“AuA 54” — 2008/11/3 — 14:34 — page i — #1
Antike und Abendland
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Herman...
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“AuA 54” — 2008/11/3 — 14:34 — page i — #1
Antike und Abendland
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Hermann Rohdich
Die Magie der Reflexion I Im 10. Gesang der Odyssee gelangt die unter Eurylochos Führung stehende Hälfte der Gefährten des Odysseus vor das Anwesen der Kirke, ein aus geglätteten Steinen gefügtes Haus, das vorweg die Erhebung zur kultivierten Gutsherrin anzeigt, die das Epos mit der Hexe des Märchens vorgenommen hat (210 ff.). Wilde Tiere empfangen den Trupp, deren unheimlich-denaturiertes Benehmen dem Abenteuer präludiert, das ihn erwartet: Wölfe und Löwen des Bergwalds, die sie, Kirke, selbst niedergezaubert hatte durch die Gabe schlimmer Pharmaka (213). Es ist für das Verständnis der Kirke-Episode wichtig zu sehen, daß es sich bei dem seltsamen Zoo der Zauberin nicht um verwandelte Menschen, Vorgänger also der Odysseus-Gefährten, handelt, sondern um gezähmte Tiere 1; (àata)ue¬lgein bedeutet nicht «verwandeln» 2, und die offenbar intentional gesetzte, weil keineswegs formelhaft-häufige Vokabel oœre¬steroi (212) 3 sänke bei Annahme einer Verwandlung zu einem matten sogenannten Epitheton ornans herab, während es prägnant gefaßt die einheimischen Wölfe und Löwen bezeichnet, die Kirke sich gefügig machte. Indem das Epos die zahmen Bestien als «Empfangskomitee» aufbietet, überträgt es ihnen drei Funktionen: zum einen stellen sie eine Warnung an die Ankömmlinge dar; zum andern bereiten sie die Erkenntnis des Rezipienten vor, daß die Kirke der Odyssee nur in Schweine verwandelt 4, und schließlich demonstrieren sie vorweg die Wirkungsweise von Kirkes Pharmaka, die nicht einfach äußerlich verwandeln, sondern allererst unter Brechung innerer Widerstände 1
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Schon die antiken Philologen haben darüber gestritten: vgl. die Scholien zu 10.213. Für die Annahme einer Verwandlung plädieren z. B. Ameis-Hentze-Cauer, Homers Odyssee. Amsterdam 1965 (Nachdr. der 11. Aufl.), Komm. zu 213; am weitesten geht G. Schönbeck, Odysseus auf der Insel der Kirke. Jahresber. d. Bismarck-Gymn. Karlsruhe 1979/80, 43, wenn er in der Freundlichkeit der Tiere den Ausdruck des unveränderten Menschenbewußtseins der Verwandelten erkennen will. Dagegen A. Heubeck (in: A. Heubeck-A. Hoekstra, A commentary on Homer’s Odyssey II. Oxford 1989), Komm. zu 213: «... in fact the poet has at this point deliberatly excluded that traditional element of magic (die Verwandlung in Tiere) from his story.» « (àata)ue¬lgein always means an activity producing the alteration (usually temporary) of normal thought and consciousness, not magical transformation of the outward form or appearance» (Heubeck a. O. Komm. zu 213). Bei Homer nur noch Il. 22.93. Die dem Eurylochos 432-4 vom Epos in den Mund gelegte, Wölfe und Löwen einbeziehende Vermutung hat keine Beweiskraft, zumal es ihn auch hinsichtlich der den Tieren zugewiesenen Aufgabe (Bewachung von Haus und Hof) die selbst gemachten Erfahrungen verdrehen lässt. Nebenbei entledigt es sich mit den gezähmten, nicht aus Menschen verwandelten Tieren einer dem weitverbreiteten Märchentypus eigenen Implikation, die L. Radermacher, Die Erzählungen der Odyssee. Wien 1915, 8 f. so beschreibt: «... dabei» - sc. bei der Errettung der Gefährten durch den Helden - «werden noch viele ins Leben zurückgerufen, die früher verzaubert worden waren, Kaufleute, Handwerker, Hirten.» Vgl. auch D. Page, Folktales in Homer’s Odyssey. Cambridge, Mass. 1973, 58.
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jenen Prozeß der Wesensveränderung herbeiführen, der die Verwendung des spezifischen Verbums ue¬lgein rechtfertigt. Das Befremdlich-Unheimliche steigt förmlich an Odysseus Mannen empor; aber es warnt sie nicht, dem Schrecken zum Trotz, der sie durchfährt (219). Die Attraktivität des schönen Gesangs, der zu ihnen herübertönt (221), hat ihr Widerlager in der Macht des Triebs, für den er bestimmt ist. Was bei Kalypso lyrischer Ausdruck der Einsamkeit sein mochte, ist hier Verlockung 5. Der Rat des Polites, sich der Singenden unverzüglich bemerkbar zu machen, verbrämt seine Erregung mit der Alternative «eine Gottheit - oder ein Weib» (228); aber eben dadurch gerät das, was nicht geradeheraus gesagt werden sollte, doch einzig gemeint war, vor die Pause des Verses, in die es verräterisch nachhallt. Die Atmosphäre vibrierender Vorlust liegt um die Szene; der Rezipient sieht, auch ohne daß der Text es vermerkt, wie man einander zublinzelnd, sich anstoßend, verlegen und unverschämt zugleich einem Abenteuer entgegendrängt, über dessen Charakter die wortlose Einmütigkeit des Triebs sich längst verständigt hat. Kirke reagiert rasch auf das Rufen (230); die Ungeduld ist offenbar beiderseitig. Der Kykeon, der rekreative Mischtrank der Heroen vor Troja 6, wandelt sich zum Begrüßungscocktau der Zauberin und zugleich zur Trägersubstanz der «traurigen Pharmaka», die sie den Gästen appliziert, «damit sie der heimatlichen Erde gänzlich vergäßen» (236). Das präludierende Geschehen bei den Lotophagen 7, deren gutmütige Drogenofferte die Heimkehrer mit dem vergessenden Untergehen im Pontos, dem Verlust von Heimat und kultureller Identität bedrohte, verschärft sich zum Schicksal der nun auch äußeren Verwandlung, die als Strafe für das leichte Spiel fungiert, das Kirke mit dem triebgesteuerten Leichtsinn ihrer Opfer hatte. Über den eigentlichen Vollzug der Metamorphose geht der Text mit beredtem Schweigen hinweg; wenn die Gefährten in den Kofen getrieben werden (237 f.), ist das Resultat des Zauberaktes schon vorausgesetzt und wird erst im Nachtrag beschrieben (239 f.). Die Kurzangebundenheit indiziert die Intention des Epikers ebenso wie die Aussparung des Terminus ue¬lgein. Was den Gefährten geschieht, steht zwischen der Präsentation des gezähmten Tierparks und dem späteren Bezauberungsversuch an ihrem Basileus und wird durch beides profiliert. An ihnen gab es nichts zu «bezirzen», keinen geistigen Widerstand zu brechen; sie traten bereits als Schweine ins Haus. Das Epos hebt das Märchen von der Verwandlung durch die Hexe auf die ideologische Ebene seines Erzählens, das die naiven Züge der ursprünglichen Form reflektorisch durchdringt und dem eigenen poetischen Aussagewillen adaptiert. Das der «einfachen Geschichte 8 » immanente Potential interpretatorisch ausbeutend, generiert es die Symbolik des Inneren, auf die es hinauswill. Die Mutation der Gefährten ins Borstenvieh wird zur poetisch-sinnlichen, zu unmittelbarer Kenntlichkeit entstellten Erscheinung ihres animalischen Wesens, das die ihrerseits in eine kultivierte Nobelhetäre verwandelte Dämonin scheinbar unwiderstehlich unter der Schicht einer zweckgerichteten Rationalität hervorzog 9, die das gefährlich-unbe-
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Od. 5.61. - Zum Verhältnis Kirke-Kalypso vgl. K. Reinhardt, Die Abenteuer der Odyssee, in: Ders., Tradition und Geist. Göttingen 1960, 77 ff. Il. 11.624, 638 ff. Od. 9.83 ff.; besonders 97 und 102 U. Hölscher, Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman. München 1988, 25 ff. Angedeutet von R. Brilliant, Kirke’s men: Swine and Sweethearts, in: The distaff side, ed. by Beth Cohen. New York/Oxford 1995, 168: «... Kirke, who actualizes the swinishness in men ...»
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kannte Lokal zu rekognoszieren und, eingedenk der in der pontischen Welt bereits gemachten Erfahrungen, besonders auf der Hut zu sein hatte: das Vergessen der heimatlichen Erde hatte sich schon ereignet, als die Männer abenteuerlustig in die Falle drängten, die ihnen gestellt war; die Pharmaka besiegeln es, indem sie es zum «gänzlichen» (pa¬gxy 236 ) verdichten und die Schweinsgestalt als sein Symbol fixieren. Die Odyssee gießt neuen Wein in alte Schläuche. In dem Bestreben, irrationale Zauberei zurückzudrängen, wo immer es möglich ist, manifestiert sich die Episierung des Märchens, seine Sublimation zum integralen Bestandteil des von einer bestimmten Ideologie, einer spezifischen «Moral» inspirierten Weltgedichts. Diese Demagisierungstendenz begründet die Wahl der magischen Materie, die das Epos getroffen hat. Ein Zaubermittel, mit der Fähigkeit begabt, Metamorphose zu bewirken, ist notwendig, sonst bräche die poetische Darstellung des Abenteuers zusammen. Pharmaka jedoch tragen bereits eine gewisse Distanz zu magischen Praktiken in sich, die den Willen des Zauberers über andere Gegenstände oder Inkantationen 10 transportieren. Der Januskopf der Drogen blickt auf der einen Seite zur Magie, auf der andern aber in die Richtung ihrer wissenschaftlichen Verwendung durch die Medizin; ihre Wirkkraft liegt jedenfalls in ihnen selbst, so daß die Kunst des Anwenders auf die Kenntnis beschränkt erscheint, die er von ihnen besitzt. Kirke verfügt neben dem Kräuterzauber über die Rute, die Rhabdos (238). Aber das Epos hat das traditionelle Requisit, was seine magische Funktion betrifft, ostentativ außer Dienst gestellt; es spielt bei der Verwandlung keine Rolle 11. Der Zauberstab ist seinerseits mutiert, heruntergekommen zum Schweinestecken, mit dem die Verwandelten in den Kofen getrieben werden. Hermes variiert die Vokabel peplhgyi˜a, die 238 und 319 die Betätigung der Rhabdos bezeichnet, zu eœla˜ n (293), das bei der Rückverwandlung der Gefährten wiederkehrt (390); beide Verben stehen zweifellos nicht für die magische Berührung 12, aus der die Mutation resultiert 13. Derselbe Gott spricht dem vermeintlichen Zauberstab eine Länge zu ( perimh¬àei ) 14, die das Epos zwei Gesänge später, sich selbst zitierend, der Angelrute des Fischers verleiht, der sie vom Felsvorsprung ins Meer auswirft (12.251) ein Zauberstab so lang wie eine Angelrute? Die Rhabdos der Kirke ist nicht mehr magisches Gerät, sondern - weit erniedrigender für die damit Traktierten - Hirtenutensil, das die beträchtliche Zahl ihrer Opfer auch auf größere Distanz zu dirigieren vermag. Das märchenhafte Zauberinstrument behält die Odyssee der olympischen Gottheit Athene vor 15, in deren Hand seine bedrohlich-zweideutige Wirkkraft sich dem auf eine rationalmoralische Weltverfassung verpflichteten Götterwillen unterstellt und die schwarze Magie zur weißen wird. 10
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Vgl. die Epode´ über Odysseus’ Wunde im Narben-Exkurs (Od. 19.457 f.), der offensichtlich eine ältere historische Schicht repräsentiert; vgl. dazu meinen Aufsatz «Zwei Exkurse in die Vergangenheit». AuA 36, 1990, 35 ff. W. B. Stanfords (The Odyssey of Homer. London 1947/8, Komm. zu 238-9) richtige Auffassung, die von P. V. Jones (Homer’s Odyssey. A companion to the English translation of R. Lattimore. Bristol Class. Press 1988, 4. Nachdr. 1996, Komm. zu 236 und 238) geteilt wird, hat sich nicht durchgesetzt; so hält z. B. Heubeck (wie Anm. 1) zu 234-43 an der Zauberrute fest. Wie eœpimai¬omai Od. 13.429 und 16.172. Das r«a¬bdì peplhgyi˜a Od. 16.456 ist spielerisches Selbstzitat und durch poi¬hse zur Eindeutigkeit spezialisiert Vgl. die Erstaunen verratende Bemerkung von G. Germain (Gene`se de l’Odysse´e. Paris 1954, 250): «... de cette longue baguette particulie`re a` Circe´.» Vgl. Anm. 12 und 13, auch Hermes Od. 24.2 ff. in Reminiszenz an Il. 24.343 f.
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Anders als im Lande der Lotophagen, wo Odysseus seine Kundschafter dem Drogenglück mit Gewalt entreißen mußte (9. 94 ff.), läßt das Epos die der Kirke ins Garn gegangenen Gefährten an ihrem neuen Zustand leiden. Die aus dem früheren Abenteuer herübergenommene Notation des Weinens ( àlai¬ontaw 9.98 - àlai¬ontew 10.241) zeigt die Umkehrung an: weinten jene, weil ihnen der dauernde Genuß ihrer inneren Verwandlung verwehrt wurde, so klagen diese über den Vollzug der äußeren, der ihre Strafe ist. Daß sie das Geschehene als Unglück verstehen, setzt eine Bedingung voraus, die der Text, eine Stelle der Ilias adaptierend 16, zuvor vermerkt hat: ihr noy˜ w war so fest wie vorher (240). Die Intention der Darstellung erfordert auf der einen Seite, das Vergessen der Heimat als den wesentlichen Bewußtseinsdefekt der Gefährten zu exponieren, und auf der andern, ihr Leiden an der Schweinsgestalt vorzuzeigen, ohne das ihre Metamorphose subjektiv keine Strafe, sondern ein «lotophagisches» Glücksgefühl wäre. Die an sich polyvalente Vokabel noy˜ w 17 bezeichnet hier die Intaktheit jenes Bewußtseins, das unerläßliche Voraussetzung für das Leiden der Verwandelten ist, das sich in ihrem Weinen äußert 18. Die Unglücklichen wissen, daß sie Schweine sind, aber sie wissen auch, daß sie es nicht sind. In ihrem Jammer bewahrt sich, den fatalen Widerspruch ihres Wesens spiegelnd, residual das Bewußtsein auf, anderes zu sein als Säue, die ihr Bett am Erdboden haben und Eicheln schmatzen wie der Mensch der Urzeit (241-3). Wenn die Odyssee das Schwein wählte 19, um den Gefährten ihres Helden eine ebenso märchenhafte wie symbolische Gestalt zu verleihen, so nicht, weil das Tier ein etablierter Repräsentant exzessiver Wollust wäre 20; sie präformiert vielmehr, was sich bis in die heutige Zeit mit ihm verbindet 21 das Prädikat «Schwein» ist kein physiologisches Urteil, sondern eins von Moral, Asthetik und Kultur. In der großen poetischen Chiffre für Sexualität als triebhaften Naturbann, zu der, wie der spätere einjährige Aufenthalt im Freudenhause der Dämonin unmißverständlich zeigt, die Kirke-Episode gestaltet ist, symbolisiert das Schweintum der Gefährten ihre animalische Abtrünnigkeit von den Werten, auf die das Epos sie verpflichtet hat 22: der Treue zur Heimat als dem Eigenen, das ihre individuelle, soziale und kulturelle Identität konstituiert, der Sehnsucht, den Rauch über Ithaka aufsteigen zu sehen, die ihre Fahrt durch die unheimliche Fremde bestimmt, und der triebkontrollierenden Ratio, deren spezifisch menschliche Potenz allein die Erreichung des Zieles garantieren kann. Die Metamor-
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11.813 Vgl. den umfangreichen Artikel im LfgrE s. v. no¬ow , der die Komplexität der Vokabel vor Augen führt, deren spezielle Bedeutung sich erst im Zusammenhang des Kontext klärt. Vgl. die vorsichtige Bemerkung Th. Reuchers (Der unbekannte Odysseus. Bern und Stuttgart 1989, 45): «Vielleicht darf man annehmen, daß die Männer zwar eine Veränderung ihrer geistigen Beschaffenheit erlitten haben, daß ihnen aber das Bewusstsein ihrer verlorenen Identität geblieben ist. Nur dies kann der Grund dafür sein, daß sie unter der Verwandlung leiden.» Zu den bildlichen Darstellungen der Kirke-Episode, die andere Tiere miteinbeziehen, vgl. Diana Buitron-Oliver und Beth Cohen, Between Skylla and Penelope: Female characters of the Odyssey in archaic and classical Greek art, in: The distaff side (wie Anm. 9), 36 ff. Vgl. R. Wildhaber, Kirke und die Schweine. Schweiz. Archiv f. Volkskunde 47, 1951, 233-61. «Jedenfalls hat späterhin alle Zivilisation mit Vorliebe diejenigen Schweine genannt, deren Trieb auf andere Lust sich besinnt als die von der Gesellschaft für ihre Zwecke sanktionierte»: M. Horkheimer Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/M. (Fischer TB) 1988, 78. Eine feministische Note bringt Nanno Marinatos (Circe and liminality: Ritual background and narrative structure, in: Homer’s world. Fiction, tradition, reality, ed. by O. Andersen and M. Dickie. Bergen 1995, 138) ins Spiel: «... they (die Schweine) symbolize the disdain Circe feels for men who are not her match.»
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phose ins Schwein figuriert den umfassenden Kulturverlust, der an den Leuten des Odysseus sich vollzog, als sie Heimat und Heimkehr an die begehrliche Erwartung eines sexuellen Abenteuers verrieten, das sie, die hinreichend Gewarnten, mit dem kläglichen Untergehen in der Welt des Pontos bedrohte. Unästhetisch, degoutant, entmenschlicht und weit demütigender zum Vieh erniedrigt, als wenn sie Wölfe oder Löwen geworden wären, von einer magischen Kraft gebannt, die ihrer eigenen Natur entsprang, drängen sie sich in Kirkes Kofen, dem drastischen Sinnbild ihrer verächtlichen Triebgefangenschaft, und bedürfen des königlichen Retters, der, klüger und beherrschter als sie, über das Mittel verfügt, den höhnischen Zauber zu brechen.
II Odysseus, profiliert durch die Kontrastfigur des feigen Eurylochos, fast ohne Wissen von dem, was er eben erzählt hat, macht sich, mit den Waffen des Trojakämpfers gerüstet (261 f.), zum großen Hause der Kirke auf, der drogenreichen (275 f.). Nur daß es diesmal gegen ein Weib geht, weiß er. Die wundersame Begegnung mit Hermes (277 ff.) steht unter dem Zeichen des reflektierten Spiels mit Überkommenem. Odysseus erkennt den Gott, als kenne er die Ilias 23. Deren letztem Gesang 24 hat die Odyssee das Signalement entlehnt, das die plötzlich aufgetauchte Erscheinung beschreibt 25. Die signifikante Variation im direkten Zitat ( nehni¬ñ aœndri¡ eœoiàv¬w 278 ⫺ àoy¬rì aiœsymnhth˜ ri eœoiàv¬w Il. 24.347) reduziert und verdichtet das Bild auf das allein Relevante: den Jüngling in der ersten Blüte der Männlichkeit, da das sekundäre Geschlechtsmerkmal des Bartes als Indiz sexueller Reifung sichtbar wird und der anmutige Reiz der Schönheit beginnt, geschlechtliches Interesse zu erregen, das auf den Erreger zurückschlägt, der in der Reflexion darauf seine Unschuld verliert, sich seines Triebs bewußt wird und das reziproke Phänomen der Sexualität begreift - Spiegel, in dem sich Odysseus, der zum Weibe geht, bei dem seine Gefährten rätselhaft verschwunden sind, selber ansieht, Erinnerung an die Zeit, da er jung war und ihm das Wesen der Geschlechtlichkeit aufging. Die Adaptation des Märchens nicht nur, sondern auch des älteren Epos, der Ilias, verrät sich in ihren Signalen. Hermes tritt vor den Dahinschreitenden wie aus dem Nichts; von einer Order des Zeus ist nicht die Rede, die konventionelle Schilderung von Aufbruch und Flug 26 unterbleibt. Dem Priamos gibt sich der göttliche Geleiter am Ende zu erkennen 27 nichts davon hier, kein Versteckspiel, keine Enthüllung, die mit der gnädigen Nähe zugleich die Kluft zwischen Gott und Mensch akzentuierte -: die Gestalt des Jünglings erscheint wie eine Imagination, ohne Inkognito, aber auch ohne ihre Karte abzugeben, als sei es 23 24 25
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«... but how does Odysseus know it was Hermes ...?»: Jones (wie Anm. 11), Komm. zu 277. 24.343-8. Vgl. G. Beck, Beobachtungen zur Kirke-Episode in der Odyssee. Philologus 109, 1965, 1-29, der über der Synkrisis des 24. Gesangs der Ilias und der Kirke-Episode deren Eigenleben zu sehr aus dem Auge verliert. Selbst K. Reinhardt (Die Ilias und ihr Dichter. Göttingen 1961, 479 ff.) unterschätzt die Odyssee, wie auch Heubeck (wie Anm. 1), der zu 274-9 notiert: «In the Iliad the youthful appearance of Hermes is justified by the poet’s intention to contrast youth with honourable old age. Here there is no such justification; the poet is merely following his model.» Vgl. Il. 24.339-45 = Od. 5.43-9. Il. 24.460 ff.
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nicht nötig, weil sie nicht von außen, sondern aus dem Innern des ins Abenteuer gehenden Helden selbst vor ihn getreten ist. Während sich im 4. Gesang (363 ff.) die Begegnung Eidotheas mit dem ratlosen Menelaos, dem Leidensgenossen des Odysseus im irrfahrenden Nostos, zu einem ausgedehnten Dialog entwickelte, redet Hermes allein (281 ff.). Die mitleidig-überlegene Sprachgebärde der Proteus-Tochter kehrt wieder, aber verkürzt und derart modifiziert, daß sich das Gefälle von göttlicher Erhabenheit zu menschlicher Ohnmacht wesentlich flacher darstellt und die Frage (281 f.) wie ein Seufzer klingt, den der Gott dem Leidgeprüften aus dem Munde nimmt. Ohne den poetischen Zauber des Märchens in psychologisierende Literatur aufzulösen, legt sich der Text eine Verstehensebene unter, auf der die Rede des Hermes als innerer Monolog des Angeredeten selber erscheint - das Epos steht «zwischen Märchen und Roman» 28. Der konkrete Helfergott wird nicht liquidiert, aber die seiner Ansprache verliehene Doppelbödigkeit eröffnet die Möglichkeit einer Interpretation, in der Odysseus sein eigener Retter ist. Das auffällige «wie Schweine» (vÕw te sy¬ew) 29 indiziert das Selbstgespräch, das die Märchenebene unterwandert, auf der Hermes die Vergleichspartikel nicht verwendet hätte 30. Odysseus, einsam in der fremden Wildnis, grübelnd, den Bericht des Eurylochos im Kopf, ahnt, daß die Gefährten bei dem Weibe ihrem animalischen Trieb, gleichsam dem Pontos in ihnen selbst, erlegen sind, kann jedoch von der Metamorphose nicht wissen; zugleich bewahrt das «wie» den Symbolcharakter der Erzählung des Abenteuers auf und erinnert an ihn. Der Übergang der Rede von der Hoffnungslosigkeit, das bezaubernde Weib zu bestehen (284 f.), zur Ankündigung des Rettenden (286) bildet die Bewegung im Innern des Helden ab, der die Emotion der Angst mit der Reflexion auf das Gegenmittel überwindet. Wenn Hermes bereits jetzt das abwehrkräftige Pharmakon ins Spiel bringt (287), so signalisiert die von der Kritik beanstandete Struktur der Rede 31 ihren untergründigen Sinn, der auf die Gedankenarbeit des Odysseus sich bezieht: dieser ist bereits mitten im Heil, hat das Pharmakon sozusagen schon in der Hand; denn nichts als die Reflexion wird ihn retten. Ihn, den Reflektierenden, kann das Weib nicht «bezirzen», den geistigen Widerstand nicht brechen, mit dem gerüstet er zu ihm gehen wird - die Vokabel ue¬ljai, die der Text nun aufbietet (291), zeigt den Unterschied zwischen dem Basileus und seinen Leuten an. Was als ungeschickte Vorwegnahme erscheint, verdankt sich der Zweischichtigkeit der Rede; der Besitz des antidotischen Pharmakon ist Grundlage der Einzelmitteilungen (289 ff.), die, an der Oberfläche Instruktionen des Hermes, zugleich als Geistesprodukte des Helden selber zu verstehen sind. Indem der Sinnende die Situation bedenkt, imaginiert er den Gang der Dinge und entwirft seine Reaktionen -: die Spiegelung seines Grübelns in das unterweisende Gegenüber der Helfergottheit demonstriert die sublime, die olympische Qualität der geistigen Potenz, über die er verfügt, und stellt sich dar als deren glänzendste Glorifikation. 28 29 30
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Vgl. Anm. 8 Für Page (wie Anm. 4), 55 «simply a fault in phrasing ... a careless turn of phrase». Heubecks (wie Anm. 1) Kommentar zu 283: «Hermes means that the crew, who have been metamorphosed into pigs» berührt nur die Oberfläche. Vgl. Ameis-Hentze-Cauer (wie Anm. 1), Komm. und Anhang zu 287. P. Von der Mühll (RE Suppl. 7, 1940, Sp. 723) verteidigt 287 f. als Eigentum seines Dichters B, für den «solch hastige Vorausnahmen bezeichnend» seien. Daß die Rede auch an der Oberfläche plausibel ist, zeigt Angeliki StassinopoulouSkiadas, Der Kirke-Mythos. Dichterische Behandlung und allegorische Deutung. Diss. Kiel 1962, 35 f.
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Die Einhändigung des Pharmakon (302 ff.) scheint die Konkretheit der Märchenerzählung zu konservieren. Hermes zeigt Odysseus die Natur 32 des Gewächses, das er aus der Erde gezogen hat: «An der Wurzel war es schwarz, wie Milch seine Blüte» (304). Märchenhaft verrätselnd, verhüllend und bezeichnend zugleich, setzt das Epos die reflektorischsymbolische Aufbereitung der Hexengeschichte fort, die es zu einer Station des Nostos der Trojahelden gestaltet, auf der sich die verlockende Naturmacht der Sexualität mit der Kraft der Ratio mißt, die allein Überleben und Heimkehr ins Eigene verbürgt. Der kurze Steckbrief der Wunderpflanze weist ihre symbolische Repräsentanz als die des Phallus aus 33, aber des geistig gebrochenen und vermittelten, des reflektierten Phallus. Hermes, der Jüngling und in dieser Szene der Odyssee nichts als ein solcher, führt dem ins Abenteuer gehenden Odysseus das Bild des einschlägigen Organs vor die Augen, des Werkzeugs der Konkupiszenz, von der die Gefahr ausgeht, die ihn bedroht - um die Märchenebene zu verlassen: der Held selber hat das Wesen der Begegnung mit Kirke erkannt; indem er die Sexualität reflektierend vor sich brachte, gewinnt er die Macht, sie zu beherrschen und ihre Zauberkraft zu brechen 34. Entmächtigt vom Zugriff des Denkens, wird der Phallus zum magischen Pharmakon gegen sich selbst. Das Moly 35 wie das Zaubergewächs genannt wird, ist ins Gewand des Märchens gekleidetes Symbol der Sexualität und zugleich ihrer Domestikation. Es figuriert poetisch das Vermögen des Menschen, auf seine Natur zu reflektieren und sie, die scheinbar unbezwingliche, niederzuhalten und zu formen. Im Bewußtsein seiner Naturhaftigkeit distanziert sich der Reflektierende von sich selber, neutralisiert den verführerischen Reiz seines Triebs und nimmt ihm die Autonomie, die nur die unmittelbare Erfüllung kennt. Dem Hexenbann seiner Animalität hält er das Amulett der Ratio entgegen, der die Odyssee die dominante Rolle im Kampf um Überleben und Heimkehr zuweist. Den elementaren Zauber sexueller Lust bezwingt die Magie der Reflexion; als überlegener Gegenzauber bannt sie das Bannende und wird zur Rettung aus dem gefährlichen Dunstkreis bloßer Natur. Der Name, den das Epos seiner Kreation verleiht und für den es das aus der Ilias bekannte Motiv der Göttersprache bemüht, jedoch ohne die menschliche Bezeichnung 32
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Richtig kommentieren Ameis-Hentze-Cauer (wie Anm. 1) z. St. das im Homer nur hier vorkommende fy¬siw: «die äußerliche (natürliche) Beschaffenheit, wie sie im folgenden beschrieben wird»; vgl. auch Suzanne Amigues, Des plantes nomme´es Moly. JS 1995, 5, Anm. 7; Heubeck dagegen (wie Anm. 1, Komm. zu 302-6) hält daran fest, daß es die Wirkkraft bedeute. Vgl. die spaßhafte Deutung Priap. 68.21 f. (E. Cazzaniga, Carmina ludicra Romanorum. Torino 1959): hic legitur radix, de qua flos aures exit, quam cum mv˜ ly vocat, mentula mv˜ ly fuit. Angedeutet bei Ch. Segal, Circean temptations: Homer, Vergil, Ovid. TAPhA 99, 1968, 426: «In a sense it is Odysseus’ own humanity as much as Hermes’ herb which enables him to escape Circe’s demonic, dehumanizing power.» Vgl. auch J. Griffin, Homer. Oxford 1980, 58: «It is by his own mental quality that Odysseus has prevailed against enchantment ...» Die von H. Petersmann (Homer und das Märchen. WS N. F. 15, 1981, 43 ff.) herausgestellte Tendenz der Odyssee zur Humanisierung des Märchens trifft also auch und gerade auf die Kirke-Episode zu. Zu den Versuchen, das homerische Wunderkraut zu identifizieren oder zu deuten, vgl. Steier, RE 16 (1933), Sp. 29 ff.; H. Rahner, Griechische Mythen in christlicher Deutung. Zürich 1945, 229 ff.; H. Philipp, Das Gift der Kirke. Gymnasium 66, 1959, 509 ff.; J. Stannard, The plant calles Moly. Osiris 14, 1962, 254 ff.; E. Kaiser, Odyssee-Szenen als Topoi II. Der Zauber Kirkes und Kalypso. MH 21, 1964, 209 f.; E. Pellizer, Il fodero e la spada. Metis amorosa e ginecofobia nell’ episodio di Circe, Od. X 133ss. QUCC 30 (N. S. 1), 1979, 67 ff.; Ch. de Lamberterie, Grec home´rique mv˜ ly: e´tymologie et poe´tique. LALIES 6, 1984, 129 ff.; F. J. Martinez Garcia, Nueva aproximacio´n a mv˜ ly (305). Veleia 10, 1933, 211 ff.; Suzanne Amigues (wie Anm. 32), 3 ff.
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mitzuteilen 36, ergänzt sprechend die vorangegangene Beschreibung ihrer Physis. Er ist die mit rezessivem Akzent versehene Substantivierung eines Adjektivs, das «schwach, weich, schlapp» bedeutet 37. Den Esprit dessen spiegelnd, der ihn erdachte, bringt er mit ebenso schnöder wie humoristischer Sachlichkeit das Wesen seines Trägers zu Bewußtsein. Das männliche Genitale, vorher rigides Fanal der Stärke, ist nachher das genaue Gegenteil. Auf Moly getauft, erinnert es trockenen Witzes an seine unvermeidliche Peripetie vom Erhabenen ins Klägliche, von prangender Potenz in schlaffe Verkümmerung 38. Pointiert enthüllt der Name für das Renommierstück viriler Kraft die Wahrheit der strotzenden Natur, die den Helden mit Unheil bedroht. Die Begegnung mit dem unheimlichen Weibe verheißt ihm ein Abenteuer, in dem er vorweg der Schwächere ist, da er entweder wie seine Gefährten in der schweinischen Botmäßigkeit des Triebs dem Zauber erliegt oder, wenn er keine Vorsichtsmaßnahme trifft, einer Behandlung anheimfällt, die seine Mannheit ins Gegenteil verkehrt und ihm das Mark aus den Knochen zieht, wie es die Rede des Hermes voraussah (301). Zu panzern vermag ihn allein die Reflexion, deren gelungenen Vollzug das Moly anzeigt: vom Gott vor den äußeren und von Odysseus selbst vor den inneren Blick gestelltes Symbol der elementaren Triebkraft der Sexualität und zugleich, durch seinen Namen signalisiert, drastisch warnendes Wahrzeichen des Zustands, den die blinde Unterworfenheit unter sie zur Folge hat, feit es den Helden gegen die von Kirkes magischer Attraktivität ausgehende Gefahr, in die Schweinsgestalt des kulturlosen Heimatvergessenen gebannt zu werden. Der sprechende Name für das membrum virile markiert die spezifische Leistung der reflektierenden Ratio. Die überraschende Pointe, die er ist, da er das vorzugsweise im Stande potenter Majestät vorgestellte Organ konträr charakterisiert, erinnert an dessen peinliche Metamorphose und bringt so das Moment der Zeit ins Spiel. Indem die geistige Vergegenwärtigung gemachter Erfahrung und drohender Folgen Vergangenheit und Zukunft mit dem Jetzt verknüpft, erfaßt sie die vorliegende Situation komplex und gewinnt intellektuelle Macht über sie. Das im Namen Moly sedimentierte Wissen vom Wesen des Benannten eröffnet die Möglichkeit rationaler Immunität gegen den Schein großmächtiger Mannheit und den lockenden Trug verheißener Augenblickslust. Exemplarisch repräsentiert die Pflanze des Gottes das über bloße Animalität sich erhebende Vermögen, in Rückschau und Voraussicht Zeit zu vergegenwärtigen, den Gehalt ihrer indifferenten Abfolge kausal zu beeinflussen und nach Maßgabe des angestrebten Nutzens zu bestimmen 39. Schwierig sei sie zu graben für sterbliche Männer, läßt das Epos seinen Helden bemerken 36
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Wie auch bei den Plankten (Od. 12.61); die antike Kritik schloß daraus, daß der Dichter erfunden habe ( àaœà toy¬toy dh˜ lon, oÕti pe¬plaàen Schol. Od. 12.61). - Zur Göttersprache vgl. Jenny Clay, The Planktai and Moly: Divine naming and knowing in Homer. H 100, 1972, 127 ff.; de Lamberterie (wie Anm. 35), 130 f.; FrancX oise Bader, La langue des dieux: herme´tisme et autobiographie. LEC 58, 1990, 3 ff. und 221 ff. Vgl. de Lamberterie (wie Anm. 35); ebenso Martinez Garcia (wie Anm. 35) und Amigues (wie Anm. 35), 13 f. Die in der vorigen Anmerkung genannten Autoren interpretieren den Sinn des Namen Moly aus der Kraft der Pflanze, den Drogenzauber Kirkes «weich», d. h. wirkungslos zu machen, wobei für den Wandel der passiven Bedeutung des Adjektivs in die aktive auf die «Parallele» pray¡ Pindar Ol. 13.85 verwiesen wird. Verständlich, dass die Kirke-Episode Philosophen zu allegorischen pro-domo-Interpretationen einlud: vgl. dazu Stassinopoulou-Skiadas (wie Anm. 31), 63 ff.; B. Paetz, Kirke und Odysseus. Überlieferung und Deutung von Homer bis Calderon. Berlin 1970, 25 ff.
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(305 f.), um mit dem Hinweis auf göttliche Allmacht die Erzählung der wundersamen, halb märchenhaften, halb visionären Begegnung abzuschließen (306) - das prägnant gesetzte Attribut «sterblich» zeigt auf das Existential der Vergänglichkeit, das die Natur des Menschen mit einer fundamentalen Bedürftigkeit affiziert, vor der die mythische Appetenz der Götter wie ein Lustspiel sich ausnimmt. Daß er in der Sterblichkeit seine Wurzel hat, zeitigt die Urgewalt des Triebs und begründet sein verhängnisvolles Antipodentum zur Ratio, deren Mühsal, sich als überlegene Instanz bei der Bewahrung und Bemeisterung des Lebens zu behaupten, im Prädikat «schwierig» notiert ist. Ihr Sieg ähnelt den Menschen den Göttern an, auf deren Knien ruht, was sich im Gang der Zeit aktualisiert; in Odysseus Denkarbeit, die in der Reflexion auf die Natur das Antidot gegen den pontischen Zauber bereitstellt, feiert die Odyssee ihr neues, die heroische Ideologie der Ilias überwindendes Verständnis vom Menschen und seiner Chance, die Welt zu bestehen und mit der extensiven Fristung des Lebens im Eigenen, mit dem Genuß behaglichen Alterns und friedlichem Entschlafen die einzig mögliche Approximation an das Dasein der olympischen Götter zu realisieren.
III Der göttliche Rhizotom entfernt sich (307). Das Epos zitiert noch einmal das iliadische Vorbild 40 und teilt seinem Helden das Wissen davon zu, wohin der Helfergott geht 41 zum hohen Olympos - wohin sonst, wenn er eigens in dieser Mission gekommen ist und weiteres nicht zu tun hat. Odysseus setzt seinen Weg in die Höhle des Löwen fort, grübelnd, in tiefem Sinnen (309) . Die Begegnung mit dem zauberischen Weibe ist die Probe auf das Wesen des Moly. Er trinkt den tückisch präparierten Kykeon, aber «sie verzauberte mich nicht» (318) - die Vokabel ue¬lgein, die bei den Gefährten nicht fiel, ist hier am Platz. Wie im Falle der gezähmten Bestien (213) war ein innerer Widerstand zu brechen; aber anders als diese zeigt sich Odysseus stark und immun. Er trat nicht als Schwein in Kirkes Haus, sondern mit der bewußten Entschlossenheit, Heimkehr und Identität nicht in der Weite des Pontos zu verlieren. Vom Moly ist zur Verwunderung der Kritik nicht die Rede 42 es existierte nie anderswo als in Odysseus Kopf. Wenn Kirke ihren Gast zu den anderen in den Kofen treiben will, in habitueller Geschäftigkeit, achtlos, als habe sie gar nicht recht hingesehen (319 f.), reißt das vermeintliche Schwein sein Schwert von der Hüfte und macht, auf sie losstürzend, Miene, sie zu töten (321 f.) 43. Der Held, wieder zum Trojakämpfer geworden, der mit der spezifischen Waffe seiner Kultur dem Feind entgegen-
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Il. 24.694. Page (wie Anm. 4), 56 sieht darin ein Indiz für sorglose Umsetzung von ursprünglicher Er- in IchErzählung. Vgl. z. B. Jones (wie Anm. 11): «... it would be logical if the medicine were put into the cup to counteract Circe’s potion. But this does not happen» (Komm. zu 287-301) - «But armed with this root, what does Odysseus actually do with it? Nothing, is the answer. It gives some mysterious ,automatic’ protection to its bearer» (Komm. zu 305). Der Dichter dürfte kaum, wie Marinatos (wie Anm. 22), 138 meint, die Unsterblichkeit der Göttin vergessen haben; daß auch Götter schmerzlich verwundet werden können, lehrt die Ilias.
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tritt 44 verwandelt momentan die pontische Szenerie hexenhafter Tücke und schwülen Zaubers zum heroischen Tableau. Und doch ist er nicht mehr der Repräsentant der traditionellen Ideologie, die den naturwüchsigen Machttrieb zum aristokratischen Waffengang ritualisierte und zu töten befahl um des Ruhmgewinns willen, der die surrogative Unsterblichkeit verhieß. Odysseus Griff zum Schwert steht im Zeichen rationaler Triebbeherrschung, die ihm und seiner Mannschaft die Heimkehr ins Eigene retten soll. Nach dem sinnlos-verwegenen Abenteuer der Kyklopie, in dem er als sein eigener Epigone den ruhmgierigen Großen iliadischen Schlages darstellte, um sich am Ende durch das eitel-ressentimentale Bekenntnis zu seiner heroischen Identität den unheilvollen Fluch des Ubertölpelten zuzuziehen, läutert sich die Pose des Heroentums zur Funktion des Weltverständnisses der Odyssee. Gerade daß sie Pose ist, profiliert ihre neue Qualität. Das heroische Mordgerät 45 tritt in den Dienst des fortgeschrittenen Geistes, von ihm gezogen und gezügelt, beherrscht verharrend in der Gebärde des Tötungsakts, weil sie, nicht er, den Drohenden dem erstrebten Ziele näherbringt -: Altes und Neues, iliadisches Kriegertum der Vergangenheit und bewußte Reflexion auf die bürgerlichen Werte von Leben, Eigentum und heimatlicher Kultur synthetisieren sich zur modernen Heroik der Odyssee, die im Triumph über die Freier ihre Vollendung finden wird. Der Schrei der Überraschten (323) belegt erneut die kreativ-imitatorische Kunst des Zitierens, auf die das jüngere Epos sich versteht: er gleicht Kirke mit Aphrodite, die ebenso schrie, als sie, von Diomedes verwundet, ihren Ichor rinnen sah 46 - aber nicht Odysseus mit dem Tydiden, von dessen heroisch-hybrider Aristie er nicht weniger weit entfernt ist als vom Mordrausch des Achilleus, dem am Skamander der unglückliche Priamos-Sohn Lykaon mit der gleichen Geste des Bittflehenden sich unterwirft wie Kirke 47. Das Unerhörte von Odysseus Resistenz artikuliert sich in der staunenden Rede (325 ff.), deren konventioneller Beginn mit der Frage nach Namen und Herkunft zum Ausdruck höchsten Verwunderns wird und die Feststellung der Einzigartigkeit des Fremden vorbereitet, der, einen unbetörbaren Nus in der Brust, dessen Merkwürdigkeit das Pronomen tiw (329) anzeigt, den Genuß der Pharmaka unberückt 48 überstand. Wenn der noch halb Ungläubigen ein Licht aufgeht und sie sich selber die Antwort gibt (330 ff.), enthüllt sich ihr pontisches Lokal als Agentur des olympischen Willens, der ihr schon immer durch Hermes angesagt war, als Station der Welt- und Bildungsreise, die den Helden zur historischen Erledigung der heroischen Todeskultur iliadischer Prägung und zur unverlierbaren Affirmation einer Existenzform führen soll, die jener überlegen ist. Hermes Avis hebt zusammen mit den orakulären Verkündigungen an Polyphem und die Phaiaken 49 die Irrfahrt des poly¬tropow (330), den der erste Vers der Dichtung als solchen charaterisierte, auf die Ebene eines teleologischen Geschehens, das einen lange schon im Schoß der Geschichte ruhenden Götterplan verwirklicht. In der Begegnung des Repräsentanten der heroisch44
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Das Schwert ist nicht mehr, pace Petersmann (wie Anm. 34), 65, der metallene Gegenstand des Märchens, vor dem sich die Dämonen fürchten. Die modische Deutung Segals (wie Anm. 34), 426, das Schwert sei auch ein Symbol männlicher Sexualität, stellt die Dinge auf den Kopf. Il. 5.343. Il. 21.68. Zu Unrecht wird im LfgrE s. v. ue¬lgv 1b der Vers 326 als Beleg dafür notiert, daß ue¬lgein «verwandeln» («Transform into pig») bedeute. Od. 9.507 ff.; 8.564 ff.
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aristokratischen Kultur, des Trojakriegers und Stadtverwüsters mit der Welt des Pontos vollziehen sich Abkehr vom düster glänzenden Ideal der Vergangenheit und Geburt des neuen Menschen, dessen Sehnsucht auf das bürgerliche Glück gesicherter Existenz im Genuß des heimischen Besitzes gerichtet ist. Dies Glück profiliert sich an den Schrecknissen und Verlockungen der unheimlichen Ferne, in der es Odysseus als Folge der Expedition gegen Troja umhertreibt. Der Pontos fungiert als geographisches Korrelat der menschlichen Natur, die in ihm auf die Probe ihrer Beherrschtheit und Standfestigkeit in der Verfolgung des Zieles gestellt wird. Die Abenteuer der Apologe illustrieren das Urverhältnis von Natur und Kultur: diese kann jene nie endgültig überwinden, sondern muß ihr immer aufs neue abgerungen und abgelistet werden. Kirke verfällt durch die Resistenz des einzigartigen Gastes keineswegs der Vernichtung, nicht von seiner und nicht von ihrer eigenen Hand; sie ist keine Sphinx, die des Rätsels Lösung nicht überlebt, kein Rumpelstilzchen, das sich selber entzweireißt - das Epos kündigt die gängige Logik des Märchens. Selbst dem seines Auges beraubten Polyphem eröffnete es die Aussicht, daß sein Vater Poseidon ihn heilen werde 50, und an den Sirenen wird der Lauschende vorüberfahren, ohne an ihrer bedrohlichen Existenz etwas zu ändern 51. Odysseus ist weder kultureller Missionar des Pontos noch finaler Liquidator seiner Schrecken und Zauber; die Welt, die er erfährt, bleibt als letztlich unüberwundenes Horrendum bestehen, warnende Negativität der Heimat, die er nur durch listig-reflektorische Kontrolle der verführerischen Natur, des Pontos in ihm selbst, oder simple, die unbezwingliche Überlegenheit der exotischen Mächte anerkennende Flucht gewinnen kann. Mit der Unabschaffbarkeit der pontischen Sphäre, der äußeren wie der inneren, verweist die Odyssee den Menschen auf die unausgesetzte Notwendigkeit seiner Kulturarbeit und den wahren Sinn seines Daseins: auf heimischer Erde, in der genügenden Fülle des ererbten Besitzes, ohne Gelüst nach Eroberung und Abenteuer, in friedlichem Glück zu leben bis zum altersbedingten Entschlafen. Kirke offeriert die Lust, mit deren Verheißung sie bezauberte, um die mangelnde Standhaftigkeit gegen sie triumphierend zu bestrafen (333 ff.). Odysseus’ mißtrauische Furcht, sein Bedürfnis nach Rückversicherung, in der Hermes-Rede vorweggenommen (299-301), demonstriert die nach wie vor machtvolle, nicht wirklich erschütterte Position der «schrecklichen Göttin», von deren Gunst die Erlösung der Gefährten abhängt und die, eine Daimon der Sexualität, mit Aphrodite geglichen, das ungebrochene Vermögen besitzt, so erschöpfend zu beglücken, daß der Akt einer Entmannung gleichkommt 52 und der Held für immer zum kläglichen Träger eines Moly wird. Das Epos erweist der pontischen Gottheit die Reverenz, die der Bedeutung gebührt, die es ihr im Rahmen der Apologe verliehen hat. Die ihr übertragene poetische Repräsentanz der Sexualität begründet ihre letztliche Unbesieglichkeit und erklärt ihr ambivalentes Wesen, Bedrohung und Beglückung zu sein, Schaden- und Segenzauber zu üben, schwarze Magie und weiße. Odysseus soll, nach bestandener Versuchung, die andere Seite des zauberischen Weibes erfahren und eine Gastfreundschaft genießen, deren erotischer Charakter ihn ein volles Jahr in ihren Bann schlagen wird. Voraussetzung dieser Intention der Dichtung ist das hohe Niveau seiner Wirtin, das von vornherein in der nobel-kultivierten Beschaffenheit ihres gutsherrlichen Domizils sichtbar 50 51 52
Od. 9.520. Od. 12.166 ff. aœnh¬nvr (301 und 341) bedeutet «impotent» (vgl. Hesiod, Erga 751); Beck (wie Anm. 25), 10 spricht von Kastrationsangst des Odysseus.
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war. Wenn Kirke der Forderung nachkommt, den Schwur zu tun (345 f.), die, obgleich vermutlich nicht einmal mehr nötig, ihre ungeschmälerte Machtposition bestätigt und respektiert, trifft sie sich mit dem Helden auf der Ebene seiner Kultur, die den Eid als zivilisiertes Gegenstück zu magischer Praktik benutzt. Bannend 53 wie Magie, aber Produkt freien Willens und bewußter Entscheidung, beruht er auf der Anerkennung einer verbindlichen Moral und dem Glauben an eine übergeordnete Instanz 54, die als Zeugin und Hüterin des mit ihm gesetzten Rechts seine Einhaltung überwacht. Kirkes ohne Widerstreben vollzogene Integration in die kulturelle Welt ihres Gastes macht den Weg zur Versöhnung von Trieb und Reflexion frei, die auf ihrem Lager sich ereignet. Odysseus fällt zu, was er beherrscht sich versagte - weil er es sich versagte, fällt es ihm zu. Der Basileus, der erotischen Zuwendung einer Göttin gewürdigt, beginnt den Lohn seiner Aristie zu ernten, die das Kirke-Abenteuer ist und die seine in der Kyklopie ramponierte Herrscherlegitimation glänzend restauriert. Die ausführlich und unter Aufbietung des traditionellen Formelmaterials geschilderte Szenerie von Bad und Mahl (348-73) taucht ihn nicht nur vollends in die vertraute aristokratische Atmosphäre seiner Kultur ein, sie markiert auch den Abschluß einer Leidensetappe und den Übergang in eine Phase von Erholung und Neubeginn. Von nun an wird er nicht mehr als ruhmsüchtiger Hasardeur, der die historische Abgelebtheit vergangener Heroik noch nicht begriffen hat, seinen Nostos aufs Spiel setzen, sondern überlegt, von der als Helfergottheit gewonnenen Kirke instruiert, mit duldender Anerkennung der pontischen Mächte dem Fluch des Kyklopen und dem Zorn Poseidons zu entkommen suchen, bis er das Glück erfährt, die Heimaterde unter seinen Füßen zu fühlen. Die Aristie vollendet sich erst in der Lösung der Gefährten aus dem Bann. Das Bild des bekümmert und in sich gekehrt Dasitzenden (373 ff.), dem der Schmaus nicht behagen will, manifestiert augenfällig das wiedererlangte Verantwortungsbewußtsein für seine Leute, das ihm in der Kyklopie schuldhaft abhanden gekommen war. Bittend, nicht fordernd, demütig fast, mit der unwiderstehlichen Beispielhaftigkeit humaner Gesinnung, die an die kulturelle Ebenbürtigkeit des Gegenübers appelliert, trägt Odysseus sein Anliegen vor (383 ff.), das ihm Kirke, bezwungen von einem mächtigeren Zauber als dem ihren und von einer dem gezogenen Schwert überlegenen Gewalt, wortlos und ohne Umstände erfüllt. Wie zum Abschied von ihrer verächtlichen Gestalt wirft das Epos einen humoristischen Blick auf die schweinerne Mannschaft, die, in Reih und Glied aufgestellt, durch ein verständlicherweise in Salbenform appliziertes Pharmakon rückverwandelt wird (391 ff.): was bei der Metamorphose am Widerstand der zahlreichen Opfer hätte scheitern müssen, ersetzt hier die erneute Verabreichung eines Trankes, die ihrerseits grotesk gewesen wäre, und da die Rhabdos demagisiert ist, blieb dem Dichter für den märchenhaften Abschluß seiner Verwandlungsgeschichte kaum eine andere Lösung übrig. In der Verjüngung der Rückverwandelten (39Sf.) spiegelt sich die Verwandlung des Schadenzaubers selber, der zum Segenzauber geworden ist; auch die Gefährten werden belohnt - um der Aristie ihres Königs willen, nach dem als ihrem einzigen Retter sie, wie der Text mit der Vokabel
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Zur etymologischen Zusammengehörigkeit von oÕràow und eÕràow vgl. H. Frisk, Griechisches etymologisches Wörterbuch. Heidelberg 1970, s. vv. Der Hinweis auf sie fehlt 343, ist aber in der Rede des Hermes vorweggenommen ( maàa¬rvn ).
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i«mero¬eiw (398) notiert 55, in ihrem Schweinezustand ein Verlangen trugen, das sich nun in
nachträglicher Klage löst. Ein Jahr sybaritischen Verliegens bricht an in Kirkes noblem Wohnsitz, der zum veritablen Freudenhaus wird. Die Meuterei des Unterführers Eurylochos (429 ff.), die am zurückgewonnenen Vertrauen der Mannschaft zu Odysseus sang- und klanglos scheitert und die vollständige Rehabilitation des angestammten Basileus demonstriert, setzt das Siegel unter dessen Aristie, die dem pontischen Zauber mit der Magie der Reflexion begegnete und das Tor zur Heimat offenhielt. An dem ausgedehnten Urlaub von den Leiden des Nostos, dem vollen Jahr der Lust und Festesfreude aristokratischen Komments, das die kluge, ihrer Ideologie gemäße Tatkraft des Helden belohnt, exemplifiziert die Odyssee ihre Moral: daß nur sich gehen lassen darf, wer sich beherrschen kann.
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Zur Auffälligkeit des Attributs i«mero¬eiw bei go¬ow vgl. Beck (wie Anm. 25), 21, Anm. 1.
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Literarische Konstruktionen von autonomı´a bei Herodot und Aristophanes Die folgenden Überlegungen beschäftigen sich mit mehreren disparaten und doch miteinander verbundenen Fragen. 1 Ihr Ausgangspunkt war die Beobachtung einiger Ähnlichkeiten in den Darstellungen des persischen Fürsten Otanes und des samischen Tyrannen Maiandrios im 3. Buche der Historien Herodots einerseits, des privaten Friedensschlusses des attischen Bauern Dikaiopolis mit Sparta in Aristophanes’ Acharnern andererseits. Die Untersuchung dieser Analogien führte mich zu der Annahme, diese drei Texte verbinde das gemeinsame Motiv der Auseinandersetzung mit einem virulenten Problem der innergriechischen politischen Debatte der 20er Jahre des 5. Jhds., die die Veröffentlichungen jener Werke erlebten: die Diskussion um den Autonomie-Status der Bündnispartner im delisch-attischen Seebund gegenüber der Hegemonialmacht Athen. In den folgenden sechs Abschnitten möchte ich zwei Thesen unterschiedlicher Persuasivität vertreten. Zum einen läßt es sich in hohem Maße plausibel machen, daß diesen drei Texten tatsächlich ein solches gemeinsames politisches Thema zugrundeliegt (I-III). Unabhängig davon lassen sich aber auch einige Gründe für die Vermutung namhaft machen, daß Aristophanes für die Konstruktion seines Plots vielleicht sogar unmittelbar auf jene Herodoteischen Passagen zurückgegriffen hat (IV-VI); über die Eruierung von Wahrscheinlichkeiten läßt sich hier, wie fast immer beim Vorliegen subtilerer Formen von Intertextualität, gleichwohl nicht hinausgelangen.
I. Politisch relevant wurde der Begriff der ayœtonomi¬a möglicherweise seit der Mitte der 60er Jahre des 5. Jhdts., als Athen erstmals begann, den Zusammenhalt der Delischen Liga durch den Einsatz militärischer Gewalt zu sichern, so im Falle der Inseln Naxos und später Thasos. 2 Der Terminus selbst erfuhr allerdings im 5. Jhdt., wie es scheint, nie eine staatsrechtlich verbindliche Definition; die vorhandenen Quellen bezeugen eine solche erstmals in den Statuten des zweiten Seebundes, also in den 70er Jahren des 4. Jhdts. Soweit es sich aus den Verwendungen des Begriffs im einzelnen erschließen läßt, dürfte der Erhalt der Autonomie für ein Staatswesen die Möglichkeit bedeutet haben, gegenüber 1
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Ältere Fassungen dieses Artikels habe ich an den Universitäten Münster und Greifswald vorgetragen und danke den Diskussionsteilnehmern für ihre förderlichen Hinweise. Naxos war nach Ausweis von Thuk. I,98,4 der erste Fall einer athenischen Rechtsübertretung gegen einen Bundesgenossen: prv¬th te ayÕth po¬liw jymmaxi¡w para¡ to¡ àauesthào¡w eœdoylv¬uh. Vgl. hierzu und zum folgenden grundlegend M. Ostwald, Autonomia: Its Genesis and Early History, American Classical Studies 11, 1982; Th. Pistorius, Hegemoniestreben und Autonomiesicherung in der griechischen Vertragspolitik klassischer und hellenistischer Zeit, Frankfurt a. M. u. a. 1985, insbes. 155 ff.
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stärkeren Mächten ein garantiertes Minimum an politischer, wirtschaftlicher und militärischer Selbstbestimmung und eine zumindest formale Gleichrangigkeit zu wahren. 3 Abzugrenzen ist dieses Konzept zum einen gegen eœleyueri¬a und wohl auch gegen h«gemoni¬a, die die Wahrung von Selbständigkeit an ausreichende eigene Stärke und an ein bestimmtes Maß an Autarkie knüpfen, zum anderen gegen eine völlige Abhängigkeit, doylei¬a. 4 Die Auslegung, was genau zur Sicherung der Autonomie ausreicht, und damit die definitorische Weite des Begriffs, schwankt und führt daher in den überlieferten Dokumenten meistens zu einer Präzisierung des Einzelfalls: in Frage kommen die Existenz einer Flotte, das Bestehen befestigter Grenzen (z. B. Stadtmauern), die freie Wahl der Staatsform und der damit verbundenen no´moi, sowie eine unbeeinflußte Judikative. Hingegen hängt autonomı´a nicht an der Tributleistung oder der Stellung von Schiffskontingenten seitens der Bündner, da Thuk. I,97,1 sie trotz dieser Verpflichtungen als «anfangs autonom» bezeichnet. 5 Der Status der Autonomie wird grundsätzlich von außen zugebilligt und also, mit welchen Einschränkungen und mit welcher Sicherung von Kontinuität auch immer, garantiert; entsprechend ist ein militärischer oder administrativer Eingriff von außen als Durchbrechung der Autonomie zu verstehen: 6 ein besonders drastisches Beispiel ist die brutale Niederwerfung des bedeutenden Bündnispartners Mytilene 428/27. Solche Eingriffe wurden durch den Abfall einzelner Bündner provoziert, der wiederum in deren finanzieller und militärischer Belastung begründet war. 7 Während der Begriff autonomı´a noch im dritten Viertel des 5. Jhdts. in athenischen Quellen eher pejorativ verwendet worden zu sein scheint, änderte sich das im Verlauf der 20er Jahre, als Athen zunehmend Schwierigkeiten hatte, seine Bündner auf Linie zu halten und zunehmend mit der Notwendigkeit konfrontiert wurde, anstatt mit militärischen Lösungen mit politischen Zugeständnisse zu operieren. ‹Autonomı´a› avancierte in dieser Zeit geradezu zu einem «antiathenischen Schlagwort» 8, wie beispielsweise die provokative spartanische Forderung kurz vor Kriegsausbruch zeigt, die Athener sollten zur Friedenswahrung allen Verbündeten die Autonomie gewähren (Thuk. I,139,3).
II. Während des Ägyptenfeldzuges des persischen Großkönigs Kambyses hatten zwei Angehörige des Stammes der Mager den Thron okkupiert. Als dies nach dem Tod des Kambyses 3
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Vgl. Thuk. I,97,1, wo ayœtono¬mvn unmittelbar mit aœpo¡ àoinv˜ n jyno¬dvn boyleyo¬ntvn verbunden ist, sowie Thuk. III,10,4: àai¡ me¬xri me¡n aœpo¡ toy˜ isoy h«goy˜ nto, prouy¬mvw ei«po¬meua ... Vgl. Ostwald (o. Anm. 2) 14. Zum Begriff der doylei¬a in diesem Zusammenhang vgl. auch o. Anm. 2. Die terminologischen Kategorien sind gut ersichtlich aus Thuk. III,10,5: ... oi« jy¬mmaxoi eœdoylv¬uhsan plh¡n h«mv˜ n àai¡ Xi¬vn· h«mei˜w de¡ ayœto¬nomoi dh¡ ontew àai¡ eœley¬ueroi tì˜ oœno¬mati jynestratey¬samen. àai¡ pistoy¡w oyœàe¬ti eixomen h«gemo¬naw ÅAuhnai¬oyw, ... Die erzwungene Zahlung von Tributen ist aber möglicherweise ausreichend, um einem Staat die eœleyueri¬a abzuerkennen: vgl. Hdt. 1,6,2 f.: oy√tow o« Kroi˜sow barba¬rvn prv˜ tow tv˜ n h«mei˜w idmen toy¡w me¡n àatestre¬cato ¤Ellh¬nvn eœw fo¬roy aœpagvgh¬n ... pro¡ de¡ th˜ w Kroi¬soy aœrxh˜ w (vgl. Thuk. I,96,2: àai¡ ¤Ellhnotami¬ai to¬te prv˜ ton ÅAuhnai¬oiw àate¬sth aœrxh¬, ...) pa¬ntew Ellhnew hÓsan eœley¬ueroi. Vgl. erneut Thuk. I,97,1: h«goy¬menoi de¡ ayœtono¬mvn to¡ prv˜ ton tv˜ n jymma¬xvn àai¡ aœpo¡ àoinv˜ n jyno¬dvn boyleyo¬ntvn tosa¬de eœph˜ luon pole¬mì te àai¡ diaxeiri¬sei pragma¬tvn ... Vgl. Thuk. I,99,1. Vgl. W. Gawantka, Rez. zu Ostwald (s. o. Anm. 2), Gnomon 57, 1985, 563-565, hier: 564. Seine Einwände gegen Ostwalds Thesen berühren das hier Gesagte nicht.
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ruchbar wurde, setzte sich der Adlige Otanes 9 an die Spitze einer Verschwörung von sechs gleichgesinnten Aristokraten, zu denen sich der spätere Großkönig Dareios gesellte. Nach dem Erfolg ihres Staatsstreiches diskutierten die Sieben über den Nachfolger auf dem Thron und in diesem Zusammenhang auch über die beste zu wählende Verfassung. Otanes plädierte für die Einführung der Demokratie, Megabyxos favorisierte eine Aristokratie; Dareios setzte sich jedoch mit der Forderung nach einer Monarchie durch. Otanes erklärte darauf, weder herrschen noch beherrscht werden zu wollen, und erbat als Belohnung für sich und seine Nachkommen das Privileg politischer Freiheit. Dieses Recht, so Herodot (3,83,3), sei noch zu seiner Zeit in Kraft. Bald darauf sendet Dareios Otanes als Kommandeur eines persischen Heeres in einer delikaten politisch-militärischen Angelegenheit aus. Er soll Solyson, einen samischen Günstling des Großkönigs und Bruder des früheren Tyrannen von Samos, Polykrates, wieder als Regenten etablieren, allerdings ohne den Einsatz militärischer Maßnahmen, und dafür den augenblicklich regierenden Maiandrios absetzen, einen früheren Helfer des Polykrates (3,139 ff.). Maiandrios 10 wird dabei von Herodot, wenn auch nur implizit, als Pendant des Otanes geschildert (3,142-149). 11 Bei der Übernahme des Tyrannenamtes hatte er die besten Absichten gehabt, vollständige Gerechtigkeit walten zu lassen: er wollte den Bürgern von Samos die Freiheit in Gestalt der Demokratie ( iœsonomi¬h ) schenken, für sich selbst verlangte er nur eine hohe Geldsumme aus dem Staatsschatz sowie das Priesteramt für sich und seine Nachkommen im Kult und im (von ihm kurz zuvor errichteten) Temenos des Zeus Eleutherios (3,142,1-4): sowohl die Absicht, eine Demokratie einzurichten, als auch die Ausgrenzung eines weitgehend unabhängigen Terrains für sich selbst erinnern an Otanes. Anders als dieser vermag Maiandrios jedoch aufgrund des Widerstandes der politischen Elite von Samos seine Pläne nicht zu verwirklichen, sieht sich vielmehr zum Rückzug auf die Akropolis und zu tyrannischen Zwangsmaßnahmen genötigt. Den gerade in dieser Situation anrückenden Persern stellt sich niemand entgegen, ja Maiandrios ist sogar bereit, Thron und Land zu räumen. Allerdings muß er sich hierfür erst mit seinem Bruder Charileos auseinandersetzen, der ihm die Schande einer solchen Nachgiebigkeit vorwirft. Maiandrios, der ohnehin niemandem anderen den Thron gönnt, veranlaßt ihn zu einem in seinen Augen a priori zum Scheitern verurteilten Angriff gegen die Perser; Otanes läßt daraufhin gegen den Befehl des Dareios die ganze Inselbevölkerung massakrieren, besiedelt sie aber später wieder neu, während Maiandrios nach Sparta flüchtet, dort aber trotz seiner Bestechungsversuche keine Verbündeten findet. Wenn nun im folgenden gefragt werden soll, ob Herodots Darstellung der Vorgänge um Otanes und um Maiandrios unter dem Aspekt der Autonomiedebatte sinnstiftend sein 9
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Zu Otanes ist mir einschlägige Literatur nicht bekannt geworden, er wird in den Kommentaren und in der Forschung stets nur am Rande erwähnt; vgl. immerhin P. Briant, He´rodote et la socie´te´ perse, in: G. Nenci, O. Reverdin (Hgg.), He´rodote et les peuples non grecs, Vandœuvres / Genf 1990, 69-113. Vgl. zu ihm insbes. J. Roisman, Maiandrios of Samos, Historia 34, 1985, 257-277. Generell behandelt Herodot die politische Geschichte von Persien und Samos zeitweilig in Engführung. Ihre Verbindung über die Figur des Otanes gehört dabei zu den auffälligeren Vernetzungsverfahren; vgl. S. West, Sophocles’ Antigone and Herodotus Book Three, in: J. Griffin (Hg.), Sophocles Revisited (FS H. Lloyd-Jones), Oxford 1999, 109-136, hier 131 f. Der Grund dafür war, so vermutet West, das besondere Interesse des zeitgenössischen Athener Publikums für die Angelegenheiten seines Bündnispartners und Gegners Samos. Zur hiermit verbundenen Frage nach Zeitpunkt und Modus der Publikation der Historien vgl. unten S. 22 f.
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konnte, so müssen wir zunächst zusehen, ob es für die damaligen Rezipienten überhaupt vorstellbar war, das eigentliche tertium comparationis zwischen Maiandrios und Otanes - die Etablierung einer politisch ‹unabhängigen› Privatzone - unter das rubrum ‹Autonomie› zu subsumieren. Hier bewegen wir uns auf einigermaßen festem Boden. Denn eine Verwendung des Autonomie-Begriffs in der Antigone des Sophokles zeigt, welcher Abstraktionsgrad und welche terminologische Reichweite hier möglich waren. Gleichwohl ist Vorsicht geboten, stellt dieser Passus doch unseren ersten sicher datierbaren Beleg eines ayœtonomTerminus dar, da die Verwendung eines solchen Begriffs im athenisch-spartanischen Staatsvertrag von 446 nur bei Thukydides, nicht aber inschriftlich bezeugt ist. 12 Im folgenden kann es daher nur darum gehen, zu zeigen, daß sich hier zu den Begriffsimplikationen der 20er Jahre kein Widerspruch auftut, diese vielmehr in wichtigen Aspekten umgesetzt werden. Ebenso beweist die Antigone-Stelle, daß der Begriff auch außerhalb eines staatsrechtlichen Kontextes, wenngleich vielleicht nur metaphorisch, verwendet werden konnte. Der Gebrauch gerade in diesem Drama ist nicht zuletzt deshalb von besonderem Interesse, weil die Antigone im unmittelbaren zeitlichen Kontext des Samischen Krieges aufgeführt wurde, nämlich entweder 442 oder, wenn man C. W. Müllers Spätansatz folgt, sogar 440, mithin zu einem Zeitpunkt, als die autonomı´a der Insel auf dem Spiel stand. 13 In Ant. 817-822 tröstet der Chor die soeben von Kreon zum Tod durch Einkerkerung verurteilte Protagonistin: sei ihr Tod denn nicht von Ruhm und Lob begleitet? Müsse sie doch weder dahinsiechen noch gewaltsam umkommen, sondern werde vielmehr ayœto¬nomow zv˜ sa mo¬nh dh / unatv˜ n, wahrhaftig allein von allen Sterblichen in Autonomie gelebt habend, in den Hades hinabgehen (821 f.). 14 Widersprüchlich scheint zwar zunächst die Bewertung zu sein, daß Antigone «Ruhm und Preis» verdiene (817): wer sollte ihr die zukommen lassen, wo sie sich doch selbst außerhalb der Gemeinschaft derer gestellt hat, die eine derartige Anerkennung vergeben könnten? 15 Entsprechend formuliert Antigone auch 12
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Thuk. I,67,2: hier geht es um die Autonomie der Aigineten, so daß möglicherweise sogar nicht der Vertrag von 446 gemeint ist, sondern derjenige von 459, mit dem Aigina seinen Beitritt zum Seebund erklärte; vgl. A.W. Gomme, A Historical Commentary on Thucydides, vol. I, Oxford 1959, 225. Vgl. Carl Werner Müller, Zur Datierung des sophokleischen Ödipus, Mainz 1984. Zu Samos s. u. S. 32 f. Ich ziehe es mit J.C. Kamerbeek, The Plays of Sophocles. Commentaries III: The Antigone, Leiden 1978, 148 vor, 817 f. als Frage und das Folgende als erklärendes Statement aufzufassen; ob man in 817 oyœàoy˜ n oder oyàoyn liest, ändert dann nur die Intensität der Frage, etwa im Sinne einer Gegenüberstellung von «Gehst du nicht ...?» und «Ja, gehst du denn nicht ...?». Ich halte es für unwahrscheinlich, daß hier ayœto¬nomow einerseits als Synonym für ayœua¬dhw (vgl. 1028) stehen, andererseits «nach eigener Verordnung, d. h. lebend in den Hades zu gehen» bedeuten soll, wie G. Müller, Antigone, Heidelberg 1967, 185 will; gegen letzteres, das geradezu zynisch und jedenfalls mehr als prätentiös formuliert wäre, bereits R. Jebb, Sophocles. The Plays and Fragments. Part III: The Antigone, Amsterdam 31971, 151. Interpunktion, Akzentuierung des satzeinleitenden oyœàoy˜ n / oyàoyn - s. auch die vorangehende Anmerkung - sowie die Zuordnung von zv˜ sa und mo¬nh dh¡ sind umstritten. Der Gedanke, der hier zugrunde liegt, ist aber doch der folgende: 817-822 bildet eine zweiteilige, asyndetisch gefügte Parataxe: der erste beinhaltet einen Trost (wenn sie auch ins Grab geht, so doch mit Ruhm und Lob: 817 f.), der zweite hebt die Besonderheit dieses Todes hervor: nicht Krankheit, nicht gewaltsamer Tod sind es, die sie sterben lassen - und da sie eine junge Frau ist, fällt auch ein dritter denkbarer Grund, das Alter, implicite weg -, so daß wir in 821 nach aœll¢ auf jeden Fall den eigentlichen Grund erwarten müssen. Daher kann man nicht zv˜ sa zu mo¬nh ziehen und von ayœto¬nomow trennen: zu behaupten, daß Antigone als einzige unter den Sterblichen lebend in den Hades geht, liefert ja keinen Grund für den Tod, sondern ‹nur› eine Beschreibung der Todesart, ganz abgesehen davon, daß dies nur eine Wiederholung dessen wäre, was Antigone zuvor gerade selbst gesagt hatte (810-813). Tatsächlich muß daher ayœto¬nomow zv˜ sa mo¬nh dh¡ - gegen die Auffassung von u. a. Müller, Jebb, Schadewaldt (Kamer-
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selbst (850-852), daß sie weder mit den Lebenden noch mit den Toten Gemeinschaft besitze ( me¬toiàow ). 16 Dennoch ist der Trost des Chores ernstgemeint 17 und wird in 834838 erklärt: daß sie das Schicksal der von den Göttern stammenden Niobe teile, verschaffe ihr auch im Tode hohen Ruhm. 18 Gleichwohl faßt Antigone, wie ihre bittere Reaktion zeigt, dieses Bemühen um Heroisierung als Zynismus auf: oimoi gelv˜ mai (839). In der Tat ist eine ausschließlich positive Wertung Antigones in diesen Worten des Chores wohl nicht intendiert, wenn man seine spätere Kritik an ihrer Selbstüberhebung in 853-856 und 872-875 (wo die Formulierung ayœto¬gnvtow ... oœrga¬ (875) mit Blick auf die frühere Stelle gewählt zu sein scheint) bedenkt. Zudem wird Antigones Tat vom Chor ja schon 796 ff. als ein Verlassen der Rechtsordnung angesehen ( iÕmerow ... tv˜ n mega¬lvn pa¬redrow eœn aœrxai˜w uesmv˜ n ), 19 das in eine perverse Welt mündet: die Grabkammer wird ihr Brautgemach sein (801-816). Was ergibt sich aus alldem für unsere Fragestellung? Was genau bedeutet es, daß Antigone als ayœto¬nomow bezeichnet und also mit einem Begriff charakterisiert wird, der für uns ausschließlich staatsrechtlich relevant zu sein scheint? Antigone ist «autonom» in einem ganz bestimmten Sinne. Sie hat ja nicht einfach die Gesetze selbst erlassen, lebt nicht einfach «nach ihren eigenen Gesetzen», sondern nach den uev˜ n no¬mima (454 f.): sie hat also in freier Wahl festgelegt, nach welchem Gesetz sie leben möchte. Dadurch, daß es sich um ein Gesetz handelt, das überpersönlich verbürgt ist, entgeht sie dem Vorwurf der Selbstüberschätzung. Daß sie sich das Recht nimmt, den (als solchen legitimen) Verhaltenscodex, nach dem sie leben will, auch gegen die Gesellschaft, in der sie lebt, selbst zu wählen, erhebt sie - wie die Tatsache zeigt, daß der Chor ihr mit àle¬ow und epainow (817) quasi epischen Ruhm verleiht - in den Status einer Heroine; man vergleiche beispielsweise den Achill der Ilias, der den Verhaltenscodex der aristokratischen timh¬ in freier Entscheidung höher setzt als den Gehorsam gegenüber dem Heerführer Agamemnon und das Wohl der übrigen Griechen. Die Gefahr einer solchen heroischen Autonomie besteht in der Vereinzelung, 20 im Falle der Antigone sogar in besonderem Maße: denn anders als Achill ist sie nicht stark genug, um den selbstgewählten Status fremden Ansprüchen gegenüber zu behaupten. Antigone bezahlt ihren Heroismus des Autonomiewollens mit dem Tod, damit, daß sie der Vorzüge, auf die sie nach dem no´mos der Polis einen Anspruch hat - die Heirat -, nur in der pervertierten Form einer Hochzeit mit Hades teilhaftig wird.
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beeks Sicht wird mir nicht recht klar), aber bspw. mit M. Griffith, Sophocles. Antigone, Cambridge 1999 - , zusammengehalten werden: diese ‹Todesart› entspricht dem Suizid als einziger noch verbleibender Möglichkeit, zu Tode zu kommen. Dies ergibt in der Tat einen Sinn, stellt doch der Selbstmord auch nach antiker Auffassung eine per se nicht zu billigende Art und Weise dar, sich dem Leben und der Umwelt zu entziehen; vgl. R. Hirzel, Der Selbstmord, ARW 11, 1908, 44-72, sowie A.J.L van Hoof, From Autothanasia to suicide. Self-killing in Classical Antiquity, London/New York 1990, 181-197. Er bietet die einzige Möglichkeit, sich dem no´mos grundsätzlich und ganz zu entziehen, bedeutet aber zugleich die Unmöglichkeit, noch in dieser Welt zu verweilen. Mit oyœ zv˜ sin, oyœ uanoy˜ sin (852) dürfte 821 f. semantisch aufgegriffen sein; vgl. u. Anm. 18. Anders Griffith (Anm. 15) 268. Mit zv˜ san und uanoy˜ san (838) könnte erneut auf 821 f. zurückverwiesen sein; vgl. o. Anm. 16. Die Formulierung pa¬redrow eœn aœrxai˜w ist aus Gründen der metrischen Responsion verdächtig, wie die Kommentare ad loc. weitgehend übereinstimmend festhalten. Aber die Fortsetzung in 802 f. - ny˜ n d¢ hdh Ågv¡ àayœto¡w uesmv˜ n ejv fe¬romai - macht in jedem Fall klar, daß auch pa¬redrow, wollte man es im Text belassen, zumindest als Euphemismus angesehen werden müßte. Dies scheint mir Sophokles auch mit dem unauffälligen Wortspiel auto´nomos - mo´ne (821) anzudeuten, das die beiden Begriffe klanglich miteinander koppelt.
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Die unzugängliche, für ewig intakte Grabkammer als Brautgemach wird zum nachgerade zynischen Symbol ihrer autonomen Integrität. 21 Die Polis Theben bezahlt dagegen ihre unnachgiebige Härte diesem vertretbaren und zumindest partiell legitimen Autonomiewollen gegenüber mit dem Zusammenbruch der herrschenden Dynastie. Denn es ist der mächtige und scheinbar doch nomoskonforme Kreon, der am Ende als der eigentliche Verlierer dasteht. In dieser Art von Darstellung konnte in den bündnispolitischen Umständen am Ende der 40er Jahre eine Warnung, aber auch ein Anstoß für die Athener Bürger liegen, diese Umstände zu reflektieren. Flexibler Umgang mit und Respekt vor den no´moi der anderen war gefragt. Sophokles’ spezifische übertragene Verwendungsweise von autonomı´a berechtigt, auch andere individuelle Selbstausgrenzungsversuche unter diesem Blickwinkel zu betrachten. 22 Wenn Maiandrios im Vorfeld seiner Auseinandersetzung mit den Samiern versucht, ein te´menos gerade des Zeus Eleuthereus als Refugium für sich und die Seinen auf Dauer zu sichern und sich zudem eine vom samischen Volk garantierte wirtschaftliche Autarkie in Gestalt einer Leibrente zu verschaffen, sind hiermit zumindest einige Anknüpfungspunkte an jenes Konzept vorhanden (ohne daß man sich auf Herodots eigene Intentionen festlegen dürfte). Wesentlich deutlicher jedoch zieht der Historiker die Verbindungslinien im Falle des Otanes. Der persische Fürst bestimmte ja als Grundlage der Forderung nach Unabhängigkeit seiner oiœài¬h den Rückzug aus Machtverhältnissen jeder Art, in seinen Worten (3,83,2): oyte ga¡r arxein oyte arxesuai eœue¬lv. Damit situiert er sich genau in der Position einer autonomen Polis, die zwar über ausreichende Mittel zur Wahrung ihrer Eigenständigkeit verfügt, jedoch nicht in der Lage ist, anderen gegenüber hegemonial aufzutreten. Das Ergebnis seines politischen Wollens prädiziert Herodot als oiœài¬h diatele¬ei moy¬nh eœleyue¬rh eœoy˜ sa Perse¬vn (3,83,3). Aus griechischer Sicht wirkt diese Bezeichnung des oı´kos des Otanes als ‹frei› übertrieben, wobei sich eine solche Übertreibung natürlich auch der Außergewöhnlichkeit des Phänomens in einem dynastischen Kontext verdanken könnte; sie wird darüber hinaus aber auch durch die folgenden Bemerkungen Herodots relativiert: (a) arxetai tosay˜ ta oÕsa ayœth¡ ue¬lei, (b) no¬moyw oyœà y«perbai¬noysa toy¡w Perse¬vn (3,83,3). Daß Otanes und seine Familie nur nach Maßgabe ihres eigenen Willens Subjekte des Großkönigs sind, zeigt bereits, daß die Bezeichnung ihres Status als eœleyueri¬a nicht emphatisch gemeint sein kann: zwar können sie die Bereiche, in denen sie sich der Macht des Großkönigs fügen, frei wählen, gleichwohl bleiben sie, in welch kleinem Rahmen auch immer, Beherrschte ( arxetai ). Daß sie sich den persischen no´moi fügen, ist ebenfalls ein freiwilliger Akt 23, wobei man hinzufügen könnte, daß sie mit dieser Wahl nichts anderes tun als auch in Zukunft àata¡ ta¡ pa¬tria zu leben: diese Möglichkeit, den Vorgaben des 21
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Eine solche zynischere Interpretation könnte hinzufügen, daß Antigones besondere Todesart unter diesem Blickwinkel geradezu wie eine bösartige Karikatur ihres Unabhängigkeitsstrebens wirkt: lebendig begraben verfügt sie über die territoriale Integrität ihrer Gruft, kann nach ihrem no´mos leben, der ihr vorschreibt, Tote um jeden Preis zu bestatten, und zuletzt wird ihr diese ‹Autonomie› von einer stärkeren Macht auch garantiert. Diese Vorgehensweise empfiehlt sich auch ganz unabhängig davon, daß man seit eh und je mehr oder weniger intensive auch literarische Relationen zwischen Herodot und Sophokles (vor allem der Antigone) gesehen hat; vgl. zuletzt West (Anm. 11), die in der Antigone zahlreiche Querbezüge gerade zu Herodots Schilderung der persischen Ereignisse um Kambyses und Dareios sieht. Die in den meisten Übersetzungen gebotene Übertragung mit finalem «solange nicht» o. ä. trifft m. E. nicht die Aussage des griechischen Textes, der hier nicht mh¬, sondern oyœ hat: gemeint muß daher sein: ohne daß es / wobei es nicht die Gesetze der Perser übertritt.
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eigenen Herkommens zu folgen, ist aber gerade eine elementare Voraussetzung von autonomı´a, 24 während die Koinzidenz dieses ‹Herkommens› mit den persischen no´moi nur akzidentiellen Charakter besitzt. Kurz: Herodot scheint mir hier, ohne den (ja nicht eigentlich adäquaten und auch anachronistischen) Begriff selbst zu verwenden, aus der Sicht des letzten Viertels des 5. Jhdts. eine funktionierende autonomı´a zu beschreiben, und dies um so mehr, als Otanes, wie gesagt, auf die Duldung seiner Privatzone durch den persischen Großkönig letztlich angewiesen war. Wenn Herodot abschließend hervorhebt, daß das Haus des Otanes bis in die Gegenwart, mithin seit rund 100 Jahren, diesen Status genieße, so betont er das in der Tat auffällige Moment, daß sich auch Dareios’ Nachfolger, die doch Otanes nicht mehr im gleichen Maße persönlich verpflichtet waren, an die Garantierung seines Status gebunden fühlten: gerade die Tolerierung von außen aber ist für den Bestand einer autonomı´a ja von besonderer Bedeutung, zugleich ihr am stärksten gefährdeter und Veränderungen ausgesetzter Faktor. Liest man diese Kapitel aus Herodots Perserlogos auf die beschriebene Art und Weise, dann hätte der Historiker die in der gesamten Episode ohnehin schon liegende Provokation - die ‹Gründungsurkunde› der Demokratie verdankt sich einem persischen Potentaten noch punktgenauer eingesetzt. Denn er führte einem athenischen Publikum vor, wie reibungslos solche Abgrenzungsprozesse sogar innerhalb eines (aus griechischer Sicht) totalitären und zudem barbarischen Staatswesens, schlimmer noch: beim ‹Erbfeind› funktionieren konnten. Daß die Botschaft auch ankam, ist sehr wahrscheinlich: Herodot hat an vielen Stellen seines Werkes implizite Bezugslinien zwischen dem persischen Reich und dem späteren athenischen Imperium gezogen, das bisweilen geradezu als die eigentliche und vor allem wesensgleiche Nachfolgermacht Persiens erscheint. 25 Die Umkehrung der systempolitischen Verhältnisse tat noch ein übriges: eine dynastische Herrschaftsinstitution wie das persische Großkönigtum hatte über mehrere Generationen hinweg keine Probleme damit, einem demokratischen ‹Ausreißer› einen Autonomiestatus zu gewähren, während die demokratische Polis Athen nicht einmal innerhalb eines Hegemonialbündnisses, das doch die Gleichberechtigung seiner Mitglieder wenigstens in einem bestimmten Maße voraussetzt, 26 zu friedlichen Lösungen in der Lage war. 24 25
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Vgl. Ostwald (o. Anm. 2) 1 ff. Vgl. dazu bspw. M. Ostwald, Herodotus and Athens, ICS 16, 1991, 137-148, der generell ‹Freiheitsliebe› als ein elementares Thema der Historien ansieht (142); ähnlich J. Herington, The Closure of Herodotus’ Histories, ICS 16, 1991, 149-160, hier 155; P.A. Stadter, Herodotus and the Athenian Arche, ASNP 22, 1992, 781-809, J. Moles, Herodotus warns the Athenians, PLLS 9, 1996, 259-284. Überhaupt ist ja die Herodot-Forschung der vergangenen zwei Jahrzehnte zunehmend zu der Auffassung gelangt, daß Herodots Schilderungen fremder Völker und ihrer Verhältnisse untereinander und zu Griechenland als Spiegel der machtpolitischen Verhältnisse zwischen Athen, Sparta und dem Attischen Seebund zur Zeit der Vorkriegsphase und der ersten Jahre des Peloponnesischen Krieges gelesen werden konnten und sollten, und daß Herodot jedenfalls die Abgrenzung von (persischen) Barbaren und Griechen zwar verwendet, jedoch permanent unterläuft: vgl. etwa C. Pelling, East is East and West is West - Or are they?, Histos 1, 1997. Es ist also anzunehmen, daß auch in diesem Falle es für Rezipienten naheliegen konnte, die Verbindung herzustellen, um so mehr, als die Darstellung der Verfassungsdebatte - unabhängig von einer denkbaren historischen Fundierung in einem persischen Kontext (vgl. hierzu F. Gschnitzer, Die sieben Perser und das Königtum des Dareios. Ein Beitrag zur Achaimenidengeschichte und zur Herodotanalyse, Heidelberg 1977) - offenkundig auf ein griechisches Publikum berechnet ist; vgl. bspw. K. Bringmann, Die Verfassungsdebatte bei Herodot 3,80-82 und Dareios’ Aufstieg zur Königsherrschaft, Hermes 104, 1976, 266279. S. auch u. S. 30 und Anm. 52. Vgl. hierzu Pistorius (o. Anm. 2) insbes. 9-19.
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III. Wie die Verwendung des Begriffs auto´nomos bei Sophokles zeigt, hat man jenes Konzept jedoch nicht nur in historiographischen Texten reflektiert, sondern auch in literarischen Werken. Ein weiteres Beispiel hierfür scheinen mir die 425 aufgeführten Acharner des Aristophanes zu sein, in denen die Selbstabgrenzung eines Individuums gegenüber seiner politischen Gemeinschaft ebenfalls eine zentrale Rolle spielt. Der Bauer Dikaiopolis ist des nun schon ins sechste Jahr gehenden Krieges müde, er will nichts als nur auf seinen Acker zurückkehren zu können. Dafür will er in der Volksversammlung werben. Aber die Prytanen lassen ihn nicht zu Wort kommen, ein Friedensangebot der Spartarner wird diskussionlos abgelehnt, eine aus Persien zurückkehrende athenische Gesandtschaft wird, obwohl sie sich offensichtlich nur bereichert hat und zudem vor der Aufführung falscher, nur als Perser verkleideter Zeugen nicht zurückschreckt, zur Bewirtung ins Prytaneion geladen; ja, es wird sogar hingenommen, daß dem Dikaiopolis von thrakischen Söldnern sein Knoblauchvorrat gestohlen wird. Dikaiopolis reißt die Geduld: er schließt durch den Erwerb lakedaimonischen Friedensweines einen Privatfrieden mit Sparta ab, der noch in einer verbalen Auseinandersetzung mit einem Chor von hochbetagten kriegslüsternen Köhlern aus dem attischen Demos Acharnai sowie mit dem athenischen Strategen Lamachos durchgesetzt werden muß. Zu diesem Zwecke bedient sich Dikaiopolis eines bei Euripides entliehenen Kostüms des mythischen Myserkönigs Telephos, in das gekleidet er, voll Vertrauen auf die Macht seiner Argumente, vor den mordlustigen Acharnern eine Friedensrede mit dem Kopf auf einem Hackblock hält. Dann aber kommt er, nach der Choreinlage der Parabase, in den Genuß seines privaten Marktes, der ihm lang entbehrte importierte Köstlichkeiten beschert. Diese Herrlichkeiten ist er allerdings, ebenso wie seinen Friedenswein, mit niemandem zu teilen bereit. Gleichwohl endet die Komödie damit, daß Dikaiopolis auf offizielle Einladung durch den athenischen Dionysospriester am Kannenfest der Anthesterienfeier teilnimmt: bei diesem Wetttrinken siegt er und triumphiert über den gerade verwundet aus einem Scharmützel heimkehrenden Strategen Lamachos. Einen ersten Verweis darauf, daß Aristophanes Dikaiopolis’ privaten Friedensschluß als Etablierung eines autonomen Territoriums präsentieren wollte, könnte man bereits darin sehen, daß in der vorangehenden Gesandtenszene die Athener sich um ein Militärbündnis mit dem Odrysenkönig Sitalkes bemühen (Ach. 141-155), dessen Vater Teres wiederum einen großen Teil Thrakiens, der vorher autonom gewesen war, unter seine Herrschaft gebracht hatte, was unser Zeuge Thukydides gerade in dem Zusammenhang jener auch bei Aristophanes thematisierten Symmachie mit Athen im Jahr 431 erwähnt. 27 Schon hier entsteht also beim Zuschauer der Eindruck eines ‹Gleich und gleich gesellt sich gern›. Wenn es nicht zuletzt die Übergriffe der Vertreter jener ausländischen Hilfstruppen gegen Dikaiopolis im Verlaufe der Volksversammlung sind (Ach. 156-168), die den Protagonisten dazu bringen, seinen Privatfrieden endgültig zu etablieren, dann wird man erst recht geneigt sein, auch diese Aktion als Herstellung eines autonomen Zustandes zu interpretieren. Es kommt hinzu, daß für die einzelnen attischen Siedlungen vor dem Synoikismos
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Thuk. II,29,2: o« de¡ Th¬rhw oy√tow o« toy˜ Sita¬làoy path¡r prv˜ tow ÅOdry¬saiw th¡n mega¬lhn basilei¬an eœpi¡ ple¬on th˜ w allhw Urá¬àhw eœpoi¬hsen∑ poly¡ ga¡r me¬row àai¡ ayœto¬nomo¬n eœsti Uráàv˜ n.
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ebenfalls der Status der autonomı´a durch Thukydides bezeugt wird. 28 Dikaiopolis hat also nicht mehr und nicht weniger getan, als eine (gar nicht so) utopische Frühzeit zu restituieren, wozu dann sowohl seine plötzliche Entrückung aus der Polis in seinen Demos als auch das altertümliche Phallosfest der Ländlichen Dionysien gut paßt, das er nun anstelle der aktuellen Lenäen zu feiern beginnt (Ach. 237 ff.). Dikaiopolis ist mit einem Sprung durch Raum und Zeit in jenen politischen ‹Urzustand› der autonomı´a zurückgekehrt, der nun mit den Verhältnissen der Gegenwart konfrontiert wird. Schon die Tatsache, daß Dikaiopolis von den Spartanern überhaupt als Vertragspartner akzeptiert wird, setzt ja einen solchen autonomen Status stillschweigend voraus. Obendrein verfügt er über ein eigenes, unverletzliches und von außen respektiertes Territorium (besonders klar formuliert in Ach. 719: oÕroi me¡n aœgora˜ w eiœsin oiÕde th˜ w eœmh˜ w ), kann in freier Selbstverfügung Handel treiben, ohne an die von Athen erlassenen Handelsbeschränkungen gebunden zu sein (Ach. 720-726), und publiziert wie eine eigenständige Polis seine zwischenstaatlichen Abkommen inschriftlich (Ach. 727 f.); seine Eigenständigkeit wird von den Großmächten Sparta und Athen toleriert, ja er wird bei der Einladung zur Anthesterienfeier von den athenischen Offiziellen sogar wie ein gleichberechtigter Staatsmann eines anderen Landes behandelt (Ach. 1085-1094), und schließlich ist auch der Versuch des Strategen Lamachos, seinen Status wieder aufzuheben, zum Scheitern verurteilt. Der erwähnte Zeitsprung um einige Wochen zurück, also Dikaiopolis’ vom offiziellen Festkalender abweichende Feier der Ländlichen Dionysien, macht zuletzt ebenfalls deutlich, daß es ihm möglich ist, nach seinem eigenen no´mos zu leben. Zugleich zeigen aber seine Versuche in der Hackblockrede, die Köhler aus Acharnai von seiner Einstellung zu überzeugen, daß er auf Duldung von außen angewiesen ist, also nicht über eigentliche eœleyueri¬a verfügt.
IV. Vermag die obige Analyse der vorgelegten Texte zu überzeugen, so ist damit im schlechtesten Fall gezeigt, daß eine aktuelle politische Debatte sich in unterschiedlicher und jeweils eigenständiger Art und Weise auch im Rahmen einer - weit verstandenen - literarischen Produktion manifestieren konnte. Diese Feststellung kann gerade auch dann Gültigkeit beanspruchen, wenn man, wie es bisweilen geschieht, die Publikation der Historien Herodots erst in die Mitte des vorletzten Jahrzehnts des fünften Jahrhunderts datiert. 29 Wenn jedoch auch bis heute keine Einigkeit darüber herrscht, ab wann die Athener das historische Werk Herodots rezipieren konnten und in welcher Form und in welchem Umfang ihnen die Historien erstmalig präsentiert wurden - in der Datierung schwankt man zwischen dem Zeitraum von 430 bis 426 einerseits und einem Zeitpunkt nach 424 oder bald nach 421, dem Ende des Archidamischen Krieges, andererseits -, 30 so neigt man gegenwärtig doch mehrheitlich zu einer Festlegung auf das erste Lustrum der 20er Jahre. Oft 28 29
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Thuk. II,16,1: tñ˜ te oyÓn eœpi¡ poly¡ àata¡ th¡n xv¬ran ayœtono¬mì oiœàh¬sei metei˜xon oi« ÅAuhnai˜oi. So etwa C. Fornara, Evidence for the Date of Herodotus’ Publication, JHS 91, 1971, 25-34; ders., Herodotus’ knowledge of the Archidamian War, Hermes 109, 1981, 149-156. Vgl. bspw. J. Cobet, Wann wurde Herodots Darstellung der Perserkriege publiziert?, Hermes 105, 1977, 2-27; ders., Philologische Stringenz und die Evidenz für Herodots Publikationsdatum, Athenaeum 65, 1987, 508-511; Fornara (s. o. Anm. 29); D. Sansone, The date of Herodotus’ publication, ICS 10, 1985, 1-9.
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verband man damit allerdings die Vorstellung des Vorliegens einer kompletten schriftlichen Publikation. Es darf jedoch unterdessen als wahrscheinlich gelten, daß es für Herodot in Athen ein kulturelles Umfeld gab, das an die mündliche Darbietung auch von didaktischen Themen in epideiktischer und agonaler Form gewöhnt war: man denke an die Auftritte der Sophisten, die Dramenaufführungen, die zahlreichen Redebeiträge in der Volksversammlung und vor Gericht. 31 Angesichts dessen könnte das Thema im Grunde als erledigt gelten, lassen sich doch werksinterne Widersprüche auf mögliche Diskrepanzen zwischen verschiedenen Abschriften und Fassungen zurückführen. Selbst wenn also die Historien erst nach 421 schriftlich vorgelegen haben sollten, hatten doch interessierte Athener auch vor dem eigentlichen Schwellenjahr der Datierungsdebatte, 425, von Herodots Geschichtsschreibung auf verschiedene Art und Weise gewiß zumindest auszugsweise Kenntnis nehmen können; die Leserschaft für ein Werk von dieser Länge dürfte im ausgehenden 5. Jhdt. ohnehin gering und exklusiv gewesen sein. 32 Daß gerade das Jahr 425 solchermaßen ins Zentrum der Aufmerksamkeit geriet, lag und liegt an der kontroversen Diskussion der Frage, ob Aristophanes in seinen an den Lenäen dieses Jahres aufgeführten Acharnern mehrfach auf die Historien angespielt habe. Dabei darf man es - immer vorausgesetzt, entsprechende Anspielungen wären überhaupt nachweisbar 33 - nicht dabei bewenden lassen, einfach eine Publikation oder eine mündliche Darbietung entsprechender Partien der Historien für das Jahr 426 oder ein wenig früher anzunehmen und Aristophanes dann einen der intellektuellen Mode folgenden Rückgriff auf ein solches aktuelles literarisches Ereignis zu unterstellen. Denn Aristophanes hat in den Acharnern auch eine extensive Anspielung auf den Telephos des Euripides plaziert, dessen Aufführung 425 bereits 13 Jahre zurücklag: er konnte also offensichtlich trotz dieser langen Zeitspanne auf ein mitgehendes Verständnis bestimmter, sicherlich eher elitärer Teile des Publikums rechnen. Auch Herodot-Allusionen müssen daher nicht zwangsläufig eine zeitlich besonders nahe Publikation oder Rezitation voraussetzen; die wohl glaubwürdige antike Tradition 34 legt Athenaufenthalt und Vortrag Herodots, dazu seine Ehrung durch die Polis, ins Jahr 445 v. Chr. Statt dessen ist es sinnvoller, nach der Funktion solcher Anspielungen innerhalb der komischen Fiktion zu fragen. Nun treibt die Forschung seit langem die Frage um, ob 31
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R. Thomas, Oral tradition and written record in classical Athens, Cambridge 1989; dies., Literacy and orality in Ancient Greece, Cambridge 1992; dies., Performance and Written Publication in Herodotus and the Sophistic Generation, in: W. Kullmann, J. Althoff (Hgg.), Vermittlung und Tradierung von Wissen in der griechischen Kultur, Tübingen 1993, 225-244; vgl. auch W.A. Johnson, Oral performance and the composition of Herodotus’ Histories, GRBS 35, 1994, 229-254; O. Murray, Herodotus and oral history, in: A. Kuhrt, H. SancisiWeerdenburg (Hgg.), The Greek Sources (Achaemenid History II), Leiden 1987, 93-115. Aussagen über Ort, Umfang und Inhalt derartiger oraler Vorführungen schwanken gleichwohl natürlich zwischen Agnostizismus und Optimismus. Ostwald (o. Anm. 25) etwa meint, aus den Büchern 6-9 könne nicht rezitiert worden sein, weil sie die Anspielungen auf den Archidamischen Krieg selbst enthielten (ein zumindest brüchiges Argument), während sich in den ersten fünf Büchern mehrere Stellen finden ließen, an denen Herodot offensichtlich ein mit athenischen Verhältnissen vertrautes Publikum im Auge habe. Dagegen hat etwa A.J. Podlecki, Herodotus in Athens?, in: Greece and the eastern Mediterranean, FS F. Schachermeyr, Berlin 1977, 248-250 sogar einen bloßen längeren Aufenthalt Herodots in Athen in Zweifel gezogen. Vgl. S. Flory, Who read Herodotus’ Histories, AJPh 101, 1980, 12-28. S. u. S. 28 ff. und bereits G. Perrotta, Erodoto parodiato da Aristofane, RIL 59, 1926, 105-114. Vgl. A. Chaniotis, Historie und Historiker in den griechischen Inschriften. Epigraphische Beiträge zur griechischen Historiographie, Stuttgart 1988, 290-292; vgl. auch Ostwald (o. Anm. 25) 138.
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Aristophanes seinen Dikaiopolis als gerechten oder als ungerechten Bürger zeichne, ob sein Verhalten als angemessen oder als grober und tadelnswerter Verstoß gegen alle Normen von Rechtlichkeit anzusehen sei, womit die weitergehende Überlegung verknüpft ist, ob sich seine Eigenmächtigkeit gegenüber der Polis rechtfertigen läßt oder ob sie als rein egoistischer Akt verurteilt werden muß. 35 Dieses Problem, das sich bereits bei oberflächlicher Rezeption stellt, wird vertieft von den erwähnten großflächigen Anspielungen auf den Telephos- sowie auf den Orestesmythos, die gleichwohl keine eindeutige Lösung der Frage erlauben. 36 Vielmehr kompliziert Aristophanes sie, wie ich im folgenden zeigen möchte, noch dadurch, daß er möglicherweise unmittelbar auf die oben diskutierten Darstellungen des Otanes und seines griechischen Doppelgängers Maiandrios bei Herodot angespielt hat. Ich beginne mit Otanes und vergleiche die Motive im einzelnen; der Versuch einer graphischen Übersicht zu den Verflechtungen der drei Texte im einzelnen findet sich am Ende dieses Beitrags. Wie den Perserfürsten verlangt es Dikaiopolis nicht nach politischer Macht: er will nur zurück auf sein Landgut, während Otanes abstrakt formuliert (3,83,2): oyte ga¡r arxein oyte arxesuai eœue¬lv. Beide fordern diesen Sonderstatus ausdrücklich für ihren ganzen oı´kos und damit über ihre eigene Lebenszeit hinaus (3,83,2 und Ach. 130-132, 194 f.). Daß Otanes es wagt, nicht nur vor dem Hintergrund einer autoritär monarchischen Verfassungstradition der Demokratie das Wort zu reden, sondern auch die gewaltbereite Unsicherheit, die ein zukünftiger König in Hinblick auf die Stabilität seiner mit Hilfe anderer erkämpften Herrschaft empfinden muß (Stichwort: Intaphernes), durch ein solch freimütiges Bekenntnis und eine solche Bitte herauszufordern, läßt sich hinsichtlich des Risikos gut mit Dikaiopolis’ Rede mit dem Kopf auf dem Hackblock vergleichen. Insgesamt fällt auch auf, daß beide ihre Position in Gestalt einer ausgeführten Argumentation vertreten. In der Komödie bleibt Dikaiopolis’ Lösung über das Ende hinaus gültig: er und seine Familie sind frei von Verpflichtungen gegenüber der Polis, etwa dem Militärdienst, und er erhält sogar noch eine persönliche Einladung zum Anthesterienfest. Diese offizielle Einladung darf man als staatliche Ehrung ansehen, ebenso wie die Freiheit des Otanes ein persisches Ehrengeschenk darstellt. Daß solche Maßnahmen zugestanden werden, ist also in beiden Fällen eine unerwartete Überraschung. Die Polis steht, wie der persische Großkönig dem Otanes, ihrem Dikaiopolis freundlich und wohlwollend gegenüber, obwohl sie weiter Krieg führt, also Dikaiopolis’ ursprünglichen Friedenswünschen sich de facto nicht fügt, wie ja auch die persische Staatsverfassung nicht nach den Vorstellungen des Otanes umgewandelt wurde. Otanes und Dikaiopolis stellen beide eine politische Ausnahme dar: von Otanes jedenfalls heißt es, daß ayÕth h« oiœài¬h diatele¬ei moy¬nh
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Vgl. hierzu A. M. Bowie, The Parabasis in Aristophanes: Prolegomena, Acharnians, CQ 32, 1982, 27-40; ders., Aristophanes. Myth, Ritual, and Comedy, Cambridge 1993, 33; L. Edmunds, Aristophanes’ Acharnians, YCS 26, 1980, 1-41; W. Kraus, Aristophanes’ politische Komödien. Die Acharner / Die Ritter, Wien 1985, 95 ff.; L.P.E. Parker, Eupolis or Dicaeopolis?, JHS 111, 1991, 203-208; H.P. Foley, Tragedy and politics in Aristophanes’ Acharnians, JHS 108, 1988, 33-47; N.W. Slater, Space, Character, and aœpa¬th: transformation and transvaluation in the Acharnians, in: A. H. Sommerstein, S. Halliwell, J. Henderson, B. Zimmermann (Hgg.): Tragedy, Comedy and the Polis, Bari 1993, 397-415; P. v. Möllendorff, Grundlagen einer Ästhetik der Alten Komödie. Aristophanes und Michail Bachtin, Tübingen 1995, 153-160; C. Brockmann, Der Friedensmann als selbstsüchtiger Hedonist? Überlegungen zur Figur des Dikaiopolis in der zweiten Hälfte der Acharner, in: A. Ercolani, Spoudaiogeloion, Stuttgart 2002, 255-272. Vgl. zu der schwieriger erkennbaren Orest-Anspielung N. Fisher, Multiple personalities and Dionysiac festivals: Dicaeopolis in Aristophanes’ Acharnians, G&R 40, 1993, 37-47, hier: 42 f.
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eœleyue¬rh eœoy˜ sa Perse¬vn (3,83,3). Dabei ist Otanes frei zu entscheiden, wie weit er sich den Vorstellungen des Großkönigs fügt (3,83,3): arxetai tosay˜ ta oÕsa ayœth¡ ue¬lei; 37 dies entspricht wiederum den Möglichkeiten des Dikaiopolis, der zwar Kriegsdienst verweigern, am Fest der Polis aber teilnehmen kann. Otanes erlegt sich in dieser Hinsicht eine gewisse Selbstbeschränkung auf (3,83,3): arxetai ... no¬moyw oyœà y«perbai¬noysa toy¡w Perse¬vn. Er hält sich freiwillig an persisches Gesetz und Brauch, scheint jedoch nicht der Exekutivgewalt des Großkönigs zu unterstehen. Vergleichbares zeigen auch die Acharner, wo Dikaiopolis sich anfänglich im Konflikt mit den offiziellen Repräsentanten Athens befindet, die ihm gegenüber die Staatsgewalt rücksichtslos durchsetzen. Genau dieser Machtausübung entzieht er sich durch seinen Privatfrieden, zugleich unterwirft er sich mit der Hackblockrede aber einer grunddemokratischen Prozedur: nämlich die anderen von der Legitimität der eigenen Wünsche und Vorstellungen überzeugen zu müssen. Obwohl Dikaiopolis sich doch außerhalb der Polis gestellt hat, hält er seine Verteidigungsrede Ach. 498 f. peri¡ th˜ w po¬levw, und Aristophanes führt jenen demokratischen Überzeugungsprozeß in der folgenden Auseinandersetzung mit Lamachos und dem Chor, in der sich die Gewichte nur allmählich zugunsten des Protagonisten verschieben, langsam und ausführlich vor. So bezeichnet sich Dikaiopolis Ach. 595 als poli¬thw xrhsto¬w, ruft dann Ach. 609 ff. Zeugen für die Vergehen der demokratisch gewählten Amtsträger auf, bis schließlich der gesamte Chor im Kommation der Parabase sich überzeugt gibt: a«nh¡r niàᘠtoi˜si lo¬goisin, àai¡ to¡n dh˜ mon metapei¬uei / peri¡ tv˜ n spondv˜ n ... (Ach. 626 f.). Dikaiopolis unterwirft sich also in echter und selbstgewählter Zurückhaltung den demokratischen Entscheidungsprozeduren der Polis, so wie Otanes aus freien Stücken die no´moi der Perser bewahrt. Ist dies alles richtig gesehen, so muß nun geprüft werden, wie tief die Anspielung reicht, wie ‹genau› Aristophanes es mit seiner (präsumptiven) Übernahme genommen hat. So würde es in der Logik der Anspielung liegen, fänden sich diejenigen Argumente, die in der Herodoteischen Verfassungsdebatte Otanes gegen die Monarchie vorzubringen hat (3,80,26), in der einen oder anderen Form in der Aristophanischen dramatischen Präsentation der athenischen Demokratie wieder. So verhält es sich in der Tat, und dies ist - nebenbei bemerkt - wenig überraschend, stellt doch Aristophanes auch in seinen Komödien der Folgejahre das Volk von Athen gern als Despoten dar, so in der Figur des Herrn Demos in den Rittern von 424 und in den Machtphantasien des alten Philokleon in den Wespen von 422. In gedrängter Rede legt Otanes in der Verfassungsdebatte dar, daß ein einzelner oder auch eine Gruppe einiger weniger Herrscher bei aller persönlichen Qualität nie der Gefahr der Hybris entgehen könnten: sie denken aufgrund der ihnen verfügbaren Güter zu hoch von sich selbst und zu schlecht von den anderen, und diese Selbstüberhebung hat zur Folge, daß ein Alleinherrscher sich niemandem gegenüber mehr zur Rechenschaft verpflichtet fühlt und sich mit dem, was er bereits hat, nie zufrieden gibt. Zur Hybris tritt fuo¬now hinzu, ein Ressentiment, in dem sich permanentes Mißtrauen und eine bedenkenlose Bereitschaft, Schaden zuzufügen, miteinander verbinden: der Tyrann glaubt stets allen Verleumdungen, er hält jede Handlung eines anderen für feindselig motiviert. Getrieben von yÕbriw und fuo¬now wird er die Gesetze stürzen, die Frauen anderer Männer vergewaltigen, mißliebige Menschen ohne Prozeß töten. Zu vergleichbaren Handlungsweisen neigen 37
Nicht zuletzt hierin liegt ein gravierender Unterschied zu Schutz- und Vergünstigungsklauseln, die Einzelpersonen im athenischen Einflußbereich in Ehrendekreten zugebilligt wurden und in denen der athenische no´mos den vertraglich relevanten Rahmen bildete.
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Machthaber jedoch auch in der Demokratie, wie die Prologszenen der Acharner zeigen, in denen Dikaiopolis sich mit den athenischen Prytanen, den falschen persischen Gesandten und den thrakischen Söldnern auseinanderzusetzen hat. Und noch in der Parodos und den darauffolgenden agonalen Szenen könnte man im agressiven Verhalten des Chores der attischen Köhler, die hinter Dikaiopolis’ Friedenswunsch schlimmsten Landesverrat und Paktieren mit dem Feind wittern, den ständigen Argwohn des Tyrannen bei Otanes gespiegelt sehen, um dessen Entkräftung sich Dikaiopolis bis zur Parabase bemüht. Gehen wir aber kurz die Ereignisse der Prologszenen im einzelnen durch. Als erster verlangt in der Ekklesı´a ein Mann namens Amphitheos zu sprechen, der ankündigt, im göttlichen Auftrag mit den Spartanern über Frieden verhandeln zu wollen, von den Prytanen aber keine finanzielle Unterstützung zu erhalten. Der die Versammlung einberufende Herold läßt ihn jedoch als Störer verhaften und abführen (Ach. 54-59), und zwar ohne Diskussion, ohne Entscheidung des Volkes über seine Beschwerde, also als aàritow, wie Otanes es formuliert. Da Amphitheos vorher seine göttliche Abstammung behauptet hat, liegt zudem noch ein präsumptiver Fall von Hybris gegen die Götter vor. Hier (Ach. 59) wie auch später, als Dikaiopolis die falschen persischen Gesandten entlarvt (Ach. 115-122), werden die Einspruch Erhebenden sofort ruhiggestellt: die Amtsinhaber verweigern ordnungsgemäße Rechenschaft und brechen mit ihrer Protektion von Betrügern die geltenden Gesetze. Die Gesandten, die Athen nach Persien geschickt hat, sind an diesem Tag erst nach elfjähriger Abwesenheit zurückgekehrt, für die sie mit zwei Drachmen pro Tag entlohnt wurden (Ach. 65-67): das von Otanes befürchtete ‹Immer-mehr-haben-wollen› des Tyrannen, die pleoneji¬a, trägt hier ein zu grotesker Raffgier verzerrtes Gesicht. Das Motiv der Vergewaltigung von Frauen schließlich kann im Rahmen der Aristophanischen Ekklesia zwangsläufig nur in modifizierter Gestalt auftreten: ich sehe es darin gespiegelt, daß Dikaiopolis sich von den widergesetzlichen Anmaßungen der Prytanen geradezu körperlich affiziert sieht (Ach. 125): tay˜ ta dh˜ t¢ oyœà aœgxo¬nh und daß er es hinnehmen muß, daß ihm während der Volksversammlung sein Knoblauchvorrat von thrakischen Söldnern gestohlen wird (Ach. 163-168), ohne daß er als attischer Bürger davor geschützt würde. 38 Aristophanes ist m. E. in der Verdichtung der Anspielung sogar noch einen Schritt weitergegangen und hat die Argumente der Gegenredner des Otanes - Megabyxos, der für die Einrichtung einer Aristokratie, und Dareios, der für die Monarchie plädiert -, auf die sie sich zur Desavouierung der Demokratie stützen, in seine Darstellung des athenischen Demos einbezogen. So sieht Megabyxos in einer Demokratie die Gefahr vorschneller und vor allem unreflektierter Entscheidungen gegeben (3,81,1-2): ein Vorwurf, den m. E. der Acharnerchor zu Beginn der Parabase mit der zweimaligen Anrede der Athener als taxy¬boyloi (Ach. 630) bzw. meta¬boyloi (Ach. 632) erhebt. Dareios trägt noch den Gedanken bei (3,82,4), daß es in einer Demokratie zwangsläufig zu Vetterleswirtschaft und heimlichen 38
Das tertium comparationis besteht hier in folgendem: von einer Vergewaltigung im juristischen Sinne konnte man in der klassischen Zeit nur im Zusammenhang mit Frauen sprechen, die einen bestimmten Rechtsstatus besaßen. Verletzt wurde dabei nach dieser Auffassung weniger die Frau, deren Gefühle hier keine Rolle spielten, sondern vielmehr die Rechte ihres Kyrios; vgl. R. Omitowoju, Rape and the Politics of Consent in Classical Athens, Cambridge 2002 (diese Studie beschäftigt sich allerdings in erster Linie mit den Verhältnissen im 4. Jh. v. C.). Der Tatbestand der Vergewaltigung betrifft also die Integrität des rechtlichen Umfeldes des Opfers, und genau diese ist auch bei Dikaiopolis in Gefahr, wenn er als attischer Bürger nicht einmal in der Ekklesia vor Übergriffen von Fremden geschützt ist: das ist quasi eine Vergewaltigung der Polis selbst.
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Absprachen zum Zweck der Vorteilsnahme kommen müsse: daß es genau dieses Band ist, das in den Acharnern die Prytanen und die Gesandten eint, liegt auf der Hand. 39 Diejenigen unter den Zuschauern, die eine solche Herodotanspielung an dieser Stelle entdeckten, mußten sich außerordentlich provoziert fühlen (eine Provokation, die, wie oben dargelegt, wohl schon bei Herodot selbst angelegt war). Denn auf diese Weise avanciert ja gerade ein Perser zum Muster des perfekten Demokraten, 40 während die freiheitlichen Athener sich als Tyrannen der schlimmsten Sorte erweisen: war die Leistung der Perserkriege also vergeblich gewesen? Mehr als eine Frage war allerdings an dieser Stelle noch nicht impliziert. Denn Otanes tritt ja bei Herodot bald nach der Verfassungsdebatte noch einmal auf. Wie Dikaiopolis von seiner Polis durch die persönliche Ladung zum Kannenfest offiziell geehrt wird, so finden wir ab 3,139 den scheinbaren Aussteiger Otanes in einer offiziellen Amtstätigkeit wieder: er führt ein persisches Heer zur Wiedereinsetzung des Syloson nach Samos. Ob seine Wahl als Heeresführer, wenn sie historisch ist, aufgrund seiner Stellung als persischer Grande in der Natur der Sache lag oder gar einen besonderen Vertrauensbeweis des Dareios darstellte, oder ob die Identität dieses Otanes mit demjenigen der Verfassungsdebatte nur von Herodot hergestellt wird - Träger dieses Namens erscheinen noch an weiteren Stellen der Historien, auch in militärischer Funktion -, sei dahingestellt. 41 Jedenfalls animiert Herodot durch die parallelisierende Gegenüberstellung des Otanes und des samischen Regenten Maiandrios seine Rezipienten zum Vergleich; ich fasse die eingangs angedeuteten Ähnlichkeiten der Klarheit halber hier noch einmal zusammen. 42 Sie verbindet erstens ihr gemeinsamer Wunsch nach Gleichheit und Gerechtigkeit für alle, 43 zweitens ihre Erfolglosigkeit bei dem Versuch, diese Isonomie auch realpolitisch einzuführen, schließlich die Belohnungen, die sie sich ausbitten: beide verlangen ein dem politischen Alltag entzogenes Refugium, Otanes seine dem Zugriff des Großkönigs verschlossene Privatsphäre, Maiandrios sein Temenos des Zeus Eleutherios, dessen Priestertum er für sich und, wie Otanes, für seine Nachkommen fordert und das ihm eine 39
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Wenn tatsächlich die Gegenüberstellung von Tyrannis und Demokratie in den ca. 424 aufgeführten Hiketiden des Euripides sich ebenfalls an Herodots Verfassungsdebatte anlehnt - was möglich, aber nicht notwendigerweise so ist (vgl. Cobet (o. Anm. 30) 15) -, dann spräche das ebenfalls dafür, daß in der (schneller reagierenden) Komödie schon kurz vorher eine entsprechende Anspielung plaziert werden konnte. Eine solche Allusion wird auch wahrscheinlich gemacht durch die wohl sichere Bezugnahme auf Hdt. 5,4,2 in Euripides’ Kresphontes fr. 449 N., wohl von 425; vgl. Cobet (o. Anm. 30) 16 und R. Browning, Herodotus 5,4 and Euripides, Cresphontes fr. 449 N., CR 75, 1961, 201 f. Man könnte hinzufügen, daß sich Dikaiopolis selbst noch in seinen triumphalen Exzessen des abundanten Essens und Trinkens als ‹perfekter› Perser erweist, jedenfalls aus der Sicht griechischer antibarbarischer Vorurteile: hieß es in Ach. 77 f., die Perser hielten nur diejenigen für echte Männer, die anständig tafeln könnten, so setzt Dikaiopolis das im nachparabatischen Teil der Komödie genau in die Tat um. Die Historizität dieser Ereignisse wird in der Literatur allgemein angenommen, ebenso wie diejenige von Otanes’ besonderen Ehrungen; vgl. etwa J. v. Prasek, Geschichte der Meder und Perser bis zur makedonischen Eroberung, Bd. 1, Gotha 1906, Bd. II, Gotha 1910, hier: II,28 f., J. Wiesehöfer, Das antike Persien, Düsseldorf/Zürich 1998, 63 u. 100. Wir sind allerdings - bis auf die Tatsache, daß die Familie des Otanes späterhin große Liegenschaften in Kappadokien besaß und in der Diadochenzeit sogar die Königsherrschaft über diese Region erlangte - für diese Ereignisse um Otanes ganz von Herodot abhängig: seine Mittäterschaft an der Verschwörung gegen Smerdis-Gaumata ist daneben durch die Behistun-Inschrift gesichert. Vgl. oben S. 16. Vgl. Otanes (3,80,2): ÅOta¬nhw me¡n eœàe¬leye eœw me¬son Pe¬rsñsi àatauei˜nai ta¡ prh¬gmata, und Maiandrios (3,142,3): eœgv¡ de¡ eœw me¬son th¡n aœrxh¡n tiuei¡w iœsonomi¬hn y«mi˜n proagorey¬v.
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gewisse Immunität sichern würde. Sie unterscheidet jedoch voneinander, daß Otanes seine Pläne wenigstens für sich selbst in die Tat umsetzen kann, während Maiandrios tragisch scheitert, dies aber nicht zuletzt aufgrund eigener Defizite, insbesondere desjenigen, daß er letztlich doch jedem anderen die Macht neidet. Dieses sein Scheitern konnte ein athenischer Rezipient schon in den Historien als exemplarisch und für seine Selbstwahrnehmung relevant empfinden, wenn Herodot im Zusammenhang jener Ereignisse Samos als poli¬vn pase¬vn prv¬thn ¤Ellhni¬dvn àai¡ barba¬rvn (3,139,1) bezeichnet, ein Anspruch, den nach den Perserkriegen natürlich Athen selbst erhob; hinzu kommt, daß die Begegnung mit Maiandrios das erste politisch-militärische Aufeinandertreffen von Persern und Griechen darstellte. 44 Herodot hat mit der Konfrontation eines scheiternden griechischen Demokraten und eines erfolgreichen demokratischen Persers geradezu ein ideologisches Gegengewicht zu der üblichen hellenozentrischen Sicht eines Gegensatzes von Griechen und Barbaren geschaffen: ein Motiv also, das auffällig genug war, um bei einem athenischen Publikum Aufmerksamkeit zu erregen und in Erinnerung zu bleiben. Schauen wir von hier aus wieder auf Dikaiopolis, so erinnert in seinem Verhalten einiges auch an Maiandrios. Auch ihm geht es, wie sein Name zeigt, bei aller Fragwürdigkeit seiner Handlungsmotive im einzelnen dezidiert um Gerechtigkeit - Maiandrios hatte ja beabsichtigt, diàaio¬tatow aœndrv˜ n gene¬suai -, auch er erschafft sich nicht nur eine virtuelle Freiheitszone wie Otanes, sondern einen dem te´menos des Samiers vergleichbaren konkret umgrenzten Raum (Ach. 719). Wie dieser, so bemüht auch er sich um die Vermeidung eines militärischen Konfliktes, muß sich in einer Volksversammlung ohne Erfolg mit seinen Gegnern auseinandersetzen, hat mit einem Kriegstreiber (in den Acharnern: Lamachos; in den Historien: Charileos) zu kämpfen und paktiert mit Sparta. Nicht zuletzt bemühen sich beide mit ihren politischen Bestrebungen nicht nur um das Gemeinwohl, sondern verfolgen auch durchaus egoistische Zwecke: wie Dikaiopolis nicht bereit ist, den Friedenswein mit seinen Mitbürgern zu teilen (Ach. 1067 f.), so denkt Maiandrios nicht daran, anderen seine Macht als Tyrann zu überlassen. Aristophanes hat hierbei allerdings die herodoteischen Motive um Otanes und um Maiandrios insgesamt verdichtet und zum Teil chronologisch umgestellt. Das lag in der Natur der Sache, mußte er doch zum einen jene beiden Geschehenssequenzen in seiner Nachbildung miteinander verzahnen, zum anderen auf eine innergriechische Auseinandersetzung übertragen, in der die Perser a priori keine direkte Rolle spielten; außerdem mußte der utopische Zustand, einmal erreicht, auch ausgespielt werden, weshalb Aristophanes einige Teilmotive gewissermaßen von vorne nach hinten verschoben hat: die Ausgrenzung eines konkreten Raumes etwa erfolgt erst nach der politischen Durchsetzung des utopischen Zieles, nicht wie bei Herodots Maiandrios vorher, während das Paktieren mit Sparta, Maiandrios’ politische ultima ratio, bei Aristophanes zum Ausgangspunkt der utopischen Handlung wird, weil der Krieg mit Sparta bei ihm per se im Vordergrund der Aufmerksamkeit stehen muß.
V. Ist man bereit anzunehmen, daß Aristophanes bedeutende Konstituentien seines Plots in der Form intertextueller Verstrebungen mit jenen zwei Episoden aus Herodots Historien 44
Vgl. D. M. Lewis, Persians in Herodotus, in: The Greek Historians. Literature and History, FS A. E. Raubitschek, Saratoga 1985, 101-117.
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gestaltet hat, so erhebt sich die Frage, wie er sichergestellt hat, daß zumindest die Gebildeteren unter den Zuschauern dies nachvollzogen. Dies gelingt ihm durch die Einbettung einiger stichwortartiger Anspielungen auf erstaunliche Details aus den ersten Büchern der Historien, die auch den Kommentatoren der Acharner nicht verborgen geblieben sind. Sie finden sich in den Versen 85-92 so geballt, daß eine entsprechende Signalwirkung wohl erwartet werden konnte. Im einzelnen handelt es sich um: (1) vv. 85 f.: die Gesandten erzählen von im Ofen gebratenen «ganzen Rindern» ( oÕloyw boy˜ w ), eine Delikatesse, die Herodot 1,133,1 als Geburtstagsmenü reicher Perser erwähnt 45; (2) vv. 88 f.: als weiteres persisches Wunder wird ein Vogel erwähnt, der dreimal so dick wie der von Aristophanes oft geschmähte Kleonymos sei und fe¬naj (Lügenvogel) heiße: in Ägypten situiert Herodot 2,73 den berühmten foi˜nij orniw, der ganz unglaubliche Dinge tue ( apista mhxana˜ suai ), was bei seiner aristophanischen Verballhornung Pate gestanden haben könnte 46; (3) v. 91: der persische Gesandte heißt Ceydarta¬baw (Lügensack), was auf ein bei Herodot erwähntes persisches Hohlmaß, die aœrta¬bh, verweisen könnte (1,192,3) 47: ein solches Detail muß allerdings nicht notwendigerweise direkt aus Herodot stammen, was gleichermaßen für die Bezeichnung der Spione des Großkönigs als basile¬vw oœfualmo¬w (92) gilt, die auch Herodot (1,114,2) erwähnt; hierzu unten mehr. Auffälliger als diese unterschiedlich überzeugenden Details 48 ist dagegen die Konzentration der gesamten vv. 61-127 auf die Perser. Insgesamt ist man daher wohl zu der Annahme 45
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Der von Aristophanes hier verwendete Ausdruck kri¬banow (att. für àli¬banow ) entspricht zwar nicht dem von Herodot verwendeten àa¬minow, aber hier strebt Aristophanes insofern einen komischen Effekt an, als der àri¬banow ein pfannengroßer und manuell beweglicher Brotbackofen ist, in den ein ganzer Ochse natürlich nicht hineinpassen würde; vgl. Mau, Art. Bäckerei, RE II,2, Sp. 2734-743, hier: 2737 (Fleischoder Fischzubereitung im krı´banos war selten: S. D. Olson, Aristophanes, Acharnians, Oxford 2002, 99). Das ließe sich im übrigen auch als intertextuelle Markierung verstehen, da eine (in Riffaterre’scher Terminologie) ‹ungrammaticality› eröffnet wird, die zwar auch bloß als komische reductio ad absurdum verstanden werden kann, gleichwohl die Frage provoziert, welcher Begriff hier eigentlich stehen müßte und wo dieser denn tatsächlich gestanden haben und mithin eine solche Verballhornung provoziert haben könnte. Der Wundervogel Phoinix wird an dieser Stelle bei Herodot unseres Wissens zum erstenmal in der griechischen Literatur erwähnt, was für eine Anspielung sprechen könnte; gleichwohl mag es eine uns unbekannte orale Tradition gegeben haben. Interessant ist, daß Herodot an dieser Stelle eine Umrechnung des persischen Maßes in attische choinikes und medimnoi vornimmt: Ostwald (o. Anm. 25) 139 deutet dies als Indiz dafür, daß dieser Passus auf ein athenisches Publikum hin berechnet war, also Gegenstand der erwähnten Vorträge gewesen sein könnte. Vom R-Scholion ad loc.. wird auch ein Rekurs auf persische Eigennamen wie ‹Artaba´zes› für möglich gehalten. Dann wäre ‹Pseud-Artabazes› ein falscher, nämlich nur als Perser verkleideter Grieche. Gegen ihr Vorliegen sind zahlreiche Einwände erhoben worden. Die Kommentare bewerten die Möglichkeiten sehr unterschiedlich. Dafür, daß auch die Hackblockrede des Protagonisten (Ach. 496-556) Herodoteische Motive imitiere, haben zuletzt Olson (o. Anm. 45) LIII f. (der im übrigen, was Herodots Einfluß auf Aristophanes betrifft, skeptisch ist) und C. Brockmann, Aristophanes und die Freiheit der Komödie, Leipzig 2003, 112-121 plädiert. Weitere mögliche Allusionen wären: Ach. 80 ~ Hdt. 5,50 (aus den drei Monaten von der ionischen Küste bis zum Palast des Großkönigs bei Herodot werden drei Jahre bei Aristophanes); Ach. 82 ~ Hdt. 7,27 (in Kelainai verspricht Pythios dem Xerxes Gold im Überfluß, nachdem er bereits dem Dareios eine goldene Platane und einen goldenen Weinstock geschenkt hatte; der Zusammenhang wird in den Schol. ad loc. hergestellt).
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berechtigt, daß diese Szenen des Prologs eine genügende Zahl ‹teaser› enthielten, um eine eventuelle Erinnerung der Zuschauer an Präsentationen aus den Herodoteischen Historien zu aktivieren. Die intertextuelle Markierung 49 ist hier gleichwohl undeutlich, weitgehend implizit und darauf reduziert, daß die einzelnen ‹Spurenabdrücke› als «Referenz-Cluster», also an einer einzelnen Stelle gehäuft, 50 auftreten und wenigstens partiell - jedenfalls nach unserem Kenntnisstand - den Zuhörern nur oder doch primär durch die Vermittlung Herodots bekannt sein konnten. 51 Denn daß der Prolog daneben bereits auch konkrete Hinweise auf die Figur des Otanes enthält, indem er, wie ich oben zu zeigen versucht habe, geradezu minutiös verschiedene Motive aus der Otanes’ Aktion vorausgehenden persischen Verfassungsdebatte aufnimmt, vermochten die Zuschauer wahrscheinlich nur a posteriori zu erkennen, außer man nimmt, auf die Gefahr eines drohenden Zirkelschlusses hin, an, daß eine Präsentation der Herodoteischen Verfassungsdebatte noch nicht lange zurücklag und als intellektuelle Glanznummer einigen unter den Zuschauern gegenwärtig war. 52 Vergleichbares gilt auch für einzelne Motive, die an die Vorgeschichte des Maiandrios-Dramas denken lassen, die Herodot in 3,120-128 erzählt. So berichtete Maiandrios seinem Herrn Polykrates - ob ehrlich oder verlogen, läßt Herodot offen - von ungeheurem persischen Goldreichtum, gerade wie es die falschen Gesandten in Ach. 81 f. tun. Maiandrios hatte mit dem persischen Satrapen Oroites auch die Frage nach Hilfsgeldern und dafür zu leistender Militärhilfe erläutert, Themen, die Ach. 100-124 und 134-173 in der Volksversammlung ebenfalls diskutiert werden. Ich denke, diese kurze Analyse des Prologs zeigt, daß hier nicht mehr, aber wohl auch nicht weniger als eine Art intertextuelles ‹warming up› vorliegt, eine Vorbereitung, die die Zuschauer ungefähr in die Richtung dessen führt, was sie im folgenden erwartet. Dieses Resultat fügt sich zu dem, was man in der Forschung auch insgesamt als die Funktion der Prologe Aristophanischer Komödien ansieht: die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu fixieren und sie mittels vager, aber jedenfalls nicht irreführender Informationsvergabe auf die Haupthandlung vorzubereiten. 53 Der Knalleffekt der Etablierung eines privaten Friedens und eines privaten Marktes vermochte sicherlich die Paradigmata des Otanes und des Maiandrios wachzurufen, wenn die Zuschauer durch den Prolog mit den Themen ‹Demokratie und ihre Schwächen›, ‹Persien›, ‹Einer gegen den Rest der Welt› vertraut und auf Herodoteische Motive aufmerksam gemacht worden waren. Nicht so sehr klare und un49 50 51
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Vgl. hierzu einschlägig J. Helbig, Intertextualität und Markierung, Heidelberg 1996, insbes. 87 ff. Vgl. Helbig (o. Anm. 49) 101-104 (der Begriff selbst 101). Ein vergleichbares herodoteisches Referenz-Cluster findet sich nach weitgehend übereinstimmender Meinung der Kommentatoren (die am ausführlichsten bei N. Dunbar, Aristophanes. Birds, Oxford 1995, 374 u. 595-600 präsentiert ist) in Arist. Av. 552 u. 1125-1145, gerichtet auf die gewaltige Stadtmauer von Babylon und ebenso monumentale ägyptische Pyramiden (vgl. Hdt. 1,178 f. u. 2,127; weitere Anspielungen vielleicht auf 2,124,2 f., 2,136,3 f., 2,175,3 u. a., 2,76, 4,46,2, 2,136,4). Gleichwohl ist der Fall hier anders gelagert: denn dieses Cluster erscheint lange nach Durchführung des Planes - der interessanterweise in mancher Hinsicht an die Utopie der Acharner erinnert - und mit dem Bau von Nephelokokkygia verbindet ihn nicht mehr als das tertium comparationis der ungeheuren Größe und einzelner Bauvorgänge. Dies zeigt immerhin, daß wir auch im Falle des Stückes von 425 die Existenz eines solchen Clusters nicht automatisch als Indikator einer weiteren, größerformatigen Herodotanspielung ansehen dürfen. Eine Allusionshäufung kann verschiedene Funktionen haben. Diese Annahme vertritt West (Anm. 11) 111, in Interpretation von Hdt. 3,80,1 u. 6,43,3, wo Herodot die Historizität der Verfassungsdebatte betont: dies lasse sich am ungezwungensten, so West, als Reaktion auf entsprechende Publikumskritik bei einem vorausgegangenen mündlichen Vortrag verstehen. Vgl. bereits P. Mazon, Essai sur la composition des come´dies d’Aristophane, Paris 1904.
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mißverständliche intertextuelle Hinweise sind also das Anliegen des Prologs, sondern Aristophanes knüpft hier die ersten Fäden eines Gewebes, dessen eigentliches Muster erst im weiteren ‹Text›-Verlauf erkennbar werden wird. In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein weiteres Ensemble von Anspielungen zu sprechen kommen, das in der Forschung schon seit längerer Zeit erwogen, erst kürzlich aber von Brockmann einer eingehenden Untersuchung zugeführt worden ist. 54 Dieses zusätzliche allusive System läßt sich m. E. sowohl thematisch als auch ‹technisch› gut mit dem hier vorgestellten ‹Gewebe› verknüpfen. Brockmann nimmt an, die in Ach. 9-12 erwähnte Wiederaufführung einer Aischylostragödie beziehe sich auf ein rezentes Ereignis, nämlich auf eine Neuinszenierung der Perser im Vorjahr, 426. Daß es gerade die Perser gewesen sein sollen, erschließt er aus einer Anzahl unsystematisch verteilter Referenzen auf diese Tragödie im Text der Acharner. Deren Plausibilität ist zwar unabhängig von der Frage, ob es einen solchen Anlaß im Theaterleben wirklich gegeben hat, die Brisanz dieser Beobachtungen bleibt davon jedoch nicht unberührt. Ohne die Argumente hier im einzelnen überprüfen zu können, scheint mir die Mehrzahl der von Brockmann eruierten Bezugnahmen zuzutreffen. Deren erste Instanz ist Pseudartabas’ wahrscheinliche Kostümierung sowie die Beschreibung seines Aussehens als nay¬fraàton (Ach. 95), die eine Anspielung auf Pers. 1025-1030 und 978-986 wahrscheinlich machen, wo der Tod des Ophthalmo´s, des engsten Vertrauten des Großkönigs, mit dem Totalverlust der persischen Flotte lose verknüpft war: erst Aristophanes führte diese beiden Motive in seiner grotesken Perserfigur zusammen. 55 Für weitgehend überzeugend halte ich auch die Auffassung, mit der Erwähnung des weisen, mit den griechischen Verhältnissen vertrauten persischen Großkönigs in der Parabase der Acharner (Ach. 646-651) sei der Dareios der Perser gemeint, dann die Anspielung auf den alten persischen Königstitel Ballh¬n (Pers. 656) in Ach. 234 ( ble¬pein Ballhna¬de ) und schließlich Brockmanns Parallelisierung der Beschwörung des Dareios in den Persern (v. a. Pers. 627-692) und der Herausrufung des Euripides durch Dikaiopolis in Ach. 393-409. 56 Keine dieser, und auch keine der übrigen, mich nicht im gleichen Maße überzeugenden Anspielungen auf Aischylos’ Perser fällt nun aber unmittelbar mit einer der oben dargelegten Allusionen zusammen, sondern sie schließen geradezu nahtlos an den ‹Herodot-Cluster› Ach. 80/85-92 an, und zwar genau an der Stelle, wo dieser vage zu werden beginnt, nämlich beim Auftritt des Pseudartabas. 57 Als weiterer wesentlicher Gesichtspunkt kommt hinzu, daß die Perser-Referenzen punktuell, quasi paradigmatisch gesetzt sind, während die von mir behaupteten Bezugnahmen auf die Otanes- und die Maiandrios54 55 56 57
Vgl. Brockmann (o. Anm. 48) 27-141. Brockmann (o. Anm. 48) 50-53. Vgl. hierzu insgesamt Brockmann (o. Anm. 48) 55-81. Zu diskutieren wäre hier bestenfalls Brockmanns Vermutung (o. Anm. 48: 82-92), daß die Szene, in der Dikiaiopolis die falschen, nur als Perser maskierten griechischen Gesandten entlarvt, als kleines Theaterstück - ein «persisches Schaustück» - aufzufassen sei und qua dramatischem Charakter an die Perser erinnern sollte. Das wird man nicht a priori ausschließen wollen; diese Anspielung ist aber nicht nur, was ihre Wahrnehmbarkeit betrifft, sehr stark von einer tatsächlichen, nicht allzu lange zurückliegenden Neuinszenierung jener Tragödie abhängig, sondern darüber hinaus so allgemeiner Natur, daß sie sich mit Herodoteischen Konnotationen nicht beißen würde. Die Annahme, Lamachos’ Klagen am Ende der Komödie seien mit Xerxes’ Lamentationen im Finale der Perser zu assoziieren, mag ebenfalls in sehr allgemeiner Form zutreffen, berührt aber den Bereich der Herodotanspielung nicht und ist zudem ebenso vehement behauptet wie bestritten worden: vgl. R.C. Ketterer, Lamachus and Xerxes in the Exodos of Acharnians, GRBS 32, 1991, 51-60, und dagegen B.M. Palumbo Stracca, Parodia del canto alterno in Aristoph. Ach. 1097-1142, 1214-1225, Studi Italiani di Filologia Classica, 14, 1996, 35-48.
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Episoden bei Herodot die Plotkonzeption der Acharner, also ihre syntagmatische Ebene betreffen. Auch von daher treten die beiden Anspielungssysteme also nicht zueinander in Konkurrenz. Ich meine aber, daß die Perser-Anspielung darüber hinaus diejenige auf Herodot sogar noch unterstützt. Das Vorliegen von Parallelisierungen, ja Identifikationen von Protagonistenstimme und Dichterstimme, von ‹Dikaiopolis› und ‹Aristophanes›, ist in der Forschung schon lange gesehen und intensiv diskutiert worden. Sie werden - nimmt man die genannten Anspielungen auf die Perser als erkennbar an - nun aber noch ergänzt durch eine weitere Linie: wie Euripides Dikaiopolis unterstützt, so ist der Großkönig Dareios ja nicht nur, wie dargelegt, als dramatisches Pendant zu Euripides anzusehen, sondern geriert sich nach Ausweis der Parabase auch als Befürworter des Aristophanes (während alle Agressivität und Griechenfeindlichkeit auf Xerxes (Lamachos: s. o. Anm. 57) projiziert wird). Diese Konfiguration, in die die dramatische Konkurrenz von Aristophanes und Euripides dann wenigstens implizit ebenfalls eingeschrieben ist, unterstützt m. E. durchaus eine Analogisierung des Dikaiopolis mit Dareios’ Mitverschwörer und Strategen Otanes, sind die beiden Perser doch in genau derselben Weise gleichzeitig Verbündete und Kontrahenten. Die über die Perser laufenden Anspielungen auf die Generation des Dareios, die für die Komödie mit ihren Möglichkeiten der Integration differenter Zeiträume natürlich kein Plausibilitätsproblem darstellt, lenken die hermeneutische Aufmerksamkeit der Zuschauer in jedem Fall auf die ‹richtige› Epoche der persischen Königsgeschichte. Daß die intertextuelle Verbindung des Protagonisten Dikaiopolis mit dem Perser Otanes, wie oben dargelegt, für das Athener Publikum eine Provokation darstellen konnte, ist leicht einsehbar. Aber auch die Verbindung mit dem Samier Maiandrios war in mancher Hinsicht starker Toback, wenn es um die Frage ging, wie weitgehend Einverständnis und Identifikation mit dem Protagonisten noch im Rahmen des politisch Korrekten lagen. Denn Samos gehörte zu den bedeutendsten, zugleich aber auch schwierigsten Bündnern Athens. Da die Insel nur einen Steinwurf von der kleinasiatischen Küste entfernt lag, war ihr Verhältnis zu der östlichen Supermacht in den Perserkriegen schwankend gewesen: 58 sie hatte sich erst 479 in der Seeschlacht bei Mykale auf die griechische Seite geschlagen. Zuvor hatte bereits Polykrates diplomatische Balanceakte mit den Persern betrieben. Sein tyrannisches Verhalten hatte zudem im Jahr 531 zahlreiche samische Adlige an den Golf von Neapel ins Exil getrieben, wo sie eine neue Polis mit dem provozierenden Namen ‹Dikaia´rcheia› gegründet hatten. (Von ‹Dikaia´rcheia› (Ort einer gerechten Obrigkeit) ist es im übrigen nicht sehr weit bis ‹Dikaiopolis› (Ort einer gerechten Bürgerschaft), aber das dürfte eine prätentiöse Pointe sein.) Und schließlich lag es erst eine halbe Generation zurück, daß die Athener im Samischen Krieg 441-439 der Insel ihre Autonomie genommen hatten: wenn Martin Ostwalds Vermutungen berechtigt sind, dann könnte, gleichgültig ob eine demokratische Regierung installiert oder eine oligarchische Regierung mit eidlichen Bindungen belassen wurde, Athens Intervention sogar damit zusammengehangen haben, daß Samos erneuter Konspirationen mit Persien verdächtig gewesen war 59 - und sich damit genau 58
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In kontinentaler Perspektive scheint man Samos, das wie Chios ausgedehnte Besitzungen auf dem kleinasiatischen Festland unterhielt, damals bisweilen eher als Teil Asiens denn als Teil Europas angesehen zu haben; vgl. Hdt. 3,56,2 und Stadter (Anm. 25) 785. M. Ostwald, Stasis and autonomia in Samos: A comment on an ideological fallacy, Scripta Classica Israelica 12, 1993, 51-66.
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derselben Vergehen schuldig gemacht hatte wie die athenischen Prytanen in Aristophanes’ Darstellung. Wichtig ist aber vor allem, daß die politischen Implikationen der hier postulierten intertextuellen Querverstrebungen ins Zentrum der Diskussion über die athenische Außenpolitik der frühen 20er Jahre trafen. Es war ja nicht zuletzt Kleon, der eine Politik der Härte und Stärke gegenüber den Verbündeten vertrat und ihre Rechte und Freiheiten zugunsten einer einheitlichen Linie der Kriegsführung gegen Sparta zu opfern bereit war. Es paßt daher zu dem hier Dargelegten, daß Aristophanes in seinen drei Komödien der Jahre 426-424 - Babylonier, Acharner, Ritter - schon in einem ganz oberflächlichen Sinne vehement gegen Kleon Stellung bezog. Diesen unmittelbaren Attacken hätte er dann mithilfe subtiler und fein justierter literarischer Vernetzungsverfahren zusätzlichen, für die gebildeten (und damit auch politisch einflußreichen) Teile der Zuhörerschaft attraktiven Tiefgang verliehen.
VI. Aristophanes hat den Plot seiner Acharner durch vielfältige intertextuelle Referenzen strukturiert. Zwei bisher meines Wissens noch nicht erkannte Bezugnahmen auf das dritte Buch der Historien Herodots habe ich hier ausführlicher zu plausibilisieren gesucht, zum einen auf den Perserfürsten Otanes, der als Belohnung für seine führende Rolle beim Sturz der Usurpatoren des persischen Königsthrons die politische Unabhängigkeit für sich und seine Familie erhielt, zum anderen auf die Vorgänge um den samischen Thronprätendenten Maiandrios. Ich habe sowohl dargelegt, daß diese beiden Episoden bereits bei Herodot miteinander verknüpft sind, als auch, wie Aristophanes die jeweiligen Einzelmotive zur Gestaltung seiner Komödienhandlung miteinander kombiniert haben könnte. Die Ekklesieszenen zu Beginn des Stückes dienen nicht zuletzt einem intertextuellen ‹warming up› der Zuschauer: spätestens in der Retrospektive wird auch klar, daß in diese politischen Auseinandersetzungen wichtige Argumente der Herodoteischen Verfassungsdebatte integriert sind. Anlaß und fundamentales verbindendes Moment könnte die für die athenische Politik der 20er Jahre wichtige Autonomiedebatte gewesen sein, die in allen drei Texten in provokativer Weise reflektiert zu werden scheint. Nun ist es unbestreitbar, daß man, um zu der Deutung der Acharner als einer komischen Dramatisierung der Autonomiediskussion zu gelangen, die Annahme einer aristophanischen Referenz auf Herodot nicht benötigt. Ich möchte diese Annahme daher auch eigenständig gewertet wissen: in welches hierarchische Verhältnis man sie zum allen drei Texten gemeinsamen und damit jedenfalls zumindest für Vergleiche offenen Thema der autonomı´a bringen will, scheint mir eine eher sekundäre Fragestellung zu sein. Man muß daneben berücksichtigen, daß das Nachvollziehen komplexer Allusionsmuster grundsätzlich und insbesondere dann, wenn es sich bei dem Prätext um ein für die Mehrheit der Theaterbesucher nur schwer rezipierbares und möglicherweise von den meisten gar nicht oder bloß in Teilen rezipiertes Werk handelte, nur einer kleinen literarisch gebildeten Elite vorbehalten war. Daß Aristophanes in seinen Komödien aber bemüht ist, mit unterschiedlichsten Formen von Komik die uneinheitlichen Ansprüche eines heterogenen Publikums zufriedenzustellen, ist offensichtlich. Die Komplexität der Anspielung im Vergleich zum durchschnittlichen Intellekt der Zuschauer ist daher kein Gegenargument.
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Gerade die Bezugnahmen auf Maiandrios und Otanes erhöhen nicht nur den Grad der in dieser Komödie angelegten politischen Provokation, die mit den diffizilen außenpolitischen Beziehungen Athens zu dem persischen Erzfeind einerseits, zu dem samischen Verbündeten andererseits zusammenhängen, sondern sie stellen auch den Protagonisten Dikaiopolis erneut in ein diffuses Licht. Die Doppelung der Anspielung erlaubt es nämlich nicht, die erwähnte Mehrdeutigkeit und Anrüchigkeit der Aktionen des Protagonisten 60 in die eine oder in die andere Richtung zu vereindeutigen. Vielmehr vertieft sie die in der Gestalt des Dikaiopolis schon auf der Textoberfläche angelegte Ambivalenz zwischen seiner positiven Wertung als eines Mannes des Friedens und der funktionierenden demokratischen Prozeduren auf der einen Seite und seiner negativen Wertung als schierer Egoist, der rücksichtslos auf die Durchsetzung der eigenen Interessen und die Befriedigung der eigenen Wünsche aus ist, auf der anderen Seite. 61 In Dikaiopolis liegt, wie in seinen ‹historischen› Vorbildern, an denen seine Gestalt orientiert ist, ein Potential des Nutzens und des Schadens für seine gesellschaftliche Umgebung. Es liegt am Ende in der Hand der Polis, wie sie mit diesem Potential umgeht, ob sie es also - wie Dareios - in ein umfassenderes politisches Konzept miteinzubeziehen weiß oder ob sie - wie die Samier - daran zugrundegeht. Der im wahrsten Sinne des Wortes vielschichtige Protagonist dieses Dramas 62 rückt somit auf eine Ebene überindividueller Größe. Die Zuschauer werden mit einer Figur konfrontiert, die sich nicht als bloßer komischer Bomolochos abtun läßt, sondern die über eine segensreiche und zugleich gefährliche Macht verfügt. In der figuralen Konzeption wie in dem nur schwer übersetzbaren Namen steckt eine politische Herausforderung für die athenischen Zuschauer: Dikaiopolis verkörpert geradezu die Chancen und die Risiken einer demokratischen Gesellschaft: ob er am Ende, seiner eigenen Behauptung entsprechend, ein poli¬thw xrhsto¬w ist oder ob er dem Verdikt des Otanes unterliegt, daß auch der beste Mann den Verlockungen der Macht nicht zu widerstehen vermag, ob die Poliskultur eher einer korrupt-exklusiven Veranstaltung wie zu Beginn des Stückes gleicht oder politische Integrationskraft wie an seinem Ende zu entwickeln vermag oder welche wie immer abgestufte Einstellungen sie, ihrer demokratischen und mithin polyphonen Struktur entsprechend, hierzu entwickelt: dies sind Fragen, die die Komödie nicht beantwortet, sondern ihren Zuschauern stellt und deren praktische Bewältigung sie ihnen für die Zeit post festum aufgibt. 63
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Vgl. o. S. 24. Wenn er etwa genau wie die Athener Gesandten eine Verkleidung benutzt, um auf betrügerische Weise seine Zwecke zu verwirklichen, so zeigt dies, daß er keineswegs als positive Gegengestalt konzipiert ist. Die Durchsetzung egoistischer Bedürfnisse ist eine Grundkonstante politischen Handelns, sie läßt sich nicht eliminieren, sondern nur integrieren. Vgl. hierzu auch Verf., Aristophanes, Hildesheim u. a. 2002, 62-70, dort weitere Literatur. An eine unmittelbare politische Wirkung ist also auch in diesem Fall keineswegs zu denken. Wie 424 die erfolgreiche Aufführung der Ritter auf die Wahl Kleons als Strategen keinen Einfluß hatte, so ist für das Jahr 425 festzuhalten, daß der Seebund-Tribut auf rund den dreifachen Satz erhöht wurde. Vgl. die ganz ähnliche Ansicht von Stadter (Anm. 25) zu Herodot: «Herodotus’ stories are suggestive and allusive rather than precise, open to many interpretations by different people at different times. Their force lies in the power of the narrative to involve the audience’s imagination and to provoke a reconsideration of accepted views, rather than to provide neat answers. While it may reasonably be expected that Herodotus had his own interpretations of his stories, the stories themselves were not meant to convey a message so much as to lead the audience to reexamine the nature of human action» (784).
Ma.:
Ot.:
Di.:
Abgrenzung eines Raumes
Überdruß am Krieg
Privatsphäre
Debatte und Niederlage
Debatte und Niederlage
Entschluß zu Privatfrieden mit Sparta
Konflikt in der Ekklesia: Niederlage
Verweigerung des Krieges
Konflikt mit Kriegstreiber
Duldung des Krieges
Abgrenzung eines Raumes
Flucht nach Sparta
Genuß
Übersicht über mögliche intertextuelle Beziehungen zwischen Herodot Hist. III und Aristophanes’ Acharnern auf der Ebene des Plots
Strategenamt
Zugehörigkeit zur Polis
Literarische Konstruktionen von autonomı´a bei Herodot und Aristophanes
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Unvermeidbare Schuld Zur Debatte um Sophokles’ König Ödipus * 1. Die Diskussionslage In den letzten Jahren hat sich um die berühmteste und wirkungsmächtigste Tragödie der Antike, Sophokles’ König Ödipus (ich benutze hier diesen traditionellen Titel), eine Diskussion entsponnen, die Schicksal, Schuld und Verantwortung der Hauptfigur neu zum Gegenstand macht. Ausgangspunkte für die folgende Auseinandersetzung mit dem Schuldproblem im König Ödipus sollen die Beiträge der klassischen Philologen Arbogast Schmitt 1 und Eckard Lefe`vre 2 sowie des Althistorikers Egon Flaig 3 sein. Schmitt, Lefe`vre und Flaig teilen bei allen (zum Teil erheblichen) Differenzen die Ablehnung existentialistisch getönter Auffassungen wie der, Sophokles’ Stück führe an einem unschuldig schuldig werdenden Ödipus paradigmatisch die Grenzen ‹der› - von Scheinhaftigkeit, Verblendung und Wahn gekennzeichneten - menschlichen Existenz und des menschlichen Wissens vor Augen 4. Dagegen vertreten sie, wieder in stark unterschiedlichen Zuspitzungen, die Auffassung, Ödipus sei gezielt als eine charakterlich problematische beziehungsweise auch kritisierenswerte Figur dargestellt, und halten seine Schuld durchaus für zurechenbar 5. *
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Dieser Aufsatz geht auf meinen Habilitationsvortrag vor dem Fachbereich Sprach- und Kulturwissenschaften der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/M. im Februar 2002 zurück. Für die Aufnahme in Antike und Abendland und für wichtige Hinweise danke ich Herrn Professor Helmut Krasser und Herrn Professor Christoph Riedweg, für eine Anzahl von Klärungen im Abschnitt 3 Herrn Professor Ulrich Oevermann sowie Herrn Dr. Roland Burkholz, für stete Diskussionsbereitschaft Herrn Dr. Andreas Franzmann, Herrn Dr. Axel Jansen, Herrn Dr. Lutz Lenz, Herrn Dr. Sascha Liebermann, Herrn Dr. Peter Scholz und Herrn Dr. Johannes Süßmann. Menschliches Fehlen und tragisches Scheitern - Zur Handlungsmotivation im Sophokleischen ‹König Ödipus›, RhM 131 (1988), 8-30. Zuerst in: Die Unfähigkeit, sich zu erkennen: Unzeitgemäße Bemerkungen zu Sophokles’ Oidipous Tyrannos, WJA (N.F.) 13 (1987), 37-58; neue Fassung in: ders., Die Unfähigkeit, sich zu erkennen: Sophokles’ Tragödien, Leiden/Boston/Köln 2001, 119-147. Ödipus - Tragischer Vatermord im klassischen Athen, München 1998. In diesem Sinne z. B. E. R. Dodds, On Misunderstanding the Oedipus Rex, G&R 13 (1966), 37-49; P. Vellacott, Sophocles and Oedipus, London/Basingstoke 1971 (dort 126: ‹All great tragedies are about ‘the human condition’›; der Terminus condition humaine auch bei W. Schadewaldt, Der ‹König Ödipus› in neuer Deutung, in: ders., Hellas und Hesperien, Zürich/Stuttgart 1970, Bd. 1, 466-476; dort 475); ähnliche Interpretationskategorien wieder bei A. Zierl, Erkenntnis und Handlung im Oidipous Tyrannos des Sophokles, RhM 142 (1999), 127-148 (dort 146: ‹... ein Beispiel der Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Erkennens und Handelns ...›). Eine dekonstruktivistische Spielart dieser Interpretationsrichtung vertritt S. Goldhill, Reading Greek Tragedy, Cambridge 1986 (dort 205-221): Der König Ödipus mit seinem ‹paradoxical paradigm of man and his knowledge› stelle zugleich die Gewißheit in Frage, im Akt des Lesens je zu fixierten und ‹absoluten› Bedeutungen gelangen zu können. Lefe`vre konnte 1987 seine Deutung als ‹unzeitgemäß› gegenüber den gängigen Auffassungen von der Tragödie kennzeichnen. Inzwischen scheint die Tendenz sich geradezu umgekehrt zu haben: Auch Hell-
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Daß hier mit einiger Heftigkeit eine Debatte neu aufbrechen konnte 6, deutet darauf, daß mit der Frage nach der Schuld des Ödipus und deren Natur ein altes Problem stehengeblieben ist, das auch neuere theoretische Ansätze - strukturalistische 7 wie poststrukturalistische 8 - nicht grundsätzlich gelöst haben. Arbogast Schmitt begründet seinen Einspruch wesentlich mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte, die die Interpreten daraufhin konditioniert habe, im tragischen Helden das Opfer eines ‹unausgleichbaren Gegensatzes› 9, eines ‹tragischen Konflikts› oder eines von außen kommenden ‹Schicksals› 10 zu sehen. Hierfür macht er wesentlich Einflüsse frühneuzeitlicher Stoarezeption verantwortlich 11, die mit der griechischen Tragödie nichts zu tun hätten 12, und beruft sich bei seiner eigenen Deutung auf Aristoteles und dessen Kommentator Alexander von Aphrodisias 13: ‹Eigentliches Darstellungsziel der Dichtung› sei es nach Aristoteles, ‹zu zeigen, wie ein bestimmter Mensch aufgrund ... seiner (charakterlichen) Bestimmtheit ganz Bestimmtes sagt oder tut› 14. Dementsprechend gehe es im König Ödipus zwar nicht um Vorsatz oder bösen Willen, aber doch um ein problematisches hÓuow und dessen spezifische Folgen: Das Verhalten des Ödipus, das frühere wie das aktuelle im Verlauf der Aufdeckungshandlung, sei dramaturgisch so angelegt und dargestellt, daß gerade ‹bestimmte Fehltendenzen im Charakter des Ödipus› 15 und deren ‹verheerende Wirkung› 16 offengelegt würden, insbesondere ein ver-
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mut Flashar und Hartmut Erbse haben sich der Richtung in wesentlichen Punkten angeschlossen; siehe z. B. H. Erbse, Sophokles über die geistige Blindheit des Menschen, ICS 18 (1993) (Festschrift M. Marcovich), 57-71; dort 57-60, 69-71; H. Flashar, Die Poetik des Aristoteles und die griechische Tragödie, in: Tragödie - Idee und Transformation (Colloquium Rauricum 5, hg. v. H. Flashar), Stuttgart/Leipzig 1997, 50-64 (dort z. B. 56); ders., Sophokles - Dichter im demokratischen Athen, München 2000, 100-122 (bsd. 111-112). Eingehende Kritik an Schmitt und Lefe`vre bei B. Manuwald, Oidipous und Adrastos - Bemerkungen zur neueren Diskussion um die Schuldfrage in Sophokles’ ‹König Ödipus›, RhM 135 (1992), 1-43. Klassisch J.-P. Vernant, Ambiguı¨te´ et renversement. Sur la structure e´nigmatique d’ ‹Œdipe-Roi›, in: ders./ P. Vidal-Naquet, Mythe et trage´die en Gre`ce ancienne, Paris 1973, 101-131; in dieser Tradition auch die Arbeiten C. Segals (Tragedy and Civilization - An Interpretation of Sophocles, Cambridge/Mass. 1981; Oedipus Tyrannus - Tragic Heroism and the Limits of Knowledge, New York/Toronto 1993, sowie die in ‹Sophocles’ Tragic World - Divinity, Nature, Society›, Cambridge/Mass. 1995, gesammelten Aufsätze). Z. B. P. Pucci, Oedipus and the Fabrication of the Father - Oedipus Tyrannus in Modern Criticism and Philosophy, Baltimore u. a. 1992. So Goethe im Gespräch mit Kanzler Müller am 6. Juni 1824. Schmitt 1988, 28, Anm. 39. Einen ‹Schicksalsbegriff› haben auch schon Wilamowitz (Griechische Tragödien, übersetzt von U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Bd. 1, Berlin 1899; z. B. 11), K. Reinhardt (Sophokles, Frankfurt/M. 41976, 108) und Schadewaldt (1970) der griechischen Tragödie abgesprochen. Schmitt 1988, 10-12. Zur Bedeutung Schellings sowie der Kantrezeption Schillers und der Brüder Schlegel für die ‹Schicksals-› Deutungstradition vgl. G.W. Most, Schlegel, Schlegel und die Geburt eines Tragödienparadigmas, Poetica 25 (1993), 155-175; dort 159-164. Vgl. z. B. Schmitt 1988, 11-12. A. Schmitt, Zur Aristoteles-Rezeption in Schillers Theorie des Tragischen. Hermeneutisch-kritische Anmerkungen zur Anwendung neuzeitlicher Tragikkonzepte auf die griechische Tragödie, in: Antike Dramentheorien und ihre Rezeption, Stuttgart 1992 (Drama - Beiträge zum antiken Drama und seiner Rezeption, Bd. 1; hg. v. B. Zimmermann), 191-213; dort 212. Vgl. Arist., Poet. 1451 b 8-10: ... tì˜ poi¬ì ta¡ poi˜a atta symbai¬nei le¬gein h pra¬ttein àata¡ to¡ eiœào¡w h to¡ aœnagàai˜on, oy√ stoxa¬zetai h« poi¬hsiw
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... (s. u., Anm. 111 u. 114.) Schmitt 1988, 14. Übrigens besteht inzwischen anscheinend Einigkeit darüber, daß etwas wie ein durchgängig gezeichneter ‹Charakter› des Ödipus existiert: ein Konzept, das T. v. Wilamowitz-Moellendorff Sophokles’ Tragödien abgesprochen hatte (Die dramatische Technik des Sophokles, Berlin 1917). Schmitt 1988, 26.
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ständlicher, aber ‹unangemessener› 17 Affekt und ein ‹falsche(s), weil nicht genug geprüfte(s) Vertrauen in die eigene Geisteskraft› 18. Schmitt sieht am König Ödipus seine Interpretation des Aristotelischen Begriffs der a«marti¬a, der ‹Verfehlung› des tragischen Helden (Poet. 1453 a), als eines charakterbedingten Fehlverhaltens bestätigt 19; eine weitere übergreifende Absicht, die er verfolgt, ist es, eine spezifische Form der Selbständigkeit der Figuren der griechischen Tragödie im Handeln nachzuweisen 20. Schmitts Ansatz hat zur Folge, daß manche Deutungskategorien praktisch vorab ausgeschlossen werden: Jeder, der etwa im Zusammenhang mit dem König Ödipus von ‹Unvermeidlichkeit› spricht, steht für ihn unter dem Einfluß neuzeitlicher Tragikkonzepte wie der Schillerschen, zweifellos protestantisch grundierten Vorstellung vom Konflikt zwischen Freiheit und Notwendigkeit, natürlicher und moralischer Zweckmäßigkeit 21. Eckard Lefe`vre argumentiert in vieler Hinsicht, insbesondere bei der Ablehnung der Deutungskategorie ‹Schicksal›, ähnlich wie Schmitt. Auch Lefe`vre sieht bei Ödipus charakterbedingte Fehler und bezieht sich auf die Aristotelische a«marti¬a-Lehre, aber anders als Schmitt erkennt er Ödipus’ Blindheit (ganz im Sinne der traditionellen Deutungen) ein allgemeines, konstitutionelles Moment zu. Als ‹Erbteil, Wesen des Menschen› 22 sei sie unvermeidlich und insofern gewissermaßen auch entschuldbar, aber die Art und Weise, wie Ödipus sich von seiner Klugheit verführen lasse, sei ein Zeichen persönlicher Hybris und Verblendung. Er werde ‹unfähig zur Erkenntnis und Selbsterkenntnis› 23. Das Stück stelle einen ‹Prozeß des Nichterkennens› dar, indem es ‹Baustein für Baustein› 24 die Wahrheit präsentiere, die ausgerechnet der Rätsellöser Ödipus als Allerletzter begreife. Um zu pointieren: Interpreten dieser Richtung werden tendenziell die These vertreten, es seien für ihn typische ‹Fehler›, daß Ödipus kurz nach der ‹Warnung› durch das Orakel einen älteren Mann erschlägt, der mit königlichem Gefolge durchs Land zieht 25, und anschließend auch noch eine ältere Frau heiratet - zumal er Grund hat, daran zu zweifeln, daß seine sozialen Eltern, das korinthische Herrscherpaar Polybos und Merope, auch seine leiblichen Eltern sind 26. Ödipus sei nicht bösartig, neige aber zu einer für seinen Charakter symptomatischen Art von Fehlhandlungen und -einschätzungen, die schon die Vorgeschichte bestimmten und die sich in der Bühnenhandlung immer wieder reproduzierten. Noch viel schärfer geht Egon Flaig mit Ödipus ins Gericht. Sein Buch von 1998 präsentiert sich als neue Generalabrechnung mit allen mystifizierenden Tendenzen in der Inter17 18 19
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Schmitt 1988, 30. Schmitt 1988, 19. Schmitt 1988, 28; vgl. auch V. Cessi, Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aristoteles, Frankfurt/M. 1987. Umfassend ausgearbeitet in: A. Schmitt, Wesenszüge der griechischen Tragödie - Schicksal, Schuld, Tragik, in: Flashar 1997, 5-49. F. Schiller, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, Sämtliche Werke, Darmstadt 9 1993, Bd. 5, 358-372 (dort z. B. 364). Vgl. z. B. Schmitt 1992, 198, 203-204, 207. Lefe`vre 1987, 54; 2001, 138. Hier gebraucht auch Lefe`vre den Terminus ‹condition humaine‹. Lefe`vre 2001, 139. Ebd. So schon J. Chr. Gottsched, Versuch einer critischen Dichtkunst, Leipzig 41751, 607-608: ‹Er hätte sich aber billig vor allen Todtschlägen hüten sollen: nachdem ihm das Orakel eine so deutliche Weissagung gegeben hatte. Denn er sollte billig allezeit gedacht haben: Wie? wenn dieß etwa mein Vater wäre!› In diesem Sinne auch J. Lear, Open minded - Working Out the Logic of the Soul, Cambridge (Mass.)/ London 1998, 47: ‹Oedipus’ acts are so ridiculous that, were his fate not horrific, this would be the stuff of a hilarious comedy›.
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pretation des Stücks. Flaig stößt sich offensichtlich an einer gewissen Larmoyanz, mit der man Ödipus zum bloß ‹Schuldlos-Schuldigen› 27 und das Unausweichliche in dem Stück wolkig oder irrationalistisch zum ‹Schicksal› 28 oder zum ‹Dämonischen› verunklärt hat. Seine Arbeit ist provokant und polemisch zugespitzt: Zum Beispiel wirft Flaig den deutschen Interpreten, die allzu mitfühlend mit Ödipus und seinem Schicksal umgingen, ausdrücklich eine Teilnahme an verschleiernder politischer ‹Entschuldungsarbeit› 29 nach der Zeit des Nationalsozialismus vor. Ein unerklärlich den Menschen treffendes ‹Dämonisches› (der Terminus spielte sowohl bei Reinhardt als auch bei Schadewaldt eine Rolle) sei damals genau das Deutungskonzept gewesen, das man brauchte. Flaig sieht die Lösung in politisch-kritischer Interpretation, durch die er die Ödipusdeutung vom Kopf auf die Füße stellen will. Mit Christian Meier versteht er die attische Tragödie wesentlich als soziale Institution, die eine Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen der athenischen Gesellschaft leistete 30. Er spricht geradezu von ‹institutionalisierter politischer Pädagogik› (49-55) und ‹sozialer Dressur› (54). Die Ödipusfigur des Sophokles wird für Flaig zum Inbegriff der Gefahren und Auswüchse, die sich aus der Problematik eines rasant zur imperialen Großmacht aufgestiegenen Stadtstaates ergaben: eines Staatsgebildes unter ständiger Hochspannung. Das Schreckbild, auf dessen Abwehr hin die athenischen Bürger gedrillt werden sollten, sei die Tyrannis gewesen (79-86). Zugleich aber habe es eine latente Tyrannenbewunderung und tyrannisförderliche Momente des politischen Lebens gegeben: Der Profilierungsdruck vor der Volksversammlung habe die Politiker in einen aristokratischen, tendenziell asozialen Daueragon mit der ständigen Gefahr überstürzter Entscheidungen gezwungen (124-126). Dies spiegle sich im Verhalten des Ödipus wider, der sich nur auf schnelles Entscheiden verstehe und versage, wo Bedachtsamkeit gefragt sei. So löse er das Rätsel der Sphinx, interpretiere aber in seiner Übereilung den Orakelspruch Apollons katastrophal falsch (119-124) 31. Er lasse sich unwiderruflich von seinen
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Z. B. Schadewaldt 1970, 467: ‹... daß er unschuldig schuldig wird, ist gerade die Grundlage seiner Tragik.› Grundgelegt bei F.W.J. Schelling, Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus, 10. Brief (1795). (Vgl. Flaig 1998, 17 u. 144, Anm. 6.) Flaig 1998, 19. Vgl. Ch. Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988. An dieser Stelle zeigt sich übrigens ein typisches Problem von Interpretationen, die sich - wie in manchen Punkten die Flaigsche - auf den französischen Strukturalismus berufen: Klassifizierend werden aus dem Text Gegensatzpaare herausgelöst, aber zu wenig wird nach der tatsächlichen Bedeutung dieser Gegensätze im konkreten Textzusammenhang gefragt (vgl. die Einwände bei H. Flashar, König Ödipus - Drama und Theorie, Gymnasium 84 [1977], 120-136; dort 132-134; A. Neschke-Hentschke, Griechischer Mythos und strukturale Anthropologie - Kritische Bemerkungen zu Claude Le´vi-Strauss’ Methode der Mythendeutung, Poetica 10 [1978], 135-153). Ödipus’ Eigenschaft, Rätsellöser zu sein, ist in dem Stück insgesamt z. B. nicht stark betont (berühmt allerdings der Vers 1525 oÀw ta¡ àlei¬n’ aiœni¬gmat’ ñdei àai¡ àra¬tistow hÓn aœnh¬r aus dem Auszugslied des Chors), der Gegensatz zwischen diesem ‹Wissen› und seinem Unwissen in anderer Hinsicht nicht tragend. Das Rätsel der Sphinx wird vor allem einmal zum Thema: nämlich wenn Ödipus im Streit mit Teiresias seine gnv¬mh betont (398), gegen die Seherautorität also seine aktuell und ‹diesseitig› eingesetzte Verstandesschärfe ins Feld führt. Häufig kritisiert worden ist die Deutung, die Ödipus vom ty¬rannow zum farmaào¬w werden sieht (Vernant, Ambiguı¨te´ et renversement; R. Girard, Le bouc e´missaire, Paris 1982): so von Pucci 1992, 170-173; R. D. Griffith, Oedipus Pharmakos? Alleged Scapegoating in Sophocles’ Oedipus the King, Phoenix 47 (1993), 95-114; C. Calame, Vision, Blindness, and Mask: The Radicalization of the Emotions in Sophocles’ Oedipus Rex, in: M. S. Silk (ed.), Tragedy and the Tragic-Greek Theatre and Beyond, Oxford 1996, 17-37; dort 28; Flaig 1998, 128-129.
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vorschnellen Schlüssen hinreißen: ein trotzig ‹in sich vergrabenes Selbst› 32, das an seiner Kommunikationsunfähigkeit scheitere. Gewiß gibt es im Stück Tyrannen- und Tyranniskritik (man denke nur an das berühmte, hinsichtlich seiner ‹Adressierung› allerdings ganz umstrittene 2. Stasimon 33 ). Dennoch scheint mir dieser im Ansatz völlig verständliche Versuch, allzu ‹metaphysischen› Deutungen mit ihrer Gefahr unverbindlicher Allgemeinheit zu entkommen, ebensowenig befriedigend wie schon die These von den nicht-bösartigen ‹Charakterfehlern› des Ödipus. Ich möchte die Alternative, von der die Debatte bestimmt wird, als solche problematisieren. Meine Frage ist, ob eine Position jenseits der Ödipus von Schuld freisprechenden Interpretationen einerseits und der hierauf meist schon antwortenden, ihn - sei es moralisch, sei es politisch - gezielt ‹kritisierenden› Lesarten andererseits denkbar ist.
2. Zwei exemplarische Textuntersuchungen Zunächst will ich die ‹ödipuskritischen› Deutungen noch einmal an zwei Schlüsselstellen des Stücks prüfen und das Hauptaugenmerk auf Zuspitzungs- und Focusfragen richten 34. Die Grundannahme ist, daß die Informationsvergabe im Drama 35 angesichts knapper Zeit und begrenzter Aufnahmekapazität der Zuschauer grundsätzlich ökonomisch erfolgt. Details sind nicht zufällig gesetzt, sondern prägnant zum Zweck einer Aufmerksamkeitssteuerung 36 - mit der Folge, daß die Zuschauer sich auf bestimmte Momente konzentrieren und dafür unter Umständen auch grobe Unwahrscheinlichkeiten in Kauf nehmen (insbesondere wenn diese notwendige Handlungsvoraussetzungen bilden) 37. Was nicht Gegenstand focussierender Maßnahmen ist, darf auch in der Interpretation nicht betont werden. Die Einwände werden sich hauptsächlich darauf richten, daß Interpreten immer wieder solche unbetonten Nebenaspekte oder bloßen Handlungsvoraussetzungen ins Zentrum gestellt haben. Zuerst zu dem Abschnitt im 2. Epeisodion, in dem Ödipus der Iokaste seine Lebensgeschichte erzählt 38. Die mit 771 beginnende Partie in der Mitte des Stücks 39 hat eine Schlüs32 33
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Flaig 1998, 139, zitiert hier F. Rosenzweig. Auch ‹Ödipuskritiker› sind nicht immer der Auffassung, in diesem Chorlied sei Ödipus gemeint: Schmitt bezieht es z. B. auf Kreon (1988, 24), Flaig - zumindest in erster Linie - auf Laios und Iokaste (1998, 90). Der eher aus der Erzählforschung geläufige Terminus ‹Focus› wird auch in der Dramentheorie gelegentlich gebraucht; so schon von C. Brooks und R.B. Heilman (Understanding Drama, New York 1945). Vgl. M. Pfister, Das Drama, München 102000, 97. Vgl. Pfister 2000, 67-148; dort bsd. 93-99. C. Tindemans verwendet die Termini ‹spectatorial energy› und ‹focal energy› (Coherence and Focality. A Contribution to the Analysability of Theatre Discourse, in: H. Schmid, A. Van Kesteren [edd.], Semiotics of Drama and Theatre, Amsterdam/Philadelphia 1984, 127-134). Zu den zwangsläufigen Beschränkungen bei der ‹Präsentation der Geschichte› im Drama vgl. Pfister 2000, 273-276 (dort 274 zum ‹Prinzip der Konzentration›). Vgl. R. Scodel, Credible Impossibilities - Conventions and Strategies of Verisimilitude in Homer and Greek Tragedy, Stuttgart/Leipzig 1999. (S. u., Anm. 41.) Zugrundegelegt wird der Text von H. Lloyd-Jones/N. G. Wilson, Oxford 1990 (vgl. dies., Sophoclea Studies on the Text of Sophocles, Oxford 1990; Sophocles: Second Thoughts, Göttingen 1997 [Hypo`mnemata 100). Vgl. L. Roussel, Le re´cit du meurtre de Laı¨os dans Œdipe-Roi (798-813), REG 42 (1929), 361-372; dort 361.
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selfunktion. Was Ödipus in ihr berichtet, ist zum Teil stark ‹gegen ihn› ausgelegt worden. Ich möchte kurz zeigen, inwiefern ich die entsprechenden Deutungen nicht für treffend halte 40. Der Partie geht Iokastes Versuch voraus, Ödipus hinsichtlich der Wahrheit von Sehersprüchen zu beruhigen, nachdem Teiresias ihm Laiosmord und blutschänderische Ehe auf den Kopf zugesagt hatte. An Laios - so erzählt darauf Iokaste - ist einst ein Orakelspruch ergangen: Wenn sie einen Sohn hätten, werde dieser ihn töten (711-714). Den Sohn, den sie dann doch bekamen, hätten sie ausgesetzt, Laios aber sei später von Räubern an einem Dreiweg erschlagen worden (715-16: àai¡ to¡n me¬n, vÕsper g’ h« fa¬tiw, je¬noi pote¡ / lñstai¡ foney¬oys¢ eœn triplai˜w a«majitoi˜w ). Sobald nur dieses Stichwort fällt, ist Ödipus tief verunsichert (726-27, 729-30, 738, 744-45, 747-48). Er will der Aufklärung halber (750-51) sofort den einzigen überlebenden Zeugen, einen Hirten, holen lassen (765-768). Iokaste weist Ödipus darauf hin, daß sie wohl einen Anspruch habe zu erfahren, was ihn bewegt (769-770). Daraufhin berichtet er ihr von dem Grund seiner Erschütterung: Er selbst war einmal auf der Landstraße, an einem Dreiweg, in einen Vorfall verwickelt, auf den die Beschreibung passen könnte. Um ihn zu erzählen, holt er weit aus. Daß Iokaste seine Geschichte und seine Herkunft bis dahin noch nicht kennt, gehört zu den Unwahrscheinlichkeiten, die die Zuschauer hinzunehmen haben 41. So wird es aber ermöglicht, den aktuellen Umgang der Eheleute miteinander als sehr vertrauensvoll darzustellen. Auf die heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen mit Teiresias im ersten und mit Kreon im zweiten Epeisodion folgt hier eine ‹private› Szene. Ödipus’ von Respekt und Offenheit geprägte Anrede an Iokaste legt den Grundton fest: Er werde sie in ihrer Erwartung nicht enttäuschen; sie sei die geeignetste Person überhaupt, der er sich in einer Krisensituation anvertrauen könne (771-73): àoyœ mh¡ sterhuñ˜ w g’ eœw tosoy˜ ton eœlpi¬dvn / eœmoy˜ bebv˜ tow. tì˜ ga¡r an àai¡ àrei¬ssoni / le¬jaim’ an h soi¡ dia¡ ty¬xhw toia˜ sd’ iœv¬n; Auch an dem früheren eigenen Verhalten, über das Ödipus berichtet, läßt sich sein prinzipielles Wahrheits- und Klarheitsbedürfnis ablesen. Als jungem Mann hat ihm eines Tages in Korinth ein Betrunkener beim Gelage erzählt, er sei seinem Vater nur untergeschoben 42, und ihn dadurch mißtrauisch gemacht. Daraufhin intrigiert Ödipus nicht und unternimmt keine Winkelzüge. Am ersten Tag kann er sich gerade noch zurückhalten (781-82: àaœgv¡ barynuei¡w th¡n me¡n oyÓsan h«me¬ran / mo¬liw àate¬sxon ...); dann treibt ihn die innere Last dazu, seine Stiefeltern Polybos und Merope zur Rede zu stellen, um in Erfahrung zu bringen, was es mit dem Gerücht auf sich hat (782-83: ... uhœte¬rá d’ iœv¡n pe¬law / mhtro¡w patro¬w t’ hlegxon∑ ... ). Er will auf jeden Fall Klarheit, und er setzt zunächst die Aufrichtigkeit der anderen voraus. Vorwerfen könnte man ihm hier allenfalls Naivität. Seine Stiefeltern beruhigen ihn, aber quälende Zweifel lassen ihn innerlich nicht 40
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In wesentlichen Punkten stimme ich im folgenden mit Manuwalds Ausführungen zu der Passage (1992, 15-22) überein. Weitere eklatante, aber handlungsnotwendige Unwahrscheinlichkeiten des Stücks liegen darin, daß Ödipus in Theben bis dahin nie etwas über die Todesumstände des Laios gehört hat (schon Aristoteles [Poet. 1460 a 27-30] bemerkt dieses alogon und rechnet es zu den vertretbaren, da ejv toy˜ myuey¬matow bleibenden), daß genau im passenden Moment der Bote aus Korinth mit der Nachricht vom Tod des Polybos eintrifft, daß dieser Bote auch noch derjenige ist, der einst vom thebanischen Hirten den Säugling Ödipus in Empfang genommen hat, und daß der thebanische Hirte wiederum mit dem überlebenden Augenzeugen identisch ist. (Vgl. Scodel 1999, 93-94, 113-114.) Zu den ehrenrührigen Implikationen von plasto¬w vgl. F. Ahl, Sophocles’ Oedipus - Evidence and SelfConviction, Ithaca/London 1991, 143, 178.
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mehr zur Ruhe kommen (785-86: àaœgv¡ ta¡ me¡n àei¬noin eœterpo¬mhn, oÕmvw d’ / eànize¬ m’ aœei¡ toy˜ u’· y«fei˜rpe ga¡r poly¬ ). Nun macht er sich selbständig und konsultiert auf eigene Faust das Delphische Orakel (787-88). Als hochangesehener Thronfolger von Korinth (775-76: ... hœgo¬mhn d’ aœnh¡r / aœstv˜ n me¬gistow tv˜ n eœàei˜ ) verhält er sich also überhaupt nicht strategisch, versucht gerade nicht, um seiner glänzenden Zukunft willen die Angelegenheit unter der Decke zu halten. Den Entschluß, seine Eltern zu verlassen, trifft er erst in einem gewissen zeitlichen Abstand. Er hat offensichtlich die Vorgänge in seinem Inneren zunächst einmal beobachtet, was das Gegenteil von Voreiligkeit ist, aber in ihm ‹nagte es› unablässig weiter (786: eànize m’ aœei¡ toy˜ u’). Diese Freigabe des Blicks auf seine innere Unruhe zielt auf Nachvollziehbarkeit, zeigt, daß Ödipus nicht anders handeln konnte. Der Gott von Delphi gibt ihm keine Antwort auf die Frage nach seinen Eltern und eröffnet ihm stattdessen Schreckliches: Er müsse sich mit seiner Mutter vereinigen und ein Geschlecht zeugen, das den Menschen unerträglich anzusehen sei; seinen Vater werde er töten (791-793). Die ‹ödipuskritischen› Interpreten berufen sich nun ganz wesentlich auf die folgende Reaktion, die sie für überstürzt halten. Ödipus’ entscheidender Fehler sei es, daß er sich hier, obgleich er nach der Äußerung des Betrunkenen schon hätte mißtrauisch sein müssen, wie selbstverständlich so verhalte, als ob Polybos und Merope seine Eltern wären: Ein vorsichtigerer Charakter hätte innegehalten und nachgedacht oder nachgefragt 43, wäre möglicherweise nach Korinth zurückgekehrt, um dort der Wahrheit weiter auf den Grund zu gehen 44. Solche Deutungen verfehlen aber meines Erachtens gerade die im Text gegebene Sinnzuspitzung. Dramatisch entscheidend sind allein Ödipus’ kompromißloser Wunsch, die Wahrheit zu erfahren, und seine ebenso kompromißlose Reaktion auf den Orakelspruch: Der Gott Apollon, die oberste und letzte Instanz, auf die er gehofft hatte, enttäuscht Ödipus, und der fügt sich respektvoll und ohne jede Anmaßung. Dies zeigt sich etwa auch in seiner Formulierung, der Gott habe ihn in dem, um dessentwillen er kam, ‹ungewürdigt hinausgeschickt› (788-789: àai¬ m’ o« Foi˜bow v√n me¡n i«ào¬mhn / atimon eœje¬pemcen ). Er erkennt die Autorität des Gottes fraglos an; mit keiner Andeutung macht er ihm einen Vorwurf dafür, daß er keine Antwort auf seine Frage bekommen hat 45. Hier zeigen sich nicht gekränkter Stolz und Hybris, sondern Ehrfurcht und Selbstbescheidung 46. Ödipus verhält sich den drastischen Folgen zum Trotz völlig konsequent. Er kehrt nicht mehr nach Korinth zurück, bloß damit der Kontakt zu den vermeintlichen Eltern unterbunden bleibt; er verzichtet umstandslos auf sein bisheriges Leben und gibt die damit verbundenen 43 44
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So Erbse 1993, 59-60. Flaig 1998, 120: ‹Seinen Zweifel mit einem Gewaltakt unterdrückend, bestimmte Ödipus plötzlich Polybios (sic) und Merope mit absoluter Gewißheit als seine Eltern; damit schloß er alle anderen Personen aus, die eventuell in Frage kamen.› Schmitt vermutet hinter Ödipus’ Verhalten wesentlich ein gekränktes Geltungsbedürfnis (1988, 22): ‹... er (konnte) den Gedanken an die Schmälerung seines Ansehens in Korinth, wo er vordem als der Größte galt (775/6), nicht ertragen ... und (ist) daher auch bei dem Orakel Apolls den Blick nur auf die mögliche Schande, die ihm diese Untaten in Korinth einbringen müßten (796/7), zu richten in der Lage ..., so daß ihm andere zu bedenkende Möglichkeiten nicht einmal in den Sinn kommen.› Gegen diese offensichtliche Fehlinterpretation von oœnei¬dh (797) Manuwald 1992, 17, Anm. 66. Er erwähnt sie nicht einmal mehr; vgl. Manuwald 1992, 17. Ödipus verhält sich hierin entscheidend anders als zuvor Laios und Iokaste gegenüber dem Orakelspruch, der an sie ergangen ist. Auch Flaig ist übrigens der Auffassung, daß das folgende 2. Stasimon (863910) sich wesentlich gegen sie, nicht gegen Ödipus, richtet (vgl. Flaig 1998, 86-91; besonders 90: s. o., Anm. 33).
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Hoffnungen und Ziele auf (794-796: àaœgv¡ ’paàoy¬saw tay˜ ta th¡n Korinui¬an / astroiw to¡ loipo¡n teàmaroy¬menow xuo¬na / efeygon ...) 47. Er kann nicht anders, als sozusagen schon ‹ sicherheitshalber› nach wie vor Polybos und Merope als seine Eltern zu betrachten. Dies ist für ihn die einzige Möglichkeit, Apollons Spruch ernstzunehmen. In seinem ganz nachvollziehbar dargestellten Schrecken nimmt er umstandslos die wörtliche Deutung des Spruchs auf, die zugleich die für ihn ungünstigste und folgenschwerste ist 48. Kann man glauben, daß hier nahegelegt werden sollte, Ödipus hätte nach Korinth zurückkehren müssen? Im Gegenteil: Sophokles hat eine ganze Anzahl von Möglichkeiten nicht ergriffen, Ödipus als fragwürdige Figur zu zeichnen. In der dargestellten Sequenz, auf dem Weg vom Argen zum Ärgeren, hat die Äußerung des Betrunkenen den Status einer unabdingbaren dramatischen Grundlage für das weitere Geschehen, die Reise nach Delphi. Man darf sie nicht in dem Sinne ‹stark› interpretieren, daß man auf ihr einen Vorwurf an Ödipus aufbaut (er sei gewarnt gewesen und hätte mißtrauisch werden müssen) 49. Nirgends ist ein entsprechendes Signal gesetzt 50. Entscheidend für die Charakterzeichnung ist allein, daß Ödipus niemals auch nur für einen Moment auf interpretatorische Winkelzüge verfällt, um sich zu salvieren. Hierauf folgt (ab 800) die Schilderung des Geschehens am phokischen Dreiweg, zu dem Ödipus (798-799) von Delphi aus gelangte. Die ‹ödipuskritischen› Autoren berufen sich immer auf diesen Abschnitt seiner Erzählung: Ganz abgesehen davon, daß er schon aufgrund des Orakels extrem vorsichtig hätte sein müssen, sei sein Verhalten am Dreiweg auch nicht als Notwehr bzw. fo¬now aœàoy¬siow zu entschuldigen (so ist es in rechtshistorischen Untersuchungen immer wieder gedeutet worden 51 ). Es handle sich mindestens um eine 47
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Manuwald 1992, 17, Anm. 66: ‹Durch die Flucht gibt Oidipus ja gerade alles auf und macht sich zunächst zum Niemand.› Etwas damit Vergleichbares gibt es - bei allen sonstigen Parallelen - in der von Manuwald (1992, 5-14) herangezogenen Kroisos-Atys-Adrastos-Geschichte (Hdt. 1,34-45) nicht. Atys’ Vater Kroisos wurde im Traum der Tod durch eine eiserne Lanzenspitze geweissagt, und es geht nur darum, den Sohn so lange wie möglich ‹durchzumogeln› (1,38: diaàle¬cai ): Kroisos will jedenfalls selbst Atys’ Tod nicht mehr erleben müssen. Atys bleibt immer das Objekt der Entscheidungen seines Vaters, auch wenn er schließlich die verhängnisvolle Zusage, ihn mit auf die Jagd gehen zu lassen, durch seine verständliche Bitte, an der Normalität teilhaben zu dürfen, selbst auslöst. Ödipus trifft eigenständig die unumkehrbare, extrem folgenreiche Lebensentscheidung, alles hinter sich zu lassen: Darin unterscheidet sich sein Verhalten grundsätzlich von dem bloßen Taktieren gegenüber der Weissagung in der Herodotgeschichte. Flaig (1998, 25-26) weist etwa darauf hin, daß Orakel und Träume in der Antike sehr oft, wenn nicht sogar typischerweise, bildlich interpretiert wurden: ‹Beischlaf mit der Mutter haben› konnte bedeuten ‹das Heimatland erobern› oder auch ‹sterben› (d. h. zur Erde zurückkehren): so im Traum des Hippias bei Herodot 6,107. Zöge Ödipus sich hier aber auf solche Deutmöglichkeiten zurück, so empfände man das als Ausweichen. Dies ist ein Kernpunkt von Schmitts Argumentation: Schmitt 1988, 21; 1997, 32-34 mit Anm. 110; dort auch Kritik an Manuwalds Parallelisierung (s. o., Anm. 47): Ödipus sei in einer einzigartigen Lage dadurch, daß er vor einer bekannten Gefahr stehe. Vgl. auch H. Flashar, Familie, Mythos, Drama am Beispiel des Oedipus, Colloquium Helveticum 19 (1994), 51-74; dort 66. Um den Einwand absichtlich - und nicht ganz ernsthaft - zu überspitzen: Man könnte das starke Interpretieren von Handlungsvoraussetzungen konsequent schließlich auch dahin treiben, daß man Ödipus schon die Teilnahme an dem Gelage in Korinth vorwärfe. Vgl. z. B. U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Excurse zum Oedipus des Sophokles, Hermes 34 (1899), 5580; dort 55; H. Funke, Die sogenannte tragische Schuld - Studie zur Rechtsidee in der Griechischen Tragödie, Diss. Köln 1963; dort z. B. 56; G. Greiffenhagen, Der Prozeß des Ödipus - Strafrechtliche und strafprozessuale Bemerkungen zur Interpretation des Ödipus Rex des Sophokles, Hermes 94 (1966), 147-176; dort 167-168.
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für Ödipus typische, kurzschlüssige ‹emotionale Fehlreaktion› 52, wenn nicht gar um eine schwer schuldhafte Tat, einen aus Hybris begangenen ‹Massenmord› 53. Ist das aber plausibel? Ödipus kam ein Wagen mit Gefolge entgegen. Die zentrale Figur war ein älterer Mann, ähnlich dem von Iokaste beschriebenen; voran ging ein Herold ( àh˜ ryj, 802). Bei der Begegnung wird Ödipus zunächst wohl von ihm und dem Alten selbst mit Gewalt, mindestens unsanft, des Weges verwiesen 54. Daraufhin versetzt Ödipus ‹aus Zorn› dem Wagenlenker einen Schlag, denn der versucht, ihn vom Weg zu vertreiben (804-807: ... àaœj o«doy˜ m’ oÕ u’ h«gemv¡n / ayœto¬w u’ o« pre¬sbyw pro¡w bi¬an hœlayne¬thn. / àaœgv¡ to¡n eœàtre¬ponta, to¡n troxhla¬thn, / pai¬v di’ oœrgh˜ w; ...). Bis hierhin handelt es sich um ein Geplänkel. Angefangen haben Laios und sein Gefolge; auch wenn sie grundsätzlich darauf bestehen durften, daß der Fußgänger ihnen auswich 55, mußten sie nicht gleich handgreiflich werden. Ödipus ist durchaus mitverantwortlich dafür, daß sich die Situation weiter aufschaukelt, aber den entscheidenden Eskalationsschritt tut dann Laios, der Ödipus abpaßt und ihm mit dem doppelten Pferdestachel einen Schlag auf den Kopf versetzt (807809: ... àai¬ m’ o« pre¬sbyw, v«w o«rᘠ, / oxoyw parastei¬xonta thrh¬saw, me¬son / àa¬ra diploi˜w àe¬ntroisi¬ moy àaui¬àeto ). Das ist nicht nur schmerzhaft, sondern potentiell lebensgefährlich. Nun ist Ödipus in seiner Existenz bedroht 56. Er schlägt mit dem Wanderstab zurück, und der Alte stürzt rücklings aus dem Wagen - offenbar sofort tot (811-812: ... sàh¬ptrì typei¡w eœà th˜ sde xeiro¡w yÕptiow / me¬shw aœph¬nhw eyœuy¡w eœààyli¬ndetai ). Daß Ödipus physisch dazu imstande war, anschließend ‹alle zu töten› (813: àtei¬nv de¡ toy¬w jy¬mpantaw ) - aus dieser Tat gewinnen die ‹Ödipuskritiker› eines ihrer Hauptargumente 57 - bleibt verwunderlich, aber eine solche Konstruktion ist notwendig, wenn er bereits einen (und die Hauptperson!) erschlagen hatte. Die anderen werden ihn ebenfalls bedroht haben. Übrigens wird hier eine Ungenauigkeit in Kauf genommen: In Wirklichkeit ist einer ja geflohen. Ödipus ist gewiß aufbrausend. Er hat nicht mit Gleichem vergolten, sondern massiver, und er bekennt sich auch dazu (810: oyœ mh¡n ishn g’ eteisen ) - aber zweifelsfrei wurde er angegriffen und konnte nicht verhandeln 58. In der gegebenen Darstellungssequenz bleibt sein Handeln als Verteidigung verständlich. Er gewinnt auch deshalb keine 52 53 54
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Schmitt 1988, 22. Flaig 1998, 101. Zu der schwierigen Frage nach Zahl und Identität der Agierenden in der Szene siehe R.D. Dawe, Sophocles, Oedipus Rex, Cambridge 1982, ad v. 802-807, der, wie schon R. Jebb, Sophocles: The Plays and Fragments, Part I: The Oedipus Tyrannus, Cambridge 21887, ad loc., den àh˜ ryj mit dem h«gemv¬n identifiziert und den troxhla¬thw für eine weitere Person hält. Vgl. Flaig 1998, 99. Dieses qualitative Überschreiten einer Grenze durch Laios - wobei die Berechnung noch durch thrh¬saw unterstrichen ist - wird oft verkannt und die Bedeutung von Laios’ Schlag dann m. E. unberechtigterweise herabgestuft: Schmitt 1988, 22; 1997, 38-39, Anm. 135; Flaig 1998, 99; Flashar 2000, 114. Auch Manuwald (1992, 18-19) markiert den Übergang noch nicht hinreichend deutlich. Vgl. Schmitt, Flaig, Flashar (s. vorige Anm. ). Flashar, ebd., nennt Ödipus’ Äußerung in 813 ‹triumphierend›, was der Text m. E. nicht nahelegt. Ganz nachvollziehbar äußert sich Ödipus im Ödipus auf Kolonos in diesem Sinne noch einmal über die Situation (zu Kreon): ei ti¬w se to¡n di¬àaion ayœti¬à’ eœnua¬de / àtei¬noi parasta¬w, po¬tera pynua¬noi’ an eiœ / path¬r s’ o« àai¬nvn, h ti¬noi’ an eyœue¬vw; / doàv˜ me¬n, eiper zh˜ n filei˜w, to¡n aition / ti¬noi’ an, oyœde¡ toyndiàon perible¬poiw (O.C. 992-996: Schuld resultiert einzig daraus, daß es sich unglücklicherweise um seinen Vater handelte; vgl. O.C. 270-272: ... àai¬toi pv˜ w eœgv¡ àaào¡w fy¬sin, / oÕstiw pauv¡n me¡n aœnte¬drvn, vÕst’ eiœ fronv˜ n / eprasson, oyœd’ an v√d’ eœgigno¬mhn àaào¬w; und O.C. 548: ... no¬mì de¡ àauaro¬w∑ aidriw eœw to¬d’ hÓluon ).
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abstoßenden Züge, weil er die Situation glaubwürdig schildert, nämlich ohne erkennbare Entschuldigungstendenz für sich selbst und auch ohne Belastungseifer gegenüber Laios und seinen Begleitern. Dennoch ist unaufdringlich, aber klar gesagt, daß sie Ödipus schwer attackiert haben 59. Wozu sonst zum Beispiel Laios’ Schlag mit dem Doppelstachel (809: diploi˜w àe¬ntroisi ), ‹mitten auf den Kopf› des Ödipus; wozu schon zuvor die unnötige Provokation? Bei der Deutung der Szene muß man sich stets vor Augen halten, daß es nicht einfach ist, darzustellen, wie eine integre Person in eine Situation schlittert, in der sie schließlich nachvollziehbarerweise einen Totschlag begeht 60. Will man dies mit der notwendigen dramatischen Ökonomie tun, so muß es ungefähr so geschehen wie hier. Eine als abstoßend angelegte Figur träte im aktuellen Gespräch anders auf und präsentierte das Geschehen anders: selbstmitleidig, vorwurfsvoll und erkennbar tendenziös. Auch hätte Ödipus beispielsweise prahlerisch oder unsicher-rechtfertigend auf seinen anschließenden Kampf mit der Sphinx hinweisen können. Das Orakel an Ödipus ist dramaturgisch eine notwendige Voraussetzung für die nachfolgenden schrecklichen Ereignisse. Es ist als eine Feststellung formuliert (auch wenn Ödipus auf sie hin alles tut, um dem Geweissagten zu entgehen), aber nicht mit einer Wenn-DannVerknüpfung als Warnung 61. Es ermöglicht sogar, Ödipus als verantwortungsvoll und uneigennützig Handelnden zu zeigen und die Handlungsfigur ‹Erfüllung gerade durch einen gezielten Vermeidungsversuch› zur Darstellung zu bringen. Daß die Aufdeckungshandlung anschließend noch so lange dauert, zeigt nicht in erster Linie Ödipus’ verwerfliche Blindheit, sondern ist wesentlich ein Mittel, die Schwierigkeit der Annäherung an die Wahrheit spürbar zu machen. Ödipus’ Klarheitswille bedeutet noch nicht, daß die Aufklärung für ihn einfach sein müßte. Sein Verhalten im Verlauf der Aufklärung ist zum Teil unwahrscheinlich, aber das mindert weder die Zuschauerempathie ihm gegenüber noch die Stringenz des Plots. Es ist gewiß unwahrscheinlich, wenn Ödipus im 3. Epeisodion - im Gespräch mit Iokaste und dem Boten aus Korinth - die Wahrheit immer und immer noch nicht erkennt, aber die Folge dessen ist nicht, daß man als Zuschauer fassungslos über Ödipus’ ‹Blindheit› wäre. Das lange Nichterkennen ist zunächst einfach eine Voraussetzung, wenn Sophokles ein Drama schreiben wollte, das im wesentlichen die Aufdekkungshandlung zum Gegenstand hatte. Hätte Ödipus alles sogleich begriffen, so wäre das Stück zu Ende. Lefe`vre bestreitet freilich mit Recht, daß diese rein dramaturgische Deu-
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W. Burkert, Oedipus, Oracles, and Meaning: From Sophocles to Umberto Eco, Toronto 1991, 16: ‹The text dwells on the aggressiveness of Laios and his men›. So stellt übrigens auch das Peisandrosscholion zu Eur. Phoen. 1760 (in einer anderen Version des Mythos) den Geschehensablauf dar: ... eœfoney¬uh eœn tñ˜ sxistñ˜ o«dì˜ ayœto¡w (sc. Laios) àai¡ o« h«ni¬oxow ayœtoy˜ , eœpeidh¡ etyce tñ˜ ma¬stigi to¡n Oiœdi¬poda. Vgl. die saloppe Formulierung von K. v. Fritz, Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit in der griechischen Tragödie, Studium generale 8 (1955), 194-237, zit. nach: ders., Antike und moderne Tragödie, Berlin 1962, 1-112; dort 9: ‹Niemand in der klassischen Zeit des Griechentums hätte es als ein Verbrechen betrachtet ..., wenn jemand an einem einsamen Ort, wo es keine Polizei und keine Gerichtsordnung gibt, einen Fremden, von dem er sich angegriffen und bedroht fühlt, erschlägt. Hier gilt, ganz grob gesprochen, die Regel: wer zuerst schießt, bleibt am Leben. Jeder Mann aus Texas würde das heutzutage noch ohne weiteres verstehen ...›. Burkert 1991, 16: ‹There was only categorical - indeed apodictic - prediction: this will happen, this must happen. (...) Such a function of oracles is not in fact the normal one in Greece›. Insbesondere stellt Burkert dies in Kontrast zur dreimaligen Warnung an Laios bei Aischylos (Sieben gegen Theben, 745-749).
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tung, wie sie etwa Voltaire - Sophokles tadelnd - gegeben hat 62, die Erkenntnisverzögerung schon befriedigend erkläre 63. Viel eher als daß sie aber die Zuschauer die Köpfe schütteln ließen, sind Langwierigkeit und Allmählichkeit der Selbsterkenntnis Mittel, sie den Ödipus ‹kennenlernen› zu lassen und ihre von Identifikation getragene Empathie ihm gegenüber sogar zu erhöhen. Ganz allmählich tauchen Erinnerungsspuren und Indizien auf, und ebenso allmählich werden diese miteinander verknüpft. Der Aufklärungsprozeß hat ja zwei Aspekte, die zunächst sorgfältig getrennt bleiben und erst Schritt für Schritt zusammengeführt werden: den Laiosmord und - noch sehr viel schwerer erträglich den Vatermord und die Mutterehe. Die Fehlinterpretationen, die auf diesem Weg liegen (etwa daß Ödipus in 825-827, im Anschluß an seinen Lebensbericht, noch wie selbstverständlich Polybos und Merope für seine Eltern hält oder daß er selbst in 976, nach der Nachricht vom Tode des Polybos, noch die Ehe mit seiner vermeintlichen Mutter Merope fürchtet), tragen gerade mit dazu bei, daß die Ungeheuerlichkeit der Wahrheit, der Prozeß der Annäherung an sie und die Ödipus dabei abgeforderte Leistung mit maximaler Härte verdeutlicht werden 64. Es geht hier nicht wesentlich um Verblendung, Versagen, eine unbegreifliche Unfähigkeit des Ödipus, die Informationen zusammenzusetzen 65, sondern höchst eindringlich werden die Mühe der Vergangenheitsrekonstruktion, auch die Abwehr bei allem Wissenwollen, und zugleich Ödipus’ Beharrlichkeit vor Augen geführt. Wieder muß man fragen, wie die Schwierigkeit eines solchen Erkenntnisvorgangs - wenn es denn auch um sie ging - anders hätte dargestellt werden können 66. Einen lebensweltlichen ‹Stachel› beim Fortschreiten auf dem Erkenntnisweg bildet Ödipus’ immer wieder aufflackernde Unsicherheit über seine Herkunft. Die Notwendigkeit, sich hier Klarheit zu verschaffen, ist dramaturgisch ein empathieerzeugendes, auf Nachvollziehbarkeit hin angelegtes Moment 67. Ödipus reagiert auf alle diesbezüglichen Hinweise außerordentlich hellhörig und sensibel, worin sich auch widerspiegelt, daß er eine ‹alte Wunde› mit sich trägt: Von der Bemerkung beim Gelage an zeigt er sich, wenn die Rede darauf kommt, immer wieder tief getroffen (in der aktuellen Bühnenhandlung zuerst durch Teiresias’ Andeutung 62
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Er nannte sie ein ‹artifice grossier du poe¨te, qui, pour donner a` sa pie`ce une juste e´tendue, fait filer jusqu’au cinquie`me acte une reconnaissance de´ja` manifeste´e au second› (Lettres sur Œdipe. Lettre III, Contenant la critique de l’ Œdipe de Sophocle, in: Œuvres comple`tes I, Paris 1836, 66-69; dort 68). Lefe`vre 1987, 41 m. Anm. 17; 2001, 126 m. Anm. 38. Erst in der Schlußszene verbindet Ödipus unter größter Anstrengung Laiosmord und Vatermord miteinander; d. h. ein langer, von den Zuschauern mitvollzogener Erkenntnisweg kommt hier zu Ende. Zunächst läßt er in 1382-83 das Königsmord- bzw. Frevelthema assoziativ in die Einsicht hinübergleiten, daß er der Sohn des Laios ist ( vœuei˜n aÕpantaw to¡n eœà uev˜ n/ fane¬nt’ anagnon àai¡ ge¬noyw toy˜ LaiÏoy ); in 1441 endlich nennt er sich ausdrücklich und an erster Stelle Vatermörder: to¡n patrofo¬nthn, to¡n aœsebh˜ m’ aœpolly¬nai. So Lefe`vre 1987, 39-43; 2001, 124-130; Erbse 1993, 57-58. Die ‹ödipuskritischen› Interpreten neigen dazu, statt des mühsamen Erkenntnisprozesses bloß eine Kumulation von Irrtümern zu sehen (Lefe`vre 2001, 138: ‹Von Teiresias’ Auftritt an dient jeder weitere dazu, Oidipus als Verblendeten vorzuführen›) oder allenfalls, wie bereits zitiert, einen ‹dynamisch dargestellten Prozeß des Nichterkennens› (Lefe`vre 2001, 139). Übrigens hat das ‹verspätete Erkennen› (Erbse 1994, 58) im Rahmen der Bühnenhandlung keine irreparablen Folgen (anders als z. B. das Handeln des Kreon in der Antigone). Auch das spricht dafür, daß es nicht das Hauptziel ist, die Verspätung zu problematisieren. Sophokles hätte gewiß einen Plot konstruieren können, in dem Ödipus’ Verblendung aktuell noch Opfer gefordert hätte. Auch der Argwohn, er sei vielleicht gar ein Sklavensohn im dritten Glied, soll ihn nicht daran hindern (1058-59: oyœà an ge¬noito toy˜ u’, oÕpvw eœgv¡ labv¡n / shmei˜a toiay˜ t’ oyœ fanv˜ toyœmo¡n ge¬now , 1076-77: o«poi˜a xrñ¬zei r«hgny¬tv· toyœmo¡n d¢ eœgv¬, / àeiœ smiàro¬n eœsti, spe¬rm’ iœdei˜n boylh¬somai ).
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bezüglich seiner Eltern 68, ebenso dann in dem Moment, in dem die Rede auf die Fußverletzung kommt, die als ein auch psychisch schmerzendes Trauma dargestellt ist 69 ). Ganz diesseits aller göttlichen Verhängnisse dringt hier etwas auf Klärung, und diese erfolgt dank Ödipus’ Willen zur Klarheit schließlich auch. (Die Schadewaldtschen Termini ‹Dämonie des Wissenwollens› und ‹Ereignis der Wahrheit› mystifizieren hier gewiß unnötig 70.) Nun noch etwas eingehender zu einer zweiten Stelle aus dem Stück: dem Botenbericht der Schlußszene über die Geschehnisse im Palast von Theben. Flaig etwa sieht hier Ödipus’ Verhalten endgültig ins ‹Monsterhafte› 71 umkippen. Ich halte das nicht für treffend, möchte auch auf einen in den Deutungen der Passage eher selten berücksichtigten Aspekt hinweisen. Iokaste hat zum Schluß des 3. Epeisodion, nach dem Gespräch mit dem Korinther, der die Nachricht vom Tode des Stiefvaters Polybos überbracht hat, alles begriffen und voller Verzweiflung die Bühne verlassen (1071-72). Ödipus’ entsprechende Erkenntnis folgt am Ende des 4. Epeisodion, nach dem Verhör des Hirten (1182-85). (Er hat hier auch erfahren, daß Iokaste selbst es war, die ihn als Säugling zur Aussetzung weggegeben hat: 1173-75.) Zu Beginn der darauffolgenden Szene berichtet der Bote nun, Ödipus sei wie ein Rasender (1258: lyssv˜ nti ) in den Palast gestürmt (1252), wo Iokaste schon zuvor eingetroffen war (1241-50). Er habe sie gesucht, nach einem Schwert verlangt (1255: foitᘠga¡r h«ma˜ w egxow eœjaitv˜ n porei˜n ) und nach Iokaste, der ‹Gattin und Nicht-Gattin› (1256), gefragt. Schließlich habe er die verschlossene Tür des Ehegemachs aufgebrochen: Iokaste hatte sich erhängt. Ohne Zweifel ist Ödipus hier außer sich (der Bote beschreibt sein Verhalten als wie von einem ‹Daimon› oder einem ‹Führer›, also von außen, gesteuert 72 ). Befindet er sich aber wirklich in einem Blutrausch? Aus seinem Wunsch nach dem Schwert (von dem anschließend nicht mehr die Rede ist) schließt man naheliegenderweise auf seine Absicht, Iokaste zu ermorden 73, aber sein tatsächliches Verhalten gegenüber 68
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Ein jäher Schreck läßt Ödipus hier alle Verschwörungstheorien vergessen und Teiresias sogar zum Bleiben auffordern (435-437: Te. h«mei˜w toioi¬d¢ efymen, v«w me¡n soi¡ doàei˜, / mv˜ roi, goney˜ si d’, oiÕ s’ efysan, emfronew. / Oi. poi¬oisi; mei˜non. ti¬w de¬ m’ eœàfy¬ei brotv˜ n; ). Die Bemerkung des Betrunkenen bleibt in einer Erinnerungsspur virulent, auch wenn das Orakel sie zunächst in den Hintergrund drängt (Manuwald 1992, 16-17, argumentiert zu sehr, als ob sie geradezu getilgt würde). Den Boten fragt er entsetzt zurück oimoi, ti¬ toy˜ t’ aœrxai˜on eœnne¬peiw àaào¬n; (1033). In 1035 spricht er von einem deino¡n oneidow (1035). Schadewaldt 1970, 469. Flaig 1998, 137. 1258: lyssv˜ nti d’ ayœtì˜ daimo¬nvn dei¬ànysi¬ tiw ..., 1260: deino¡n d’ aœyÏsaw , v«w y«fÅ h«ghtoy˜ tinow . Vgl. z. B. Flashar 2000, 117. Eine - allerdings auf andere Weise problematische - Ausnahme bildet hier die Deutung von G. Devereux, der das Schwert schon in Zusammenhang mit Ödipus’ folgender Autoaggression stellen will (The Self-Blinding of Oidipous in Sophokles: Oidipous Tyrannos, JHS 93 [1973], 36-49; dort 48-49). Ausführlich zur Stelle M.D. Faber, Oedipus Rex: A Psychoanalytic Interpretation, The Psychoanalytic Review 62 (1975), 239-268: Ödipus’ Mordwunsch sei seine Reaktion auf die Nachricht, daß es Iokaste war, die seine Aussetzung befohlen hat (240-241 u. passim). Faber verfolgt vor allem die Problematik von Ödipus’ früher Mutterbeziehung und des Todeswunsches gegen die ‹böse Mutter› und sieht in Iokastes Verhalten - hier führt die Deutung m. E. vom Stück ab - die Wurzel allen Übels: Das Detail, daß Iokaste, nicht Laios, das Kind ausgesetzt hat, sei ‹a key to the underlying meaning of the action› (Faber 1975, 239 u. passim; z. B. 258: ‹what lies deepest in this play is the enigma of the mother, the terror of maternal ambivalence and its accompanying destructiveness›; 261: ‹... Jocasta’s behavior resulted in Oedipus’ ‘wound’ which drove him, in turn, to patricide and incest›). Vgl. auch P.L. Rudnytsky, Freud and Oedipus, New York 1987, z. B. 258.
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ihrem Leichnam, das sehr differenziert gezeichnet ist, weist dann in eine andere Richtung. Ödipus’ erste Reaktion, nachdem er die Erhängte erblickt hat, ist ein Aufschrei (1265: deina¡ bryxhuei¡w ta¬law ). Er ist nicht etwa darüber befriedigt, daß Iokaste das, was er zu tun vorhat, sich bereits selbst angetan hat, schändet auch nicht die Leiche, sondern er ist entsetzt. Er lockert die Schlinge 74 und bettet Iokastes Leichnam auf die Erde, erlöst sie also aus der ihm unerträglichen Position, als ob er sie ins Leben zurückrufen wollte 75 (1266-67: xalᘠàremasth¡n aœrta¬nhn. eœpei¡ de¡ gñ˜ / eàeito tlh¬mvn ...). Ein ‹Monster› hätte sich anders verhalten 76. Die Aggression kehrt Ödipus schließlich gegen sich selbst, womit sich ein weiteres Mal zeigt, daß er keine Tendenz hat, Schuld zu externalisieren: Er blendet sich mit den Nadeln 77 von Iokastes Gewand (1268-70). Wie immer man den Wunsch nach dem Schwert deutet (denkbar ist auch, daß Ödipus mit ihm Iokaste zum Reden bringen und die Auseinandersetzung über die Wahrheit erzwingen wollte, die ihm vorenthalten wurde): Ödipus bringt seinen aggressiven Ausbruch sogleich wieder unter Kontrolle, wodurch klar wird, daß es sich tatsächlich nur um einen Ausbruch handelte. Auch hier zeichnet Sophokles nicht das Verhalten eines Scheusals. Um sich die Darstellung eines solchen in der attischen Tragödie zu vergegenwärtigen, halte man zum Beispiel die Figur des Usurpators Lykos aus dem Herakles des Euripides daneben.
3. Individuelle und herrscherliche Schuldverstrickung: Ein Deutungsvorschlag mit Blick auf die Psychoanalyse Nach den hier vorgelegten Interpretationen steht im Zentrum des Stücks nicht die Problematisierung oder ‹Kritik› eines Fehlverhaltens bei Ödipus. Wie könnte sich aber nun das Allgemeine, das Identifikation erzwingende Moment dieses extrem anmutenden, mit Schuld behafteten und doch unmittelbar packenden Lebensgangs konkreter und spezifischer beschreiben lassen als mit ‹Schicksals-›Kategorien? Zunächst seien zwei Punkte betont. - Unvermeidliche, von den Handelnden nicht gewollte Verstrickung in objektive Schuld durch eine Tat, die nach dem Willen und durch das undurchschaubare Wirken der Götter zur Sühne kommen muß, ist in den Tragödien des Aischylos und des Sophokles ubiquitär. 74
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Zur Frage nach dem Mechanismus vgl. J. Bollack, L’ Oedipe roi de Sophocle (4 Bde.), Lille 1990, ad loc. (Bd. 3, 854-859). Haimon beläßt in der entsprechenden Situation Antigones Leichnam in der Schlinge (Ant. 1221-23 [der Bote berichtet]: th¡n me¡n àremasth¡n ayœxe¬now àatei¬domen, / bro¬xì mitv¬dei sindo¬now àauhmme¬nhn, / to¡n d’ aœmfi¡ me¬ssñ peripeth˜ prosàei¬menon ...). Faber beobachtet (1975, 254-255) diesen Übergang des Ödipus hin zu einem zärtlichen Verhalten und deutet ihn rein triebdynamisch als Gegenbewegung, nachdem sein Wunsch nach dem Tod der Mutter erfüllt ist (in magischem Denken schreibe Ödipus sich selbst die Tat zu). Fabers Interpretation erinnert öfters zu sehr an ein psychoanalytisches Gutachten und vernachlässigt gestalterische Betonung und dramatische Zeichnung. Solche - intuitiv mehr oder weniger nachvollziehbaren - Affektmechanismen sind im Stück jedenfalls nur Grundlage, ‹Material› einer ganz bestimmten Charakterzeichnung. Daß Ödipus als jemand dargestellt wird, den der besagte Gefühlsumschwung ergreift, ist das Ergebnis einer Gestaltungsentscheidung; die Figur wird auf eine ganz bestimmte Weise modelliert und das Identifikationsangebot an die Zuschauer in einem bestimmten Sinne erneuert. Zu deren möglicher symbolischer Bedeutung vgl. Devereux 1973, 48-49; Faber 1975, 252.
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Meist ist die schuldhafte Tat hier (auch generationenübergreifend) ihrerseits schon die Sühne für eine andere Tat, der Täter also ein Werkzeug (wie in der Orestie oder - auf andere Weise - in den Trachinierinnen) 78. Auch im Labdakidenmythos gibt es eine sich über Generationen fortzeugende Schuld. In Aischylos’ thebanischer Tetralogie (Laios, Oidipous, Sieben gegen Theben; dazu gehörte noch das Satyrspiel Sphinx) spielte das Thema offensichtlich eine Rolle 79; im König Ödipus ist es in den Hintergrund getreten 80. Sophokles’ Stück hat objektive Schuld und Sühne zum Gegenstand, aber seine Handlung ist durch das Schema ‹schuldhafte Tat - Sühne für diese Tat› nicht zureichend bestimmt. Es steht hier nicht so sehr die objektive Gegebenheit, ‹die› Tat als Einzelfaktum, im Mittelpunkt (die in anderen Tragödien klar umrissen zum Gegenstand einer Entscheidung oder auch einer Verpflichtung werden kann). Indem die Taten eng mit der Lebensgeschichte und dem Erwachsenwerden des Protagonisten verklammert werden, rücken sie in einen anderen Bedeutungszusammenhang. Sie sind nun wesentlich unvermeidliche Konsequenzen in einer Kette biographischer ‹points of no return›, welche jeweils ein Handeln fordern: bei der Äußerung des Betrunkenen, beim unheilvollen Spruch in Delphi und dann wieder, verhängnisvoll, am Dreiweg. Der so gezeichnete lebensgeschichtliche ‹Schuldzwang› bedeutet gegenüber dem Tat-Schuld-Sühne-Schema etwas Neues. Ödipus’ jeweils von der Situation erzwungenes nachvollziehbares Handeln wäre mehrmals als ‹Entscheidung› für eine bestimmte Tat nicht treffend beschrieben 81. Am Dreiweg etwa ‹entscheidet› Ödipus sich nicht wesentlich, Laios umzubringen (so wie sich Antigone entscheidet, Polyneikes zu beerdigen), sondern sieht sich gezwungen, sein Leben zu verteidigen. - Oft wird zu wenig beachtet, wie Ödipus mit der Schuld umgeht. Klar ist, daß bei aller Unumgänglichkeit, Nachvollziehbarkeit und ungeachtet der juristischen Einschätzung als Notwehrsituation seine Taten eine objektive Schuld bedeuten. Im Sinne archaischer Religiosität manifestiert diese sich im Miasma, mit dem die Stadt befleckt ist. Ödipus treibt aber ein massives Schuldgefühl um, das mehr ist als die innerpsychische Entsprechung der Notwendigkeit, das Miasma zu sühnen. Dieses ‹Mehr› ist beispielsweise dadurch markiert,
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Knapp und grundlegend hierzu H. Patzer, Hauptperson und tragischer Held in Sophokles’ Antigone (Sitzungsberichte der Wiss. Gesellschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/M. 15,2), Wiesbaden 1978; dort 59-65; ausführlicher: ders., Die Anfänge der griechischen Tragödie, Wiesbaden 1962, 134-173. Umstritten bleiben freilich die Unterscheidung zwischen Fluch und Götterzorn und die Frage, wo und von wann ab mit einer festen Vorstellung von generationsübergreifender Schuld zu rechnen ist; vgl. zuletzt die Debatte zwischen M. West (Ancestral Curses, in: Sophocles Revisited [ed. J. Griffin], Oxford 1999, 31-45) und H. Lloyd-Jones (Curses and Divine Anger in Early Greek Epic: The Pisander Scholion, CQ 52 [2002], 1-14). Das zeigen Stellen aus den Sieben gegen Theben (v. a. das Chorlied 720-791; dort 742-745: palaigenh˜ ga¡r le¬gv / parbasi¬an vœày¬poinon, aiœv˜ na d’ eœw tri¬ton / me¬nein ... ). Unklar bleibt, ob hier schon die später kanonische Version vorlag, nach der der Grund des Übels in einem Fluch des Pelops über Laios lag, der seinen Sohn Chrysippos geraubt hatte (dagegen West 1999, 39-40). H. Lloyd-Jones, The Justice of Zeus, Berkeley u. a. 1971, 121-123, und 2002 rechnet damit jedoch auch hier. Lloyd-Jones argumentiert gegen West, es sei nicht erforderlich gewesen, jedesmal die ‹ganze Geschichte› zu erzählen. Die Vorgeschichte könne auch bedeutsam sein, wenn sie keine ausdrückliche Rolle spiele, denn das Publikum sei mit dem mythologischen Hintergrund hinreichend vertraut gewesen. Dieses Argument läßt allerdings kaum mehr die Möglichkeit zu, daß das Abblenden solcher Sachverhalte für sich genommen gezielt und bedeutsam sein könnte. Ödipus’ eigene Einschätzung in O.C. 266-267 ( ta¬ g’ erga me / peponuo¬t’ isui ma˜ llon h dedraào¬ta [Hertel, Housman: moy peponqo¬t¢ eœsti¡ codd.]) ist hier ganz zutreffend.
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daß Ödipus sich über Apollons Befehl, über den gegen den Laiosmörder verhängten Fluch hinaus blendet 82 und es zugleich ablehnt zu sterben 83. Es besteht unabhängig von objektivem Miasma einerseits und subjektiver bzw. juristischer Unschuld andererseits 84. Sigmund Freud hat von Sophokles nicht nur den Namen des bekannten Komplexes entlehnt, sondern sich auch mehrfach über das Stück, das er gut kannte, geäußert. In der ‹Traumdeutung› stellt er die Frage nach der Natur dessen, was man im König Ödipus ‹Schicksal› genannt hat: ‹Es muß eine Stimme in unserem Innern geben, welche die zwingende Gewalt des Schicksals im Ödipus anzuerkennen bereit ist, während wir Verfügungen wie in der Ahnfrau oder in anderen Schicksalstragödien als willkürliche zurückzuweisen vermögen› 85. Bei der Suche nach einem Ansatz, der sowohl dem Moment des ontogenetisch verankerten Strukturzwangs in dem Stück als auch dem so deutlich dargestellten Schuldgefühl des Ödipus Rechnung trägt, scheint mir die Psychoanalyse einige noch ungenutzte Aufschlußmöglichkeiten zu bieten. Ich will nun nicht mit einer geborgten Theorietermino82
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In 1331 setzt Ödipus seine Selbstblendung ausdrücklich vom Wirken des Apollon ab: epaise d’ ayœto¬xeir nin (sc. die Augen) oytiw, aœll’ eœgv¡ tla¬mvn. Dazu B. Knox, Oedipus at Thebes. Sophocles’ Tragic Hero and His Time, New Haven 1957, 186-187; T. Ph. Howe, Taboo in the Oedipus Theme, TAPA 93 (1962), 124-143; C. H. Whitman, Sophocles. A Study of Heroic Humanism, Cambridge 1971, 141142; W. Kullmann, Die Reaktionen auf die Orakel und ihre Erfüllung im König Ödipus des Sophokles, in: Orchestra (Festschrift für Hellmut Flashar anläßlich seines 65. Geburtstags), hg. v. A. Bierl, P. v. Möllendorff, S. Vogt, Stuttgart/Leipzig 1994, 105-118; dort 114, 116. Die psychoanalytische Deutung der Blendung als Kastration (z. B. S. Freud, Das Unheimliche, Ges. Werke XII, Frankfurt/M. 61986, 243; vgl. etwa wieder L. Edmunds, Freud and the Father, Psychoanalysis and Contemporary Thought 8 [1985], 87-103; dort 96-97) schöpft, auch wenn man die symbolische Bedeutung akzeptiert, die Ausgestaltung bei Sophokles sicher nicht aus (vgl. die folgende Anmerkung). Z. B. 1371-74: eœgv¡ ga¡r oyœà oiÓd’ ommasin poi¬oiw ble¬pvn / pate¬ra pot’ an prosei˜don eiœw −Aidoy molv¬n, / oyœd’ ayÓ ta¬lainan mhte¬r’, oi√n eœmoi¡ dyoi˜n / erg¢ eœsti¡ àrei¬sson¢ aœgxo¬nhw eiœrgasme¬na. Besonders bemerkenswert sind die schwierigen Verse 1273-74 im Botenbericht (... aœll’ eœn sào¬tì to¡ loipo¡n oyÀw me¡n oyœà edei / oœcoi¬au¢ [Subjekt sind die Augen], oyÀw d’ exrñzen oyœ gnvsoi¬ato ). Eine interessante Deutung der Blendung als einer verinnerlichten Konfrontation (‹im Dunkeln›) mit den Bildern der Vergangenheit (vgl. 1318: mnh¬mh àaàv˜ n ) haben aufgrund dessen F.W. Schneidewin/A. Nauck/E. Bruhn, Sophokles, 2. Bändchen: König Oedipus, Berlin 111910, ad loc., und W.M. Calder, III., The Blinding, Oedipus Tyrannus, 1271-4, AJPh 80 (1959), 301-305, gegeben (Calder, ebd., 305: ‹For the rest of his life these spectres shall vividly haunt his conscience›). Dagegen A. Parry, Sophocles, Oedipus Rex 1271-4, CQ 54 (N.S. 10) 1960, 268-270, der sich aber zu wenig um Erklärung des paradoxen Ausdrucks bemüht und (270) jedenfalls auch die Freiwilligkeit von Ödipus’ Auseinandersetzung betont: ‹... he wants to feel the full horror of what he has done›. Flaigs Deutung der Schlußszene in Begriffen von Herrschsucht und Größenwahn (die sich besonders auf Äußerungen wie ... taœma¡ ga¡r àaàa¡ / oyœdei¡w oi√o¬w te plh¡n eœmoy˜ fe¬rein brotv˜ n [1414-15] stützt) verkennt dieses Moment (Flaig 1998, 130-138). Mit dieser Dichotomie operiert etwa auch Kullmann (1994), der das Stück wesentlich von der Spannung zwischen ‹alter› Religiosität und der ‹neuen›, aufgeklärten Schuldethik geprägt sieht, nach der Ödipus kein Vorwurf zu machen sei (und die wohl der Großteil des Publikums vertreten habe). Dieser Deutungsrichtung sind auch zuzurechnen J. Schmidt, Sophokles, König Ödipus. Das Scheitern des Aufklärers an der alten Religion, in: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart (hg. v. J. Schmidt), Darmstadt 1989, 33-55; M. Altmeyer, Unzeitgemäßes Denken bei Sophokles, Stuttgart 2001 (zum König Ödipus dort 127-169). Die Traumdeutung, Ges. Werke II/III, Frankfurt/M. 71967, 269. (Vgl. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Ges. Werke XI, Frankfurt/M. 81986, 342.) Zum Verhältnis von ‹Traumdeutung› und Ödipustheorie siehe L. Marinelli/A. Mayer, Vom ersten Methodenbuch zum historischen Dokument. Sigmund Freuds Traumdeutung im Prozeß ihrer Lektüren, in: dies., Die Lesbarkeit der Träume. Zur Geschichte von Freuds Traumdeutung, Frankfurt/M. 2000, 37-125 (dort 87-89); vgl. dies., Die Traumdeutung und die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, Wien 2002.
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logie den antiken Text erdrücken, auch nicht suggerieren, Freud biete ‹den› Schlüssel zu Sophokles. Theorie ist dann förderlich, wenn sie, sparsam eingesetzt, die Konturen des Materials deutlicher sehen läßt, und dies könnte hier der Fall sein. Freuds Sophoklesdeutung ist aus förmlich allen Richtungen kritisiert worden 86 - nicht selten auch als ein die Perspektive des 19. Jahrhunderts zugrundelegender Anachronismus, als Spiegel der sexuellen Repression der bürgerlichen Gesellschaft und das Patriarchat affirmierend 87. Man macht es sich hier aber wohl manchmal etwas zu leicht. Es gibt einige m. E. bemerkenswerte sachliche Berührungspunkte zwischen Sophokles und der Freudschen Theorie, die bisher wenig betont wurden (auch von Freud nicht). Das Risiko eher ‹individualistischen› Interpretierens nehme ich für den Moment auf mich, da ich glaube, anschließend die Perspektive wieder erweitern zu können. Im psychoanalytischen Entwicklungsmodell findet sich der Sache nach die Vorstellung einer zwingenden lebensgeschichtlichen Schuldverstrickung. Der ‹Ödipuskomplex› ist keine bloße ‹Störung› in dem Sinne, daß schlimme Wünsche verdrängt würden und ungünstigenfalls später Neurosen auslösten 88. Die ödipale Krise ist nicht etwas, das besser nicht stattfände; sie ist vielmehr unumgänglich und sogar produktiv: Die libidinös besetzte Dreierkonstellation von Kind und Eltern ist strukturnotwendig für das ganze spätere Leben. Die gewissermaßen objektive Schuld, die notwendige Entzweiung, die in der ödipalen Entwicklungsphase des Kindes durch Liebes- und Beseitigungswünsche entsteht und die als Schuldgefühl weiterwirkt, ist ein entscheidender Treibsatz für die Loslösung von den Eltern und die weitere Entwicklung. In Sophokles’ Drama ist die Schuldverstrickung untrennbar mit dem Heranwachsen verbunden. Selbstverständlich geht es dort nicht einfach um den Wunsch des Knaben, den Vater zu ermorden und die Mutter zu heiraten. Von solchen Wünschen ist im Stück nicht die Rede 89; zudem hat Ödipus seine leiblichen Eltern gar nicht gekannt und wollte Vatermord und Mutterehe bei seinen sozialen Eltern gerade mit allen Mitteln entgehen. Diese Gegebenheiten des Stücks hat man immer wieder zum Argument gegen psychoanalytische Deutungsansätze gemacht 90, aber es wird zu zeigen 86
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Dies auch von grundsätzlich psychoanalysefreundlichen Autoren wie N. Rand, Psychoanalytische Literaturbetrachtung am Beispiel von König Ödipus, Psyche 55 (2001), 1307-1328, oder C. Segal; z. B. Time and Knowledge in the Tragedy of Oedipus, in: Segal 1995, 138-160. Eine relative Ausnahme in letzter Zeit bildet R.F. Glei, Freud und die Antike - oder: ‹Hatte Ödipus einen Ödipus-Komplex?›, in: Genie und Wahnsinn - Konzepte psychischer ‹Normalität› und ‹Abnormität› im Altertum (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 46; hg. v. G. Binder, B. Effe, R.F. Glei, Th. Lindken), Trier 2000, dort: 9-24. Zum gängigen ‹Freud-bashing› Lear 1998, z. B. 54-55; eine neuere Bestandsaufnahme zur psychoanalytischen Literaturinterpretation generell: E. Wright, Psychoanalytic Criticism - A Reappraisal, Cambridge 21998. Ein jüngeres Beispiel für diese ideologiekritische Position: D. Bartels/A. Bartels, Oedipus, Freud, and the Hegemony of Patriarchy, Echos du Monde Classique/Classical Views 42 (N.S. 17) (1998), 115127; ebenfalls skeptisch (aber weniger polemisch) M.C. Nussbaum, The Oedipus Rex and the Ancient Unconscious, in: Freud and Forbidden Knowledge (ed. P.L. Rudnytsky, E. Handler Spitz), New York/ London 1994, 42-71. Zu sehr in diesem Sinne interpretiert etwa Segal das Freudsche Modell (z. B. 1993, 59). Auch wenn Iokaste immerhin auf die angeblich häufigen Träume vom Beischlaf mit der Mutter in 98182 hinweist. So z. B. J.-P. Vernant (Œdipe sans complexe, in: Vernant/Vidal-Naquet 1973, 75-98); wieder Nussbaum 1994, z. B. 43-45, 65; Bartels/Bartels 1998, 115. Segal akzeptiert diesen Einwand impliziterweise ebenfalls und glaubt, ihm nur durch einen Rekurs auf Lacansche Theoreme begegnen zu können (Time and Knowledge, 140; auch: ders., Sophocles, Oedipus Tyrannus: Freud, Language and the Unconscious, in: Segal 1995, 161-179 [und 257, Anm. 6]). Lacan-Rezeption auch bei Pucci 1992.
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sein, daß sie sich diesen in mehrfacher Hinsicht sogar gut einfügen. Freud schreibt in der ‹Traumdeutung›: ‹... die Sage (muß) Schreck und Selbstbestrafung in ihren Inhalt mit aufnehmen› 91. Der König Ödipus führt nicht platt ‹ödipale Wünsche› vor (das hat Freud auch nie behauptet), kann aber als die Darstellung einer Bearbeitung solcher Wünsche, ihrer Folgen, gelesen werden. Ödipus erzählt Iokaste von der Zeit, in der er seine Stiefeltern in Korinth verließ, also seinem Erwachsenwerden. In diesem Moment wurde er vom delphischen Orakel mit der schrecklichen Prophezeiung konfrontiert, und gerade durch seinen Vermeidungsversuch geriet er dann in das hinein, was er zu vermeiden trachtete. Das steht nun gerade nicht im Widerspruch zum psychoanalytischen Entwicklungsmodell, für das der zweizeitige Ansatz des menschlichen Sexuallebens grundlegend ist: Es sieht in einem entscheidenden Moment des Heranwachsens, zu Ende der Latenzphase und mit dem Einsetzen der Pubertät, noch einmal die alten, kindlich-ödipalen Wünsche zum Vorschein kommen. Das Individuum findet sich hier mit etwas konfrontiert, das mit seiner Moralität und seinem Wunsch, erwachsen zu werden, in völligem Widerspruch steht. Es muß über sich selbst zutiefst erschrecken. Ein wesentliches Strukturmoment dieses Erschreckens ist die Nachträglichkeit: Der heranwachsende Mensch, von seinen neu aufkeimenden Triebwünschen bedrängt, vervollständigt erinnernd und rückphantasierend seinen kindlichen Wunsch zu dem, was das fünfjährige Kind mit seinen damaligen Mitteln und seinem Wissen so noch gar nicht zu wünschen imstande war. Was damals noch diffus blieb, wird erst jetzt, in der Rückwendung, nachträglich zum vollständigen ödipalen Wunsch beziehungsweise zur phantasierten ödipalen Tat ausgestaltet 92. Das Erschrecken (‹Was hätte ich da tun können!›) ist gleichzeitig das Ausformulieren und so gewissermaßen ein nachträgliches ‹Herstellen› der Tat. Es kommt zu einer nur vermeintlich paradoxen Einheit: Je höher die Moralbindung, desto drastischer wird in einer strafenden Selbstkonfrontation im Rückblick der unerträgliche Wunsch ausbuchstabiert werden. Für den psychischen Apparat erhält dieser den Rang einer wirklichen Tat, die objektive Schuld bedeutet und sich im Schuldgefühl zum Ausdruck bringt. 91
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Traumdeutung, 270-271. Vgl. ‹Abriss der Psychoanalyse› (Ges. Werke XVII, Frankfurt/M. 41966, 118119): ‹So hat man den Einwand hören können, die Sage vom König Ödipus habe eigentlich nichts mit der Konstruktion der Analyse zu tun, es sei ein ganz anderer Fall, denn Ödipus habe ja nicht gewusst, dass es sein Vater sei, den er getötet, und seine Mutter, die er geheiratet habe. Man übersieht dabei nur, dass eine solche Entstellung unerlässlich ist, wenn eine poetische Gestaltung des Stoffes versucht wird, und dass sie nichts Fremdes einträgt, sondern nur die im Thema gegebenen Momente geschickt verwertet›. Radikal mißverstanden, nämlich als gezielte Verschleierung erklärt, wird jene Entstellung in der adlerianischen Deutung F. Maiullaris (L’ interpretazione anamorfica dell’ Edipo Re, Pisa/Roma 1999): Das Stück sei doppelt lesbar, Ödipus in einer untergründigen ‹zweiten Geschichte› ein machthungriger Verbrecher, der seine Taten bei vollem Bewußtsein verübt habe. Freud, Vorlesungen, 348, zu diesem ‹Rückphantasieren›: ‹... der Haß gegen den Vater (ist) durch eine Anzahl von Motiven verstärkt ..., die aus späteren Zeiten und Beziehungen stammen, ... die sexuellen Wünsche auf die Mutter (sind) in Formen gegossen ..., die dem Kinde noch fremd sein mußten. Aber es wäre ein vergebliches Bemühen, wenn wir das Ganze des Ödipuskomplexes durch Rückphantasieren erklären ... wollten.› Das Konzept der Nachträglichkeit stammt aus dem Zusammenhang der ‹Verführungstheorie› in Freuds frühen Untersuchungen zur Hysteriegenese (der Annahme eines erst mit zeitlicher Verschiebung wirkenden Traumas aufgrund einer realen Verführung des Kindes; vgl. z. B. den ‹Entwurf einer Psychologie› von 1895 in: Ges. Werke, Nachtragsband, Frankfurt/M. 1987; dort v. a. 444-448), ist aber für Freud auch bedeutsam geblieben, nachdem er diese Theorie aufgegeben hatte: Die erinnerte Verführung erklärte er dann als Rückprojektion einer Phantasie ins Kindesalter (Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Ges. Werke XV, Frankfurt/M. 41967, 128, und schon ‹Über die weibliche Sexualität›, Ges. Werke XIV, Frankfurt/M. 71991, 532). Vgl. den Artikel
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Das Stück zeigt, gestuft und zeitlich ausgefaltet, ziemlich genau diese Handlungslogik, nur daß sich hier die schreckliche Phantasie verwirklicht. Darin, daß der heranwachsende Ödipus gerade in seinem Schrecken über das Geweissagte dahin kommt, das zu tun, was er auf keinen Fall will, wäre genau jene Einheit von Vermeidenwollen und Tat Realität geworden. Ein typisches Muster mythischen Geschehens wäre an eine lebensgeschichtliche Grundlage zurückgebunden. Die Stiefkindsituation des Ödipus und die Aufspaltung in zwei Elternpaare ermöglichen es, die Einheit von Vermeidenwollen und Doch-Ausführen dramatisch plausibel zu konstruieren. Zudem läßt sich die Unwissenheit des Ödipus als ‹legitime Darstellung der Unbewusstheit, in die für den Erwachsenen das ganze Erlebnis versunken ist›, interpretieren 93. Rückgängig gemacht wird sie erst mit der aktuellen Handlung, deren ‹schrittweise gesteigerte ... und kunstvoll verzögerte ... Enthüllung› Freud mit der Arbeit einer Psychoanalyse verglich 94. Führt man die Überlegungen noch etwas fort, so kann man am Schluß des Stücks die Tatsache dargestellt sehen, daß es um etwas lebensgeschichtlich Aufzuhebendes und zu Überwindendes geht: nämlich darin, daß Ödipus sich mit Emphase zum Weiterleben entschließt (anders als Iokaste und auch gegen die Empfehlung des Chors, der hier erstmals klar von Ödipus abrückt; anders z. B. auch als Aias, ein Sophokleischer Tragödienheld, den man öfters mit Ödipus vergleicht 95 ). Es bestehen also durchaus beträchtliche Parallelen zum Freudschen Theoriemodell, wobei das Klärungsverhältnis nicht einsinnig bleibt: Die Deutung des König Ödipus gibt auch der Theorie Relief und läßt Aspekte schärfer sehen, die Freud selbst nicht betont hat. Möglicherweise rührt das Stück tatsächlich an eine kulturell invariante Schuldverstrickung, einen elementaren Strukturzwang in der Ontogenese. Sophokles hätte mit den Mitteln der ihm zur Verfügung stehenden mythisch-religiösen Vorstellungswelt diesem strukturell unvermeidlichen ‹Verhängnis› intuitiv Ausdruck verliehen, für das die ‹conditio-humana-› Interpretationskategorien einfach viel zu unspezifisch bleiben. Daß etwas Unabweisbares wahrgenommen wird, spiegelte sich auch darin wider, daß der Orakelspruch in einer apodiktischen Feststellung besteht und nicht als Warnung formuliert ist 96. Der König Ödipus wäre dann gerade zum Argument gegen den oft vorgebrachten Einwand zu machen, das Freudsche Modell gelte allenfalls für die bürgerliche Kleinfamilie der Neuzeit. Von der eher individualpsychologischen Deutung aus läßt sich nun wieder das politische Moment anvisieren. Eine Trennung von ‹privatem› und ‹öffentlichem› Bereich existiert im Theben der Tragödie ohnehin höchstens ansatzweise. Ödipus ist Herrscher und wird ty¬rannow genannt. Das Stück legt aber nahe, daß der athenische Demos anhand einer solchen Figur auch politische Reflexion und Reflexion über Herrschaft betreiben konnte, die über das Motiv der Tyrannenabwehr hinausging. Ödipus’ Aufklärungswille wird zum einen durch den Stachel der persönlichen Frage nach seinen Eltern stets lebendig und nachvollziehbar gehalten, aber er ist auch durch die Verantwortung für die Stadt motiviert, durch die Pflicht, den Laiosmörder zu finden. Beides drängt gleichermaßen, und zum Schluß
93 94 95 96
‹Nachträglichkeit, nachträglich› bei J. Laplanche/J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1973. Freud, Abriss, 119. Freud, Traumdeutung, 266. Vgl. z. B. Lefe`vre 1987, 54-56. Vgl. Freud, Abriss, 119: ‹... der Zwang des Orakels ... (ist) die Anerkennung der Unerlässlichkeit des Schicksals, das alle Söhne verurteilt hat, den Ödipuskomplex zu durchleben›. Mutatis mutandis gilt das selbstverständlich auch für die Töchter.
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zeigt sich, daß beide Stränge miteinander verschlungen sind. Ödipus klebt nicht einfach egoistisch an der Macht. Von Anfang an ist er, der svth¬r der Stadt (so in 48 der Zeuspriester zu ihm), als guter Herrscher gezeichnet. Die Eingangsszene legt hierfür unmißverständlich das Fundament (erinnert sei nur an Ödipus’ Worte an die Thebaner in 65-67: vÕst’ oyœx yÕpnì g’ eyÕdonta¬ m’ eœjegei¬rete, / aœll’ iste polla¡ me¬n me daàry¬santa dh¬, / polla¡w d’ o«doy¡w eœluo¬nta fronti¬dow pla¬noiw ). Ödipus ist oft sein Verhalten gegenüber Teiresias und Kreon im 1. und im 2. Epeisodion vorgeworfen worden 97, die Art und Weise, wie er sich dort in Hybris und unter totaler Verkennung der Realität in eine Verschwörungstheorie hineinsteigere. Hier zeige sich der Tyrann, etwa wenn er gegenüber Kreon (in 623) auf einen bloßen Verdacht hin bis zur Drohung mit einem Todesurteil gehe. Das tyrannentypische Verhalten werde von den beiden anderen manifest benannt; besonders deutlich von Teiresias, wenn er von Ödipus, ‹auch wenn der ein Tyrann sei›, die Möglichkeit zu gleicher Gegenrede fordere 98 (die ihm dann übrigens gewährt wird). Man kann Ödipus’ überempfindliches Mißtrauen als einen Ausdruck seiner Traumatisierung verstehen, seines latenten Gefühls, als Kind betrogen worden zu sein 99. Das trägt zumindest teilweise zur Nachvollziehbarkeit bei und schafft eine der Grundlagen für die Empathie, die die Zuschauer der Figur entgegenbringen können. Dennoch ist dies eine der Stellen, an denen die individualpsychologische Deutung wohl entscheidend zu kurz greift: Auch in seiner Eigenschaft als Herrscher versucht Ödipus, kompromißlos seiner Aufklärungspflicht zu genügen. Zeitweise geht er in die Irre, und hierbei zeigen sich unangenehme Spezifika des Herrscherseins: Insbesondere vor der Folie des Kreon wird sichtbar, daß der Herrscher sich auch die Finger schmutzig machen muß, daß Herrschen eine Last bedeutet, der Ödipus nicht ausweicht. Kreon erklärt zu seiner Selbstrechtfertigung ausdrücklich, er stehe gerne in der zweiten Reihe: Als Ödipus’ Schwager genieße er die Privilegien der Nähe zur Macht, ohne deren Nachteile in Kauf nehmen zu müssen (587-589: eœgv¡ me¡n oyÓn oyt’ ayœto¡w i«mei¬rvn efyn / ty¬rannow eiÓnai ma˜ llon h ty¬ranna dra˜ n, / oyt’ allow oÕstiw svfronei˜n eœpi¬statai ). Ihm ist völlig klar, daß Ödipus Handlungszwängen unterliegt, denen er selbst sich nur zu gerne entzieht (590-591: ny˜ n me¡n ga¡r eœà soy˜ pa¬nt’ aney fo¬boy fe¬rv, / eiœ d’ ayœto¡w hÓrxon, polla¡ àan aàvn edrvn ). Mit seinen breit angelegten Ausführungen darüber, wie recht es ihm sei, als Königsverwandter die Vorteile abzuschöpfen und dabei ruhig schlafen zu können (584-602), wird Kreon gezielt als Opportunist hingestellt 100. Ödipus ist nicht einfach mit Blindheit und Verfolgungswahn geschlagen, wenn er anschließend die Gefahr benennt, welcher der in der ‹Schußlinie› stehende Herrscher ausgesetzt ist (618-621: oÕtan taxy¬w tiw oy«piboyley¬vn la¬urá / xvrñ˜ , taxy¡n dei˜ 97
Z. B. Lefe`vre 1987, 44-45; 2001, 122-123, 130-133; Schmitt 1988, 15-16; Flaig 1998, 64-79. 408-409: eiœ àai¡ tyrannei˜w , eœjisvte¬on to¡ goy˜ n / is’ aœntile¬jai. 99 So Faber 1975, 244-245 (244: ‹Oedipus’ hypersensitivity to betrayal›). Auf den Betrug an Ödipus durch die Vorfahren, die ein ‹transgenerationelles Geheimnis› wahren wollen, konzentriert sich die Interpretation Rands (2001). 100 T. v. Wilamowitz-Moellendorff hat - auch in Auseinandersetzung mit der Deutung seines Vaters - eine ‹Rechtfertigung› Kreons versucht (1917, 86-87: ‹Wie sollte er, außer durch den Eid, den er nachher als letztes Mittel anwendet, seine Unschuld sonst beweisen, als indem er das cui bono, das gerade den Verdacht gegen ihn nahelegt, zurückweist?›). Kreons sehr breit angelegte Ausführungen über die Vorteile des zweiten Mannes im Staat haben jedoch deutlich ein ihn charakterisierendes Moment über das Situationsimmanent-Argumentationsstrategische hinaus. Vgl. U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Excurse, 61-62: ‹... er (soll) uns als ein unausstehlicher Kerl erscheinen trotz seiner Unsträflichkeit›; ‹... er betrachtet die Probabilität seines Verbrechens als ein Rechenexempel (583), er hat das Attentat nicht, weil es eine Gemeinheit wäre, sondern als eine Dummheit unterlassen›. 98
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àaœme¡ boyley¬ein pa¬lin. / eiœ d’ h«syxa¬zvn prosmenv˜ , ta¡ toy˜ de me¡n / pepragme¬n’ estai, taœma¡ d’ h«marthme¬na ). Das im negativen Sinne ‹Tyrannische›, das man hier und an anderen
Stellen sehen kann, wird durch die besondere Zeichnung der Gegenfigur Kreon konterkariert 101. Ödipus’ Verschwörungstheorie ist auch so absurd nicht, wenn man bedenkt, welche ungeheuerlichen Dinge Teiresias ihm - nach so langem Schweigen - vorgehalten hat. Auf Kreons schließlichen Eid (644-645) hin verhält Ödipus sich übrigens korrekt und läßt unverzüglich von der Strafvollstreckung ab 102. In Ödipus’ Verhalten kommt immer auch eine herrscherliche Handlungsverpflichtung zum Ausdruck 103. Er reagiert aufbrausend und objektiv auch ungerecht, aber sein Aufbrausen bleibt durchaus nachvollziehbar und bringt keine unkorrigierbaren Folgen mit sich. Ödipus ist als Herrscher nicht vollkommen, aber er kann es auch nicht sein. Insofern reproduziert sich hier - zumindest teilweise - das Phänomen einer zwangsläufigen Schuld. Irrtum und Schuldverstrickung gibt es nicht nur in der individuellen Ontogenese, sondern ebenso in der Herrschaft, der Ödipus im Gegensatz zu Kreon nicht ausweicht. Schließlich darf man nicht vergessen, daß Ödipus seiner Pflicht, den Laiosmörder zu finden und die Stadt vom Miasma zu befreien, tatsächlich und unter dem größten denkbaren Opfer nachkommt. Der Fluch, der nach dem Mythos anschließend auf Theben lastet, bleibt aus der Handlung des König Ödipus gerade ausgespart, denn die Söhne Eteokles und Polyneikes fehlen.
4. ×Huow als Thema der Tragödie? Ein Fazit mit Blick auf Aristoteles Die hier kritisch diskutierten Ansätze distanzieren sich mit Recht von Deutungen, die in solcher Allgemeinheit wenig aufschlußreiche Kategorien wie ‹Schicksal›, ‹Dämonie› oder auch ‹Nichtigkeit des Menschen› und ‹Scheinhaftigkeit der Existenz› gebrauchen 104. Sie 101
Greiffenhagen (1966, 160) hat übrigens auch darauf hingewiesen, daß die Todesdrohung gegen Kreon nicht so übertrieben ist, wie sie wirken mag, da der Tod die übliche Strafe für Hochverrat war. Er nennt (ebd., Anm. 6) darüber hinaus noch einen zweiten juristischen Grund für eine solche Bestrafung Kreons, der allerdings im Text keine Rolle spielt: dessen mißachtete Verpflichtung zur Blutrache (er hat als ày¬riow der Iokaste nicht einmal versucht, ihr nachzukommen). 102 Vgl. Greiffenhagen 1966, 161. 103 Manuwald 1992, 34: ‹So gibt es auch keine Entscheidungsszene, sondern nur ein selbstverständliches Ergreifen des für den verantwortungsvollen Herrscher ethisch Gebotenen.› Leider nicht endgültig klären läßt sich wohl das Problem von Ödipus’ (hinsichtlich der Bedeutung des Verbaladjektivs) vieldiskutiertem aœràte¬on g¢ oÕmvw in 628 (an Kreon): Ist es von arxomai (‹man muß gehorchen›; so J.C. Kamerbeek, The Plays of Sophocles, Commentaries, Part IV: The Oedipus Tyrannus, Leiden 1967, ad loc.; Dawe 1982, ad loc.) oder von arxv (‹ich/man muß herrschen›; so u. a. Jebb, ad loc., der mit ‹yet must I rule› übersetzt und im Kommentar mit ‹one must rule› bzw. ‹it is right to rule› paraphrasiert) abzuleiten? (Ungefähr auf letzteres läuft im Ergebnis auch die ‹diathesenindifferente› Erklärung hinaus [z. B. Bollack 1990, Bd. 2, 382, ad loc.]) Die erste Deutung wird u. a. durch einige klare Fälle vom Medium/ Passiv abgeleiteter -e¬ow-Verbaladjektive an anderen Stellen unterstützt (so peiste¬on ‹man muß gehorchen› in O.T. 1516); mit der zweiten schließt sich der Satz glatter an Kreons vorangegangene Frage ( eiœ de¡ jyni¬hw mhde¬n; ) an, denn zwanglos kann man die im Fragesatz gemeinte Person (Ödipus) auch als den ‹Agenten› zu aœràte¬on betrachten. (Der Genitiv arxontow in 629 bedeutet in beiden Fällen ein Erklärungsproblem.) Träfe die zweite Deutung zu, so ginge es nicht um die Tyrannenforderung nach blindem Gehorsam, sondern eben um die Notwendigkeit, der sich der Herrscher nicht entziehen kann. 104 Hierfür konnte man sich auf das 4. Stasimon berufen (1186-88: iœv ¡ geneai¡ brotv˜ n,/ v«w y«ma˜ w isa àai¡ to¡ mh-/de¡n zv¬saw eœnariumv˜ ), das aber nicht ‹den› Erklärungsschlüssel für das Stück bieten muß.
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versuchen aber nicht entschlossen genug, sich aus einer falschen Alternative zu befreien, und gelangen in ihrer Reaktion dahin, Ödipus’ Defizite und Irrtümer in den Mittelpunkt zu stellen. Sie alle laufen letztlich auf die Vorstellung hinaus, im Stück sei als erwünschte Zuschauerreaktion eine Distanzierung von Ödipus angebahnt; bei allem Verständnis für ihn solle doch sein Charakter in Frage gestellt und letztlich ein Kopfschütteln ausgelöst werden, ein mehr oder minder entrüstetes: ‹Wie kann er nur so handeln?› Das kann bis hin zu Neuauflagen rein moralischer Interpretation der Tragödie führen, die es als deren wesentliche Funktion ansieht, abschreckende Beispiele vor Augen zu stellen 105. Ihre Geschichte ist lang: Sie führt von dem Komiker Timokles, einem Zeitgenossen des Aristoteles 106, über die Scholien zu Dionysios Thrax 107 bis hin zum frühen Schiller. Immer wurde hier verkannt, daß die Theaterzuschauer sich von einer in die Irre gehenden, selbst von einer fragwürdig oder zum Teil auch verurteilenswert handelnden Figur nicht einfach abgestoßen fühlen müssen: Eine solche kann dennoch gerade über das Identifikationspotential verfügen, das die Zuschauer an die Handlung bindet. Genau darum geht es auch in Aristoteles’ a«marti¬a-Lehre. Stephen Halliwell hat darauf hingewiesen, daß Aristoteles’ Tragödienkonzeption in der Poetik den systematischen Ausschluß einer unverrechenbaren, absurdzufällig zuschlagenden Schicksalsinstanz aus dem Bereich der Tragödie impliziert 108. So resultiere die Forderung, der tragische Held habe ein ‹mittlerer Charakter› zu sein 109, aus der Notwendigkeit einer ‹intellegiblen› Handlung 110. Der Sturz eines ganz Vollkommenen beispielsweise wäre ungeeignet, bei den Zuschauern die ‹Tragödienaffekte› fo¬bow und eleow hervorzurufen, und bloß abscheulich ( miaro¬n ) 111. Der ‹Mittlere› bietet mit seiner a«marti¬a 112 noch nachvollziehbarerweise einen Ansatzpunkt für seinen Sturz ins Unglück, der dann aber völlig über das Maß hinausgeht. Die moderate Nichtperfektion verbürgt eine gewisse Lebensnähe und ist wesentliche Voraussetzung für eine von eiœào¬w beziehungsweise 105
Corneille verstand Aristoteles’ àa¬uarsiw-Lehre in diesem Sinne, bekannte aber zugleich, daß er so beim König Ödipus in Deutungsschwierigkeiten geriet: ‹Ne´anmoins comme la signification du mot Grec a«ma¬rthma peut s’ e´tendre a` une simple erreur de me´connoissance telle qu’ e´toit la sienne (sc. Ödipus’), admettons-le avec ce philosophe, bien que je ne puisse voir quelle passion il nous donne a` purger, ni de quoi nous pouvons nous corriger sur son exemple› (Sur la trage´die, in: Œuvres de P. Corneille avec le commentaire de Voltaire et les jugements de La Harpe, Bd. 10, Paris 1822, 49-102; dort 55). 106 Bei Athenaios 6,223 b-d. 107 CGF Kaibel 1,11,34: ... e œ ndeiàny¬menoi parafyla¬ttesuai to¡ a«marta¬nein ... . 108 Aristotle’s Poetics, London 1986, bsd. 208-210; ders., Aristotle’s poetics, in: The Cambridge History of Literary Criticism, vol.1: Classical Criticism (ed. G. A. Kennedy), Cambridge 1989, 149-183; dort 171: ‹... chance falls into the category of the ‘irrational’ or unintelligible, and this is something which the Poetics repeatedly and emphatically holds to be inconsistent with the primary requirement of a unified plot-structure›. 109 Die für die Tragödie nicht geeigneten Extremcharaktere sind, so Aristoteles in Poet. 1452 b 34-37, der völlig Tadellose ( eœpieiàh¬w ) und der Schlechte ( moxuhro¬w ). Der tragische Held steht zwischen diesen beiden (1453 a 7-12: o« metajy¡ ara toy¬tvn loipo¬w . esti de¡ toioy˜ tow o« mh¬te aœretñ˜ diafe¬rvn àai¡ diàaiosy¬nñ mh¬te dia¡ àaài¬an àai¡ moxuhri¬an metaba¬llvn eiœw th¡n dystyxi¬an aœlla¡ di’ a«marti¬an tina¬, tv˜ n eœn mega¬lñ do¬jñ ontvn àai¡ eyœtyxi¬á, oi√on Oiœdi¬poyw àai¡ Uye¬sthw àai¡ oi« eœà tv˜ n toioy¬tvn genv˜ n eœpifanei˜w andrew .). 110 Halliwell 1986, 211; vgl. auch Halliwell 1989, 171: ‹... this same world-view (sc. der des Aristoteles) can supply no explanation for such suffering (sc. des ‹most virtuous of men›) beyond the brute fact of uncontrollable fortune or chance›. 111 Arist., poet. 1452 b 36. Die Handlung verliefe dann gerade nicht, wie in 1451 b 9 gefordert, àata ¡ to¡ eiœào¡w h to¡ aœnagàai˜on (s. o., Anm. 14). 112 Zum Terminus vgl. Halliwell 1986, 215-226.
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aœnagàai˜on bestimmte Handlung, die bei den Zuschauern zu Empathie und Identifikationsbereitschaft führen kann. Das, was hier wesentlich Voraussetzung ist 113, darf aber nicht zur Grundlage der Deutung einer konkreten Tragödienhandlung in dem Sinne gemacht werden, daß charakterliche Defizite und die daraus resultierenden Verfehlungen deren Hauptgegenstand seien 114. Aristoteles bringt mehrmals klar zum Ausdruck, daß der Tragödienheld grundsätzlich auf die Seite der Besseren und nicht auf die der Schlechteren gehört 115. Dieser Beitrag sollte plausibler machen, daß eine Konzentration auf Ödipus’ Defizite seien sie als persönliche, seien sie als politisch bedingte verstanden - das Deutungsproblem nicht löst und daß es nach wie vor notwendig ist, nach dem Unvermeidlichen im König Ödipus und nach dessen Natur zu fragen. Diese Frage zu stellen bedeutet nicht notwendigerweise, daß man bereits Schillerschen oder anderen neuzeitlichen Tragikkonzeptionen anheimgefallen wäre. Der Ausgriff in die Psychoanalyse sollte auf eine Möglichkeit hinweisen, in Ödipus’ Lebensgeschichte, in seiner unvermeidbaren Verstrickung in Schuld und auch in der Gewalt seines Schuldgefühls etwas Ontogenesebedingt-Allgemeines zu erkennen, wobei man allerdings nie vergessen darf, daß Ödipus nicht einfach ‹Privatmann›, sondern immer auch Herrscher ist. Es war hier dezidiert nicht beabsichtigt, generelle Aussagen über ‹die› griechische Tragödie zu treffen, sondern, Spezifika eines Stücks von Sophokles zu beschreiben, dem man offenbar (so scheint es in Aristoteles’ Poetik durch) schon relativ bald nach seiner Aufführung herausragende Bedeutung zuerkannt hat.
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Vgl. auch Erbse 1993, 59. Aristoteles’ Hauptabsicht an der oben, Anm. 14, zitierten, für die charakterologische Deutung herangezogenen Stelle Poetik 1451 b 8-10 ist es übrigens nicht, ‹Tragödie› (gar erschöpfend) zu definieren, sondern, die Dichtung, die ‹Typen› individuelle Namen gibt, von der Geschichtsschreibung zu unterscheiden, die es mit tatsächlichen historischen Personen zu tun hat (im Sinne von 1451 b 6-7:h« me¡n ga¡r poi¬hsiw ma˜ llon ta¡ àauo¬loy, h« d’ i«stori¬a ta¡ àau’ eÕàaston le¬gei ). 115 Vgl. Poet. 1453 a 15-17: (sc. metaba ¬ llein ) eœj eyœtyxi¬aw eiœw dystyxi¬an mh¡ dia¡ moxuhri¬an aœlla¡ di’ a«marti¬an mega¬lhn h oiÕoy eirhtai h belti¬onow ma˜ llon h xei¬ronow , 1454 b 8-13: eœpei¡ de¡ mi¬mhsi¬w eœstin h« tragìdi¬a beltio¬nvn h h«mei˜w , dei˜ mimei˜suai toy¡w aœgauoy¡w eiœàonogra¬foyw· àai¡ ga¡r eœàei˜noi aœpodido¬ntew th¡n iœdi¬an morfh¡n o«moi¬oyw poioy˜ ntew àalli¬oyw gra¬foysin· oyÕtv àai¡ to¡n poihth¡n mimoy¬menon àai¡ oœrgi¬loyw àai¡ r«áuy¬moyw àai¡ taÓlla ta¡ toiay˜ ta exontaw eœpi¡ tv˜ n hœuv˜ n toioy¬toyw ontaw eœpieiàei˜w poiei˜n ... . 114
Martin Korenjak
Tityri sub persona Der antike Biographismus und die bukolische Tradition 1 Einleitung: Das Autorproblem Die Literaturtheorie des 20. Jhs. setzte die historische Person des Autors als für die Interpretation von Literatur relevante Instanz weitgehend außer Kraft. Zwar lässt sich diese Einstellung wie viele moderne und postmoderne Positionen zumindest teilweise auf Vorläufer in der früheren Neuzeit zurückführen - bereits im Jahr 1754 hatte Gotthold Ephraim Lessing erklärt, die aus Horazens Carmina zu erschließende Persönlichkeit dürfe nicht mit der ihres Autors verwechselt werden 2 -, doch grundsätzlich und energisch bestritten erst die russischen Formalisten den Zusammenhang zwischen den beiden genannten Größen. 3 In der Folge bemühte sich vor allem der angelsächsische New Criticism, den Autor, seinen Lebensweg und seine privaten Ansichten ganz aus der Literaturwissenschaft zu verbannen, 4 und die meisten der seither neu entstandenen literaturtheoretischen Strömungen und Schulen wussten sich mit ihm in diesem Punkt einig. Einen Höhepunkt erreichte die skizzierte Entwicklung mit Roland Barthes, der in seinem berühmt gewordenen Essay geradezu den «Tod des Autors» proklamierte 5 und dessen Positionen von Philosophen und Literaturkritikern wie Michel Foucault und Jacques Derrida fortgeschrieben wurden. Obwohl solche radikal autorfeindliche Ansichten in den letzten Jahren zunehmend der Kritik unterzogen wurden und die Gestalt des Autors nunmehr wieder verstärktes Forschungsinteresse auf sich zieht, 6 hat der Rekurs auf sie zur Erklärung literarischer Werke in Theorie und Praxis der heutigen Literaturwissenschaft das meiste von dem Wert eingebüßt, den ihm das 19. Jh. zugeschrieben hatte. Vor einiger Zeit konnte in einer Aufsatz1
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Vortragsversionen dieses Aufsatzes wurden im Dezember 2001 in Frankfurt a. M. und im Juni 2002 in Salzburg gehalten, eine spätere Fassung anlässlich eines Treffens des ‹Leibniz-Kreises›, einer informellen Vereinigung von Altertumswissenschaftlern und Rezeptionsforschern, im Januar 2003 in Würzburg diskutiert. Anregungen und Kritik kamen darüber hinaus von Manuel Baumbach, Wolfgang Kofler, Stefan Tilg und Karlheinz Töchterle. Allen Hörern und Lesern sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Besonders frappant Lessing 1754 (1955), 580 f.: «Der Odendichter besonders pflegt zwar fast immer in der ersten Person zu reden, aber nur selten ist das ich sein eigen ich», wo bereits die heute geläufige Trennung zwischen literarischem und biographischem Ich vorweggenommen ist. Vgl. Calder III 1986, 133-6. Vgl. etwa Jannidis u. a. 2000, 47. S. den klassischen Aufsatz von Wimsatt-Beardsley 1946/1954 (2000), v. a. 88 (strenge Scheidung von literaturwissenschaftlichen Studien einer- und biographischen andererseits). Barthes 1967/1968 (2000). Vgl. Ingold-Wunderlich 1992 und 1995; Burke 1998 (kritische Analyse der Positionen von Barthes, Foucault und Derrida); Jannidis u. a. 1999 und 2000 (diese beiden Bände bieten den momentan besten Überblick über das Konzept des Autors in der modernen Literaturwissenschaft).
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sammlung zu «Literary theory today» für das 20. Jh. dieses Ausblenden des Autors und seiner Biographie geradezu als «the issue» bezeichnet werden, «on which theory has been most consistently and resolutely united.» 7 Der diesbezüglich erreichte Konsens lässt sich etwa folgendermaßen zusammenfassen: Text- und Lebenswelt sind zwei kategorial verschiedene Größen. Das Ich, das im literarischen Text spricht, ist eine diesem immanente Instanz. Seine Erlebnisse und Ansichten dürfen nicht mit denen des außerhalb des Textes stehenden Autors verwechselt werden, bieten keine Anhaltspunkte, aus denen sich Schlüsse auf jenen ziehen ließen, und sind ihrerseits nicht aus seiner Person herleitbar. Die Klassische Philologie hat die grundsätzliche Skepsis an der Zugänglichkeit und hermeneutischen Nützlichkeit des historischen Autors, die ihr im angelsächsischen Sprachraum vor allem durch den New Criticism, im deutschen wohl auch durch die werkimmanente Interpretation der Nachkriegsgermanistik vermittelt wurde, 8 zwar erst mit gewisser Verspätung übernommen, doch mittlerweile hat diese Haltung den Biographismus, der unser Fach bis tief ins 20. Jh. hinein prägte, weit zurückgedrängt: Niemand stellt mehr, wie Erich Kästner noch in der Zwischenkriegszeit in seinem satirischen Gedicht über Die Entwicklung der Menschheit bemerken konnte, «durch Stiluntersuchungen fest, daß Caesar Plattfüße hatte». Wenn manche Forscher sich in ihrer Argumentation heute noch auf die seelische Verfasstheit oder die Lebensumstände des Autors beziehen, so fühlen sie sich oft verpflichtet, sich wegen dieses Vorgehens zu verteidigen, verweisen aber statt einer theoretischen Rechtfertigung ihrer Praxis meist nur auf den gesunden Menschenverstand oder kritisieren pauschal die Übernahme postmoderner wissenschaftlicher Moden. In der Disziplin als Ganzes sind statt des Verhältnisses zwischen dem Text und seinem zunehmend als ungreifbar erkannten Autor längst die besser fassbaren Beziehungen zwischen Text und Text bzw. zwischen Text und soziokulturellem Umfeld in den Vordergrund getreten. Insgesamt ist diese Entwicklung zweifellos zu begrüßen. Der Verzicht auf unreflektierte biographistische Lektüre stellt gerade in der Klassischen Philologie keineswegs eine bloße Modeerscheinung dar; vielmehr ist er ihr, da sie über ihre Autoren in der Regel weit schlechter informiert ist als die Neuphilologien, nicht nur aus grundsätzlichen Erwägungen, sondern auch aus praktischen Gründen besonders angemessen. Gegenüber einer Haltung, die oft genug bedenkenlos die äußere und innere Biographie eines Schriftstellers mit seinem Werk vermengte, von diesem ausgehend weitgehende Schlüsse auf Schicksalsschläge, Reifungsprozesse und Stimmungsschwankungen zog, mit deren Hilfe wiederum das Werk erklärte und dabei in haltlose Zirkelschlüsse verfiel - gegenüber einer solchen Haltung stellt der Versuch, eine chirurgisch saubere Trennung von Leben und Literatur vorzunehmen, sowohl eine verständliche Reaktion als auch einen echten Fortschritt dar. Die Scheidung hat uns einen Gewinn an methodischer Schärfe und erkenntnistheoretischer Klarheit gebracht, den wir auf keinen Fall wieder aus der Hand geben sollten. Unter diesen Umständen mag der Versuch, dem Konzept des Autors im Umgang mit antiker Literatur wieder einen gewissen - wenn auch sorgfältig umschriebenen - Platz 7 8
Jefferson 1990, 125. Zu New Criticism und Klassischer Philologie vgl. kurz Citroni 1993, 281 Anm. 12. Der Einfluss der werkimmanenten Interpretation auf die Klassische Philologie im deutschen Sprachraum nach 1945 wurde meines Wissens noch nie untersucht, doch angesichts der bis in die 60er-Jahre beherrschenden Stellung dieses Interpretationsparadigmas (vgl. etwa Danneberg 1996 mit älterer Literatur) dürfte er beträchtlich gewesen sein.
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einzuräumen, der hier unternommen werden soll, Erstaunen, ja Befremden auslösen. Sind wir denn, wenn wir seine Gestalt aus unseren Erwägungen ausklammern, auch abgesehen vom bisher Gesagten nicht allein schon deshalb im Recht, weil wir uns so in Übereinstimmung mit dem Literaturverständnis der Antike selbst befinden? Haben nicht bereits die eingangs erwähnten Formalisten ihren Standpunkt mit dem mentalitätsgeschichtlichen Argument untermauert, bei dem Interesse an der Person des Autors handle es sich um ein vergleichsweise rezentes Phänomen, dessen Wurzeln in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jhs. zu suchen seien, während er in früherer Zeit, also auch in der Antike, als quantite´ ne´gligeable betrachtet wurde? 9 Dies ist in der Tat eine Ansicht, die in Beiträgen zur modernen Literaturtheorie oft als erwiesen angenommen wird und von der implizit auch viele Altertumswissenschaftler bei ihrem ‹autorlosen› Umgang mit antiken Texten auszugehen scheinen. 10 Dennoch ist sie - und das ist für die folgenden Überlegungen ein erster wichtiger Punkt - schlicht falsch (bzw. kann, wie wir noch sehen werden, allenfalls für die Frühphase einer rein mündlichen Improvisationskultur Gültigkeit beanspruchen). In Wahrheit hatte der antike Literaturkonsument ein reges Interesse an den Autoren der Texte, die er hörte und las, als historisch einmaligen Personen. 11 Und nicht nur das - er glaubte auch auf eine für unsere Begriffe naive Weise an die Möglichkeit eines direkten Zugangs zu ihnen: Alle Praktiken, die man unter dem Oberbegriff des Biographismus bzw. der biographistischen Lektüre zusammenfassen kann, d. h. allegorisierende Schlüsse von der textinternen Instanz des literarischen Ich und anderen Aspekten eines literarischen Werkes auf Absichten, Ansichten, Charakter und Lebensweg des Autors, standen ihm hierzu als scheinbar legitime Mittel zur Verfügung. 12 Der erste Teil des vorliegenden Aufsatzes soll dazu dienen, diese Tatsache, die oft in Vergessenheit zu geraten droht, ins Gedächtnis zurückzurufen. Doch auch wenn die eben skizzierte Argumentation stichhaltig ist - weshalb sollten wir daraus die Notwendigkeit ableiten, die Gestalt des historischen Autors, in welcher Form auch immer, wieder in unsere Überlegungen zur antiken Literatur einzuführen? Weshalb können wir die diesbezüglichen Vorstellungen der Teilnehmer am damaligen Literaturbetrieb nicht einfach für irrelevant erklären und uns dazu gratulieren, dass wir die Antike 9 10
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Tomasˇevskij 1923 (2000), v. a. 51. Explizite Verweise auf sie sind relativ selten; vgl. etwa G. A. Kennedy 1989, 495 f. (zur Marginalität des Autors in Aristoteles’ Poetik). Der Begriff «Autor» wird in der Forschung zwar intensiv diskutiert, aber kaum je definiert. Ich verstehe darunter die historische Person, die einen schriftlichen Text verfasst hat, welcher als ihr geistiges und/ oder ökonomisches Eigentum gilt und für dessen Inhalt sie verantwortlich gemacht werden kann. Diese Definition soll nicht die vielfältigen Differenzen zwischen antiker und moderner Autorschaft verdecken, wie sie sich etwa aus unterschiedlichen Publikationsmechanismen und dem Fehlen eines Urheberrechts in der Antike (Kleberg 1967, 15, 40, 51-6) ergeben, sondern vielmehr einen kleinsten gemeinsamen Nenner darstellen. Einen dichten Überblick über Verwendungsweisen und Funktionen des Autorbegriffs bieten Jannidis u. a. 1999, 3-35; speziell zu juristischen und ökonomischen Aspekten vgl. Seng 1992. Zur biographistischen Lektüre als einem Teil derjenigen Spielart der antiken Allegorese, die man (im Unterschied zur physikalisch-kosmologischen und ethischen Allegorese sowie zu den sich später entwickelnden jüdischen und christlichen Systemen) als «historisch entschlüsselnd» bezeichnen kann, vgl. Langholf 1990, 351. - Eng mit der Erschließung des Autors aus textinternen Instanzen verflochten ist, wie schon weiter oben angedeutet, die komplementär-gegenläufige Praxis der Exegese des Textes mit Hilfe von bereits vorhandenem (wahrem oder vermeintlichem) Wissen über den Autor (vgl. Nünning 2001, 50 s. v. Biographismus, biographische Textdeutung). Im folgenden wird der im Haupttext genannte Aspekt im Vordergrund stehen.
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in diesem Punkt besser verstehen, als sie es selbst tat? 13 Weil - und das ist der zweite entscheidende Punkt - derartige Grundannahmen über Literatur und die aus ihnen erwachsenden Rezeptionshaltungen nie ohne Rückwirkung auf das Entstehen von Literatur bleiben, sondern vielmehr zu deren wichtigsten Produktionsvoraussetzungen gehören. Im konkreten Fall kondizioniert die biographistische Erwartungshaltung, mit der antike Hörer und Leser an literarische Texte herangehen, bis zu einem gewissen Grade die Bilder, welche antike Autoren in diesen Texten von sich selbst entwerfen. Diese Bilder wiederum (die aus moderner Sicht weder mit ihrem biographischen noch mit ihrem literarischen Ich ident sind, sondern sich am ehesten im Begriff des impliziten Autors 14 fassen lassen) stellen einen wesentlichen Aspekt literarischer Werke und ihre Entwicklung einen wichtigen Teil der Geschichte literarischer Gattungen und Traditionen dar. Die skizzierte Rückkopplung und die Dynamik, welche sie entfaltet, entgehen uns, wenn wir für die ‹verfehlte› Rezeptionshaltung der Antike einfach unsere modernen Erkenntnisse substituieren. Wenn wir diese Rezeptionshaltung dagegen ernst nehmen, haben wir die Chance, sie für unser Verständnis der antiken Literatur selbst fruchtbar zu machen. Dies soll im zweiten Teil an einem konkreten Beispiel, dem der bukolischen Tradition, demonstriert werden.
I. Antiker Biographismus Im folgenden soll zunächst gezeigt werden, dass sich die biographistische Grundeinstellung der Antike beinahe zwingend aus einer Reihe kultur- und geistesgeschichtlicher Voraussetzungen ergibt. In einem zweiten Schritt möchte ich dann anhand einiger konkreter Beispiele die Konsequenzen dieser Voraussetzungen illustrieren. Ein erstes für unsere Überlegungen wichtiges Faktum ist der hohe Stellenwert der Mündlichkeit im antiken Literaturbetrieb: In der für die Urformen der homerischen Epik anzunehmenden schriftlosen Improvisationskultur, in der die immergleichen Geschichten in immer neuen Varianten erzählt werden, ohne dass jemand die Möglichkeit hätte, den Eigenanteil des jeweils Vortragenden festzustellen, wäre das Konzept «Autor» zwar geradezu ein Widerspruch in sich. Doch Verhältnisse, wie sie ab der Zeit der frühgriechischen Lyrik herrschen, bieten gute Voraussetzungen für eine Sicht von Literatur als einer Äußerung, die eng mit einer bestimmten historischen Person verbunden ist: Die Schrift ermöglicht nunmehr die Aufzeichnung eines Textes, der somit als materielles Artefakt vorliegt und als Eigentum seines Produzenten verstanden wird; dieser kann ihn veräußern, ist aber auch für seinen Inhalt verantwortlich und wird damit zu einem Autor im bereits skizzierten
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Dies ist etwa die Position von Lefkowitz 1981 (vgl. besonders x): Wenn wir den haltlosen Biographismus durchschauen, welcher den antiken Umgang mit Literatur prägt, und erkennen, dass er uns den Zugang zu den Texten selbst zu versperren droht, können wir ihn bewusst ignorieren und zu ausschließlich textorientierten und dementsprechend korrekten Interpretationen vordringen. (Natürlich stellt dies gegenüber der oft unkritischen Übernahme antiken biographischen Materials in früheren Zeiten bereits einen großen Fortschritt dar.) «Der i. A. ist die personalisierte Version ... der Vorstellung, die sich der Leser bei der Lektüre des Textes von dessen Autor ... und dessen Wertesystem macht» (Nünning 2001, 29 s. v. Autor, Impliziter). Obwohl dem Begriff mitunter die Existenzberechtigung abgesprochen wurde (Nünning 1993), erweist er sich in manchen Fällen durchaus als nützlich.
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Sinn. 15 Die Präsentation und Rezeption des Textes ist dagegen nach wie vor eine orale und aurale Angelegenheit. Das bedeutet unter anderem, dass zwischen Dichter und Publikum wie im informellen Gespräch eine face-to-face-Kommunikationssituation besteht: Ob jener wie die archaischen Lyriker seine Verse im Rahmen eines Symposions vorträgt, einen Chor leitet, bei der Aufführung seines Dramas zugegen ist 16 oder einen Prosatext öffentlich vorliest - immer ist er gleichzeitig mit seinem Werk präsent und steht seinem Publikum als physische Person vor Augen. Auch nachdem sich bereits ein gewisser Buchmarkt entwickelt hat, existiert neben dieser schriftlichen Verbreitung die mündliche Präsentation von Literatur weiter und spielt eine wichtige Rolle: Man denke nur an den Rezitationsbetrieb in Rom oder an das Deklamationswesen, das sich in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten über das ganze römische Reich verbreitet. Eine solche direkte Begegnung mit dem Autor begünstigt im Gegensatz zur neuzeitlichen Buchkultur nicht nur das Interesse des Zuhörers an diesem, sondern erweckt in ihm auch den Eindruck, er habe ihn in seinem Vortrag persönlich kennengelernt. Hinzu kommt, dass der antike Autor, etwa in einer e«tairi¬a, einem literarischen Zirkel oder als Redner vor einer Versammlung von Mitbürgern, oft vor einem Publikum auftritt, das ihn schon von vornherein kennt und mit seinem Charakter, seinen Lebensumständen, seiner Stellung in der Gesellschaft usw. vertraut ist: Bei solchen Gelegenheiten wird er sich in der Regel nicht als jemand präsentieren, der mit seinem Alltagsich gar nichts zu tun hat. Das heißt nicht, dass er nicht in eine bestimmte Rolle schlüpfen kann - doch welche soziale Interaktion involviert denn kein Rollenspiel? «Autor» ist unter solchen Umständen nur eine Rolle unter vielen, durch das sonstige Auftreten des Betreffenden nicht vollständig determiniert, mit diesem aber zumindest durch gewisse Affinitäten verbunden. 17 All dies macht es dem Publikum fast unmöglich, das Subjekt, welches eine literarische Aussage von sich gibt, von der Person zu trennen, die diesem Subjekt im außerliterarischen Leben entspricht. Analoge Überlegungen gelten in abgeschwächter Form auch dann noch, wenn literarische Texte schriftlich rezipiert werden: Für die sicher überproportional häufigen Fälle, wo dies in den für unsere Begriffe kleinen Heimatstädten ihres Autors geschieht, kann man voraussetzen, dass viele Leser diesen persönlich oder über Dritte kennen. Auch dass der Vertrieb von Büchern oft außerhalb des regulären Buchhandels, nämlich durch Weitergabe und Abschreiben im Freundes- und Bekanntenkreis erfolgt, impliziert, dass viele Leser vom Autor eine gewisse außerliterarische Kenntnis haben, die dann notwendigerweise mit ihrer jeweiligen Leseerfahrung interferiert.
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S. o. Anm. 11 und vgl. die Analyse der sozioökonomischen Rahmenbedingungen der frühgriechischen Dichtung bei Svenbro 1976 (im vorliegenden Zusammenhang besonders relevant: 184-6, 205). Vgl. die Anspielungen auf die Kahlköpfigkeit des Aristophanes, welche sich in seinen Stücken finden (Equ. 550, Pax 767-74, Nub. 540, 545) und die Anwesenheit des Autors bei der Aufführung voraussetzen dürften. Übernahme einer Rolle und Annahme einer fremden Identität werden besonders in der Forschung zur frühgriechischen Dichtung gerne miteinander gleichgesetzt, doch vgl. die treffende Differenzierung bei Carey 1986, 66: «It is ... true that the poet adopts a role (lover, soldier, counsellor, moralist) ... But there is no evidence that it was common for a poet to assume a different identity.» Ausnahmen von dieser Regel, in denen die Präsentation von Dichtung im eigentlichen Sinne dramatischen Charakter annimmt, existieren (vgl. etwa Hipponax’ Selbstdarstellung als clownesker Bettler: Carey 1986, 65 Anm. 23), sind aber vergleichsweise selten.
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Verlassen wir nun jedoch diese relativ direkten Kommunikationssituationen und versetzen wir uns in die uns geläufigere Lage eines Lesers, der sich mit einem von ihm räumlich und zeitlich entfernten Autor beschäftigt und sich von diesem ein Bild machen möchte. Auch hier stellen sich in der Antike die Verhältnisse ganz anders dar als in unserer multimedialen Gesellschaft, wo der Leser auf eine Fülle außerliterarischen Materials zurückgreifen kann, um diesbezüglich eine ‹realistische› Vorstellung zu gewinnen: Tagebücher, Briefe, Interviews, amtliche Dokumente, Fotos, Filme. Wer sich in der Antike für einen Schriftsteller interessiert, sieht sich primär auf sein Werk verwiesen, dessen Aussagen er fast nie anhand andersartigen Materials überprüfen kann. So wird dieses zwangsläufig zur Basis all dessen, was er über den Betreffenden weiß oder zu wissen glaubt - und angenommen, er fasst die Ergebnisse seiner Recherchen selbst in schriftliche Form, zur Grundlage seiner Schriftstellerbiographie. 18 Er erlebt nie den lehrreichen Schock, der sich für uns aus dem Kontrast zwischen literarischen und privaten Dokumenten ein und derselben Person ergeben kann. Verweilen wir kurz bei der Schriftstellerbiographie, da sie für die Ausformung des Bildes, das die Antike sich vom Autor macht, als wichtige Schaltstelle fungiert: Wie die Biographie als Gattung überhaupt empfängt sie die für ihre weitere Entwicklung wichtigsten Impulse im nacharistotelischen Peripatos. 19 Zu diesem peripatetischen Erbe gehört, wie insbesondere Albrecht Dihle gezeigt hat, 20 ein dominierendes Interesse an den huh, am Charakter der porträtierten Gestalten. In diesem sieht man in der Tradition aristotelischer Psychologie eine eÕjiw , eine stabile Größe, auf die sich sowohl facta als auch dicta des betreffenden Individuums zurückführen lassen. Unter diesen Voraussetzungen werden Charakter, Worte - und zwar literarische wie nichtliterarische - und Taten stets miteinander harmonieren; und das wiederum impliziert, dass man gefahrlos das eine aus dem anderen ableiten kann. 21 Als Resultat der beiden eben genannten Faktoren - ihrer Quellenlage und ihrer peripatetischen Geschichte - ist die antike Schriftstellerbiographie von einem durchgehenden Biographismus geprägt und erklärt mit großer Selbstverständlichkeit die Charakteristika literarischer Werke durch den Rekurs auf in Wirklichkeit aus diesen herausgesponnene Charakterzüge und Lebensumstände ihres Autors. Dass man in den Resultaten dieser Vorgangsweise dennoch alles andere als unglaubwürdige Produkte wirklichkeitsfremder Wissenschaftler sieht, zeigt der Verwendungszweck, dem man sie in vielen Fällen zuführt: Sie werden in epitomierter Form seit der Alexandrinerzeit Ausgaben, später auch Kommentaren, der Klassiker vorangestellt, 22 im Unterricht als Einführungsmaterial 18 19
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Ähnlich bereits Momigliano 1971, 70. Zur Rolle des Peripatos in der Entwicklung der Biographie vgl. Leo 1901, v. a. 85-114; Dihle 1956, 57-87; Momigliano 1971, 65-89. Dihle 1956, v. a. 60-4. Schon Aristoteles selbst stützt sich zur Erklärung literaturgeschichtlicher Phänomene auf dieses Prinzip, wenn er den Gegensatz zwischen hohen und niederen Genera aus dem edlen bzw. unedlen Charakter der betreffenden Dichter herleitet (Poet. 1448b24-9a6). Belegen lässt sich das beispielsweise für die Aratviten (zu den Problemen, die diese bzw. die zu ihnen gehörenden Kommentare aufwerfen, s. den Überblick bei Mansfeld 1994, 197 f.), die donatsche Terenzund die servianische Vergilvita; vgl. Leo 1901, 17-34, v. a. 20, 34, und 118-35; Blum 1977, 259. Von großer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Pinakes des Kallimachos, die sowohl in ihrer eigenen biobibliographischen Struktur die antike Grundhaltung dokumentieren, Leben und Werk zusammenzusehen und -zudenken, als auch späteren Herausgebern und Kommentatoren eine Fülle biographischer Informationen zu einzelnen Autoren vermitteln (Blum 1977, 224-44). Im übrigen scheint der
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genutzt 23 - und verbreiten und potenzieren so nunmehr die biographistische Grundhaltung, als deren Symptom sie uns zunächst begegnet sind. Mit den letzten Bemerkungen sind zusätzlich zu den kultur- und geistesgeschichtlichen Grundlagen des antiken Biographismus auch schon seine konkreten Manifestationen ins Blickfeld geraten, denen wir uns jetzt kurz zuwenden wollen. Sie sind mannigfaltig und umfassen von dem literarischen Topos, wonach persönlicher Charakter und Stil eines Autors sich entsprechen müssen, 24 bis hin zu den Grundsätzen forensischer Textinterpretation, von denen wichtige Impulse auf die antike Philologie ausgehen und die unter anderem vorschreiben, Gesetze und Dokumente ex factis, dictis, animo atque vita und insgesamt ex persona scriptoris zu interpretieren, 25 eine Vielzahl auf den ersten Blick disparater Phänomene. Anstelle einer vollständigen Aufzählung, die den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde, möchte ich jedoch nur zwei Beispiele herausgreifen, bei denen eine Trennung zwischen dem Autor und dem Sprecher eines literarischen Textes und somit eine Sprengung des biographistischen Paradigmas für unsere Begriffe besonders naheläge: Dass die Antike auch in solchen Fällen beides umstandslos in eins setzt, zeigt, mit welcher Selbstverständlichkeit sie an ihren diesbezüglichen Prämissen festhält, und macht die betreffenden exempla besonders aussagekräftig. Das erste Beispiel ist die neben der Gattungslehre wohl wirkungsmächtigste Texttypologie, welche die antike Literaturtheorie hervorgebracht hat: Sowohl Platon (Rep. 392d-4d)
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Brauch, das Werk eines Autors durch seine Vita zu ergänzen, ein über kulturelle und Epochengrenzen hinweg weitverbreitetes Leserbedürfnis zu befriedigen: Zumindest belletristischen Werken werden noch heute im Klappentext, im Vor- oder Nachwort die wichtigsten biographischen Daten des Verfassers beigegeben. - In antiken Luxusausgaben kann die Vita des Autors durch sein Porträt ergänzt oder ersetzt werden (Weitzmann 1959, 116-27, Abb. 87 und 124-34; was die später genauer zu besprechenden Autoren betrifft, vgl. AP 9.434 und Bethe 1916, 417 f. zu Theokrit und hier Anm. 50 zu Vergil). An die Seite bzw. an die Stelle der Lebensgeschichte tritt in diesem Fall die äußere Gestalt des Betreffenden, die nach den Vorstellungen der antiken Physiognomie ebenfalls Rückschlüsse auf seinen Charakter zulässt. Vgl. etwa die Anfänge des Aeneis-Kommentars des Servius: in exponendis auctoribus haec consideranda sunt: poetae vita, ... (p. 1.1 Thilo) und der Thukydides-Vita des Marcellinus: aœnagàai˜on de¡ prv˜ ton eiœpei˜n toy˜ aœndro¡w àai¡ to¡ ge¬now àai¡ to¡n bi¬on∑ pro¡ ga¡r tv˜ n lo¬gvn tay˜ ta eœjetaste¬on toi˜w fronoy˜ si àalv˜ w (Vita Thuc. 1). Noch besser als für die Dichter- bzw. Historikerlektüre ist das Phänomen für den Philosophieunterricht dokumentiert und erforscht: s. Mansfeld 1994, v. a. 5 f. und 179-91. Der Topos erscheint am klarsten ausformuliert und am gründlichsten theoretisch fundiert bereits bei Pl. Rep. 400c-e. Vgl. später etwa Men. fr. 72 Kassel - Austin, Satyr. Vita Eur. fr. 39 col. IX, Cic. Tusc. 5.47, Sen. Ep. 114.3, Quint. Inst. 11.1.30, Aristid. Or. 2.392, D. L. 2.6 (implizit, über stilistische und charakterliche megalofrosy¬nh des Anaxagoras), Apostol. Cent. 12.42c (CPG II, 552, wo noch weitere Beispiele aufgelistet sind). Varianten des Topos beziehen sich eher auf Inhalt (besonders interessant Polyb. 12.24) oder Vortragsstil als auf Stil in unserem Sinne. Manchmal ist er so unscharf formuliert, dass nicht klar wird, um welchen Aspekt es geht, oder verschiedene Aspekte werden miteinander kombiniert (Arist. Thesm. 148-70, wo zudem über den Charakter des Dichters hinaus auch sein Äußeres mit einbezogen wird). S. Cic. Inv. 2.117 (und 2.121, wo zusätzlich die Berücksichtigung des Entstehungsanlasses empfohlen wird). Zum Zusammenhang dieser Stellen mit der Geschichte der Interpretation literarischer Texte vgl. Schäublin 1977, 225 f. Seiner Ansicht, gerade die Bezugnahme auf die Lebensumstände des Verfassers sei ein forensisches Spezifikum, ist im Licht des bis hierher Dargelegten allerdings nicht zuzustimmen; vgl. insbesondere die Inv. 2.117, wie Mansfeld 1994, 178 f. bemerkt, auffällig ähnliche Stelle Gal. De ord. propr. libr. 83.7-23 Müller, wo Galen über den Nutzen spricht, der aus persönlicher Bekanntschaft mit seinem bi¬ow , seinen erga und seinem tro¬pow th˜ w cyxh˜ w für das Verständnis seiner Schriften entspringe.
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als auch im Anschluss an ihn Aristoteles (Poet. 1448a20-4) klassifizieren literarische Texte danach, wer jeweils spricht. Diese Typologie unterscheidet drei Sorten von Texten: dramatische (nur direkte Rede der handelnden Personen), diegematische (keine direkte Rede) und gemischte (sowohl als auch). Hier, wenn nur irgendwo, könnte man sich eine klare Unterscheidung von Autor und literarischem Ich erwarten: Vor allem Platon mit seiner Angst vor mi¬mhsiw , vor dem Sich-als-ein-anderer-Darstellen, hätte die Differenz zwischen diesen beiden Größen geradezu zum Angelpunkt seiner Dichtungskritik machen können. Doch man wird enttäuscht: Der Dichter wird ein anderer nur in dem Maße, in dem er anderen Personen direkte Rede in den Mund legt. 26 Ansonsten spricht er in eigener Person. Platons Worte le¬gei de¡ ayœto¡w o« poihth¬w , mit denen er die diegematische Dichtung kennzeichnet, lassen in dieser Hinsicht keinen Zweifel offen. Dasselbe Dichtungsverständnis setzt auch Aristoteles’ Begründung seiner Vorschrift voraus, der Dichter solle in sein Werk möglichst viel direkte Rede integrieren; insofern er das nämlich nicht tue, sei er kein mimhth¬w (Poet. 1460a7 f.). Der Gegensatz zur modernen Erzähltheorie, die den Autor eines fiktionalen Textes automatisch in die Maske eines Erzählers schlüpfen lässt und dementsprechend jeden literarischen Erzählakt als per se mimetisch begreift, 27 könnte nicht größer sein. Einem theoretischen Verständnis von Literatur, das eine prinzipielle Schranke zwischen Autor und Text setzte, ist damit bereits im Ansatz der Boden entzogen. Als zweiter einschlägiger Beleg sei eine (beliebig erweiterbare) Reihe von Passagen angeführt, in denen Dichter sich über Charakter und Leben anderer Dichter oder über sich selbst äußern: Wenigstens sie, so würde man annehmen, müssten doch aus eigener Erfahrung wissen, dass Literatur und außerliterarisches Leben nicht miteinander identisch sind, und wenn von irgendjemandem, dann würde man sich von ihnen diesbezüglich eine differenzierende Darstellung erwarten. Doch wieder ist das Resultat genauerer Nachforschungen ernüchternd: Das einzige 28 scheinbare Indiz eines Problembewusstseins ist der seit Catull oft variierte Topos Musa iocosa, vita pudica; doch er entpuppt sich schnell als ein vom Dichter reflexartig gegen den Vorwurf der Unmoral eingesetztes Argument, das eng auf den sexuellen Bereich beschränkt bleibt und nie zu weiterführenden Schlüssen Anlass
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Die antike Weise, dramatische Texte zu zitieren, respektiert in der Regel nicht einmal diese Differenz zwischen dem Autor und seinen Figuren, sondern erklärt kurzerhand Ansichten, welche die dramatis personae äußern, für die des Dichters selbst; man vergleiche etwa (um ein beliebig herausgegriffenes Beispiel zu nennen) die unter dem Titel Gnv˜ mai mono¬stixoi Mena¬ndroy überlieferte Sammlung von Aussprüchen einzelner Personen aus Menander-Stücken. Martinez-Scheffel 2002, 14. Ich übergehe absichtlich Apul. Met. 1.1.1-2.1 und 11.27.8, wo sich der Erzähler einmal als Lucius, einmal als Apuleius präsentiert - Passagen, die Leser und Interpreten nach wie vor vor Rätsel stellen (aus der Sekundärliteratur sei hier nur Winkler 1985, 180-203, 218 f. hervorgehoben). Auf den ersten Blick scheint Apuleius hier wirklich ein Spiel um Autor und Erzähler bzw. um den Unterschied zwischen diesen beiden Größen zu inszenieren, doch erweist sich ein entsprechendes Verständnis des Textes bei näherer Betrachtung in zweierlei Hinsicht als problematisch: Erstens wäre der Witz des Spiels nicht klar. Zweitens - und das ist der grundsätzlichere Einwand - beweist die Tatsache, dass sich ein Phänomen in einem antiken Text mit Hilfe moderner literaturwissenschaftlicher Kategorien formulieren lässt, noch nicht, dass diese Kategorien dem Autor oder seinen Lesern auch irgendwie bewusst gewesen wären. Das älteste aussagekräftige Rezeptionsdokument zum Roman, August. Civ. Dei 18.18, zeigt dies klar: Es liest ihn einfach als eine Autobiographie, die entweder wahr oder erfunden ist, und unterscheidet nicht einmal ansatzweise zwischen Autor und Erzähler.
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gibt. 29 Das Gros der übrigen relevanten Passagen weist genau in die entgegengesetzte Richtung: Ob Pindar Archilochos wegen dessen Jambographie der Streitsucht bezichtigt (Pyth. 2.54-6), Kritias aus den Werken des Pariers ein wenig schmeichelhaftes Bild seiner Person rekonstruiert (88 B 44 Diels - Kranz) oder Aristophanes uns einen Euripides und einen Agathon vorführt, die sich im eigenen Leben benehmen und sprechen wie ihre Bühnenhelden (Ach. 410-3, Thesm. 148-70), ob Vergil in der zehnten Ecloge einen völlig seiner Lycoris verfallenen Gallus zeigt, Horaz die Satiren des Lucilius als dessen ‹Tagebücher› versteht (S. 2.1.30-4) oder Prudenz die Entsprechung zwischen seinem persönlichen Christentum und seinem literarischen Schaffen betont (Praef. 34-45, v. a. 435) 30 - immer steht im Hintergrund wie selbstverständlich die Annahme, zwischen Charakter, Ansichten und Lebensweg eines Autors einerseits und der Art seiner Dichtung andererseits bestehe ein unauflöslicher Zusammenhang. In besonders charakteristischer Weise zeigt sich dies, wenn Dichter, welche ihre Werke selbst in Buchform bringen, diese Bücher mit Angaben zu ihrer eigenen Person abrunden. Am besten ist diese Praxis in der augusteischen Dichtung bezeugt, wo wir mit Hor. Ep. 1.20.19-28, Prop. 1.22 und 4.1, Ov. Am. 3.15 und Trist. 4.10 eine ganze Reihe solcher autobiographischer Anfangs- und Schlussstücke erhalten haben. Die dort behandelten Themen - Heimat, Geburtsdatum, Familie, Karriere, soziale Beziehungen, Äußeres, Charakter usw. - entsprechen weitgehend denen der Prosa-Schriftstellerviten und legen es nahe, dass die betreffenden Autoren bewusst auf den oben erwähnten grammatisch-philologischen Usus rekurrieren, solche Biographien als Einleitungen in Klassikerausgaben zu verwenden. 31 Damit übernehmen sie auch die diesem Brauch zugrunde liegende Vorstellung, das Leben eines Autors sei für seine Leser interessant 32 und trage zum Verständnis seiner Texte bei.
II. Die bukolische Tradition Die zuletzt angeführten Äußerungen von Dichtern über Dichter stellen bereits einige kleine Beispiele für Rückwirkungen dar, welche die biographistische Rezeptionshaltung der 29
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Vgl. Cat. 16.5 f., weiters etwa Ov. Trist. 2.354, Mart. 1.4.8, 11.15.13, Plin. Ep. 4.14.4 f., Apul. Apol. 11. Der Topos hat zu sehr weitgehenden Spekulationen über ein Bewusstsein von der Eigengesetzlichkeit der Literatur in der Antike Anlass gegeben (Colace 1993, 243 Anm. 7). Doch wie sehr man in ihm ein nicht weiter zu hinterfragendes Versatzstück sieht, zeigt Ovids etwas widersinniger Versuch, ihn mit gängigen Vorstellungen vom Verhältnis Dichter - Werk zu vereinen, in Trist. 4.10.65-8: Dort argumentiert er, der Leichtlebigkeit seiner Liebesdichtung entspreche zwar sein Charakter, nicht jedoch sein Lebenswandel. Vgl. zur letztgenannten Stelle Consolino 1993, 222-4. Zur Form der antiken Dichtervita s. besonders Leo 1901, 11-34, zum Rekurs auf sie in den genannten Gedichten Leo 1898 (1960), 170-2. Dass eine wichtige Wurzel des autobiographischen Schrifttums generell das Interesse des Publikums an der Person des Autors und ein Großteil aller Auto- in diesem Sinne zugleich Autorbiographie ist, wird in der Sekundärliteratur zu dieser Gattung zwar gelegentlich erwähnt, aber kaum je genauer untersucht. Die klassische Darstellung von Misch 1949 bietet in der Einleitung (I, 4, 17) zwar einige diesbezügliche Bemerkungen, stellt diesen Gesichtspunkt dann aber ganz zugunsten eines Verständnisses der «autobiographischen Schriften ... als Zeugnisse für die Entwicklung des Persönlichkeitsbewusstseins der abendländischen Menschheit» (I, 5) zurück. In der Tat dürfte jedoch auch an der Herausbildung dieses Persönlichkeitsbewusstseins die Konfrontation des Autors mit der biographistischen Neugier seiner Leser und Hörer nicht unbeteiligt gewesen sein. Leider kann ich diesen geistesgeschichtlich interessanten Aspekt im folgenden nicht weiter im Auge behalten.
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Antike auf literarische Texte haben kann. Damit sind wir beim zweiten Teil dieser Ausführungen angelangt: Gibt es solche Rückwirkungen auch in größerem Maßstab und in weniger trivialer Form, und kann der antike Biographismus somit für unser Verständnis der antiken Literatur selbst relevant werden? Um zu zeigen, dass dem tatsächlich so ist, dürfte es zielführend sein, eine Gattungstradition von mäßigem Umfang auszuwählen, in der sowohl Produzenten als auch Rezipienten zu Wort kommen, und zu untersuchen, ob und wenn ja wie beide Seiten interagieren. Eine solche Tradition bietet sich in Gestalt der bukolischen Dichtung an. Hier finden wir nämlich (unter Vernachlässigung einiger minores, zu denen keinerlei Kommentarmaterial erhalten ist) eine alternierende Reihe von Dichtern einer- und Interpreten andererseits: Theokrit - seine Scholiasten - Vergil - seine Biographen und Kommentatoren - und schließlich Calpurnius Siculus. Wir können also nicht nur sehen, wie Scholien und Kommentare einen Autor biographistisch interpretieren, sondern auch, wie spätere Autoren, die solche Interpretationen ihrer Vorgänger beim grammaticus oder im Selbststudium kennenlernen, dann ihrerseits auf diese reagieren. Diejenigen Eidyllia Theokrits, die etwa seit dem 2. Jh. v. Chr. als bukolisch verstanden werden, 33 bieten demjenigen, der sie einer biographistischen Lektüre unterziehen will, eine Reihe von Ansatzpunkten, wobei sich nicht sicher entscheiden lässt, ob das absichtlich oder zufällig geschieht. 34 Am deutlichsten sind diese in seinem siebten Idyll, den Thalysia, in denen der Icherzähler Simichidas von einer Wanderung in Begleitung einiger Freunde berichtet, die ihn von der Stadt Kos zum Landsitz eines Bekannten führt, wo das Thalysienfest gefeiert wird. Im Zuge einer Unterhaltung vergleicht er dabei seine eigenen poetischen Fähigkeiten mit denen des Asklepiades und des Philitas (Id. 7.39-41) und stellt so eine Beziehung zur realen Literaturszene seiner Tage her. Doch auch Id. 3 und 9, wo zumindest Icherzähler auftreten, sind in diesem Zusammenhang zu nennen. In Id. 6.2 kann die Anrede an einen Arat, in dem der Leser sofort den Dichter der Phainomena vermuten wird, als Signal dafür verstanden werden, dass der Autor sich hier in eigener Person an einen Kollegen wendet. Solche Passagen verleiten auch noch moderne Interpreten dazu, Theokrits Gedichten einen gewissen Grundstock an persönlichem Erleben zuzugestehen. 35 In den Theokritscholien, die teilweise auf die beiden alexandrinischen Kommentare des Asklepiades von Myrleia und des Theon aus dem 1. Jh. v. Chr. zurückgehen, 36 finden sich entsprechende Interpretationen aber in viel ausgeprägterer Form. Dabei lassen sich grundsätzlich zwei exegetische Operationen unterscheiden. Obwohl diese oft gemeinsam auftreten, trenne ich sie hier um der größeren Klarheit willen und weil sie im wesentlichen den thematischen Bereich dessen abdecken, was uns auch im folgenden immer wieder begegnen wird, schematisch voneinander und teile sie weiter in Unterklassen ein: 33
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Die Gattung «Bukolik» wurde wohl nicht bewusst von Theokrit erfunden, sondern ist ein Ergebnis der hellenistischen Theokritrezeption; vgl. zuletzt Gutzwiller 1996, 121-3 mit der wesentlichen älteren Literatur. Vgl. zuletzt Meillier 1993. Z. B. Meillier 1993, 121: Das Thalysienfest in Id. 7 muss auf ein reales Erlebnis des Dichters zurückgehen, «[a` ] moins de pousser a` l’extreˆme l’hypercriticisme». Wendel 1920, 78-83; Wendels Werk als Ganzes ist immer noch die grundlegende Darstellung zur Genese der Theokritscholien. Zur eng mit dieser zusammenhängenden Editionsgeschichte Theokrits in der Antike vgl. Wilamowitz-Moellendorff 1906 und Gutzwiller 1996; knappe Überblicke bieten Gow 1950, lx, lxxxii und Hunter 1999, 26-8.
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(1) Identifikation einzelner Figuren der Eidyllia mit ihrem Autor. Bei diesen Figuren kann es sich sowohl a) um den Icherzähler (Schol. Id. 7 [pp. 76.9-77.7 Wendel]: Simichidas) als auch b) um andere namentlich bezeichnete Gestalten (Schol. Id. 6.6b: Daphnis) 37 als auch c) um namenlose Hirten handeln (Schol. Id. 3 [p. 116.7-9 W.], Schol. Id. 9.2830, Schol. Id. 18.56). Interessanterweise empfindet man es offenbar nicht als problematisch, den Dichter gleichzeitig mit mehreren verschiedenen Gestalten zu identifizieren. (2) Ausgehend von dem aus (1) gewonnenen Material Deutung einzelner Elemente der Gedichte als Aussagen des Autors über sich selbst und sein Leben. Die hieraus gewonnenen Informationen beziehen sich auf eine Reihe verschiedener Bereiche: a) Physiognomie: Die Scholl. Id. 3.8/9ab diskutieren, ob Theokrit wie eine der dort genannten Personen stupsnasig war oder nicht. b) Soziales Umfeld: Genannt werden Familienmitglieder wie Theokrits Vater Simichos oder Simichidas (Scholl. Id. 7.21ab), Freunde wie Phrasidamos und Antigenes (ebendort), Geliebte (Schol. Id. 3.1a, Schol. Id. 7 [p. 77.4 f. W.]), aber auch Dichterkollegen wie Arat (Schol. Id. 6.1-3) und Asklepiades (Schol. Id. 7.40) sowie politische Persönlichkeiten wie Ptolemaios II. Philadelphos (Schol. Id. 7 [p. 77.17 W.]) und Arsinoe II. (Schol. Id. 15 [p. 305.14-7 W.]). c) Aufenthaltsorte: Schol. Id. 7 (p. 76.9 und 16 W.) und Schol. Id. 15 (p. 305.14 f. W.) sprechen von Aufenthalten des Dichters auf Kos und in Alexandrien. d) Wichtige Ereignisse: Diese Aufenthalte gehören nach Schol. Id. 7 (p. 76.17 W.) zu einer Reise, die Theokrit von seiner Heimat Syrakus an den Ptolemäerhof führte. Wir können also festhalten, dass die Theokritscholien eine ganze Reihe von biographischen Informationen über ihren Autor liefern. Allerdings tragen diese Informationen noch eher disparaten Charakter. Sie schließen sich nicht zu einer konsistenten Biographie des Dichters zusammen, und die Berührungspunkte zwischen Leben und Dichtung erscheinen punktuell und zufällig. Hätten sie aber für Vergil, der sie aus den Kommentaren der beiden oben genannten späthellenistischen Grammatiker gekannt haben dürfte, 38 nicht trotzdem oder vielmehr 37
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Vgl. auch Schol. Id. 4.38/39d, wo eine offenbar von anderen Interpreten vorgeschlagene Identifikation des Ziegenhirten Battos mit Theokrit zurückgewiesen wird. Dass Vergil bei seiner Theokrit-imitatio auch auf Kommentare zurückgriff, behauptet schon WilamowitzMoellendorff 1906, 110-2 (dem in neuerer Zeit Serrao 1990, 11-3 folgt). Wendel 1920, 68-73 (vgl. auch Gow 1950, lxi Anm. 3) versucht diese Ansicht zu widerlegen, doch die Beispiele, anhand derer er zeigen möchte, dass scheinbare Bezugnahmen Vergils auf die Theokritscholien sich bei näherem Hinsehen jeweils als nichtig herausstellen, machen kumulativ eine Verwendung von in diesen enthaltenem Material aus den frühen Kommentaren im Gegenteil durchaus wahrscheinlich. Dass Vergil, wenn er die Möglichkeit hatte, ein griechisches Vorbild mit Kommentar zu lesen, diese auch ausnützte, zeigt sein Umgang mit Homer in der Aeneis (vgl. die unten Anm. 69 zitierte Literatur). Chronologische Probleme bestehen nicht: Als absoluter terminus post quem für die Geburt Theons ist etwa 60 v. Chr. anzusetzen, und er könnte einiges älter sein; Asklepiades von Myrleia gehört wohl noch vor Theon (Wendel 1920, 81). Ein letztes Problem ist die Frage, ob die biographistischen Deutungen unserer Theokritscholien nicht vielleicht erst nachvergilisch sind. Von den oben genannten Stellen wird das in Schol. Id. 3 Mitgeteilte einem aus dem 2. Jh. n. Chr. stammenden Munatios (Wendel 1920, 74-7) zugewiesen, doch muss dieser deshalb noch nicht zwangsläufig der Erfinder aller biographistischen Interpretationen sein, und zumindest in einem Fall lässt sich zeigen, dass eine solche älter ist als er: Bei Serv. Dan. Ecl. 5.55 erscheint der Vater des Theokrit als Stimichon, was offenbar aus Simichos verballhornt ist und also die Identifikation des Simichidas in Id. 7 als Theokrit voraussetzt (Wendel 1920, 58). Da «nur den Vergilerklärern des ersten Jahrhunderts ... eine Ausschöpfung der griechischen Originalquellen zugetraut werden» kann (Wendel 1920, 48), muss diese Identifikation letztlich aus Asklepiades oder Theon (oder anderen, namenlosen hellenistischen Theokritexegeten) stammen. Da diese wohl nicht nur einmal biographistisch
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gerade deshalb eine Warnung darstellen sollen? Angesichts der hohen Meinung, die wir von seinen poetischen und allgemein geistigen Fähigkeiten haben, würden wir zu der Annahme neigen, er hätte alles tun müssen, um in den Eclogen keinerlei Anhaltspunkte für derart trivialisierende und hermeneutisch planlose Interpretationen zu liefern. Tatsächlich ist genau das Gegenteil der Fall: Der Text der Eclogen weist zahlreiche Entsprechungen zu den diesbezüglichen Vorschlägen der Theokritexegeten auf, ja er scheint geradezu auf diesen auf- und weiterzubauen. Dies beginnt damit, dass Vergil einzelne Personen viel spezifischer als seine alter egos markiert, als Theokrit das durch die Form der Icherzählung im siebten Idyll getan hat. Insbesondere gilt dies für den Schluss der fünften und den Beginn der sechsten Ecloge: Dort, genau in der Werkmitte, identifiziert sich der römische Bukoliker zunächst mit Menalcas, indem er diesen zum Autor der Eclogen 2 und 3 macht (Ecl. 5.86 f.), und scheint gleich darauf als Tityrus zu sprechen, der als Dichter niederer Genera präsentiert wird und von Apollon entsprechende poetologische Ermahnungen erhält (Ecl. 6.1-5). Darüber hinaus führt er sich am Ende des ganzen Buches als Ziegenhirte ein, der allerdings namenlos bleibt (Ecl. 10.70-7). Die Pluralität der Autoren-Figuren entspricht dabei ihrer oben notierten Vielzahl in den Theokritscholien. Diese Identifikationen verbindet Vergil nun - wieder in Entsprechung zu den Behauptungen der Scholien - mit einer Reihe von Informationen, die sich zu seiner eigenen Biographie in Beziehung setzen lassen. Vielleicht am auffälligsten ist dies hinsichtlich des Personals der Eclogen: Unter die Hirten mischen sich zwanglos reale Personen, mit denen der Autor in Kontakt zu stehen scheint, Freunde und Kollegen aus der literarischen Szene ebenso wie politische Persönlichkeiten: Pollio (Ecl. 3.84-9, 4.11-4), Varus (6.6-12), Varius und Cinna (9.35), Gallus (10), aber auch die pessimi poetae Bavius und Mevius (3.90). Dasselbe Neben- und Ineinander von literarisch und biographisch vorgeprägten Elementen begegnet auch in geographischer Hinsicht: Neben Sizilien und Arkadien treten die norditalienische Gegend um Mantua, das schon manche von Vergils ersten Lesern als seine Heimat gekannt haben dürften, und Rom. Schließlich scheint der Text auch auf Details aus Vergils eigener Lebensgeschichte anzuspielen, so auf eine Reise nach Rom (Ecl. 1.19-30) - die sicher einmal stattgefunden haben muss, 39 was aber Bezüge zu der oben erwähnten Reise Theokrits nach Alexandrien nicht ausschließt - und auf seine Opferrolle bei den Landenteignungen im Gefolge der Schlacht von Philippi (Ecl. 1, 9) - eine Information, die zwar bis heute in vielen Vergilbiographien als Faktum präsentiert wird, 40 sich aber auf keinen einzigen von den Eclogen unabhängigen Beleg stützen kann. 41 Doch mit dieser letzten Bemerkung wären wir schon bei Vergils Rezipienten. Fassen wir zuvor noch kurz seinen eigenen Umgang mit der ihm vorausliegenden Theokrit-Rezeption zusammen: Er erweist sich überraschenderweise als durchaus affirmativ und setzt, was bei Theokrit vorwiegend interpretatorisches Postulat war, fast Punkt für Punkt in die dichteri-
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interpretierten, dürfen wir mit einiger Wahrscheinlichkeit einen guten Teil des oben präsentierten Materials auf sie zurückführen. Della Corte 1991, 26 f. Vgl. etwa noch Della Corte 1991, 45-53. So schon Diehl 1911, 53-7. Vernachlässigt wurden in diesem Zusammenhang bislang die archäologischen Erkenntnisse zur geographischen Ausdehnung der Enteignungen: Sie zeigen, dass nur ein kleiner Teil der unmittelbaren Umgebung Mantuas betroffen war und Vergils Heimatdorf Andes überhaupt fünf bis sechs Kilometer von jedem enteigneten Gebiet entfernt lag (Talbert 2000, 39).
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sche Praxis um. Für den Leser besteht der Effekt dieser Maßnahmen darin, dass die bukolische Welt sich auf die biographische und zeitgeschichtliche Realität des Autors hin zu öffnen und die Grenzen zwischen beiden Bereichen, zwischen Dichtung und Biographie, zu verschwimmen scheinen. Dies kann er gleichzeitig als Angebot verstehen, auch bei scheinbar rein bukolischen, dichtungsimmanenten Elementen nach verborgenen Bezügen zum Autor Vergil und zu dessen Lebenswelt zu fahnden. Die antiken Vergilleser und -interpreten, deren biographisches Interesse offenbar schon zu Lebzeiten des Dichters erwacht, 42 nehmen dieses Angebot begeistert an: Eine Vielzahl poetischer und biographischer Zeugnisse identifiziert Vergil mit einzelnen der in den Eclogen auftretenden Personen und leitet aus diesem Werk Details seiner Vita her. So scheint etwa, um nur eine Handvoll Zeugnisse herauszugreifen, bereits Vergils Zeitgenosse Valgius Rufus in einer verstümmelt erhaltenen Elegie die Erwähnung eines Codrus in Ecl. 5.11 und 7.22 als Kompliment an einen dichtenden Freund des Autors zu verstehen. 43 Mart. 8.55 spricht von diesem als Tityrus und skizziert auf der Basis seiner Hirtendichtung die Anfänge seiner Karriere. Einzelheiten der Donatvita wie beispielsweise die Angaben über Vergils facies rusticana, die schon erwähnte Enteignung, die liberalitas seiner Freunde, seine frühen Versuche, ein römisches Epos zu schreiben, und seine päderastischen Neigungen stammen letztlich ebenfalls aus den Eclogen. 44 Mit hoher Wahrscheinlichkeit dürfen wir ähnliche exegetische Prinzipien, wie sie aus diesen Testimonien sprechen, auch für die professionelle Vergilkommentierung und -interpretation durch die Grammatiker des frühen Prinzipats voraussetzen. Das aussagekräftigste Anschauungsmaterial für die Anwendung dieser Prinzipien in der exegetischen Praxis stammt allerdings erst aus dem Unterrichtsbetrieb der Spätantike, einer Epoche, in der die allegorisierende Vergilinterpretation ja generell eine Blütezeit erlebt. 45 Von den Eclogenkommentaren des 4. bis 6. Jhs. bietet sich der des Servius aus zwei Gründen als Beispiel an: Erstens integriert dieser Grammatiker einen großen Teil des von der Vergilkommentierung der vorhergehenden Jahrhunderte aufgehäuften Materials in sein Werk. 46 Zweitens ist er insofern ein besonders guter Zeuge für die Selbstverständlichkeit, mit der man sich nunmehr biographistischer Interpretationen bedient, als er selbst dieser Praxis programmatisch reserviert gegenübersteht: 47 Schon im ersten Lemma seines Kom-
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Vgl. Quint. Inst. 10.3.8 Vergilium paucissimos die composuisse versus auctor est Varius; Gell. 17.10.2 «amici», inquit [sc. Favorinus], «familiaresque P. Vergilii in his, quae de ingenio et moribus eius memoriae tradiderunt, ...» Schol. Veron. Ecl. 7.22 = Valg. fr. 2 bei Courtney 1993; zur Interpretation des Stücks vgl. dort 288 f. Vgl. etwa Naumann 1981, 8-12; Brugnoli 1988, 1090 f. Eine Fülle weiterer einschlägiger Zeugnisse bietet die Testimoniensammlung von Brugnoli-Stock 1991. Nur beispielshalber seien noch genannt Laus Pison. 230-5 (Vergil latuisset in umbra und tantum cantasset avena, / ... si Maecenate careret, vgl. Ecl. 1.1, 10.75 f.); Mart. 1.107.3 f., 12.3.1 f. (Maecenas gibt Vergil otium, vgl. Ecl. 1.6); Mart. 5.16.11 f., 6.68.5 f., 7.29.7 f., 8.63 (Maecenas schenkt Vergil den Knaben Alexis, vgl. Ecl. 2); Apul. Apol. 10 (Vergil nennt in den Eclogen sich selbst Corydon, einen puer amici sui Pollionis Alexis); Sidon. Carm. 4.1-4 (Octavian gibt Vergil sein Land zurück, vgl. Ecl. 1). Zu biographistischer Interpretation als einer Form von Allegorese s. o. Anm. 12. Vgl. z. B. Lazzarini 1989, 57-9. Trotzdem wurde Servius wie für seine Allegorese in anderen Bereichen so auch für seine biographistischen Interpretationen herb kritisiert (vgl. etwa Schmidt 1972, 120-39); seit einiger Zeit bemüht man sich aber, seiner Leistung in diesem Punkt besser gerecht zu werden (z. B. Patterson 1988, 19-42). Zur Allegorese bei Servius generell vgl. Jones Jr. 1959. Einen ersten knappen Überblick über seine Interessen und Kommentierweisen im allgemeinen samt relevanter Sekundärliteratur bietet Fowler 1997.
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mentars (ad Ecl. 1.1) bekundet er seine Ablehnung gegenüber einer Lesart, welche «überall» in den Eclogen Hinweise auf Vergil und seine Biographie finden will. Er selbst möchte dieses Verfahren auf diejenigen Passagen beschränkt wissen, «wo es der gesunde Menschenverstand verlangt.» 48 Das ist in seinen Augen jedoch immer noch an rund 30 Stellen der Fall; bezieht man auch den Servius Danielis mit ein, so erhöht sich diese Zahl nochmals um ein Drittel. 49 Ich kann es, da uns das Verfahren mittlerweile geläufig ist, bei einem knappen Überblick bewenden lassen: Wie zu erwarten, wird Vergil unter der Maske derjenigen Personen erkannt, bei denen das schon sein eigener Text nahelegt: des anonymen Ziegenhirten (ad Ecl. 10.7, 77), des Tityrus (ad 1.1) und des Menalcas (ad 9.16). Darüber hinaus tritt er aber auch als Corydon (ad 2.1, 7.21), als mythischer Dichter Linus (ad 6.67) und als der Knabe Chromis (ad 6.13) auf. 50 Dementsprechend liefern die Eclogen zahlreiche Informationen über den Bekanntenkreis des Autors: Zu den dort ausdrücklich genannten Persönlichkeiten kommen noch Maecenas (ad 5.55), Vergils Lehrer, der Epikuräer Siro (ad 6.13), und vier Geliebte des Dichters, nämlich Alexandrus, Leria, Cebes und ein Flötenspieler (Antigenes?) (ad 2.146, 5.89), weiters politische Persönlichkeiten, in erster Linie Octavian (passim), daneben aber auch Iulius Caesar (ad 5.20, 7.21). 51 Vergils Aufenthaltsorte Mantua und Rom werden unter der Verkleidung von Mädchennamen entdeckt (ad 1.29) und bukolische Landschaftsbeschreibungen auf die Topographie Mantuas bezogen (ad 7.11, 9.7, 9, 10). Schließlich kommen in Vergils Bukolik auch einschneidende Ereignisse aus seiner Biographie zur Sprache, wobei insbesondere die Konfiskation seines Landgutes und die Versuche der Rückgewinnung eine zentrale Rolle spielen (p. 3.1-14 Thilo; ad 3.20, 94, 9.1). Servius demonstriert somit eindrucksvoll, dass die biographistische Eclogen-Allegorese der Kaiserzeit zwar nicht in puncto Methodik und Systematik, dafür aber quantitativ weit über die Ansätze hinausgeht, die in den Theokritscholien zu finden sind. Calpurnius Siculus schließlich hat, wie bereits mehrfach gezeigt wurde, seinerseits diese biographistische Art der Vergilerklärung gekannt und baut auf ihr auf. 52 Allerdings tut er 48
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Serv. Ecl. 1.1: et hoc loco Tityri sub persona Vergilium debemus accipere; non tamen ubique, sed tantum ubi exigit ratio. Weniger vorsichtig ist beispielsweise Ps.-Probus (pp. 328.9, 329.2 f. Hagen): gratias ergo agens Augusto, quod recepisset agros, Bucolica scripsit ... totus liber per allegoriam intellegitur; facit enim se esse Tityrum ... Wozu die Anwendung dieses Prinzips in der Praxis führen kann, zeigt der Kommentar des Iunius Philargyrus. Biographistische Allegorese bei Servius: ad 1.1, 27, 28, 29, 38, 46, 47; 2.1, 6, 15; 3.74, 93, 96; 5.48, 89; 6.3, 13; 7.11, 21; 8.6, 12; 9.1, 6, 9, 17, 18, 21, 23, 66, 67; 10.77. Ergänzungen aus Servius Danielis: ad 5.55; 6.3, 67; 7.11; 9.2, 7, 11, 16, 46, 53; 10.77. Biographistische Interpretationen abgelehnt: ad 2.73; 3.20, 71; 5.20. Die Scholia Veronensia fügen zu dieser Liste noch Codrus hinzu (ad Ecl. 7.22): Codrum plerique Vergilium accipiunt ... Man kann mit dieser von den spätantiken Interpreten angenommenen massiven Präsenz Vergils im Text der Eclogen vielleicht die Tatsache in Zusammenhang bringen, dass der um 500 entstandene Codex Romanus (Vatic. Lat. 3867) den Autor auch ikonographisch in sein Werk einführt - und zwar nicht nur, wie sonst üblich, zu Beginn der Sammlung, sondern auch in deren Inneren, zwischen Ecl. 1 und 2, 3 und 4 sowie 5 und 6 (an welch letzterer Stelle sich Vergil, wie wir oben gesehen haben, zunächst unter der Maske des Menalcas, dann unter der des Tityrus zu erkennen zu geben scheint). S. Weitzmann 121 (die dort vorgetragene These, ursprünglich habe jede Ecloge eine einzelne Rolle eingenommen, auf der ihr jeweils ein eigenes Autorenporträt vorangestellt worden sei, widerspricht jedoch den Gepflogenheiten des antiken Buchwesens und ist unplausibel) und Abb. 130; alle drei Bilder finden sich im Internet unter http://vergil.classics.upenn.edu/images/images.html. Der Zweizeiler Anth. Lat. 778 Riese liefert einen weiteren Namen, nämlich Vergils früh verstorbenen Bruder Flaccus, den er als Daphnis betrauere. Vgl. etwa Schmidt 1972, 122-5; Langholf 1990; Schröder 1991. Entsprechend der Tatsache, dass in der biographistischen Vergilexegese Vergils Einstellung zu den politischen Ereignissen seiner Zeit eine zen-
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das nicht überall, sondern nur in den panegyrischen Eclogen 1, 4 und 7 - ein Vorgehen, das gut zu der oben zitierten Meinung des Servius passt, Vergil schreibe manchmal, aber nicht immer allegorisch. Das alter ego des Calpurnius ist eindeutig der in allen drei genannten Stücken auftretende Hirte Corydon. Zwar erscheint der vergilische Corydon bei Servius, wie wir oben gesehen haben, als einer unter mehreren Kandidaten für die Rolle Vergils. Im allgemeinen Bewusstsein wird er aber, wie die ebenfalls schon angeführten Rezeptionszeugnisse aus der frühen Kaiserzeit lehren, diesbezüglich schon bald von Tityrus verdrängt, dessen Name bei Calpurnius dementsprechend eine durchsichtige Allegorie für «Vergil» darstellt (Calp. Ecl. 4.62 f., 77, 160-3). 53 Corydon wird in Ecl. 1 von einem Gedicht des Faunus inspiriert, was in ihm zu Ende dieser Ecloge die Hoffnung erweckt, ein gewisser Meliboeus 54 werde seine Bukolik dereinst Augustas ad aures (1.94) tragen. Schon hier können wir vermuten, dass eine Personenkonstellation aufgebaut werden soll, welche der Trias Vergil - Maecenas - Octavian entspricht, und diese Vermutung bestätigt sich in Ecl. 4. Dort erfahren wir, dass Corydon früher ohne Förderer dastand und, um seiner Armut zu entkommen, beinahe hätte auswandern müssen. Doch nun hat Meliboeus - übrigens selbst ein Dichter wie bekanntlich auch Maecenas - seinen Lebensunterhalt gesichert (4.19-49, 53-7). Er kann wie der Tityrus-Vergil vom Anfang der vergilischen Eclogen ruhig in umbra recubare (37). 55 Es folgt ein Hymnus auf einen Kaiser, der wie der als Octavian verstandene Retter des Tityrus bei Vergil ein göttlicher iuvenis ist (vgl. V. Ecl. 1.42 mit Calp. Ecl. 4.85 und 137). 56 Die freundliche Aufnahme dieser Verse durch Meliboeus weckt in Corydon noch höhere Hoffnungen: Könnte jener seine Lieder zum Kaiser bringen und ihm ein Landgut verschaffen, so würde er sich noch größeren poetischen Aufgaben gewachsen fühlen (152-63). Hier werden die Parallelen zu Vergil und Maecenas (der ja jenem sein Landgut zurückgegeben haben soll) 57 überdeutlich und münden in den letzten Versen (160-3 tu mihi talis eris, qualis ...) in einen expliziten Vergleich. Nach diesem hoffnungsvollen Ende bringt die siebte Ecloge jedoch eine Enttäuschung: Zwar gelangt Corydon in ihr nach Rom und bekommt dort im Amphitheater seinen Kaiser zu Gesicht,
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trale Rolle spielt, stellen diese Arbeiten statt des allgemein biographischen oft den panegyrischen Aspekt ins Zentrum ihrer Überlegungen; vgl. besonders Küppers 1989. Das ist zu Recht die communis opinio der Forschung. Der Versuch von Herrmann 1952, Tityrus vielmehr mit Lukan (und das restliche Personal der calpurnischen Bukolik mit der cre`me de la cre`me der julischflavischen Literaturszene von Calpurnius Flaccus über Persius bis hin zu Seneca, Statius und Silius Italicus) zu identifizieren, ist haltlos. Die Forschung glaubt in Meliboeus meist entweder Seneca oder Calpurnius Piso zu erkennen (Doxographie bei Amat 1991, XXVI f.). Schlagende Argumente lassen sich für keinen dieser Vorschläge beibringen; bei einer Spätdatierung der Eclogen, die in letzter Zeit an Anhängern gewinnt (vgl. Anm. 56), wären sie beide hinfällig. Vgl. zur Annäherung Corydons an Tityrus-Vergil in dieser Ecloge auch seine Selbstcharakterisierung mit den Ausdrücken docilem ... iuventam und meritae ... iuventae (Ecl. 4.34, 165), welche diejenige Vergils am Schluss der Georgica, audax ... iuventa (G. 4.565), aufgreift und variiert, und die Tatsache, dass er mit Ornytus und Amynthas wie der Vergil der Donatvita (Don. Vita Verg. 14) zwei Brüder besitzt. Die Frage, um welchen Kaiser es sich handelt, und mit ihr die Datierung von Calpurnius’ Werk, ist heiß umstritten (vgl. zuletzt Baldwin 1995, der die Diskussion zusammenfasst und selbst für eine Datierung ins 3. Jh. argumentiert; Horsfall 1997), aber im vorliegenden Zusammenhang von sekundärer Bedeutung. Die beiden wichtigsten Kandidaten sind Nero und Septimius Severus; zu weiteren Vorschlägen (Commodus, Gordian, Probus) s. Amat 1991, VIII mit älterer Literatur. Don. Vita Verg. 20; Serv. Ecl. p. 2.6 f. Thilo; Della Corte 1991, 57.
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ähnlich wie Vergil nach Ansicht seiner Kommentatoren (Serv. Ecl. 1.42) Octavian. 58 Doch muss er dies offenbar auf eigene Faust und ohne Unterstützung durch Meliboeus tun. Die pulla paupertas (7.81), 59 mit der er noch immer zu kämpfen hat, verhindert es, dass er mit seinem ‹Gott› (76, vgl. Verg. Ecl. 1.6 f.) in näheren Kontakt treten könnte oder von diesem auch nur wahrgenommen würde. Seine carmina sind offenbar nicht zu den Ohren des Caesar gedrungen. Calpurnius adaptiert also das komplizierte und vielfach willkürlich wirkende System autobiographischer Anspielungen, das die antiken Kommentatoren aus Vergil herauslesen, für seinen eigenen Fall, indem er es entscheidend strafft. Er beschränkt sich diesbezüglich auf drei seiner sieben Eclogen, vereinfacht die Personenkonstellationen seines Vorgängers und klärt die Zuordnungen. Das Bild, das er damit von sich und seiner dichterischen Karriere zeichnet, ist klar konturiert und weist sowohl Parallelen als auch markante Unterschiede zu Vergils Laufbahn auf: Calpurnius präsentiert sich, pointiert formuliert, als ein alter Vergilius mit Karriereknick. Aus nicht näher genannten Gründen hat sein Patron die in Ecl. 4 formulierten Hoffnungen nicht erfüllt. Damit gewinnt das autobiographische Element bei Calpurnius, was bislang weitgehend übersehen wurde, appellativen Charakter und eine klare außerliterarische Zweckbestimmung: Der alter Vergilius sucht einen alter Maecenas, der seine Betreuung übernehmen soll und im Gegenzug die Früchte seiner dichterischen Tätigkeit wird ernten können. Lässt sich auch über den Wahrheitsgehalt von Calpurnius’ autobiographischer Skizze, was seine Vergangenheit betrifft, nichts Sicheres aussagen 60 - dass er mit ihr seinen künftigen Lebensweg beeinflussen wollte, ist offensichtlich. Ein kurzer Ausblick auf die bukolische Dichtung nach Calpurnius soll diesen Teil abschließen: Nemesian folgt bereits einer etablierten Tradition, wenn er sich, anknüpfend an die Romreise von Tityrus-Vergil in der ersten vergilischen Ecloge, als jungen Dichterhirten Thymoetas auf dem Sprung in die Metropole präsentiert (Nemes. Ecl. 1.82 f.). 61 Dasselbe Gattungsverständnis bestimmt auch - in enger Verbindung mit anderen, nämlich politischen, ethischen und religiösen Formen allegorischer Interpretation, von denen es meist nicht sauber zu trennen ist - die Wiederaufnahme der bukolischen Tradition in der Renaissance mit. Setzt Marcus Valerius im 12. Jh. noch keine biographistische Konzeption des Genus voraus, so manifestiert sich im Italien des Trecento mit dem bukolischen Briefwechsel zwischen Dante und Giovanni del Virgilio bereits eine Sicht der Gattung, welche die Verschlüsselung autobiographischer Sachverhalte als essentielles Merkmal betrachtet. Von hier aus führt eine Linie über Boccaccio, der für den zweiten Teil seines Bucolicum Carmen
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Dass die Romreise Corydons diejenige des vergilischen Tityrus adaptiert, betont Küppers 1989, 41-3. paupertas ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Stichwort. Für Vergil erscheint das Problem, das es bezeichnet, bei Mart. 8.55.9 f. paupertatemque malignam / risit [sc. Maecenas] als gelöst. Bei Calpurnius wird es schon in Ecl. 4.155 f. angesprochen, wobei Corydon-Calpurnius seine Situation pointiert der von Tityrus-Vergil gegenüberstellt: vellit nam saepius aurem / invida paupertas ist Kontrastimitation von V. Ecl. 6.3 f. Cynthius aurem / vellit. Obwohl man sie oft für bare Münze genommen hat; vgl. etwa Langholf 1990, 355 f. ... ut te [sc. Thymoetam] placatus Apollo / provehat et felix dominam perducat in urbem; vgl. Ecl. 2.84 Tityrus e silvis dominam pervenit in urbem. Wie Küppers 1989, 43-6 zeigt, gewinnt Nemesians Selbststilisierung als neuer junger Vergil eine besondere Tragweite angesichts der Tatsache, dass er mit den Eclogen, dem diesen folgenden Lehrgedicht der Cynegetica und einem in deren Prooemium (63-75) angekündigten, wenn auch nie ausgeführten panegyrischen Epos offensichtlich die dichterische Entwicklung seines großen Vorbilds insgesamt imitieren wollte.
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ebenfalls eine «autobiographische[.] Disposition» 62 wählt, zu Petrarcas gleichnamiger Eclogensammlung, die durch und durch auf einem allegorisch-biographistischen Vergilverständnis basiert: Der vom Autor praktizierten Allegorese der Eclogen seines Vorbildes, die noch weit über alles in der Antike Anzutreffende hinausgeht, entspricht im eigenen Werk eine Schreibart, die ihn dazu zwingt, den einzelnen Gedichten Kommentare in Briefform beizugeben, welche die Entsprechungen zwischen deren Inhalt und seinem Leben detailliert aufschlüsseln. 63 Analoge Prämissen prägen auch die weitere Entwicklung: Baptista Mantuanus, der wirkungsmächtigste Vertreter der Gattung in der frühen Neuzeit, begründet in seinem bukolischen Oeuvre seine Entscheidung für das Mönchsleben und tritt als Pollux und Candidus auf, 64 und von den hunderten Eclogen und Eclogensammlungen, die bis ins späte 18. Jh. in ganz Europa entstehen, enthält ein guter Teil allegorische Bezüge auf die Biographie ihres Autors. 65 Oft wird auf diesen Umstand in der Vorrede hingewiesen, oder Marginalien informieren den Leser über die wichtigsten Gleichungen, die er zum Verständnis der Gedichte benötigt. Ein (beliebig herausgegriffenes) Beispiel hierfür sind etwa die Argumenta und Scholien, mit deren Hilfe Eobanus Hessus die biographischen Allegorien seiner ersten zwölf Eclogen auflöst. 66 In der Kommentierung der vergilischen Hirtendichtung entspricht dieser Entwicklung eine durchgehende Orientierung an servianischen Prinzipien. 67 Auch die Theorie der Bukolik, die sich im Anschluss an die dichterische und exegetische Praxis im 16. und 17. Jh. entwickelt, weist mitunter darauf hin, dass sich unter der ländlichen Maske der Gedichte der kultivierte Autor und Personen aus seinem städtischen Umfeld verbergen können. 68 Der biographistisch-autobiographische Aspekt wird schließlich so sehr als eine Konstante der Gattung empfunden, dass er sich in der stehenden Redewendung von der «masque´rade bucolique» niederschlägt.
Zusammenfassung und Ausblick Fassen wir kurz zusammen. Was hat dieser Aufsatz zu zeigen versucht? Einerseits, dass die strikte konzeptionelle Trennung der Lebenswelt eines Autors von der fiktiven Realität 62 63
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Ratkowitsch 2001, 288. Feo 1988, 60 f., 67; Patterson 1988, 42-52; Berghoff-Bührer 1991, v. a. 33-64; zur Frühphase der Bukolik im Italien des 14. Jhs. insgesamt Krautter 1983. Ratkowitsch 2001. Grant 1965, der den einzigen Überblick über die neulateinische Bukolik in ihrer Gesamtheit bietet, thematisiert diesen Aspekt nicht eigens, erwähnt ihn aber in seinen Paraphrasen einzelner Eclogen immer wieder; speziell zur Bukolik des 16. Jhs. im deutschen Sprachraum vgl. auch Mundt 1996, 15-54. Eobanus Hessus, Operum farragines duae, Schwäbisch Hall 1539, A1a-38a. Vgl. etwa Patterson 1988, 10-2, 82 und 87-92 (zu Kommentaren von Nicodemus Frischlin, Politian und Juan Luis Vives) sowie 21 f. und 25 (allgemeiner gehaltene Bemerkungen). - Pattersons exemplarisch vorgehende Analyse der Entwicklung der (lateinischen wie volkssprachlichen) Bukolik bis ins 20. Jh. ist im vorliegenden Zusammenhang auch sonst von großem Interesse: Ihre These, die Attraktivität des Genus für Dichter und Intellektuelle beruhe teilweise auf den vielfältigen Möglichkeiten, mit seiner Hilfe die eigene Stellung in der Gesellschaft zu thematisieren, deckt sich nicht, überschneidet sich aber mit der hier vertretenen von der Bedeutung der autobiographischen Komponente. Vgl. Scaliger Poet. 6.4; Antonio Sebastio Minturno, De Poeta, Venedig 1559, 163; Rene´ Rapin, in: Congleton 1947, 19 (das lateinische Original, De carmine pastorali, Paris 1659, war leider nicht zugänglich). Zur Renaissancetheorie der Bukolik im allgemeinen vgl. Nichols 1971.
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seiner Texte, zu der wir als Literaturwissenschaftler erzogen worden sind, der Antike fremd war; andererseits, dass man zum besseren Verständnis der antiken (und frühneuzeitlichen) Bukolik sinnvollerweise die Kommentiertradition dieses Genus mit in den Blick nimmt. Das erste ist bei näherer Betrachtung nicht gerade überraschend, das zweite nicht in allem ganz neu. 69 Was vielleicht neu ist, ist der Versuch, beides zusammenzusehen und zueinander in Beziehung zu setzen. Das Ergebnis dieses Versuchs besteht in der Erkenntnis, das wir die bukolische Gattungsgeschichte nicht ganz begreifen können, ohne die biographistische Rezeptionshaltung der antiken Leser zu berücksichtigen: Obwohl diese aus heutiger Perspektive als verfehlt erscheint, erweisen sie und das Wechselspiel von poetischem und interpretativem Biographismus, zu dem sie führt, sich als Momente, denen im Prozess der Gattungsgenese und -entwicklung eine konstitutive Rolle zukommt. Die historische Person des Autors bleibt uns dabei im wesentlichen so ungreifbar wie zuvor. Aber der antike Glaube an ihre Präsenz im Text entpuppt sich als Teil des literarischen Spiels und als ein Faktor, der innerhalb der resultierenden Textwelt zu überraschenden Effekten führt. Ihn in Rechnung zu stellen, kann uns deshalb Phänomene sichtbar und verständlich machen, die wir andernfalls nicht beachten oder begreifen würden. Gelten diese Ergebnisse nur für den hier behandelten Einzelfall oder besitzen sie auch Implikationen, die über diesen hinausführen? Meines Erachtens ist letzteres der Fall. Ich möchte deshalb abschließend zwei Perspektiven skizzieren, die sich ausgehend von den vorliegenden Überlegungen eröffnen: Erstens setzen antike Autoren auch in anderen Texten und Gattungen wahre oder fingierte Informationen über ihre eigene Person auf eine Weise ein, welche das Interesse des Publikums an dieser zu reizen und/oder zu befriedigen scheint. Es seien nur zwei Beispiele genannt: Die Art, in der Catull und die augusteischen Elegiker unter Nennung ihrer echten Namen ihr ‹Privatleben› zur Schau stellen, ohne indes die Identität ihrer realen oder erfundenen Geliebten preiszugeben, provoziert unter den Zeitgenossen so heftige Spekulationen, dass Ovid schließlich geradezu schadenfroh konstatieren kann: et multi, quae sit nostra Corinna, rogant (Ars 2.258). 70 Die kaiserzeitlichen Sophisten stellen sich in ihren laliai¬, bevor sie für ihre Deklamationen in die Maske einer eingestandenermaßen fingierten Identität schlüpfen, ihrem Publikum vor und bringen dabei nicht nur ihre Fähigkeiten als professionelle Redner, sondern auch außerliterarische Aspekte ihres Lebens zur Sprache; 71 auch diese Praxis lässt sich nur vor dem Hintergrund der biographistischen Neugier der Hörer verstehen. In diesen und ähnlichen Fällen könnte es reizvoll sein, das Zusammen-
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S. die oben Anm. 38 und 52 zitierte Literatur. Dass antike Kommentatoren das zeitgenössische Verständnis eines Genus ausdrücken, ja sogar mitprägen können und dass sich aus ihnen deshalb Erkenntnisse über diesem Genus zugehörige Texte gewinnen lassen, ist eine auch sonst bekannte und angewandte Einsicht. Eines der überzeugendsten Beispiele dürfte Vergils Verhältnis zur Homerexegese darstellen: Eine Reihe von Arbeiten hat mittlerweile gezeigt, dass Vergil sich in der Aeneis nicht nur auf Homer selbst, sondern auch auf dessen Kommentatoren und Interpreten bezieht und dass deren Berücksichtigung unserem Vergilverständnis eine neue Dimension hinzufügt. S. etwa Hardie 1986 und zuletzt SchmitNeuerburg 1999, v. a. 1-18, wo auch (insbesondere 10 Anm. 35, 13 Anm. 46 und 47, 15) weitere Literatur zitiert wird. Vgl. auch den Fall der Römerin, die sich brüstet, die wahre Corinna zu sein, was Ovid aber bestreitet (Am. 2.17.29 f.), und die vorgebliche Lüftung des Inkognitos der Geliebten Catulls und der Elegiker bei Apul. Apol. 10 (interessante Bemerkungen hierzu bei D. F. Kennedy 1993, 87-90). Einen knappen Überblick über das Genus bietet Mras 1949/1950.
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spiel von Publikumsinteresse und Selbstdarstellung der betreffenden Autoren auf analoge Art zu untersuchen, wie das hier für die Bukolik geschehen ist. Zweitens lässt sich den obigen Ausführungen, die anhand einer spezifischen Problematik, der des Biographismus, antikes und modernes Literaturverständnis 72 einander kontrastierend gegenübergestellt haben, vielleicht auch etwas zur Beziehung zwischen diesen beiden Sichtweisen im allgemeinen entnehmen - genauer gesagt zu der offenen Frage, wie sich die Klassische Philologie bei ihrem Umgang mit antiker Literatur in ihrem Spannungsfeld positionieren soll. In der fachinternen Methodenreflexion werden die Divergenzen zwischen ihnen als so gravierend empfunden, dass man das Problem bisher meist in Form einer Alternative zwischen Alt und Neu formuliert hat: Der Philologe steht vor der Wahl, entweder die Anwendung moderner Literaturtheorien auf antike Texte abzulehnen und sich, zumindest wenn er die Folgen dieser Haltung konsequent durchdenkt, auf das theoretische Instrumentarium der Antike selbst zu beschränken - oder aber moderne Literaturtheorien anstelle antiker zur Analyse klassischer Literatur einzusetzen. Beide Möglichkeiten weisen jedoch gravierende Nachteile auf: Im einen Fall nimmt man alle Defizite und Lükken der antiken Literaturreflexion in Kauf und beraubt das Fach letztlich jeder Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln, im anderen muss man sich den Vorwurf des Anachronismus und der interpretatorischen Beliebigkeit gefallen lassen. 73 Ist die skizzierte Alternative aber tatsächlich der Weisheit letzter Schluss? Muss sich der Forscher hier wirklich für eine Seite und gegen die andere entscheiden? Zwar sind die gravierenden Widersprüche zwischen antikem und modernem Literaturverständnis ein Faktum, doch ist das bei genauerem Nachdenken auch gar nicht anders zu erwarten: Diese Inkompatibilität ist einfach ein Aspekt der Unterschiede, die grundsätzlich zwischen der Innen- und der Außenperspektive auf eine Kultur bzw. ihre diversen Teilsysteme (und Literatur ist ein solches) bestehen. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat gezeigt, dass derartige Differenzen prinzipieller Natur und letztlich unüberbrückbar sind. Er hat aber auch - und das ist hier von entscheidender Bedeutung - demonstriert, dass sich eine fremde Gesellschaft weder durch eine Übernahme ihrer Selbst- noch durch ein Aufoktroyieren unserer Fremdwahrnehmung, sondern nur durch ein Überblenden dieser beiden Perspektiven und durch eine Analyse der dabei zutage tretenden Widersprüche wirklich begreifen lässt. 74 Dementsprechend bietet sich auch in unserem Fall anstelle eines Entweder - Oder ein Sowohl - Als Auch an: antike Literatur durchaus mit modernem begrifflichem und konzeptionellem Instrumentarium zu analysieren, gleichzeitig aber jeweils auch 72
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Es existiert kein Plural zu «Verständnis». Der hier verwendete Singular impliziert nicht die Annahme, antikes und modernes Literaturverständnis stünden sich als monolithische Blöcke gegenüber, sondern setzt nur voraus, dass in der antiken Diskussion zu einer Reihe grundsätzlicher Fragen andere Positionen dominieren als in der modernen. S. Feeney 1995 (der selbst eine moderat modernistische Haltung einnimmt); vgl. auch Selden 1990 für einen Überblick über die Geschichte des schwierigen Verhältnisses zwischen Klassischer Philologie und moderner Literaturtheorie (allerdings ohne Einbeziehung antiker Literaturtheorien). Das Risiko des Anachronismus sehen die ‹Modernisten› oft selbst, ohne es aber in der Regel konzeptionell in den Griff zu bekommen; vgl. etwa Winkler 1985, vii zu seiner Entscheidung, auf die Metamorphosen des Apuleius die Erzähltheorie Ge´rard Genettes anzuwenden: «The risk of anachronism seems to me worth taking for the reward ...». Eine interessante Ausnahme ist G. A. Kennedy 1989, der das Problem zu mildern versucht, indem er eine Reihe von (wenn auch nicht immer besonders spezifischen) Parallelen zwischen antiken und modernen literaturwissenschaftlichen und -theoretischen Ansätzen hervorhebt. Bourdieu 1980 (1997).
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die entsprechenden Ansichten der Antike selbst im Auge zu behalten und ernst zu nehmen. 75 Wenn der vorliegende Aufsatz an einem Beispiel plausibel machen konnte, dass eine solche Zusammenschau unterschiedlicher Perspektiven und ein Sich-Einlassen auf die zwischen ihnen bestehenden Diskrepanzen hermeneutisch fruchtbar sein kann, hat er sein Ziel erreicht.
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Eine verwandte Idee formuliert Kerkhecker 2001, 43: «... könnte dann nicht das literaturgeschichtliche Selbstverständnis römischer Autoren (wie auch die Literaturgeschichtsschreibung der Antike) unserer eigenen literaturwissenschaftlichen Arbeit als Richtpunkt und Korrektiv dienen?»
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Giampiero Scafoglio
Il confronto di Enea col passato Palinuro, Didone, Deifobo nell’Ade virgiliano Il libro VI, che racconta il viaggio di Enea negli inferi e culmina nel discorso di Anchise, costituisce il ‹centro› ideologico del poema virgiliano 1. Esso pone non pochi problemi, attinenti al disegno dell’Ade e al suo sostrato filosofico e religioso, nonche´ ad aspetti particolari, come il ‹ramo d’oro› o il ritorno dell’eroe al mondo superno per la porta d’avorio, riservata ai «falsi sogni» 2. Vi sono pero` tre episodi, studiati ad oggi in modo meno approfondito (gli incontri di Enea con Palinuro, Didone, Deifobo), che meritano a mio avviso un esame attento, teso a evincere il significato da essi rivestito nel contesto del libro e nel piano complessivo del poema. Occorre considerare preliminarmente la àata¬basiw nella sua architettura, nella sua trama composita, non priva di contraddizioni e incongruenze. Essa e` preparata da un’ampia introduzione, dedicata alle pratiche catartiche e propiziatorie (vv. 1-263); ed e` divisa in una parte mitologica, modellata in larga misura sulla ne¬àyia omerica (Od. XI), e una parte filosofica o teologica, che comprende la teoria orfico-pitagorica della metempsicosi e la prolessi di storia romana. La bipartizione strutturale rispecchia una concezione dualistica dell’Ade, risalente (non meccanicamente, ma intenzionalmente, in base a una strategia ideologica ed estetica) alla divergenza delle fonti: una raffinata teosofia e` in parte giustapposta, in parte contaminata, con la mitologia tradizionale; a quest’ultima appartiene la descrizione del luogo e dei suoi mostri, la rievocazione dei personaggi morti, tra i quali
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Per il testo virgiliano, ho seguito R. A. B. Mynors, P. Vergili Maronis Opera, Oxford 19722; per l’apparato critico, ho consultato anche l’edizione curata da L. Geymonat, Torino 1973. Ho tratto qualche spunto interessante dai commenti al poema di J. Conington - H. Nettleship, vol. II, London 18844, e di E. Paratore, vol. III, Milano 1979, e da quelli al libro VI di E. Norden, Leipzig und Berlin 19162, e di R. G. Austin, Oxford 1977. Sul libro VI in generale: R. A. Brooks, Discolor aura. Reflections on the Golden Bough, «AJPh» 74, 1953, 260-280; C. P. Segal, Aeternum per saecula nomen. The Golden Bough and the Tragedy of History, «Arion» 4, 1965, 617-657; Ibid. 5, 1966, 34-72; W. A. Camps, An Introduction to Virgil’s Aeneid, Oxford 1969, 84-94; A. Setaioli, Alcuni aspetti del VI libro dell’Eneide, Bologna 1970 (con ampia bibliografia); F. Solmsen, The World of the Dead in Book 6 of the Aeneid, «CPh» 67, 1972, 31-41; D. C. Feeney, History and Revelation in Vergil’s Underworld, «PCPhS» 212, 1986, 1-24; M. C. J. Putnam, Virgil’s Inferno, «MD» 20, 1988, 165202; J. E. G. Zetzel, Romane memento: Justice and Judgment in Aeneid 6, «TAPhA» 119, 1989, 263-284; R. D. Williams, The Sixth Book of the Aeneid, in: Oxford Readings in Virgil’s Aeneid, ed. S. J. Harrison, Oxford 1990, 191-207. Si veda: R. J. Tarrant, Aeneas and the Gates of Sleep, «CPh» 77, 1982, 51-55; R. J. Edgeworth, The Ivory Gate and the Threshold of Apollo, «C&M» 37, 1986, 145-160; D. A. West, The Bough and the Gate, in: Oxford Readings cit. (nota 2) 224-238; G. T. Cockburn, Aeneas and the Gates of Sleep: an Etymological Approach, «Phoenix» 46, 1992, 362-364; A. Jönsson & B.-A. Roos, A Note on Aeneid 6.893-8, «Eranos» 94, 1996, 21-28; W. J. Dominik, Reading Virgil’s Aeneid: the Gates of Sleep (VI 893-898), «Maia» 48, 1996, 129138.
Il confronto di Enea col passato
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spiccano Palinuro, Didone e Deifobo (vv. 264-547); nella sezione filosofica rientra l’incontro tra Enea e Anchise nei Campi Elisi (vv. 628-892). La rassegna dei ‹dannati› relegati nel Tartaro (vv. 548-627), per la valenza morale, per la finalita` edificante e per la derivazione da fonti filosofiche (il Gorgia, il Fedone, la Repubblica di Platone; forse una àata¬basiw orfica), si distacca dalla parte mitologica e si avvicina a quella teologica: dunque funge da cerniera tra l’una e l’altra 3. In realta` la descrizione dell’Ade, ad onta delle differenze tra queste due sezioni e tra le singole scene, gode di una superiore unita`: un’unita` non statica, non omogenea, ma dinamica, dialettica, basata sulla compenetrazione delle due componenti (mitologia e teosofia) e sulla prevalenza alterna dell’una o dell’altra. Gli episodi di Palinuro, Didone e Deifobo sono collocati nella parte mitologica, della quale costituiscono i punti salienti. La loro successione (il primo, nell’inhumata turba; la seconda, nei Lugentes Campi; il terzo, tra i bello clari ) ricalca una sequenza presente nella ne¬àyia omerica (Elpenore, tra i morti insepolti; il catalogo delle eroine; il catalogo dei guerrieri); ma si distacca da questa fonte per la preminenza delle figure individuali, per l’elaborazione semantica e funzionale, per le altre influenze letterarie. Palinuro, come Elpenore, e` morto nel fiore degli anni ed e` rimasto insepolto; percio` e` escluso dall’Ade profondo; ma la sua esperienza di vita e di morte e` diversa, assai piu` complessa e misteriosa, come si evince dalla doppia narrazione, sincronica (nel finale del libro V) e retrospettiva (VI, 347-362). Inoltre, nella concezione virgiliana (pregna di sapienza filosofica, anche in questa parte mitologica), l’esclusione di alcune anime dalle profondita` infernali e` una condizione temporanea, non eterna: una sorta di attesa espiatoria 4. L’episodio di Didone, nutrito di forte pathos, prende il posto del generico e scialbo catalogo omerico; e si rifa` piuttosto, per lo svolgimento e per il carattere del personaggio, a un altro passo del medesimo libro XI: l’incontro di Odisseo con Aiace (vv. 541-562) 5. Lungi dall’essere un quadro isolato, come quelli costituenti il catalogo omerico e come il catalogo stesso nel suo insieme, ritenuto a buon diritto interpolato, l’episodio virgiliano si collega a mo’ di epilogo al libro IV e si integra coerentemente nel macrocontesto del poema. Anche la cornice e` diversa: alle donne famose, «quante furono spose o figlie di grandi uomini», sono sostituite le infelici creature, quos durus amor crudeli tabe peredit 6. Per quanto riguarda Deifobo, egli ha molto in comune con l’Agamennone del catalogo omerico dei guerrieri (la morte inflitta dalla sua donna, a tradimento; i toni crudi e cupi, sconfinanti nell’orrido; etc.); dal quale
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Sull’architettura dell’Ade, in relazione alle fonti, cf. l’ampia introduzione al commento del Norden (citato all’inizio di questo articolo), 3-48. Sul rapporto tra Virgilio e il ‹papiro bolognese› di carattere orfico: M. Treu, Die neue ‹orphische› Unterweltbeschreibung, «Hermes» 82, 1954, 24-51; A. Setaioli, op. cit. (nota 1), 83-124; Idem, Nuove osservazioni sulla descrizione dell’oltretomba nel papiro di Bologna, «SIFC» 42, 1970, 179224. Questo spiega la Sibilla: nec ripas datur horrendas et rauca fluenta / transportare prius, quam sedibus ossa quierunt. / centum errant annos uolitantque haec litora circum; / tum demum admissi stagna exoptata reuisunt (VI, 327-330). A riguardo: E. Lefe`vre, Dido und Aias. Ein Beitrag zur römischen Tragödie, Wiesbaden 1979, 5-8; G. N. Knauer, Die Aeneis und Homer. Studien zur poetischen Technik Vergils mit Listen der Homerzitate in der Aeneis, Göttingen 19792, 108-112; R. Lamacchia, Didone e Aiace. In margine a una pagina di esegesi virgiliana antica, in: Studi di poesia latina in onore di Antonio Traglia, vol. I, Roma 1979, 431-442. Sulle umbrae relagate nei Lugentes Campi, insieme con Didone: J. Perret, Les compagnes de Didon aux enfers, «REL» 42, 1964, 247-261; E. Kraggerund, Caeneus und der Heroinenkatalog, «SO» 40, 1965, 66-71; G. S. West, Caeneus and Dido, «TAPhA» 110, 1980, 315-324.
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prende pero` le distanze sul piano psicologico (per il piu` profondo e sofferto sentimento) e sul piano stilistico, sotto l’influsso del dramma romano arcaico 7. Tuttavia la cifra dell’innovazione virgiliana traspare specialmente dalla visione d’insieme: questi tre episodi si inscrivono in una narrazione ‹motivata›, incardinata su un’intelaiatura ideologica, dotata di una coerenza interna e subordinata a una finalita`. Palinuro, Didone e Deifobo appartengono al passato di Enea, ciascuno a un segmento particolare (rispettivamente il lungo esilio sul Mediterraneo, il soggiorno cartaginese, il periodo troiano): man mano che li incontra e dialoga con loro (nel caso di Didone, cerca invano di parlarle), l’eroe ripercorre le tappe della propria vita vissuta; procede pero` a ritroso, dalle vicende recenti a quelle remote. Del resto, questi personaggi non servono soltanto a rievocare gli eventi, in chiave memoriale, emotiva; essi assurgono al livello paradigmatico: ciascuno rappresenta un tempo passato, un mondo condiviso e perduto da Enea 8. Palinuro richiama il viaggio sul Mediterraneo, dove ha trovato la morte, per assicurare la salvezza della flotta troiana; il suo sacrificio gli conferisce un valore emblematico: unum pro multis dabitur caput, dice Nettuno (V, 815). Didone si identifica con la citta` di Cartagine, della quale e` stata la fondatrice e la regina; questo legame carismatico, di prestigio, e insieme intimo, quasi di sangue, appare chiaro piu` che mai alla sua morte, nella reazione sgomenta della popolazione e nella similitudine raffigurante la distruzione della citta` (IV, 665-671): ... it clamor ad alta atria: concussam bacchatur Fama per urbem. lamentis gemituque et femineo ululatu tecta fremunt, resonat magnis plangoribus aether, non aliter quam si immissis ruat hostibus omnis Karthago aut antiqua Tyros flammaeque furentes culmina perque hominum uoluantur perque deorum 9.
Per Enea, Didone rappresenta: la dolce ospitalita` goduta in quella terra; la prova forse piu` ardua da superare, prima di arrivare in Italia (come attesta lo stesso Anchise, VI, 694); il doloroso rimorso per aver causato il suo suicidio. Da ultimo, Deifobo incarna la citta` di Troia, nella cui rovina e` stato trascinato anch’egli. Il suo aspetto devastato (come il corpo di Priamo decapitato, II, 557-558) 10 testimonia lo scempio perpetrato dagli Achei; ed e` lo specchio di un mondo distrutto, mandato in frantumi. Perche´ questo confronto di Enea col passato? qual e` il suo significato, nel libro e nel poema? Secondo Brooks Otis, che svolge uno spunto offerto da Alexander Mac Kay, l’incontro dell’eroe con Palinuro, Didone e Deifobo, e in generale il suo viaggio nel regno 7
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L’episodio virgiliano e` legato sicuramente all’Alexander di Ennio, probabilmente anche al Deiphobus di Accio: cf. S. Stabryla, Latin Tragedy in Virgil’s Poetry, Wroclaw-Warszawa-Krako´w 1970, 75-78, 94-96; M. Wigodsky, Vergil and Early Latin Poetry, Wiesbaden 1972, 76-77, 83. E` una tesi avanzata da B. Otis, Virgil. A Study in Civilized Poetry, Oxford 1963, 289-297. Cf. M. Putnam, The Poetry of the Aeneid, Cambridge Mass. 1965, 130; F. Klingner, Virgil. Bucolica, Georgica, Aeneis, Zürich ´ ne´ide, Paris 1981, 245. und Stuttgart 1967, 487; J. Thomas, Structure de l’imaginaire dans l’E La similitudine e` una spia della relazione ‹simbiotica› tra Didone e la citta` di Cartagine. Cf. V. A. Estevez, Queen and City. Three Similes in Aeneid IV, «Vergilius» 20, 1974, 25-28. Il valore simbolico del tronco decapitato del re, in rapporto col crollo dell’impero troiano, e` sviscerato da C. Zintzen, Die Laokoonepisode bei Vergil, Wiesbaden 1979, 65-66, secondo il quale «wie Priamos der Hauptes beraubt ist, so hat Troia den König verloren: der Herrscher ist tot, die Stadt vernichtet; beide sind ein sine nomine corpus».
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dei morti, si configura come un’esperienza psicologica in funzione catartica ed evolutiva: la vita vissuta riemerge alla memoria, per essere elaborata e superata; in tal modo, Enea si libera dal peso del passato e si prepara ad affrontare il futuro 11. Una lettura affascinante, ma anacronistica e attualizzante, concepita sotto l’influenza della psicoanalisi, dalla quale proviene l’idea di elaborazione della materia memoriale, non facilmente applicabile alla poesia antica. A mio avviso, il problema va inquadrato nel contesto del libro VI, nel suo disegno d’insieme. Nel finale Anchise dischiude a Enea il futuro, evidentemente fissato dal destino, ma ancora tutto da costruire, attraverso un percorso secolare disseminato di sacrifici e spargimenti di sangue. Il futuro poggia sul passato: esso non puo` essere realizzato, se non gradualmente, muovendo da cio` che e` stato. La memoria non deve essere esorcizzata mediante un’esperienza catartica: essa e` una parte della vita, una dimensione necessaria dell’esistenza; e` la base, sulla quale edificare la storia, innalzare cioe` una grandiosa costruzione, destinata a comprendere e ordinare la terra ecumenica, sotto l’egida di Roma. Questo e` il senso del discorso di Anchise (VI, 724-901), in rapporto con gli episodi di Palinuro, Didone e Deifobo. Nel contesto del libro, il corso del mondo appare come un continuum, fondato sul passato e proteso verso il futuro 12. Gli episodi retrospettivi pero` non corrispondono ai fatti, quali sono stati narrati nei libri precedenti. Vi e` un’opposizione, una frattura, tra l’esposizione sincronica e la rievocazione a posteriori, delineata nella àata¬basiw . Il caso di Palinuro e` palese. Nel finale del libro V, il giovane timoniere e` rivendicato in olocausto da Nettuno (v. 815); il Sonno, dopo avere tentato invano di sedurlo sotto l’aspetto dell’amico Forbante, lo fa addormentare con un incantesimo e lo trascina in mare (vv. 835-861). Nel libro VI, Enea incontra il compagno tra i morti insepolti; gli parla, richiamando un responso di Apollo, secondo il quale egli sarebbe giunto incolume sul suolo italico, come di fatto non e` accaduto (vv. 337-346). Ma Palinuro smentisce, o meglio, corregge il racconto sincronico del libro V e stempera lo scetticismo di Enea, confermando il responso del dio. Dunque rievoca le circostanze della propria morte (vv. 347-362): caduto in mare, e` rimasto per tre giorni e tre notti in balia delle onde, finche´ e` giunto sulla riva italica e, scambiato per una preda, e` stato arpionato dagli aborigeni. Questi eventi, esplicitati soltanto adesso, sarebbero successivi a quelli narrati nel libro V; tra le due versioni si osservano pero` una serie di aporie (sviscerate con attenzione minuziosa dalla critica), che le fanno sembrare disarmoniche, se non inconciliabili 13. E` stata chiamata in causa la mancanza di revisione dell’opera (la soluzione indistintamente adottata per tutte le incongruenze, vere o presunte): addirittura e` stata indovinata l’intenzione virgiliana di modificare o di espellere qualcosa 14. D’altro canto, non e` mancato il tentativo opposto di confutare i contrasti e ricomporre i due brani in uno 11
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Cosı` L. A. MacKay, Three Levels of Meaning in Aeneid VI, «TAPhA» 86, 1955, 180-189, e B. Otis, op. cit. (nota 8), 289-297. A questa interpretazione aderisce anche J. Thomas, op. cit. (nota 8), 195, 273. L’Ade e` rappresentato da Virgilio come uno specchio del mondo, nel suo sviluppo diacronico, che muove dal passato e tende al futuro: l’individuo (nel caso specifico, Enea), con le proprie esperienze personali, e` riassorbito nel flusso del tempo ed e` asservito cosı` al disegno del destino, che conduce al bene attraverso il dolore. Le contraddizioni sono scandagliate da P. Jacob, L’e´pisode de Palinure, in «LEC» 27, 1952, 163-167. Cf. G. Thaniel, Ecce ... Palinurus, «AClass» 15, 1972, 149-152; T. Berres, Die Entstehung der Aeneis, Wiesbaden 1982, 250-281. Secondo B. Otis, op. cit. (nota 8), 292, 417-418, «this is a discrepancy that Virgil would certainly have ironed out in revision». Cosı` pure T. Berres, op. cit. (nota 13), 281.
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schema di sviluppo diacronico, con un iperrazionalismo normalizzante e riduttivo, che appiattisce il testo poetico su un resoconto monolitico e unilaterale 15. Al di la` delle singole contraddizioni, esistenti o inventate dall’acribia della critica, spicca una complessiva divergenza tra la prima e la seconda versione, che non si lasciano disporre facilmente in una sequenza unitaria: l’una, completa in se stessa, non richiede la conclusione profilata dall’altra, che a sua volta si svolge in una direzione imprevista e autonoma. Il racconto di Palinuro a Enea nell’Ade e` una retractatio, una ripresa variata ad arte, non una prosecuzione coerente, della piu` semplice e lineare versione del libro V 16. L’episodio di Didone nell’Ade funge da epilogo agli eventi narrati nel libro IV, rispetto a cui traccia uno sviluppo coerente dal punto di vista psicologico, ma opposto e speculare sul piano strutturale. A Cartagine, quando la regina apprende l’imminente partenza di Enea, gli rivolge un discorso aggressivo e insieme vittimistico, contesto di accuse e preghiere; poco dopo esplode in una violenta invettiva, culminante con una maledizione (IV, 305330; 365-387). Enea resta inflessibile: non si lascia coinvolgere nella passione; le risponde brevemente, in tono freddo e deciso (tandem pauca refert, v.333; pro re pauca loquar, dice lui stesso al v.337, usando uno stilema appartenente all’oratoria giudiziaria); non si commuove neppure alle lacrime dell’amante (vv. 437-440). Per l’atteggiamento irremovibile, l’eroe e` paragonato a una quercia solidamente piantata nella terra, invano scossa dai venti (vv. 441449): ac uelut annoso ualidam cum robore quercum Alpini Boreae nunc hinc nunc flatibus illinc eruere inter se certant; it stridor, et altae consternunt terram concusso stipite frondes; ipsa haeret scopulis et quantum uertice ad auras aetherias, tantum radice in Tartara tendit: haud secus adsiduis hinc atque hinc uocibus heros tunditur et magno persentit pectore curas; mens immota manet, lacrimae uoluuntur inanes 17.
Nell’Ade, la situazione e` capovolta: e` Enea che desidera parlare, che cerca di indurre Didone alla comprensione e alla compassione; e` lui che piange (demisit lacrimas, VI, 455; lacrimas ... ciebat, v. 468; prosequitur lacrimis longe, v. 476). La donna e` ostile e impietosa (vv. 467-468); ed e` paragonata a una selce o a una roccia marpesia (vv. 469-471): un’altra 15
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Penso a T. E. Kinsey, The Death of Palinurus, «PP» 224, 1985, 379-380, il quale passa in rassegna e tenta di smentire le aporie. Ma un approccio ‹armonizzante› e` proposto gia` da V. Buchheit, Von der Entstehung der Aeneis, «Nachrichten der Giessener Hochschulgesellschaft» 33, 1964, 131-143. Sul doppio episodio di Palinuro, visto come «another example of the complex and multilayered approach to literature and the interpretation of life», cf. F. E. Brenk, Vnum pro multis caput: Myth, History, and Symbolic Imagery in Vergil’s Palinurus Incident, «Latomus» 43, 1984, 776-801. I critici non sono concordi, se l’espressione lacrimae uoluuntur inanes si riferisca a Enea (cosı` Gross, Heinze, Rand, Paratore; ma gia` Agostino, De ciu. Dei, IX, 4; Servio, Ad Aen. IV, 444) oppure a Didone e Anna (Forbiger, Conington, Page; cf. il Danielino, Ad Aen. IV, 449). Quest’ultima interpretazione mi sembra coerente con la scena e con la temperie generale della vicenda: se fosse Enea a piangere, si cadrebbe in contrasto con lo stato d’animo a lui attribuito (reso bene dal paragone con l’albero secolare) e perfino con l’emistichio precedente (mens immota manet ). Il verso quindi esprime un’antitesi, imperniata sulla cesura pentemimera: da un lato, l’atteggiamento irremovibile dell’eroe; dall’altro, il pianto vano di Didone e / o di Anna. Tuttavia la frase virgiliana e` volutamente ambigua e non si lascia spiegare univocamente, come sostiene a ragione R. G. Austin, P. Vergili Maronis Aeneidos liber quartus, Oxford 1955, 135.
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similitudine tratta dalla sfera naturale, a rendere una reazione negativa, questa volta riferita a lei: illa solo fixos oculos auersa tenebat nec magis incepto uultum sermone mouetur quam si dura silex aut stet Marpesia cautes.
L’inversione dei ruoli e` sotto gli occhi di tutti; ne e` spia altresı` la coincidenza verbale tra la domanda mene fugis?, rivolta da Didone a Enea (IV, 314), e quella posta da lui alla donna, quem fugis? (VI, 466; nella medesima sede, all’inizio del verso). A parte l’analogia formale, le due domande hanno una significativa connotazione psicologica e metaforica: la comunicazione e` univoca e irrisolta, inconcludente e sostanzialmente fittizia. Questa situazione capovolta, ad onta della verosimiglianza psicologica, che la rende plausibile e ne stempera l’impressione, e` una forma di retractatio 18. Dopo Didone, Deifobo. Di lui non si parla altrove nel poema; e` nominato in un unico punto, nel libro II: segnatamente quando Enea, destato dal sogno di Ettore, sale sul tetto della casa e vede crollare la sua dimora, lambita dalle fiamme: iam Deiphobi dedit ampla ruinam / Volcano superante domus (vv.310-311); poi non e` piu` ricordato ne´ nel corso dei combattimenti ne´ tra i caduti. Enea lo incontra nell’Ade, negli ultima arua riservati ai bello clari (VI, 494-547). Deifobo, orrendamente mutilato, tremante e prostrato nello stato d’animo, e` riconosciuto a stento dall’amico. Questi gli riferisce i fatti appresi sul suo conto (vv. 502-504): ... mihi fama suprema nocte tulit fessum uasta te caede Pelasgum procubuisse super confusae stragis aceruum.
Enea ha udito dalla fama che Deifobo, nella notte della presa di Troia, ha opposto una disperata resistenza finche´, stremato, e` caduto «su un cumulo di confusa strage». Egli pero` smentisce e racconta la verita`: gli e` toccata una morte triste e ingloriosa, tramata dalla sua concubina Elena come pegno di riconciliazione con l’antico marito (vv. 511-530). Questa e` una prima forma di retractatio, che si esplica tra due opposte versioni (la ‹bella morte› divulgata dalla fama; l’uccisione infamante preparata da una donna), che si avvicendano nella narrazione. Ma l’episodio di Deifobo, non diversamente da quelli di Palinuro e Didone, si richiama a un altro libro del poema, al quale si oppone in qualche modo. Il racconto del figlio di Priamo tratta lo stesso tema del libro II: il crollo del regno troiano, rievocato da un io-narrante, che lo ha vissuto e sofferto in prima persona 19. In entrambi i casi, il processo retrospettivo e` tanto necessario quanto doloroso: quamquam animus memi18
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Il recupero degli eventi passati in ordine inverso nell’episodio di Didone nel libro VI e` discusso, col consueto acume, da M. von Albrecht, Die Kunst der Spiegelung in Vergils Aeneis, «Hermes» 93, 1965, 5464; ma cf. pure M. B. Skinner, The Last Encounter of Dido and Aeneas. Aen. 6.450-476, «Vergilius» 29, 1983, 12-18. Un’analisi puntuale della scena e` condotta da J. Tatum, Allusion and Interpretation in Aeneid 6.440-476, «AJPh» 105, 1984, 434-452. Cf. Le parole di Enea: Infandum, regina, iubes renouare dolorem, / Troianas ut opes et lamentabile regnum / eruerint Danai, quaeque ipse miserrima uidi / et quorum pars magna fui (II, 3-6). Egli e` stato direttamente coinvolto nel disastro storico, non ne e` stato soltanto spettatore: ha patito, almeno sul piano psicologico, il medesimo supplizio inflitto ai suoi concittadini, rappresentato in modo estremo, eppure emblematico, dal corpo martoriato di Deifobo.
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nisse horret, dice Enea (II, 12); nimium meminisse necessest, gli fa eco Deifobo (VI, 514). L’ethos dei concittadini, felici e incoscienti, e` descritto dal figlio di Priamo (VI, 513-514) in modo analogo al racconto di Enea, che li vede gioire ingenuamente (II, 26 e passim), perfino mentre trasportano il simulacro equino (vv. 238-239). Deifobo riprende lo snodo cruciale del libro II, in cui il cavallo di legno, trasfigurato metaforicamente come animato e gravido, spicca un balzo nella cinta muraria della citta` (VI, 237-238 ~ II, 515-516) 20. Nel proprio racconto, egli pero` introduce un elemento nuovo: il ruolo svolto da Elena, che simula una danza bacchica e agita una fiaccola, per mandare segnali luminosi alla flotta achea (VI, 517-519): illa chorum simulans euhantis orgia circum ducebat Phrygias; flammam media ipsa tenebat ingentem et summa Danaos ex arce uocabat.
Nel racconto di Enea nel libro II, la collaborazione di Elena non e` neppure accennata: e` una nave della flotta achea a inviare segnali luminosi, per spronare Sinone ad aprire il ventre del cavallo (vv. 254-259): et iam Argiua phalanx instructis nauibus ibat a Tenedo tacitae per amica silentia lunae litora nota petens, flammas cum regia puppis extulerat, fatisque deum defensus iniquis inclusos utero Danaos et pinea furtim laxat claustra Sinon. ...
Virgilio attinge dal mito il dato dei segnali luminosi: lo elabora gia` in modo originale nel libro II, per poi riusarlo, nuovamente variato, nel VI, come in un gioco di specchi deformanti, che non restituiscono mai la stessa immagine 21. Inoltre l’azione di Elena, come e` svelata da Deifobo nell’Ade, si puo` considerare una retractatio della famosa, discussa scena tramandata da Servio e inserita nel libro II (vv. 567-588), sempre che si creda alla paternita` virgiliana (abbastanza probabile, ma non sicura) 22. In generale, il cambiamento dell’ionarrante, quindi del punto di vista, che coglie aspetti diversi dei medesimi avvenimenti, puo` essere considerato un vero e proprio capovolgimento: da narratore, quale e` nel libro II, Enea diventa ascoltatore nel VI; qui il racconto e` svolto da Deifobo, il cui destino (misero e oscuro; privo di futuro; definitivamente concluso) e` diametralmente opposto al 20
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Sul topos del cavallo di legno animato e gravido, comune al libro II e al VI, derivante dal dramma greco e romano, si possono leggere i miei contributi: La tragedia di Eschilo nel libro II dell’Eneide, «AC» 70, 2001, 69-86; La tragedia di Euripide e la mediazione romana arcaica nel libro II dell’Eneide, «Vichiana» 3, 2001, fasc. 2, 187-212. Nell’Iliupersis di Arctino di Mileto, era Sinone a inviare segnali luminosi alla flotta achea, per richiamarla a Troia: cf. T. W. Allen, Homeri opera V, Oxford 1912, 107. La tradizione mitografica anteriore e posteriore a Virgilio e` esaminata accuratamente da C. Zintzen, Die Laokoonepisode bei Vergil, Wiesbaden 1979, 1548. L’autenticita` della scena ‹serviana› dunque non e` inficiata dall’incoerenza (non pregiudicante, ma neppure facilmente eludibile) col racconto di Deifobo nel libro VI; questa contraddizione, invocata da alcuni critici come prova cogente per confutare Servio, spiegata da altri come una conseguenza dell’incompiutezza dell’Eneide, forse deve essere interpretata, a conferma della paternita` virgiliana, come una scelta consapevole, una performance ‹motivata›, che si inquadra in una strategia applicata in una sequenza narrativa piu` ampia, comprendente gli incontri con Palinuro, Didone, Deifobo: cf. G. Scafoglio, La scena di Elena tramandata da Servio: discussione filologica, «Vichiana» 2, 2000, fasc. 2, 181-200.
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suo (glorioso, ancorche´ non felice; aperto; proteso verso l’avvenire) 23. Come e` evidente, l’episodio di Deifobo e` parallelo a quelli di Palinuro e Didone, per il rapporto dialettico (consistente nel cambiamento, nel capovolgimento) intrattenuto col passato. Nell’Ade, le esperienze precedenti ritornano, ma non sono piu` le stesse: sia che la morte sveli la verita`, mistificata o rimasta nascosta nella vita; sia che la àata¬basiw fornisca una rappresentazione della realta` trasfigurata in chiave simbolica, fantastica, magico-onirica 24. I tre incontri si concludono su uno schema analogo, con un desiderio frustrato e un risvolto consolatorio. Palinuro, dopo aver narrato la propria morte, supplica Enea di trovare e seppellire il suo corpo nel mondo superno oppure di portare con se´, oltre l’Acheronte, il suo simulacro (vv. 363-371). La Sibilla gli rivolge un duro rimprovero: egli deve desistere dalla dira libido (una brama empia, contraria a una legge sacra) di accedere all’Ade profondo, pur non essendo sepolto; ne´ puo` sperare di piegare i fata deum (i fati stabiliti, o meglio, custoditi dagli dei) con le preghiere (vv. 373-376). Ma lei stessa profila una consolazione per la triste sorte del giovane defunto (duri solacia casus): gli aborigeni, guidati dai prodigi celesti, espieranno quel delitto ed erigeranno un tumulo in suo onore: aeternumque locus Palinuri nomen habebit (vv. 377-381). Al pensiero del luogo eponimo, Palinuro prova un barlume di sollievo (vv. 382-383): his dictis curae emotae pulsusque parumper corde dolor tristi; gaudet cognomine terra.
E` un sollievo momentaneo (come precisa l’avverbio parumper), che attenua, ma non riassorbe il rammarico di Palinuro, il dolore intrinseco nel suo stato (morto nel fiore degli anni; rimasto insepolto; privato del riposo nell’Ade profondo). Il suo sentimento e` descritto con tre sintagmi contigui, che si completano e si specificano l’un l’altro: i primi due (curae emotae pulsusque parumper / corde dolor tristi) sono ‹negativi›, in quanto esprimono il venir meno di un male, piuttosto che un piacere concreto; il terzo (gaudet cognomine terra) e` piu` forte dei precedenti, dai quali pero` e` ridimensionato; inoltre il verbo gaudet e` stemperato dal complemento cognomine terra, che ha valore causale e insieme limitativo 25.
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In piu`, l’incontro di Enea con Deifobo nell’Ade richiama, per numerosi elementi psicologici, descrittivi e stilistici, per il valore simbolico (il personaggio morto come paradigma di un mondo finito) e il significato complessivo (il messaggio costruttivo, che impone o, quanto meno, incoraggia il compimento del Fato), il sogno profetico di Ettore (II, 268-297): un altro punto di contatto (non estraneo al gioco di analogie e antitesi) tra il libro II e l’episodio del VI. Cf. A. La Penna, Deifobo ed Enea (Aen. VI 494547), «RCCM» 20, 1978, 987-1006 (una lettura attenta alle implicazioni ideologiche); T. M. Falkner, Hector and Deiphobus. An Interpretation of Aeneid 6, 494-547, «CB» 67, 1981, 33-36; C. Fuqua, Hector, Sychaeus and Deiphobus. Three Mutilated Figures in Aeneid 1-6, «CPh» 77, 1982, 235-240; nonche´ G. Laudizi, Enea e Deifobo nell’Ade (Verg. «Aen». 6, 494-547), «Orpheus» 13, 1992, 245-260. La àata¬basiw e` considerata un’esperienza onirica (specialmente in forza della ‹porta d’avorio›, per la quale Enea e la Sibilla tornano al mondo superno), da diversi critici: H. R. Steiner, Der Traum in der Aeneis, Bern-Stuttgart 1952, 85-96; B. Otis, Three Problems of Aeneid 6, «TAPhA» 90, 1959, 173-179; A. K. Michels, The Insomnium of Aeneas, «CQ» 31, 1981, 140-146; G. Williams, Technique and Ideas in the Aeneid, New Haven-London 1983, 57; piu` di recente, R. S. Kilpatrick, The Stuff of Doors and Dreams: Vergil, Aeneid 6, 893-98, «Vergilius» 41, 1995, 63-70. L’ambiguita` implicita nella profezia della Sibilla e` rilevata da F. E. Brenk, art. cit. (nota 16), 795: Palinuro diventera` simbolicamente «a mountain headland running into the sea, buffeted by wind and storm, lashed by waves»; sara` la sede di una necropoli, gravata dalla memoria di una tragedia storica.
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Giampiero Scafoglio
A un primo sguardo, l’episodio di Didone pare concludersi nel modo piu` triste, senza uno sbocco positivo o uno spiraglio consolatorio. Lei e` ostile e impietosa: non parla; non si fa convincere dalle spiegazioni, ne´ si lascia commuovere dalle lacrime 26. Tuttavia, a una lettura piu` attenta, questa conclusione comporta una consolazione, pur tenue (anch’essa spia della retractatio), riservata a Didone (vv. 472-474): tandem corripuit sese atque inimica refugit in nemus umbriferum, coniunx ubi pristinus illi respondet curis aequatque Sychaeus amorem.
La donna si ritira in un bosco ombroso, che si presenta come un rifugio protettivo, se non rasserenante; qui l’antico marito Sicheo «ricambia il suo amore»: nessun rancore per il tradimento, ‹pagato› col gesto estremo del suicidio. Questo esito ‹consolatorio› e` sfuggito agli studiosi, che hanno considerato l’episodio soltanto dal punto di vista di Enea, il cui anelito a parlare e` frustrato dal silenzio di Didone, dal suo sguardo torvo. D’altra parte, la consolazione della donna e` solamente una sfumatura, limitata com’e` dalla sofferenza connaturata nella sua condizione: Sicheo «condivide i suoi affanni», non li rimuove; nemmeno lui ne e` libero. Questo si evince gia` dal quadro iniziale dei Lugentes Campi, occupati dagli spiriti consumati dall’amore: curae non ipsa in morte relinquont (vv. 442-444). Il finale dell’episodio di Deifobo e` coerente con gli altri due, ma piu` complesso e significativo: non ha soltanto un valore conclusivo; segna un progresso nel percorso di Enea, e prepara il discorso di Anchise. Al termine del racconto prolettico, Deifobo invoca la vendetta divina contro gli Achei, tutti accomunati ai suoi carnefici, secondo la legge del taglione e col crisma della pietas (vv. 529-530). Enea continua il dialogo, finche´ la Sibilla lo ammonisce e lo sprona a riprendere il cammino per i Campi Elisi (vv. 535-543). Deifobo la invita a placarsi e rinuncia al pur gradito colloquio; nell’atto di allontanarsi, rivolge un augurio a Enea (vv. 545-546): discedam, explebo numerum reddarque tenebris. i decus, i, nostrum; melioribus utere fatis.
Anche qui, un desiderio frustrato: Deifobo ha uno stato d’animo tormentato, denso di dolore e di odio, coinvolto nei ricordi penosi; il dialogo con Enea gli serve da sfogo e gli porta un momentaneo sollievo; presto pero` e` costretto a interromperlo. Del resto, egli non puo` in alcun modo sfuggire a se stesso: non possiede piu` un futuro; il passato e` conservato dentro di lui in infinitum. Egli appartiene a un gruppo anonimo, relegato nel buio (questo il luogo assegnato ai bello clari), dove si accinge a tornare al termine del colloquio. Anche qui, un risvolto consolatorio, piu` ricco di implicazioni rispetto ai due episodi precedenti. Deifobo trova infatti un riscatto simbolico, quasi un raggio di luce nel buio dell’Ade, nel destino migliore augurato a Enea: questi restituira` l’onore al proprio popolo (decus ... nostrum) e godra` il bene negato ai suoi concittadini, uccisi o ridotti in schiavitu` (melioribus ... fatis). La felicita` perduta nella vita individuale sara` compensata, se non recuperata, nell’evoluzione storica dell’intera civilta`. Quale parte di questa felicita` tocchera` a Enea come persona non si sa ancora, neppure importa: la rivalsa troiana passa per la sua azione, muove 26
Secondo la suggestiva spiegazione (pur non pienamente convincente) di T. S. Eliot, What is a Classic?, London 1945, 20-21, «Dido’s behaviour appears almost as a projection of Aeneas’ own conscience: this, we feel, is the way in which Aeneas’ conscience would expect Dido to behave to him».
Il confronto di Enea col passato
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anzi da essa, ma procede assai piu` in la`, fino all’egemonia universale di Roma, fino alla pax augusta 27. Il discorso profetico di Anchise, che dischiude a Enea il futuro, per renderlo piu` fermo e risoluto nel compito a lui assegnato dal Fato, sviluppa il nucleo ideale gia` presente in nuce nell’augurio di Deifobo, che sancisce il diritto e insieme il dovere del popolo troiano (identificato col suo condottiero) di riconquistare un posto nel mondo 28. A uno sguardo d’insieme, Palinuro, Didone e Deifobo sono i protagonisti di tre episodi paralleli, ciascuno dei quali riprende lo schema di fondo del precedente, ma vi inserisce molti elementi nuovi: il racconto progredisce gradualmente, ripercorrendo a ritroso il passato (non senza variazioni e inversioni, a rendere la diversita` qualitativa, la frattura tra la vita e la morte), per poi aprirsi al futuro, quale e` prospettato nel finale del libro. L’esperienza oltremondana, nella sua superiore unita`, composta da singole tappe correlate da omologie e dissonanze, rispecchia la dialettica propria della storia, finalizzata a risolvere la sofferenza nella felicita` promessa (perseguita faticosamente, intravista nelle profezie, ma ancora lontana).
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L’adesione virgiliana all’ideologia augustea e` contestata o ridimensionata da una parte della critica, sulla scorta della scuola di Harvard: cf. S. G. Harrison, Some Views of the Aeneid in the Twentieth Century, in Oxford Readings cit. (nota 1), 1-20. A me sembra innegabile, se non una solida fiducia, almeno la speranza nella pax augusta, preannunciata (non senza incertezze e riserve) in molte parti dell’Eneide: un bilancio equilibrato e` tracciato da R. D. Williams, The Purpose of the Aeneid, in Oxford Readings cit. (nota 1), 2136. Il ruolo egemonico del condottiero, «capo carismatico», protagonista del divenire storico, rispetto al popolo, «gregge anonimo», destinato a rimanere in secondo piano, e` discusso (pur con qualche eccesso, in merito al consenso accordato da Virgilio al ‹pensiero› del regime) da A. La Penna, art. cit. (nota 23), 987-1006.
Gyburg Radke
Symbolische Aeneis-Interpretationen Differenzen und Gemeinsamkeiten in der modernen Vergilforschung Richard Heinze hat in seinem epochemachenden Buch «Virgils epische Technik» zu Beginn des letzten Jahrhunderts (1902) nachgewiesen, daß es eine wesentliche Intention des Vergilischen Epos ist und seine Besonderheit ausmacht, Stimmungen und Empfindungen empathetisch darzustellen und dieselben beim Leser auch zu evozieren 1. Nicht die einzelnen Ereignisse, nicht die einzelnen handelnden Charaktere, nicht die Beziehungen zwischen diesen 2 und nicht die Abfolge und logische Stringenz des dargestellten Geschehens stehen, so weist Heinze nach, eigentlich im Zentrum des Interesses des Dichters. Denn dies, also alle oder die meisten äußeren Fakten und Inhalte, habe Vergil aus der Tradition übernehmen können. Genuin Vergilisch sei hingegen die Umformung der äußeren Ereignisse in subjektive Erlebnisse. Vergil stelle nicht äußeres Handeln dar, sondern die Art und Weise, wie dieses Äußere innerlich, in der Seele erfahren wird; und er stelle auch nicht das Handeln oder Erleben einzelner individueller Charaktere dar, sondern strebe danach, das Universelle, das Ideale und Typische 3 an einzelnem sinnenfällig werden zu lassen 4. Aeneas sei 1
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Richard Heinze, Virgils epische Technik, Darmstadt 41967 (= Heinze), 362 f.: «Das eigentlich Charakteristische an Virgils Erzählung ist, daß sie durch und durch mit Empfindung getränkt ist. Nicht als ob, wie in jüngerer hellenistischer Poesie, des Dichters Empfindung sich unaufhörlich uns aufdrängte (obwohl wie wir sehen werden, Virgil auch in diesem Punkte viel weniger zurückhält als Homer); sondern die Empfindung der handelnden Personen soll uns durch die Erzählung suggeriert werden, auch ohne daß ausdrücklich von ihr die Rede ist. Homers Erzählung überläßt es im allgemeinen dem Leser, aus den Ereignissen selbst die begleitenden Empfindungen zu erschließen, und unterstützt dies nur durch Gespräche und Monologe; Virgil erzählt nie, ohne wenigstens durch Ton und Farbe, wenn nicht durch ausdrückliche Fingerzeige, auf jene Empfindungen hinzuleiten. Er hat sich in die Seele der Handelnden versetzt und erzählt aus ihr heraus; er projiziert die Empfindung sogar in die unbelebte Natur; er will im Hörer das gleiche erwecken, sei es nun heftig aufflackernder Affekt oder gleichmäßig wärmende Stimmung.» Heinze, 411: «Es ist weiter auffällig, wie atomistisch sozusagen die Menschenwelt des virgilischen Epos geschildert ist. Unendlich viele Beziehungen der Personen untereinander entfaltet Homer vor unseren Augen; Virgils Personen stehen fast durchweg jede für sich. (...) Die gegenseitigen Beziehungen zwischen Aeneas und den Seinen sind mit dem einen Worte pietas bis auf den Grund zu erschöpfen; (...) Man sehe, wie wenig Creusas Abschiedsworte (II 776) über die Beziehungen zwischen ihr und dem Gatten lehren: nichts, als daß er ihr dulcis coniunx, sie seine dilecta Creusa ist und sie den Sohn gemeinsam liebten (...) - also etwa das, was eine römische Grabinschrift über ein Elternpaar auszusagen weiß.» Man kann dabei auch einen spezifischer römischen Aspekt hervorheben und diese Darstellung des Typischen als Suche nach (historischen) Exempla interpretieren: vgl. Susanna Morton Braund, Virgil and the Cosmos: Religious and Philosophical Ideas, in: Charles Martindale (Hg.), The Cambridge Companion to Virgil, Cambridge 1997, 204-221, hier: 220. Heinze, 279 f.: «Daß Virgil es wagt, dies typische Schicksal der emporstrebenden Menschenseele im Bilde des Aeneas zu verkörpern (...), ist gewiß etwas Großes; aber es ist nun wohl ganz deutlich geworden, daß von eigentlich persönlicher Charakteristik hier nicht die Rede sein kann. Und ähnlich wie mit Aeneas steht es mit anderen Personen des Gedichts. Nicht ein Mensch in seiner Eigenart wird gezeichnet, wie er einmal auf Erden wandelte und niemals wiederkehren wird; auch wird nicht von der Beobachtung
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kein Individuum, das dem Leser in seiner singulären Besonderheit plastisch vor Augen gestellt wird, sondern der «Typus des Römers augusteischer Zeit und stoischer Observanz» (Heinze, 271). Heinze führt, indem er von dem Vergleich mit den griechischen Vorbildern, mit Homer, aber auch mit den Argonautika des Apollonios, ausgeht, an einer Vielzahl von Elementen der ars, der dichterischen Fertigkeit, Vergils vor, welche Konsequenzen eine solche Konzentration auf die Veranschaulichung des subjektiven Innenraums des Menschen hat: Die Begebenheiten werden zu Stimmungsbildern, die Darstellungsweise selber wird empathetisch. Dadurch, daß der Erzähler nicht von außen auf das Geschehen blickt, sondern die Perspektive der einzelnen Handelnden an- und übernimmt, sich in verschiedene Rollen hineinversetzt, wird auch der Leser in die Handlung der Dichtung mit hineingezogen, und in ihm wird Sympathie mit den Handelnden erweckt, er leidet mit ihnen mit, weil er sich in seiner Vorstellung unmittelbar mit ihnen identifiziert. Paradebeispiel für diese Form der aemulatio Homers ist für Heinze der Vergleich zwischen den Wettkämpfen aus Anlaß der Leichenspiele für Patroklos im 23. Buch der Ilias und den Wettspielen im fünften Buch der Aeneis 5. Mit dieser Monographie begründete Richard Heinze (zusammen mit Eduard Nordens komplementärem Kommentar zum 6. Buch) die moderne Aeneisforschung 6. 1950 erschien dann die Studie Viktor Pöschls mit dem Titel «Die Dichtkunst Virgils. Bild und Symbol in der Aeneis» 7. Dieses Buch wurde geradezu enthusiastisch aufgenommen und als eine Wende in der Vergil-Philologie 8, als Befreiung von dem (historistischen) «Schulstaub der Jahrhunderte» (wie Pöschl selber schreibt: Pöschl, 10) gefeiert 9. Dieser Effekt war von Pöschl selbst durchaus intendiert und bei allem Respekt, den er gleichwohl seinen Vorgängern, den beiden großen
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des Lebens ausgegangen; sondern Ausgangspunkt der Charakterschilderung ist ein Ideal, und der Mensch unterscheidet sich in seinen Entwicklungsstadien sowie von anderen Menschen durch den Grad seiner Annäherung an dies Ideal; nicht eigentlich durch die Eigenschaften, die er besitzt, sondern durch die, die ihm mangeln.» Brooks Otis konnte diese Ergebnisse über den subjektiven Stil Vergils in seinem Buch «Virgil. A Study in Civilized Poetry» (Oxford 1963) in philologisch detaillierten Analysen bestätigen (auf den S. 41-61). S. den Forschungsüberblick von Stephen J. Harrison, Some Views of the Aeneis in the Twentieth Century, in: ders. (Hg.), Oxford Readings in Vergil’s Aeneid, Oxford 1990, 1-20; Antonie Wlosok, Vergil in der neueren Forschung, in: Gymnasium 80, 1973, 29-51. V. Pöschl, Die Dichtkunst Virgils. Bild und Symbol in der Aeneis, Innsbruck/Wien 1950 (=Pöschl) (erw. 3. Auflage Berlin 1977). S. z. B. Reinhold Glei, Von Probus zu Pöschl, Vergilinterpretationen im Wandel, in: Gymnasium 97, 1990, 321-340, 330 f.: «Mit seinem 1950 erschienenen Buch «Die Dichtkunst Virgils. Bild und Symbol in der Aeneis» eröffnet er der Vergilinterpretation eine neue Dimension, ja man kann mit W. S. Anderson ohne Übertreibung sagen: «(Pöschl) revolutionized interpretation of the epic».» Mit philologischer Sensibilität zusammengefaßt und auf seine Vorbilder bei Heinze, aber auch und vor allem bei Rudolf Borchardt zurückgeführt wird der Ansatz Pöschls, der auf die wissenschaftliche Öffentlichkeit nach dem zweiten Weltkrieg solchen Eindruck machen konnte, von E. A. Schmidt, Rudolf Borchardts Vergilfeier 1930, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1994 Heft 1, 96-122. Schmidt zeigt auch überzeugend, daß die Vergilverehrung Borchardts keineswegs aus dem Nichts entstanden ist, sondern daß Borchardt eine Stimmung seiner eigenen Zeit aufgegriffen hat. Die Empfindsamkeit und das Lyrische (und also das im Sinne Schillers Sentimentalische), das Vergils Dichtung ganz grundsätzlich von Homer unterscheidet, waren diejenigen Qualitäten, die diese ‹Wende› in der Vergilrezeption, die in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollzogen wurde, begründeten und die noch für Pöschl als Element seines Symbolbegriffs die Grundlage seiner neuen Aeneisdeutung bildeten (ebenda, 114 f.).
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Aeneisforschern Richard Heinze und Eduard Norden, entgegenbrachte, programmatisch inszeniert. Ich zitiere Pöschl: «Die Exegeten des Altertums und ihre modernen Nachfolger treten mit dem kalten Blick des Verstandes, nicht mit dem liebevollen des Herzens an den Dichter heran. Sie erklären sprachliche Erscheinungen und stoffliche Motive nach ihrem rational faßbaren Inhalt, nicht nach ihrer Form, während es die Kunst primär immer mit der Form zu tun hat, und zwar mit der individuellen Form ...» (Pöschl, 12)
Mit den modernen Nachfolgern der Exegeten des Altertums meint Pöschl auch und vor allem die moderne Forschung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die er kurzer Hand mit dem Rationalismus der antiken Exegeten zusammenfaßt. Diese traditionelle moderne Forschung hatte sich mit der Kunst (ars, techneˆ ) Vergils befaßt, wie sie sich und soweit sie sich als ‹Technik› philologisch und rational eindeutig beschreiben und mit mathematischem Wahrheitsanspruch beweisen läßt. Pöschls Intention und These, die er in der Einleitung seines Buches formuliert, reicht weit über die Aeneisforschung hinaus: Er bezieht nämlich Stellung in einem grundsätzlichen kunsttheoretischen Streit. Er plädiert für eine Ablösung der historistischen Methode, die die Geisteswissenschaften auch noch der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitestgehend dominiert hatte, und für die Revitalisierung einer genuin romantischen, genieästhetischen Dichtungskritik. Dieser Streit wird - auch hier wieder - darum geführt, ob in der Dichtung und analog in der Dichtungskritik die ars oder das ingenium des Dichters leitend sei oder sein müsse. Pöschl vertritt die Priorität des ingenium und gibt seinem Buch den Titel «Virgils Dichtkunst». Dieser Titel spielt unverkennbar auf den Titel von Heinzes Studie «Virgils epische Technik» an und setzt seinen eigenen Ansatz von dieser traditionellen Philologie ab. Heinze war es nur um die Analyse der ars Vergils gegangen, denn er hatte die Produkte des ingenium des Dichters nicht für einen möglichen Gegenstand von Wissenschaft gehalten 10. Der Untertitel von Pöschls Buch spricht aus, daß Philologie gerade diesen Inhalt haben müsse 11, und er spricht aus, was dieser Inhalt sein müsse, wenn man einen Ausweg aus den «lange angehäuften Verirrungen einer für alles Künstlerische blinden Philologie» (Pöschl, 10 f.) finden wolle. Es ist das Symbol, mithilfe dessen die Irrwege verlassen werden sollen. Über den Begriff des Symbols erschließe sich wieder die Tiefendimension der Vergilischen Dichtung, die «Welt der Seele» (Pöschl, 8), die in der symbolischen Interpretation fühlbar gemacht werden solle 12.
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Heinze, 259: «Die große Wirkung, die sein Gedicht ausgeübt hat, beruht freilich zum besten Teile auf etwas anderem (...): das ist einerseits die Wärme des sympathetischen Gefühls, andererseits die Kraft des sittlich-religiösen und nationalen Empfindens, beides zusammen recht eigentlich die Grundpfeiler der Dichtung. Dies beides näher zu beschreiben, ist nicht unsere Aufgabe; wir haben es mit der ars, nicht mit dem ingenium Virgils zu tun.» Es sei der genuine Gegenstand der Geisteswissenschaften überhaupt, «Kunsterscheinungen (...), deren Sinn nicht eigentlich bewiesen, sondern nur fühlbar gemacht werden kann» und «... Phänomene (…), die sich dem Zugriff des Verstandes entziehen» zu beschreiben (Pöschl, 9 f.). Pöschl, 9: «Die Durchseelung der Form ist als Grundphänomen der Dichtung Vergils von neueren Erklärern gewürdigt worden. Aber die genaue Beobachtung des einzelnen wurde für die Äneis bisher nicht in Angriff genommen. Die Aufgabe ist eine der wichtigsten und schwierigsten, die der Virgilinterpretation gestellt sind. Gilt es doch, Kunsterscheinungen zu beschreiben, deren Sinn nicht eigentlich bewiesen, sondern nur fühlbar gemacht werden kann.»
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Mit dem Symbolbegriff bezeichnet Pöschl also alles das, was seiner Ansicht nach eine adäquate Dichtungsinterpretation mehr sein müßte als das, was die Analyse der Dichtungstechnik bei Heinze hatte erbringen können. Der Symbolbegriff ist für Pöschl die hermeneutische Kategorie schlechthin. Mit dieser sehr weiten Verwendung des Begriffs ‹Symbol› folgt er einer vor allem mit Kants «Kritik der Urteilskraft» (von 1790) beginnenden Tradition der modernen Kunsttheorie, für die der Symbolbegriff in Abgrenzung von dem Begriff der rationalistischen Allegorie zum Inbegriff des Kunstschönen überhaupt wurde. Bekanntlich war es Goethe, der zusammen mit dem Kunsthistoriker Heinrich Meyer (1797) erstmals in der Schrift «Über die Gegenstände der bildenden Kunst» und prägnanter noch in seinen Maximen und Reflexionen die Begriffe Symbol und Allegorie als Oppositionspaar eingeführt hatte 13. Die Allegorie (oder die rationalistische Allegorie) ist im Sinn dieser Gegenüberstellung ein Moment, das dem Wesen der Kunst selber fremd ist: wenn z. B. Tugenden oder Laster oder auch Naturerscheinungen als Personifikationen auftreten - das gilt als klassischer Fall einer allegorischen Darstellung -, dann werden in die Dichtung naturphilosophische oder moralische Lehrstücke hineingetragen, die ihr äußerlich und notwendig auch in ihrer bildlichen Gestalt abstrakt bleiben 14. Das Symbol ist, nach Goethe, im Unterschied dazu ein Sinnbild, das von dem, was in einer Intuition unmittelbar präsent sein kann, ausgeht und das dessen in abstrakten Verstandesbegriffen nicht abschließend darstellbaren Gehalt «nach dem Gesetze der Association» sc. der Einbildungskraft in freien und offenen Assoziationen anschaulich zur Darstellung bringt. Dieser bestimmte Symbolbegriff versteht unter Symbol ein Besonderes, das zugleich das Allgemeine in sich mitenthält 15. Es ist ein im Wortsinn aisthetischer Begriff 16, der ein nur begrifflich-rational faßbares Prinzip, das unabhängig von den mit den Sinnen gegenwärtig erfahrbaren Einzeldingen ist, bestreitet und der das Prinzip in ihnen selbst bzw. in dem
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«Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht oder im Besondern das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie, sie spricht ein Besonderes aus, ohne an das Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dies Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.» (Goethe, Maximen und Reflexionen, Nr. 53). S. auch Hegel, Ästhetik, zitiert aus A. Sörensen, Allegorie und Symbol. Texte zur Theorie des dichterischen Bildes im 18. Jahrhundert und in der deutschen Romantik, Kopenhagen 1963, 253 f.: «[eine Allegorie] bleibt die Abstraktion einer allgemeinen Vorstellung, welche nur die leere Form der Subjektivität erhält und gleichsam nur ein grammatisches Subjekt zu nennen ist. Ein allegorisches Wesen, wie sehr demselben auch menschliche Gestalt gegeben werden mag, bringt es weder zu der konkreten Individualität eines griechischen Gottes noch eines Heiligen oder irgendeines wirklichen Subjekts: weil es die Subjektivität, um sie der Abstraktion ihrer Bedeutung kongruent zu machen, so aushöhlen muß, daß alle bestimmte Individualität daraus entschwindet. Man sagt es daher mit Recht der Allegorie nach, daß sie frostig und kahl und bei der Verstandesabstraktion ihrer Bedeutungen auch in Rücksicht auf die Erfindung mehr eine Sache des Verstandes als der konkreten Anschauung und Gemütstiefe der Phantasie sei ...» S. die Formulierung Goethes in einem Brief an Schiller vom 16./17. August 1797: «wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit» aber «ohne es gewahr zu werden, oder erst spät». Dazu s. auch: Bettina Menke (und Anselm Haverkamp (zum rhetorischen Begriff der Allegorie)), Art. ‹Allegorie, III. Aesthetica›, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1, 49-104, hier: 80 ff.
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Verweisungszusammenhang unter ihnen ausmacht 17; symbolisch liest man einen Text, wenn man in dem Endlichen des Einschlags des Unendlichen (Gadamer) unmittelbar gewahr wird. Unter Symbol wird also das ‹prägnante› innere Wesen der Dichtung selbst verstanden; im Symbol eröffne sich, wie Friedrich Creuzer sich ausdrückte, eine «momentane Totalität» im «imposanten Moment» 18. Symbolische Dichtung enthält nicht einige Symbole, sondern alle ihre Teile sind von ihnen selbst her symbolisch 19, d. h. sie verweisen aufeinander und auf eine andere tiefere Bedeutung der einzelnen Worte und dargestellten Gegenstände. Symbolische Dichtung beseelt eine erzählte Handlung als ganze, hebt sie als ganze auf eine andere, höhere, aber in dem subjektivem Erleben des Erzählten selbst verborgene Bedeutungsebene. Auf diese Weise wird der Zugang zum konkreten Reichtum der angeschauten Dingwelt und zum intelligiblen Wesen dieser anschaubaren Dinge eröffnet, und der Weg zu dem, was über das von Philosophie und Wissenschaft Erfaßbare hinausgeht. 20 Im Sinn dieser Gegenüberstellung erfordert die Allegorese, also die Aufdeckung einer unter der Oberfläche verborgenen Sinnebene, daß einzelne Elemente des Textes als allegorische «Zutaten» in einer rationalen Beweisführung nachgewiesen werden können; eine symbolische Deutung muß im Unterschied dazu nach dem inneren Wesen der Dichtung, das in der subjektiven Stimmung, in der atmosphärischen Färbung der Dichtung zum Ausdruck kommt, fragen: Sie ist keine rationale Analyse, die ein eindeutiges Ergebnis haben kann oder haben will, sondern geht der Frage nach, ob das vorliegende Dichtungswerk über den äußeren Faktenbericht der Erzählung hinaus das Erzählte zugleich auch als Erlebtes oder subjektiv Empfindbares mitzuteilen vermag oder mitteilen wollte. Die Analyse hat dann so wie der ihr zugrunde gelegte Symbolbegriff eine Tendenz zum Transzendenten, dazu, auf das Unendliche auszugreifen und sich nicht innerhalb der Gren17
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S. Michel Titzmann, Allegorie und Symbol im Denksystem der Goethezeit, in: W. Haug (Hg.), Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978 (Stuttgart 1979), 651. Friedrich Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen (1810-1812), Bd. 4, Leipzig/Darmstadt 31842, 561, Insofern hat dieser neuzeitliche Symbolbegriff eine gewisse Affinität zu dem, was in der vormodernen Tradition, wirkmächtig formuliert durch Beda Venerabilis, als allegoria in factis im Unterschied zur allegoria in verbis bezeichnet worden war: die allegoria in factis ist nicht als einzelner Baustein einer Dichtung vom Autor hinzugefügt, sondern mit diesem Ausdruck charakterisiert man die Dinge der wahrnehmbaren Welt als etwas, das schon von sich selbst her den Charakter von etwas hat, das auf anderes, auf etwas Höheres verweist (im Sinn von Augustins Unterscheidung zwischen verba und res in seiner Hermeneutik): nämlich auf die Ebene der eigentlichen Wirklichkeit. Die wahrnehmbaren Dinge werden in dieser Betrachtungsweise aufgefaßt als figurae, als typoi oder bloße Abbilder der eigentlichen Wahrheit, auf die sie nur verweisen. Allerdings unterscheidet sich der moderne Symbolbegriff dadurch, daß in diesem Theoriezusammenhang eine solche selbständige, von der empirischen Welt verschiedene und dieser vorgeordnete Wirklichkeit bestritten wird; d. h. die Dinge werden als ‹prägnant› und verweisend nicht in dem Sinn aufgefaßt, weil sie an etwas Anteil haben, auf das sie verweisen, sondern weil sie alle diese Bedeutungen selbst von sich her und umfassend in sich verwirklichen: damit geht dieser Begriff ganz unmittelbar (der Sache nach betrachtet) auf stoische Lehrstücke, auf die Kosmologie und die kosmologisch-physikalische Allegorese zurück, d. h. schließlich auf die Immanentisierung des Göttlichen (Logos) in der empirischen Welt. Pöschl, 93: «Überhaupt darf man nicht vergessen, daß die poetische und die philosophische Auffassung des Schicksals sich niemals ganz decken werden (...) Denn die poetische Darstellung und die philosophische sind zwei grundsätzlich unterschiedene Formen der Bewältigung der Wirklichkeit. Die poetische Welt kann an der philosophischen teilhaben, aber niemals in ihr aufgehen oder gar mit ihr identisch sein. Sie steht unter anderen Gesetzen» (auch hier wieder: mit Verweis auf Goethe).
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zen des menschlichen endlichen Erkenntnisstrebens halten zu lassen. Diese Tendenz ist zwar auch schon bei Goethe im Hintergrund präsent, wirkt sich als dominierendes Element aber erst in der romantischen Ästhetik und symbolischen Dichtungsinterpretation aus. Die Romantiker (Schelling, Creuzer, Schlegel usw.) setzten an die Stelle der einfachen Opposition von rationalistischer Allegorie und konkret anschaulichem Symbol das Konzept einer wahrhaften Allegorie bzw. Allegorese, dessen Hauptcharakteristikum ist, daß die Allegorie positiv als ein Mittel der Annäherung an das an sich unerreichbare Unendliche bestimmt wird. Die Allegorie verweise immer auf etwas Höheres, auf das Ganze, das Kunstschöne an sich als Inbegriff der Einheit von Subjekt und Objekt, Begriff und Anschauung (usw.), das in seinem unendlichen Beziehungsreichtum niemals endgültig begriffen werden könne. Das Neue gegenüber Goethe ist also zum einen eine bloß terminologische Frage: statt Symbol und Allegorie setzen die Romantiker eine wahrhafte Allegorie einer schlechten, rationalen Allegorie gegenüber. Der Grundgegensatz aber bleibt derselbe; zum anderen ist neu, daß die Möglichkeit bestritten wird, durch das Symbol könne eine vollkommene Schönheitserfahrung (im Endlichen) gelingen. Anstelle der Vorstellung von einem in sich unendlichen Beziehungs- und Verweisungszusammenhang wird die Vorstellung von dem Bezug auf eine Unendlichkeit, die als etwas, was das einzelne Individuum transzendiert, gedacht wird, gesetzt 21. Aus dieser Modifikation der Kunsttheorie entwickelt sich etwas, was auch in der Aeneisforschung wirksam wurde: Das Schöne wird als etwas rein Geistiges betrachtet, als die geistige Bedeutung, die den Dingen subjektiv beigelegt wird. Das heißt: es wird absolut in die Innerlichkeit verlegt. Man erreicht auf diese Weise, daß 1. das Schöne zu einer Kategorie wird, die man universal anwenden und an allem wiederfinden kann und 2., daß es zugleich auch etwas ist, das das einzelne Individuum hin auf das Göttliche und Unendliche transzendiert. Es ist, gerade weil es etwas rein Innerliches, nämlich bloßes Gefühl ist, mehr als die Subjektivität des einzelnen Individuums und stellt auf diesem Weg die Verbindung zwischen dem endlichen Individuum und seinem unendlichen Ursprung her. Dieser von Goethe begründete und genuin romantisch inspirierte Symbolbegriff ist die literaturtheoretische Basis der modernen Aeneisphilologie. Der dazu komplementäre Begriff der (abstrakten, rationalen) Allegorese erfährt dadurch eine Festlegung als ein Mittel, das (vielleicht) einzelne Aspekte der Technik des Dichters erschließen kann, das aber nicht das eigentliche Wesen der Dichtung erfaßt und sich also nicht als Instrument einer Gesamtinterpretation eignet. Dieses Konzept bedeutet für die Frage danach, ob die Aeneis (auch) eine allegorische Bedeutung hat, ob man berechtigt ist, höhere allegorische Sinnebenen an dem Vergilischen Text zu erschließen, daß die Aeneis nur dann und nur da allegorisch gedeutet werden kann, wenn es einen eindeutig nachweisbaren konkreten, vom Autor 21
Friedrich Schlegel, «Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern» (1804-1805), zitiert nach Sörensen, Allegorie und Symbol. Texte ..., 163: «Das Wesen der Schönheit hängt genau zusammen mit der Bedeutung. Man hat sehr unrecht, wenn man das Schöne bloß auf einiges beschränken, nicht auf alles ausdehnen will. So faßt man den Begriff des Schönen ganz falsch, wenn man dasselbe bloß in das Äußere, in eine gewisse Form und Gestaltung setzt, wo es dann bloß in der sinnlichen Anmut, oder der Regel und Gesetzmäßigkeit derselben besteht. Das Schöne ist vielmehr die geistige Bedeutung der Gegenstände und nichts an dem Gegenstande selbst; ja alles ist schön dem, der es auf diese Weise zu betrachten und zu erkennen weiß. Das Schöne ist etwas, das aus dem liebreichen Gemüte des Betrachters kommt, es ist der Inhalt des Gefühls oder der durch das Gefühl zum Geistigen erhobenen Anschauung. So wie in allen Dingen eine geistige Bedeutung, so ist auch das Schöne auf alles anwendbar.»
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bewußt und explizit in den Text gelegten Anlaß dazu gibt, die Ebene des literalen Textsinns zu verlassen. Als Schlüssel zu einer Gesamtinterpretation kann, so kann man schon einmal vorwegnehmend sagen, die Allegorese für das Vergilische Epos nicht dienen; denn die Aeneis bietet solche konkreten Anlässe zwar in einigen ganz wenigen Einzelpassagen (vor allem im 6. Buch 22 ), aber nachweislich nicht als einen durchgängigen Zug des ganzen Werkes. Solche Versuche einer Gesamtinterpretation mithilfe der Allegorese aber hat es - und darauf spielt Pöschl, wenn er von «den antiken Exegeten» spricht, an - in der Spätantike und im Mittelalter tatsächlich gegeben, wenn sie auch keineswegs die einzige Tradition allegorischer Vergilinterpretationen in der Antike waren 23: Der Mythograph Fulgentius aus dem 5. Jh. und der Platoniker Bernardus Silvestris, der im 12. Jh. lebte, sind die beiden Hauptvertreter einer ‹Lesart› oder vielleicht besser: einer Verwendung der Aeneis, in der die Aeneis insgesamt als Sinnbild der menschlichen Seele und ihres Geschickes in der hiesigen Körperwelt und ihrer Rückkehr zu ihren geistigen Ursprüngen betrachtet wird. Sie verkörpern für Pöschl so wie genauso auch für Heinze und für die gesamte moderne philologische Forschung das Negativbild einer spekulativen, unkritischen, empirie- oder textabgewandten rationalistischen Überformung eines einzelnen dichterischen Textes. Das Urteil der historisch-kritischen Geisteswissenschaftler über sie ist bis heute ebenso einhellig 24 wie vernichtend. 22
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S. dazu die Untersuchungen von Antonie Wlosok: z. B. Gemina doctrina? - Über Berechtigung und Voraussetzungen allegorischer Aeneisinterpretation (1983), in: E. Heck u. E. A. Schmidt (Hgg.), Antonie Wlosok, Kleine Schriften: Res humanae - Res divinae, Heidelberg 1990, 392-402. Nach John W. Jones (The Allegorical Traditions of the Aeneid, in: J. D. Bernard (Hg.), Vergil at 2000, New York 1986, 107-132) lassen sich unter den aus der Antike und dem Mittelalter überlieferten allegorischen Kommentierungen zur Aeneis zwei verschiedene Auslegungstypen unterscheiden: der eine werde charakteristisch von dem Grammatiker und Vergilkommentator Servius repräsentiert, der andere von dem mittelalterlichen Philosophen Bernardus Silvestris (12. Jh.). Während Servius zur Erklärung einzelner Passagen, bei denen der reine Literalsinn aus irgendeinem Grund Anstoß erregt und auf eine weitere Bedeutungsebene verweist, auf die traditionellen Allegoreseformen zurückgreift - die anagogische, physikalische, moralische, euhemeristische, typologische Allegorese sowie Deutungen von Passagen als Verweise auf römische Kulte -, gibt Bernardus - und man muß ergänzen: ebenso wie bereits der spätantike Mythograph Fulgentius (5. Jh.) - eine Deutung, die die Handlung der Aeneis insgesamt allegorisch auffaßt, d. h. die das gesamte Werk auf eine andere als die literale Bedeutungsebene transponiert und als ganzes moralisch interpretiert. Außerdem muß man noch allegorische Interpretationen einzelner Verse, vor allem des sechsten Buches, unterscheiden, die vornehmlich neuplatonisch geprägt sind (von Bedeutung ist hier zentral der Kommentar des Macrobius zum Somnium Scipionis; außerdem gehören in diese Tradition, d. h. in die Tradition, die das sechste Buch der Aeneis als Beleg und Textbasis für eine neuplatonisch konzipierte Anagogie und Theorie der Vollendung der menschlichen Seele heranzieht, Martianus Capella, Lactanz, Petrus Venerabilis, Ambrosius, Augustinus, Paulinus von Nola u. a.). In allen hier genannten Typen muß man schließlich grundsätzlich zwei verschiedene philosophische Hintergründe unterscheiden: zum einen eine stoisch geprägte Allegorese, die primär kosmologisch ist; und eine (neu)platonische Allegorese, die primär anagogisch-didaktisch ist. Wenn Marion Lausberg für eine Berücksichtigung der Möglichkeit moralischer Auslegungen plädiert (Iliadisches im ersten Buch der Aeneis, in: Gymnasium 90, 1983, 203-239), dann ist aber an eine «symbolische» Umformung dieser Auslegungen gedacht, oder anders ausgedrückt: die Moralität soll eine subjektiv-sympathetisch-sentimentalische (usw.) sein; 228 f.: «so hat er [= Vergil] durch sein menschliches Mitgefühl die starre Schwarzweißmalerei der Moralisten wesentlich differenziert sowie den Grundgedanken von der Überwindung der Leidenschaften, Versuchungen und Gefahren durch Vernunft, Weisheit und Tugend auf den Bereich des Geschichtlichen ausgedehnt und römisch umgeformt. Vergils furorBegriff umfaßt mehr als die Leidenschaften der Homerexegese, und vor allem steht ihm auf der positiven Seite nicht die griechische Vernunft, sondern die römische Pietas gegenüber, ...» Lausberg geht also 1.
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Man muß hier aber freilich differenzieren und unterscheiden zwischen der Frage, ob diese Kommentare eine adäquate Interpretation der Aeneis bieten oder bieten wollen, und der Frage, welchen philosophischen Erkenntniswert sie in sich haben; und ebenso klar ist, daß mit der negativen Beantwortung der ersten Frage noch lange kein Urteil abgegeben worden sein kann über die Tradition mittelalterlicher Allegorese überhaupt, d. h. christlicher Bibelallegorese und ursprünglich paganer Dichtungsallegorese insgesamt 25. Unbestreitbar Recht aber hat die moderne Vergilforschung, wenn sie diese Allegoresen nicht als diskutable Deutungen der Aeneis Vergils betrachtet. Denn außer, daß sie die erzählte Handlung ohne hinreichenden Anlaß im Vergilischen Text auf eine andere Ebene transferieren und als kontinuierliche Kette von Metaphern für seelische Phänomene und als Material für die Entfaltung einer bestimmten Psychologie und Morallehre behandeln, blenden sie alle die Aspekte an der Dichtung Vergils aus, die deren Eigentümlichkeit im Vergleich mit Homer ausmachen: die historische Dimension, außerdem die sprachliche Form der Dichtung (Wortwahl, Versbau usw.) und vor allem den eben schon beschriebenen besonderen Modus der Erzählung, in der nicht äußere Handlung, sondern inneres Erleben geschildert wird. Man liest nichts über Erzählperspektiven oder Stimmungen, über sprachliche Aspekte, die der Dichtung ihren emphatischen Charakter geben (usw.), sondern die Deutungen sind ausdrücklich (und das heißt aber auch: in einer nicht unkritischen Weise) objektiv, auf eine Sache, auf eine bestimmte Lehre hin ausgerichtet. Das bedeutet: in ihnen wird die Aeneis nicht als dieses besondere einzelne Kunstwerk, und nicht als diese besondere Leistung Vergils als Ergebnis seiner imitatio und aemulatio Homers gewürdigt. Zu einer solchen Würdigung kommt man erst dann, wenn man ihre Ergebnisse sozusagen ins Subjektive übersetzt. Genau das hat man in der modernen Vergilphilologie de facto (wenn auch nicht immer bewußt intendiert) getan. Die einzelnen Elemente der antikmittelalterlichen ‹objektiven› Allegorese werden als Aspekte einer Reflexion auf subjektivinnerliche Zustände und Befindlichkeiten vorgestellt, an die Stelle der psychologisch moralischen Allegorese tritt eine assoziative Schau oder Phänomenologie von Bewußtseinszuständen, subjektiven Erlebnissen und sentimentalischen Empfindungen 26.
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ausschließlich von der hellenistischen, stoischen moralischen Allegorese aus und setzt 2. den stoischen Vernunft- (und Affekt-)Begriff mit «dem» griechischen gleich. Die römische Umformung, von der sie spricht, enthält dabei 3. gerade die Momente, die die moderne historisch-kritische und symbolische Vergildeutung als die Charakteristika der Aeneis ermittelt hat: die Offenheit, Vielschichtigkeit und die historische Dimension. Interessant wird dieser zweite Aspekt natürlich vor allem, wenn man die Verbindung der Vergilallegorese mit der allegorischen Deutung der Commedia Dantes in der Dante-Kommentierung etwa durch Cristoforo Landino in den Blick nimmt: offenbar behält die auf Vergil angewandte Methode auch unabhängig von dem Material, auf das sie angewendet wird, einen Wert, der in der Rezeption für andere Texte auch wieder für eine philologisch angemessene Interpretation nutzbar gemacht werden kann. Heinze, 308 f.: «Denken wir hier die göttliche Einwirkung fort, so ergibt sich das natürliche Substrat ganz von selbst: statt des als Person gedachten von außen herantretenden göttlichen lo¬gow hat man nur den in der Brust jedes Menschen wohnenden göttlichen lo¬gow als die erinnernde Macht einzusetzen, und es ist ein sehr feines Motiv, daß gerade beim Anblick der erstehenden Burg Karthagos plötzlich mit unwiderstehlicher Gewalt den Helden die Erinnerung an die Stadt überfällt, die ihm vom Schicksal bestimmt war zu gründen. Es gibt kaum eine bessere Parallele zu dieser Szene als die Homerische in A, wo Athene plötzlich zu Achill tretend den wilden Ausbruch seines Zornes hemmt, d. h. der Held sich zu rechter Zeit noch auf sich selbst besinnt: hier wurde zu Virgils Zeit die Göttin als logismo¬w gedeutet.» (mit Verweis auf die antike Homererklärung: Plut. quom adol. 26e u. a.). Und vgl. auch Tilman SchmidtNeuerburg, Vergils Aeneis und die antike Homerexegese. Untersuchungen zum Einfluß ethischer und kritischer Homerrezeption auf imitatio und aemulatio Vergils, Berlin/New York 1999, 124: «Deutet man
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Die Überwindung der antik-mittelalterlichen Allegorese in den modernen symbolischen Interpretationen besteht demnach darin, daß man die ‹Wende des Denkens auf sich selbst›, die Vergil gegenüber dem Homerischen Epos vollziehen will bzw. in welcher Vergil die Konsequenzen aus den Umdeutungen Homers in der alexandrinischen Homerphilologie in die Dichtungspraxis umsetzt, nachvollzieht: Nichts anderes ist der weit gefaßte Symbolbegriff, den Pöschl - und mit ihm schließlich der Großteil der Vergilforschungen des letzten Jahrhunderts 27 - verwendet. Darauf, daß diese Wende zwar, wie ich noch zeigen werde, die Eigentümlichkeit der Vergilischen Dichtung erfassen und deshalb den Anspruch erheben kann, eine adäquate Vergildeutung zu sein, daß sie dabei aber ein durch die hellenistische ebenso wie durch die neuzeitliche Ästhetik wirkungsgeschichtlich nicht unerheblich belastetes Homerverständnis mittransportiert, möchte ich an dieser Stelle zumindest hinweisen 28. Mithilfe des Symbolbegriffs und der Einsicht, daß das, was hier stattfindet, eine ‹kopernikanische Wende›, eine Überwindung naiver antik-mittelalterlicher Anschaulichkeit und begrifflicher Spekulation ist, kann man auch eine Merkwürdigkeit, die sich oben bei der Beschreibung des Verhältnisses von Pöschl zu Heinze ergeben hat, erklären: Denn man muß sich wundern, wie Pöschl Heinze zu den grundsätzlich verfehlten rationalistischen Deutungen hinzuzählen kann, obwohl es Heinze gewesen ist, der mit der Entdeckung der Dimension der Innerlichkeit und Subjektivität, auf deren Vernachlässigung der Vorwurf des Rationalismus (gegen die antiken Allegoresen) beruht, die moderne Vergilforschung begründet hat. - Und die Verwunderung darüber wird noch größer, wenn man den Blick auf die weitere Forschungsgeschichte richtet und sieht, wie gegen Pöschl von der sog. Harvard Schule der Sache nach genau der gleiche Rationalismusvorwurf erhoben wird: Er habe die Tiefendimensionen der Vergilischen Dichtung nicht hinreichend ausgelotet, seine Ergebnisse seien zu eindeutig, zu glatt, zu abstrakt. Der Gedanke liegt nahe, daß der erste Eindruck, zwischen diesen verschiedenen modernen Deutungsansätzen gebe es wesentliche Gegensätze, die objektiven Relationen nicht adäquat beschreibt, sondern daß das Kriterium und der Skopos bei der Überwindung der Vorgänger immer der gleiche ist: nämlich eine bestimmte Dichtungsauffassung, die das Dichterische mit dem eben skizzierten offenen Symbolbegriff identifiziert und alles, was diesem zuwiderläuft, als eine Entfremdung und Überformung der Kunst beargwöhnt und zurückweist.
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diese Intervention Mercurs ‹allegorisch›. so scheint dieser von der antiken Homerexegese in der Ilias ausgemachte Gegensatz zwischen dem verantwortungsbewußten Handeln Hektors, das ihm verbot, im Gemach Andromaches zu verweilen, und in den Kampf rief, und der tryfh¬ des Paris, der der Versuchung zum Wohlleben erlegen ist, in der Situation des 4. Aeneisbuches gleichsam in das Innere des trojanischen Helden verlegt. Vor dem Hintergrund dieser Szene des 6. Iliasbuches und ihrer Auslegung in der moralisierenden Homerexegese ist die Intervention des Logos gewissermaßen - und hierin liegt ein spezifisches Element der Weltdeutung Vergils, das ihn über die Homerexegese hinausführt - zu einer der pietas geworden, indem Mercur Aeneas wie Hektor den Paris an seine Pflicht gegenüber seinen Mitmenschen wie dem fatum erinnert.» Z. B. auch die strukturalistischen Ansätze: s. Charles Segal, The Song of Iopas in the Aeneid, in: Hermes 99, 1971, 336-349 u. a. Davon zeugt schon der eben in Anm. 26 zitierte Verweis auf die Szene im A der Ilias in der Deutung, wie man sie exemplarisch etwa bei Bruno Snell findet. Dazu: Arbogast Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer, Stuttgart 1990, 76-81 u. Teil A passim.
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Ich möchte im folgenden die Präsenz dieses Dichtungskonzepts in der modernen Vergilforschung nachweisen, indem ich zunächst noch einmal die Arbeit Heinzes mit Pöschls Ansatz vergleiche und als Ergänzung dazu aus der neueren Forschung die Kritik der Harvard Schule an Pöschl referiere 29.
Das Gleiche im Verschiedenen - Die Gemeinsamkeiten der Deutungsprämissen in der modernen Aeneisphilologie Pöschls Buch «Virgils Dichtkunst: Bild und Symbol in der Äneis» von 1950 war tatsächlich gerade aus diesem Grund epochemachend: Er hat die Methode der symbolischen Deutung in die Aeneisforschung eingeführt und als dominierende Interpretationsmethode etabliert. Zwar hatte auch Heinze in seiner Darstellung des subjektiven (sentimentalischen) Stils Vergils schon von symbolischen Elementen gesprochen; bei Pöschl wird aber der Begriff des Symbols zu dem zentralen Interpretationsinstrument. Die Aeneis wird insgesamt in allen ihren für sie spezifischen Aspekten, d. h. überall dort, wo Vergil von Homer abweicht bzw. in der Hinsicht, in der Vergil Homer durchgängig umformt und etwas Neues erschafft, als ein symbolisches Kunstwerk gedeutet. Sie ist als ganze ein «Gleichnis», nämlich eine «Deutung der römischen Geschichte und ein Sinnbild des menschlichen Lebens» (Pöschl, 5). Unter dem durchgängigen Symbolgehalt der Aeneis versteht Pöschl, wie er selbst sagt, eine universale Durchseelung der poetischen Wirklichkeit, die Vergil erschaffen und mit der er sich von der Anschaulichkeit und Plastizität Homers verabschiedet habe. An die Stelle der anschaubaren Objektivität tritt die nur noch fühlbare (ahnbare, atmosphärisch empfindbare) Subjektivität 30. Genau diese universelle Innerlichkeit der Dichtung ist das, was Pöschl 29
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Mit großer Sachkompetenz und mit allen hinreichenden Belegen wird der Gegensatz zwischen der in der deutschen Philologie verbreiteten ‹positiven› Aeneisdeutung und der ideologiekritischen, pessimistischen Interpretation der sog. Harvard-Schule bzw. der anglophonen Philologie ingesamt von E. A. Schmidt dargestellt (The Meaning of Vergil’s Aeneid: American and German Approaches, in: Classical World 94, 2001, 145-171 und s. auch ders., Vergils Aeneis als Augusteische Dichtung, in: J. Rüpke (Hg.), Von Göttern und Menschen erzählen. Formkonstanzen und Funktionswandel moderner Epik, Stuttgart 2001, 65-92, bes. 80-90; s. dort auch weiterführende Literatur). Schmidt sucht aber anders als der vorliegende Beitrag nicht nach einer gemeinsamen argumentativen Basis oder gemeinsamen wirkungsgeschichtlichen Prämissen dieser beiden oppositionellen Interpretationsrichtungen, sondern richtet seinen Blick in eine andere Richtung und fragt nach einer Möglichkeit der Vermittlung zwischen beiden Positionen, die, wie Schmidt überzeugend nachweist, aufgrund ihrer Beschränkung auf bestimmte Aspekte, die die Aeneis hat, je für sich kein vollständiges Bild von der Vielschichtigkeit und dem Perspektivenreichtum der Vergilischen Dichtung entwerfen können. Schmidts eigener Vorschlag besteht darin, daß er besteitet, man könne oder dürfe Vergil eine eindeutige ideologische Parteinahme unterstellen, vielmehr sei seine Dichtung bestimmt von der Haltung ‹epischer Objektivität›, d. h. seine Dichtung sei keine «desinteressierte Neutralität», sondern: «Sie ist betroffenes Fragen, grübelndes Analysieren der Welt in poetischen Bildern und Handlungen, mit tiefstem leidenden Engagement. (...) Die Aeneis ist nicht dazu da, uns beim Ja oder beim Nein zum römischem Imperium und zu Augustus zu beruhigen. Sie ist auch nicht in der Weise offen, daß es uns freistünde, die pro-augusteische oder auch die anti-augusteische Lesung jeweils für uns als die richtige zu erklären. Sie ist diese große Frage selbst: Schrecken des Bürgerkrieges und Bewunderung für die Friedensherrschaft des Augustus, Faszination durch die Zivilisationsleistung von Staat und Weltreich und Betroffensein durch menschliche Opfer in Tod und Schuld. (...) Die Aeneis ist zugleich die tiefste Darstellung der Romidee und ihre tiefste Problematisierung.» (ebenda, 86). Pöschl, 8: «Die Plastizität [sc. bei Homer] (...) ist einem Lyrismus gewichen, der für die abendländische Dichtung seitdem kennzeichnend ist. Auch das, was Homer naiv anschaut, wird vom ihm erfühlt und beseelt. Was dort wörtlich gemeint war, wird für die symbolische Deutung geöffnet.»
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mit dem Begriff des Symbols meint: «Alles nimmt teil an einem inneren Geschehen, alles wird zum Reflex der vom Dichter mitempfundenen Regungen der auftretenden Gestalten und seines mitfühlenden Wissens um das Schicksalhafte der Begebenheiten. Alles wird Zeichen der Seele.» (Pöschl, 8) «Alles wird Zeichen der Seele» - die Aeneis ist symbolisch, weil Vergil durch seine subjektive Darstellungsweise alles äußere Geschehen in einen potentiell unendlichen Verweisungszusammenhang verwandelt, in dem alles mit allem subjektiv verbunden und alles in allem subjektiv wiedergefunden werden kann. Pöschl entfernt sich dem Inhalt nach also nicht wirklich von Heinze 31; aber er benennt die von Heinze (in der Nachfolge Schillers) beschriebene sentimentalische Dichtung anders und setzt damit einen anderen Akzent. Er betont nämlich die grundsätzliche Unabgeschlossenheit und Offenheit innerhalb des Kunstwerkes und damit verbunden die grundsätzliche Abgeschlossenheit des Kunstwerkes von der äußeren Welt: Alles an der Dichtung Vergils sei innerlich und in sich beseelt, d. i. assoziativ, und es gebe keinen direkten Bezug auf etwas, das außerhalb dieses dichterischen, seelischen, lyrischen Raumes liegt 32. In diesen beiden Aspekten muß man auch den Ursprung des Rationalismusvorwurfs gegen die Forschung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausmachen: Nur die Absolutsetzung des Gefühls und der Ausschluß der Möglichkeit, sich innerhalb des dichterischen Raumes nach den Gesetzen der Ratio (das heißt für Pöschl vor allem: nach dem Satz vom zureichenden Grund) zu bewegen, kann unter diesen theoretischen Vorgaben den Kunstcharakter eines Werkes sichern; denn erstens erlaube nur das Gefühl ein unendliches, uneindeutiges, offenes, assoziatives Gefüge von Relationen und garantiere also die konkrete Lebendigkeit der dichterischen Sprache, und zweitens könne die Autonomie der Dichtung und des Gefühls nur durch den Ausschluß der äußeren Welt gewahrt werden, weil das Geschehen in dieser Welt nach den Gesetzen der Ratio als ein eindeutig bestimmbarer Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen strukturiert und determiniert sei und keinen Raum lasse für die subjektive Freiheit des Individuums. Analog verhält es sich auch mit den Einwänden, die die Harvard Schule gegen Pöschls Symbolismus vorbringt und die man besonders deutlich erkennen kann, wenn man die Weiterentwicklung der sog. Two-Voices-Lehre zur Further- oder Several- Voices- Lehre in den Blick nimmt: Der amerikanische Philologe Adam Parry veröffentlichte 1963 einen Aufsatz mit dem Titel «The Two Voices of Vergil’s Aeneid» 33, mit dem er regelrecht eine eigene Schule der Aeneisinterpretation, nämlich die sog. Harvard Schule oder eben auch
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E. A. Schmidt, Rudolf Borchards Vergilfeier, 115: Pöschls Vergildeutung lasse sich gleichsam als «Synthese von Heinze und Borchard» lesen. Ebenda, 120 betont Schmidt auch die Bedeutung des Symbols bzw. der symbolischen Interpretation für diese Deutungstradition. Genau diese beiden Merkmale werden auch von den Vertretern der Two-Voices-Lehre für wirklich symbolische Dichtung und für die Vergilische Dichtung als Charakteristika angeführt: z. B.: Kenneth Quinn, Virgil’s Aeneid, London 1968, 55: «Symbolism, unlike allegory, depends on a lack of precise identification, on a refusal of the fairy-tale to be reduced to a retelling of reality with only the names changed. Symbolism differs from allegory in two other important respects. First, the symbolic fairy-tale exists in its own right. It is independent of its symbolic meaning. The tale does not fall apart, of lapse into vapid obscurity, because the correlations of the characters and situations in the tale with characters and situations in reality have not been grasped by the reader. Second, the correlations are never simple or mechanical.» [mit Verweis auf Pöschl!] Adam Parry, The Two Voices of Virgil’s Aeneid, in: Arion II.4, 1963, 66-80.
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Two-Voices-Lehre begründete 34. In seinem Artikel will Parry zeigen, daß man in der Aeneis zwei verschiedene Stimmen, mit denen Vergil spreche oder den Erzähler sprechen lasse, unterscheiden müsse: eine offizielle Stimme, seine public voice, die das Lob des Augustus singe, und eine private Stimme, die Augustus-kritisch und sensibel für die Leiden, die durch Krieg und Eroberung verursacht werden, also sozusagen für die Verlustbilanz der Geschichte der Gründung Roms, sei. Parry klagt, gestützt vor allem auf Passagen aus der zweiten Hälfte der Aeneis - das Paradebeispiel ist bekanntlich der Schluß der Aeneis, der Furor, in dem Aeneas den schon besiegten (Aen. XII, 930-938 vgl. VI, 853 parcere subiectis) Turnus tötet -, gegen Pöschl und die (jetzt) traditionelle Lesart der Aeneis ein, man dürfe die Aeneis nicht eindimensional lesen, sondern müsse auch auf die Untertöne horchen und eine verborgene Sinnebene dessen, was Vergil sagt, durch eine Analyse der Art und Weise, wie er es sagt, erschließen. Dann nämlich ergebe sich, daß sich der Eindruck, die Aeneis sei reine Augustus-Propaganda, als oberflächlich und falsch erweist 35; die Aeneis enthalte nicht nur einige wenige kritische Untertöne, sondern diese prägten als Subschicht des ganzen Epos vielmehr die Atmosphäre insgesamt und überlagerten die offizielle positive Geschichtssicht bei weitem. Am Anfang der Entwicklung der Position der Harvard Schule ist diese also noch unmittelbar auf die Frage nach der Haltung Vergils gegenüber Augustus bezogen. In ihrer weiteren Entwicklung wird aber die politische Bindung zunehmend aufgegeben und der kunsttheoretische Kern dieser Lehre wird sichtbar: Man unterscheidet dann nämlich nicht mehr nur 34
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Außer Parry vertreten durch Robert A. Brooks, Michael C. J. Putnam (The Poetry of the Aeneid, Cambridge (Mass.) 1965; ders., Virgil’s Aeneid: Interpretation and Influence, Chapel Hill 1995; ders., Virgil’s Epic Designs: Ekphrasis in the Aeneid, New Haven, CT [u. a.] 1998), Robert D. Williams, Wendell Clausen (Virgil’s Aeneid and the Tradition of Hellenistic Poetry, Berkeley 1987), Kenneth Quinn (Virgil’s Aeneid. A Critical Description, Ann Arbor 1968), R. M. O. A. Lyne (Further Voices in Vergil’s Aeneid, Oxford 1987) u. a. Diese Schule richtete sich explizit gegen Pöschl und diejenigen Forscher, die seinem Ansatz folgten oder mit ihm (seine Thesen schon vorwegnehmend) übereinstimmten: zu diesen gehören Friedrich Klinger (Virgil: Bucolica, Georgica, Aeneis, Zürich/Stuttgart 1967; ders., Virgil. Wiederentdeckung eines Dichters (1942); in: Römische Geisteswelt, München 51966), Karl Büchner (P. Vergilius Maro, RE VIII, 1021-1486, 1955-1958 (Sonderdruck: P. Vergilius Maro. Der Dichter der Römer, 1960)), Gerhard Binder, Vincent Buchheit (Vergil über die Sendung Roms, Heidelberg 1963), aber auch, wenn gleich diese Schulrichtung vor allem in der Klassischen Philologie in Deutschland Bedeutung hatte, anglophone Gelehrte wie z. B. Brook Otis. (Antonie Wlosok gehört als direkte Schülerin Pöschls ebenfalls zu dieser Deutungsrichtung: Obwohl sie sich auch kritisch zu der «allzu dichterischen» symbolischen Methode und deren «verhängnisvoller Geltung» äußert, steht ihre Interpretation doch unter den methodischen Vorgaben Pöschls und dem Leitfaden des Versuches, den symbolischen Bedeutungsgehalt der Vergilischen Dichtung zu erschließen: das gilt für ihre Venus-Monographie ebenso wie für ihre späteren und neuesten Forschungen zur göttlichen Dimension der Aeneis und ihren allegorischen Rezeptionsarten. S. die Sammlung ihrer Kleinen Schriften: Res humanae - Res divinae. Wlosok plädiert z. B. dafür, daß man die internen Bezüge in der Aeneis «mit Hilfe des Begriffs «typologisch» sehr viel treffender erfassen ‹könne› als mit dem Begriff des Symbolischen.» (Vergil in der neueren Forschung, in: Gymnasium 80, 1973, 129-151, hier: 140). Der Begriff des Symbolischen steht aber mit dem Begriff ‹typologisch› nicht auf einer Ebene, sondern begreift diesen - im Sinne Pöschls bzw. in dem Sinn, in dem er in der GoetheZeit entwickelt oder zu Ende gedacht wurde - unter sich als eine Art.) Für diese Einsicht mußte man allerdings nicht auf Adam Parry warten: Walter Wimmel hatte nämlich schon 1960 eine breit angelegte Studie über das Motiv der recusatio in der augusteischen Dichtung vorgelegt («Kallimachos in Rom» Stuttgart 1960), in der die Grundlage dafür gelegt wurde, auch in Vergils Streben nach einer gattungsinternen Verwandlung des Großepos in eine Kleinform seine kritische Distanz zur offiziellen Propaganda auszumachen (vgl. auch ders., Hirtenkrieg und arkadisches Rom. Reduktionsmedien in Vergils Aeneis, München 1973).
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zwischen der offiziellen Stimme und der privaten Stimme - «the public voice of triumph and a private voice of regret» (Parry) -, sondern die Aeneis konstituiere sich aus einer Vielzahl von verschiedenen Bedeutungsebenen: Vergil spreche mit vielen Stimmen, er nehme empathetisch verschiedene Perspektiven ein und bilde auf diese Weise ein unendliches Beziehungsgeflecht von Assoziationen und Stimmungen aus, das sich nicht mehr eindeutig auf ein Ergebnis festlegen lasse 36. In Anbetracht dieses sentimentalischen, plural-assoziativen Wesens der Vergilischen Dichtung sei die Deutung Pöschls, so die Kritik, zu einseitig, zu eindimensional geblieben, sei zu wenig auf die Tiefendimensionen, auf die Vielschichtigkeit des Kunstwerkes bedacht gewesen, sie sei also, mit einem Wort: nicht ingeniös genug an die Interpretation des Textes herangegangen, sondern sei noch zu rationalistisch geblieben, habe eine zu technische, vordergründige, eine zu offizielle Lesart der Aeneis vorgelegt. Und dennoch: der Impetus dieser neuen Theorie ist - ganz ähnlich wie bei Pöschl -, alle Versuche abzuwehren, die der Aeneis eine einfache, rational stimmige, eindeutige Bedeutung beilegen wollen, und stattdessen die wesentliche Offenheit des Kunstwerks, seine auf der Vielheit der Perspektiven und dem Empathetischen beruhende vielschichtige Subjektivität 37 hervorzuheben. Die andere Beurteilung der Stimmung ist wiederum nur eine graduelle Differenz. Auch Pöschl (und Büchner, Otis usw.) behaupten nicht, die Stimmung der Aeneis sei einhellig heiter (laetus), sondern auch bei ihnen enthält der Seelenraum der Aeneis ein vielstimmiges und disharmonisches Konzert von Empfindungen. Daß aber die Harvard Schule solchen Wert auf die melancholische Grundstimmung 38, auf den Pessimismus oder Kriegs- und Geschichtsfatalismus legt, hat außer den immer wieder herangezogenen historischen Gründen (Rückkehr der Veteranen aus dem Vietnamkrieg, die Friedensbewegung der 60er und 70er Jahre usw.) auch ästhetische Gründe: daß sich nämlich eine durch Empathie und Erweckung von Sympathie psychagogische Dichtung je nach Gegenstand der Erzählung in unterschiedlich manifester Weise ausdrücken kann. Ich komme darauf gleich noch einmal zurück. Wichtig ist es zunächst aber festzuhalten, daß die Anhänger Parrys mit der Pöschl-Fraktion durch gemeinsame kunsttheoretische Prämissen verbunden sind. Diese Kunsttheorie führt einen Kampf gegen eine Dichtungsauffassung, die Dichtung am Maßstab des Satzes vom Grund mißt, die sie also den Gesetzen einer so verstandenen Rationalität unterwerfen will: ein Maß, gegen das sich Vergil in seiner Aeneis
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Tatsächlich ist es eine notwendige Konsequenz empathetischer Dichtung, daß sie dem Zuhörer keine absolute ‹objektive› Lehre vermittelt: der Zuhörer wird, anders als in der Aristotelischen Tragödientheorie, dazu aufgefordert, sich unmittelbar und ohne jede, und wenn auch nur partielle Distanz mit den handelnden Personen zu identifizieren: er soll nicht unterscheiden zwischen einer Gleichheit, die ihn selbst mit diesen verbindet, und der Verschiedenheit, die ihn von ihnen trennt. Eine Bewertung und ein Abwägen der verschiedenen Standpunkte wird damit nicht nur nicht nahegelegt, sondern verstieße gegen die explizite Intention, weil dadurch das unmittelbar emotive Moment der Dichtung geschwächt werden müßte. S. dazu Verf., Tragik und Metatragik. Euripides’ Bakchen und die moderne Literaturwissenschaft [erscheint Berlin 2003], bes. 203-213. Das Moment der Subjektivierung der Dichtung gegenüber den griechischen Vorbildern bleibt in allen Interpretationen zur Aeneis und überhaupt zur römischen Dichtung eine der zentralen Deutungskategorien: s. z. B. Brooks Otis, The Uniqueness of Latin Literature, in: Arion 6, 1967, 185 ff. und ders., Virgilian Narrative in the Light of His Precursors and Successors, in: Studies in Philology 73, 1976, 1 ff. Wendell Clausen, An Interpretation of the Aeneid, in: HSCPh 68, 1964, 139-147 (wieder abgedruckt in: S. Commager (Hg.), Virgil: A Collection of Critical Essays, Englewood Cliffs (NY) 1966, dort bes. 81, 82, 86: die Stimmung sei »profoundly melancholy, half-paralysed by fate»).
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- wie schon Heinze, aber auch noch einmal Pöschl und neuere und neueste Deutungen aller Schulrichtungen nachweisen konnten - sträubt, an dem er ebenso wenig gemessen werden will oder kann wie an dem Maß der «epischen Objektivität» 39.
Erzählerkommentare bei Vergil und Homer Es ist in der Forschung schon oft und an vielen Beispielen gezeigt worden, wie die Erzähltechnik Vergils der Aeneis ihre besondere subjektive Färbung gibt: Das geschieht durch die Verwendung von mit Interjektionen verbundenen Apostrophen (ecce z. B. Aen. 10, 133. 219. 322. 570 40 ) und pathetischen Ausrufen in Parenthese (mirabile visu, horrendum dictu usw. z. B. 1, 111. 439; 4, 182. 454; 7, 73; 8, 688 usw.), dadurch, daß der Erzähler die Perspektive der handelnden oder in einer Entscheidungssituation stehenden Personen einnimmt («quid faciat» 9, 67 f., 399 ff.; «heu quid agat? quo nunc reginam ambire furentem / audeat adfatu? quae prima exordia sumat?» 4, 283 f.) und sich selbst an deren Stelle fragt, was jetzt («nunc») zu tun ist; dadurch, daß er Sympathie und Trauer bekundet («o dolor o decus magnum rediture parenti» 10, 507 (zu Pallas’ Tod)); außerdem durch sprachliche und prosodische Techniken: durch Tempuswechsel ins Präsens, Häufung von Enjambements (z. B. bei der Schilderung des Todes des Euryalus und Nisus: 9, 431-445), und weitere Elemente typisch (rhetorisch-)affektischer Sprache 41. Gewöhnlich beweist man die These, daß Vergil in dieser suggestiven Erzählweise, in der der Erzähler das Erzählte kommentiert und dem Leser eine bestimmte Bewertung nahelegt, von Homer abweicht, indem man eine quantitative Abwägung vornimmt 42: bei Homer fänden sich auktoriale Elemente wie Apostrophen, Beurteilungen einer Handlung durch den Erzähler, Parenthesen (wie mirabile visu = uay˜ ma iœde¬suai usw.) zwar auch, aber eben sehr viel seltener und vereinzelter als bei Vergil. Mir scheint der Unterschied zu Homer damit aber nicht hinreichend bestimmt zu sein, wie ich in einem kurzen Blick auf zwei parallele Situationen bei Homer und Vergil zeigen 39
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Daß diese Auffassung, das spezifisch Vergilische sei die subjektive Darstellungsweise und er unterscheide sich darin wesentlich von der (angeblichen) Objektivität des Homerischen Epos, heute die Communis opinio ist, zeigt auch die Zusammenfassung dieser Position von Bernd Effe (Epische Objektivität und auktoriales Erzählen. Zur Entfaltung emotionaler Subjektivität in Vergils Aeneis, in: Gymnasium 90, 1983, 171-186), der aufgrund dieses Unterschiedes eine Gattungsentwicklung des Epos in der Antike (re)konstruiert. Servius weist in seiner Kommentierung zu Aen.4, 152 auf die psychagogische Funktion dieser Anrede hin: «et bene hac particula utitur; facit enim nos intentos ut quae dicuntur putemus videre». S. zur affektischen Sprache: Johann B. Hofmann, Lateinische Umgangssprache, Heidelberg 31951, pass. und bes. 58 ff. Bernd Effe, Epische Objektivität und auktoriales Erzählen, 177: Bei Homer fänden sich solche Subjektivismen «nur ganz vereinzelt», «die Emotionalität des Erzählers» werde nur «sehr leise» «sichtbar». Das wertet Effe als «verhaltene Ansätze» für etwas, das dann von den römischen Epikern ausgearbeitet worden sei. Wenn sich aber zeigen läßt, daß die Kommentierung des Geschehens durch Homer von ganz anderer Art ist als bei Vergil, dann ist dies auch eine Widerlegung der These, bei Homer finde sich etwas, das später konstitutiv wird für die Gattung, nur erst in einer mangelhaften, nicht hinreichend ausgearbeiteten Form. Homer ist dann keine Vorform des Vergilischen Epos, sondern er verwirklicht eine andere Art von Subjektivität des Erzählers und eine andere Erzählstrategie, die ihren eigenen Wert hat. S. zur Darstellung von Innerlichkeit bei Homer Arbogast Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer.
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möchte: Ich meine (1.) die Art und Weise, wie der Erzähler bei Homer seine Anteilnahme an dem Tod des Patroklos zum Ausdruck bringt, in der Gegenüberstellung mit dem Verhalten des Erzählers bei der Schilderung des Todes des Nisus und Euryalus im 9. Buch der Aeneis 43; und (2.) die Kommentierung des Raubes des Waffengürtels des Pallas durch Turnus im 10. Buch der Aeneis im Vergleich mit dem Kommentar zu der Szene aus dem 17. Buch der Ilias, in der Hektor die Rüstung Achills anlegt. Ich nenne nur jeweils ein oder zwei Stichpunkte: Zur ersten Szene: der Tod des Patroklos im Vergleich mit der Nisus und Euryalus-Szene (1.): Beachten müßte man stärker, als das bisher geschehen ist, die unterschiedliche Funktion, die diese Episoden bei Homer und bei Vergil haben: Bei Homer ist der Tod des Patroklos und das subjektiv verantwortete Handeln des Patroklos für den Plot, für die sy¬stasiw tv˜ n pragma¬tvn der Ilias, ein unverzichtbarer Teil, ohne den die gesamte Handlungsanlage ins Wanken geriete 44, denn der Tod des Patroklos ist ja der Anlaß für Achill, seinen Zorn zu überwinden und wieder an den Kämpfen teilzunehmen 45, also der Anlaß für die Lysis des Mythos (im Sinn der Poetik des Aristoteles) von dem Zorn des Achill. Die breit geschilderte Episode von den beiden ‹blühenden Jünglingen› Nisus und Euryalus hingegen hat eine solche konkrete Funktion nicht. Sie ist kein unverzichtbarer Bestandteil einer bestimmten sy¬stasiw tv˜ n pragma¬tvn, sondern hat ihre gleichwohl bei Vergil zentrale Funktion in etwas anderem: nämlich in einer allgemeinen Emotionalisierung und als Zeichen für die zunehmende Eigendynamik des furor belli. 46 Bei Vergil kommt die Einheit 43
44 45
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Meine Fragestellung ist hier nicht, welche motivischen oder strukturellen Ähnlichkeiten sich zu der Nisus-Euryalus-Szene bei Homer finden lassen (was jetzt Tilman Schmidt-Neuerburg, «Vergils Aeneis und die antike Homerexegese» ausführlich erörtert); sondern ich möchte eine funktionale Gegenüberstellung vornehmen, ausgehend von der Gemeinsamkeit, daß in den beiden Szenen der Erzähler die Episoden durch einen auktorialen Kommentar hervorhebt und ihnen besonderes Gewicht verleiht. Hieran kann man zugleich die Grenzen von derartigen strukturellen und motivischen Untersuchungen, die nicht auf das ‹ergon› einer Erzählung (usw.) blicken, erkennen. Natürlich kann man auch zwischen der Dolonie und der Nisus-Euryalus-Szene eine «Steigerung ihres Ethos und Pathos» (ebenda, 26; und vgl. dazu auch Karl W. Gransden, Virgil’s Iliad, Cambridge 1984, 102 ff.) feststellen; doch man gewinnt dadurch nicht in gleicher Weise wie bei der hier gewählten Methode ein Ergebnis über die Stellung und Funktion der beiden betrachteten Stellen im Gesamtwerk, d. h. insofern sie Teile (im Aristotelischen Sinn) des ganzen Epos sind. Bei Schmidt-Neuerburg werden zudem die eigenen begrifflichen Prämissen nicht hinreichend reflektiert: er legt nämlich ein bestimmtes Verständnis dessen, wann etwas und wie etwas moralische Bedeutung hat, zugrunde, die von den alexandrinischen Scholien und Vergil erfüllt wird, von Homer aber nicht; und berücksichtigt nicht die Möglichkeit, daß bei Homer das Moralische in anderer Weise sehr wohl enthalten und bestimmend sein könnte, und daß man demzufolge nicht von einer Moralisierung Homers sprechen sollte, sondern eher von einer (hellenistischen) Modifizierung dessen, was unter Moral verstanden wird. Arist.Po.1451a32-35. Aus dieser herausragenden Bedeutung der Figur des Patroklos erklärt sich die zweimalige Apostrophe an ihn: Il. 16, 20; 16, 692 f. George E. Duckworth (The Significance of Nisus and Euryalus for Aeneid IX-XII, in: AJPh 88, 1967, 129-150) betrachtet in einem Aufsatz die Nisus-Euryalus-Szene in ihrer Funktion im Gesamtaufbau der Aeneis und kommt zu dem Schluß, daß diese Szene wesentlich zu dem, was er die ‹Turnus-Tragödie› der Bücher IX-XII nennt, gehört: Sie enthalte alle oder eine Reihe der Momente, die in der Charakterisierung des Turnus und für sein ‹tragisches› Scheitern zentrale Bedeutung haben. Nach seiner Interpretation ist diese Episode vor allem eine psychologische Analyse (z. B. 136) der subjektiven Fehlhandlungen, die zum Untergang der beiden Freunde führen. Unbestreitbar Recht hat Duckworth mit seiner These, daß die Nisus-Euryalus-Szene motivisch unmittelbar die Haupthandlung der letzten Bücher, die Niederlage des Turnus, vorbereitet. Sie ist aber deswegen noch nicht - und dieser Aspekt scheint mir der zentrale
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der Handlung nicht wie bei Aristoteles gefordert und wie von Homer verwirklicht aus der Einheit des Gegenstandes, sondern aus der in sich vielgestaltigen Einheit der Atmosphäre. Die Auswahl des Erzählten hat in der Möglichkeit, atmosphärische Wirkung zu entfalten, ihr Kriterium. Damit zusammen hängt der zweite wichtige Unterschied: Die Trauer um Nisus und Euryalus, wie sie von dem Erzähler bei Vergil ausgesprochen wird, ist eine sentimentale Gefühlswendung, die in der ganzen Schilderung der Überfallsszene und schon zuvor im 5. Buch vorbereitet wird durch die Beschreibung der blühenden Schönheit und Jugend der Jünglinge, die einen starken Kontrast schafft zu der Grausamkeit ihres Todes: «mit Kraft durchstößt das heftig gestoßene Schwert dem Euryalus die Rippen und zerreißt ihm die schneeweiße Brust» («... viribus ensis adactus / transadigit costas et candida pectora rumpit» Aen. 9, 431 f.); «über die schönen Glieder rinnt ihm das Blut» («pulchrosque per artus / it cruor» 9, 433 f.); es ist der Jammer, der sich überhaupt über den Tod zur Unzeit in der Blüte der Jahre erhebt, den der Erzähler in dem Schicksal der idealtypisch beschriebenen jungen Männer exemplarisch beklagt - ein Motiv, das noch gesteigert wird durch die Grausamkeit der als Barbaren geschilderten Latiner, die in einem Triumphzug die Häupter der Getöteten auf Lanzen aufgespießt vor sich hertragen («quin ipsa arrectis (visu miserabile) in hastis / praefigunt capita et multo clamore sequuntur / Euryali et Nisi» (9, 465 ff.)). Zu dieser sentimentalen Stimmung trägt außerdem auch die dramatisch inszenierte ‹ Freundschaft bis in den Tod› bei («dann warf er sich über den Freund, der sein Leben schon ausgehaucht hatte, ‹selbst› durchbohrt, und dort schließlich ruhte er in sanftem Tod» «tum super exanimum sese proiecit amicum / confossus, placidaque ibi demum morte quievit» 9, 444 f.). Sie dient Vergil primär dazu, eine bestimmte Atmosphäre gesteigerter Emotionalität zu konstruieren; und zwar zugleich beim Leser und zugleich in der erzählten Handlung selbst: Die Kunde von dem Tod des Euryalus erreicht dessen Mutter im Lager der Trojaner; von Sinnen («amens») durcheilt sie die Reihen der Kämpfer und erfüllt alles mit «weiblichem Klagegeschrei» («femineo ululatu» 9, 477). Der Affekt überträgt sich also von dem Erzähler sozusagen auf die Handelnden und dynamisiert das erzählte Geschehen. Bei Homer hingegen ist der Kommentar des Erzählers nicht in erster Linie auf den faktischen Ablauf der Tötung des Patroklos gerichtet, sondern erinnert daran, wie Patroklos in die dann für ihn ausweglose und bemitleidenswerte Situation gekommen ist (Il. 16, auch für die Gegenüberstellung mit der Darstellungsweise bei Homer zu sein - selber Teil dieser Haupthandlung und auch nicht direkte Ursache für den Fortgang der eigentlichen Handlung. Vielmehr führt diese Szene 1. typische Handlungsmuster vor, die in den folgenden Handlungen immer wieder durchscheinen, und 2. ist sie im Hinblick auf die Atmosphäre der die Aeneis abschließenden Kriegsbücher von zentraler Bedeutung. Sie wirkt unmittelbar emotionalisierend und lenkt den Blick auf das innere Erleben des Kriegsgeschehens und weg von den bloßen äußeren Fakten der Kämpfe. Vergil führt nicht sozusagen mit erhobenem moralischem Zeigefinger affektgesteuertes, pflichtwidriges Verhalten ‹objektiv› vor, sondern im Vordergrund steht eindeutig die psychagogische Intention, beim Leser eine persönliche Sympathie, ein (sentimentalisches) Mitleid mit den Helden zu erwecken, und zwar ein Mitleid, das das emotionale Gestimmtsein des Lesers während aller folgenden Bücher prägen soll (und das nichts mit der Einsicht in die Fehler, die Nisus und Euryalus begehen, zu tun hat, wie dies im Sinn der Aristotelischen Theorie darüber, wie tragische Handlung Mitleid (und Furcht) erwecken soll, der Fall sein müßte: dazu s. Verf., Tragik und Metatragik, bes. 218-229). Der konkrete Handlungsverlauf der Szene und die beiden Charaktere Nisus und Euryalus sind daher relativ austauschbar; auf deren Individualität kommt es nicht an, sondern die Szene ist motivisch und typologisch essentiell für die Aeneis.
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684 ff.): nämlich durch die Erinnerung daran, wie Patroklos nicht auf Achills Warnung gehört hatte, er solle sich nicht von der Lust an Ruhm dazu verleiten lassen, nachdem er die Trojaner von den Schiffen der Griechen verdrängt hat, noch weiter zu kämpfen und Achill den ihm gebührenden Ruhm zu nehmen (16, 83-96, bes. 87-90). Homer lenkt mit seinem Kommentar (« nh¬piow » 16, 686) die Aufmerksamkeit nicht wie Vergil auf das pathetische Bild des unverschuldeten Todes in der Blüte der Jahre («Der Törichte - wenn er das Wort des Peleussohnes bedacht hätte, dann wäre er sicher dem schlimmen Verhängnis des schwarzen Todes entflohen.» nh¬piow∑ eiœ de¡ epow Phlhia¬dao fy¬lajen / hÓ tÅ an y«pe¬àfyge àh˜ ra àaàh¡n me¬lanow uana¬toio. 16, 686 f.). Der Kommentar lädt die Situation nicht affektisch und pathetisch auf, sondern verweist auf die Gründe, die zu dieser Situation geführt haben; erweckt dabei trotzdem auch das Mitleid des Lesers, versetzt ihn aber nicht in eine allgemein sentimentale Stimmung 47. Zur zweiten Situation (2.): zu dem Kommentar, mit dem Vergil Zeus den Hektor ansprechen läßt, als dieser die Rüstung des Achill anlegt, die er Patroklos abgenommen hatte, im Vergleich mit der analogen Situation bei Vergil, als Turnus den Waffengürtel des Pallas raubt: Auch hier gibt es wesentliche Differenzen: Der Hinweis bei Vergil ist allgemein und unspezifisch: «Menschenherz, Du weißt nichts von dem zukünftigen Schicksal und eigenem Geschick und kannst im Glück das richtige Maß nicht wahren» («nescia mens hominum fati sortisque futurae / et servare modum rebus sublata secundis!» 10, 501 f.) sagt der Erzähler bei Vergil. Ebenso, wie es dem Menschen überhaupt oft geschieht, so werde auch Turnus sein Handeln später bitter bereuen müssen. Homer hingegen läßt Zeus «tief in seinem Herzen» über die besondere Situation, in der Hektor sich befindet, sprechen (17, 200 ff.): Mit seinem Kommentar weist Zeus auf einen Aspekt hin, der in dieser bestimmten Situation für Hektors Handlungsentscheidung hätte ausschlaggebend sein müssen, den dieser hätte beachten müssen und können, um den Fehler, den er begeht, indem er Achill herausfordert, zu vermeiden. Denn Hektor hatte in zehn Kriegsjahren ein konkretes Wissen davon erworben, daß man Achills Kampfeskraft fürchten muß, daß er im offenen Kampf unbesiegbar ist; wenn er sich jetzt also ohne Todesfurcht stellen will, ist er in dieser ganz bestimmten Situation deilo¬w 48. Der Kommentar ruft diesen besonderen Sachverhalt und diesen subjektiven Anteil Hektors an seinem Geschick in Erinnerung, wohingegen bei
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S. zu dem Unterschied zwischen einem empathetischem Mitschwingen und einer unmittelbaren Identifikation des Zuschauers mit dem dargestellten Charakter einerseits und einem bestimmten Verhältnis zwischen Handelndem und Zuschauer, das sich aus einer Erkenntnis von Gleichheit und Verschiedenheit konstituiert, andererseits, und zu der Frage, wie konkret eine unspezifische, allgemeine Grundstimmung und entsprechend die von einer solchen evozierten Gefühle der Zuschauer sein können Verf., Tragik und Metatragik, bes. 203-229 und 301-315. deilo¬w kann auch «bemitleidenswert» heißen (und L&S führen diese Stelle unter dieser Bedeutung auf), aber es wird auch als Gegensatz zu aœndrei˜ow (tapfer) verwendet. Tapfer aber ist nicht jemand, der sich vor nichts fürchtet, sondern der sich vor dem fürchtet, was fürchtenswert ist, und der sich so, wie es angemessen ist und dann, wann es angemessen ist und gegenüber dem, wo es angemessen ist (usw.) fürchtet. Feige ist daher nicht jemand, der sich fürchtet, sondern der sich vor etwas, das man fürchten muß, nicht fürchtet, oder der sich vor dem, was man nicht fürchten muß, fürchtet, also der eine falsche Furcht hat. In diesem Sinn ist auch Hektor nicht nur bemitleidenswert, sondern auch feige, weil er keine richtige Furcht vor dem unbesiegbaren Achill hat, weil er in dieser Situation sein Wissen darüber, wie viel Grund man hat, sich vor Achill zu fürchten, nicht für seine Handlungsentscheidung heranzieht, weil er dieses Wissen, aristotelisch gesprochen, nicht aktualisiert.
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Vergil mit dem Einwurf eine allgemeine Emotionalisierung der Erzählung bewirkt und in dem Leser ein generelles, unspezifisches Gefühl des Mitleids oder eher: eine mitleidige und melancholische Stimmung über die Endlichkeit des Menschen überhaupt evoziert wird. Man hat nicht Mitleid mit diesem bestimmten Menschen in seiner besonderen Situation, sondern wird zu einer Reflexion auf das menschliche Dasein als solches angehalten. Die Subjektivität der Erzählhaltung bei Vergil unterscheidet sich also nicht nur quantitativ, sondern auch wesentlich von der Art, wie Homer das erzählte Geschehen kommentiert. Bei Homer überwiegt das Streben nach einem konkreten Bezug auf die Situation und deren besondere Funktion in dem gesamten Handlungsgefüge und die individuelle Motivation von Handlung; bei Vergil hingegen dient die subjektive Erzählhaltung einer allgemeinen Emotionalisierung, die sich sowohl in der Handlung auswirkt als auch auf den Leser übertragen werden soll. Die Emotionalisierung ist in der «iliadischen Hälfte» der Aeneis daher auch größer. Denn der Krieg bietet mehr Anlaß dazu, derartige Stimmungen über die Erzählung auszugießen, eine existentialistische Melancholie kann leichter und auch eindrucksvoller als universale Stimmung und Färbung einer Geschichte hervorgerufen werden als eine allgemein heitere Stimmungslage oder konkretere Emotionen. Insofern haben die Vertreter der Harvard Schule Recht damit, diese negativen Stimmungen besonders zu betonen. - Eine wesentliche Differenz zu den traditionellen Aeneisdeutungen konstituiert sich damit aber nicht.
Schluß Die moderne Vergilphilologie hat bewiesen, daß die Aeneis weitere Bedeutungsebenen außer dem bloßen literalen Sinn hat; sie hat ihre symbolischen Dimensionen erschlossen: Die Aeneis hat eine symbolische Bedeutung, denn sie verwendet in vielfältiger Weise die Möglichkeit des Verweisens auf andere Bedeutungsebenen und Assoziationszusammenhänge 49. Sie hat hingegen keine im Sinn der antik-mittelalterlichen Gesamtallegoresen verstandene allegorische Bedeutung, weil sie keine unmittelbar gegenstandsbezogene Dichtung ist. Der Kampf der modernen Vergilforschung gegen die rationalistische Festlegung der Kunst Vergils auf eine bloße Technik, auf die bloße ars, will (mit den Romantikern) die Dimension der Unendlichkeit in der Aeneisdeutung offen halten: Das Dichterische müsse mehr sein als das begrifflich Objektive oder Objektivierbare, das man mit dem Verstand, das man durch die Philosophie begreifen kann. Es müsse die Sphäre des subjektiven Erlebnisses, der genialischen Intuition in einer äußeren erzählten Handlung verwirklichen. Daher verlange eine umfassende Ausdeutung und Ausleuchtung des Dichterischen, daß die subjektive Sphäre herauspräpariert, daß dieses ‹anders reden› des Dichters entschlüsselt wird. Die antik-mittelalterlichen Gesamtallegoresen hingegen wollten nicht das in diesem Sinn schon von der hellenistischen Homerexegese verstandenen Dichterische der Aeneis zum Thema machen, sondern sie untersuchten einen möglichen philosophischen Gehalt des 49
Wichtig ist als Beleg dafür bei Vergil auch die Beobachtung, daß Vergil Homerische Gleichnisse, die äußere Naturgeschehnisse zur Verdeutlichung menschlichen Handelns verwenden, umkehrt, und Naturereignisse durch Vergleiche mit inneren Zuständen und Erlebnissen veranschaulicht: z. B.: Der Seesturm im ersten Buch wird durch den Vergleich mit einem Volksaufstand veranschaulicht (1, 14-153) (vgl. Cic., Mil. 2,5): dazu Tilman Schmidt-Neuerburg, Vergils Aeneis und die antike Homerexegese, 69.
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äußerlich Erzählten. Die antiken Allegoresen fragen also nicht, ob der Dichter ‹anders› spricht, sondern ob in dem Text noch etwas anderes gesagt worden sein könnte. Sie haben im Sinne der allegoria in factis, wie sie Beda Venerabilis definiert, die erzählten Handlungen und Elemente als etwas verstanden, das aus sich selbst heraus auf etwas anderes, Höheres verweist: nämlich auf etwas, an dem es Anteil hat. Diese zweite Wahrheit, diese gemina doctrina 50 ist daher eine ganz andere als die, die die moderne Forschung bei Vergil gefunden hat 51; denn sie wird in den philosophischen Einsichten, in den Inhalten der Dichtung, nicht in ihrer sprachlichen Form, nicht in ihrer Lyrizität, nicht in ihrer sympathetischen Beseeltheit gesucht. Wenn Bernardus Vergil «inquantum est philosophus» (Bernardus, 3,9) 52 liest, dann 50
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Macrobius in Somn.Scip.1,9,8; Sat.1,16,12: «Maro omnium disciplinarum peritus»; Servius Aen. 6 praef.: «totus quidem Vergilius scientia plenus est, in qua hic liber possidet principatum (...) et dicuntur aliqua simpliciter (...) multa per altam scientiam philosophorum, theologorum...»; Bernardus Silvestris, The Commentary on the First Six Books of the Aeneid of Vergil Commonly Attributed to Bernardus Silvestris, edd. J.W. Jones u. E.F. Jones, Lincoln-London 1977, 1-3. Und man findet auch in der Antike selber noch andere Auffassungen und methodische Zugangsweisen zu der gemina doctrina der Aeneis, nämlich vor allem über die allegorische Einzelinterpretation einzelner Verse des 6. Buches: dazu siehe Antonie Wlosok, Gemina doctrina? - Über Berechtigung und Voraussetzungen allegorischer Aeneisinterpretation (1983), in: Res Humanae - res divinae, 392-402; dies., Gemina Pictura: Allegorisierende Aeneisillustrationen in Handschriften des 15. Jahrhunderts, in: R.M. Wilhelm u. H. Jones (Hgg.), The Two Worlds of the Poet, Detroit 1992, 408-432; dies., Et poeticae figmentum et philosophiae veritatem. Bemerkungen zum 6. Aeneisbuch, insbesondere zur Funktion der Rede des Anchises (724 ff.) in: Res Humanae - res divinae, 384-391. In dieser Tradition wird vornehmlich eine kosmologische Dimension des Abstiegs des Aeneas in die Unterwelt erschlossen, und dies ausgehend von einigen Anstößen im Vergilischen Text selber, der und wo er bei bloß literaler Deutung widersprüchlich bliebe (z. B. die Verse VI, 128-31: «Sed revocare gradum superasque evadere ad auras, / hoc opus, hic labor est. Pauci, quos aequos amavit / Iuppiter aut ardens evexit ad aethera virtus, / dis geniti potuere». Vgl. dazu Servius, in Aen. VI, 127, p. 27. 19 und ff.). In diesen Fällen handelt es sich demnach um von Vergil intendierte Bedeutungen hinter und neben dem Literalsinn. Ein Beleg dafür, daß allegorische und moralisch-allegorisierende Homerdeutungen Vergil geläufig sein mußten, ist außer den Homerscholien (vgl. R.R. Schlunk, The Homeric Scholia and the Aeneid. A Study of the Influence of Ancient Homeric Literary Criticism on Vergil, Ann Arbor 1974) - eine der Episteln des Horaz, die Horaz zwischen 23 und 20 v. Chr. verfaßte, also gerade in der Zeit, in der Vergil mit den letzten Arbeiten an der Aeneis beschäftigt war: epis. 1,2. Horaz nennt die Odyssee als Exempel dafür, wie der stoische Weise mit den Widrigkeiten des Lebens durch Tugend fertig werden und diese besiegen kann. Die Kenntnis Vergils dieser Epistel besagt freilich aber noch nicht, daß Vergil seinem Epos einen übertragenen moralischen Sinn gibt; die Aeneis ist vielmehr, in gewisser Weise anders als die Odyssee, bereits nach dem literalen Sinn moralisch; stoischer Determinismus und stoische Ideale von Tugend und tugendhaftem Handeln bestimmen das erzählte Geschehen selber unmittelbar, so daß man nicht von einem Hintersinn oder einer allegorischen Bedeutung sprechen kann, wenn man Vergil attestiert, er vermittle ein bestimmtes Tugendbild, wenn er Aeneas (in gewissem Sinn) als Exempel für den stoischen Weisen darstellt. Die Allegoresen zu diesen Stellen sind zum Teil im Sinn des für Vergil aus der alexandrinischen Homerphilologie und den Scholien erschließbaren dichtungstheoretischen Hintergrunds kosmologisch und erweitern den einfachen Sinn der Erzählung durch die (stoische) physica ratio; zum Teil sind sie aber auch wesentlich neuplatonisch beeinflußt; dann steht der anagogische Sinn im Vordergrund und die Allegoresen dienen einem didaktischen, nämlich ethisch-propädeutischen Zweck. Eine ganz ähnliche Wendung findet man bei Servius (in Aen. VI, 719: «loquitur quidem poetice ... tangit tamen quod et philosophi dicunt», «miscet philosophiae figmenta poetica et ostendit tam quod est vulgare, quam quod continet veritas et ratio naturalis. nam secundum poetas hoc dicit (...) secundum philosophos vero hoc dicit...»; insgesamt ist das, was Servius an den Stellen, bei denen er eine allegorische Sinnebene erschließt, sagt, allerdings im Unterschied zu den Deutungen bei Bernardus eine stoische philosophische Lehre oder ‹Wahrheit› (deshalb überwiegen gemäß der kosmologischen Basis der Allegoresen bei den Stoikern bei Servius auch kosmologische und euhemeristische, d. h. ‹geschichts-kosmologische› Allegoresen). Eine Auflistung der verschiedenen Typen allegorischer Interpretationen bei Servius
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bedeutet das für ihn, daß er nach etwas Allgemeinem, nach einer allgemeinen Wahrheit, die aus dem Besonderen als etwas, das an diesem Allgemeinen in bestimmter Weise teilhat, erschlossen werden kann, fragt. Er setzt damit für Vergil eine bestimmte Dichtungsauffassung voraus, die dieser nachweislich nicht teilt oder nicht anstrebt. Denn Vergil steht in einer vornehmlich hellenistisch geprägten Tradition, nach welcher zureichende Kriterien der Dichtungskritik und -exegese 1. die Autonomie der Dichtung von außerhalb ihrer selbst liegenden Maßstäben und 2. die Auffassung, zu Dichtung werde etwas durch die sprachliche Form und die subjektive Perspektive des Dichters, durch die hindurch das erzählte Geschehen bestimmte assoziative, symbolische Bedeutungen bekomme, sind. Als Deutungen solcher Werke disqualifizieren sich die platonisch inspirierten Vergilallegoresen selber 53: Sie kümmern sich nicht um die sprachliche Gestalt 54, um die rhetorische Form, um Kontextualität und historische Vorbilder (usw.) und berücksichtigen auch nicht den Anspruch auf Autonomie und Abgeschlossenheit des Kunstwerks und auf einen innerlichen unendlichen Bedeutungsraum; sondern sie erzwingen einen Bezug auf Kriterien, die außerhalb des Werkes selbst liegen, und untersuchen, ob die Inhalte der Dichtung je für sich und in Relation zueinander und zu dem Ganzen bestimmte Erkenntnisse über menschliches Handeln enthalten. Weil die Aeneis solche bestimmten Erkenntnisse nicht - oder: nicht der primären Intention Vergils nach - vermitteln will, sondern sozusagen eine Form der Erlebnisdichtung ist, hat sie einen derartigen allgemeinen Gehalt nicht und kann dementsprechend auch nicht in dieser Weise allegorisch gedeutet werden; sondern sie entspricht viel eher den Deutungskategorien der modernen symbolischen Ästhetik, die das Wesen von Dichtung, ihre genuine Weisheit, die alles Verstandesmäßige überrage, in der «Symbolkraft der Sprache» (Pöschl) findet. Die Aeneis hat eine symbolische Bedeutung - oder, wenn man so will: eine allegorische Bedeutung im Sinn des romantischen Allegoriebegriffs -, und den Interpreten ist immer wieder die Aufgabe gestellt, die Reste jeder Form eines ‹objektiven Rationalismus› aus ihren Deutungen auszumerzen. Dieser Maxime folgt die moderne Vergilforschung insgesamt. Sie ist die gemeinsame Basis und Zielrichtung der Deutung der Aeneis von Richard Heinze angefangen bis in die allerneuesten Untersuchungen der amerikanischen Aeneis-Philologie hinein. Wenn man aber die verschiedenen Phasen und einzelnen Beiträge zur Aeneisforschung des letzten Jahrhunderts und der letzten Jahre im Lichte ihres eigenen Selbstverständnisses betrachtet, ergibt sich ein ganz anderes Bild, das in keiner Weise auf eine wesentliche Gemeinsamkeit schließen läßt: Denn nicht nur einander bekämpfende Schulen präsentieren
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gibt John W. Jones: Allegorical Interpretation in Servius, in: CJ 56, 1960/61, 219-225) und bei Macrobius: Macr. in Somn. Scip. 1,9,8). Z. B. John W. Jones, The Allegorical Traditions of the Aeneid, in: J. D. Bernard (Hg.), Vergil at 2000, New York 1986, 107-132, hier: 128: «The remainder of his (= Bernards) allegorical interpretations probably may best be characterized as misapplied erudition. The Commentum of Bernardus is not really an illumination of the Aeneid. It does not respond to or derive from the suggestion of Vergil’s text; rather it is imposed upon the poem. It sets aside completely the Vergilian cultural context, imperial Rome, and substitutes another, medieval and Christian Europe. Most important, it seeks to make the Aeneid a vehicle for a particular form of ethical or philosophical teaching. It amounts, in the final analysis, to a piece of moral instruction through misapplication. We shall not, then, expect any great assistance from the allegorizers in our effort to comprehend Vergil’s epic.» Auch die - viel verwendeten - Etymologien kümmern sich nicht um die Lautgestalt der Worte, sondern dienen nur als Stütze der philosophisch motivierten ‹Interpretation›.
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sich als Forschungen, die radikale Gegenpositionen in bezug auf die Bewertung der Intention Vergils vertreten, sondern auch einzelne Forscher haben mit Nachdruck den Anspruch erhoben, durch ihren individuellen Beitrag eine ganz neue Sicht auf die Aeneis zu ermöglichen, alle vorher begangenen Fehler und Verirrungen zu korrigieren und endlich wieder zu einem geläuterten, dem Vergilischen Text und Kunstwollen angemessenen Verständnis gekommen zu sein. Dazu gehört ebenso der Anspruch, die schulmeisterlich pedantischen Analysen der Technik Vergils überwunden zu haben, wie der Anspruch, die klassizistischhumanistische (oder auch: romantische) Vereinnahmung Vergils als unberechtigt widerlegen zu können, und die These, Vergils Dichtung müsse endlich von dem rationalistischen Eindeutigkeitspostulat befreit werden und der Interpretation müsse der Freiraum gewährt werden, mit einer dynamischen Pluralität von Bedeutungen und Bedeutungsebenen zu rechnen und in ihren Deutungen auch spielerisch umzugehen. Dem Selbstverständnis der einzelnen Forscher nach handelt es sich bei diesen so formulierten Ansprüchen jedesmal um den Vollzug einer radikalen Wende, ihre jeweiligen Neuerungen bedeuten einen eindeutigen Bruch mit der früheren Forschung und vorher etablierten und angewandten Ästhetik überhaupt. So entsteht das Bild einer vollkommen disparaten Forschungslandschaft, in der ständig radikal neue Deutungen auftauchen und die alten - vorübergehend - verdrängen, bis sie selbst wieder in Vergessenheit geraten bzw. ein für alle Mal überwunden werden. Exemplarisch für diesen Eindruck ist die Vehemenz, mit der sich die neuesten Vertreter der Harvard Schule gegen die traditionellen Deutungen, wie sie vor allem in der deutschen Altphilologie vertreten worden waren, wenden und für die Annahme einer postmodernen Offenheit als Basis der Aeneisdeutung plädieren. Wie ich zu zeigen versucht habe, ist dieser Eindruck und dieses Selbstverständnis das Resultat einer nicht konsequent unternommenen Reflexion auf die wirkungsgeschichtlichen Voraussetzungen der (eigenen) Vergilinterpretation. Wenn man hingegen in Distanz zu den einzelnen Deutungen tritt und sich von deren Selbstverständnis emanzipiert, dann kann man sehen, daß sich dieser Eindruck, man habe es mit einer unzusammenhängenden, in sich zerstrittenen Vielheit von Interpretationsvorschlägen zu tun, nicht durch hinreichende Argumente bestätigen läßt, sondern daß sich bestimmte neuzeitlich moderne (und genuin romantische) Kategorien der Ästhetik und Dichtungstheorie bis in die Einzelforschung hinein als ein verbindendes Maß und Band erweisen, von denen dem Fortschreiten der Forschung eine bestimmte Richtung vorgegeben wird. Denn die Grundlage und Ausrichtung der Aeneis-Forschung hat sich tatsächlich in den letzten 100 Jahren seit dem Erscheinen von Heinzes «Virgils epische Technik» nicht wesentlich verändert, sondern auch alle diejenigen Beiträge, die mit dem Anspruch, eine radikale Wende in der Beschäftigung mit der Aeneis zu formulieren, auftreten, folgen dem Ansatz Heinzes, der - sozusagen in Vorwegnahme einer narratologischen Analyse - den Blick auf die Art und Weise der Erzählung und die Verschiedenheit der Erzählperspektiven gelenkt hat. Von diesem Ansatz aus wurde schon von Heinze, aber differenzierter noch in der ihm nachfolgenden Forschung das Ergebnis ermittelt, daß es sich bei der Dichtung Vergils um eine genuin sentimentalische, subjektiv-innerliche Dichtungsweise handelt, die das, was äußerlich geschieht, nie als es selbst in neutraler Objektivität wiedergibt, sondern die an die Stelle eines solchen Faktenberichts die Beschreibung innerer Erlebnisse, Stimmungen und Atmosphären gesetzt hat. Als Schlagwort, das diese Eigentümlichkeit Vergils bezeichnet, kann man - mit Viktor Pöschl - den Begriff des Symbols verwenden; und so kann es als berechtigt erscheinen, die moderne Vergil-Philologie insgesamt bzw. in den eher poetologisch interessierten
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Deutungen als ihrer Grundintention nach symbolisch zu beschreiben und mit diesem Begriff die wesentliche Gemeinsamkeit der scheinbar so disparaten Forschungsentwicklung zu bezeichnen. Diese Forschung hat mit beeindruckender Konsequenz die Analyse des assoziativen Handlungs- und atmosphärischen Erzählgefüges durchgeführt und ist heute (vielleicht) an einem Punkt angekommen, an dem die Abstraktion von konkreten Inhalten und die Konzentration auf die komplexen Verweisungsstrukturen und deren wesentliche Offenheit eine Vollendung gefunden hat und nicht mehr in einer sinnvollen Weise weiter ins Extreme gesteigert werden kann, ohne daß der Interpret den Inhalt der Vergilischen Dichtung und die Einsicht, daß es sich bei der Aeneis um die Erzählung einer bestimmten Geschichte mit bestimmten Charakteren (usw.) handelt, aus den Augen verliert. Die Ergebnisse der neuesten Forschungen, die explizit auf die plurale Offenheit als Hauptmerkmal der Dichtkunst Vergils verweisen, offenbaren, daß die konsequente Fortsetzung der Ansätze Heinzes und Pöschls die Aeneis-Philologie dahin gebracht haben, das Vergilische Epos als ein postmodernes, einer narratologischen oder dekonstruktivistischen Analyse zugängliches Werk zu behandeln. Der Kampf gegen den pedantischen und kunstfeindlichen Rationalismus hat dazu geführt, daß die Aeneis als Exemplum einer nicht dem Diktat der abstrakten Vernunft unterworfenen anti-rationalistischen und damit anti-modernen, d. i. postmodernen Dichtungsauffassung fungiert. Als mögliche zusammenfassende Folgerung ergibt sich aus diesem Befund zweierlei: 1. Die moderne Aeneis-Forschung bewegt sich in einer breiten Strömung und im Sinn ihrer eigenen Prämissen konsequent in dieselbe Richtung. Sie hat die subjektiv-innerlich sentimentalische Darstellungsweise als wesentliche Qualität der Dichtung Vergils erkannt und geht dieser Einsicht (mit unterschiedlicher Akzentsetzung) nach. Scheinbar radikale Gegensätze und Widersprüche zwischen den verschieden akzentuierenden Deutungen sind in Wahrheit graduelle Unterschiede, die nur die Oberfläche, nicht das Wesen der VergilAnalyse betreffen. 2. Diese großen Fortschritte in der (gerechten) Bewertung und Erschließung der dichterischen Leistung und der primären Intention Vergils haben insbesondere in der jüngsten Forschung dazu geführt, daß die Struktur der Dichtung und das (an sich abstrakte) Stimmungshafte und Atmosphärische so stark gegenüber der bestimmten einzelnen Geschichte, die in der Aeneis erzählt wird, hervorgehoben und ins Zentrum des Interesses der Forschung gerückt ist, daß die Gefahr besteht, daß eine andere Qualität der Dichtung Vergils zu sehr in den Hintergrund gedrängt wird: nämlich die Qualität, daß Vergil - ungeachtet seiner Intention, inneres Erleben und subjektive Stimmungen und emotionale Zustände zu schildern - eine bestimmte Handlung, die von bestimmten Charakteren ausgeführt wird, in epischer Erzählung darstellt, d. h. daß seine Dichtung konkret bestimmte Inhalte hat. In dieser Hinsicht hat Vergils Epos (noch) mehr Ähnlichkeiten mit Homer und einer Aristotelischen Dichtungsauffassung und unterscheidet sich von solcher moderner Literatur, die den Rückzug in die subjektive Innerlichkeit in aller Konsequenz inszeniert und vollkommen darauf verzichtet hat, eine bestimmte Geschichte zu erzählen, die Anfang, Mitte und Ende hat und in der (äußeres und inneres) Geschehen dargestellt wird. Bei Vergil wird der Gegenstand seiner Dichtung zwar atmosphärisch gefärbt, in bestimmte Stimmungen gehüllt und als Phänomen der Innerlichkeit aufgefaßt, aber diese Dichtung hat ihre bestimmten Gegenstände (noch) nicht verloren: noch handeln bestimmte Indivi-
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duen, noch werden die einzelnen Ereignisse um diese Charaktere herum erzählt und mit einem Darstellungsskopos wiedergegeben, noch hat die Verinnerlichung der äußeren Ereignisse und die Entwicklung einer Dichtungsart, in der nicht Geschehnisse, sondern Erlebnisse dargestellt werden, nicht in die völlige Beliebigkeit und absolute Pluralität und Offenheit eines in sich konturlosen Systems geführt. Die Aeneis ist eine sentimentalische Dichtung, aber sie hat auch einen bestimmten Inhalt, den man im Zuge symbolischer Deutungen nicht unbeachtet lassen darf, wenn man versuchen will, die Dichtung Vergils sowohl gegenüber Homer als auch gegenüber genuin modernen (romantischen) oder postmodernen Dichtungsauffassungen abzugrenzen und in ihrem individuellen Eigenwert zu würdigen.
Andreas Heil
Die Milch der Musen Speisemetaphorik in Dantes Briefwechsel mit Giovanni del Virgilio (Egloghe 1 und 2) Am Ende des ersten Buches des Convivio verkündet Dante Alighieri in fast prophetischer Weise den bevorstehenden Sieg der italienischen Volkssprache über das Lateinische. Das Volgare sei die neue Sonne, die dort aufgehen werde, wo die gewohnte untergehe, und es werde denen Licht spenden, die in Dunkelheit und Finsternis leben (1, 13, 12). An der Erfüllung dieser Prophezeiung hat der Verfasser der «Göttlichen Komödie» selbst wie kein zweiter mitgewirkt. Zur gleichen Zeit entstehen in Oberitalien die ersten frühhumanistischen Zirkel, in denen das Studium der antiken lateinischen Autoren eine neue Bedeutung gewinnt. Zentrum dieser Bewegung ist Padua, wo an der Wende zum 14. Jahrhundert u. a. Lovato dei Lovati und Albertino Mussato wirken. In diesen Kreisen ist Dantes Entscheidung für die Volkssprache offenbar auf Kritik gestoßen. Zeugnis dafür ist der poetische Briefwechsel, den Dante in den letzten Jahren seines Lebens mit dem Bologneser Magister Giovanni del Virgilio führte. Im folgenden soll dargestellt werden, mit welchen Strategien Dante seine Position gegenüber dem Frühhumanisten und Vergilverehrer Giovanni verteidigt. Es wird sich zeigen, daß die bereits in der Epistel Giovannis angelegte und von Dante in seinem Antwortschreiben entfaltete Speisemetaphorik dabei eine entscheidende Rolle spielt. Pyeridum vox alma … («Nährende Stimme der Musen …»): Mit dieser Anrede beginnt das Briefgedicht, das Giovanni del Virgilio wohl im Jahre 1319 1 an Dante Alighieri schickte. 2 Hinter der höflichen captatio benevolentiae verbirgt sich eine deutliche Kritik. Denn Giovanni ist der festen Überzeugung, daß Dante mit der im Volgare verfaßten Commedia den falschen Leserkreis ‹ernährt›. Das «Volk» (vulgus: vgl. 6) könne die von Dante thematisierten «ernsten Gegenstände» (seria: 6), die selbst die Fassungskraft eines Plato überstiegen (vgl. 11), nicht «verdauen» (12-13):
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Zur Datierung vgl. die Ausgabe von G. Brugnoli, R. Scarcia, Milano/Napoli 1980, IX und G. Petrocchi, Vita di Dante, Bari 1983, 201-202. Das Briefgedicht des Giovanni del Virgilio ist nach dem Februar 1319 entstanden. Die Antwort Dantes und die beiden folgenden Eklogen fallen in die Zeit von 1320 bis zum Tod Dantes am 13. September 1321. Die ältere Literatur (bis 1913) zu Dantes poetischem Briefwechsel mit Giovanni del Virgilio ist zusammengestellt bei G. Lido`nnici, Giornale Dantesco 21, 1913, 241-43. Weitere Literatur findet sich bei G. Reggio, Le Egloghe di Dante, Firenze 1969, 83-85, G. Martellotti, «Egloghe», in: Enciclopedia Dantesca, Bd. 2, Roma 1970, 644-47 und Brugnoli/Scarcia (wie Anm. 1), XXIII-XXIX. Grundlegend ist die Interpretation von K. Krautter, Die Renaissance der Bukolik in der lateinischen Literatur des XIV. Jahrhunderts: von Dante bis Petrarca, Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Texte und Abhandlungen 65, München 1983, 23-59. Vgl. außerdem M. Davie, «Dante’s Latin Eclogues», Papers of the Liverpool Latin Seminar 1, 1976, 183-198, M. Bregoli-Russo, «Le Egloghe di Dante: un’analisi», Italica 62, 1985, 34-40 und T. K. Hubbard, The Pipes of Pan. Intertextuality and Literary Filiation in the Pastoral Tradition from Theocritus to Milton, Ann Arbor 1998, 223-227.
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que tamen in triviis nunquam digesta coaxat comicomus nebulo …
Dante - so fährt Giovanni mit Anspielung auf Matthäus 7, 6 fort - solle «seine Perlen nicht verschwenderisch unter die Schweine werfen» (21). Vielmehr möge er in der Sprache schreiben, die allein einen überregionalen Ruhm verbürge (30-4): dem Lateinischen. Giovanni bittet Dante aber nun nicht etwa um eine lateinische Fassung der Commedia. Statt dessen schlägt er verschiedene zeitgeschichtliche Stoffe für ein historisches Epos in lateinischer Sprache vor (25-29): Et iam multa tuis lucem narratibus orant: dic age quo petiit Iovis armiger astra volatu, dic age quos flores, que lilia fregit arator, dic Frigios damas laceratos dente molosso, dic Ligurum montes et classes Parthenopeas …
Die Themen sind von G. Brugnoli und R. Scarcia wie folgt identifiziert worden: «le guerre dell’impero (Iovis armiger); di Carlo di Valois (arator) contro i guelfi bianchi (lilia) di Firenze (flores); di Cangrande (dente molosso) contro i Padovani (Frigios damas); di Roberto d’Angio` (classes Parthenopeas) in soccorso di Genua (Ligurum montes).» 3 Offenbar denkt Giovanni del Virgilio an eine Dichtung wie die Ecerinis Mussatos, die mit dem hohen Stil zugleich aktuelle politische Ambitionen verband. 4 Als Gegenleistung für ein solches Gedicht verspricht er, Dante als «Herold» (39) zur Dichterkrönung nach Bologna zu geleiten. Giovanni del Virgilio unterscheidet in seiner Epistel scharf zwei Gruppen von Rezipienten: die als clerus 5 (15) und pallentes (7) bezeichneten lateinisch Gebildeten (litterati) einerseits und die übrige, auf die «Sprache des Marktes» (16) angewiesene Bevölkerung (vulgus: 6, gens idiota: 10, laici: vgl. 15), die sogenannten illitterati, andererseits. Diese Unterscheidung ist für das Verständnis der mittelalterlichen Kultur von zentraler Bedeutung. Für das Hochmittelalter war H. Grundmann in seiner grundlegenden Studie «Litteratus - illitteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter» zu dem Ergebnis gekommen: «… nur Kleriker und Mönche sind litterati wenigstens mit einem Mindestmaß an Schreib- und Lateinkenntnis; die Laien bis zum höchsten Adel sind illitterati, zwar mit eigenen schriftlosen Traditionen und Bildungsformen, aber nur ausnahmsweise lesefähig, am ehesten noch die adligen Frauen.» 6 Die neuere Forschung hat dieses etwas starre Bild korrigiert. Bereits Ende des 11. und dann vor allem im 12. Jahrhundert entwickelt sich so M. G. Scholz - eine neue Kultur der illitterati, «deren Bildung, Schrift- und Lesekenntnis
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Brugnoli/Scarcia (wie Anm. 1) z. St. Die dunklen Umschreibungen erinnern an die Sprache von Prophezeiungen. Vielleicht spielt Giovanni auf die apokalyptische Vision in Purgatorio 32 an, in der ebenfalls der römische Adler eine prominente Rolle spielt. Die Formulierung lucem … orant könnte durch Bellum civile 5, 179-181 beeinflußt sein, wo Lucan beschreibt, wie die Pythia von Apollon in Ekstase versetzt wird: … omne futurum nititur in lucem, vocem petentia fata / luctantur … So Krautter (wie Anm. 2), 28, Anm. 44. «Kleriker» ist zur konventionellen Bezeichnung des lateinisch Gebildeten geworden, auch wenn dieser nicht dem geistlichen Stand angehörte. So nennt Dante Friedrich II. loico e clerico grande (Conv. 4, 10, 6). H. Grundmann, «Litteratus - illitteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter», Archiv für Kulturgeschichte 40, 1958, 1-65 (dort 43).
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nicht mehr notwendigerweise das Latein zur Grundlage hat.» 7 Scholz zeigt, daß die höfischen Epen nicht nur von ihren Verfassern zur Lektüre bestimmt waren, sondern auch tatsächlich gelesen worden sind, und zwar sowohl vom höheren als auch vom niederen Adel. Gerade Äußerungen wie die Giovannis scheinen das schiefe Bild von der Laienbildung begründet zu haben: «Ein denkbarer Grund für die Neigung mancher Forscher, die Laienbildung im 12. und 13. Jahrhundert auf ein Mindestmaß zu reduzieren, mag eben darin liegen, daß sie die Klagen vieler lat. Schriftsteller über die illitterati falsch ausgelegt und nicht erkannt haben, daß von der einen Seite diskreditiert wurde, was die andere Seite als neues Kulturideal beanspruchte. Diesem Kulturideal aber öffneten sich mehr und mehr auch jene Schichten, die ihre traditionelle, gelehrte Bildung nicht für unvereinbar mit den neuen Bestrebungen hielten.» 8 Im 13. und 14. Jahrhundert verschiebt sich die Bedeutung der Begriffe litteratus und illitteratus. Nicht die Lateinkenntnis allein, sondern eine bestimmte Form der höheren Bildung ist jetzt das Kriterium: «Als illitterati können für den fraglichen Zeitraum alle jene angesprochen werden, die den seit Anfang des XIII. Jahrhunderts üblichen Weg einer höheren Bildung nicht befolgt haben, d. h. welche weder an der facultas artium noch an der Theologischen Fakultät ein reguläres Studium abgeschlossen haben.» 9 Giovanni del Virgilio vertritt Dante gegenüber die Position der Befürworter der traditionellen lateinischen und universitären Bildung. Die Vermittlung dieser Bildung an die volkssprachliche Mehrheit der Bevölkerung ist nach seiner Ansicht ein wenig erfolgversprechendes Unterfangen, da weder das «Volk» in der Lage sei, das vermittelte Bildungsgut aufzunehmen, noch der Vermittler bei den litterati den seiner Leistung entsprechenden Ruhm erwerbe (33-34): Si te fama iuvat, parvo te limite septum non contentus eris, nec vulgo iudice tolli.
Es ist wahrscheinlich, daß der Magister aus Bologna mit seiner Kritik auf einen ganz bestimmten Text Dantes Bezug nimmt, nämlich auf den Anfang des Convivio. 10 Denn hier vertritt Dante ausführlich das von Giovanni diskreditierte Projekt einer ‹allgemeinen Bildung›. Ausgehend von dem Diktum des Aristoteles, daß alle Menschen von Natur nach Wissen streben (Metaphysik 1, 1), bemerkt Dante, daß dieses Ziel tatsächlich nur wenige erreichen. Für dieses Versagen werden vier Gründe angeführt, von denen zwei innerhalb des Menschen, zwei außerhalb liegen. Innerhalb des Menschen kann die Aufnahme von Wissen durch Defekte des Körpers (z. B. Taubheit) oder der Seele (Übergewicht der malizia) verhindert werden. Gründe außerhalb des Menschen sind die Sorge um die Familie und die staatliche Gemeinschaft sowie mangelnde Bildungsmöglichkeiten im Lebensbereich der jeweiligen Person. Aus dem allgemeinen Bildungsstreben aller Menschen folgt für Dante als ein Gebot der Nächstenliebe die Bereitschaft der Wissenden, ihre Kenntnisse 7
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M. G. Scholz, Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption der Literatur im 12. und 13. Jahrhundert, Wiesbaden 1980, 228. Scholz (wie Anm. 7), 228. R. Imbach, Laien in der Philosophie des Mittelalters. Hinweise und Anregungen zu einem vernachlässigten Thema, Amsterdam 1989, 23. Die Publikumserwartungen, die Dante am Beginn des Convivio und im zweiten Gesang des Paradiso (115) äußert, diskutiert ausführlich O. Lieberknecht, Allegorese und Philologie. Überlegungen zum Problem des mehrfachen Schriftsinns in Dantes «Commedia», Stuttgart 1999, 17-29. Auf den poetischen Briefwechsel zwischen Dante und Giovanni del Virgilio geht Lieberknecht allerdings nicht ein.
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an möglichst viele Menschen weiterzugeben. Deshalb plant Dante ein «allgemeines Gastmahl» (generale convivio: Conv. 1, 1, 11), zu dem – mit Ausnahme der durch seelische oder körperliche Defekte Verhinderten – alle Menschen eingeladen sind. Dabei übernimmt Dante die Rolle des Vermittlers, der zwar nicht selbst an dem «Tisch» sitzt, «wo man das Brot der Engel ißt» (Conv. 1, 1, 7) 11, der aber die «tierische Nahrung des Volkes» (pastura del vulgo: Conv. 1, 1, 10) hinter sich gelassen hat und nun die Brocken, die von jenem «Tisch» fallen, aufsammelt und an diejenigen weitergibt, die noch bedürftiger sind als er selbst. «Dante rückt sich in seinem literarischen Gastmahl kraft seiner Feder selbst in die Nähe seiner Gönner, wie er sich auch nur kraft seiner Feder in die Nähe der Gelehrten bringt.» Er «kreiert sich mit seinem Schreiben einen Status, der anderen in der mittelalterlichen Gesellschaft standesbedingt zukommt. Durch sein ‹freigebiges Gastmahl› wird er zum Fürsten, durch die philosophische Unterweisung seiner Zuhörer- und Leserschaft zum Magister der Philosophie.» 12 Diese im Convivio von Dante beanspruchte Vermittlerrolle entspricht genau dem, was Giovanni del Virgilio mit dem Ausdruck sorti comunis utrique (24) meint: Dante ist den ‹Gebildeten› und ‹Ungebildeten› gegenüber «freundlich gesinnt». Er gehört keiner dieser beiden Gruppen, die zugleich Stände repräsentieren, ausschließlich an. Giovanni freilich ermahnt Dante wie Polonius seinen Sohn: Be thou familiar, but by no means vulgar. Er möchte, daß Dante seine Vermittlerrolle aufgibt und sich für die ‹bessere› der beiden Seiten entscheidet. Die angebotene Dichterkrönung in Bologna ist ein Versuch, Dante, der weder dem Klerus noch dem Gelehrtenstand angehört, in universitäre Strukturen einzubinden. Diese Absicht bringt das letzte Wort der Epistel auf den Punkt (Egl. 1, 51): … respondere velis, aut solvere vota, magister.
Giovanni spielt mit dem Doppelsinn von magister. Zunächst erinnert die Formulierung an die Worte, mit denen der Wanderer Dante seinen «Lehrer» in der Dichtkunst, sein großes Vorbild Vergil, in Inferno 1, 85 begrüßt: Tu se’ lo mio maestro … Gleichzeitig aber ist magister die Bezeichnung für einen akademischen Rang. 13 Der Magister Giovanni del Virgilio 14 11
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Zum Ausdruck «Brot der Engel» vgl. A. Mellone, «pane - P. degli Angeli», Enciclopedia Dantesca, Bd. 4, Roma 1973, 266-7. F. Cheneval im Convivio-Kommentar von T. Ricklin und F. Cheneval, Bd. 1, Hamburg 1996, LIII. Als Bezeichnung für den akademischen Rang verwendet Dante maestro in Par. 24, 46-47: Sı` come il bacellier s’arma, e non parla / fin che ’l maestro la question propone ... Der Magister-Titel hatte freilich im Italien des 13. Jahrhunderts eine geringere Bedeutung als im nördlichen Europa. Vgl. J. Verger, «Magister universitatis», in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, Zürich/München 1993, Sp. 91: «In Italien, Südfrankreich, der Iber. Halbinsel wurde der M.-Titel dagegen rasch abgewertet. Die tonangebenden Juristen mit ihrem hohen Sozialprestige bevorzugten den Titel ‹dominus et doctor (legum bzw. canonum)› ...; der M.-Titel war daher zunehmend auf ‹m. artium› und ‹medicinae› und - bei den Juristen - auf einfache Baccalare beschränkt.» So bezeichnet sich Giovanni selbst in seinem allegorischen Kommentar zu den Metamorphosen Ovids: Allegorie librorum Ovidii Metamorphoseos a magistro Johanne de Virgilio prosaice ac metrice compilate. Der Text ist ediert von F. Ghisalberti, «Giovanni del Virgilio espositore delle Metamorphosi», Giornale Dantesco 34, 1933, 43-110. Zur Lehrtätigkeit Giovannis in Bologna vgl. G. Martellotti, «Giovanni del Virgilio», in: Enciclopedia Dantesca, Bd. 3, Roma 1971, 193-194 (dort 193): «Nel novembre 1321, a richiesta degli studenti, ebbe [sc. Giovanni del Virgilio] incarico dal comune di Bologna di tenere corsi sui grandi autori (Virgilio, Stazio, Lucano, Ovidio); forse insegnava gia` da prima senza pubblico stipendio.» Die erhaltenen Schriften Giovannis zur Grammatik sind besprochen und ediert von G. C. Alessio, «I trattati grammaticali di Giovanni del Virgilio», Italia Medioevale e Umanistica 24, 1981, 159-212.
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bietet Dante also einen Titel an, der ihm als Laien und Autodidakten 15 eigentlich nicht zukommt. 16 Dabei scheint das solvere vota, d. h. die Bereitschaft Dantes, sich in Bologna zum Dichter krönen zu lassen, fast so etwas wie eine Vorbedingung zu sein. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß der von Kaiser Karl IV. 1355 geschaffene Titel des poeta laureatus Caesareus oder poeta a Caesare laureatus tatsächlich mit dem eines magister artium gleichwertig war. 17 Für Giovanni del Virgilio gehören Bildung und Latein-Kenntnis zusammen, nicht so für Dante. Das ‹Sprachenproblem› wird im ersten Buch des Convivio durch die Entfaltung der bereits im Titel des Werkes angelegten Speisemetaphorik diskutiert: Dantes «Gastmahl» besteht aus bereits früher entstandenen Kanzonen, die nun mit einem ausführlichen buchstäblichen und allegorischen Kommentar versehen werden. Der Kommentar ist das «Brot» (pane), ohne das die «Speise» (vivanda) der Kanzonen nicht «gegessen und verdaut» (gustare e patire) werden kann (Conv. 1, 1, 13-15). Da die Kanzonen im Volgare verfaßt sind, müsse - so Dante - auch der Kommentar volkssprachlich sein. Bildlich ausgedrückt (Conv. 1, 5, 1): Das «Brot» ist nicht aus «Weizen» (frumento), sondern aus minderwertiger «Gerste» (biado). 18 Dante erkennt also den Primat des Lateinischen durchaus an. 19 Es übertreffe die Volkssprachen durch seinen «Adel», durch «Tugend» und «Schönheit» (Conv. 1, 5, 7-14): Das Latein habe Adel, weil es ewig und unveränderlich sei, 20 es habe Tugend, weil es die Aufgabe des Sprechens, die darin bestehe, die Gedanken auszudrücken, besser erfülle als die Volkssprachen, es sei schöner als diese, weil die Anordnung der Worte nicht von der Gewohnheit (uso), sondern von der Kunst (arte) abhängig sei. Deshalb ist so Dante - ein lateinischer Text ungeeignet, die ‹dienende› Funktion eines Kommentars zu volkssprachlichen Kanzonen zu übernehmen. Der zweite der drei Gründe 21, die für die Wahl des Volgare angeführt werden, ist in unserem Kontext noch wichtiger: Dante möchte aus «Freigebigkeit» (liberalitate: Conv. 1, 8, 2) sein Wissen an möglichst viele Menschen wei15
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Vgl. Imbach (wie Anm. 9), 66: «Dante ist ein Laie im doppelten Sinn des Wortes. Dass er kein Kleriker war, steht ausser Zweifel. Aber er hat auch nie ein reguläres Studium an einer Universität abgeschlossen. Dies gilt auch, wenn berücksichtigt wird, dass er vielleicht zwei Semester in Bologna war und möglicherweise einige Monate in Paris verbracht hat.» Ebenso deutet T. Ricklin in der Einleitung seiner Ausgabe des Briefes an Cangrande (Hamburg 1993, p. LXIV) die Stelle und verweist gleichzeitig darauf, daß Dante auch in einem der frühesten Kommentare zur Commedia mit diesem Titel ausgestattet wird. Vgl. D. Mertens, «Zu Sozialgeschichte und Funktion des poeta laureatus im Zeitalter Maximilians I.», in: Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts, hg. von R. Ch. Schwinges, Berlin 1996, 327-348. Das mittellateinische bladum (oder blava), auf das biado zurückgeht, bedeutet allgemein «Getreide», «Getreideart». Vgl. Mittellateinisches Wörterbuch, Bd. 1, München 1967, Sp. 1494-5. So verwendet Dante biade (Plural der Form biada) in Purg. 33, 51 und Par. 13, 132. In Conv. 1, 13, 12 wird das Brot aus biado ausdrücklich mit pane orzato («Gerstenbrot») gleichgesetzt. Das lateinische frumentum bedeutet ebenfalls allgemein «Getreide», neben hordeum («Gerste») aber insbesondere «Weizen» (Deut. 8, 8; Ierem. 41, 8). Vgl. TLL VI 1, Sp. 1420. Die wertende Gegenüberstellung von frumento und biado rechtfertigt die von Ricklin in Cheneval/Ricklin (wie Anm. 12) gewählte Übersetzung «Weizen» und «Gerste». Freilich relativiert Dante im folgenden diese Überlegenheit des Lateins gegenüber der Volkssprache. Vgl. Conv. 1, 10, 12: Che` per questo comento la gran bontade del volgare di sı` [si vedra` ]; pero` che si vedra` la sua vertu`, sı` com’e` per esso altissimi e novissimi concetti convenevolmente, sufficientemente e acconciamente, quasi come per esso latino, manifestare … und Cheneval/Ricklin (wie Anm. 12) zu Conv. 1, 10, 1. Vgl. Egl. 1, 16-17: … clerus vulgaria tempnit, / et si non varient, cum sint ydiomata mille. Der dritte Grund für die Wahl des Volgare ist Dantes Liebe zu seiner Muttersprache (lo naturale amore de la propria loquela: Conv. 1, 10, 5).
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tergeben. Für die «Lateinkundigen außerhalb der italienischen Sprache» 22 (litterati fuori di lingua italica: 1, 9, 2) aber sei ein lateinischer Kommentar nutzlos, weil sie die unübersetzbaren volkssprachlichen Kanzonen 23 nicht verstehen würden. Den litterati in Italien fehle eine andere zum Verständnis der Kanzonen notwendige Voraussetzung: die nobilitade d’animo (Conv. 1, 9, 3): E a vituperio di loro dico che non si deono chiamare litterati, pero` che non acquistano la lettera per lo suo uso, ma in quanto per quella guadagnano denari o dignitate … Che` la bonta` de l’animo, la quale questo servigio attende, e` in coloro che per malvagia disusanza del mondo hanno lasciata la litteratura a coloro che l’hanno fatta di donna meretrice; e questi nobili sono principi, baroni, cavalieri, e molt’altra nobile gente, non solamente maschi ma femmine, che sono molti e molte in questa lingua, volgari e non litterati.
Die sogenannten «Gebildeten» (litterati), d. h. die lateinkundigen Kleriker und Absolventen der Universität, sind - so Dante - nicht wahrhaft gebildet, weil sie das Wissen nicht um seiner selbst willen erstreben, sondern es als Mittel einsetzen, um sich Geld oder Ämter anzueignen. Obwohl sie aufgrund der Kenntnis der Bildungssprache Latein für eine vita contemplativa prädestiniert sind, wählen sie aus avarizia ein Leben des Erwerbs, machen also ein Mittel, den Reichtum, zum Ziel ihres Handelns. 24 Deshalb wendet sich Dante nicht an sie, sondern an diejenigen, die infolge ihres Seelenadels den natürlichen Drang nach Wissen noch verspüren. Diese - «Prinzen, Grafen, Ritter und viele andere edle Menschen, sowohl Männer wie Frauen» - sind «volkssprachlich»; sie haben die Kenntnis der litteratura, der Bildungssprache Latein, «denen überlassen, die sie zu einer Prostituierten gemacht haben.» Freilich gibt es auch unter den litterati Ausnahmen, aber - so wendet Dante (Conv. 1, 9, 9) mit einem Aristoteleszitat (EN 1098a18) ein -: «Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling.» Angesichts dieser besonderen Bedeutung der Speisemetaphorik in Convivio 1 ist es nicht unwahrscheinlich, daß Dante die im Briefgedicht Giovannis bereits angelegten Speisemetaphern (vox alma: 1; nunquam digesta: 12) aufgegriffen und ihnen in seinem Gedicht eine wichtige Funktion zugewiesen hat. Diese Tatsache ist bislang zu wenig beachtet worden vielleicht deshalb, weil diese Metaphern sich so nahtlos in die Hirtenwelt einfügen, die Dante, wohl zur nicht geringen Überraschung Giovannis, in seinem Antwortschreiben entwirft. Dante antwortet auf das Schreiben Giovannis mit einem lateinischen Gedicht. Insofern erfüllt er die Bitte seines Briefpartners. Allerdings wählt er nicht die geforderte vornehmste Gattung, das Epos, sondern eine, die der niedrigen Stilart (genus humile) zuzurechnen ist: das Hirtengedicht. Möglicherweise hat das Zitat aus der neunten Ekloge Vergils, mit dem Giovanni seine Epistel beschließt (strepit arguto … anser olori: Egl. 1, 50; vgl. Verg. ecl. 9, 36), Dante dazu angeregt. 25 Nach zwei einleitenden Versen wird der Leser mit der folgenden bukolischen Szene konfrontiert: Der Ich-Erzähler Tityrus sitzt gemeinsam mit Meliboeus unter einer Eiche; sie zählen die von der Weide kommenden Ziegen. Tityrus hat ein «Lied» 22 23
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Die Internationalität ist für Giovanni ein wichtiges Argument für das Lateinische (Egl. 1, 30-34). Vgl. Conv. 1, 7, 14-15: E pero` sappia ciascuno che nulla cosa per legame musaico armonizzata si puo` de la sua loquela in altra transmutare sanza rompere tutta sua dolcezza e armonia. E questa `e la cagione per che Omero non si muto` di greco in latino come l’altre scritture che avemo da loro. Dante ist hier wohl von Hieronymus beeinflußt, Praefatio in Eusebii Caesariensis Chronicon. Vgl. Cheneval/Ricklin (wie Anm. 12) z. St. Vgl. Aristoteles, EN 1095a6. Reggio (wie Anm. 2), 61.
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(cantum: 5) von Mopsus bekommen, das Meliboeus gerne kennenlernen möchte. Tityrus muß über die Neugierde seines Freundes lachen (8-19): Victus amore sui, posito vix denique risu, ‹Stulte, quid insanis?› inquam: ‹tua cura capelle te potius poscunt, quanquam mala cenula turbet. Pascua sunt ignota tibi que Menalus alto vertice declivi celator solis inumbrat … Mopsus in his, dum lenta boves per gramina ludunt, contemplatur ovans hominum superumque labores …›
Die antiken Vergilerklärer hatten die Bucolica teilweise allegorisch gedeutet. 26 Dante nutzt diesen hermeneutischen Ansatz produktiv aus: Sein Gedicht ist von Anfang an allegorisch konzipiert. Durch die Sprechsituation wird die Entschlüsselung erleichert. Tityrus, der ein «Lied» empfängt, ist identisch mit Dante, dem Adressaten der Epistel Giovannis. Dieser verbirgt sich folglich hinter Mopsus, dem von Tityrus angeredeten Verfasser dieses «Liedes» (vgl. Mopse: 7). Dem entspricht, daß die beiden Hirten verschiedenen Landschaften zugeordnet sind, die nicht nur geographisch voneinander getrennt sind: Während der Hirtenalltag von Tityrus und Meliboeus realistisch beschrieben wird, widmet sich Mopsus in einem idealisierten Ambiente der contemplatio und singt als ein neuer Orpheus Lieder, die die Natur bezaubern (11-23). Meliboeus endlich, dem die «Weideplätze» (11) und «Gedichte» (25) des Mopsus «unbekannt» sind, repräsentiert, wie Krautter überzeugend nachgewiesen hat, den von Giovanni abwertend als vulgus bezeichneten volkssprachlichen Leserkreis Dantes: «Es fällt auf, daß die Ärmlichkeit und Beschränktheit der Tityrus umgebenden Hirtenwelt vor allem an der Person des Meliboeus demonstriert wird. Andererseits spielt dieser die Rolle des lernbegierigen Zuhörers. Dies und zumal der wiederholte Hinweis auf den ungestillten Hunger des Meliboeus erinnert an die Schilderung, die Dante im Convivio vom volkssprachlichen Publikum gibt, und zwar im Kontrast zur kleinen Elite der Gebildeten …» 27 Die «Weideplätze», die Meliboeus «unbekannt» sind, stehen für das Reservoir lateinischer Bildung, das den allein auf das Volgare angewiesenen Leser- und Hörerschichten verschlossen ist. Dante gehört, wie Giovanni ausgeführt hatte, zu beiden Rezipientengruppen (sorti communis utrique: 24). Deshalb hofft Meliboeus nicht ohne Grund, daß Tityrus zwischen ihm und der Welt des Mopsus als Vermittler (te monstrante: 26) fungieren werde. Auf den ersten Blick scheint Dante nicht nur die strikte Unterscheidung Giovannis zwischen litterati und illitterati, sondern auch die damit verbundenen Wertungen zu übernehmen. Diesen Eindruck erweckt insbesondere die leicht ironisch gefärbte Schilderung des ‹bildungshungrigen› Meliboeus (magis et magis ille premebat: 7; cum sic instaret anhelus: 27), den Tityrus - in betontem Gegensatz zur vita contemplativa des Mopsus 28 - auf die Erfordernisse des beschwerlichen Hirtendaseins verweist (9-10): 26
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Diese Allegorisierung setzt bereits bald nach der Entstehung der Bucolica Vergils ein. Vgl. B. Effe und G. Binder, Die antike Bukolik. Eine Einführung, München/Zürich 1989, 71-3. Krautter (wie Anm. 2), 31. Vgl. Davie (wie Anm. 2), 189. Der Magister Giovanni del Virgilio dürfte für Dante zu den «Schwalben» gehört haben, «die noch keinen Frühling» machen. Während seine Kollegen in Bologna sich ausschließlich mit dem Rechtsstudium befassen, hat er sich der Dichtung verschrieben (Egl. 2, 28-30): Montibus Aoniis Mopsus, Melibee, quot annis, / dum satagunt alii causarum iura doceri, / se dedit et sacri memoris perpalluit umbra.
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‹Stulte, quid insanis?› inquam: ‹tua cura capelle te potius poscunt, quanquam mala cenula turbet›.
Zweifel an dieser Auffassung erregt die Tatsache, daß Tityrus/Dante die für ein zeitgeschichtliches Epos in lateinischer Sprache in Aussicht gestellte Dichterkrönung in Bologna (vgl. 33) ausdrücklich ablehnt. Statt dessen möchte er den Lorbeer in Florenz, 29 und zwar für die vollendete Commedia empfangen (48-50): … ‹ Cum mundi circumflua corpora cantu astricoleque meo, velut infera regna, patebunt, devincire caput hedera lauroque iuvabit: concedat Mopsus.›
Offenbar hat Dante seine positive Einstellung zur volkssprachlichen Dichtung nicht aufgegeben. Die Ekloge dient Dante vielmehr als ein Medium, das einerseits - als lateinisches Gedicht und Nachahmung einer klassischen Gattung - eine Annäherung an den Frühhumanisten und Vergilverehrer 30 Giovanni erlaubt, das andererseits aber - als Repräsentant des genus humile 31 - keinen Bruch mit der aufgrund der sprachlichen Form ebenfalls dieser Stilart zugerechneten Commedia bedeutet. 32 Deshalb ist es erforderlich, die Wertungen, die Dante - scheinbar im Einklang mit Giovanni - mit den Lebensweisen der Hirten Mopsus und Meliboeus verbindet, einer genaueren Prüfung zu unterziehen. In den zwei Einleitungsversen seiner Ekloge nimmt Dante die captatio benevolentiae, die das Gedicht Giovannis eröffnete, auf und entfaltet die in Pyeridum vox alma (Egl. 1, 1) liegende Metaphorik: Vidimus in nigris albo patiente lituris Pyerio demulsa 33 sinu modulamina nobis.
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Vgl. Par. 25, 1-9: Se mai continga che ’l poema sacro / - al quale ha posto mano e cielo e terra … / vinca la crudelta` che fuor mi serra / del bello ovile ov’ io dormi’ agnello … / con altra voce omai, con altro vello / ritornero` poeta, e in sul fonte / del mio battesmo prendero` ’l cappello … R. Fabbri («Su Par. XXV, 1-9 e Ecl. 2, 42-50», Lettere italiane 45, 1993, 244-249) betrachtet auch diese Paradiso-Verse als Reaktion auf das Angebot Giovannis. Vgl. Martellotti (wie Anm. 14), 193: «… l’appellativo ‹del Virgilio› sembra essere un sopranome, che egli si merito` come commentatore o comunque ammiratore del poeta latino …» In Egl. 1, 36 nennt sich Giovanni selbst vocalis verna Maronis. Servius hatte in seiner Einleitung zu den Bucolica den Werken Vergils jeweils eine der drei rhetorischen Stilarten (genera dicendi, xaraàth˜ rew th˜ w le¬jevw ) zugeordnet. Die Eklogen gehören nach seiner Auffassung zum genus humile, weil sie von einfachen Hirten und deren Tätigkeiten handeln. Die Einteilung des Servius ist in die mittelalterliche Poetik eingegangen. Vgl. etwa Johannes von Garlandia, Poetria, c. 5, 86: Item sunt tres stili secundum tres status hominum. Pastorali vite conuenit stilus humilis, agricolis mediocris, gravis gravibus personis, que presunt pastoribus et agricolis … Secundum has tres personas Virgilius tria composuit opera: Bucolica, Georgica, Eneyda. Zitiert nach: Cheneval/Ricklin (wie Anm. 12), p. 103. Dante unterscheidet in seinem Brief an Cangrande Tragödie und Komödie nach dem Inhalt (materia) und nach der Stilart (modus loquendi). Die Commedia sei aufgrund der Stilart als Komödie zu bezeichnen, da (cap. X = Ep. 13, 31) remissus est modus et humilis, quia locutio vulgaris, in qua et muliercule comunicant. Zur offenbar von einem demulgere (nicht etwa demulcere) abgeleiteten Form demulsa siehe den Kommentar von G. Albini (nuova edizione a cura di G. B. Pighi, Bologna 1965) z. St.; vgl. die Ecloga responsiva Giovannis (Egl. 3, 19-21): … lac distillat in ora, / quale nec a longo meminerunt tempore mulsum / custodes gregium …
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Die wohlklingenden Verse des stellvertretend für Giovanni stehenden Hirten Mopsus sind «gemolken aus den Brüsten der Musen». Die Milch 34 bleibt auch weiterhin mit Mopsus verbunden: Obwohl dieser bereits «bis zum Gaumen voll ist mit tönender Milch» (31-2), verspricht Tityrus ihm weitere «zehn Krüglein» Milch von einem Schaf, das abseits von seiner Ziegenherde weidet und freiwillig zum Melken kommt (58-64): ‹Est mecum quam noscis ovis gratissima›, dixi, ‹ubera vix que ferre potest, tam lactis abundans; rupe sub ingenti carptas modo ruminat herbas; nulli iuncta gregi nullis assuetaque caulis, sponte venire solet, nunquam vi, poscere mulctram. Hanc ego prestolor manibus mulgere paratis, hac inplebo decem missurus vascula Mopso …›
Über die allegorische Bedeutung dieses Schafes und seiner Milch ist viel gestritten worden. Durch die Sprechsituation ist klar, daß sich hinter den «Krüglein», die Tityrus Mopsus schicken will, die ‹Antwort› Dantes verbergen muß, die sich Giovanni im Falle einer Absage erbeten hatte (vgl. Egl. 1, 51). Problematisch ist die genaue Bedeutung der decem … vascula: Die einen wollten darunter die ersten zehn Gesänge des zum Zeitpunkt des Briefwechsels noch unfertigen (vgl. Egl. 2, 48-49) Paradiso verstehen. Andere sahen in dem Schaf vielmehr eine Verkörperung der bukolischen Dichtung, die Dante Giovanni als Ersatz für das geforderte Epos anbietet. 35 Da Dante die lateinische Epistel Giovannis eindeutig als demulsa … modulamina bezeichnet hat, liegt es nahe, die Milch auch in den anderen Fällen allegorisch als Dichtung in lateinischer Sprache zu deuten. Deshalb ist es äußerst unwahrscheinlich, daß mit den «zehn Krügen» Milch Teile der volkssprachlichen Commedia gemeint sind. 36 Da die Milch von Dante am Anfang der Ekloge programmatisch mit der Dichtung in lateinischer Sprache verknüpft worden ist, dürfte der Leser die mala cenula (10), auf die Tityrus seinen Hirtenkollegen Meliboeus verweist, folgerichtig als volkssprachliche Dichtung auffassen. Worum es sich bei dieser «schlechten», der süßen Milchspeise entgegengesetzten Nahrung genau handelt, verrät Dante erst ganz am Ende seiner Ekloge (65-68): ‹Tu tamen interdum capros meditere petulcos et duris crustis discas infigere dentes.› Talia sub quercu Melibeus et ipse canebam, parva tabernacla nobis dum farra coquebant.
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Die Artikel «lattare» und «latte» von S. Agliano` in der Enciclopedia Dantesca, Bd. 3 (1973), 601 gehen nicht auf den Briefwechsel zwischen Dante und Giovanni del Virgilio ein. Ein Artikel «lac» ist nicht vorhanden. Vgl. die Zusammenfassung von Martellotti (wie Anm. 2), 644. Vielleicht hat Dante auch - entsprechend den zehn Eklogen Vergils - eine Reihe von zehn bukolischen Gedichten geplant. Darauf könnte, so Brugnoli/Scarcia (wie Anm. 1) zu Egl. 2, 58, die dritte Ekloge Vergils hindeuten, in der von «zehn goldenen Äpfeln» die Rede ist (70-71): Quod potui, puero silvestri ex arbore lecta / aurea mala decem misi ... In einer von Servius zurückgewiesenen allegorischen Interpretation sind die «zehn Äpfel» als die Augustus gewidmeten zehn Eklogen Vergils gedeutet worden: et volunt quidam hoc loco allegoriam esse ad Augustum de decem eclogis … Weitere Gründe, die gegen die Gleichsetzung der «zehn Krüglein» mit zehn Gesängen des Paradiso sprechen, führen Brugnoli/Scarcia (wie Anm. 1) zu Egl. 2, 58 und 64 an.
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Die beiden Schlußverse (67-68) korrespondieren offensichtlich mit den zwei einleitenden Hexametern. Deutlich kontrastiert Dante die demulsa … modulamina (2) des Mopsus und die farra (68), die Tityrus und Meliboeus in ihrer Hütte zubereiten. Die Bedeutung dieser Verse ist bislang in der Forschung unterschätzt worden. Es handelt sich hier nicht einfach nur um «a note of rustic simplicity». 37 Vielmehr verrät Dante erst in diesen Versen den Gegenbegriff zu der mehrfach erwähnten «Milch» der Musen und gibt dem Leser damit einen wichtigen Schlüssel zur Deutung der Ekloge in die Hand. Die mala cenula, die Meliboeus «verwirrt» (10), besteht aus «Spelzweizen» (farra: 68). Beim Spelzweizen (far, ador) 38 läßt sich das Korn anders als beim Dreschweizen (triticum) nicht durch Dreschen aus seiner Umhüllung (Spelze) befreien. Der Spelzweizen muß daher zuerst gestampft und dann geröstet werden. Diesen Prozeß des Röstens beschreibt der letzte Vers der Ekloge. Das far eignet sich nicht zur Herstellung lockerer gesäuerter Brote. Vielmehr wird daraus ein Brei (puls) bereitet oder eine Art Kuchen (placenta) geknetet. In einer berühmten Szene der Aeneis dienen aus Spelzweizen hergestellte Fladen als Teller (Aen. 7, 109-115): instituuntque dapes et adorea liba per herbam subiciunt epulis (sic Iuppiter ipse monebat) et Cereale solum pomis agrestibus augent. consumptis hic forte aliis ut uertere morsus exiguam in Cererem penuria adegit edendi et uiolare manu malisque audacibus orbem fatalis crusti … 39
Bei den dura crusta, auf die Tityrus Meliboeus verweist, dürfte es sich um solche Spelzweizenfladen handeln. 40 Ursprünglich das Getreide schlechthin (Plinius, nat. 18, 83), blieb der Spelzweizen nach Einführung des triticum in Rom die Nahrung der einfachen Leute (Martial 5, 78, 9; 13, 8) und fand zugleich als Tierfutter Verwendung. Darauf spielt Tityrus durch den Hinweis an, Meliboeus möge «sich die Ziegen zum Vorbild nehmen» (capros meditere: 65). 41 Far übernimmt im römischen Bereich die Rolle, die in Griechenland die Gerste, ebenfalls zumeist ein Spelzgetreide, spielte. 37
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Davie (wie Anm. 2), 189. Ebenso Reggio (wie Anm. 2), 69: «… Dante chiude la egloga con una di quelle scenette bucoliche di efficace intimita` domestica …» und Krautter (wie Anm. 2), 31: «Die Ekloge endet mit einem Bild, das einen weniger idyllischen als ärmlichen Eindruck vom Hirtenleben hinterläßt …» Etwas anders der Kommentar von Brugnoli/Scarcia (wie Anm. 1) z. St.: «Qui i ‹dura crusta› … sono immagine piu` realistica del duro e salato pane altrui che domina l’Imagery dantesca dell’esilio …» Die oft begegnende Übersetzung «Spelt» ist nicht korrekt. Es handelt sich bei der Pflanze wohl um Emmer. Vgl. zum folgenden die Artikel «Dreschen», «far» und «Gerste» in: Der Kleine Pauly, Bd. 2, München 1979, Sp. 162-3, 514-5 und 774-5. N. Horsfall weist in seinem Kommentar zum siebten Buch der Aeneis (Leiden/Boston/Köln 2000) darauf hin, daß die Szene sich durch ein «pastoral setting» auszeichnet (zu Vers 112). Vergils exiguam in Cererem (113) entspricht Dantes parva … farra (Egl. 2, 68), das uertere morsus (112) dem infigere dentes (Egl. 2, 66). Vgl. Ovid, fast. 6, 179-180: sus erat in pretio, caesa sue festa colebant; / terra fabas tantum duraque farra dabat. E. Cecchini betont in seinem Kommentar zu den Egloghe (Mailand/Neapel 1979), daß meditari bei spätantiken Autoren «nachahmen» bedeuten kann (mit Hinweis auf TLL, Bd. VIII, col. 580, 17 ff.) und bemerkt zu Egl. 2, 66: «Si tratta insomma di un cibo solido, che richiede denti saldi e esercitati, come quelli dei capri.» Obwohl Cecchini «als Beispiel» für die Metapher der festen Speise Alberico di Montecassino, Flores rhetorici 1, 1 (Hactenus quasi lacte doctrinae mentes infantium rigavimus, superest ut viriles animos suo pane consolidemus.) zitiert, erkennt er nicht, daß gerade die in diesem Zitat angesprochene Kombination der Metaphern Milch und feste Speise für das Verständnis der Ekloge Dantes von zentraler Bedeutung ist.
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Dante stellt der Milch des Mopsus also zunächst eine feste Speise gegenüber (duris crustis). Diese wird dann als Spelzweizen (farra) spezifiziert. Auf den ersten Blick scheinen auch die Mopsus und Meliboeus zugewiesenen Nahrungsmittel die Abwertung der Volkssprache zu bestätigen, die Giovanni del Virgilio in seinem Briefgedicht ausgesprochen hatte: Der Vertreter des volkssprachlichen Publikums wird mit einer offensichtlich schwerverdaulichen Speise, die sich als Tiernahrung entpuppt, abgefunden, während Giovannis alter ego, Mopsus, in einem fort süße Milch schlürft. Die Unterscheidung verschiedener Getreidesorten erinnert an das erste Buch des Convivio. Dort hatte Dante betont, daß das «Brot» seines Kommentars nicht aus «Weizen» (frumento = Latein), sondern aus «Gerste» (biado = Volgare) hergestellt ist (1, 5, 1 und 1, 10, 1): Grande vuole essere la scusa, quando a cosı` nobile convivio per le sue vivande, a cosı` onorevole per li suoi convitati, s’appone pane di biado e non di frumento; e vuole essere evidente ragione che partire faccia l’uomo da quello che per li altri e` stato servato lungamente, sı` come di comentare con latino.
Wenn Dante die Nahrung des Meliboeus als minderwertige Getreidesorte identifiziert, scheint er die im Convivio vertretene Position zu wiederholen, daß das Latein dem Volgare an «Adel», «Tugend» und «Schönheit» überlegen sei. Neu ist jedoch, daß dem Spelzweizen in der Ekloge nicht ein edleres Getreide, sondern Milch entgegengestellt wird. Was dieser Wechsel bedeutet, kann nur verstehen, wer die Vorgeschichte der verwendeten Speisemetaphern kennt. Sowohl die Unterscheidung verschiedener Getreidesorten als auch die Gegenüberstellung von flüssiger und fester Speise haben eine lange Tradition in der Bibelexegese: (1) Die Unterscheidung von Gerste (hordeum) und Weizen (triticum) ist in der Exegese insbesondere ausgehend von der doppelten Erzählung der Speisungsgeschichte bei Matthaeus (14, 19-21; 15, 35-39) und Marcus (6, 30-44; 8, 1-10) entwickelt worden. 42 Zwar spezifizieren die beiden Evangelisten weder bei der Speisung der 5000 noch bei der der 4000 die Getreidesorte. Doch bei Johannes konnte man lesen, daß für die Speisung der 5000 «Gerstenbrote» (panes hordeaceos: 6, 9.13) vermehrt worden sind. Gleichzeitig ist die Anzahl der Teilnehmer der Speisungen sowie die der jeweils vermehrten Brote und Fische 43 allegorisch gedeutet worden: Die 5000 verweist auf die Fünfzahl der Sinne und
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Vgl. dazu ausführlich H.-J. Spitz, Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends, Münstersche Mittelalter-Schriften 12, München 1972, 185-188. Spitz unterscheidet (p. 158-200) im Bereich der bildlichen Ausdrucksformen für die verschiedenen Schriftsinne neben dem Paar «Gerste und Weizen» folgende «Stufungsmetaphern»: «Milch und feste Speise», «Milch und Honig», «Milch und Wein», «Wein und Milch», «Weide», «Silber und Gold» sowie «Erz Silber - Gold». Bei der Speisung der 5000 waren es 5 Brote und 2 Fische (Matth. 14, 17), bei der Speisung der 4000 dagegen 7 Brote und «wenige Fischlein» (paucos pisciculos: Matth. 15, 34). Vgl. die Glossa ordinaria zu Matth. 14, 17 (PL 114, col. 136A): Per quinque panes et duos pisces, totum Vetus Testamentum significatur. Per quinque panes, quinque libri Moysi, qui bene hordeacei, qui cibus est jumentorum, rudibus enim aspera et grossa danda … Intus tamen latet medulla suavissimi sensus. Per duos pisces, prophetae et psalmi … und 15, 36: ‹Septem panes›, Scriptura Novi Testamenti in quo gratia Spiritus sancti et revelatur et datur. Nec sunt hordeacei, ut supra, quia hic non (ut in lege) vitale alimentum animae figuris, quasi tenacissima palea tegitur. Hic non duos pisces (ut in lege duo ungebantur, rex et sacerdos), sed pauci, id est, sancti Novi Testamenti, qui de fluctibus saeculi sunt erepti, et sustinent turbulentum mare, et exemplo suo nos reficiunt, ne in via deficiamus.
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die fünf Bücher des Moses, die 4000 läßt sich auf die vier Evangelien beziehen. 44 So heißt es bei Hieronymus: Salvator quoque quinque milia uirorum qui adhuc sensibus corporis serviebant et legem sequebantur Moysi, hordeaceis panibus saturauerat. Qui in alio loco frangens septem legis panes et frusta comminuens, quattuor milia uiros replevit triticeis panibus, qui euangelicum numerum sequebantur. Istiusmodi populi comedunt et partem palearum, dum in quibusdam sequuntur litteram, et tamen per paleas et hordeum paulatim proficiunt, ut transeant ad frumentum … 45
Hieronymus unterscheidet zwei verschieden begabte Zuhörergruppen: diejenigen, die noch «ihren fünf Sinnen dienen und dem Gesetz des Moses folgen» und diejenigen, die bereits für ein geistiges Verständnis der Schrift empfänglich sind. Da die erste Gruppe nach der Auskunft des Johannes mit Gerstenbroten gesättigt worden ist, muß der zweiten eine höherwertige Nahrung gereicht worden sein: Ohne jeden Anhalt im Text wird deshalb das Brot bei der Speisung der 4000 als Weizenbrot spezifiziert. Daß Dante sich dieses biblischen Kontextes bewußt war, zeigt der Schluß des ersten Convivio-Buches (1, 13, 12): Questo [sc. das Volgare] sara` quello pane orzato del quale si satolleranno migliaia, e a me ne soperchieranno le sporte piene. Questo sara` luce nuova, sole nuovo, lo quale surgera` la` dove l’usato tramontera`, e dara` lume a coloro che sono in tenebre e in oscuritade per lo usato sole che a loro non luce. 46
Es besteht allerdings ein entscheidender Unterschied zwischen der aufgezeigten exegetischen Tradition und der Verwendung des Metaphernpaars biado - frumento im Convivio: In der Exegese geht es um die Abgrenzung von zwei verschiedenen Rezipientengruppen, einer kleineren begabteren und einer größeren weniger begabten. Diesen beiden Gruppen wird die ihnen jeweils angemessene geistige Nahrung zugewiesen. Verbunden ist damit die Hoffnung, daß die größere Gruppe durch die propädeutische Unterweisung allmählich in die Lage versetzt wird, auch schwierigere Inhalte aufzunehmen. Auch Dante unterscheidet zwei Rezipientengruppen. Doch bei ihm ist die größere Gruppe, an die er sich in erster Linie wendet, zugleich die begabtere und aufnahmefähigere. Da aber Dante das Metaphernpaar nicht auf den Inhalt, sondern auf die sprachliche Form seiner Botschaft anwendet, 47 kommt es im Convivio zu der paradoxen Situation, daß das nach Dantes Ansicht 44
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Zu weiteren Deutungen vgl. H. Meyer und R. Suntrup, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, München 1987, Sp. 870-871. In Esaiam, lib. 9, 30 (ed. Adriaen, CCSL 73, p. 394). Im Mittelalter ist die Kombination von Gerste- und Weizenmetapher weniger verbreitet. Spitz (wie Anm. 42), 186 verweist u. a. auf Hrabanus Maurus (In Ruth, c. 8, PL 108, 1210D-1211A; De universo 19, 2, PL 111, 505 D), den Benediktinerabt Franco (De gratia Dei, lib. 10, PL 166, 774BC) und die Ausführungen über die Ameise in der Physiologus-Tradition. Auf den Unterschied von Kleriker- und Laienbildung wendet, wie Imbach (wie Anm. 9), 24 und 133 betont, Albert der Große das Metaphernpaar an (In Joel prophetam enarratio 1, 11): Frumentum est refectio spiritualis quae clericis et religiosis proponenda est. Hordeum autem, quod grossum et asperum est, grossam significat doctrinam …, quae laicis exhibenda est sicut iumentis. Angesichts der engen Verknüpfung des Metaphernpaars hordeum - triticum mit der doppelten Speisung bei Matthaeus und Marcus scheint es mir verfehlt, daß G. Busnelli und G. Vandelli in ihrem Kommentar (Florenz 21968) zu dieser Stelle ausschließlich auf das Johannesevangelium und die entsprechenden Auslegungen dazu eingehen. Ebenso Cheneval/Ricklin (wie Anm. 12). So Busnelli/Vandelli (wie Anm. 46) z. St. Problematisch scheint mir dagegen der Ansatz von Cheneval in Cheneval/Ricklin (wie Anm. 12) zu sein, der das «Gerstenbrot» nicht nur auf die Sprache, sondern zugleich auf ein bestimmtes Philosophieverständnis beziehen möchte: «Dantes metaphorische Bezeich-
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höherbegabte, durch «Seelenadel» ausgezeichnete Publikum mit der minderwertigeren ‹Nahrung› gespeist wird. Die Hoffnung, die Hieronymus ausgesprochen hatte, daß die weniger begabten Rezipienten per paleas et hordeum paulatim proficiunt, ut transeant ad frumentum, überträgt Dante auf die Sprache. Er bietet dem volkssprachlichen Publikum keine Lateinkurse an, sondern ist der Überzeugung: Das Volgare kann veredelt werden, es kann «die neue Sonne» (Conv. 1, 13, 12) sein, welche die Aufgabe des Lateins da übernimmt, wo dieses nicht mehr verstanden wird. Daß Dante sich in seinem philosophischen Kommentar bewußt für die von den ‹Gebildeten› verachtete Sprache entscheidet, ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg, «den schrecklichen Mißbrauch der Welt» (Conv. 1, 9, 5) zu korrigieren und die paradoxe Situation zu beenden, daß die Vielen und zugleich Begabteren sich mit einer dem Latein nicht oder besser gesagt noch nicht gleichwertigen Sprache zufriedengeben müssen. (2) Die Gegenüberstellung von Milch und fester Speise ist durch den ersten Korintherbrief des Apostels Paulus Gemeingut der christlichen Tradition geworden (3, 1-2): Et ego, fratres, non potui vobis loqui quasi spiritualibus, sed quasi carnalibus. Tamquam parvulis in Christo, lac vobis potum dedi, non escam.
Ebenso argumentiert der Verfasser des Hebräerbriefes (5, 12-14): et facti estis quibus lacte opus est, non solido cibo. Omnis enim, qui lactis est particeps, expers est sermonis iustitiae: parvulus enim est. Perfectorum autem est solidus cibus: eorum, qui pro consuetudine exercitatos habent sensus ad discretionem boni et mali.
Das Metaphernpaar Milch - feste Speise 48 dient bei beiden Autoren zur Unterscheidung von zwei verschieden begabten Gruppen von Rezipienten: der carnales bzw. parvuli einerseits und der spirituales bzw. perfecti andererseits. Die «Fleischlichen» oder «Kinder» müssen mit Milch genährt, d. h. in den elementaren Glaubenslehren unterwiesen werden, während die «Geistlichen» oder «Erwachsenen» bereits für die Aufnahme der «verborgenen Weisheit
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nung seines Kommentars als Gerstenbrot bedeutet folglich, daß er … keine Philosophie, die die Theologie und den Glauben ersetzt, sondern eine an die Grenzen der menschlichen Existenz gebundene Philosophie in praesenti anstrebt und vermittelt.» Denn erstens ist das Metaphernpaar biado - frumento, auf das Dante mit der Formulierung pane orzato rekurriert (vgl. Conv. 1, 13, 11), ausdrücklich eingeführt worden, um die Qualität von zwei verschiedenen Sprachen zu bezeichnen. Im Text findet sich zweitens kein Anhaltspunkt, der den Leser veranlassen könnte, die der ‹Gersten-Philosophie› entsprechende WeizenNahrung als Theologie zu deuten. Vielmehr würde alles dafür sprechen, den Weizen als Philosophie in lateinischer Sprache und d. h. als traditionelle Schulphilosophie zu verstehen. Meiner Ansicht nach widerspricht sich Cheneval in diesem Punkt selbst. Denn zu Conv. 1, 5, 1 hatte er richtig bemerkt: «Dante bleibt zwar bei der Speisung der Laien durch Gerstenbrot, überträgt aber das Bild vom Inhalt auf das sprachliche Medium. Für die an Laien vermittelte Philosophie macht Dante keinen Unterschied in der Würde, wohl aber wählt er bewußt die seiner Meinung nach rauhere Sprache für deren Vermittlung.» Die Übertragung in eine andere Sprache und die Hinwendung an ein anderes Publikum verändert, wie Imbach (wie Anm. 9), 68-71 gezeigt hat, die Philosophie: Dante stellt gegen die Tradition die Ethik über die Metaphysik. Aber die Philosophie des Convivio ist nicht «Gerste», insofern sie ‹Laienphilosophie›, sondern insofern sie in einer dem Latein noch unterlegenen Sprache verfaßt ist. Zur weiten Verbreitung dieser Metaphern vgl. Spitz (wie Anm. 42), 158-178 und K. Lange, «Geistliche Speise. Untersuchungen zur Metaphorik der Bibelhermeneutik», Zeitschrift für deutsches Altertum 95, 1966, 81-122. Diese Metaphern sind bereits früh auch für die Dichtung und deren Auslegung fruchtbar gemacht worden. Zum Tristan Gottfrieds von Straßburg, zu Otfried von Weißenburg und zum Dialogus super auctores des Konrad von Hirsau vgl. Spitz (wie Anm. 42), 168-175.
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Gottes» (1 Cor. 2, 7) bereit sind. In patristischer und mittelalterlicher Literatur ist die Unterscheidung von Milch und fester Speise, die bei Paulus zur Charakterisierung verschiedener Schwierigkeitsgrade innerhalb der Glaubenslehre dient, auch auf den Prozeß der Bibelexegese übertragen worden: Der jedem Leser zugängliche buchstäbliche Sinn der Schrift ist dabei mit der flüssigen und leicht verdaulichen Milch gleichgesetzt worden. Der erst durch eine Auslegung zugängliche allegorische Sinn entspricht der festen Speise, die vor dem Genuß zerkleinert werden muß. 49 Zum Zerkleinern der Nahrung sind Zähne nötig, die auch in Dantes Ekloge eigens erwähnt werden (discas infigere dentes: 66). Der Prozeß der Entwöhnung, das ‹die Zähne gebrauchen lernen› steht für den Erwerb der Kompetenz zur allegorischen Lektüre der Heiligen Schrift. 50 Die feste Speise wird je nach dem Kontext als Fleisch, Brot usw. spezifiziert. Hieronymus hat in seinem 78. Brief die Metaphernpaare Milch - feste Speise sowie Gerste - Weizen kombiniert und so ein komplexes Programm geistiger Entwicklung entworfen: Igitur Iudaei paruuli et qui solidum cibum glutire nequeunt, sed adhuc lacte nutriuntur infantiae … omnia, quae scripta sunt, audiant corporaliter … Nos autem derelinquentes Capharnaum 51, agrum quondam pulcherrimum, et cum Iesu egredientes in desertum pascimur panibus eius, si insipientes sumus et iumentorum similes, hordeaceis, si rationale animal, triticeis et ex grano frumenti commolitis … 52
Dante hat die Rede von der Milch in poetologischen Kontexten besonders geschätzt. 53 Das Neue in der Ekloge ist, daß er die bereits bei Giovanni latent vorhandene MilchMetapher (vgl. Pyeridum vox alma: Egl. 1, 1) mit einer zweiten Speisemetapher verknüpft: der der festen Nahrung. Giovanni del Virgilio hatte Dante mit einem Bibelzitat herausgefordert: Er solle seine Perlen nicht unter die Schweine werfen (Matth. 7, 6). Dante kontert mit der auf Paulus und den Hebräerbrief zurückgehenden Unterscheidung von Milch und fester Speise, die sich zwanglos in den bukolischen Kontext seiner Ekloge einfügt: Die scheinbar armselige Nahrung des Meliboeus - die mala cenula (10), die dura crusta (vgl. 66) - erweist sich vor dem biblischen Hintergrund als höherwertige Kost. Mit der festen Speise, die zunächst «verwirrt» (10), deren Verzehr gelernt sein will (discas infigere dentes: 66), kann nur die Commedia gemeint sein. Auf sie verweist Tityrus/Dante den Hirten Meliboeus, den Vertreter des volkssprachlichen Publikums, nachdrücklich. Für ihre Interpretation bedarf es wie für die der Bibel guter «Zähne», ‹ d. h. es handelt sich um ein allegorisches Gedicht, dessen geistiger Sinn sich nur durch die Einübung entsprechender 49 50
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Vgl. u. a. Orig. Num. hom. 27, 1; Cant. 2; Lev. hom. 5, 7; Ri. hom. 5, 6. Vgl. etwa die Ausführungen Bedas über die Zähne der Braut des Hohenliedes (In Cant. lib. 3., c. 4, 14, PL 91, 1130 D bis 1131 A): Solent quippe piae nutrices particulas panis dentibus conficere, et inter lactandum parvulorum faucibus minuta mansa immittere, et inter lactandum, parvulorum faucibus minuta mansa immittere, donec eos paulatim abstractos a lacte, ad usum panis perducant; sic sancta mater Ecclesia habet doctores, qui instar uberum lac doctrinae mollioris incipientibus ministrent, habet eosdem ipsos, non ignaros bene proficientibus panem verbi fortioris porrigere. Vgl. Matth. 4, 13-17. Ep. 78, 1: Ad Fabiolam de mansionibus filiorum Israhel per heremum (ed. J. Labourt, 1954, p. 53-4). Im 21. Gesang des Purgatorio bezeichnet der christliche Dichter Statius die Aeneis Vergils als seine mamma (97) und nutrice (98). Homer ist der Dichter, den «die Musen mehr als jemals einen anderen säugten» (Purg. 22, 102). Die Musen selbst sind «Ammen» (ebd., 105). Noch im Paradiso beschwört Dante die «Milch» der Musen, die doch nicht ausreicht, das «heilige Lächeln» Beatrices zu beschreiben (23, 5559).
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Interpretationstechniken erschließt. Dante ist im Gegensatz zu Giovanni del Virgilio der Ansicht, daß sein volkssprachliches Publikum diese Kompetenz zum Verständnis allegorischer Dichtung erlernen kann: Dieses ist nicht nur, wie die amüsante Schilderung des bildungshungrigen Meliboeus zeigt, lernbegierig, sondern auch lernfähig. Die süße Milch, die auf den ersten Blick wertvoller zu sein schien, wird dagegen als Kindernahrung abgewertet. Ihr entspricht die von Giovanni präferierte epische Dichtung in lateinischer Sprache. Dante stellt also durch Rückgriff auf die biblische Metaphorik die in der Epistel Giovannis vorgenommenen Wertungen auf den Kopf. Noch klarer wird der Unterschied zwischen den beiden Dichtungsformen, wenn man bedenkt, daß der Milch nicht eine beliebige feste Speise gegenübergestellt wird. Dante spezifiziert, wie gezeigt worden ist, die feste Nahrung als farra (68): Tityrus bietet Meliboeus also eine minderwertige Getreidesorte an. Dieser offensichtliche Rückgriff auf die Metaphorik des Convivio soll dem Leser einen Fingerzeig geben. Der «Spelzweizen» der Ekloge (far) erinnert an die «Gerste» des Convivio (biado, pane orzato). In beiden Fällen steht die minderwertige Getreidesorte für das Volgare. Dem Spelzweizen wird aber nun nicht mehr der höherwertige Dreschweizen, sondern die Milch gegenübergestellt, die als flüssige Speise jeder Form von fester Nahrung, sogar dem Tierfutter, unterlegen ist. Die Verknüpfung der Metaphernpaare Gerste - Weizen und Milch - feste Nahrung deutet an, daß es Dante in seiner ersten Ekloge nicht mehr nur um eine Abgrenzung auf der sprachlichen Ebene geht: Die Commedia ist aus Spelzweizen, insofern sie im Volgare verfaßt ist, sie ist aber zugleich feste Nahrung im Gegensatz zur Milch, also ein Gedicht, das an die Interpretationskompetenz seiner Leser besondere Anforderungen stellt. Die Commedia enthält über den buchstäblichen Sinn hinaus zumindest eine weitere Sinnebene, die vom Rezipienten durch den Einsatz seiner «Zähne» offengelegt werden muß. Die sprachliche Unterlegenheit wird durch die inhaltliche Überlegenheit mehr als kompensiert: Hinter den comica verba (Egl. 2, 52) wird, soweit dies das genus humile der bukolischen Dichtung zuläßt, das poema sacro (Par. 25, 1) sichtbar. Doch nicht nur die Einbeziehung der inhaltlichen Ebene unterscheidet die komplexere Speisemetaphorik der Ekloge von der des Convivio. Hinzu kommt, daß eine Alternative zur Volkssprache offensichtlich nicht mehr gegeben ist. Weder in der ärmlichen Hirtenwelt von Tityrus und Meliboeus noch im Aufenthaltsbereich des Mopsus scheint es «Weizenbrot», also eine der festen Speise der Commedia gleichwertige Dichtung in lateinischer Sprache zu geben. 54 Nicht nur die Unterscheidung verschiedener Getreidesorten erinnert an das «allgemeine Gastmahl», das Dante im Convivio aus «Mitleid» (1, 1, 9-10) und «Freigebigkeit» (1, 8, 1) ausrichtete. Ein weiterer Bezugspunkt ist die deutliche pädagogische Tendenz, die das Verhältnis des Tityrus zu Meliboeus auszeichnet. Die Überlegenheit des Tityrus, die sich in dem Lachen über die verfehlte Neugierde des Meliboeus zeigt (6-7), wird gemildert durch ehrliche Zuneigung (meus … Meliboeus: 4; victus amore sui: 8). Die wiederholten, auch drastischen Ermahnungen (Egl. 2, 9-10 und 65-66) von Tityrus/Dante zeigen, daß er von der Bildbarkeit des Meliboeus nicht nur überzeugt ist, sondern an ihr auch ein großes Interesse hat. Sie stellen ganz offensichtlich ein in die Hirtenwelt transponiertes Äquivalent der Leseranreden in der Commedia dar, in denen sich der Dichter Dante autoritativ an sein Publikum wendet. Die Dringlichkeit, mit der Tityrus Meliboeus auf die Sorge für seine
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Auch Giovanni del Virgilio fordert, wie bereits gesagt, von Dante keine Commedia in lateinischer Sprache.
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Ziegen verweist, läßt die ‹kontemplative› Existenz des Mopsus in einem negativen Licht erscheinen (Egl. 2, 18-19): Mopsus in his, dum lenta boves per gramina ludunt, contemplatur ovans hominum superumque labores: inde per inflatos calamos interna recludit gaudia sic ut dulce melos armenta sequantur, placatique ruant campis de monte leones, et refluant unde, frondes et Menala nutent.
Mopsus beschäftigt sich mit den Gegenständen epischer Dichtung: «den Werken von Menschen und Göttern» (19). 55 Sein ‹Publikum› aber sind ausschließlich Tiere und die unbelebte Natur. Es fehlt völlig die pädagogische Tendenz, die das Verhältnis des Tityrus zu seinem Mithirten charakterisiert. Mopsus dichtet nicht in pro del mondo che mal vive (Purg. 32, 103), sondern zu seinem eigenen Vergnügen (interna recludit gaudia). Diese Interpretation wird gestützt durch eine Anspielung auf Vergil: Das contemplatur ovans hominum superumque labores (19) erinnert deutlich an Vergils hominumque boumque labores (georg. 1, 118). Dieser Versschluß leitet in den Georgica die bekannte Stelle ein, an der Vergil ausführt, daß Iuppiter absichtlich das Goldene Zeitalter beendet habe, damit die Menschen nicht untätig blieben (1, 121-24): pater ipse colendi haud facilem esse uiam uoluit, primusque per artem mouit agros, curis acuens mortalia corda nec torpere graui passus sua regna ueterno.
Die idyllische Lebensform des Mopsus widerspricht dem Plan Iuppiters. 56 Seine Rinder (boves), die im Ackerbau und bei der Produktion von Brot eingesetzt werden könnten, «vergnügen sich» (Egl. 2, 18) untätig auf der Weide. Es ist kein Wunder, daß Rinder auch im Bereich der behandelten Speisemetaphern in dieser Weise funktionalisiert worden sind. So heißt es im Genesis-Kommentar des Rupert von Deutz: Oves quas dedit Abraham Abimelech agniculos pariunt, et dulci lacte teneros fetus alunt; boves autem nunc in area triturant, nunc vertendo terram operantur, et panem educunt ad cor hominis confirmandum. 57
Geschickt weist Dante den Vergilverehrer Giovanni durch ein Vergilzitat auf das Manko der von ihm bevorzugten Dichtung hin: Giovanni del Virgilio nutzt die ihm durch die lateinische Bildung zugänglichen Ressourcen - die «Weideplätze», die Meliboeus «unbekannt» sind - nicht in der von Gott vorgesehenen Weise: Literatur soll nicht, wie es
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Vgl. Servius, zu Aen. 1, pr. (ed. Thilo, p. 4): est autem heroicum quod constat ex divinis humanisque personis, continens vera cum fictis. Vgl. die Antwort Giovannis (Egl. 3, 31-32): depostis calamis maioribus, inter / arripio tenues ... Anders deuten Brugnoli/Scarcia (wie Anm. 1), z. St. die Anspielung auf Vergil: «… ancora non senza ironia, se sostituisce i ‹boves› virgiliani con i ‹superi› del tempo, e cioe` i leader politici, come pare.» Rupertus Tuitiensis, In Genesim, lib. VI, cap. XXVI (PL 167, 425A).
Die Milch der Musen
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Augustinus in seiner Schrift De doctrina christiana formuliert hatte, «genossen», sie soll «gebraucht» werden, d. h. sie soll als ein Mittel dienen, das den Leser zu Gott führt. 58 Die Erneuerung der bukolischen Dichtung, die Dante in seiner ersten Ekloge vollzieht, ist ein Beispiel für diesen ‹richtigen Gebrauch› von Literatur. Durch die aufgezeigte Einbindung christlicher Metaphorik wird das durch Vergil bereitgestellte genus humile zu einem Träger neuer Bedeutungsinhalte: (1) Die armselige Nahrung des Meliboeus erweist sich vor dem Hintergrund der paulinischen Unterscheidung von Milch und fester Speise als Metapher für das poema sacro Dantes. (2) Dante weicht dem Angebot Giovannis, ein historisches Epos in lateinischer Sprache zu verfassen, aus, indem er sein Gesicht hinter der bescheidenen Maske des Hirten Tityrus verbirgt. 59 Die deutliche pädagogische Tendenz, die seine Ekloge beherrscht, aber zeigt, daß sich sein ‹Hirtenamt› nicht nur auf Ziegen, sondern auch auf Menschen erstreckt. Durch die Einbeziehung der christologischen Metapher des pastor bonus verkehrt sich die ironische Selbstverkleinerung in ihr Gegenteil. Bereits am Ende des ersten Convivio-Buches hatte sich Dante indirekt mit Christus verglichen. Sein «aus Mitleid» und «Freigebigkeit» veranstaltetes «allgemeines Gastmahl» erschien als Äquivalent der biblischen Speisung der 5000. 60 Jetzt wird hinter dem Tityrus Vergils der «gute Hirte» des Neuen Testaments sichtbar, der sein volkssprachliches Publikum «nicht nur mit Brot allein» sättigt (Marc. 6, 34): et exiens vidit multam turbam Iesus et misertus est super eos quia erant sicut oves non habentes pastorem et coepit docere illos multa …
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Augustinus definiert uti in dieser Schrift (1, 22) als diligere propter aliud und frui als diligere propter se. Gegenstand des frui ist allein Gott. Alles andere, auch die Literatur, soll vom Menschen nicht «um seiner selbst willen geliebt», sondern «gebraucht», d. h. dazu eingesetzt werden, das zu erreichen, was wahrhaft liebenswert ist (vgl. 1, 4, 2: ad id, quod amas obtinendum referre, si tamen amandum sit). Dantes Ekloge steht in der Tradition der auf Kallimachos (Aetia 1, 17 ff.) zurückgehenden recusatio-Gedichte. Recusatio nennt man die Zurückweisung der Behandlung von mythologischen oder historischen Stoffen in umfangreichen Dichtungen zugunsten kleinerer Formen. Als Beispiele seien genannt: Vergil, ecl. 6, Horaz, carm. 1, 6; 2, 12 und Properz 2, 1. Vgl. W. Wimmel, Kallimachos in Rom, Hermes Einzelschriften 16, Wiesbaden 1960, passim. Vgl. Cheneval/Ricklin (wie Anm. 12) zu Conv. 1, 13, 12 (p. 242): «In seiner Funktion als Wissensvermittler für die Menge vergleicht sich Dante mit Jesus.»
Lukas Oberrauch
Der «Prometheus Vinctus» des Aischylos als literarisches Vorbild für Heinrich von Kleists «Michael Kohlhaas»? Über die Entstehungshintergründe der Novelle Michael Kohlhaas hat die Kleistforschung, gemessen an anderen seiner Werke, verhältnismäßig wenig zutage gefördert. Man kann im wesentlichen lediglich die Entstehungszeit auf die Jahre 1805-1808 eingrenzen, 1 sowie auf eine Chronik von Peter Hafftitz aus dem Ende des 16. Jahrhunderts, die wohl größtenteils, direkt oder indirekt, als Vorlage diente, verweisen. 2 Vor allem dank letztgenannter historischer Aufzeichnungen (auf die man sich bei Erzählungen, hauptsächlich im Bereich der Journalprosa, im beginnenden 19. Jahrhundert allgemein gern stützte, um denselben einen größeren Anspruch auf Wahrheitsgehalt und somit Wirklichkeitsnähe zu geben), 3 kann man heute mit verschiedenen Erklärungsmustern und Interpretationsansätzen zu diesem Text aufwarten. Ihnen allen ist eines gemein: Sie gehen in ihrer Vorgangsweise fast ausschließlich prinzipiell von den Ereignissen um den historischen Roßhändler Hans Kohlhase als Basis aus. 4 Immer wieder jedoch stellte sich die Frage, ob die Bedeutung des Inhaltes der Novelle wirklich nur in dem geschichtlichen Hintergrund zu suchen sei. Vielfach war man hier der Ansicht, daß die bloßen, durch die Chronik belegten Fakten, wiewohl in ihrer Form aus heutiger Sicht recht außergewöhnlich, an und für sich zu wenig seien, um das Wesen eines literarischen Werkes allein zu prägen. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass eine Aktion wie die des Hans Kohlhase, sei es im 16. Jh. als auch zur Zeit Kleists, offensichtlich noch nicht jenen unerhörten Charakter hatte, den sie in der Folgezeit erlangen sollte. Seine Geschichte war eine von vielen anderen so gearteten auch; dies belegt
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Zu Entstehungszeit und historischem Hintergrund der Erzählung allgemein vgl. Reiner Poppe (Hrsg.): Heinrich von Kleist: Erzählungen und Aufsätze. Hollfeld 1997, 27 ff. Diese Chronik dürfte für Kleist wohl die einzige Quelle gewesen sein, der er die historischen Ereignisse entnehmen konnte; gemeinhin hält man es für mehr als unwahrscheinlich, daß Kleist auch Einsicht in zeitgenössische Akten hatte (vgl. Christoph Müller-Tragin, Hans Kohlhase und Michael Kohlhaas. In: Heilbronner Kleist-Blätter 7/99, 9-41. Stadtbücherei Heilbronn 1999, 25). Freilich ist es auch gut möglich, daß Kleist die Diplomatische und curieuse Nachlese der Historie von Obersachsen und angrentzenden Ländern, Zu einiger Erläuterung derselben, gehalten von Christian Schöttgen und Georg Christoph Kreysig aus dem Jahr 1731 zu lesen bekommen hat, wie beispielsweise Paul Michael Lützeler, Kleists Erzählungen und Dramen, Würzburg 2001, 217 f. meint, die, was den Bericht über Hans Kohlhase betrifft, die hafftitzschen Ausführungen, zumindest nach den Ausführungen der Verfasser (vgl. Anm. I, 537) teilweise wörtlich wiedergibt. Vgl. diesbezüglich Erika Fischer-Lichte, Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. Frankfurt a. M. 1991, 13 ff. Der mittlerweile berühmte Fauxpas des Autors des Artikels über Hans Kohlhase im Brockhausschen Conversationslexikon aus dem Jahr 1853, wo die Ausführungen des letztgenannten identisch mit der Darstellungsweise Kleists sind, ist wohl der beste Beweis für dessen Wirkung. Vgl. dazu etwa die diesbezügliche vergleichende Untersuchung von Malte Diesselhorst, Hans Kohlhase/ Michael Kohlhaas. In: Kleist-Jahrbücher 1988/89, 334-356, Berlin 1986, insbesondere 334 ff.
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schon allein die Tatsache, daß Kleist in den knapp 100 Jahren, 5 in denen diese Ereignisse auch in schriftlicher Form einem breiteren Publikum zugänglich waren, 6 der erste war, der sich ihrer in dieser Form annahm. Alle anderen Bearbeitungen des Stoffes setzten erst nach der Edition seines Kohlhaas ein. 7 So betont schon der Archivar Burkhardt, der die Quellen zur Geschichte Kohlhasens bearbeitet hatte, im Vorwort zu einem diesbezüglichen Aufsatz aus dem Jahre 1864: Wohl weiß ich, daß die Criminalgeschichte (sc. des Hans Kohlhase), deren wir ja aus jener Zeit so viele haben, an sich nicht von der Bedeutung ist, um sie in einer besonderen Schrift zu behandeln. 8 Auch Müller-Tragin ist der Meinung, daß die Novelle zwar ihren Grundgehalt aus den historischen Aufzeichnungen schöpfe, die aber alleine nicht interessant genug gewesen seien; Kleist habe die aus der Chronik hervorgehenden Tatsachen nur grossomodo übernommen und in sein Werk eingearbeitet: Es soll eine Geschichte aus dem 16. Jh. erzählt werden, aber eben doch letztlich eine erfundene, ‹erdichtete› Novelle. 9 Mit den Bemerkungen zur Tatsache, daß sich Kleist offensichtlich nicht immer ganz an die historischen Vorgaben hielt, mag man in der Tat nicht falsch liegen; nichtsdestoweniger aber dürfte auch die Vermutung, daß der Michael Kohlhaas zumindest in jenen Passagen, in denen der Verfasser in seiner Darstellungsweise von den Schilderungen des Hafftitz abrückt, durch und durch eine poetische Eigenleistung Kleists gewesen sei, nicht richtig sein, wie ich im folgenden zeigen möchte. Daß Kleist beim Verfassen seiner Novelle zwar das historische Vorbild des Hans Kohlhase vor Augen gehabt hat, gilt als mittlerweile gesichert und soll hier auch nicht in Frage gestellt werden. Ich glaube aber, daß er darüber hinaus aber auch noch ein literarisches hatte, das noch älter ist als die geschichtlichen Geschehnisse 10 rund um den Roßkamm Kohlhase: den Prometheus Vinctus des Aischylos. 11 In fast sämtlichen Biographien des Autors werden, was seine Ausbildungsphase um das Ende des 18. Jahrhunderts anbelangt, vor allem seine Militärlaufbahn sowie sein Studium der Mathematik und der Philosophie erwähnt. Bereits im Zuge seiner im Jahr 1798 begonnenen Studien in Potsdam hat sich Kleist neben der Mathematik aber auch mit der klassischen Philologie auseinandergesetzt. Die Beschäftigung mit dieser hat er auch 1799, dem Jahr, in dem er sich von seiner Militärlaufbahn abwendet, um sich voll und ganz den Studien in Frankfurt a. d. Oder zu widmen, fortgesetzt. So schreibt er in einem Brief an Christian Ernst Martini vom 19. März 1799: Ich habe mich [sc. in Potsdam] ausschließlich mit Mathematik und Philosophie, - als den beiden Grundfesten alles Wissens, beschäftigt und als Nebenstudien die griechische und lateinische Sprache betrieben, welche letztere ich nun zur Hauptsache erheben
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Zwar muß man davon ausgehen, dass die hafftitzsche Chronik nur bedingt zugänglich war (es gilt bis heute als sehr unwahrscheinlich, daß sie Kleist selbst einsehen hat können), spätestens aber mit der Curieusen Nachlese dürfte sich dies aber geändert haben. Vgl. Anm. 2. Diese waren meist Dramatisierungen der kleistschen Erzählung, so z. B. jene von W. v. Ising (1861), R. Proells (1863) und W. P. Graff (1871). Zit. nach Müller-Tragin, 30. Vgl. Müller-Tragin, 25. Auf die zahlreichen Parallelen zu Stellen aus der Bibel, vor allem aus dem Neuen Testament, soll hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu e. g. Fischer-Lichte, 36, 45; Philipp Witkop, Heinrich von Kleist. Leipzig 1922, 190. Es kann an dieser Stelle nicht ausführlich auf den schon lange schwelenden Streit in Bezug auf die Echtheits- und Datierungsfrage eingegangen werden. Ich verweise deshalb hier auf die Ausführungen bei Robert Bees, Zur Datierung des Prometheus Desmotes, Stuttgart 1993, 4-14.
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werde. 12 Einen weiteren Beleg dafür, daß Kleist sich mit der Antike intensiv beschäftigt hat, stellen auch seine beiden Dramen Amphitryon und Penthesilea dar. Zudem war die Rezeption der Antike zu Lebzeiten Kleists allgemein sehr rege. 13 Daß die Antike und im Speziellen Aischylos als Dichter im poetischen Schaffen Kleists eine große Rolle spielte, betont z. B. Michaelis: Was Goethes Generation nicht sah, vielleicht nicht sehen konnte, erfaßt der ältere Wieland: Kleists originale, nicht nur imitatorische Aneignung der griechischen Tragödie. Aischylos und Shakespeare - das sind, bewußt-unbewußt, seine Vorbilder. 14 Wieland selbst, sein Dichterkollege und Freund, war von diesem klassischen Einfluß in den (Bühnen)Werken Kleists verständlicherweise sehr angetan. So schrieb er, nachdem sich dieser endlich dazu überwunden hatte, ihm einige Szenen seines Erstlingswerkes, des Robert Guiskard vorzusprechen: Wenn die Geister des Aischylos, Sophokles und Shakespeare sich vereinigten, eine Tragödie zu schaffen, sie würde das sein, was Kleists Tod Guiskards des Normannen, sofern das Ganze demjenigen entspräche, was er mich damals hören ließ. 15 Wie aber nun sehen die Parallelen zwischen dem Prometheus Vinctus und dem Kohlhaas konkret aus? Um diese Frage zu erläutern, müssen wir uns zunächst einmal einem Grundproblem der Novelle Kleists zuwenden. Wie schon eingangs bemerkt, hat sich Heinrich von Kleist beim Verfassen dieser Novelle nicht immer streng an die Vorgaben der von ihm konsultierten hafftitzschen Chronik gehalten, 16 sondern im Zuge einer - wie man meinte - «poetischen Freiheit» bisweilen einige Sachverhalte etwas anders dargestellt, als sie sich in Wirklichkeit ereignet hatten, andere weggelassen oder einfach neue Elemente dazuerfunden. Es ist hier nicht zweckführend, alle Unterschiede zwischen den Darstellungen in der Chronik und derjenigen bei Kleist aufzuzählen. 17 Wichtig allerdings scheint es zu sein, zu erwähnen, daß die Interpreten vor allem mit den Elementen, die der Verfasser frei erfunden und neu in die Novelle eingebracht hat, ihre liebe Not hatten. Die beiden wesentlichsten Punkte, in denen die Novelle von der historischen Folie abweicht, sind der Beginn und der Schluß. Um den Grund hierfür zu erörtern, müssen wir uns beide noch einmal kurz inhaltlich vor Augen führen. Kleist beginnt seine Erzählung mit dem Roßhändler, der mit einer Koppel junger Pferde ins Ausland reitet. 18 Er kommt in sächsisches Gebiet und macht vor einem Schlagbaum, der sich bei der Burg des Junkers Wenzel von Tronka befindet und in mehrfacher Hinsicht für ihn einen Grenzpunkt darstellt bzw. darstellen wird, Halt. 19 Hier holt er bereitwillig und ohne Aufforderung seitens des Zöllners einige Groschen hervor und fragt nach dem 12
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Vgl. Roland Reuss/Peter Staengle (Hrsg.), H.v. Kleist. Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Band IV/ 1. Basel/Frankfurt a. M. 1996, 43. Die Inskription erfolgte am 10. April 1799. Vgl. Roger Paulin, Antikisierende Dichtung in der Romantik: Zu August Wilhelm Schlegels Elegien in klassischen Metren. In: Athenäum, Jahrbuch für Romantik 3 (1993), 55-83, hier 55. Die hier angeführte Bemerkung, Kleist sei in diesem Bereich, im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, Autodidakt gewesen, ist so schwer belegbar; wie aus den Briefen Kleists hervorgeht, hatte er sehr wohl Unterricht in Griechisch und Latein und somit wahrscheinlich auch eine Einführung in beide Kulturbereiche. Vgl. Rolf Michaelis, Heinrich von Kleist. Hannover 1968, 15. Seiner Verbundenheit zur Antike, insbesondere zu den Griechen, verleiht Kleist selbst z. B. in seinen Briefen vom 18. Juli 1801 und 07. Jänner 1805 Ausdruck. Zit. nach Friedrich von Unruh, Wie Adler den Gewittern voraus. Deutsche Dichter als Mahner und Helfer (Hutten, Kleist, Hölderlin, die Droste). Berg/Starnberger See-Bodmann/Bodensee 1985, 81 f. Zur Darstellungsweise des Geschehens dort vgl. etwa Müller-Tragin, 11 ff. Vgl. dazu Diesselhorst, loc. cit. Zu den folgenden inhaltlichen Ausführungen vgl. Kohlhaas, 5. Zum Motiv der Grenzüberschreitungen vgl. Fischer-Lichte, 54 ff.
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zu entrichtenden Betrag, den er dann auch bezahlt. Als der Roßkamm weiterreiten will, hält ihn der Burgvogt abermals auf und verlangt nach einem «Paßschein». Da Kohlhaas einen solchen aber nicht bei sich hat, bittet er den Burgvogt, ihn ziehen zu lassen. Weder dieser noch der Junker selbst lassen sich aber in einer Diskussion umstimmen. Nachdem der Junker (mehr vom Wetter als von purer Bosheit getrieben) 20 ins Schloß zurückkehrt und somit der Auseinandersetzung ein Ende macht, entschließt sich Kohlhaas, die Forderung zu erfüllen, besagten Schein in Dresden zu lösen und, wie gefordert, zwei seiner Pferde dem Junker als Pfand zu lassen. In der Chronik von Hafftitz nun ist der Grund für die Konfiszierung seiner beiden Rappen ein ganz anderer. Dort nämlich wird berichtet, Hans Kohlhase habe spät abends von einer Schenke aufbrechen wollen, um weiterzureiten. Da dies zur damaligen Zeit ein großes Risiko dargestellt habe, hätten einige Bauern geargwöhnt, Kohlhase sei ein Pferdedieb und deshalb so in Eile. Nach einem kurzen, heftigen Disput habe Kohlhase die beiden Rosse deshalb zurücklassen müssen. 21 Angesichts dieser auffallenden 22 Veränderung der historischen Tatsachen seitens des Dichters kann man ruhig sagen, Kleist habe in seiner Novelle ein Motiv kreieren wollen, aus dem sein Kohlhaas seinen gerechtfertigten Zorn und die daraus resultierende Rachsucht schöpfen könne. 23 Dazu eignet sich natürlich ein Akt der Willkür, mit dem die Ereignisfolge bei Kleist zu Beginn seiner Erzählung beschlossen wird, viel besser als die von der Chronik vermittelte reale Version der Tatsachen. Untermauert wird diese Vermutung noch dazu durch die Tatsache, daß Kleist im Kohlhaas das historische Motiv der Fehde (das in diesem Kontext wohl eher gepaßt hätte) nie richtig aufnimmt und gleichsam dem poetischen Motiv der Rache hintanstellt. Es stellt sich an diesem Punkt nun berechtigterweise die Frage, aus welchem Grund der Autor die Ereignisfolge aus der geschichtlichen Vorlage nicht weiter führt, sondern eben an diesem Punkt zum ersten Mal eigene Wege zu gehen scheint. Meiner Ansicht nach ist eine mögliche Antwort auf diese Frage die, dass sich Kleist im Konzept für seine Novelle an der Grundthematik des aischyleischen Prometheus Vinctus orientiert hat. In diesem Zusammenhang ist es zielführend, die wichtigsten Abweichungen des Kohlhaas von der hafftitzschen Chronik auf ihre etwaige Kompatibilität mit dem Prometheusdrama des Aischylos zu untersuchen, um dieser Vermutung eine festere Basis geben zu können. Interessant in diesem Zusammenhang nun ist, daß mit der oben erwähnten Art der Darstellung schon der Grundstein für eine Thematik gelegt worden ist, auf der der ganze Kampf des Kohlhaas basieren wird und die auch den Prometheus beherrscht: die Fürstenwillkür. Diese muß auch der aischyleische Prometheus erfahren, obwohl er sich während des Kampfes von Göttervater Zeus um die Macht, dessen Wunsch entsprechend, gegen sein eigenes Geschlecht, i. e. die Titanen, gestellt und somit dem neuen Herrscher des Olymp durch seine Voraussicht und List erst zum Sieg verholfen hat; 24 dieser Wohltat scheint sich 20 21 22
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Zur Rolle des Zufalls in «Michael Kohlhaas» vgl. Fischer-Lichte, 57-59. Vgl. Fischer-Lichte, 17 f. Im Gegensatz nämlich zum - später zu behandelnden - ebenfalls neu hinzugekommenen ZigeunerinMotiv, das sich gerade in der Zeit Kleists großer Beliebtheit erfreute, kann dieses Einwirken in den Handlungsverlauf nicht gut mit dem Rückgriff auf ein literarisches Modemotiv, einen Topos, erklärt werden. Zum Motiv der Rache im «Kohlhaas» vgl. Wolfgang Pircher, Geld, Pfand und Rache. Versuch über ein Motiv bei Kleists «Kohlhaas», in: Kleist-Jahrbuch 2000, Stuttgart 2000, 104-117. Vgl. PV, 197 ff.
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aber der Göttervater nicht mehr zu entsinnen, Loyalität also nichts zu zählen. Im Gegenteil: Er will (aus bis zuletzt nicht ersichtlichen Gründen) das bestehende Menschengeschlecht, das dem Titanen als dessen Schöpfer sehr am Herzen liegt, vernichten. Daher beschließt Prometheus, das Vorhaben des Götterfürsten zu vereiteln und das Feuer, das den Menschen bisher, ebenfalls aus Willkür, vorenthalten worden war, vom Olymp zu stehlen. 25 Prometheus wird wegen des Feuerraubes schließlich an einen Felsen im Kaukasusgebirge festgeschmiedet und muß unsägliche Qualen ertragen, die ihm ein Adler, der tagtäglich seine Leber aus dem Leib hackt, zufügt. Parallel dazu ist es bei Kohlhaas nutzlos, daß er bis dato ein untadeliges Leben geführt hat und sich den Auflagen des Junkers bzw. Burgvogtes keineswegs entziehen will, sondern ihren Bestimmungen sogar entgegenkommt. Der Roßkamm wird am Ende sogar geprellt, betrogen und schikaniert, obwohl er in gutem Glauben die Pferde zurückgelassen hat. Die Bestrafung bzw. das erlittene Unrecht trifft beide also doppelt hart, weil der Grund dafür ganz und gar unverständlich ist: Beide haben den Bestimmungen der «Obrigkeit» ja (wenn auch schweren Herzens) Genüge getan. Jeweils schon zu Beginn wird auf diese Weise verdeutlicht, daß der Fehler, der die Ereignisse im Kohlhaas bzw. im Prometheus ins Rollen bringt, nicht beim jeweiligen Protagonisten der Werke, sondern klar bei der Gegenseite liegt. Sowohl die Tragödie als auch die Novelle haben somit schon von Anfang an die Themen «Recht und Gerechtigkeit» sowie «Trotz und Widerstand gegen eine obere Instanz» zum Inhalt. Kohlhaas und Prometheus erleiden also diese Behandlung, obwohl sie sich zunächst nicht schuldig gemacht haben. Dies geschieht erst danach, als Reaktion auf die genannten Provokationen: Beide begeben sich in der Folge mit ihren Taten nämlich auf den Weg des Unrechts. So stiehlt Prometheus das Feuer vom Olymp einerseits deshalb, um zu verhindern, daß Zeus durch dessen Vorenthaltung die Existenz «seiner» Menschen gefährdet, andererseits aber auch, um sich so für seine eigene ungerechte Behandlung zu rächen. Kohlhaas zieht mordend und brandschatzend durch die Lande, um so Rache für seine eigene, aber auch die ungerechte Behandlung seines Knechtes Herse sowie den Tod seiner Frau zu nehmen. Beide jedoch stellen ihre persönlichen Interessen sehr schnell einer übergeordneten Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit hintan. 26 Dies wird vor dem Hintergrund der folgenden Überlegungen klar. Vor allem in einem Punkt weicht Kleist sehr stark von der Vorlage, die ihm Hafftitz bot, ab: Er fügt eine Begebenheit in seine Novelle ein, die in der Chronik auch nicht ansatzweise geschildert oder erwähnt wird. Es handelt sich hierbei wiederum um ein poetisches 27 - im wahrsten Sinn des Wortes -Element der Erzählung, das eine wichtige Parallele zum aischyleischen Prometheus darstellt, wie wir gleich sehen werden. Die Rede ist von dem Zigeunerin-Motiv, das vor allem im zweiten Teil des Werkes eine führende Rolle spielt. Anlässlich einer Hirschjagd nahe der Ortschaft Dahme, an der teilzunehmen der Kurfürst von Sachsen eingeladen ist, treffen eben dieser und Kohlhaas aufeinander, ohne dass der Roßkamm um die Identität seines
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Vgl. PV, 228 ff. Der Feuerraub wird schon mit V. 107 ff. erwähnt. Zum in diesem Zusammenhang ebenfalls wichtigen Begriff der Ehre vgl. Michael Ott, ... Ich will keine andre Ehre mehr, als deine Schande. In: Kleist-Jahrbuch 1999, Stuttgart 2000, 144-165, besonders 151 f. Bereits Ludwig Tieck hatte in der Einleitung zu den Hinterlassenen Schriften Kleists gerügt, daß der Einbau und die Gestaltung der Zigeuneringeschichte bei der Lektüre für Irritationen sorge und daß sich eben dieser Teil fast als eine Art Fremdkörper im Gesamtgefüge entpuppe (vgl. Roland Reuss/Peter Staengle (Hrsg.), Berliner Kleist-Blätter 3. Basel/Frankfurt a. M. 1990, 34).
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Gegenübers weiß. Als der Kurfürst sich nach der Bedeutung einer Kapsel, die Kohlhaas um den Hals trägt, erkundigt, erzählt dieser, daß ihm diese einst eine Zigeunerin kurz nach dem Tode seiner Frau in einer Ortschaft namens Jüterbock übergeben habe. In ihr sei ein Zettel mit einer Prophezeiung enthalten, die sie für den Kurfürsten von Sachsen angefertigt habe; sie enthalte Informationen, die ihm einst nach den Worten der Zigeunerin selbst das Leben retten sollten. Zunächst weiß Kohlhaas selbst nicht genau, was auf dem Zettel in dem Amulett vermerkt ist; erst später, als er bereits im Gefängnis sitzt, taucht die Zigeunerin abermals auf und enthüllt das Rätsel: In dem Amulett befinden sich die Antworten auf die Fragen, wie lange die Dynastie des sächsischen Kurfürsten noch an der Macht, wer deren letzter Vertreter sein sowie wer diese stürzen werde. Kohlhaas aber hört nicht auf den Ratschlag dieser transzendenten Figur, sein Wissen zu seinem eigenen Vorteil einzusetzen; er stirbt, ohne sein Geheimnis preisgegeben zu haben. Die Zeichnung der Charaktere bzw. deren Voraussetzungen waren, wie bislang gezeigt, bei den Protagonisten ohnehin bereits sehr ähnlich. Durch die Gestaltung dieses Zigeunerin-Motivs im Kohlhaas und den daraus resultierenden Konsequenzen für die Handlung ergibt sich nun eine weitere, erstaunlich deutliche inhaltliche Parallele zwischen den beiden Werken, bei der man, aufgrund ihrer Deutlichkeit, nur mehr bedingt an einen bloßen Zufall zu glauben gewillt ist. Durch den Erwerb des Amuletts befindet sich Kohlhaas in einer fast völlig analogen Situation zu derjenigen, in der sich der Held in der Tragödie des Aischylos befindet. Auch dort nämlich dreht sich fast der gesamte Handlungsablauf um das Wissen des Prometheus bezüglich des möglichen Untergangs des Zeus und seiner Dynastie. Bei beiden, sowohl bei Kohlhaas als auch bei Prometheus, stimmt zudem der Inhalt der Information, der die beiden Despoten so brennend interessiert, exakt überein: Es handelt sich dabei jeweils um die Kenntnis über den Fort- und Weiterbestand der Herrschaft des Zeus bzw. des Kurfürsten, wobei neben der Tatsache zu erfahren, wie lange diese noch dauern bzw. wer der letzte Vertreter ihrer Dynastie sein werde, für die Despoten vor allem der Name desjenigen von Belang ist, der diese stürzen wird, um so entsprechende Vorsorgemaßnahmen treffen zu können. Zeus weiß über eine Prophezeiung, daß ihn einst sein eigenes Kind stürzen wird; nur Prometheus aber weiß, welcher Frau Zeus nicht nachstellen bzw. wen er nicht heiraten darf. 28 Angesichts der Tatsache, daß es des Göttervaters liebste Beschäftigung ist, sich mit Frauen zu vergnügen und er sich so Gefahr laufen sieht, diesen Spaß unter Umständen aus Vorsicht ganz einstellen zu müssen, ist es nachvollziehbar, daß er den in Ungnade Gefallenen vehement drängt, mit der Wahrheit herauszudrücken, da viel für ihn davon abhängt. Kohlhaas andererseits weiß -durch den Zettel in seinem Amulett - wer das Geschlecht des Kurfürsten auslöschen wird. 29 Auch dieser setzt - wie Zeus - verständlicherweise alle Mittel ein, um in den Besitz dieser für ihn so wichtigen Information zu 28
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Also würde es sich ironischerweise, wie im Falle von Kronos, den sein Sohn Zeus gestürzt hat, wiederum um den Sturz eines Herrschers durch seinen Sohn handeln; dieses Mal wäre es allerdings Zeus, der durch seinen eigenen Sohn vom Thron vertrieben würde. Die historischen Nachforschungen von Müller-Salget bezüglich des letzteren offenbaren hier eine weitere interessante Parallele. Der letzte Vertreter seiner Dynastie war - historisch gesehen - der in der Novelle beschriebene Kurfürst selbst, also Johann Friedrich, der im Jahre 1547 das Reich, wie es die Zigeunerin im «Kohlhaas» voraussagt, «durch die Gewalt der Waffen» an seinen Vetter Moritz von Sachsen verlor. Bei Zeus hätte ein solcher Zettel ähnlich ausgesehen; auch seine Herrschaft wäre nicht mehr von langer Dauer gewesen, und gestürzt hätte ihn ebenfalls ein Verwandter (vgl. Dirk Grathoff, Kleist: Geschichte, Politik, Sprache. Wiesbaden 1999, 68).
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kommen. Kohlhaas wird durch die Zigeunerin somit in die Rolle des «Prometheus» (dessen Name etymologisch gesehen ja nichts anderes als «Vordenker» oder eben «Wahrsager» bedeutet) 30 gebracht, von der Reuss mit Recht bemerkt, sie erscheine in der Novelle als Wahrsagerin im wahrsten Sinne des Wortes. 31 Das Motiv des Titanen, der etwas weiß, was der Göttervater auch gerne erfahren würde, 32 dürfte Kleist, sofern er nicht durch Primärlektüre Kenntnis davon hatte (was durchaus wahrscheinlich ist), 33 wenigstens aus der für die damalige Zeit wichtigsten Quelle bezüglich antiker Mythologie gekannt haben, auf die der Dichter während seines Schaffens fast sicher mehrmals zurückgegriffen hat, nämlich aus Benjamin Hederichs Gründlichem mythologischen Lexikon; die Ausführungen dort stimmen mit dem Hintergrund sowie dem Inhalt des Prometheus des Aischylos großteils überein. Vergleichbar ist die Situation auch insofern, als sowohl Kohlhaas als auch Prometheus ihr Schicksal durch das Wissen bzw. die Informationen, die für die Gegenseite von größter Wichtigkeit sind, in der eigenen Hand haben. 34 Obwohl beide Protagonisten sich jederzeit selbst aus ihrer mißlichen Situation retten könnten, machen sie von ihrem Wissen keinen Gebrauch. 35 Beiden wird von verschiedener Seite gut zugesprochen, zu jeder Zeit der Handlung. So versuchen bei Prometheus etwa Okeanos und Hermes, und zwischendurch immer auch in eindringlicher Manier der Okeanidenchor, den Titanen zum Umdenken und Einlenken zu bewegen. 36 Auch Kohlhaas erfährt solcherart Zuspruch von verschiedener Seite: So ermuntert ihn etwa seine Frau in der Stunde des Todes mit dem Bibelspruch: Vergib deinen Feinden; tue wohl auch denen, die dich hassen 37 dazu, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Gleiches versuchten auch Martin Luther in seiner berühmten Unterredung mit dem Roßkamm 38 und die Zigeunerin selbst. Sowohl bei der Aushändigung des Amuletts als auch später bei ihrem Besuch im Gefängnis mahnt diese immer wieder, Kohlhaas solle guten Gebrauch davon machen; vor allem die Worte «Für Freiheit und Leben» fallen in diesem Zusammenhang oft. 39 Das Leben, vor allem aber die Freiheit sind auch beim gefesselten Prometheus die Hauptgründe, weshalb er sein Wissen kundtun sollte, da er, wie er auch selbst sagt, ungebührende Fesseln und Qualen erdulden muß. 40 Auch er wird zu diesem Schritt mehrmals aufgefordert. In diesem Zusammenhang wird vor 30 31 32 33 34
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Vgl. Der neue Pauly, a.l. Vgl. Reuss/Staengle, Berliner Kleist-Blätter, 36 ff. Vgl. PV, 2091 f. Vgl. S. 131 f. Fischer-Lichte vermutet zwar in ihrem kurzen Kommentar zur Novelle, das Motiv der Vorhersage eines Herrscherschicksals könnte aus Aischylos «Prometheus» übernommen sein (vgl. S. 26); diese Vermutung erfährt aber in der Folge keinerlei Belegung mehr. Zwar könnte der Titel eines weiteren Dramas aus dieser aischyleischen Trilogie, Prometheus lyomenos, vermuten lassen, daß Prometheus seine Freiheit durch die Preisgabe seines Geheimnisses erlangt habe; dies aber vorauszusetzen ist wegen der Fülle an Erzählvarianten, die die Befreiung des Prometheus schildern (vgl. die Befreiung durch Herakles) und der nur mehr äußerst fragmentarischen Überlieferung dieses Dramas nicht gut möglich. Im Prometheus Vinctus jedenfalls weigert sich der Titan bis zum Schluß, klein beizugeben. Vgl. e. g. PV, 259 ff., 284 ff., 472 ff., 527 ff. 944 ff. Vgl. Kohlhaas, 26 f. Vgl. Kohlhaas, 41 ff. So z. B. ebendort, als ihn die Zigeunerin ermuntert, besagtes Dokument für Freiheit und Leben an den Kurfürsten von Sachsen auszuliefern (vgl. Kohlhaas, 95). Der vom Kurfürsten geschickte Jagdjunker selbst bietet ihm an, den Zettel für Freiheit und Leben herauszugeben (82). Vgl. weiters auch 97 und 110. Vgl. PV, 525.
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allem die Metapher des Arztes bemüht, der anderen geholfen hat, sich selbst aber, obwohl er über das remedium verfügte, nicht helfen kann; 41 diese Metapher findet sich inhaltlich auch im Kohlhaas wieder. 42 Anstatt aber auf ihr Heil zu denken, kosten sie im Gegenteil ihren Triumph in vollen Zügen aus. So sagt Kohlhaas dem vom Kurfürsten gesandten Jagdjunker auf seine Anfrage hin, was er seinem Gebieter auf die Frage, ob er das Amulett herausgebe, antworte, in aller Deutlichkeit: Du kannst mich auf das Schafott bringen, aber ich kann dir weh tun, und ich will’s. 43 Als er schließlich im Gefängnis endgültig erfährt, was er schon geahnt hat, nämlich, daß der Inhalt des Amuletts für den Kurfürsten von größter Wichtigkeit ist, jauchzt er über die Macht, die ihm gegeben war, seines Feindes Ferse in dem Augenblick, da sie ihn in den Staub trat, tödlich zu verwunden; die Aufforderung zur zweckmäßigen Verwendung dieser Macht (i. e. zu seinem eigenen Heil und Wohlergehen) schmettert er in Gegenwart der Zigeunerin, die ihn nicht zufällig stark an seine ebenfalls stets nach einer Kompromißlösung suchende Frau erinnert, dezidiert ab: Nicht um die Welt, Mütterchen, nicht um die Welt! 44 Aischylos läßt seinen Prometheus ähnlich sprechen. Bereits in der Mitte des Dramas schließt er seine Rettung durch die Preisgabe der begehrten Informationen aus, indem er sagt: Nun aber ist kein Ende für mich vorgesehen / Der Not, eh Zeus herab nicht stürzt vom Herrscherthron. 45 Diese Verse schließen eine Kompromißlösung geradezu kategorisch aus: der Titan sieht die einzige Möglichkeit, daß seine Leiden beendet werden, im Sturz des Göttervaters; sein Wissen für sein Heil zu verwenden steht bei ihm außer Diskussion. Auch wird deutlich, wie sehr er sich an seiner Position ergötzt: Nur ich - ich weiß dies; und - den Weg. Darum mag nun / Getrost er [sc. Zeus] sitzen, luftdurchbebendem Donner traund, / In der Faust gezückt sein feueratmend Wurfgeschoß. / Denn nicht leiht ihm dies Schutz vor der Gefahr, hinab / Zu stürzen schmachvoll unerträglich tiefen Sturz. 46 Am Ende hat auch Prometheus definitiv seinen Entschluß gefaßt, sein Geheimnis nicht zu verraten, um so Zeus desto mehr peinigen zu können. So erwidert er Hermes: [...] lärmst umsonst; der Woge gleich redst du zu mir. / Laß den Gedanken aus dem Spiel, daß ich, vor Zeus / Ratschluß in Furcht sein, weibschen Sinnes werden könnt / Und anflehn würde den mir höchst verhaßten Gott, / In der Weiberart rückwärts die Hände hochgereckt, / Um Lösung meiner Fesseln. Niemals tu ich das! 47 Bereits vorher hatte der Titan dem Götterboten erklärt: Beugen wird nichts mich von dem so, daß kund ich tu, / Woher ihm droht der Sturz von seiner Herrschaft Stuhl. 48 Beide Protagonisten wählen durch diese Aussagen den Tod und das Verderben anstelle der Rettung und eventuellen Wiederherstellung in ihren alten Stand. Beide nehmen durch diese Einstellung ebenfalls - und das ist äußerst wichtig - am Ende ihr Geheimnis mit in den Tod. Prometheus wird unter dem Kaukasusgebirge begraben, nachdem Zeus ein furchtbares Beben geschickt hat; Kohlhaas wird für seine Verbrechen der Prozeß gemacht, an dessen Ende er enthauptet wird. Eine weitere interessante Parallele zwischen den Werken ergibt sich auch aus der Tatsache, daß die negativen Hauptfiguren die offene Konfron41 42 43 44 45 46 47 48
Vgl. PV, 472 ff. So z. B. in der Unterredung zwischen Luther und Kohlhaas (Vgl. Kohlhaas 46 ff.) Vgl. Kohlhaas, 83. Vgl. Kohlhaas, 95. Vgl. PV, 755 f. Vgl. PV, 915 ff. Vgl. PV, 1001 ff. Vgl. PV, 995 f.
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tation mit ihren Rivalen scheuen. Zeus lässt sich zuerst durch Kratos, der Prometheus an den Felsen schmiedet, dann durch Hermes, der in seinem Namen Botschaften überbringt, «vertreten», der Kurfürst durch den Jagdjunker, der als Pendant zu Hermes fungiert, bzw. im Gefängnis durch die Zigeunerin; auch am Ende, anlässlich der Hinrichtung des Kohlhaas, läßt er sich noch durch zwei Ritter (ver)decken. Neben all den eben genannten gibt es aber zwischen dem Prometheus und dem Kohlhaas noch eine Vielzahl weiterer, allgemeiner Übereinstimmungen. Eine davon ist die, daß beide Hauptdarsteller in ihrer Position übernatürlich sind bzw. sich als übernatürlich empfinden. So betont Prometheus, der ja in der Tat Angehöriger des alten Göttergeschlechtes ist, des öfteren, daß er die ihn treffende Schmach als ein Gott erleide. 49 Bei Kohlhaas nun wird durch den Autor der historische Name Hans durch den Namen Michael ausgetauscht, wodurch unweigerlich Assoziationen mit dem gleichnamigen Erz- und Racheengel hervorgerufen werden. 50 Wirklich sieht sich der Roßkamm in der Novelle auch selbst als einen Statthalter desselben, 51 und in der Tat haben beide Figuren etwas von einem Racheengel an sich: Prometheus und der Erzengel Michael haben beide für einen Gott gekämpft und schlußendlich dafür gesorgt, daß dessen Gegner gestürzt wurden. Die Gleichsetzung Kohlhaasens mit letzterem wird von Kleist selbst anläßlich seiner Erstürmung der Burg des Junkers insinuiert: [...] stürzte Kohlhaas zum Junker Wenzel ins Schloß. Der Engel des Gerichts fährt also vom Himmel herab; [...]. 52 Weiters setzen sowohl Prometheus als auch Kohlhaas, zumindest der Darstellung zufolge, ihre Macht für die Allgemeinheit, die Menschheit ein. So gibt beispielsweise Prometheus als Grund für seine Bestrafung seine philanthropia an; 53 er habe im Interesse aller Menschen gehandelt, als er das Feuer vom Olymp raubte. Auf identische Weise rechtfertigt auch Kohlhaas sein Vorgehen: Er will, wie Poppe meint, zukünftig sich und seinen Mitbürgern Genugtuung und Sicherheit verschaffen. 54 Sowohl er als auch der aischyleische Prometheus sind durch die größtenteils unbeabsichtigten negativen Auswirkungen ihres Handelns zudem für ihre Mit-Menschen zu einem Unglücksbringer wider Willen, wie es Hose ausdrückt, geworden. 55 Außerdem haben beide Hauptfiguren, ehemals Vorzeigegestalten, nach ihrer Reaktion eine Entwicklung zum «Outsider» durchgemacht. Prometheus, einst vollwertiges Mitglied der alten Götterriege der Titanen, gehört, nach außen als solcher gekennzeichnet durch seine Fesseln, weder zu seinem alten Geschlecht, das er verraten hat, und noch viel weniger zum neuen des Zeus, der ihn verraten hat. Kohlhaas findet sich ebenfalls, nachdem er zu Beginn der Erzählung noch den voll in die Gesellschaft integrierten Vorzeigebürger darstellt, bald alleine wieder, umgeben von weiteren Menschen, die gewissermaßen außerhalb der Gesellschaft stehen, nämlich von bezahlten Knechten und Söldnern. Beide Protagonisten sind zudem Vertreter einer alten, «besseren» Ordnung, die von den neuen, dekadenten Herrschaftsverhältnissen ins Unglück gestürzt werden. Für die Kontrahenten der beiden hat der Erhalt der Machtposition oberste Priorität. Kohlhaasens altbürgerliches 49 50 51 52 53 54 55
E .g. PV, 92. Vgl. dazu e. g. Reuss/Staengle, Berliner Kleist-Blätter, 25 ff. Vgl. Kohlhaas, 42. Vgl. Kohlhaas, 30. Vgl. PV, 107 f. Vgl. Poppe, 31 f. Vgl. Martin Hose, Der Prometheus-Mythos: Fortschrittsdiskussion in der Antike, 6 f. Veröffentlicht im WorldWideWeb unter http://www.ipp.mpg.de/de/pr/veranstaltungen/archiv/prometheus/doc2000/hose.pdf
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Rechtsverständnis ist mit der Willkür und Arroganz einer neuen Herrscherklasse wie der des Junkers und seiner Verbündeten (Kämmerer, Kurfürst) ebenso unvereinbar wie die Majestät und der alte Stolz des Titanen mit den niederen Herrschaftstrieben des «Emporkömmlings» Zeus; in beiden Fällen wird also auch ein Geschlechter- und noch viel mehr ein Wertekampf thematisiert. Sowohl bei Prometheus als auch bei Kohlhaas spielt das Feuer unter allen Elementen die wichtigste Rolle. Prometheus raubt es vom Olymp und versucht so, den Menschen zu nutzen; Kohlhaas versucht auf seine Weise, wie er glaubt, Kapital für die Menschheit daraus zu schlagen, indem er sich dessen bedient, um Dörfer und Städte zu brandschatzen. In beiden Fällen sind die ungerecht Behandelten der Meinung, den Menschen durch das Feuer Gutes zu tun; in beiden Fällen stellt sich aber bald heraus, daß ihre Aktionen den Menschen zunächst ausschließlich schaden. Aufgrund des Feuerraubes des Titanen nämlich erleiden die Menschen Leid durch die berühmte Büchse der Pandora; bei Kohlhaas sind es weniger die eigentlichen Drahtzieher der Affäre, die durch die Brandstiftungen getroffen werden, als vielmehr das einfache Volk. Trotzdem findet sowohl im Prometheus als auch im Kohlhaas die scheinbar logische Abwendung des «Volkes» von den Helden nicht statt. Im Kohlhaas geht das Volk vielmehr gegen die «Volksbedrücker» vor, weil es klar erkennt, bei wem die Schuld für das gegenwärtige Übel zu suchen ist. Im Prometheus Vinctus ist die Lage trotz der etwas verschiedenen Darstellungsweise ganz ähnlich. Da Prometheus schließlich und endlich doch im Interesse seiner Menschen handelt und einen gerechten Kampf kämpft, zieht es auch der Chor der Okeaniden, im Drama gleichsam die neutrale Instanz, nach Anhörung der Argumente beider Seiten 56 am Ende vor, sich auf die Seite des Titanen zu stellen und mit ihm in den Tod zu gehen. So sind die Rollen in beiden Werken klar verteilt. Die Autoritäten werden darin jeweils in ein schlechtes Licht gerückt, die eigentlichen «Übeltäter» stehen als die Helden dar, weil sie in beiden Fällen - wie sich Kleist selbst ausdrückt - lediglich «in der Tugend ausschweifen», im Prinzip also für eine gute und gerechte Sache kämpfen. Beide können sich somit der Sympathien des Leser- bzw. Theaterpublikums sicher sein, dessen Urteil gleichsam von vorneherein von den jeweiligen Autoren durch den klaren Antagonismus auf diese Weise bewußt evoziert wird. Man kann es hier durchaus mit Schiller halten, der in seinen Bemerkungen über die dritte Scene des Prometheus folgendes schreibt: Er [sc. Prometheus] vereitelt den Plan eines Despoten, macht unser Interesse zu dem seinigen, unterwirft sich den traurigsten Folgen, [...]. Jupiter ist also nicht nur der Undankbare, er ist auch der Ungerechte. 57 Zu alledem gibt es bezüglich dieser Novelle auch noch einige interessante zeitgeschichtlich-politische Bezüge zur Tragödie des Aischylos. 58 Die Figur des Prometheus war nicht einmal 30 Jahre vor der Entstehung des Kohlhaas bereits in der Literatur des Sturm und Drang die wohl wichtigste und symbolträchtigeste der (deutschen) Literatur. Dies ist vor allem, aber nicht nur, mit Blick auf Goethes «Prometheus» zu sehen. Im Zuge dieser Renaissance des Prometheus-Mythos besann man sich auch wieder auf die literarische Folie für die goethesche Ode, eben die aischyleische Prometheustragödie: Schiller veröffentlichte sie in Eigenübersetzung in seiner Neuen Thalia des Jahres 1792; Herder nahm sich im Jahre 1802, also unmittelbar vor den Jahren der beginnenden Skizzierung des Michael Kohlhaas, 56 57
58
Die Gegenseite, i. e. Zeus, wird in diesem Fall vom Götterboten Hermes vertreten. Vgl. Friedrich Schiller, Neue Thalia. Zweyter Band, welcher das vierte bis sechste Stück enthält. Nachdruck der Ausgabe des Verlags Georg Joachim Göschen 1793, Bern 1969, 90. Vgl. dazu Müller-Tragin, 30.
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der Komposition eines Entfesselten Prometheus an. Dazu kommt, daß gerade in der Zeit, in die man allgemein den Kohlhaas datiert, diese Gestalt und die mit ihr verbundene Thematik nicht nur vor dem Hintergrund der literarischen, sondern vor allem auch der politischen Entwicklung in Deutschland wieder an inhaltlicher, ja fast schon praktischer Aktualität gewinnt, und zwar anläßlich der napoleonischen Eroberungsfeldzüge, denen sich schließlich - zum Leidwesen Kleists - auch Preußen beugen muß. 59 Der Autor selbst beschreibt seine Gefühle gegenüber dem französischen Kaiser und Feldherrn im Dezember 1805 in einem Brief an Otto August Rühle von Lilienstern: Warum sich nur nicht Einer findet, der diesem bösen Geiste der Welt die Kugel durch den Kopf jagt. 60 In weiteren Briefen findet sich dieses Bild des verabscheuungswürdigen Tyrannen Napoleon, dem man unbedingten Widerstand leisten muß, immer wieder. So schreibt Kleist am 24.10 1806 an seine Schwester Ulrike: Es wäre schrecklich, wenn dieser Wütherich sein Reich gründete. Nur ein sehr kleiner Theil der Menschen begreift, was für ein Verderben es ist, unter seine Herrschaft zu komen. 61 Die Furcht vor einem Machtwechsel, der Regentschaft eines neuen, ungerechten und willkürlich waltenden Herrschers ähnlich der, welche die Ereignisse im Prometheus und dem Kohlhaas bestimmt, ist diesen Zeilen in aller Deutlichkeit entnehmbar. Die zeitgeschichtliche und politische Situation war in der Zeit der Entstehung der hier behandelten Novelle also - neben der literarischen - geradezu ideal, um sich an das Urbild des Widerstandskämpfers gegen eine tyrannische, nach eigenem Gutdünken und unmenschlich waltende Macht - eben Prometheus - zu besinnen, auch aus seiner persönlichen Sicht, da Kleist ja in gewisser Hinsicht auch selbst solche Behandlung in eben dieser Zeit erdulden mußte. 62 Nach seinem Scheitern mit der preußischen Armee hat Kleist ganz offensichtlich den Degen mit der Feder vertauscht und seinen Kampf gegen Napoleon, diesen Zeus der Neuzeit, in einem anderen Bereich ausgetragen. Diese Beobachtung gibt uns Gelegenheit, die gewonnenen Erkenntnisse noch einmal zusammenzufassen. Der Prometheus Vinctus des Aischylos ist ob mehrerer Gründe mit hoher Wahrscheinlichkeit als literarisches Vorbild des Michael Kohlhaas anzunehmen. Die politische Situation der Zeit wie auch Ereignisse, die eigene Person Kleists betreffend, waren ideal dafür, sich des Bildes eines solchen Rebellen und Freiheitskämpfers zu besinnen, zumal wir um die deutsch-nationalistisch gesinnte Haltung Kleists in jener Zeit gut Bescheid wissen. Mit Napoleon war zur Zeit der Entstehung der Novelle zudem ein hervorragendes Feindbild eines Despoten und Tyrannen gegeben. Kleist war auf alle Fälle in der antiken Literatur bewandert; er gestaltete einige Dramen nach antikem Vorbild, war selbst des Griechischen und Lateinischen mächtig und ging dem Studium desselben sowohl an der Universität wie auch privat nach. Daher ist es wahrscheinlich, daß er im Laufe seiner schriftstellerischen Tätigkeit auch mit Aischylos und seinen sieben noch erhaltenen Tragödien in Berührung gekommen ist. Freilich ist eher nicht zu vermuten, daß Kleist die 59
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61 62
Wie sehr Kleist in dieser Zeit vom Haß gegen Napoleon eingenommen war, zeigt auch Bernd Leistner, Kleists politischer Furor und sein ‹Letztes Lied›. In: Kleist-Jahrbuch 1991, 155 ff. Stuttgart 1991, insbes. 159. Vgl. Roland Reuss/Peter Staengle (Hrsg.), H.v. Kleist: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Band IV/ 2. Basel/Frankfurt a. M. 1999, 389 Ibid., 433. Nachdem 1806 Preußen endgültig von Napoleon besiegt worden war, wurde Kleist im Jänner 1807 kurzweilig sogar in Verwahrsam genommen aufgrund des - ungerechtfertigten(!) - Verdachts der Spionage. Diese Erfahrung - im Falle eines Schuldspruchs wäre er zum Tode durch Erschießen verurteilt worden - dürfte den Dichter nachhaltig geprägt haben.
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aischyleische Tragödie im Original gelesen hat; die Lektüre einer Übersetzung ist hierbei wahrscheinlicher. Dies dürfte insofern keine Schwierigkeit gewesen sein, als die Übersetzungen des Prometheus Vinctus in jener Zeit Legion waren. Die ohnehin schon auffälligen Zusammenhänge inhaltlicher Natur zwischen der Geschichte des historischen Hans Kohlhase, die in der Chronik nachzulesen ist, und dem Titanen wurden, wie gezeigt, offensichtlich von Kleist durch poetische Veränderungen vor allem am Anfang und am Ende der Novelle noch verstärkt (Schilderung des Streits am Zollübergang bzw. Zigeunerin-Motiv), wahrscheinlich mit dem Ziel, diese dem Inhalt der Tragödie noch weiter anzunähern oder zumindest einige wichtige inhaltliche Elemente derselben einzubringen. Die Übereinstimmungen in diesem Bereich sind in der Tat erstaunlich. In Anbetracht all dieser Argumente scheint es folglich doch angebracht zu sein, vor allem mit Blick auf die zeitgeschichtliche Situation und die politische Einstellung des Dichters, anzunehmen, Kleist habe im Michael Kohlhaas - vor dem Hintergrund der hier aufgezeigten Parallelen und Berührungspunkte - ein deutsches Pendant zum aischyleischen Prometheus schaffen wollen.
Werner Schubert
... Raffinement einer Spätlingszeit, gegen welche selbst wir noch nichts bedeuten Ein Beispiel für die Rezeption antiker Texte als Mittel literarischer Kritik am Fin de sie`cle Peter Michelsen zum achtzigsten Geburtstag! Endlich lagerten wir uns zu Tisch und alexandrinische Sklaven gossen uns Schneewasser über die Hände, andere wuschen unsere Füße damit und reinigten mit außerordentlicher Behutsamkeit die Nägel. Und nicht einmal bei dieser beschwerlichen Arbeit schwiegen sie, sondern sangen immer dazwischen. [...] Man konnte das Zimmer für ein Theater und nicht für das Speisezimmer eines Herrn halten.
Dieses Zitat findet sich nicht in den gängigen Übersetzungen von Petrons Satyrica 1, sondern in dem Drama Il pranzo von Gabriele D’Annunzio (1863-1938) - das hinwiederum in keiner Gesamtausgabe des italienischen Dichters zu finden ist; es handelt sich nämlich bei Il pranzo - Das Mittagsmahl um einen der zahlreichen satirischen Einakter, die Christian Morgenstern (1871-1914) um die vorletzte Jahrhundertwende für die «Schall-und-Rauch»Bühne von Max Reinhardt und Ernst von Wolzogen in Berlin geschrieben hat. 2 Die Handlung dieses Einakters ist kurz umrissen folgende: Im Speisezimmer einer italienischen Villa findet sich die Familie zum Mittagessen ein. Während sich die Erwachsenen in gelehrtästhetischen Gesprächen ergehen, fällt das «spontane» Verhalten des hungrigen Knaben Ghiotto aus dem Rahmen, der nur endlich essen will. Indes man sich statt an der aufgetragenen Suppe an vorgetragenen Passagen aus Petrons Cena Trimalchionis ergötzt, fällt Ghiotto vor Hunger ohnmächtig zu Boden; die übrigen Protagonisten sowie der Vorhang tun im allgemeinen Erste-Hilfe-Tohuwabohu desgleichen. Der Plot ist insgesamt so unbedeutend, wie es sich gehört als Voraussetzung für wirkungsvolle Parodien, die den Effekt der «Komik durch die Diskrepanz zwischen Form und Inhalt und die nur vom Original aus verständliche Abwandlung derselben» 3 erzielen. Der Grad des witzigen Effekts steht in unmittelbarer Korrelation zu der Wahrnehmung 1
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Tandem ergo discubuimus pueris Alexandrinis aquam in manus nivatam infundentibus aliisque insequentibus ad pedes ac paronychia cum ingenti subtilitate tollentibus. ac ne in hoc quidem tam molesto tacebant officio, sed obiter cantabant. [...] pantomimi chorum, non patris familiae triclinium crederes (Petr. 31,3-8). Zitiert werden im folgenden alle Passagen aus Il pranzo nach: Chr. Morgenstern: Die Schallmühle. (= Sämtliche Dichtungen II Bd. 13) Basel 1976, 131-142. Die Übersetzung, die Olio in Morgensterns Mittagsmahl vorträgt, stammt von Wilhelm Heinse («Begebenheiten des Enkolp», zuerst erschienen 1773), die (von Morgenstern?) mit einigen Änderungen, die dem moderneren Sprachgebrauch entsprechen, versehen wurden, wenn etwa das altertümliche Wort «Tracht» durch die aktuellere Bezeichnung «Gang» (eines Menüs) ersetzt ist. Was beibehalten bleibt, ist die Fehlübersetzung von (glires melle ac papavere sparsos - mit Honig und Mohn marinierte Haselmäuse), die bei Heinse zu «in Honig eingemachte Haselnusskerne» geworden waren. G. von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 4. verb. u. erw. Aufl. Stuttgart 1964 s. v. Parodie.
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der Parameter der Vorlage, mit denen die Parodie ihr Spiel treibt. Sprache und Stil von D’Annunzios frühen Prosadramen, seine ebenso ausführlichen wie unrealistischen Bühnenanweisungen, seine überzogene Gestik und seine Vorliebe für Gelehrsamkeitsdemonstration sind diejenigen Elemente, auf die Morgensterns Text zunächst zielt. Durch die Wahl des Sujets - eine Mahl-Szene - und die ausführlichen Petron-Zitate, die im Kontext des Stückes schließlich zur Katastrophe führen, ordnet sich Morgensterns Mittagsmahl zugleich aber auch ein in die Tradition der literarischen Gestaltung einer schon bei Homer beliebten Szene, die unterschiedliche Textsorten generiert hat: von Platons Symposion bis hin zur Satire vom lächerlichen Mahl 4, wodurch die komische Wirkung von Morgensterns Parodie auf Grund vielfältiger intertextueller Beziehungen potenziert wird. Um dies zu erhellen, möchte ich - Klassische Philologie und Neuphilologie miteinander verbindend - zunächst das Mahl als literarisches Sujet insgesamt in den Blick fassen, danach die wichtigsten Charakteristika von Christian Morgensterns Mittagsmahl umreißen und schließlich die Position dieses scheinbar ephemeren Stücks innerhalb seines literaturgeschichtlichen Kontextes bestimmen.
1. Das Mahl als «typische Scene» seit Homer Bei Homer ist das Mahl in der Form eines Gastmahls eine «typische Scene», um den Terminus von Arend 5 zu gebrauchen, die oft mit zu geflügelten Worten gewordenen Formelversen eingeleitet, beschlossen oder gerahmt wird: Oi« d¢ eœp¢ oœnei¬au¢ e«toi˜ma proàei¬mena xei˜raw iallon - Und sie erhuben die Hände zum lecker bereiteten Mahle sowie Ayœta¡r eœpei¡ po¬siow àai¡ eœdhty¬ow eœj eron eÕnto - Und nachdem die Begierde des Tranks und der Speise gestillt war. 6 Einem Gebot der Gastfreundschaft entsprechend wird ein Fremder zunächst mit Speise bewirtet, ohne dass es dabei zu ausführlichen Gesprächen kommt. 7 Erst beim anschließenden Symposion findet Unterhaltung statt. Dies ist ein Schema, das in Homers Ilias dominiert, auch wenn es nicht stereotyp bei jedem Mahl beibehalten wird. 8 Diese 4
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Hierzu vgl. W. Pabst: Zur Satire vom lächerlichen Mahl. Konstanz eines antiken Schemas durch Perspektivenwechsel. In: A&A 32,1986, 136-158. W. Arend: Die typischen Scenen bei Homer. Berlin 1933. Übersetzungen nach J. H. Voss. Vgl. Athenaios, Deipn. 5,2: Doàei˜ ga¡r exein pro¡w fili¬an ti o« oiÓnow e«làystiào¬n, parauermai¬nvn th¡n cyxh¡n àai¡ diaxe¬vn. dio¬per oyœde¡ pro¬teron hœrv¬tvn oiÕtinew eiÓen, aœll¢ y«ste¬rion, v«w th¡n jeni¬an ayœth¡n timv˜ ntew, aœll¢ oyœ toy¡w eœn me¬rei àai¡ àau¢ eÕàaston h«mv˜ n.- Der Wein hat offenbar etwas, was zur Freundschaft
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hinzieht, indem er die Seele wärmt und löst. Daher fragte man den Gast nicht gleich, wer er sei, sondern erst nachher. Man ehrte sozusagen die Gastlichkeit an sich, nicht nur den jeweiligen einzelnen Gast. (Athenaios von Naukratis: Das Gelehrtenmahl. Aus dem Griechischen von U. und K. Treu. Leipzig 1985, 98; vgl. auch die noch unvollständige Ausgabe Athenaios: Das Gelehrtenmahl. Eingeleitet und übersetzt von C. Friedrich. Kommentiert von Th. Nothers. Buch I-VI 1. und 2. Teil, Stuttgart 1998, Buch VII-X Stuttgart 1999). Generell zu den Mahl- und Trinksitten in Griechenland und Rom vgl. J.-M. Andre´: Griechische Feste, römische Spiele. Die Freizeitkultur der Antike. Aus dem Frz. übersetzt von K. Schmidt. Stuttgart 1994, 60-65 (zum Festmahl im klassischen Griechenland), 174-177 (zu den Gastmählern im frühen Rom und in der römischen Republik), 261-267 (zum Festmahl in der römischen Kaiserzeit). In der Odyssee scheint es Abweichungen zu geben, etwa in der langen Mahlschilderung, die weite Teile des 17. und 18. Buches füllt und angereichert ist mit Gesprächen und Streitszenen der gefräßigen Freier; doch hat diese Abweichung narratorischen Sinn: Wie sich die Freier verhalten, ist eben untypisch für einen Mahlablauf; Homer signalisiert dadurch implizite Kritik am Verhalten der Freier. Dazu Arend [s. Anm. 5] 74 f.
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Trennung zwischen eher schweigsamem Mahl, gr. dei˜pnon, und geselligem Symposion scheint nicht nur in literarischer Darstellung spezifisch griechischer Brauch gewesen zu sein. 9 In der Nachfolge des griechischen Vorbildes hält sich auch der römische Dichter Vergil in der Aeneis an diesen Ablauf; doch spiegeln Details seiner Mahlbeschreibungen römische Verhältnisse wider. 10 Das Symposion als zweiter Teil eines Gastmahls hat schon bei Homer besondere Bedeutung für den Austausch von Informationen sowie für künstlerische Darbietungen: Rezitation, Musik, Tanz. Und es bleibt eine Konstante, zumindest unter den Gebildeten, sich nicht nur durch Musik und Tanz, durch schöne Mädchen und Knaben bei einem Gastmahl unterhalten zu lassen, sondern auch Erzählungen allgemein sowie belehrenden Erörterungen über bestimmte Themen Raum zu geben. Bei einem Symposion gehörte es zum guten Ton, dass sich die Teilnehmer mit unterschiedlichen Beiträgen, auch künstlerischen, beteiligten. Diese Charakteristika eines Symposions waren für die Ausprägung mehrerer Textsorten verantwortlich: zum einen für die beim Symposion zu singenden Lieder, die Skolien 11, zum anderen für die sogenannte SymposionLiteratur, wo die Gelagesituation das «setting» für zunächst mehr, später auch weniger gebildete Gespräche bietet. Kein Geringerer als Platon schuf durch sein Symposion um 380 v. Chr. ein Modell, das nach ihm Xenophon aufgriff und das später von den sogenannten Buntschriftstellern gerne als literarisches Gefäß herangezogen wurde für die Vermittlung unterschiedlicher wissenswerter Themen. 12 Der Schwerpunkt in der Symposion-Literatur ruht auf den Gesprächen; dementsprechend - und auch vor dem Hintergrund griechischer Mahlpraxis - nimmt das vorangehende Essen in der literarischen Darstellung bei Platon oder Xenophon nur wenig Raum ein. Das Abtragen der Speisen und das Kredenzen des Weines erfolgen in solchen Werken quasi als Ende der Einleitung des Dialogs. Die eigentliche Symposion-Situation kann gelegentlich sogar ganz in den Hintergrund treten - dann haben Titel wie Sympo¬sion oder Symposiaàa¬ allenfalls publizistische, absatzfördernde Funktion; sie kann aber umgekehrt zum Katalysator für Gespräche werden, die sich zwanglos auf die Symposionsituation beziehen, wie etwa in Plutarchs Ende des 1./Anfang des 2. Jh. entstandenem Sympo¬sion tv˜ n e«pta¡ sofv˜ n,- nicht zu verwechseln mit den neun Büchern Symposiaàa¬ - hinter deren Konzeption die Legende steht, dass sich die sogenannten Sieben Weisen 13 regelmäßig zu geselligen Zusammenkünften getroffen hätten. In den Symposiaàa¬ ordnet Plutarch die typischen Themen, die bei Symposien angeschnitten werden und die nicht nur ums Essen kreisen, in neun Komplexe zu jeweils zehn thematisch zusammengehörenden Fragen. Bei Athenaios von Naukratis schließlich bewegen sich in seinen um 200 n. Chr. verfassten Deipnosofistai¬ die Gespräche in mehr oder weniger wissenschaftlich-belehrender Form ausschließlich um die Themen Essen und Trinken. 14 9 10 11
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Vgl. dazu jetzt P. Schmitt-Pantel: Gastmahl II. Griechenland. In: DNP 4 (1998), 798-803. Vgl. Arend [s. Anm. 5] 129 f. Der Name ist wahrscheinlich nichtgriechisch, wurde aber in der Antike etymologisch zu sàolio¬w gewunden gestellt; man bezog das auf die unregelmäßige Reihenfolge, die sich nicht an die Liegeordnung beim Mahl hielt. Aristoteles’ Symposion ist nur in der Nebenüberlieferung auszugsweise erhalten; der lateinische Titel De ebrietate bringt besser zum Ausdruck, um was es sich bei Aristoteles im Gegensatz zu Platon handelt: um einen Traktat über die Trunkenheit. Bei Demetrios von Phaleros (apud Stob. 3,1,72) sind dies: Kleobulos von Lindos, Solon von Athen, Chilon von Sparta, Thales von Milet, Pittakos von Mitylene, Bias von Priene und Periandros von Korinth. «Ohne Sinn für Komposition und lebendige Darstellung wird alles, was sich im Zusammenhang mit einem Festgelage und seinen stupide-geistreichen Unterhaltungen zu Athenaios’ Zeit in alten Büchern
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Streng genommen lässt sich dieses Werk nicht der Symposion-Literatur zuordnen, sondern muss als Repräsentant einer eigenen Gruppe, der Deipnon-Literatur, gelten. Die GastmahlLiteratur ingesamt trug vielleicht nicht formal, wohl aber inhaltlich das Potential zur Satire in sich: Auf dem Sektor der griechischen Literatur hat im 2. Jh. n. Chr. Lukian eine Schrift mit dem Titel Sympo¬sion h Lapi¬uai verfasst, in der die Möglichkeiten der sympotischen Situation in burlesker Weise ausgenutzt werden: Zu einer Verlobungsfeier hat ein ehrgeiziger Brautvater die Vertreter diverser Philosophenschulen eingeladen; von Sitzordnungsrangeleien ausgehend über Verbalinjurien kommt es zu einer Rauferei zwischen Vertretern einzelner philosophischer Richtungen, bei der weniger die Argumente als Humpen und Teller hin und her fliegen. Hier fließen einerseits die griechische Tradition der philosophischen buntschriftstellerischen Symposia, andererseits die zu Lukians Zeit voll entwickelte römische Tradition der Satire vom lächerlichen Mahl zusammen; denn in der römischen Literatur existierte die sympotische Situation hauptsächlich in satirischer Form. Verantwortlich dafür scheint die typisch römische Eigentümlichkeit gewesen zu sein, dass - anders als im griechischen Kulturbereich - nicht strikt getrennt wurde zwischen vorangehender cena und anschließendem Gelage; das Lat. kennt einen Überbegriff für beides: das convivium - Beisammensein. 15 In der römischen Kultur hatte schon die Mahlzeit, bei der bereits gezecht wurde, eine hohe kommunikatorische Funktion 16 und beanspruchte dementsprechend in den literarischen Gestaltungen mehr Raum als im Griechischen. Mehr als bei einem bloßen Umtrunk war dabei einem Gastgeber die Möglichkeit geboten, sich mit Extravagantem zu profilieren - und zu blamieren. Symposien in der römischen Literatur vermitteln durchaus auch Belehrung, aber nicht unbedingt «in netter Form», sondern eher satirisch. 17 GelageSzenen werden vor allem zum Anlass genommen, darin die unterschiedlichen Vertreter der menschlichen Spezies zu charakterisieren. 18 Das convivium hat dabei die Funktion eines Spiegels, um gesellschaftliches Verhalten bzw. Fehlverhalten zu reflektieren. Bei Horaz findet sich ein erster Höhepunkt dieses Genres. Er macht vor allem in seinen Satiren
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aufstöbern ließ, in einen einzigen Sack zusammengepreßt. Von minuziösen Käse- und Kuchenverzeichnissen, Hetärenkatalogen quer durch die Antike, bekannten Saufpoeten [...] bis zu den üppigen Fressgewohnheiten fremder Völker und zur kompletten Aufzählung der antiken Weinsorten, vom Fischfang über die zoologischen Schriften des Aristoteles bis zu den Vorzügen der Knabenliebe, von den witzigen Typen der alten, mittleren und neueren Komödie, von Tischgebeten, Parfüms und der Geschichte der griechischen Tanzkunst bis zum Spott auf die alten Philosophen, [...] vom größten Gauner bis zum obskursten Gewürz reicht die Skala, und selbst durch kühnste Ideenassoziationen vor einer schwelgerisch gedeckten Tafel wird nichts ersonnen werden können, was nicht Athenaios gleichfalls berührt hätte.» (E. Schmalzriedt, in: Kindlers Literatur-Lexikon, Lizenz-Ausgabe München 1974, 2438 [s. v. Deipnosophistai].) Vgl. dazu jetzt G. Binder: Gastmahl III: Rom. In: DNP 4 (1998), 803-806. Verweise auf convivia bei Ennius sat. 1 fr. 1 V.; Lucilius, sat. 13 fr. 451 f. Kr. 455 Kr.; sat. 30 fr. 1017 f. Kr.; Varro apud Gellium 13,11,11, wo auf eine Schrift Nescis quid vesper serus vehat - Du weißt nicht, was der späte Abend bringt verwiesen wird. Darin heißt es: Nec loquaces autem [...] convivas nec mutos legere oportet, quia eloquentia in foro et aput subsellia, silentium vero non in convivio set in cubiculo esse debet. - Man soll aber weder geschwätzige Gäste noch stumme auswählen, weil Beredsamkeit auf dem Forum und vor Gericht ihren Platz hat, Schweigen aber nicht beim gemeinsamen Mahl, sondern im Schlafzimmer. Schon bei Lucilius werden Delikatessen als Dekadenzzeichen gesehen: Occidunt, Lupe, saperdae te et iura siluri - Lupus, dich bringen Sardellen- und Heringssauce ums Leben (sat. 1 fr. 53 f. Kr.). Vielleicht war Luc. sat. 20 insgesamt einer Gelagesituation gewidmet; dazu W. Krenkel: Lucilius. Satiren. Lateinisch-deutsch. 1. Teil Berlin 1970, 80 f. Sat. 28,3 fr. 769 ff. Kr. könnten zu einem Philosophengastmahl gehört haben; dazu Krenkel a. O. 90 f.
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mehrfach die Situation einer Mahlzeit zum Ausgangspunkt seiner kritischen Reflexionen. 19 Die monothematische achte Satire des zweiten Buchs, die auch unter dem Titel Cena Nasidieni bekannt ist, kann bei allen Unterschieden als eine Vorläuferin von Petrons Cena Trimalchionis gelten. Hier wie dort steht ein Gastgeber im Zentrum, der mit Ausgefallenem und Teurem protzt und dies für den Gipfel der Kultur hält, was den Gästen, die ihn an wahrer Kultur zu übertreffen meinen, Anlass gibt, sich mehr oder weniger heimlich über den Gastgeber und die Peinlichkeiten während des Essens lustig zu machen - wobei sie ihrerseits Takt vermissen lassen und eigenes Fehlverhalten an den Tag legen. 20 Petrons Cena Trimalchionis - bei allem Umfang nur ein kleiner Teil aus seinem Riesenwerk Satyrica - ist der Höhepunkt der satirischen Gattung vom lächerlichen Mahl in der Antike. 21 Sie enthält im Gegensatz zu Horaz als typische Elemente der Symposion-Literatur ausführliche Gespräche, ironisiert aber zugleich die Gelage-Literatur dadurch, dass diese Gespräche aus banalem Tratsch bestehen. Im übrigen stellen diese Gespräche wegen ihren von der Hochsprache abweichenden Sprachebenen eine Fundgrube für die Rekonstruktion der lateinischen Umgangssprache dar. In Verbindung mit den aufgetragenen Speisen und dem bombastischen Interieur von Trimalchios Villa wird in immer neuen Varianten die Demonstration des Reichtums und der Genusssucht auf allen Ebenen und die damit verbundene Umfunktionierung von Kunst und Kultur zum bloßen Dekor attackiert - ein kulturkritisches Dauerthema spätestens seit der ausgehenden Republik.
2. Von Horaz über Petron zu Morgenstern Hiermit ist nun die Tradition umrissen, in der Christian Morgensterns D’Annunzio-Parodie von ihrer Szenerie und ihrem Plot her anzusiedeln ist, und zwar nicht nur auf Grund gewisser von außen wahrnehmbarer Homologien, sondern auch wegen unmittelbarer Bezugnahme auf einen antiken Text: Petrons Cena Trimalchionis. Morgenstern hat im Lauf seines Lebens mehrfach seine Vertrautheit mit der antiken Literatur zu erkennen gegeben, und zwar häufig in produktivem Umgang mit ihr; man denke an seine Horaz-Travestien aus den neunziger Jahren, oder an seine eigene Übersetzung des Gedichts «Das Mondschaf» mit der grotesken Ballung von klassischen Elisionen und Aphäresen in Verbindung mit dem unantiken Endreim. 22 Ferner hat er sechsundzwanzig seiner Galgenlieder im Stil gelehrter Kommentierwut mit Anmerkungen versehen, in denen er die Philologenzunft gehörig auf die Schippe nimmt. 23 Horaz und Petron - die beiden Hauptrepräsentanten 19 20 21
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Vgl. serm. 2,2; 2,6; 2,8 sowie epist. 1,5. Nebenbei hat auch Horazens Mäzen eine Schrift mit dem Titel Symposium verfasst. In der Folge vereinigen Athenaios’ Deipnosophistai griechische und römische Eigentümlichkeiten insofern, als es, wie der Titel zu erkennen gibt, sich nicht um ein sympo¬sion - ein Trinkgelage -, sondern um ein dei˜pnon - ein Gastmahl - handelt, das zudem im Haus eines reichen Römers stattfand. Zu nennen sind ferner die Saturnalia des Macrobius, in deren Zentrum die Persönlichkeit und das Werk Vergils stehen. Lunovis in planitie stat, / cultrumque magn’ expectitat. / Lunovis. // Lunovis herba rapta it / ad montes, unde cucurrit. / Lunovis. // Lunovis habet somnium, / se culmen rer’ ess’ omnium. / Lunovis. // Lunovis mane mortuumst. / sol ruber atque ips’ albumst. / Lunovis. Sechsundzwanzig Galgenlieder und deren gemeinverständliche Deutung durch Jeremias Mueller, Dr. phil. Privatgelehrter. In: Christian Morgenstern: Gesammelte Werke in einem Band. München 1965, 213237.
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der Satire vom lächerlichen Mahl - hat er nachweislich gekannt. 24 Die Wahl einer Mahlszene ordnet diese D’Annunzio-Adaptation und damit auch D’Annunzio selbst - so viel dürfte jetzt schon deutlich geworden sein - in einen weiteren Kontext ein und weist damit über ein bloß ephemeres Kabarett-Kabinettstückchen hinaus. Eine solche prunkvolle Mahlsituation, wie wir sie bei Horaz und Petron vorfinden, hat allerdings in D’Annunzios bis zur Jahrhundertwende erschienenen Dramen kein unmittelbares Vorbild. Doch sind D’Annunzios Bühneninterieurs häufig von ausgesuchter Üppigkeit; es wimmelt von Gemälden und Statuen, die Tische biegen sich stereotyp unter üppigem Blumenschmuck und Früchtekörben, von denen niemand etwas nascht. 25 Morgensterns Mittagsmahl beginnt mit einer Bühnenanweisung, welche die für D’Annunzio typische Detailsucht durch ebenso unrealistische wie in sich konsequente Forderungen in grotesker Manier überbietet und zugleich den papiernen Charakter solcher Dramen offenbart: Speisezimmer einer italiänischen Villa. Die Luft zittert Ahnung kommender Genüsse. Der allgemeine Charakter des Saales ist Hunger, aber nicht der Hunger des Plattfußes, sondern die feine melancholische Sehnsucht des gewählten Schmeckers seltener Gemüse, erlesener Öbste. 26
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Morgensterns Schulbildung hat ihn natürlich auch mit Xenophon und Platon vertraut gemacht; er hatte übrigens aus der Xenophon-Lektüre am Gymnasium seinen Spitznamen Bessos geerbt, weil er wie dieser Satrap in Dareios’ Diensten ebenfalls ständig von einer Schar Anhänger umgeben war. Vgl. hierzu M. Beheim-Schwarzbach: Christian Morgenstern. (= rowohlt monographie 97) Reinbek bei Hamburg, 13. Aufl. 1995, 21. H. Thoma und H. Weltzel schreiben in dem Kapitel «Dekadenzbewusstsein und Überhöhungswillen im Fin de Sie`cle» in der von Volker Kapp herausgegebenen Italienischen Literaturgeschichte, Stuttgart, Weimar 1992, 309-311, über Gabriele D’Annunzio (1863-1938): «D’Annunzio [...] versammelt die Elemente des Dekadenzbewusstseins zu einer neuen, aristokratisch intendierten Synthese von Leben und Kunst. [...] Er beerbt, besser aggregiert die ganze europäische Dichtung und kaschiert mit Perfektion die Spuren. [...] Er treibt den Dandy in der Nachfolge Baudelaires und Huysmans auf die Spitze» (a. O. 311). Was nun folgt, könnte direkt zur Charakterisierung von Morgensterns Mittagsmahl taugen: «Der gewisse Geruch von Kitsch, das falsche Pathos, die im Verhältnis zum Anlass überzogene ästhetische Geste haben in dieser unvermittelten Verschmelzung von Narzissmus und gewollt großer Bedeutung ihre tiefere Ursache» (a. O. 311). Gerade die letzten Punkte, «der gewisse Geruch von Kitsch, das falsche Pathos, die im Verhältnis zum Anlass überzogene ästhetische Geste», sind es, die Morgenstern in seinem Mittagsmahl quasi zu Leitmotiven werden lässt. Kennzeichnend dafür ist zunächst, dass es sich hier nicht um die Hauptmahlzeit, eine Cena, sondern nur um einen Pranzo handelt: ein gewöhnliches Mittagessen. Ferner sind keine Gäste anwesend, sondern ausschließlich Familienmitglieder. Morgenstern überbietet D’Annunzios vergleichbare Anweisungen, etwa in der 1899 aufgeführten Gioconda: Una stanza quadrata e calma, ove la disposizione di tutte le cose rivela la ricerca di un’armonia singolare, indica il segreto di una rispondenza profonda tra le linee visibili e la qualita` dell’anima abitatrice che le scelse e le ama. Tutto intorno sembra ordinato dalle mani di una Grazia pensierosa. L’imagine di una vita dolce e raccolta si genera dall’aspetto ` il pomeriggio. Per entrambe le finestre del luogo. Una porta mette nell’appartamento interno; un altra conduce all’uscita. E entrano il lume, il fiato e la melodia di aprile. (Zitate stets nach G. D’Annunzio: Tutte le opere, a cura di E. Bianchetti. Tragedie, Sogni e misteri I. Arnoldo Mondadori Editore 1940.) Auch spätere Details sind hier übernommen wie die «apertura rettangolare» zu Beginn von Akt 3 sowie in dem «roten lateinischen Segel» am Ende der Szenenanweisung die Bemerkung «il mare in calma sparso di vele latine» zu Beginn von Akt 4. Der «aspirazione verso una vita carnale» in der Anweisung zu Akt 3 entspricht die Anweisung bei Morgenstern: «Die Luft zittert Ahnung kommender Genüsse», wenn er in surrealistischer Weise Elemente des Interieurs selbst zu Mitspielern macht.
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Diese gleichnis- und metaphernreichen Vorschriften, für die meinen Recherchen nach die Bühnenanweisungen aus D’Annunzios La Gioconda 27 Pate gestanden haben, lassen sich natürlich weder bei D’Annunzio noch bei Morgenstern realisieren. Morgensterns Bühnenanweisungen wurden bei der Uraufführung 1901 dadurch mit ins Spiel einbezogen, dass sie laut vorgelesen wurden. 28 Betrachten wir ein paar Einzelheiten genauer: Dass der Speiseraum nichts als Hunger ausstrahlt, wird nicht durch Versatzstücke der Armut geleistet, wie es ja auch möglich wäre, sondern durch Versatzstücke des Überflusses, der nur darauf wartet, dass man sich seiner bedient, und mit Inventar, das anthropomorph geworden ist und sich in Sehnsucht nach den Üppigkeiten verzehrt. Hier nimmt Morgenstern fast schon Filmtricks vorweg - ich denke konkret an Cocteaus «La Belle et la Beˆte» (1946) -, wenn er vorschreibt: Die Kandelaber scheinen ihre Kerzen zu verzehren. Die Möbel krachen vor Begierde mit den Kiefern. Als die Tür geöffnet wird, tut sie einen tiefen Seufzer und man hat die Vorstellung, als drehte sie ihren Kopf mit einem halb verzückten, halb gemarterten Augenaufschlag den prallen Amoretten der Decke zu.
Kandelaber und Mobiliar, die ausschließlich Hunger ausstrahlen, sowie die Beziehung zwischen der Tür und den «prallen Amoretten» an der Decke repräsentieren die zwei elementaren Spielarten fleischlicher Genusssucht: Essen und Sex, dem der latente Sadomasochismus entsprechen wird, den wir bei den Erwachsenen in ihrem Verhältnis zum Essen entdecken werden. Bei der Charakterisierung der Nichte des Hausherrn, die den erlesenen Namen Melissa trägt - übrigens nimmt eine Melissa auch an Plutarchs Gastmahl der Sieben Weisen teil! - schlägt die Ästhetisierung in eine andere Richtung durch. Während das Interieur durch Anthropomorphismus belebt erscheint, wird ein Lebewesen mit mythischen Gestalten, Naturschönheiten und Kunstwerken in neo-petrarkistischer Weise Stück für Stück in derart übertriebener Weise verglichen, dass es als groteske Kunstfigur er27
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Uraufgeführt im April 1899 in Palermo. Dieses Stück ist Eleonora Duse auf den Leib geschrieben und wurde auf ihren Tourneen um die halbe Welt gespielt. Morgensterns Briefwechsel (in Auszügen abgedruckt in: Christian Morgenstern: Gesammelte Werke in einem Band, München 1965) lässt sich entnehmen, dass Das Mittagsmahl im Januar 1901 aufgeführt wurde. Vgl. Brief von Kayssler an Morgenstern (Berlin, 9. 1. 1901): «Es ist jetzt immerfort was los: wir sind mit der Gründung eines ‹Narrenschlittens› beschäftigt, Künstlersalon-Abende, wo Parodien etc. gespielt werden. [...] Der erste soll 21. Januar im Künstlerhaus sein. Schicke sofort was Du an Parodien, Szenen etc. hast. Du wirst hier würdiger aufgeführt als beim Überbrettl, das nun wirklich am 18. in der Sezessionsbühne steigen soll, aber wie’s heißt, mit sehr wenig Fleiß. Mein Pan im Salon soll von einem Antischauspieler gespielt werden. Wenn das wirklich nicht anders geht, ziehe ich das Ding zurück: denn wenn der Pan miserabel ist, hat alles keinen Zweck. Bei Deinem d’Annunzio ist das ja nicht so gefährlich, weil da keine eigentlich tragende Rolle drin ist, mit der das Ganze steht und fällt» (a. a. O. 560). Vgl. ferner den Brief von Ernst von Wolzogen (Berlin 20.1.1901): «Lieber Meister Morgenstern! Wir haben einen glänzenden Erfolg gehabt! Es war ein gemütlicher, höchst animierter Abend, der 18. Januar. Die Zeitungen waren fast ausnahmslos des Lobes voll und nun dürfen wir auch mit guter Zuversicht auf den Bestand und den materiellen Erfolg der Sache rechnen. Leider wurde der Tenor krank, sodass ihr ‹Anmutiger Vertrag› wegfiel. Aber das ‹Mahl› wirkte prächtig, und besonders meine Einleitungsconfe´rence, in der ich Ihre szenischen Anweisungen und die Charakteristik der Personen zum besten gab, wirkte außerordentlich erheiternd» (ebd.). Bis zu diesem Zeitpunkt hatte D’Annunzio fünf Prosadramen publiziert: Sogno d’un mattino di primavera 1897 - Sogno d’un tramonto d’autunno 1899 - La citta` morta 1898 - La Gioconda 1898 - La Gloria 1899. Morgenstern lernte La Gioconda vermutlich in der Übersetzung von L. von Lützow kennen (Die Gioconda. Berlin 1899).
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scheint, die auf ihre Weise ein Pendant zu Horazens Monstrum zu Beginn seiner Ars poetica darstellt (Hor. ars 1-5): Ihre Zähne sind weiß wie die Brust der Diana und scharf wie ein Sonett von Stecchetti. 29 Ihr Haar hat den Glanz und die Farbe der südlichen Hänge des Albanergebirges, wenn die unendliche Sehnsucht des Herbstes darüber lagert. Ihre Augen sind wie der Lago di Como und der Lago Bellagio. Ihre Augenbrauen geschweift wie eine Liebeserklärung des unsterblichen Gabriele. Ihre Nase ist die der milesischen, ihr Mund der der medizäischen Venus. Die Bewegungen ihrer Glieder sind von der Anmut jener Tänzerinnen des Benozzo 30 in der Hochzeit Jacob und Rahels. 31
An Melissas «herrlicher Hand» folgt ihr Cousin Olio auf die Bühne, der als ein Lockenkopf Botticellis gekennzeichnet wird. Die Unterhaltung dieser beiden strotzt vor sich verselbständigender Bildungsdemonstration, deren Schleusen bei jedem noch so beliebigen Anlass geöffnet werden und im Kontext dieses Dramas stets vom eigentlichen Zweck der Familienversammlung, dem Mittagsmahl, wegführen. Dieser synästhetische Schlagabtausch des Wissens sei an einem Einzelbeispiel demonstriert: Olio (mit einer ungeheuren Bewegung der Rechten über die Tafel hin): Weißt du noch, Melissa, wie wir damals in Girgenti, dem alten Agrigentum, im Hause deines Vaterbruders jenen unbeschreiblichen Fisch zum erstenmal aßen, in dessen Geschmack uns jene mystische Ehe zwischen Antike, Renaissance und Moderne vollzogen zu sein schien, die wir in Kunst und Leben selber zu gestalten[,] oft so unglückliche Versucher sind, so unglücklich, weil so weit entfernt von jenen tiefen Bedingungen der Natur, deren unbewusstes Ineinanderwirken die Träume der Götter in immer neuen Inkarnationen gebiert. Melissa (hingerissen): Und wie du dann wie von einer überirdischen Sehergabe begeistert dich an der Tafel erhobst und zwischen den staunenden Gästen die goldbestickten Teppiche deiner Phantasien hinrolltest und auf den fiebernden Saiten deiner Geschmacksnerven die Symphonie zweier Jahrtausende beschworst, von Gelas Gründung durch die Dorier an Olio: - unter Kleandros, Hippokrates und Gelon Melissa: - bis zur Gründung Agrigents von Gela und von all seinen prächtigen Tempeln und von den Karthagern und Römern und Sarazenen.
Hier werden die für D’Annunzio typischen Bildungsdemonstrationen in den Kontext der pädagogischen Absichten der antiken Symposions-Literatur gestellt, die jedoch dadurch ad absurdum geführt werden, dass alle schon alles wissen und sich gegenseitig ins Wort fallen. Man bewegt sich in einem circulus vitiosus, in dem die Vermittlung von Wissen - hier versickernd in einer stupiden polysyndetischen Aufzählung - ebenso wie die Reflexionen 29
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Lorenzo Stecchetti (= «Stäbchen») war das Pseudonym des italienischen Dichters Olindo Guerrini (1845-1916), der stark von Baudelaire beeinflusst war. Seine Gedichtsammlungen hatten wegen ihres freizügigen Charakters viele Leser. Lebensdaten: ca. 1420-1497. In D’Annunzios La Gioconda stellt Cosimo Dalbo die Schönheit eines ungenannten ägyptischen Mädchens auf eine Ebene mit kunstgewerblichen Souvenirs: Auf eine ausführliche Beschreibung der Anmut dieses Mädchens sagt Cosimo: «Avrei voluto portatela con le statuette, con gli scarabei, con le stoffe, col tabacco, con i profumi, con le armi.» (G. D’Annunzio: Tragedie, Sogni e misteri. Bd. I. A. Mondadori Editore 1968, 254). Ebenfalls in diesen Kontext zu stellen ist die ausführliche Beschreibung der Sirenetta (ebd. 317).
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über Kunst und Literatur nur noch zur Selbstdarstellung und zur Konversation dienen, die innerhalb dieses Sketches die Handlung immer wieder zum Stillstand bringen. Konsequenterweise findet das im Titel verheißene Mittagsmahl gar nicht statt. 32 Das Gespräch nimmt seinen Ausgang von einer Muräne, mit deren Geschmack die «mystische[n] Ehe zwischen Antike, Renaissance und Moderne» verglichen wird, als deren Vermittler sich D’Annunzio selbst verstand. 33 Nach dieser Kostprobe tritt Degno auf, ein älterer, graumelierter Herr mit sprechendem Namen, Besitzer ausgedehnter Ländereien auf Sizilien, ein dilettierender Maler, der sich anlässlich dieser Muräne sogleich in Erinnerungen verliert; denn er hatte diese Muräne seinerzeit nach dem Essen «aus dem Gedächtnis gemalt». Immerhin bittet der Hausherr Degno die bis jetzt Anwesenden zu Tisch. 34 Nun tritt Ghiotto auf, laut Morgenstern ein blasser Knabe mit verzehrenden Augen; er wird nicht nur durch diesen Zusatz sogleich dem Bereich des Hungers zugeordnet, sondern auch durch seinen Namen: «Ghiotto» heißt soviel wie «Leckermaul». Danach erscheint die Hausherrin mit dem Namen Rosetta. Hierdurch gibt Morgenstern seinem Mittagsmahl eine diskrete Verankerung in einer weiteren Textsorte: der Commedia dell’arte nämlich; Rosetta oder Rufina ist dort der Name der
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Morgenstern spielt übrigens auf ein weiteres pädagogisches Literatur-Genos an, das um die Mahlsituation kreist, und zwar in Verbindung mit dem kleinen Ghiotto: das seit dem Mittelalter bekannte Genre der Tischzuchten, dem noch im 19. Jahrhundert der «Struwwelpeter» verpflichtet ist. Insofern ist Ghiotto, der sich nicht an die essensverzögernden Spielregeln der Erwachsenen halten will, eine sublimierte Mischung von Suppenkaspar wider Willen und Zappelphilipp. Aus dieser erzieherischen Konstellation speist sich übrigens auch ein Gutteil des Humors in Bernard Shaws Pygmalion, aber auch des erfolgreichen Volksstückes von Fitzgerald Kusz, das in verschiedenen Dialektvarianten immer wieder über die Bühne geht und dessen Petron-Nähe man einmal genauer beleuchten sollte: Im Hessischen heißt es «Schweich, Bub», im Kurpfälzischen «Hald doi Gosch, Bu!» und im Berndeutschen «Schwyg, Bueb!»: ein Konfirmationsfest, bei dem Mittagessen, Kaffee und Abendessen jeweils einen Akt bilden. Der Held des Tages hat nichts zu sagen; es wird nur «schmutzige Wäsche gewaschen», mit dem Erfolg, dass die Familienbande am Ende zu zerreißen drohen, woran auch der den ganzen Tag erwartete Pfarrer, der am Ende des Stücks als Deus ex machina auftaucht, nicht viel ändern kann. Margarethe Billerbeck bin ich zu Dank verpflichtet, die mich darauf aufmerksam macht, dass dieses Detail durch Juvenal (sat. 5,99 f.) angeregt sein könnte: Virroni muraena datur, quae maxima venit gurgite de Siculo. Dem Virro wird eine Muräne gegeben, eine riesige, die aus der Tiefe des sizilischen Meeres kam. Sollte Morgenstern Juvenal nicht gekannt haben, so war sicher Horazens sat. 2,8 (die Cena Nasidieni) ein Katalysator, zumal sich auch dort der Hausherr (vgl. den folgenden Abschnitt) ausführlich zu einer Besonderheit der von ihm kredenzten Muräne äußert: Adfertur squillas inter murena natantis in patina porrecta. sub hoc erus «haec gravida» inquit «capta est, deterior post partum carne futura.» Es wird eine Muräne aufgetragen, zwischen schwimmenden Krabben, ausgestreckt auf einer Platte; Dazu sagte der Herr: «Diese wurde schwanger gefangen; schlechter ist sie nach der Geburt wegen ihres Fleisches.» (Hor. sat. 2,8,43 f.) Olio macht dabei die Verwandtschaftsverhältnisse klar: «Wie wird es schön sein, wenn wir jetzt wieder so zusammensitzen werden, du, mein edler Oheim, Rosetta, meine Mutter, deine Schwester, Cousine Melissa, Eures Bruders Tochter - ihr kleiner Halbbruder Ghiotto und ich.» Dies ist eine der banalsten Möglichkeiten, ein Drama zu exponieren, die um so papierner wirkt, als es sich hier nicht um ein einmaliges Zusammentreffen wie etwa in T. S. Eliots Family Reunion, sondern um eine täglich wiederkehrende Situation handeln dürfte.
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Komischen Alten. 35 Morgenstern charakterisiert seine Rosetta dezent, aber deutlich in diese Richtung: «Sie ist eine Dame in den Fünfzigern, ein langes Leben steht in ihrem Antlitz.» Sie begrüßt die Gesellschaft mit «Seid mir gegrüßt, meine Lieben! Ich war bei den Rosen draußen, jetzt bin ich bei euch.» Damit erweist sich auch ihr Name als sprechend. Melissa repliziert der Zuständigkeit ihres eigenen Namens entsprechend - Melissa heißt ja «Biene» -: «Und du bringst ihren Duft an deinen Kleidern mit dir» 36, worauf Degno leise zu Olio in ultimativer Sublimierung - oder Banalisierung? - meint: «Sie bringt ihn in ihrer Seele mit». Ghiotto hat sich bereits an die Tafel gesetzt und eine Serviette umgebunden - eigentlich eine Geste der Wohlerzogenheit -, was von den Erwachsenen mit Belustigung zur Kenntnis genommen wird: «Du lieber Gott, seht doch den kleinen Schelm!» meint Melissa. Olio ergänzt: «Wahrhaftig! Er eröffnet die Tafel, er gibt das Zeichen, man wird nach dem Diener läuten müssen.» Mutter Rosetta ist der Hunger Ghiottos unbegreiflich, weil er doch vor einigen Stunden aus Padua gesandte gezuckerte Früchte zu sich genommen habe; daraufhin bricht man in ein retardierendes Loblied dieser Früchte aus, das in einer grotesken Umfunktionierung von gezuckerten Früchten als mögliches Futter für die seinerzeit gemalte Muräne gipfelt. Ghiotto, so Morgenstern, «klappert mit Messer und Gabel; alle wenden die Blicke auf ihn und sehen ihn halb vorwurfsvoll, halb verständnislos an.» Schließlich setzen sich auch die Erwachsenen. Degno schlägt vor, nun ohne Ironie, nach dem Diener läuten zu lassen, dass er das Mahl auftrage. Melissa betätigt einen Gong, worauf Olio in ein bewunderndes «Priesterin!» ausbricht. Ghiottos weitere Hungerdemonstrationen sind den Erwachsenen unbegreiflich; sie empfehlen, ihm als Surrogat ein Buch in die Hand zu drücken; Olio schlägt das «Gastmahl des Trimalchio» vor. Er behauptet: «Ich führe dieses bedeutende Werk der Kaiserzeit stets bei mir. Es gibt wie kein anderes den Begriff einer bis zur höchsten Morbidität gesteigerten Kultur, eines Raffinements einer Spätlingszeit, gegen welche selbst wir noch nichts bedeuten. Es erregt vielleicht eure Teilnahme, wenn ich euch einiges daraus vorlese, bis das Essen aufgetragen ist.» 37
Petrons Satyrica fungieren hier gleichsam als Bibel des Decadentismo, aus der hier, wie bei den Mahlzeiten in einem Kloster, vorgelesen wird. Petron und sein Roman übten in der Tat auf die Literatur des Fin de sie`cle einen starken Reiz aus. Die Person des Autors wird zur tragenden Figur in Sienkiewiczs Roman «Quo vadis?» aus dem Jahr 1896; das Raffinement des Genießens, von dem Olio hier spricht, ist das zentrale Thema des Schlüsselromans A Rebours von Joris Karl Huysmans von 1884; auch Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray 1891 zeigt sich von Petron beeinflusst. Noch Scott Fitzgeralds Roman The Great Gatsby, erschienen 1924, hätte ursprünglich Trimalchio at West Egg heißen sollen. 38 Davon 35
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Vgl. G. Hensel: Spielplan. Schauspielführer von der Antike bis zur Gegenwart. Berlin, Darmstadt, Wien 1975, 296. Auch hier kann man eine Reminiszenz an La Gioconda sehen: In I 4 vermutet Lucio Settala, Silvia Settala habe eine Biene mit den Rosen ins Zimmer gebracht. Statt «Enkolpios» - der Ich-Erzähler des Romans - ist in Morgensterns Mittagsmahl stets von «Eukalpios» die Rede. Dies scheint mir ebenso wie «Putcoli» statt «Puteoli» lediglich ein Lese- bzw. Transkriptionsfehler zu sein (das Werk wurde ja postum von Margareta Morgenstern in der «Schallmühle» veröffentlicht) und soll wohl nicht eine Halbbildung des Olio signalisieren. Zum einen macht Olio ansonsten keine sachlichen Fehler bei seinen historischen und sonstigen Auslassungen, zum anderen müsste ein solch gewollter Fehler auf eine Pointe auch innerhalb des Sketches zielen. Vgl. hierzu M. von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur. Bern, München 1992, 979.
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abgesehen kommt kaum einer der vielen Romane seit der Gründerzeit, in denen es um soziale Auf- oder Absteiger geht, ohne mehr oder weniger satirisch gezeichnete Mahlzeiten aus, wobei die bevorzugten Themen hauptsächlich um das Essen, um Karriere und Geld, um Kuppelei und Tratsch kreisen. Zu denken ist an Fontanes Gesellschaftsromane; auch Thomas Mann setzt gerne diese typische Szene in den Buddenbrooks und im Zauberberg mit unverkennbar satirischer Zielsetzung ein. Zurück zu Morgenstern! Es kommt, wie es kommen muss; das in Aussicht gestellte Vorlesen drängt alles andere zurück. Zwar wird die Suppe aufgetragen, doch wird Ghiotto von Melissa mit einem warnenden Blick am Essen gehindert, während Olio weiter peroriert und zeitgenössisches Bildungsgut reproduziert, das in der zweiten Hälfte des 19. Jh. vor allem durch die Ausgrabungen von Pompeii populär war. 39 Der Inhalt von Olios Text hier korrespondiert mit der Szenenanweisung zu Beginn - Eroten hier, Amoretten da -, wodurch die Auszüge aus Petron, die im Anschluss geboten werden sollen, zum Spiegel dieses Dramas selbst werden; und wenn wir uns Details dieses Stücks genauer anschauen, dann werden wir feststellen, dass sich die Petron-Adaptation nicht auf diese expliziten Zitate beschränkt. Dann liest er endlich vor; es ist die Stelle mit den alexandrinischen Knaben, die am Anfang der vorliegenden Studie zitiert wurde. Unterdessen beginnt Ghiotto zu weinen. Auf die Frage, warum, stammelt er nur: «Die Suppe». Rosetta kostet von der Suppe und ist empört, dass sie kalt ist. Beppo trägt sie unter Protest ab, worauf sich Olio über die Domestiken alteriert. Olio liest weiter, laut Morgenstern «in steigender Nervosität etwas stakkato» und beschreibt die erlesenen Kostbarkeiten, die bei Petron kredenzt werden. Ghiotto wird bleich und fällt schließlich vom Stuhl. Rosetta mutmaßt stoßweise: «Er hat - am Ende doch - von der Suppe - gegessen.» Melissa fällt dramatisch ein: «Nicht sterben, Ghiotto.» Dann wird das gesamte Küchenpersonal, «lauter wohlgenährte und behäbige Personen» (!), herbeizitiert und - eine der für D’Annunzio typischen überzogenen Gesten - auf der Stelle entlassen. Rosetta ist unterdessen auch ohnmächtig geworden, in deren Schoß Melissa regungslos ihr Gesicht verbirgt. 40 Damit nicht genug: Als nächster bricht Degno beim Anblick dieser Szene zusammen. Lockenkopf Olio steigert sich in eine Raserei hinein; aber auch dabei vergisst er nicht sein angesammeltes Bildungsgut: Olio: Alle Furien Höllenbreughels haben sich zusammengerottet, mich zu verfolgen. Ich stehe hier, ich entkorke den uralten Opinianer [sic!] antiken Geistes, man speit sein Gift hinein, die Erde erhebt sich wie eine Wolke Urnenstaubs und erstickt mein Antlitz, das Fatum selber öffnet den purpurnen Rachen seiner unersättlichen Begierden und verschlingt die kostbaren Träume des göttlichen Visionärs. 39
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«Man mag sich den Speisesaal glänzend geschmückt denken; das Mosaik des Fußbodens stellt seltsamerweise Kehricht und von den Tischen gefallene Brocken dar. Aus dem tiefblauen Schoße der Wände scheinen Tänzerinnen, Genien, geflügelte Eroten hervorzutreten. In die Hauptwand ist ein Tafelbild eingelassen, welches Leda mit dem Nest in den Händen darstellt, worin die Säuglinge Helena und die Dioskuren ruhen.» Im Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae war im übrigen keine Darstellung von «Leda mit dem Nest» zu verifizieren, die dieser Beschreibung hier entspricht. Zugleich handelt es sich hier um eine Reminiszenz an den Schluss von D’Annunzios La Gioconda: (Beata) sbigottita ella si getta contro il seno della madre, con tutti i suoi fiori. La Sirenetta, caduta anch’ella in ginocchio, prona, tocca con la fronte e con le palme distese la terra. Beata wirft sich bestürzt an die Brust ihrer Mutter, mit all ihren Blumen. Sirenetta, auch sie auf die Knie gestürzt, vornübergebeugt, berührt mit der Stirn und den ausgestreckten Händen die Erde.
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In Olios Schlussworten vereinigen sich nun Antike und Gegenwart, Kunst- und Kulturgeschichte in einer Vision - das Pendant zu der am Anfang des Stückes apostrophierten mystischen Ehe zwischen Antike, Renaissance und Moderne, die doch trotz aller Bemühung nicht gelang, weil sie, um Olio zu zitieren, «so weit entfernt ist von jenen tiefen Bedingungen der Natur». Man achte hier auf die zahlreichen Elemente, die neben Petron auf die Antike verweisen: Zunächst trägt die Beschreibung des Interieurs des Speiseraumes zur Evozierung der Antike bei - durch den Hinweis auf dessen offensichtlich klassizistische Deckenausmalung, die Amoretten. Die nächsten Verweise fallen im Vergleich von Melissas Körper mit Schönem aus dem Bereich der Kunst, der Literatur und der Natur. Die Zähne Melissas werden - was fast schmerzhaft ist - mit der weißen Brust der Diana verglichen, wobei in einem weiteren Vergleich die Schärfe der Zähne hervorgehoben wird - was vielleicht doch immerhin auch implizierte Essbegierde signalisieren könnte - sowie auf einer gehobenen Ebene der Kunst durch deren weitere Vergleichung mit der Venus von Milo und der Venus aus den Uffizien von Florenz, die früher in der Villa Medici stand. Des weiteren wird die Antike im Bereich der Historie evoziert durch die bildungsbeflissenen Auslassungen zu «Girgenti, dem alten Agrigentum» und - noch enervierender - über die Gründungsgeschichte Gelas und Agrigents auf Sizilien bis hin zu den verschiedenen Stufen der Fremdherrschaft, die dazu dienen, eine Flut synästhetischer Bilder zu gebären. An die Welt des antiken Kultes erinnert der Vergleich der den Speisegong betätigenden Melissa mit einer Priesterin. Die weiteren Anspielungen auf die Antike sind unmittelbar von der Einleitung Olios zur Cena Trimalchionis geprägt, wobei die Konvergenzen zur gegenwärtigen Szene immer stärker werden. Diese Schlussvision zeigt, inwieweit Olios spontanes Denken deformiert ist. Er selbst setzt seine Gedanken in eine Beziehung zur Kunstgeschichte; seine Vision verdankt sich den «Furien Höllenbreughels» - vielleicht denkt Morgenstern hier an Bruegels «Sturz der Engel». Der antike Geist wird metaphorisch mit der Genussebene in Verbindung gebracht, wenn er verglichen wird mit einem alten Wein, der in den Gesprächen gleichsam entkorkt wird und der wie bei Trimalchio nur einer der edelsten Sorte sein darf: ein Opimianer. Hier verschaffen sich die Bedingungen der Natur anders als gedacht ihr Recht. Bei diesem Mittagsmahl ist letztlich das Fatum das einzige, das Nahrung erhält. Dadurch wird das Ganze zusätzlich zu einer Parodie des vor allem seit Beginn des 19. Jh. beliebten Schicksalsdramas. Die Ausdrucksweise Olios wird zunehmend wirrer bzw. katachrestischer, etwa wenn es heißt: Olio: O wie sprachst du die Wahrheit, alte schweigende Sibylle, die du einst dem unerfahrenen Knäblein auf der Höhe von Campobasso begegnetest. 41
Als schließlich die Mamsell zu Hilfe eilen will mit einem Handtuch und einer Karaffe voll Wasser, stürzt Olio mit wilden, wahnsinnigen Bewegungen, als ob er ein Gespenst vor sich sähe, mit den Worten «Rettet mich - Melissa - Rosetta - Degno - Beppo - Trimal41
Vielleicht liegt hier eine Reminiszenz an Horaz, sat. 1,9,29 f.: namque instat fatum mihi triste, Sabella / quod puero cecinit mota divina anus urna. - Denn es droht mir ein trauriges Geschick, welches einst eine alte Sabellerin, als ich Kind war, traurig gesungen hat, nachdem sie die weissagende Urne geschüttelt hatte. - Auf die Assoziation Sabella - Sibylla, die bei Horaz mitzuhören sei, machte U. Schmitzer aufmerksam (Vom Esquilin nach Trastevere. Hor. sat. 1,9 im Kontext zeitgenössischen Verstehens. In: S. Koster [Hg.]: Horaz-Studien. Erlangen 1994, 9-30; überarbeitet in: Gymnasium 104,1997, 245-270).
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chio» ebenfalls in eine Ohnmacht. Dieses rasant-apokalyptische Ende, dessen letztes gesprochenes Wort Trimalchio lautet, steht ebenfalls in der Tradition der Satire vom lächerlichen Mahl, das bei Horaz und bei Petron durch eine Flucht, bei Petron zudem durch ein Tohuwabohu beendet wird. Damit sind wir bei den impliziten Verweisen auf Petron. Wenn es Morgenstern bei den drei Zitaten, die hier auftauchen 42, belassen hätte, dann würde sich sein Witz darauf beschränken, wie D’Annunzio bestehende Kunst und Literatur in sein Werk montiert zu haben. Doch Morgenstern geht weiter: Bei den Personencharakterisierungen der Hausherren fällt eine Analogie zwischen Degno und Trimalchio auf. Bei Petron heißt es: Er selbst hat Ländereien, soweit der Habicht fliegt 43 - bzw. Jetzt will ich Sizilien an meine Äckerchen anschließen, damit ich, wenn mich mal nach Afrika zu gehen gelüstet, durch meinen eigenen Besitz segeln kann 44; bei Morgenstern lesen wir: «Degno. Besitzer ausgedehnter Ländereien auf Sizilien.» Bei der Darstellung des Luxus spielen hier wie dort importierte Genüsse eine Rolle. Bei Petron heißt es unter anderem: In den letzten Tagen hat er geschrieben, dass man ihm aus Indien Champignonsporen schicke. 45 Morgenstern schreibt: «Um zehn Uhr noch gab ich ihm von den gezukkerten Früchten, die uns dein Bruder, Melissa, aus Padua gesandt hat.» Bei beiden Autoren finden wir Selbst- und Kulturkritik, die jeweils Attitüde bleiben. Den entsprechenden Passagen aus Morgenstern sind folgende Verse aus einem Gedicht an die Seite zu stellen, das Trimalchio rezitiert: Im Schlund des Luxus erschlaffen die Stadtmauern des Mars. Für deinen Gaumen wird eingepfercht der Pfau aufgezogen, bekleidet mit babylonischem Goldgefieder, für dich das numidische Huhn, für dich der Kapaun; auch der Storch, der liebe fremde Gast, der Ausbund an Anhänglichkeit, der grazilbeinige, der Klapperer, der winterflüchtige Vogel, der Anzeiger lauer Zeit, hat sich in der Pfanne deiner Leichtfertigkeit sein Nest gemacht. 46
Damit wären folgende Passagen bei Morgenstern zu vergleichen: «... jene mystische Ehe zwischen Antike, Renaissance und Moderne vollzogen zu sein schien, die wir in Kunst und Leben selber zu gestalten[,] oft so unglückliche Versucher sind, so unglücklich, weil so weit entfernt von jenen tiefen Bedingungen der Natur.» «[...] Begriff einer bis zur höchsten Morbidität gesteigerten Kultur [...], eines Raffinements einer Spätlingszeit, gegen welche selbst wir noch nichts bedeuten.»
Das Verhalten der Herrschaft Domestiken gegenüber ist in beiden Texten ein wichtiges Thema. Bei Petron finden wir unter anderem: «Her mit dem Koch!» Als der Koch traurig am Tisch stand und sagte, er habe das Ausnehmen vergessen, schrie Trimalchio: «Was, ‹Vergessen›? Man könnte meinen, er habe keinen Pfeffer oder Kümmel darangestreut. Ausziehen!» 47 Morgenstern bietet: 42 43 44 45 46
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Petron, Sat. 31,3-8; 31,9-32,1; 36,1-5. Ipse [Trimalchio] fundos habet qua milvi volant (37,8). Nunc coniungere agellis Siciliam volo, ut cum Africam libuerit ire, per meos fines navigem (48,3). Ecce intra hos dies scripsit ut illi ex India semen boletorum mitteretur (38,4). Luxuriae rictu Martis marcent moenia. / tuo palato clausus pavo pascitur / plumato amictus aureo Babylonico, / gallina tibi Numidica, tibi gallus spado; / ciconia etiam, grata peregrina hospita / pietaticultrix gracilipes crotalistria, / avis exul hiemis, titulus tepidi temporis, / nequitiae nidum in caccabo fecit tuae (55,6). «Voca, voca cocum in medio». cum constitisset ad mensam cocus tristis et diceret se oblitum esse exinterare, «quid, oblitus?» Trimalchio exclamat «putes illum piper et cuminum non coniecisse. despolia!» (49,4 f.)
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Degno: Das ganze Küchenpersonal auf der Stelle hierher! Olio: Du willst? Degno: Ein Exempel statuieren. Ihr seid entlassen. Hinaus!
Ansonsten fallen zahlreiche kleinere Anspielungen auf, die sich am Ende des Stückes verdichten: Instrumente signalisieren den Gang einer Mahlzeit. Bei Morgenstern schlägt Melissa «an ein Gong», bei Petron werden die einzelnen Gänge (und der Gastgeber selbst) ad symphoniam bzw. symphonia strepente - zu einem (ohrenbetäubenden) Tusch aufgetragen (passim). Opimianer-Wein wird hier wie dort erwähnt (vgl. Petron 34,6). Die Sibylle von Cumae taucht ebenfalls in beiden Texten auf (vgl. Petron 48,8). Hier wie dort wird auf die Unerbittlichkeit des Geschicks verwiesen (vgl. Petron 34,10 bzw. 55,3). Auffällig ist auch, wie die Frauen jeweils zusammenhalten. So lesen wir bei Petron: Verstört war auch Scintilla, und sie schützte die zitternde (Fortunata) in ihrem Schoß. 48 Bei Morgenstern heißt es: Melissa kniet regungslos vor der auf ihrem Sessel ohnmächtig gewordenen Rosetta, das Haupt in ihrem Schoß verborgen.
Als letzte Einzelheit, die in beiden Texten am Schluss auftaucht, finden wir das Motiv «Wasser als Rettung». Petron schreibt: Deshalb begannen die Feuerwehrleute [...] mit Wasser und Beilen einen gehörigen Wirbel zu machen. 49 Morgenstern bietet: Die Mamsell erscheint [...] mit einem Handtuch und einer Karaffe voll Wasser.
3. Schluss Christian Morgensterns D’Annunzio-Parodie ist zunächst angeregt durch einen zeitgenössischen Autor, dessen speziellen poetisch-thematischen Vorlieben ein Spiegel vorgehalten wird. Den Plot selbst hat Morgenstern erfunden. Durch diesen Plot wird die ephemere D’Annunzio-Parodie zum Glied einer Kette, die bis in die Anfänge der abendländischen Literatur zurückreicht. Diese Kette wiederum teilt sich in zwei Stränge: die von Platon ausgehende belehrend-unterhaltende Symposion-Literatur in Dialogform einerseits, die horazisch-petronische Tradition des lächerlichen Mahls andererseits. Morgensterns D’Annunzio-Personen, ihre prätendierte Bildung und ihr Faible für Kunst und Literatur sollten vermuten lassen, dass sich hier Konvergenzen zur gehobeneren Symposionsliteratur ergeben. Mit ihren kopflastigen, ästhetisch-kulturellen Aspirationen scheinen sie himmelweit von den geld- und bauchfixierten Dummschwätzern petronischer Prägung entfernt zu sein. Aber das Kind Ghiotto, das noch nicht über die Bildung der Erwachsenen verfügt und entsprechend «unverbildet ist», lässt erkennen, dass seine Verwandten, die Spiegelungen von Bühnen- und Romangestalten D’Annunzios, ebenso Extreme darstellen wie Trimalchio und seine Kumpane. Ghiottos von den Erwachsenen ignorierter oder fehlinterpretierter Hunger sowie seine Ohnmacht stellen die Sterilität der durch und durch ästhetisierten Erwachsenenwelt bloß. Zwar lebt der Mensch nicht vom Brot allein; doch leben die Gestalten hier in einer Welt, in der Kunst und Bildung nicht unbedingt als geistige Nahrung zu verstehen sind, auch wenn sie noch so oft wiedergekäut werden. Kunst und Bildung sind 48 49
Consternata est etiam Scintilla trepidantemque sinu suo texit (74,12). Itaque vigiles [...] cum aqua securibusque tumultuari suo iure coeperunt (78,8).
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zu einem Reservoir von Versatzstücken verkommen, mit denen man sich schmückt, um die eigene Existenz zu überhöhen und deren man sich bedient, um ziellos zu konversieren, nicht, um zu kommunizieren. Ähnliches findet sich schon bei Horaz und vor allem in Petrons Cena Trimalchionis. In Horazens sat. 2,8 spricht der Hausherr ausschließlich von den Dingen, die er serviert, und von der Schwierigkeit, sie zu beschaffen, damit seine Bemühungen von den Gästen auch ausdrücklich gewürdigt werden, ohne dass er erkennt, wie substanzlos und gesprächshemmend dies eigentlich ist, was dazu führt, dass die Gäste sich ihrerseits am Gastgeber vorbei nonverbal, durch Blicke und Gesten, verständigen. Petron erweitert dieses satirische Ingrediens um die Spirale des ständig neuen Weckens und Befriedigens sinnlich-körperlicher Bedürfnisse. Gelegentliche Aufschwünge in die Welt der Kunst und Literatur, wenn etwa Trimalchio einen Kunstgegenstand beschreibt oder einen antiken Mythos erzählen will, enden - wie sollte es bei einem großen Fressen auch anders sein? - mit Bauchlandungen. Bei Petron dokumentieren die Freigelassenen allein schon durch ihre Sprache ihre Unbildung und finden sich nur schwer in der Welt der Kunst und Literatur zurecht. Hier bei Morgenstern ist das andere Extrem verwirklicht. Man ist hochgebildet, ästhetisch sensibel und weiß diese Sensibilität in wohlgesetzten Worten immer wieder zu artikulieren. Die Garnitur von allem und jedem mit Reminiszenzen aus der Welt der Kunst und der Literatur, gipfelnd in den Rezitationen aus Petron, der zugleich als Visionär der eigenen Dekadenz verstanden wird, überwuchert und erstickt am Ende alles, so dass alle Teilnehmer dieses «Mittagsmahls» sich am Ende nicht mehr in den elementaren Bedürfnissen des Lebens zurechtfinden. Morgensterns Mittagsmahl ist weniger eine Gesellschaftssatire - die ist es natürlich auch - als eine Satire auf eine bestimmte literarische Attitude des Fin de sie`cle, repräsentiert durch Gabriele D’Annunzio, der seine Theaterwerke streckenweise gleichsam als dramatisierte Konversationslexikonartikel gestaltet. Dieses Element verbindet Morgensterns Mittagsmahl - über die Kulturkritik hinaus mit der literaturkritischen Komponente von Petrons Roman insgesamt, der ja ebenfalls zeitgenössische Autoren und Modetorheiten im Rhetorikbetrieb aufs Korn nimmt. Wie Petron, zeigt sich hier auch Morgenstern als arbiter elegantiae. Wie Petron beispielsweise dem Rhetoriklehrer Agamemnon oder dem Dichter Eumolp, legt Morgenstern seinen D’Annunzio-Personen Bemerkungen in den Mund, die die eigene ästhetische Situation und das Scheitern ihrer Aspirationen reflektieren, wobei diese ästhetische Kritik selbst jeweils zur bloßen Geste gerinnt. 50 Auf geistreich-witzige Art weist Morgenstern in seinem «Mittagsmahl» auf die Gefahr hin - und damit reicht seine Kritik über den Einzelfall D’Annunzio hinaus -, wenn es an einer rechten Harmonie zwischen Kunst und Leben, zwischen den geistigen und körperlichen Belangen des Menschen mangelt. Schon hier, in diesem satirischen Text des Achtundzwanzigjährigen, lässt sich Morgensterns Hinwendung zur Anthroposophie zehn Jahre später ahnen.
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Nebenbei war der «Decadentismo» nicht das einzige Ziel von Morgensterns parodistischen Sketches, die er in dieser Zeit verfasste. Er nahm auch das D’Annunzio völlig entgegengesetzte naturalistische Drama Hauptmannscher Provenienz aufs Korn.
Mischa Meier
Tyrtaios - Die Entstehung eines Bildes Tyrtaios (flor. 630/20 v. Chr.) genießt als Dichter kein besonders hohes Ansehen in der modernen deutschsprachigen Forschung. Zu befremdlich wirken in der heutigen Zeit seine blutigen und zumeist in leuchtenden Farben drastisch ausgemalten Kampfparänesen, als geradezu gefährlich muß sein Postulat einer bedingungslosen Unterordnung des einzelnen unter die Belange des Kollektivs gelten, und das auf Tyrtaios zurückgehende, vielfach aufgegriffene und häufig mißverstandene Diktum vom schönen Tod im Kampf für die Heimatpolis kann heute im besten Fall noch ein mißbilligendes Kopfschütteln hervorrufen. So ist es kaum verwunderlich, daß Tyrtaios mitunter zum Inbegriff eines als totalitär und militaristisch stigmatisierten spartanischen Gemeinwesens stilisiert wurde, zu einem Dichter, in dessen rüden Kriegsliedern sich all das, was man für gewöhnlich ohnehin mit Sparta verbindet, in deutlichster Weise manifestiere. Wer eine konzise Einführung in das spartanische Kriegerethos suche, der solle eben schlicht Tyrtaios lesen. 1 Eine im engeren Sinne politische, d. h. auf die Belange einer spezifischen Polis hin ausgerichtete, Normen und Pflichten ihrer Angehörigen umschreibende Dichtung, beginne dagegen erst mit Solon. A. Dihle etwa faßt die Verse des Tyrtaios unter den Begriff der «Kriegspropaganda» und bricht kurzerhand über sie den Stab, wenn er festhält: «Zur hohen Dichtung sind sie jedoch nicht zu rechnen». 2 J. Latacz zufolge bietet «Tyrtaios gegenüber Kallinos nichts Neues», 3 und St. Müller gibt zu bedenken: «Bei Tyrtaios handelt es sich um eine ausgesprochen problematische Gestalt. Problematisch sind nicht nur seine genauen Lebensdaten und -umstände, problematisch (und zwar vor allem für deutsche Leser) ist auch die ideologische Ausrichtung seines Werkes: Tyrtaios verfaßte hauptsächlich Kampfparänesen, Aufforderungen zum Kampf, die für moderne Leser immer etwas Faschistisches in sich tragen». 4 Auch für C. W. Müller weisen die Kampflieder dieses Dichters immerhin etwas Faschistoides auf. 5 Sieht man einmal von den überlieferten Tyrtaios-Versen selbst ab, so können Urteile dieser Art umso weniger verwundern angesichts der Absonderlichkeiten, die mit dem Dichter im Laufe der Jahrhunderte getrieben wurden und die sich z. B. in einem Fazit spiegeln, das R. Harder in einer Flugschrift aus dem Jahr 1945 zog: «Sein Eigenstes aber ist jenes Hinstellen schlichter Seinstatsachen, die ohne alles Räsonnement den Widerhall im Wertwillen der Mannschaft suchen und finden. Nicht umsonst erinnert 1
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Vgl. etwa Müller 62: «[...] die pointierte Formulierung eines besonderen Ethos der spartanischen Wehrgemeinde [...]». Diese Ansicht findet sich auch in dem bekannten Aufsatz von W. Jaeger, hier 92. A. Dihle, Griechische Literaturgeschichte, Darmstadt 21991, 48 f. Latacz 162. Zu Kallinos vgl. R. Leimbach, Kallinos und die Polis, Hermes 106 (1978), 265-279. St. Müller, Das Volk der Athleten. Untersuchungen zur Ideologie und Kritik des Sports in der griechischrömischen Antike, Trier 1995, 72. Müller 62, Anm. 23.
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so vieles im Tyrtaios ans Germanische. Was hier spricht, ist nicht Zurückgebliebenheit, auch nicht die ängstliche Erstarrung des späteren Sparta, sondern glücklich bewahrte alte Kraft». 6 Natürlich ist überhaupt nicht zu bestreiten, daß die negativen modernen Urteile gegenüber Tyrtaios bereits in dessen erhaltenem Werk angelegt sind und daß jede Stimme, die ihn als maßlosen Kriegstreiber kritisiert, ohne Schwierigkeiten Belege aus seinen Versen heranzuziehen vermag. Das Problem liegt jedoch in der Gewichtung der skizzierten Punkte gegenüber anderen Aspekten, die das Werk des Tyrtaios möglicherweise auch bietet, sowie in ihrer Bewertung innerhalb eines angemessenen historischen Kontextes. Es soll im folgenden gezeigt werden, daß sich die Bedeutung dieses Dichters nicht in Schlachtengesängen und Kriegstreiberei erschöpft, 7 sondern daß Tyrtaios bereits Gedanken geäußert hat, die im Rahmen des Entwicklungsprozesses der griechischen Polis von fundamentaler Bedeutung sind, deren Valenz jedoch bislang zumeist unterschätzt worden ist. Dies liegt zum einen daran, daß die Dichtungen des Tyrtaios in der modernen - namentlich philologischen - Forschung in der Regel im Schatten Solons stehen. Zum anderen muß das moderne Tyrtaiosbild als Ergebnis eines langwierigen selektiven Rezeptionsprozesses verstanden werden, der sich bis in die Antike zurückverfolgen läßt. 8
I Um zu einem konsistenteren und im Hinblick auf das Corpus der erhaltenen Fragmente angemesseneren Tyrtaios-Bild zu gelangen, erscheint es sinnvoll, einen Zugriff zu wählen, der zunächst einmal von den unmittelbar kampfparänetischen Passagen (die etwa 2/3 des erhaltenen Corpus einnehmen) abstrahiert und andere für das Werk des Dichters charakteristische Aspekte in den Mittelpunkt rückt, um erst nach deren Analyse zu den Kampfparänesen zurückzukehren und sie in einem Kontext zu bewerten, der möglicherweise eher adäquat erscheint. Dabei ist an erster Stelle danach zu fragen, ob sich in den Fragmenten neben den ebenso berüchtigten wie drastischen Aufrufen zum Kampf überhaupt Elemente aufweisen lassen, die einen solchen Ansatz rechtfertigen. Ich denke, dies ist durchaus der Fall, und ich möchte diese Elemente in denjenigen Passagen sehen, die sich allgemein mit dem ‹Politischen› befassen, wobei der Begriff des Politischen in unserem konkreten Zusammenhang verstanden werden soll als ein Komplex von Denk- und Handlungsweisen, die sich um die Definition, die Konstituierung und Erhaltung eines spezifischen Gemeinwesens sowie um die Bestimmung der Rolle, Bedeutung und Funktion der diesem Gemeinwesen zugehörigen Individuen gruppieren. Zugrundegelegt werden soll also eine Fragestellung, die in der Forschung u. a. an Homer, Solon und Herodot angelegt worden ist und die - wie sich zeigen wird (und auch schon gezeigt wurde) 9 - auch und gerade bei Tyrtaios zu greifen vermag. 10 6 7
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Harder 202. In diesem Sinne auch Lesky 146: «Wir haben jedoch keinen Grund zu der Annahme, Tyrtaios hätte nur unter den Waffen gesungen». Dies deutet auch Latacz 162 kurz an. Z. B. Ottmann 60 ff. (mit weiterer Literatur). Vgl. etwa K. Raaflaub, Die Anfänge des politischen Denkens bei den Griechen, in: I. Fetscher/H. Münkler (Hgg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 1, München/Zürich 1988, 189-271; ders., Die Anfänge des politischen Denkens bei den Griechen, HZ 248 (1989), 1-32; Ottmann 19 ff.; 122 ff.
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Ausgehend von einer solchen Zugangsweise kann man sich zunächst auf eine fest eingrenzbare Gruppe von Fragmenten konzentrieren: Es handelt sich dabei zum einen um diejenigen Verse, die sich unter dem Schlagwort der tyrtäischen Eunomia (der Begriff geht kaum auf Tyrtaios selbst zurück) fassen lassen, d. h. fr. 1a-b-5 und ∞14 G/P (= fr. 2-5 D); zum anderen um das sog. Arete´-Gedicht fr. 9 G/P (= fr. 9 D). Während die erstgenannte Versgruppe als zentrale Quelle für die spartanische Frühgeschichte namentlich in der althistorischen Forschung vielfach behandelt worden, ihre fundamentale Bedeutung für die politische Organisation dieses Gemeinwesens unumstritten ist und insbesondere die auf Bestimmungen der Großen Rhetra Bezug nehmenden Fragmente 1b G/P (= fr. 3b D) und fr. ∞14 G/P (= fr. 3a D) auch als beredte Zeugnisse eines beachtlichen politischen Reflexionsniveaus des Tyrtaios anerkannt sind, 11 hat das Arete´-Gedicht - trotz häufiger Beachtung - in der Frage nach seinem politischen Gehalt bislang erstaunlich wenig Aufmerksamkeit erfahren 12 - auch die jüngste Behandlung dieses Textes streift die politischen Inhalte und Intentionen der Elegie nur marginal. 13 Obwohl sich gerade an den Eunomia-Fragmenten das grundsätzliche Anliegen des Dichters sowie zentrale Aspekte seines politischen Denkens präzise herausarbeiten lassen, möchte ich an dieser Stelle auf ein näheres Eingehen auf diese Texte verzichten, da die für unsere Fragestellung relevanten Punkte in der neueren Forschung gut aufgearbeitet sind. 14 Stattdessen möchte ich mich kurz dem Arete´-Gedicht zuwenden und gerade anhand dieses Textes, der immer wieder als Paradigma einer tyrtäischen Kampfparänese fungierte (s. u.), auf einige Elemente hinweisen, die vom oben skizzierten Tyrtaios-Bild m. E. nicht erfaßt werden. 15 Vergleicht man die Eunomia-Fragmente mit dem Arete´-Gedicht, so zeigt sich, daß die Texte komplementär zueinander stehen: Während in den erstgenannten Versen nach den
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Aus der Vielzahl der althistorischen Arbeiten seien lediglich einige zentrale Titel genannt: K. Bringmann, Die Große Rhetra und die Entstehung des spartanischen Kosmos, in: Christ 351-386; K.-W. Welwei, Die spartanische Phylenordnung im Spiegel der Großen Rhetra und des Tyrtaios, ebd. 426-447, ND in: Welwei, Polis und Arche´, 42-63; M. Nafissi, La nascita del kosmos. Studi sulla storia e la societa` di Sparta, Neapel 1991, 71 ff.; Walter 150 ff.; L. Thommen, Lakedaimonion Politeia. Die Entstehung der spartanischen Verfassung, Stuttgart 1996, 30 ff.; Meier 243 ff.; H. van Wees, Tyrtaeus’ Eunomia: Nothing to Do with the Great Rhetra, in: St. Hodkinson/A. Powell (Hgg.), Sparta. New Perspectives, London 1999, 1-41; St. Link, Das frühe Sparta, St. Katharinen 2000, 19 ff. Allerdings will M. Clauss, Sparta. Eine Einführung in seine Geschichte und Zivilisation, München 1983, 22, auch in 1b G/P (= fr. 3b D) bzw. fr. ∞14 G/P (= fr. 3a D) nichts anderes als Kampfparänesen sehen. Eine erfreuliche Ausnahme stellt Walter 169 ff. dar. - Die wichtigsten (vorwiegend philologischen) Arbeiten zum Arete´-Gedicht seien an dieser Stelle kurz angeführt: Jaeger, 75-114 (mit überzeugenden Argumenten für die wiederholt angezweifelte Echtheit der Elegie); C. del Grande, Tirteo, Elegia 9 Diehl, in: ders., Filologia minore. Studi di poesia e storia nella Grecia antica da Omero a Bisanzio, Mailand/ Neapel 21967, 63-80; 424-426; Prato 116 ff.; Snell 27 ff.; Shey 5-28; Fuqua 215-226; G. Tarditi, Parenesi e Arete´ nel Corpus Tirtaico, RFIC 110 (1982), 257-276; Th. A. Tarkow, Tyrtaeus, 9 D.: The Role of Poetry in the New Sparta, AC 52 (1983), 48-69; Schwinge 387-395. Schwinge, passim. Ich selbst habe vor kurzem eine Interpretation der Verse vorgelegt (Meier 243 ff.; dort auch weitere Literatur). Die nachfolgenden Überlegungen basieren auf einer Interpretation des Textes, die ich an anderer Stelle bereits vorgenommen habe: Meier 272 ff. (dort auch weiterführende Belege und Literatur, auf deren Vollständigkeit im folgenden aus Raumgründen verzichtet sei).
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für ein Gemeinwesen konstituierenden Faktoren, nach Zugehörigkeitskriterien sowie dem idealen, institutionell geregelten Zusammenspiel unterschiedlicher Interessengruppen innerhalb der Bevölkerung gefragt wird, richtet fr. 9 den Blick auf das Individuum innerhalb dieses Gemeinwesens, auf seine Bedeutung und insbesondere auf seine Funktion. Tyrtaios entwickelt dabei das Paradigma des aœnh¡r aœgaqo¬w , der sich durch eine ganz spezifische Form der aœreth¬ definiert. Diese aœreth¬ wiederum kennt nur einen Maßstab: Das gemeinschaftliche Gut ( jyno¡n eœsqlo¬n ), d. h. den Nutzen für die Polis (wir würden das heute als ‹Gemeinwohl› bezeichnen). Damit grenzt sich der Dichter rigoros von homerischen Normvorstellungen ab - er artikuliert das ja auch zu Beginn des Gedichtes in deutlichster Weise (v. 1-9) - und bezieht in einer Wertediskussion Stellung, die seit dem späten 8. Jh. offenbar auf breiterer Ebene geführt wurde. 16 Von der expliziten Kritik adliger Werte bei Archilochos kann hier abgesehen werden. Wichtiger ist, daß bereits Hesiod in Abgrenzung von homerischen aristokratischen Idealen aœreth¬ als Lohn für anständige Arbeit definiert und somit auch für Handwerker und Bauern erreichbar gemacht hatte. Auf dieser Entheroisierung der aœreth¬ baut Tyrtaios auf, indem er sie nunmehr zusätzlich politisiert: Jedes Mitglied der Gemeinschaft kann in seinen Augen durch ein strikt auf die Belange der Polis ausgerichtetes Verhalten zum aœnh¡r aœgaqo¬w werden. Das Arete´-Gedicht erklärt und exemplifiziert diese Ansicht. Daß sich Tyrtaios’ aœreth¬-Begriff dabei vor allem im Bereich des Kampfes und des Krieges kristallisiert, wird durch die historischen Rahmenbedingungen, in welche die Dichtungen des Tyrtaios eingebunden sind, hinreichend erklärt: Der Aufstand der Messenier (2. Messenischer Krieg) gefährdete das spartanische Gemeinwesen bis an den Rand seiner Existenz und erforderte den Einsatz aller zur Verfügung stehenden Mittel und Kräfte, um eine Katastrophe, nämlich die Vernichtung der Polis Sparta, zu vermeiden. Kampfaufrufe, die den Krieg als Selbstzweck verherrlichen, wird man bei Tyrtaios dagegen nirgendwo finden. Die klar gegliederte Kompositionsweise des Gedichtes 17 mit deutlich erkennbaren Unterabschnitten legt es dem Interpreten nahe, die einzelnen Verseinheiten jeweils gesondert zu betrachten. Der Text gliedert sich grob in zwei Hauptteile: Im ersten Teil wird der tyrtäische aœreth¬-Begriff entwickelt, die zweite Gedichthälfte beschreibt den Lohn, den das Erreichen dieser aœreth¬ verspricht. Beide Hauptteile lassen sich jeweils in zwei Unterabschnitte aufgliedern: 1a (v. 1-12): Negative Bestimmung der aœreth¬. 1b (v. 13-22): Positive Bestimmung der aœreth¬. 2a (v. 23-34): Lohn für den gefallenen aœnh¡r aœgaqo¬w. 2b (v. 35-42): Lohn für den überlebenden aœnh¡r aœgaqo¬w. Eine eigenständige Sinneinheit bildet das Schlußdistichon (v. 43-44), in dem der Dichter dazu aufruft, den Gipfel der zuvor beschriebenen aœreth¬ zu erklimmen. V. 1-12: Das Gedicht beginnt markant mit einer Priamel (v. 2-9), in der ein Katalog von Werten entfaltet wird, die bis dahin große Anerkennung genossen hatten, nun aber durch das 16 17
H. Munding, Ein nachhomerischer Streit um die wahre arete´, AU 27.5 (1984), 5-19. Schon Jaeger 84 bemängelte an der älteren Forschung zu fr. 9: «Die Elegie [...] ist [...] von der grossen Mehrzahl ihrer Kritiker als ein vollkommenes Meisterstück anerkannt und gepriesen. Aber dem Tyrtaios und überhaupt der archaischen Poesie traut man diese Form nicht zu».
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viermalige oyœdÅ eiœ jeweils zu Beginn eines Distichons (v. 3,5,7,9) sämtlich negiert werden. Der Dichter macht sich weder etwas aus Schnelligkeit und Stärke im Ringen (v. 2-4) noch aus Schönheit (v. 5), Reichtum (v. 6), einer autoritären Erscheinung ( basiley¬terow: v. 7) oder auch Redegwandtheit (v. 8), d. h. aus zentralen Elementen des archaisch-aristokratischen Wertekanons. All diese traditionellen Vorzüge ( pa˜ sa do¬ja ) können für ihn nicht bestehen im Vergleich mit der qoy˜ riw aœlkh¬, der stürmischen Wehrkraft (v. 9). Sie allein gibt die Möglichkeit, aœreth¬ zu erwerben: «Das eben ist Arete´ » ( hÕdÅ aœreth¬, v. 13). Die intendierte Distanzierung von den überkommenen Normen spiegelt sich darüber hinaus auch in einem subtil gestalteten Subtext. Denn all die genannten traditionellen Werte werden jeweils anhand eines mythischen Exemplums veranschaulicht, doch wirkt ausgerechnet die Auswahl dieses Beispielkataloges reichlich sonderbar: So werden zur Illustration physischer Überlegenheit die Kyklopen genannt (v. 3), seit der Odyssee eher als Paradigma unzivilisierten Barbarentums bekannt (Hom. Od. IX 105 ff.); zum Inbegriff der Schnelligkeit avanciert nicht - wie man wohl erwartete hätte - der homerische Achilleus, sondern der barbarische Thraker Boreas (v. 4), 18 und als Beispiel für Schönheit wird ausgerechnet Tithonos herangezogen (v. 5), der zwar Unsterblichkeit erhielt, aber keine ewige Jugend, und der aus diesem Grund reichlich unansehnlich verschrumpelte; Midas und Kinyras fungieren als Repräsentanten des Ideals sagenhaften Reichtums (v. 6) - ihr Schicksal war jedoch kaum vorbildlich; 19 Pelops wird als Sohn des Tantalos vorgestellt (v. 7), der die Götter provozierte und dessen Erwähnung somit auch einen Schatten auf Pelops selbst wirft; 20 Adrastos, dessen Leben von furchtbaren Schicksalsschlägen gezeichnet war, erscheint als Beispiel für Redekunst (v. 8) - warum nennt Tyrtaios hier nicht den viel berühmteren Nestor? 21 Der Auswahl dieser Exempla liegt unverkennbar eine Intention zugrunde, die sich über die Gemeinsamkeit der genannten Personen erschließt: Sie alle verkörpern in unterschiedlichster Weise maßloses, hybrides Verhalten. 22 Als Repräsentanten individueller Tugenden scheiterten sie alle letztlich an der eigenen Maßlosigkeit - anders gesagt: Individualität bedarf grundsätzlich eines regulierenden Moments, und dieses wiederum sieht Tyrtaios in der Polis. Denn einzig die Orientierung am jyno¡n eœsqlo¬n, am gemeinschaftlichen Gut (v. 15), garantiert aœreth¬. Das Individuelle vermag gegenüber dem Kollektiv nicht zu bestehen, nicht nur, weil es sich letzterem prinzipiell unterzuordnen hat, sondern allein schon deshalb, weil es ohne dieses versagen und unaufhaltsam ins Unglück abgleiten würde. 23
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Snell 34 f. Vgl. W. Kroll, RE XI 1 (1921), 484-486, s. v. Kinyras, bes. 485. Snell 35. Adrastos, legendärer König von Argos, wurde mit dem Zug der Sieben gegen Theben und dem katastrophalen Ausgang dieses Unternehmens in Verbindung gebracht, vgl. E. Bethe, RE I 1 (1893), 411-416, s. v. Adrastos (1), bes. 413-415; Shey 10 ff.; ferner Snell 35. Snell 35. Insofern erscheint mir Schwinges Interpretation der Elegie, wonach die Absetzung des Dichters von homerischen Tugenden auf einer poetologischen Metaebene zugleich auch eine Distanzierung von epischer Dichtung impliziere, überpointiert zu sein (vgl. bes. ebd. 390). Denn bei den beschriebenen Exempla handelt es sich ja gerade nicht um die bekannten homerischen Helden, sondern vorwiegend um anderweitig prominente Gestalten. Schwinge geht freilich davon aus, daß es sich bei all den Personen um epische Heroen gehandelt habe, und konstatiert 390, Anm. 8 lediglich: «Daß wir das kaum verifizieren können, besagt nichts».
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V. 13-22: Hatte Tyrtaios in den ersten Versen dargelegt, was er nicht unter aœreth¬ versteht und wie der Spartaner nicht zum aœnh¡r aœgaqo¬w werden kann (vgl. v. 10: oyœ ga¡r aœnh¡r aœgaqo¡w gi¬gnetai ), so erfolgt im zweiten Abschnitt des ersten Hauptteils die Entwicklung seiner eigenen Vorstellungen (vgl. v. 20: oy√tow aœnh¡r aœgaqo¡w gi¬gnetai ), programmatisch eingeleitet durch das fanfarenartige hÕdÅ aœreth¬ (v. 13). Dabei wird rasch der markante Unterschied zwischen dem herkömmlichen homerischen sowie dem tyrtäischen aœreth¬-Konzept deutlich: Tyrtaios knüpft an das soziale Statussymbol eine ethische Wertkategorie; Adel als Ausdrucksform hohen sozialen Ranges muß fortan im Dienst für die Gemeinschaft verdient werden. Die Qualität des aœgaqo¬w ist dabei nicht mehr auf einen kleinen Kreis ausgewählter Helden beschränkt, sondern steht jetzt jedem Mitglied des spartanischen Gemeinwesens grundsätzlich offen, sofern er sein Handeln strikt am jyno¡n eœsqlo¬n der Polis orientiert, wie es Tyrtaios v. 13-15 prägnant formuliert: hÕdÅ aœreth¬, to¬dÅ aeqlon eœn aœnqrv¬poisin ariston ka¬llisto¬n te fe¬rein gi¬gnetai aœndri¡ ne¬ì. jyno¡n dÅ eœsqlo¡n toy˜ to po¬lhi¬ te panti¬ te dh¬mì, [...].
Das ist Leistung, das ist bei den Leuten der beste und schönste Kampfpreis, den ein junger Mann davontragen kann. Ein gemeinschaftliches Gut für die ganze Gemeinde und Bürgerschaft, [...].
Dieser Aufruf zur Ausrichtung jeglichen Handelns am Nutzen für die Polis hat grundsätzliche Bedeutung, denn er erfordert eine radikale Absage an traditionelle und insbesondere individuelle Werte in Form von deren Unterordnung unter die Polis. 24 Damit wird er zur politischen Maxime. Der aktuellen Situation Spartas hingegen ist es geschuldet, daß die konkrete Umsetzung dieser Vorgaben zunächst in einer ganz spezifischen Weise erfolgen muß, nämlich durch die bedingungslose Einfügung des Einzelnen in die Phalanx der Kämpfer für die Existenz der Polis (v. 16-19; 21-22). Mit Recht hatte bereits Jaeger im Hinblick auf Tyrtaios konstatiert: «Die Eunomie führt ja eindringlich vor Augen, dass die kriegerische Elegie nur eine einzelne Species der politischen Dichtung des Tyrtaios ist, wenn auch wohl seine grösste Stärke». 25 Erst Solon, dessen Polis nicht am Rande einer militärischen Katastrophe stand, konnte es sich erlauben, prinzipiell dieselbe Haltung wie schon Tyrtaios einzufordern, diese aber nicht lediglich auf den Bereich des Kampfes und des Krieges zu beschränken. 26 V. 23-34: Im Zentrum der zweiten Hälfte der Elegie (mit Ausnahme der Schlußverse 43-44) steht der aœnh¡r aœgaqo¬w. Beschrieben wird, wie sich die aœreth¬, die dieser aufgrund seiner qoy˜ riw aœlkh¬ (bzw. - allgemeiner gesprochen - aufgrund der Ausrichtung seines qymo¬w auf die Belange der Polis) erworben hat, in Form höchster gesellschaftlicher Anerkennung innerhalb seines Gemeinwesens manifestiert. Dabei sind die Verse 23-34 dem gefallenen Krieger gewidmet, während sich die folgende Versgruppe 35-42 auf den Überlebenden bezieht. Dies mag wiederum zunächst befremden, denn Tyrtaios scheint sowohl durch 24 25 26
Vgl. so auch schon Jaeger 92 f. Jaeger 87. Bes. Sol. fr. 3 G/P (= fr. 3 D). Dazu vgl. Stahl 385-408.
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diese Reihenfolge als auch durch die unterschiedliche Ausführlichkeit beider Passagen klar seine Präferenzen auszudrücken. Man hat daher nicht nur von Lebensverachtung gesprochen (was zutreffend ist), sondern geradezu von Todesverliebtheit und Todesmystik. 27 Dabei wird jedoch zumeist übersehen, daß der Tod auf dem Schlachtfeld keineswegs das Telos im Denken des Tyrtaios darstellt. Der Dichter fordert niemanden dazu auf, in den Kampf zu ziehen, nur um dort zu sterben 28 - damit wäre seiner Polis nicht im geringsten gedient. Vielmehr wird der Spartiat dazu angehalten, im Kampf möglichst zu siegen ( nikh¬saw , v. 36), dabei aber seine Person gänzlich der «überindividuellen Seinsform der Gemeinschaft» unterzuordnen, 29 d. h. konkret, selbst dem eigenen Leben vor dem Hintergrund der Polis eine möglichst geringe Bedeutung beizumessen, ein Appell, der grundsätzlich ebenso für Friedenszeiten gilt. Daß dem gefallenen Krieger dabei eine derart herausragende Bedeutung zukommt, erklärt sich allein schon aus dem Umstand, daß dieser auch das höchste Opfer gebracht hat. Um eine Haltung bei den Spartanern zu erwirken, die diese äußerste Konsequenz eines Einsatzes für das Gemeinwesen akzeptiert, muß daher der Lohn in besonderer Weise herausgestellt werden. Der gefallene Krieger erlangt nicht nur persönlichen Ruhm (v. 31), sondern er verleiht diesen auch seiner gesamten Polis, den Mannschaften und seinem Vater (v. 24: asty te kai¡ laoy¡w kai¡ pate¬rÅ eyœklei¬saw ). 30 Nicht nur seine Familie beklagt ihn, sondern die Polis insgesamt (v. 28: pa˜ sa ke¬khde po¬liw ) - die Totenklage wird zum Politikum; der öffentliche Epitaphios kündigt sich an. Die Grabstätte des Toten wird weit über den Ahnenkult hinaus - sogar von den nachfolgenden Generationen noch geehrt (v. 29-30) und entwickelt sich somit vom demonstrativen Denkmal, das nur das individuelle kle¬ow des Helden symbolisiert, zu einem integrativen Kristallisationspunkt einer neugeschaffenen Polisidentität (allerdings noch nicht in Form eines Heroengrabes, wie sie vor allem in hellenistischer Zeit häufig wurden). Am Grab des Kriegers, der im Kampf für die Polis gefallen ist, erfahren die Mitglieder des Gemeinwesens ihre gemeinsame Zugehörigkeit zu einem fest definierten Verband. Mit dem Toten ehren sie zugleich auch dessen Haltung gegenüber der Polis und erkennen diese an. 31 Anders als der homerische Held, dessen Nachruhm sich lediglich auf fh¬mh und lo¬gow beschränkte, bleibt der Gefallene im kollektiven Gedächtnis der Polis lebendig, und erst das bedeutet wirkliche Unsterblichkeit, wie Tyrtaios v. 31-32 anschaulich formuliert: oyœde¬ pote kle¬ow eœsqlo¡n aœpo¬llytai oyœdÅ onomÅ ayœtoy˜ , aœllÅ y«po¡ gh˜ w per eœv¡n gi¬gnetai aœqa¬natow, [...]. 32
Niemals gehen sein edler Ruhm und sein Name unter, sondern auch unter der Erde ruhend wird er unsterblich, [...]. 27
28
29
30
31 32
Müller 61-65 mit besonderem Blick auf die Verse fr. 8,5-6 G/P (= fr. 8,5-6 D) und 7,18 G/P (= fr. 7,18 D). So aber Müller 62: «Überwindung der Todesfurcht durch Todessehnsucht; nicht um zu siegen, sondern um zu sterben, zieht der Krieger in den Kampf». K.-W. Welwei, Heroenkult und Gefallenenehrung im antiken Griechenland, in: G. Binder/B. Effe (Hgg.), Tod und Jenseits im Altertum, Trier 1991, 50-70, bes. 51 = Welwei, Polis und Arche´, 134-154, hier 155. Nicht zufällig stellt dieser Vers den frühesten Beleg des transitiven Verbums eyœklei¬zein dar, vgl. Prato 133. Vgl. auch Fuqua 215 ff. Vgl. ähnlich später Thuk. II 43,2.
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Es handelt sich dabei - wie schon vor langer Zeit gesehen wurde - um eine «Politisierung der Ruhmesidee» bzw. um eine Funktionalisierung des Ruhmesgedankens im Dienst der Polis. 33 Auch für den homerischen Helden hatte der Tod auf dem Schlachtfeld individuellen Ruhm bedeutet. Tyrtaios verlangt von den Spartanern jedoch, primär nicht für das eigene kle¬ow , sondern für die Polis in den Kampf zu ziehen. Dementsprechend kann auch nur diese ewigen Ruhm als Gegenleistung garantieren. Auf diese Weise werden die Interessen des einzelnen und des Gemeinwesens subtil miteinander verbunden: Der Spartaner stirbt - wenn nötig - im Kampf für die Polis, kann aber dadurch gewiß sein, daß ihm ewiges kle¬ow eœsqlo¬n im homerischen Sinne garantiert ist. Das Aristieideal epischer Tradition wird damit in den Dienst für die Polis eingebettet und geschickt instrumentalisiert. Folgerichtig erscheinen v. 33-34 Aristieideal und Einsatz für das Gemeinwesen in harmonischer Verbindung: 34 [...] oÕntinÅ aœristey¬onta me¬nonta¬ te marna¬meno¬n te gh˜ w pe¬ri kai¡ pai¬dvn qoy˜ row ÔArhw oœle¬sñ.
[...] wenn ihn, der Leistung bewiesen hat, ausharrte und kämpfte für Land und Kinder, der stürmische Ares vernichtet hat.
V. 35-42: Die folgenden Verse sind den Ehrungen für den überlebenden Krieger gewidmet. Sein Ansehen ist nicht minder hoch als dasjenige des Gefallenen, denn Tyrtaios fordert ja grundsätzlich - wie gesagt - nicht den Tod auf dem Schlachtfeld, sondern lediglich eine Grundhaltung des qymo¬w , die diesen als äußersten Fall einkalkuliert und akzeptiert. Insofern ist der Überlebende in gleicher Weise wie der Gefallene zu ehren, denn seine Einstellung ist bzw. war dieselbe. Die ähnlich lautenden Verse 27 (für den Gefallenen) und 37 (für den Überlebenden) verdeutlichen dies: Sämtliche Angehörige des Gemeinwesens beklagen ( oœlofy¬rontai, v. 27) den toten Soldaten und ehren ( timv˜ sin, v. 37) denjenigen, der davongekommen ist. 35 Lediglich der Einsatz für das Kollektiv verspricht also Ehre ( timh¬ ). Dem Geehrten werden polla¡ [...] terpna¬ (v. 38) zuteil; selbst als alter Mann ( ghra¬skvn, v. 39) steht er in höchstem Ansehen ( aiœdv¬w und di¬kh, v. 40), und auf den Ehrensitzen ( eœn qv¬koisin, v. 41) macht jeder ( pa¬ntew ) ihm Platz. V. 43-44: In den beiden Schlußversen ruft Tyrtaios die Spartaner noch einmal entschlossen dazu auf, den Gipfel dieser aœreth¬ zu erklimmen. Da die gegenwärtige Situation dies vor allem in Form unbedingten militärischen Einsatzes verlangt, schließt die Elegie programmatisch mit dem Wort pole¬moy. Es sind insbesondere drei wesentliche Aspekte, die mir in unserem Zusammenhang von Bedeutung erscheinen: 1.) Tyrtaios zentriert erstmals jegliches Denken und Handeln einzig auf den Nutzen für die Polis. Er bestreitet vehement den Wert herkömmlicher aristokratischer Tugenden und 33 34 35
Jaeger 94. Meier 284 f. Vgl. Jaeger 98 f.
Tyrtaios - Die Entstehung eines Bildes
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läßt als einzige aœreth¬ den unbedingten Einsatz für das Gemeinwesen gelten. Allein die Polis ist dementsprechend in der Lage, das Prädikat aœnh¡r aœgaqo¬w und damit aœreth¬ im Sinne hohen gesellschaftlichen Ansehens überhaupt zu verleihen. 2.) Tyrtaios verherrlicht nicht den Krieg als solchen, sondern seine Elegien sind vom drohenden Desaster in der Auseinandersetzung mit den aufständischen Messeniern nicht zu trennen. Er dichtete in einer existentiell bedrohlichen Situation, und diese Situation erforderte es, die Umsetzung der postulierten Orientierung des einzelnen am Nutzen für das Kollektiv auf den Bereich des Militärischen zu beschränken. Das Beispiel Solons zeigt jedoch, daß in Zeiten geringerer äußerer Bedrohungen auch andere Aspekte dieser Polisverbundenheit betont werden konnten. 3.) Tyrtaios fordert niemanden auf, gezielt für die Polis zu sterben, und auch sein berühmtes Diktum vom schönen Totsein nach dem Untergang in der Reihe der Vorkämpfer, auf das im Rahmen der Rezeptionsfrage noch zurückzukommen sein wird, ist nicht so zu verstehen. Der Dichter fordert vielmehr - ganz im Sinne seiner Polis - den Sieg im Kampf. Dabei muß der Krieger allerdings eine mentale Grundhaltung mitbringen, die den möglichen Tod auf dem Schlachtfeld als Maximum persönlichen Engagements einkalkuliert. Um dies zu gewährleisten, werden die Ehrungen des Gefallenen in besonderer Ausführlichkeit beschrieben und sogar über das Maß, das zu erreichen einem homerischen Helden möglich war, gestellt. Nur vor diesem Hintergrund kann der Tod durch den Kampf «schön» ( kalo¬n ) sein. Bei der Beurteilung dieses Diktums wird immer wieder ein zentraler Punkt übersehen: Tyrtaios spricht bezeichnenderweise nicht vom «Sterben», sondern vom «Totsein» ( teqna¬menai, v. 6,1 G/P (= fr. 6,1 D)). 36 Denn es geht ihm nicht in grundsätzlich todesverherrlichender Weise um den Vorgang des Sterbens, sondern darum, daß demjenigen, der nun einmal im Kampf sein Leben lassen mußte, später höchste Ehren zuteil werden.
II Wie sehr unser modernes Tyrtaios-Bild von der Überlieferungsgeschichte bestimmt wird, geht bereits aus einem kurzen Blick in die Suda hervor; dabei zeigt sich, daß der Dichter wesentlich mehr Material hinterlassen hat als die gut 200 Verse, die heute noch vorliegen. Der Suda zufolge umfaßte das Werk des Tyrtaios immerhin 5 Bücher, darunter eine politei¬a Lakedaimoni¬oiw , y«poqh˜ kai diÅ eœlegei¬aw sowie me¬lh polemisth¬ria. 37 Bei der politei¬a wird es sich am ehesten um einen Komplex politischer Lyrik gehandelt haben, den wir unter das Stichwort Eunomia subsumieren können und der u. a. Aristoteles noch vorlag. Ob diese politische Dichtung ein einzelnes Werk war oder ob man mit verschiedenen Elegien rechnen muß, ist allerdings unklar. Eine Reihe von Fragmenten (s. o.) läßt aber zumindest noch Umrisse derjenigen Gedanken erkennen, die in diesen Bereich tyrtäischer Lyrik Eingang gefunden haben. Es ging hier offenbar hauptsächlich um die Geschichte und innere Ordnung Spartas sowie um Wege zur Erhaltung der inneren Einheit und Stabilität des Gemeinwesens. Die y«poqh˜ kai wurden vor allem unmittelbar vor einer Schlacht oder im Anschluß an eine Niederlage rezitiert, um den Mut der Soldaten zu stärken. 36 37
Darauf hat bereits Hommel 237, hingewiesen. Vgl. auch Meier 283, Anm. 202. Suda s. v. Tyrtai˜ow = Tyrt. testim. 19 G/P.
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Die z. T. recht allgemein gefaßten Inhalte dieser Elegien deuten aber darauf hin, daß ihre Verbreitung sich nicht auf den engeren Kreis der Soldaten beschränkte. Die me¬lh polemisth¬ria schließlich wurden während des Vormarsches des Heeres zur Flötenbegleitung gesungen; sie dienten in erster Linie dazu, den rhythmischen Bewegungsablauf der Phalanx im Gleichtakt zu halten. 38 Man wird darüber hinaus damit zu rechnen haben, daß Dichtungen des Tyrtaios auch auf Symposien vorgetragen wurden, wo Themen aus dem Bereich der Kriegführung keine Seltenheit darstellten. 39 Zumindest indirekt lassen sich aus den Fragmenten Bezüge zum sympotischen Rahmen herstellen. 40 Der allgemein politische Charakter einer Reihe von Versen (wie z. B. des oben behandelten Arete´-Gedichtes) weist zudem darauf hin, daß Gedichte des Tyrtaios auch im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen der Polis rezitiert worden sind; damit waren sie direkt in das politische Leben des Gemeinwesens eingebunden, ein Umstand, der nicht ohne Parallelen ist: Auch die Salamis-Elegie Solons, eine Kampfparänese, in der die Athener zur Eroberung der Insel Salamis aufgerufen werden, wurde nach den eigenen Worten des Dichters auf der athenischen Agora vorgetragen (Sol. fr. 2,2 G/P [= fr. 2,2 D]); in gleicher Weise richteten sich weitere Dichtungen Solons an die gesamte athenische Bürgerschaft (vgl. fr. 3,1 G/P [= fr. 3,1 D]: h«mete¬ra de¡ po¬liw; fr. 3,30 G/P [= fr. 3,30 D]: tay˜ ta dida¬jai [...] ¢Aqhnai¬oyw ). Der Vergleich zwischen Solon und Tyrtaios zeigt im übrigen noch ein weiteres: Auch der Athener, dessen Dichtungen heute ein weitaus höheres Ansehen genießen, komponierte Kampfparänesen. In der Salamis-Elegie wird ebenso wie bei Tyrtaios 41 (von dessen Einflüssen Solon - wie schon W. Jaeger plausibel gemacht hat - nicht frei ist) 42 die unbedingte Identifikation des Einzelnen mit der Polis gefordert und der Stolz des ÅAttiko¡w aœnh¬r angesprochen (Sol. fr. 2,3-6 G/P [= fr. 2,3-6 D]). Ähnliche Gedanken, die letztlich auf eine Unterordnung des persönlichen Wohles Einzelner unter die Belange des Koinon zielen, prägen auch das berühmte Eunomia-Gedicht Solons, das unter dieser Perspektive ausführlich von M. Stahl analysiert worden ist. 43 Eunomia ist für Solon geradezu eine Chiffre für ein strikt polis-orientiertes Denken und Handeln der Athener. Während Tyrtaios diese Haltung in Zeiten äußerer Bedrängnis in Form bedingungsloser militärischer Gefolgsamkeit eingefordert hat, präsentiert Solon diejenigen Aspekte, die zur Erreichung und Aufrechterhaltung des inneren Friedens der Polis erforderlich sind. Anders als Tyrtaios, der fr. 1b G/P (= fr. 3b D) bzw. fr. ∞14 G/P (= 3a D) ebenfalls Idealvorstellungen eines funktionierenden Gemeinwesens geäußert hatte, kommt bei Solon allerdings nunmehr der Appell an das eigenverantwortliche Handeln der Athener hinzu (bes. Sol. fr. 1 G/P [= fr. 1 D]) 44 - in diesem Punkt besteht durchaus ein bedeutsamer qualitativer Unterschied zwischen den beiden Dichtern. Trotzdem verbindet sie - wie gesagt - das gemeinsame Anliegen, eine Identifikation der Spartaner bzw. Athener mit ihrer Polis sowie die Unterordnung des einzelnen unter ihre Belange zu erreichen. 38 39 40 41 42 43 44
Prato 6*-8*; Meier 239 f. E. L. Bowie, Early Greek Elegy, Symposium and Public Festival, JHS 106 (1986), 13-35, bes. 15 f. Vgl. Meier 173 f. Vgl. Lesky 150: «[...] mit tyrtäischen Tönen». Jaeger 75; 92; 96; 103; Prato 66* (direkte Belege) sowie Meier 312-316. Stahl, passim. K. Matthiessen, Solons Musenelegie und die Entwicklung des griechischen Rechtsdenkens, Gymnasium 101 (1994), 385-407.
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Im Altertum lassen sich hauptsächlich drei wesentliche Rezeptionsstränge tyrtäischer Dichtung erkennen. 45 Zum einen wurden Maximen, Wendungen und Floskeln des Elegikers in späterer Dichtung aufgegriffen, variiert, in neue Kontexte gefügt und somit weitertradiert. So weist z. B. auch Xenophanes von Kolophon in einer an Tyrt. fr. 9 erinnernden Weise 46 den traditionellen athletischen Tugendkanon zurück und konfrontiert ihn mit dem Ideal seiner aœgaqh¡ sofi¬a. 47 Die vielfachen Ähnlichkeiten beider Elegien auf der einen Seite sowie das geringe Zutrauen in die dichterischen Fähigkeiten eines Tyrtaios auf der anderen Seite haben dazu geführt, daß Tyrt. fr. 9 fälschlich als das Werk eines anonymen Dichters aus der Zeit des Xenophanes gedeutet wurde. 48 Auch Solon wird kaum in Unkenntnis tyrtäischer Elegien gedichtet haben (s. o.), und insbesondere in die Theognidea hat Tyrtaios Eingang gefunden. 49 Daneben wurde Tyrtaios bereits in der Antike immer wieder als zentrale Quelle für die spartanische Frühgeschichte herangezogen. Aristoteles etwa schloß aus den tyrtäischen Eunomia-Versen auf innere Konflikte und die Forderung nach einer Neuaufteilung des Landes in Sparta. 50 Diodor und Strabon haben bei ihrer Behandlung von Episoden der spartanischen Frühgeschichte (über Kallisthenes und Ephoros als Zwischenquellen?) ebenfalls Tyrtaios zitiert. 51 Plutarch benutzte ihn in seiner Lykurg-Vita, 52 und auch Pausanias, dessen Beschreibung Messeniens (Buch 4) aufgrund des Mangels an visuellen Anknüpfungspunkten eher ein Konglomerat historisierender Digressionen darstellt, zitiert mehrfach Tyrtaios. 53 Als entscheidend für das moderne Tyrtaios-Bild erwies sich indessen der dritte Rezeptionsstrang. Er ist gekennzeichnet von einer generellen Bewunderung spartanischer Tugenden sowie von Hochachtung gegenüber dem spartanischen Kriegerethos und stellt seinerseits bereits einen Aspekt der antiken Sparta-Legende dar. Vor allem athenische Autoren des 4. Jahrhunderts v. Chr., wie Platon, Isokrates und Lykurg, aber auch nachfolgende Generationen (Horaz, Stobaios) bewunderten die Elegien des Tyrtaios und zogen sie wiederholt heran. 54 Bezeichnenderweise haben sich die mehr oder weniger vollständig überlieferten Tyrtaios-Gedichte gerade über diesen Rezeptionsstrang erhalten. Anders als die von Historikern, Biographen und Periegeten überlieferten Fragmente enthalten diese Texte
45
46 47 48 49
50 51
52 53 54
Es geht im folgenden lediglich um die wichtigsten Traditionslinien der Tyrtaiosrezeption; zu den Überlieferungswegen der Fragmente vgl. im einzelnen die Apparate der Edition von Gentili/Prato. Aspekte der Nachwirkung des Tyrtaios (unabhängig von wörtlichen Zitaten) im Altertum diskutieren Jaeger 99 ff., Meier 312 ff. sowie Müller, passim. Vgl. Jaeger 100: «offenbar von ihm inspiriert». Xenoph. fr. 2 G/P (= fr. 2 D/K). H. Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, München 41993, 384-386. Belege bei Prato 66*f. Vgl. auch H. Patzer, Der archaische arete´-Kanon im Corpus Theognideum, in: G. Kurz/D. Müller/W. Nicolai (Hgg.), Gnomosyne. Menschliches Denken und Handeln in der frühgriechischen Literatur. Festschrift für Walter Marg zum 70. Geburtstag, München 1981, 197-226. Aristot. pol. V 7 1306b37-1307a2. Diod. VII 12,6; Strab. VI 3,3; VIII 4,10; VIII 5,6. Jacoby 11 zufolge wurde Tyrtaios erstmals von Kallisthenes historisch ausgewertet; von seinem Werk seien dann auch Aristoteles und Ephoros abhängig gewesen; ähnlich bereits von Wilamowitz-Moellendorff 103 ff., sowie Tigerstedt 206 ff.; 212 ff.; 225 und Prato 68*f. Plut. Lyk. 6. Paus. IV 6,5; IV 13,6; IV 14,5; IV15,2. Zur Tyrtaios-Rezeption im Athen des 4. Jh. vgl. Tigerstedt 46.
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kaum konkret historisch verwertbares Material. Doch «gerade diese Gedichte waren im Altertum die eigentlich berühmten». 55 So zitierte der athenische Politiker Lykurg 331 v. Chr. in seiner patriotischen Rede gegen Leokrates ausführlich Tyrtaios und sicherte damit ungewollt die Überlieferung von fr. 6-7 G/P (= fr. 6-7 D). 56 Die ausführliche Kampfparänese, in der die Spartaner als Abkömmlinge des «unbesiegten Herakles» tituliert werden (fr. 8 G/P [= fr. 8 D]), findet sich in der Anthologie des Johannes Stobaios (5. Jh. n. Chr.) unter der Kapitelüberschrift peri¡ pole¬moy. 57 Ebenfalls nur durch Stobaios ist auch das oben behandelte Arete´-Gedicht vollständig überliefert, in zwei Teilen unter dem Stichwort epainow to¬lmhw. 58 Im Rahmen dieses Rezeptionsstranges ist zum ersten Mal der allmählich fortschreitende Prozeß einer Stereotypisierung des Tyrtaios-Bildes erkennbar. Der Dichter wird mehr und mehr zum Kristallisationspunkt eines bunten Konglomerats von Vorstellungen, die sich mehr oder weniger plausibel mit seinem Werk assoziieren lassen. Während dabei diejenigen (wenigen) Autoren, die noch authentische Tyrtaios-Verse zitieren, immerhin die Möglichkeit eines unverfälschten Blickes auf den Dichter gewähren, kommt es bei anderen, die den Namen ‹Tyrtaios› nur noch als Chiffre verwenden, zunehmend zu Verzerrungen. Das prominenteste Beispiel hierfür dürfte Horaz darstellen. In seiner Ars poetica stellt er Tyrtaios als Schlachtensänger an die Seite Homers. 59 Wesentlich problematischer und ihrerseits wiederum offen für weitere rezeptionsgeschichtliche Mißverständnisse ist jedoch seine Auslegung des berühmten teqna¬menai ga¡r kalo¬n (Tyrt. fr. 6,1 G/P [= fr. 6,1 D]) in carm. III 2,13: dulce et decorum est pro patria mori.
Das zentrale Problem dieses Verses besteht darin, daß er keineswegs einen direkten oder sogar wörtlichen Rückgriff auf Tyrtaios darstellt, in dieser Weise aber oft mißverstanden wurde. 60 Zum einen spaltet der Römer nämlich das tyrtäische kalo¬n in die - vorangestellten - Adjektive dulce und decorum auf, unterwirft es damit also einer spezifischen Interpretation, die das subjektive Gefühl (dulce) neben einen sozialen Normbegriff stellt (decorum). 61 Zum anderen ersetzt Horaz das griechische Perfekt teqna¬menai durch ein Präsens; aus einem Zustand wird damit ein Vorgang, aus Totsein wird Sterben. Wenn überhaupt irgendwo Ansätze einer Todesmystik diskutiert werden können, dann erst seit dieser Reformulierung, insbesondere aber in ihrem neuzeitlichen rezeptionsgeschichtlichen Gefolge. Insofern war ein verzerrtes Tyrtaios-Bild bereits durch die indirekte Rezeption des Spartaners über den wesentlich prominenteren Horaz angelegt. Hinzu kommt, daß auch der Horaz-Vers selbst wiederholt aus dem Kontext gelöst und erheblich mißverstanden wurde. So wurde Horaz - und mit ihm Tyrtaios - zum Archegeten einer staatskonformen Ideologie, die sich in Kriegsverherrlichung und Todesmystik gefiel und u. a. in Bert Brechts 55 56 57 58 59
60
61
Jaeger 77. Lykurg. Leokr. 107. Stob. IV 9,16. Stob. IV 10,1 (v. 1-14); IV 10,6 (v. 15-44). Hor. Ars. poet. 401-403: post hos insignis Homerus / Tyrtaeusque mares animos in Martia bella / versibus exacuit. Schon Platon hatte Homer und Tyrtaios nebeneinander genannt (leg. 858e). So zuletzt von Binder, Kriegsdienst und Friedensdienst, 68: «Angesichts des unausweichlichen Todes in einem ungleichen [...] Kampf zitiert er den Dichter Tyrtaios [...]». Vgl. Hommel 236 ff.
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berühmtem Schulaufsatz bissig getadelt wurde, 62 bis schließlich im Jahr 1987 Marcel ReichRanicki sein Verdikt über den «Schreibtischtäter» Horaz verhängen konnte. 63 Erst D. Lohmann versuchte 1989 dem Fehlverständnis des Verses und dem daraus entwachsenen eigenständigen Diskurs entgegenzusteuern und schlug einen Weg vor, dem Text seine heutzutage peinlich anmutende Wirkung zu nehmen. Indem er die Verse carm. III 2,6-12 und die unmittelbar nachfolgende prekäre Sentenz als «pubertäre[n] Traum eines Jungen» deutete und (mit Hilfe einer den Rahmen einer bloß interpretierenden Übersetzung verlassenden Übertragung des Textes ins Deutsche) in das semantische Umfeld von Parodie und Ironie verwies, schoß er allerdings über das Ziel hinaus. 64 Horaz dürfte - dies geht aus zahlreichen Parallelstellen innerhalb seines Werkes hervor - sein Diktum durchaus ernst gemeint haben, doch darf der Kontext seiner Aussage nicht aus den Augen verloren werden. Der Vers erschließt sich nur vor dem Hintergrund der epikureischen Philosophie in Verbindung mit altrömischen Wertvorstellungen und zeitgenössischen Weltreichsgedanken. 65 Auch er verherrlicht nicht den Krieg als Selbstzweck und vor allem nicht das Sterben in ihm. Die Verengung des Tyrtaios-Bildes hatte jedoch schon lange vor Horaz eingesetzt. So weisen bereits eine Reihe von Grabepigrammen sowie insbesondere der attische Epitaphios, mittelbar und auch unmittelbar, deutliche Einflüsse des Tyrtaios auf. 66 Um die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. zog Platon in den Nomoi den Dichter als ein Beispiel dafür 62 63 64
65
66
W. Hecht (Hg.), Bertolt Brecht. Sein Leben in Bildern und Texten, Frankfurt a. M. 1978, 21. F.A.Z. vom 27. Juni 1987, zit. nach Müller 54. Lohmann, bes. 352 ff. Die in meinen Augen problematische Übersetzung des Textes, die Lohmanns Interpretation durch individuelle Zusätze und Umdeutungen erst ermöglicht, findet sich ebd., 363-365. Daß seine Studie dennoch eine Reihe zentraler, bislang kaum beachteter Aspekte bietet (insbesondere der Hinweis auf den gleitenden Übergang zwischen carm. III 1 und II 2), sei trotz meiner grundsätzlichen Skepsis im Hinblick auf die Hauptthese ausdrücklich betont. Zustimmend gegenüber Lohmann vgl. Binder, Pallida Mors, 215-217; ablehnend E. Lefe`vre, Horaz. Dichter im augusteischen Rom, München 1993, 159; H. Funke, Dulce et decorum, SCI 16 (1997), 77-90, bes. 82 ff. Dies zu zeigen, ist Ziel der Untersuchung von K.-W. Welwei/M. Meier, Der Topos des ruhmvollen Todes in der zweiten Römerode des Horaz, Klio 79 (1997), 107-116. Sie wird kritisiert von Binder, Kriegsdienst und Friedensdienst, bes. 61 ff. Binder geht aus von «Lohmanns Versuch, Verkrustungen im Umgang mit dem Gedicht und dem berühmten Vers aufzubrechen» (62), hält dessen abschließenden Deutungsvorschlag jedoch - zu recht - für zu kurz gegriffen (62). Stattdessen bemüht er sich darum, zu zeigen, daß eine schlichte Kampfparänese im Werk des Horaz und seinem zeithistorischen Umfeld kaum denkbar sei: «Das dulce et decorum est pro patria mori im Rom des Jahres 27 als hohen Wert zu preisen, hätte Horaz als atavistischen Rückfall empfunden» (69, vgl. auch 71). Vielmehr habe der Dichter die umstrittene Sentenz angeführt, um sie mit seinem eigenen virtus-Ideal zu konfrontieren, das in der individuellen sittlichen Selbstverwirklichung des abgeklärten, (im Gegensatz zum puer, mit dem v. 13 in Verbindung gebracht wird) gereiften Mannes bestanden habe. Als «Kampfparänese» wird der umstrittene Vers - entgegen Binders Eindruck (62) - jedoch auch von Welwei/Meier nicht gedeutet (vgl. dezidiert ebd. 116). Vielmehr wird dort einmal mehr die vieldiskutierte Spannung zwischen politischen und unpolitischen Aspekten bei Horaz hervorgehoben und dabei betont, daß der Dichter für sich selbst eine unkriegerische Lebensweise klar präferiert (115) - ein Ergebnis, zu dem letztlich auch Binder auf dem Wege seiner Interpretation der 2. Gedichthälfte (v. 17-32) gelangt und für dessen Plausibilität die auf Lohmann fußende, wenig einleuchtende Negierung eines politischen Kontextes von v. III 2,13 gar nicht erforderlich ist. Erstaunlicherweise vermeidet G. Maurach, Horaz. Werk und Leben, Heidelberg 2001, 229-232 eine Stellungnahme zu dieser Kontroverse. Nähere Hinweise und Belege hierzu finden sich bei Jaeger 108 ff.; Müller 65 f., mit Anm. 34 (Epitaphien) sowie bei B. Gentili, Epigramma ed elegia, in: Fondation Hardt, Entretiens 14: L’e´pigramme grecque, Genf 1968, 37-90; vgl. ferner auch Prato 68*.
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heran, wie tapfere Kämpfer in Kriegen gegen auswärtige Gegner hochgeachtet und gepriesen werden konnten. Aus dem Kontext geht klar hervor, daß ein solches Tyrtaios-Verständnis den Zeitgenossen vollkommen geläufig war. 67 Einige Jahre zuvor (366) hatte Isokrates seinen Archidamos verfaßt, der nicht nur Kenntnis des Tyrtaios verrät, sondern auch in tyrtäischer Manier Kampf und Tod für die Heimat thematisiert, 68 wobei der Tod nunmehr bereits als absoluter Wert erscheint. 69 Ein solcher Befund wirft die Frage nach der Existenz einer Tyrtaios-Ausgabe im 4. Jahrhundert auf, die möglicherweise bereits eine feste Auswahl von Gedichten bot und damit zu deren Kanonisierung beitrug. In der Forschung wurde diese Frage positiv beantwortet. Schon Wilamowitz postulierte ein Tyrtaios-Buch im Athen des 4. Jahrhunderts. 70 Auch Jacoby deutete die damalige ‹Tyrtaiosmode› als Indiz für die Existenz dieser Sammlung, die seiner These zufolge vorwiegend in lakonophilen Kreisen zirkulierte und u. a. die Eunomia und das «Messeniergedicht» enthielt. 71 Prato schloß sich dieser These prinzipiell an, indem er ebenfalls von einer Sammlung ta¡ Tyrtai¬oy ausging, die u. a. noch von Chrysipp im 3. Jahrhundert v. Chr. benutzt worden sei. 72 Auf diesem Wege konnte sich allmählich ein Tyrtaios-Bild verfestigen, das auf spezifischen Versatzstücken basierte und auch heute noch nachwirkt. Die Art und Weise, wie entsprechende Vorstellungen durch die Antike tradiert wurden, läßt sich den Testimonia der Tyrtaios-Edition von Gentili/Prato anschaulich entnehmen, auf die an dieser Stelle nur verwiesen werden kann.
III Für die neuzeitliche Tyrtaios-Rezeption im deutschsprachigen Raum 73 ist - wie bereits ausgeführt - der Umstand von besonderer Bedeutung, daß das Bild des Dichters in der Regel durch die bereits diskutierte Horaz-Sentenz geprägt wurde. Unabhängig davon lassen sich gewisse Phasen ausmachen, in denen der Elegiker offensichtlich verstärkt gelesen wurde. So verdichtet sich die Tyrtaios-Rezeption in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und erhält wenig später durch die Befreiungskriege gegen Napoleon (1813-1815) weitere Impulse. Von nationalistisch-pathetischen Dichtern um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Tyrtaios ebenfalls herangezogen, eine letzte Phase verstärkter Rezeption stellt 67
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Plat. leg. 629a-630c. Vgl. E´. des Places, Platon et Tyrte´e, REG 55 (1942), 14-24; Tigerstedt 244 ff.; Müller 67. Isokr. or. VI 57. 88-90 mit Prato 67* f. Einfluß des Tyrtaios macht sich besonders bemerkbar in dem Hinweis auf ein Leben in aœtimi¬ai für den Fall, ohne Gegenwehr auswärtigen Forderungen nachzugeben (Isokr. or. VI 89; vgl. die Beschreibung des atimow Tyrt. fr. 6,3-10 G/P [= fr. 6,3-10 D]), in der Bezeichnung des Todes (gesehen als Alternative zu einem Leben in Schande) als kalh¡ teleyth¡ toy˜ bi¬oy (Isokr. or. VI 89; vgl. Tyrt. fr. 6,1 G/P [= fr. 6,1D]) sowie dem Aufruf, nicht am Leben zu hängen (Isokr. or. VI 90 [ mh¡ filocyxei˜n ]; vgl. Tyrt. fr. 7,18 G/P [= fr. 7,18 D]). Vgl. Isokr. or. VI 89. Wilamowitz-Moellendorff 97. Jacoby 9 mit Anm. 1. Allerdings ging Jacoby (ebenso wie Wilamowitz) auch davon aus, daß diese Verssammlung nur noch Bruchstücke authentischen Materials enthalten habe, da der Tyrtaios-Text durch Interpolationen, Überarbeitungen und spätere Hinzufügungen entstellt worden sei (11). Prato 66*; 69*. Zur generellen Frage der Rezeption Spartas und des Sparta-Mythos in der Neuzeit sei verwiesen auf das Standardwerk von E. Rawson, The Spartan Tradition in European Thought, Oxford 1969, sowie auf die anschauliche Darstellung von K. Christ, Spartaforschung und Spartabild, in: Christ, 1-72.
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schließlich der Nationalsozialismus dar. Ich möchte den so skizzierten Sachverhalt abschließend durch einige m. E. besonders charakteristische Rezeptionsbeispiele illustrieren. Vollständigkeit der Belege ist dabei nicht angestrebt. 74 Einen anschaulichen Überblick über die Tyrtaiosrezeption bis in die 30er Jahre des 19. Jahrhunderts vermittelt eine 1835 publizierte Arbeit über Kallinos und Tyrtaios des belgischen Literaturwissenschaftlers A. Baron. Dieser führt allein für den Zeitraum von 1762 bis 1810 nicht weniger als neun deutsche Tyrtaios-Übersetzungen an, von denen ich allerdings nur einen Teil nachzuweisen bzw. einzusehen vermochte. 75 Trotzdem zeichnet sich bereits für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ein signifikantes Bild ab: Die TyrtaiosRezeption erfolgte schon in dieser Zeit weitgehend selektiv. Der Elegiker, regelmäßig in Anthologien antiker Dichter präsent, fungierte dabei als Verfasser von vier «Kriegsliedern», die gleichsam einen festen Kanon bildeten. Exemplarisch läßt sich dies an der 1782 erschienenen Auswahl griechischer Dichtungen von Christian Graf zu Stolberg (1748-1821) ablesen, der u. a. auch Verse des Tyrtaios übertrug, «dessen Gesänge selbst Spartanern den Muth zu erhöhen vermochten». 76 Stolberg übersetzt Tyrt. fr. 6-7 G/P (= fr. 6-7 D) als «Tyrtäos erstes Kriegslied»; es folgen fr. 8 G/P (= fr. 8 D) («Tyrtäos zweites Kriegslied. An die Spartaner»), fr. 9 G/P (= fr. 9 D) («Tyrtäos drittes Kriegslied») sowie - dies ist bemerkenswert - Kallin. fr. 1 G/P (= fr. 1 D) als «Tyrtäos viertes Kriegslied». Die übrigen (durchaus bekannten) Fragmente des Tyrtaios, insbesondere der Komplex der Eunomia-Verse, finden bezeichnenderweise keine Erwähnung. Die Übersetzung betont vor allem die heroisch-pathetischen Züge, eine Tendenz, die fortan den meisten deutschen Tyrtaios-Übertragungen bis in die Zeit des Nationalsozialismus eigen ist. Als Beispiel gebe ich Stolbergs Übersetzung des berühmten Einleitungsdistichons zu fr. 6 G/P (= fr. 6 D): teqna¬menai ga¡r kalo¡n eœni¡ proma¬xoisi peso¬nta andrÅ aœgaqo¡n peri¡ ñ√ patri¬di marna¬menon.
Schön ist der Tod wenn der edle Krieger im vordersten Treffen Für das Vaterland ficht, und für das Vaterland stirbt.
Die markante Voranstellung des «schön»/kalo¬n im Deutschen ist auffällig. Hingewiesen sei ferner auf die Wiedergabe von aœnh¡r aœgaqo¬w als «edler Krieger» (und die damit verbundene Reduzierung des im Griechischen grundsätzlich viel weiteren Begriffs 77 auf das rein Kriegerische) sowie auf die zweimalige Verwendung des Wortes ‹Vaterland›. 78 74
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Hingewiesen sei an dieser Stelle auf Müller 77 ff., der eine Reihe hier nicht diskutierter Beispiele für die neuzeitliche Rezeption des tyrtäisch-horazischen Topos vom schönen Tod für die Heimatgemeinde anführt; weiterhin vgl. auch Binder, Pallida Mors, 212 ff. Baron 138 f. Chr. Graf zu Stolberg, Gedichte aus dem Griechischen übersetzt, Hamburg 1782, III. Stolbergs Übersetzungen finden sich noch in neueren Anthologien antiker Dichtung, vgl. etwa C. Fischer (Hg.), Antike Lyrik, Stuttgart/Zürich/Salzburg o. J. J. Gerlach, ANHR AGAUOS, Diss. München 1932. Einen Vorläufer dieser Kanonbildung der vier «Kriegslieder» findet man bereits in Christian Felix Weiße (1726-1804), dessen 1762 in 2. Auflage erschienenen «Amazonen-Lieder» einen Anhang über «Kriegslieder des Tyrtäus. Aus dem Griechischen» enthalten. Weiße präsentiert dort in sehr freier Übertragung die vier Fragmente, allerdings noch nicht in der später üblichen Reihung, sondern in der Abfolge Tyrt. fr. 9 (I), Kallin. fr. 1 (II), Tyrt. fr. 8 (III) sowie Tyrt. fr. 6/7 (IV), dessen Einleitungsdistichon er wie folgt übersetzt: Wie schön! Wenn für das Vaterland / Ein Mann kämpft und als Held / Mit blankem Schwert in hoher Hand / Im Vordertreffen fällt! - Vgl. Chr. F. Weiße, Amazonen-Lieder, Leipzig 21762. Daß auch die weiteren Tyrtaios-Fragmente damals schon durchaus bekannt waren, belegt u. a. ein kleines Büchlein mit
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Nur ein Jahr nach Stolberg publizierte der Gelehrte Carl Philipp Conz († 1827) im Rahmen einer Tibull-Ausgabe eine eigene Tyrtaiosübersetzung. Auch Conz kennt vier ‹tyrtäische› Kriegslieder und breitet sie in gleicher Reihenfolge wie Stolberg aus. Seine Übersetzung von fr. 6,1-2 lenkt den Blick bereits unverkennbar - und gegen den griechischen Text des Tyrtaios - auf den Prozeß des Sterbens: 79 Edel ja wol ists, sinken im Vordertreffen und sterben, Für sein Vaterland kühn streitend, ein wackerer Held!
Auch der Jurist Franz Karl Leopold von Seckendorff (1775-1809) hat Tyrtaios in eine (auf Anregung Goethes, Schillers und Herders ausgearbeitete) griechische Anthologie (1800) aufgenommen und dabei direkt zwischen den Froschmäusekrieg und den Dichter Bion plaziert. Ebenfalls in derselben Reihenfolge wie Stolberg und Conz präsentiert er mit fr. 67, fr. 8 und fr. 9 drei tyrtäische «Kriegslieder», verzichtet jedoch auf die Wiedergabe von Kallin. fr. 1 als dem vierten Gedicht des Tyrtaios. 80 Von Seckendorff betont wie Conz den Vorgang des Sterbens im Kampf. Dabei übersetzt er das kalo¬n Tyrt. fr. 6,1 G/P (= fr. 6,1 D) in gesteigerter Form als «herrlich» und stilisiert den aœnh¡r aœgaqo¬w nunmehr zum «edleren Mann». Der Kämpfer für die Polis wird für ihn also geradezu zum Adligen: Herrlich ist es fürwahr dem ädleren Manne zu sterben, Kämpft er für Vaterland, fallend im Vordergewühl.
Der Greifswalder Ästhetikprofessor und Doktor der Theologie Johann Erichson (17771856) hat das dritte Buch seiner 1810 publizierten Anthologie griechischer Dichtungen den «Schlachtgesänge[n] des Tyrtaios» gewidmet - eine Bezeichnung, die für das in seiner Zeit vorherrschende Tyrtaios-Bild signifikant ist. Auch er kennt den Elegiker nur als Kriegerpoeten und präsentiert die nunmehr bereits bekannte Reihe der vier tyrtäischen Gedichte, d. h. wiederum unter Einbeziehung von Kallin. fr. 1 G/P (= fr. 1 D) als vierter Elegie des Tyrtaios - allerdings mit der Besonderheit, «Tyrtaios II» (= fr. 8) dem Gedicht «Tyrtaios I» (= fr. 6-7) voranzustellen. In seiner Übersetzung von fr. 6,1-2 steht einmal mehr klar der Vorgang des Sterbens bzw. des «Hinsinkens» im Zentrum: 81
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dem Titel: Des Tyrtaeus und Kallinus Kriegslieder, griechisch, mit erklärenden Anmerkungen von I. G. Brieger, Zittau/Leipzig 1790. Brieger (* 1764) bietet zunächst einen Auszug aus der «Abhandlung über die Kriegslieder einiger Völker» aus der Feder des von ihm heftig als zu ausschweifend kritisierten Tyrtaios-Herausgebers Christian Adolph Klotz (1738-1771; vgl. Tyrtai¬oy ta¡ svzo¬mena. Tyrtaei quae supersunt omnia collegit commentario illustravit edidit Christianus Adolphus Klotzius, Altenburg 1767), an die er Übersetzungen der drei «Kriegslieder» fr. 6-7, fr. 8 und fr. 9 (also in der auch von Stolberg gewählten Reihenfolge) sowie des großen Kallinos-Fragments anfügt (wobei er ausdrücklich anmerkt, Kallinos - anders als Stolberg und andere - als eigenständigen Autor behandeln zu wollen), um schließlich auch kleinere Tyrtaios-Fragmente im griechischen Wortlaut mit kurzen Erläuterungen zu präsentieren. Bei den Übersetzungen greift Brieger auf H. H. Cludius (1754-1835) zurück (19 ff.); ich gebe wiederum Tyrt. fr. 6,1-2 als Beispiel: Schön ists ja, wenn ein tapferer Mann im vordersten Treffen / Fällt, fürs Vaterland kämpfend mit edelem Mut. C. P. Conz, Alb. Tibullus. Nebst einer Probe aus dem Properz, und den Kriegsliedern des Tyrtäus. In der Versart der Urschrift übersetzt. Mit einem Anhang von eigenen Elegien, Zürich 1783. F. K. L. von Seckendorff, Blüthen griechischer Dichter, Weimar 1800. J. Erichson, Griechischer Blumenkranz, eine Auswahl aus der lyrischen Poesie der Griechen, Wien/Triest 1810 (zweisprachige deutsch-griechische Ausgabe).
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Sterben, und schön ist’s, wann hinsinkt im Gefechte der vorderen Reihen ein Held, für das Land streitend, das väterliche.
Die Menge von Übersetzungen griechischer Texte im skizzierten Zeitraum wird als Folge einer sich verstärkenden Hinwendung zur griechischen Kultur seit der Mitte des 18. Jahrhunderts kaum verwundern. Die griechischen Anthologien jener Jahre dürften als Reflexe der zeitgenössischen deutschen Griechenlandbegeisterung sowie der damit verbundenen Abwendung vom Römischen und Romanischen, d. h. vor allem von Frankreich, leicht erklärbar sein. Sie standen besonders unter dem Einfluß eines Winckelmann (1717-1768) sowie Herders (1744-1803), aber u. a. auch Lessings (1729-1781), Wielands (17331813), Goethes (1749-1832) und Schillers (1759-1805). 82 So erschien z. B. in den 80er/ 90er Jahren des 18. Jahrhunderts die berühmte Homer-Übersetzung Johann Heinrich Voß’ (1751-1826; Odyssee: 1781, 21793, Ilias: 1793). 83 Interessanter ist allerdings die Frage, warum in diesen Sammlungen griechischer Dichter gerade Tyrtaios in derart prominenter Position als Verfasser von «Kriegsliedern» erscheint - auch wenn man in diesem Punkt kaum über Vermutungen hinausgelangen wird. Es ist jedoch mit gutem Grund anzunehmen, daß dieser Umstand in Zusammenhang zu sehen ist mit einer zunehmend positiven Konnotation von Krieg in breiteren bürgerlichen Kreisen seit Mitte des 18. Jahrhunderts, die insbesondere als Folge des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) verstanden werden kann. 84 In diesem Zusammenhang überrascht daher die 1826 erschienene Tyrtaios-Übersetzung des Frankfurter Gymnasiallehrers Wilhelm Ernst Weber, denn sie stellt angesichts der im 18. und dann besonders im 19. Jahrhundert vorherrschenden Tyrtaios-Stereotypen eine bemerkenswerte Ausnahme dar. Weber publizierte seine Übertragung als Teil einer umfassenden kommentierten (auch für den Schulgebrauch verfaßten) Anthologie griechischer elegischer Dichtung, die bis in die Spätantike reicht. 85 Dabei präsentierte er nicht nur den üblichen Kanon der drei bzw. vier Kampfparänesen, sondern widmete sich ebenso auch den übrigen Fragmenten und übersetzte dabei sogar Textfetzen, die nur aus einem Vers
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Zu diesen Personen und ihrer Auseinandersetzung mit der Antike vgl. Riedel 140 f. (Winckelmann); 153 ff. (Herder); 135 ff. (Lessing); 144 ff. (Wieland); 156 ff. (Goethe); 178 ff. (Schiller). Der geistesgeschichtliche Hintergrund dieser Entwicklungen sowie die historischen Rahmenbedingungen sind jetzt anschaulich aufgearbeitet worden von S. Fornaro, Der Neue Pauly 13 (1999), 792-805, s. v. Deutschland III sowie von Riedel 109 ff. (dort jeweils auch weitere Lit.). Speziell zu Voß vgl. auch G. Häntzschel, Johann Heinrich Voß. Seine Homer-Übersetzung als sprachschöpferische Leistung, München 1977; H. J. Schneider, Johann Heinrich Voß und der Neuhumanismus, in: F. Baudach/G. Häntzschel (Hgg.), Johann Heinrich Voß (1751-1826). Beiträge zum Eutiner Symposium im Oktober 1994, Eutin 1997, 207-218; Riedel 173 ff. Diesen Hinweis verdanke ich Herrn PD Dr. Stefan Brakensiek. Vgl. dazu auch F. Brüggemann (Hg.), Der siebenjährige Krieg im Spiegel der zeitgenössischen Literatur, Leipzig 1935, ND Darmstadt 1966; K. Latzel, Vom Sterben im Krieg. Wandlungen in der Einstellung zum Soldatentod vom Siebenjährigen Krieg bis zum II. Weltkrieg, Warendorf 1988, 20 ff., sowie bes. Riedel 116 f.: «In der Zeit des Siebenjährigen Krieges dann entstand eine patriotische Dichtung, die entweder zu einer Bevorzugung kriegerischer Motive aus der Antike führte - namentlich zu einer an den sogenannten ‹Römeroden› des Horaz geschulten Verherrlichung des Todes fürs Vaterland - oder in ein Übertrumpfen des Altertums mündete («Achill war nicht so groß als Friedrich»): bis hin zu dem Nachweis, daß Patriotismus in den modernen Monarchien noch wichtiger sei als in den antiken Republiken»; ferner ebd. 128 f. W. E. Weber, Die elegischen Dichter der Hellenen nach ihren Überresten übersetzt und erläutert, Frankfurt a. M. 1826.
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bestehen. 86 In seiner Einführung hebt er insbesondere die politische Dimension tyrtäischer Dichtung hervor und stellt Kallinos und Tyrtaios als politische Dichter ausdrücklich an die Seite Solons: «Die hier bezeichneten Werke dieser drei Dichter [sc. Kallinos, Tyrtaios, Solon, Verf.] aber sind es, was wir im engeren Sinne als Denkmäler der politischen Elegie ansprechen müssen [...]». 87 Diese sachliche Haltung schlägt sich auch in seiner Übersetzung von fr. 6,1-2 nieder, die eine für die Tyrtaios-Übertragungen des 18. und 19. Jahrhunderts bemerkenswerte Textnähe und Einfühlungsgabe aufweist: Ja, ruhmwürdig erlag, wer ein tapferer Mann bei der Streiter Vordersten fiel, in dem Kampf schirmend das heimische Land.
Einen späten Ableger jener Anthologien antiker Dichtung möchte ich in der 1840 erschienenen «Klassischen Blumenlese» Eduard Mörikes (1804-1875) sehen. 88 In dieser Sammlung nimmt Tyrtaios wiederum eine auffällig prominente Stellung ein: Mörike präsentiert in deutscher Übersetzung Homerische Hymnen, Kallinos und Tyrtaios, Theognis, Theokrit, Bion und Moschos sowie Beispiele aus Catull, Horaz und Tibull. 89 Die Auswahl der «Kriegslieder» des Tyrtaios beschränkt sich auf fr. 6-7 sowie fr. 8 - das Arete´-Gedicht bleibt also ausgespart. Die Übersetzung von fr. 6,1-2 folgt der Übertragung Webers. In den Kontext der Freiheitskriege gehört demgegenüber die Tyrtaios-Übersetzung von Ernst Moritz Arndt (1769-1860). Der Dichter operiert mit dem bekannten Corpus tyrtäischer Verse; er präsentiert im Anschluß an die Kampfparänese des Kallinos die drei kanonischen Tyrtaiosfragmente in der geläufigen Reihenfolge fr. 6-7, fr. 8 und fr. 9 und läßt diesen ein Gedicht auf die Gefallenen der Thermopylenschlacht folgen. Seine Übertragung von fr. 6,1-2 versucht dabei in besonderer Weise den Aspekt des tyrtäischen kalo¬n hervorzuheben (durch zweifache Übersetzung) und verleiht dem Distichon durch die Übersetzung von ga¬r als «wahrlich» eine ganz eigentümliche, klar auf das Sterben als besonderem Wert hin orientierte Valenz. Auch für Arndt steht das Sterben als Vorgang («erliegend») im Zentrum: 90 Sterben ist wahrlich schön, bei den vordersten Streitern erliegend, Schön dem tapferen Mann, welcher fürs Vaterland ficht.
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Weber übersetzte folgende Fragmente: fr. 6-7 G/P (= fr. 6-7 D) - fr. 8 G/P (= fr. 8 D) - fr. 9 G/P (= fr. 9 D) (d. h. zunächst die bis dahin übliche Reihe); er fährt dann jedoch fort mit fr. 4 G/P (= fr. 4,4-8 D) - fr. 5 G/P (= fr. 5 D) - fr. 12 G/P (= fr. 11 D) - fr. 11 G/P (= fr. 10 D) fr. 1a,12-15 G/P (= fr. 2 D) - fr. 2-3 G/P (= fr. 4,1-3 D) - fr. 1b G/P (= 3b D). Weber, a. a. O. 419. Eduard Mörike. Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, hg. von H.-H. Krummacher/H. Meyer/B. Zeller, Bd. VIII.1, hg. von U. Hötzer, Stuttgart 1976, 11 ff., bes. 55 ff. Mörike hebt in seiner Vorrede ausdrücklich hervor, sich bei der deutschen Wiedergabe der antiken Dichter auf verschiedene ältere Übersetzungen gestützt zu haben (12), bei Tyrtaios auf Übertragungen von Weber, Jakobs (auf den auch Baron 178 ff. zurückgegriffen hatte) und Bach. Zu Mörikes Antikenrezeption vgl. Riedel 239 f. Sein Auswahlkriterium nennt Mörike in der Vorrede (13): «Was die Auswahl der Gedichte betrifft [...], so wird die Frage nach dem Sittlichen, wie billig, nicht die letzte seyn». E. M. Arndt, Geist der Zeit. Zweiter Theil, London 21813, 64 ff.; Arndt hat seine Kallinos- und Tyrtaiosübersetzungen später noch einmal in einer Anthologie europäischer Dichtung publiziert, in der - unter den griechischen Dichtern - Kallinos und Tyrtaios eine bevorzugte Stellung einnehmen: E. M. Arndt, Blütenlese aus Altem und Neuem, Leipzig 1857.
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Tyrtaios wirkte jedoch nicht nur auf dem Wege direkter deutscher Übertragungen nach. Deutlicher, wenngleich im einzelnen schwerer zu fassen, ist die indirekte Rezeption. Der Traditionsstrang des dulce et decorum est pro patria mori, der sich von Tyrtaios/Horaz über Friedrich Klopstock (1724-1803) 91 und den von den Aufständen der Griechen gegen die Türken 1770 begeisterten Friedrich Hölderlin (1770-1843) 92 bis hin zu den Dichtern der Freiheitskriege zieht, ist hinlänglich bekannt und braucht an dieser Stelle nicht näher erläutert zu werden. 93 Selbst ein Friedrich Schlegel (1772-1829) ließ sich von derartigen Gedanken beeinflussen und setzte als erster «die poetische Sehnsucht nach Liebes- und Todesvereinigung in eine politische Hoffnung» um, wie aus seinem Gedicht «Gelübde» (1809) unmißverständlich hervorgeht. 94 Achim von Arnim (1781-1831) pries in vielfältiger Weise den Soldatentod und reduzierte die ursprünglich tyrtäische Vorstellung vom Tod als maximalem Einsatz in einem ansonsten auf Sieg ausgerichteten Kampf auf die Alternative des Siegens oder Sterbens, 95 und Ernst Moritz Arndt dichtete voll Pathos: «Tod, du süßer, für das Vaterland, süßer als der Brautgruß [...] sei mir willkommen». 96 Entsprechende Gedanken, gepaart mit einer romantischen Todessehnsucht und nationalem Pathos, fanden ihre intensivste Ausprägung in den Schlachtengesängen Theodor Körners (1791-1813), 97 der selbst am Abend jenes Tages gefallen sein soll, an dem er sein berühmtes «Schwertlied» niedergeschrieben hatte, eine poetisch-mystisch-erotische Vereinigung des Kriegers mit seinem Schwert, allegorisch als Verbindung von Braut und Bräutigam aufgefaßt. 98 Nicht mehr der Sieg der eigenen Gemeinschaft, sondern der individuelle Opfertod des einzelnen ist nunmehr das Ziel; das horazische dulce verdrängt den Aspekt des eher noch tyrtäischen decorum. Entsprechend räsonniert der Oberleutnant in Körners «Joseph Heiderich oder Deutsche Treue» aus dem Februar 1813: 99 91
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F. Klopstock, Das neue Jahrhundert, in: K.-H. Hahn (Hg.), Klopstocks Werke in einem Band, Berlin/ Weimar 1971, 49 ff. (bes. v. 29). F. Hölderlin, Der Tod fürs Vaterland, in: Friedrich Hölderlin. Sämtliche Gedichte. Studienausgabe in zwei Bänden, hg. und kommentiert von D. Lüders, Wiesbaden 21989, Bd. 1, 208 (entstanden 17971799); von Bedeutung sind in unserem Zusammenhang besonders die Strophen 3-4: O nimmt mich, nimmt mich mit in die Reihen auf, / Damit ich einst nicht sterbe gemeinen Tods! / Umsonst zu sterben, lieb’ ich nicht, doch / Lieb’ ich, zu fallen am Opferhügel - Fürs Vaterland, zu bluten des Herzens Blut / Fürs Vaterland - und bald ist’s geschehn! Zu euch / Ihr Teuern! Komm’ ich, die mich leben / Lehrten und sterben, zu euch hinunter! Hölderlins Anteilnahme am Freiheitskampf der Griechen spiegelt sich besonders in seinem 1797-1799 erschienenen Briefroman «Hyperion»; dazu vgl. F. Löbker, Antike Topoi in der deutschen Philhellenenliteratur. Untersuchungen zur Antikerezeption in der Zeit des griechischen Unabhängigkeitskrieges (1821-1829), München 2000, 25. Allgemein zu Hölderlin und der Antike vgl. Riedel 190 ff. Zum folgenden vgl. etwa E. Stemplinger, Das Fortleben der horazischen Lyrik seit der Renaissance, Leipzig 1906, ND Hildesheim 1976, bes. 296 ff.; Portmann-Tinguely, bes. 149 ff.; 202 ff.; 334 ff. «Gelübde», in: Friedrich Schlegel. Dichtungen, hg. und eingeleitet von H. Eichner, München u. a. 1962 (= Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von E. Behler, Bd. 5), 397 f.; Lämmert 342. Zu Schlegels Auseinandersetzung mit der Antike vgl. Riedel 203 ff. Vgl. Portmann-Tinguely 202 ff. mit Beispielen. Zit. aus Lämmert 343. Vgl. etwa die Dichtungen aus der 1814 posthum erschienenen Sammlung «Leier und Schwert», darunter bes. «Zueignung», «Auf dem Schlachtfelde von Aspern», «Bundeslied vor der Schlacht», «Letzter Trost», «Gebet während der Schlacht», «Abschied vom Leben», «Trinklied vor der Schlacht». Ausführlich dazu Portmann-Tinguely 334 ff. mit zahlreichen Beispielen. Lämmert 346; E. Jöst, Der Heldentod des Dichters Theodor Körner. Der Einfluß eines Mythos auf die Rezeption seiner Lyrik und ihre literarische Kritik, Orbis Litterarum 32 (1977), 310-340. Körners Werke, hg. von H. Zimmer. Zweite, kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe, Bd. 2, Leipzig o. J., 325 f. Vgl. Portmann-Tinguely 335 f.
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«Hab’ es nicht gedacht, als ich in der Schule den Horaz übersetzte, daß ich das «dulce pro patria mori» an mir selber prüfen könnte. - Ja, bei dem Allmächtigen, der unsterbliche Sänger hat recht, es ist süß, für sein Vaterland zu sterben! O könnt’ ich jetzt vor allen jungen treuen Herzen meines Volkes stehn und es ihnen mit der letzten Kraft meines fliehenden Lebens in die Seelen donnern: es ist süß, für sein Vaterland zu sterben! Der Tod hat nichts Schreckliches, wenn er die blutigen Lorbeern um die bleichen Schläfen windet. - Wüßten das die kalten Egoisten, die sich hinter den Ofen verkriechen, wenn das Vaterland seine Söhne zu seinen Fahnen ruft, wüßten das die feigen, niedrigen Seelen, [...] - ahndeten sie die Seligkeit, die ein braver Soldat fühlt, wenn er für die gerechte Sache blutet: sie drängten sich in die Reihen.
Zu recht folgert Portmann-Tinguely vor dem Hintergrund dieses und ähnlicher Texte: «Bei der Verherrlichung und Verharmlosung des Todes zieht Körner alle Register. Es werden politische, moralische, religiöse und erotische Momente ins Spiel gebracht, die Todesverherrlichung trägt mystische, euphorische, ekstatische, rauschhafte ja hysterische Züge. [...] Diese Opfertodmanie [...] zieht sich wie ein roter Faden durch Körners Werk, richtet sich zuerst auf die Geliebte, dann auf ein nebulöses Vaterland und wird schliesslich Selbstzweck [...]». 100 Mit Tyrtaios hat dies alles allerdings kaum mehr etwas zu tun. Das Bemühen um Vollständigkeit ist immerhin der 1859 erschienenen kommentierten Tyrtaios-Übersetzung des Büdinger Gymnasialdirektors Georg Thudichum († 1873) und der im selben Jahr publizierten zweisprachigen, ebenfalls kommentierten Edition von Johann Adam Hartung (1801-1867) zu entnehmen. Thudichum erkannte, wie vor ihm schon Weber, daß der Elegiker auch über die Kampfparänesen hinaus Bedeutsames verfaßt hat, und gliederte seine Präsentation der Fragmente daher in drei Abschnitte: Unter der Rubrik «Aus der Staatsordnung» finden sich neben manchem Unechten die Fragmente aus dem Eunomia-Kontext, d. h. fr. 1a,12-15 G/P (= fr. 2 D), fr. 1b G/P (= fr. 3b D) bzw. fr. ∞14 G/P (= 3a D), fr. 2-4 G/P (= fr. 4,1-8 D) sowie fr. 5 G/P (= fr. 5 D). Die Überschrift «Aus den Ermahnungen» bietet fr. 6-7 («Antrieb zur Tapferkeit»), fr. 8 («Geübte Kämpfer»), fr. 9 («Tapferkeit die höchste Tugend») sowie - und das ist erstaunlich - darüber hinaus auch fr. 11 G/P (= fr. 10 D) («Ein Held») und fr. 12 G/P (= fr. 11 D) («Nicht ruhend»), die jeweils nur einen Vers umfassen. Die abschließende Rubrik «Aus den Marschliedern» beinhaltet schließlich noch zwei Texte, die heute allgemein nicht mehr als tyrtäisch anerkannt werden. Trotz dieser differenzierenden Anordnung der Fragmente ist Thudichums Übersetzung von fr. 6,1-2 wieder älteren Stereotypen verpflichtet, indem erneut der Vorgang des Sterbens ins Zentrum gerückt wird: 101 Ja es ist schön, wer sterbend im Vordergefechte dahinsank, Als hochherziger Mann kämpfend ums Vatergefild.
Auch Hartung, der im übrigen wieder das große Kallinos-Fragment dem Tyrtaios zuspricht und insofern abermals von vier ausführlich erhaltenen Kampfparänesen ausgeht, zielt in seiner Übersetzung auf ähnliches: 102 100
Portmann-Tinguely 342. G. Thudichum, Die griechischen Lyriker oder Elegiker, Jambographen und Meliker. Ausgewählte Proben, im Versmaß der Urschrift übersetzt und durch Einleitungen und Anmerkungen erläutert, Stuttgart 1859. 102 Die griechischen Elegiker. Griechisch mit metrischer Übersetzung und prüfenden und erklärenden Anmerkungen von J. A. Hartung, Bd. 1: Die Elegiker bis auf Alexander’s Zeit, Leipzig 1859. Hartung beginnt mit Kallin fr. 1, dann folgen unter dem Stichwort «Hypothekai» die kanonischen drei Elegien (fr. 6-7, fr. 8, fr. 9) sowie fr. 11 G/P (= fr. 10 D) und fr. 12 G/P (= fr. 11 D). Unter der Überschrift 101
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Schön für den wackeren Mann ist der Tod im Kampf für die Heimath, Wird er im vorderen Glied ringend zu Boden gestreckt.
Im Jahr 1877 erschien eine längere Abhandlung «Ueber Tyrtäus und seine Kriegslieder» von Cajetan Hoffmann (1840-1907) im Jahresbericht des kaiserlich-königlichen ersten Staats-Gymnasiums in Graz, d. h. unmittelbar an Gymnasiasten gerichtet. 103 Der mit großer antiquarischer Sorgfalt verfaßte Traktat mündet in die zweisprachige Präsentation der «drei größeren Lehrgedichte» (32) in der geläufigen Reihenfolge. Hoffmann betrachtet diese Texte als Vorbilder für die zeitgenössische Jugend, als Elegien, «in denen die spartanischen Jünglinge zum muthigen Kampfe gegen die Feinde des Staates aufgemuntert werden, ein so beredter Ausdruck einer hingebenden Vaterlandsliebe [...], daß sie schon deshalb besonders unter der Jugend genannt zu sein verdienen [...]» (3). Dementsprechend wählte Hoffmann zur Illustration die Übersetzung von K. Seidenadel: 104 Schön ist’s traun, im vordersten Glied hinsinkend zu sterben, Als kampfmuthiger Mann streitend um’s heimische Land.
Nur zwei Jahre zuvor, 1875 hatte der national-konservativ gesinnte Emanuel Geibel (1815-1884) sein «Klassisches Liederbuch der Griechen und Römer» publiziert. 105 Geibel, der u. a. mit Felix Dahn, dem Verfasser germanisierend-pathetischer Historienromane, verkehrte, war bereits vor diesem Zeitpunkt als Dichter formal gefälliger Lyrik hervorgetreten und einem breiten bürgerlichen Publikum vertraut. 106 Das griechischer Dichtung gewidmete 1. Buch seiner Anthologie setzt programmatisch ein mit Kallin. fr. 1 G/P (= fr. 1 D). Es folgt dann mit «Tyrtäos aus Attika. Schlachtgesang aus den Elegien zusammengestellt» ein reichlich sonderbares Elaborat; denn der von Geibel präsentierte Tyrtaiostext stellt eine willkürliche Kompilation von Textbruchstücken dar, die ohne Rücksicht auf Zugehörigkeit und Kontexte miteinander kombiniert worden sind und somit eine durchgehende Reihe martialischer Kriegslieder ergeben. Der auf diese Weise neu komponierte
«Eunomia» erscheinen neben erzählenden Partien aus Strabon fr. 1a,12-15 G/P (= fr. 2 D), fr. 2-4 G/P (= fr. 4,1-8 D), fr. 5 G/P (= fr. 5 D) sowie fr. 1b G/P (= fr. 3b D) bzw. fr. ∞14 G/P (= fr. 3a D). 103 C. Hoffmann, Ueber Tyrtäus und seine Kriegslieder, Jahresbericht des kaiserlich-königlichen ersten Staats-Gymnasiums in Graz, Graz 1877, 3-44. 104 Kallinos, Tyrtaeos und Solon. In den Versmaßen der Urschrift übersetzt von K. Seidenadel, Beigabe zum Programme des Gymnasiums in Bruchsal, Bruchsal 1868. Auch der Altphilologe J. Mähly, Griechische Lyriker, Leipzig 1881, XII konstatiert, «daß ‹niemals in der Welt den Jünglingen eines Volks die Pflicht und die Ehre der Tapferkeit so schön und dringend, zugleich mit so naiven, rührenden Motiven ans Herz gelegt worden› » sei. In seiner kleinen Lyrikerauswahl gibt Mähly (1828-1902) von den tyrtäischen Dichtungen dann fr. 6-7, fr. 9 und fr. 8 (vgl. die Übersetzung von fr. 6,1-2: Schön ist’s wahrlich, zu fallen in vorderster Reihe als tapfrer / Kriegsmann, wenn es den Kampf gilt um das heimische Land). Die für den Schulgebrauch konzipierte Textausgabe von H. W. Stoll, Anthologie griechischer Lyriker für die obersten Classen der Gymnasien mit litterarhistorischen Einleitungen und erklärenden Anmerkungen, I. Abtheilung: Elegien und Epigramme, Hannover 1851, 9-17, veranschaulicht, daß im zeitgenössischen gymnasialen Griechischunterricht unter dem Stichwort Tyrtaios weiterhin vornehmlich die ‹klassische› Trias der drei «Kriegslieder» behandelt wurde. 105 Nachgedruckt Essen 1984. Geibels Übersetzungen genossen lange Zeit hohe Popularität und wurden wiederholt nachgedruckt, vgl. etwa H. Kleinstück (Hg.), Griechisch-römische Lyrik in klassischen und neuen Übersetzungen, Wiesbaden/Berlin 1958, 13 f. 106 E. Alker, Die deutsche Literatur im 19. Jahrhundert (1832-1914), Stuttgart 21962, 418 ff.; Riedel 245 f.
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«Schlachtgesang» setzt ein mit dem markanten Aufruf an die Abkömmlinge des unbesiegbaren Herakles-Stammes, mit dem Tyrt. fr. 8 G/P (= fr. 8 D) begonnen hatte. Geibel bietet die ersten drei Distichen dieses Fragmentes, fügt dann aber übergangslos das berühmte Distichon über den schönen Tod für die Heimatpolis an (fr. 6,1-2 G/P [= fr. 6,1-2 D]) und fährt im Anschluß daran genauso abrupt fort mit fr. 8,17-26 G/P (= fr. 8,17-26 D). Auch die in Geibels Übersetzung folgenden Verse sind diesem Fragment entnommen (fr. 8,31-34 G/P [= fr. 8,31-34 D]), bevor der Dichter dann zum Arete´Gedicht übergeht und nahtlos die Passage fr. 9,21-32 G/P (= fr. 9,21-32 D) anfügt, so daß sein «Schlachtgesang» wirkungsvoll mit dem oben behandelten Vers über das ewige Fortleben der begrabenen Krieger enden kann. Ich gebe auch hier wieder zur Illustration die Übertragung von fr. 6,1-2, die sich bei Geibel als eine Mischung aus Verherrlichung des Sterbens (als Vorgang) und aus falsch verstandener, den Germanenstereotypen des 19. Jahrhunderts verpflichteter Heldenromantik (Kampf für den «heimischen Herd») darstellt: Denn schön ist’s für den Tapfern, im vordersten Gliede zu fallen, Wenn er, den Seinen ein Hort, kämpft für den heimischen Herd.
Ein solcher Zugriff auf Tyrtaios braucht nicht weiter kommentiert zu werden. Er zeigt recht deutlich, daß der Elegiker im späteren 19. Jahrhundert, spätestens seit der Reichsgründung, als Reservoir bequem zugänglicher Kampflied-Versatzstücke betrachtet wurde, die sich willkürlich auswählen, kombinieren, interpretieren und aktualisieren ließen. 107 Es verwundert nicht, daß Tyrtaios so auch für nationalsozialistische Propaganda leicht instrumentalisiert werden konnte. 108 So rühmte H. Berve 1937 Tyrtaios als beispielhaften Repräsentanten des spartanischen todesverachtenden Kriegerethos: 109 Hier ward Dienst zur Ehre, Hingabe zur Selbstvollendung, und der Tod verlor seine Schrecken, wurde er männlich im Kampf gefunden. Als höchste Bewährung der Mannheit, als Krönung aller jener Tugenden und Leistungen [...] war er eher zu suchen als zu fliehen. Wer ihn erlitt, hatte an dem wahren Leben, dem Leben im Gesetz, mehr Anteil als der, den ruhmloser Strohtod entraffte. Dieser Geist, schon von Tyrtaios in unvergleichlichen Elegien den Kämpfern um Messenien eingehaucht, [...] hat in seiner unbeugsamen Starrheit die Idee eines höheren Lebens bis zuletzt aufrechterhalten.
Gegen Ende des Jahres 1939 erschien dann in den «Neuen Jahrbüchern für antike und deutsche Bildung», seit 1938 ein wichtiges Organ zur Vermittlung nationalsozialistischen
107
Auch J. M. Stowasser, Griechische Lyrik in deutsche Verse übertragen, Heidelberg 1910, geht mit großer Beliebigkeit vor, wenn er als Beispiele tyrtäischer Dichtung neben einem unechten «Marschlied» nur noch ausgewählte und willkürlich gekürzte Versatzstücke in deutschen Reimen bietet, vgl. fr. 6,1-2: Der schönste Tod von allen ist es, von Feindes Hand / Als tapfrer Mann zu fallen im Streit fürs Heimatland. 108 Bereits im 1. Weltkrieg war Tyrtaios bemüht worden: Reinhold Wagner publizierte im Jahr 1916 unter dem Stichwort «Kriegslyrik» neben Texten u. a. des Archilochos und des Sophokles auch eine (sehr freie) Übersetzung von Tyrt. fr. 6-7 (R. Wagner, Aus der altgriechischen Kriegslyrik, Wochenschrift für Klassische Philologie 33 (1916), 980-984). Ich gebe auch hier wieder die Übertragung des ersten Distichons wieder: Ja! Es ist schön: tot liegen, / In vorderster Reihe gefallen, /Fechtend als tapferer Mann, / Eigener Heimat zulieb. 109 H. Berve, Sparta, in: ders., Gestaltende Kräfte der Antike. Aufsätze und Vorträge zur griechischen und römischen Geschichte, München 1966 (erstmals 1937), 58-207, hier 95.
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Gedankenguts im Schulunterricht, 110 ein Beitrag mit dem Titel «Tyrtaios. Altspartanische Kampfreden», verfaßt von dem Gräzisten Richard Harder (1896-1957). 111 Die Arbeit präsentiert kommentarlos die drei schon im 18. Jahrhundert kanonischen tyrtäischen Kampfparänesen in der bekannten Reihenfolge, d. h. zunächst fr. 6-7, dann fr. 8 und schließlich fr. 9. Die Übersetzung ist beeinflußt von nationalsozialistischem Sprachgebrauch, wie z. B. in der Übertragung des Passus aiœsxy¬nei te ge¬now (fr. 6,9 G/P [= fr. 6,9 D]) als «Schande macht er der Sippe» abzulesen ist. Auch die Übersetzung des Einleitungsdistichons von fr. 6 weist klare Zeitbezüge auf: 112 Sterben vorm Feind ist Ehre, im vorderen Feld bei den Ersten Fallen, als tapferer Mann streitend um Heimat und Land.
Im April 1945, in den letzten Kriegstagen, versandte Harder seinen Aufsatz «Die geschichtliche Stellung des Tyrtaios» als ‹Institutsbrief 4› des 1940 gegründeten Instituts für indogermanische Geistesgeschichte in München in ca. 100 Exemplaren an «Forscher des In- und Auslandes». 113 Der Beitrag, dem Harders bereits 1939 erschienene Tyrtaios-Übersetzung (ergänzt um die Eunomia-Fragmente) beigefügt war, ist getragen von vermeintlichen Parallelen zwischen dem ‹Germanischen› und den Inhalten tyrtäischer Dichtung. Harder betont, daß es sich bei den Elegien des Tyrtaios um «wirklich gehaltene alte Kampfreden» handele (181), die «elementar wie der Krieg selber» seien (ebd.). Auch die Eunomia sei ein solches «Kampfgedicht [...], in Sachen der staatlichen Grundordnung» (182). Harders Ziel war, anhand des Tyrtaios und seines spartanischen Publikums beispielhaft die Einheit von «führender Persönlichkeit» und «Gesamtheit» aufzuzeigen und für die eigene Zeit zu beschwören (185): Der Einklang zwischen Redner und Gemeinde, das eben ist das Geschenk jener Redegewalt, die im griechischen Bewußtsein unerläßliche Gabe des Volksführers ist. Die Welt des spartanischen Kriegertums wird angesprochen; zugleich spricht sie aus den Worten des Redners. Führende Persönlichkeit und tragende Gesamtheit sind hier eins. Wir hören den Sprecher und hören zugleich den Atem einer Gruppe. Darin beruht die gesammelte Kraft, die unvergleichliche Geradheit und schlichte Erfülltheit dieser Reden.
110
Vgl. das Vorwort der Herausgeber D. Bohne und H. Berve im 1. Band (1938), S. 1 f. R. Harder, Tyrtaios. Altspartanische Kampfreden, Neue Jahrbücher für antike und deutsche Bildung 2 (1939), 353-357. Zwei Jahre später versuchte H. Färber, Tyrtaios’ aœreth¬-Begriff für den Schulunterricht nutzbar zu machen, vgl. dens., Griechische politische Lyrik im Unterricht, Neue Jahrbücher für antike und deutsche Bildung 4 (1941), 141-151, bes. 143-145; auch hier sei die Übersetzung von Tyrt. fr. 6,1-2 zitiert: Denn herrlich ist es im Kampf als Held zu fallen, und Held ist, wer um das Vaterland kämpft (144). 112 Die Harderschen Tyrtaiosübersetzungen wurden mit geringfügigen Modifikationen nach dem Krieg noch einmal von einem Schüler des Übersetzers aufgegriffen: W. Marg (Hg.), Griechische Lyrik in deutschen Übertragungen, Stuttgart 1964. 113 R. Harder, zit. bei W. Marg, Nachwort, in: Marg, 484. Der Institutsbrief ist wiederabgedruckt ebd. 180207, allerdings in einer vom Herausgeber gekürzten Form, vgl. ebd. 180, Anm.: «Die Einleitung über Ernst Moritz Arndt, die deutsche Kriegspoesie des 18. Jh. und deren falsche Aktualisierung des Tyrtaios [...] ist hier, späteren Bemerkungen Harders folgend, fortgelassen [...]. Aus diesem Entwurf sollte einmal [...] ein Buch werden». - Zum Münchener Institut für indogermanische Geistesgeschichte und der Rolle seines Leiters Richard Harder vgl. die ausgewogene Darstellung bei V. Losemann, Nationalsozialismus und Antike. Studien zur Entwicklung des Faches Alte Geschichte 1933-1945, Hamburg 1977, 142 ff.; zu Harders Arbeiten über Tyrtaios und deren zeitgeschichtlichen Kontext vgl. ebd. 172; 256, Anm. 200. 111
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Harders Tyrtaios-Übersetzung und -Interpretation stellt den Höhepunkt eines selektiven Wahrnehmungs-, Rezeptions- und Instrumentalisierungsprozesses dar, der bereits im Altertum eingesetzt hat. Dieser Prozeß ist wesentlich mitverantwortlich für das moderne Tyrtaios-Bild, das - abgesehen von seiner Hochschätzung als wichtigem Quellenautor für die spartanische Frühgeschichte - den Elegiker weiterhin vor allem als Dichter bloßer Kampfparänesen und Lobredner des Krieges als absolutem Wert präsentiert. Nach der vielfachen Instrumentalisierung des Tyrtaios zur Glorifizierung von Krieg und Schlachtentod beschritt man nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vorerst vorsichtigere Pfade. Es folgte jedoch zunächst noch immer nicht die längst überfällige, bis dahin nur in vereinzelten Ansätzen (Jaeger) realisierte sachliche Auseinandersetzung mit dem Autor, sondern der selektive Wahrnehmungsprozeß fand nun lediglich unter gewandelten Vorzeichen statt. In die Anthologie «Lyrik des Abendlandes» (deren 1948 erschienene Erstauflage mir nicht zugänglich war) wurde von den Herausgebern wiederum auch Tyrtaios aufgenommen, und zwar in der Übersetzung Richard Harders. Allerdings setzt die Auswahl tyrtäischer Dichtungen nunmehr mit Versen aus dem Eunomia-Komplex ein. Unter der Überschrift «Aus den Kampfreden» folgen dann nur noch Bruchstücke der einstmals kanonischen «Kriegslieder»: fr. 7,21-32, fr. 8,1-20 sowie der erste Teil des Arete´-Gedichts fr. 9,1-12. Bezeichnenderweise fehlt das berühmte Distichon über das schöne Totsein nach dem Schlachtentod. 114 Diese Verse sind lediglich im Nachwort noch gegenwärtig, wenn die Herausgeber konstatieren: «Mit dem Gedanken, daß der Tod fürs Vaterland alle andern Verdienste, Ehren und Tugenden übertreffe, schlug er [sc. Tyrtaios] ein unausrottbares Thema an». 115 Auch in der ehemaligen DDR war man um neue Zugänge bemüht. In der 1976 erschienenen Anthologie «Griechische Lyrik» übersetzte Dietrich Ebener unter der neutraler gewählten Überschrift «Kampfaufrufe» zwar auch die altbekannten «Kriegslieder» fr. 6-7, fr. 8 und fr. 9 (in dieser Reihenfolge), doch setzte auch er nun vor diese längeren Texte ebenfalls kürzere Fragmente aus dem Eunomia-Kontext: fr. 1a,12-15 G/P (= fr. 2 D), fr. ∞14 G/P (= fr. 3a D), fr. 2-4 G/P (= fr. 4,1-8 D), fr. 5 G/P (= fr. 5 D). Das Bemühen um nüchterne Sachlichkeit geht auch aus seiner Übersetzung von fr. 6,1-2 hervor: 116 Unter den Vorkämpfern auf dem Schlachtfeld zu fallen, bedeutet Ruhm dem wackeren Mann, der für sein Vaterland ficht.
Es ist schwierig, vor dem Hintergrund einer derart problematischen Rezeptionsgeschichte noch einen unvoreingenommenen Zugang zu Tyrtaios zu finden. Möglicherweise stellt der Versuch, das komplizierte Geflecht von Interpretamenten, Vorurteilen, Stereotypen und tatsächlichen Inhalten seiner Lyrik zu entwirren, aber einen ersten Ansatz dar. Es sollte jedenfalls deutlich geworden sein, daß eine sachgerechte Analyse der erhaltenen TyrtaiosFragmente sich zunächst von rezeptionsgeschichtlich bedingten Vorurteilen zu lösen hat. Erst dann kann ihr spezifischer Beitrag zum komplexen Prozeß der Polisbildung untersucht werden, ein Prozeß, der nicht nur auf der institutionellen Ebene anzusiedeln ist, sondern
114
Lyrik des Abendlands. Gemeinsam mit H. Hennecke, C. Hohoff und K. Vossler ausgewählt von G. Britting, München 41963, 10-12. Den Hinweis auf diese Sammlung verdanke ich Fabian Goldbeck. 115 Ebd. 746. 116 D. Ebener (Hg.), Griechische Lyrik in einem Band, Berlin/Weimar 1976, 21980 (danach zitiert), 50-55.
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auch mit der Frage nach Wegen und Möglichkeiten der Identifikation von Bevölkerungen mit ihren Gemeinwesen verknüpft ist. Daß Tyrtaios dabei als wichtige Station innerhalb einer Entwicklung gesehen werden kann, die literarisch über Homer, Kallinos und Solon bis in die Ideologie der Polis des 5. Jahrhunderts v. Chr. greifbar ist, wurde bereits an anderer Stelle angedeutet. 117 Ich möchte nicht schließen, ohne eine eigene Übersetzung des bereits vielfach angeführten berühmten Distichons fr. 6,1-2 anzubieten: Tot zu sein ist nämlich schön, gefallen unter den Vorkämpfern, als tüchtiger Mann im Kampf für die Heimat.
Literatur A. Baron, Poe´sies militaires de l’antiquite´, ou: Callinus et Tyrte´e. Texte grec, traduction polyglotte, prole´gome`nes et commentaires, Brüssel 1835 G. Binder, Pallida Mors. Leben und Tod, Seele und Jenseits in römischen und verwandten Texten, in: ders./B. Effe (Hgg.), Tod und Jenseits im Altertum, Trier 1991, 203-247 G. Binder, Kriegsdienst und Friedensdienst. Über «politische Lyrik» und die 2. Ode des Horaz «An die Jugend», AAH 39 (1999), 53-72 K. Christ (Hg.), Sparta, Darmstadt 1986 (WdF 622) Ch. Fuqua, Tyrtaeus and the Cult of Heroes, GRBS 22 (1981), 215-226 R. Harder, Die geschichtliche Stellung des Tyrtaios, in: Marg, 180-207 H. Hommel, Dulce et decorum ..., RhM 111 (1968), 219-252 F. Jacoby, Studien zu den älteren griechischen Elegikern, I.: Zu Tyrtaios, Hermes 53 (1918), 144 W. Jaeger, Tyrtaios über die wahre ARETH, in: ders., Scripta Minora II, Rom 1960, 75-114 (erstm. 1932) E. Lämmert, Die vaterländische Lyrik und Goethes Westöstlicher Divan, in: H. Arntzen/B. Balzer/K. Pestalozzi/R. Wagner (Hgg.), Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wilhelm Emrich, Berlin/New York 1975, 341-356 J. Latacz, Archaische Periode (= Die griechische Literatur in Text und Darstellung, hg. v. H. Görgemanns, Bd. 1), Stuttgart 1991 A. Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, Bern/München 31971 D. Lohmann, «Dulce et decorum est pro patria mori». Zu Horaz c. III 2, in: Kollegium und Verein der Freunde des Uhland-Gymnasiums Tübingen (Hgg.), Schola Anatolica. Freundesgabe für H. Steinthal, Tübingen 1989, 336-372 W. Marg (Hg.), Richard Harder. Kleine Schriften, München 1960 M. Meier, Aristokraten und Damoden. Untersuchungen zur inneren Entwicklung Spartas im 7. Jahrhundert v. Chr. und zur politischen Funktion der Dichtung des Tyrtaios, Stuttgart 1998 C. W. Müller, Der schöne Tod des Polisbürgers oder ‹Ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben›, in: ders., Kleine Schriften zur antiken Literatur und Geistesgeschichte, Stuttgart/ Leipzig 1999, 54-80 H. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. I 1, Stuttgart/Weimar 2001 A. Portmann-Tinguely, Romantik und Krieg, Freiburg (Schw.) 1989 C. Prato, Tirteo. Introduzione, testo critico, testimonianze e commento, Rom 1968
117
Meier 303-322.
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V. Riedel, Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart, Stuttgart/Weimar 2000 E.-R. Schwinge, Tyrtaios über seine Dichtung (Fr. 9 G.-P. = 12 W.), Hermes 125 (1997), 387395 H. J. Shey, Tyrtaeus and the Art of Propaganda, Arethusa 9 (1976), 5-28 B. Snell, Tyrtaios und die Sprache des Epos, Göttingen 1969 M. Stahl, Solon F 3 D. Die Geburtsstunde des demokratischen Gedankens, Gymnasium 99 (1992), 385-408 E. N. Tigerstedt, The Legend of Sparta in Classical Antiquity, Vol. I, Stockholm/Göteborg/ Uppsala 1965 U. Walter, An der Polis teilhaben. Bürgerstaat und Zugehörigkeit im archaischen Griechenland, Stuttgart 1993 K.-W. Welwei, Polis und Arche´. Kleine Schriften zu Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen in der griechischen Welt, hg. von M. Meier, Stuttgart 2000 U. von Wilamowitz-Moellendorff, Die Textgeschichte der griechischen Lyriker, Berlin 1900
Brigitte Burrichter
Eine alte Geschichte - neu erzählt Antike Motive in Alain Robbe-Grillets Romanen Les Gommes (1953) und La Reprise (2001) Alain Robbe-Grillets jüngster, im Oktober 2001 erschienener Roman trägt den Titel La Reprise - die Wiederaufnahme. Er ist schon in sich eine Wiederaufnahme: Robbe-Grillet hatte eigentlich vor, keinen Roman mehr schreiben zu wollen und legte nun, kurz vor seinem 80. Geburtstag, doch wieder ein neues Werk vor. Die Kritik hat den Roman begeistert aufgenommen. La Reprise sei der modernste Roman des Jahres, eine Wiederaufnahme aller Themen aus Robbe-Grillets Werken, ein neuer Nouveau Roman. Der Roman charakterisiert sich selbst aber auch explizit als eine Reprise uralter Themen: «Les anciens mots toujours de´ja` prononce´s se re´pe`tent, racontant toujours la meˆme vieille histoire de sie`cle en sie`cle, reprise une fois de plus, et toujours nouvelle ...» 1 Es ist nicht das erste Mal, daß Robbe-Grillet eine ‹alte Geschichte› ganz neu erzählt. Bereits in seinem ersten publizierten Roman Les Gommes hatte Robbe-Grillet auf einen antiken Text zurückgegriffen, auf den König Oidipus von Sophokles. Die Anspielungen auf die Tragödie sind hier allerdings so versteckt, daß die Leser erst nach einem Hinweis des Autors darauf aufmerksam geworden sind. Der Roman erzählt, wie ein Agent einen angeblichen Mord an einem ihm unbekannten Mann aufklären soll. Der Mordanschlag war allerdings fehlgeschlagen, das Opfer hatte ihn als Gelegenheit genutzt, unterzutauchen. Als der Agent sich im Arbeitszimmer des vermeintlichen Opfers aufhält, kommt dieses zurück und wird nun von dem Agenten in vermeintlicher Notwehr tatsächlich erschossen. Im Verlauf der Ermittlungen ergeben sich immer wieder Indizien, nach denen einerseits der Agent als Kind bereits in der Stadt war und andererseits der Ermordete einen Sohn hatte 2. Sehr vage wird die Möglichkeit angedeutet, daß der Agent dieser Sohn sein könnte, der, wie Ödipus, unwissentlich seinen eigenen Vater umbringt und dessen Mörder sucht. Wallas erinnert sich mehrmals und immer präziser daran, daß er als Kind schon einmal in der Stadt war, in der er nun ermittelt. Damals wollte seine Mutter mit ihm zusammen eine Verwandte besuchen 3. Eine Postkarte, auf der eine Fotomontage das Haus, in dem der angebliche Mord geschah, vor den Ruinen von Theben zeigt (S. 122 f. und S. 167) und das Gesicht der Ladenbesitzerin, bei der Wallas die Postkarte kauft (und die die geschiedene Frau des Mordopfers ist), löst die wenig präzise Erinnerung an eine theatralische Szene aus, bei der Wallas als Kind im Mittelpunkt stand, und schließlich die sehr genaue 1 2
3
Alain Robbe-Grillet, La Reprise, Paris 2001, S. 227. Alain Robbe-Grillet, Les Gommes, Paris 1953, S. 193 (Seitenverweise im folgenden im Text.) Die Angabe steht allerdings in dem Bericht eines übereifrigen Ermittlers über den Mord, in dem allerhand Gerüchte als Realitäten dargestellt werden. S. 36, 49 und 126 f.
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Brigitte Burrichter
Erinnerung an die Person, die die Mutter damals mit ihm an der Hand suchte: «Ce n’est pas une parente, qu’il recherchaient: c’e´tait un parent, un parent, qu’il n’a pour ainsi dire pas connu. Il ne l’as pas vu - non plus - ce jour-la`. C’e´tait son pe`re.» (S. 230 f.) Mehrfach wird im Verlauf der Erzählung ein Doppelgänger Wallas’ erwähnt. Eines seiner Merkmale ist eine Sonnenbrille mit unterschiedlich getönten Gläsern 4. Dieser Doppelgänger könnte der Hauptverdächtige im Mordfall sein. Am Ende aber findet Wallas eine solche Sonnenbrille in der Manteltasche des von ihm erschossenen Daniel Dupont 5. Die Vater-Sohn-Beziehung, die aus der Notwehr Wallas’ einen Vatermord wie im Mythos machen würde, scheint so möglich. Sie bleibt aber sowohl in Wallas’ Erinnerungen als auch in den Zeugenberichten sehr vage. Immer wieder finden sich aber auch deutlichere Hinweise auf den antiken Prätext. Das Motto des Romans ist von Sophokles: «Le temps, qui vieille a` tout, a donne´ la solution malgre´ toi.» Der Arzt, der weiß, daß der Mordversuch fehlgeschlagen ist, der Polizei aber das Gegenteil erzählt, praktiziert in der Rue de Corinthe (S. 65). Ein Bronzemonument, das Personen in einem antiken griechischen Wagen zeigt, trägt die Inschrift «V. Daulis» (S. 75). Die Ölschlieren auf dem Kanal ähneln einen Moment lang einem Fabeltier, das wie die Sphinx beschrieben wird 6. Theben 7 und die Sphinx 8 werden erwähnt, der Agent hat geschwollene Füße 9. Deutlicher verweisen die Radiergummis, die der Agent zu kaufen sucht, auf Ödipus. Er erinnert sich nicht genau an den Markennamen, weiß aber, daß auf dem abgenutzten Stück, das er zuletzt hatte, noch ein «di» stand, davor und danach fehlen, so meint er, je zwei Buchstaben. Der Ödipusmythos ist auch bildlich präsent. Immer wieder sieht Wallas in der Stadt billige Vorhänge mit dem selben Motiv: Sie zeigen Schäfer, die einen ausgesetzten Säugling finden und ihm Milch geben (S. 40 und S. 98). In einer Szene wird beschrieben, wie sich Gegenstände, die vor einem Spiegel stehen, darin spiegeln. Unter diesen Gegenständen befindet sich eine kleine Statue, die einen schönen Kämpfer darstellt und eine Plastik, die einen alten Blinden zeigt, der von einem Kind geführt wird 10. Den Schlüssel liefert schließlich, wie in der Tragödie, ein Rätsel. Zwar ist es nicht die Sphinx, die es stellt, sondern ein Betrunkener, der es jedesmal anders formuliert 11, aber es gibt den entscheidenden Hinweis: Bereits am Anfang des Romans versucht er, es dem Patron seines Stammlokals und einem Gast zu stellen, die ihn aber nicht ausreden lassen: «Quel est l’animal qui, le matin ...» (S. 7) Der Rätselanfang wird später wiederholt, ohne daß ihm dabei mehr Beachtung geschenkt würde, gleichzeitig stammelt der Betrunkene etwas von einem Findelkind (S. 110 und S. 109). Als der Betrunkene es schließlich doch
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Vgl. S. 186. Die Aussage stammt aber von einer wenig zuverlässigen Zeugin und ist damit ähnlich ambivalent wie der Hinweis auf Duponts Sohn. S. 244 f. Die Brille gehörte allerdings nicht Dupont, er hatte sie nur geliehen, vgl. S. 239. S. 27: «Les reflets du mazout comple`tent un visage de clown [...] Ou bien, c’est un animal fabuleux: la teˆte, le cou, la poitrine, les pattes devant, un corps de lion avec sa grande queue, et des ailes d’aigle.» S. 131, 132, 177. S. 37. S. 259. S. 209. Bruce Morrissette deutet sie respektive als Apollo und als Teireisias (B. M., Les Romans de RobbeGrillet, Paris 1963, S. 57). Auch in König Oidipus löst ein Betrunkener mit seinen Bemerkungen die Enthüllung der Wahrheit aus (V. 779 f.). Vgl. zur Rätselszene auch Morrissette, Les Romans de Robbe-Grillet, S. 53.
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noch schafft, sein Rätsel ganz zu stellen, nennt die - nicht gegebene - Antwort den Prätext: «Quel est l’animal qui est parricide le matin, inceste a` midi et aveugle le soir?» 12 Wenig später ergänzt der Betrunkene noch: «Et qui boite le matin [...]» (S. 226) Ödipus ist es, der in seiner Jugend den Vater tötet (und hinkt), dann im Inzest lebt und schließlich blind ist. Eine andere Variante des Rätsels verweist auf Wallas: «Aveugle le matin, inceste a` midi, parricide le soir.» Wallas sieht am Morgen die Lösung nicht und wird abends zum Mörder, vielleicht sogar zum Vatermörder. Mittags ist er bei Duponts Ex-Frau (die möglicherweise seine Stiefmutter ist), die ihn zumindest irritiert. Das Rätsel des Betrunkenen gibt damit nicht nur den Hinweis auf den Prätext, sondern inszeniert auch die Variation dieses Prätextes in Les Gommes. Vor dem Hintergrund des Mythos bekommen auch zwei Formulierungen des verhinderten Mörders Garinati einen Sinn. Dessen Vorgesetzter hatte ihm eröffnet, den nächsten Mordauftrag an einen besseren Killer zu vergeben. Garinati, der unablässig über sein Versagen grübelt, faßt dies so zusammen: «Un autre a` sa place [...] viendrait, lucide et libre, accomplir son œuvre d’ine´luctable justice.» 13 Zudem hat er das Gefühl, Wallas etwas mitteilen zu müssen, ohne zu wissen, was: «Comme s’il avait ´ete´ charge´ de l’aider dans sa taˆche.» 14 Beide Formulierungen verweisen auf das Schicksal, ein Verweis, der auf der Ebene der Agentenstory eher deplaziert wirkt, im zugrunde liegenden Mythos aber von zentraler Bedeutung ist 15. Sophokles’ König Oidipus ist auf diese Weise in Les Gommes immer und auf den verschiedensten Ebenen präsent, wenn auch nie explizit 16. Robbe-Grillet selber spricht vom «Ombre de Sophocle dans les Gommes» 17 und davon, seine Erzählung sei «en filigrane» von der alten Ödipusgeschichte strukturiert 18. Im Roman selber verwendet Robbe-Grillet in einer mise en abyme ein anderes Bild, das des antiken Hintergrundes, vor dem ein modernes Haus steht. Eine Schaufensterdekoration im Geschäft der geschiedenen Frau Duponts zeigt einen Maler, der eine Landschaft zeichnet: C’est une colline ou` s’e´le`vent, au milieu des cypre`s, les ruines d’un temple grec; au premier plan, des fragments de colonnes gisent cX a` et la`; au loin, dans la valle´e, apparaıˆt une ville entie`re avec ses arcs de triomphe et ses palais - traite´s, malgre´ la distance et l’entassement des constructions, avec un rare souci de de´tail. Mais devant l’homme, au lieu de la campagne helle´nique, se dresse en guise de de´cor un immense tirage photographique d’un carrefour de ville, au vingtie`me sie`cle. […] et tout a` coup Wallas reconnaıˆt l’endroit: ce pavillon entoure´ de grands immeubles […] c’est l’hoˆtel particulier qui fait l’angle de la rue des Arpenteurs [der Tatort] (S. 121)
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S. 233. S. 31, Herv. von mir. S. 29, Herv. von mir. Vgl. auch S. 42: «C’est volontairement qu’il [Wallas] marche vers un avenir ine´vitable et parfait.» Morrissette zieht weitere Verbindungen, die aber noch verschlüsselter sind als die hier analysierten, vgl. Les Romans de Robbe-Grillet (wie Anm. 10), S. 53-66. Interview mit Jean-Jacques Brochier, magazine litte´raire 402/2001: Alain Robbe-Grillet, la Reprise du Nouveau Roman, S. 21-26, hier S. 24. «Le climat de myste`re policier au sein d’antagonistes socie´te´s secre`tes qui re´gnait ainsi dans mon histoire, structure´e en filigrane par l’ancestrale male´diction d’Œdipe-roi, pouvait rendre le roman aussitoˆt lisible.» Alain Robbe-Grillet, Les Derniers jours de Corinthe, Paris 1994, S. 69.
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Die antike Landschaft und der moderne Tatort sind auf dem Bild kombiniert wie der antike Prätext und die moderne Erzählung im Roman. Entscheidend für das Gelingen des Projekts ist dabei vor allem die Art und Weise der Kombination: «La qualite´ de cette image et sa disposition habile confe`re au panorama une re´alite´ d’autant plus frappante qu’il est la ne´gation du dessin cense´ de le reproduire [...]» (ebd.) Die Qualität der modernen Erzählung und das Verhältnis, in das sie zum antiken Prätext gesetzt ist negieren zwar diesen Prätext - weder die Personen noch der genaue Handlungsablauf der Vorlage werden übernommen. Aber gleichzeitig ist es der moderne Roman, der dem antiken Prätext eine neue Aktualität verleiht: Er zeigt, daß das hellenistische Panorama - die antike Tragödie auch in der Gegenwart von Bedeutung ist. Die Details, die im Panorama so genau dargestellt sind geben einen Hinweis darauf, wie der Prätext in die moderne Narration ‹integriert› ist. Es sind - auf dem Bild - Details, die mit bloßem Auge kaum zu sehen sind (S. 169), in der Erzählung sind es Einzelheiten, die in Sophokles’ Text nicht im Vordergrund stehen, etwa die Ortsnamen oder das Aussehen der Sphinx. Viel deutlicher als in Les Gommes ist der Bezug auf den antiken Prätext in La Reprise, die wesentliche Motive aus Les Gommes wieder aufnimmt 19 und sich - wie eingangs zitiert explizit auf eine antike Vorlage beruft. Bevor ich auf diese ‹alte Geschichte› näher eingehe, möchte ich zunächst den Inhalt des Romans skizzieren, um einen Bezugrahmen für die folgenden Analysen zu geben. Der Roman spielt im Berlin des Jahres 1949, Protagonist ist ein französischer Agent, der unter verschiedenen Namen auftritt. Ich werde ihn im folgenden «Ascher» nennen 20. Ascher reist im Winter 1949 durch das zerstörte Ostdeutschland nach Berlin, um dort einen Mittelsmann seines Geheimdienstes zu treffen. In welcher Mission er unterwegs ist, weiß er nicht. Im Zug hat er ein Erlebnis, das ihn zutiefst beunruhigt: Als er nach einem Halt an seinen Platz zurückkehrt, findet er diesen besetzt vor, und zwar von einem Mann, der sein genaues Ebenbild ist. Völlig panisch flüchtet Ascher aus dem Abteil. In Ostberlin angekommen, bringt ihn sein Mittelsmann in eine leere, fast zerstörte Wohnung am Gendarmenmarkt. Seine Aufgabe: er soll beobachten und notieren. In der Nacht wird er Zeuge eines Mordes auf dem Gendarmenmarkt. Als er den Toten untersucht, findet er dessen Ausweis mit Namen und Adresse: Dany von Brücke, Feldmesserstr. 2 in Berlin-Kreuzberg. Am nächsten Morgen rät eine Botschaft seines Mittelmannes Ascher, unterzutauchen. Da er nun keinen Auftrag mehr hat, beschließt Ascher, dem ermordeten Dany von Brücke nachzuforschen. In der Feldmesserstraße macht Ascher in zweifacher Hinsicht beunruhigende Erfahrungen. Zum einen, als er dort ein Hotelzimmer mieten will und vom Hotelier nicht nur mit Namen begrüßt wird, sondern auch ein Zimmer bekommt, das er angeblich bereits gemietet und bewohnt hat. 19
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So entsprechen sich viele Namen: In Les Gommes heißen der Agent Wallas, das Mordopfer Daniel Dupont und der Kommissar, der die Ermittlungen führt, Laurent, in der Reprise lauten die entsprechenden Namen Wallon, Dany von Brücke und Lorentz. Der zentrale Handlungsort liegt in Les Gommes in der rue des Arpenteurs, in La Reprise in der Feldmesserstraße. Zudem finden sich einzelne Erzählsequenzen aus Les Gommes in der Reprise wieder, etwa das alte Schiff und die Kindheitserinnerung (Les Gommes, S. 36, 49 und 126; La Reprise, S. 58 f. und 72 f.) oder die Klappbrücke (S. 55 bzw. S. 80). «Ascher» ist der Spitzname, den der Protagonist von seinen Kollegen erhalten hat. Im Roman wird er häufig auch als H.R. [a er] bezeichnet, seine weiteren Namen sind Henri Robin, Boris Wallas und Franck Mathieu (vgl. S. 48 f.).
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Zum anderen aber birgt vor allem das Haus Danys von Brücke unangenehme Überraschungen. Zwar erfährt Ascher dort einiges über die Familienverhältnisse des Toten. Dieser hatte von seiner französischen ersten Frau Zwillingssöhne, von denen der eine schon als Kind gestorben, der andere im Krieg gefallen ist. In zweiter Ehe war er wieder mit einer Französin verheiratet, Joe¨lle Kastanjevica, die nun zusammen mit ihrer 14jährigen Tochter Gigi das Haus bewohnt und Ascher bereitwillig Auskunft erteilt. Gigi und eine Reihe anderer sehr junger Mädchen, die ebenfalls im Haus wohnen, arbeiten als Prostituierte. Ascher erleidet in Joe¨lle Kastanjevicas Haus einen Schwächeanfall und verbringt eine unbestimmte Zeit in einem narkoseähnlichen Schlaf, der von mehr oder weniger bewußt erlebten Halbwachpausen unterbrochen ist. In einer dieser Pausen erkennt er das Zimmer, in dem er untergebracht ist, als sein Kinderzimmer, benutzt seine Waschschüssel und verfällt wieder in Handlungsmuster aus seiner Kindheit, in einer anderen erlebt er einen Arztbesuch und einen Besuch seiner Gastgeberin, bei dem diese mit dem völlig willenlosen Ascher schläft. Außerdem wird ihm allmählich die Identität seines Doppelgängers bewußt: Es ist der angeblich gefallene Sohn des Toten vom Gendarmenmarkt, Walther von Brücke, der noch lebt und offenbar eine wichtige Rolle in der Berliner Halbwelt innehat. Es gelingt Ascher schließlich, das Haus zu verlassen und in sein Hotelzimmer zurückzukehren. Am Tag danach konfrontiert ihn die Polizei mit einem Mordvorwurf: er habe Dany von Brücke getötet, alle Indizien sprächen dafür. Ascher wendet ein, er kenne den Getöteten nicht und habe auch kein Mordmotiv. Sein Doppelgänger dagegen käme als Sohn des Toten eher in Frage. Doch die Polizei kann beweisen, daß Ascher ebendieses Motiv auch hat: Er ist der angeblich als Kind gestorbene Zwillingsbruder von Walther, den die Mutter bei der Trennung von ihrem Mann mit in ihre heimatliche Bretagne genommen hatte. Als Ascher, völlig verstört ob dieser neuen Familienverhältnisse, schließlich in sein Hotelzimmer zurückgeht, kommt es zu einem veritabeln Show-down. Im Hotelbett wartet sein Doppelgänger auf ihn, der ihm haßerfüllt vorwirft, er sei der Liebling der Mutter gewesen, die ihn, Walther, verlassen habe. Deshalb habe er dieses Treffen organisiert. Damit erfährt Ascher endlich, in welcher Mission er nach Berlin beordert ist: Er soll hier von seinem Bruder erschossen werden. Ascher überlebt den Anschlag, es ist schließlich Walther, der deutsche Zwilling, der stirbt. Gigi, seine Halbschwester oder vielleicht auch seine Tochter, deren Liebhaber und Zuhälter er war, vergiftet den ihr verhaßten Mann. Ascher aber übernimmt die Identität und wohl auch die Rolle seines toten Zwillingsbruders und will, mit Gigi als Geliebter, in Berlin ein neues Leben beginnen. Die Verbindung dieser Agentengeschichte mit der ‹alten Geschichte› deutet sich in den drei im Roman selber genannten zentralen Themen des Romans - «inceste, gemellite´, aveuglement» 21, also Inzest, Zwillingsthema und Blendung/Blindheit - an: Sie verweisen auf den antiken Mythos, der hier, wie in Les Gommes, variiert wird. Allerdings wird in der Aufzählung auf zwei Mythen angespielt: Inzest und Blindheit, die auf den Ödipusmythos verweisen umrahmen sozusagen das Zwillingsmotiv, das den Amphitryon-Stoff aktualisiert 22. Ich werde mich im folgenden auf die Wiederaufnahme des Ödipusmythos beschränken. 21 22
La Reprise, S. 173; Seitenverweise im folgenden im Text. Vgl. dazu Vf., «Der deutsche Zwilling. Doppelgänger und Zwillinge in Alain Robbe-Grillets Roman La Reprise», Poetica 35/2003, 213-229, hier S. 215 f.
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Näher charakterisiert wird die alte Geschichte zunächst durch die Namen der weiblichen Hauptpersonen: Joe¨lle Kastanjevica, die zweite Frau Danys von Brücke, stellt sich mit einer Kurzform ihres Namens vor: «[...] on peut m’appeler Jo, plus simplement, que les Allemands prononcent Io, poursuivie jadis par un taon a` travers la Gre`ce et l’Asie Mineure, apre`s que Jupiter l’eut viole´e sous la forme d’un nuage aux reflets ardents.» (S. 88)
Die mythologischen Ausführungen scheinen Ascher unpassend, ohne daß dieser Eindruck erläutert würde. Einen Hinweis ergibt allerdings das Klingelschild. Darauf ist nicht Joe¨lles Vor- sondern ihr Familienname abgekürzt: Joe¨lle Kast steht dort (S. 84). Zu diesem Familiennamen nun ‹paßt› die schöne Io nicht. Erst einige Seiten später wird die Erzählung expliziter: «L’ex-Madame Joe¨lle von Brücke, ne´e Kastanjevica dite Kast (appelez-moi Jo, cX a sera plus simple) [...]» (S. 92) - Jo Kast ergibt eine stimmige Anspielung auf die griechische Mythologie. Ein zweites Mythologem wird in der Präsentation von Joe¨lle Kast Rufname angedeutet, wenngleich sehr unauffällig. Das Lächeln, mit dem Jo Kast die deutsche Aussprache Io erläutert, stürzt Ascher in ein ‹Labyrinth von träumerischen Mutmaßungen›. Robbe-Grillet wählt hier anstelle des sozusagen neutralen Wortes labyrinthe die im Französischen ebenfalls gebräuchliche Variante de´dale: «Le sourire fugitif de Joe¨lle Kast, a` cette e´vocation mythologique incongrue, plonge le visiteur dans un de´dale de suppositions reˆveuses.» (S. 88) Die Wortwahl ist hier, wie sich zeigen wird, nicht zufällig. Verweist bei Joe¨lle Kastanjevica die Kurzform ihres Namens auf den antiken Mythos, so ist es bei ihrer Tochter Gigi der volle Name, der sie in den Sagenkreis um Theben stellt: Gigi ist die Abkürzung des ‹archaischen, fast verschwundenen preußischen Namens› Gegenecke 23 - auf griechisch Antigone. Das Lokal, in dem Gigi als Animiermädchen und Prostituierte arbeitet, heißt naheliegenderweise «Die Sphinx». Die Verwandtschaftsbeziehungen entsprechen, mit einigen Variationen, denen der Labdakiden. Jo Kast hat sexuelle Beziehungen zu ihren beiden Stiefsöhnen. Das Verhältnis zum - gedoppelten - Stiefsohn, dessen Identität sie zudem in beiden Fällen kennt verweist allerdings nicht auf den Ödipus- sondern auf den Phädra-Mythos, der ja im «de´dale» bereits anklang. Da sie aber der leiblichen Mutter der beiden Söhne Danys von Brücke extrem ähnlich sieht, vermischen sich in ihr Phädra- und Jokasterolle. Gigi/Antigone ist entweder die Halbschwester der beiden oder die Tochter Walthers von Brücke. Sie wendet sich dem Außenseiter Ascher zu, den sein Bruder Walther aus der Familie entfernen will, und geht mit ihm eine Liebesbeziehung ein. Am Ende des Romans geht sie zudem mit Ascher, dem Double ihres möglichen Vaters, auf Reisen. Der ist zwar nicht blind, wie Ödipus, klagt aber immerhin über Sehbeschwerden 24. Schließlich übernimmt Gigi auch Antigones Rolle als Verlobte des Haimon. Sie sieht am Ende des Romans einer gemeinsamen Zukunft mit einem engen Verwandten - ihrem Onkel oder Stiefbruder entgegen. Ihrer antiken Namensschwester war eine solche Zukunft - nicht mit dem Stiefbruder, sondern mit dem Cousin - verwehrt. 23 24
«un pre´nom prussien, archaı¨que et presque disparu: Gegenecke» S. 95. Walther hatte im Krieg eine Augenverletzung erlitten und Ascher übernimmt mit Walthers Identität auch diese Verletzung: «Une bre`ve douleur a` l’œil gauche m’a rappele´ les combats sur le front de l’est [...]» Er stellt fest, daß er deshalb eine Sonnenbrille braucht: «J’ai pense´ que, de`s notre arrive´e a` Saßnitz, il me faudrait acque´rir des verres sombres pour prote´ger mes yeux blesse´s du soleil hivernal sur les e´tincelantes falaises blanches.»
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Die beiden Brüder Walther und Markus von Brücke aktualisieren, wie Jo und Gigi, Elemente des Ödipus-Mythos. Markus/Ascher kennt seinen Vater nicht. Er weiß zwar, daß er als Kind Verwandte in Berlin hatte, er hat aber nicht die Intention, diese zu suchen. Die Verbindung zur Familie von Brücke ergibt sich aus seiner Sicht rein zufällig. Erst im Nachhinein wird sich herausstellen, daß die Zusammenführung mit seiner Familie von einer ‹höheren Macht› bestimmt war - von Walther, der in der Hierarchie der Geheimdienst offenbar über dem einfachen Agenten Ascher steht und hier die Rolle des Schicksals übernimmt, das den antiken Ödipus zu seinen Eltern geführt hatte. Und auch hier gilt es ein Rätsel zu lösen, das mit der Sphinx zu tun hat, das Rätsel um die Rolle, die Walther, der Besitzer des Animierclubs «die Sphinx», spielt. Ascher wird mit dem Vorwurf konfrontiert, seinen Vater ermordet zu haben. Er weist den Verdacht von sich, da er Dany von Brücke nicht gekannt hatte und nicht wußte, daß dieser sein Vater war. Vor dem Hintergrund des Ödipus-Mythos hat diese Begründung allerdings wenig Gewicht. Nach den Regeln des «royaume de The`bes» 25 ist es der als Kind ‹ausgesetzte› Sohn, der den Vater umbringt. Auch sein Verhältnis zu Jo Kast zeigt Analogien zu dem zwischen Jokaste und Ödipus. Ascher weiß nicht, daß sie seiner Mutter ähnelt 26, aber er ist bei der ersten Begegnung von ihr fasziniert 27. Die sexuellen Beziehungen, die Jo Kast zu Ascher aufnimmt, sind ebenfalls in den Mutter-Sohn-Kontext gestellt. Ascher fühlt sich von ihr vergewaltigt, ohne dies allerdings unangenehm zu finden. Ihm kommt es vor, als werde er von seiner Mutter umsorgt: «J’e´tais comme un be´be´ a` moitie´ endormi que sa me`re de´shabille, savonne [...] tout en me parlant avec douceur et autorite´ [...]» Jo Kast ist wie Jokaste die «amante maternelle», wenn auch die Altersverhältnisse umgekehrt sind wie im Prätext 28. Am Ende des Romans heiratet Ascher schließlich Jo. Ascher und Walther inszenieren aber nicht nur verschiedene Aspekte des Ödipus, sondern aktualisieren auch die Rollen der Söhne des Ödipus. Der tödliche Kampf der Brüder, in dem beide wissen, daß einer von ihnen ‹zuviel› ist 29 entspricht dem Kampf zwischen Eteokles und Polyneikos. Walther in der ‹Rolle› des Eteokles verteidigt seine Ansprüche und geriert sich als Schützer der Familie 30. Es kommt allerdings nicht zum Brudermord, da Walther schlecht zielt und Ascher seine Pistole nicht mehr in seiner Manteltasche vorfindet. Auch Gigi verhält sich im Streit der Brüder wie Antigone: Sie wendet sich dem ‹Außenseiter› Ascher/Polyneikos zu und unterstützt ihn. Der Ödipus-Mythos ist so in einer wirklichen Reprise variiert wieder aufgenommen. 25
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Als solches bezeichnet Ascher die Familie von Brücke, als er noch nicht weiß, daß er zu ebendieser Familie gehört: «Cette famille maudite, c’est le royaume de The`bes!» S. 213. Es ist Walther, der Fußnotenerzähler, der darauf hinweist: «La description qu’il [Ascher] donne ici de son visage [von dem Jo Kasts] aux traits fermes n’a-t-elle pas l’air de se rapporter ouvertement a` une photographie de sa propre me`re lorsque celle-ci avait trente ans [...]», S. 94 f. Auch das Motiv der Stiefmutter, die eine Doppelgängerin der eigenen Mutter ist, findet sich, wenn auch sehr vage angedeutet, bereits in Les Gommes, wenn dort Wallas’ Begegnung mit Duponts Exfrau im Rätsel als «inceste» bezeichnet wird, vgl. oben Anm. 22, S. 223-226. Vgl. S. 87. Jo ist 32, Ascher 46 Jahre alt, vgl. S. 163, das Zitat ebd. «L’un de nous deux est en trop dans cette histoire.», S. 221. Vgl. S. 222: «Tu [gemeint ist Ascher] as tue´ le pe`re! Tu a fait l’amour avec sa jeune e´pouse [...] et tu as convoite´ sa fille, une enfant!» Walthers Version entspricht hier allerdings nicht dem Verlauf des Romans, demzufolge er der Mörder des Vaters und der Liebhaber der Stiefmutter und der Tochter ist.
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Der Roman greift aber nicht nur den antiken Mythos wieder auf und erzählt ihn neu, sondern auch die Rezeption dieses Mythos’ durch die Psychoanalyse. Nach dem Mord an Dany von Brücke beschuldigt Ascher Walther und unterstellt ihm, «[u]ne rivalite´ fe´roce a` caracte`re ouvertement œdipien» (S. 213). Walther bezeichnet den Umstand, daß Ascher jegliche Erinnerung an seine Berliner Kindheit verdrängt hat, als «cas particulie`rement spectaculaire d’oubli œdipo-freudien» (S. 70). Allerdings sind, den gegenseitigen Vorwürfen eines Ödipuskomplexes zum trotz, die Aktualisierung des Mythos und die seiner psychoanalytischen Umsetzung im Roman auf die beiden Brüder verteilt. Ascher übernimmt dabei den Part des antiken Ödipus. Er verläßt die Familie als Kind und wird für tot gehalten. Selber weiß er davon nichts. Seine ‹Rückkehr› in die Familie geschieht ebenfalls ohne sein Wissen. Wie Ödipus versucht er, die Hintergründe des Mordes an dem Mann zu ermitteln, von dem er nicht weiß, daß er sein Vater ist und wird beschuldigt, selber der Mörder zu sein. Walther dagegen verhält sich nach dem Schema, das Freud als Ödipuskomplex beschreibt. Er liebt eine Frau, von der er weiß, daß sie das Ebenbild seiner Mutter zur Zeit seiner Kindheit ist 31. Die Eifersucht auf den Vater als ‹Nebenbuhler› steigert sich zum Haß. Der «de´testable Dany von Brücke» (S. 142) hat von seinen patriarchalischen Rechten Gebrauch gemacht und Joe¨lle für sich behalten. Walther hat ihm dies nie verziehen 32. Er bringt den Vater schließlich um, um so seinen Anspruch auf die (Quasi-)Mutter durchzusetzen. Robbe-Grillet hatte wiederholt betont, daß er den psychologischen Roman und die psychologische Analyse als Deutungsmodell gleichermaßen ablehnt: «Les e´ve`nements se passe dans mon livre hors de la psychologie qui est l’instrument habituel des romanciers [...]» 33, erklärte er zu Les Gommes. In La Reprise nun konstruiert er eine Handlung, die auf einer der prominentesten Theorien der klassischen Psychoanalyse beruht und erzählt sie, indem er sie sozusagen wörtlich nimmt: Er greift auf das ‹Personal› des Mythos’, der diese Theorie illustriert und ihr den Namen gegeben hat, zurück und gestaltet damit eine neue Geschichte. Der Ödipusmythos ist so in der Reprise sehr offenkundig eingesetzt, doch gibt es auch hier ein Rätsel, das dem Rätsel des Betrunkenen in Les Gommes entspricht. Das Bild im Kinderzimmer in Jo Kasts Haus zeigt eine Szene aus der antiken Geschichte oder Mythologie: Ein Reiter bedroht einen vornehmen alten Mann auf einem Wagen, den ein Diadem als König ausweist. Zwei junge Bogenschützen begleiten ihn. Im Hintergrund stehen Gebäude im korinthischen Stil. Zwar stimmen einige Details nicht mit dem Mythos überein, dennoch könnte es sich bei der Szene um den Mord an Laios handeln. Ascher weiß allerdings nicht, was das Bild darstellt: «Le tableau repre´sente quelque e´pisode (peut-eˆtre fort ce´le`bre, mais il s’est toujours demande´ lequel) de l’histoire antique ou de la mythologie
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Jo Kast sagt selbst über ihre Vorgängerin: «[...] elle me ressemblait comme une sœur jumelle, a` trente ans de distance ... ou meˆme un peu plus.» S. 101. Walther weiß dies, vgl. das Zitat oben Anm. 27. «Despote a` l’ancienne mode, usant d’abord d’un ignoble droit de cuissage seigneurial, il a fini par la garder pour lui seule. Joe¨lle [...] s’est laisse´e convaincre par le prestigieux officier [...] je lui ai pardonne´... A elle, pas a` lui!» S. 143. Gespräch mit J. Carlier, Combat 6/4/1953, zitiert nach: Ge´rard Durozoi, Les Gommes. Robbe-Grillet. Analyse critique, Paris 1973, S. 44. Vgl. zu einer differenzierteren Untersuchung der Rolle, die die Psychologie und die Psychoanalyse in Robbe-Grillets Werken spielen, FrancX ois Migeot, Entre les lames. Lectures de RobbeGrillet, Paris 1999, S. 49-52.
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[...]» (S. 111) Der Leser ist damit aufgefordert, seinerseits zu versuchen, die Szene zu identifizieren, wie er in Les Gommes versuchen konnte, das Rätsel zu lösen. Die Szene spielt aber - ebenfalls als Rätsel - noch in einem anderen Zusammenhang eine Rolle: Ganz zu Beginn des Romans kommt Ascher zum Gendarmenmarkt, auf dessen Mitte ein leerer Sockel steht: «Au milieu de la place, se dresse le socle massif, a` peine e´corne´ par les bombes, de quelque alle´gorie en airain aujourd’hui disparue, symbolisant la puissance et la gloire des princes [...] ou bien repre´sentant tout autre chose, car rien n’est plus e´nigmatique qu’une alle´gorie.» (S. 29) Wenig später erscheint Ascher dann auf diesem Sockel eine entsprechende Bronzegruppe, deren Bedeutung rätselhaft bleibt: «Je regardait le socle vacant, au milieu de la place, et un groupe de bronze hypothe´tique m’apparaissait peu a` peu, dans une espe`ce d’e´vidence [...]» (S. 32) Auf einem antiken, von zwei Pferden gezogenen Wagen steht ein vornehmer alter Mann mit königlichem Diadem und hellenistischer Toga, hinter ihm sind zwei jugendliche Bogenschützen postiert, die in die Ferne zielen. Zwischen den drei Männern sitzt eine junge Frau. Ascher kann nicht identifizieren, was die Gruppe darstellt - ‹les alle´gories sont e´nigmatiques›. Nach dem Mord auf dem Gendarmenmarkt hat sich das Denkmal verändert: Der alte König wendet sich nun der jungen Frau zu, die jetzt eine abwehrende Haltung einnimmt. Einer der Bogenschützen, derjenige, der einen halben Schritt vor dem anderen steht, richtet seinen Pfeil nun auf die Brust des Königs. Ascher berichtet diese Veränderung, ohne sie zu kommentieren. Bei der Untersuchung des Toten macht Ascher eine Feststellung, die ihm selbstverständlich erscheint, die aber für den Leser höchst merkwürdig ist: «Le visage [des Toten] ressemble a` celui du vieillard en bronze, ce qui ne veut rien dire, puisque je l’avais moi-meˆme invente´.» (S. 37) Warum soll es ‹normal› sein, daß der erfundene König einem Mann gleicht, der Ascher völlig unbekannt ist und den er offensichtlich zum ersten Mal sieht? Der Text geht kommentarlos über Aschers unlogische Schlußfolgerung hinweg. Später modifiziert Ascher seine Aussage. Der König des Denkmals habe zwar Ähnlichkeit mit dem Toten, Dany von Brücke erinnere ihn aber noch stärker an jemand anderen: «cependant, il me fait surtout penser a` quelqu’un d’autre, un souvenir plus ancien et plus personnel, oublie´, recouvert par le temps, un homme muˆr (moins aˆge´ d’ailleurs que le mort de ce soir) dont j’aurais e´te´ proche, sans l’avoir tre`s bien connu ni longuement fre´quente´ » (S. 41). An dieser frühen Stelle des Romans ist das Denkmal mit seinem König, der zwei realen Männern ähnelt, auch für den Leser eine enigmatische Allegorie. In einer zweiten Lektüre freilich erschließt sich ihr Sinn. Ascher imaginiert in enger Anlehnung an das Bild aus seinem Kinderzimmer ein zentrales Motiv des Romans. Der Vater - der Leser weiß nun, daß der Mann, an den Ascher sich dunkel erinnert, und Dany von Brücke identisch sind - erhebt Ansprüche auf die junge Joe¨lle und wird deshalb von Walther getötet, während Ascher unbeteiligt danebensteht. Die Allegorie kombiniert damit den Vatermord aus dem König Oidipus mit der Essenz des Ödipuskomplexes, dem Kampf zwischen Vater und Sohn um die Anspruch auf die Mutter. Das imaginäre Denkmal fungiert als mise en abyme des Ödipusthemas und gleichzeitig, zusammen mit dem Bild, als mise en abyme der ‹Wiederaufnahme› dieses Mythos’ in der Psychoanalyse. Die beiden Variationen des Ödipusthemas werden im Bild und im Denkmal nicht exakt wiedergegeben, sondern nehmen deren zentrale Motive auf, um sie zu variieren und neu zu erzählen.
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Die beiden ‹Rätsel›, die unbekannte Szene auf dem Bild im Kinderzimmer und die enigmatische Allegorie des fiktiven Denkmals dienen allerdings, anders als das Rätsel in Les Gommes, nicht als Schlüssel zu dem Prätext, der dem Roman zugrunde liegt. Hier braucht man den Roman, um die Rätsel zu lösen. Berlin als Ort der Handlung fügt sich ebenfalls in den alten Sagenkreis ein, es ist, wie die Familie von Brücke, eine Aktualisierung antiker Vorbilder. Bereits bei einem Halt in dem völlig zerstörten Halle zieht Ascher den Vergleich zur griechischen Antike: «Seul demeure cX a et la`, rompant l’alignement des ruines, quelque bloc de macX onnerie ge´ant, tel un fuˆt de colonne grecque gisant dans une enceinte arche´ologique.» (S. 10) Als Ascher dann mit seinem Mittelsmann durch die Ruinen Berlins fährt, kommt ihm dies wie eine Führung durch eine antike Stadt vor - Heropolis, Theben oder Korinth (S. 25). Die Villa Jo Kasts schließlich hat eine «corniche a` pre´tentions corinthiennes» (S. 56). Im Kinderzimmer dieser Villa zeigt die Waschschüssel des kleinen Markus von Brücke in ihrem Zentrum eine Szene aus der Antike, in der sich griechische und römische Elemente vermischen. Die Antike ist so in der Architektur bzw. Malerei in immer engeren konzentrischen Kreisen präsent - von der zerstörten Umgebung Berlins über die Stadt und die Villa bis zu der Waschschüssel, bei deren Benutzung Ascher und Markus zum ersten Mal als ein und dieselbe Person aufscheinen. Berlin wird als Ort, in dem sich die ‹ödipale› Geschichte der Familie von Brücke abspielt, also systematisch mit der griechischen Antike in Verbindung gebracht 34. Das untergegangene preußische Berlin, von dem nur noch Ruinen zeugen (und dem Rügen als Ort der Sommerferien zugeordnet ist), repräsentiert die väterliche Welt, die auch in der Gegenwart noch von Bedeutung ist - dafür steht das nicht zerstörte Vaterhaus mit dem nicht veränderten Kinderzimmer. Für Ascher ist diese Welt, wie für Ödipus, fremd, wenngleich er vage Erinnerungen daran hat. In der Berliner Kindheit und in ihrem ‹Ende› im Vatermord gründen die Analogien zum Mythos. Dieser ‹antiken› väterlichen Welt steht die mütterliche Welt gegenüber: die ‹prähistorische›, von Gespenstern und Zauberwesen bevölkerte Bretagne. Auch die bretonische Kindheit war nicht frei von Problemen und bot Erklärungsmuster, die nun allerdings nicht mehr greifen: «Que j’aie, dans mon enfance bretonne, au pays des sorcie`res, des revenants et des fantoˆmes en tout genre, souffert de troubles identitaires [...], c’est une chose. C’en serait une tout autre de m’imaginer avec se´rieux, trente ans plus tard, victime d’un male´fique enchantement.» (S. 22 f.) Es ist schließlich das antike Handlungsmuster, das die gültige Problemlösung bietet. Robbe-Grillet greift aber nicht nur auf der Inhaltsebene auf die ‹alte Geschichte› zurück, sondern nimmt in beiden Romanen auch formale Aspekte der sophokleischen Tragödie wieder auf. In Les Gommes beläuft sich die Handlungsdauer in Anlehnung an den antiken Prätext auf exakt vierundzwanzig Stunden. Sie wird dadurch betont, daß Beginn und Ende von 34
Außerhalb der Familiengeschichte liefert aber auch die römische Antike Analogiepunkte. So hält der etwas zwielichtige Kommissar, der die Ermittlungen im Mordfall führt, große Stücke auf die Antike. Auf die Frage, welche Rolle er im Geschäft mit der Kinderprostitution spiele, antwortet er: «Doceo puellas grammaticam [...] La re`gle du double accusatif de notre jeunesse studieuse! Commencer par leur apprendre la syntaxe et l’usage d’un vocabulaire pertinent me semble la meilleur me´thode pour la formation des adolescentes, surtout si elles veulent ope´rer dans un milieu ayant quelque souci culturel.» Nicht nur die Inhalte, auch die Formen des antiken Unterrichts haben es ihm angetan: «Les verges avaient un roˆle essentiel dans l’e´ducation gre´co-romaine.» (S. 245).
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Wallas’ Auftrag genau genannt werden. Kurz vor seiner Ankunft in der Stadt bleibt Wallas’ Uhr stehen - um halb sieben abends (S. 35), der Zeit des versuchten Mordes (S. 11 und S. 142). Am folgenden Abend betritt Dupont sein Arbeitszimmer, in dem ihn Wallas’ tödlicher Schuß trifft, genau um halb sieben. Auch die erzählte Zeit umfaßt vierundzwanzig Stunden. Der Roman setzt am Morgen nach dem Mordversuch um sechs Uhr ein und endet um sechs Uhr am folgenden Morgen. Beide Romane sind in fünf Kapitel eingeteilt, zu denen ein Prolog und ein Epilog kommen 35. In beiden Romanen gibt es auch eine Erzählinstanz, die in ihrer Funktion dem Chor der griechischen Tragödie entsprechen könnte. In Les Gommes ist es - zumindest stellenweise - die Stimme des Erzählers 36, in La Reprise die Stimme des Fußnotenerzählers 37, die gewissermaßen ‹von außen› das Geschehen kommentieren. Die intertextuellen Bezüge zwischen den beiden Romanen Robbe-Grillets und Sophokles’ König Oidipus sind so eng geknüpft, daß sich die Frage nach den Gründen stellt. Sie ist - für Les Gommes - sehr unterschiedlich beantwortet worden. Die Erklärungen reichen von mythologischen und tiefenpsychologischen Deutungen (Bruce Morrissette) und der Überwindung des Anthropozentrismus, den Ödipus repräsentiere (Ge´rard Durozoi) über parodistische Absichten (Olga Bernal) bis zur Annahme, die mythologischen ‹Zutaten› seien reiner Dekor (Lucien Goldmann) 38. Robbe-Grillet selber nennt das Vergnügen, komplexe Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Texten herzustellen, als Hauptmotiv. Für die Lektüre der Romane ist es aus seiner Sicht aber nicht nötig, alle diese Bezüge zu erkennen: «Cela nous amuse, toi et moi. Mais, pour la lecture, c’est a` mon sens facultatif.» Das Neuerzählen des alten Mythos soll dem Roman auch nicht mehr ‹Tiefe› geben: «Cela m’inte´resse, et me plaıˆt, que certains lecteurs fassent tous ces rapprochements, mais je ne crois pas que je les donnerais comme cle´s de lecture.» 39 Robbe-Grillet selber nennt an einer anderen Stelle noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen seinen Werken und denen des Sophokles. Dem Vorwurf, in seinen Romanen grausame, sadistische Szenen zu beschreiben, begegnet er mit dem Hinweis, daß bei diesen Szenen nicht nur der Inhalt, sondern auch die Darstellungsform wichtig sei. Robbe-Grillets Protagonisten sind keine ‹Personen› wie im Roman des 19. Jahrhunderts, sondern Figuren ohne ausgeprägte Persönlichkeit, die sich beständig der Tendenz des Lesers entziehen, sich mit ihnen zu identifizieren. Die Distanz zwischen Leser und Protagonist, die damit stets gewahrt bleibt, ist das entscheidende Moment der Darstellung. Diese Distanz ist es, die Robbe-Grillets Erzählweise mit der Darstellungsweise von Sophokles verbindet: Personnellement, je suis de ceux qui croient comme Sophocle - a` la valeur cathartique des repre´sentations effectue´es au grand jour. Mais, pour que cette fonction puisse ope´rer pleinement, les acteurs athe´niens portaient des masques ste´re´otype´s sur le visage, afin de de´truire toute possibilite´ d’illusion re´aliste. Il semble bien, en effet, qu’une forte distanciation ait de longue date e´te´ reconnue ne´cessaire (deux ou trois mille ans avant Brecht)
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In Les Gommes lassen sich zudem ‹Szenen› ausmachen, vgl. Durozoi, Les Gommes (wie Anm. 33), S. 36. Vgl. Morrissette, Les Romans de Robbe-Grillet (wie Anm. 10), S. 42: «Les quelques passages qui semblent gouverne´s par le mode de narration de l’auteur omniscient sont en re´alite´ des sortes de chœurs, commentaire d’une ‹conscience observatrice› neutre, lie´e a` la structure meˆme du roman.» Vgl. zum Fußnotenerzähler Vf., «Der deutsche Zwilling» (wie Anm. 22). Vgl. die Übersicht bei Durozoi, Les Gommes (wie Anm. 33), S. 25-34 und seine eigene Position S. 57. Beide Zitate aus dem Interview Robbe-Grillets mit Jean-Jacques Brochier (wie Anm. 17), S. 24.
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Brigitte Burrichter
pour e´viter que le spectateur naı¨f ou le lecteur, ne ce`de a` la douceur de s’identifier sans re´fle´chir a` l’acte repre´sente´. Ce qu’il faut, c’est qu’il se regarde lui-meˆme; une distance doit donc eˆtre marque´e entre son corps et ce qu’on lui donne a` voir, pour qu’une distance inte´rieure se fasse jour dans son propre esprit. 40
Diese Gemeinsamkeit auf der methodischen Ebene legt es nahe, in Robbe-Grillets ‹Wiederaufnahme einer alten Geschichte› doch mehr als ein literarisches Spiel zu sehen. Über das ‹amusement› an der Neugestaltung alter Motive (und deren moderner Interpretationen) hinaus, das vor allem in La Reprise stets spürbar ist, erklären sich die Bezüge zur sophokleischen Tragödie aus der - in der eingangs zitierten Passage aus La Reprise formulierten Überzeugung, daß es nicht darum geht, neue Inhalte zu finden, sondern neue Erzählweisen und neue Darstellungsformen.
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Ange´lique ou l’enchantement, Paris 1988, S. 198.