezeugt ein weiteres Mal die unerschöpfliche Ausstrahlung von Ovids Erzählung – sowohl, was die Verbindung von Liebe und Tod, als auch, was den poetologischen Subtext betrifft. Kaum eine der vielen wirkungsreichen Geschichten aus den Metamorphosen hat so das Imaginäre des Abendlandes geprägt wie die von Narcissus und Echo: die Geschichte des Jünglings, der alle Verehrerinnen und Verehrer verschmäht, auch die Nymphe Echo abweist (die daraufhin zu Stein wird) und dafür gestraft wird damit, dass er seinem eigenen Spiegelbild verfällt, an einer unmöglichen Liebe stirbt, von Echo beklagt und in eine Blume, die Narzisse, verwandelt (III, 339–510).8 Der Gehalt dieser Geschichte verdichtete sich in der Tradition schnell zur ikonischen Formel: der sich selbst im Wasserspiegel nicht-erkennend Erkennende.9 Diese Formelhaftigkeit erlaubte es, in verschiedensten Zusammenhängen die Geschichte anzuzitieren und aufzugreifen, zu modifizieren und zu allegorisieren: N a r z i s s als exemplarische Warnung vor Eitelkeit und Selbstliebe, Verkörperung des sittlich gefährdeten Hofmannes, Erfinder der Malerei, Bild des Poeten, Modell literarischer Selbstbezüglichkeit oder, in der Moderne, als Paradigma von Individualgeschichte und vor allem von Selbsterkenntnis, Selbstbezogenheit und Selbstverfallenheit; E c h o als Prinzip naturgeschichtlicher Wahrheit, als Modell einer paradoxen Koppelung von Verstummen und Wiederholungszwang10 oder als Metapher für die Unterdrückung weiblicher Stimmen11; N a r z i s s u n d E c h o als Beispiele für die Torheit der Liebenden, für unerhörtes Liebesleid, ästhetisierte Todesreflexion oder jüngst auch: mediale Paradoxie. So hat jede Zeit ihr eigenes Bild von Narcissus und Echo entworfen und vor dem Hintergrund der Tradition profiliert. Je neu werden die Elemente der Geschichte konfiguriert, je neu zeigt sich aber auch der Anspruch, die Geschichte nicht nur zu vergegenwärtigen, sondern auch zu deuten, neue Facetten eines Ursprungsmythos ans Licht zu bringen. Die jüngere Forschung lässt diese Facetten mit größerer Deutlichkeit hervortreten – indem sie das historische Momentum der Erzählung genauer zu bestimmen sucht. Diese erhält höhere Tiefenschärfe vor dem Hintergrund zeitgenössischer Modelle: der seit Platon geläufigen Verbindung von Eros, Spiegel und Selbsterkenntnis, dem von Lukrez entworfenen Modell der Sinnestäuschung oder der durch die Stimme geprägten römischen Anthropologie.12 Ein möglicher Bezug ergibt sich auch zur antiken Praktik der Divination, bei der mit Hilfe eines in eine Wasserfläche starrenden, still verharrenden Mediums (meist ein Jüngling) ein magischer Kontakt zu den Toten hergestellt wurde.13 Narzissens Selbsterkenntnis erscheint so als Medienerkenntnis: als Einsicht in die «Unerreichbarkeit und Unberührbarkeit des im Bild Anwesenden»,14 als stufenweise Erfahrung des Medialen als 8
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Zitiert (im Weiteren nur mit Stellenangaben) nach: Ovid, Metamorphosen (ed. von Albrecht). Die Übersetzungen sind gelegentlich im Sinne größerer Nähe zum Original leicht modifiziert. Vgl. die Anthologien von Texten und Bildern: Orlowsky/Orlowsky (1992); Renger (1999). Gehring (2006) 85–110. Lawrence (1991). Hardie (1988) 71–89; wieder in: Hardie (2002) 150–165; Bartsch (2006) bes. 84–96; Vogt-Spira (2002) 27–40. Nelson (2000) 363–389. Kruse (1999) 99–116; ausführlicher in Kruse (2003) 307–343.
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Medialen: Zunächst ignoriert Narcissus das Dazwischen, dann anerkennt er es als Bild und beginnt zu wissen, dass man keinen «gemeinsamen Raum mit seinem Spiegelbild teilen» kann, schließlich ergibt er sich jener nur im Tod stillzustellenden Verstrickung, in der Zerstören und Wiederherstellen des Bildes, Auslieferung an die Erscheinung und Wissen um deren täuschenden Charakter untrennbar geworden sind.15 Die neuere Forschung spricht von Ovids ‹Poetik der Illusion› oder seinem ‹Kino im Kopf›.16 Will man in solchen Ansätzen mehr sehen als nur modische Lesarten, geprägt durch unsere eigene Medienkultur, wird es darauf ankommen, genaue Lektüre und historische Kontextualisierung zu verbinden. Die Geschichte besteht ja nicht nur aus einem solipsistischen Begegnungsszenario. Sie verschränkt auch in intrikater Weise z w e i Figuren, und sie verknüpft gleichzeitig zwei sehr verschiedene Aspekte: die Pointierung einer fatalen Liebesverfehlung und die Inszenierung medialer Grundbedingungen. Entworfen werden Verhältnisse des Begehrens u n d der Wahrnehmung – wobei überdies visuelle und auditive Wahrnehmung so ineinander verwoben sind, dass sich ein feingesponnenes Netzwerk von Verbindungen und Trennungen, Begehren und Verfehlen, Identität und Differenz eröffnet. Sowohl die Monologe des Jünglings wie die sie durchdringenden Kommentare des Erzählers umkreisen das Problem einer Intensität, die ebenso faktisch wie phantasmatisch ist – und dabei auch beständig zwischen Inhalt und Sprache, Gegenstands- und Selbstreferenz kippt. Immer wieder wird die Aufmerksamkeit von der Handlung abgelenkt auf die Oberfläche, das Spiel der Klänge und Wörter, der Wiederholungen und Verschiebungen. Schon am Anfang spitzt Ovid die Spannung zwischen dem vielfachen Begehren, das sich auf Narcissus richtet, und der totalen Abweisung, mit der dieser darauf reagiert, durch zwei parallel konstruierte Verszeilen zu: multi illum iuvenes, multae cupiere puellae – nulli illum iuvenes, nullae tetigere puellae (353/355). Im Ganzen oszilliert die Geschichte zwischen Ereignis und Reflexion, Erzählung und Kommentar, Welt und Sprache. Sie schafft semantische Vieldeutigkeiten und mediale Vielschichtigkeiten.17 Sie kombiniert Elemente verschiedener – erotischer, naturgeschichtlicher, philosophischer – Diskurse, die zugleich poetisiert, mythologisiert und reflektiert werden. Die folgende Lektüre versucht beides im Blick zu behalten: die diskursiven Beziehungen und die innertextuellen Dynamiken – und ihre Berührungen auf dem Schnittfeld des Medialen.
III Im Kern der Geschichte steht die klassische Spannung zwischen Einheit und Zweiheit, die aber hier so zugespitzt ist, dass das Zweite gegenüber dem Ersten sowohl dessen Spiegel wie dessen Anderes ist. Gegen Ende seines langen Monologs stellt Narcissus fest: nunc duo concordes anima moriemur in una («nun vergehen wir zwei miteinander in einer einzigen [oder: als eine einzige] Seele»; III, 473). Doch die Beiden, von denen er spricht, sind nicht Narcissus und Echo. Und auch die Einheit existiert nur als Phantasma. Sie verbindet nicht zwei verschiedene Entitäten. Sie erhält keine Fülle – und produziert doch eine solche. Ovid 15 16 17
De Riedmatten (2008) 195–215, bes. 195–203 (Zitat 201). Hardie (2002); Fondermann (2008). Zum Beispiel werden lexikalisierte Metaphern des Hörens und Sehens (videri, ‹scheinen›) neu mit Bedeutung aufgeladen.
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benutzt das Wort copia, das ebenso die körperliche Nähe wie den verbalen Reichtum meinen kann: Die körperliche Nähe ist es, die von Narcissus verschmäht, Echo vorenthalten und dann auch Narcissus selbst nicht gewährt wird, der verbale Reichtum ist es, der im Text exzessiv ausgespielt wird. Zugleich gewinnt Ovid dem Phantasma der Einheit eine neue Dimension ab, indem er jenes problematische Dazwischen, das die Liebenden trennt, minimalisiert und gerade dadurch als Prinzip enthüllt: nicht ein «weites Meer, nicht ein Weg, nicht ein Gebirge, nicht Mauern mit versperrten Toren» (448 f.) sind es, die, wie etwa in der römischen Liebeselegie von Ovids Zeitgenossen Propertius üblich (I,16–18), Narcissus von seinem begehrten Gegenüber trennen, sondern nur eine Winzigkeit, ein minimum (451), ein wenig Wasser, exigua aqua, durchlässig sogar, reflektierend und rezeptiv, je nach dem transparent oder opak und damit auch geeignet für Täuschungen, für Verwechslungen von Sein und Schein, wie sie die Zeit Ovids faszinierten. Lukrez hatte das ganze vierte Buch von De rerum natura den Bildern und Spiegelbildern, ihren Erscheinungen und Übertragungen, ihren Blendungen und Täuschungen gewidmet und seine Darlegungen auf dem Weg über eine Theorie des Gehörs und der übrigen Sinne schließlich auf eine Behandlung der Erregung, des Begehrens und der Liebe hingeführt.18 Die Faszination an derlei Phänomenen nutzt Ovid und lenkt sie zugleich um – auf die eigene Erzählung und auf deren eigene Art, Fragen aufzuwerfen: Wie sind die Vermittlungsformen von Begehren, Liebe, Wahrnehmung und Verwandlung der Natur selbst eingeschrieben? Wie können sie sowohl beobachtet wie begründet werden? Wie verhält sich das, was man von diesen Vermittlungsformen weiß, zu dem, was in und durch sie geschieht? Der Zusammenhang von Blick, Spiegel, Begehren und Selbsterkenntnis war grundgelegt in Platons Phaidros, auf den Ovid in seiner Ars amatoria Bezug nimmt. Im Phaidros beschreibt Sokrates die Gewinnung der Gegenliebe so: Wie ein Wind oder ein Schall von glatten und starren Körpern abprallend wieder dahin, woher er kam, zurückgetrieben wird, so geht auch die Ausströmung der Schönheit wieder in den Schönen durch die Augen, wo der Weg in die Seele geht, zurück, und wenn sie dort angekommen, befeuchtet sie reichlich die dem Gefieder bestimmten Ausgänge, treibt so dessen Wachstum, und erfüllt auch des Geliebten Seele mit Liebe. Er liebt also, wen aber weiß er nicht, ja überhaupt nicht, was ihm begegnet, weiß er oder kann es sagen, sondern wie einer, der sich von einem anderen Augenschmerzen geholt, hat er keine Ursache anzugeben; denn daß er wie in einem Spiegel in dem Liebenden sich selbst beschaut, weiß er nicht. Und wenn nun jener gegenwärtig ist, so hat auch er gleichwie jener Befreiung von den Schmerzen, ist er aber abwesend, so schmachtet auch er wie nach ihm geschmachtet wird, mit der Liebe Schattenbilde, der Gegenliebe, behaftet. (255c-e)19
Liebe durch den Blick, Entzündung durch ein selbst feuerhaftes Auge, Abwesenheit, Unwissenheit, Schattenbildlichkeit, Echo und Spiegel – alle diese Elemente kehren bei Ovid wieder, doch bezogen nun auf die Dimensionen der Sinnestäuschung und des Selbstverlusts. Nicht um die philosophischen Bedingungen der Maxime nosce te ipsum geht es, sondern um deren erotische Abgründigkeiten.20 Darüber hinaus werden die vorgegebenen Elemente Teil einer Naturgeschichte, deren Pointe darin liegt, dass nicht der Mensch aus der 18 19 20
Vgl. Hardie (2002). Zur Stelle Bartsch (2006), 80–83. Teile der Forschung betrachten hinsichtlich der Frage der Selbsterkenntnis Ovids Geschichte als Umschrift von Sophokles’ Oidipous; Gildenhard/Zissos (2000); Walde (2006).
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Natur, sondern diese aus dem Menschen entsteht: hier also aus Narcissus die bekannte Blume. 21 Vor allem aber gibt es gegenüber anderen Versionen der Narkissosgeschichte, die zur Zeit Ovids bekannt waren (erhalten ist die fragmentarische Version des Konon), zwei Aspekte, die der Erzählung einen ganz neuen Charakter verleihen.22 Zum einen erhält diese einen Rahmen, gekoppelt an die in der griechischen Tradition fest etablierte Figur des blinden Sehers Tiresias. Er kennt aufgrund einer zeitweisen Verwandlung die Liebe aus der Perspektive beider Geschlechter und kann deshalb Jupiter in seiner Meinung, die Frau empfinde die größere Lust in der Liebe, bestätigen. Juno bestraft ihn dafür mit einem Verlust seines Augenlichts, Jupiter verleiht ihm im Gegenzug die Sehergabe. Eben sie ist es, die durch die Narcissusgeschichte bestätigt wird – wodurch zugleich diese selbst als Geschichte und zwar als sich erfüllende in den Blick tritt. «Die erste Probe» seiner wahrsagenden Stimme, d. h. seiner unfehlbaren Orakelsprüche, und die «erste Erfüllung seiner Weissagungen» (prima fide vocisque ratae temptamina) hätte, so heißt es eingangs, die Nymphe Liriope gemacht: die Mutter des Narcissus (III, 339–342). «Das Ereignis wurde bekannt», heißt es am Ende, «und schon hatte es dem Seher in Achaeas Städten den verdienten Ruhm eingetragen, und der Wahrsager hatte einen sehr großen Namen» (Cognita res meritam vati per Achaidas urbes | attulerat famam, nomenque erat auguris ingens; III, 511 f.). Diese Rahmungen signalisieren: Wir werden zurückgeführt an den Ursprungsmoment einer prophetischen Macht der Rede. Und dieser Ursprungsmoment bereitet auch schon die spätere Ikonisierung der Geschichte im Hinblick auf Narcissus vor. Ovid bietet gleich eingangs eine konzentrierte thematische Formel des Geschehens. Gefragt, ob das Kind ein langes Leben haben werde, antwortet Tiresias: si se non noverit (348). Ein Satz von schillernder Uneindeutigkeit. Für prophetische Aussagen charakteristisch, legt er einen Sachverhalt offen und verschleiert ihn zugleich. Seine Pointe besteht darin, dass alle Bedeutungsnuancen in der Geschichte konvergieren: «wenn er sich nicht wahrnimmt», «wenn er sich nicht körperlich begegnet», «wenn er sich nicht erkennt» – all dies wäre auszuschließen, damit das Kind ein langes Leben hätte, und all dies tritt ein und macht die Fatalität der Geschichte aus: Narcissus sieht sich, begehrt den eigenen Körper als einen anderen und erkennt dies, ohne dagegen anzukommen. Die Prophezeiung des Tiresias lenkt somit die Aufmerksamkeit auf die Spannung zwischen Prozess und Resultat, Kausalität und Finalität, Handlung und Text. Ihre Einlösung scheint zunächst aufgeschoben und vollzieht sich doch im gleichen Moment, in dem der Aufschub konstatiert wird. [V]ana diu visa est vox auguris heißt es von der Prophezeiung («lange blieb die Stimme des Sehers inhaltslos» – oder, nimmt man das metaphorische Moment auf, «ohne sichtbare Umsetzung»; 349). Damit ist nicht nur paradox vorausgesetzt, was erst geschehen wird, das Geschehen zeigt sich auch von vornherein als Koppelung von Sehen und Hören. Verbunden sind eine mächtige vox und ein ihr korrespondierender und sie konkretisierender visus, und diese Verbindung erweist sich schnell als intrikat: Der Blick auf die Schönheit von Narcissus weckt das Begehren, das von den Echoworten auf Narcissus zurückgeworfen und zugleich übertragen wird. Die Einlösung der Prophezeiung ist aber auch auf eine bestimmte Schwelle verlegt: das Alter an der Grenze von Knabe und Jüngling (puer iuvenisque videri; 352) und die Situation eines auf beide Geschlechter 21 22
Vgl. Schmidt (1991). Vergleich mit Konon bei Manuwald (1975) 349–372.
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bezogenen Begehrens (multi illum iuvenes, multae cupiere puellae; 353). In der Narcissusgeschichte bleibt damit ein Moment der Tiresiasgeschichte wirksam: die Frage nach einem geschlechterspezifischen Begehren. Sie wird aber durch die folgenden Ereignisse weniger beantwortet als verschoben: auf die grundsätzlichere Frage nach dem Verhältnis, der Verbindung, der Vermittlung zwischen dem Selbst und dem Anderen. Das ist der zweite Akzent gegenüber der Tradition. Ovid hat durch Einführung der Echofigur der Narkissosgeschichte neue Sinnschichten verliehen.23 Echo galt, wie es scheint, in der älteren Tradition häufig als Angebetete des Pan, der sich, von ihr verschmäht, rächte. Werden bei Lukrez die Echo-Orte, die Satyrn, Nymphen und der flötespielende Pan in einem Atemzug genannt (IV, 580–589), erscheint im späteren hellenistischen Roman von Longos, Daphnis und Chloe, Echo in einer kleinen Binnengeschichte als gebildetes und musikalisches Wesen, das Pan, «weil er ihr den Gesang beneidete und nicht zum Genuß ihrer Reize gelangt war», den mit Wahnsinn geschlagenen Schäfern und Ziegenhirten preisgibt: «Diese zerrissen sie, wie Hunde oder Wölfe, und zerstreuten die noch singenden Glieder über die ganze Erde. Und die Erde bedeckte, den Nymphen zuliebe, die sämtlichen Glieder, damit sie die Kraft des Gesanges bewahrten und nach dem Willen der Musen ihre Stimme erschallen ließen und alles nachahmten, wie vormals die Jungfrau: Götter, Menschen, Tonwerkzeuge und Tiere; auch selbst den flötenden Pan» (III, 23). Bei Ovid fällt die mythische Begründung für das physikalische Phänomen des Echos anders aus: Nicht die Zerstückelung des Körpers, sondern dessen Verschwinden wird zur Bedingung der Möglichkeit ubiquitärer Resonanz. Auch sind die Rollen vertauscht: nicht Echo, sondern Narcissus ist der Unnahbare. Zugleich aber sind die Erscheinungs- und Kommunikationsformen der Beiden ineinander verwoben. Sichtbar gemacht und entfaltet wird die Fixierung auf das eigene Selbst nunmehr anhand einer Figur, die selbst schon einen spezifisch medialen Status besitzt. Echo ist eine Nymphe, die die Göttermutter Juno daran hindert, ihren untreuen Gemahl inflagranti beim Liebesspiel mit Nymphen zu ertappen. Und sie verliebt sich in Narcissus, den Sohn der Wassernymphe Liriope, der schönsten Nymphe, der auch andere Wasser- und Bergnymphen dazu bringt, ihre Scheu vor Männern für einmal abzulegen, und der im Rahmen seiner Selbsterkenntnis auch seine Wirkung auf die Nymphen erkennt: ‹ amarunt me quoque nymphae › («auch mich liebten ja die Nymphen»; 456). Die ganze Episode spielt also in der Welt der Nymphen. Diese aber sind Zwischenwesen in doppelter Weise: Sie stehen einerseits zwischen Göttern und Menschen, und so kann in Echo der Liebeskonflikt der höchsten ‹Etage›, derjenige zwischen Jupiter und Juno, fortwirken. Sie stehen andererseits, zumindest bei Ovid, zwischen figürlichen und naturhaften Erscheinungen (wie etwa Quellen). Wie die Sirenen, denen außer ihrem mädchenhaften Antlitz ebenfalls nur ihre (allerdings betörende) Stimme bleibt,24 sind auch die Nymphen Figuren des Übergangs und des Dazwischen. An ihnen lässt sich besonders gut die Kontaktzone von Göttlichem und Menschlichem profilieren und das Verhältnis von Vermitteltheit und Unmittelbarkeit diskutieren. Lukrez hatte bei seiner Erklärung von Klang und Echo abwertend als Meinung von Ortsansässigen zitiert, echoreiche Plätze würden von Satyrn und Nymphen beherrscht (De rerum natura, IV 580). Ovid gibt umgekehrt für die Phänomene eine mythische Herleitung. 23
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Zur Verschränkung der Geschichten schon Dörrie (1967) 54–75; aus neuerer Zeit Vogt-Spira (2002); zur Rolle des Echos in der griechischen und römischen Kultur Bonadeo (2003). V, 562: virginei vultus et vox humana remansit; vgl. auch Weigel (2006) 16–39, hier 28 f.
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Das Gegebene enthüllt sich nun als Produkt vielschichtig-tragischer Macht- und Liebeskämpfe, als Ergebnis einer Katastrophe an der Grenze von Natur und Kultur, die zugleich Natürliches begründet: Narcissus und Echo können die Grenzen zwischen ihren Körpern nicht überwinden und vergehen dadurch. Sie leben aber auch genau, indem sie ihre menschlichen Körper verlieren, fort: die eine als überall anzutreffendes Echo, der andere als Blume – jene Blume, die man in der Antike mit der Unterwelt in Verbindung brachte: In ihr leben «nicht nur die Liebe zum Wasser und die Haltung des über das Wasser gebeugten Knaben weiter, sie erinnert auch an seine Verführungskraft und daran, dass es diese, auf ihn selbst gewendet, war, die ihn ins Totenreich führte.»25
IV Geht man von den beiden angedeuteten Akzentsetzungen aus, dem durch Tiresias gegebenen Rahmen und dem durch Echo repräsentierten Gegenüber, so deutet sich an, wo die Komplexität der Geschichte liegt: Die selbst schon in diffizile Vermittlungs- und Erkenntnismomente aufgefächerte Narcissus-Episode wird durch interne Spiegelungen und externe Bezüge narrativ potenziert – und paradoxiert, erscheint doch alles, was in dieser Geschichte passiert, schon in ihrem Anfang, in der Prophezeiung des Anfangs impliziert. Bevor ich aber zu diesem Rahmen zurückkehre, will ich versuchen, die internen Beziehungen, die zwischen Narcissus und Echo, zu verdeutlichen. Mit Echo verdoppeln sich die Erscheinungsformen von Narcissus’ aussichtslosem Begehren. Sie repräsentiert einerseits die Vielen, die Narcissus begehren und aus deren Mitte, nach Echos Versteinerung, auch der Anstoß zur Rache kommt, den die Schicksalsgöttin vollzieht. Sie ist andererseits die Einzelne, deren Geschichte sich in die Narcissusgeschichte hineinschiebt und dieser entscheidende neue Wendungen gibt. Echo wird vorgestellt als Nymphe des Tons (vocalis nymphe, 357), doch eines eingeschränkten. Durch zu viele leere Worte Juno von der Überführung Jupiters abhaltend, wurde sie von dieser gestraft durch eine Einschränkung der potestas linguae (366) auf eine Verdopplung der letzten Laute und Worte. Ihr Recht ist von nun an nurmehr das des kurzen Gebrauchs (brevissimus usus, 367) der Stimme. Sie ist nicht zur totalen Stummheit verurteilt, sondern zu einer Verkürzung, die umso schmerzhafter ist, weil in allem, was sie sagen kann, der Entzug der vollständigen und selbstbestimmten Rede mitanwesend ist. Echo steht damit zwischen einer enteigneten und einer immerhin auf Gewohnheit und Dauer gestellten Potenz, zwischen Subjekt und Objekt.26 Ja, sie verkörpert ein Dazwischen, das textlogisch genau auf Narcissus zugeschnitten scheint. An zentralen Stellen hat Ovid diese innere Verknüpfung von Narcissus und Echo besonders auf den Punkt gebracht: (1) bei der Begegnung der Beiden und (2) bei seiner Begegnung mit dem eigenen Selbst. (1) die Begegnung von Narcissus und Echo. Narcissus, der durch seinen Anblick allgemeines Begehren weckt, begegnet Echo im Wald, «von der Schar seiner treuen Gefolgsleute entfernt» (comitum seductus ab agmine fido; 380). Er begegnet ihr also in genau jener Situation, für die Lukrez das Echo herangezogen hatte: «wenn wir das Gefolge, das streift durch die schattigen Berge, suchen und sie, die verstreut, mit lauter Stimme herbeiholen» (palantis 25 26
Walde (2006) 95 f. Loewenstein (1984) 48.
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comites cum montis inter opacos | quaerimus et magna dispersos voce ciemus; De rerum natura, IV, 575 f.). Lukrez hatte Volksmeinung und wissenschaftliche Erkenntnis bezüglich der Eigenart des Echos gegeneinander gestellt. Ovid hingegen setzt auf eine zeitlich-historische Differenz: zwischen einem Noch, da Wesen wie Nymphen überall die Welt bevölkern, und einem Nicht-mehr, da an ihrer Stelle das Spiel der Natur zu beobachten ist. Dieses Dazwischen manifestiert sich als Übergang zwischen Figur und Phänomen: Echo hat noch einen Körper, aber schon keine Stimme mehr und wird auch ihren Körper bald verlieren. Durch ihre Stimme bringt sie den Jüngling, der selbst ein Gejagter ist, dazu, auf seiner Jagd in der Wildnis innezuhalten: alternae deceptus imagine vocis («getrogen von dem Eindruck einer wechselnden Stimme»; 385). Wieder, wie bei der Prophezeiung des Tiresias, kommt die Nähe von Auditivem und Visuellem zur Geltung, hier von imago und vox. Ovid folgt damit den zeitgenössischen Modellen: So wie imago im römischen Kontext auch das Echo bezeichnen konnte, wurde umgekehrt vox, die Stimme als Phänomen gedacht, das nur aufgrund seiner Körperlichkeit und Materialität Worte, Klänge oder Geräusche an einen anderen Ort transportieren könne.27 Eben dieser Transport galt aber auch als Einfall des Sinnverlusts, insofern, nach Lukrez, manche der nicht von einem Ohr (unmittelbar) aufgenommenen Töne von hartem Gelände zurückklingen und dabei zuweilen mit dem «Bild des Wortes» (imagine verbi; IV 571) täuschen würden. Das ist es, was Narcissus passiert: Er lässt sich von der Gestalt der Worte (oder auch den Bildern, die diese Worte auslösen) täuschen. Er zeigt sich der Nymphe, die wiederum, von ihren eigenen Worten entzückt (verbis favet ipsa suis; 388), sich verleiten lässt, aus der Sicherheit des Waldes herauszutreten. Damit ist die Paradoxie dieser Begegnung auf die Spitze getrieben: Narcissus verweilt genau dort, wo sich ein Anderes manifestiert, das, seine Worte wiederholend, eigentlich kein Anderes zu sein verspricht; Echo offenbart sich genau dort, wo ihre eigenen Worte jene Sehnsucht zu artikulieren scheinen, die auch die eines Anderen zu sein verspricht. Doch gerade in dem Moment, in dem die Wiederholungen zu herrschen scheinen, werden auch die durch sie hervorgebrachten Differenzen sichtbar: Echos Worte wiederholen die von Narcissus, verkürzen sie aber auch teilweise und verändern ihre Bedeutung: Wo er eine Frage stellt (equis adest, «ist jemand da»), konstatiert sie ein Faktum (adest, «er ist da»). Wo er lieber sterben möchte als ihr Verfügungsgewalt über Beide zuzugestehen (‹ante› ait ‹ emoriar, quam sit tibi copia nostri› ; 391), erhofft sie sich genau eine solche (‹ sit tibi copia nostri › ; 392).28 Ihre Wiederholungen bringen Bedeutungsschattierungen zur Geltung: huc coeamus («hierher, treffen wir uns») kontert sie mit coeamus («vereinen wir uns»), worin nun auch der Sinn «sich paaren» aufscheint. (2) die Begegnung von Narcissus mit dem eigenen Selbst. Sie ist eine, in der jene Alterität sich Raum verschafft, die zuvor abgewiesen worden war. Das signalisiert schon der prägnante Auftakt: Während er seinen Durst gelöscht habe, sei «ein anderer Durst» (sitis altera; 415) in ihm erwacht. Die Selbstverdopplung geht mit einer semantischen Verdopplung einher. Und sie konstituiert im Folgenden zumindest sprachlich eine Pluralität, die, der Logik der Liebe gemäß, zum Problem wird: Im Umfeld des berühmten Satzes iste ego sum (463) spricht Narcissus in einem Plural, der sich nur durch den Tod wieder in einen Singular verwandeln lässt (nostras, nostro, abamus, moriemur). Echo wiederum ist, obschon versteinert und in reine Stimme verwandelt, in diesen Szenen, in denen Narcissus sich 27 28
Göttert (1998), bes. Kap. II. Dazu Walde (2006) 91, die in den Wortspielen ein lachenauslösendes Moment sieht.
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selbst begegnet, nicht präsent – und ist es indirekt doch. Um die Flucht des Narcissus vor der Begehrenden ging es zunächst, nun macht er selbst die Erfahrung, dass das Begehrte zu fliehen scheint. Von den Armen (bracchia) Echos war die Rede, die sich um den ersehnten Hals schlingen wollten. Von den Armen (bracchia) Narcissus’ ist nun mehrfach die Rede, die das Spiegelbild umfassen wollen, sich aber auch zu den ringsum stehenden Wäldern ausstrecken – aus denen zuvor Echo ihm entgegentrat. Auf diese Weise steht die Selbstbegegnung des Jünglings vor dem Hintergrund der Begegnung mit der Nymphe. Zugleich zeigt sich: Diese Selbstbegegnung, sosehr sie an Blick, Spiegel und Bild gebunden ist, findet doch nicht rein im Medium des Visuellen statt. Sie ist vielmehr begleitet von ständigen Verweisen auf das Wort oder von Überblendungen zwischen Wort und Bild. Vor dem Zusammentreffen mit Echo hieß es, Narcissus sei «von dem Eindruck einer anderen Stimme getrogen» worden (alternae deceptus imagine vocis). Nun heißt es, da er das erste Mal aus der Quelle trinkt und auf das Bild im Wasser trifft, er sei «vom Schein des gesehenen Bildes bezaubert» worden (visae conreptus imagine formae; 416). Die Selbsterkenntnis ereignet sich dann genau an der Stelle, an der er sich Rechenschaft darüber ablegt, dass das Gegenüber, sosehr es auch die eigenen Gesten ‹erwidert›, doch defizient ist: «soviel mir auch die Bewegung des reizenden Mundes verrät, gibst du Worte zurück, dringen sie nicht an meine/unsere Ohren» (quantum motu formosi oris, | verba refers aures non pervenientia nostra; 461 f.). Genau an der Stelle, an der in der Sprache ein Wir auftaucht, ist das Ausbleiben der Töne entscheidend für die Einsicht, dass die forma, die der Jüngling begehrt, nur simulacrum und umbra der eigenen Gestalt ist. Das Stichwort refers verweist aber auch auf jene, die zuvor Narzissens Worte wiedergegeben hatte: Echo. Sie ist abwesend und anwesend zugleich: abwesend als Stimme und Körper, anwesend aber als Prinzip von Andersheit, als das ausgeschlossene Eingeschlossene von Narcissus’ auto- und tautologischer Verstrickung. Das Fatale dieser Verstrickung liegt darin, dass jeder Versuch, sie zu lösen, sie nur verstärkt: Die Einsicht, im Wasser sich selbst gespiegelt zu sehen, eröffnet gerade keinen Ausweg. Sie erscheint vielmehr als weiteres entscheidendes Glied der Kette, in der Narcissus gefangen ist. Echo bietet, von Narcissus her gesehen, ein Pendant zu dessen Selbstbespiegelung: hier Töne, die nichts Neues übermitteln, sondern nur das schon Artikulierte wiederholen, dort Bilder, die keinen Anderen repräsentieren, sondern nur die eigene Gestalt. Echo und Spiegel – sie sind als Medien des Selbst ebenso vielversprechend wie problematisch. Sie vervielfältigen, ohne tatsächlich ein Anderes hervorzubringen. Sie bewahren mimetisch Information, verhindern aber, indem sie diese auf das Selbst zurückwerfen, Kommunikation. Sie machen sichtbar, inwiefern Medialität nicht einfach eine Übermittlung von A nach B darstellt, sondern auch eine Beziehung zwischen A und B, mit Aspekten von Rückkopplung und Selbstrekurrenz. Der Spiegel ist, wie Foucault ausgeführt hat, Ort und Nicht-Ort zugleich: Er existiert als konkreter, als Teil des Raumes, dem auch das Subjekt angehört, als Objekt, das sich berühren und benutzen lässt, das eine Rückseite hat. Er ist andererseits eine Form des Imaginären: Er macht das Subjekt zum Objekt, er zeigt es so, wie es sich nicht selbst sehen kann, an einer Stelle, an der es nicht ist, und in einer Entfernung, die nicht der Entfernung zwischen Spiegel und Gespiegeltem entspricht.29 Im Sinne der lukrezischen Atomlehre sind beide, Spiegel wie Echo, Mittel körperlicher Wahrnehmungs- und Übertragungsphänomene. Zwischen der Person und dem Bild werden verschiedene Men29
Foucault (1992) 34–46, hier 39.
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gen Luft hin- und hergetrieben (De rerum natura, IV, 269 ff.). Zwischen dem Körper des Artikulierenden und dem Ohr des Hörenden bewegen sich die Laute und Wörter als gestalthafte Formen, die empfunden werden (IV, 560). Und beides kann sich weiter vervielfältigen: Zwischen Spiegeln können mehrere Bilder, zwischen Hügeln mehrere Echos hinund hergegeben werden (IV, 327.577). Und doch ist das Echo nicht einfach ein Analogon zum Spiegel(bild). Es existiert nur an spezifischen Orten und hat keine Dauer. Es vermittelt auch nicht wie das Spiegelbild zwischen A und A, sondern zwischen einem X (einer potentiell unendlichen Menge von Tonquellen und Tönen) und einem Y (einer potentiell unendlichen Menge von Rezipienten). Das asymmetrische Verhältnis zwischen Widerhall und Spiegelbild wird in der Geschichte von Narcissus und Echo zu einem chiastischen: Möglich ist nur eine punktuelle Annäherung im Raum, aber keine Berührung und schon gar keine Vereinigung.30 In seinen Fasti lässt Ovid eine ihrerseits verwandelte Nymphe, von Chloris zu Flora geworden, Narcissus als den Unglücklichen ansprechen, der Nicht-Anderer und Anderer zugleich war (quod non alter et alter eras; V, 226). In diesem Sinne wäre zu sagen: Echo ist für Narcissus die Andere, die selbst der Möglichkeit von verbaler Andersheit, dann überhaupt von körperlicher Wesenheit beraubt ist und gerade dadurch eine Paradoxie erzeugen kann: die Paradoxie gleichzeitiger Identität und Alterität. In diesem Sinne erweisen sich Narcissus und Echo als sowohl analoge wie komplementäre wie kontrastive Figuren. Analog: Beide gehen an ihrer Liebe zugrunde, verlieren ihre Körper und verwandeln sich in Phänomene der Natur. Komplementär: In ihnen treffen die Medien der Luft und des Wassers aufeinander, kommen visuelle und auditive Wahrnehmung zusammen. Kontrastiv: Die Dauer, die beiden zuteil wird, ist eine sehr unterschiedliche. Während die Nymphe Echo zum Phänomen des Echos wird, wird der Nymphensohn Narcissus nicht zum Spiegel, er bleibt sogar noch im Jenseits dem Blick in den Spiegel ausgeliefert. Am Ende nämlich heißt es, die Najaden, die Dryaden und Echo würden ihre Trauer artikulieren, Narcissus hingegen sich immer noch selbst betrachten – nun in der stygischen Flut der Unterwelt. An diesem Ende aber treffen Narcissus und Echo doch noch zusammen – in der Sprache. Der drohenden Umarmung hatte Narcissus gerade noch sich entzogen (manus conplexibus aufer; 390), aber immerhin sich hinreißen lassen, ein Du und ein Wir im gleichen Satz, wenn auch negierend, zu verschränken (sit tibi copia nostri; 391) – das war Echos Untergang gewesen. Nun kommt sie, die zuvor, wie gesagt, bei Narzissens Selbstbegegnung nicht direkt präsent war, kurz, bevor der von ihr geliebte Körper dahinzuschwinden droht, wieder ins Spiel. Mitleidend gibt sie das «Wehe» und die Klagelaute zurück – und ist doch schon kaum mehr vorhanden: totidemque remisit | verba locus (500 f.). Der Ort, der Wald ist es, der die Wörter zurückgibt. Das Echo erscheint schon als Phänomen, aber auch noch als Figurenstimme: dictoque vale ‹ vale › inquit et Echo (501). Narzissens ‹Lebe wohl› wiederholt Echo, und für einen Moment kommen beide, Ursprungslaut und Echo, was vorher nie der Fall war, direkt nebeneinander zu stehen: vale vale – das Maximum an Identität und Nähe, das eine Sprache der Zweiheit zu bieten vermag.
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Vgl. Ringleben (2004) hier 375 [27]: «Echo liebt wirklich einen Anderen, kann aber von sich aus nicht zu ihm gelangen. Narziß hingegen meint (zunächst), einen wirklichen Anderen zu lieben, kann ihn aber deswegen nicht erreichen, weil er selbst (auch) dieser Andere ist. So bleiben beide in ihrer Liebe letztlich allein mit sich, aber aus spezifisch verschiedenen Gründen: Echo, weil sie jeden Andern nur an ihn selber zurückverweist; Narziß, weil er bei dem Andern faktisch nur bei sich selbst ist.»
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V Das vale ist das letzte explizite Wort der Figuren im Text. Es ist Ausdruck der ultima vox des sich im gewohnten Wasser Betrachtenden (499). Und diese ultima vox ruft nun noch einmal jene vox auguris auf, von der die Geschichte ihren Ausgang nahm: Im letzten Wort des für alles andere als sich selbst blinden Liebenden erfüllt sich auch das Wort des blinden Sehers. Seine Blindheit aber ist an dieser Stelle nicht mehr einfach die des Anfangs. Sie erscheint nicht mehr nur als Voraussetzung zu innerer Schau und schicksalshafter Rede. Sie erweist sich auch als Schutz vor jener Naturmacht, deren Geburt sich unmittelbar vor der Narcissusgeschichte andeutete und deren Auftritt in der folgenden Geschichte sich ereignet: der dionysischen oder bacchischen. «Während dies auf Erden nach dem Willen des Schicksals geschah und die Wiege des zweimal geborenen Bacchus in sicherer Hut war» (317 f.), so hob die Tiresiasgeschichte an. Und sie setzt sich nun fort, indem Tiresias auf Pentheus reagiert, der seine prophetischen Worte verachtet. Er antwortet mit einer weiteren Prophezeiung, die weit drastischeren Charakter hat als das si se non noverit der Narcissus-Geschichte: Pentheus könnte sich glücklich schätzen, wenn auch ihm das Augenlicht genommen würde, «so daß du die Mysterien des Bacchus nicht sehen könntest! Denn der Tag wird kommen – und ich ahne, daß er nicht fern ist –, an dem ein neuer Gott, Bacchus, Semeles Sohn, hier erscheinen wird. Wenn du ihn nicht für würdig hältst, von dir durch Tempel geehrt zu werden, wirst du, zerfleischt und verstreut, an tausend Stellen den Wald mit deinem Blut besudeln […]. Beklagen wirst du noch, daß ich in all meiner Blindheit nur allzu viel gesehen habe».31 Diese Weiterführung versetzt die Narcissusgeschichte an die Schwelle zwischen zwei Zeiten: einer, in der die alten Götter in einem überschaubaren Gefüge aus Bildern, Tönen und Verwandlungen herrschten, und einer, in der die Natur von den Horden der Bacchantinnen, von Ekstase, Wahnsinn, Raserei aufgewühlt ist.32 Die Bacchantinnen bringen hervor, was Echo nicht mehr zu erzeugen vermag: selbstbestimmte Klänge. Der Ort der Mysterienfeier, der Cithaeron, «erklang» (sonabat, nicht resonabat), so heißt es in der Pentheusgeschichte, «von Gesängen und den hellen Stimmen der Bacchantinnen» (cantibus et clara bacchantum voce; 703). Sie verkörpern einen neuen Gott, ein neues Regime, eine neue Welt, in der man sich nicht verwandelt aus unerfüllter Liebe, sondern aus verweigertem Glauben an Bacchus. Die Minastöchter müssen dies erleben: «Sie versuchen zu sprechen, doch stoßen sie nur einen ganz schwachen Ton aus, der ihrer kleinen Gestalt entspricht, klagen leise zirpend, […] fliegen bei Nacht aus und sind nach dem späten Abend benannt».33 Noch einmal eine Spiegelung also der Echogeschichte, die aber auch noch einmal zeigt, wie weit Ovid über das hinausgeht, was Lukrez zu den Täuschungen von Tönen und Bildern ausgeführt hatte. Nicht nur verwandelt er die Prinzipienlehre in ein Erzählgebilde. Er lässt dieses Gebilde oszillieren zwischen Natur und Kunst, Mythos und Reflexion, Erken31
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III, 519–525: namque dies aderit, quam non procul auguror esse, | qua novus huc veniat, proles Semeleia, Liber; | quem nisi templorum fueris dignatus honore, | mille lacer spargere locis et sanguine silvas | foedabis […] meque sub his tenebris nimium vidisse quereris. Das Bild des ‹jungen Gottes› Dionysus entspricht nicht den historischen Gegebenheiten, denen gemäß Dionysus im griechischen Raum zu den ältesten namentlich bezeugten Göttern gehört; vgl. Schlesier (1997) 651–664. IV, 412–415: conataeque loqui minimam et pro corpore vocem | emittunt peraguntque leves stridore querellas | tectaque, non silvas celebrunt lucemque perosae | nocte volant seroque tenent a vespere nomen.
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nen und Verfehlen, medialer Verbindung und Trennung. Wort und Blick können keine Kommunikation mit einem ‹Außen› herstellen. Sie können aber die Kommunikation im ‹Innen› in ihren Dimensionen und Grenzen zeigen. Fatale Selbstbezüglichkeit und mediale Reflexivität gehen dabei Hand in Hand. Leere und Fülle des Redens, Macht und Ohnmacht der Wörter, Wiederholung und Differenz – sie werden mit der Einführung der Echofigur thematisch: resonabilis Echo lautet die erste Nennung, und Verben mit re-Präfix charakterisieren Echos Handeln auch im Weiteren (reportare, remittere, referre, reddere). Sie bringen den Wiederholungszwang der F i g u r e n auf den Punkt. Sie verkörpern aber auch die zahlreichen ‹Echoeffekte› und ‹Spiegelphänomene› des Te x t e s .34 Mit Echo ergibt sich eine Vervielfältigung des Sinns. Mit ihr drängt sich die Textur der Geschichte in den Vordergrund. Wiederholungen auf verschiedenen Ebenen machen paradigmatische Beziehungen sichtbar und rücken die Bedingungen von Reden und Zeigen in den Blick. Es sind dies auch die Bedingungen eines spezifischen Umgangs mit der Tradition, die – metaphorisch gesprochen – zugleich widerhallt und übertönt wird, zugleich ergriffen und reflektiert wird. Das lässt sich auch an den Formen des Bildlichen verfolgen. Ovid entwirft Paradigmen der bildlichen Repräsentation des schönen Körpers, Paradigmen der Stillstellung und der Dynamisierung: Sich selbst betrachtet Narcissus zunächst, «gebannt wie ein aus parischem Marmor gefertigtes Bild» (ut e Pario formatum marmore signum; 419). Doch dieses Bild schwankt nicht nur zwischen Körper und Fläche. Es entzieht sich auch selbst immer wieder: Die Tränen trüben das Spiegelbild im Wasser. Gegen Ende dann schlägt Narcissus seine Brust mit marmornen Händen – was der Erzähler mit dem Bild eines zweifarbigen Apfels oder einer gesprenkelten, noch unreifen Traube vergleicht.35 Im gleichen Moment, in dem der Lebende schon fast in (toter) Form erstarrt scheint, scheint er auch noch vor der Schwelle zur eigentlichen Blüte des Lebens zu stehen: Tod und Leben werden enggeführt und zwar anhand der Kippfigur des sowohl unbeweglichen wie beweglichen, des faktischen wie des phantasmatischen ‹Bildes›. Wahn ist es, für Körper zu halten, was tatsächlich nur Schatten (umbra) ist, aber Wahn ist es auch, was die eindringlichsten Erscheinungsformen zu erzeugen vermag: ein Bild mit Augen, die zwei Sternen gleichen, Haar, das einem Apollo und einem Bacchus würdig wäre – eine erhabene Erscheinung: Sie nährt die Hoffnung, sich mit dem Göttlichen zu vereinen, und unterstreicht zugleich die Verblendung, die diese Hoffnung begründet. Leitmotiv des Textes ist denn auch der sich entziehende, nicht zu erreichende oder zu bewahrende Körper: Am Anfang hat Echo n o c h einen Körper, am Ende Narcissus ebenso wie sie keinen m e h r. Doch vermögen die Trauernden anstelle des Körpers (pro corpore) die Blume zu finden – inveniunt ist der Begriff, den Ovid hier verwendet, jener Begriff, der auch in der Rhetorik eine zentrale Rolle spielt. Und das ist wohl auch die Verheißung des Textes: für den Körper etwas zu setzen, das im raffinierten Hin und Her zwischen den Ebenen, zwischen Sehen, Hören und Sprechen liebende Körper nicht einfach sterben lässt, sondern verwandelt – in einerseits poetischen ‹Stoff› (Blumen und Blätter), andererseits literarischen Resonanzraum (Echo).
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Sie manifestieren sich z. B. auch in den Ausdrücken des ersehnten Berührens (355: tetigere, 394: protegit, 409: contigerant, 478: tangere). III, 481–485: nudaque marmoreis percussit pectora palmis. | pectora traxerunt roseum percussa ruborem, | non aliter quam poma solent, quae candida parte, | parte rubent, aut ut variis solet uva racemis | ducere purpureum nondum matura colorem.
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VI Wie sehr die beschriebene sorgsame Balance thematischer und medialer Perspektiven gerade im Rahmen der römischen Anthropologie und Mediologie ihren Ort hat, mag man daran ablesen, dass die Rezipienten sich längere Zeit wenig dafür interessiert haben.36 Seit der Spätantike dominierte eine moralisch-allegorisierende Lesart. Schon Plotin zitierte die Geschichte als Beispiel für die Hingabe an Bilder, Schatten, Spuren statt an das, «von dem sie Bilder sind». Wer sich auf äußere Schönheit konzentriere, werde einst «zwar nicht leiblich, aber geistig in dunklen Tiefen, die dem Geist zuwider sind, blind im Hades leben» und lebe schon jetzt «nur mit Schatten zusammen».37 In der gleichen neuplatonischen Tradition greift noch Marsilio Ficino das klassische Muster auf: Er setzt den Jüngling mit der Seele des unbesonnenen und unerfahrenen Menschen gleich, die «die Schönheit in dem gebrechlichen Körper» bestaunt, «obwohl diese nur das Schattenbild der Seele ist. Seine eigene Gestalt läßt er im Stich und kann doch den Schatten nie ergreifen: indem die Seele dem Körper nachgeht, gibt sie sich selbst auf und findet doch durch die Gemeinschaft mit dem Körper keine Befriedigung». 38 Die zwischen diesen beiden Belegen liegende, seit der Ovid-Renaissance des 12. Jahrhunderts zu verfolgende Rezeptionsgeschichte ist ebenfalls durch eine allegorisierende Lesart der Erzählung geprägt. Narziss erscheint als Exempel für schädliche Selbstliebe und Hochmut, Eitelkeit und Vergänglichkeit. Echo wird teils als bona fama, teils als verwerfliche Schwatzhaftigkeit gedeutet. Literarische Anverwandlungen verzichten häufig auf die Echofigur, machen aber das Potenzial der Geschichte für den höfischen Liebesdiskurs fruchtbar. Der Spiegel wird zur Verkörperung der höfischen Dame, deren Unerreichbarkeit den Dichter an den Rande des Wahnsinns treibt (Bertrand de Ventadorn). Oder er dient als Mittel, einen Reflexionsprozess in Gang zu setzen, in dem der Jüngling zunächst eine Nymphe im Wasserbild vermutet, dann sich selbst erkennt und schließlich an die höfische Dame erinnert, die seine Liebe begehrt hatte und von ihm abgewiesen worden war; mit ihr trifft er am Ende, selbst der Stimme verlustig gegangen, zusammen und stirbt einen gemeinsamen Liebestod (Conte de Narcisse).39 Die ovidische Konstellation dient damit als Hintergrund für neue, die Muster umbesetzende Geschichten unglücklicher oder gefährlicher Liebe. Im Roman de la rose von Guillaume de Lorris ist das Narziss-Geschehen einerseits historisiert: Eine Inschrift auf einem Brunnen im Garten der Liebe weist den Ort als denjenigen des Todes von Narcissus aus. Andererseits ist es universalisiert: Amant trifft beim Blick in den Brunnen nicht Reflektion, sondern Transparenz. Auf dem Grund des Wassers sieht er zwei wunderbare Kristalle. Von der Sonne beschienen, bringen sie über hundert Farben zum Erscheinen. Von verschiedenen Seiten betrachtet, machen sie den ganzen Garten mit allen Details sichtbar. Ein optisches Wunder, das zugleich die Liebe in den Rang einer kosmologischen Macht erhebt.40 36
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Überblick über die Rezeption: Vinge (1967); Hadorn (1984); Knoespel (1985); Spaas/Selous (2000); Renger (2002); Felten/Nelting (2003). Plotin, Enneade I 7, 38; vgl. Hadot (1976) 81–108; Kristeva (1983) 101–117. Ficino, Über die Liebe (ed. Blum) 286 f.: Sed eius umbram in aqua prosequitur et amplecti conatur, id est, pulchritudinem in fragili corpore et instar aque fluenti, que ipsius animi umbra est, ammiratur. Suam quidem figuram deserit. Umbram nunquam assequitur. Quoniam animus corpus sectando se negligit et usu corporis non impletur. Vgl. Vinge (1967) 58–66. Blumenfeld-Kosinski (1997).
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In der frühen Neuzeit kommt es neben vielfachen Übersetzungen, Bearbeitungen und Dramatisierungen auch zu einer eigentlichen Wiederentdeckung der Echofigur – im Kontext nicht zuletzt eines neuen wissenschaftlichen Interesses am Phänomen des Schalls und der Stimme und einer neuen Faszination an literarischen und musikalischen Echoeffekten. 41 Während Narziss nach wie vor als Chiffre für eine Deformation des Selbst (z. B. am Hof) gilt, erscheint Echo nun geradezu als Widerspiegelung des göttlichen Atems, ihre Stimme als himmlische Prophetie, in der sich die göttliche Stimme artikuliert, oder als reinste Form philosophischer Rede.42 Zwar gibt es kühne Gegenentwürfe wie das Mysterienspiel von Juana Inés de la Cruz, El divino Narciso, in dem Satan in Gestalt Echos auftritt und Narziss Christus verkörpert, der an übermäßiger Selbstliebe stirbt und am Ende, während die Welt zugrunde geht, am Thron des Vaters zur makellos weißen Blume der Eucharistie wird. 43 Doch häufiger dominiert nun die positive Sichtweise. In Ben Jonsons Cynthia’s Revels gibt ein nach 3000 Jahren immer noch über ihr Schicksal betrübter Jupiter Echo für kurze Zeit Gestalt und Stimme zurück, damit sie ihr Leid artikulieren kann.44 In Miltons Paradise Lost ist es Echo, die im Wasserspiegel sich selbst sieht, aber sich nicht darin verliert, sondern der Stimme folgt, die sie auf den führt, von dem sie selbst Abbild ist: Adam. In der Kunst wird die ovidische Konstellation zur Möglichkeit medialer Selbstreflexion. Nicolas Poussin re-präsentiert den Mythos, indem er ihn einerseits auf den Paragone von Malerei und Skulptur, andererseits auf den von Malerei und Poesie bezieht. Eng ist der Anschluss an den Text Ovids, doch kein sich spiegelnder Narziss erscheint, vielmehr der Moment der Metamorphose von Narziss wie Echo, beide an einem Schauplatz, in einem Bild vereint. Poussin greift Bildentwürfe von Tizian und Michelangelo auf, markiert zugleich aber den Gegensatz zu den skulpturalen Vorlagen, indem er die Malerei als das enthüllt, das «im Inkarnat den Schein des Lebens als etwas Entfliehendes zu zeigen vermag», als «die Kunst, die einen Vorgang, eine Verwandlung, zu zeigen fähig ist.»45 Ebenso wendet er sich aber gegen die zeitgenössische Ansicht, die Spiegelung der Stimme sei nur in der Poesie, nicht in der Malerei darstellbar, indem er die akustische Wiederholung des Echos zur optischen der Figur macht: Die Verwandlung Echos tritt in eine Spiegelbeziehung zur Verwandlung von Narziss.46 Das Pendant zu dieser Anverwandlung, nun wieder im Modus des Literarischen, bietet Friedrich Schlegel in seinem fragmentarischen Roman Lucinde (1799). Er setzt konsequent auf die Bedeutung der Reflexion für einerseits die «Metamorphosen des liebenden Gemüts» (79), andererseits die Macht poetischer Universalität. Die Geschichte wird Teil des Spiels mit dem Begehren und seiner Repräsentation, des leichtfüßigen Umgangs mit allerlei Monumenten des klassischen bildlichen und literarischen Kanons: Für Julius gehört der «Jüngling, der mit geheimer Lust sein Ebenbild im Wasser anschaut» ebenso wie badende Mädchen oder die Madonna mit Kind zu jenen malerischen Gegenständen, in denen «eine gewisse stille Anmut, ein tiefer Ausdruck von ruhigem heitern Dasein und von Genuß dieses Daseins» vereint scheinen: «beseelte Pflanzen in der gottähnlichen Gestalt des Men41 42 43 44 45 46
Vgl. Loewenstein (1984); Hollander (1984); Ingen (2002); Wald (2008) 51–70. Bloom (2001) 129–154, hier 144 f. Auszüge bei Orlowsky/Orlowsky (1992) 298–306. Digangi (2001) 94–110. Bätschmann (1979) 31–47, hier 38. Ebd., 39.
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schen».47 Narziss verliert an Tragik und gewinnt an poetischer Kraft. Seine Existenz wird aufgerufen, aber nicht aufgegriffen. Es dominiert der Modus des Als-ob. In einer ‹Idylle über den Müßiggang› sieht sich das Subjekt in mythischer Übergeschlechtlichkeit «wie ein nachdenkliches Mädchen in einer gedankenlosen Romanze am Bach» sitzen, «als sollte sich ein Narzissus in der klaren Fläche bespiegeln und in schönem Egoismus berauschen». Doch die Übertragung wird blockiert: «Auch mich hätte sie [die Fläche] locken können, mich immer tiefer in die innere Perspektive meines Geistes zu verlieren, wenn nicht meine Natur so uneigennützig und so praktisch wäre, daß sogar meine Spekulation unaufhörlich nur um das allgemeine Gute besorgt ist.» Statt sich an die «kindlich rührenden Elegieen», die «bunten Mährchen», die «schöne Lüge» zu verlieren, genießt das Ich den unendlichen Reichtum der Reflexion, das Wechselspiel von Begierde und Einbildungskraft, die, als «unwiderstehliche Sirenen in meiner eigenen Brust, meine Sinne bezauberten» (32). Ovids Geschichte ist für Schlegel Referenztext und Differenzfolie gleichermaßen. Unter dem Kapiteltitel ‹Metamorphosen› greift er sie schließlich sogar direkt auf und konzentriert sie auf zwei Phasen (79 f.). Zunächst die akustische Phase: Der Übergang des kindlichen Geistes aus der Innenwelt in die Außenwelt vollzieht sich so, dass «der Reiz des äußern Lebens, durch ein innres Echo vervielfältigt und verstärkt, sein ganzes Wesen überall» durchdringt. Er weckt zugleich eine Sehnsucht, die unerfüllt bleibt. «Die wunderbare Stimme, die ihn weckte, […] tönt nun statt der Antwort von den äußern Gegenständen zurück»; überall vernimmt er «nur den Nachhall seiner eignen Sehnsucht». Sodann die optische Phase: Die Wahrnehmung der Welt erweist sich als eine, die selbst nur aus Widerschein besteht – im Wasser «die eigne Gestalt des in sich selbst versunkenen Betrachters». Keine Gegenliebe findend lässt sich der Mensch «durch den Zauber der Anschauung locken und täuschen, seinen Schatten zu lieben. Dann ist der Augenblick der Anmut gekommen, die Seele bildet ihre Hülle noch einmal, und atmet den letzten Hauch der Vollendung durch die Gestalt. Der Geist verliert sich in seiner klaren Tiefe und findet sich wie Narcissus als Blume wieder.» Die Geschichte von Narziss und Echo schwebt zwischen Innerem und Äußerem, Traum und Wirklichkeit, Geheimnis des Daseins und Täuschung der Anschauung. Doch unverkennbar markiert sie eine Grenze: Höher als die Anmut und die Schönheit wird die Liebe und insbesondere die Gegenliebe eingestuft. Sowohl emotional wie medial liefern die Phänomene des auf das Selbst bezogenen Widerhalls und Widerscheins zwar das Modell für eine unendlich potenzierte Reflexivität. Doch zeigt sich an ihnen zugleich, was diesem Modell fehlt: eine Lebendigkeit, die Kunst in Leben zu verwandeln oder die Grenze zwischen Kunst und Leben zu verwischen vermag. Sie findet Schlegel in einer anderen Geschichte Ovids: der von Pygmalion, in der «der Geist das Spiel und die Gesetze der Willkür und des Lebens» schaut: «Das Werk des Pygmalion bewegt sich, und den überraschten Künstler ergreift ein freudiger Schauer im Bewußtsein eigener Unsterblichkeit» (81). Die ‹narzisstische› Medialität ist demgegenüber ambivalenter: Mit der Verheißung, die mediale Selbstkonstitution auf den Punkt zu bringen, geht die Gefährdung einher, im Selbstbezug zu verharren und den Weltbezug zu verlieren. Die ästhetische Moderne wird an diese Ambivalenz anschließen.
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Schlegel, Lucinde (ed. Polheim) 75.
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Helga S cholten
Göttliche Vorsehung und die Bedeutung des Griechentums in Plutarchs De sera numinis vindicta Kein Übeltäter kommt ungeschoren davon, keiner entgeht seiner gerechten Strafe, alle unterliegen am Ende dem göttlichen Strafgericht – was wie ein Gedanke aus der christlichen Vorstellungswelt klingt, ist die Kernaussage der religionsphilosophischen Schrift Plutarchs, De sera numinis vindicta.1 Es handelt sich um eine heidnische Apologie der göttlichen , «Vorsehung», und des eng damit verbundenen Theodizeegedankens.2 Plutarch wendet sich in dieser ca. zwischen 91/2 und 107 n. Chr. verfassten Schrift3 gegen Angriffe eines gewissen Epikuros, der vermutlich stellvertretend für die bekannte philosophische Schule steht, deren gleichnamiger Begründe das Unrecht in der Welt damit erklärt hatte, dass sich die Götter nicht um die Menschen kümmerten.4
Fragestellung und Kontext Plutarch beabsichtigt in De sera numinis vindicta mehr als nur die Widerlegung dieser epikureischen Vorstellung. Im folgenden soll gezeigt werden, dass er mit seinem Nachweis der im Leben des Einzelnen wie im Kosmos insgesamt allgegenwärtigen göttlichen und dem damit untrennbar verbundenen Gedanken der Theodizee einen zentralen Gedanken seines Geschichtsverständnisses formuliert.5 Zahlreiche erläuternde Exempla bekannter historischer Persönlichkeiten legen außerdem die Frage nahe, welchen Spielraum Plutarch angesichts des göttlichen Plans der menschlichen Eigenverantwortung einräumt. Plutarch wendet sich ebenso vehement gegen einen weiteren epikureischen Grundsatz, «Lebe im Verborgenen».6 Er bezeichnet es als Verpflichtung eines Gebildeten, auch als Politiker aktiv zu sein oder als politischer Ratgeber zu fungieren.7 In gezieltem Rückgriff auf klassisch griechisches Bildungsgut, unter anderem auf grundlegende Ideen Platons, formuliert Plutarch seinen -Gedanken, woraus sich die Frage ergibt, welchen Stellenwert er der aktuellen Großmacht Rom in diesem göttlichen Plan zuschreibt. Zunächst wird ein Einblick in die Lebenswelt des Autors geboten sowie eine kurze zeitliche und geistesgeschichtliche Einordnung des Textes vorgenommen. 1
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Neben den Parallelbiographien werden die übrigen Schriften Plutarchs unter dem Titel Moralia zusammengefasst. Vgl. den Textkommentar von Görgemanns zu Plutarch 2003, S. 318. Auf die Nähe seiner Ausführungen zur Bibel verwies bereits Klostermann 1916, bes. S. 17. Vgl. den Textkommentar von Görgemanns zu Plutarch 2003, S. 327 f. Epikur Frg. 374. In den Parallelbiographien findet der Gedanke der Vorsehung ebenfalls Berücksichtigung, jedoch nicht als zentraler Aspekt. Swain 1989, S. 272–303. Plut. De latenter vivendo, in: Plutarch 2000. Plut. Praecepta gerendae rei publicae 15, 811 BC; vgl. auch 6, 802E-803B.
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Zur Lebenswelt Plutarchs Der um 45 n. Chr. in Chaironeia im Böotien geborene Plutarch stammte aus einer angesehenen Familie, weshalb ein Studium in Athen wohl selbstverständlich war.8 Reisen, meist in diplomatischem Auftrag, führten ihn über Kleinasien nach Alexandria, aber auch nach Italien und Rom. So knüpfte er Kontakte zu führenden Kreisen Roms, die ihm politische Aufträge, das römische Bürgerrecht und die Gelegenheit ermöglichten, philosophische Vorträge zu halten.9 Als Gesandter lernte er wichtige Persönlichkeiten wie Mestrius Florus, der zum engeren Kreis Vespasians gehörte, oder Q. Sosius Senecio, einen Vertrauten Trajans 10 kennen. Sueton charakterisiert Mestrius Florus in der Vespasian-Vita als einen etwas überheblichen Intellektuellen, der den eher bodenständigen Princeps wegen seiner nichtciceronischen Aussprache zurechtwies. Vespasian reagierte darauf in seiner bekannt derben, schlagfertigen Manier.11 Plutarch verdankte Mestrius Florus sein Bürgerrecht und bereiste mit ihm Oberitalien.12 Auch Q. Sosius Senecio, mehrfach Konsul und für seine Verdienste im Dakerkrieg von Trajan ausgezeichnet, hegte literarische Interessen, wie in einem Brief des jüngeren Plinius deutlich wird.13 In diesem hält er Sosius über das literarische Schaffen in der Hauptstadt auf dem Laufenden.14 Wie sehr Plutarch ihn schätzte zeigt, dass er ihm die Parallelbiographien widmete.15 Plutarch verlor seinen Grundsatz, politisch im Dienste seiner Heimat Griechenland aktiv zu sein, nicht aus den Augen. Wann er die konsularische Würde und schließlich die Statthalterschaft Achaias erlangte, bleibt jedoch ungewiss. Die meiste Zeit seines Lebens blieb er in Griechenland, zunächst in Chaironeia, wo er sich in der Ausübung von Verwaltungsämtern, unter anderem als Archon Eponymos seiner Gemeinde engagierte.16 Schließlich verbrachte er gut zwanzig Jahre seines Lebens in dem nahe gelegenen Delphi, wo er als einer der beiden Apollonpriester seinen Dienst versah.17 So fungierte er als Priester, Gelehrter und politischer Amtsträger und vereinte damit in persona die Bereiche der Religion, Philosophie und Politik, von deren Interdependenz er überzeugt war.18
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Hirsch-Luipold 2000, S. 13. C.P. Jones 1971. Zum Leben Plutarchs vgl. den Textkommentar von Görgemanns zu Plutarch 2003, S. 297 f.; Hirsch-Luipold 2000, S. 13 f.; Mueller-Goldingen 1993, S. 201–215. Suet. Vesp. 22: «Der Konsular Mestrius Florus hatte ihn einmal darauf aufmerksam gemacht, man dürfe nicht plostra, sondern müsse plaustra sagen. Dafür nannte ihn Vespasian am folgenden Tage bei der Begrüßung Flaurus.» «Flaurus» war ein griechisches Wort für Nichtsnutz. CIG 1713, SIG3 829; Hirsch-Luipold, S. 13. Plin. epist. 1.13. S. Sosius Senecio wurde mit den ornamenta triumphalia, einer Statue und einem zweiten Konsulat als Kollege des L. Licinius Sura ausgezeichnet. Cass. Dio 68.16.2; Weidemann 1994, Sp. 2841. Plin. epist. 1.13. In einem weiteren an Sosius adressierten Brief wandte sich Plinius jedoch in einer profaneren Angelegenheit an den einflussreichen Senator. Er bat ihn darin um die Unterstützung eines Bekannten bei seiner weiteren Laufbahn. Plin. epist. 4.4. Plutarch verfasste sie während der Regierungszeit Trajans. Plut. Sulla 21. Plut. Quaestiones convivales 642F, 693F. Als Beispiele sei auf seine Bemühungen um die Wiederbelebung des Orakelkultes von Delphi hingewiesen sowie auf seine politischen Ratschläge. Zu den pythischen Dialogen, wie er selbst sie nennt, vgl. HirschLuipold 2000, S. 21. Vgl. Mueller-Goldingen 1993, S. 201–215.
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Die Philosophie als ars vitae (die $0 λ ) … soll den Menschen helfen, ihren Ort in Natur und Gesellschaft und ihr Verhältnis zu Gott zu bestimmen.19
Die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Spannungsverhältnis zwischen göttlicher und menschlicher Welt hatte eine lange Tradition. Ansätze dazu bot die griechische Mythologie. Einen Zugang zur Öffentlichkeit fand die Problematik auf der Theaterbühne des klassischen Athen und zu einem zentralen Thema wurde sie in den sophistischen und nachfolgenden philosophischen Bewegungen.20 Neue Anregungen erhielt die Diskussion über die Verbindung zwischen Religion und Philosophie durch die verstärkte Begegnung mit orientalischen Religionen in hellenistischer Zeit. Neben euhemeristischen Gotteserklärungen 21 traten auch Überlegungen zur Tyche auf, einer als göttlich verstandenen und den Menschen bestimmenden Macht, die eine Sonderentwicklung als Stadtgöttin neugegründeter Griechenstädte erfuhr und zunehmende Verehrung und Beachtung fand.22 Mysterienkulte erfreuten sich regen Zulaufs; sie kamen offenbar einem gesteigerten Bedürfnis nach einer persönlicheren Hinwendung zum Göttlichen nach. In der philosophischen Vertiefung der Religion fand dieses Bedürfnis seine weitere Ausprägung.23 Die Auffassung Platons, dass Götter nur Gutes und nichts Schlechtes tun, der Mensch somit keiner göttlichen Willkür ausgeliefert ist, die ihn ins Elend stürzen kann, prägte die weitere religionsphilosophische Diskussion. Dieses positive Götterbild wurde von den Stoikern aufgegriffen und weiter ausgeführt. Seit der frühhellenistischen Zeit kam in den Ansätzen der Stoa dem göttlichen Wirken, der göttlichen Vernunft, ein zentraler Platz im wohlgeordneten Kosmos zu. 24 Es handelte sich um den Versuch, dem Individuum, das den Bezug zum überschaubaren Polisverband verloren hatte, die Perspektive des Ganzen wieder aufzuzeigen. Die Epikureer verfolgten dagegen den extremen Individualismus konsequent weiter.25 Ihre Vorstellungen von einer atomischen Aufklärung, einer Weltferne der Götter und einer Privatisierung, die den Rückzug der Menschen aus dem aktiven politischen Leben zur Folge hatten, fanden schließlich in der ausgehenden römischen Republik, in der Zeit der Bürgerkriege größeren Zulauf.26 Gibt es keine höhere Instanz, fehlt auch jede Verpflichtung, sich an gesellschaftliche Normen und Werte zu halten, sofern sie die eigene hedoné beeinträchtigen. 27
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Hirsch-Luipold 2000, S. 12; Plut. Quaestiones convivales 613B. Vgl. beispielsweise die Diskussion zwischen den Göttern über den Mauerbau der Griechen vor Troja in der Ilias (Homer Il. 12.1–8) oder die Bedeutung des Prometheus (Hesiod Thoeg. 507–616; Erga 42–89). Heraklit und Xenophanes wandten sich gegen die traditionelle mythische Überlieferung. Heraklit DK 22 B 40, 42; Xenophanes DK 21 B 10, 11. Graf 2005, S. 252 f. Nach 300 v. Chr. hatte Euhemeros von Messene die alten Götter als historische Personen, als Könige erklärt. FGrHist 36. Strab. Geogr. 12.31; Amm. Marc. 23.1. Scheer 2003, S. 664 f. Zur religiösen Entwicklung in Griechenland von der Archaik bis zur hellenistischen Zeit vgl. stellvertretend für zahlreiche andere Studien die Überblicksdarstellungen von Robert Muth mit zahlreichen Hinweisen zur weiterführenden Literatur: Muth 19982, S. 230–233; Burkert 1977. Zur Verbindung von Religion und Philosophie bei Plutarch vgl. Hirsch-Luipold 2005, S. 141–168. Dabei spielt die allegorische Mythendeutung, die sowohl physikalisch als auch moralisch war, eine wichtige Rolle. So ist eine Tendenz der Entmythologisierung bei den Stoikern zu beobachten. Vgl. Graf 19913, S. 186 f.; Graf 2005, S. 252. Feldmeier 2000, S. 80 f. Erler 1997, S. 564. Diog. Laert. 10.129.
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Doch die Verkündung der Pax Augusta, die gezielte augusteische Religionspolitik, die sich um die Stärkung des mos maiorum, also um ein gefestigtes Wertesystem bemühte, ließ ein neues Zeitgefühl entstehen.28 Vorstellungen der jüngeren Stoa, die das aktive Leben der Menschen in dieser Welt regeln wollten, somit eine ars vitae boten, kamen dem jetzt offenbar mehr entgegen. Der philosophische Diskurs zum Spannungsfeld ‹Mensch und Götter› 29 motivierte schließlich Plutarch, die kritischen philosophischen Ansätze wieder verstärkt mit der religiösen Tradition in Einklang zu bringen.30 Mit ihm begann eine als Mittelplatonismus bezeichnete philosophische Richtung,31 die einem gewachsenen Bedürfnis nach religiöser Transzendenz und Erlösung näher kam, indem sie die platonische Vorstellung von der Existenz eines höchsten Seienden und der Unsterblichkeit der Seele aufgriff und sie bewusst theologisch deutete.32
Menschlicher Wille, göttliche und mögliche Zeitbezüge in De sera numinis vindicta De sera numinis vindicta setzt die Existenz des Göttlichen voraus. Alle Bereiche, alle Sphären des menschlichen Lebens durchdringt die gerecht waltende göttliche Vorsehung, die . Wird diese bezweifelt, verliert die Menschheit jegliche ethische Grundlage. Dem Individuum wie dem Kollektiv fehlt jeder Orientierungsmaßstab im Handeln. Die Übersetzung «Vorsehung» trifft nur unzureichend den Bedeutungsgehalt des griechischen Terminus . 33 Plutarch versteht darunter zum einen menschliches Handeln, das von planender Überlegung und durchaus auch von Mut gelenkt ist. Übertriebener Wagemut, Zorn und Leidenschaften sollen vermieden werden.34 Zum anderen bezeichnet der Begriff die ordnende und alles Unrecht sühnende Kraft im Kosmos. Aus der Perspektive des Priesters versinnbildlicht vermutlich Apollon und seine planvolle, vorausblickende Weltsicht oder die in Delphi verehrte Athena Pronoia das Göttliche.35 Nicht diffuse Weissagungen, vage Zukunftsvisionen verbergen sich hinter dieser Vorsehung, sondern der Glaube an einen Garanten für eine durch Vernunft nachvollziehbare Weltordnung. Dem allem innewohnenden, wenn auch nicht immer zu ergründenden Sinn steht die nicht kalkulierbare Schicksalsmacht, 0, die ohne eine Sinngebung auskommt, gegenüber.36 In De sera numinis vindicta spielt sie keine zentrale Rolle, wie etwa als personifizierte Gottheit in De Alexandri magni fortuna aut virtute oder in De fortuna Romanorum. Dort wird die Frage des Spielraums der menschlichen Fähigkeiten ($#), welche durch 28 29
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Vgl. Kienast 19922, S. 185–190. Hierbei ist vor allem an die Auseinandersetzung stoischer Autoren mit Lukrez’ De rerum natura, einem Lehrgedicht reinster epikureischer Vorstellungen, zu denken. Erler 1997, S. 564. Vgl. auch Graf 2005, S. 252; Berner 2000, S. 136. Klauck 1994, S. 60, 71 f. Das bedeutet nicht, dass er die Auffassung Platons durchweg teilte. Dazu Aalders/ de Blois 1992, S. 3389–3397. Es setzte eine mit der hellenistischen Zeit vergleichbare Entwicklung ein. Erler 1997, S. 578; Hirsch-Luipold 2000, S. 17. Zur Entwicklung und Bedeutung des Begriffes vgl. ausführlich Bergjan 2002, S. 9–81. Plut. Marc. 9.2 f.; Alc. 18.2; Ant. 3.9. Vgl. von Geisau 1957, Sp. 746 f. Dazu Stadter 2005, S. 197–215. Vgl. dazu Parma 1971, S. 1 f.
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Ausbildung oder äußere Einflüsse gefördert werden, angesichts des Wirkens der Glücksgöttin diskutiert. Der Unterschied zwischen und 0 ist offenkundig: In De sera numinis vindicta führt Plutarch aus, dass nichts zufällig ist, alles einen Sinn erhält und sich auf die göttliche zurückführen lässt. 37 Der in Form eines Dialogs gestaltete Text gliedert sich in einen logos und einen mythos, wobei sich der logos dem Wahrscheinlichen, µ 4 «, annähern möchte, während im mythos Fragen angesprochen sind, auf welche es keine rationalen Antworten gibt.38 Wie sein Vorbild Platon fügt Plutarch dem philosophischen Dialog einen Jenseitsmythos an.39 Seine Vorstellung von der fußt auf dem im zehnten Buch der Nomoi formulierten Gottesbeweis. 40 Bedenkt also zunächst, dass nach Platon Gott sich selbst als Modell alles Guten allgemein sichtbar hingestellt hat und für die menschliche Tugend, welche ja darin besteht, dass man zu einem gewissen Grade Gott ähnlich wird, Vorbild und Ansporn ist für die, die ihm nachzufolgen vermögen.41
Platon vertritt die Ansicht, dass Götter nur Gutes tun können und den Menschen keinen Schaden zufügen. 42 So bemerkt er: Wir wollen den jungen Mann durch unsere Reden überzeugen, dass von dem, der für das All Sorge trägt, auf die Erhaltung und Vollkommenheit des Ganzen hin alle Dinge ausgerichtet und angeordnet worden sind, von denen auch jeder einzelne Teil nach Möglichkeit das erleidet und tut, was ihm zukommt.43
Schon in Plutarchs früher, vermutlich um 70 n. Chr. datierten Schrift De superstitione erscheinen Götter als gütige und wohlwollende Mächte.44 Der Grundgedanke, dass die Gottheit uns das Angemessene zuteilt, findet sich auch an einer zentralen Stelle in De sera numinis vindicta: Denn dass Gott uns das Angemessene zuteilt, das ist der Ausgangspunkt des ganzen Gesprächs gewesen, das uns bis zu diesem Punkt geführt hat.45
Plutarch geht von der Überzeugung aus, dass Gott allen Menschen das Angemessene zuteilt 46 – dies steht ganz im Gegensatz zu einem zentralen Gedanken des Gorgias, dem «Ge-
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Plut. De sera 549B. Vgl. Betz 1975, S. 11. Vgl. auch Plut. De gen. Socr. 21, 589F-590A; Hirsch-Luipold 2000, S. 15–20. Vgl. Plat. Nom. 903b-905d. Plut. De sera 550D. Plat. Nom. 877c-888d. Plat. Nom. 903b. Es folgt eine Auseinandersetzung mit der Frage der Theodizee. Auch Platon beschäftigt sich mit der Frage, ob sich die Götter um die Menschen kümmern (Plat. Nom. 899d-900c) und der daraus resultierenden Vorstellung von einer göttlichen Gerechtigkeit (Plat. Nom. 903b-905d). Plut. De superst. 4.166E. Zur Datierung siehe den Textkommentar von Görgemanns zu Plutarch 2003, S. 307. Plut. De sera 560B. Auch Diodor gab die Auffassung wieder, dass die Vorsehung den Menschen das Angemessene zuteile. Die Aufgabe der Historiker besteht darin, den Menschen einen Einblick in die Weltordnung, die sich über Raum und Zeit erstreckt, zu geben, indem die allgemeinen Taten der Oekumene aufgezeichnet werden. Historiker sind «Helfer der Vorsehung». Diod. II 30.1; als Vorlage diente Diodor vermutlich Poseidonios, ein um 135 v. Chr. in Apameia geborenen Stoiker; dazu Cancik 1983, S. 257–288.
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setz der Entsprechung». Demzufolge ist jedem Einzelnen bestimmt, der Situation entsprechend zu reagieren, im gegebenen Fall zu reden, zu schweigen oder zu handeln. Für ein übergeordnetes «Wesen der Dinge» bleibt kein Raum.47 Bei Plutarch jedoch herrscht die göttliche Fürsorge, die eine Fortdauer der Seele voraussetzt: Er (Olympichos) darauf: «So meinst du also, man müsse, daraus, dass Gott alles, was uns betrifft, überwacht und zuteilt folgern, dass die Seelen entweder ganz unvergänglich sind oder eine gewisse Zeit nach dem Tode fortdauern?»48
Die Seele geht über den Tod hinaus, denn sie ist zu gewaltig, um sich allein auf das kurze und geringe menschliche Leben zu beziehen. Im Jenseits erfolgt schließlich die göttliche Vergeltung. Der Text führt tief in das Problem der Theodizee ein, das sich schon in der Odyssee Homers stellte und bis heute aktuell ist.49 Konflikte und Zweifel entstehen dann, wenn die alltägliche Erfahrung des Bösen zu der hier von den Epikureern vertretenen Schlussfolgerung führt, dass sich die Götter nicht um die Menschen kümmern.50 Plutarch bemüht sich um die Widerlegung solcher Auffassungen, denn aus religiösen, aber auch aus ethischen Gründen ist für ihn der Gedanke an die göttlichen Vorsehung unverzichtbar. Das gerechte göttliche Walten ist für das menschliche Zusammenleben unentbehrlich, denn auf ihm basiert jede ethische Ordnung. Für Erfahrungen, die zum Zweifel an der göttlichen Vorsehung führen, wie das scheinbar nur unzureichend oder gar nicht bestrafte Böse in der Welt, gibt es laut Plutarch plausible Erklärungen. Ein vollständiger Einblick in das göttliche Wirken bleibt dem Menschen jedoch verborgen; er nähert sich lediglich dem Wahrscheinlichen und Einleuchtenden (µ 4 « und µ ).51 Den äußeren Rahmen des Gespräches zwischen Plutarch, seinem Bruder Timon, einem Verwandten namens Patrokleas und einem gewissen Olympichos bildet eine Stoa, die soeben von dem genannten Epikuros verlassen wurde. Dessen Angriffe gegen die stehen noch im Raum und regen die einsetzende Diskussion an.52 Patrokleas greift das Argument der nur zögerlichen Bestrafung schlechter Menschen auf. Die schon bei Euripides geäußerte Vorstellung von einer langsamen, lässig agierenden göttlichen Gewalt, die noch dazu willkürlich zupacke, ärgert ihn überaus. Olympichos setzt sich nun ebenfalls mit diesem Gedanken auseinander, indem er sich dem Gegensatzpaar und 0 zuwendet: «Und wie groß ist doch der Widersinn», sagte er, «mein lieber Patrokleas, der im Abwarten und Zögern der Gottheit in diesen Dingen liegt, insofern die Langsamkeit der 47 48 49
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Vgl. Scholten 2003, S. 122. Plut. De sera 560B. «Was nicht gar! Wie die Menschen uns Götter nun wieder verklagen! Wir seien Spender des Unheils, sagen sie, wo sie doch selber Leiden empfangen durch eine Torheit und mehr als vom Schicksal!» Hom. Od. 1.32–34 (Übersetzung A. Weiher). Vgl. auch Solon Eunomia 48f; Theognis 1.377–380. Epikur fr. 374. Plut. De sera 549F, 550C; vgl. auch 558D. Traten an die Stelle der Ideen Platons bei Plutarch die Götter, vielmehr das Göttliche, so basiert darauf auch die Erkenntnislehre Plutarchs. Nach dem allein Wahren, dem Göttlichen zu streben, das sollte das Leben der Menschen bestimmen. Hirsch-Luipold 2000, S. 17 f.; Textkommentar von Görgemanns zu Plutarch 2003, S. 323–325; oben Anm. 37. Plut. De sera 548C: $ ' λ & $, Ν # $0 Ϊ) « — C'9 λ ) ) Ϊ O « «. Vgl. dazu Berner 2000, S. 132–134.
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Vorsehung ihr die Glaubwürdigkeit nimmt. Ein Übel, das nicht gleich nach jeder unrechten Handlung den Täter trifft, sondern erst später, wird unter die unglücklichen Zufälle gerechnet und als Missgeschick, nicht als Strafe betrachtet; …»53
Wird die späte Strafe als unglücklicher Zufall, als Missgeschick gedeutet, leidet der Bestrafte zwar, zieht aber keine Lehren daraus. Diese modern anmutende Vorstellung geht auf Gorgias und Platon zurück und wurde möglicherweise auch im 1. Jh. n. Chr. in der Akademie diskutiert. 54 Ohne eine pädagogische Wirkung fehlt einer Bestrafung jeglicher Sinn.55 Die Göttin der Gerechtigkeit aber, die nach Euripides gemächlich und ‹mit trägem Fuß› und bei irgendeiner Gelegenheit über die Missetäter kommt, gleicht eher dem Wirken des Zufalls (³« %.0) als dem einer Vorsehung ( /) ) angesichts ihrer Unberechenbarkeit, Verspätung und Regellosigkeit. Darum sehe ich nicht ein, was an den berühmten ‹Mühlen der Götter› Nützliches ist, die, wie man sagt, ‹spät mahlen› und den Glanz des Rechts trüb und die Furcht vor dem Übel wirkungslos machen.56
Gegen diese auf den ersten Blick überzeugend wirkenden Einwände beginnt Plutarch mit einer ausführlichen Argumentation, warum der Mensch Teil göttlicher Pläne ist, die durchaus einen tieferen Sinn ergeben. Gott selbst ist das Modell für das Gute und für die menschliche Tugend ($#).57 So soll die Seele alles Planlose verabscheuen, ebenso das Zufällige (%.0) als den Ursprung allen Übels und aller Fehler. Denn es liegt im Wesen des Menschen, dass er nichts Bedeutenderes von Gott gewinnen kann, als dass er durch Nachahmung und Erstreben des Schönen und Guten ( / λ $'/), welches in Gott liegt, in den Stand der Tugend ($#) gelangt. 58
Was an dieser Stelle als Inbegriff des Göttlichen bezeichnet wird, entspricht dem altgriechischen Ideal der kalokagathía. Seine gebildeten Zuhörer assoziierten wahrscheinlich mit der Formulierung «Streben nach den / λ $'/» das Ziel der klassischen griechischen Erziehung, «schöne und vortreffliche» Menschen hervorzubringen. Die klassische paideia repräsentierte auch in den hellenisierten Ländern den Lebensstil und die Kultur der Griechen.59
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Plut. De sera 549B, C: ‘" #’ ρ ‘τ P $, ¹ λ - - . λ
λ #« Ν %0 ., Ρ κ π .κ« $O « «, λ µ κ ’ $ « « " . - µ $’ 2 4« $.0# « 0< $ λ .O ) C , «. Vgl. auch 549D. Gorgias’ Palamedes. Dazu Scholten 2003, S. 97–107. Zu den zahlreichen Parallelen, aber auch Unterschieden in der Argumentation bei Platon vgl. die überzeugenden Ausführungen von Saunders. Seiner Ansicht nach liegt die wesentliche Motivation des Autors in einer Stellungnahme zum Rechtswesen seiner Zeit, über welches in Kreisen der Akademie debattiert wurde. Saunders 1993, S. 56–94. Vgl. dazu auch Anm. 54. Plat. Prot. 324b, c; Gorg. 525b; Nomoi 934a-f. Plut. De sera 549D: 549D: π ’ $$ ‘ ’ ’ E λ ³« %.0 " . F « « /) )) » ν /) Ρ %0 µ $ λ 3# λ Ν . Plut. De sera 550D. Was für Platon die Ideen sind, ist bei Plutarch das Göttliche. Plut. De sera 550E: ' % Ρ , Ν) « $ - $O. ν µ # λ <& / " " )) / λ $'/ 4« $κ . Vgl. Christes/Klein/Lüth 2006, S. 98. Zur Erziehung vgl. beispielsweise Xen. Mem. 1.6.14 in einem mehr moralischen Sinne; Aristot. Magna Moralia 1207b25 zur Bezeichnung eines guten Charakters; Aristot.
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Wie Platon betont auch Plutarch die ethisch-moralische Komponente dieses Ideals,60 wobei für ihn die griechische Kultur den Weg zur Angleichung an Gott aufzeigt. Gott handelt stets bedacht, so fährt Plutarch fort, auch wenn seine Strafe unter Umständen erst spät erfolgt. Die göttliche Voraussicht ist für die Menschen wegweisend. Und tatsächlich zeigt die Geschichte, dass auch Menschen Vorbilder sein können: Schon das Vorbild von Menschen vermag uns zu Ruhe und Milde anzuhalten, … (es folgen konkrete Beispiele) … wir werden die ruhige Milde und überlegene Haltung gegenüber der Leidenschaft als einen göttlichen Teil der Tugend ansehen. Diese Handlungsweise führt, wie Gott uns vor Augen führt, einige wenige durch das Strafen auf den rechten Weg zurück, durch die Verzögerung aber bringt es vielen Nutzen und sittliche Belehrung.61
Jeder menschlichen Seele wohnt ein von Gott zugewiesener Teil der $# inne – das bedeutet, dass die Zuweisung durchaus unterschiedlich ausfallen kann: Er (Gott) weiß ja, welchen Anteil an Tugend die Seelen von ihm mitbekommen, wenn sie zur Geburt gelangen; er weiß, dass diese edle Grundlage in ihrer Natur fest und unvergänglich verankert ist, dass sie nur wider die Natur durch Erziehung und schlechten Umgang verdorben wird und das Böse sprießen lässt, doch bei einigen dann wieder geheilt werden kann und in den rechten Zustand zurückfindet.62
Manche verfügten offenbar von Geburt an über einen höheren Anteil an $# – so aus Sicht Plutarchs eine bedeutende historische Persönlichkeit wie Alexander, was er in De Alexandri magni fortuna aut virtute ausführt. 63 Natürliche Anlagen lassen sich fördern oder aber zum Schlechten wandeln. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Erziehung und der Einfluss der äußeren Umgebung. Das unwandelbar Schlechte, das Unheilbare, das Plutarch offenbar ebenfalls als ein in der Natur gegebenes Element erkennt, verbannt der «heilende» Gott gänzlich aus dem Leben.64 Zuvor hat er auf die Unzulänglichkeit des «irdischen» Strafvollzugs hingewiesen, der lediglich Vergeltung für zugefügtes Leid übt, aber keine Besserung im Sinn hat. 65 Die Eigenverantwortung des Menschen liegt somit in der Bereitschaft, die natürlichen gottgegebenen Anlagen zu stärken, nach dem Guten zu streben und sich zu bessern. Die Angleichung an Göttliches erfolgt dabei aus einer freien Entscheidung heraus.66
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Nic. Eth. 1099a6 zur Bezeichnung des guten Handelns. Zur Erziehung ein knapper Überblick bei Christes/Klein/Lüth 2006, S. 62, 97. Vgl. Plat. Gorg. 470e: «Denn wer rechtschaffen und gut ist – µ $'µ –, der, behaupte ich, ist glücklich, sei es Mann oder Frau; wer aber ungerecht und böse, ist elend.» Plut. De sera 551A, C: Ρ π - λ « $) « ', λ π' $« κ λ κ ' , j ² µ« " . /) ξ , C' .« " -, /) ξ $)« 8« kO - λ . -. Plut. De sera 551D: Ϊ ' 4<«, Ρ $« $’ - O µ« '$ ¹ 6.0λ , ., λ µ ' ³« 40.µ « λ "& "$O. , "& ξ κ
O 3µ O« λ ²« O« O , ρ .ξ " «
/« $ κ # . &, … Die politische arete galt ihm als die vollkommenste Form der arete. Aalder/de Blois 1992, S. 3385. Gott als «Arzt» ist ein weiteres «Bild» in diesem Text. Vgl. auch Plut. De sera 550a. Dazu Hirsch-Luipold 2002, S. 225–283. Plut. De Sera 551C. Vgl. dazu oben S. 105. Die Frage der menschlichen Entscheidungsfreiheit trotz göttlicher Vorsehung wird in Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie bei Origenes und Eusebios diskutiert. Dazu von Haehling 2005, S. 349–357.
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Die Vorstellung vom wandelbaren Charakter, der mit dem Wort «/Wendung, so Plutarch, eine treffende Bezeichnung gefunden hat,67 illustriert er nun am Beispiel bekannter historischer Persönlichkeiten. Gelon und Hieron von Syrakus, Peisistratos von Athen – sie alle erlangten mit üblen Mitteln die Tyrannis in ihrer Heimatstadt, entwickelten sich dann jedoch zu guten Herrschern. Es folgen weitere bekannte Personen wie Miltiades oder Themistokles, deren Handeln den Verlauf der Geschichte entscheidend beeinflusste. Dies wäre nicht möglich gewesen, hätte jemand sie vorzeitig ermordet oder gerichtlich belangt. Plutarch hegt die tiefe Überzeugung, dass es die Menschen und ihr Wille, ihre Energie und ihre Tatkraft sowie ihr schließlich gefestigter Charakter waren, die wirklich Geschichte schrieben: «Große Naturen bringen nichts Kleines hervor.»68 Schließlich könnte eine Erklärung dafür, dass manche Übeltäter so lange ungehindert ihr Unwesen treiben, darin liegen, dass ihnen eine besondere Funktion in der Geschichte zugedacht ist: Wenn Dionysios am Anfang seiner Tyrannis zur Rechenschaft gezogen worden wäre, hätte niemand von den Griechen Sizilien wiederbesiedelt, das durch die Karthager verwüstet und entvölkert war.69
Demnach kann ein Übel ein anderes tilgen und findet darin seine Existenzberechtigung. Im Fall des Dionysios liegt sie bezeichnenderweise in der Rettung Siziliens für die Griechen.70 Das Unrecht der Tyrannenherrschaft blieb daher so lange von göttlichen Strafen unbehelligt, bis der Übeltäter seiner im göttlichen Plan vorgesehenen Aufgabe nachgekommen war und etwas Gutes hervorgebracht hatte. Plutarch formuliert ein sehr ausführliches und deutliches Plädoyer gegen den Tyrannenmord. Auch wenn er die erläuternden Beispiele aus der griechischen Vergangenheit entlehnt, so könnte an dieser Stelle ein Zeitbezug intendiert sein. Die Datierung des Textes zwischen 91/92 und 107 n. Chr. lässt an Kaiser Domitian denken, der 96 n. Chr. den «Tyrannentod» starb. Da er nicht namentlich genannt wird, lässt sich vermuten, dass er während der Abfassung der Schrift noch lebte. Sein Regime wurde gerade in den letzten Regierungsjahren, nach dem Saturninusaufstand 88 n. Chr., als allgemein bedrückend empfunden.71 Gerade in Intellektuellenkreisen stießen die Philosophenvertreibungen zu Beginn seiner Regierung und um 93 n. Chr. auf keinerlei Verständnis.72 Domitian folgte der politischen Linie seines Vaters, auf diese Art unliebsame Gegner auszuschalten; ein bildungsfeindlicher Hintergrund war daher eher auszuschließen.73 Sehr erbittert äußert sich Dion von Prusa in seinen Exilreden über die Herrschaft des letzten Flaviers. 74 Dion gehörte zu den ersten, die Domitian verbannte,75 und bereiste als 67 68 69 70 71 72
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Plut. De sera 551E. Plut. De sera 552B. Plut. De sera 552E. Polyb. 15.35; Diod. 14.105; Strabo VI p. 261. Suet. Dom. 10. Plutarch berichtet beispielsweise in einem anderen Text (De curiositate 522D11), dass so ein ehrenwerter Mann wie Rusticus unter Domitian verfolgt und getötet wurde. Ob es sich um den bei Sueton genannten Iunius Rusticus handelte, oder Arulenus Rusticus, den Tacitus erwähnt, ist ungewiss. Suet. Dom. 10; Tac. Hist. 3.80. In jedem Fall gehörte er zu den Führern der Opposition. Tac. Agr. 2.3 ; 44.5; Plin. epist. 1.10.1; 1.13.1 ; Cass. Dio 65.13; Suet. Vesp. 15; Weynand 1909, Sp. 2572, 2577 ff.; Jones 1971, S. 25; Urner 1993. S. 41. Veröffentlicht wurden die Exilreden jedoch erst nach dem Tod des Flaviers. Urner 1993, S. 248. Dion or. 13.1. dazu Klauck 2000, S. 13.
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philosophischer Wanderprediger und politischer Berater bis zu seiner Begnadigung nach dem Tod Domitians 96 n. Chr. den griechischsprachigen Osten. Ob er dabei auch Plutarch begegnete, ist ungewiss. Vierzehn Jahre lang lebte er verborgen, unter falschem Namen und nutzte die Gelegenheit, den Hass gegen Domitian zu schüren. Der Flavier galt ihm neben Nero als Paradigma eines schlechten Herrschers.76 Vielleicht wollte Plutarch mit seiner Schrift in dieser aufgeheizten Stimmung zu mehr Besonnenheit raten und darüber hinaus Erklärungen für die allgemeine Unzufriedenheit bieten. Zorn oder übereilte Handlungen führten seiner Überzeugung nach zu keiner zufriedenstellenden Problemlösung, denn historische Prozesse unterlagen nicht der 0, sondern der . Auch wenn die Aussage des Textes weit über die aktuelle Situation hinausgeht und Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erhebt, bedeutet sie angewandt auf den konkreten Fall, dass der «Tyrann» Domitian auch ohne menschliches Zutun seine gerechte Strafe finden würde. In späteren Texten charakterisiert Plutarch den Flavier offen, aber weitaus gemäßigter als arrogant, geschmacklos und abergläubisch.77 Andererseits war Domitian für sein Philhellenentum bekannt und wurde zwischen 84/5 und 92 n. Chr. als erster Princeps zum Archon Eponymos Athens ernannt.78 Vor diesem Hintergrund gibt die weitere Argumentation Plutarchs zu bedenken, dass ein dem Griechentum so zugewandter Prinzeps trotz seines tyrannischen Verhaltens am Ende noch Gutes hervorbringen könnte. Weitere Beispiele werden genannt, die ein allzu übereiltes Handeln in Abrede stellen:79 Gehörte nicht Perikles zu dem fluchbeladenen Geschlecht der Alkmeoniden? Die von Plutarch nicht näher erörterten Folgen allzu voreiliger Sanktionen gegen die Ahnen des Perikles hätten Griechenland um herausragende Hinterlassenschaften wie die Bauten auf der Akropolis gebracht. 80 Aber auch der römische Feldherr Pompeius Magnus konnte sich nicht stolz seiner Ahnen rühmen. Sein Vater Pompeius Strabo hatte durch sein brutales Vorgehen im Bundesgenossenkrieg und durch die skrupellose Aneignung des Konsulats neben Sulla von sich reden gemacht. 81 Er war in Rom so verhasst, dass er auf offener Straße getötet und seine Leiche geschändet wurde.82 Dennoch hatte er etwas Gutes hervorgebracht, einen Sohn wie Pompeius Magnus, der als Euergetes schlechthin galt. Nachdem dieser 67/66 die Seeräuber bezwungen und bald darauf auch die Verhältnisse in Kleinasien und Judäa geregelt hatte, nahm er eine systematische Neuordnung des Ostens vor. Neben der Integration von Klientelkönigtümern bildeten die Urbanisierung und Hellenisierung die zentralen Bestandteile seines Erfolgsrezeptes.83 Plutarch widmete ihm wie auch Perikles eigene Biographien. Am Nachruhm der beiden Persönlichkeiten insbesondere aus Sicht der Griechen besteht kein Zweifel. 76 77 78
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Vgl. Forschner 2003, S. 130 f. Vgl. auch Dion or. 1.50; 45.1; 50.8. Urner 1993, S. 34, 225–227. Plut. Num. 19.7; Quaest. Rom. 276e; Publ. 15.3–6. IG III 1091; FdD Epigr. III 2 Nr. 65. Eine genauere Datierung ist leider nicht möglich. Hinzuweisen ist außerdem auf die in Rom eingerichteten Capitolina, griechische Spiele, die vor allem in der griechischen Welt großen Anklang fanden. Namhafte Athleten und Künstler nahmen daran teil. Auch der Minerva-AthenaKult spielte für seine Herrschaftsauffassung eine herausragende Rolle. Dazu Leberl 2004, S. 76–78. Plut. De Sera 553B. Plut. Perikles 12–14. Dazu ausführlich Ameling 1985, S. 47–63. Zu denken ist etwa an das blutige Strafgericht 89 v. Chr. über die Honoratioren von Asculum sowie an die Konsulatswahlen 87 v. Chr. Hefter 2006, S. 132 f., 146 f. Plut. De sera 553B. Diod. 40.4.1; Plut. Pomp. 45.4; Plin. NH 37.16; vgl. dazu Christ 2004, S. 179–181; Baltrusch 2002, S. 245–262.
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Wie entscheidend sich Leistungen zum Wohl Griechenlands im Urteil Plutarchs nicht nur auf das Leben der einzelnen Personen, sondern auch auf den Verlauf der Geschichte auswirken, dokumentieren die eben erörterten Beispiele. Es gilt, in größeren zeitlichen, aber auch räumlichen Dimensionen zu denken, 84 womit Plutarch zur Problematik der kollektiven Haftung überleitet, zu einem Gedanken, der in der Archaik noch selbstverständlich war. 85 Wie kann es gerecht sein, wenn die Strafe eine ganze Gemeinde oder aber erst die Nachkommen eines Übeltäters trifft? – Plutarchs Antwort lautet, dass es sich bei einer Polis um ein einheitliches Lebewesen handelt; die Nachkommen tragen den Wesenskern ihrer Väter in sich und büßen für diese Erblast. 86 Damit richtet sich Plutarch gegen einen reinen Individualismus. Der Mensch ist für ihn immer Teil einer Familie, eines Geschlechtes, einer Gemeinschaft. Wandlungsprozesse lassen sich demnach oft in einem zeitlich und räumlich größeren Ganzen erfassen. Eine Kollektivstrafe entzieht sich somit leichter der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis.87 Eine Antwort auf die Frage, warum Gott erst die Nachkommen und nicht den Übeltäter selbst bestraft, bleibt er an dieser Stelle noch schuldig.88 Die im Logos argumentativ vorbereiteten Gedankengänge werden nun in der Form eines Mythos weiter ausgeführt.89 Begann der Logos mit einer Erklärung für die verspätete Bestrafung von Unrecht im Leben eines Menschen und mit dem Problem einer noch innerweltlichen, aber über das individuelle Leben hinausreichenden kollektiven Vergeltung, dient nun der Mythos dazu, die Lücken in dem Bild einer für den Menschen schwer zu erschließenden göttlichen Gerechtigkeit zu füllen. Gibt es im Diesseits keinen Ausgleich, muss es einen im Jenseits geben. Die rationale Beweisführung gerät an ihre Grenzen, weshalb nur noch ein Mythos Weiteres beitragen kann. Es ist also ein und derselbe Gedankengang, der gleichzeitig die Vorsehung Gottes und das Überdauern der Seele begründet, und man kann nicht an dem einen festhalten, wenn man das andere aufgibt.90
Der Mythos beschreibt die Vision eines Menschen auf der Schwelle des Todes. Es handelt sich um einen Kunstmythos und gleichzeitig um ein Aition für den Wandel eines schlechten zum guten Menschen. Aridaios, ein ausgesprochen übler Zeitgenosse, stürzt und verliert das Bewusstsein.91 Der «bewusste» Teil seiner Seele steigt hinauf in andere Sphären, zunächst an den Ort, an dem die Seelen der Verstorbenen wieder Gestalt annehmen. Dort trifft er seinen Seelenbe-
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Plut. De Sera 558E. So der Textkommentar von Görgemanns zu Plutarch 2003, S. 333 mit Anm. 33: auch in älteren Teilen des AT, in Aischylos’ Thebanischer Trilogie und in der Orestie. Erste Kritik bei Theognis 1. 731 ff. Plut. De sera 558F-559F. Plut. De sera 558F-559C. Im Mythos führt er aus, dass das Leid der Nachkommen zur Strafe der Väter wird. Plut. De sera 563Bff. Vgl. dazu Hirsch-Luipold 2000, S. 18 f. Plut. De sera 560F: ‘E:« σ " ' «’, %O *² - - κ Ϊ λ κ κ « $)« 6.0« /, λ % $ $ - . Den Namen hat Plutarch offenbar aus dem Mythos am Ende von Platons Politeia übernommen. Plat. Pol. 615C. Zum Mythos und den zahlreichen Parallelen im Gedankengut Platons. Textkommentar von Görgemanns zu Plutarch 2003, S. 378–382.
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gleiter, der ihm zunächst einen neuen Namen gibt, Thespesios.92 Der Begleiter führt ihn vorbei an einem gefährlichen dionysischen Schlaraffenland, an einem Ort, an dem die Träume gemacht werden, an einer in der Ferne wahrsagenden Sibylle zu dem Ort, an dem die Seelen schlimmste, körperlich sichtbare Qualen erleiden.93 Schlechte Eigenschaften, alles Üble zeichnet sich hier farblich ab, nichts lässt sich mehr verbergen.94 Tief erschüttert, Freunde, Bekannte und Verwandte, sogar seinen eigenen Vater unter den fürchterlichsten Qualen beobachten zu müssen, möchte Thespesios umkehren. Doch von seinem freundlichen Begleiter verlassen, wird er von anderen, schrecklichen Wesen gnadenlos vorangetrieben. Kein Anblick bleibt ihm erspart. Einige Seelen werden in metallene Seen getaucht, nach dem Erkalten zerbrochen, neu zusammengesetzt und wieder geschmolzen, bis sie zur Wiedergeburt bereit sind. 95 Am schlimmsten trifft es jedoch jene, die von ihren Nachkommen verfolgt werden, weil diese für ihre Strafen büßen müssen.96 Am Ende beobachtet er die Seelen, die von «Handwerkern» in eine andere Gestalt gebracht werden, um als Tiere wiedergeboren zu werden. In diesem Zusammenhang wird die einzige historische Person genannt, noch dazu am Ende des Mythos, also an exponierter Stelle. Thespesios wird Zeuge, wie die schlimm zugerichtete Seele Neros auftaucht, " « O κ N$) «. Sie sollte zu einer pindarischen Viper geformt werden – womit eine eindeutige Anspielung auf den Muttermord Neros gegeben ist,97 Da sei auf einmal, sagte er, ein helles Licht aufgeleuchtet und aus dem Licht eine Stimme erschollen, die befahl, ihn in eine andere Art Tier zu verwandeln, ein harmloseres: ein gesangreiches Tier in Sümpfen und Seen sollten sie schaffen.98
So wird Nero, dessen Darbietungen in Griechenland Plutarch selbst erlebt hatte,99 gnädigerweise zu einem Vogel oder Frosch. Am Ende spricht Plutarch sicher mit einem Augenzwinkern eines seiner politisch wie literarisch größten Anliegen aus, nämlich die Betonung der Gleichwertigkeit von Römern und Griechen: Denn seine Untaten (Neros) habe er gebüßt, aber die Götter seien ihm auch etwas Gutes schuldig, weil er dem edelsten und gottgeliebtesten der Untertanenvölker die Freiheit geschenkt habe, den Griechen.100
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Thespesios bedeutet «Göttliches, Wunderbares kündend». Textkommentar von Görgemanns zu Plutarch 2003, S. 378. 93 Plut. De sera 565A-566E. Ein direkter Blick auf das Orakle von Delphi blieb ihm verwehrt, lediglich die göttlichen Willen verkündende Stimme der Sibylle drang zu ihm. Zu den Dionysischen Mysterien in der römischen Kaiserzeit und der Sibylle, die wohl aus dem Orient nach Griechenland gelangt war, vgl. den Textkommentar Görgemanns zu Plutarch 2003, S. 380 f. 94 Plut. De sera 565C. 95 Plut. De sera 567C. 96 Plut. De sera 567D, E. 97 Textkommentar von Görgemanns zu Plutarch 2003, S. 383. Pindar hatte wohl in einem verlorenen Text die Legende von der Viper wiedergegeben, die sich bei der Geburt durch den Leib der Mutter frisst, diese somit tötet. 98 Plut. De sera 567F: … O/« %O "&O« 6 $' λ O)κ " - O)µ« '$ . 4« Ν '$ « π< , k ) 0$ .« λ
λ « ,/ · ) 99 Hirsch-Luipold 2000, S. 15. 100 Plut. De sera 567F-568A: @ ξ ' ) $ «, CO $ λ 0µ /) /, Ρ / 3 ) µ $ λ O$ '$ « .$) κ
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Plutarch nutzt die Gelegenheit, auf eine gute Entscheidung eines sonst ohne Zweifel «schlechten» Kaisers hinzuweisen und gleichzeitig dem amtierenden Regenten eine Möglichkeit aufzudecken, etwas wirklich «Gutes» zu erkennen: Die Freiheit Griechenlands. Wenige Jahre nach dem Zugeständnis der Selbstverwaltung und Steuerfreiheit durch Nero hatte Vespasian das Privileg für die Provinz Achaia wieder zurückgenommen. Dass es sich angesichts der immensen Schuldenlast, die Nero dem römischen Staat hinterlassen hatte, um eine finanzpolitisch nachvollziehbare und notwendige Maßnahme handelte, findet keine Berücksichtigung.101 Da auch an dieser Stelle Vespasian und Domitian nicht namentlich erwähnt sind, ist abermals darauf zu schließen, dass die Schrift noch vor 96 n. Chr. zu datieren ist. Plutarch verstand sich als philosophischer Lehrer, aber auch als politischer Ratgeber, der sich an dieser Stelle – ausgesprochen vorsichtig und durchaus humorvoll – für eine politische Privilegierung der Griechen als ein den Römern gleichwertiges, wenn nicht in Fragen der Bildung überlegenes Kulturvolk ausspricht.102 Mit der Betrachtung der Seele Neros endet Thespesios’ «Reisebericht», bevor es ihm nur mit höchster Not gelingt, in seinen Körper zurückzukehren und nach dieser grausamen Höllenvision geläutert sein Bewusstsein zurückzuerlangen. Der Mythos dürfte seine abschreckende Wirkung auf Hörer und Leser nicht verfehlt haben. Logos und Mythos stehen in der Darstellung Plutarchs nicht konträr gegenüber, sondern wirken mit- oder ineinander, um das Thema voll auszuschöpfen und den beabsichtigten pädagogischen und therapeutischen Zweck gänzlich zu erfüllen. Die Bildsprache103 findet einen umfassenden Einsatz, einmal in Form von rational fassbaren Erklärungsmodellen aus dem Bereich der Medizin, der Geschichte oder auch der Politik. So vergleicht er die Polis mit einem menschlichen Organismus und nutzt die Form einer grausamen Höllenvision im Mythos, um das Unvorstellbare sichtbar zu machen.
Zeitgenössische Vorstellungen Eine vergleichbar enge Verknüpfung der mit dem Gedanken der strafenden Gottheit findet sich auch in dem zeitgenössischen Werk De bello Judaico des Flavius Josephus.104 Wie Plutarch verbindet Josephus mit dem Terminus das in der Welt wirkende göttliche Strafgericht und den allen Dingen und Geschehnissen zugrunde liegenden göttlichen
*E. Zu Neros Freiheitserklärung: Dittenberger Sylloge 3 814; vgl. auch Plut. Flam. 12; Suet. Nero 24; Cass. Dio 63.11. 101 Vgl. dazu Bothworth 1973, S. 58–60. 102 Der Aufstieg Roms und der andauernde Erfolg der Römer sind auf die göttliche Vorsehung zurückzuführen. So lautet das Ergebnis der Studie Swains. Swain 1989. 103 Zur Bildsprache Plutarchs vgl. umfassend Hirsch-Luipold 2002, 225–283. 104 Der 37/8 n. Chr. geborene jüdische Historiker entstammte dem priesterlichen Hochadel Jerusalems. Im Verlauf des Jüdischen Aufstandes verteidigte er als Oberbefehlshaber Jotapata, ergab sich jedoch nach einer mehrwöchigen Belagerung 67 n. Chr. Vespasian, dem er später die Kaiserherrschaft voraussagte. Als Freigelassener und Vertrauter des Titus gelangte er nach Rom, wo er sich seinem literarischen Schaffen widmete. Sein Tod fällt in die Regierungszeit Trajans. Zur Biographie des Flavius Josphus vgl. beispielsweise die Einleitung in: Flavius Josephus 1982, S. XI–XVIII. Die folgenden Übersetzungen sind der genannten Ausgabe entnommen. Auf weitere Parallelen zum Denken Plutarchs verweist Feldmann 2005, S. 209–243.
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Plan.105 Insgesamt handelt es sich um ein zentrales Thema, wenn nicht sogar um ein Leitmotiv seines Werkes, was eine am Ende geschilderte Episode nahelegt. Sie handelt vom Schicksal Catulls, des verbrecherischen Statthalters der Provinz Cyrenaika. Der Milde des weltlichen Herrschers hatte Catull es zunächst zu verdanken, dass es lediglich bei der Feststellung seines Unrechts blieb. Doch seiner gerechten Strafe konnte er am Ende nicht entfliehen. Von einer schrecklichen Krankheit befallen, durchlitt er bis zu seinem Tod furchtbare Qualen: Das Übel nahm immer schneller zu, bis ihm infolge von Fäulniserscheinungen die Eingeweide aus dem Leib brachen, und so schließlich sein Tod eintrat – ein Beweis wie kaum ein anderer, dass die Vorsehung Gottes den Übeltätern gerechte Strafe auferlegt. Hier sind wir am Ende der Geschichte, … 106
Offen bleibt ob die nur der zuvor geschilderten Geschichte ihren Sinn gibt, oder sich vielleicht auf das gesamte Werk bezieht. An einer weiteren zentralen Stelle in seinem Werk differenziert Josephus eindeutig zwischen und 0.107 Es geht um die Rechtfertigung seines «Überlaufens» zu den Römern, wenn er berichtet, dass er in der wohl ausweglosesten Situation seines Lebens ganz nach göttlichem Willen gehandelt habe: Da geschah es, dass Josephus übrig blieb, zusammen mit einem anderen; man mag dabei von Zufall oder von Gottes Vorsehung reden – L 3µ 0« 0κ $', L 3µ - «.108
Während der römischen Belagerung Jotapatas hatte er sich im festen Vertrauen auf Gott darum bemüht, seine Leute vom Selbstmord abzubringen, indem er den Vorschlag machte, das Los entscheiden zu lassen, wer als nächstes von seinem Nebenmann getötet werden sollte. Ob diese Form des «Scherbengerichts» tatsächlich stattgefunden hat, oder sich Josephus im Nachhinein seinen Lesern als besonnener Offizier, der eine klassische griechische Bildung genossen hatte, präsentieren wollte, sei dahingestellt. Von der Verantwortung für sein Handeln zwar nicht ganz enthoben, beabsichtigte Josephus offenbar den Eindruck zu erwecken, dass sein Überleben und seine Unterwerfung unter die Herrschaft Roms letztlich eine Vollendung «göttlicher Vorsehung» waren. Zur Erklärung politisch historischer Abläufe als gottgewollt verwendet Josephus oft synonym den Begriff 0.109 Aber auch 0 bezeichnet in De bello Judaico eine göttliche Schicksalmacht im historischen Geschehen. Ihrem Wirken unterliegt nicht nur das Leben 105 106 107 108
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Flav. Jos. De bello Jud. 1.82.2; 2.457.2; 4.622.3; 7.82.3. Josephus gebraucht die beiden Termini synonym. Flav. Jos. De bello Jud. 7.453.3. Zur Vorsehung bei Josephus, vgl. Schrage 2005, S. 90–98. Flav. Jos. De bello Jud. 3.391.1, 2: ’ W « L 3µ 0« 0κ $', L 3µ « 8 ?$), ) … Van Unnik zufolge ist es sehr wahrscheinlich, dass Josephus sein Überleben auf die Hilfe von Zufall oder Vorsehung zurückführte; van Unnik 1978, S. 42. Zum 0-Begriff des Josephus vgl. den Exkurs XVIII zu Buch 6 in der Textausgabe Flavius Josephus 1969, S. 212–214. Einen ähnlichen Sprachgebrauch konnte Swain auch für Plutarchs Parallelbiographien herausarbeiten. Wenn es nicht um philosophische Erörterungen geht, bleibt Plutarch beim alltäglichen seit hellenistischer Zeit üblichen Sprachgebrauch, in dem 0 auch eine wirkende göttliche Macht bezeichnen kann. Swain bemerkt, Menschen neigten mehr dazu vom Glück als von einer göttlichen Ursache zu sprechen. Swain 1989, S. 274.
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Einzelner,110 sondern ganzer Gruppen, weshalb auch von kollektiven göttlichen Strafen in seinem Werk die Rede ist.111 Eine ganze Reihe weiterer Beispiele verdeutlicht, dass Josephus wie Plutarch historische Prozesse auf einen höheren göttlichen Plan zurückführt, den Menschen aber nicht gänzlich der Verantwortung für sein Handeln enthebt.112 Auf die Ähnlichkeiten dieser -Vorstellungen zur frühchristlichen Literatur wurde in der Forschung schon häufig hingewiesen.113 Plutarch schreibt zu der Zeit, in der ein großer Teil des Neuen Testamentes verfasst wurde. Obwohl er sich durchaus mit anderen Religionen beschäftigte, findet sich keine Bemerkung zum Christentum. Frühchristliche Autoren kannten und schätzten dagegen seine Werke, sicher nicht zuletzt wegen ihrer O).114 Eine weitere signifikante Parallele besteht im Glauben an ein göttliches Strafgericht. Doch im Neuen Testament findet der Begriff in diesem Kontext keine Verwendung. Nur zweimal, im Römerbrief und in der Apostelgeschichte, bezeichnet ein fürsorgliches, sorgsames, jedoch menschliches Verhalten.115 Wenn es um die Bestrafung der unsterblichen Seele geht, ist dagegen im Neuen Testament von « die Rede.116 Ein Begriff, der ursprünglich aus dem medizinischen Sprachgebrauch stammt und den Wendepunkt einer Krankheit bezeichnet, hält hier Einzug in andere Bedeutungsfelder.117 Die Aufmerksamkeit richtet sich somit nicht wie in den Texten Plutarchs auf die rational nachvollziehbare, ordnende und auch über den Tod hinauswirkende Kraft der Gottheit, auf die Weltordnung schlechthin, sondern auf die apokalyptische Erwartung des Jüngsten Gerichts. Auch wenn diese Vergeltung ähnlich der Vorstellung Plutarchs als Prozess zu sehen ist, der sich schon im Leben vollzieht, zeigt die sprachliche Ausdrucksform, dass es auf den Wendepunkt ankommt – das bedeutet, dem Wort Gottes zu folgen. Dagegen hat Plutarch keinen festen Kanon göttlicher Weisungen zur Verfügung. Er verbindet Religion und Philosophie, indem er den Menschen zur Suche nach der Wahrheit, dem Göttlichen anleitet, womit der tiefere Sinn im Weltgeschehen, sowohl räumlich als auch zeitlich gemeint ist.118
Zusammenfassung Plutarch geht es in De sera numinis vindicta nicht darum, apokalyptische Visionen oder Offenbarungen aufzuzeigen, sondern in Abgrenzung zu religions- und traditionskritischen Auffassungen möglichst schlüssige Argumente für die göttliche und ihre Wir110 111
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Vgl. Flav. Jos. De bello Jud. 1.82.2; 1.593.4; 3.28.2; 3.144.2; 3.391.2; 4.622.3. Eine solche traf etwa die in der Festung Massada Belagerten. Flav. Jos. De bello Jud. 7. 318–319. Im gesamten achten Kapitel des 7. Buches beschreibt Josephus die Gesetzlosigkeit und Grausamkeit der in der Festung ausharrenden Juden. Am Ende sah Eleazar, der an der Spitze der eingeschlossenen Sikarier stand, im Freitod einen letzten Ausweg. Nicht die Römer, sondern Gott solle sie für ihr Unrecht strafen. (7. 333). Vgl. auch das Blutbad von Chaironeia: Flav. Jos. De bello Jud. 2.457.2. Josephus wünschte, als Prophet gesehen zu werden. Vgl. van Unnik 1978, S. 42, 54; Schrage 2005, S. 96 f. Vgl. dazu Betz 1975, S. 183 f. mit Literaturhinweisen. Hirsch-Luipold 2000, S. 29. Zum Fortleben Plutarchs vgl. auch Klostermann 1916, S. 14. Apg 24.2.4; Paulus epist. Röm. 13.14.2. Vgl. Apg 23.3; Matth. 10.15; 12.36; 25.31 ff.; Röm. 14.10. Dazu ausführlich Koselleck 1982, S. 617 f.; Scholten 2007, S. 5–13. Hirsch-Luipold bemerkt, dass es sich im Prinzip um eine Neuinterpretation, um eine theologische Deutung der Ideenlehre Platons handelt. Hirsch-Luipold 2000, S. 17.
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kung auf das menschliche Dasein zu liefern. Obgleich der Mensch in den göttlich bestimmten Kosmos eingebunden ist, trägt er dennoch die Verantwortung für sein Handeln. Im Streben nach dem Schönen und Guten und in dem Willen, die von Gott zugeteilte $# zu fördern oder zu verbessern, liegt seine Bestimmung.119 Plutarchs Ausführungen über die $# und die Wandelbarkeit des Charakters zeigen, welch große Bedeutung er der am Ideal der kalokagathía orientierten Ausbildung und dem Umfeld eines Menschen beimisst. Wird der Mensch vom göttlichen Strafgericht, der gemäß, für seine Taten zur Verantwortung gezogen, dann geht es nicht nur um Strafe, sondern auch um Heilung, um einen therapeutischen oder auch pädagogischen Aspekt. Gott fungiert gleichzeitig als Richter und Arzt der Menschheit. Diese Erkenntnisse gelten unabhängig von Raum und Zeit; sie erklären historische Geschehnisse, geben dem Verlauf der Geschichte und dem Leben insgesamt seinen tieferen Sinn. Nicht 0 ist die alles bestimmende Kraft – eine in der hellenistischen Geschichtsschreibung durchaus gängige Vorstellung120 – sondern die göttliche . Ein Vergleich mit dem Sprachgebrauch des Josephus hat gezeigt, dass der -Begriff Teil einer allgemeinen religiösen Vorstellung ist, die in ihren Grundlinien auch Einzug ins frühe Christentum hält, dort aber eine Wandlung erfährt.121 Abschließend bleibt die Frage zu erörtern, welchen Platz dem Imperium Romanum in diesem göttlich geordneten Kosmos zukommt. Der konstante Aufstieg Roms, die Einrichtung des Prinzipats und dessen dauerhafter Erfolg lassen auf die Zustimmung der Gottheit schließen.122 Das Fehlverhalten einzelner Principes fällt angesichts der in Raum und Zeit wirkenden nicht ins Gewicht. Jeder Mensch und besonders ein Herrscher sollte den göttlichen Tugenden nacheifern. Der Weg führt über die klassische griechische Bildung einschließlich ihrer ethisch-moralischen Grundsätze.123 Die Aufgabe eines Philosophen darf sich nicht wie bei den Stoikern darauf beschränken, rein theoretische Vorstellungen zu entwickeln, oder wie bei den Epikureer eine gänzlich unpolitische Lebensweise zu propagieren. Die gottgegebene $# benötigt die Anleitung eines Philosophen, der somit vor allem die Herrschenden beraten sollte.124 Dieser Aufgabe kommt Plutarch in De sera numinis vindicta durchaus nach: Sein Urteil über herausragende Persönlichkeiten orientiert sich an ihren Verdiensten für Griechenland. Dass er diesen Maßstab auch bei den römischen Kaisern anlegte, zeigt die erwähnte «Gnade» gegenüber Nero. Domitian hätte ebenso gut ins Bild gepasst – als Beispiel eines Tyrannen, dessen endgültige Strafe noch ausstand.
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Swain 1989, S. 296. Wirth 2003, S. 209. Vgl. oben Anm. 115. Vgl. dazu die Forschungsergebnisse Swains zu den Parallelbiographien. Swain 1989, S. 292–294, 296. Vgl. auch Plut. De fort. Rom. 317c; De tranquillitate animi 469E; Mueller-Goldingen 1993, S. 206. In seinen politischen Schriften bekennt sich Plutarch eindeutig zur Monarchie, wobei er die Auffassung Platons teilte, dass der ideale Herrscher möglichst hohen philosophischen Ansprüchen zu genügen habe, somit Philosoph werden oder sein sollte. Plat. Pol. 473c-d. Ein Philosoph sollte als Berater der Menschen und damit auch der Herrschenden fungieren. Mueller-Goldingen 1993, S. 204 f. mit weiteren Belegangaben. Es geht ihm weniger um theoretisches Wissen, als um eine praktische Anleitung, wobei der Staatsmann idealer Weise die Anlage zum agathos in sich tragen müsse. Es handelt sich dabei um eine aristotelische Vorstellung. Vgl. Mueller-Goldingen 1993, S. 204 f.
Göttliche Vorsehung und die Bedeutung des Griechentums in Plutarchs De sera numinis vindicta
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Wendet sich Plutarch somit mahnend an seine Zeitgenossen, Besonnenheit zu wahren und auf die göttliche Vorsehung zu vertrauen, gibt er den Principes seiner Zeit den guten Rat, nicht nur im eigenen Interesse dem Griechentum bestmögliche Anerkennung zukommen zu lassen. Auf konkrete politische Maßnahmen bezogen bedeutete es in der Umsetzung die erneute Zuerkennung der Freiheit Griechenlands. Die griechische Kultur sollte einen integralen Bestandteil des römischen Herrschaftskonzeptes bilden, um die Pax Romana zum Wohle aller zu sichern. Im Idealfall verkörpert die Pax Romana ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Bereichen der Religion, Politik und Philosophie und entspricht somit der göttlichen Vorsehung.125
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Vgl. dazu Mueller-Goldingen 1993, S. 201–215.
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Göttliche Vorsehung und die Bedeutung des Griechentums in Plutarchs De sera numinis vindicta
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David Engels
Der Hahn des Honorius und das Hündchen der Aemilia. Zum Fortleben heidnischer Vorzeichenmotivik bei Prokop «Der Germanenfürst Odoaker hat Pavia erobert, denn das Huhn seines Namens hat drei Eier gelegt. So viel Übereinstimmung ist noch in der Natur, oder es gibt keine Weltordnung.»1
Diese prägnanten Sätze sind wohl jedem Leser von Dürrenmatts erster, 1949/48 unter dem Eindruck des Untergangs des Dritten Reichs verfaßten «ungeschichtlichen historischen Komödie» «Romulus der Große» im Gedächtnis geblieben, zusammen mit der berühmten Feststellung: «Die Hühnerzucht ist die einzige Leidenschaft des Kaisers.»2 Daß diese auf den ersten Blick absurd und komisch wirkende Charakterisierung des letzten weströmischen Kaisers nur den Rahmen für eine letztlich tiefernste, bittere Tragikomödie über den ethischen Wert oder Unwert von Staat und Kultur absteckt, wird dann spätestens im dritten Akt deutlich, in welchem Kaiser Romulus sich als Sachwalter der historischen Gerechtigkeit zu erkennen gibt und den Untergang seines Reichs begrüßt, welches er als «Einrichtung, die öffentlich Mord, Plünderung, Unterdrückung und Brandschatzung auf Kosten der anderen Völker betrieb», 3 apostrophiert. Hierbei handelt es sich natürlich um eine gewollte negative Stilisierung des römischen Weltreichs, der sich weder der Verfasser dieses Beitrags noch sonst ein ernstzunehmender Historiker wohl uneingeschränkt anschließen könnte, doch soll nicht diese Frage im Mittelpunkt vorliegender Untersuchung stehen: Vielmehr ist es die Charakterisierung des Kaisers als Hühnerzüchter, dieses offensichtlich so überzogen und scheinbar nur um des komischen Effektes willen komponierte Beiwerk der Handlung, welche unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen hat, denn es handelt sich hierbei unerwarteterweise um das nahezu einzige althistorisch korrekte und nachvollziehbare Element des Stücks. Allerdings ist Dürrenmatt bei der Niederschrift des Stücks, welches wohl durch die Lektüre der letzten Sätze von Strindbergs Novelle «Attila» motiviert war, ein prosopographischer Irrtum unterlaufen, war es doch nicht Romulus Augustulus, der als Hühnerzüchter in den Anekdotenschatz der Antike eingegangen war, 4 sondern Kaiser Honorius, einer seiner Vorgänger. 5 Hierbei ist Dürrenmatt nicht der einzige Künstler der Neuzeit, 1 2 3 4
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Dürrenmatt (1980/1998) Akt 1, 27. Dürrenmatt (1980/1998) Akt 2, 48. Dürrenmatt (1980/1998) Akt 3, 77. Quellen zu Romulus Augustulus sind Anon. Vales. 37 f.; Prokop. 5,1; Candidus FHG 4,136; Chron. min. 1,308 f.2,91. Zur Situation des Weströmischen Reiches im Jahre 476 vgl. Wes (1967) 52 ff. mit dem Überblick «Das Jahr 476 in den Quellen». Der Rückbezug auf Strindberg (1905) ist bezeugt bei Dürrenmatt (1980/1998) Anmerkung III, 122 (geschrieben 1973). Strindberg erwähnt allerdings nur die generellen Grundfakten im Leben des Romulus Augustulus (191): «Er hieß sonderbarerweise Romulus, wie Roms erster König, und Augustus, wie der erste Kaiser.
Zum Fortleben heidnischer Vorzeichenmotivik bei Prokop
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der sich mit dem hühnerzüchtenden weströmischen Kaiser Honorius auseinandersetzte. Historisch genauer als der Schweizer Dichter nahm es allerdings die Zeit des Historismus, denkt man etwa an das monumentale Historienbild «The Favorites of the Emperor Honorius» des englischen Malers Waterhouse aus dem Jahr 1883, 6 das noch ganz der Tradition eines Alma-Tadema verhaftet ist, Waterhouse den künstlerischen Durchbruch brachte 7 und von der Kritik für «its search for truth in regard to detail» 8 gewürdigt wurde, stellt es doch den sinnenden, vom Thron herab seine Hühner fütternden König inmitten einer historisierend dargestellten spätantiken Audienzhalle und umgeben von zahlreichen kirchlichen wie weltlichen Würdenträgern dar. Doch auch Waterhouse wird seine Informationen nicht den antiken Quellen entnommen haben; die Inspiration zum Bild entstammte vielmehr Wilkie Collins erstem, 1850 veröffentlichten Roman «Antonina, or, The Fall of Rome», in welcher der viktorianische Autor die Hühnerzucht des Honorius schildert und den Kaiser als von intrigierenden Bittstellern umgeben beschreibt, also recht genau die Umrisse des späteren Gemäldes Waterhouses vorgibt. 9 Quelle für den überaus belesenen 10 Collins und letztlicher Ausgangspunkt der Verbreitung der Motivik vom «hühnerzüchtenden Kaiser» dürfte wohl Gibbons Decline and Fall of the Roman Empire gewesen sein, in welcher dieser eine überaus prägnante Charakterschilderung des Honorius gibt:
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Und er beschloß sein Leben als Verabschiedeter, mit einer Pension von 6000 Goldmünzen, in einer Villa in Campanien, die vorher Lucullus besessen hatte.» Die Hühneranekdote muß Dürrenmatt allerdings der Erinnerung an eine andere Quelle entnommen und hierbei unwillentlich Romulus Augustulus mit Honorius verwechselt haben, erklärt er doch in Anmerkung II, 120 f.: «Romulus Augustulus war 16, als er Kaiser wurde, 17, als er abdankte und in die Villa des Lukull nach Campanien zog. Die Pension betrug 6000 Goldmünzen, und seine Lieblingshenne soll Roma geheißen haben. Das ist das Historische.» (geschrieben 1949 für das Programmheft der Uraufführung im Stadttheater Basel.) 119,3 × 205 cm, Öl auf Leinwand. Das Bild befindet sich in der Art Gallery of South Australia, Adelaide; zwei Skizzen sind in Privatsammlungen aufbewahrt. Zu Abbildungen und Kommentar vgl. jetzt Trippi (2002) Abb. 34 (Hauptbild) und 35–36 (Skizzen). The Times, 20. Mai 1885, p. 6. Temple (1897) 200. Collins (1850) ch. 2: «In the midst of a large flock of poultry, which seemed strangely misplaced on a floor of marble and under a gilded roof, stood a pale, thin, debilitated youth, magnificently clothed, and holding in his hand a silver vase filled with grain, which he ever and anon distributed to the cackling multitude at his feet. Nothing could be more pitiably effeminate than the appearance of this young man. His eyes were heavy and vacant, his forehead low and retiring, his cheeks sallow, and his form curved as if with a premature old age. An unmeaning smile dilated his thin, colourless lips; and as he looked down on his strange favourites, he occasionally whispered to them a few broken expressions of endearment, almost infantine in their simplicity. His whole soul seemed to be engrossed by the labour of distributing his grain, and he followed the different movements of the poultry with an earnestness of attention which seemed almost idiotic in its ridiculous intensity. If it be asked, why a person so contemptible as this solitary youth has been introduced with so much care, and described with so much minuteness, it must be answered, that, though destined to form no important figure in this work, he played, from his position, a remarkable part in the great drama on which it is founded – for this feeder of chickens was no less a person than Honorius, Emperor of Rome.» Die Novelle fand übrigens keine gute Aufnahme beim breiten Publikum und wurde noch am 22. März 1862 im «Harper’s Weekly» im Rahmen einer Darstellung des Dichters folgendermaßen charakterisiert (189): «ANTONINA, which was published in 1850, revealed his remarkable genius, but the subject was ill chosen, and the book did not meet with great success.» Hierzu Baker (2002).
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In his early youth he made some progress in the exercises of riding and drawing the bow; but he soon relinquished these fatiguing occupations, and the amusement of feeding poultry became the serious and daily care of the monarch of the West […].11
Gibbon entnahm diese Passage, wie in einer Fußnote vermerkt, direkt dem iustinianschen Historiker Prokop von Caesareia,12 dessen Bericht der englische Historiker allerdings überaus kritisch einschätzt,13 so daß wir nunmehr den Endpunkt unseres kurzen, gleichsam detektivischen rezeptionsgeschichtlichen tour d’horizon dieses Motivs abendländischer Kunst des 19. und 20. Jh.s erreicht haben und gleichzeitig am Ausgangspunkt der eigentlichen Untersuchung stehen, welche der Frage gewidmet sein soll, was nun die darstellerische Absicht dieser ikonographisch wie literarisch so folgenreichen Passage spätantiker Historiographie gewesen sein mag. * Prokop berichtet im ersten Buch der Vandalenkriege ohne weitere Angabe seiner Quelle – er spricht nur von $' . –, die Einnahme Roms durch Alarich14 am 24. 8. 410 sei dem damaligen weströmischen Kaiser Honorius durch einen Eunuchen gemeldet worden. Dieser war wohl gleichzeitig sein Vogelwärter, denn als der Eunuch seine Aussage « $ » formulierte, glaubte der Kaiser, der einen sehr großen Hahn mit dem Namen Roma besaß, der Eunuch habe ihm den Tod seines Lieblingstieres gemeldet, und klagte, der Hahn habe doch jüngst erst aus seinen Händen gefressen. Der Eunuch klärte ihn daraufhin über den wahren Sachverhalt auf, was Honorius mit einem Aufatmen quittierte, indem er gleichzeitig seine Beruhigung darüber zum Ausdruck brachte, daß sein Vogel nicht eingegangen sei.15 Was die Deutung dieser Anekdote betrifft, so liefert Prokop hier durch seine durch $' . gewissermaßen wieder eingeschränkte Anmerkung 9 $) µ $ - %0 $' . eine erste, oberflächliche Interpretation, welche die gesamte Situation auf die offensichtliche Ungelehrtheit, die $, des Kaisers zurückführt. Doch ist diese unscheinbare Erzählung erheblich vielschichtiger, als es auf den ersten Augenblick scheinen mag. Prokops Vorliebe für anekdotische Berichte, die in vielerlei Hinsicht mit seinem methodisch und darstellerisch eher an Thukydides und Polybios orientierten Stil kontrastiert, ist zwar allgemein bekannt, doch ist die erwähnte Passage an einer zu exponierten Stelle der Vandalenkriege eingefügt, um als nur aus antiquarischem Interesse eingeblendeter Exkurs übergangen werden zu können, folgt der Bericht doch nahezu unmittelbar auf die Einleitung des Werkes und steht trotz seiner letztlich eher humoristi11
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Gibbon (1776–1789) ch. 29. Bibliographische Angaben zur Sekundärliteratur zu Gibbon erübrigen sich, ein Forschungsüberblick bis 1985 findet sich bei Craddock (1987). Den aktuellsten Überblick liefert Pocock (1999–2005). Zu Prokop allg. vgl. Rubin (1957); Cameron (1985). Gibbon (1776–1789) ch. 29, Anm. 61: «I have borrowed the general practice of Honorius, without adopting the singular, and, indeed, improbable tale, which is related by the Greek historian.» Hierzu immer noch grundlegend Piganiol (1964). Prok. 3,2,25 f.: $' . " *m$9 *O))) /) / 0) C $'' Ρ κ *m< $). λ µ $ # φ K %'0 « "# " 0/ / "/. ρ ' ¹ $ . 3'$, *m< > , λ µ ξ -0 &.$ - ' . 4 *m< κ µ« #A0 . $ )$, $' ξ µ $ 3 #A’ %')', τ ?, *m< $ )$ κ > k#. ) 9 $) µ $ - %0 $' ..
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schen Natur gewissermaßen als Kontrastfolie zur Einnahme Roms, mit der der eigentliche Handlungsstrang des Geschichtswerks ja beginnt. Aus dem Kontext wie der abschließenden Bemerkung von der $ des Kaisers wird natürlich zunächst offenbar, daß die Passage als Kritik an der Inkompetenz des Honorius zu verstehen ist,16 der auch vorher kurz und prägnant als unkriegerisch, ruhebedürftig, feige und eventuell sogar als der unwillentliche Anstifter der Völkerwanderungen jener Zeit charakterisiert und damit zum Hauptschuldigen des Nieder- und Untergangs des Weströmischen Reichs herausgestellt wird;17 ein Urteil, welches auch bei Gibbon aufgenommen wurde: The son of Theodosius passed the slumber of his life a captive in his palace, a stranger in his country, and the patient, almost the indifferent, spectator of the ruin of the Western empire, which was repeatedly attacked, and finally subverted, by the arms of the barbarians. In the eventful history of a reign of twenty-eight years, it will seldom be necessary to mention the name of the emperor Honorius.18
Doch dürften die durch den Bericht geweckten Assoziationen wenigstens für den spätantiken Leser vielschichtiger und tiefergreifend gewesen sein als die bloße Erkenntnis der $ des Kaisers oder die Feststellung, daß eben die Plünderung Roms (ebenso wie die ein halbes Jahrhundert später vollzogene Absetzung des letzten weströmischen Kaisers) nicht mit dem Ende des römischen Reiches gleichzusetzen ist. So ist zunächst die Erwähnung eines Eunuchen19 als Wärter der kaiserlichen Hühner keineswegs etwa obligatorisch durch den Inhalt der Erzählung vorgegeben, sondern ist offensichtlich eine bewußte gestalterische Auskleidung des Autors. Dies ist kaum zufällig, sondern rekurriert sicherlich auf die seit Beginn der Einflußnahme von Eunuchen auf die Hofpolitik greifbaren Ressentiments dem dritten Geschlecht gegenüber,20 waren doch seit der Stärkung der Hofeunuchen durch Diocletian und der Einsetzung eines praepositus sacri cubiculi spätestens unter Constantin die Eunuchen eine sowohl bedeutsame als auch schattenhafte Macht am Kaiserhof,21 die aufgrund ihrer Loyalität dem Kaiser gegenüber wie auch ihrer Rolle im Rahmen der zahlreichen Hofintrigen ebenso unbeliebt wie gefürchtet waren und die nicht selten als Stellvertreter ihres Kaisers kritisiert wurden. Da gerade während der Regierungszeit des Honorius Konflikte mit dem durch den Eunuchen Eutropius verwalteten östlichen Reichsteil entstanden waren,22 welche sich etwa in den bekannten Invektiven Claudians gegenüber Eutropius niederschlugen,23 hat die Nennung eines Eunuchen als engen Vertrauten des Honorius im Rahmen der von Prokop berichteten Anekdote vielleicht eine besonders bittere Pointe, wenn auch aufgrund der großen Verbreitung von Eunuchen im Ost- wie Westteil des Reiches dieser Erwähnung ein nur sekundärer Wert für die Deutung der Stelle beizumessen ist. 16
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Zu Honorius vgl. allg. Demougeot (1951); von Haehling (1978) 593 ff.; Demandt (1989) 137–150. Zur kirchengeschichtlichen Deutung des Kaisers vgl. Leppin (1996). Vgl. etwa Prokop. 3,2,8–10. Zur Kritik Prokops an Honorius vgl. außerdem Cameron (1985) 213. Gibbon (1776–1789) ch. 29. Zur Rolle der Eunuchen vgl. generell Hopkins (1963); Guyot (1980). Zum Stand der Eunuchen in der Spätantike vgl. Demandt (1989) 241 f. und 294 f.; Schlinkert (1994). Hierzu Dunlap (1929). Man denke hier an den Krieg zwischen Ost- und Westrom um die Zugehörigkeit Africas, das sich unter Gildo dem Ostteil angeschlossen hatte und durch Mascizel zurückerobert werden mußte. Die Invektiven des Claudian gegen das Consulat des Eunuchen Eutrop kennzeichnen sich zumal durch eine für das Ende des 4. Jh. typische Wiederverwendung heidnischen divinatorischen Wortschatzes, wird der Eunuch doch sogar als monstrum (2,40–49) bezeichnet; vgl. hierzu Hübner (1970) 102.
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Auch daß als Hauptobjekt der Erzählung gerade ein Hahn als Lieblingstier des Kaisers fungiert und nicht etwa ein Tier edlerer Natur wie ein Reitpferd, ein Jagdvogel oder ein Wildtier, ist hochgradig signifikant:24 Zum einen wird nämlich Honorius durch die exzessive Bestürzung über das Schicksal seines Hahns ins Lächerliche gezogen, da der Hahn nicht als akzeptables Schoßtier gelten konnte und daher die Fürsorge des Kaisers dessen unverständliche Exzentrik und Dekadenz hervorheben soll, zum anderen weckt der Hahn als Symboltier zahlreiche, vor allem heidnisch-religiöse25 Assoziationen. So dürfte sicherlich auch dem spätantiken Leser der wohl erst im 4. Jh. eingestellte Brauch des tripudium, des Befragens der heiligen Hühner durch Beobachtung ihres Freßverhaltens,26 aufgrund zahlreicher einschlägiger Anekdoten27 noch gut bekannt gewesen sein, so daß die Erwähnung von Hühnern, Hühnerwärter (pullarius, bei Prokop C «) und Freßverhalten unweigerlich Erinnerungen an die divinatorische Natur des Hühnerverhaltens wecken dürfte. Zudem war das Huhn in der griechischen wie römischen Antike nicht nur aufgrund seiner Ankündigung des Tagesanbruchs Symboltier der Sonnengottheit, apotropäisches Emblem und Herrschaftsvorzeichen,28 sondern auch ein wichtiges Fruchtbarkeitssymbol und schon aufgrund dieser symbolischen Natur in seinem Verhalten besonders aussagekräftig,29 denkt man etwa an das berühmte, auf dem Landsitz der Livia bei Primaporta lokalisierte und in die Jahre 39/38 v. Chr. datierte Vorzeichen, bei dem ein Adler ein weißes Hühnchen mit einem Lorbeerzweig in den Schoß der Livia fallen ließ, was darstellen sollte, daß das Geschick des augusteischen Hauses ihr anvertraut sei,30 und die spätere Umbenennung der Villa in Ad Gallinas bewirkte. Ein weiterer religiöser und auf das Heidentum verweisender Aspekt der Erzählung liegt auch in der Tatsache, daß in der Honorius-Anekdote schließlich über das Verhalten eines Tieres berichtet wird, welches durch seinen Namen schicksalshaft symbolisch mit der Stadt Rom verbunden wird, also nicht nur durch seine Gattungszuge24 25
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Zum Huhn in der Antike vgl. Orth (1913); Hübner (1998). Die Rolle des Hahns im christlichen Bereich ist ebenfalls sehr aufschlußreich – denkt man an Lk 22,30–34 oder Prud. liber cathemerinon 1, wo das Huhn als Lichtvogel auch Attribut Christi sein kann –, ist aber für die vorliegende, überwiegend divinatorisch konnotierte Fragestellung eher sekundär. Vgl. zur Hühnerdivination ausführl. Plin. nat. 10,48 ff.; hierzu auch Marbach (1939). Zur unweigerlich eintretenden Manipulation des tripudium (erstmals faßlich für 325 v. Chr. bei Liv. 9,30) vgl. dann Cic. div. 1,28 und 2,72 f.; nat. deor. 2,7; Fest. p. 245 (Lindsay); Plut. Tib. Gracch. 15,6. Man denke hier etwa allein an den denkwürdigen Umgang des Consuls Papirius mit einem mißliebigen Hühneraugurium im Jahre 293 (vgl. Engels (2007) RVW 75) oder die berühmte Mißachtung eines Hühnerauguriums durch P. Claudius Pulcher im Jahre 249 (Engels (2007) RVW 85), dessen Ausspruch Quia esse nolunt, bibant (Val. Max. 1,4,3–4) ein im doppelten Sinne geflügeltes Wort geworden ist. Das seltsame Verhalten der Hühner des Tib. Gracchus 133 wurde sogar als Todesvorzeichen des Volkstribuns gesehen (Engels (2007) RVW 221). Sonnensymbol: Theognis 863 f.; Plin. nat. 10,46 (in diesem Sinne auch Porphyr. de abst. 4,16, in dem der Hahn als Attribut der Proserpina erscheint); apotropäische Wirkung: Ael. nat. 3,31; Fab. Aesop. 261. Hierher gehört vielleicht auch die Deutung der berühmten letzten Worte des Sokrates bei Plat. Phaid. 118; hierzu bald Engels (2010). Der Hahn ist auch als Herrschaftsvorzeichen des Vitellius belegt (Suet. Vit. 9). Ael. nat. 6,558 B 12. Diese Fruchtbarkeitssymbolik war zumindest in der späten Republik noch weitverbreitet, wurden doch anläßlich der Heirat zwischen Octavian und Livia 38 v. Chr. zahlreiche Gemmen und Glasarbeiten hergestellt, die einen Hahn darstellen, der eine Henne besteigt; vgl. Vollenweider (1966) 40–43, Abb. 33, 7 und 9. Symptomatisch erscheint in dieser Beziehung auch die Erzählung von den magischen Experimenten der Livia, anhand eines Eies im voraus das Geschlecht ihres ungeborenen Kindes zu erkennen (vgl. Suet. Tib. 14,2 und Plin. nat. 10,76). Aur. Vict. Caes. 5,17; Plin. nat. 15,130 und 136–137; Suet. Galba 1,1; Cass. Dio 48,52,3 und frg. 63,29,3. Hierzu ausführlich Engels (2007) RVW 366.
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hörigkeit, sondern auch durch eine Spielart des Namenzaubers bedeutsam ist:31 Erst dadurch nämlich, daß der Hahn den Namen Roma trägt – darüber hinaus wohl eine seltsame Bezeichnung für ein männliches Tier –, ist es möglich, sein Schicksal als parallel mit dem der gleichnamigen Stadt aufzufassen. Ähnliche Fälle von symbolischen Verknüpfungen trivialer Ereignisse oder Objekte mit hochrelevanten Vorgängen sind in großer Zahl aus der vorchristlichen Zeit Roms überliefert, denkt man etwa an das Omen von Sentinum im Jahre 295, bei dem der Ausgang einer Schlacht zwischen Römern und Kelten dadurch präfiguriert wurde, daß ein Wolf und eine Hirschkuh zwischen die Reihen der Kämpfenden liefen und der Wolf als Symboltier Roms von den Römern unverletzt hindurchgelassen, die Hirschkuh aber von den Galliern getötet wurde.32 Ähnlich ist auch auf die Rede des Consuls Q. Petillius vor seinem Heer im Jahre 176 zu verweisen, in welcher er ankündigte, er werde den Berg Letum einnehmen (letum capere), hierdurch aber nur seinen eigenen Übergang über den Totenfluß Lethe vorwegnahm.33 Der plötzliche Tod eines Haustiers konnte zudem auch das Versterben seines Besitzers präfigurieren, sodaß die Bestürztheit des Honorius anläßlich des Zugrundegehens «Romas» vielleicht nicht nur als Fürsorge für sein Lieblingstier, sondern auch als Furcht vor einem schlechten Vorzeichen auf sein eigenes Geschick interpretiert werden könnte.34 Auch die bereits erwähnte Erzählung vom Vorzeichen der Livia gehört in den Kreis dieser Vorstellung, vermehrte sich doch das Geschlecht des weißen Hühnchens in der Folgezeit dank der Pflege der Kaiserin beträchtlich, ebenso wie aus dem eingepflanzten Lorbeerzweig ein ganzer Hain entstand, aus dem die Kränze der triumphierenden Kaiser geflochten wurden. Kurz vor dem Tode Neros und somit dem Ende der iulisch-claudischen Dynastie starben die Hühnchen, während die Lorbeerbäume verkümmerten, so daß dieser Vorfall das Ende des augusteischen Geschlechts ankündigte, da dieses seit dem Vorfall vom Jahre 39/38 mit dem Geschick der Symbolobjekte Huhn und Lorbeer untrennbar verbunden war.35 Ganz ähnlich betrachteten die Flavier eine Zypresse als Symbolbaum ihres Schicksals, welche bezeichnenderweise nur bis zum Jahr 96 grün blieb.36 * Doch der erstaunlichste Hinweis auf die paganen Wurzeln der Honorius-Anekdote findet sich in einer Erzählung über das Wortomen der Tochter des Aemilius Paullus kurz nach Beginn des Perseus-Kriegs Anfang 168.37 So berichtet Cicero in de divinatione,38 daß an 31 32 33 34
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Zu dieser Art präfigurativer Vorzeichen vgl. ausführl. Bayet (1936); Bäumer (1984). Liv. 10,27,8–9; Cassius Dio VIII, in: Zonar. 8,1 p. 106. Hierzu Engels (2007) RVW 73. Liv. 41,14,7; 15,1–4; 16,3–5; 18,8–15; Obseq. 9; Val. Max. 1,5,9. Hierzu Engels (2007) RVW 177. Man denke hier an die negative Bedeutung des Tods einer der beiden als Haustiere gehaltenen Schlangen des Tib. Sempronius Gracchus um 150; belegt bei Cic. div. 1,36 und 2,62; vir ill. 57,4; Val. Max. 4,6,1; Plin. nat. 7,122; Plut. Tib. Gracch. 1,4–5; vgl. hierzu Engels (2007) RVW 207. Auch der plötzliche Tod eines Huhns galt dem Besitzer als schlechtes Vorzeichen (Cass. Dio 63,29). Cass. Dio 63,29,3. Suet. Dom. 15,5. Vgl. allg. Pease (1920–1923) zu div. 1,103; Néraudau (1995); Engels (2007) RVW 188. Cic. div. 1,103: Atque ego exempla ominum nota proferam: L. Paulus consul iterum, cum ei bellum ut cum rege Perse gereret obtigisset, ut ea ipsa die domum ad vesperum rediit, filiolam suam Tertiam, quae tum erat admodum parva, osculans animum advertit tristiculam. ‹ Quid est› , inquit, ‹ mea Tertia? quid tristis es? › ‹ Mi pater › , inquit, ‹ Persa periit. › Tum ille artius puellam conplexus: ‹ Accipio› , inquit, ‹ mea filia, omen › . Erat autem mortuus catellus eo nomine.
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dem Tag, als L. Aemilius Paullus Anfang 168 sein zweites Consulat und damit das Kommando gegen Perseus antrat, seine Tochter Tertia darüber geklagt habe, daß Persa gestorben sei: «Persa periit». Der Consul, der als Augur einen geschärften Sinn für das Potenzial der Divination besaß, 39 freute sich hierüber und sagte im Hinblick auf die anstehende Auseinandersetzung: «Accipio, mea filia, omen». 40 Denn gestorben war zwar der catellus seiner Tochter, ihr Schoßtier, dessen genaue Identifizierung unsicher ist,41 das Ereignis ließ sich aber auch auf König Perseus und damit den militärischen Erfolg des Paullus deuten und damit als Vorzeichen beanspruchen. Auch Valerius Maximus berichtet in nahezu identischer Formulierung dieselbe Anekdote,42 ebenso Plutarch, der Cicero auch einmal explizit als Quelle erwähnt und Paullus das Zeichen als 4)« benennen läßt.43 Dieses offensichtliche Aufgreifen einer republikanischen Erzählung durch Prokop oder seine Quelle – die Ähnlichkeiten zwischen «Persa periit» und « $ » sind wohl zu groß, als daß wir hier eine spontane Parallelbildung annehmen könnten44 – erstaunt sowohl im Kontext der spätantiken Geschichtsschreibung als auch im Rahmen des inhaltlichen Bezugs auf eine gänzlich anders geartete Situation. Der Vergleich beider Passagen vermag daher, die bereits aus dem Text selbst gewonnenen Deutungsaussagen signifikant zu ergänzen. So macht die Gegenüberstellung auf den ersten Blick deutlich, daß es die Zielsetzung der republikanischen Anekdote war, sowohl das auch an anderer Stelle durchaus historisch faßbare Geschick des Aemilius Paullus im Umgang mit Vorzeichen herauszustellen45 als auch die göttliche Vorbestimmtheit des Aufstiegs des römischen Gemeinwesens zu unterstreichen, während die Erzählung über Honorius das Gegenteil beabsichtigt, nämlich sowohl vordergründig das Desinteresse des Kaisers am Wohl des römischen Staates als auch seine staatsmännische Inkompetenz zu dokumentieren. 39 40 41
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Plut. Aem. 3; CIL XI 1829; vgl. auch Pease (1920–1923) zu div. 1,103. Zur Rolle des Kindes in der antiken Divination vgl. Johnston (2001). Catellus ist entweder ein kleiner Hund oder vielleicht sogar eine kleine Katze, den bzw. die ein Diplomat aus dem Osten nach Rom gebracht haben könnte, wie Combès (1995) ad loc. vermutet. Dem steht allerdings entgegen, daß catellus wohl eher der Diminutiv von catulus ist und daher keine Verbindung mit dem spätlateinischen cattus besteht; vgl. Shackleton Bailey (2000) 59, Anm. 5. Val. Max. 1,5,3: Quid illud, quod L. Paulo consuli euenit, quam memorabile! cum ei sorte obuenisset ut bellum cum rege Perse gereret et domum e curia regressus filiolam suam nomine Tertiam, quae tum erat admodum paruula, osculatus tristem animaduerteret, interrogauit quid ita eo uultu esset. Quae respondit Persam perisse. Decesserat autem catellus, quem puella in deliciis habuerat, nomine Persa. Arripuit igitur omen Paulus exque fortuito dicto quasi certam spem clarissimi triumphi animo praesumpsit. Vgl. zum Rückbezug Valerius Maximus’ auf Cicero Pease (1920–1923) 29, Anm. 157. Plut. Aem. 10,6–8 $' d’ , ³« $' - P$)« '«, 3µ # . µ« L φ$ /«, 3 µ .' κ T .$, % σ· $, σ κ ")» "φ’ Ρ )) · κ ξ - λ φ -, ' ρ’ 4 τ Ρ π ² P8« $ $' . . - φ 2) ' . · λ µ A4 $'9 09 φ τ ', λ $0 µ 4). - ξ σ K $) ² #) " « λ « ¹ . Vgl. ähnl. Plut. reg. et imp. apophth., Aem. 2 (197f-198a). Neben den inhaltlichen Parallelen ist auch formal interessant, daß Plutarch seinen Bericht mit $' ’ beginnt, was vielleicht Vorbild für das $' . Prokops gewesen sein könnte, auch wenn es sich hierbei natürlich nur um gängige Einleitungsfloskeln handelt. Ähnliche Passagen finden sich im Bericht über die Mondfinsternis vom 21./22. 6. 168 (Engels (2007) RVW 189), den Blitzschlag bei einem Opfer des Aemilius Paullus in Amphipolis 168 (RVW 190), die wundersame Verbreitung der Siegesnachricht von Pydna in Rom (RVW 191) und den Tod der Söhne des Paullus im Jahre 167 (RVW 194).
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Doch läßt sich der Vergleich der Parallelen noch weitertreiben: Während der Sieg über Perseus durch den Tod der Persa präfiguriert wird, überlebt der Hahn Roma das Ende Roms unbeschadet; die erst durch das Einwirken der heidnischen Götter auf die irdischen Dinge wie auch durch den Glauben der Menschen an die Divination ermöglichte Kommunikation zwischen der himmlischen und irdischen Ebene ist also offensichtlich unterbrochen. Bedenkt man die religionspolitischen Umstände des 4. und 5. Jh.s, wird recht deutlich, wem die Schuld an diesem Vorgang zu geben war: Es war das Christentum, das durch seine Bekämpfung der heidnischen Gottheiten wie auch durch sein Verbot der paganen Divination aus der Sichtweise der letzten Heiden die Interaktion der beiden Sphären gestört, wenn nicht dauerhaft unterbrochen hat, so daß man vermuten kann, daß die Anekdote durch heidnische oder zumindest religiös aufgeschlossene gebildete Kreise aufgezeichnet wurde und ein spätes, aber keineswegs vereinzelt stehendes Zeugnis für den fortdauernden Glauben an die potentielle Wirkmächtigkeit der heidnischen Mantik darstellt.46 Gerade die Zeit der unerhörten, seit der Plünderung durch die Kelten im 4. Jh. v. Chr. nie mehr dagewesenen Eroberung Roms durch einen äußeren Feind mußte einerseits den antichristlichen Affekten besonderen Aufschwung verleihen, andererseits aber die christlichen Autoren zur politischen Selbstrechtfertigung anreizen:47 Achthundert Jahre waren verflossen, seit die Gallier des Brennus Rom erobert hatten […]. Dass Alarich sie [i. e. die Stadt Rom] hatte erobern können, empfand man daher allgemein als sicheres Vorzeichen, dass es mit der Herrschaft des Römertums zu Ende gehe. […] Und wieder erschallte der Ruf, dass nur das Christentum an dem Unheil schuldig sei: solange man den alten Göttern die schuldige Ehrfurcht erwiesen habe, hätten sie ihre Stadt geschützt; seit aber ihre Opfer verboten, ihre Tempel durch die römischen Kaiser selbst zerstört seien, wollten sie auch den barbarischen Zerstörern nicht mehr wehren. Natürlich rief dies auf christlicher Seite Widerlegungen hervor, und eine davon ist das folgenreichste Schriftwerk der Weltliteratur geworden.48
Es ist daher nicht erstaunlich, wenn wir gerade aus jenen Krisenjahren von einem besonderen Wiederaufleben heidnischer Bräuche49 und literarischer Themen hören,50 so daß auch 46 47
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Zahlreiche Belege bei Friedländer (1920–1922) Bd. 3, 161 f. Man denke hier allein an Augustinus’ de civitate Dei. Vgl. hierzu kurz und grundlegend Momigliano (1963); Klein (1996). Vgl. generell zur Forschungsgeschichte Christ (1970) und natürlich Demandt (1984). Seeck (1921) 1. Vgl. jetzt hierzu Leppin (1998). So bekannte sich auch der von Alarich kurze Zeit als Gegenkaiser eingesetzte Senator Proscus Attalus, der in den Kreisen des Nicomachus Flavianus und Symmachus verkehrt hatte (Symm. epist. 2,82,2; 7,15–25; 27), zumindest der christlichen Propaganda zufolge insgeheim zum Heidentum, wenn er auch offiziell zum Arianismus der Westgoten übergetreten war, und tolerierte die Ausübung der Divination, welche ihm – fälschlicherweise – die Eroberung Africas ohne Waffengewalt verheißen hatte (Sozom. 9,9,1; Oros. 7,42,8). Doch der wohl bekannteste und wenigstens in Bezug auf die Erzählzeit genau zeitgenössische Beleg für eine positive Wahrnehmung divinatorisch konnotierter Riten ist der Entschluß des praefectus urbi Pompeianus, das Angebot etruskischer haruspices anzunehmen, die alte etruskische Blitzmagie gegen die westgotischen Belagerer unter Alarich anzuwenden; eine Erlaubnis, welche auch durch den römischen Bischof, Innocentius, heimlich geduldet wurde (Zos. 5,41,1–2) und damit belegt, daß das Vertrauen in die Wirksamkeit heidnischer Riten auch in christlichen Kreisen lange bestehen geblieben sein muß. Heidnische Legenden wußten dann auch zu berichten, daß das Kentern der westgotischen Flotte zwischen Sizilien und Africa auf die Einwirkung eines Götterbildes zurückzuführen sei (Olymp. frg. 15. Eine rationalistische Fassung bieten Oros. 7,43,12 und Jord. Get. 30,157). Man denke hier nur an den überaus reichen Divinationswortschatz bei Claudian oder die restaurativen, auch die Divination berücksichtigenden Kompilationen eines Servius oder eines Macrobius, denen sicher-
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ein Wiederaufleben divinatorisch konnotierter Anekdoten im Rahmen dieser verstärkten Beachtung der Mantik zur Wiederauffindung und religionspolitisch motivierten historiographischen Verformung der recht populären Aemilius Paullus-Legende geführt haben mag. Die Tatsache, daß Honorius zwar auf der einen Seite den Zusammenbruch des Westteils des römischen Reichs nicht aufzuhalten vermochte,51 sich auf der anderen aber als besonders vehementer Förderer christlicher Privilegien hervorgetan hatte 52 und zudem Nichtchristen energisch bekämpfte,53 ja sogar vom Hofdienst auszuschließen versuchte,54 mag viel zur Verbitterung heidnischer oder toleranterer christlicher Kreise beigetragen haben, hatte Honorius doch sogar die Sibyllinischen Bücher, die Garanten der fata der Stadt, verbrennen lassen und damit ein wichtiges divinatorisches Artefakt unwiderruflich zerstört.55 * Diese deutliche Verankerung der Erzählung in der religionspolitischen Situation des beginnenden 5. Jh.s läßt daher vermuten, daß eine Rückführung der vielschichtigen Anekdote um den Hahn des Honorius auf Prokops eigene gestalterische Initiative wenig wahrscheinlich ist, sondern wir vielmehr wohl vermuten müssen, daß er hier nur eine bereits bestehende Tradition rezipiert, wenn er durch die Übernahme der Passage auch sein grundsätzliches Einverständnis mit dem dabei transportierten Gedankengut signalisiert. Es bleibt allerdings noch zu eruieren, was Prokop, den oppositionellen56 Historiker des christlichsten der spätrömischen Kaiser, Iustinian,57 dazu bewogen haben mag, eine der Tendenz nach deutlich proheidnische Anekdote an den Beginn seines Berichts über den Vandalenkrieg zu stellen. Ein erster Erklärungsansatz wäre das in letzter Zeit in der Forschung stark in den Vordergrund geratene mögliche Heidentum Prokops,58 welches ihn sowohl zur Kritik an den Verfolgungen Iustinians als auch an den heidenfeindlichen Maßnahmen vorheriger Kaiser bewogen hätte. Doch muß diese umstrittene Ansicht nicht unbedingt in aller Schärfe aufrechterhalten werden: Es reicht zu unterstreichen, daß es Prokop wie so vielen konservativen und auf Rückbindung an das republikanische Rom achtenden Denkern der Spätantike59 ein besonderes Anliegen war, in Anbetracht der zunehmenden Radikalisie-
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lich auch Obsequens an die Seite zu setzen ist, wenn hier auch die Datierung von der Zeit Iulians bis zu der des Theodosius reichen könnte; vgl. Engels (2007) 221–235. 407 mußte Britannien aufgegeben werden; 410 eroberten die Westgoten Rom, 409–11 drangen die Vandalen, Alanen und Sueben in Spanien ein, die Westgoten, Franken, Burgunder und Alamannen in Gallien und die Hunnen in Pannonien (Soz. 9,12 f.; Oros. 7,40–43; Chron. min. 2,17 f.). Cod. Theod. 16,2,29 ff. Cod. Theod. 16,10,15–24; Const. Sirm. 12. Ein kurzfristiges Toleranzedikt vom Jahre 409 wurde 410 schon wieder aufgehoben (Cod. Theod. 16,5,51). Cod. Theod. 16,5,42; Zosim. 5,46,3. Rut. Nam. 2,52–56. Es ist daher nicht erstaunlich, daß als Reaktion auf diese Maßnahmen sogar der einst von Symmachus erfolglos verteidigte Victoria-Altar wieder im Senatssaal aufgestellt wurde (Claud. de cons. Stil. 3,202–216). Iustinian, den Prokop in der Geheimgeschichte hemmungslos verteufelt, wird sogar zum dämonischen Antichrist stilisiert (An. 12,4). Hierzu jetzt zusammenfassend Noethlichs (1999). Zu diesem neuen Ansatz vgl. jetzt Kaldellis (2004). Letztlich fußt diese Überzeugung aber auf Dahn (1865) 180, der schon Mitte des 19. Jh.s feststellte, daß Prokop «im Wesentlichen nicht christlich» (180) eingestellt sei. Hierzu ausführl. Rubin (1957) 301–304.
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rung des übermächtigen Christentums, des von Iustinian begründeten Cäsaropapismus und der Ausschreitungen fanatisierter Christen gegenüber heidnischem Traditionsgut auf Schutz des paganen Erbes und auf Wahrung einer gewissen religionspolitischen Neutralität des Kaisertums zu drängen,60 ohne daß dies letztlich auf ein verstecktes Heidentum Prokops selbst schließen lassen müßte.61 Ob Prokop daher die Honorius-Anekdote selbst erfunden oder nur rezipiert und eventuell ausgekleidet hat, muß zwar im Letzten immer unsicher bleiben (wenn auch die erste Lösung die weniger wahrscheinliche ist);62 daß der Historiker selbst jedenfalls zumindest gewissen Formen der Divination gegenüber aufgeschlossen war und daher auch die mantisch konnotierte Honorius-Anekdote interessant genug fand, um sie an zentraler Stelle seines Werks einzufügen, zeigt sich aber durch seine eigene Prophezeiung des Sieges Belisars nach dem «Quellwunder» von Caput Vada, durch sein Vertrauen in Traumbilder,63 durch seine Wiedergabe der Vorhersage eines römischen Senators, derzufolge ein Eunuch – gemeint ist Narses – über Italien triumphieren werde,64 und durch die wörtliche Wiedergabe sibyllinischer Orakel.65 Trotz dieser prinzipiellen Kongruenz zwischen Prokop und der hypothetischen heidnischen Urquelle der Honorius-Anekdote, wenigstens insoweit eine prosenatorisch-konservative und religiös-tolerante Grundhaltung betroffen ist, bewirkte allerdings der zeitliche Abstand zu den Ereignissen wie auch die Festigung des oströmischen Kaisertums, daß die Erzählung bei Prokop zwar eine prominente, letztlich aber eher untergeordnete Stellung einnimmt und gleichsam unverbunden und rein anekdotisch neben dem Hauptstrang der welthistorischen Handlung steht: wichtig genug, um als Kritik an Honorius und als symbolischer Seitenhieb auf den Despotismus wie die antiheidnische Politik Iustinians erwähnt zu werden, doch nicht ausreichend bedeutsam, trotz der Platzierung fast zu Beginn der Vandalenkriege, um zum zentralen geschichtsphilosophischen Startpunkt der Erzählung zu avancieren. Denn wenn der Bericht auch stilistisch deutlich als Kontrastfolie zu den kurz vorher berichteten Greueltaten Alarichs in Rom konzipiert ist,66 so ist doch der generelle Tenor der Erzählung zu ironisch, um den Eindruck des düsteren Portraits der Einnahme der urbs aeterna auf angemessene Art zu verstärken. Im Gegenteil bewirkt die letztlich humoristisch gestaltete Anekdote eine gewisse Relativierung des gerade Berichteten und zeigt, daß das Fortbestehen des Römischen Reichs trotz der Tatsache, daß die Römer laut Mircea Eliade als «continuously obsessed by the ‹ end of Rome › » 67 charakterisiert werden können, eben nicht durch die Einnahme seiner Traditionshauptstadt in Frage gestellt wurde, sondern die Einnahme der Stadt letztlich so sekundär für die spätantike römische Zivilisation war, daß selbst der Kaiser der Westhälfte die Nachricht als bloßes fait divers quittiert. Gerade aus der Perspektive der Restauration des Reichs durch die Rückgewin-
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Vgl. zum Wandel auch der religionspolitischen Absichten des spätantiken Heidentums Leppin (2004). Hierzu Brodka (2004). Einziger Ansatzpunkt zur Klärung der Frage ist die Untersuchung der Bildung Prokops, die allerdings keine genauere Kenntnis Ciceros, Valerius Maximus’ oder Plutarchs nachweisen läßt, ohne daß hiermit viel gesagt sein muß. Vgl. allg. Rubin, s. v. Prokopios 304–310. Quellwunder: Prokop. 3,15,35; Traumbild: Prokop. 3,12,3. Prokop. 8,21,20 (trotz der erklärten Feindlichkeit Prokops Narses gegenüber). Prokop. 5,7,7 und 24,30 (sogar mit Abschrift in lateinischen Lettern). Prokop 3,2,22–24. Eliade (1959) 76. Bereits Scipio Africanus d. J. und Polybios reflektierten über den möglichen Untergang Roms. Vgl. hierzu umfassend Engels (2009).
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nung Africas, Italiens und Spaniens in iustinianischer Zeit zeigt sich, daß die Plünderung Roms 410 eben nur eine vorübergehende Episode war, da das Reich spätestens seit Constantin einen neuen Schwerpunkt im Osten entwickelt hatte und demgemäß auch ohne die jahrhundertealte Tibermetropole kräftig fortzuleben imstande war. Auch in der Prokop’schen Wiedergabe der wohl kurz nach der Einnahme Roms durch Alarich komponierten Anekdote schwingt also noch etwas vom Geist jenes trotz der schrecklichen Plünderung schnell wieder gefestigten Glaubens an die Unsterblichkeit der Welthauptstadt mit, denn, um es mit den Worten Dürrenmatts wiederzugeben: «Ein so großes Unternehmen wie das römische Imperium kann gar nicht vollständig zusammenkrachen.»68
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Dürrenmatt (1980/1989) Akt 1, 14.
Zum Fortleben heidnischer Vorzeichenmotivik bei Prokop
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Sünder – Narr – Held. Korrekturen des Odysseus-Mythos bei Heinrich von Veldeke, Sebastian Brant und Martin Opitz Im vorletzten Höllenkreis begegnet Dante, geführt von dem römischen Dichter Vergil, Odysseus.1 Odysseus büßt dort, am Ort der Betrüger und Heimtückischen, in Gestalt einer brennenden Flamme für die List des hölzernen Pferdes und den Raub des Palladiums. Auf Vergils Bitte erzählt Odysseus das Ende seines Lebens: Weder Vaterliebe noch Ehrfurcht vor dem Vater, noch eheliche Liebe konnten in ihm die ‹Glut bezwingen›, «a divenir del mondo esperto | e de li vizi umani e del valore» – ‹ein Vielerfahrener der Welt, der Menschen Torheit | und des Menschenwerts zu werden›. Aufs offene Meer habe er sich mit seinen wenigen treuen Gefährten gewagt, bis sie, schon alt geworden, zu den Säulen des Herkules gekommen seien, welche die Grenze der bekannten Welt bezeichneten: Io e i compagni eravam vecchi e tardi quando venimmo a quella foce stretta dov’ Ercule segnò li suoi riguardi acciò che l’uom più oltre non si metta; Ich und die Freunde waren alt und müd, Als wir an jene Meeresenge kamen, Wo Herkules die Zeichen einst gesetzt, Auf daß der Mensch sich hier nicht weiterwage.
Da habe er in einer Rede, die er vor Dante und Vergil wiederholt, seine Gefährten zur Weiterfahrt ermuntert, sich der «Erforschung unbewohnter Länder» nicht zu verschließen: «non vogliate negar l’esperïenza […], del mondo sanza gente | fatti non foste a viver come bruti, | ma per seguir virtute e canoscenza» [‹Euch ward bestimmt, nicht wie das Vieh zu leben, | Nach Größe, nach Erkenntnis sollt ihr streben›]. Mit seiner Rede habe er die Gefährten so ‹begierig› gemacht, daß sie die Ruder hoben zum tollen Fluge: «Dei remi facemmo ali al folle volo». Nach fünf Monaten sei vor ihnen in dunkler Ferne ein gewaltiger Berg aufgestiegen, wie sie ihn noch nie gesehen hätten. Doch dann habe sie ein Strudel von dem neuen Lande erfaßt und, ‹wie’s einem andern gefiel› («come altrui piacque», V. 141), auf den Meeresgrund hinabgezogen. Indem er die Grenzen der Welt mißachtet und in ‹vermessenem Flug› («folle volo») über die warnenden Säulen des Herkules hinaussegelt («più oltre»), ist Dantes Odysseus ein Repräsentant sündhafter curiositas und Hybris. Und doch nötigt uns die Rede des Odysseus 1
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Italienisch und deutsch. Übers. und komm. von Herrmann Gmelin. Bd. 1: Inferno – Die Hölle. Stuttgart 1954 [ 21968], XXVI, 49–142 [die Rede des Odysseus beschränkt sich auf die Verse 90–142]. Der italienische Text wird nach dieser Bilingue zitiert; die deutsche Übersetzung folgt der freieren Version von Hugo Friedrich: Odysseus in der Hölle (Dante, Inferno XXVI). In: H. F.: Romanische Literaturen. Aufsätze II: Italien und Spanien. Frankfurt/M. 1972, S. 71–118, hier 76 f.
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Bewunderung und Empathie ab. Hugo Friedrich hat in seiner geistesgeschichtlichen Lektüre des ‹Odysseus in der Hölle› die Faszination dieser Episode nicht dem ideellen Gehalt, sondern der poetischen Faktur des Bekenntnisses zugeschrieben.2 Die rückhaltlose Selbstcharakterisierung des verdammten Sünders Odysseus gilt insofern zu Recht als Scharnier zwischen Mittelalter und Neuzeit. Auf Dantes Wendung ‹più oltre› geht sicher die Devise Kaiser Karls V. «PLUS ULTRA» zurück. Sie ersetzt als Schriftband an den Säulen des Herkules das vormalige «NON PLUS ULTRA» und ist heute noch allen geläufig: als Währungssymbol, nämlich in Form des Dollars: das ‹S› repräsentiert das Schriftband ‹plus ultra›, der Doppelstrich die Säulen des Herkules – so ist Dantes Odysseus im weltumspannenden Dollar – freilich sehr vermittelt – noch immer allgegenwärtig.3 Dantes Odysseus galt lange als einzigartiges Rezeptionszeugnis. Sogar Petrarcas ähnlich ambivalente Charakterisierung in den ‹Vertraulichen Briefen› (Familiaria, 13, 4, 10–11) blieb außer Acht. Darin schreibt Petrarca Odysseus zwar ein «inexplebile desiderium multa noscendi» als ‹lästige Tugend› zu, attestiert ihm jedoch auch eine außergewöhnliche und heroische Größe, die sich nicht unterdrücken lasse, obschon sie Unglück bringe.4 Erst allmählich rückt die Komplexität der mittelalterlichen und frühmodernen Antike-Rezeption in den Blick, und die Rezeptionsgeschichte der Odysseus-Figur in Mittelalter und Renaissance weist noch viele Lücken auf. Sicher hat man die Rezeptionskontinuität vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit unterschätzt und die epochale Neuheit des Antikebezugs der Renaissance überschätzt. Auch wenn Ende des 15. Jahrhunderts Lorenzo Vallas lateinische Homer-Übersetzung eine neue Textgrundlage für die Odysseus-Rezeption schuf, welche die Ilias latina, die lateinischen Troja-Sagen eines Dictys Cretensis und Dares Phrygius ersetzte, blieb die Quellenlage vielfältig, zumal die mittelalterliche Rezeption ihrerseits traditionsstiftend wirkte. Diesen Vorüberlegungen ist mein Unterfangen geschuldet:5 Ich möchte – auf der Basis des von Martin Vöhler und Bernd Seidensticker entwickelten Konzepts der ‹Mythenkorrektur› – Variationen des Odysseus-Mythos vom ausgehenden 12. bis zum beginnenden 17. Jahrhundert in den Blick nehmen.6 Die Mythoskorrekturen werden jeweils auf ihre 2
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Vgl. Friedrich: Odysseus (Anm. 1) und Andreas Kablitz: Dantes Odysseus. In: Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Hg. von Martin Vöhler und Bernd Seidensticker. Berlin und New York 2005 (Spectrum Literaturwissenschaft 3), S. 93–122. Vgl. die Studien von Earl E. Rosenthal: Plus Ultra, Non plus Ultra, and the Columnar Device of Emperor Charles V. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 34 (1971), S. 204–228, Ders.: The Invention of the Columnar Device of Emperor Charles V at the Court of Burgundy in Flanders in 1516. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 36 (1973), S. 198–230 sowie Hermann Walter: Le Colonne di Ercole. Biografia di un simbolo. In: Il Simbolo dall’Antichità al Rinascimento. Persistenza e Sviluppi. Hg. von Luisa Rotondi Secchi Tarugi. Milano 1995 (Caleidoscopio 5), S. 247–306, insb. 278 f. Vgl. Francesco Petrarca: Epistolae Familiares / Vertrauliche Briefe 13, 4, 10–11. Während in der Kunstgeschichte die Opposition ‹Mittelalter vs. Renaissance› längst relativiert wurde und die mittelalterliche Antike-Rezeption gut erforscht ist, wirkt Ernst Troeltschs Konzept vom Mittelalter als «Pause im Denken» in der Literaturwissenschaft noch so stark nach, daß die Renaissance noch als epochaler Einschnitt und Umbruch verstanden wird. Über die mittelalterliche Odysseus-Rezeption orientiert Maria-Christine Leitgeb: Odysseus / Ulixes / Ulysses. In: Antike Mythen und ihre Rezeption. Ein Lexikon. Hg. von Lutz Walter. Leipzig 2003, S. 166–173. Vgl. außerdem George M. A. Hanfmann: The Scylla of Corvey and Her Ancestors. In: Dumbarton Oaks Papers 41 (1987), S. 249–260. Den Begriff der «Mythenkorrektur» schlagen Martin Vöhler, Bernd Seidensticker und Wolfgang Emmerich: Zum Begriff der Mythenkorrektur. In: Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Hg. von M. V. und B. S. in Zusammenarbeit mit W. E. Berlin und New York 2005 (Spectrum
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funktionalen Aspekte hin untersucht. Denn die Autoren, die Mythen korrigieren, wollen mit ihrer Korrektur nicht nur eine neue Deutung, sondern auch eine zeitgemäße und der Tradition überlegene Version bieten. Folgende drei Texte bilden die Grundlage: Das Eneasroman oder Eneid genannte Versepos des Heinrich von Veldeke (ca. 1170/1190), das Narrenschiff des Sebastian Brant (1494) und die Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges (1621) von Martin Opitz. Stammen die drei Texte auch aus unterschiedlichen Epochen – Mittelalter, Humanismus und Frühbarock –, so lassen sie sich inhaltlich wie formal durchaus miteinander vergleichen. Zunächst aus dem einfachen Grund ihrer Referenzidentität: Alle drei Texte beziehen sich – jeweils in distinkten, klar abgegrenzten Passagen und in Form einer transpsychologischen Figurenkonzeption – auf den Odysseus-Mythos. Des weiteren handelt es sich bei den drei Beispieltexten übereinstimmend um Versepen in Reimpaaren. Zwar spiegelt der metrische Wandel der Reimpaare von Veldekes Kurzversen7 über Brants Knittelverse bis hin zu Opitzens geschliffenen Alexandrinern die Entwicklung des Deutschen zur international konkurrenzfähigen Literatursprache wider, doch sind alle drei Texte literarhistorisch gleichermaßen bedeutend: Heinrich von Veldekes Eneasroman bildet den Gründungstext für die höfische Erzählkunst des Mittelalters,8 Sebastian Brants Narrenschiff ist der wichtigste muttersprachliche Text des lateinisch geprägten Renaissancehumanismus in Deutschland, die Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges von Martin Opitz begründen zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges die deutschsprachige Barockliteratur.
Heinrich von Veldeke: Eneasroman (1170/90) Dem Mittelalter war der Trojastoff noch nicht durch Homer, sondern durch die pseudohistoriographischen Berichte des Dares Phrygius und Dictys Cretensis sowie durch die römische Epik bekannt. Heinrich von Veldekes Eneasroman, entstanden zwischen 1170 und 1190, geht sogar nur mittelbar auf Vergil zurück. Vielmehr schöpft er aus dem anonym überlieferten Roman d’Énéas (um 1160). Doch amplifiziert und modifiziert Veldeke seine Vorlage. Die Eigenständigkeit seiner mittelhochdeutschen Eneide erweist sich gerade in der Odysseus/Ulixes-Episode.
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Literaturwissenschaft 3), S. 1–18, vor, wenn «mindestens ein Element, das zum narrativen oder semantischen Kern des Mythos gehört, verändert wird. Diese Veränderung erscheint insofern als radikal, als sie der Standardversion an die Wurzel geht. Der traditionelle Mythos wird nicht bloß fortgeschrieben, sondern berichtigt» (7). Formal handelt es sich bei Veldekes Epos um paarweise gereimte Kurzverse mit dem Bemühen um reinen Reim statt Assonanzen. Zwar ist es Veldeke nicht immer überzeugend gelungen, die später obligatorische Norm (vierhebiger Reimpaarvers / reiner Endreim) durchzuhalten, doch rühmt ihn Gottfried von Straßburg in seinem Literaturexkurs im Tristan, diese Erzählnorm im Deutschen erst begründet zu haben. So die Bewertung von Dieter Kartschoke im Nachwort zu: Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Stuttgart 21997, S. 867. Zitate folgen meist dieser Ausgabe; nur an einigen Stellen wurde die neuhochdeutsche Übersetzung nach der Ausgabe Heinrich von Veldeke: Eneasroman: die Berliner Bilderhandschrift. Mit Übersetzung und Kommentar mit den Miniaturen der Handschrift und einem Aufsatz von Dorothea und Peter Diemer. Hg. von Hans Fromm. Frankfurt/M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker 77) leicht modifiziert.
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Ähnlich wie in Vergils Aeneis ist die Ulixes-Episode bei Veldeke erzähltechnisch komplex eingeschaltet. 9 Auf Didos Bitte, ihr zu berichten, «wie Troie wart gewunnen» (V. 909), folgt eine längere Binnenerzählung des Aeneas, nämlich von Vers 910 bis 1230. Die erzählte Zeit der ausführlichen Analepse reicht von dem vorgeblichen Abzug der Griechen unter Zurücklassung des hölzernen Pferds über die Entdeckung des vermeintlichen Opfers Sinon und die Einnahme Trojas bis zur Flucht des Aeneas und seiner Ankunft bei Dido, also bis zur Erzählgegenwart. In diese Binnenerzählung ist eine umfangreiche Binnenerzählung zweiter Ordnung, eine sogenannte ‹metadiegetische› Erzählung, eingebettet. Denn Aeneas gibt neben einer kurzen indirekten Rede des Ulixes ausführlich zwei Reden des vermeintlich fahnenflüchtigen Griechen Sinon wieder. In der ersten metadiegetischen Rede präsentiert sich Sinon den Trojanern als Opfer des Ulixes und berichtet von seiner Gefangenschaft und von der angeblichen Abreise der griechischen Belagerer, in der zweiten Rede erzählt Sinon König Priamos die Geschichte des hölzernen Pferdes. Sinons Reden unterscheiden sich deutlich von der sie rahmenden Binnenerzählung des Aeneas. Diesen Kontrast prägen zum einen die reflexiven Bekundungen, mit denen Aeneas die Wahrheit seines eigenen Berichts beteuert (zum Beispiel: «daz ich û sage die wârheit» [V. 914], «ich bin es alles vil gewis» [V. 919], «ez is diu rehte wârheit» [V. 935], «daz is wâr» [V. 942]). In Prolepsen, die das Unheil der Trojaner vorwegnehmen, wertet Aeneas zum anderen die aus seiner Perspektive berichteten Äußerungen des Ulixes und Sinon ausdrücklich als ‹Lüge› und ‹Täuschung› ab. Diese figurale Charakterisierung überformt bereits die erste Begegnung mit Sinon, der – zunächst namenlos – szenisch eingeführt wird: ez quâmen unser knehte da si einen man funden nacket unde gebunden, der uns alle betrouch und uns tûvellîche louch. (V. 996–1000) Unsere Krieger trafen auf einen nackten, gefesselten Mann, der uns alle täuschte und teuflisch belog.
Nicht nur sprachlich wie bei Vergil, sondern auch mimisch führt der vermeintliche Griechenflüchtling mit gespieltem Heulen und Zähneklappern die Trojaner hinters Licht. Damit forciert Veldeke Sinons Verstellungskunst, um so das Mitleid der Trojaner kontrastiv hervorzuheben: her quam in der gebâre als er siech wâre. wunderlich was sîn klage, alser betalle wâre ein zage, mit den zenen slûch her manegen slach. (V. 1003–1007)
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Veldekes Ulixes-Episode entspricht im wesentlichen das zweite Buch von Vergils Aeneis.
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Er trat auf, als wäre er krank – sein Jammergeschrei war schrecklich – und ein ganzer Feigling; er klapperte laut mit den Zähnen.
Aeneas beschuldigt Ulixes, er habe mit «ein list, des her hete gedaht» (V. 963), den kampflosen Abzug der Griechen verhindert: Deswegen habe er ein «ros von holze […] grôz» (V. 965) bauen lassen und einen Scheinabzug angeordnet. Als die Trojaner die Lage inspizieren, finden sie neben dem riesigen Holzpferd einen nackten gefesselten Mann, eben jenen Sinon. König Priamos erbarmt sich seiner, läßt ihn losbinden, kleidet ihn neu ein und bittet ihn um seine Geschichte. Nur einmal unterbrochen durch die Parenthese einer Inquit-Formel – «sprach der schalk Synûn» (V. 1033) – erzählt Sinon die fingierte Geschichte von seiner Todfeindschaft mit Odysseus, der ihn zum Menschenopfer bestimmt hätte, um den Windgott Eolus günstig zu stimmen für die Rückreise der Griechen. Sinon gewinnt die Anteilnahme der Trojaner, als er ihnen anschaulich seine drohende Hinrichtung durch Ulixes schildert, eine szenische Schilderung, die sogar die evidentia Vergils überbietet. Der Henker hätte schon das Schwert gezückt, da hätte ein Streit unter den Griechen die Hinrichtung im letzten Augenblick verhindert. Sinon hätte die Gelegenheit zur Flucht genutzt, während die Griechen wohl ein anderes Opfer fanden, da sie glücklich abgereist wären. Als ihn Priamos anschließend fragt, was es mit dem hölzernen Pferd auf sich habe, hat Sinon ein zweites Mal Erfolg mit der Macht seiner Rede. Aeneas kommentiert vorgängig die Antwort des Sinon entsprechend: dô sageter uns ein mâre, daz betalle was erlogen, dâ mite worden wir betrogen. diu luge was im vil gereit. her sprach ‹ez is diu warheit, […] (V. 1096–1100) Da erzählte er uns eine Geschichte, die ganz und gar erlogen war und durch die wir hinters Licht geführt wurden. Die Lüge kam ihm sehr leicht über die Lippen. Er sagte: «Die Wahrheit ist, […]
Die Wahrheitsbeteuerung, mit der Sinon König Priamos antwortet, ähnelt allerdings durchaus den Bekundungen, mit denen Aeneas seinerseits seine Antwort auf die Frage der Königin Dido nach dem Trojanischen Krieg als wahr bekräftigt. Die Analogie relativiert die Frage nach der Wahrheit in einem figuralen Perspektivismus. Während Vergils Sinon seine Glaubwürdigkeit durch einen Ausfall gegen Ulixes als «scelerum inventor»10 bestärkt, findet man in Veldekes Adaptation diese Polemik nicht. Stattdessen lobt Veldekes Sinon eigenständig die unübertreffliche Meisterschaft, die den angeblich verstorbenen Baumeister des Pferdes auszeichne:
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Vergil: Aeneis 2, 164.
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nu enis dehein man der selben liste sîn genôz. (V. 1124 f.) Nun gibt es niemanden, der es mit dessen Kunstfertigkeit aufnehmen könnte.
Das Signalwort «liste» läßt keinen Zweifel zu: Sinons Lob des kunstfertigen Erfinders ist ein verdecktes Lob des ‹listenreichen› Ulixes. Zudem entspricht es wörtlich dem vorgängigen Bericht des Aeneas von der «list, des her [Ulixes] hete gedaht» (V. 963) – eine Rekurrenz, welche den verblendeten Trojanern aber entgeht. Sie glauben an die erlogene Bedeutung des Pferdes als eines machtsichernden Heiltums und entschließen sich, Mauern und Tore niederzureißen, um das große Pferd in die Stadt zu schaffen. Anders als Vergil, bei dem Sinon die eingeschlossenen Griechen aus dem Bauch des Pferdes befreit, und abweichend von seiner altfranzösischen Vorlage, die mithilfe der SinonFigur Ulixes entlastet, läßt Veldeke die griechischen Helden sich selbst befreien. Veldekes eigenständige und innovative Mythoskorrektur besteht darin, Sinon mit Ulixes gleichzusetzen: dâ mite verriet uns der warch, her was listich unde karch, daz wir wânden wole tûn. her nande sich Sînûn: ez was idoch Ulixes. (V. 1137–1141) Damit täuschte uns der Bösewicht – er war klug und listig –, so daß wir glaubten, richtig zu handeln. Er nannte sich Sinon; doch war es Ulixes.
Der Mythoskorrektur entspricht zudem die Art und Weise, wie Veldeke die Figur des Sinon/Ulixes charakterisiert. Im Unterschied zu seinen Prätexten entlastet er Ulixes nicht durch den falschen Sinon, sondern pejorisiert ihn durch die Figurensynthese. Allerdings konzipiert Veldeke seinen Sinon/Ulixes weniger nach dem Muster des verbrecherischen Ulixes, des «scelerum inventor», als vielmehr im Sinne des «fandi fictor», des skrupellosen ‹Redegauklers›. Auch die körpersprachliche Simulation, die Veldekes Sinon/Ulixes beherrscht, knüpft an eine antike Tradition an: So erwähnt Ovid ausdrücklich, wie sich Odysseus im Gedenken an den toten Achill die Augen wischte, als ob sie tränten.11 Verstellung und Eloquenz – schon Homer rühmt die «dichten Worte» seines Helden als «Schneegestöber im Winter»12 – zeichnen den vollkommenen Redner Odysseus aus. Doch verkörpert Sinon/Ulixes bei Veldeke die Ambiguität von Rhetorik und Eloquenz, der menschlichen Rede, die sowohl Verführung als auch tödliche Gefahr in sich birgt.13 11
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Ovid: Metamorphosen, 13, 132 f., und Hans-K. und Susanne Lücke: Odysseus. In: H.-K. und S. L.: Helden und Gottheiten der Antike. Ein Handbuch. Der Mythos und seine Überlieferung in Literatur und bildender Kunst. Reinbek 2002, S. 400–460, hier 439. Homer: Ilias, 3, V. 216 ff. (Rede des Odysseus vor Antenor). Vgl. das erste Stasimon in der sophokleischen Antigone.
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Indem Veldekes Binnenerzähler Aeneas die Redemacht des Ulixes hervorhebt, dämonisiert er zugleich Sinon/Ulixes zum ‹Betrüger› und ‹teuflischen Lügner› (V. 999 f.). Da auch die Epitheta und Antonomasien den diabolischen Charakter betonen,14 gewinnt Veldekes Ulixes-Figur einen allegorischen Sinn. Sinon/Ulixes bezaubert die tumben Troer durch die Macht seiner Rede und verführt sie wie ein ‹zweiter Versucher›. Da sie seiner Rede glauben und habgierig auf die Gewinnung des vermeintlichen Heiltumes in Gestalt des Pferdes hoffen, sind sie dem Untergang geweiht. Mit der sündhaften Anfälligkeit der Troer rechtfertigt der Binnenerzähler Aeneas freilich auch die Vernichtung Troias als göttliche Strafe. Der allegorische Sinn von Veldekes Mythoskorrektur rückt so die Zerstörung Troias nachträglich in einen heilsgeschichtlichen Plan und modifiziert die Rolle des Sinon/Ulixes: Er vollzieht als sündiger Versucher oder teuflischer Sünder nur den Willen Gottes.
Sebastian Brant: Das Narrenschiff (1494) Auch in Sebastian Brants Narrenschiff ist Odysseus/Ulysses eine prominente Figur. In dieser oberrheinischen Narrensatire, im Jahre 1494 in Basel zuerst auf Deutsch erschienen, erst danach als Stultifera navis von Jacob Locher für die Gebildeten ins Lateinische übersetzt, bildet «Vlysses» die Zentralgestalt des 108. Kapitels: «Das schluraffen schiff». Der Name ‹schluraffe› (‹schlauraffe›, ‹schlaraffe›) leitet sich von ‹schluderaffe› ab und meint – gemäß der Bedeutung von ‹schludern› für ‹schlendern, nachlässig arbeiten› – ein faules, träges Geschöpf.15 Die besondere Bedeutung des ‹Schlaraffenschiffs› in Brants Narrenserie zeigt sich schon äußerlich.16 Denn der Holzschnitt zum 108. Kapitel wiederholt den zweiten Titelholzschnitt der Sammlung und hat somit programmatische Bedeutung (Abb. 1). Zudem steht sein Bildinhalt in einem engen Zusammenhang mit dem Kapitel: Dazu paßt die Form des Rollengedichts, das im einvernehmlichen ‹Wir› die Schar der ‹Schlaraffen› spricht, also die Narrengesellschaft, die das Boot füllt; auf das Incipit und die Noten des Liedes «Gaudeamus omnes» im Holzschnitt oben rechts spielt der Kapitelschluß an, der jedem Narren eine «gselschafft» verheißt, «mit den er Gaudeamus sing» (V. 152 f.), und auch das im Spruchband «Ad Narragoniam» [‹Nach Narragonien›!] genannte Reiseziel wird im Text neben anderen sprechenden und entsprechend verballhornten Namen zitiert:17
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Vgl. die genauen Nachweise bei Marie-Luise Dittrich: Die «Eneide» Heinrichs von Veldeke, Band 1: Quellenkritischer Vergleich mit dem Roman d’Eneas und Vergils Aeneis. Wiesbaden 1966, bes. S. 456 ff. So gültig der Kommentar von Zarncke in: Sebastians Brants Narrenschiff. Hg. von Friedrich Zarncke. r (Leipzig 1854) Darmstadt 1964, S. 455. – Vgl. des weiteren Johannes Hartau: «Narrenschiffe» um 1500. Zu einer Allegorie des Müßiggangs. In: Sebastian Brant. Forschungsbeiträge zu seinem Leben, zum «Narrenschiff» und zum übrigen Werk. Hg. von Thomas Wilhelmi. Basel 2002, S. 125–169. Schon Zarncke bezeichnete das 108. Kapitel als eigentliches «schlusscapitel des ganzen werkes» (Zarncke [Anm. 15], S. LV). – Vgl. auch Rainer Gruenter: Die ‹Narrheit› in Sebastian Brants «Narrenschiff». In: Neophilologus 43 (1959), S. 207–221, sowie Peter Skrine: The Destination of the Ship of Fools: Religious Allegory in Brant’s «Narrenschiff». In: The Modern Language Review 64 (1969), S. 576–596. Der Wortlaut der Brant-Zitate folgt der Edition von Zarncke (Anm. 15) und der neuen Studienausgabe: Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Studienausgabe. Hg. von Joachim Knape. Stuttgart 2005, hier S. 491–497. Die neuhochdeutsche Übersetzung stammt aus Sebastian Brant: Das Narrenschiff. [Nhdt.] Übertr. von H. A. Junghans. Hg. von Hans-Joachim Mähl. Stuttgart 1975, hier S. 408–414.
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Somit spielt das Ulysses-Thema in allen drei Teilen des «schluraffen schiff»-Kapitels eine maßgebliche Rolle. Die eigenartige Konvergenz der Schluraffen mit Ulysses, die UlyssesAllegorese im Narrenkontext und in der Moralisatio beschäftigt die Frühneuzeitforschung bis heute, ohne daß die Bedeutung der Odysseus-Rezeption überzeugend geklärt ist.18 Der erste Teil, in dem die Schluraffen die Gefahren ihrer Reise schildern, interferiert zunehmend mit den Irrfahrten des Ulysses. So alludiert die mühselige Durchfahrt «Durch Scyllam / Syrtim / vnd Charibd» (V. 37) die gefährliche Fahrrinne zwischen den von Ungeheuern bewohnten Felsen der Skylla und Charybdis (Od. XII), die auch Ulysses mit seinen Gefährten nur unter Verlust durchquert.19 Im Hendiadyoin der ‹Meerwunder›, der «Delphynen vnd Syrenen» (V. 41), ist die Sirenenepisode erinnert. Sie «syngen vns süß Cantylenen | Vnd machen vns als vast entschloffen» (V. 42 f.), klagen die Narren, eine verdeckte Antithese zu Ulysses, der, am Mastbaum gefesselt, dem bezaubernden Sirenengesang widersteht. Der dritte intertextuelle Bezug zur Odyssee, die Polyphem-Episode, ist schließlich sogar onomastisch markiert. Zwar ist der «Cyclop» nicht namentlich genannt, wohl aber «Vlysses»:20 Vnd müssen sähen vmb vnd vmb Cyclopem mit dem ougen krumb Dem doch Vlysses das vß stach Das er vor wißheyt jnn nit sach Vnd jm keyn schaden zuo möcht fügen […] Das selb oug wechßt jm wider ser Wann er ansicht der narren her So spert ers vff / gen jnn so witt Das man sunst sicht jm antlytt nüt Sin mül spatzyert zuo beyden oren Do mit verschluckt er manchen doren (108, V. 45–60)
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Die Forschung sieht m. E. Brants Darstellung der Odysseus-Figur viel zu eindeutig und positiv und verkennt die ironischen Brechungen der Darstellung. Vgl. Rainer Gruenter: Das Schiff. Ein Beitrag zur historischen Metaphorik. In: Tradition und Ursprünglichkeit. Akten des III. Internationalen Germanistenkongresses 1965 in Amsterdam. Hg. von Werner Kohlschmidt [u. a.]. Bern, München 1966, S. 86–101, hier 92–94; Michael Rupp: ‹Narrenschiff› und ‹Stultifera navis›. Deutsche und lateinische Moralsatire von Sebastian Brant und Jakob Locher in Basel 1494–1498. Münster [u. a.] 2002 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 3), S. 199 f. und Anm. 472. Lediglich Barbara Könneker: Sebastian Brant, das Narrenschiff. München 1966, 60–65 ist zurückhaltender in ihrer Deutung, übernimmt aber Brants Kennzeichnung «wis» wörtlich, ohne deren Relativierungen zu berücksichtigen. Gerhard Schweppenhäuser: Narrenschelte und Pathos der Vernunft. Zum Narrenmotiv bei Sebastian Brant und Erasmus von Rotterdam. In: Ders.: Die Fluchtbahn des Subjekts. Beiträge zu Ästhetik und Kulturphilosophie. Münster u. a. 2001 (Ästhetik und Kulturphilosophie 1), S. 122–141, hier 129 (zuerst in: Neophilologus 71 [1987], S. 559–574) sieht in Odysseus das «Urbild des Weisen». Dieser These schließt sich auch Nina Hartl: Die ‹Stultifera Navis›. Jakob Lochers Übertragung von Sebastian Brants ‹Narrenschiff›. 2 Bde. Münster [u. a.] 2001 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 1), Bd. 1.1, S. 78–80, an. Nicht näher diskutiert wurde die These von Karin Singer: Vanitas und Memento mori im «Narrenschiff» des Sebastian Brant (Motive und Metaphern). Diss. masch. Würzburg 1967, S. 192, die Odysseus als ein Muster des auf dem Meer ziellos treibenden Narren sieht. Homer: Odyssee, XII, V. 217–225 (Durchfahrt). Vgl. dazu Lücke (Anm. 11), S. 428 f. Vgl. Homer: Odyssee, IX, V. 193 ff.
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Wir sehen […] Den Zyklops mit dem runden Auge, Das ihm Ulyß einst ausgebrannt, Der Schlaue, daß der ihn nicht fand, Und andern Schaden nicht erwies, […] Dies Auge wächst ihm wieder sehr; Sobald er sieht der Narren Heer, Sperrt er es auf so hoch und breit: Es wird wie sein Gesicht so weit; Sein Maul spaziert zu beiden Ohren, Damit verschluckt er manchen Toren.
Brants originelle Erfindung, das Auge des Polyphem bis zur grotesken Übergröße nachwachsen zu lassen, als er des Narrenschiffs ansichtig wird, wurde in der Forschung bislang kaum erörtert. Mit dieser Mythoskorrektur, die einen Rückhalt in dem Vergil-Kommentar des Servius hat,21 verzeitlicht Brant die kluge Rettungstat des Odysseus ganz unmythologisch: Die grausame Bestrafung des Zyklopen wird zur temporären Invalidität relativiert und hyperbolisch komisiert. Endgültig in das Fahrwasser der Odyssee gerät der Bericht der Schluraffen, wenn anschließend die restlichen Narren, welche Skylla und Charybdis, die Sirenen und den Polyphem überstanden haben, dem Antiphates, dem König der menschenfressenden Lästrygonen, zum Opfer fallen.22 Die sukzessive Annäherung an die Odyssee über vier antithetische Vergleiche, von den Sirenen bis zur Lästrygonenepisode, motiviert die Ulysses-Allegorese, welche als Mittelteil des Kapitels in die Schluraffen-Rede eingeschaltet ist. Die namentliche Nennung des Dichters Homer markiert den Anfang, die explizite Ankündigung, das Narrenthema wiederaufzugreifen, das Ende der Ulysses-Digression: Homerus hatt diß als erdacht Do mit man hett vff wißheyt acht Vnd sich nit wogt lycht vff das mer Hie mit lobt er Vlyssem ser (108, V. 69–72) Homerus hat all dies erdacht, Damit man gäb auf Weisheit acht Und sich nicht wagte leicht aufs Meer. Hiermit lobt er Ulysses sehr
Brants Odyssee-Allegorese umfaßt 32 Verse und ist exakt zweigeteilt. In der ersten Hälfte rühmt das Rollen-Wir die Odyssee als Allegorie der ‹wißheyt›, in scheinbarem Einklang mit der Stoa, die Ulysses zum Inbegriff eines ‹weisen Mannes› stilisiert hatte. Um Ulysses als Muster des ‹weisen Mannes› darzustellen, im Narrenschiff ein Antonym des Narren,23 führt 21
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Vgl. das kommentierte Verzeichnis der Personennamen in der Kritischen Studienausgabe des Narrenschiffs von Knape (Anm. 17), S. 617, s. v. «Vlisses, Vlysses, Vlyssem (Odysseus)». Vgl. Homer: Odyssee, X, V. 80 ff. Allerdings hat der Begriff ‹wisheyt› bei Brant verschiedene Aspekte. In der Bedeutung von ‹Wissenschaft› und ‹Gelehrsamkeit› ironisiert Brant durchaus auch gelegentlich die ‹weisheyt›; vgl. Dietmar Benartek: Ein interpretierendes Wörterbuch der Nominalabstrakta im Narrenschiff Sebastian Brants von Abenteuer bis Zwietracht. Frankfurt/M. [u. a.] 1996, S. 400–408, s. v. ‹Weisheit›, Nr. 5.
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die Ulysses-Digression exemplarisch die Ilias und Odyssee an: erstens gab Ulysses «wise rätt […] vnd guot anschlag | Die wile man streit vnd vor Troy lag» (V. 73 f.), und zweitens habe sich Ulysses als «wiß» bei der Zauberin «Cyrce» erwiesen: Biß er das falsch wib über bößt Vnd syn gesellen all erlößt Mit eym krut das man moly heißt (108, V. 81–83) Bis er die Falsche überböste [an Bosheit überbot] Und die Gesellen all erlöste Mit einem Kraut, Moly genannt.
Es ist also ein altruistisches Verhalten, Rat und Tat für andere – für das griechische Heer vor Troja in der Ilias, für die verzauberten Gefährten bei Kirke in der Odyssee –, in dem sich die ‹Weisheit› des Ulysses äußert. Daher wirkt das Reflexivpronomen ‹jm› – im Sinne des modernen ‹sich› – etwas unmotiviert in dem Reimpaar, das die erste Hälfte der Ulysses-Allegorese beschließt und beide Weisheitsproben verallgemeinert: Also halff jm vsß mancher nott Sin wißheyt / vnd vernünfftig rott (108, V. 84 f.) So half der Weise sich gewandt Aus mancher Not in manchem Land
Doch deutet das Reflexivpronomen bereits die Bruchstelle im scheinbar eindeutigen Bild des Ulysses als eines ‹wisen mannes› an. Denn die zweite Hälfte der Digression greift im Anschluß an den sentenziösen Lobpreis die Ulysses-Narratio des ersten Teils wieder auf und führt sie als tragische Schiffbruchsgeschichte fort: Die wile er aber ye wolt faren Möcht er die leng sich nit bewaren Jm kem zuo letst eyn wyder wynd Der jm syn schiff zerfürt geschwynd Das jm syn gesellen all erdryncken All ruoder / schiff / sägel / versyncken Syn wißheyt jm zuo hülff doch kam Das er alleyn / vß nacket schwamm Vnd wust von vil vnglück zuo sagen Wart doch von sym suon dot geschlagen Als er klöppfft an synr eygnen tür Do künd wißheit nit helffen für Nyemans was der jn kennen künd Jm gantzen hoff / alleyn die hund / Vnd starb dar vmb / das man nit wolt Jn kennen / als man billich solt (108, V. 86–101) Doch weil er wollte immer fahren, Konnt er sich dauernd nicht bewahren: Ihm kam zuletzt ein Widerwind, Der ihm sein Schiff zerbrach geschwind, Daß die Gefährten all ertranken.
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Schiff, Ruder, Segel ganz versanken. Doch Weisheit ihm zu Hilfe kam, So daß er nackt ans Ufer schwamm Und viel von Unglück konnte sagen. Doch ward er von dem Sohn erschlagen, Als er geklopft ans eigne Tor, Da half ihm Weisheit nicht davor. Er ward als Herr niemandem kund Im ganzen Hof, als nur dem Hund, Und starb darum, weil man nicht wollte Ihn kennen, wie man billig sollte.
Diese 16 Verse, die den zweiten Teil von Brants Ulysses-Allegorese bilden, entwerfen ein ganz anderes Bild des Helden. Sie lasten Ulysses – wie schon Dante – eine unstillbare Reiselust an: «Die wile er aber ye wolt faren» (V. 86).24 Der notorische Reisezwang ist schuld am Untergang. Wie die Selbstsucht des Ulysses seine Weisheit außer Kraft setzt, entlarven die auffällig zahlreichen Reflexiv- und Personalpronomina der Verse 86 bis 90. Sie führen das selbstbezügliche Weisheitslob hyperbolisch ad absurdum: Zwar kann sich Ulysses dank seiner ‹wißheyt› als einziger seiner Mannschaft retten, da er sich der Kleider entledigt und nackt an Land schwimmt. Doch nutzt dem geretteten Ulysses, obschon er «von vil vnglück zuo sagen» weiß, seine notorische Beredsamkeit diesmal nichts: Vor der eigenen Haustür wird er von seinem Sohn totgeschlagen. Hier modifiziert Brant die klassische Version des Mythos, in der Odysseus sich seinem Sohn Telemach zu erkennen gibt und mit dessen Hilfe die Freier der Penelope tötet. Brant spielt zwar auf das homerische Finale der Odyssee an, wenn er etwa den Hund erwähnt, der in dem Bettler seinen heimgekehrten Herrn wiedererkennt,25 überblendet es aber mit der Phäakenepisode, wo nach dem Schiffbruch einzig Odysseus nackt und schwimmend das rettende Ufer erreicht.26 Überdies kombiniert Brant das versöhnliche Ende der Odyssee mit dem tragischen Ende der Telegonie, wonach Odysseus irrtümlich von der Hand seines mit Kirke gezeugten Sohns Telegonos stirbt.27 Dieser unrühmliche Tod wird in einer interpretierenden commoratio bekräftigt, einem verweilenden Insistieren auf dem Umstand, zuhause vergessen zu sein. Die Doppelung wiederholt aber nicht einfach nur denselben Gedanken, sondern variiert, intensiviert und interpretiert ihn. Den Ulysses – das scheint mir der versteckte Sinn von Brants komplexer Mythoskorrektur – holen bei seiner späten Heimkehr 24
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Eine Bezugnahme Brants auf Dante ist nicht unwahrscheinlich, hatte doch Jakob Locher im «Prologus» der Stultifera Navis Brant ausdrücklich als Nachfolger der heroischen volkssprachlichen Dichter Dante und Petrarca gepriesen: «Imitatus Dantem Florentinum atque Franciscum Petrarcham heroicos vates», zit. nach Rupp (Anm. 18), S. 102 f. und 130–135. Zur Parallelisierung Brants mit Dante vgl. auch Manfred Lemmer (Hg.): Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499 sowie den Holzschnitten der deutschen Originalausgaben. Tübingen 3 1986, S. IX–XI. Homer: Odyssee, 17, 291–327: Nur der Hund Argos erkennt in dem Bettler seinen heimgekehrten Herrn; er wedelt mit dem Schwanz, senkt die Ohren und stirbt, wie wenn er zwanzig Jahre auf diesen Moment gewartet hätte. Homer: Odyssee, 5, 333 ff. Vgl. Lücke (Anm. 11), S. 435 f. Die Mythographen deuten den Umstand, Odysseus sei durch die Hand seines Sohnes Telegonos gestorben, unterschiedlich aus. Daher ist es schwer, Brants Quelle anzugeben. Ausgearbeitet findet sich die Version bei Dictys Cretensis 6, 14; Servius verzeichnet in seinem Aeneis-Kommentar (zu Aen. 2, 44) die Variante ebenso wie später Boccaccio in den Genealogie deorum.
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die Sünden seiner Vergangenheit ein. So stirbt er nicht zufällig durch den Sohn, den er mit der Zauberin Kirke gezeugt hat, diente die Kirke-Episode der Odyssee doch zuvor als Exempel für die angebliche ‹Weisheit› des Ulysses. Im Kontext der Mythenkritik gewinnt auch die Wendung «Niemans was der jn kennen künd» (V. 98) erst ihre ganze Bedeutung. Denn sie alludiert die zuvor ebenfalls erwähnte Polyphem-Episode. Dem mörderischen Zyklopen hatte sich Odysseus bekanntlich als «Outis», als «Niemand», vorgestellt, nun holt ihn die eigene List ein: Da «Niemand» den lange abwesenden Heimkehrer mehr zuhause kennt, wird er zum Opfer: «Vnd starb dar vmb / das man nit wolt | Jn kennen» (V. 100 f.). Diese textinternen Verweise scheinen mir für die Bewertung entscheidend, vermitteln sie doch eine kritische Sicht der Ulysses-Figur. Das Ideal der ‹wisheyt› wird in Brants Narrenschiff nicht von der satirischen Musterung ausgespart, sondern ironisch relativiert. Auch der Fortgang des Kapitels stützt diese Lektüre. Denn in der abschließenden moralisatio, die aus dem berichtenden Ton wieder in den einvernehmlichen Ton der Schluraffen fällt, wird zwei weitere Male auf Odysseus/Ulysses Bezug genommen. So beklagen die Schluraffen ihre unendliche Fahrt und fürchten den Untergang ihres «Narrenschiffs», wie sie im antithetischen Vergleich mit Ulysses erklären: Dann wir hant weder synn noch lyst Das wir vß schwymmen zuo dem stad Als der Vlysses noch sym schad Der me brocht nacket mit jm vß Dann er verlor / vnd hatt zuo huß / (108, V. 113–117) Wir haben weder Sinn noch List, Um fortzuschwimmen zu Gestaden, Wie einst Ulyß nach seinem Schaden, Der brachte nackt mehr mit hinaus Als er verlor und fand zu Haus.
Die ironische Verrätselung dieses antithetischen Vergleichs hat man bislang übersehen. Denn das, was Ulysses nach ‹seinem Schaden› retten konnte und dann zuhause verlor, ist nichts anderes als sein Leben. So bekunden die Narren, die nicht schwimmen können und gleich ertrinken, zwar respektvoll ihre Differenz zu dem Schwimmer Ulysses, doch rekurriert die erneute Vermischung von Phäaken-Episode und Heimkehr auf die vorgängige Digression. Diese Referenz ironisiert das scheinbare Lob des Ulysses, denn es erinnert den Leser daran, daß die Schwimmkünste Ulysses zwar nachhause brachten, ihm aber zuhause nur einen schmählich-anonymen Tod eintrugen. Die zweite Ulysses-Referenz der moralisatio wiederholt den zynischen Gedanken als Scheinmoral: Eyn wis man / sich do heym behalt Vnd näm by vns eyn wißlich ler Wog sich nit lichtlich vff das mer Er künn dann mit den wynden stritten Alls Vlisses det / zuo synen zytten Vnd ob das schiff gang vnder joch Das er zuo land künn schwymmen doch. (108, V. 129–135)
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Ein weiser Mann zu Hause bleibt Und nimmt an uns sich gute Lehr, Wagt leichtsinnig sich nicht aufs Meer, Er könne denn mit Winden streiten, Wie Ulysses tat zu seinen Zeiten, Und, will das Schiff auch untergehn, An Land zu schwimmen doch verstehn.
Das Rollen-Wir deklariert sich hier selbst als negatives Beispiel für die Lehre, daß ‹ein weiser Mann zuhause bleiben› und nicht auf Reisen gehen solle. Wenn – freilich wieder nur aus figuraler Sicht der Narren – Ulysses von dieser Regel ausgenommen wird, da er ein gewandter Schwimmer gewesen sei und nach Schiffbruch das Land erreicht habe, erkennt der Leser, daß ihm erneut nur die halbe Wahrheit gesagt wird: wieder wird das schmähliche Ende des Ulysses verschwiegen. Der Umkehrschluß liegt nahe: Ulysses ist gar keine Ausnahme, sondern beglaubigt ebenso wie die Schluraffen die Regel. Wie paßt die ironische Ambiguität der Odysseus-Figur, die als Funktion von Brants Mythenkorrektur im 108. Kapitel bestimmt wurde, mit der zweiten Odysseus-Referenz im Narrenschiff zusammen? Das 66. Kapitel, das von erfarung aller land handelt, also die Narren aufs Korn nimmt, die ‹alle Länder erforschen› wollen, nennt neben Pythagoras, Plato und Appollonios von Tyana Odysseus als Exempelfigur antiker Gelehrter, die Wissen durch Reisen mehrten: Vil handt erkundt / verr / frömbde lant Do keyner nye sich selbs erkant Wer wis würd als Vlysses wart Do er lang zyt fuor vff der fart Vnd sach vil land / lüt / stett / vnd mer Vnd mert sich stät jn guotter ler / (66, V. 131–136) Viel haben erkundet fremdes Land, Von denen keiner sich selbst erkannt. Wer klug wird, wie Ulysses ward, Der lange fuhr auf seiner Fahrt Und sah viel Land, Leut, Städt und Meere Und mehrte in sich gute Lehre;
Die Schlußmoral richtet sich zwar nicht gegen die antiken Reisenden, sondern beschuldigt nur die aktuellen Reisenden – «Wer yetz solch reyß vnd lantfar dät» (66, V. 149) –, wenn sie die curiositas, die ‹Neugier› auf «erfarung aller land»,28 mit einer Schwächung des christlichen Glaubens gleichsetzt: Dann wem syn synn zuo wandeln stot Der mag nit gentzlich dienen got (66, V. 153 f.) Denn wer den Sinn aufs Reisen richt’t Der kann Gott gänzlich dienen nicht! 28
Zur Curiositas-Debatte vgl. den begriffsgeschichtlichen Überblick von Gunther Bös: Curiositas. Die Rezeption eines antiken Begriffes durch christliche Autoren bis Thomas von Aquin. Paderborn [u. a.] 1995 (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes, N. F. 39), S. 12–39.
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Doch nicht nur gemessen an dieser nachträglichen Moral ist das Lob des Odysseus keineswegs so eindeutig, wie es sich gibt.29 Denn als Exempelfigur für Selbsterkenntnis ist Odysseus weniger prädestiniert, als eben für die unter Narrenverdacht gestellte Erfahrung «frömbde[r] lant». Tatsächlich wird das Nomen «land» beim Lobpreis des Odysseus zuerst genannt, so daß eine Widerspruchsspannung zwischen Beweisziel (dem quod est demonstrandum) und Exempelfigur entsteht. So repräsentiert Odysseus auch in diesem ironischen Narrendiskurs eine ambivalente Figur, die zwischen der satirisch aufs Korn genommenen Curiositas, der äußerlichen Neugier, und der Selbsterkenntnis changiert. In zwei bedeutenden zeitgenössischen Rezeptionszeugnissen verfügen wir über ein kleines Kontrollkorpus, das die Richtigkeit unserer Funktionsdeutung von Brants Mythoskorrektur, der gezielten Ambiguisierung des Odysseus im Narrenschiff, bestätigen oder modifizieren kann: Jacob Lochers lateinische Übersetzung des Narrenschiffs und die Narrenschiff-Predigten Geilers von Kaysersberg. In seiner freien lateinischen Version gibt Jacob Locher dem 108. Kapitel unter dem Titel «Latina navis seu barca socialis» eine akademische Spitze.30 Zu diesem Zweck hat Locher aber die 156 Verse des deutschsprachigen Originals auf 64 Verse bzw. 32 Distichen gekürzt. Die Odysseus-Digression hat Locher vollständig gestrichen.31 Die Bezüge zu Odysseus beschränken sich nurmehr darauf, Stationen der Irrfahrt zu nennen, von Skylla und Charybdis über die Sirenen und den Zyklopen bis hin zu Kirke. Obschon Odysseus nur ein einziges Mal, noch dazu antonomastisch zum «Dulychius princips» verblasst, genannt wird, nähert sich auch Lochers lateinische Fassung sukzessive der mythischen Vorlage an: Denn die irrfahrenden Narren klagen zum Schluß des Kapitels, eben von Kirke verwandelt worden zu sein, und ermahnen die «miseri sodales», ihre ‹armen Kommilitonen›, ‹mit festem Tritt sicheres Gestade zu suchen› (V. 61). Auch wenn Locher damit die Differenz von Narrenreise und Odyssee-Allegorese aufhebt, schwächt und veräußerlicht sein lateinisches Stultifera Navis den Odysseus-Bezug. Die Stationen der Odyssee dienen Locher lediglich als mnemotechnische Signalworte, um die ruhelosen irrfahrenden Sodales, die ziellosen Akademiker, davor zu warnen, ohne die Pflege der Weisheit (V. 57) zu Toren zu verkommen, die eher in Kirkes Menagerie als an eine Hohe Schule gehören. Noch weiter geht das zweite zeitgenössische Rezeptionszeugnis, Geilers NarrenschiffPredigten. Geiler von Kaysersberg hat bekanntlich im Straßburger Münster – die Kanzel bezeichnet noch heute eine Hinweistafel – Brants Narrenschiff in Predigten ausgelegt. Diese hielt Geiler auf deutsch, doch erschienen sie 1510 zuerst in lateinischer Sprache im Druck, bevor sie im Jahre 1520 in der Rückübersetzung des Johannes Pauli auf deutsch vorlagen. Geiler hat die Predigt über das 108. Kapitel am Ostertag gehalten, und selten wird in seinen
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Rupp (Anm. 18), S. 178–207, bes. 199 f., sieht in Brants Odysseus-Allegorese eine Referenz auf Horaz: Epistolae, 1, 2, 17–22, der Odysseus als Repräsentanten von «virtus» und «sapientia» sieht. Rupp (ebd., S. 76) verweist darauf, daß Brant sich die Horazische Odysseus-Allegorie auch in den Concordantiae maiores bibliae (1496) zu eigen macht, übersieht dabei m. E. aber die gattungsspezifische Ironie der Narrensatire. Ein kommentierte Ausgabe und Übersetzung zu Lochers lateinischer Übertragung bietet Hartl (Anm. 18), Bd. 1.1: Untersuchung und Kommentar, bes. S. 255–257, und Bd. 1.2: Teiledition und Übersetzung, bes. S. 334–339. Daß die Tilgung der Odysseus-Digression in der lateinischen Version Methode hat, erhellt sich aus dem Umstand, daß Locher auch den Odysseus-Bezug im 66. Kapitel («Von erfarung aller land» / «De geographica regionum inquisitione») gestrichen hat; vgl. Rupp (Anm. 18), S. 203.
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Predigten die paschale Theologie des Hafens so deutlich wie hier.32 Der christlichen Moralisierung und anagogischen Vereindeutigung wurde nicht nur der Odysseus-Exkurs geopfert, sogar sämtliche Odysseus-Verweise wurden getilgt. Der Umstand, daß Brants Odysseus-Figur sowohl Lochers klassisch-pädagogischer Ausdeutung als auch Geilers christlicher Moraldidaxe zum Opfer fiel, spricht für die Komplexität und Ambivalenz seiner Mythenkorrektur, welche einer Vereindeutigung und praktischen Indienstnahme hinderlich war.
Martin Opitz: Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges (1621/1633) Auch in den Trostgedichten in Widerwertigkeit deß Krieges spielt Odysseus eine große Rolle. Die Trost-Getichte hat Martin Opitz nach eigenem Bekunden zwischen Ende 1620 und Frühjahr 1621 in Jütland verfaßt, wohin er vor dem Krieg geflüchtet war, der 30 Jahre dauern sollte. Das Versepos, das 2312 paargereimte Alexandriner umfaßt, gibt der Forschung bis heute Rätsel auf.33 Handelt es sich um ein «Heroisch getichte» oder um ein stoisches Lehrgedicht, um eine «politisch-moralische Versdichtung»34 oder die «Statuierung christlich-neustoizistischer Werte»35? An dem langen Odysseus-Exkurs, von der motivgeschichtlichen Forschung bislang übersehen, möchte ich prüfen, ob der antike Held in dem stoischen Diskurs der Trost-Getichte bruchlos aufgeht oder ob seine Repräsentation mit Nebendiskursen konkurriert. Opitz erwähnt die Odysseus-Gestalt in den Trost-Getichten drei Mal. Zum einen lobt Opitz die kluge Kriegstaktik der Niederlande gegen die spanische Übermacht, indem er sie mit der List des Odysseus vergleicht, mit Hilfe des hölzernen Pferdes in die belagerte Stadt Troja zu gelangen. 36
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Vgl. Klaus Manger: Das Narrenschiff: Entstehung, Wirkung und Deutung. Darmstadt 1983 (Erträge der Forschung 186). Im folgenden zitiere ich nach der kritischen Ausgabe: Martin Opitz: [Nr. 44] Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges [TG]. In: M. O.: Gesammelte Werke [GW]. Hg. von George Schulz-Behrend. Bd. 1: Die Werke von 1614 bis 1621. Stuttgart 1968 (= BLVS 295), S. 187–266. Die Unklarheiten beginnen schon mit dem Titel, der, obwohl fast ausschließlich im Plural, auch als Singular verstanden wird. Der Zweitdruck von 1638 hat im übergeordneten Titel die Singularform «Trostgedicht», verwendet aber in den Untertiteln vor den einzelnen Büchern die Pluralform «Trost-gedichte», auch Schulz-Behrend gebraucht als Kolumnentitel die Einzahl «Trostgedicht». Zu den Merwürdigkeiten gehört auch der große zeitliche Abstand der Publikation zu der Entstehung. Denn Opitz veröffentlichte seine Trost-Getichte erst im Jahre 1633, über zehn Jahre nach ihrer Entstehung. Wilhelm Kühlmann: Martin Opitz. Deutsche Literatur und deutsche Nation. Heidelberg 2001, S. 45. Klaus Garber: Martin Opitz – ‹der Vater der deutschen Dichtung›. Eine kritische Studie zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik. Stuttgart 1976, S. 153. Vgl. auch Achim Aurnhammer: Martin Opitz’ «TrostGetichte» ([1621] 1633): Ein Gründungstext der deutschen Nationalliteratur aus dem Geist des Stoizismus. In: Stoa und Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur und Politik von der Antike bis in die Moderne. Hg. von Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt und Bernhard Zimmermann, S. 709–727. Trostgedichte, III, V. 281–284. (GW, 1, S. 239): Das werthe Niederland: Sie haben zugenommen Durch solchen Zwang vnd Drang / sind in die Schlösser kommen Verborgen in ein Schiff mit Wasen zugedeckt / Gleich wie Vlysses sich in Trojens Pferd versteckt.
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Zu dieser Aufwertung der lange übel beleumundeten List scheint die zweite kürzere Odysseus-Erwähnung nicht recht zu passen. Sie findet sich in einer poetologischen Reflexion zu Beginn des zweiten Buches. Darin überträgt Opitz die stoische Philosophie auf die Dichtung. 37 So fordert Opitz von den Dichtern, sie sollten sich an «Weißheit» und Trost als Wirkungskriterien halten, statt «Eitelkeit» und «falsche Meinung» – klassische Antonyme des stoischen Ideals – zu favorisieren: Poeten sollen mir Bericht von Weißheit geben / Vnd sagen wie ich doch in diesem armen Leben Die bösen Lüsten fliehn / das Creutze tragen sol / So sind sie Eitelkeit vnd falscher Meinung voll: (TG II, V. 13–16)
Ein falsches, unstoisches Dichtungsverständnis bemängelt Opitz sogar an unheroischen Episoden der Klassischen Antike, wenn berühmte Helden wie Achilles und Odysseus ihre Pflicht vergessen oder Affekte zeigen, die dem stoischen Ideal des Gleichmuts nicht entsprechen: 38 Da steht der weise Mann Vlysses / seufftzt vnd klagt / Er werde gar zu weit vom Vater weggejagt / Vnd wollte gerne heimb: […] (TG II, V. 23–25).
Opitz kritisiert damit das homerische Epos, genauer die Kalypso-Episode, an welcher die Renaissance Grenzen und Lizenzen der Heldenepik erörterte. Denn in der KalypsoEpisode präsentiert Homer seinen Helden als heimwehkranken zerrissenen Liebhaber der Nymphe.39 Solche unheldischen Episoden und «Zuckerworte» sucht Opitz zugunsten der stoischen Wirkung aus der Epik zu verbannen: O weg mit solcher Kunst / weg / weg mit solchen Sachen / So die Gemüther nur verzagt vnd weibisch machen / (TG II, V. 29 f.)
Obschon Opitz den Odysseus der Kalypso-Episode im homerischen Epos als «verzagt und weibisch» verurteilt, heroisiert er ihn an anderer Stelle. Dabei folgt Opitz der stoischen Deutung in Ciceros Tusculanen, wo die Kraft des Odysseus gerühmt wird, ‹Schmerz und Weichheit zu besiegen›. 40 Dieser stoischen Mythoskorrektur gemäß führt Opitz Odysseus unter seinen mythologischen Exempeln heroischen Verhaltens an. Das Odysseus-Exemplum im zweiten Buch des Trost-Getichte umfaßt über 50 Verse (TG II, V. 417–468) und 37
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Vgl. Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. Göttingen 51978, bes. S. 52 ff. («Die Rhetorik»): «Die Poetik hat in der Stoa keine feste Stätte gefunden, so gern man sich auf die Dichter als auf die Träger volkstümlicher Erkenntnis berief» (S. 53). Dabei werden Idealhelden der stoischen Tradition angeführt wie Odysseus und Herkules, desen Leiden im Nessus-Gewand Seneca dramatisiert hat: Da steht der weise Mann Ulysses / seuffzt und klagt / Er werde gar zu weit vom Vater weggejagt / Und wollte gerne heimb: Da ligt der Kern der Helden Ihr starcker Hercules / und fluchet / wie sie melden / Auff seiner Frawen List / und das vergiffte Kleid Durch das er sterben muß / weynt / seufftzet / heult und schreyt (II, 23–28). Vgl. etwa Homer: Odyssee, 5, 149–158; vgl. den Passus und seine wirkungsgeschichtlichen Zeugnisse bei Bernhard Zimmermann (Hg.): Mythos Odysseus. Texte von Homer bis Günter Kunert. Leipzig 2004, hier 79 ff. Vgl. Cicero: Tusculanae, II, 48 ff., und Seneca: De constantia sapientis, 2. Vgl. dazu Friedrich: Odysseus (Anm. 1), S. 98.
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übertrifft damit alle anderen mythologischen und historischen Exempel-Figuren. Das Exemplum gliedert sich in drei größere Sinnabschnitte. Sie unterscheiden sich durch unterschiedliche Apostrophen. Den ersten Teil, der 20 Verse enthält, eröffnet eine demonstrative Apostrophe an die Leser: «Seht was Vlysses thut». Sie ruft in szenischer Vergegenwärtigung den Schiffbruch vor der Phäakenepisode vor Augen. Eine asyndetische Diärese präsentiert den Verzicht auf alles Unwesentliche, der die Rettung des eigenen nackten Lebens bedeutet: Was richten sie doch aus? Die andern frembden Waaren / Gefehrten / Ruder / Raub / Gold / Silber / leßt er fahren / Zeucht auch die Kleider aus / vnd wirfft sie willig hin; Diß was sein eigen ist kan niemand jhm entziehn. (TG II, V. 421–424)
Danach werden exemplarisch drei topische Stationen der Odyssee angeführt: die «listigen Sirenen» – eine bemerkenswerte Umwidmung des Epithetons, das sonst Odysseus eigen ist –, Kirke und «der Cyclops […] / der grosse Menschenfresser» (V. 429). Zum Abschluß des ersten Teils wird das unveränderliche Verhalten des Odysseus sentenziös resümiert: «Er bleibet wer er ist wann Mast vnd Boden bricht» (TG II, V. 436). Den zweiten Teil, der mit Vers 437 einsetzt, bestimmt eine Apostrophe an die ‹feindliche Fortuna›. Ihre äußerliche Macht wird zwar anerkannt, ihr Einfluß auf den Helden aber begrenzt: Daß aber er für dir die Knie auch solle beugen / Viel weynen / kläglich thun / sich wie ein Weib erzeigen / Sein Leben / seine Zeit verdammen für vnd für / Sein Hertze lassen gehn / das stehet nicht bey dir.
Opitz zitiert hier noch einmal die homerische Zeichnung des heimwehkranken Odysseus, dem bei Kalypso «die Augen | Nicht mehr trocken von Tränen» (Od. 5, 151 f.) werden, «Sich sein Herz zerquälend mit Tränen und Seufzen und Schmerzen» (Od. 5, 157). Doch negiert Opitz in seinem Gegenentwurf das breit ausgemalte Bild des homerischen Helden, indem er in einer abschließenden oppositio Fortuna die Macht abspricht, seinen stoischen Ulysses ebenso innerlich angreifen und gefährden zu können: «Sein Hertze lassen gehen / das stehet nicht bey dir». Um aber seinen stoischen Helden nicht als seelenlosen Gleichgültigen erscheinen zu lassen, verbürgt die Stimme des Dichters die christliche Glaubenstreue des Odysseus, der «es nach GOttes Willen gehn» läßt (TG II, V. 448). Der dritte Teil setzt mit der Interjektion «O!» ein. Er enthält ein fingiertes Selbstgespräch des Odysseus in direkter Rede. Doch folgt dem Ausruf keine aufgewühlte ‹Pathopöie›, sondern vielmehr eine syntaktisch wie stilistisch wohltemperierte Ethopöie, welche die stoische Gemütsverfassung des Odysseus verbürgen soll. So bestätigt Odysseus höchstselbst noch einmal in einer asyndetischen Diärese seinen freiwilligen Verzicht auf alles Äußerliche; seine stoische Indifferenz illustriert das semantische Zeugma (zu dem Verbum ‹ersaufen› passen nicht alle darauf bezogenen Substantive): […] Laß alles von mir lauffen Bunt vber Ecke gehen / Freund / Gut / Knecht / Schiff ersauffen: Es muß seyn außgelegt / diß ist der Reyse Zoll; (TG II, V. 453–455)41 41
‹Bunt über ecke gehen› heißt ‹in höchste Verwirrung geraten› (vgl. Lemma ‹Ecke› in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 3: E–Forsche. Leipzig 1862, S. 22 f., hier 23).
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Nach der Ethopöie des Odysseus, die noch einmal das unerschütterliche Festhalten am Eigenen verbürgt, resümiert der Dichter die Moral des mythologischen Exemplums. Er bezieht im einvernehmlichen ‹uns› und dem Polyptoton «lieb»/«liebes» wie zu Beginn des Exkurses die Leser und die Gegenwart ein: So bricht er endlich durch / behelt die Oberhand / Siht was vns allen lieb sein liebes Vaterland (TG II, V. 463–464)
Seine glückliche Heimkehr belohnt Odysseus für seine stoische Haltung: Er leßt gar willig gehn was jhm nicht zugehört / Vnd was sein eigen ist das bleibet vnversehrt. (TG II, V. 467–468)
So sehr Opitz seinen Odysseus zu einer eindeutigen Exempelfigur stoischen Verhaltens trimmt, so bleiben doch gewisse Zweifel an seiner stoizistischen Überkorrektur. Zum einen gerät die Odysseus-Gestalt in der repetitiven Übererfüllung stoischer Eigenschaften eindimensional und statisch, zum andern dient die Mischung von auktorialer und figuraler Charakterisierung lediglich als Authentifizierungsstrategie eines Typus und zum dritten wirkt die Christianisierung des Stoizismus unmotiviert und aufgesetzt. Nicht nur im Vergleich zum homerischen Helden, sondern auch mit der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ambiguisierung wirkt Opitzens Odysseus als Muster eines christlichen Stoikers unglaubwürdig. Doch war sich Opitz seiner Überzeichnung wohl bewußt, hat er doch in seiner poetologischen Reflexion und in einer oppositio der Fortuna-Apostrophe eine mehrdimensionale Sicht des Helden unter explizitem Verweis auf den zerrissenen, von Heimweh geplagten Odysseus abgelehnt. Indem Opitz aber diese unheroische Seite des Helden ausdrücklich und doppelt erwähnt, konfligiert sie dennoch, ob intendiert oder ungewollt, als konkurrierender Diskurs oder mythenkritischer Kommentar mit der forcierten Stoisierung und Heroisierung. Opitz macht den Leser zum Mitwisser seiner gezielten Mythoskorrektur, der Modellierung des Odysseus zum Muster eines ‹weisen Mannes›. So appelliert der opitz’sche Odysseus an den zeitgenössischen Leser, in Analogie zu der forcierten Überformung des Odysseus das ‹richtige Leben im falschen› zu erkennen und auch in dürftigen Zeiten am Ideal heroischer Unerschütterlichkeit festzuhalten:42 So wird ausgerechnet der wendige Odysseus zum Vorbild für das ‹Sich nicht bewegen lassen›, das Opitz seinen Zeitgenossen als Haltung vermitteln möchte.
42
Sie ist bei Daniel Heinsius: De contemptu mortis (hier zit. nach: Vier Bücher von der Verachtung des Todes. Aus dem Lateinischen des berühmten Daniel Heinsius übersetzet [von] Ludewig Friedrich Hudemann. Wismar [u. a.] 1749) vorgegeben, der in dem Epos De contemptu mortis, zweites Buch, Odysseus als einen jener Helden preist, die ohne Furcht vor dem Tod starben (Hudemann, S. 36): […] Ulyß, der nie durch schwere Plagen Erlag, und dessen Geist nichts [!] tiefe Wunden schlagen, Noch ihn entkräften konnt […].
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Zusammenfassung Wie der vergleichende Überblick gezeigt hat, ist die Vielfalt der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Odysseus-Deutungen beachtlich.43 Sicher sind die unterschiedlichen Indienstnahmen und Interpretationen auch unterschiedlichen Quellenschriften geschuldet. Denn die Rezeption des Odysseus beschränkt sich keineswegs auf den homerischen Odysseus. So stützt sich Heinrich von Veldeke neben seiner altfranzösischen Vorlage auf Vergil und die Dares-Dictys-Tradition, allesamt Autoren, welche – durchaus parteilich – Odysseus aus troischer Perspektive schildern. Sebastian Brant verarbeitete wohl neben der troischen Tradition und den mittelalterlichen Mythenkorrekturen schon Lorenzo Vallas lateinische Übertragungen der homerischen Epen. Martin Opitz schließlich hielt sich erklärtermaßen nicht an Homers Odyssee, zu seiner Zeit längst ins Deutsche übersetzt, sondern folgte der Tradition einer spezifisch stoischen Deutung der Odysseus-Figur. Seine im Vergleich zu Veldeke und Brant eher eindimensionale Konzeptualisierung zeigt aber ernüchternd, daß die philologische Verbesserung der Quellenlage den Deutungsspielraum eher verengte. Mythenkorrekturen nehmen im 17. Jahrhundert sukzessive ab und kommen erst wieder im 18. Jahrhundert in Komisierungen des Heroischen, Travestien und eigenwilligen Mythosallianzen zum Tragen. Die Ambiguität der Odysseus-Figur ist jedenfalls keine Erfindung moderner Mythoskorrekturen. Die Bedeutung der Ambiguisierungen erschließt sich durch die jeweils sinnkonstituierenden Kontexte: So pejorisiert Heinrich von Veldeke seinen Odysseus durch die Synthese mit dem Verräter Sinon. Doch gewinnt Odysseus als ‹heimtückischer Verführer› in dieser Mythoskorrektur auch einen allegorischen Sinn, nämlich als Werkzeug Gottes die sündhafte Habgier der Troer zu bestrafen. Bei Sebastian Brant repräsentiert Odysseus im Kontext der Narrensatire den Weisen, der anderen zu raten vermag, seine Mitstreiter vor Troja klug berät und seine Gefährten vor Kirkes Zauber rettet, sich selbst aber nicht helfen kann. Opitz schließlich sucht die Figur des Odysseus so stark nach der Maßgabe des ‹weisen Mannes› zu vereindeutigen, daß die verschwiegenen Seiten wie ein dialektischer Einwand die stoische Mythoskorrektur relativieren. Odysseus ist auch im Mittelalter und Früher Neuzeit keine eindeutige Figur. Gerade ihre Ambiguität regte zu immer neuen Korrekturen an, die erst in ihrer Vielfalt und Abfolge die Bedeutung des Mythos konkretisieren: Odysseus erschließt sich erst aus der Geschichte seiner Rezeption.
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Vgl. zur modernen Odysseus-Rezeption Gotthard Fuchs (Hg.): Lange Irrfahrt – große Heimkehr: Odysseus als Archetyp. Zur Aktualität des Mythos. Frankfurt/M. 1994; des weiteren Bernd Seidensticker: Aufbruch zu neuen Ufern. Transformationen der Odysseusgestalt in der literarischen Moderne. In: Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert. Hg. von B. S. und Martin Vöhler. Stuttgart u. a. 2001, S. 249–270 sowie Günter Häntzschel: Odysseus in der deutschen Literatur vor und nach 1945. In: Zeitschrift für deutschsprachige Kultur und Literaturen 15 (2006), S. 55–75.
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Euripides-Reminiszenzen in Goethes ‹Faust›. Vom Sonnenflug Fausts zu AY – Phorkyas Goethe hat sich über sein Verhältnis zur Antike bekanntlich mehrfach geäußert. So schrieb er im Jahre 1826 im Zusammenhang mit dem ‹Kyklops› des Euripides: «Von meinen Jünglingszeiten an trachtete ich mich mit griechischer Art und Sitte möglichst zu befreunden, und mir sagen zuverlässige Männer, daß es auch wohl gelungen sei […] In jenem Bestreben, es sind nunmehr gerade fünfzig Jahre, bin ich immer fortgeschritten, und auf diesem Wege habe ich jenen Leitfaden nie aus der Hand gelassen.»1 Eine besonders intensive Begegnung mit der Antike stellt Trevelyan für die Jahre 1798–1801 fest: «During these three years Goethe lived and breathed and had his being in Greece».2 In dieser Zeit arbeitete der Dichter zugleich an ‹Faust I› und ‹Faust II›, 3 und der Einfluß der griechischen Antike auf letzteren ist in weiten Teilen bekannt. Wir werden darauf zurückkommen. Der Gedanke liegt nun nahe, daß sich antike Spuren auch in Versen von ‹Faust I› finden, die damals entstanden sind. Aus jener Zeit stammt Fausts Flugvision. (Siehe Anm. 3). Zwar heißt es im Kommentar von Friedrich u. Scheithauer: «Der Traum des Fliegens begleitet Goethe durchs ganze Leben.»4 Der Traum in ‹Faust I› ist aber ein besonderer, gilt er doch einem Flug im Gefolge der Sonne. Einige Verse seien hier für unser Thema herausgegriffen, obwohl es fast schmerzt, dieses hinreißende Gedicht zu zerlegen: O daß kein Flügel mich vom Boden hebt, Ihr nach und immer nach zu streben! […] Nicht hemmte dann den göttergleichen Lauf Der wilde Berg mit allen seinen Schluchten […] Doch scheint die Göttin endlich wegzusinken; Allein der neue Trieb erwacht: Ich eile fort, ihr ewges Licht zu trinken, Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht […] Ein schöner Traum, indessen sie entweicht. Ach, zu des Geistes Flügeln wird so leicht Kein körperlicher Flügel sich gesellen!5 1
2 3 4 5
Sämtliche Werke, 1977, Bd. 14, S. 689. Ich folge auch weiterhin dieser Ausgabe. – Trevelyan erwähnt außer Versuchen in der Knabenzeit die Lektüre einer Auswahl der 3 großen griechischen Klassiker ab Juni 1771. (Trevelyan, 1942, S. 56 f.). Er weist in diesem Zusammenhang auch auf Goethes Ansprache Zum Schäkespears Tag von 1771 und ihr Urteil über die griechische Tragödie hin. «50 Jahre» sind also zu kurz gegriffen. Trevelyan, 1942, S. 224. Friedrich u. Scheithauer, 1959, S. 191; Sämtliche Werke, 1977, Bd. 5, S. 636. Friedrich u. Scheithauer, 1959, S. 193. Sämtliche Werke, 1977, Bd. 5, V. 1070 ff.
Euripides-Reminiszenzen in Goethes ‹Faust›. Vom Sonnenflug Fausts zu AY – Phorkyas
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Friedrich u. Scheithauer sowie Schings6 nennen weitere Beispiele für Goethes Flugwunsch, aber dieses spezielle Motiv Fausts wiederholt sich nicht. Im Hintergrund seines Traumes steht offensichtlich der antike Mythos vom Lauf der Sonne auf ihrer Bahn. Der Dichter bezeichnet sie als «Göttin» und entwirft damit nicht etwa «eine neue Göttin des Irdischen», wie Ulrich Gaier meint;7 eine solche Neuschöpfung war gar nicht erforderlich. Goethe greift vielmehr den alten Glauben an den Sonnengott auf, den er, der deutschen Sprache gemäß, in ein Femininum verwandelt. Fausts erträumten Flug nennt er «Lauf»; denn er folgt ja der festen Bahn der Sonne. Die Ernüchterung bleibt nicht aus; Schings spricht sogar von Verzweiflung;8 es fehlt ein «körperlicher Flügel». Welch auffallend plastische Vorstellung!9 Angesichts dieser ausdrucksstarken Motive fragt man sich, ob es eine Szene in der antiken Literatur gibt, von der die Anregung zu solchen Bildern ausgehen konnte. Die Suche führt uns zu Euripides, und zwar zu seinem Werk ‹Iphigenie im Lande der Taurer›. Goethes erste Fassung der ‹Iphigenie auf Tauris› entstand 1779, am 6. 9. 1780 las er wieder Euripides, und im Jahre 1781 beschäftigte er sich erneut mit griechischen Tragödien.10 Euripides legt dem Chor der verbannten griechischen Frauen folgenden Wunsch in den Mund: « ¹ « , 2 α # ! " $« % & « 4 '« () * +α O könnte ich fliegen die leuchtende Bahn, wo das Feuer der Sonne so prächtig dahinzieht! Über dem Vaterhaus hemmte den stürmischen Lauf ich der Schwingen, die auf meinen Schultern sich regen …11
Das Bild von der Bahn, dem Fahrweg der Sonne entspricht dem Hintergrund, vor dem Fausts Traum entstehen konnte, und die «Schwingen […] auf meinen Schultern» sind ebenso plastisch gezeichnet wie der «körperliche Flügel» bei Goethe. In seine ‹Iphigenie auf Tauris› nahm er dieses Chorlied (2. Stasimon) bekanntlich nicht auf. Erst zwischen 1798 und 1801 läßt er Faust, wie erwähnt, von solchem Flug auf der Sonnenbahn träumen.12 Kann man bei einem zeitlichen Abstand von ca. zwanzig Jahren noch eine innere Beziehung zwischen beiden Texten annehmen? In seiner Gedenkausgabe hat Beutler gerade am Beispiel des ‹Faust› dargelegt, daß zwischen den Anregungen zu einer Dichtung und ihrer Ausführung Jahre liegen können.13 Es bedarf nur eines neuen Anstoßes. Hat es einen solchen im vorliegenden Fall gegeben?
6 7 8 9 10 11 12 13
Friedrich u. Scheithauer, 1959, S. 193. Schings, 1998, S. 110. Gaier, 2001, S. 87. Schings, 1998, S. 111. Hinweise auf solche Körperlichkeit bei Michelsen, 2000, S. 68. Sämtliche Werke, 1977, Bd. 18, S. 454 f., 457 f. Euripides, Iphigenie im Lande der Taurer, 1990, V. 1138–42. Ich zitiere auch weiterhin nach dieser Ausgabe. Friedrich u. Scheithauer, 1959, S. 191. Sämtl. Werke, 1977, Bd. 5, S. 703 ff. – Ähnlich Schadewaldt bei Grumach, 1949, S. 973.
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Trevelyan erwähnt, daß Goethe im März 1798 mehrere Stücke des Euripides las,14 und im November 1800 äußerte sich Friedrich Schlegel gegenüber seinem Bruder Wilhelm: «Daß ein gewaltiges griechisches Trauerspiel von ihm zu erwarten ist, in Trimetern und chorähnlichen Chören, hat Dir Dorothea, glaube ich, schon als Resultat seines letzten Hierseins geschrieben. Er hat einigemal recht viel darüber mit mir gesprochen, indessen habe ich mich doch nicht überwinden können zu fragen nach dem Sujet.»15 Man möchte diese Zurückhaltung bedauern; aber zum Glück geben schriftliche Äußerungen Goethes aus diesem Herbst Auskunft. Er weist auf Helena hin und auf seine «nicht geringe Lust, eine ernsthafte Tragödie auf das Angefangene zu gründen.» (12. September 1800 an Schiller). Und Beutler ergänzt: «Tagebucheintragungen über die Arbeit an Helena vom 12. bis 14., 22. bis 26. September 1800.»16 Als Ausgangspunkt dieser «ernsthaften Tragödie» nennt Beutler den ‹Orestes› des Euripides.17 Er skizziert die Handlung, und es leuchtet ein, daß die Rolle Orests, insbesondere seine Erinnerungen an das Unglück seiner Familie und seine eigene Schuld in Goethe Assoziationen an die Tragödie ‹Iphigenie im Lande der Taurer› hervorrufen mußten. Denkbar ist, daß er sie sich in diesem Zusammenhang erneut vornahm und auf die Verse 1138–42 noch einmal aufmerksam wurde. Details, die ihn daran hätten erinnern können, gibt es allerdings wenige. Der Sonnenwagen wird einmal erwähnt, aber niemand äußert den Wunsch, ihm zu folgen.18 Ein Phrygier fragt sich, ob er sich durch einen Flug in den Himmel retten soll, nennt aber im nächsten Vers als Alternative den Fluchtweg über das Meer und wertet und würgt damit den vorhergehenden Gedanken ab.19 Etwas anders steht es in dieser Hinsicht um die ‹Helena›-Tragödie des Euripides. Daß sie Goethes Arbeit am ‹Helena›-Akt beeinflußte, stellt v. Wilpert in lexikalischer Kürze fest.20 Einzelbelege, die sich vor allem auf die letzten Jahre des 18. Jahrhunderts beziehen, sollen im zweiten Teil dieses Aufsatzes im Zusammenhang mit ‹Faust II› erbracht werden. Zunächst mag v. Wilperts Hinweis genügen. Die ‹Helena›-Tragödie des Euripides ist der ‹Iphigenie im Lande der Taurer› sehr ähnlich, und dies nicht nur aufgrund paralleler Ereignisse im Leben der beiden Frauen (z. B. ihrer Aufenthalte auf Tauris bzw. in Ägypten, die einer Gefangenschaft ähneln, und ihrer anschließenden Befreiung). Peter Burian schreibt dazu: «The similarities between the two plays reach into details of dramatic design and verbal expression.»21 Solche Ähnlichkeiten mit der früheren Tragödie 22 weist das 3. Stasimon (V. 1451 ff.) auf: die bevorstehende Heimkehr der königlichen Frauen und den Tanz in der Heimat – in der ‹Iphigenie› als Reigen der Dienerinnen, in der ‹Helena› auch als deren eigenen Tanz. 23 Die Lektüre der späteren Tragödie dürfte an dieser Stelle Assoziationen an die frühere wachgerufen haben. Wichtiger aber ist das Flugmotiv im selben Stasimon:
14 15 16 17 18 19 20 21 22
23
Trevelyan, 1942, S. 242. Goethe: Über seine Dichtungen, Gräf. 2. Theil, 2. Bd., 1904, S. 102. Sämtl. Werke, 1977, Bd. 5, S. 636. Ebda. S. 799 f. Euripides, Orestes, 1990, V. 1001 ff. Ebda. V. 1376 f. v. Wilpert, 1998, Sp. 292. Euripides, Helen, 2007, S. 40. Burian hält vorläufig an der «communis opinio» fest, daß die Iphigenie im Lande der Taurer des Euripides vor dessen Helena entstand. (Ebda. S. 41). Euripides, Iphigenie im Lande der Taurer, 1990, V. 1123 f., 1143 ff.; Helena, 1990, V. 1459 ff.
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# $" « - λ $ +# ς) 13« λ + « […] ++ […] τ λ 3«, +3 6" , » P« µ "+« #7 # %3 α 3)# $$$, E& %6* , M"« Ρ […] 9). «O schwebten mit Flügeln wir hin durch die Luft, wie die Vögel in Schwärmen nach Libyen ziehen […] Langhalsige Vögel, Gefährten der ziehenden Wolken, flieget auf die Plejaden zu und auf den Orion, der nächtlich leuchtet, und laßt euch herab am Eurotas und richtet die Botschaft aus: ‹Menelaos kehrt heim …›» 24
Hier wird das Vorbild der Kraniche zur Grundlage des eigenen Wunsches zu fliegen, nicht die Bahn des Sonnengottes; denn auf ihr könnten die Griechinnen nicht in die Heimat gelangen (Griechenland liegt im Nord-Nord-Westen, der Sonnenuntergang fand im jahreszeitlich günstigsten Fall im West-Nord-Westen von Pharos statt); 25 aber der Vogelflug und damit auch der Traum verweisen auf den Kosmos, und darin besteht ihre Ähnlichkeit mit der erwähnten Stelle, dem 2. Stasimon aus der ‹Iphigenie im Lande der Taurer›; «… gelegentlich will er [der Chor] bis zu der Sonne oder den Sternen fliehen», assoziiert auch Wenskus. 26 Zusammen mit den obengenannten Motiven der Heimkehr und des Tanzes (V. 1459 ff., Anm. 23), war diese Ähnlichkeit, so scheint mir, besonders geeignet, in Goethe die Erinnerung an den früheren Chor und dessen Traum vom Flug mit der Sonne zu wecken, zumal der Dichter nach Friedrich Schlegels Auskunft in seiner geplanten ‹Helena›-Tragödie «chorähnlichen Chören» Raum geben wollte, sich also intensiv mit ihnen beschäftigen mußte. Und die Erinnerung kann ihn dazu veranlaßt haben, das frühere Werk oder zumindest dessen 2. Stasimon wieder zu lesen und den Flug im Gefolge der Sonne auf Faust zu übertragen.
24
25
26
Euripides, Helena, 1990, V. 1479–93. Die Motivgeschichte der Kraniche, deren Auftauchen bei Goethe von mehreren Forschern erwähnt wird, kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht behandelt werden. Vgl. dazu nur Anm. 4, 6, 9. Ich verdanke diesen Hinweis Frau Dr. Staesche vom Zeiß-Planetarium Berlin. Er gilt für das Jahr 480 v. Chr. Auf die astronomischen Kenntnisse des Euripides verweist Wenskus, 1990, S. 75, 76, 79. Ebda. S. 80.
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AY – Phorkyas Die ‹Helena›-Tragödie des Euripides wird schon früh in Goethes Tagebuch erwähnt: Eintragungen vom 23. und 24. März 1780 ergeben, daß er sie der Herzogin Anna Amalia vorlas; vermutlich hat er dazu eine deutsche Übersetzung benutzt. 27 Zwar besagt diese Lesung noch nicht, daß ihn 18 bis 20 Jahre später das Werk inspirierte. Aber immerhin nannte er es 1802 gegenüber Wieland sein Lieblingsstück.28 Und die bereits erwähnte Feststellung v. Wilperts (Anm. 20), daß er es für seine Arbeit an ‹Helena› benutzt hat, sei nun durch Einzelheiten belegt. Die Münchner Ausgabe vermerkt zu V. 8531–34: «Helenas Klage über die bedenklichen Folgen ihrer Schönheit, so auch Euripides, ‹Helena›, 27.»29 Dasselbe Thema behandeln die Verse 261–63 und 270 ff. Schöne kommentiert V. 8872 f.: «Nach einer (in Euripides’ ‹Helena› aufgenommenen) Sage blieb die Geraubte in Ägypten, bis Menelaos sie heimholte, so daß Paris nur ein Idol, ein Phantom nach Ilios-Troja entführte.»30 Auch Beutler erwähnt diese Sagenform der antiken Tragödie. 31 Aus der dabei entstandenen Doppelung erwächst bei Goethe der Zweifel Helenas an ihrer Identität. 32 Ihr entspricht in der Tragödie des Euripides der Zweifel des Menelaos an der Identität der Wiedergefundenen; denn er selbst hat das Phantom von Troja mitgebracht. 33 Allerdings hätte es auch genügt, Hederich zu jener doppelten Identität zu befragen; aber dieser verweist selbst auf die ‹Helena› des Euripides. 34 Das kann Goethe zu deren erneuter Lektüre veranlaßt haben. Tiefer geht Jochen Schmidts Bemerkung: «Von übergreifender Bedeutung war für Goethe die ‹Helena› des Euripides […], weil er darin eine Behandlung der umstrittenen Helena-Gestalt jenseits des Moralischen sah.» 35 Aber diese Art der Behandlung war ihm auch schon aus der Lesung für Anna Amalia bekannt. Ein sehr schwer wiegendes Argument dafür, daß Goethe diese Tragödie heranzog, sehe ich letztlich in der Gestalt der alten Schaffnerin (AY), welche die Funktion haben sollte, Gäste zu empfangen; sie taucht nicht im ‹Orestes›, wohl aber in der ‹Helena› auf, wo sie dem schiffbrüchigen Menelaos entgegentritt.36 Ihre Beschimpfungen und Drohungen gegenüber dem Neuankömmling, die selbst den Tod einschließen, bleiben nicht im verbalen Bereich: $)9 λ κ µ« + !+Ω« 3« = ")« + «; ν 9 ? 27 28 29 30 31
32 33 34 35 36
Trevelyan, 1942, S. 105(mit Anm.)-106. Vgl. Grumach, 1949, S. 273. Johann Wolfgang Goethe, Münchner Ausg., 1997, Bd. 18.1., S. 947. Joh. Wolfg. Goethe, Faust. Kommentare. Schöne, 1999, Bd. 7/2, S. 600. Sämtl. Werke, 1977, Bd. 5, S. 803. Beide Kommentatoren übergehen aber, daß es dort Hermes war, der Helena auf Beschluß der zornigen Hera nach Ägypten brachte, und daß diese das Idol schuf. – Burian in Euripides, Helen, 2007, S. 1–2, referiert die Sage genauer, und Friedrich u. Scheithauer erwähnen ebenfalls, daß «Helena selbst von den Göttern nach Ägypten gebracht wurde.» (1959, S. 271). Desgleichen die Münchner Ausgabe, 1997, S. 952. Sämtl. Werke, 1977, Bd. 5, V. 8874 f. u. 8913. Euripides, Helen, 2007, S. 3, 96 ff.; Helena, 1990, V. 557 ff. Vgl. auch Schmidt, 1999, S. 236. Hederich, 1986, Sp. 1220. Schmidt, 1999, S. 238. Euripides, Helena, 1990, V. 437 ff.
Euripides-Reminiszenzen in Goethes ‹Faust›. Vom Sonnenflug Fausts zu AY – Phorkyas
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«Scher dich vom Hause weg und steh nicht länger hier am Hofeingang herum und falle der Herrschaft lästig! Sonst schlägt man dich tot …» Menelaos muß sich dagegen verwahren: Θ α κ + ' # B . )
«Ha! Stoß mich nicht und dräng nicht mit Gewalt mich fort!» In dieser Übersetzung Ebeners fehlt '. Burians Übertragung ist hier genauer: «Don’t shake your hand at me and stop pushing me around.»37 Wer wird hier nicht an Phorkyas und ihre Schimpfworte gegenüber Helena und ihren Dienerinnen erinnert? Eigentlich sollte sie «jeden Fremden freundlich» begrüßen.38 Aber die Ähnlichkeit reicht bis in die Gestik hinein: «Nun endlich rührt sie auf mein Dräun den rechten Arm, Als wiese sie von Herd und Halle mich hinweg.» Auch die Drohung mit dem Tod durch den Herrscher des Palastes findet sich hier.39 Ebenfalls parallel ist das überraschende Einlenken der beiden Schaffnerinnen am Schluß der jeweiligen Szene: $# C# $# - […] µ $D "# F«α ν ! + « 9 +, « )" + $(+. Κ « $ # 6E+, Ρ+ « $ « + 6 ".
«Doch geh vom Hause weg […] Du kamest ungelegen. Wenn der König dich ergreift, wird dir der Tod als Gastgeschenk zuteil! Ich bin den Griechen wohlgesonnen; nur aus Furcht vor meinem Herrn sprach ich die groben Worte aus.»40 So bei Euripides. In ‹Faust II› rettet Phorkyas bekanntlich die Frauen, indem sie sie zu Faust führt.41 Aus den zitierten Parallelen ergibt sich, daß Goethe die ‹Helena›-Tragödie des Euripides wieder aufgriff und daß sie ihm sogar das Vorbild für das Verhalten der Phorkyas in ‹Faust II›, V. 8674 ff. lieferte. Trevelyan führt die Phorkyas-Szene aufgrund von V. 8689 42 auf die Furien im Tempel zu Beginn der ‹Eumeniden› des Aischylos zurück.43 Dieser Vers und das anfängliche Entsetzen der Helena mögen eine solche Reminiszenz sein. Aber in seiner Feinfühligkeit stellt Trevelyan auch fest, er sehe keinen Konflikt in der Atmosphäre zwischen dieser Nachahmung und dem Hauptthema des «Poems». 44 Mit anderen Worten: es wäre einer zu erwarten. Er entsteht aber nicht, weil die Grundlinien des Dialogs einen anderen Verlauf nehmen – entsprechend der oben zitierten Szene aus der ‹Helena› des Euripides. Auf das Entsetzen, das an die ‹Eumeniden› erinnert, folgt die Beschimpfung,45 die sich in Milde auflöst; so wird die Heiterkeit des Helena-Aktes vorbereitet.
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Euripides, Helena, 1990, und Euripides, Helen, 2007, V. 445. Sämtl. Werke, 1977, Bd. 5, V. 8673. Ebda. V. 8682 f., 8924. Trunz erwähnt das Motiv der Todesdrohung bei Euripides, nennt aber dessen Helena-Tragödie nicht. (Goethes Werke. Hamburger Ausg. Bd. III, Dramatische Dichtungen, 1. Bd., S. 587.) Euripides, Helena, 1990, V. 477 ff. Sämtl. Werke, 1977, Bd. 5, V. 8953 ff., 8994 ff. – Den Wechsel von «Schmähreden» zum «Schmeichelgesang» bei Goethe erwähnen Friedrich u. Scheithauer (1959, S. 271). «In hagrer Größe, hohlen, blutig – trüben Blicks …» Sämtl. Werke, 1977, Bd. 5. Trevelyan, 1942, S. 245 f. Gemeint ist wohl der Helena-Akt in Faust II, 3. Zu V. 8810 ff. bemerken Friedrich u. Scheithauer, ohne die ‹Helena› des Euripides zu nennen: «Streitgespräch, von Vers zu Vers wechselnd […] besonders bei Euripides. Die Streitenden suchen sich in Schmähungen zu überbieten.» (1959, S. 270).
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Petersen führt diese Heiterkeit auf die Spuren eines um 1800 von Goethe geplanten Satyrspiels zurück. Er vermutet, daß «der Charakter des Satyrspiels vor allem durch die Konfrontation Helenas mit Phorkyas, analog zur Konfrontation des Odysseus mit Polyphem, hervorgerufen werden» sollte. 46 Die Sprache des «Naturungeheuers» sei veredelt worden, und in den danach verbleibenden komödienhaften Zügen sieht er «wenn nicht eine Auswirkung, so doch eine Parallele zu der Euripideischen ‹Helena›»; dabei bezieht er sich auf A. Burnett, die «in der Invektive der Türhüterin, in den Lumpen, in denen Menelaos auftritt, und in dem doppelten Heiratsmotiv» komödienartige Züge auch bei dem Griechen entdeckt. 47 Zwar sieht Petersen eine gewisse Nähe der Türhüterin zu Phorkyas, wobei die komödienhaften Züge das tertium comparationis bilden. Die oben zitierten Worte der AY begründen jedoch hinreichend die Feststellung, daß es sich bei ihr und Phorkyas nicht nur um eine unbeabsichtigte Parallele als Ergebnis einer Sprachveredelung handelt, sondern um eine direkte Anleihe Goethes bei Euripides. Daß er dessen Vorlage in seine Gesamtkonzeption einbettete, ist selbstverständlich.
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Petersen, 1974, S. 94. Ebda. S. 96.
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Nils Steffensen
«Am größten ist’s, sich selbst zu besiegen». Der Dictator L. Cornelius Sulla in der dramatischen Verarbeitung Friedrichs des Großen1 I. Sulla als historisches Phänomen L. Cornelius Sulla Felix wird, Caesar, Pompeius, Marius, Cicero und den beiden Gracchen vergleichbar, seit jeher unter die markantesten Gestalten des römischen Revolutionszeitalters gerechnet. Sein skandalumwitterter Lebenswandel, Ausdruck eines grellen, unbeherrschten Charakters, stach scharf vom Habitus seines Standes, der Senatsaristokratie, ab; als Feldherr erfocht er sensationelle Siege über Roms auswärtige Feinde, vernichtende Niederlagen brachte er anschließend seinen innenpolitischen Gegnern bei, zuallererst Marius und Cinna; zum Dictator bestellt, erneuerte er die schon länger ins Taumeln geratene Senatsherrschaft, indem er ein blutiges Terrorregime etablierte, bevor er, der unbestritten führende Mann Roms, sich zur Verblüffung aller plötzlich ins Privatleben zurückzog; seine postum erschienenen Memoiren schließlich, abgefasst in den letzten beiden Jahren, die ihm geblieben waren, zogen hochmütig, wohl auch selbstgerecht, die Summe seines spektakulären, wechselvollen Lebens – in der Überzeugung, er habe den ihm aufgegebenen Willen der Götter stets erfüllt.2 1
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Für die mannigfache Hilfe, die ich beim Verfassen dieses als Beitrag zur Rezeptionsgeschichte konzipierten Essais erfahren habe, möchte ich meinen herzlichen Dank abstatten: zuerst Herrn Professor Dr. M. Meier (Tübingen), der mein Vorhaben stets mit Unterstützung begleitet hat; sodann meinen Gastgebern bei den Kolloquia der Alten Geschichte und der Frühen Neuzeit in Tübingen, namentlich den Herren Professoren Dr. F. Kolb und Dr. M. Asche, sowie beim Dokumentationszentrum für Librettoforschung in Bamberg, Herrn Professor Dr. A. Gier, bei denen ich meine Ergebnisse vorstellen konnte und die mich mit wertvollem Rat versehen haben; und schließlich den Herren Professoren Dr. G. Walther (Wuppertal) und Dr. E. A. Schmidt sowie Herrn Dr. H. Blum (beide Tübingen), die meine Arbeit einer kritischen Lektüre unterzogen haben. Ihnen allen fühle ich mich sehr verbunden. – Vorweggeschickt sei, dass die Abhandlung von fast ausschließlich historisch-politischem Interesse geleitet ist, während literatur- oder musikwissenschaftliche Aspekte, deren eigene Berechtigung außer Zweifel steht, in den Hintergrund treten. Theatergeschichtliche Erwägungen, wie sie in Kap. III und IV, besonders auch in den Fußnoten, geboten werden, sind, soweit wie möglich, auf ein hinsichtlich der Darstellungsabsicht beschränktes Maß reduziert. Hingegen ist Friedrichs Figuren, die verschiedene Typen politischer Akteure repräsentieren, eine ausführliche Analyse gewidmet, die weitere Verarbeitungen des Sulla-Stoffes miteinbezieht (Kap. V). Das Ziel, das diese Fallstudie verfolgt, ist letztlich ein zweifaches: anhand eines weithin unbekannten Textes einerseits das Nachwirken einer prominenten Gestalt des Altertums, nämlich Sullas, auf die Frühe Neuzeit nachzuzeichnen und andererseits Beobachtungen zum politischen Denken Friedrichs anzustellen, die auch auf seine Position als intellektueller Herrscher sowie sein Verständnis von der Geschichte ausgreifen. Eine Übersicht mit allen relevanten Quellen, darunter die Biographie Plutarchs und das erste Buch aus Appians Darstellung des Bürgerkriegs sowie die über Ciceros Werk verstreuten Bemerkungen, enthält Christ 2003: 155–167 und 195–211. Die maßgeblichen Stellen zu Sullas Regiment nach dem Sieg im Bürgerkrieg sind verzeichnet in MRR II 69. Viele treffende Beobachtungen über Sulla stellt Valerius Maximus in seiner
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Die provozierenden Taten, die Sulla vollbrachte, haben über zwei Millennien hinweg die Nachwelt zu teils enthusiastischen, teils verdammenden, bisweilen auch in sich widersprüchlichen Urteilen inspiriert. Niemals jedoch kommen sie kühl oder unbeteiligt daher. Allemal die antiken Autoren, die an Sulla gerieten, seien sie Historiker, Rhetoren, Dichter oder Philosophen, ließen sich von seiner Vielschichtigkeit anziehen oder abstoßen. So sehr waren die von ihm begangenen Verbrechen mit grandiosen Erfolgen und militärischen Triumphen verbunden, so sehr wohnte ein verwirrender Facettenreichtum, hohe Bildung wie Liebe zu derben Vergnügungen, Neigung zum Luxus wie wacher Geschäftssinn, Umgänglichkeit wie heuchlerische Verschlossenheit, seiner Persönlichkeit inne.3 Selbst die pointierte Sentenz, mit der Velleius Paterculus die Erscheinung Sullas zu erfassen suchte, dass er nämlich, bevor der Bürgerkrieg ausgebrochen sei, am meisten zu loben, nach seinem Sieg aber am meisten zu tadeln gewesen sei, erweist sich trotz ihrer suggestiven Prägnanz als irreführend.4 Denn schon im Sulla-Bild der Antike überwiegen die dunklen Töne bei weitem.5 Zumeist wird es, je nach moralischer Perspektive oder politischer Haltung, von den immer gleichen, im einzelnen variierten Zügen beherrscht: den während der Dictatur initiierten Proscriptionen, der bürokratisch angeordneten Vernichtung politischer wie privater Gegner, und seinem unberechenbaren, in die Extreme ausschlagenden Wesen, dem, bei allem Charisma, das von ihm ausstrahlen konnte, eine verdächtige Zwielichtigkeit anhaftete. Allenfalls Vorzüge wie hohe Intelligenz und rasche Auffassungsgabe, Großzügigkeit gegenüber Freunden oder die auf seinen Feldzügen wiederholt unter Beweis gestellte Tapferkeit sind, bisweilen widerwillig, bisweilen relativierend, immer auf Anerkennung gestoßen.6 Nur Appian erfüllte eine fast uneingeschränkte Bewunderung für Sullas politisches Werk, die angebliche Befreiung und Konsolidierung der vom Parteienkampf geschwächten Republik: Zwar gesteht er ein, dass Sulla zu unrechtmäßiger Gewalt gegriffen habe, doch sei es sein unbestrittenes Verdienst, den Nutzen Italiens gemehrt und die Freiheit Roms wiederhergestellt zu haben.7 Die jedoch bis heute einflussreichste Deutung, die Sulla zuteil geworden ist, stammt aus Plutarchs Lebensbeschreibung des Dictators. Diese Vita, der als Pendant die Biographie Lysanders, des legendären spartanischen Generals, zur Seite gestellt ist, trachtet danach, Sulla als Archetyp des klassischen Tyrannen zu stilisieren: als einen arroganten Alleinherrscher, der sich willkürlich über jedes Recht hinweg gesetzt habe, ungebremst in seinen
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Exempla-Sammlung an. Da sich der vorliegende Aufsatz hauptsächlich an einen altertumswissenschaftlichen Leserkreis wendet, sind die angeführten Quellen auch künftig auf das Notwendigste beschränkt. S. neben den bereits genannten Autoren: Sall. Iug. 95 sowie Cat. 5, 6; 11, 4 f.; insbes. 51, 32 ff.; Dion. Hal. ant. V 77. Besonders prägnant Val. Max. VI 9, 6 zur Doppelnatur Sullas. Unter den modernen Schriften s. die auch literarisch bedeutsame Charakterstudie Mommsens 1904: 366–376. Neuere Auseinandersetzungen mit Sulla führt an: Christ 2003: 167–194. Vell. II 17, 1. S. auch Val. Max. II 8, 7; III 1, 2; VI 5, 7; IX 2, 1; 15, 5. Bes. im Hinblick auf die spätantiken Deutungen bei Augustin oder Orosius s. Christ 2003: 163 ff. Beispielsweise im Werk Ciceros; hierzu detailliert: H. Diehl, Sulla und seine Zeit im Urteil Ciceros (= Beiträge zur Altertumswissenschaft 7), Hildesheim u. a. 1988. App. civ. I 3; 23; 98 etc. Für eine detailliertere Analyse der Behandlung Sullas bei Appian mit weiterer Literatur s. M. Hose, Erneuerung der Vergangenheit. Die Historiker im Imperium Romanum von Florus bis Cassius Dio (= Beiträge zur Altertumskunde 45), Stuttgart-Leipzig 1994, 278–282.
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Exzessen, den Leidenschaften sklavisch verhaftet.8 Sulla war, so Plutarchs Schlussfolgerung, ein Aristokrat, der, anfangs nicht unsympathisch und auch mit seinem Schicksal zufrieden, aus Ruhmessucht die alleinige Machtstellung zielstrebig anvisiert habe, um dann, wie es häufig aus menschlicher Schwäche geschehe, durch Verblendung und Übermut entweder charakterlich zu entarten oder gar erst seine wahre Natur zu enthüllen.9 Mit seiner Interpretation hat Plutarch, einer der meistgelesenen antiken Autoren und, dank der didaktisch-moralischen Intention seiner Viten, ein Modeautor des 17. und 18. Jh.s, die frühneuzeitliche Sicht auf Sulla so stark beeinflusst wie womöglich sonst nur Cicero.10 Denn wenn die Denker des Absolutismus in historischen Werken, juristischen Abhandlungen oder moralphilosophischen Schriften den Blick in die Antike richteten, um die Figur des idealen Herrschers und dessen Verhältnis zum Staat zu ergründen, pflegten sie sich den scheinbar unzweideutigen, vorbildhaften Gestalten zuzuwenden: den aufrechten Republikanern, unter denen sich der Aufstieg Roms zum Weltreich vollzogen habe, den milden und gerechten Kaisern, die Wohlstand und Frieden über das Imperium Romanum brachten, oder den vermeintlichen Universalgenies wie Caesar oder Alexander, die stets die Phantasie des Abendlandes zu beflügeln vermochten. Sulla jedoch fiel politisch wie moralisch einer tiefen Verurteilung anheim. Geläufige Darstellungen in rhetorischem Duktus, eng an die von Tyrannentopik durchzogenen Wertungen Plutarchs und Ciceros angelehnt, stehen zwar neben reflektierteren Analysen, die bestrebt sind, Sulla als historisches Phänomen zu würdigen.11 Doch meistens erregt sein 8
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Zu prominenten Stellen der Biographie zählen: Plut. Sulla 2; 3; 6; 12; 30 f.; 34; 39 ff. Zur Vita s. jetzt die Diskussion bei T. Duff, Plutarch’s Lifes. Exploring Virtue and Vice, Oxford 1999, 165–204. Plut. Sulla 30. Vgl. Tacitus’ Nachruf auf Tiberius (ann. VI 51). Vgl. Hirzel 1912: 111–180; D. A. Russell, Plutarch, London 1973, 143–162; eine Übersicht der im 18. Jh. erschienenen Plutarch-Ausgaben und Kommentare (15–32) enthält M. W. Howard, The Influence of Plutarch in the Major European Literatures of the Eighteenth Century, Chapel Hill 1970. S. auch die Quellenanalyse bei Quetin 1999: 436–439 für die hauptsächlich durch Plutarch inspirierten Sulla-Opern. – Die Nachwirkung Sullas in der Frühen Neuzeit ist nahezu unerforscht. Leider standen nicht immer die vom Preußenkönig verwendeten Ausgaben zu Verfügung. Nicht eingesehen werden konnte die Römische Geschichte von L. Echard, die Friedrich besessen hat: vgl. Berney 1934 (a): 64. Die nachstehenden Autoren und Werke vermitteln wichtige Einblicke in die Sulla-Rezeption der Frühen Neuzeit. Zedler 1741, das für den deutschsprachigen Raum maßgebliche Universallexikon, enthält einen quellengesättigten Eintrag zu Sulla. Bossuet 1681/1765 erwähnt ihn mehrfach in seiner «Universalgeschichte» (493; 499, zu Sullas Verbrechen und seiner Tyrannis; 503 jedoch in Anerkennung seiner historischen Leistung). Rollin 1738 ff./1823, dessen «Histoire Romaine» Friedrich überaus schätzte (vgl. Anm. 32, s. auch Kunisch 2005: 313), bietet im 29. Band ein längeres Portrait Sullas, das allerdings, nach Rollins eigenem Bekunden, strikt an Sallusts Charakterisierung des Dictators orientiert ist (Tome XIX 7, 482–488). Danach, in den Büchern 31–33, beherrscht Sulla die Schilderung der Bürgerkriege, wobei Rollin nüchtern den Wertungen der antiken Vorlagen folgt und einerseits Sullas Erfolge anzuerkennen weiß, andererseits dessen Diktatur mit Kritik bedenkt (Tome XX 8, bis 407). Montesquieu 1758/1950 kommt in seinen «Pensées» verschiedentlich auf Sulla zu sprechen (Tome II), am wichtigsten jedoch ist, abgesehen von den «Considérations» (s. u.) sein «Dialogue de Sylla et d’Eucrate» (I.3, 553–563), in dem sich der zurückgetretene Sulla über sein Dasein außerhalb der Politik beklagt und mit dem Philosophen Eucrate in ein Streitgespräch über seine Diktatur und seinen Ehrgeiz, besonders aber über die fatale Auswirkung seines Regiments für die Freiheit, verwickelt wird. De Vertot bietet im dritten Band seiner römischen Revolutionsgeschichte (p. 312 ff.) ein unter Angabe der Quellen ausgeführtes Portrait Sullas, wie auch bei Sallust mit ausdrücklicher Erwähnung der Ruhmesliebe des Dictators; der vierte Band behandelt die Diktatur, wobei de Vertot unbeschönigte Urteile fällt, z. B. 52; 57. Geistreich Gibbon 1776, ch. VII ([…] the generous spirit of Sylla, who subdued the enemies of Rome, before he suffered himself to revenge his private injuries), neben einigen eher beiläufigen Bemerkungen ohne besondere Originalität. Zu Voltaires Einfluss auf Friedrich s. u. In sei-
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Name Ablehnung oder sogar Abscheu. Womöglich zeugen die häufig flüchtigen Bemerkungen aber auch von Desinteresse. Immer noch waren jedenfalls die Szenen des Blutrausches gegenwärtig, die den humanistischen Geboten der Aufklärung eklatant widersprachen; unvergessen blieben die Repressalien, mit denen Sulla die republikanisch-bürgerliche Freiheit knebelte, wie Plutarch sie geschildert hat. Sulla personifizierte, so ließ sich aus dessen Darstellung ableiten, ein malum exemplum für ein verhängnisvolles, im Absolutismus virulentes Gesetz der Herrschaftsausübung: dass, wer vollkommene Macht besitze, von ihr verführt, zum selbstherrlichen, illegitimen Despoten mutiere, wenn es ihm an innerlicher Festigkeit fehle, und die Bürger zu nichtswürdigen Sklaven herabdrücke. Noch Sullas vieldeutigen Rücktritt, vorgeblich ein Akt der Mäßigung, interpretierte der abwägend urteilende Montesquieu als Folge der zurückliegenden Gewalttaten. Sein verwerfliches Handeln habe den römischen Bürgersinn gebrochen und zwangsläufig sei danach der Untergang der Republik eingetreten. Im Jahre 1753 allerdings hat das Sulla-Bild in politischer Perspektive eine überraschende Umdeutung und Erweiterung erfahren: in der auf Französisch abgefassten Pièce dramatique «Sylla» des Monarchen, Literaten, Historikers und Philosophen Friedrichs des Großen, die der im gleichen Jahre uraufgeführten Oper «Lucio Silla», komponiert von Carl Heinrich Graun, als Vorlage diente. Ihrer Interpretation ist diese Studie gewidmet. Sie will demonstrieren, dass Friedrich mit seinem Libretto eine für die Öffentlichkeit bestimmte, in literarische Form gebrachte Veranschaulichung seines Herrscherbildes vorgelegt hat, das mit seinen theoretischen und historiographischen Werken, auch seinen Briefen, in Übereinstimmung steht. Sie begreift sein künstlerisch-musisches Schaffen nicht nur als Element standesgemäßen Divertissements, sondern verficht die häufig attackierte Position, dass Friedrichs literarische Produkte tatsächlich Ausdruck seines Wesens, seiner Empfindungen oder Ansichten sind.12 Sie will außerdem vorführen, wie Friedrich als exzellenter Kenner des Altertums seinen Stoff mit Eigenständigkeit geformt hat, da ihm seine intime Quellenkenntnis eine schlüssige Handlungsführung und plausible Charakterzeichnung erlaubte. Dass er in den eng gezogenen Grenzen verblieb, die ihm die Gattung, das dramma per musica, auferlegt, ist davon unberührt.13 Zuletzt soll sichtbar werden, welche Veränderungen
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nem Drama «Rome sauvée, ou Catilina» (1749/1992) ist Sulla stets präsent: als bald verschlagener, bald verhängnisvoller «Dämon», der, wie die Republikaner Cicero und Cato behaupten, in Catilina wiederauferstehe (I 5, 278–281; I 6, 338; IV 2, 34; IV 7, 325) und der, in Caesars Formulierung, die Römer gleichsam in die Gefangenschaft geführt habe (II 3, 186 f.). Catilina hingegen, ein Profiteur des sullanischen Systems, bewahrt seinem einstigen Förderer eine gewisse Verehrung (IV 4, 101 f.) und setzt seine Widersacher ins Recht, wenn er sich Sullas Methoden zum Vorbild nimmt (II 2, 205–210). Nicht unerwähnt bleibe, dass Voltaire, bei einer Vorführung des «Catilina» in Berlin 1750, selbst die Rolle Ciceros übernommen hatte (vgl. P. LeClercs «Introduction» zur Ausgabe 72 ff.). Die im 19. Jh. entstandenen, teils dezidiert staatsrechtlich angelegten Untersuchungen, wie diejenigen von Th. Mommsen, L. Lange und E. Herzog, sind hier nicht von Interesse. Zum Gehalt der philosophisch-poetischen Werke Friedrichs grundlegend Spranger 1962: 9–16 und Berney 1934 (a). Sehr kritisch Kunisch 2005: 66 ff. Bedauerlicherweise zu knapp in der jüngst erschienenen Gesamtgeschichte Preußens: Chr. Clark, Iron Kingdom, Cambridge/Mass. 2006, 183–189. Zur dramatischen Dichtung: G. Müller, Friedrich als Autor von Theaterstücken, in: J. Ziechmann (Hg.), Panorama der Fridericianischen Zeit. Friedrich der Große und seine Epoche – Ein Handbuch (= Forschungen und Studien zur Fridericianischen Zeit 1), Bremen 1985, 249–252, zum «Sylla» 251 f. Die vorliegende Untersuchung folgt der modernen Librettoforschung, die im Libretto eine literarische Gattung eigenen Rechts erblickt. S. bes. K. G. Just, Das Opernlibretto als literarisches Problem, in: Ders., Marginalien. Probleme und Gestalten der Literatur, Bern-München 1976, 26–45; jetzt vor allem: Gier 1998,
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dem historischen Sulla widerfahren sind, einer Gestalt, die im Kontext der europäischen Hofkultur instrumentalisiert wurde: als Held auf der Berliner Opernbühne und als Medium zum Transport politischer Botschaften.14
II. Friedrichs politisches Denken und seine Vorstellungen über die Funktion der Geschichte Das Bemühen, die arcana imperii, die grundlegenden Probleme der Staatsphilosophie, zu durchdringen, hat Friedrichs Denken, als König wie als Intellektueller, der sich unermüdlich schöpferisch betätigte, Zeit seines Lebens herausgefordert: welchen sittlichen Ansprüchen der Fürst genügen müsse und was für moralische Herausforderungen er zu bestehen habe; welche Tugenden er benötige, um Ruhm zu erwerben, und an welchen Prinzipien er seine Regierung ausrichten müsse, wenn er ein gerechter Herrscher sein wolle; auf welchen Grundlagen sein Regiment beruhe und welche Staatsform am ehesten geeignet sei, Freiheit zu garantieren und Wohlstand zu sichern. Leitmotivartig umkreisen diese Themen das über 30 Bände umfassende, die Interessenvielfalt Friedrichs dokumentierende Œuvre, in Dichtungen, Dramen und Satiren, in Streitschriften und Pamphleten, in philosophischen Abhandlungen und Dialogen, in politischen und historischen Werken. Friedrich selbst, geboren, wie er schrieb, in einem Zeitalter der Philosophie, hat in seinem 1772 verfassten «Discours sur l’utilité des sciences et des arts» die Antriebsfedern benannt, die sein künstlerisches Schaffen motiviert hätten: die Erkenntnis, dass geistige Betätigung ein Grundbedürfnis jedes Individuums sei, dessen persönliches Glück durch sie gesteigert werde, sowie die Einsicht, mit welchen zivilisationsstiftenden Kräften der wissenschaftliche Fortschritt auf das Gemeinwohl zu wirken pflege.15 Friedrichs Vorstellung vom idealen Fürsten war durch die frühe Begegnung mit der französischen Staatsphilosophie seiner Epoche beeinflusst, vermittelt über die Lektüre Bayles, Voltaires und Fénelons, deren Werke ihm teils seit Jugendzeiten vertraut waren.16 Später kam besonders Montesquieu hinzu, dessen «Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence» der König mit nicht versiegender Begeisterung gelesen
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bes. 11–20. Bemerkenswerte Interpretationen zu Friedrich als Librettisten bietet insbes. Schleuning 1997: z. B. 517 f. Vgl. Henzel 1997: 14 f., jedoch mit anderer Gewichtung. Zu Friedrichs Verständnis der höfischen Repräsentation etwa auch Kunisch 2005: 250–285 und 1993: 184–192. Das Libretto erwähnt in einer Fußnote W. Schuller, Antikerezeption in Preußen, in: P. Bahners / G. Roellecke (Hgg.), Preußische Stile. Ein Staat als Kunststück, Stuttgart 2001, 165–179/499–504, hier: 501, Anm. 30. Bei Christ 2003 wird der «Sylla» vollständig übergangen. Vorwiegend musik- oder literaturwissenschaftlichen Arbeiten sind die nicht unproblematischen Untersuchungen von Klüppelholz 1988 und Oschmann 1991. P. 204: Dans ce siècle philosophe où nous vivons […]; s. auch bes. p. 200 f.; 203 ff. In seiner «Geschichte des Hauses Brandenburg» (1775) erklärt Friedrich, er wolle der Festigung und Fortentwicklung des mœurs, des coutumes, de l’industrie, des progrès de l’ésprit humain dans les arts et dans les sciences dienen (p. 213–216); zur Stelle s. Kunisch 2005: 102 f. S. auch Friedrich an Wilhelmine, im August 1740, p. 25 f. Aus der älteren Literatur ist Bratuscheck 1885 zu nennen. Zur Erziehung Friedrichs jetzt: J.-P. Sagave, Französische Prinzenerzieher am preußischen Hof (1694–1814), in: I. Mittenzwei (Hg.), Hugenotten in Brandenburg-Preußen, Berlin 1987, 279–312, bes. 279–283, sowie Berney 1934 (a): 5–19; 23 mit den ersten politischen Impressionen des Kronprinzen; zur Lektüre Bayles und Voltaires sowie weiterer Autoren, vor allem der französischen Tragiker 60 ff.; 66.
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hat.17 Tiefe Wirkung auf den jungen Friedrich besaßen Voltaires «Henriade», das Epos über den legendären König Heinrich IV., und Fénelons an den Dauphin von Frankreich gerichteter Fürstenspiegel, der Bildungsroman «Les aventures de Télémaque».18 Beide Autoren verfochten die Herrschaft eines Einzelnen, beide lehnten republikanische Verfassungen ab; die Aristokratie betrachteten sie mit Skepsis.19 Der Fürst, so forderten sie gestützt auf antike Herrscherethik, müsse an sittliche Grundsätze gebunden sein. Er dürfe nicht zwischen einer öffentlichen und einer privaten Moral trennen; jederzeit lasse er gutmütige Erhabenheit und großherzige Gerechtigkeit walten; von egoistischer Herrschsucht mache er sich frei; durch ständige Selbstprüfung und Selbstbelehrung erlerne er Mäßigung, um gegen innere Anfechtungen gefeit zu sein. Falsch verstandener Ruhmsucht, Ungerechtigkeit und Willkür könnten seine Untertanen zum Opfer fallen; wahren Ruhm werde er sich nur durch unbedingte Pflichterfüllung und moralische Integrität erwerben.20 Friedrichs Konzept des «inneren Königs», die Grundlegung seiner innenpolitischen Herrschaftsausübung, ist bereits in zwei frühen, während der Kronprinzenzeit entstandenen Schriften angelegt, die späteres, etwa im «Essai sur les formes de gouvernement» oder den «Politischen Testamenten» formuliertes Gedankengut vorwegnehmen: in den «Considérations sur l’état présent du corps politique de l’Europe» aus dem Jahre 1738 sowie im 1740 erstmals veröffentlichten «Antimachiavel».21 Im Despotismus erblickt der Kronprinz den schlimmsten Feind politischen Gedeihens. Die Wohlfahrt der Bürger erhebt Friedrich zur höchsten Aufgabe des Fürsten; zum ersten Male fällt die später oft wiederholte, gelegentlich abgewandelte Formulierung vom Herrscher als dem ersten Diener des Staates.22 Dieser dürfe niemals vergessen, dass Freiheit der stärkste Drang der Menschen sei; sie müsse er als oberster Gerichtsherr verteidigen.23 Die mit der Alleinherrschaft verbundene Ambiguität verkennt Friedrich nicht.24 Trotzdem räumt er der Monarchie den Vorzug vor einer republikanischen Verfassung ein, die entweder durch innere Querelen oder durch äußere Angriffe so lange geschwächt werde, bis sie zwangsläufig zusammenbreche. Zwar weiß er die Vorzüge der englischen Staatsordnung zu würdigen, doch lehnt er eine republikanische Ordnung für Preußen ab, in der optimistischen Annahme, dass dort die absolute Macht niemals missbraucht werde.25 Allerdings gesteht er bereitwillig zu, dass die menschlichen Schwächen den Herrschern eine schwere Hypothek auferlegten. 26 17 18
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Kunisch 2005: 101 ff., dessen Biographie den derzeit modernsten Zugang zu Friedrich eröffnet. Bratuscheck 1885: 27; 40; s. v. a. Berney 1934 (a): 10–13; Kapp 1982, bes. 47–62; Schieder 1983: 103 ff. Noch Friedrichs Vorwort, das er für eine spätere Ausgabe der «Henriade» verfasst hat, kündet von dem Eindruck dieses Werkes auf den König («Avant-Propos sur la Henriade de M. de Voltaire», in: Œuvres 8, 49–57). Berney 1924 (b): 62. Zum Folgenden, jeweils mit Belegen: Berney 1934 (a): 58–83, bes. 62 f.; 67; 260; Kunisch 2005: 66 ff.; Schieder 1983: 107. Charakteristische Tugenden in Friedrichs Denken bei Spranger 1962: 23. «Considérations», p. 26. Zum Begriff des «inneren Königs» Berney 1934 (b): 94, mit Belegen. Zu den «Considérations» Berney 1934 (a): 84–95. Kunisch 2005: 106 ff. zur Außenpolitik, 103–133 zum «politischen Rüstzeug des Kronprinzen». «Antimachiavel», p. 168. Vgl. auch den «Essai sur les formes de gouvernement», p. 208, sowie das Körpergleichnis, p. 202 f. «Antimachiavel», p. 202 f. und 240, sowie im «Essai sur les formes de gouvernement», p. 198 f. So auch deutlich Schieder 1983: 105 f.; 285 ff. «Antimachiavel», p. 225. Hierzu Spranger 1962: 72.
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Eine zentrale didaktisch-moralische Funktion bei der Ausbildung des Fürsten nahm in Friedrichs Denken die Geschichte ein; in ihr erblickte er eine schier unerschöpfliche Quelle an Lehrstoff. 27 Sein zyklisches Geschichtsbild eliminierte den Abstand zwischen Gegenwart und Vergangenheit.28 Pedantisch betriebene Universitätshistorie verachtete er mit aristokratischer Nonchalance; zu berauschen und begeistern vermochten ihn besonders die glorreichen Persönlichkeiten der Vergangenheit und ihre ruhmvollen Taten,29 die den Betrachter zu tugendhaftem Handeln ermutigten.30 Beide Momente, das Vergnügen an der Versenkung in die Geschichte sowie deren moralisch-didaktische Wirkung, regten Friedrichs außerordentlich umfangreiches historiographisches Œuvre an. Sein Interesse galt vornehmlich der Antike. Der König verfügte über stupende Kenntnisse in der griechisch-römischen Literatur, die er sich, in französischer Übersetzung, durch immerfort wiederholte Lektüre aneignete.31 Sogar ins Feldlager begleiteten ihn die Klassiker, denen er wegen ihrer formalen Vorbildhaftigkeit nachzueifern sich bemühte.32 Am meisten bewunderte er Cicero, von dessen Brillanz und Vielseitigkeit sogar Voltaire übertroffen werde und der in seiner Schrift «De officiis» den bedeutendsten Beitrag zur Moralphilosophie überhaupt geleistet habe. 33 Über Friedrichs gesamtes Werk verteilte Anspielungen sowie unzählige mündliche und briefliche Äußerungen zeugen von der Lebendigkeit des Altertums in seiner Vorstellungswelt.34 Allen voran die tugendhaften Helden der römischen Geschichte führten ihm vor, an welchen Mustern moralisch-integren Verhaltens er sich zu orientieren habe, wenn er ebenso großen Ruhm gewinnen wollte wie sie.35
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«Mémoires», p. xil (1751): L’histoire est régardée comme l’école des princes. Grundlegend: Berney 1934 (b): etwa 86 ff.; U. Muhlack, Geschichte und Geschichtsschreibung bei Voltaire und Friedrich dem Großen, in: J. Kunisch (Hg.), Persönlichkeiten im Umkreis Friedrichs des Großen, Köln-Wien 1988, 29–57; Kunisch 2005: 65 ff.; Schieder 1983: 367–374, zum historiographischen Œuvre des Preußenkönigs. «Considérations», p. 19. S. auch Berney 1934 (b): 94 f.; beispielhaft Hirzel 1912: 137. S. die brillante Polemik in den «Mémoires», p. li; lii (1751). Berney 1934 (b): 97; 114 f. «Mémoires», p. xil (1751); S. auch «Discours sur l’utilité», p. 202, und so noch öfter. Berney 1934 (b): 93 f. zur historischen Lektüre Friedrichs; Bratuscheck 1885: 28ff, auch zu Friedrichs Sprachkenntnissen; Hirzel 1912: 167 f. Eine Übersicht der Bücher in Friedrichs Besitz liefert B. Krieger, Friedrich der Große und seine Bücher, Berlin 1914, 135 f. (zur Alten Geschichte) sowie 147–151 und 151–156 (zur griechischen bzw. lateinischen Literatur). Hierfür bietet die Korrespondenz mit Voltaire auf nahezu jeder Seite unzählbare Belege. S. auch den bemerkenswerten, zwischen 1737 und 1740 geführten Briefwechsel mit Ch. Rollin (Œuvres 16, 230–246). S. die Charakteristik Ciceros im Vergleich mit Voltaire in der «Éloge de Voltaire», in: Œuvres 7, 50–68, hier 62. Dort fällt auch die oft zitierte Bemerkung über «De officiis», peut-être le meilleur ouvrage de morale que nous ayons. Die Gespräche Friedrichs mit seinem Vorleser de Catt legen hierfür ein eindrucksvolles Zeugnis ab (H. de Catt, Unterhaltungen mit Friedrich dem Großen. Memoiren und Tagebücher (= Publicationen aus den königlich-preußischen Staatsarchiven 22), hg. v. R. Koser, Leipzig 1884): etwa die Vermerke über die Lektüre antiker Autoren vom 23. März 1758, von Jan. bis März 1759, vom 19. Dez. 1759 und vom 25. Apr. 1760 sowie von Sept. bis Nov. 1761, ferner vom 5. Mai 1758 (Rede des Burrus bei Racine), 25. Nov. 1759 (Trost durch die Lektüre des Lucrez und Marc Aurels), von Apr. bis Jun. 1759 (über die Querelle des anciens et des moderns), sowie vom 1. Jul. 1760 (über Musterbeispiele römischer Haltung als Vorbild). S. Berney 1934 (b): 91 m. Anm. 8, 9. Etwa Friedrich an Wilhelmine vom 13. Oktober 1748, p. 153. S. auch Berney 1934 (b): 90ff; 93 f. Zu Friedrichs Moralvorstellungen s. ferner Spranger 1962: 22 ff.; 78.
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III. Die Berliner Oper und «Sylla» Die Berliner Oper trug den historisch-politisch-didaktischen Interessen Friedrichs ausdrücklich Rechnung. 36 Sie war Schauplatz des éclats, der absolutistischen Herrschaftsinszenierung.37 Der Bau des «Unter den Linden» gelegenen Opernhauses, zu dem Friedrich bereits während seiner Kronprinzenzeit Pläne anfertigen ließ, wurde unmittelbar nach seinem Regierungsantritt begonnen und so stark forciert, dass bereits 1741 die Eröffnung stattfand. 38 Friedrich, der sich als oberster Impresario sah, wünschte den Spielbetrieb von der Komposition über die Einstudierung bis hin zur Ausstattung persönlich zu überwachen.39 Er selbst war an mehreren Produktionen künstlerisch beteiligt.40 Seine Stoffe bezog das Musiktheater, eine zentrale Instanz für die Vermittlung der Antike im Barockzeitalter, größtenteils aus Mythologie und Geschichte des Altertums.41 In Berlin dominierten, wie allerorts, die klassischen, zumal historischen Sujets;42 bis 1756 schrieb Carl Heinrich Graun, der preußische Hofkomponist, 27 Opern.43 Der Spielplan trägt deutliche Züge thematischer Gestaltung.44 Zwar wurden die kanonisierten Heroen der Opernbühne gefeiert: der großzügige Caesar, die Kaiser Titus und Hadrian, Inbegriff von Milde und Gerechtigkeit, der unbeugsame Republikaner Cato sowie Papirius und Fabricius, die
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Vgl. den oft zitierten, von ironischen Anklängen jedoch nicht freien Brief an Algarotti aus dem Oktober 1753, in Œuvres 18, 90. Zentral auch der «Essai sur les formes de gouvernement», p. 206 f.; 208 f. sowie der «Discours sur l’utilité», der nicht zuletzt auf die Erhaltung der durch Künste und Wissenschaften geförderten Sitten abhebt (s. o.). Zahlreiche Hinweise auf zeitgenössische Zeremonialliteratur bei Mücke 2003: 91–94, s. ebenso Kunisch 1993: 174 f.; Henzel 1997: 13–15 (mit zahlreichen Quellen); Henzel 2002: 138. Allgemein B. Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008 sowie eine Reihe weiterer Publikationen dieser Autorin; Blanning 2006: 17–25, bes. 18 f.; V. Bauer, Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Versuch einer Typologie (= Frühe Neuzeit 12), Tübingen 1993. Zum Hoftheater als der Sphäre der Hofkultur, die der Fürst am unmittelbarsten und stärksten beeinflusste: Daniel 1995: 11 ff.; Mücke 2003: 80–91 mit Forschungsbericht; Blanning 2006: 329–344 zur Rolle der Musik; ferner Thouret 1898: 55 f. Zu den Zeitungsannoncen, mit denen auch Bürger in die Oper eingeladen wurden, s. Helm 1960: 96, grundlegend Daniel 1995: 13. Zum Vergleich mit Dresden s. Mücke 2003: 71–79. Über die Funktion des Librettos: Gier 1998: 3 f. Schneider 1852; zur Baugeschichte 47–80; vgl. auch Kunisch 1993: 184 f. Eine Übersicht zu Friedrichs Verhältnis zur Musik und zur Oper bietet, mit zahlreicher Literatur, Henzel 2002, bes. 138 f.; s. außerdem Helm 1960: 90–93, mit Bemerkungen zur Weihinschrift; Rösler 1992: 13–17; Thouret 1898: 42; Henzel 1997: 13 ff. Thouret 1898: 45 f.; 50; Henzel 1997: 15; 17–22 (zu den durch die Oper anfallenden Kosten); Daniel 1995: 27 f.; Rösler 1992: 16–26. S. etwa auch Friedrichs energischen Eingriff in «Demofoonte»: E. E. Helm, Grove Music Online, s. v. Graun, [Karl] Carl Heinrich, , rev. 13. Sept. 2007. S. hierzu den Anhang. S. hierzu Stieger 1975: I–III. Gier 1998: 55; Daniel 1995: 44; H. Flashar, Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne der Neuzeit 1585–1990, München 1991, 41–48; Strohm / Dubowy 1995: 1457–1459; M. Meier, DNP 15.1, 2001, 1179–1186, s. v. Oper. Hierzu im einzelnen der Anhang. Zur Anlassgebundenheit und Kommunikation mit anderen Höfen, bes. Dresden, Daniel 1995: 22–26; s. auch die Anekdote bei Schneider 1852: 117 und Mücke 2003: 81 zum «Arminio». Zu Graun: Chr. Henzel, Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil 7, Kassel u. a. 20022,1506–1525, s. v. Carl Heinrich Graun. Zur Wertschätzung, die Friedrich Graun entgegenbrachte, s. Helm 1960: 153. Vgl. den Anhang. Eine Inhaltsübersicht bietet Mayer-Reinach 1899/1900: 459–467; zur Bearbeitung der Stoffe, insbes. zur Anlehnung an die klassische französische Tragödie: Friedrich an Algarotti (6. Sept. 1749), in: Œuvres 18, 63 f.; Mayer-Reinach 1899/1900: 468–472, Oschmann 1991: 176ff; 188.
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bescheidenen Retter des Staates, Arminius, der Befreier Germaniens, Aëtius, der Verteidiger des spätantiken Imperiums; ferner edelmütige Herrscher wie Demophon, Alexander und Artaxerxes und schließlich Phaëthon, eine allegorisierte Warnung an ehrgeizige Höflinge. 45 Vertreten waren aber auch komplexere Persönlichkeiten wie Coriolan und Cinna.46 Am erstaunlichsten nimmt sich der Aztekenkönig Montezuma in dieser Galerie griechischrömischen Heldentums aus. L. Cornelius Sulla jedoch sticht unter all diesen Charakteren hervor. Die Oper hatte sich seiner bislang selten angenommen: als Nebenfigur in einer Reihe von Bürgerkriegsdramen, die seine Rolle im gegen Marius geführten Kampf um die Vorherrschaft in Rom thematisieren, und weiteren zehn Vertonungen, die ihn allein in den Mittelpunkt rücken.47 Weder passte die Geschichte seines Lebens zu den galanten Konventionen des Barocks, noch entsprach er selbst dem Ideal des Barockfürsten. In der zweiten Hälfte des 18. Jh.s hatten lediglich vier Komponisten den Stoff vertont: W. A. Mozart (Mailand 1772), P. Anfossi (Venedig 1774), Joh. Chr. Bach (Mannheim 1775) und M. Mortellari (Turin 1779).48 Ihre Textvorlagen, fußend auf einem Libretto von De Gamerra, unterscheiden sich voneinander allenfalls in Nuancen.49 Friedrich selbst hat über die Politik und Person Sullas widersprüchlich geurteilt, ein seltsamer Umstand, der einer Erklärung bedarf. Die negativen Kommentare stehen in der die Geschichtsschreibung dominierenden Tradition Plutarchs. Im «Antimachiavel» demonstriert Friedrich an Sulla seine These von der naturgemäßen Schwäche republikanischer Verfassungen: dass die Parteiführer sich nicht dem Wohl des Staates verpflichtet fühlten, sondern lediglich nach ihren eigenen Interessen handelten und so das Gemeinwesen zugrunde richteten.50 Mit moralischer Entrüstung urteilt er in einer jener Marginalien, die in sein Exemplar der «Considérations» Montesquieus eingetragen sind.51 Zur Passage, in der Montesquieu den moralischen Wert der clementia Caesaris, Caesars Milde gegenüber seinen geschlagenen Feinden, zu relativieren sucht, zieht Friedrich einen Vergleich zu Sulla, indem er auf dessen Proscriptionen anspielt: «Das ist übertriebene Kritik!», wischt er Montesquieus Auffassung zunächst beiseite. «Sulla, der Barbar Sulla», fährt er fort, «handelte nicht mit soviel Mäßigung wie Caesar», um dann zu einem vernichtenden Verdikt anzusetzen: «eine niedrige Seele, die sich hätte rächen können, würde es gleichwohl getan haben. […] Es ist immer schön zu verzeihen, selbst wenn man nichts mehr zu fürchten hat». 52 45
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«Catone in Utica» endet übrigens nicht mit einem tragico fine. Zur Wirkung von «Adriano in Siria» auf das Publikum vgl. die aufschlussreiche Wiedergabe eines zeitgenössischen Berichts bei Schneider 1852: 113. Sie haben zumeist eigenständige Vorbilder in der Tragödie. – «Mitridate», ansonsten der brutale Römerfeind, gehört in einen anderen Kontext. Zum «Cinna» s. u. Stieger 1975: I 202; II 778 und Quetin 1999. Nur unvollständig A. Reischert, Kompendium der musikalischen Sujets. Ein Werkkatalog, Bd. 1, Kassel u. a. 2001. Der erste «Lucio Silla» (1683) stammt von D. Freschi. Näheres bei Quetin 1999. Esch 1994: 17–41. Jedoch ist für eine nähere Auseinandersetzung mit diesen Libretti hier kein Raum. «Antimachiavel», p. 203. Nämlich Nr. 14, zu Montesquieu 1758/1950: I.3, 427 (César […] louanges). Zum Forschungsstreit um Friedrichs Marginalien s. Posner 1882; allgemein Kunisch 2005: 102. Montesquieu 1734/1980: 165: Sylla, le barbare Sylla, n’en usa pas avec autant de modération que César; une âme basse, qui aurait pu se venger, l’aurait pourtant fait; […]. Il est toujours beau de pardonner même quand on n’a plus rien à craindre. Dt. Übers. v. L. Schuckert. Nach Posner 1882: 214 hat Friedrich bei Sulla einen
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Indes, eine bemerkenswerte Anekdote, die Casanova von einer Begegnung mit Friedrich 1764 in Potsdam berichtet, zeigt eine völlig entgegengesetzte Sicht des preußischen Königs auf Sulla. 53 Denn nicht Regulus hält Friedrich für den größten Römer, wie Casanova während ihrer Konversation vermutet hat, sondern ausgerechnet den traditionell so verfemten Sulla. Zwei Gründe, die die Wahl des Königs bestimmt hätten, erscheinen ihm vorstellbar: Entweder glaube Friedrich, dass er der einzige sei, der Sullas Rücktritt nachahmen könne, oder er wisse, dass er dies nicht könne und Sulla deshalb umso mehr bewundere. Grauns Oper jedoch bietet eine Antwort von höherer Komplexität, die beide scheinbar so unversöhnlichen Seiten in Friedrichs Sulla-Bild zu harmonisieren vermag.
IV. Das Libretto Die Uraufführung des «Lucio Silla» wurde am 27. März 1753, zum Geburtstag der Königinmutter, mit grandiosem Aufwand gefeiert.54 Sie stand anschließend noch in einer weiteren Saison, im Jahre 1753/54, auf dem Spielplan; nach Friedrichs Tod im Jahre 1786 hat sie keine Aufführung mehr erlebt. Friedrichs Äußerungen über die Entstehung seines «Sylla» sind überaus spärlich. Für gewöhnlich pflegte er mit seinen Freunden, namentlich Voltaire, der ihm als Berater und Stilkritiker diente, einen engen gedanklichen Austausch über seine literarischen Vorhaben. Der «Sylla» wird erstmals in einem Privatschreiben vom 4. November 1752 erwähnt, das an die Schwester Wilhelmine, Markgräfin von Bayreuth, gerichtet ist, mit der Friedrich einen regen Briefwechsel führte.55 Offensichtlich war die Übersetzung des Librettos ins Italienische schon vollendet. Ein guter Dichter, so vermeldet der König, habe seine auf Französisch abgefasste Vorlage bereits übertragen. Noch sei allerdings die Musik nicht komponiert. Dass noch im gleichen Jahr eine Übersetzung des Librettos in mehrere europäische Sprachen erschien, deutet an, welches Gewicht Friedrich seiner neuesten Opernproduktion beimaß 56. Der König selbst hatte seine Prosafassung sorgfältig ausgearbeitet und mit Umsicht korrigiert57. Als Gegenstand der Handlung wird im argomento, dem Vorwort, das vom Berliner Hofpoeten, Gian Pietro Tagliazucchi, stammt, der plötzliche Rücktritt Sullas
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Konflikt zwischen Heldengröße und Gerechtigkeit gesehen. Eine solche Interpretation steht in starkem Widerspruch zu Friedrichs politischem Denken. – Die Datierung der Anmerkung ist, wie sich zeigen wird, für die Interpretation der Oper ohne Belang. Rösler 1992: 28. Schneider 1852: 142. S. auch die Ausführungen bei Mücke 2003: 63 f.; 94 ff. für die Dresdener Festkultur. S. p. 231. Schneider 1852: 141, der neben der französischen auch eine deutsche und italienische Übersetzung verzeichnet. – Die aus dem «Sylla» zitierten Stellen werden für gewöhnlich nach der von J. D. E. Preuß veranstalteten Gesamtausgabe zitiert. Das argomento Tagliazucchis wurde lediglich im zeitgenössischen Druck verbreitet. Eine teils beschreibende, teils schematisierende Erschließung der Partitur ist unternommen worden von O. Kirsch / J. Klüber / H. Maus, Die Handschriften Carl Heinrich Grauns in der Hamburger Staatsbibliothek, in: H. J. Marx (Hg.), Beiträge zur Musikgeschichte Hamburgs vom Mittelalter bis in die Neuzeit (= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 18), Frankfurt a. M. u. a. 2001, 313–346. Zu handschriftlichen Korrekturen des Königs im Manuskript s. Klüppelholz 1988: 134 f., mit Photographien. Zu Friedrichs Libretti: Helm 1960: 66; zum Ballett: Thouret 1898: 54.
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und dessen Entschluss, ins Privatleben zurückzukehren, angezeigt.58 Im Zentrum, so wird der Leser vorbereitet, soll also jene Phase in Sullas Leben stehen, die Geschichtskundige am ehesten mit seiner Person identifizierten: das Befremden erregende, vieldeutig auslegbare Ende der Dictatur, der Höhepunkt von Sullas Schreckensherrschaft, deren Auswirkungen notwendig in den Vordergrund rücken.59 Das drei Akte umfassende Libretto ist den Gepflogenheiten und Regeln verpflichtet, die seit dem 17. Jh. für das Musiktheater Verbindlichkeit besaßen.60 Die mit Sullas Rückzug verbundenen Umstände, die mehrere Jahre umfassten, werden zur Steigerung der Dramatik auf eine sich innerhalb zweier Tage abspielende Handlung zusammengerafft. Der Schauplatz ist Rom, die Hauptstadt des Reiches. Den Gepflogenheiten entsprechend,61 schreibt die Besetzung sieben Protagonisten vor: den Dictator Lucius Sulla, Octavia, eine von ihm begehrte Römerin, den Senator Postumus, verlobt mit Octavia und Sullas Nebenbuhler, die Senatoren Metellus und Lentulus, dieser ein scharfer Gegner der Dictatur, jener ein enger Vertrauter Sullas, sowie Octavias Mutter Fulvia, früher mit einem Opfer der Proscriptionen verheiratet, und Chrysogonus, Sullas Freigelassenen, der mit den Regierungsgeschäften seines Patrons betraut ist. Ferner treten etliche Statisten auf: Senatoren, das römische Volk und Sullas Leibgarde, eine Veteranenabteilung. Ein Streit zwischen Sulla und Postumus um Octavias Liebe wird, in einer Phase angespannter Stimmung im Zentrum des römischen Reiches, zum Kristallisationspunkt des Dramas. Alle Widersacher, die ihn im Bürgerkrieg bekämpft haben, sind in der Schlacht am Collinischen Tor gefallen; als Dictator verfügt Sulla, der soeben siegreich in die Stadt eingezogen ist, über nahezu unbeschränkte Macht. Unter den Lobpreisungen der Senatoren trifft er Vorbereitungen für einen Triumph; gleichzeitig nehmen die Proscriptionen, mit denen Sulla seine letzten Gegner auszuschalten trachtet, noch immer kein Ende.62 Missstimmung über die politischen Verhältnisse ist allerdings kaum spürbar. Sulla indes, der sich im Glanze seines Ruhmes feiern lässt, empfindet, obwohl er den Gipfel des Erfolgs erreicht hat, eine innere, ihn schrecklich quälende Leere, hervorgerufen durch die Sehnsucht nach der Liebe einer Frau. Der erste Akt63 hebt an mit einer Unterredung in Fulvias Haus; dort sind Postumus, Metellus und Lentulus versammelt, um zu enträtseln, welche Absichten Sulla bei Octavia verfolgen könnte. Octavia weigert sich standhaft, ihre Entscheidung für Postumus, den sie liebt, aufzugeben, um stattdessen den verachteten Dictator zu heiraten. Fulvia hingegen, zwischen mütterlicher Sorge und weiblicher Berechnung schwankend, rät ihr eindringlich zu einem vernünftigen Arrangement. Während Postumus mit Fassungslosigkeit reagiert, erblickt Lentulus die günstige Gelegenheit, Verbündete für die Beseitigung des Dictators zu gewinnen, um die republikanische Verfassung Roms wiederherzustellen. Doch Postumus, 58
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Tagliazucchi fährt fort: C’est un de ces grands événemens dont les particularités sont connues à quiconque a la moindre teinture de l’Histoire Romaine. On croit devoir épargner au Lecteur l’ennui d’un détail, qui ne lui apprendroit rien de nouveau. (Sylla, Berlin 1753, p. 3). Die Bekanntheit des Stoffes beim historisch vorgebildeten Publikum wird also vorausgesetzt. Ein unumgängliches Motiv im Sulla-Stoff, s. hierzu Quetin 1999: 449, s. auch den Vergleich bes. mit dem Libretto De Gamerras in Kap. IV. S. hierzu generell Strohm / Dubowy 1995: bes. 1585–1588; Gier 1998: 68–81; Istel 1914: 61–168. Für gewöhnlich treten fünf bis acht Personen auf, s. Strohm / Dubowy 1995: 1585. So jedenfalls Metellus (II 11, p. 432). Plin. nat. XXX 16 mag hier als Vorlage gedient haben. I. Akt: zehn Szenen, p. 413–422.
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dem diese idealistische Sicht fremd ist, sorgt sich allein um sein privates Glück. Metellus hingegen, Sullas Freund, ein integrer Mann, der ebenfalls zugegen ist, sucht die Befürchtungen zu zerstreuen, Sulla könne sich aus Eigennutz zu einem Rechtsbruch hinreißen lassen. Wenig später tritt im Iuppiter-Tempel der Senat zur feierlichen Begehung von Sullas Rückkehr zusammen. Dieser streicht in seiner Rede die von ihm errungenen Siege heraus; wie Scipio und Aemilius Paullus habe er den römischen Staat aus einer schweren Krise befreit. Ein Triumph wird beschlossen. Selbst die Feinde Sullas erkennen seine unerhörten Verdienste an. Anschließend beginnt der Dictator mit der Neuordnung des Reiches. Ein heftiger Streit jedoch entbrennt, als Postumus, zum Praetor designiert, eine Entsendung nach Sizilien ausschlägt, weil er befürchtet, dass ihm Octavia weggenommen werde. Über die Zurückweisung seiner Gnade gekränkt, droht Sulla zornig mit einem neuen Bürgerkrieg. Nach dem tumultuarischen Ende der Senatssitzung berät er sich, verdrossen über den ihm entgegenschlagenden Widerstand, mit seinen Vertrauten, Chrysogonus und Metellus. Der in die amourösen Absichten des Dictators eingeweihte Freigelassene schlägt einen skrupellosen Plan vor: Sulla solle unbeirrt Octavias Hand verlangen, auch gegen ihren Willen. So könne er die Senatoren domestizieren. Bei Metellus erregt dieser Gedanke Abscheu und Entsetzen. Einem zu solcher Größe berufenen Mann wie Sulla, so hält er ihm vor, zieme es nicht, sich bedingungslos den Leidenschaften auszuliefern. Noch weist Sulla, der auf Octavias freiwillige Liebe hofft, die Anwendung von Gewalt zurück. Ihm ist jedoch bewusst, dass er zwischen unvereinbaren Wünschen, dem Verlangen nach Liebe und dem Streben nach Größe, hin- und hergerissen ist. Womöglich in einem Anflug von Verlegenheit rechtfertigt er aber die Leidenschaft, die ihn erfasst hat, als eine Schwäche hervorragender Männer. Der zweite Akt64 führt wieder ins Haus der Fulvia zurück. Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Lethargie erfüllen die Atmosphäre. Plötzlich befiehlt Chrysogonus, von Lictoren begleitet, Octavia zum Dictator, vorgeblich auf dessen Anordnung. Octavia aber lässt sich, zu Sulla geführt, von dessen schmeichelhaften Anträgen und der ihr erwiesenen Ehre nicht verführen; in einer zornigen Anklagerede rechnet sie mit Sullas Verbrechen und Gewalttätigkeiten ab. Der Dictator dagegen beteuert ein ums andere Mal seine ehrliche Liebe. Doch alle Versuche scheitern. Mit Metellus’ Auftritt, der Sulla zur Umkehr bewegen will, erreicht das Drama einen vorläufigen Höhepunkt. Sulla, zum größten Römer aller Zeiten aufgestiegen, habe die Unterstützung jedes Tugendhaften verdient, führt Metellus aus; jetzt aber missbrauche er seine schrankenlose Macht. Doch Sulla, unzugänglich in seinem Hochmut, verschließt sich selbstherrlich dem Rat des Freundes. Octavia, inzwischen von Todesgedanken erfüllt, fasst den Entschluss, die ihr drohende Schande, die Verheiratung wider Willen, nicht zu überleben.65 Noch tiefer sinkt ihr Mut, als Lentulus hereintritt und Postumus’ vermeintlichen Tod meldet, den er bei einem Attentatsversuch erlitten habe. Nur auf Metellus scheint noch Hoffnung zu beruhen. Eine längere Meditation des unterdessen zutiefst verunsicherten Dictators bringt die Peripetie des Dramas. Sulla gesteht sein moralisches Scheitern ein. Nach mehreren Verwicklungen begeben sich alle zur Feier des Triumphzugs auf das Forum. Dort löst Sullas Rede die Hand64 65
II. Akt: zwölf Szenen, p. 423–434. III. Akt: neun Szenen, p. 435–424.
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lung auf. Der Dictator beginnt mit dem Rechenschaftsbericht der Magistrate. Octavia erteilt er die Erlaubnis, Postumus zu heiraten, um dessen Freundschaft er bittet. Chrysogonus wird unter Verwünschungen in die Verbannung geschickt. Da er seine Aufgabe erfüllt habe, den erschütterten Frieden wiederherzustellen und die Herrschaft der Gesetze wieder einzusetzen, kündigt Sulla den Rückzug ins Privatleben an. Ähnlich wie am Vortag während der Senatssitzung bricht ungeheurer Jubel über Sulla herein. Metellus bleibt die Würdigung von Sullas wahrem Triumph überlassen: Schöner sei, den Sieg über sich selbst errungen zu haben, als über die Feinde. An dieser Stelle fällt der Chor des römischen Volkes mit einer Abwandlung von Metellus’ Worten ein: Noch größer, lautet sein Résumé, sei der Sieg über sich selbst.
V. Themen, Vorbilder, Konstellationen, Konflikte Die charakteristischen Merkmale des friderizianischen Librettos treten besonders plastisch in Abgrenzungen zutage: zu den ansonsten auf der Opernbühne dominierenden Stoffen sowie zur literarischen Technik der zeitgenössischen Librettisten, insbesondere jenen, die sich ebenfalls des Sulla-Stoffes angenommen haben. Friedrich fühlte sich als überzeugter Vertreter aristotelischer Dichtungstheorie bei seinen dramatischen Werken, neben anderen Erfordernissen, ausdrücklich der Kategorie der Wahrscheinlichkeit verpflichtet. Willkürliche Abweichungen von der Überlieferung waren ihm bei historischen Stoffen zumindest prinzipiell zuwider, mochten sie noch so sehr in den Dienst dramatischer Wirkung gestellt sein; er plädierte stattdessen für ein literarisches Verfahren, das sich möglichst eng an die tatsächlichen, aus den Quellen zu erschließenden Gegebenheiten anlehnen sollte.66 Damit hängt zusammen, dass den Rezitativen, die die Handlung vorantreiben, in den Berliner Opern ein besonderes Gewicht beigemessen wurde, so auch im «Sylla».67 Den möglichen Verlust an dramatischem Farbreichtum war Friedrich in Kauf zu nehmen bereit.68 Diese Nüchternheit stand allerdings in scharfem Widerspruch zur allgemeinen, auf grandiosen Effekt bedachten librettistischen Praxis, der auch die übrigen Verfasser von Sulla-Opern folgten. Unter ihnen ist De Gamerra, dessen Libretto Mozart vertont hat,69 zweifellos der einflussreichste. Ihm und Friedrich ist allenfalls die Rahmenhandlung gemeinsam: der großmütige Fürst, der zwar zu einem Tyrannen mutiert, jedoch, bevor unabwendbar die Katastrophe eintritt, noch rechtzeitig zur Besinnung kommt.70
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S. hierzu den Brief Friedrichs an Voltaire v. 13. Feb. 1749, mit grundsätzlichen Ausführungen Friedrichs anlässlich einer Kritik von Crébillons «Catilina»: R. Koser / H. Droysen (Hgg.), Briefwechsel Friedrichs des Großen mit Voltaire II (= Publikationen aus den königlich-preußischen Staatsarchiven 82), Leipzig 1909, 244–247. Wichtig etwa Henzel 2002: 142, auch Oschmann 1991: 180. Zu den sonstigen Gepflogenheiten s. auch Gier 1998: 10; ferner: Mayer-Reinach 1899/1900: 468. So auch im «Coriolano» und «Montezuma»; hierzu Oschmann 1991: 189 f. Doch erfüllt Friedrich wesentliche, bei Istel 1914: 72; 77; 87 genannte, Voraussetzungen, zumal Anschaulichkeit und Beschränkung auf das Notwendige. Bewertungskategorien Friedrichs zeigt der Brief an Wilhelmine vom 13. Januar 1748, p. 129 f., am Beispiel des «Cinna». Abweichende, meistens unwahrscheinliche Finali anderer Vertonungen des Sulla-Stoffes führt Quetin 1999: 451 an.
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Denn De Gamerra benutzte den Sulla-Stoff lediglich als Aufhänger für eine anrührende, vom despotischen Herrscher bedrohte Liebesgeschichte. 71 An der Thematisierung von politischen Problemen war De Gamerra wenig interessiert. Auch erscheint die gesamte Konstellation wenig um geschichtliche Plausibilität bemüht. Die verschiedenen Akteure und ihre unterschiedlichen politischen Motive bleiben blass; sie verkörpern so sehr Stereotypen, dass ihre Handlungsumschwünge unverständlich bleiben. Am schmerzlichsten mutet dieses Defizit bei Sulla selbst an. Und ausgerechnet ein Volkstribun, Aufidio, der bei Friedrich in Chrysogonus seine Entsprechung findet, dient dem Optimaten Sulla als Helfershelfer bei seinen Verbrechen, während Cinna, der friderizianischen Figur des Metellus vergleichbar, sich abrupt und ohne Gewissensnöte von ihm abwendet. Andererseits bietet De Gamerra mancherlei dramatische Zuspitzungen auf, die bei Friedrich ausgespart sind; 72 nicht einmal auf phantastisch anmutende Geistererscheinungen will sein Libretto verzichten. 73 Friedrichs Libretto indessen, konzipiert als politisches Lehrdrama, führt alle Elemente vor, die, wie man glaubte, den Verfall einer Alleinherrschaft zu begleiten pflegen: die anerkannten Verdienste eines Staatsmannes, seine mit der Alleinherrschaft beginnende Arroganz, das moralische Versagen aus charakterlicher Schwäche und Verstöße gegen menschliches und göttliches Recht durch Eingriff in die privaten Verhältnisse seiner Untertanen. Handlungsaufbau, Personendarstellung und die politischen Verhältnisse sind eng an die historischen Quellen angelehnt. Sogar die Wahl der Personennamen orientiert sich an römischen Gepflogenheiten. Mit wenigen, aber reflektierten Abweichungen von der Überlieferung sind die Charaktere auf geschichtliche Vorlagen bezogen.74 Die Literatur, der Friedrich sein Thema entnommen hat, teilt sich in zwei Stränge: in Werke, die die historischen Verhältnisse von Sullas Dictatur thematisieren, und in zwei Episoden aus der römischen Frühzeit, die schon antike Autoren als Lehrbeispiel der Tyrannei gestaltet haben, die von Tarquinius’ Sohn begangene Vergewaltigung Lucretias, und der versuchte Raub Verginias, in die der Decemvir App. Claudius verliebt war.75 Zweifelhaft ist, ob der König manche Züge aus Corneilles Drama «Cinna» in «Lucio Silla» hat einfließen lassen. Da 1747 eine für die Oper bearbeitete Fassung des «Cinna» in Berlin aufgeführt wurde, dürfte Friedrich den Sulla-Stoff als vollkommen eigenständig empfunden haben.76 Immerhin mag Corneilles 71 72
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Vgl. Gier 1998: 11. Zum Libretto De Gamerras und seiner Bearbeiter s. ausführlich Esch 1994: 1–51. Beispielsweise die wiederholt hervorgestoßenen Drohungen Sullas, Giunia, seine hoffnungslose Liebe, hinrichten zu lassen (etwa I 3; 5; II 1). Klüppelholz 1988: 139 indes lehnt eine innere Entwicklung der Charaktere auch bei Friedrich ab, was auf diesen Seiten widerlegt wird. Marius, der aus seinem Grab heraus Rache fordert (II 3). Vgl. Gier 1998: 9. S. u.; der Versuch, wie er etwa bei Quetin 1999: 441–445 unternommen wird, nämlich historisch belegte Namen der sullanischen Zeit mit Personen im Drama unbedingt zusammenführen zu wollen, bringt, wie es scheint, keine weiterführenden Ergebnisse. Sehr vereinfachte Überlegungen bei Klüppelholz 1988: 137 und Oschmann 1991: 182 f. S. für die Hauptquellen: Liv. I 57, 4–I 60, 4; Dion. Hal. ant. IV 64–84 sowie Liv. III 44, 1–54, 15; Dion. Hal. ant. XI 23–50. Liv. III 44, 1 hat beide Ereignisse in einem thematischen Zusammenhang gesehen. Musik: Graun, Bearbeiter: Villati; s. Mayer-Reinach 1899/1900: 462. Verfechter der wenig plausibel erscheinenden These, dass tatsächlich der «Cinna» Corneilles auf Friedrich Einfluss genommen hat, sind Oschmann 1991: 183 und Klüppelholz 1988: 142 ff. Zumal Klüppelholz’ Interpretationen daran kranken, dass er die antiken Quellen, insbesondere Livius und Dionysios, offensichtlich nicht herangezogen hat und ihren Einfluss auf Friedrich, den er Corneille zuschreibt, völlig unterschätzt: so etwa beim ohnehin topischen Rachemotiv, das für ihn einen hohen Stellenwert besitzt, sich jedoch nicht nur, wie er darlegt, bei Corneille findet, sondern beispielsweise schon in Livius’ Darstellung (I 59, 1).
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Livia, die Augustus nach Cinnas Verschwörung zum Rücktritt rät, als Vorbild für Metellus, Sullas kritischen Freund, gedient haben. Doch ruht, anders als bei Augustus, der den völligen Zerfall des Staates verhindert, die Herrschaft Sullas auf einem juristisch und moralisch viel prekäreren Grund. Die beiden Geschichten aus der Frühzeit Roms laden das Drama mit klassischer Tyrannentopik auf. 77 Wie App. Claudius hat auch Sulla den in die Krise geratenen Staat neu geordnet, wie jener glaubt auch dieser, dank seiner Verdienste stehe es ihm zu, willkürlich seine Leidenschaften auszuleben. Vor allem die Rolle der Lucretia, von deren Tugend sogar die Männer beschämt werden, ist aus der Tarquinius-Geschichte entnommen.78 Wie Lucretia ihre Verwandten, muss Octavia ihren Geliebten, Postumus, zum Handeln aufrufen. Für die Gestalt des Chrysogonus, des unheilvollen Stellvertreters, durch deren Verurteilung Sulla entlastet wird, stand Cicero mit seinem Plädoyer für Roscius aus Ameria Pate. Bei Lentulus und Postumus erlaubte sich Friedrich boshafte Scherze in der Namengebung. Jede Figur des Königs ist mit einem bestimmten Thema verknüpft: Freiheit und Größe, Freundschaft, Liebe zum Vaterland und Tugend, die sich in oftmals wechselnden Kombinationen überkreuzen und auflösen. Sulla, der verdiente Staatsmann, und Postumus, der verweichlichte Stadtrömer, stehen sich als rivalisierende Liebhaber gegenüber; die beiden Frauen, Octavia und Fulvia, verkörpern einmal unbeugsame Festigkeit, einmal wankelmütiges Arrangieren mit der Macht. In Metellus und Chrysogonus sind zwei überaus unterschiedliche Beratergestalten zu entdecken; Lentulus und Metellus wiederum verbindet ihre leidenschaftliche Liebe zum Vaterland, die sie aber zu völlig unterschiedlichen Mitteln greifen lässt. Postumus stellt eine gänzlich unrömische Gestalt dar. Weder dem Staat noch dessen Verteidigung gelten seine Gedanken; sein Leben und Herz hat er vollständig Octavia geweiht. Er verkörpert einen typischen Vertreter jener angeblich spätrepublikanischen jeunesse dorée, die bedacht war auf ein Privatleben mit ausgefeilter Raffinesse jenseits der Politik. Friedrich würde ihn als Epikureer bezeichnen. Nur in den Ansprüchen des Dictators auf Octavia, nicht in den Proscriptionen, auch nicht in der unbeschränkten Machtvollkommenheit Sullas, erblickt er eine Beeinträchtigung der Freiheit. Allenfalls phrasenhaft klagt er, von Octavia und seinen Freunden zum Widerstand gedrängt, über die tyrannische Unterdrückung. 79 Zuerst für Octavia und für sich, dann erst für Vaterland und Reich will er Rache üben (III. Akt, 7. Szene, p. 439). So wird nach dem glücklichen Ausgang des Dramas sein Lob auf Sullas Großzügigkeit verständlich (III 9, p. 441). Maliziös hat Friedrich dieser Gestalt den Namen Postumus verliehen: nicht weil er nach dem Tode seines Vaters geboren worden wäre, sondern weil eine Tochter des historischen Sulla, Postuma, diesen Namen trug.80 Somit wird indirekt Postumus’ Zugehörigkeit zur Gestalt Sullas, seines Antipoden und Rivalen in der Liebe, bei ansonsten völliger Gegensätzlichkeit hergestellt. 77
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Ein detaillierter Abgleich zumal mit Livius ließe schlagende Ähnlichkeiten zu Friedrichs Konzeption erkennen: vom Tyrannen, amore ardens, über die Versklavung des eigenen Volkes, während Siege über auswärtige Tyrannen errungen werden, die superbia des Machthabers, Racheschwüre der Opponenten, bis zur völligen Korrumpierung des Herrschers. Etwa: Liv. I 58, 7–11. So in II 6, p. 427 f. Seine Tirade gegen Sullas Verbrechen endet bezeichnenderweise mit der Berufung auf sein eigenes Schicksal. Hierzu wenig überzeugend Klüppelholz 1988: 141. Plut. Sulla 37. – Der Vater des friderizianischen Postumus ist während der Proskriptionen gestorben.
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Mit Lentulus hingegen tritt ein fanatischer Republikaner auf. Er ist noch den traditionellen Idealen der römischen Republik verhaftet, deren Untergang im Bürgerkrieg er nicht zu realisieren vermag. Sein Name spielt geistreich auf ein Mitglied an der Catilina-Verschwörung an, einem Unternehmen, das gegen das traditionelle, von Sulla restaurierte Senatorenregiment gerichtet war. 81 Im Libretto begegnet er jedoch als der entschiedenste Verteidiger der Republik. Den Raub Octavias interpretiert Lentulus als politisches Verbrechen, das ihm die Gelegenheit zum Aufstand bietet (I 2, p. 414). Mit dem mehrdeutigen Hochruf: «Sulla ist allmächtig», den er bei der Senatssitzung im Iuppiter-Tempel ausstößt, bekundet er innere Reserve gegenüber den neuen Verhältnissen (I 7, p. 417). Metellus dagegen gehört anders als Postumus zum engsten Kreis um den Dictator. Ihm hat er, wie mehrfach durchklingt, in den Wirren des Bürgerkrieges zur Seite gestanden (II 11, p. 431). Auch er ist einer historischen Gestalt nachempfunden, Q. Caecilius Metellus Pius. 82 Sein besonnenes Auftreten weist ihm eine Mittelstellung in der Figurenkonstellation zu; immer sucht er mäßigend auf Sulla einzuwirken. Mit einem großangelegten Rezitativ leitet er Sullas Besinnung ein (II 11, p. 432). Der Krieg gegen Cinna und Marius sei gegen Feinde der Republik geführt worden. Deshalb, nicht aus rein persönlicher Loyalität, habe er, Metellus, Sulla unterstützt. Das Wohl des Vaterlandes ist für Metellus das oberste Gebot eines jeden Römers. Mittlerweile habe sich der Dictator dem zugeneigt, wovon er den Staat einst befreien wollte, dem Verbrechen. Metellus zeichnet das Bild eines Sulla, der, zum Tyrannen geworden, der Verführung erlegen ist. Ausdrücklich erwähnt er die Proscriptionen, deren Zahl sogar zunehme, obwohl bereits alle Feinde besiegt seien. So schwinge sich Sulla, der vermeintliche Befreier, zum schlimmsten Unterdrücker der libertas auf. In Wahrheit, rechnet er Sulla vor, sei seine Aufgabe abgeschlossen. Bezeichnend für Metellus’ Charakter ist die psychologische Ausdeutung, der er Sullas Regime unterzieht. Der Dictator, darauf zielt im Kern die Anklage, habe nicht nur die Freiheit in Rom unterdrückt, sondern auch seine innere Freiheit aufgegeben; die Entartung der Macht, so lautet seine Diagnose, äußere sich in immer weiter überhand nehmenden Leidenschaften, die seinen Ruhm besudelten und seines Alters unwürdig seien.83 Mit einer scharfen Pointe beschließt Metellus seine Rede: Er rückt Sulla in die Nähe des letzten Königs von Rom, L. Tarquinius Superbus, der das Sakrileg begangen hatte, die Ehre einer Bürgerin zu verletzen. Bei alledem nimmt Metellus für sich in Anspruch, als ein Freund zu Sulla zu sprechen, dessen Rettung vor der Katastrophe sein Ziel sei. Im tiefen Zwiespalt, Sullas Verbrechen einerseits tatenlos mitanzusehen, andererseits ihm die Freundschaft aufzukündigen, erwägt er den Freitod (II 11, p. 433), entschlossen, weder Sulla noch den Staat zu verraten. Metellus’ Widerpart ist Chrysogonus, der Freigelassene des Dictators. Friedrich hat ihn nach einer historischen Vorlage gestaltet, Ciceros Plädoyer für Roscius aus Ameria. Hier
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Nämlich P. Cornelius Lentulus Sura, ein Consular, der von Catilina ausersehen wurde, Anhänger für die Verschwörung zu gewinnen (Sall. Cat. 39, 6). Später reagierte er verärgert auf die Trägheit seiner Mitverschworenen (ebd., 43, 3). Metellus Pius, Sullas Schwager und Kollege als Consul im Jahre 80, stand in fester Loyaltät zu Sulla. Die Wertschätzung, die Sulla für ihn empfand, zeigt ein bei Plut. Sulla 6 überliefertes Fragment seiner Memoiren. Näheres zu Metellus auch bei Plut. Sertorius und Pompeius. So bereits schon nach der Senatssitzung (II 8, p. 419): Comment, seigneur! L’amour, cette passion des âmes faibles, vous subjuguerait-elle? Ähnlich auch in der dann folgenden Arie (p. 420), wo erstmals der Name des Tarquinius fällt, dem Sulla unbeabsichtigt nacheifert.
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wie dort symbolisiert Chrysogonus die Auswüchse des sullanischen Systems;84 hier wie dort verstärkt er, zusehends eigenständiger agierend, den Schrecken des Terrorregimes. Während der aufrechte, seinem Gewissen verpflichtete Metellus den idealen Berater eines Fürsten verkörpert, stellt Chrysogonus den falschen Freund und Ratgeber vor, dessen Wirken Unheil heraufbeschwört. Als Grieche und Freigelassener ist er gänzlich eine Kreatur des Dictators. Ausgerechnet «Der Goldgeborene», wie sein Name übersetzt lautet, ist ein Figurant von bedenkenloser Niedertracht. Unbeirrt nutzt er Sullas Schwäche für seine Winkelzüge aus. Ob dessen moralische Integrität durch derlei Intrigen beschädigt wird, zieht er nicht in Betracht. Sullas Befehle dienen ihm jedoch nicht dazu, wie Cicero in seiner Rede dem historischen Chrysogonus nachweist, den Missbrauch seiner Privilegien zu eigenen Zwecken zu drapieren; wenn er Sulla den verhängnisvollen Plan eingibt, die widerstrebende Octavia zu entführen, glaubt er, die politische Stellung des Dictators listig abzustützen (I 8, p. 419 f.; I 9, p. 421). Chrysogonus zielt im übrigen auch weniger auf das private Glück seines Herrn, sondern auf eine Demütigung der Aristokratie (ebd.). Ihm ist, wie Lentulus und Metellus, die politische Dimension von Octavias Entführung vollauf bewusst. Bei seinen Ränkespielen hintergeht er Sulla schließlich beinahe selbst. Trotzdem verkörpert Chrysogonus nicht ohne Berechtigung den Typus des aufopferungsvollen Staatssekretärs. Ohne Privatinteressen dient er einzig seinem Herrn und dessen Macht (I 10, p. 421). Folgerichtig ist ihm Sullas anderer Freund, Metellus, gegenübergestellt, der die freiheitliche Ordnung der Republik über die persönliche Verbundenheit stellt. Chrysogonus’ Programm aber ist, mit dem endlosen Parteienhader und der Chimäre von der republikanischen Freiheit ein Ende zu machen und die Alleinherrschaft Sullas anzustreben. So wird der Freigelassene zum Vordenker des Principats. Im «Antimachiavel» hat Friedrich davor gewarnt, wie leicht es zum Untergang eines Gewaltherrschers führe, wenn er Hass bei den Bürgern errege.85 Dieses Schicksal ereilt zuletzt auch Chrysogonus, von Sulla in die Verbannung geschickt. Friedrichs Behandlung der Frauen gebührt eine zentrale Stellung bei der Betrachtung des Librettos. Sie entstammen Familien, gegen die sich Sullas Hass gerichtet hat. Octavias Vater hat während der Proscriptionen den Tod gefunden. Weder Octavia noch Fulvia tragen Schuld an den politischen Zuständen. Dennoch wird ihre moralische Integrität von Sulla herausgefordert: Sie stehen vor der Entscheidung, entweder sich dem Diktat des Machthabers zu beugen und so nicht nur ihr Leben zu retten, sondern sogar zu einer glänzenden Stelle in der Aristokratie aufzurücken, oder seinem Ansinnen verzweifelten Widerstand entgegenzubringen, eine Standfestigkeit, die sie voraussichtlich mit dem Leben bezahlen müssen. Die für die Oper obligatorische Liebesgeschichte ist von Friedrich vollständig erfunden. L. Sulla, mehrfach verheiratet, hatte die Schwester seines Freundes und Waffengefährten Metellus zur Frau genommen; als sie starb, ging er, verspottet als ältlicher Galan, eine neue Ehe ein, allerdings auf Initiative der Erwählten.86 Fulvia, die Mutter, stellt Friedrich als wenig gefestigte Frau dar, die von dem mutigen Handeln ihrer Tochter beschämt wird. Sie bricht über der angedrohten Gewalt widerstandslos ein, zu ängstlich, um die ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu bedenken (I 1, p. 413). Demütigend erniedrigt sie sich vor Sulla (II 10, p. 430) und fügt sich gelassen in das 84 85 86
Cic. S. Rosc. 6: […] adulescens vel potissimus hoc tempore nostrae civitatis, L. Cornelius Chrysogonus. «Antimachiavel», p. 202 f. Plut. Sulla 35.
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Schicksal; Widerstand nennt sie Starrsinn, Sullas Befehle Bitten (III 1, p. 435). Ihre Tochter Octavia stellt hingegen das vollkommene Muster altrömischer Tugendhaftigkeit dar.87 Sie ist nach dem Vorbild Lucretias gestaltet, einer Frau von wahrer virtus, mit deren Schicksal ihr eigenes Los viele Ähnlichkeiten verbindet.88 Auch sie ist genötigt, den Männern, die sie umgeben, Tapferkeit und Zuversicht einzuflößen; auch sie will den Verlust ihrer Würde nicht überleben (II 5, p. 427; III 1, p. 435). Zwar gibt Octavia den Kampf um ihr Lebensglück nicht auf, doch besitzt sie den Mut, von Chrysogonus in die Gemächer Sullas entführt, dem galant auftretenden Dictator eine von Verachtung triefende Anklagerede zu halten, deren beispiellose Schroffheit Fulvia in höchste Sorge versetzt (II 9, p. 429 f.). Sie demaskiert Sulla als einen brutalen Tyrannen und Verächter menschlichen und göttlichen Rechts. Indes weist sie auch Postumus energisch zurecht. Nur dann sei er ihrer würdig, so appelliert sie an ihn, wenn er als Römer die Stadt vom Tyrannen befreie. Aber anders als Lucretia will Octavia nicht für den Staat, sondern ihren Geliebten in den Tod gehen (III 1, p. 435). Denn ihr primäres Ziel ist nicht die Freiheit des Staates, sondern das gemeinsame Leben mit Postumus: Ihr Handeln wird nicht ausschließlich von pathetisch demonstriertem Ehrbewusstsein bestimmt. Das größte Interesse jedoch gebührt der Hauptfigur, L. Sulla, dem Dictator. Für die Gestaltung seiner Rolle hat Friedrich auf reiches Quellenmaterial zurückgreifen können. Seine Deutung folgt der einflussreicheren Tradition, den zumeist negativ gefärbten Berichten. Doch arbeitet Friedrich plastisch die Zerrissenheit heraus, die mit Sullas Figur verknüpft ist. Die vorteilhaften Züge sind nicht zuletzt aus Appians ausführlicher Darstellung entnommen: die Milde und das aufrichtige Bemühen, die Ordnung des Staates wiederherzustellen, eine Tätigkeit, die von keinem anderen Autor gelobt, sondern mit Skepsis registriert worden ist. Sullas Stellung als Dictator kritisiert der Preußenkönig nicht grundsätzlich; in völliger Übereinstimmung mit den antiken Autoren geht Friedrich eher mit Sullas Methode der Machtausübung ins Gericht. Niemals versteigt er sich jedoch zu tiefster Verdammung. Die Ursache für das sich ankündigende Scheitern Sullas liegt in seiner mangelnden Charakterstärke. Realistisch wirkt das alles beherrschende Streben nach Ruhm und öffentlicher Anerkennung, mit dem Friedrich seinen Sulla ausgestattet hat, ein typischer Zug der römischen Aristokratie. Gier nach Ruhm oder wenigstens Wahrung der Ehre war, wie später für Caesar, so auch für Sulla der Anlass zum Bürgerkrieg. Sehr indirekt wird Sulla in die Handlung eingeführt: in der siebten Szene des ersten Aktes, nachdem er jedoch das Geschehen vom ersten Auftritt, vom ersten Dialog an beherrscht hat. Die Euphorie, die ihn in der Senatssitzung erfüllt, wird abrupt gedämpft, als Postumus’ Weigerung, eine Provinz zu übernehmen, deutlich macht, wie angespannt die Atmosphäre in der Bürgerschaft ist: eine Stimmung, die ihm bislang verborgen geblieben ist. Zum Vorschein kommt seine Neigung zum Jähzorn. Sofort wittert er ein Aufbrechen des von ihm beendeten Parteienstreites; dass es seine unbeschränkte Vollmacht ist, die Argwohn erregt, bleibt ihm verborgen. Durch beiderseitige Missverständnisse driften der Senat und Sulla auf eine Eskalation zu. Die zehnte Szene, mit der der erste Akt beschlossen wird, enthält die erste von drei Reflexionen, die Sullas Entwicklung im Verlauf des Handlungsganges markieren (I 10, 87
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Zu vergleichbar beeindruckenden Frauengestalten bei Friedrich s. die bedenkenswerten Überlegungen bei Schleuning 1997: 517 f. Für eine solche Verwendung dieses Attributes auf eine Frau: Cic. S. Rosc. 27.
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p. 421 f.). Mit Erstaunen konstatiert er die Verwandlung, die ihm widerfährt. Sein bisheriger Lebensinhalt, Ruhm und Ehrgeiz, habe ihm, wie er verstört feststellt, keine wirkliche Befriedigung verschaffen können: «Ich kenne mich selbst nicht mehr» (I 10, p. 422).89 Sein Amt, die Dictatur, besitze keinerlei Einfluss mehr; wahre Macht gehe von anderen Kräften aus, Octavias Charme, ihrer Lieblichkeit, auch der erotischen Wirkung ihres Widerstandes. Sulla sieht sich in völlig neue Bahnen gelenkt; nunmehr bedeute Liebe den Mittelpunkt seiner Existenz. Mittlerweile sei er nicht mehr Herr seiner selbst. Allerdings stellt er die Verwandlung, die ihn erfasst hat, als Ausdruck von Tugendhaftigkeit dar, sei doch Liebe die Schwäche eines großen Herzens. Einzig in der Antwort Octavias auf sein Begehren lägen, so fasst die an das Rezitativ anschließende Arie prägnant zusammen, Glück und Unglück seines Lebens (I 10, p. 422). Fortan bleibt der Gemütszustand, der von Sulla Besitz ergriffen hat, unverändert. Wie er vorher nicht einmal vor seinen Feinden gezittert hat, so bangt er nun vor Octavia (II 9, p. 429). Beinahe komische Züge nimmt Sulla an, wenn er, die Auswirkungen seines Handelns völlig verkennend, Octavia um Mitleid bittet (II 9, p. 430). Seine absolute Selbstbezogenheit hat in ihm einen radikalen Erkenntnisverlust bewirkt. Die zweite Schlüsselszene ist die 11. Szene des 2. Aktes. Sulla missachtet Metellus’ Warnung vor einem nahenden Aufstand. Daraufhin hebt der Freund zu seiner großen Anklagerede an, die Sulla ungehalten zurückweist. Nachdem er aber die Vorhaltungen, die ihm gemacht worden sind, näher bedacht hat, räumt er sein politisch-moralisches Scheitern ein (III 4, p. 437). Die Leidenschaft, die vermeintliche Schwäche großer Herzen, hat ihn, so erkennt er, zum Barbaren werden lassen. Sulla sieht, mit wie viel Gefahr die herausgehobene Stellung, die er innehat, verbunden ist, wenn er bei seiner Aufgabe versagt; unverständlich kommt ihm vor, wie er Macht, Ruhm und Größe aufgeben konnte. Zugleich weiß er, dass die Liebe sein Herz an einer Stelle berührt hat, wohin Ruhm nicht dringen kann. Wenn er nun eingesteht, dass Postumus durch Octavias Liebe ein unverdienter Sieg über ihn, den herausragenden Staatsmann, zufalle, so ist ihm offenbar noch nicht völlig bewusst, dass seine Rückkehr zur Pflicht ihm einen viel wertvolleren Triumph eintragen wird. Stark erschüttert ist Sulla bei der Vorstellung, wie ihm das personifizierte Vaterland die Wahl lässt, ob er tatsächlich ein wahrer Römer sein wolle. Als Tyrann wäre er ein malum exemplum, das in eine Reihe mit den Tyrannen der zivilisierten Welt, Dionysios, Demetrios von Phaleron und Tarquinius gehöre. Sulla erkennt, dass er zu jenen Tugenden zurückkehren muss, die er einstmals verkörpert hat. Wie im Rausch versteigt er sich sogar zu einem Lob für Postumus’ Integrität, der zwar keine herausragenden Taten vollbracht, aber Mäßigung bewahrt hat. An Postumus’ Biedersinn liest er ab, wieweit er selbst, durch große Siege verführt, von der wahren Tugend abgekommen ist. In Wahrheit, so kommt es ihm vor, sei es Postumus, der die Tugend liebe, weil er standhaft seine Liebe zu Octavia verteidige, die er, Sulla, ihm unrechtmäßigerweise nehmen wolle. Den Umschwung in seinem Denken, die Rückkehr zu den Idealen von früher, soll die bevorstehende Triumphfeier zeigen. Wie der historische Sulla will auch Friedrichs Figur
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Interessant ist, dass auch Valerius Maximus, als er Sullas respektvolle Behandlung des Pompeius erwähnt, von einer allerdings positiven Veränderung des Dictators zu berichten weiß (V 2, 9), auf deren Wortlaut Friedrich vielleicht anspielt. Über Pompeius heißt es dort: «[…] magnitudine beneficii sui oblivisci Sullam coegit.» Während im Drama die Schönheit Octavias bei Sulla einen Wandel bewirkt, so war es beim historischen Sulla die militärische Unterstützung, die Pompeius ihm im Bürgerkrieg gewährte.
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dort den Rücktritt bekannt geben; während jedoch Sulla seinen Rückzug dort mit einem politischen Argument begründet, dass nämlich die Neuordnung des Staates vollendet sei, zelebriert Friedrichs Sulla die Siegesfeier als einen Akt der Selbstfindung: als den schönsten Tag für den Erdkreis, für Rom und für sein eigenes Leben. Sich ein Andenken in der Geschichte zu sichern, ist nunmehr seine einzige Absicht geworden. Der grandiose Abschied, den Sulla inszeniert, fasst die von Metellus angeregten Reflexionen zusammen (III 9, p. 440 ff.). Chrysogonus’ Machenschaften wird sämtliche Schuld für den Verlauf des Dramas zugewiesen; anders als Metellus habe er seine Beraterpflichten pervertiert und Sulla zu unrechtmäßigem Handeln angetrieben. Jedenfalls habe er sowohl Sullas Ruhm als auch den des Staates beleidigt. Gegenüber den Senatoren hebt der Dictator nochmals die Antriebskraft seines Handelns hervor, den Dienst am Gemeinwesen. So habe er im Bürgerkrieg seine Gegner nicht aus persönlichen Animositäten bekämpft, sondern weil ihr Ehrgeiz den Staat ins Wanken gebracht habe. Sein eigener Ehrgeiz hingegen habe der res publica genützt, weil er ihn in den Dienst des Gemeinwohls gestellt habe. Aus ähnlicher Perspektive betrachtet er die Proscriptionen, die eingeführt worden seien, um die Freiheit der Bürger zu stärken und das wahre Übel, die Unruhestifter, zu beseitigen. Sulla versäumt nicht, die Götter als Zeugen für seine Lauterkeit ins Feld zu führen. Sodann tritt er dem Vorwurf entgegen, die Dictatur für seine privaten Belange missbraucht zu haben. 90 Seine Aufgabe, die Ordnung wiederherzustellen und die Rechtlichkeit in Kraft zu setzen, habe er erfüllt. Ohne einen Anflug von Zynismus gibt er die ihm zeitweilig übertragene Macht zurück. Wie ein Weiser verzichtet er zur Überraschung aller auf die Welt, auf Größe, auf die Liebe, um den Rest des Lebens in kontemplativer Zurückgezogenheit zu verbringen. 91 Seine Rede vollzieht an dieser Stelle eine melancholische Wendung. Aus den letzten Sätzen spricht die neugewonnene Einsicht in ein Verständnis vom tugendhaften Leben, das sich im Geistigen erschöpft. Hinter den ewigen Ruhm des Staates, das Glück der Bürger und die Freiheit der Republik stellt er die eigene Person zurück.
VI. Friedrich und Sulla Die historische Figurengalerie, in die Friedrichs «Sylla» im Spielpan der Berliner Oper eingereiht ist, veranschaulicht nicht nur die pädagogische Intention, die der König mit dem Musiktheater verfolgte, sondern ist nicht weniger ein Beispiel für die lebendige Verbindung von Geschichte und Gegenwart im Denken des preußischen Monarchen. Hier ist das Altertum nicht vom Staub der Jahrhunderte überdeckt.92 Vielmehr dient es der Illustration herrschaftlicher Verhaltensnormen, die sich Friedrich in philosophischen Studien aneignete. Nicht zufällig sind die Anklänge an Ciceros «De officiis», dem «vielleicht besten Buch über Moral», 93 bei der Thematisierung des Ruhms und der idealen Staatsform unüberhörbar. Doch sollte gleichzeitig das private Vergnügen Friedrichs an Musik und Literatur nicht
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Souverän hier Friedrich gegen die Quellenlage, z. B. Cic. Verr. III 84; Plut. Sulla 31; Vell. II 22, 5. Realistischer jedoch App. civ. I 104; Plut. Sulla 36. «Mémoires», p. l. S. Anm. 33.
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in Zweifel gezogen werden.94 Beides, die Praktizierung zeitgemäßer Herrschaftsinszenierung und die Lust am künstlerischen Dilettieren, sind in ihm eine glückliche Verbindung von öffentlichen Erfordernissen mit privaten Interessen eingegangen. Die Funktion künstlerischer Betätigung für die Persönlichkeit des Preußenkönigs reicht womöglich noch weiter: als Opiat, das die Zwänge der Regierungsgeschäfte, der «Galeerenarbeit», betäubte, so dürftig die Resultate mitunter auch sein mochten.95 Aber die epikureischen Stimmungen Friedrichs waren nur zeitweilige Anfechtungen.96 Zu stark war sein zentraler Handlungsimpuls entwickelt, das Streben nach den Tod überdauerndem Ruhm; er wusste, dass ihn die Nachwelt nach seinem Wirken für den Staat beurteilen würde.97 Das moderne Urteil über Friedrich als Intellektuellen, das dem König geistige Uneigenständigkeit attestiert oder seinen Werken starren Formalismus vorhält, trägt schon insofern manche Züge eines selbstgefälligen, vielleicht auch aus Antipathien anderweitiger Provenienz gespeisten Totengerichts. Das Libretto zu Grauns «Lucio Silla» jedoch ragt über literarische Produkte, die das despektierliche, eine künstlerische Empfindung absprechende Etikett der poésie sans poésie verdienen könnten, weit hinaus.98 Vielleicht mag es sogar als Gradmesser für den Wert der literarischen Produktion Friedrichs dienen. Denn sein Held, der römische Staatsmann und Feldherr L. Cornelius Sulla, zählt zu jenem Typus historischer Gestalten, die, wie es scheint, nichts zur dramatischen Verarbeitung hergeben: Weder erlaubt er, worauf das Hoftheater des 18. Jh.s abzielte, idealisierende Identifikation mit einem gegenwärtigen Herrscher, noch war er von so tiefer Widerwärtigkeit, dass er Abscheu zu erregen vermochte, ohne dass andere, ins Positive oder gar Clowneske hinüberspielende Assoziationen hervorgerufen wurden. Auch, um an ihm das unvorhersehbare Spiel des Schicksals zu demonstrieren, mochte er, anders als etwa Alexander oder der Rivale Marius, wenig taugen. Sullas bizarrer Charakter stellte mit seinen irritierenden Eskapaden vor zu viele Rätsel: ein Don Juan der römischen Geschichte, wie Mommsen mit einigen Zeichen verblüfften Erstaunens befand.99 Friedrichs Dramentext setzt, wie alle Libretti zum Sulla-Stoff, am spektakulärsten Anknüpfungspunkt an, den die Geschichte bietet: dem Rücktritt von der Dictatur. Aber die unvermeidliche Liebesgeschichte, die sich entspinnt, durchbricht die Grenzen des Überkommenen. Sie will sich nicht auf die mühsam durchdachte Konstruktion eines hochverwickelten Beziehungsgeflechts und eine turbulente Handlung beschränken, die sich in allseitigem Wohlgefallen auflöst. Der Preußenkönig wendet sich stattdessen einem zentralen Problem der Herrschaftsausübung zu: wie die bürgerliche Freiheit in einem monarchisch regierten Staat gewahrt werden könne – ein Thema, das seine besondere Brisanz nicht etwa 94
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S. z. B. die Privatbriefe Friedrichs an Wilhelmine, in denen er sich unverstellt und zwanglos zeigen kann: vom 3. Oktober 1743, p. 61 f., vom 21. November 1743, p. 64 f., vom 26. November des gleichen Jahres, p. 65 f. sowie vom 12. November 1746, p. 103 f. Bes. jedoch vom 3. März 1747, p. 108 f.: «So verbringe ich mein Leben und teile meine Mußestunden zwischen den Künsten; denn ich habe Freude an allen und mag keine ausschließen». S. hierzu z. B. Friedrich an Wilhelmine vom 6. August 1751, p. 202 und vom 23. Mai 1748, p. 140. Zur Qualität seiner Dichtungen, allerdings kokettierend, Friedrichs Brief vom 2. Oktober 1752, p. 230, der in die Abfassungszeit des «Sylla» gehört. Etliche Belegstellen hierzu in den Korrespondenzen mit Voltaire und Wilhelmine. S. o. Kap. II. Gegen die Ausführungen von Kunisch 2005: 67 f. Mommsen 1904: 375.
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aus seiner vermeintlichen Ausgefallenheit bezieht, sondern aus dem Reiz, der von einer Perspektivveränderung ausgeht. Denn der Autor ist diesmal der Fürst selbst, kein Hofpoet. Doch tritt er nicht als Literat auf, der sein Herrschaftsverständnis in unverbindlich-galanter Manier interpretiert; er legt vielmehr ein ernsthaftes Bekenntnis für sein eigenes Handeln, für die Prinzipien, denen er unterworfen ist, vor der Öffentlichkeit ab. So nicht zuletzt erklären sich die verschiedenen Übersetzungen des Librettos, die von mehr künden sollen als den dramatisch-stilistischen Fähigkeiten Friedrichs. Dem gleichen Zweck dienten auch die wenigen Prosaschriften, die zu seinen Lebzeiten publiziert wurden, der von moralischem Impetus getränkte «Antimachiavel» oder die «Geschichte des Hauses Brandenburg», die Portraitsammlung bedeutender Hohenzollern. Die früheste zusammenhängende Betrachtung Friedrichs über die ideale Staatsform begegnet im «Antimachiavel». «Der republikanische Geist ist grenzenlos eifersüchtig auf seine Freiheit und fasst daher sofort Argwohn, wenn irgend etwas sie zu bedrohen scheint, bäumt sich selbst gegen die bloße Vorstellung auf, einen Herrn zu besitzen». «Mehrere Republiken sind im Laufe der Zeiten wieder in den Despotismus zurückgefallen». «Wie könnte sie [die Republik]», fährt er mit Reminiszenz an Cicero fort,100 «für immer den Ehrgeiz der Großen niederhalten, den sie selbst an seinem Busen aufzieht, der […] niemals ausstirbt?» «Fast scheint es, als sei das ein unvermeidliches Unglück, das ihrer harrt, eine Folge des ewigen Wechsels, dem alles Irdische unterworfen ist». Denn, so schließt er: «Die Gewaltherrschaft versetzt der Freiheit den Todesstoß und erfüllt früher oder später das Schicksal einer Republik».101 Der römische Staat, wie er sich im Revolutionszeitalter dem Betrachter darbot, diente ihm für seine Schilderung des Fanals der Republik als schlagendes Beispiel. Weder Caesar, dem man sogar die Waffen zum Umsturz in die Hände gegeben habe, noch Sulla hätten vor dem Bürgerkrieg zurückgescheut, um ihre Machtgelüste zu befriedigen.102 Dergleichen Zustände finden sich, literarisch auf das Drama übertragen, im «Sylla» abgebildet. Die um die Macht ringenden factiones haben den Staat in Unruhe und Gesetzlosigkeit versinken lassen, niemand bezweifelt das; erst Sullas Eingreifen kann die Ordnung wiederherstellen. Selbst Lentulus, energischer Verteidiger der Freiheit und einer der striktesten Gegner Sullas, ist ausschließlich um die Wiederherstellung der alten Zeiten bemüht. Die Notwendigkeit, mit der eine erneute Katastrophe eintreten wird, sobald die traditionellen Verhältnisse wieder in Kraft sind, ist seinem von Nostalgie getrübten Blick entzogen. Die übergroße Macht eines Einzelnen, die ebenfalls in Gewaltexzesse auszuarten droht, bestimmt den Handlungsablauf des Dramas. Sulla erweist sich der ihm durch seine Herrschaft auferlegten Last kaum gewachsen. Zwar hat Friedrich die Monarchie als beste Staatsform angesehen, doch täuschte auch er sich nicht über ihre Schwächen, zumal den Charakter des Herrschers, hinweg. Schmal ist stets, wie im «Sylla», der Grat zwischen 100
Cic. off. I 26; 68; 87. Dt. Übers. nach E. König. «Antimachiavel», p. 202: L’esprit républicain, jaloux à l’excès de sa liberté, prend ombrage de tout ce qui peut lui donner des entraves, et se révolte contre la seule idée d’un maître; p. 203: Plusieurs républiques sont retombées, par la suite de temps, sous le despotisme. […] Comment pourrait-elle contenir toujours l’ambition des grands qu’elle nourrit dans son sein, cette ambition qui renait sans cesse et qui ne meurt jamais? Zuvor, ebd.: Il paraît meme que ce soit un malheur inévitable, qui les attend toutes, et c’est ne qu’un effet de ces vicissitudes et de ces changements qu’éprouvent toutes les choses de ce monde; p. 204: Le despotisme porte le coup de la liberté, et il termine tôt ou tard le sort d’une république. 102 «Antimachiavel», p. 203. 101
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Recht hier sowie Unrecht und Tyrannei dort. «Wir wissen doch», lässt sich Friedrich im «Antimachiavel» vernehmen, «dass es nur wenige solcher Tugendhaften gibt, die in ihrer grenzenlosen Macht nicht auf Befriedigung ihrer Wünsche sinnen, die der Verführung der Throngewalt widerstehen».103 Ungezählte Schriften Friedrichs gelten daher den Verhaltensnormen des Fürsten als ersten Diener oder Bürger des Staates. Dessen notwendige Eigenschaften, Besonnenheit, Scharfsinn, Weisheit, erscheinen beim friderizianischen Theater-Sulla schwach ausgeprägt.104 Immer weniger unterscheidet er zwischen seinen privaten und den Interessen des Staates.105 Zunehmend vergisst der Dictator seine Mission, dem so häufig beschworenen Wohl der Bürger zu dienen, den Staat zu ordnen und die Freiheit wiederherzustellen. Dagegen lässt er sich zu Leidenschaften hinreißen, die, wie er gesteht, nur zu gewöhnlichen Bürgern passen. Des Ethos dessen, der demütig seine Pflichten gegenüber den ihm anvertrauten Menschen versieht, erinnert sich Sulla beinahe zu spät für Leben und Ruhm. Die Wende gelingt ihm schließlich mit Metellus’ Hilfe. Chrysogonus, dessen Untaten Sulla wenn auch nicht gebilligt, so doch zugelassen hat,106 wird zuletzt als Verkörperung des Unrechtsregimes aus dem Staat verbannt. In den großen Szenen, Metellus’ Anklagerede und Sullas Meditation, wird komprimiert Friedrichs Doktrin vorgeführt, dass der Herrscher niemals aufhören dürfe, nach Ruhm zu streben, sei es, weil er sonst zu einem ordinären Menschen herabsinken würde, sei es, weil er andernfalls seine herrschaftlichen Aufgaben nicht erfüllen könne.107 Aber wahrer Ruhm ist, mit Cicero und der frühneuzeitlichen Tugendlehre, immer an die Erfüllung der Pflicht gebunden.108 Der Monarch dürfe also, so lautet Friedrichs Schlussfolgerung, nicht vor der Erkenntnis zurückschrecken, dass persönliches Glück für ihn vielleicht unerfüllbar bleiben werde. Anders als der Dienst am Staat ist die Erfüllung menschlichen Glücks für Friedrich keine Kategorie fürstlichen Denkens.109 Postumus, der als À-la-mode-Kavalier, eine Liste von Sullas Siegen in der Hand, gedankenverloren in den städtischen Gärten flaniert, während der Dictator im Krieg Geschichte schreibt, wird von der Nachwelt rasch vergessen werden.110 Ein novum in pectore 103
«Antimachiavel», p. 204: Nous savons ce que comporte l’humanité, et qu’il est peu de vertus qui résistent à la puissance illimitée de satisfaire des désirs aux seductions du trône. Zum obigen anders Oschmann 1991: 183, die Machtgier als Sullas zentrales Handlungsmotiv betrachtet. Auch steht nicht im Vordergrund, dass er die Macht als Macht opfert, indem er zurücktritt, wie sie 186 behauptet. 104 «Antimachiavel», p. 240. 105 Dieser Mangel findet sich natürlich am ausgeprägtesten bei Chrysogonus. 106 Eine ausdrückliche Erlaubnis für sein Handeln hat Chrysogonus allerdings nie erhalten; falsch bei Thouret 1898: 52. Für die unterschiedlichen Funktionen, die Metellus und Chrysogonos ausfüllen, s. «Antimachiavel», p. 276 f. 107 Von Bedeutung hierfür ist die Passage über den Ruhm im Vorwort zur «Histoire de mon temps», p. xxv (1775): Le vrai mérite d’un bon prince est […] d’aimer la patrie et la gloire; je dis la gloire, car l’heureux instinct qui anime les hommes du désir d’une bonne réputation, est le vrai principe des actions héroïques: c’est le nerf de l’âme, qui la réveille de la léthargie pour la porter aux entreprises utiles, nécessaires et louables. 108 Cic. off. II 43 und die Ausführungen in Kap. II. 109 Allerdings geht es Friedrich weniger um den angeblichen Gegensatz von «Liebe» und «Ehre», wie Klüppelholz 1988: 140 behauptet. 110 So jedenfalls Sulla, nicht ohne Einverständnis des königlichen Verfassers (III 4, p. 437): souffrirai-je que tu passes dans les bras d’un Posthume, […], d’un citoyen obscur qui haranguait au barreau lorsque je remportais des victoires, qui lisait dans les jardins délicieux de Rome la suite de mes conquêtes, tandis que je vengeais la patrie? Für die ähnliche, aber sogar laszive Attitude eines Liebes-Elegikers im augusteischen Rom s. Prop. III 4, 15–18.
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ingenium verspürt er, anders als Brutus, der Rächer der Lucretia, trotz des ihm angetanen Unrechts nicht.111 Auch Metellus, der alle notwendigen Eigenschaften eines Herrschers so vollkommen verkörpert, ist, weil er den Verlockungen der Macht nicht ausgesetzt und seine Integrität nicht auf die Probe gestellt wird, als Archetyp des freundschaftlichen Beraters 112 nur eine zweitrangige Gestalt. Mit dem Triumphzug am Tag des Rücktritts feiert Sulla auch einen Triumph über die der menschlichen Natur innewohnende Schwäche. Bei aller prachtvollen Inszenierung wäre sonst die Zelebrierung seiner Taten zu einer billigen, das Unrecht sanktionierenden Geste verkommen. Gleichzeitig wird deutlich, dass Nutzen für den Staat immer auch identisch ist mit Nutzen für den Fürsten.113 Sullas drastischer Schritt, ohne den er als Tyrann in die Geschichte eingegangen wäre, sichert ihm den Nachruhm. Sein Rücktritt, dessentwegen nicht nur Caesar den historischen Sulla als politischen Analphabeten geziehen hat,114 wird von Friedrich zu einer moralisch überragenden Leistung hochgetrieben. Der Weltmann Casanova aber hat die Intentionen des Preußenkönigs missverstanden. Ohnehin mag Friedrichs entschiedenes Urteil in jenem Gespräch einer momentanen Stimmung entsprungen sein. Zweifellos verachtete er den historischen Sulla tief.115 Doch die Allegorisierung des Opernhelden erzwang in der Praxis keine vollständige Identifikation mit der geschichtlichen Gestalt116. So hat jener Sulla, wie ihn die Historiker überliefert haben, nur Äußerlichkeiten mit Friedrichs Sulla gemein: den geschichtlichen Kontext, das Bürgerkriegsszenario, die widerstreitenden Charakterzüge seiner Person, die Friedrich zum Anlass einer eigenen Deutung nehmen konnte, darunter die Liebe zum Ruhm, vor allem aber den Rückzug ins otium.117 Vornehmlich aber huldigt das Libretto dem über sich selbst errungenen, mühseligen Sieg Sullas und verzichtet auf einen Preis von dessen vermeintlich makelloser, zu heroischer Unwirklichkeit gezwungener Gestalt. Als der Preußenkönig Sullas Rücktritt auf der Bühne inszenierte, hatte er niemals seinen eigenen Rückzug im Sinn. Hierin irrt Casanova. Mit epikureischen Anfechtungen, die einen Verzicht auf Ruhm bedeuteten und auch eine Desertion von der Pflicht einschlössen, hat Friedrich allenfalls kokettiert.118 Vielleicht berühren sich das Schicksal Sullas, des Republikaners, und Friedrichs, des Monarchen, gerade in der übereinstimmenden Auffassung beider vom pflichtgemäßen Handeln, sieht man von den historischen Umständen und den aus ihnen abzuleitenden, sich verschiedentlich äußernden Erfordernissen ab.119 111
Liv. I 59, 2. «Antimachiavel», p. 276–278. 113 So ausdrücklich auch im «Essai sur les formes de gouvernement», p. 200 f., vielleicht von Cic off. III 103 inspiriert. 114 Suet. Iul. 77. 115 Unplausibel erscheinen die relativierenden Bemerkungen bei Posner 1882: 214. 116 S. hierzu den Bericht bei Schneider 1852: 117 sowie grundsätzlich Mücke 2003: 81, m. Anm. 237; s. auch die Ausführungen bei Gier 1998. 117 Sall. Iug. 95, 3 (cupidus voluptatem, gloriae cupidior) und Val. Max. VIII 14, 4 (ne minimum quidem gloriae vestigium contempsit) für Sullas Verhältnis zum Ruhm. S. auch Anm. 3–9. 118 S. hierzu etwa Spranger 1962: 23. Weniger plausibel Oschmann 1991: 187. 119 Während es zu Sullas Pflicht gehört, seine Macht niederzulegen, ist es Friedrichs Aufgabe, dem Staat als König zu dienen. Völlig anders Klüppelholz 1988: 141; 146, der den Rücktritt Sullas als einen Akt der Verantwortungsübernahme für Octavias Raub ansieht, dessen Gesamtinterpretation aber ohnedies vielen Missverständnissen unterliegt, die dem Preußenkönig nicht gerecht werden. Chrysogonus erfüllt vielmehr die Funktion, Sulla von seiner Schuld zu entlasten; zur gleichen Strategie hat Cicero in seiner Rede für Roscius aus Ameria gegriffen. 112
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Friedrich hat, als eifriger Schüler der historia magistra vitae, eine geschichtliche Lektion auf die Bühne gebracht: eine Episode aus der Antike, die von ihm, und seinen Zeitgenossen, als Paradigma verstanden wurde. Als Held diente ihm eine schillernde, schwer zugängliche Gestalt, die, anders als Antoninus Pius oder Kaiser Titus, bar aller steifleinernen Tugendhaftigkeit ist.120 Dass der «Sylla» mit einem zwanglosen lieto fine endet, wie sein Publikum es erwartete, bedeutet keine Einschränkung von Friedrichs dramatischer Leistung. Erst im «Montezuma», der pessimistischen Darstellung eines tugendhaften Herrschers, der vor der Anmaßung verbrecherischer Gewalt kapituliert, wird dem Publikum ein Sujet von schrecklicher Tragik zugemutet.121 Der «Sylla» indes führt ein für zeitgenössische Diskurse essentielles Thema der Herrschaftspraxis vor: die Anfechtungen, denen ein Herrscher scheinbar, aber nur scheinbar hilflos preisgegeben ist, und die Einsicht, dass der Fürst, wie seine Untertanen an das Recht gebunden, gegenüber allen persönlichen Bedürfnissen die Pflichterfüllung voranstellen müsse, weil nur so Ruhm und Würde vor dem Urteil der Geschichte zu erlangen seien. Denn erst der Ruhm, die alles durchdringende, göttliche Flamme, die ein untrennbares Band mit der Tugend verbinde, heißt es in der «Ode sur la gloire», erschaffe den wahren Herrscher.122 «Rechnen Sie darauf», wendet der König sich darum, nur Stunden nach der desaströsen Niederlage von Kunersdorf, an seinen Bruder Heinrich, «dass ich, solange ich lebe, für den Staat einstehe, wie es meine Pflicht ist».123 Friedrich wusste um die hierfür nötige Kraft und Selbstüberwindung. Zumal in den von stetig zunehmender Verbitterung geprägten Jahren hat er oftmals auf die von Leidenschaften ausgehende Gefahr hingewiesen, zusammen mit der unabdingbaren Notwendigkeit des régler son cœur, wie er es selbst praktizierte.124 Das Finale des Librettos, abgewandelt in der musikalischen Umsetzung, die konventionell mit einer pompösen Lobpreisung auf Sulla endet,125 enthält in freimütiger Formulierung die eindringliche Erkenntnis: Der Sieg über sich selbst ist, so viel Ruhm er auch bringt, nicht so sehr schön, wie Metellus behauptet, sondern vielmehr groß, wie der
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Antoninus und Titus waren populäre Helden der Oper. Bes. zu Titus s. Stieger 1975: I 251; III 1205. Zu «Montezuma»: Rösler 1992: 28, der die Möglichkeiten zwischen Identifikation und Nichtidentifikation der Herrscher mit Opernhelden am Beispiel dieses Werkes auslotet. Wichtig Schleuning 1997. Vgl. auch H. Klüppelholz, Die Eroberung Mexikos aus preußischer Sicht. Zum Libretto der Oper «Montezuma» von Friedrich dem Großen, in: A. Gier (Hg.), Oper als Text. Romanistische Beiträge zur Libretto-Forschung (= Studia Romanica 63), Heidelberg 1986, 65–94. 122 Bes. v. 3 f.; 12 f. Dieses Gedicht datiert in die Kronprinzenzeit. S. auch Anm. 107. Weitere Stellen zu diesem Komplex bei Berney 1934 (b): 89, m. Anm. 6 sowie Berney 1934 (a): 64. 123 Zit. n. Kunisch 2005: 405. Schon vorher, in einem Brief an Wilhelmine vom 30. November 1756: «Allerdings gestehe ich, wenn die Dinge eine schlimme Wendung nehmen sollten [im Feldzug nämlich], würde ich den Tod hundertfach einer solchen Lage vorziehen»: ohne dass dies jedoch eine wirkliche Alternative für ihn wäre. 124 Über diese Phase: Kunisch 2005: 243–263, auch Berney 1934 (a): 260–273. 125 Partitur Hamburg, p. 147r ff.: Metello. D’ogni vittoria, la vittoria maggiore è il saper trionfar del proprio còre. Tutti. Viva, viva di Silla […] il nome famoso […] in ogni età. Ottavia. Doma per lui, respira e pace e libertà. Metello. Proma per lui, rimira punita l’empietà. Tutti. Di Silla eroe maggiore il Febro ancor non hà. Viva la libertà, viva la libertà, viva la libertà! (Akzente ergänzt.) Zweifellos ist dieses Ende dem Finale einer Oper, auch was die musikalische Umsetzung betrifft, wesentlich angemessener als die Vorgabe im Manuskript. Im übrigen ergibt sich auch eine inhaltliche Verschiebung, da hier mehr der Zustand des Staates, dessen Freiheit wiederhergestellt ist, im Mittelpunkt steht als die Person des Fürsten, auf die es Friedrich ankommt – ein Hinweis auf die literarische Subtilität des Königs, da die ursprüngliche Fassung des Librettos für die Publikation nicht abgeändert worden ist. 121
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Chor ausruft, dem das Schlusswort gebührt.126 Nur einem «Phoenix unter den Fürsten», wusste Friedrich, vermag er zu gelingen.127
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Anhang: Der Spielplan der Berliner Oper 1741–1756 (mit ausgewählten Opern vom Dresdener Hof) (nach: Helm 1960: 102 ff.; Henzel 1997: 47–53; Mücke 2003) Geburtstag der
Jahr
Karneval
1741
Rodelinda, Regina de’ Longobardi
Königinmutter
1742/ Cesare e Cleopatra 43 La clemenza di Tito
Artaserse
Artaserse 1743/ Catone in Utica [Numa Pompilio, Didone] 44 Rodelinda
1749/ Angelica e Medoro 50 Coriolano (*) 1750/ Fetonte (*?) 51 Mitridate (*) 1751/ 52
[Didone]
Artaserse, Rodelinda Catone in Utica [L’asilo d’amore] La clemenza di Tito [Arminio]
Il sogno di Scipione
1746/ Cajo Fabricio 47 Arminio
1748/ Cinna 49 Ifigenia in Aulide
Rodelinda
[Antigono]
1745/ Adriano in Siria 46 Demofoonte, re di Tracia
Le feste galanti 1747/ Cinna 48 Ifigenia in Aulide (*)
[Numa Pompilio]
La clemenza di Tito
[Lucio Papirio]
1744/ Alessandro e Poro 45 Lucio Papirio
Sommer / Herbst
Le feste galanti
Il re pastore (*)
L’Europa galante [Semiramide]
Angelica e Medoro
[La spartana generosa, Demofoonte, eucippo]
Angelica e
[I natal di Giove] [Atilio Regolo]
L’Armida
[La spartana Galatea e Acide (*)
generosa, Leucippo]
Medoro Fetonte (*?)
Fetonte (*?)
Ifigenia (*)
Ifigenia (*)
L’Armida Il giudizio di Paride (*)
[Leucippo]
L’Orfeo
[Ipermestra,
Silla (*)
Il trionfo della fedeltà (*)
[Arminio, Solimano]
Semiramide (*)
[L’eroe cinese]
[Solimano, Artemisia]
Ezio
Il tempio d’Amore (*)
Merope (*)
[Il re pastore]
Britannico
[Ipermestra]
L’Orfeo
1752/ Didone 53 Adriano in Siria] 1753/ Silla (*) 54 Cleofide 1754/ Semiramide (*) 55 Montezuma (*) 1755/ Ezio 56 I fratelli nemici (*)
[Ezio]
(*): Oper mit Beteiligung Friedrichs als Textdichter oder Komponist. Seine Mitwirkung am «Fetonte», die früher als gesichert galt, lehnt die moderne Forschung größtenteils ab. [Arminio]: Oper vom Dresdener Hof.